2. Ausgabe 2011

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magazin f端r schule und studium

Am Puls Raphael Stierli rappt f端r Thailands Kinder

02.2011

www.tango-online.ch

Am Ziel Giada Berini trampt durch Alaskas Wildnis

Am Hauptbahnhof

Eine Nacht

mit den Emos


Bachelor-Studium Biotechnologie Chemie Lebensmitteltechnologie Umweltingenieurwesen Facility Management Info-Anlässe 4. Oktober 2011, 17.30-19.30 Uhr Campus Grüental, Wädenswil 5. November 2011, 10.00-13.00 Uhr Campus Grüental, Wädenswil www.lsfm.zhaw.ch/bachelor

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das f채ngt ja gut an

ENDLAGER

4


War da mal was? Ein halbes Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima droht das Thema bereits wieder aus den Schlagzeilen und aus dem Bewusstsein zu verschwinden. Jonas Kakó, 21, hat sich damit in einem Schulprojekt auseinandergesetzt. «Ich wollte alles möglichst überspitzt und somit sofort verständlich darstellen. Zudem war mir wichtig, die Szenerie so realistisch wie möglich darzustellen, weshalb eine Photoshop-Manipulation nicht in Frage kam. Also besorgte ich mir eine Tonne vom Schrottplatz und bemalte sie. Dann warf ich die Tonne – unter den Blicken verdutzter Touristen – ins Wasser.» Mehr von Jonas gibt es auf Seite 64.

5


inhalt

topstory 16

STYLECHECK Meine Nacht mit den Emos, die eigentlich gar keine Emos mehr sind

report 9

REGENBOGEN Mit «Sai» gegen Kinderprostitution in Thailand

24

BREAKDANCE «Wenn du ein neues Leben beginnen willst, musst du dein Altes zuerst aufgeben.» – Also verlassen die acht Tänzer der Roc Kidz Crew ihr gewohntes Leben, um zusammen als beste Freunde und als Tänzer loszuziehen. In einem bunt bemalten Bus fährt die multikulturelle Gruppe Richtung Süden. Für sie beginnt eine Reise, die weder ihren Geldbeutel noch ihren Ruhm bereichern wird, sondern vielmehr ihr Herz und die Herzen anderer.

KÖRPERSTELLUNG La Novie del Mar

26

LIFESTYLE Alotria – meine Lifestyle-Marke

42

FORSCHERTRIEB Am Gymnasium erforscht

reportage 38

NÄCHSTENLIEBE «Das ist einfach so passiert»

porträt 12

BREAKDANCE Bis auf die Unterhosen alles geteilt

kurzgeschichte 36

KOPFSCHMERZEN Kindergeschrei

48

FEIERABEND Momentaufnahmen

50

SONNENSTRAHLEN Im Fall der Farben

55

REGENSCHAUER Sans parapluie

59

FREUDENTRÄNEN Hoffnung

61

MEDIZINSTUDENT Das rote Kleid

comic 22

GUTMENSCH

62

9 REGENBOGEN

Mein lieber George …

Als Raphael Stierli ein schockierendes Buch über Kinderprostitu-

KREISLAUF

tion in Thailand liest, beschliesst er, auf seine Art zu helfen. Raphael

Die Dose

aka Cyphermaischter produziert den Rap «Sai», dreht ein Video und

essay

spannt eine Hilfsorganisation für sein Projekt ein. Mit dem Erlös aus

46

seinem ersten Solo-Album soll ein Kinderheim in Thailand unter-

GLIMMSTÄNGEL Rauchen – Lust oder Frust?

53

stützt werden.

ABTREIBUNG Entscheidung über das Leben

foto 4 56 64

DAS FÄNGT JA GUT AN Endlager

STYLECHECK

BERN-ZÜRICH

Luisa Ricar beobachtet für ihre Matu-

Scheitern

raarbeit während Wochen das Trei-

DAS HÖRT JA GUT AUF

ben am Zürcher Hauptbahnhof. Bald

Kulturlandschaft

fallen ihr Jugendliche auf, die stundenlang vor den Spiegel stehen, um

34

aufruf

sich schliesslich am HB perfekt gestylt der Welt zu präsentieren. Ein Treffen

50

impressum

mit den Emos, die offenbar gar keine Emos mehr sind und trotzdem noch am HB hängen.

6

16


ciao Weitaus die meisten Texte, die wir von euch erhalten, sind Kurzgeschichten. Diese sind teilweise so brilliant und spannend, dass wir problemlos ein doppelt so dickes tango, das nur aus Kurzgeschichten besteht, drucken könnten. Aber eben: Unsere Seitenzahl ist leider begrenzt, weshalb wir versuchen, im Magazin einen guten Mix aus verschiedenen Themen und journalistischen Textsorten (Interviews, Porträts, Reportagen, Essays) zu berücksichtigen. Doch zum Glück gibt es das Internet. Im Frühjahr haben wir unsere Website tango-online.ch zum Online-Magazin ausgebaut. Seither schalten wir in

12

regelmässigen Abständen neue Beiträge auf, die uns nach Redaktionsschluss des Printmagazins erreicht haben. Auf tango-online.ch findest du also noch mehr spannende Porträts von Menschen, die etwas bewegen und noch mehr Projekte, die Schlagzeilen machen, aber auch gut geschriebene Kurzgeschichten,

26

Essays und Interviews. – Und weil wir alle auch mal ganz gerne gamen und zocken, findest du auf unserer neu gestalteten Homepage auch ständig neue OnlineGames und attraktive Wettbewerbspreise. Also, wir freuen uns, wenn du regelmässig bei tango-online.ch hineinklickst und dir so die Wartezeit bis zum nächsten Heft verkürzt. Übrigens: Selbstverständlich gelten für das OnlineMagazin die gleichen Qualitätskriterien wie für das Print-Magazin: Jeder Beitrag muss spannend, originell, aussergewöhnlich oder faszinierend sein. In jedem Fall freuen wir uns über jeden Artikelvorschlag und selbstverständlich beantworten wir jede Zuschrift individuell – wir bitten aber um Verständnis, wenn die Antwort manchmal etwas auf sich warten lässt, denn wir erhalten sehr viele originelle und kreative Artikel(vorschläge), die wir jeweils im Team intensiv besprechen. Wenn du auch eine Idee hast, so beachte bitte unseren Aufruf auf Seite 34. Viel Spass mit tango wünscht Daniel Heeb

LIFESTYLE

Moni Rimensberger gestaltete tango. Sie erinnert sich

Sein Ziel: die Gestaltung einer eigenen Lifestyle-Marke.

gerne an die Zeit, als sie viel im Wald spielte. Stunden-

Also beginnt Damian Ineichen in seiner Freizeit, ein Logo

lang vertrieb sie sich die

zu entwickeln, Entwürfe für eine T-Shirt-Kollektion zu

Zeit mit ausgedachten

designen, die T-Shirts schliesslich zu bedrucken und einen

Abenteuergeschichten

eigenen Katalog zu gestalten. Das Ergebnis kann sich seh-

und mit Tannenzapfen-

en lassen!

sammeln für den Ofen zu Hause.

7


MÉLANIE WAR DAS MATHEMATIK-STUDIUM ZU THEORETISCH. UMSO BESSER GEFÄLLT ES IHR IM JUNIOR BANKING PROGRAM. Mélanie schätzt die praxisbezogene Ausbildung – «das gefällt mir viel besser als an der Uni», sagt sie. Mélanie ist eines von 800 Young Talents, die bei uns das Junior Banking Program oder eine Lehre absolvieren – und auf die wir setzen, weil sie unsere Zukunft bedeuten. credit-suisse.com/karriere

8


report

MIT «SAI» GEGEN KINDERPROSTITUTION IN THAILAND Raphael Stierli alias «Cyphermaischter» macht mit seinem Song «Sai» und dem dazu gehörenden Videoclip auf die Situation der Kinderprostituierten in Thailand aufmerksam.

Raphael Stierli

V

or einiger Zeit las ich «Ich war erst dreizehn» von Julia Manzanares

und Derek Kent. Das Buch, das auf einer wahren Begebenheit basiert, erzählt von einem minderjährigen thailändischen Mädchen. Nach dem Tod ihres Vaters entschliesst sich Sai, ihre Familie zu verlassen, um in einer Bar in Lampang Geld zu verdienen. Ihr Einkommen reicht jedoch nicht aus, um ihre Familie zu ernähren, und so landet sie schliesslich in Bangkok in den Fängen der 9


mit «sai» gegen kinderprostitution in thailand

TANGO-FACTS CYPHERMAISCHTER: REGABOGA «Im Leben jedes Menschen gibt es schöne, sonnige, aber auch regnerische Abschnitte. Und es kommt vor, dass diese Momente heftig aufeinandertreffen – in der Natur entstehen in diesen Momenten Regenbogen am Horizont, die als Symbol der Hoffnung auf bessere Zeiten oder als Warnsignal für ein aufziehendes Gewitter verstanden werden können. Dieses Phänomen thematisiere ich auf meinem ersten Soloalbum», verrät Raphael Stierli alias «Cyphermaischter». «Regaboga» kannst du bei iTunes herunterladen. Alle Einnahmen aus den Online-Verkäufen des Songs «Sai» gehen an das Caritas-Projekt in Pattaya. Die CD kannst du bei www.exlibris.ch/DE/Regaboga kaufen. Pro verkauftes Album gehen zwei Franken an das Hilfsprojekt. Das Video findest du auf www.tango-online.ch. Mehr zum Projekt findest du auch auf www.youngcaritas.ch/sai. 10


TANGO-FACTS HILFSPROJEKT IN PATTAYA: GEFÄHRDETE UND AUSGEBEUTETE KINDER ERHALTEN SCHUTZ UND HILFE Religiöse und ethnische Konflikte, aber auch politische Intrigen und wirtschaftliche Rezession thailändischen Sexindustrie. Dieses

vies, visualisierte zudem den Song

haben das Schwellenland Thailand in eine

Thema hat mich sehr bewegt und

während unzähliger Drehtage in ei-

schwere Krise gestützt, was 2006 zu einem

zugleich schockiert. Ich begann

nem Videoclip.

Militärputsch führte. Auf der Suche nach

mich damit intensiver auseinan-

Doch mir ist es nicht nur wichtig,

derzusetzen und erfuhr, dass allein

auf das Schicksal der Kinderpros-

in Thailand bis zu 800‘000 Kinder in

tituierten aufmerksam zu machen,

der Prostitution tätig sind. Vielfach

ich möchte auch Hilfe leisten. Des-

nutzen auch Schweizer Touristen

halb spende ich für jede verkaufte

die Notlage minderjähriger Mäd-

CD meines Soloalbums «Regaboga»

chen aus.

zwei Franken an ein Caritas-Hilfs-

LAOS

THAILAND

Aufgrund meiner Recherchen

projekt, mit dem präventive Mass-

und Erkenntnisse entschied ich

nahmen zum Schutz thailändischer

mich, auf dieses Verbrechen auf-

Kinder in Pattaya realisiert werden

merksam zu machen. Meine Grund-

sollen. Zusätzlich fliessen alle Ein-

idee bestand darin, einen Rap-Song

nahmen aus den Online-Verkäufen

zu produzieren, der die Geschichte

des Songs in das Caritas-Projekt. Ich

eines unschuldigen thailändischen

möchte, dass den Kindern in Pattaya

Mädchens erzählt. Also produzierte

eine bessere und sichere Zukunfts-

ich das musikalische Grundgerüst

perspektive aufgezeigt wird. Kinder

Sicherheit und Einkommen in den städtischen

für den Song und erzählte im Text,

sind hilflos und können sich nicht

Zentren fallen Familienstrukturen oftmals

wie Sai Schritt für Schritt in die

wehren. Daher will ich mithelfen,

auseinander. Die Kinder sind allein der Strasse

Sexindustrie gerät: «Dr Bus öffnet

die Kinder zu schützen, zu unter-

überlassen und werden von Zuhältern für krimi-

d‘Türa in a Welt voller Angscht, in

stützen und zu bilden.

nelle Zwecke oder zum Betteln missbraucht.

a Schtadt, wo z Leba nur mit Geldnota klappt, a Hinterwäldler vom Land mit wenig Geld in dr Hand isch a gfundnigs Fressa für männli-

BANGKOK PATTAYA KAMBODSCHA

VIETNAM

Drogen, Prostitution und Menschenhandel sind in Pattaya, unweit von Bangkok, sehr präsent. Caritas Schweiz führt dort mit Partnerorgani-

chi Gwalt.»

Text und Musik fanden schliesslich den Weg ins Tonstudio von Lou Geniuz, der bereits mit den RapGrössen Gimma und Breitbild zusammenarbeitete. In diesem professionellen kreativen Umfeld entstand mein Song «Sai». Beat Edelbauer, besser bekannt als FixFinest Mo-

Raphael Stierli alias «Cyphermaischter», 23, aus Grüsch, startete seine

sationen eine Kindertagesstätte, die Kinder vor

ersten Gehversuche als Musiker unfreiwillig. Als Strafaufgabe musste

Gewalt schützt, damit sie nicht ins Sexgewerbe

er im Konfirmandenunterricht einen Bibel-Psalm in einen Rap umwan-

hineingeraten. Die Kinder erhalten im Zentrum

deln. Danach wurde er vom Hip-Hop-Fieber infiziert. Was ist ihm ausser

eine ihren Fähigkeiten und ihrem Alter ent-

seiner Musik und dem Projekt «Sai» sonst noch wichtig? «Meine Fami-

sprechende Ausbildung und Erziehung, zudem

lie, meine Freunde, Fitness, Unihockey und Spass am Leben.»

bekommen sie einmal am Tag eine ausgewogene Mahlzeit.

11


portr채t

Bis auf die Unterhosen die Mitglieder der Breakdancetruppe The Roc Kidz Crew k체ndigten ihre Wohnungen und fuhren gegen S체den, um auf der Strasse zu tanzen. Das Thurgauer Crewmitglied Fabian Kimoto hat die Gruppe mit der Kamera begleitet, seither ist die Truppe in aller Munde.

12


alles geteilt Susanne Hefti

W

as passiert, wenn acht ausserordentliche Breakdancer

ihr

bishe-

riges Leben aufgeben und auf der Suche nach Entfaltung und Unabhängigkeit in einem bunt bemalten

eine ganz andere Hip-Hop-Kultur,

Bus gegen Süden fahren? Die Break-

frei von Drogen, Waffen und Gewalt.

dancetruppe The Roc Kidz Crew war

Viele der Mitglieder sind Grö-

über 18 Monate lang nur aus einem

ssen im Breakdance-Geschäft: Ben-

einzigen Grund unterwegs: der Lie-

ny Kimoto beispielsweise hält den

be zum Tanz. Ohne Chef und ohne

Weltrekord im Headspin und gehört

Regeln führen sie in unzähligen

zu den dreizehn aussergewöhnlichen

Städten ihr Programm auf, das im-

Tänzern, denen im Playstation-Spiel

mer auf der Strasse stattfindet und

B-Boys eine Figur gewidmet wurde.

das Publikum direkt miteinbezieht.

Er ist eine der Schlüsselfiguren der

So scharen sie in Rom, Paris und

europäischen

Pisa hunderte Leute um sich, die am

genauso wie Dergin Tokmak, der

Spektakel teilhaben wollen.

im Rollstuhl sitzt und mit Krücken

Die Roc Kidz sind

Rockstars.

Nach den Shows kommt nicht nur

Ein Leben abseits von traditionellen Lebensentwürfen

ein voller Hut

Breakdance-Szene,

tanzt,

meistens

kopfüber

und

so virtuos, dass

TANGO-FACTS THE RISING SUN Eine unvergessliche Reise voller Emotionen, Liebe und Leidenschaft zur Tanzkunst. Purer Lifestyle – voller Überraschungen und positiven Begegnungen. Eine DVD über die acht Mitglieder der multikulturellen Gruppe The Roc Kidz Crew und ihren Erlebnissen auf der Fahrt Richtung Süden ist ab Oktober 2011 überall im Handel erhältlich. Gewinne eine Gratis-DVD und schreibe eine E-Mail an redaktion_tango@hotmail.com, Stichwort The Roc Kidz Crew.

einem der Atem wegbleibt.

Mit

zurück, sondern es gibt Standing

seinem Programm «Solo on Crut-

Ovations für die Tänzer und Fotos

ches» tourte er mit dem Cirque du

mit begeisterten Fans. Die Strassen-

Soleil durch die ganze Welt. Zum

tänzer kommen aus Deutschland,

Tanzen sei keine Behinderung zu

Japan, Italien, aus dem Iran, der

gross oder zu einschränkend, meint

Türkei und der Ostschweiz, genauer: aus Romanshorn.

Während ihrer Reise leben sie wie eine Familie zusammen. Sie teilen sich alles, nur die Unterwäsche nicht – wobei, die Socken schon. Obwohl so viele unterschiedliche Charaktere aus verschiedenen Kulturen zusammenkommen, bringen sie einander Respekt, Liebe und Toleranz entgegen. Genau das ist eine Botschaft, die die Roc Kidz den Zuschauern, sei es mit ihrem Film «The Rising Sun» oder mit ihrem Strassenprogramm, vermitteln wollen. Mit ihrer Haltung verkörpern sie

13


Polizistin oder Polizist in der grössten Schweizer Stadt zu sein, ist spannend, vielseitig und anspruchsvoll – sei es im Streifenwagen, auf dem Motorrad, auf dem See, in Uniform oder in Zivil. Für diese aussergewöhnliche Aufgabe brauchen Sie Einsatzbereitschaft, Besonnenheit und eine gute Ausbildung. Aufgeweckte, kontaktfreudige 20- bis 35-jährige Schweizerinnen und Schweizer mit Berufsabschluss, Matur oder anerkanntem Diplom bilden wir während zwei Jahren bei vollem Lohn zu verantwortungsbewussten, kompetenten Polizistinnen und Polizisten aus. Unsere künftigen Mitarbeitenden müssen körperlich fit und mental belastbar sein.

Ich bin Polizist bei der Stadtpolizei Zürich. Daniel, 28, Handballer

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bis auf die unterhosen alles geteilt

er, und das will er den Leuten mit seinem Programm vermitteln. In jedem stecke eine kreative Seele, ob mit Behinderung oder ohne.

Das Talent, das die acht Crewmitglieder an den Tag legen, ist erstaunlich und ihre mitreissenden Körperbewegungen beim Tanzen auf der Strasse oder bei einem Auftritt wirken kinderleicht und schwerelos, obwohl ohne Zweifel viel Arbeit dahinter steckt. Denn um ein so hohes Niveau zu erreichen, verlangen die Tänzer ihren Körpern täglich das Äusserste ab, auch bei Regen oder vierzig Grad im Schatten. Auf der Tour durch Europa beispielsweise verletzte sich Crewmitglied Julia am Handgelenk und muss die

Und natürlich kennen die Tänzer auch selbstzweifel Gruppe für längere Zeit verlassen, und auch die anderen Tänzer kämpfen mit überbeanspruchten Körperteilen. Ein Tänzerleben kennt nicht nur Sonnenseiten, sondern fordert meist auch seinen Tribut. Um längerfristig so zu leben, gehört eine gehörige Portion Mut und Idealismus dazu.

Die Crewmitglieder der Roc Kidz haben sich für ein Leben abseits von Konventionen und traditionellen Le-

schen so frei, wie man es sich nur

bensentwürfen entschlossen. Dabei

erträumen kann. Acht Menschen,

war die Entscheidung zur Tänzer-

die ihr Leben selbst in die Hand ge-

karriere für viele Gruppenmitglie-

nommen haben, um das zu tun, was

der alles andere als selbstverständ-

sie lieben.

lich. Familie oder Freunde brachten

Kürzlich gewann die Truppe den

ihnen Unverständnis entgegen. Und

Publikumspreis beim Milano Clown

natürlich kennen die Tänzer auch

Festival und beim Festival Artisti di

Selbstzweifel, wenn es um die Zu-

Strada in Ascona. «The Rising Sun»,

kunft geht, die sie mit dem Tanzen

der Dokumentarfilm über die Roc

haben. Doch alles, was man aus Lie-

Kidz Crew, feierte am Zurich Film

Susanne Hefti, 26, aus Zürich, hat an der Zür-

be macht, hat eine Zukunft. Und die-

Festival seine Schweizer Premiere.

cher Hochschule für Angewandte Wissenschaf-

se Ideologie macht diese acht Men-

ten Journalismus und Kommunikation studiert und bildet sich nun im Bereich Fotografie weiter. Sie interessiert sich ausserdem für Literatur und Kunst.

15


topstory

Meine Nacht mit den Emos, die eigentlich gar keine Emos mehr sind Sie verbringen Stunden vor dem Spiegel, um sich am Hauptbahnhof Zürich perfekt gestylt der Welt zu präsentieren. Ein Treffen mit den Emos, die keine Emos mehr sind und trotzdem noch am HB hängen. Luisa Ricar

L

eo ist 19 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Am besagten Abend war er nicht zufällig am Zürcher Haupt-

bahnhof. Er fuhr an einer Gruppe auffällig gekleideter und düster geschminkter Jugendlicher vorbei. Einmal, zweimal, niemand nahm Notiz vom schüchtern wirkenden jungen Mann. Beim dritten Vorbeifahren wurde er von Heni angesprochen. Heni ist 22 Jahre alt

bert und kommentiert; selbst Emo-

und ein Emo. Leo jetzt auch.

Witze werden gerissen. Zu Beginn

Heute treffe ich mich mit Heni am Zür-

getraue mich fast nicht, werfe aber

cher Hauptbahnhof. Er gilt als grosser Ken-

dann doch die Frage in die Runde,

ner der Emoszene. Ich bin gespannt. Als Heni

ob sie denn keine Emos seien.

schliesslich angewuselt kommt, steht mir ein kleiner und unsicher wirkender junger Mann

Alle: «Nei wää! Sicher nöd!»

mit grosser Nase und wachem Blick gegen-

Heni: «Doch, voll, ich zell mich im-

über. Seine Haare sind schwarz und übers Auge gekämmt, Vans, Karogürtel, dunkle Röhrenjeans und ein T-Shirt mit farbigem Print.

Bei

unserem

Gang

durch den HB scheint Heni praktisch jeden zu kennen, der schwarze Haare, Nietengürtel, enge Hosen

Henis Haare sind schwarz und übers Auge gekämmt, Vans, Karogürtel, dunkle Röhrenjeans und ein T-Shirt mit farbigem Print.

oder ähnliche Accessoires trägt. Bald sind wir

16

mer no als Emo.» Cherry: «Boa, du bisch ja voll krass!» Heni:

«Lueg,

die döt hine sind eher

‘Visual

Keys‘.»

Okay, «Visual Keys», keine

Emos. Was denn sonst noch?

von einer lustigen Truppe von Mädels und

Heni: «Ja, eigentlich sind mir alli

Jungs umgeben. Keine Spur von den manisch-

so chli Individualischte, aber es git

depressiven Emos, die in Selbstmitleid versin-

scho vereinzelti Churks, Nerds oder

ken. Es wird gelacht, getrunken, herumgeal-

Technotics under ois.»


17


meine nacht mit den emos, die eigentlich gar keine emos mehr sind

Ich nehme Heni zur Seite und

Würklich, das vermiss ich fascht es

frage nach den guten alten Zeiten,

bizeli. Früäner simmer no für meh

als die Welt noch einfach war und es

Emotione und zwüschemenschlichi

Emos und Nicht-

Beziehige igstande, aber jetzt nüme.

Emos

gab:

Im

Jahr 2007, als das Phänomen Emo auch die Schweiz erreichte,

war

Emo noch klar definiert.

Emo

Früäner hend sich d'Emos no kuschled, aso hend Gruppekuschel gmacht und so Sache.

war, wer schwar-

18

Me isch halt normal worde», bedauert Heni. Wannabe

Normal war früher aber alles an-

das Schimpfwort

dere als die Emos. Die Leute konn-

ist, kann sich an-

ten mit den provokant gestylten Ju-

scheinend jeder

gendlichen nicht viel anfangen, man

so kleiden, wie er

wurde lediglich argwöhnisch begut-

oder sie möchte.

achtet. Auf jeden Fall war man da-

mehr

ze, enge Kleidung trug, sich die Haa-

Heni wird fast etwas nostalgisch,

mals noch etwas Spezielles, etwas

re stylte, harte Musik hörte und sich

als er von «früher» erzählt, als das

Mysteriöses, wenn man am HB so

besonders gefühlsbetont gab. Heni

Phänomen Emo noch in den Kinder-

herumlief.

war damals natürlich schon dabei.

schuhen steckte. Damals versam-

In Internet-Communitys finden

Früher war das richtige Styling ex-

melte man sich jedes Wochenende

sich viele Tipps, wie man einen gu-

trem wichtig, um zur Szene zu gehö-

am HB, man war die «HB-Family».

ten Emo-Style kreiert: Emos tragen

ren. «Damals isch das scho schlimm

Es war immer jemand da, dem man

viel Schwarz, kombiniert mit funky

gsi, da isch jede fertig gmacht worde,

sich anvertrauen konnte, wenn es

Farben. Emos tragen keine Sportlo-

wo sich chli billig aazoge het und de

irgendwo Stress gab. Freud und Leid

gos – das ist zu Mainstream. Emos

isch denn mit ‚Wannabe‘ beschimpft

wurden geteilt. «Früäner hend sich

tragen Chucks oder Vans, Stiefel

worde», meint Heni mit einem Schul-

d’Emos no kuschled, aso hend Grup-

sind zu punkig. Emos tragen Acces-

ternzucken. Jetzt, wo Emo und nicht

pekuschel gmacht und so Sache.

soires, auch Piercings und Tattoos


peppen den Look auf. Emos tragen

Cherry: «Mer hetti scho bessers

Make-up. Die Augen, die Fenster zur

z’tuä, aber irgendwie landet mer

Seele, werden dunkel betont.

denn doch wieder

Offensichtlich ist, dass sich die Emos ihren Style von anderen Ju-

bim HB.» Snusnu: «Und

zusammenklauten:

d’Lüt sind cool!

Die Nietengürtel von den Punks, die

Es git sottigi, die

schwarze Kleidung von den Gothics,

ghöred eifach zu

die traditionellen Schachbrettmus-

de Familie.»

gendgruppen

ter von den Skas und so weiter. «Mer

Heni:

«Mer

Später am Abend wird er mit zwei Typen am HB rumknutschen, doch so weit sind wir noch nicht.

hier – perfekt gestylt – der Welt zu präsentieren. Das wird zwar heftig

demen-

tiert, «zum Uuf-

het sich halt vo allem nur s’Beschte

weiss eifach, mer

gno», meint Heni mit einem Au-

chan det hi gah und mer kännt öp-

kein Emo sii», meint ein Mädchen

genzwinkern. Doch ebenso schnell,

per.»

mit rotgefärbten Haaren und Rü-

wie alle «etwas Emo» wurden, verschwand das Phänomen auch wie-

Snusnu: «Und mer chan d’Lüt beobachte!»

falle muss ich

schenrock. Doch es ist offensichtlich, dass der Bahnhof Ziel des abendli-

der. Und jetzt sind wir wieder hier,

Heni: «Ja, genau. Wenn mer am

chen Ausgangs ist: «De HB isch wie

bei der kleinen Gruppe Emos, die ei-

HB hängt, het mer immer öpper, es

oise Mikrokosmos, und oise Mikro-

gentlich gar keine Emos mehr sind.

Original, es Meitli mit emene Rüsche-

kosmos bestaht us Lüt, wo chömed

«Ihr hängt also am HB herum, weil ihr nichts Besseres zu tun

rock, anderi Kulture und so zum Be-

und gönd, und dadrus entstaht e Be-

obachte.»

wegig und au e Spannig und drum

habt?», frage ich in die Runde.

Am HB ist ein Kommen und Gehen, ein Sehen und Gesehen-Wer-

Heni: «Also eigentlich träffed mir ois jedes Wuchenend.»

het mer s’Bedürfnis am HB z’sii und sich unterhalte z’lah». Punkt.

den. Die Jugendlichen verbringen

Später am Abend, als sich die

Stunden vor dem Spiegel, um sich

Truppe vom Treffpunkt am HB auf 19


meine nacht mit den emos, die eigentlich gar keine emos mehr sind

die Treppen vor dem Landesmuseum verschoben hat, bleibe ich fasziniert an Manu hängen, der mit engen lachsfarbenen Hosen und perfekt gescheitelten Haaren das GucciTäschchen seiner Kollegin mit einer solchen Grazie hält, als wäre es

meint Leo mit einem Seitenblick auf

seines. Es ist auch seines, wie sich

Heni. Heni lacht nur und erzählt

spätestens dann herausstellt, als

von einer Goa-Party, auf die sie Leo

er Spiegel und

habe aber stren-

Kamm aus der

ge Regeln ein-

Tasche holt, um

Später am Abend wird er mit zwei Typen am HB rumknutschen, doch so weit sind wir noch nicht.

mitgenommen haben.

Der Abend ist bereits weit fort-

«will

geschritten. Die Securitas patrouil-

mini Nase suscht

liert regelmässig, alle sind ausge-

wie en Härdöpfel

lassen, es herrscht eine spezielle

usgseht». Die an-

Stimmung. Manu und Ninjo geben

deren

scheinen

ein schönes Bild ab, als sich die zwei

nichts Ausserge-

hochgewachsenen Jungen spontan

wöhnliches

da-

innig küssen. Keine irritierten Bli-

rumknutschen, doch soweit sind wir

ran zu finden, dass sich ein 17-jäh-

cke seitens der Gruppe. Irgendwann

noch nicht.

eine widerspenstige

Haarsträh-

ne zu bändigen. Später am Abend wird er mit zwei Typen

am

HB

zuhalten,

riger Mann in dramatischste Posen

zerstreut sich die Gruppe, man

Als wir zusammen der Limmat

wirft und den Schatten seines Hin-

nimmt den Zug, das Tram, geht hi-

entlangspazieren, die Arme einge-

tern bewundert. Ich auf jeden Fall

naus aus dem Hauptbahnhof. Und

hängt wie zwei Kolleginnen, erzählt

amüsiere mich köstlich.

am nächsten Wochenende wird man

er von seiner KV-Lehrstelle, dass

Zurück am Hauptbahnhof. Leo,

er erst 17 Jahre alt sei, aber immer

unser Rollstuhlfahrer, verabschie-

älter geschätzt werde, von seinem

det sich um Mitternacht. Er erzählt,

Freund in Italien und dass er mich

dass es für ihn anfangs nicht einfach

knuffig finde. Na gut. Als ich ihm ein

gewesen sei, sich in eine Gruppe von

kleines Fotoshooting vorschlage, ist

nichtbehinderten Jugendlichen ein-

er hellauf begeistert und schon po-

zufügen, sonst sei er immer unter

siert er wie ein Profi im Scheinwer-

seinesgleichen gewesen. Heni habe

ferlicht vor dem Landesmuseum.

ihn damals, als Leo neugierig an

Ich komme kaum nach mit Knipsen,

den Emos vorbeigefahren war, so-

sich wieder treffen, das ist klar.

gleich in ihre Mitte aufgenommen und ihm die Integration erleichtert. Dafür sei er ihm extrem dankbar,

Luisa Ricar, 17, aus Pfäffikon, hat in einer äusserst aufwendigen Maturarbeit ein 44-seitiges Magazin über das Leben am Hauptbahnhof Zürich produziert, das Imiitat eines Magazins des Tages-Anzeigers. Sie unterhielt sich mit Pendlern, dem Sicherheitschef, einem fünfsprachigen Apotheker, dem Pfarrer der kleinen Bahnhofskirche oder mit dem ehemaligen SBB-Chef Benedikt Weibel, der weniger «bünzlig» sei als andere Bähnler. Foto: Ornella Cacace

20


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comic

Mein lieber George ...

22


SSamuel Schuhmacher, 18, aus Hettllingen, besucht das Liceo Artistico in Zürich. Er mag Bildnerisches GestalZ tten, Kunstgeschichte und Deutsch. «Grundgedanke meiner Geschichte « war, einen sogenannten ‚guten Menw sschen‘ darzustellen, wie es viele Leute zzu sein versuchen, der aber sich und ssein Leben völlig vergisst.»

23


report

La Novia del Mar In Mexico stiess ich auf eine geheimnisvolle Statue, die die Einheimischen die Geliebte des Meeres nennen. Sie liess mich nicht mehr los. Veronica Schärer

D

ie ersten Fischer schlenderten geräuschvoll mit ihrer schweren Arbeits-

Als ich eine zweimonatige Reise

ausrüstung an ihr vorbei. Sie rührte

quer durch Mexiko machte, um mei-

sich nicht.

ner besten Freundin meine zweite

Das leise Klimpern der frisch ge-

Heimat zu zeigen, fand ich sie in

schliffenen Messer, die die Fischer

einem

um ihre nackte Brust trugen, und

namens Campeche. Es war einmal

das rhythmische Rattern ihrer voll-

einer der bedeutendsten Häfen in

gepackten Wägelchen, die sie vor

Mexiko gewesen – aber auch einer

sich her stiessen, lockten die Sonne

der gefährlichsten. Er wurde regel-

hinter dem tiefschwarzen Horizont

mässig von Piraten heimgesucht.

hervor. Sie rührte sich nicht.

24

kleinen

Fischerstädchen

Die Legende besagt, dass sie

Ein sanfter Windstoss blies ih-

sich bei einem Überfall auf ihre

ren Rock hoch und entblösste ihre

Stadt leidenschaftlich in einen der

Beine. Die Fischer glucksten. Sie

Piraten verliebte. Der Pirat schwor

rührte sich nicht. Darauf berühr-

ihr, bevor er die Segel spannte, dass

ten erste, schwache Sonnenstrahlen

er zu ihr zurückkehren werde, um

ihre Zehen und kitzelten sie liebe-

sie zu holen. Die Leute gaben ihr

voll. Sie rührte sich nicht.

den Namen «Novia del Mar» (Ge-


liebte des Meeres), da bis heute kein

lancholie – aber keine Verzweiflung,

Während ich mich wieder von

Tag verstrichen ist, an dem sie nicht

Zuversicht – aber keine Gewissheit,

ihr entfernte, kam mir merkwür-

aufs Meer hinausblickend auf ihn

Anspannung – aber keine Ungeduld,

digerweise ein Cicero-Zitat in den

wartet.

Verlassenheit – aber keine Einsam-

Sinn: «Dum spiro spero.» Solange

keit, Machtlosigkeit – aber keine

ich atme, hoffe ich.

Da sah ich sie nun, wie die Meerbrise ihre Haare nach hinten kämm-

Hilflosigkeit.

Als ich mich noch weiter entfern-

te, um ihr freie Sicht aufs unendlich

Wie war das möglich? Ich be-

te, begann ich zu spüren, dass sie

weite Meer zu ermöglichen. Die Bei-

gann sie zu umkreisen. Ich wollte

mich zurückhielt. Sie wollte mich

ne hatte sie straff nebeneinander

sie verstehen. Fühlen, was sie fühlt.

noch nicht gehen lassen. Sie hatte

gelegt, den Kopf hatte sie auf ihren

Denken, was sie

mir noch etwas

Armen aufgestützt. Ihre gesamten

denkt.

zu

Körperteile verwiesen ausschliess-

was

sieht.

griff ich meinen

lich in die eine Richtung, in seine

Also setzte ich

letzten Gedanken

mich neben sie,

nochmals auf. Ci-

nahm

Po-

cero sprach aus,

forderte mich. Ihr Ge-

sition ein, sah,

dass das Leben

sichtsausdruck offen-

dachte und fühl-

und die Hoffnung

barte eine gewaltige

te und verstand

Fülle an Emotionen:

schliesslich: Hoffnung.

Richtung.

Ihr

Anblick

über-

Sehen, sie

ihre

sagen.

Also

zusammengehören. Das eine kann ohne das andere

Müdigkeit – aber kei-

Doch, was ist Hoffnung? Das

ne Erschöpfung, Me-

ewige Warten? Der Traum vom Un-

Ich atmete tief durch, wischte

wahrscheinlichen? Ein angenehme-

mir den Schweiss von der Oberlip-

res Wort für «Befürchtung»? Ist

pe, machte einige Schritte auf sie

Hoffnung bloss eine blödsin-

zu und liess mich nochmals auf sie

nige Art, sich der Realität

ein. Ich erkannte, dass es die Liebe

zu entziehen?

zu ihm war, die ihr diese Kraft, «sich

Ich löste mich aus dieser unbequemen Körperstellung

nicht existieren.

nicht zu rühren» und ewig weiter zu hoffen, gab. Jetzt verstand ich sie.

und betrachtete sie nochmals.

Hoffnung ist ein Anker, der

Ich musste schlucken. Ich war

davor bewahrt, von Wellen der Er-

plötzlich wütend geworden.

schöpfung, Verzweiflung, Ungeduld,

Auf sie, auf ihr stures «Sich-

Einsamkeit und Hilflosigkeit davon-

nicht-rühren-Wollen»

und

auf ihr nutzloses Hoffen.

getragen zu werden. Deshalb hofft sie. Es ist die einzige Möglichkeit zu überleben. Löst sich der Anker, ist man für immer verloren.

Bevor ich sie für immer verliess, zwinkerte ich ihr kurz zu und schenkte ihr ein herzliches, dankbares Lächeln. Sie rührte sich nicht.

Veronica Schärer, 21, aus Küttigen, studiert an der Uni Bern BWL sowie Kommunkations- und Medienwissenschaften. Sie ist ein Mensch, der «gerne in Bewegung ist und Dinge in Bewegung bringt».

25


report Damian Ineichen

A

lles begann in einer Geschichtsstunde vor den Sommerferien. Der Raum war in dämmriges, diffuses

Licht getaucht, und der Diaprojektor summte leise. Unser Geschichtslehrer bemühte sich, uns lebhaft etwas zu den Dias zu erzählen. Doch wir konnten kaum still sitzen. Unsere Aktivitäten bestanden vorwiegend darin, miteinander zu plaudern und Witze zu reissen, denn es war eine der letzten Stunden des Semesters, und der Stoff war nicht mehr

Mein Ziel: die Gestaltung einer eigenen LifestyleMarke. Dazu gehören: eine persönliche Philosophie, die Entwicklung eines Logos, das Designen und Drucken einer eigenen T-Shirt-Kollektion und die Organisation eines Fotoshootings.

prüfungsrelevant. Vor allem in der hintersten

aussieht. Bald entstanden kurze Snowboard-,

Reihe, dem Stammplatz von meinen Freunden

Skateboard- und Trickfilme unter dem Na-

und mir, ging es laut zu und her. Wir kritzelten

men Alotria. Auch meine selbstgebauten Sla-

auf dem Pult herum oder schossen Papierflie-

lomboards bekamen den Schriftzug Alotria.

ger durch die Gegend. Doch dann fuhr der Ge-

Alotria wurde zu meiner Marke.

schichtslehrer energisch dazwischen: «Hört

Rahmen

meiner

Maturitätsarbeit

beschloss ich, mich richtig mit der Marke

Das

Alotria

Allotria?

Wort

klang seltsam, aber vielversprechend.

Zuhause

googlete ich die Wortbe-

26

Im

endlich auf, Allotria zu machen!»

Alotria ist die Suche nach neuen Abenteuern

auseinanderzu-

setzen. Mein Ziel war die Gestaltung einer eigenen Lifestyle-Marke. Dazu ge-

deutung und fand heraus, dass Allotria so viel

hörten die Entwicklung eines Logos sowie das

wie «Spass oder vergnüglicher Unfug» bedeu-

Designen und Drucken einer eigenen T-Shirt-

tet. Das Wort setzte sich in meinem Kopf fest.

Kollektion.

Immer, wenn ich etwas mit Freunden kreier-

Viele meiner Designs für die T-Shirts

te, bekam es die Aufschrift Alotria. Allerdings

entstanden während produktiver Schulstun-

mit nur einem l geschrieben, da es so besser

den und langer Nächte. Die besten Entwürfe


verfeinerte und perfektionierte ich mit einem vektorbasierten Zeichenprogramm am Computer. Danach druckte ich die T-Shirts selber mit dem Siebdruckverfahren. Dieser Teil war sehr aufwendig und zeitintensiv, da ich viel experimentieren musste, um das bestmögliche Resultat zu erzielen. Schliesslich entstand eine T-Shirt Kollektion mit zehn verschiedenen Motiven.

Nun organisierte ich ein Fotoshooting für einen Prospekt. An einem perfekten Herbsttag – die Aussicht auf das Nebelmeer und die Berge, welche majestätisch aus ihm herausragten, war unglaublich – stellten meine Freunde und ich auf einem Hügel ein grosses Trampolin auf. Es war ein

unbeschreibliches

Gefühl, hier oben Trampolin zu springen und dabei auf das Nebelmeer hinabzuschauen. Ausgestattet mit Blitzanlage und einer guten Fotokamera, fing ich viele spektakuläre Bilder ein. Während des ganzen Shootings herrschte eine sensationelle Stimmung, und wir genossen die gemütliche Atmosphäre. Allerdings unterschätzte ich, wie anstrengend es ist, Fotograf zu sein, meinen Models Anweisungen zu geben, die Blitzschirme immer wieder neu auszurichten und den Überblick über den Ablauf des Fotoshootings zu behalten. Als ich am späten Abend heimkam, fiel ich todmüde, aber höchst zufrieden in mein Bett.

Mit den Fotos gestaltete ich einen Prospekt, der die Philosophie von Alotria wiedergibt: Alotria ist die Suche nach neuen Abenteuern – beispielsweise eine wilde Biketour im Herbst während des ersten Schneefalls oder Snowboarden auf den letzten Schneefeldern im Frühling oder aber eine Jamsession im Wald während einer warmen Sommernacht. Alotria ist ein Lebensgefühl, das sich an vielen Orten entdecken lässt. Jeder kann seine Abenteuer selbst bestimmen und nach Alotria

Damian Ineichen, 18, aus Bonstet-

suchen. Ein bisschen Alotria steckt in jedem

ten, besuchte die Kantonsschule

Kopf und in jedem Herzen.

Limmattal. Seine Hobbys: Filmen, Fotografieren, Biken, Snowboarden, Klavier spielen. Sein Berufsziel: Architekt. Weitere Infos: www.facebook.com/alotria

27


tang

aufruf

OTOGRAFIEREN • ZEICHNEN C • SC SCHREIBEN • DICHTEN C • INTERVIEWEN • GESTALTEN TE EN • EXPERIM EXPERIMENTIEREN IMEN MEN ENTI NTI TIER EREN ER EN • B BERICHTEN ERIC C EN N DU BIST KREATIV schreibst gerne (und gut) • schreibst spannende Reportagen • verfasst originelle Kurzgeschichten • schiesst starke Fotos • zeichnest witzige Cartoons, Comics, Karikaturen • verfasst eine spezielle Matura-, Abschluss- oder Facharbeit • Dann brauchen wir dich als Geschichtenerzähler/-in oder Reporter/-in oder Fotograf/-in oder Cartoonist/-in …

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Fr. 222.– 29


kurzgeschichte

Kindergeschrei Noch immer hallten die hilflosen Stimmen der Verwundeten in ihren Ohren. Ihre stummen Blicke hatten sich in ihren Kopf eingebrannt. Caroline Röhrl

M

üde

braune

Augen

blickten Veronique an, döste sie endlich ein.

als sie sich im Spiegel

Ein

betrachtete. Der Schweiss tröpfelte

dröhnendes

Ge-

aus ihren goldenen Locken hervor,

räusch riss Veronique aus

sammelte sich in kleinen Bächen,

ihrem

die über ihr braungebranntes Ge-

Das Wellblech schepperte

sicht liefen. Angestrengt, mit zusam-

unter einer unbekannten

mengepressten Lippen, die nur noch

Kraft. Augenblicklich

Dämmerzustand.

als dünne Striche sichtbar waren,

stummen Blicke hatten sich in ihren

war Veronique hell-

wusch sich die junge Frau die Hän-

Kopf eingebrannt. Die Müdigkeit

wach. Kindergeschrei

de mit Seife, so dass sich der Wasch-

lastete auf Veronique, aber sie konn-

drang von draussen

eimer

Wasser

te sich ihr nicht hingeben. Zu nah

durch

langsam in ein Schaumbad verwan-

waren noch die mageren Finger, die

Wände herein und er-

mit

abgekochtem

die

dünnen

füllte den Raum. Trä-

delte.

Während

sich

sie

apathisch

an ihren Arm

nen der Verzweiflung

geklammert hat-

stiegen Veronique in die

ten. Diese Fin-

Augen, ein trockener Kloss bil-

ger hatten einem

dete sich in ihrem Hals und liess

Mädchen

sie nur noch keuchend atmen.

auf

ihr

gelbild

Spiestarrte,

schrubbte sie an den vereinzelten Blutflecken, bis

Tränen der Verzweiflung stiegen Veronique in die Augen.

ihre Haut gerö-

angstvoll

mit

kurz

geschnit-

Welches Unglück war nun

tenen

braunen

geschehen? Wie viele

Haaren und tiefschwarzen Augen

verletzte Kinder wür-

Mit pochenden Kopfschmerzen

gehört. Wo die Kleine jetzt sein

den die schon über-

legte sich Veronique im Nebenzim-

mochte? An einem besseren Ort,

füllte Krankensta-

mer auf das harte Ruhebett der

wie sie es dem jüngeren Bruder er-

tion mit ihrer

Krankenstation. In dem abgedun-

zählt hatte? Veronique keuchte. Wie

kelten Raum war die Hitze beinahe

sollte sie diese Armut und all das

so unerträglich wie draussen vor

Elend vergessen, wenn sie zurück

der Tür. Der Ventilator an der De-

in ihrer Heimat war? Wie sollte sie

cke surrte und knackste verzweifelt.

den ganzen Luxus dort ertragen

Schützend wickelte Veronique das

können?

tet war, spannte und schmerzte.

Moskitonetz um sich, es war hoff-

Stöhnend presste sie ihre

nungslos, den schwirrenden, sum-

dünnen Finger an ihre Stir-

menden Insekten zu entkommen.

ne, doch die pulsieren-

Noch immer hallten die hilflosen

30

den Schmerzen liessen

Stimmen der Verwundeten in ihren

sich nicht betäuben.

Ohren. Würde sie die verzweifelten

Nach Stunden, so

Gesichter je vergessen können? Ihre

kam es ihr vor,


Not bevölkern?

Veronique kämpfte gegen ihre Tränen an. Sie musste stark sein, sie musste helfen. Mit zitternden Händen knüpfte sie sich eine frische Schürze um ihre schlanke Taille, steckte ihre goldenen Locken zurück und holte tief Luft. Wie ein Mantra flüsterte sie fortwährend die beschwörenden Worte: «Ich muss stark sein, ich muss helfen.»

Mit einem kräftigen Handgriff stiess Veronique die Tür zum Hof auf. Die hereindringende Hitze erschlug sie fast und das grelle Licht der Mittagssonne, die hoch oben über dem kleinen Dörfchen am Himmel brannte, liess die junge Frau für einige Sekunden erblinden. Schützend schloss sie ihre Augen. Das Kindergeschrei drang nun ungefiltert an ihre Ohren. Schaudernd blickte Veronique auf. Ihr bot sich eine unfassbare Szene dar: Einige Kinder rannten schreiend über den Hof, versuchten, den ledrigen, ausgefransten Fussball zu erwischen und im Tor zu versenken, das durch zwei dürre Stöckchen

begrenzt

wurde. Der kleine mutige Junge ging in dem Spiel auf, vergass für einige Momente den Schmerz, den ihm der heutige Tag gebracht hatte. Das Gelächter der Kinder erfüllte Veroniques Herz und zauberte ein müdes Lächeln auf ihre Lippen. Auch in dieser Welt des Elends waren einige Minuten des Glücks möglich.

Caroline Röhrl, aus Büsserach, 22, studiert BWL an der Universität St. Gallen. Die zukünftige Unternehmensberaterin sagt: «Ich bin ehrgeizig, diszipliniert und halte es kaum einen Tag ohne Sport aus.»

31


reportage

Das ist einfach so passiert Mitten im Dschungel Südindiens steht einsam ein Krankenhaus für die Bedürftigen. Seinen Leitspruch «Lasst uns die Last der anderen mittragen» setzt es auf bemerkenswerte Weise um. Veronika Widmann

K

betrachtet

sen. Das nächste öffentliche Kran-

Kumar die Hand sei-

kenhaus liegt 60 Kilometer entfernt

nes Patienten. Gestern

– unerreichbar für die Menschen

hat dieser sich sämtliche Finger

von Kamagiri. Das erkennt auch

an einem Feuerwerkskörper ver-

Doktor Jeyachandran, als er 1987

brannt, jetzt müssen die Verbände

das erste Mal in die Gegend kommt.

gewechselt werden. Kumar streift

Aus seinen jährlichen Besuchen ent-

sich in einer gewohnten Bewegung

springt der Wunsch, dauerhafte me-

ein Paar Plastikhandschuhe über.

dizinische Hilfe zu leisten. Mit Hilfe

Er legt sich ein Fläschchen Jod,

von Spenden bringt er das Projekt

einen Pinsel, eine Spritze und fri-

ins Rollen: Im Jahr 2000 steht das

schen Verband bereit. Dann beugt

erste Smart-Care-Gebäude, 2002 das

er sich über die verletzte Hand und

zweite. Jeyachandran ist seitdem

beginnt, den Verband abzuwickeln.

an fünf Tagen in der Woche für sei-

Die verbrannte Haut betupft er mit

ne Patienten da, er arbeitet unent-

Jod, zieht die Spritze auf. Sein Pati-

geltlich. Spricht man ihn auf seine

onzentriert

ent verzieht das Gesicht, gibt aber keinen Ton von sich. Plötzlich geht die Lampe aus, die im halbdunklen Raum Licht für die Behandlung spendet, – Stromausfall.

Kein ungewöhnliches Ereignis im Smart-Care-Krankenhaus in Kamagiri. Es liegt auf 900 Metern Höhe im Hinterland Südindiens, umgeben von Bergen, Dschungel und kleinen Dörfern. Das Krankenhaus ist die erste und oft einzige Anlaufstelle bei Verletzungen und Krankheit für rund 10‘000 Menschen, die auf dem Hochplateau und in den umliegenden Bergen leben. Die meisten dieser Menschen sind sogenannte tribals, Mitglieder der

Leistungen an, ist ihm das sichtlich

indigenen

unangenehm. «Das ist einfach so

Bevölkerung

Indiens.

In traditionellen Stammesgemein-

passiert», sagt er bescheiden.

schaften leben sie zurückgezogen

Kumar lässt sich vom Stromaus-

und in den einfachsten Verhältnis-

fall nicht aufhalten. Im Licht einer

32


Taschenlampe spritzt er die restlichen Finger und umwickelt sie dann mit einem frischen Verband. Kumar ist ungefähr dreissig, so genau weiss er es selber nicht, er trägt Trainingshose und Sweatshirt, und wenn er sich nicht konzentriert, steht ständig ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. «Ich liebe meine Arbeit hier, am liebsten assistiere ich bei Operationen oder Anästhesien», erzählt er.

Zehn Jahre zuvor hatte Kumar wenig Grund zum Lachen. Er war schwer krank, konnte kaum zehn Schritte laufen, ohne zusammenzubrechen, schlief schlecht. «Meine Freunde haben mir dann von Doktor Jeyachandran erzählt, der gerade dabei war, in Kamagiri ein Krankenhaus zu bauen», erzählt er heute. Nach einer Untersuchung stand fest: Kumar hatte ein Problem mit seinen Herzklappen, er musste unbedingt operiert werden. Die Operation war zu kompliziert für das Smart-CareKrankenhaus, aber Jeyachandran hatte Kontakte zu einem Arzt in Bangalore und bezahlte für die Operation. Bald darauf ging es Kumar wieder besser, trotzdem verbrachte er immer mehr Zeit bei Smart Care. Was er denn noch hier wolle, fragte 33


das ist einfach so passiert

Jeyachandran ihn irgendwann. Kumars Erklärung dafür ist einfach: «Die Hilfe, die ich erfahren habe, hat mich sehr beeindruckt. Ich möchte diese Erfahrung weitergeben und selbst anderen Leuten helfen.»

Kumar hat die Schule nach der achten Klasse verlassen, hat keine offizielle Ausbildung zum Krankenpfleger. Es ist eines der Prinzipien des

Smart

Care-Krankenhauses,

locals wie Kumar, anzulernen und auszubilden. «Alles, was ich kann, hat mir Doktor Jeyachandran beigebracht. Manche Menschen haben mehr Vertrauen zu mir, weil ich von hier komme und ihre Sprache spreche», erklärt Kumar. So gehört es auch zu seinen Aufgaben, die

Einige haben Decken dabei, denn

kommen aus ganz Indien, sie brin-

Patienten über Gesundheits- und

es kann vorkommen, dass sie nicht

gen neben ihrer Expertise oft auch

mehr

selben

ihre Geräte selbst mit – und lassen

Tag an die Reihe

sie manchmal sogar da. Der gröss-

kommen.

Wenn

te Teil der Ausstattung in den zwei

es einmal regnet,

Operationssälen sind ausrangierte,

warten die Patien-

aber noch gut funktionierende Gerä-

ten in der Kapelle,

te, die Krankenhäuser oder die Ärz-

Hygienemassnahmen aufzuklären,

die zum Gelände gehört. Sie wirkt

te selbst spenden. Vor dem OP steht

mit denen sie viele Krankheiten ver-

eher wie eine Mehrzweckhalle als

ein ganzer Schrank voll von Umhän-

meiden könnten. Ebenso kommt es

ein Gotteshaus, wäre da nicht der

gen in allen Grünschattierungen,

vor, dass er Patienten begleitet, die

Altar an der Stirnseite. «Das hier

manche mit eingestickten Namen

wegen einer komplizierten Opera-

ist einfach ein Ort der Ruhe, an den

oder Initialen. «Das ist so eine Re-

tion in ein grösseres Krankenhaus

die Menschen kommen können, um

gel: Jeder bringt seinen Arztkittel

müssen. «Für sie ist das etwas kom-

zu beten. Vielen hilft das, wenn ihre

mit und lässt ihn nach dem Wochen-

plett Neues, was ihnen Angst macht.

Angehörigen gerade operiert wer-

ende hier, sodass wir keine kau-

An normalen Arbeitstagen werden bis zu hundert Menschen behandelt.

Wenn ich nicht mitkäme, würden sie wahrscheinlich wieder umkehren», sagt er lachend.

Nicht nur auf Kumar übt das Prinzip von Smart Care Faszination aus. Rohan Ramesh, 26, ist Chirurg

am

Ein Rollstuhl, zusammengebaut aus einem alten Plastikstuhl und den Rädern eines Fahrrads.

und hat die letzten beiden Jahre in Kamagiri gewohnt und gearbeitet.

34

fen lacht Gleich dem

müssen», Ramesh. neben Schrank

steht ein Meisterstück der Improvisation: ein

den», erzählt Ramesh.

Rollstuhl, zusammengebaut aus ei-

Geld bekam er dafür nicht. «Der

Eine weitere Besonderheit von

Lohn für die Arbeit sind unersetz-

Smart Care sind die im Abstand von

liche Erfahrungen. Man lernt, un-

ein oder zwei Monaten stattfinden-

Es ist Sonntag, ein ruhiger Tag.

ter den einfachsten Bedingungen

den medical camps. Sie stehen jedes

Die Menschen wissen, dass sie am

zu arbeiten», sagt er. An normalen

Mal unter einem anderen Motto, so

Wochenende nur in Notfällen kom-

Arbeitstagen werden bis zu hun-

gibt es zum Beispiel Pädiatrie- und

men sollen. Eine einzige Patientin

dert Menschen behandelt. Dann bil-

Gynäkologie-Camps. Alle Fälle, die

sitzt in einem Rollstuhl in der Son-

den sich lange Schlangen vor dem

nicht akut sind, werden dann von

ne. Ihr rechter Fuss ist eingebunden,

Hauptgebäude des Krankenhauses.

Spezialisten behandelt. Die Ärzte

sie hat ihn hochgelegt. Ihr Name ist

nem alten Plastikstuhl und den Rädern eines Fahrrads.


Benla Salamma, sie ist etwa 45 Jah-

Gott etwas tun könne – meine Fami-

re alt und kommt aus einem Dorf in

lie und ich waren verzweifelt.» Bei

der Nähe. Neben ihr steht ihre Toch-

diesen Worten wischt sich Salamma

ter Stella, die mitgekommen ist, um

mit ihrem Sari die Tränen aus den

sich um sie zu kümmern und ihr Ge-

Augen. Seit einer Woche ist sie jetzt

sellschaft zu leisten. Die Unterstüt-

hier in Kamagiri, wo Jeyachandran

zung durch Verwandte ist wichtig

ihr Haut vom Oberschenkel an den

für die Patienten, denn es gibt kein

Fuss verpflanzte. Bald wird sie wie-

Pflegepersonal, das sich regelmä-

der zu Hause sein.

ssig um sie kümmern könnte. Salamma wurde von einer Schlange gebissen, als sie an einer Bushaltestelle wartete. «Ich bin zu verschiedenen Ärzten gegangen und habe viel Geld gezahlt, aber keiner von ihnen hat mir wirklich geholfen», erzählt sie ihre Geschichte. «Sie haben alle gesagt, dass jetzt nur noch

Veronika Widmann, 20, aus Mühldorf, absolviert nach bestandener Matura derzeit ein Zwischenjahr in Polen. Sie bezeichnet sich als «aufgeschlossen, meistens optimistisch, ehrgeizig und zuverlässig». Da sie noch nicht weiss, was und wo sie danach studiert, «bin ich gespannt, was das Leben in den nächsten Jahren für mich bereithält».

35


report

Am Gymnasium erforscht Immer mehr Maturarbeiten erreichen Hochschulniveau. Die Maturandinnen und Maturanden haben verblüffende Ideen und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen, wie eine Auswahl von Arbeiten aus der ganzen Schweiz zeigt.

An den Wurzeln eines alten Walliser Dialekts Fabio Steffen, Kantonsschule Rychenberg, Winterthur Die Menschen in den abgeschiedenen Seitentälern

Alltag noch reden», wie Steffen erklärt. Er reiste für

des Unterwallis können durchaus grimmig – «furieux» –

vier Tage ins Val d'Hérens, unterhielt sich mit den Leu-

sein, aber «fou fouryóouk», wie man in der Gemeinde

ten und informierte sich bei einer Sprachforscherin.

Evolène im Val d'Hérens sagt? Genauso skurril mutet

Das Patois werde fast nur mündlich weitergegeben und

an, dass sich ausgerechnet ein junger Zürcher in seiner

sei sehr schwierig zu erlernen, sagt Steffen. «Es gibt kei-

Maturarbeit mit diesem uralten frankoprovenzalischen

ne Grammatik und kaum schriftliche Quellen. Deshalb

Dialekt – auf Französisch Patois – beschäftigt.

musste ich mir fast alles selbst erarbeiten.»

Angefangen hatte alles

Der

frankoprovenzali-

mit dem Tim-und-Strup-

sche Dialekt ist eine bil-

pi-Band «Der Fall Bien-

derreiche Sprache aus der

lein» – im Patois «L'Afére

Vorzeit des heutigen Fran-

Pecârd» – des belgischen

zösisch – perfekt ange-

Zeichners Hergé. Als Fa-

passt an das Leben in den

bio Steffen während sei-

Bergen. So existieren min-

nes Austauschjahres am

destens sechs verschiede-

Gymnasium in Nyon die-

ne Ausdrücke für Schnee,

sen Comicband im franko-

je nach seiner physikali-

provenzalischen

Dialekt

schen Beschaffenheit: Er-

in die Hände bekam, war

kenntnisse, die in Steffens

sein Interesse an diesem

Maturarbeit nachzulesen

knorrigen Patois geweckt.

sind.

«Ich beschloss, für meine Maturarbeit auf Französisch den Wurzeln dieser Sprache auf den Grund zu gehen», erzählt er. Für

dieses

Vorhaben

gab es keinen besseren Ort als Evolène, die «einzige Gemeinde, wo die Mehrheit der Menschen, auch die Jungen, das Patois im 36


Arrangierte Hochzeit oder Liebesheirat? Mayuri Mayuri Sivanathan, Sivanathan, Gymnasium Gymnasium am am Münsterplatz, Basel Münsterplatz, Basel Mayuri Sivanathan versteht sich hat, bringen das Dilemma auf denals Brückenbauerin zwischen den

Punkt: Drei Viertel der Befragten

Kulturen. Die junge Tamilin hat ein

wünschen sich eine Liebesheirat,

besonders heisses Eisen in die Hand

bei ihren Eltern verhält es sich ge-

genommen: arrangierte Ehen unter

nau umgekehrt. Sivanathan hat ihre

Tamilen in der Diaspora. «In der

Untersuchung in Kanada durchge-

tamilischen Gemeinschaft ist die

führt, weil sie befürchtete, von den

arrangierte Eheschliessung selbst-

Tamilen hierzulande keine korrek-

verständlich, und Diskussionen da-

ten Antworten auf ihre heiklen Fra-

rüber sind praktisch tabu», sagt sie.

gen zu bekommen: Zu eng ist die so-

Tamilen der zweiten Einwande-

ziale Kontrolle unter den Tamilen in

rergeneration wie Sivanathan kann

der kleinräumigen Schweiz.

diese Haltung ihrer Eltern in ein

«Ich denke, dass die Ergebnisse

Dilemma stürzen. Sie sind mit den

auf die Schweiz übertragbar sind»,

freiheitlichen

des

sagt Sivanathan, die ihre Arbeit mit

Westens aufgewachsen und wollen

dem präzisen Blick und der Empa-

ihr Leben selbst in die Hand neh-

thie einer Ethnologin verfasst hat.

men. Auf der anderen Seite fühlen

Und weil die junge Frau eine Brü-

sie sich ihren Eltern verpflichtet, de-

ckenbauerin ist, schlägt sie eine «mo-

nen die Bewahrung der Traditionen

derne Form der arrangierten Ehe»

oft wichtiger ist als eine Anpassung

vor – einen Kompromiss, der auch

an die Sitten des Gastlandes.

für sie selbst gelten soll: «Die Eltern

Vorstellungen

Die Interviews, die Sivanathan

dürfen einen Partner vorschlagen.

in der kanadischen Diaspora mit 20

Wenn ich nicht einverstanden bin,

Tamilinnen und Tamilen geführt

müssen sie weiterschauen.».

Entwicklung einer Klettersicherung Pius Theiler, Kollegium St. Fidelis, Stans Es begann alles mit einem Sturz

einem hervorstehenden Stein fest-

im Titlis-Gebiet. Pius Theiler war

krallt, sobald jemand ins Seil fällt.

am Klettern und verlor den Halt,

An der Hochschule Luzern führte er

kurz bevor er den nächsten Fix-

Belastungstests durch und begann,

punkt zum Absichern erreicht hat-

den Alu-Prototyp leichter zu ma-

te. Mit mobilen Zwischensicherun-

chen. Die zweite Version fertigte der

gen, die man zwischen zwei Bohr-

Maturand aus Kohlefasern an. «Die

haken in Ritzen befestigt, kann man

Klammer könnte schliesslich in ver-

in solchen Situationen die Fallhöhe

schiedenen Grössen produziert wer-

vermindern. Doch für vorstehende

den», erklärt er. «Die Entwicklung

Felsformationen wie jene im Titlis-

war eine Gratwanderung zwischen

Gebiet gibt es noch keine entspre-

Benutzerfreundlichkeit,

chenden Sicherungen: «Da kam ich

und Festigkeit.» Momentan hapere

auf die Idee, in meiner Maturarbeit

es noch bei der Benutzerfreundlich-

eine Sicherung für solchen Fels zu

keit, für die Serienproduktion brau-

entwickeln», erzählt Theiler.

che es noch viel Arbeit.

Er befasste sich also mit Rei-

Gewicht

Einen ersten Schritt in diese Rich-

stellte

tung hat Theiler schon gemacht. Mit

statische Berechnungen an und

der Unterstützung von Pro Wirt-

skizzierte erste Ideen. Zwölf Lö-

schaft Nidwalden/Engelberg hat er

sungsansätze entwickelte er, dann

die Klettersicherung zum Patent an-

wählte er den vielversprechendsten

gemeldet.

bungs-

und

Sturzphysik,

aus: eine Art Klammer, die sich an 37


am gymnasium erforscht

Die Aktivitäten der NSDAP in Basel André Wehrli, Gymnasium Liestal Im

Staatsarchiv

Basel-Stadt

schlummerte ein kleiner Schatz: Zahlreiche Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch nie jemand bearbeitet hatte. Sie betreffen das «Deutsche Heim», ein Haus, das die NSDAP als Treffpunkt in Basel gegründet hatte. André Wehrli beschreibt, dass die NSDAP-Ortsgruppe über 4000 Mitglieder umfasste und sehr aktiv war. Im Haus wurden Nazi-Propagandafilme gezeigt und Parteifeste gefeiert. «Ich wusste nicht, dass es in Basel so viele Nazis gab. Wenn man sieht, was sie da machten, dann ist das sehr erschreckend», sagt Wehrli. Die Arbeit war nicht immer einfach. «Ich betrat Neuland und fand in der Literatur praktisch nichts über das Thema», erzählt Wehrli. Zudem seien vor der Räumung des Hauses viele Akten vernichtet worden. «Ich wusste nie, was vollständig ist und was nicht.» Trotz der Schwere des gewählten Themas gab es auch heitere Momente. «Ich war ganz erstaunt, als ich in den Zeitungen alte Perwoll-Reklamen fand», erzählt er. Im Krieg sei das Papier rationiert gewesen, dennoch habe es damals sehr viel Werbung gegeben. In nächster Zukunft

74

08

74

W 0 W Wolfram

Saueerstoff

Wolfram

will André Wehrli ein Maschinenbaustudium an der ETH beginnen. Seine Faszination für Historisches könne er aber trotzdem noch ausleben – im Rahmen des Studiums will er auch Geschichtsvorlesungen besuchen.

Chemie? Chemie! Wer heute Chemie studiert, beschäftigt sich mit brennenden ökologischen, ökonomischen, medizinischen und technischen Themen im Jetzt und kann Lösungen für die Zukunft mitgestalten. Das gemeinsame Grundstudium Chemie/Biochemie ist für die Schweiz einzigartig und dank dem guten Betreuungsverhältnis sind optimale Startbedingungen für das Studium vorhanden. Sind Sie Maturand/in? Möchten Sie Ihre naturwissenschaftliche Neugierde durch ein spannendes Studium zum Beruf machen? Informieren Sie sich im Internet oder kontaktieren Sie uns! chemie@pci.uzh.ch Tel 044 635 44 72

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38


=bg_Z\a8MfO^emlibms^Â?8 F^n^8A]^^g8_1k8Mfp^emÂŚ8ng]8CebfZl\anmsÂ’

Ein Roboter, der Sudoku lĂśsen kann

EbmfZ\a^g8[^bf8K\a1e^kp^mm[^p^k[8€ˆ €8 bg8EZma^fZmbd—8FZmnkpbll^gl\aZ_m^g8 ng]8L^\agbd�

Tobias Holenstein, Kantonsschule am Burggraben, St. Gallen Eigentlich ist Tobias Holenstein kein Sudoku-Freak.

Obk8ln\a^g8cng`^8>hkl\a^kbgg^g8ng]8>hkl\a^k—8 ]b^8fbm8bak^g8sndng_mlp^bl^g]^g8A]^^g8snf8 K\anms8ngl^k^k8Mfp^em8ng]8ngl^k^l8CebfZl8 [^bmkZ`^g’

Doch dann las er in der Zeitung, dass jemand das schwierigste Sudoku-Rätsel der Welt erfunden habe. Das reizte mich, erzählt der Schßler. Er habe versucht, das

L^beg^af^g8d+gg^g8K\a1e^kbgg^g8ng]8K\a1e^k8 ]^k8h[^k^g8BZak`Zg`llmn_^g8bg8 8<^nml\aeZg]8 ÂŞZ[8CeZll^8 ÂˆÂŤ8 8 lm^kk^b\a8ÂŞG[^klmn_^8Z[8CeZll^8„8 8]^k8K\ap^bs8ÂŞK^dng]Zklmn_^8AAÂŤ8 8lhpb^8 ]^k8<^nml\a^g89nleZg]ll\ane^g8bg8=nkhiZ8ÂŞZ[8 CeZll^8 ÂˆÂŤÂ’8<b^8:^lm^g8ik l^gmb^k^g8bak^ 9k[^bm^g8ohk8Hkh_^llhk^g8]^k8HZkmg^kÂŚMgbo^klbÂŚ m m^g8JOL@89Z\a^g—8LM8:^kebg8ng]8LM8E1g\a^gÂ’

Rätsel zu lĂśsen – vergeblich. ÂŤDa fragte ich mich, ob es nicht eine schnellere Methode gibt.Âť Von seinem Lehrer ermuntert, beschloss er, als Maturarbeit einen Roboter zu bauen, der Sudoku lĂśsen kann. ÂŤDen Sudoku-LĂśsungsalgorithmus habe ich erstaun-

?^pbgg^g8Kb^8?^e]ik^bl^8bf8?^lZfmp^km8ohg8 ˆˆ’ˆˆˆ8=nkh’

lich schnell geschrieben, erzählt Holenstein. In einem

pppÂ’lb^f^glÂŚlmb_mng`Â’hk`ÂĽl\an^e^kp^mm[^p^k[

Nachmittag war das Programm entworfen, das auch das

9gf^e]^l\aenll8snk8L^begZaf^“8 ’8Fho^f[^k8€ˆ =bgl^g]^l\aenll8_1k8]b^89k[^bm^g“8  ’8BZgnZk8€ˆ €

Dein

schwerste Rätsel der Welt lÜsen konnte. Dann tauchte

oder ein

jedoch ein Problem auf: Tobias Holenstein schrieb ein

oder ein

die Zahlen des Sudoku in einen Farb-Code. Mit einem

HĂśrspiel oder ein Handykrimi oder eine Soundcollage oder ein Computerspiel oder eine Mischung aus allem. Gewinne bis zu 1000 Franken in bar.

Lego-Farbsensor kann der Roboter nun das angemalte

Anmeldeschluss 31. Januar 2012.

Rätsel in wenigen Minuten lesen und lĂśsen – mit einem

Abgabeschluss 30. März 2012.

Texterkennungsprogramm, das die Zahlen auf einem Bild erkennen konnte. Doch das Digitalisieren des Rätsels dauerte viel zu lang und war nicht präzise. Da behalf sich der Schßler mit einem Trick: Er ßbersetzte

einfachen Filzstift schreibt er die Zahlen in die leeren

Fotos Kilian Kessler

Projekt ist ein Roboter

Felder. Dieser leicht gekĂźrzte Beitrag von Simone Schmid ist zuerst in ÂŤNZZ am SonntagÂť erschienen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

39


essay

Rauchen – Lust oder Frust? “Rauchen ist ungesund.” “Rauchen tötet.” Sätze, die Raucher schon so oft gehört haben. Laut dem Bundesamt für Gesundheit sterben in der Schweiz jeden Tag 25 Menschen an den Folgen des Rauchens, und die Hälfte der Raucher erreicht ihr 70. Lebensjahr nicht. Wieso gibt es dennoch so viele, die in der Abhängigkeit bleiben?

Salome Kern

M

it 14 zog ich an meiner ersten Zigarette und hatte das Gefühl, glü-

hende Kohlenstücke zu schlucken. Mein erster Gedanke war: «Nie wieder!» Aber es verging nicht allzu viel Zeit, und ich hatte erneut eine Zigarette in der Hand. Eifrig übten meine Kolleginnen und ich gemeinsam, den blauen Dunst zu inhalieren, was üble Hustenanfälle zur Folge hatte.

sind. So ging alles gut, ich zählte

Doch bald wurden die Glimmstängel

mich schon zu den Nichtrauchern

zum täglichen Begleiter. Was für ein

und war sehr stolz auf mich. Bis zu

Nervenkitzel es doch war, im Ver-

jenem verhängnisvollen Tag in der

steckten zu rauchen. Kaugummi in

Pizzeria, den ich gerne ungeschehen

den Mund und Deo zu versprühen, war vor dem Heimkommen Pflicht.

machen würde. liche Zeit. Besonders in den ersten

Ich traf mich mit einem Freund

Auf diese naive und pubertäre

vier Wochen brachte mich das Ver-

zum Pizzaessen und schlug mir so

Weise wurde ich zur regelmässigen

langen zu rauchen beinahe um den

richtig den Bauch voll. Er steckte

Raucherin. Als mein Taschengeld

Verstand. Ich liebte meine Morgen-

sich nach dem üppigen Essen eine

erhöht wurde, leistete ich mir noch

zigarette oder die Zigarette für die

Zigarette an. Eifersüchtig linste ich

mehr Zigaretten. So war es mit 16

Verdauung nach dem Essen, aber

nach dem sogenannten Sargnagel,

Jahren an der Zeit, zuzugeben, dass

ich gab nicht auf.

ich auch zu den 31 % Nikotinabhän-

Ein Internetpro-

gigen in der Schweiz gehörte.

gramm erinner-

wie gerne hätte

Ich will frei von Abhängigkeit sein.

ich jetzt auch geraucht. Folglich

Drei Jahre rauchte ich fast ein

te mich immer

Päckchen pro Tag und kümmerte

wieder an mei-

mich nicht um die Belehrungsver-

nen Vorsatz, es

suche meiner Mitmenschen. Dann

rechnete aus, wie viel ich schon ge-

Rauchen nicht so schlimm sein kön-

beschloss ich, mir das Rauchen ab-

spart hatte, und gab mir Tipps, wie

ne und ich nachher sofort wieder

zugewöhnen. Es war eine schreck-

schwierige Situationen zu umgehen

aufhören würde. Nach fünfmonati-

40

log ich mich selber an und redete mir ein, dass


TANGO-FACTS WER RAUCHFREI BLEIBT, GEWINNT ger Abstinenz war ich also schwach geworden, der Teufelskreis begann von vorne. Zum Kiosk laufen, Zigaretten kaufen, in der Kälte rauchen und das Keuchen beim Sport … Ich

meine Haut verschlechtern – ich

war frustriert und fragte mich ver-

will frei von Abhängigkeit sein. Jetzt

zweifelt: «Wie entkomme ich jemals

und für immer!» Mit diesen Worten

dieser Sucht?» – Es sah schlecht aus,

drückte ich meine letzte Zigarette

und ich rauchte weiter. Nach sieben

aus und habe seit diesem Moment

Monaten wurde mir das Rauchen

keine Zigarette mehr angefasst.

wieder lästig und ich setzte einen

Der schnelle Weg in die Abhän-

Schlusspunkt. «Ich will nicht mehr

gigkeit ist sehr viel einfacher als der

200 Franken pro Monat verbrennen,

steinige zurück. Aber er hat sich ge-

ich will nicht mehr meine Gesund-

lohnt! Ich bin sehr stolz, diese Ent-

heit gefährden, ich will nicht mehr

scheidung getroffen zu haben.

Das Jugendprojekt «Rauchfreie Lehre» der Lungenliga unterstützt Lehrlinge, rauchfrei zu bleiben oder wieder zu werden. Die Lehrlinge verpflichten sich mit einer schriftlichen Anmeldung bis zum 25. September, während eines Lehrjahres rauchfrei zu sein. Um die Tabakabstinenz zu überprüfen, werden stichprobenmässig Kohlenmonoxyd (CO)-Tests durchgeführt. Wer sich an die Teilnahmeregeln hält, wird mit einem Kinogutschein belohnt und nimmt an der gesamtschweizerischen Verlosung teil. Zu gewinnen sind 17 Wochenenden im Europa-Park Rust für zwei Personen, 70 mal 300 Franken, 50 Tagespässe für ein Open Air usw.. Anmeldung: www.rauchfreielehre.ch/lernende

Salome Kern, 19, aus Winterthur, macht das KV mit Berufsmatura. Ihr Ziel ist es, in den Journalismus einzusteigen.

41


kurzgeschichte

M o m e n t a u f n a Unter all den Gesichtslosen suchte ich jemanden mit Gesicht, jemanden mit einem bekannten, jemanden mit dem erhofften Gesicht, ich suchte ihn. Lea Mozzini

D

ie Sonne, schon dem Untergang nahe, tauchte die unscheinbare Tramhaltestelle

in

warm-som-

merlich-goldenes Abendlicht und verlieh der ganzen Szene einen malerischen Ausdruck. Die herrlich blühenden Bäume auf der gegenüberliegenden Strassenseite wogten und ra-

beln im Bauch, das immer stärker

schelten sanft im leichten Wind, der mit mei-

wurde, je näher die Strassenbahn

nem Haar spielte und es, nachdem ich es mir

meinem Ziel kam. Anfangs noch ge-

wieder zurechtgestrichen hatte, immer wie-

lassen, wurde ich nun immer unge-

der aufs Neue zerzauste und in mein Gesicht

duldiger, konnte kaum noch ruhig

wehte, wo es an meiner Nase kitzelte und mir

stehen. Ich war schon ganz hibbelig.

die Sicht verbot. Ich genoss die wohltuende

Ich versuchte meine Gedanken zu

Wärme auf meiner Haut und schloss die Au-

bremsen, mein Hirn auszuschalten,

gen, um den nahenden Frühling mit all mei-

doch es gelang mir genauso wenig,

nen Sinnen wahrnehmen zu können. Es fühlte

wie es mir gelungen war, mir weis-

sich gut an, ich fühlte mich gut.

zumachen, es sei ein ganz normaler

Die sich nähernde Strassenbahn verdeckte nur allzu schnell den süssen Sonnenschein, begrub mich unter ihrem Schatten und brachte mich in die Realität zurück. Wie jeden Dienstag um diese Zeit war das Tram geran-

42

Tag und ich hät-

Ich atmete tief durch und drehte mich, endlich auf der anderen Strassenseite ngekommen, um.

te keinen Grund, so aufgeregt zu sein. Noch eine Haltestelle.

Die

dunklen Bäume zogen

an

Fenstern bei,

ihr

den vorGrün

gelt voll mit Leuten, haupt-

mischte sich mit

sächlich Studenten, die ih-

dem Braun ihrer

rem Feierabend entgegenfuhren. Ich quetsch-

Stämme zu einer undefinierbaren

te mich zu ihnen, die Tür schloss sich, das

Farbe, die ich aber gar nicht richtig

Tram fuhr weiter. Ich schnappte verschiedene

aufnahm. Mein Körper stand zwar

Gesprächsfetzen auf, die aber so ohne Kon-

zwischen diesen Menschen, meine

text keinen Sinn ergaben. Ich schaute mich

Augen blickten aus dem Fenster,

suchend um, erfolglos natürlich. Das Tram

meine Ohren nahmen vage das Ge-

war lang und übervoll, wie sollte ich da auch

plauder um mich herum wahr, und

fündig werden? Also liess ich meine Gedan-

trotzdem war ich nicht dort. Ich

ken abschweifen, blendete meine ganze Um-

schien auf einem anderen Planeten

gebung, versunken in meiner eigenen Welt,

zu schweben, weit weg vom mono-

völlig aus. Ich spürte ein willkommenes Krib-

tonen Treiben des Alltags. Erst als


h m e n

Meine Ungeduld wuchs, meine Vorfreude und meine Anspannung wurden unerträglich, das Kribbeln hatte sich nun in meinem ganzen Körper ausgebreitet und verströmte, die aufgekommene Kälte verdrängend, eine wohlige Wärme in mir. Ich fühlte mich so leicht, wir hielten, näherte ich mich mei-

so unbeschwert und zufrieden, dass sich mir

nem Körper wieder soweit, dass ich

unbemerkt ein freudiges Lächeln ins Gesicht

imstande war, normal auszusteigen,

gezeichnet hatte. Noch zwei Schritte. Ich at-

obwohl das gar nicht so einfach

mete tief durch und drehte mich, endlich auf

ist, wenn sich die Beine, die einen

der anderen Strassenseite angekommen, um.

tragen auf

sollten,

einmal

so

schwabbelig wie Pudding anfühlen.

Erleichtert

atmete ich die laue

Abendluft

ein, spürte er-

Also liess ich meine Gedanken abschweifen und blendete meine ganze Umgebung völlig aus.

Ich beobachtete die Menschen, die vom Tram her in alle Richtungen zerstoben, und konzentrierte mich vor allem auf jene, die in meine Richtung kamen. Unter all den Gesichtslosen suchte ich jemanden

neut die sanfte

mit Gesicht, jemanden mit

Brise auf

einem bekannten, jeman-

mei-

nem Gesicht und roch den frischen,

den mit dem erhofften Gesicht, ich suchte ihn.

milden Duft des Frühlings, während

Einige Leute sahen mich an, ohne mich

ich mich vom Strom treiben liess.

wirklich zu sehen, so wie ich sie ansah, ohne

Die Gewissheit, dass er im sel-

sie wirklich zu sehen, dann wendeten sie ihre

ben Tram wie ich war, wohl nur ei-

Blicke wieder ab und ich wendete meinen

nige wenige Meter von mir entfernt,

Blick wieder ab. Augenblicke, die verstrei-

und dass er jetzt, genau wie ich, die

chen. Er war nicht da.

andere Strassenseite anstrebend, der Masse folgte, war so gross, dass ich es auch nicht für nötig empfand, mich jetzt schon meiner Vorfreude hinzugeben. Ich überquerte die Strasse und zog die Jacke etwas enger, denn es war unwillkürlich kälter geworden, jetzt da die Sonne hinter den Häusern verschwunden

Lea Mozzini, 19, aus Zürich, liest, schreibt und fotografiert gerne, spielt

war und sich der Abend unmissver-

Gitarre und interessiert sich für orientalische Tänze. Sie bezeichnet sich

ständlich bemerkbar gemacht hatte.

als nachdenklich, aufmerksam, träumerisch und fröhlich.

43


impressum Verlag, Redaktion, Anzeigen tango magazin für schule und studium Postfach 2133 9001 St. Gallen Telefon 076 513 28 57 Fax 071 310 13 17 redaktion_tango@hotmail.com MitarbeiterInnen dieser Ausgabe Giada Berini Susanne Hefti Sarah Gimmel Salome Kern Damian Ineichen Anais Lienhart Marlis Luginbühl Norma Merk Lea Mozzini Luisa Ricar Andrea Rimle Caroline Röhrl Veronica Schärer Simone Schmid Marcel Schneeberger Samuel Schuhmacher Raphael Stierli Jonas Tirabosco Veronika Widmann Korrektorat

Peter Litscher

Gestaltung

Moni Rimensberger schwarzefeder.ch

Bild

Titelseite fotolia.com S.36 poco_bw istock.com S.59 Shaun Lowe istock.com S.61 Ivan Mikhaylov istock.com

Druck

Auflage

Im Fall der Farben Ihr entwich die Erinnerung an die letzten wärmenden Sonnenstrahlen. Es ist Herbst, die Zeit vergeht. Andrina Rimle

E

s ist Herbst, die Zeit vergeht. Der Sommer war gestern. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, Adieu zu sa-

gen, sich zurückzuziehen in sein Schnecken-

AVD Goldach Sulzstrasse 10 9403 Goldach

haus, in seine eigenen vier Wände hinter den

26‘000 Exemplare

bleiben, bald werden Eiskristalle am Morgen

Abonnement Einzelausgabe: Fr. 5.– Jahresabonnement: Fr. 10.– Erscheinungsweise halbjährlich (15. März / 15. September) Redaktions- und Anzeigenschluss 15. Februar / 15. August

grauen Mauern. Bald wird es kälter werden, bald wird der Atemhauch in der Luft hängen den Blick aus dem Fenster verhindern. Doch noch ist von dieser Kälte nur ein kühles Lüftchen zu spüren. Die Sehnsucht nach der Wärme der Sonne lässt die schwere Luft noch einmal vibrieren.

Im Strom der Menschen, die durch die Gassen flutet, bleibt auch eine Frau mittleren Alters unbemerkt. Unbemerkt dank ihrem schlendernden, gelangweilten Gang, den man sich beim Bummeln

44

eben so aneignet.

Unbemerkt dank ihrer

dunklen

ihrer schwarzen Le-

derjacke und ih-

Hose,


hüllt, sagte Ja. Seither verbrachte sie ein ganzes, unausgeschöpftes Leben mit ihm. Er, erfolgreich, karrierebewusst, ambitiös, berechnend und kalkulierend, verbringt jetzt, nach 27 Jahren Ehe, die meiste Zeit rer dunkelbraunen Handtasche. Um

im Büro seiner eigenen Finanzagen-

möglicherweise doch noch die su-

tur. Weil er genug verdiente, gab sie

chenden Augen eines anderen Men-

ihren Beruf auf Wunsch ihres Man-

schen auf sich zu lenken, liegt ein

nes auf – ihr Untergang.

die kühle Luft flattern. Sie vergass

weisser, blendender Schal locker um

Denn nun gehört sie zu jenen

das Gefühl für den sanft wogenden,

ihren Hals, eine rote Brille sitzt auf

vielen Frauen, die dazu verurteilt

leichten Wind, der weich und freund-

ihrer Nase, um ihrem abgestumpf-

und verdammt sind, von ihrem

lich ihre Haare erfasst. Ihr entwich

abhän-

die Erinnerung an die letzten wär-

gig zu sein, von

menden Sonnenstrahlen, den Glanz

denen

verlangt

des Sommers, den blauen, klaren

wird, immer da

Himmel, durchtrennt vom Kondens-

zu sein, zu be-

streifen eines Flugzeuges, ihr ent-

dienen, zu geben

glitt die Schwere und die Fülle der

Ringfinger. Eindeutig verheiratet.

und zu lieben. Nun gehört sie zu je-

Wärme vor den langen, dunklen, vor

Die schulterlangen blonden Haare

nen Frauen, die nichts anderes zu

ewigen Kälte klirrenden Nächten.

werden bei jedem Schritt zurückge-

tun wissen, als durch die ruhigen

weht.

Gassen zu schlendern, die Schau-

ten

Blick

gewitzte Schärfe zu verleihen. Ein grosser

Prunk-

klotz funkelt an ihrem

Mann

eine

Einst zog sie die Blicke der Männer auf sich. Damals.

linken

Einst zog sie die Blicke der Män-

fenster der luxuriösen Läden zu

ner auf sich, damals, an der Uni-

bestaunen, sich treiben und fallen

versität, in den endlosen Gängen

zu lassen wie die roten Blätter, um

des riesigen Gebäudes. Während

sich irgendwann niederzulegen und

des Studiums hatte sie ihren Mann

nicht wieder aufzustehen, erschöpft,

kennen gelernt, sie folgte ihm, der

zerstört, vermodert für immer.

Es ist Herbst, die Zeit vergeht.

sie von Anfang an umgarnt hatte,

Sie verlor den Blick für die wir-

Andrina Rimle, 19, aus Wittenbach, hat die

für sie geschwärmt hatte. Unwider-

belnden, tanzenden und fallenden

Matura an der Kantonsschule am Burggraben

stehlich zog er auch sie an, sie gab

Goldtropfen, die rostroten, ockergel-

bestanden. Nun will sie Umweltnaturwissen-

sich ihm hin, umwickelt und um-

ben und braunen Blätter, die durch

schaften an der ETH studieren. Sie bezeichnet sich als «ehrlich, offen, fröhlich», mag Skitouren und ist interessiert an fremden Kulturen.

45


Information Bachelorstudiengänge an der Hochschule für Heilpädagogik Mittwoch, 16. November 2011, 15 Uhr → Logopädie → Psychomotoriktherapie → Gebärdensprachdolmetschen Tel. 044 317 11 61 / 62 - therapeutischeberufe@hfh.ch Anmeldung nicht erforderlich

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Gesundheit

Tag der offenen Tür Samstag, 5. November 2011, 10:00 bis 16:00 Uhr ZHAW, Departement Gesundheit, Technikumstrasse 71, Winterthur Die Institute für Ergotherapie, Hebammen, Pflege und Physiotherapie stellen sich vor: Erleben Sie, was in den Bachelor- und Masterstudiengängen sowie in den Weiterbildungen gelehrt und in F&E geforscht und entwickelt wird. Infoveranstaltungen, Kurzreferate, Rundgang, Infostände, Wettbewerb, Gesundheitsbibliothek und vieles mehr! Weitere Informationen zum Tag der offenen Tür finden Sie unter www.gesundheit.zhaw.ch/tdot

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essay

Entscheidung über das Leben Der Befund ist positiv. Was jetzt? Damit leben oder sich dagegen entscheiden? Es kann so viel kaputtgehen und so viel entstehen.

Marlis Luginbühl

D

er Anfang ist oft ein Missgeschick. Eine Unachtsamkeit. Ein einziger kleiner Fehler.

Es nistet sich ein. Es ernährt sich von seinem Wirt und wächst. Es wird immer grösser und hungriger. Es verändert den Körper und

ist die Sache erledigt.

die Gedanken. Plötzlich ist immer etwas da.

Alles wieder wie früher.

Etwas, was krank machen kann. Etwas,was

Alles wieder normal. Es war die richtige Ent-

Symptome hervorruft, die typisch sind.

scheidung.

Manchmal schneller

da,

ist als

es man

denkt. Manchmal passiert es einfach, auch wenn man es gar nicht will. Zuerst

Was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte?

Nur die Gedanken bleiben. Was wäre, wenn …? Man legt mir ein kleines,

rosafarbenes

Ge-

schöpf auf die Brust. Es weint. Ich empfinde unbe-

will man es nicht wahrhaben und wehrt sich gegen die Vorstellung.

schreiblich grosse Liebe und bin überglück-

Will die Zeichen nicht sehen. Doch es wächst,

lich. Ich sehe das Kind aufwachsen, sehe seine

und es raubt Kräfte.

ersten Schritte, höre seine ersten Worte.

Der Befund ist positiv. Was jetzt? Damit leben oder sich dagegen entscheiden? – Was

Was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte?

würdest du tun, wenn du davon überrascht würdest? Was, wenn du vor dieser Entscheidung stündest? Es kann so viel kaputt gehen und so viel wachsen.

Marlis Luginbühl, 19, aus Horboden, hat soeben die Matura

Ich habe mich entschieden. Nur neun Ta-

im Gymnasium Interlaken bestanden und studiert nun BWL

bletten. Nur vier Tage lang Schmerzen. Dann

in Bern. «Ich bin ein sehr ruhiger Mensch und liebe es, in meiner Freizeit meine Gedanken aufzuschreiben und sie so zu ordnen.»

47


Studieren Sie BetriebsÜkonomie oder Wirtschaftsinformatik! Bachelor in Business Administration (in Luzern oder Zug) Vollzeit oder berufsbegleitend mit den Studienrichtungen: Controlling & Accounting, Finance & Banking, Immobilien, Kommunikation & Marketing, Management & Law, Public & Nonprofit Management, Tourismus & Mobilität www.bachelor-wirtschaft.hslu.ch English-language Bachelor in Business Administration (in Lucerne) Full-time course with focus programme International Management & Economics www.bachelor-business.hslu.ch Bachelor in Wirtschaftsinformatik (in Luzern) Vollzeit oder berufsbegleitend www.bachelor-wirtschaftsinformatik.hslu.ch

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kurzgeschichte

Sans parapluie Schritte. Dazu ein monoton begleitender Rhythmus. Fast hypnotisierend. Man riecht den nassen alten Asphalt und die kühle neue Luft. Es regnet. Sie merkt nichts von alldem. Eilig geht sie über den Asphalt. Der Regen wird stärker. Übertönendes Rauschen. Ärgerlich drückt sie die Kopfhörer ins Ohr. Übertönte Musik. Einige Schritte weiter bleibt sie stehen. Schaut auf die Schuhe. Sie haben nasse Ränder. Sie stopft die Kopfhörer in die Tasche. Was solls, denkt sie sich, ich höre eh nichts mehr. Und geht weiter. Sie streicht mühsam eine Strähne aus dem Gesicht. Die Haare kleben am Kopf, so nass sind sie. Ein Regentropfen rinnt die Wirbelsäule entlang. Sie fröstelt. Bekommt Gänsehaut an den Armen. Regentopfen auf der Haut. Einer genau zwischen den Lippen. Es schmeckt gesund. Gesund und salzig. Warum salzig, denkt sie. Wir sind doch nicht am Meer. Was solls, denkt sie sich, ist eh unwichtig. Alles ist nass. Der kleine Zeh, der Bauchnabel. Sie blinzelt. Fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Sie ist schwarz. Hätt ich doch die wasserfeste Schminke gebraucht, denkt sie. Hätt ich doch den Regenschirm dabei. Den mit den weissen Punkten. Was solls, sagt sie, Regen macht ja eh schöner.

Norma Merk, 18, aus Retschwil, hat die Matura an der Kantonsschule Beromünster geschafft. Sie schaut sich gerne alte Schwarzweiss-Filme an, geht am liebsten barfuss und träumt von einer Weltreise im VW Bulli.

49


foto

Scheitern Ich fasste den Vorsatz, zu Fuss von Bern nach Zürich zu gehen, um ein anderes Verhältnis zu dieser viel befahrenen Strecke zu erhalten.

Marcel Schneeberger Aufbruchsstimmung. Einem Neuanfang gleich, will ich Altes hinter mir lassen, mich

der Umgebung – ich rieche und spüre die Dinge anders, neu.

vorwärts bewegen. Gedanken schiessen mir

Dann die Weggabelung: zwei Wege, zwei

durch den Kopf, sie kreisen, haben weder An-

Möglichkeiten – weitermachen oder aufhö-

fang noch Ende, haben kein Ziel. Anfangs laufe

ren?

ich wie getrieben los, stetig in Bewegung, ru-

Scheitern.

helos, rastlos, aber doch ohne Hast. Ich treibe. Laufen wird zur Trance – ein Zustand innerer Ausgeglichenheit. Stille. Einsamkeit.

Marcel Schneeberger, 26, aus Wabern, studiert an der

Ich gehe durch den Alltag anderer Men-

Uni Bern Deutsch und Englisch. In der Hälfte der Strecke

schen, unscheinbar, unauffällig, unsichtbar.

Bern−Zürich, auf der diese Fotos entstanden, brach er auf-

Sie bemerken mich nicht. Ich spüre die einzel-

grund von Schmerzen die Reise ab, was für ihn zunächst ei-

nen Bewegungen nicht mehr, werde eins mit

ner Niederlage gleichkam. «Mit der Zeit konnte ich jedoch dieses Scheitern umdeuten, in einen Gewinn an Erfahrung und Eindrücken.»

50


51


Berner Fachhochschule Schweizerische Hochschule fĂźr Landwirtschaft SHL

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kurzgeschichte

Hoffnung

Der Klang dieses Wortes stiess in mir eine Tür auf. Endlich. Zu lange hatte ich still in der hintersten Ecke meines Herzens darauf gewartet, dass sich die Tür einen Spalt öffnet und mir das Licht zurück bringt. Geblendet vom klaren, reinen Licht senkte ich meine Augen. Auf dem Boden meines Herzens stiess die Hoffnung auf fruchtbaren Boden und keimte. Meine Freudentränen liessen die Hoffnung erblühen, und sie leuchtete mir in einem satten Rot entgegen, als ich aufstand und durch die Tür trat. Sarah Gimmel, 19, aus Ostermundigen, hat

Hinaus, ins Freie.

das Gymnasium Kirchenfeld besucht und möchte nun Medizin studieren. «Ich bin eine leidenschaftliche

Tänzerin,

glacesüchtig,

verträumt und liebe die Tropen.»

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kurzgeschichte

Das rote Kleid Wie sie dasass in ihrem wunderbaren roten Kleid, verliebte er sich auf der Stelle in sie. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Cappuccino. Bestimmt wartet sie auf ihren Freund, schoss es ihm durch den Kopf. Anaïs Lienhart

E

r sah sie zum ersten Mal, als sie in einer bescheidenen Teestube sass, gegenüber dem Haus, in dem er wohnte. Es war keine schöne Wohngegend, aber die Preise wa-

ren anständig und als Student der Medizin, der nebenbei in einem Kino jobbte und Geschichten schreibt, konnte er sich nun wirklich nicht beklagen. Nun, jedenfalls sah er sie, wie sie dasass in ihrem wunderbaren roten Kleid, und verliebte sich auf der Stelle in sie.

Er konnte nicht sagen warum, sie sah nicht besser aus als andere, und er hatte noch nie mit ihr gesprochen, doch er wusste es in dem Moment, als er sie sah. Ihr Haar war von einem hellen, eher unscheinbaren Braun, schulterlang und leicht gewellt. Sie trug es offen, lediglich ein schmaler silberner Haarreif hielt die Strähnen zurück, damit sie nicht ins Gesicht fielen. Ihre Züge strahlten eine ungemeine Harmonie aus,

Ihm fiel auf, wie klein ihre Hände waren.

was wahrscheinlich von der Symmetrie herrührte.

Er trat näher heran, blieb vor dem Fenster stehen, als betrachte er mit grossem In-

teresse die hölzerne Skulptur hinter ihr. Doch seine Vorsicht war unbegründet, denn sie studierte konzentriert die Seiten eines Schulbuches. Der Titel liess erahnen, dass es sich um eine Zusammenstellung deutscher Literaturklassiker handelte.

Ihre Augen, von einem leuchtenden Grünblau, huschten angeregt über die Zeilen. Ihm fiel auf, wie klein ihre Hände waren. Winzig klein, wie die Hände seiner elfjährigen Cousine. Überhaupt war alles an ihr so klein, im Miniaturformat geraten. Dabei

Anaïs Lienhart, 17, aus Wil, spielt

wirkte sie jedoch nicht zerbrechlich, ganz und gar nicht. Er glaub-

Geige und verbringt ihre Freizeit

te zu wissen, dass ihre Hände sich nicht scheuten, auch Gartenar-

am liebsten mit ihren Kollegin-

beit zu erledigen oder Brotteig zu kneten. Um ihren Hals hing ein

nen: «Ich rede viel, lese gerne,

silbernes Kreuz, kaum daumennagelgross. Ihre Jacke, ein hell-

mag alte Filme und Musik. Ich

braunes Übergangsmodell, hing über der Stuhllehne. Vor ihr auf

bin fleissig und verarbeite meine

dem Tisch stand ein Cappuccino. Bestimmt wartet sie auf ihren

ganze Umgebung in Texten.

Freund, schoss es ihm durch den Kopf. Bestimmt. Aber er konnte nun nicht länger warten, er musste etwas tun, denn er wusste, würde er sie heute nicht auf sich aufmerksam machen, sie würde nie erfahren, dass es ihn gibt.

Er stiess also die Türe auf und trat ein.

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comic

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Di e Dos e


Ganz ohne Worte erzählt Jonas Tirabosco, 14, aus Genf eine clever inszenierte Geschichte zum Litteringproblem, die zum Nachdenken anregt. Mit seinem Comic hat er beim Wettbewerb der IG Saubere Umwelt einen Preis gewonnen.

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das hört ja gut auf

KULTURLANDSCHAFT «Jetzt neu im Selbstanbau: Die ultimativen Obst- und Gemüsesorten», scherzt Jonas Kakó, 21, zu seinem Bild, das die Entwicklung der Lebensmittelindustrie karikiert. Zur Fotografie ist der Gymnasiast vor drei Jahren gekommen. «Durch das Fotografieren habe ich gelernt, die Welt mit einem völlig neuen Blick zu sehen.» Seine zweite Leidenschaft gehört dem Reisen: «Keine Pauschalreisen. Möglichst günstig mit dem Rucksack durch die Welt. Entweder mit dem Zug oder per Anhalter. Dabei ist die Kamera mein ständiger Begleiter.»

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