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Warum Apéros aufregend sind und Bücher auch
TEXT MARGUERITE MEYER
Ich liebe Apéros. Also das Konzept von Apéros. Wenn Freund:innen aus dem Ausland zu Besuch sind, erzähle ich stolz von der Apéro-Kultur in der Schweiz. Es geht mir nicht um mittelmässigen Wein, steife Ansprachen, trockenes Knabberzeug – nein! Sondern darum, dass Apéros stets die Ungewissheit und ein Potenzial in sich tragen. Unzählige Möglichkeiten, wie der Abend enden wird. Es ist ein bisschen aufregend. Manchmal sind Apéros eine Pflichtübung: Man geht hin, steht ein bisschen herum, zeigt sein Gesicht, langweilt sich und macht sich nach einer halben Stunde aus dem Staub – und niemand ist einem böse. Und manchmal kommt man leicht unmotiviert dahingehetzt, nach einem langen Arbeitstag, schnappt sich ein Glas, stolpert über eine interessante Gesprächspartnerin, die man nicht erwartet hätte, und drei Stunden später tanzt man auf den Tischen.
Ich liebe also Apéros. Vor einigen Jahren war ich mal an einem richtig guten. Er wurde nach einer Kulturveranstaltung aufgetischt, er war ziemlich riche, die Stimmung war gelöst und euphorisch. Die nach dem Auftritt hungrigen Künstler*innen beäugten zurecht ziemlich erfreut die Auslage mit Lachsbrötchen, Spinatröllchen, in Knoblauch marinierten Oliven. Es war eine schöne Veranstaltung gewesen, mitten in Zürich, an einem schicken Ort. Das Publikum war aufmerksam, zugewandt, interessiert. Besser könnte man es sich nicht wünschen.
Eine ältere, gut gekleidete Dame kam auf mich zu. Ich hatte aus meinen Texten gelesen und es hatte ihr gefallen. Wir gossen uns gegenseitig stets Weisswein nach, unterhielten uns blendend, ein interessantes Gespräch.
Und dann fragte sie mich: «Sagen Sie, wann erscheint Ihr erstes Buch?»
Ich erwiderte: «Sobald ich genug Zeit habe, um ein ganzes Buch zu schreiben.»
Ohne zu Zögern schlug sie vor: «Machen Sie doch ein Sabbatical!»
Ich schaute sie entgeistert an.
Sie kennen bestimmt dieses Gefühl, wenn Sie wissen, dass Ihnen Ihr Gesicht entgleist und Sie nichts dagegen tun können? Vermutlich rutschte mir in dem Moment mein ganzes Gesicht Richtung Kinn. Ich schaute sie also entgeistert an. In meinem Kopf wurde schlagartig alles klar: Sie ging davon aus, dass andere Menschen einfach so ein halbes Jahr oder ein Jahr auf Lohnarbeit verzichten könnten, um ein Buch zu schreiben. Dass sich die Miete irgendwie schon deckt.
In dem Moment ging ich auch einfach so von Dingen ihrerseits aus: Bestimmt hat sie ein Zweithäuschen im Engadin, einen Investment Fund, Einnahmen aus vermieteten Zürcher Wohnungen, ihre Kinder haben sich mit dem Erbvorbezug schon ein Haus gebaut oder eine Firma – you name it. Ich wollte all das benennen und sie auf den Boden der Tatsachen und in die Le- bensrealität, also in meine, zurückholen. Stattdessen fing ich mich, lachte einigermassen charmant auf und sagte fröhlich: «Stimmt, das wär was!»
Sie strahlte: «Ich würde wirklich so gerne Ihr Buch lesen.»
Der netten Dame mache ich keinen Vorwurf. Es ist nicht leicht, sich aus der eigenen Realität heraus- und in eine andere Realität hineinzudenken. Auch mit viel Empathie und Wissen bleibt man stets zu einem grossen Teil Gefangene der eigenen Umstände, bräche man noch so gerne daraus aus.
Das Dichten und Denken braucht einige Zutaten: Die Neugier, ein bisschen Talent und den Willen, sich auf gedankliche Äste hinauszubegeben, mit der Gefahr des Absturzes im Nacken. Das Dichten und Denken – oder das Denken und Dichten – braucht aber auch Ressourcen. Zeitliche, finanzielle, soziale. Und nicht jede*r hat diese.
Das Schreiben, Lesen, Nachdenken, Hirnen, Kreativsein ist etwas, was unser aller Leben besser macht. Was wäre die Welt ohne Literatur, Kunst, Kultur, Unterhaltung? Ohne Filme und Seifenopern, ohne Poesie, ohne Bilder und Gärten, in denen man sich verlieren kann? Oder ohne ein Hobby, dem man sich fernab von Produktivitätsprimat und Talent hingeben kann?
Sie, die Welt, wäre schon noch da, aber sie wäre um einiges weniger lebenswert, weniger schön, weniger herausfordernd. Man kann das konkrete Machen, das Schaffen ehren und trotzdem anerkennen, dass das sogenannt Schöngeistige unverzichtbar ist.
Selbst die etwas seichte Netflix-Serie, die uns allen den regnerischen Sonntag versüsst oder den blödesten Tag vergessen lässt, braucht genau das: Menschen, die sich Gedanken hingeben können, diese weiterspinnen, in die Welt – oder auf den Bildschirm – hinaustragen.
Ich mag die Anekdote mit besagter Dame am Kulturanlass. Manchmal erzähle ich sie zur Belustigung in einer Runde, in der ich weiss, dass man mich versteht. Und manchmal kaue ich im Stillen daran herum.
Es sind die stillen Momente, vielleicht nach den aufgeregten, handlungsvollen Augenblicken voller Begegnung, in denen das eigene Wachsen beginnt. An einem Satz herumzustudieren oder an einer Begegnung – daran lernen wir, uns in Verbindung zur Welt zu erforschen. Unsere Meinungen und Haltungen zu bilden, unsere Wahrnehmungen zu schärfen, bewusst oder unbewusst.
Kennen Sie Adam Smith? Er gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. Ein Mann des 18. Jahrhunderts, dessen Theorien zur Ethik, zur Arbeit und Moral, zur Wirkungsweise des Marktes eine solche Wucht hatten, dass sie heute noch eine Grundlage unseres Verständnisses von Wirtschaft bilden.
Kennen Sie Margaret Douglas? Vermutlich nicht. Frau Douglas war Smiths Mutter. Sie stellte ihm jeden Abend das Essen auf den Tisch, organisierte seine frische Wäsche, förderte ihn. Adam Smith hätte ohne seine wohlhabende und umsorgende Mutter nicht existiert – und das nicht nur, weil er aus ihr rausgeschlüpft war.
Und doch ist uns nur Adam Smith bekannt. Er ist in die Geschichtsbücher eingegangen, wird an Universitäten gelehrt, inspiriert Weltbilder und Parteien. Die Gedanken von Margaret Douglas sind uns nicht bekannt. Sie hatte bestimmt welche. Doch aufgrund ihres Geschlechtes, aufgrund ihrer Rolle konnte sie diese nicht mit einem Publikum teilen. Das ist doch schade, oder? Ihre Geschichte, ihre Perspektive fehlt uns. Das ganze Bild eines Puzzles ergibt sich aus seinen Teilen. Fehlt ein grosser Teil, sehen wir nur einen Ausschnitt. Zugegeben, ein einfaches Beispiel für einen umfassenden Blick auf die Menschheit, und doch kein dummes, glaube ich.
Das Grossartige an Geschichten, Büchern, Musik, Erzählungen ist unter anderem: Sie zeigen einem eine andere Welt auf. Oder einen überraschenden Blick auf die Welt, den man bis anhin nicht kannte. Sie zeigen einem die eigenen blinden Flecken auf, ekeln einen an, stossen einen vor den Kopf, machen neugierig und sehnsüchtig und erweitern unseren Horizont.
Sich von der Muse küssen lassen beziehungsweise sich der Musse hingeben, das kann nicht jede*r im gleichen Masse. Wer nicht das Geld, die Zeit, die Kontakte, die Möglichkeiten hat, in Ruhe nachzudenken und diese Gedanken auszuformulieren, wird vermutlich kein Buch schreiben. Wird nicht in Lehrbüchern aufscheinen, wird nicht im Fernsehen auftreten, wird nicht auf Podien sitzen. Wird nicht gehört.
Und ich denke mir: Was für ein Verlust.
Und dieser Gedanke ist ganz egoistisch von mir. Ich würde gerne mehr lesen und hören von Menschen, die anders sind als ich. Mich selber kenne ich ja. Und mein Umfeld auch. Bei der Erkenntnis, dass mir ein Teil des Bildes verwehrt bleibt, schleicht sich auch etwas Trauer ein. Das ist nichts im Vergleich dazu, dass eben diese Puzzleteile dann einfach nicht vorkommen – in politischen Entscheidungen, in Poesie, in den ganz grossen Erzählungen von Nationalstaaten und Gesellschaften.
Lachsbrötchen an einem Apéro sind Luxus. Mittelmässiger Wein von mir aus auch. Aber das Geschichten erzählen und lesen und hören ist kein Luxus. Zumindest sollte es für niemanden einer sein.
Dieses Jahr wird es leider nichts mit der von der Dame vorgeschlagenen Bücherschreib-Auszeit. Aber bisschen richtig frei habe ich. Ferien, nennt man das gemeinhin. Und ich werde mir für diese freien Tage ein paar Bücher besorgen, die mich in andere, neue, unbekannte Welten einladen.
MARGUERITE MEYER , 38, ist Journalistin, Autorin und Poetry Slammerin. Als Journalistin ist sie jeweils hinter den Fakten her, als Autorin hinter der Fiktion. Bei Surprise ist sie im Vorstand tätig.