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Der Briefjäger

TEXT HAMED ABBOUD

Immer wenn ich meine Wohnung betrete oder verlasse, schaue ich in meinen Briefkasten, und freue ich mich immer noch über Prospekte und Werbeangebote, die sich mit unterschiedlichsten Briefen dort sammeln. Denn seit meinem Umzug nach Wien habe ich stets bei allen möglichen Stellen meine persönlichen Daten angegeben, um Post von ihnen zu erhalten.

Ebenso lehnte ich die Angebote staatlicher Institutionen, monatliche Beträge automatisch von meinem Konto einziehen zu lassen, ab und zog es vor, Rechnungen auf Papier zu bekommen, die mit anderen Briefen in meinem kleinen weissen Briefkasten landen würden. Mein Entschluss entsprang keinem Misstrauen gegenüber den Institutionen, sondern einfach dem Wunsch, Post zu bekommen, die ich durchsah, sortierte, teilweise las, um am Ende nur die wichtigsten Briefe aufzubewahren.

Mir ist bewusst, dass viele Leute Papier sparen wollen und gedruckte Rechnungen vermeiden, aber nach reiflichem Überlegen wurde mir klar, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, solange ich mich nicht daran beteilige, Plastikmüll anzuhäufen. Und dass ich andererseits unter einer ganz besonderen Form von Vitamin­B­Mangel leide, eine gefährliche Krankheit, die die Gefühlswelt des Menschen durcheinanderbringen und sich zuspitzen kann. Auch du kannst dich damit anstecken, wenn du dein halbes Leben damit verbringst, in regionalen und überregionalen Zeitschriften auf die Rubrik «Brieffreundschaften» zu starren, ohne je selbst einmal Post zu bekommen.

Eines Tages hatte der Verantwortliche der Flüchtlingsunterkunft laut nach mir gerufen, um mir einen Brief des Bezirksgerichts zu überreichen. Das war der erste Brief, den ich je erhalten habe, mit über achtundzwanzig Jahren. Ich betrachtete den Regierungsadler, der hellgrau auf dem Umschlag prangte, und nachdem der Vogel weder um meinen Kopf flog noch sich auf mich stürzte, beschloss ich, den Brief zu öffnen und zu lesen.

Ich musste gleich an meinen fünf Jahre älteren Bruder denken. Er war der einzige Mensch, den ich je mit einem Brief in der Hand gesehen hatte. Er hatte das Briefeschreiben geliebt und in jener Zeit Briefmarken aus verschiedenen arabischen Ländern gesammelt. Doch obwohl er monatlich Briefe erhielt, hatte ich niemals einen Postboten bei uns gesehen. Auf meine Nachfrage sagte er, dass er von Zeit zu Zeit zum Postamt gehe, um die postlagernd an ihn gesendeten Briefe persönlich in Empfang zu nehmen. Obwohl sich die Briefe auf seinem Schreibtisch und in seinen Schubladen stapelten, habe ich nie auch nur einen von ihnen gelesen, trotz meiner Neugier zu erfahren, was seine Freunde aus den verschiedenen Ländern ihm schrieben und was er ihnen antwortete.

Während ich noch auf den Adler starrte, war ich mir sicher, dass der Absender meines ersten Briefes keine Brieffreundschaft mit mir anstrebte, denn es war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht vergönnt gewesen, irgendwo meine Adresse und meine Hobbys zu veröffentlichen. Auf dem Brief klebte auch keine Marke, die in mir den Wunsch ausgelöst hätte, sie mit Wasserdampf abzulösen und aufzubewahren. Der Brief war mit Computer geschrieben, und mir wurde mitgeteilt, dass ich mich auf ein Interview zwecks Entscheidung über mein Aufenthaltsrecht vorbereiten solle.

Nachdem ich mir Inhalt und Termin eingeprägt hatte, warf ich den Brief weg.

Nach einigen Monaten, die rasch vergingen, erhielt ich meinen zweiten Brief. Darin steckte die Entscheidung des Gerichts über die Rechtmässigkeit meines Antrags, was bedeutete, dass ich bleiben und mir in einem Dorf eine Wohnung mieten durfte. Ich zog ins obere Stockwerk eines Hauses und wohnte direkt neben der Vermieterin, mit der ich mir einen Briefkasten teilte. Aber weil sie mir keinen eigenen Briefkastenschlüssel gab, vereinbarten wir, dass sie meine Post in der Schublade des im Flur stehenden Schuhschranks deponieren sollte, falls der Staat beschliessen sollte, mir einen weiteren Brief zu schicken, in dessen erster Zeile zu lesen sein würde: «Sehr geehrter Herr Abboud».

Das Austauschen von Messages im Allgemeinen war mir nicht fremd, ich kannte es jedoch nicht in Form von Briefen. Seit meiner Zeit auf dem Gymnasium hatte ich E­Mails geschrieben und Freundschaften in andere Städte und Länder gepflegt. Wir schickten uns Gedichte, ohne viele Worte zu verlieren, denn persönlich tauschten wir uns direkt über das Internet aus, wo sich Websites für Chatrooms und Internettelefonie verbreiteten.

Ich schrieb zwar E­Mails an Zeitschriften, mit der Anfrage, ob sie Texte von mir veröffentlichen würden, doch es wäre mir im Traum nicht eingefallen, einem meiner Freunde in Syrien einen Brief zu schicken – und hätte ich es getan, wäre mir offener Spott sicher gewesen. Ausserdem hätte ich dem Empfänger meines Briefes grosse Mühen abverlangt, weil er auf der Suche nach dem Brief zwischen den verschiedenen Postämtern hin und her laufen müsste, um zu erfragen, wohin der Brief seinen Weg gefunden hätte.

Mein Vater erzählte mir, dass in seiner Jugend noch Briefe geschrieben wurden, und seine Geschichten stimmten mit den Bildern überein, die ich in alten italienischen Filmen gesehen hatte. Dort fährt ein Mann, der die Strassen der Stadt wie seine Westentasche kennt, auf einem alten Fahrrad umher, gekleidet in eine dunkelblaue Uniform, eine Tasche über der Schulter und eine Mütze zum Schutz vor der Sonne auf dem Kopf, bei der man im ersten Moment an die Polizei oder den Geheimdienst denkt. Doch gleich darauf erkennt man sein breites Lächeln, wenn er näherkommt, ein Lächeln, das sich der Hoffnung der Wartenden bewusst ist, er möge vor ihrer Tür haltmachen.

Doch dann war dieser Mann mit seinem Fahrrad wie vom Erdboden verschwunden, und es blieben nur die nostalgischen Geschichten meines Vaters. Und mein Schicksal war es, in einer Welt aufzuwachsen, in der nur besondere Menschen wie mein Bruder Briefe erhielten. Wir aber, die Normalen, mussten unsere Botschaften per E­Mail verschicken oder sie Reisenden mitgeben. Wir stellten uns neben die Busse und baten den Fahrer oder einen der Fahrgäste, unsere Post mitzunehmen und sie an die Liebsten zu übergeben, was den Bräuchen der Beduinen in alten Zeiten ähnelte, wenn sie den Karawanen mündliche Nachrichten mit auf den Weg gaben, oder, sagen wir, mit der Brieftaube schickten, wenn sie über diesen Luxus verfügten.

Wird die Brieftaube eigentlich anders genannt, wenn sie sich auf ihrer Reise mit ihrem Brief auf ein Reittier setzt, das ihr das anstrengende Flattern für einen Teil des Weges abnimmt?

Alles, was ich aus der Schublade des Schuhschranks herauskramte, waren Schreiben, die mit jenem bekannten Satz begannen, den ich in diesem Land kennengelernt und von dem ich begriffen hatte, dass er mich mein ganzes Leben lang begleiten werde:

«Sehr geehrter Herr Abboud ...»

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Würden Sie bei Ihrem nächsten Einkauf diese Rabattmarken nutzen? Ich werde sie sicher vergessen und auf dem Tisch liegenlassen. Deshalb: Nein.

Die Möglichkeit, etwas anzunehmen oder abzulehnen löst sich allerdings in Luft auf, sobald der graue Adler auf dem Brief hockt. Solcherart Briefe können ungefragt in deinem Briefkasten landen und brauchen keine Briefmarke als Eintrittskarte.

Immer wenn die Briefmarke fehlt und die Krallen des Adlers das Papier des Umschlags berühren, stellt sich ein Gefühl der Angst ein, selbst wenn der Brief bloss eine Antwort auf einen offiziellen Antrag meinerseits war. Vielleicht hatte die Verbindung von «mein erster Brief» und «Bescheid über meinen rechtmässigen Aufenthalt oder eine Ausweisung» eine Brief­Angst bei mir entstehen lassen, so dass ich sogar vergass, welche Anträge ich gestellt hatte; stets rechnete ich mit überraschenden Entscheiden oder unerwarteten Strafen. Selbst wenn die erste Zeile des Briefes mit dem höflichen Begleitsatz «Sehr geehrter Herr Abboud» verziert war, könnte er mir doch Schaden zufügen, gleichsam wie ein Messer, bei dem es keine Rolle spielt, wie gross es ist oder wie scharf seine Klinge: Kitzeln wird es dich nicht.

Aber das Glück ist ein Spieler, das sich uns nur zuwendet, wenn ihm langweilig ist, nicht aber, wenn wir es brauchen. Plötzlich bewegte sich jedoch etwas im Himmel, mochte es das Glück sein oder die Gebete meiner Mutter, denn als ich hinunterging, um nachzusehen, ob etwas für mich in der Schublade lag, fand ich einen Brief in einem dünnen grünen Umschlag, der nicht mit der offiziellen Anrede begann, die mir gewöhnlich meine Freude verdarb. Auf Vorder­ und Rückseite des Umschlags hatte jemand etwas mit Handschrift geschrieben, und als ich den Umschlag aufriss, las ich: «Lieber Hamed ...»

Der Brief kam von Freunden aus einem Nachbarland. Ich las ihn wieder und wieder und antwortete erst Wochen später, als ich mich daran sattgelesen hatte. Doch ich wusste nicht, was ich schreiben und was ich mir für die persönlichen Treffen oder die Telefongespräche aufheben sollte. Als ich meinen Antwortbrief fertig hatte, suchte ich im Internet nach einem Lehrvideo, um mich zu vergewissern, Adresse und Absender richtig geschrieben zu haben.

Dann nahm ich meinen Stapel offizieller Briefe, der von meinem grünen Brief gekrönt war, und zog in die Stadt – neugierig darauf, wie viele Briefe ich dort wohl erhalten würde. Briefe stellten für mich mittlerweile das Mass meiner Verwurzelung in diesem Land dar, und deshalb begann ich, Gelegenheiten nachzujagen, einen Brief, eine kleine Postkarte, Zeitschriften oder Bücher zugeschickt zu bekommen. Ich versäumte auch nicht, mich bei Kulturinstitutionen in meiner Umgebung zu registrieren, um ihre Programmbroschüren zu bekommen, auch wenn ich nur einen Bruchteil ihrer Veranstaltungen besuchte.

Schliesslich wurde ich überhäuft mit Briefen; und immer, wenn ich eine schwere Zeit durchmachte oder in Niedergeschlagenheit verfiel, bekam ich einen Brief, der mich aus meinem Abgrund zog. Das ging so weit, dass ich zu einem Freund sagte: «Solange es Leute gibt, die mir schreiben, und solange sich mein Briefkasten füllt, verliere ich die Hoffnung nicht.»

Ich habe nie vor meinen Freunden meine Neugier verborgen, die Geschichten um ihre ersten Briefe zu erfahren. Einer hatte zum Beispiel schon im Alter von zehn Jahren Briefe erhalten, ein anderer, der an einem Briefaustauschprogramm der Schule teilgenommen hatte, mit dreizehn. Aus lauter Neid sagte ich zu ihnen, dass Briefe eine grosse Verantwortung bedeuteten und dass sie hätten warten sollen, bis sie das Wahlrecht erhielten, um Briefe zu empfangen.

Meine eigene Eignung, zu wählen und Briefe zu erhalten, schien allerdings ziemlich spät eingesetzt zu haben. Es gibt aber keinen Grund, niedergeschlagen zu sein, denn ich konnte trotz der durch die Pandemie verursachten Stagnation einige Freunde anspornen, mir von Zeit zu Zeit Briefe zu schicken. Auf diese Weise riss der gegenseitige Nachrichtenstrom nicht ab, und meinem Briefkasten mangelte es nicht an Zuwendung und Liebe.

Zufällig bekam ich einmal ein Gespräch zweier Freundinnen mit, die sich über das Briefeschreiben unterhielten. Eine sagte, dass sie niemals eine alte WhatsApp­Nachricht finden würde, die in einer Schatulle versteckt auf dem Dachboden des Hauses vergessen wurde. Und dass sie beim Sortieren ihrer Papiere in den Schreibtischschubladen auf keine E­Mail eines alten Freundes stossen würde. Dass sie aber bestimmt hier und da einen Brief entdecken würde, der sie auf eine Reise voller sehnsuchtsvoller Erinnerungen mit schriftlichen Geständnissen in der intimen Atmosphäre des Papiers mitnehmen werde.

Dieser Wunsch hat es wirklich verdient, ihn mit ge schlossenen Augen zu geniessen! Ich muss indes schon wieder an den Adler und meine Angst vor zukünftigen Briefen denken, die entweder eine Antwort auf einen von mir gestellten Antrag oder einen neuen und unerwarteten Beschluss enthalten könnten, der mein neues Leben direkt betrifft. Aber ich wünsche mir, dass sich der Adler in einen weissen Hasen verwandelt und die offiziellen Briefumschläge nicht mehr in dem unverschämten Weiss daherkommen, sondern dass ich in meinem Briefkasten einen offiziellen Brief auf rosafarbenem Papier vorfinde, so dass Leute wie ich, die unter akutem Vitamin­B­Mangel leiden, keinen neuen Panikanfall erleiden, und dass solche Briefumschläge die Empfänger mit ihrer angenehmen Farbe auf das vorbereiten, was in ihnen verborgen ist – was auch immer es sein möge.

Aus dem Arabischen von Larissa Bender.

HAMED ABBOUD, geboren 1987 in Syrien. Auf Deutsch erschienen: «Der Tod backt einen Geburtstagskuchen» (Übersetzung Larissa Bender, pudelundpinscher 2017) und der vielbeachtete Band «In meinem Bart versteckte Geschichten» (Übersetzung Larissa Bender und Kerstin Wilsch, Edition Korrespondenzen 2020). «Meine vielen Väter» (März 2023) ist Abbouds erstes auf Deutsch verfasste Buch.

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