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«Wir wollen leben und arbeiten wie ihr auch»

«Ich muss immer ein wenig in Bewegung sein. Deshalb ver kaufe ich die serbische Strassenzeitung Liceulice nicht an einem bestimmten Ort, sondern mal hier und mal dort, min destens drei oder vier Stunden am Tag. Neben dem Verkauf arbeite ich noch in einem Hotel, dort mache ich Reinigungsarbeiten. Ich habe Epilepsie, gekoppelt mit einer leichten Sehbehinderung, was in meinem Arbeitszeugnis vermerkt ist und alles nicht gerade einfacher macht. Menschen mit Behinderungen werden bei uns immer noch diskriminiert. Zwar gibt es ein Gesetz, das vorschreibt, dass Unternehmen behin derte Menschen anstellen müssen, aber in der Praxis sieht das anders aus. Es heisst doch immer, man solle nur dem ver trauen, was man sieht – und dass die Regierung uns Behinderten zu helfen versucht, das sehe ich nicht.

Seit zwölf Jahren verkaufe ich nun die Strassenzeitung und bin Teil von Liceulice, was mir viel bedeutet. Die Organisation ist meine zweite Familie geworden – eine Familie, die niemanden im Stich lässt, was man während der Covid sehen konnte: Wir konnten damals zwar keine Zeitungen mehr verkaufen, aber Liceulice liess uns gleichwohl nicht fal len. Trotzdem wünsche ich mir nichts dringlicher als eine Arbeit mit einem festen Vertrag, damit ich endlich auf eigenen Füssen stehen kann.

Unterstützung bekomme ich nach wie vor von meinen Eltern, wofür ich sehr dankbar bin. Meiner Mutter wurde gesagt, sie solle mich in ein Heim bringen, aus mir werde sowieso nichts, ich sei bloss eine Last für sie. Aber sie hat es nicht getan. Wenn man erfährt, dass man an Epilepsie leidet und die eigenen Eltern wie Löwen dafür gekämpft haben, dass man wieder laufen und sprechen kann, so gibt einem diese Hilfe auch den Mut, niemals aufzugeben – gerade auch in Zeiten, in denen es nicht leicht ist. Es gibt unterschiedliche Formen von Epilepsie, meine ist zum Glück nicht allzu stark ausgeprägt. Trotzdem bin ich in meiner Arbeit und meinem Leben beeinträchtigt. Bis zu meinem 18. Lebensjahr wurde ich, wie sich später herausgestellt hat, mit falschen Medikamenten therapiert. Sie nützten nicht viel, aber hatten schlimme Nebenwirkungen. Seit ich das Krankenhaus gewechselt habe, geht es mir besser.

In der Schule war es nicht leicht. Erst ging ich in eine reguläre Klasse, doch der Lehrer meinte, mit meiner Krankheit könne ich nicht am Unterricht teilnehmen. So landete ich in einer Schule für behinderte Kinder. Später absolvierte ich eine Lehre in einer Buchbinderei. Danach habe ich mich lange Zeit auf Stellen beworben, ich bekam aber nie eine Antwort. Der Traumberuf wäre das für mich sowieso nicht gewesen. Ich schäme mich nicht dafür, behindert zu sein. Ich habe mich damit abgefunden, daran ändern kann ich sowieso nichts. Und ich möchte, dass auch die anderen mich annehmen, wie ich bin.

Denn wir sind wie ihr auch. Wir wollen leben, arbeiten und eine Familie gründen. Wenn ich aus Kummer nur noch daheim herumsitze und mich gehen lasse, so nützt das niemandem etwas. Jammern hilft nicht weiter. Ich versuche es stattdessen mit positiven Gedanken. Mir geben Menschen Kraft, die trotz vieler Hindernisse nicht aufgegeben und es am Ende doch noch geschafft haben; dafür bewundere ich sie. Meine Freundin zum Beispiel. Sie hat seit Geburt keine Hände, trainiert aber jeden Tag Taekwondo. Keine Ahnung, wie sie das schafft, aber sie zeigt damit, dass alles möglich ist.

Ich möchte mit jemandem, den ich liebe, irgendwann eine Familie gründen. Seit mehr als zehn Jahren bin ich mit meinem Freund zusammen. Er hat ebenfalls eine Behinderung, wir haben uns damals in einer Selbsthilfegruppe für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen kennengelernt. Bevor ich ihn heirate, möchte ich allerdings eine Vollzeitstelle finden – und wie meine Freundin werde ich nicht aufgeben und alles daransetzen, einen solchen Job zu bekommen.»

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