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Die vielen Leben der Frauen in der Schweiz

Feministischer Streik Mit Blick auf den 14. Juni erzählen Frauen von Surprise von Hindernissen und Chancen, denen sie begegnen. Vielen fehlt die Zeit, um sich beim Streik einzubringen.

«Ohne Unterstützung bedeuten meine drei Kinder hier in der Schweiz viel Arbeit für mich. Das älteste ist elf und wird langsam ein Mann, uiuiui! Und das jüngste ist zwei und schläft im Moment schlecht, dann schlafe ich auch schlecht. Viele Kinder gehen ja in die Kita, doch für mich ist das zu teuer. Der älteste Sohn stellt viele Fragen! Mama, wieso hast du das nicht? Wieso, Mama, habe ich dies nicht? Die Kinder denken, es wäre meine Schuld, dass wir mit so wenig leben. Später werden sie es hoffentlich verstehen.

Einer meiner Söhne hat Probleme mit den Knochen, er musste mehrfach operiert werden. Ich habe dieselbe Krankheit – und oft Schmerzen in den Beinen.

Was es bedeutet, eine Familie zu haben, weiss ich nicht. Meine Mutter und mein Vater starben, als ich klein war. Ich hätte gern eine gute Familie gehabt, ich versuchte und versuchte es, doch ich habe es nicht geschafft. Es ist aber besser, vom Vater der Kinder getrennt zu sein, er war wie ein zusätzliches Kind.

Ich habe noch ein viertes Kind, meine älteste Tochter. Kurz nachdem meine Eltern starben, ging ich weg von zu Hause, alleine, erst in den Sudan, dann nach Libyen. Als ich vor zwölf Jahren mein erstes Kind gebar, war ich nicht verheiratet. Wer der Vater meiner Tochter ist, weiss ich nicht. Viele Männer sind schlimm, sie tun Dinge mit dir, die du nicht willst. Ich liess meine Tochter zurück, als sie fünf Monate alt war. Ich würde sie so gerne sehen. Sie ist ohne Familie dort, ohne ihre Mutter. Sie lebt bei einer Frau und muss arbeiten und Geld verdienen. Mein Kopf ist eine Katastrophe.

In der Schweiz werden viele Frauen, die flüchten mussten, im Kopf krank. Erst dachte ich: Ich bin froh, hier zu sein. Aber dann habe ich viel darüber nachgedacht, was passiert ist. Ich tausche mich mit meiner Kollegin Melat und den anderen Frauen aus. Alle erzählen von ihren Problemen, alle haben Stress, wegen der Aufenthaltsbewilligung, der Arbeit, den Kindern. Schon lange versuche ich, meine Tochter in die Schweiz zu holen. Bis jetzt hat es nicht geklappt.» WIN

«Zwar ist das Leben in Basel teuer, doch für mich ist es viel besser geworden. Ich kam 1971, mit 23, aus Spanien mit einem Arbeitsvertrag bei einem Altersheim hierher. Verdient habe ich sozusagen nichts, ich war im Stundenlohn angestellt. Nach einem Jahr begann ich bei der Post zu arbeiten, als Festangestellte in der Spedition. Ich bekam mein zweites Kind, drei Wochen später arbeitete ich wieder. Beim dritten Kind genau gleich. Sonst hätte ich zu wenig Geld gehabt.

Ich höre von Müttern, die ein wenig jünger sind als meine Kinder: Am Arbeitsplatz geben sie der Mutter erst Zeit, aber sobald sie können, zum Beispiel beim zweiten Kind – adiós! Und die Menschen leiden wegen der Kitas, sie sind so teuer. Obwohl die Männer heute vieles auch machen, bleibt für die Frauen viel zu tun. Wenn ein Kind krank ist, bleibt fast immer die Frau zuhause. Wenn die Politik sich endlich wirklich für Frauen einsetzen würde, dann würde es besser werden, glaube ich.» LEA

«Ich habe ja alles»

Nadine, Sängerin Surprise Strassenchor

«Anderen geht es schlechter als mir, denke ich. Ich habe ja alles, ein Dach über dem Kopf, genug zu essen. Klar, mein Lohn ist nicht hoch, ich arbeite in der Küche eines Mittagstischs in einer Schule. Wenn man nichts gelernt hat, hat man halt weniger Lohn, und ich habe auch noch eine IV-Rente. Ich wohne mit meiner Schwester zusammen. Und sie verdient gut. Beim feministischen Streik geht es um gleiche Rechte für alle, zum Beispiel beim Lohn. Ich denke, Frauen sollten den gleichen Lohn bekommen wie Männer, wenn sie den gleichen Job machen.» LEA

Franziska, Surprise Stadtführerin Bern

«Heute bin ich niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Ich kann machen, was ich will. Ich bin die Einzige, auf die ich hören muss. Es mag banal klingen, aber: Ich fühle mich frei. Ich möchte keine Beziehung mehr, damit habe ich abgeschlossen. Es ist eh nie gut gekommen. Ich hatte so viele Lämpen in meinem Leben – ich habe früh Missbrauch erlebt, nahm Heroin, war Alkoholikerin, verlor beim Rückfall, in meiner schlimmsten Zeit, die Wohnung und alles. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn es mir wegen einer Beziehung wieder schlechter ginge. Und ich wieder konsumieren würde. Wie ich es heute habe, ist ein Geschenk. Damit bin ich sehr glücklich.

Ich hatte eine schwierige Ehe und viele einengende Beziehungen. Zwei meiner Ex-Partner waren gewalttätig. Meine Tochter half mir sehr, ihr kann ich nichts vormachen. Über Probleme habe ich nie reden können, sie aber hat sie gesehen. Und dann gesagt: ‹Die Rippen gebrochen? Vom Husten? Aber sicher.› Mit ihr begann ich darüber nachzudenken, was da eigentlich abgeht, und bin mir bewusst geworden, dass das Gewalt ist. In einer Therapie lernte ich dann, mir selbst und anderen zu vergeben.

Nachdem mit dem letzten Freund Schluss war, hatten wir noch lange Kontakt. Aber wenn er bei mir war und sagte: ‹Du, ich bin so müde, ich mag nicht mehr mit dem Zug nach Hause fahren›, da wusste ich: Er muss aus dieser Wohnung raus, ich fühle mich nicht wohl, wenn er auf dem Sofa schläft. Ich begann mich zu fragen: Warum gebe ich mir das? Und brach den Kontakt ab.

Seither geht es mir viel, viel besser. Psychisch ging es mir noch nie so gut wie jetzt. So schön wie die Männer lächeln können und so lieb wie sie sein können – die andere Seite haben sie eben auch. Das brauche ich nicht mehr, weder sexuell noch sonstwie. Nun hoffe ich, dass ich noch lange für meine Kinder und Grosskinder da sein kann. In der Rolle als Grossmutter ist es mir am wohlsten.» LEA

«Vor einem Jahr war ich im Frauenhaus. Dort habe ich gelernt: Frauen dürfen tun, worauf sie Lust haben, sie können nach draussen gehen oder ein Buch lesen oder Musik hören. Frauen können ohne Mann leben, sie können arbeiten. Sogar als Managerin oder Polizistin. Und ich verstand: Frauen treffen Entscheidungen, sie sind stark. Als Mädchen in Afghanistan musste ich immer zuhause sein, durfte nicht auf der Strasse spielen oder spazieren, ich durfte nicht in die Schule gehen, nicht studieren, hätte später nicht arbeiten dürfen. Als ich 15 war, sagte mein Vater zu mir: Jetzt musst du heiraten. Ich verstand gar nicht, was das bedeutete.

Auch als ich mit meinem Mann im Iran, der Türkei und schliesslich in Griechenland lebte, dachte ich: Eine Frau kann alleine nichts. Mein Mann sagte mir: Du musst zuhause bleiben, kochen, putzen, auf die zwei Kinder aufpassen. Und ich gehorchte. Ich dachte, er habe recht. Ich hatte es ja bei meiner Mutter gesehen: Sie putzte, kochte – tat, was mein Vater ihr sagte. Ich war wie meine Mutter. Die Männer reden, die Frauen hören zu. Wenn mein Mann nach Hause kam und ihm etwas nicht gefiel, schlug er mich. Wie mein Vater meine Mutter.

Doch langsam durchblicke ich es: Mein Mann durfte alles selber entscheiden – welche Kleider er anzieht, mit welchen Menschen er befreundet ist, ob er Auto fährt und in die Ferien verreist. Wieso darf ich das alles nicht? Was für ein Vorbild bin ich für meine Kinder? Sie lernen, was sie sehen. Wenn ich traurig bin, sind sie traurig. Wenn ich glücklich bin, sind sie es auch. Und wenn ich stark bin, werden sie es auch.

Ich verliess meinen Mann mit den Kindern, ohne zu sagen, wohin ich gehe. Eines Tages fand er mich in der Schweiz, über 1000 Kilometer entfernt von ihm, und forderte mich auf, zu ihm zurückzukommen. Ich meldete mich beim Frauenhaus und konnte untertauchen.

In der Schweiz habe ich zwar viele Probleme, und doch weniger Stress. Denn mein Mann ist nicht hier, er kann mir nicht sagen: Du darfst nicht in die Schule gehen, nicht Deutsch lernen, du darfst deinen Hijab nicht ablegen – ich kann alles selber entscheiden. Ich lebe alleine mit meinen zwei Söhnen, das funktioniert gut. Ich wünsche mir, dass sie Respekt vor allen Menschen haben werden, wenn sie erwachsen sind.

Ich habe Angst vor meinem Mann, obwohl er in einem anderen Land weit weg lebt. Denn er sagte: Wenn ich das nächste Mal herausfinde, wo du bist, dann lasse ich dich nicht mehr in Ruhe. Doch jetzt, nach dem Frauenhaus, fühle ich mich stark.» WIN

Nadine, 61

Elnaz, Surprise-Verkäuferin

«Frauen haben in der Schweiz viel zu tun, sie müssen arbeiten wie die Männer und zudem auf die Kinder aufpassen. Eigentlich geht das nicht auf, sie haben dann ja zwei Jobs gleichzeitig. So können Frauen nicht leben, wie sie wollen. Weil sie immer an alles denken müssen. Das finde ich nicht gut. Ich denke, es würde besser funktionieren, wenn sie weniger arbeiten müssten und auch besser verdienen würden. Dann könnten sie besser für ihre Kinder sorgen und auch für ihr eigenes Leben.» WIN

Frau geworden»

Lilian, Surprise Stadtführerin Basel

«In der Familie wurden wir Mädchen behandelt, als seien wir minderwertig. Wir hatten weniger Rechte und mussten mehr arbeiten. Schon früh kochten und putzten wir, führten den ganzen Haushalt. Meine Mutter arbeitete 100 Prozent. Wir waren fünf Kinder und ich musste auf meine jüngeren Geschwister aufpassen. Und nebenbei mein Sackgeld verdienen und in die Schule gehen natürlich. Ich hätte gerne studiert. Doch gefördert, so wie die Buben, wurden wir nicht. Und ich bekam viel Gewalt zu spüren. Ab dreieinhalb wurde ich sexuell missbraucht. So fühlte ich mich sowieso nicht ernst genommen als Person. Damals gab es für Kinder wie mich noch keinen Ort, wo ich hätte Hilfe finden können.

Es prägt, in der Kindheit hintangestellt zu werden. Es war nie recht, wie ich bin. Es war nie recht, was ich gemacht habe. Immer dieses anders sein müssen, anders sein wollen. Ich hatte Identifikationsprobleme. Wenn ich ein Kleidchen anziehen musste, zog ich es schnell wieder aus. Denn ich wollte lieber ein Bub sein.

In der Wirtschaft und in der Gesellschaft haben Frauen einen schwereren Stand. Wenn sie Kinder haben, können sie weniger arbeiten und haben einen tieferen Lohn. Ich finde: Eine Frau mit Kindern soll zuhause bleiben und für sie da sein, ganz einfach. Mutter und Hausfrau sein, das ist ein Vollzeitjob, wirklich, eine Riesen-Büez. Ich wäre eine Familienfrau, habe ich gemerkt, doch als meine Kinder klein waren, musste ich viel arbeiten. Es ging nicht anders, da das Geld nicht reichte.

Mein Glaube gab mir die Kraft, mich mit meiner Identität auseinanderzusetzen und mich zu akzeptieren, wie ich bin. Ich versöhnte mich damit, dass ich kein Bub, kein Mann bin. Ich wurde als Meitli geboren und bin mit Hindernissen und Hürden eine Frau geworden. Und heute lebe ich mein Frausein mit Freude aus.» LEA

«Mit dem interkulturellen Frauentreff ‹Karibu› Zollikofen war ich bereits am 8. März, am Tag der Frau, an einer Veranstaltung in Bern. Auch am 14. Juni werde ich sicher dabei sein. Bei ‹Karibu› besuche ich einmal in der Woche einen Deutschkurs. Eigentlich sollte ich einen Intensivkurs machen, um besser Deutsch zu lernen und endlich eine feste Stelle zu finden. Dazu reicht aber das Geld nicht. Mein Mann und ich wollen nicht von der Sozialhilfe abhängig sein, daher leben wir von seiner 60-Prozent-Stelle und von den Einkünften der Surprise-Magazine, die wir beide verkaufen.

Ich habe bereits vor acht Jahren, kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz, die ersten Deutschkurse besucht –zuerst einmal musste ich die Schriftzeichen lernen, in Äthiopien haben wir eine andere Schrift. Zudem bin ich nicht lange zur Schule gegangen, meine Eltern fanden, ich solle zu meinen jüngeren Geschwistern schauen und im Haushalt helfen.

Gut wäre gewesen, wenn ich meine Deutschkenntnisse bei der Arbeit hätte anwenden können, aber ich fand keine Stelle. Keine Ausbildung und zu wenig Deutsch, hiess es bei den Absagen. Beim Surprise-Verkaufen, das ich seit sieben Jahren mache, kommt es leider auch kaum zu längeren Gesprächen, denn im Hauptbahnhof Bern müssen die Leute meistens gleich auf den Zug.

Viel Deutsch reden kann ich hingegen im Handarbeitskurs im ‹Karibu›, da treffen sich Frauen aus der ganzen Welt. Gerade lernen wir stricken, das ist super. Wir helfen uns immer gegenseitig. Ich schätze den Austausch mit den Frauen und der Kursleiterin sehr.» MOI

Celine, Surprise Strassenfussballerin

«Wenn ich Songtexte schreibe und singe, dann bin ich glücklich. Mit meiner Musik kann ich alle meine Gefühle ausdrücken und aushalten. Das ist meine Heilung, für mich und für meinen Körper. Seit bald zwei Jahren bin ich in der Therapie und clean, vorher lebte ich eine Zeit lang auf der Strasse und musste von Klinik zu Klinik. Denn ich habe kein Ventil gefunden für all die Sachen, die ich erlebt habe.

Ich höre viel Rap. Doch manchmal frage ich mich: Was höre ich da? Was sagt er denn da? Die Frau wird sexualisiert, das ist schlimm. Ich werde so oft von Männern angesprochen. Sie gaffen mich an und winken mir zu, wenn ich aus dem Zug steige. Lasst mich in Ruhe! Sie zu ignorieren oder ihnen einen Korb zu geben, ist anstrengend. Ich wünschte mir, dass das nicht nötig wäre. Und ich fühle mich unwohl. Mich anders kleiden oder anders benehmen, das will ich deswegen aber nicht.

Es gibt jetzt auch Frauen, die rappen. Doch viele Männer kommen nicht damit klar, wenn eine Frau selbstbewusst und selbstbestimmt hinsteht und sagt: Nicht mit mir! Nur weil wir auf Augenhöhe sein wollen, fühlen sie sich, als wären sie kein Mann mehr. Sie haben Angst, dass Frauen zu mächtig werden könnten. Dabei könnten sie doch Hand in Hand mit uns durch diese Welt gehen.» LEA

«Seit vielen Jahren bin ich alleinstehend. Und noch immer gibt es jeden Tag dieses Geläster der Tratschtanten, wirklich. Die sagen: Jaja, sie ist alleine. Oder: Sie ist geschieden. Ich höre das! Egal, in welcher Sprache, auch auf Kurdisch oder Türkisch. Dieses Geläster zu stoppen, braucht meine ganze psychische Energie. Sowieso, ich habe meine Kraft verloren, ich habe verschiedene gesundheitliche Probleme. Wer wird später, wenn ich alt bin, für mich da sein?

Ich möchte allen Frauen sagen: Seid nicht Feindinnen der anderen Frauen! Hört auf, Gerüchte in die Welt zu setzen, und habt eine wohlwollende Einstellung zueinander. Ich wünsche mir, dass Frauen mehr miteinander sind, dass es mehr Freundschaften gibt und dass sie füreinander da sind. Gerade am Sonntag sagte mir eine Frau ganz offen: ‹Ich bin neidisch auf deine Figur.› Kannst du dir das vorstellen? Sie macht eigentlich ein Kompliment, aber verpackt es so. Ich sagte ihr: ‹Du hast auch so eine schöne Figur!›» LEA

* Diese Frau möchte unerkannt bleiben.

«Ich mache mir Sorgen, weil eine meiner Töchter in einem unsicheren Land lebt. Mein Sohn ist bereits gestorben. Meine Jüngste lebt in Äthiopien, sie ist 23 Jahre alt. Die Situation ist momentan bekanntlich gefährlich. Es gibt den Konflikt in der Region Tigray und im ganzen Land gewaltsame Zusammenstösse. Immerhin habe ich die Möglichkeit, meine Tochter zu besuchen, wenigstens das. Trotz ihrer Ausbildung als medizinische Fachfrau kann sie wegen der angespannten Lage keiner Arbeit nachgehen. Das ist eine emotional belastende Situation für mich. Ich wünschte mir, dass sie herkommen könnte.

Für mich persönlich ist alles in Ordnung hier in der Schweiz. Es gibt kleine Probleme – Wohnen, Finanzen –, aber das ist nichts Grosses, damit kann ich umgehen. Nur eine politische Änderung würde ich mir wünschen: dass eine Mutter immer Mutter bleibt. Das hört sich vielleicht seltsam an, ich meine es so: Die Politik in der Schweiz legt fest, dass Familiennachzug nur für Kinder erlaubt ist, die minderjährig sind. Für erwachsene Kinder ist das nicht mehr möglich. Aber eine Mutter bleibt eine Mutter, und Kinder bleiben Kinder. Emotional bleibt man für immer verbunden. Egal, ob unter oder über 18 Jahre, meine Tochter bleibt mein kleines Mädchen. Die Ungewissheit, wie es ihr geht und was bei ihr los ist, lässt mir keine Ruhe.»DIF

Melat, Surprise-Verkäuferin

«Klar, für die Männer ist das Leben auch schwierig. Wenn sie keine Papiere haben, keine Arbeit, kaum Geld, sie sind gestresst. Sie machen den Frauen Stress. Und dann gibt es Streit. Darum bin ich lieber alleine, für mich und für meine Kinder, zwei Mädchen, ist das besser so. Alleine geht es mir besser. Viele meiner eritreischen Freundinnen erzählen mir dasselbe, im Moment sind viele Single.» WIN

Melat, 32

mein Kind besuchen»

Constance, Sängerin Surprise Strassenchor

«Bald ist es 17 Jahre her, dass ich Nigeria verlassen habe. Meine Kinder zurückzulassen war schwer. Und dass ich sie seither nicht mehr gesehen habe, schmerzt. Denn mit dem F-Ausweis darf ich die Schweiz nicht verlassen. Vor kurzem starb eines meiner Kinder. Ich konnte es nicht einmal mehr sehen, bevor sie es beerdigt haben. Es ist, als wäre seither nur noch eine Hälfte von mir lebendig. Aber schau mich an, ich bin eine starke Frau! Sobald ich ausreisen darf, werde ich als Erstes mein Kind, das noch lebt, besuchen.»

«Ich möchte meinem Sohn helfen, seine Probleme zu lösen»

Letu, Surprise-Verkäuferin

LEA

«In meiner Rolle als Frau bin ich vor allem Mutter von zwei Kindern. Ein Sohn ist hier in der Schweiz, der andere ging 2009 nach Grossbritannien. Aber er hat sein Leben nicht im Griff und ist vom Weg abgekommen. Entweder ist er im Gefängnis oder im Spital, weil er eine schwere Krankheit hat. Ich mache mir Sorgen und möchte ihm helfen, seine Probleme zu lösen. Doch ich bekomme nicht einmal ein Visum. Ich musste der Botschaft von Grossbritannien alle Angaben über mich offenlegen, bis hin zum Kontostand. Sie lassen mich nicht ins Land, weil sie denken, ich tauche dort unter.

Fana, Surprise-Verkäuferin

«Gottseidank, mir geht es gut. Ob als Mann oder Frau, das spielt für mich keine Rolle. Ich arbeite und verdiene etwas. Das unterscheidet mich nicht von einem Mann. Ich arbeite bei einer Reinigung im Stundenlohn und verkaufe Surprise, habe aber immer noch teilweise Unterstützung von der Sozialhilfe. Finanziell läuft es also auf das Gleiche hinaus, ob ich arbeite oder nicht, weil das Einkommen von der Sozialhilfe abgezogen wird. Aber ich arbeite gerne, auch in meinem Heimatland habe ich immer gearbeitet. Wenn ich eine 100-Prozent-Anstellung finden würde, nähme ich sie sofort an. Wenn ich eigenes Geld verdiene, ist das auch gut für die Sozialhilfe.

Ich konnte zwei Jahre lang einen Deutschkurs machen und verschiedene Beschäftigungsprogramme und Arbeitseinsätze in der Kinderbetreuung oder Tramreinigung. Die politischen Gründe meiner Flucht wurden von Anfang an anerkannt. Ich wurde von den Behörden beim Deutschlernen und in der Arbeitsintegration unterstützt, weil ich die Aufenthaltsbewilligung B von Anfang an hatte.

Als Mutter mache ich mir Sorgen um meine Tochter. Als sie noch nicht 18 Jahre alt war, versuchte sie in die Schweiz zu kommen. Aber weil sie bald darauf volljährig geworden ist, wurde ihr Antrag abgelehnt. Nun lebt sie im Sudan. Das Land ist unsicher, sie hat zwei Kinder und kann nicht arbeiten. Sie erwartet viel von mir, auch finanziell. Aber ich bin nicht frei im Umgang mit meinem Geld, weil ich Sozialhilfe empfange. Ich kann nicht einfach etwas davon meiner Tochter schicken. Solange sie aber mit so unsicheren Bedingungen lebt, hänge ich emotional mit drin und stehe unter Druck. Das ist nicht einfach für mich.» DIF

Als mein Sohn noch in der Schweiz war, wollte er eine Lehre zum Mechaniker machen. Aber damals hatten wir beide nur einen Ausweis F für vorläufig Aufgenommene, und seine Sozialarbeiterin hat ihn nicht unterstützt. Sie hat gesagt, er müsse in ein Beschäftigungsprogramm vom Sozialamt. Damals war er 16 Jahre alt. Ich denke, wenn er die Chance auf eine Lehre gehabt hätte, hätte er einen anderen Weg eingeschlagen. Ihm fehlte eine Perspektive, er hat innerlich aufgegeben. Sein Vater ist zwar auch in Grossbritannien, aber er kümmert sich nicht, und ich kann nichts machen. Ich habe mit Hilfe vom Roten Kreuz einen Antrag gestellt, damit ich ihn in die Schweiz zurückholen kann. Es hat dann nicht geklappt.

Aber es ist grundsätzlich nicht aussichtslos. Einmal habe ich einen Anruf erhalten von der Schweizer Botschaft in Grossbritannien; sie haben mich gefragt, wieso mein Sohn die Schweiz verlassen habe. Ich habe die Situation erklärt, und sie haben mir gesagt, sie bräuchten etwas Schriftliches. Ich müsse einen Antrag machen. Letzten Endes hiess es dann doch, der Vater müsste sich kümmern. Ich möchte nochmals ein Schreiben aufsetzen und wünsche mir, dass mich dabei jemand unterstützen würde. Ich habe nur diesen einen Wunsch. Ich als Mutter leide, wenn ich nichts tun kann.» DIF

«Es freut mich zu beobachten, dass die jungen Menschen in meinem Bekanntenkreis und in jenen meiner erwachsenen Söhne – sie sind 29 und 25 und bis jetzt kinderlos –sich mehr für Familien- und Kinderfragen interessieren, als das früher der Fall war. Und doch ist die Schweiz für mich noch immer eines der Länder, die nicht sehr sozial sind, was Frauen betrifft. Nehmen wir etwa die Chancengleichheit im Erwerbsleben, den gleichen Lohn für gleiche Arbeit, den Mutterschutz, die mangelnde Unterstützung für alleinerziehende Mütter oder die Altersarmut, die Frauen oft betrifft.

Wir sind immer noch entfernt davon, dass Frauen, wenn sie in Rente gehen, zu dem kommen, was ihnen zusteht. Dass es bei der AHV-Vorlage diese extreme Auseinandersetzung wegen dem ein Jahr länger arbeiten gab, fand ich weniger klug. Ich hätte von den Feministinnen erwartet, dass sie sagen: Wir können gleich lange arbeiten wie die Männer, aber wir wollen eine bessere Absicherung in der beruflichen Vorsorge, auch bei Teilzeitarbeit. Auch bei der Pensionskassenreform kommen Frauen, die Teilzeit arbeiten, und Menschen mit tiefen Löhnen wieder zu kurz. Grundsätzlich geht es mir als Frau in der Schweiz gut, aber das ist nicht für alle Frauen so. Darum will ich solidarisch sein.

Mein Lebenspartner denkt in Beziehungsfragen eher traditionell, ein kleiner Pascha eben. Wir mögen uns, ergänzen uns in vielen Dingen und freuen uns über unsere Gemeinsamkeiten. Damit ich trotz Arbeit Zeit zum Kochen finde, kommt eine Reinigungsfachfrau zu uns.» LEA

Marzeyeh, 28

Martha, 66

Marzeyeh, Surprise Chancenmitarbeiterin Basel und Strassenfussballerin

«Für alle Frauen wünsche ich mir mehr Gleichstellung. Frauen und Männer, die Kinder haben, sollten sich die Kinderbetreuung, die Haus- und die Erwerbsarbeit halb und halb teilen. So haben auch die Frauen allgemein mehr Chancen in der Arbeitswelt, wenn die Kinder gross sind. Auch sollten Frauen, die zum Beispiel nach einer Trennung alleine für Kinder und Haushalt schauen und zudem extern arbeiten, besser unterstützt werden.

Ich wünsche mir, dass endlich die Reisebestimmungen in Zusammenhang mit den Aufenthaltsbewilligungen verbessert werden. Ich bin 2008 als Asylbewerberin in die Schweiz gekommen und habe seither den Ausweis F. Dies, weil ich nicht über einen gültigen eritreischen Pass verfüge. Das heisst, ich bin seit 15 Jahren ‹vorläufig aufgenommen›, darf die Schweiz nicht verlassen und meine Tochter und meinen Sohn, die in Süditalien leben, nicht besuchen. Ich sehe die beiden nur, wenn sie von Bari für einen oder zwei Tage nach Bern kommen, länger ist nicht möglich wegen ihrer Arbeit.

Mir geht es sonst gut hier, ich bin sehr glücklich mit meinem Verkaufsstandort in Uetendorf, wo ich zwei- bis dreimal pro Woche Surprise verkaufe. Ich kenne mittlerweile so viele nette Menschen und schätze den Kontakt wirklich sehr. Aber dass eine Mutter wegen des F-Ausweises ihre Kinder in Italien nicht besuchen darf, das verstehe ich nicht. Und es bereitet mir seit 15 Jahren grossen Stress.» MOI

Marie, 41

Marie, Sängerin Surprise Strassenchor

«Eines Morgens bin ich aufgewacht und habe mich vermisst, mein Lachen vermisst. Und ich habe gedacht: So kann ich doch kein Vorbild für meine Töchter sein. Das ist nicht das Frauenbild, das ich ihnen vermitteln will. Ich war in einer toxischen Beziehung, anscheinend klassisches Beispiel psychischer häuslicher Gewalt. Was für mich kaum zu fassen ist. Denn ich empfand mich immer als eine starke Frau. Aber ganz ehrlich, ich hatte einfach auch Schiss hier in der Schweiz als Ausländerin – mittlerweile lebe ich seit 13 Jahren hier. Wie soll das gehen, alleine mit den Kindern? Von Anfang an hörte ich: Die Schweiz ist so familien- und frauenunfreundlich. Und dann bekam ich es selbst zu spüren. Mir wurde kein Glaube geschenkt. Unterschwellig wurde mir das Gefühl gegeben, dass ich übertreiben würde. Immer wurde davon ausgegangen: Der Mann macht es richtig, er ist der Vernünftige. Irgendwann habe ich mich nicht mal mehr getraut zu sagen, wie schlimm es wirklich ist. Ich sah auch seine Not, das ist mir wichtig zu sagen, ich trage ihm nichts nach.

Es sind oft die Frauen, die die Familien tragen – da, wo beide Elternteile da sind, aber auch da, wo die Eltern getrennt sind. Hier sehe ich einen unglaublichen Bedarf an Unterstützung. Und an einem raschen, niederschwelligen Zugang dazu. Nur so können Frauen, die Gewalt erleben, aus dieser Überforderung herauskommen. Diese kann schliesslich zu diversen Krankheiten führen – was das Gesundheitssystem, aber auch die Wirtschaft insgesamt enorm belastet.

Gerade erlebte ich mehrere Schicksalsschläge kurz nacheinander, die haben mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich habe viele Symptome einer Depression, deswegen ist meine Konzentration nicht voll da. – Und das mit den Femiziden beschäftigt mich. Regelmässig wird so oder ähnlich getitelt: ‹Mann erdrosselt nach 30 Jahren Ehe seine Frau›. Ich finde das so krass, weil da mitschwingt: Kein Wunder, er hat seine Wut so lange unterdrückt, irgendwann kommt sie raus. Als wäre die Frau schuld, dass sie ermordet wird.

Der Staat müsste bei der Bildung ansetzen, zum Beispiel bei der Sexualerziehung. Damit wir alle lernen zu kommunizieren, was in uns vorgeht und wo unsere Grenzen sind. Wir müssen lernen, aus der Konkurrenz auszusteigen, und uns stattdessen mehr auf verbindende Elemente einlassen. Was mich am meisten stärkt, sind meine Freundschaften. Hier finde ich alles, was ich brauche: Austausch, Bindung, Kreativität, Solidarität.

Mit meinen Töchtern kann ich jetzt nicht einfach eine Aus- oder Weiterbildung machen. Für mich als alleinerziehende Mutter wird es ein steiniger, vielleicht unmöglicher Weg, raus aus der Verschuldung und wieder in eine finanziell angenehme Situation zu kommen.» LEA

Tatyana, Surprise-Verkäuferin

«Es ist nicht perfekt, aber momentan geht es mir gut. Gesundheitlich könnte es besser sein, und ich habe eine schwierige Zeit hinter mir. Ich möchte aber nicht sagen: Oh, es ist so schlimm! Ich sage lieber: Alles ist gut. Denn Gott hört mit, und ich will Gott nicht böse machen, weisst du? Über Gewalt möchtest du reden? Daran möchte ich mich nicht erinnern, reden wir lieber über etwas anderes.

Zum Beispiel über meine Wohnung, sie hat zwei kleine Zimmer. Eine Drei-Zimmer-Wohnung, wie normale Menschen sie mieten, kostet 1500 Franken, mindestens. Mamma mia! Es ist gut, Geld zu haben, aber nicht meine Priorität. Wenn ich mehr für die Wohnung zahlen müsste, hätte ich keines mehr für Essen. Oder wenn ich öfter Ferien machen würde, könnte ich die Rechnungen nicht zahlen. Ich arbeite konstant, jeden Tag. Ich verkaufe nicht nur das Strassenmagazin, ich putze auch. Diese Arbeit ist mal hier, mal dort. Ich muss flexibel ein, immer bereit.

Ich hätte gerne ein wenig mehr Zeit für mich, Ferien und eine etwas grössere Wohnung. Extra-Wünsche habe ich keine. Ah, nur einen: Mehr Zeit für meinen Enkel, er ist 13 Jahre alt. Das würde ich geniessen, diese reine, ehrliche Liebe zu und von einem Kind. Ich glaube, das ist die schönste Form von Liebe. Uns Frauen wünsche ich, dass jede glücklich ist. Jede Frau soll sagen können, was sie denkt und was sie bedrückt.» LEA

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