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Im Sterben spiegelt sich das Leben

Kino Robert Widmer-Demuth hatte Krebs und blickte dem Tod gelassen entgegen. Der Dokumentarfilm «Röbi geht» zeigt, was am Ende wirklich wichtig ist.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

37 Jahre hat Robert Widmer-Demuth, genannt Röbi, den von Pfarrer Ernst Sieber gegründeten «Suneboge» geleitet (siehe S. 23), wo er Menschen am Rand der Gesellschaft auch in deren letzten Stunden beistand. Mit 77 Jahren ist Widmer nun selbst unheilbar an Lungenkrebs erkrankt, es bleiben ihm nur noch wenige Monate. Eine Zeit, die er ganz bewusst erleben möchte. Er verzichtet auf Chemotherapie und Bestrahlung und setzt auf palliative Pflege zuhause.

Der Regisseur Christian Labhart begleitet seinen Freund Röbi dabei, wie er Abschied nimmt und annimmt, was sich nicht ändern lässt. Obwohl das Ende auch Schmerzen und ein Schwinden der Kräfte mit sich bringen wird. Immer wieder kommen Freunde und Verwandte zu Besuch und sprechen mit ihm voller Dankbarkeit und Wehmut über gemeinsam Erlebtes. Viele drücken ihre Bewunderung für Widmers Gelassenheit angesichts seiner Diagnose aus und einige werden von ihren Gefühlen überwältigt. Ein Freund erzählt, wie er bei Röbi zuhause zum ersten Mal den Raum mit dem Namen «Bücherwürmli» betrat: ein Zimmer voller Bücher, Figuren, Fotografien. Was bleibt, wenn ein Mensch für immer geht? Haftet noch etwas von seiner Lebensenergie an den Dingen, die er mochte?

Das «Bücherwürmli» gibt darauf zwar keine direkte Antwort, lässt dafür aber erkennen, woher Widmers Akzeptanz kommen könnte: Dieses Zimmer widerspiegelt einen Menschen, der sich vom Leben reich beschenkt fühlt. Das ganze Haus ist erfüllt von den Spuren eines bunten Familienlebens, das der Sterbende mit seiner grossen Liebe Heidi aufgebaut hat. Ein Leben abseits der bürgerlichen Norm, geprägt von der Vision einer besseren Welt. Tiefgründige Gespräche, grosse Feste, Liebe und Freundschaft machten dieses Leben aus. Und das «Bücherwürmli» zeugt davon. «Du nahmst die Gegenstände in die Hand und jeder Gegenstand und die Geschichten, die du dazu erzählt hast, begannen zu leben. Alles war beseelt, und ich war völlig verzaubert», erinnert sich René, der Freund, wobei ihm beinahe die Stimme versagt. Tröstend und nachdenklich nimmt Widmer seine Hand. geht», Regie: Christian Labhart und Heidi Schmid, Dokumentarfilm, CH 2023, 84 Min. Läuft ab 11. Mai im Kino.

Auch ihm hat vor langer Zeit ein sterbender Mensch die Hand gereicht, ein Mann aus dem «Suneboge». «Er war ein absoluter Choleriker, niemand durfte ihm nahekommen, er war der Unberührbare», erzählt Widmer. Als er an dessen Sterbebett die Hand auf die Decke legte, habe der Mann ihn angeschaut und von sich aus zum ersten Mal «die Distanz unterschritten» – und seine Hand festgehalten. Dann sei er gestorben. «Er hat voll bewusst Abschied genommen», beschreibt Widmer den Moment.

«Röbi geht» handelt vom Tod. Und darüber hinaus ist der feinfühlige Dokumentarfilm eine Anregung herauszufinden, was ein gutes, erfülltes Leben ausmacht. Sodass man irgendwann wie «Röbi» ohne Reue die letzte Reise antreten kann.

Wider den Zwang

Institution Die geschichtsträchtige Zürcher Wohnund Arbeitsgemeinschaft Suneboge ging aus Pfarrer Siebers «Obdachlosen-Bunker» hervor.

Der Suneboge war als Anschlusslösung von Pfarrer Ernst Siebers Obdachlosen-Bunker beim Helvetiaplatz entstanden. Im kalten Winter 1962/63, als der Zürichsee zufror und viele die «Seegfrörni» als Volksfest auf Schlittschuhen genossen, eröffnete Pfarrer Sieber den Bunker und brachte dort 67 obdachlose Männer unter – andere Anlaufstellen gab es damals kaum in der Stadt. 1975 wurde der Bunker vom Suneboge abgelöst, der sich als eigenständiger Verein mit professionellem Team reorganisierte und von den Sieber-Werken löste. Auch Robert Widmer-Demuth war damals schon dabei. Und war im besten Sinn ein Unangepasster.

Über die von ihm geleitete Institution Suneboge sagte die damalige Vorsteherin des Sozialdepartements der Stadt Zürich, Monika Stocker, in ihrer Rede zum 25-JahrJubiläum: «Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir es im Suneboge mit einer ‹Widerstandsorganisation› zu tun haben.» Sie meinte damit nichts staatsgefährdend Aufrührerisches. Widmer stand mit seinem Team schlicht für menschliche Werte ein. Er lehnte Zwänge als Lösungsansatz ab und anerkannte, dass viele der Bewohner*innen sowieso schon unter den Regeln und Ordnungen der Gesellschaft litten. Er installierte die grösstmögliche Niederschwelligkeit bei der Aufnahme von Neueintretenden und bei der Mitbestimmung im Bewohner*innenrat und an Hausversammlungen. Das Alkoholverbot auf den Zimmern wurde schrittweise abgeschafft – im vollen Bewusstsein, dass das Vorgehen gesellschaftlich schlecht akzeptiert werden würde. Widmer spürte selbst einen gewissen Widerspruch zur fürsorgerischen Rolle der Institution –und hielt diesen aus. In der Überzeugung, dass dies am nachhaltigsten wirke, setzte er mit seinem Team auf professionell durchgeführte Kurse für kontrolliertes Trinken statt auf Zwang, um den Konsum zu reduzieren. Neue Bewohner*innen wurden in der Regel nicht von einem Sozialdienst vermittelt, sondern sie kamen direkt von der Gasse.

Auch heute noch besteht der Suneboge im Zürcher Selnau-Quartier als Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für «sozial desintegrierte» und psychisch beeinträchtigte Menschen, viele von ihnen mit Suchterkrankung. Zurzeit leben 44 Personen hier und 34 arbeiten vor Ort an einem geschützten Arbeitsplatz. Dabei wird weniger auf berufliche als auf soziale Integration gesetzt. Dieser Ansatz reflektiert die sich verändernde (Arbeits-)Welt: Während Anfang der Sechzigerjahre auch alkoholabhängige und psychisch beeinträchtige Personen noch Arbeit fanden, gibt es für sie unterdessen praktisch keine Möglichkeiten mehr. Heute arbeiten im Suneboge auch junge Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nie eine Chance gehabt hätten, sagt Anna Brändle, die die Institution seit 2010 leitet.

DIANA FREI

Veranstaltungen

Zürich

«Frisch und Fein. Exil Zürich 1933», Installation und Ausstellung, bis Sa, 10. Juni, Mi und Fr, 14 bis 18 Uhr, Sa, 13 bis 16 Uhr, Galerie Litar Zürich, Letzistrasse 23. litar.ch macht nun das Beziehungsnetzwerk des Museums im Bellpark sichtbar und versteht sich als Hommage an all jene, die durch ihre Teilhabe das kulturelle Umfeld entscheidend mitgestalten. DIF

Warth TG

«Gärten der Kartause Ittingen – Zum Nutzen und zur Freude», von Mai bis September täglich 11 bis 18 Uhr, Stiftung Kartause Ittingen. kartause.ch der touristischen Nutzung und zuletzt dem heutigen Fokus auf Biodiversiät und Nachhaltigkeit.

Die Ausstellung findet im Rahmen des grenzüberschreitenden Projekts «Grüne Fürsten am Bodensee» statt, das vom Schlossgut Arenenberg, der Insel Mainau und Kloster und Schloss Salem iniitiert wurde. Die Gärten in der Kartause Ittingen bilden hier quasi das Gegenstück, weil sie eben nicht das Resultat einer fürstlichen Landschaftsgestaltung sind. DIF

Solothurn

«Ankerpunkt», Gottesdienst mit Gast: Surprise Strassenchor, So, 30. April, 10.30 Uhr, anschliessend Apéro, Kirche St. Niklaus, St. Niklausstrasse 79.

Der 90. Jahrestag der Bücherverbrennungen im Mai 1933 ist Anlass für eine Ausstellung über Zürich als Ort des literarischen Exils. Doch für einmal geht es nicht um bekannte Autor*innen wie Thomas Mann oder Else Lasker-Schüler. Im Mittelpunkt stehen acht Übersetzerinnen: Trude Fein, Fega Frisch, Edith Gradmann-Gernsheim, Anna Katharina Rehmann-Salten, Eva Maria Röder-Kann, Eva Salomonski, Nettie Sutro und Ursula von Wiese. Nie gehört – nie gelesen? So geht es wohl den meisten. Denn viel zu rasch gingen sie vergessen. Die Galerie Litar wird für die Dauer der Ausstellung in eine Exil-Bibliothek verwandelt: Ausgewählte Dokumente geben Einblick in Leben und Schaffen dieser Literaturvermittlerinnen, und mit einer Installation aus Text und Bild erhalten sie raumfüllend die Bedeutung, die ihnen gebührt. Im vielfältigen Rahmenprogramm gibt es Vorträge, Gesprächsrunden, Führungen und eine Veranstaltung zu den Bücherverbrennungen in Kooperation mit dem Strauhof Zürich und dessen Ausstellung «Satanische Verse & verbotene Bücher». DIF

Kriens

«Bellpark Photomat», Projekt von Patrick Blank, bis So, 16. Juli, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa und So, 11 bis 17 Uhr, Museum im Bellpark, Luzernerstrasse 21. bellpark.ch

Der Fotoautomat als Kunstwerk. Das Projekt «Bellpark Photomat» des Luzerner Künstlers und Foto- grafen Patrick Blank adaptiert das Konzept des Schnellfoto-Automaten und bringt damit die Wahrheit auf den Punkt, dass das aktive Umfeld jede kulturelle Institution mitprägt. So wurde der Fotoautomat Kult wegen der Kreativität seiner Nutzer*innen. Anfänglich war der Fotoautomat wohl dazu gedacht, schnell und günstig Passfotos anfertigen zu lassen. Doch er wurde zu dieser magischen Box, in denen vor allem Freundschaften inszeniert und dokumentiert wurden. Blank geht es genau um diesen Kerngedanken – dass die Menschen ein Teil der Kultur werden. Der Künstler setzte die Freund*innen des Museums im Bellpark in Szene: Eine Digitalkamera, Blitzlampen, ein knallroter Hocker, ein enger Bildausschnitt und Silberpapier als Hintergrund gaben das Setting her. Wie bei den alten Fotoautomaten wurden lediglich vier Augenblicke eingefangen, in denen sich die Besucher*innen und Freund*innen des Hauses präsentierten. Die Ausstellung mit den rund 260 auf diese Weise entstandenen Porträts

Wenn sich an der Gestaltung der Dinge ablesen lässt, wie Menschen leben und denken, gefällt uns das immer ganz besonders. Hier haben wir einen solchen Fall, denn in der Kartause Ittingen gab es nie autokratische Herrscherpersönlichkeiten, die Architektur und Gärten als Ausdruck ihrer Macht benutzten, wie es andernorts oft der Fall war. Vielmehr dienten die Gärten auf dem Klostergelände ganz pragmatisch dem Anbau von Nahrungsmitteln und erst in zweiter Linie als Mittel der Selbstdarstellung für die Bewohner*innen. Entsprechend gibt es für die Kartause Ittingen keine gross gedachten Gartenpläne oder visionäre Darstellungen einer reichen Gartenlandschaft innerhalb oder ausserhalb der Klostermauern. Nur wer genauer hinschaut, findet Hinweise darauf, dass die Gestaltung des Aussenraums doch auch ein Mittel war, um das Selbstverständnis der Nutzer*innen nach aussen zu tragen. Dabei überlagern sich mehrere Zeitschichten: die Mönchszeiten mit ihren kontemplativen Kreuzgärten, dann die Jahre der Gutsbesitzerfamilie mit ihren Exotenbäumen und Schafweiden, gefolgt von

Die «Ankerpunkte» sind unkonventionelle Gottesdienste, bei denen Inhalt und Predigt nicht von Pfarrer*innen, sondern von Menschen aus anderen Lebensbereichen gestaltet werden. Sie erzählen davon, was ihnen in ihrem Leben Halt und Vertrauen gibt und woran sie glauben. Aber auch davon, was schwierig ist und wo sie zweifeln. Das sind Themen, zu denen Menschen im Surprise-Umfeld durchaus etwas zu sagen haben, und so erzählt am letzten April-Sonntag die Stadtführerin Lilian Senn aus ihrem Leben. (Wer sie kennt, freut sich auf ihre Radiostimme.) Dazu singt der Surprise Strassenchor. Es soll eine Stunde zum Zuhören werden, zum Reflektieren einer anderen und der eigenen Lebensrealität. Wenn jemand dabei auf neue Ideen kommt, umso besser. Die jeweils eingeladenen Gäste der «Ankerpunkte» kommen aus unterschiedlichen Lebensbereichen –es sind etwa Unternehmer*innen, Menschen mit Migrationsgeschichte, Sozialarbeiter*innen, Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen. Nach dem Gottesdienst trifft man sich bei einem kostenlosen Apéro im Gemeindehaus, um weiter ins Gespräch zu kommen. DIF

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