Rachel Moran
Was vom Menschen 端brig bleibt Die Wahrheit 端ber Prostitution
Aus dem Englischen 端bertragen von Maria Heydel Mit einem Vorwort von Sabine Constabel
Tectum
Rachel Moran Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution Tectum Verlag Marburg, 2015 ISBN 978-3-8288-3458-3 Aus dem Englischen übertragen von Maria Heydel. Mit einem Vorwort von Sabine Constabel. Lektorat: Volker Manz © Rachel Moran 2013 Diese Übersetzung von Paid For wird gemäß Vereinbarung mit Gill & Macmillan, 10 Hume Avenue, Park West, Dublin 12, Irland veröffentlicht.
Umschlag: Porträt Rachel Moran © VIP Magazine Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
INHALT Danksagungen 11 Vorwort (Sabine Constabel) 13
Erster Teil
Die erste Frage 21 Eine Kindheit im sozialen Abseits 35 Die Krankheit meiner Mutter 43 Gefangen im Dreieck aus Krankheit, Sucht und Armut 49 Obdachlosigkeit 63 Der erste Tag 77
Zweiter Teil
Abtauchen in die Prostitution 89 Die Ebenen der Negativität 97 Das Wechselspiel seelischer Zerrüttung 111 Mythos Edelprostituierte 129 Scham, Nötigung und Missbrauch: 143 Charakterzüge der Prostitution Prostitution ist nicht von Gewalt zu trennen 167 Überlebensstrategien 179 Dissoziation und die Abspaltung vom eigenen Selbst 191 Der Mythos von der glücklichen Hure 207 Der Mythos vom sexuellen Vergnügen der Prostituierten 221 Der Mythos von der Kontrolle der Prostituierten 231 Was durch Prostitution verloren geht 245 Das falsche Bild von der Prostitution 261 277 Legalisierung und Entkriminalisierung Die Normalisierung der Prostitution 297
Dritter Teil
Meine Integration in die Gesellschaft 315 Depression und Suizid 331 Besch채digte Beziehungen und besch채digte Sexualit채t 337 Nachbeben 351 Die letzte Frage 371 Epilog 381 Nachwort 389 Space International 389
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VORWORT
Sabine Constabel Weltweit werden geschätzte 14 Millionen Menschen prostituiert. Die meisten davon sind Frauen. Angesichts dieser großen Zahl müssten die Buchhandlungen von Berichten über deren Lebensrealität überquellen. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt kaum eine Lebenswirklichkeit, über die so wenig bekannt ist, über die so beharrlich geschwiegen wird, wie über die der Prostitution. Rachel Moran bricht dieses Schweigen. Zum einen, weil dies ein Teil ihrer eigenen Heilung ist, zum anderen, um denen eine Stimme zu geben, die noch in der Prostitution gefangen sind. »Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Metapher eines brennenden Gebäudes. Ich weiß, wenn man selbst das Glück hat aus einem brennenden Gebäude zu entkommen, dann ist es nur richtig, andere zu alarmieren, dass in diesem Haus ein Feuer tobt. So besteht für die, die noch in seinem Inneren festsitzen, eine gewisse Hoffnung.« Zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Buchs in Deutschland wird gerade über die Novellierung des Prostitutionsgesetzes beraten. Unter anderem auch darüber, ob es vertretbar und wünschenswert ist, 18-jährige Teenager vor der Prostitution zu schützen, oder ob ein »Arbeitsverbot« für die unter 21-Jährigen nicht doch ein unzulässiger Eingriff in die verfassungsmäßig geschützte Berufsfreiheit wäre. Doch während engagierte Polizeibeamte das ProstG (Prostitutionsgesetz) schon mal als »Zuhälterschutzgesetz« bezeichnen und bessere rechtliche Instrumente zum Schutz der prostituierten Frauen fordern, betreiben so einige staatlich bezuschusste »Beratungsstellen für Prostituierte« Einstiegs- statt Ausstiegsberatung und kooperieren mit dem Bundesverband der Bordellbetreiber, die sich »Unternehmer in der Erotikindustrie« nennen. Eine milliardenschwere Prostitutionslobby hat in Deutschland dafür gesorgt, dass in der Öffentlichkeit ein Bild von Prostitution entstanden ist, das mit der Realität nicht das Geringste zu tun hat. So werden prostituierte Frauen inzwischen auch in den Medien als »Sexarbeiterinnen« bezeichnet,
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ist von »Freiheit« und »Selbstbestimmung« die Rede – aber kaum davon, wie die Lebensrealität von Frauen in der Prostitution tatsächlich aussieht. Als Sozialarbeiterin in der Beratung und Betreuung von prostituierten Frauen und Mädchen in Stuttgart habe ich in den letzten 24 Jahren zigtausende Gespräche mit Prostituierten geführt. Junge Frauen, die nur ungläubig den Kopf schütteln, wenn ich ihnen sage, dass viele Menschen denken, Prostitution wäre ein »ganz normaler Beruf«. Viele der Frauen begleite ich seit Jahren, manche von ihnen seit Jahrzehnten. Die Situation als prostituierte Frau war noch nie einfach. Immer schon fanden vor allem die Frauen in die Prostitution, die bereits Erfahrungen mit sexueller Gewalt hatten, in der Kindheit oder als Erwachsene. Begriffe wie »freiwillig« und »selbstbestimmt« passten noch nie zu dieser Tätigkeit. In den letzten Jahren aber hat sich die Lage massiv zugespitzt. Heute ist etwa jede dritte prostituierte Frau unter 21 Jahre alt. Das sind allein in Deutschland über 100.000 Mädchen! Fast alle kommen aus den ärmsten Regionen Osteuropas, aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Viele wissen nichts über Sexualität. Für so manche ist der Freier der erste Mann. Diese jungen Frauen wissen nichts über Infektionsrisiken, nichts darüber, wie man sich vor diesen oder vor gefährlichen Praktiken schützen kann. Für die Zuhälter und Zuhälterinnen ist es ein Leichtes, sich das Vertrauen dieser unerfahrenen, viel zu jungen und oft emotional verwaisten Mädchen zu erschleichen. Sie greifen sie sich aus Kinderheimen, holen sie aus den ärmsten Dörfern, versprechen ihnen Liebe – und werfen sie dann auf den Prostitutionsmarkt. Die Sexkäufer verlangen nach immer jüngeren Frauen, weil sie mit den Hilflosesten für wenig Geld machen können, was den größten Profit bringt. Diese jungen Frauen werden durch die vielen Vergewaltigungen – denn als nichts anderes empfinden sie ihre Prostitution – innerhalb kürzester Zeit physisch und psychisch zerstört. Prostitution ist in Deutschland seit 1927 eine legale, seit 1964 eine steuerpflichtige Tätigkeit und seit der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 ist Prostitution auch nicht mehr »sittenwidrig« und gilt als »ganz normaler Beruf«. Mit der fatalen Konsequenz, dass die komplette Legalisierung der Prostitutionsindustrie zu einer steigenden Nach-
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frage, zur Vergrößerung des Markts und zur Zunahme des Menschenhandels in Deutschland geführt hat. Damit ist eines der liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt in der Praxis gescheitert. Nicht die soziale und rechtliche Situation der prostituierten Frauen und Mädchen hat sich verbessert, sondern die der Bordellbetreiber und sonstigen Profiteure im System Prostitution. Doch verloren haben nicht nur die Prostituierten, sondern alle Frauen und Männer. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz der Prostitution steht im diametralen Gegensatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie zerstört nicht nur Frauen, die in der Prostitution arbeiten, sondern auch die Freier und deren Beziehungen zu ihren Freundinnen, Ehefrauen und Kolleginnen. Der Freier sieht alle Frauen mit dem Freier-Blick an. Die Juristin Prof. Dr. Rahel Gugel schreibt in ihrer Arbeit zum »Spannungsverhältnis zwischen Prostitutionsgesetz und Art. 3 II Grundgesetz«: »Die faktischen Auswirkungen des ProstG normalisieren (...) nicht nur gesamtgesellschaftlich das sexistische und geschlechtshierarchische Frauenbild in Prostitution und Sexindustrie. Vielmehr stützen und zementieren sie auch allgemein eine diskriminierende geschlechtshierarchische Einstellung von Männern gegenüber Frauen in der Bundesrepublik.« Am Beispiel ihrer eigenen biografischen Erfahrungen setzt sich Rachel Moran kritisch mit den Mythen rund um die Prostitution auseinander. Sie stellt das von der Prostitutionslobby propagierte Bild der »glücklichen Hure« ihrem eigenen Erleben gegenüber. Sie zeigt anschaulich, wie wenig die Mythen mit der Realität gemein haben. Und sie erklärt, warum diese Mythen nicht nur von der Prostitutionslobby, sondern auch von manchen Frauen in der Prostitution selbst verbreitet werden. Rachel Moran nennt Prostitution »ein mentales und emotionales Massaker« und bringt damit auf den Punkt, was die jungen osteuropäischen Frauen in der Prostitution ausdrücken wollen, wenn sie mir immer wieder sagen: »Ich ganz kaputt«. Viele Aussteigerinnen berichten, wie sie, als sie noch in der Prostitution lebten, ihre Realität verleugnen mussten. Aus purem Selbstschutz, weil es sonst nicht möglich gewesen wäre, auch nur den nächsten Tag zu überstehen. Auch später, nachdem sie sich befreit hatten, finden die meisten keine
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Worte, um auszudrücken, wie sie einst in die dunkle Welt der Prostitution abgleiten konnten, auf welche Weise sich mit der Zeit ihr inneres Wertesystem verändert hat und wie sie den Missbrauch des eigenen Körpers bagatellisieren mussten. Viele der Frauen kämpfen auch nach der Prostitution mit einer tiefen Verzweiflung und Depression. Denn ein Leben in der Prostitution hinterlässt Wunden. Auch solche, die die Zeit nicht heilt. Rachel Moran hat in jeder Sparte der Sexindustrie gearbeitet. Auch darin ähnelt sie den Frauen, die mir begegnen. Erst wird im Bordell gearbeitet, dann auf der Straße, in Clubs oder »Modellwohnungen«. Je nachdem, wo am meisten Geld zu verdienen ist, oder wohin ihre Zuhälter sie schicken. Moran entlarvt die angeblichen Vorteile von Bordellen für prostituierte Frauen als fade Illusion. Weder haben die Frauen in Bordellen mehr Kontrolle, noch sind sie bei der Indoor-Prostitution in irgendeiner Weise geschützter. Zu oft ist das Gegenteil der Fall, denn in Bordellen sind die Frauen ihren Zuhältern, wie auch den Freiern, in einem sehr viel größeren Ausmaß ausgeliefert als auf der Straße. Die Unterscheidung von der »gefährlichen und entwürdigenden Straßenprostitution« versus der »selbstbestimmten und geschützten Bordellprostitution« hat neben den rein kommerziellen auch ideologische Gründe, denn auch sie festigt den Mythos der freien und selbstbestimmten Prostituierten. Doch letztlich ist es egal, ob die Frauen auf der Straße oder in den Häusern zur Ware gemacht werden. Immer wieder höre ich Sätze wie: »Ich bin hier gestorben«, »Ich werde nie wieder lachen können« oder »Gib mir normale Arbeit«. Mitten in unserer Gesellschaft besteht ein Sklavinnenmarkt, der an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten ist. Internationale Studien belegen, dass ein Großteil von prostituierten Frauen Symptome von PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) zeigen, die vergleichbar sind mit denen von Kriegsveteranen, Vergewaltigten und Flüchtlingen oder KZ-Überlebenden. Deshalb floriert in den Bordellen der Drogenhandel. Viele der Frauen, die nicht an illegale Drogen kommen, versorgen sich mit Psychopharma-
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ka, um ihre Depressionen zu bekämpfen. Und ihren Ekel und ihre Angst vor den Freiern. Rachel Morans Analyse und Auseinandersetzung mit der Lebenswelt Prostitution sollte auch zum Standardwerk in der Ausbildung von professionellen Helfern und Helferinnen werden. Damit die nächste Generation von Sozialarbeiterinnen sich nicht mehr von der Prostitutionslobby an der Nase herumführen lässt und glaubt, wenn sie die prostituierte Frau »Sexarbeiterin« nennt, die Zuhälter »Manager« und die Bordellbesitzer »Unternehmer im Erotikgewerbe«, würde die Gewalt aus der Prostitution verschwinden. Ganz einfach deshalb, weil Gewalt nicht ein Randphänomen der Prostitution ist, sondern ihr Kern. Und vor allem, weil sich die meisten der Frauen nicht nach einer »Entstigmatisierung« oder gar »Berufsanerkennung« ihrer Tätigkeit sehnen, sondern ganz einfach nach einem Ausstieg aus der Prostitution – und nach einem Leben in Freiheit.
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Kapitel 7
ABTAUCHEN IN DIE PROSTITUTION Für fast alles gilt, dass es einfacher ist, rein- als rauszukommen. AGNES ALLEN
Wie sehr man auch versucht, sich an sein neues Leben (oder seine neue »Haut«, denn so fühlt es sich an) anzupassen, so gibt es doch immer wieder Begebenheiten, die einem mit erschütternder Wucht klarmachen, wie sehr sich die Dinge eigentlich geändert haben. Nur wenige Wochen, nachdem ich angefangen hatte, als Prostituierte zu arbeiten, stand ich auf Benburb Street, als eine Gruppe von fünf oder sechs Mädchen vorbeiliefen, die die grüne Uniform meiner alten Sekundarschule trugen. Ich hatte dieselbe Schule besucht, bis ich ein Jahr zuvor von ihr verwiesen worden war. Von dieser Schule ist Benburb Street weniger als zehn Fußminuten entfernt. Es war September, das neue Schuljahr hatte gerade begonnen. Daran lag es auch, dass ich diesen Anblick bis dahin noch nicht gesehen hatte, wenigstens nicht von dort aus. Ich starrte sie an, als sie vorbeigingen. Dabei mischte sich das Gefühl der Verwunderung mit einer Wehmut, an die meines Wissens keine Worte der englischen Sprache heranreichen. Ich hatte das Gefühl, dass die vergangenen Monate Äonen und die Mädchen Geister waren, die aus einer anderen Zeit herübergewandelt kamen. War ich es, die sich verändert hatte? Oder hatte sich die ganze Welt um mich herum verändert? Damals, mit fünfzehn, dachte ich, es wäre die Welt gewesen. Heute weiß ich natürlich, dass ich selbst mich verändert hatte und dass sich deswegen auch meine Wahrnehmungen verschoben hatten. Ein Jahr später stand ich an einer Ecke von Waterloo Road, die dicht mit Bäumen gesäumt war. Sie erinnerte mich an die North Circular Road, in der ebenfalls viele Bäumen standen und die ich früher zweimal am Tag auf dem Weg zur Grundschule und zurück entlanggelaufen war. Ich kickte das Laub vor mir her und fragte mich, warum es nicht genau so klang wie
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die Blätter, die ich früher auf meinem Weg zur Schule aufgewirbelt hatte. Es hatte doch geregnet, warum rochen sie dann nicht wie damals? Natürlich war der Geruch derselbe geblieben, doch etwas in seiner Grundessenz hatte sich verändert. Er hatte seine Unschuld verloren. In Wahrheit ist das Laub da, wo eine Prostituierte auf den Strich geht, aus dem Grund anders als das auf ihrem früheren Schulweg, weil sie es anders wahrnimmt, weil sie deutlich spürt, dass es sich verändert hat. Es sieht anders aus. Es riecht anders. Es klingt anders, wenn man die Füße darauf setzt. Für mich war sein Zauber gebrochen. Es waren nichts als verfault riechende, durchweichte Blätter, die am Boden verrotteten. Ich hatte oft das Gefühl, dass sich alles um mich herum verändert hatte, doch in kurz aufblitzenden Momenten der Klarheit begriff ich, dass die Welt gleich geblieben, dass nur ich anders geworden war. Verdorben. In diesen Momenten begriff ich, dass das Laub bloß deswegen nicht mehr schön war, weil ich es nun mit anderen Augen sah. Als diese Momente der Klarheit kamen, schien mir, dass alles an der Natur und an der Literatur, alles an den Dingen, die ich geliebt hatte, bevor ich eine Prostituierte wurde, nach wie vor da und genauso wie zuvor war, mir aber nicht mehr offenstand, weil ich inzwischen anders war. Dieser Gedanke war noch schmerzlicher, noch niederschmetternder als die Vorstellung, dass an mir alles anders und unwiederbringlich verloren war. Diese Gefühle waren allgegenwärtig, doch wie die Gezeiten brausten sie manchmal heftig und zogen sich ein andermal so weit zurück, dass nur noch ein sanftes Raunen zu vernehmen war und daran erinnerte, dass etwas nicht stimmte. In den ersten Morgenstunden lief ich entlang des Kanals vom Rotlichtbezirk nach Hause. Das Wasser war wie schwarze Tinte, durchsetzt von aufblitzenden Lichtflecken. Das Licht der Straßenlaternen war nicht hart, sie verströmten ein weiches Bernsteingelb und die Bäume entlang des Kanals zeichneten sich vor dem tiefblauen Nachthimmel ab. Ich wollte den Spaziergang genießen, und ein Teil von mir tat das auch, wenngleich auf sehr traurige Weise, strahlte die Szene doch einen Frieden aus, der mir verwehrt blieb. Ich fühlte mich entfremdet, verloren ... von allen vergessen.
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An manchen Tagen suchte ich noch immer Zuflucht in der Literatur, die ich liebte, ebenso in langen Spaziergängen durch Parklandschaften, doch dann legte sich lautlos ein Schalter um, und ich war wieder von jeglichem Gefühl abgeschnitten, ein Teil der Welt zu sein. In den ersten Jahren in der Prostitution hatte ich immer dann am besten Zugang dazu, wer ich war und was ich mochte, wenn ich allein war. Ich stemmte mich durchaus gegen das erdrückende Wesen der Prostitution. Ich denke, so war es in gewissem Grade bei allen von uns. Tagein, tagaus trug man sein Geheimnis mit sich herum, wenn man sich in »respektabler« Gesellschaft befand und versuchte, sich nur für den Tag oder vielleicht auch nur den Nachmittag in sie zu integrieren. Doch wenngleich niemand sonst davon wusste, man selbst wusste es immer. Ab und zu bekam die Fassade Risse. Dies geschah zum Beispiel, wenn sich in der Öffentlichkeit die Blicke mit einer anderen Prostituierten kreuzten. Wenn man sie nicht persönlich kannte und sie in Begleitung von jemandem war, dann sah man einfach weg, eine ungeschriebene, aber von allen geteilte Anstandsregel unter prostituierten Frauen. Wenn sie allein war und man sie nicht persönlich kannte, dann erkannte man sich an einem Nicken, das für einen Beobachter kaum erkennbar gewesen wäre, und setzte seinen Weg fort. Wenn man sie kannte und sich beide gut miteinander verstanden, dann war es am wahrscheinlichsten, dass man den Tag mit Lachen verbrachte und den Verdienst vom Vortag vertrank. Was mich, wenn ich mir gestattete, darüber nachzudenken, jedes Mal mit Panik erfüllte, war die Tatsache, dass ich keinen Ausweg zu sehen vermochte. Es war kein Ende in Sicht, und doch wusste ich zugleich, dass es auf ein Ende hinauslaufen musste – entweder mit dieser Sache oder mit mir, denn so konnte ich nicht ewig leben. Ich hatte mit vierzehn in meinem ersten Heim angefangen, Cannabis zu rauchen, und ich nahm es neben anderen Substanzen, um mich vor der Realität zu verstecken, aus der ich keinen Fluchtweg sah. So betäubte ich mich, als ich in die Prostitution abtauchte. Ich rede von »Abtauchen« in die Prostitution, weil man vollständig in ihr versinkt, so tief, bis man meint, es wäre der einzige Lebensweg, der einem offensteht. Ohne dass ich sie alle aus persönlicher Erfahrung kenne,
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weiß ich doch im Herzen, dass dies für alle eindeutig rechtswidrigen Arten gilt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Bankräuber eines Morgens aufwacht und beschließt, sich um ein Leben gesellschaftlicher Normalität zu bemühen? Wie fremd wäre ihm allein die Vorstellung? Die Gesellschaft, in die er sich zu integrieren versuchen würde, beinhaltet immerhin Banken! Gesetzwidrige Arten der Geldbeschaffung bringen die Betreffenden immer in Gegensatz zur akzeptablen Gesellschaft und denjenigen, die in derselben leben. In dieser Welt gibt es zwei verschiedene, voneinander getrennte Lebenssphären: die sozial akzeptable und die sozial inakzeptable. Man muss Letztere bewohnt haben, bevor man die Kluft zwischen beiden voll und ganz ermessen kann. Diese zwei verschiedenen Welten, die sich doch an ein und demselben Ort befinden, trennen Meilen. Ein weiteres Charakteristikum, das das Abtauchen in die Prostitution auszeichnet, ist der Verlust von Selbstwertgefühl, was die eigene Stellung in der Welt betrifft. Niemand von uns ist dafür gemacht oder entsprechend ausgerüstet, guter Dinge zu sein, während wir hinnehmen müssen, dass wir vom Rest der Gesellschaft verbannt und gemieden werden. Lebensstandards, die wir alle begehren, Glückseligkeit, Erfüllung und Zufriedenheit, kommen einer Frau in der Prostitution völlig abhanden, weil sie diese weder für sich selbst erfährt noch Beispiele dafür im Leben der Frauen um sie herum antrifft. Wenn etwas weniger erreichbar ist, so wird nicht mehr so häufig danach gestrebt. Ich war noch nicht lange in der Prostitution, als ich an dem Punkt kam, an dem ich Glücklichsein als schlichtweg unrealistisch betrachtete, und ich lag richtig damit. Ich kannte keine einzige Frau, die in der Prostitution glücklich war, und auch in späteren Jahren traf ich keine. In meiner Erfahrung gibt es keine »glücklichen Huren«. Das Abtauchen in die Prostitution hatte für mich zur Folge, dass mein Leben eingeengt wurde, sodass alles immer wieder zur Prostitution zurückführte, die inzwischen zum zentralen Punkt geworden war. Sie schien in alles einzudringen, alles zu durchdringen. Sie schrieb mir meine Schlafgewohnheiten vor, die Kleidung, die ich kaufte, die Unterhaltungen, die ich führte, die Dinge, die ich nicht tat, ebenso wie die Dinge, die ich tat.
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Ich maß die Zeit nicht anhand der Stunden oder Minuten des Tages, sondern indem ich die Stunden bis zur Arbeit zählte: Noch fünf Stunden, bis ich arbeiten muss, noch vier Stunden, noch drei Stunden ... Dabei fühlte ich jedes Mal den gleichen Übelkeit erregenden Schauder, der stärker wurde, je näher der Zeitpunkt rückte, an dem ich mich verkaufen würde. Als ich auf Waterloo Road auf den Strich ging, hing es von der Jahreszeit ab, um welche Uhrzeit ich auf die Straße ging, denn die Freier kamen heraus, sobald es dunkel wurde. Das heißt, es konnte sein, dass ich im Sommer um vier Uhr morgens noch arbeitete und mein Körper von ungefähr sechs bis zwölf Männern benutzt worden war. Manchmal dachte ich: »Was, wenn das alles ist, auf immer und ewig?« Wenn dieser Gedanke auftauchte, hämmerte mir das Herz gegen die Rippen. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der aus Versehen in ein Zimmer geflogen ist und nun von einer Wand zur anderen flattert, gleichermaßen wahnsinnig von der Angst vor dem, was ihn eingeschlossen hat, wie von dem verzweifelten Wunsch, zu entkommen. Den Begriff »Kinderprostituierte« hatte ich zum ersten Mal gehört, nachdem ich schon lange angefangen hatte, selbst als eine zu arbeiten. In meinen frühen Jugendjahren wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich so zu bezeichnen. Ich hatte kein Problem damit, mich mit der »Prostituierten« in dem Begriff zu identifizieren. Ich wusste, was ich tat und was es aus mir machte, als Kind fühlte ich mich damals jedoch nie. Ich war mir schon immer älter vorgekommen, als ich war, und mit fünfzehn sah ich mich selbst als eine junge Frau. Erst jetzt, als Mutter eines Kinds, das älter ist, als ich es damals war, ist mir klar, wie jung ich in Wirklichkeit war. Ich sagte allen Männern, die ich damals traf, wie alt ich war. Dafür hatte ich meine Gründe, denn es löste so gut wie immer den Effekt aus, dass sie sehr erregt wurden und leicht kamen, was gut für mich war, da es bedeutete, dass ich es schnell hinter mich bringen konnte. Dennoch gab es einen Mann, der nicht anbiss. Paradoxerweise fuhr er einen großen, weißen Wagen, das Fahrzeug, das Straßenprostituierte als das bevorzugte Transportmittel gewalttätiger Perverser erkennen. Dennoch machte er sofort kehrt, als ich ihm sagte, dass ich fünfzehn war, und fuhr mich dahin zurück, wo er mich gefunden hatte, wobei er auf dem ganzen Weg Vor-
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träge hielt, dass er mich da nicht lassen wolle, ich gehöre nach Hause oder in die Schule und ob er mich nicht irgendwo anders absetzen könne. Tausende Männergesichter sind zu einem einförmigen Nichts verschmolzen, seins habe ich nicht vergessen. Ich frage mich, ob er je erahnen konnte, was es bedeutete, was es kostete, als er mich ein Jahr später dann doch noch mit sich nahm. Ich wollte all das sein, was eine Jugendliche sein will. Ich wollte Model sein und Schauspielerin. Dem Personal des ersten Heims, in dem ich wohnte, Lefroy House, erzählte ich von meinen Ambitionen. Sie machten Fotos von mir und nahmen mich mit zu einer Modelagentur nahe der Baggot Street Bridge. Damals war ich vierzehn und gerade einmal 1,67 m groß. Mir wurde mitgeteilt, ich solle mit sechzehn zurückkommen, falls ich dann die fünf Zentimeter gewachsen sei, um die erforderliche Mindestgröße des Gewerbes zu erreichen. Ich kam nicht zurück, als ich sechzehn war. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich nur wenige Minuten zu Fuß von der Baggot Street Bridge entfernt als Prostituierte. Das Leben von jemandem, der respektiert, ja bewundert wird, war eine Realität, die ich in meinem Geist einfach nicht auf mich selbst übertragen konnte. Es war das Gegenteil von der Person, als die ich mich selbst sah. Jedenfalls war ich so und so nicht um die erforderlichen fünf Zentimeter gewachsen. Ich war damals 1,70 m, was ich wusste, seit man mich im Vorjahr auf dem Bridewell-Polizeirevier gemessen hatte, als ich zum ersten Mal festgenommen worden war, weil ich mich selbst angeboten hatte. Kann man eine Fünfzehnjährige als »Kind« bezeichnen? Ich nehme an, es gibt Leute, die glauben, zwei heranwachsende Brüste und eine Klitoris, die zu funktionieren beginnt, stellen die wesentlichsten Bestandteile einer Frau dar. Dieser Denkschule gehöre ich nicht an, und ich hege seit jeher Misstrauen gegenüber jedem, der alles daran setzt, zwischen einem sexuellen Interesse an vorpubertären Kindern und jungen Teenagern zu unterscheiden. Was Brüste und Genitalia betrifft: Auch wenn ich mit fünfzehn einen gut entwickelten Busen hatte und davon ausgehe, dass meine Klitoris orgasmusfähig war, wusste ich nicht einmal, dass das, was sich hinter dieser
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Hautfalte befand, meine Klitoris war, und in Sachen Masturbation hätte ich buchstäblich nicht gewusst, wo ich hätte anfangen sollen. Wichtiger ist jedoch, dass ich nicht in der Lage war, erwachsene Entscheidungen zu treffen. Die wirklich ausschlaggebenden Anzeichen des Erwachsenseins sind nicht etwa Brüste und Genitalia, wie jeder wissen sollte, der das Erwachsensein erreicht hat. Selbstverständlich sehe ich jetzt, nach all den Jahren und als Mutter, dass eine fünfzehnjährige Person ein Kind ist – Punkt. Trotzdem habe ich nach wie vor Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass ich damals selbst ein Kind gewesen sein soll. Vielleicht liegt es daran, dass es zu schmerzhaft ist, dies voll und ganz einzusehen, doch seit mein eigenes Kind das gleiche Alter erreicht hat, ist es viel schwerer geworden, meine Gedanken von eben dieser Vorstellung abzuwenden. Der Geist zieht zwangsläufig Vergleiche. Ich denke daran, wie jung mein Sohn mit fünfzehn war, wie schlecht darauf vorbereitet, mit der Welt klarzukommen. Ich denke daran, wie viel er noch wachsen musste und wie zerbrechlich sein Selbstgefühl war, egal, wie gut das von jugendlichem Sprücheklopfen und Prahlerei übertüncht wurde. Seit er fünfzehn geworden ist, sehe ich ihn mir hin und wieder an und denke daran, was ich in seinem Alter getan habe, und was mit mir getan wurde. Ich denke daran, wie widerwärtig es sich in meinem Körper anfühlte, wie weh es im Herzen tat und wie es meinen Geist verformte. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht möglich ist abzuschätzen, in welchem Maß mein junges Leben verseucht wurde, ohne anzuerkennen, wie jung ich damals war. Ich bin also gezwungen, dem ins Auge zu sehen. So hart diese Realität aber auch ist, so gibt es doch etwas für mich, das noch tiefer reicht, mich noch mehr beunruhigt, denn dass ich in diesen Lebensstil eingeführt wurde, brachte ein bestimmtes Resultat mit sich, hatte einen bestimmten Einfluss auf mich: Es brachte mich dazu zu glauben, dass dies der einzige Weg für mich sei – dass ich für nichts anderes geeignet war. Taucht man in die Prostitution ein, geschieht dies auf allen Ebenen, mit allem – einschließlich der Dinge, die sie einem über sich selbst lehrt. Dass ich diese Dinge geglaubt habe, bedeutet, dass ich in einer Lüge versunken war. Das sehe ich heute.
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DIE EBENEN DER NEGATIVITÄT Jede der Frauen sprach davon, dass sie versuchten, eine Trennung zwischen sich selbst auf der einen und dem Akt und der Identität der Prostitution auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. »THE NEXT STEP INITIATIVE”, FORSCHUNGSBERICHT VON RUHAMA ÜBER DIE BARRIEREN, DIE SICH FRAUEN IN DER PROSTITUTION STELLEN, IRLAND, 2005
Ich bin pornografisch fotografiert worden. Es fällt mir schwer, das zu schreiben. Ich habe darüber nachgedacht, darüber, wie es sich wohl anfühlt, wenn ich mir jene Bilder heute ansehen würde. Es würde mir wehtun, sie zu sehen und zu wissen, dass andere sie sehen könnten. Das weiß ich. Gleichzeitig wäre es lehrreich und lohnend, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mein eigenes Gesicht so verzerren konnte, dass es dem puppenhaften Bild weiblicher Sexualität ähnelte, das von mir verlangt wurde, als ich eine Pose nach der anderen einnahm, während ich mich die ganze Zeit mental gegen ein nahezu greifbares Gefühl der Erniedrigung abhärtete. Ich denke, es könnte erhellend für die Leute sein zu sehen, wie sich eine Übereinstimmung zwischen jenem Gesicht und diesen Worten hier feststellen lässt. Etwa sechs Monate, nachdem ich begonnen hatte, im Rotlichtbezirk von Benburb Street auf der Nordseite der Stadt zu arbeiten, begegnete ich dort einem Mädchen, das auf beiden Seiten der Stadt arbeitete. Wir verstanden uns gut, wurden erst Freundinnen, dann auch Mitbewohnerinnen, und sie nahm mich mit auf die Straßen der Südseite der Stadt. Dort ließ sich zwar nur geringfügig mehr Geld pro Job verlangen, auf die Nacht gesehen summierte es sich aber durchaus. Was die Anzahl der Freier betrifft, waren diese Straßen um Einiges geschäftiger, vermutlich weil sich Männer in der Dunkelheit wohler bei dem fühlten, was sie ta-
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ten. Darüber hinaus war der Bezirk auf der Südseite bekannter und auch nicht so stigmatisiert wie die Benburb Street. Die Zahl der Gestrandeten, Junkies, Alkoholsüchtigen usw., die hier ihre Runden drehten, um ihren Geschäften nachzugehen, hielt sich in Grenzen. Meine neue Freundin arbeitete schon seit einigen Jahren auf der Burlington Road, doch es brachte ihr viel Ärger ein, mich dorthin zu bringen. Ich war erst vor Kurzem sechzehn geworden und rasch sehr gefragt. Schon nach wenigen Wochen mussten wir damit rechnen, dass sie uns die Gesichter zerschlitzten, um uns jeder Möglichkeit zu berauben, irgendwelche Geschäfte zu machen. Ein paar weitere Wochen blieben wir standhaft, da wir aber nicht den Wunsch verspürten, für den Rest des Lebens entstellt zu sein, kamen wir schließlich überein, mit unserem Unternehmensgeist zur nächsten Straße weiterzuziehen, die parallel zur Seite des Burlington Hotel verlief, zur Waterloo Road. Auf der Waterloo Road gab es keine Prostituierten, obwohl sie einst ein Straßenstrich gewesen war. Die Wohnstraße liegt im vornehmen Stadtteil Dublin 4, und wir wussten, dass uns dort ein harter Kampf bevorstand. Das Geschäft würde mit Sicherheit fast auf null sinken. Auf der Waterloo Road hielten kaum Männer nach Prostituierten Ausschau. Unsere Überlegung war jedoch, dass einige von ihnen auf ihrem Weg zu und von Burlington Road, Saint Stephen’s Church, Fitzwilliam Square und dem Kanal, die alle in unmittelbarer Nähe lagen, unsere Straße auf und ab fahren mussten. Unser Ziel war es, die Straße wieder zu einem Teil des Rotlichtviertels zu machen und uns dort eine Nische zu erkämpfen. Gemäß dem unter Prostituierten geltenden Gesetz der Nähe konnten die anderen Frauen keine gültigen Einwände dagegen vorbringen, dass wir dort arbeiteten, schließlich übertraten wir keinen angestammten Bereich. Wir wussten, dass wir so gut wie nichts verdienen würden, bis die Freier spitzbekommen hätten, dass dieser Bereich wieder geschäftstüchtig war. Wir hatten keine Ahnung, wie lange das dauern würde. Wir wussten auch, dass wir vielen Anfeindungen und Beschwerden seitens der Bewohner aus den anliegenden Apartments begegnen würden, die sich gewiss nicht darüber freuten, wenn sie sahen, dass ihre hübsche Allee von Gesindel wie
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uns infizierte wurde, Gesindel, das ihnen bestimmt auch so schon näher kam, als ihnen lieb war. Wir suchten uns den sinnvollsten Standort aus, die Ecke eines Fußwegs am Anfang einer langen Gasse. Das war praktisch, um mit jenen ins Geschäft zu kommen, die »Spaziergänger« genannt werden, Männer, die lieber zu ihrem Ziel laufen als fahren und sich mit der Absicht tragen, die Sache im Freien zu erledigen. Dieser Standort war auch deshalb sinnvoll, da er uns mehr als eine Route bot, um das Weite zu suchen, sollte dies nötig sein. Dieses Denken ist, wie ich glaube, bezeichnend für die Geisteshaltung von Prostituierten, fühlt man sich doch stets sicherer, wenn man einen Fluchtweg für den Fall hat, dass etwas schiefgeht – und das legt nahe, dass man genau davon immer ausgeht. Mit dem Geschäft ging es tatsächlich aufwärts, und es dauerte nicht einmal annähernd so lange, wie wir dachten. Vielleicht waren die Frauen noch nicht so lange von dort weggegangen, wie wir vermuteten. Wir lagen richtig in der Annahme, dass Waterloo Road eine von Freiern viel frequentierte Route war, und sie brauchten nur kurze Zeit, um sich an den wiederhergestellten Charakter der Straße anzupassen. Eine oder zwei Wochen genügten. Die Anwohner dagegen brauchten um einiges länger. Inzwischen habe ich einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem ich die Situation aus der Perspektive der Anwohner durchaus verstehen kann. Als Mutter eines Teenagers wäre ich überaus unzufrieden, wenn ein paar Prostituierte entscheiden würden, wenige Meter von meiner Haustür entfernt einen neuen Strich aufzumachen. Ich will nicht, dass mein Zuhause auf diese Weise von dem Gefährlichen und Negativen, das die Prostitution bedeutet, umgeben ist. Ich will nicht mit der Angst leben, dass sich einer der Männer, der diese Frauen aufsucht, als gefährlicher Perverser herausstellen könnte, der nebenbei eine Vorliebe für Kinder hat. Ich will mir keine Sorgen über Fragen der Hygiene oder den bloßen Ekelfaktor machen müssen, dass Leute einem benutzte Kondome auf den Fußweg vor der Haustür werfen, wie es manche Prostituierte und Kunden leider tun. Ich persönlich habe das nie getan, ebenso wenig wie das Mädchen, mit dem ich damals zusammen arbeitete. Wir warfen sie immer ins Wasser herunter – das war der beste Kompromiss, der mir der Nachbarn zuliebe
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einfiel, da ich nicht bereit war, sie die ganze Nacht mit mir herumzutragen und dann daheim im eigenen Mülleimer zu entsorgen. Ich kann also durchaus verstehen, warum einige der Anwohner heftig gegen unsere Anwesenheit protestierten. Ich frage mich nur, ob es ihnen je in den Sinn gekommen ist, dass ein Teil von uns selbst heftiger gegen unsere Anwesenheit dort rebellierte, als sie je imstande gewesen wären. Ich nehme an, in den ersten Tagen musste sich der anfängliche Schock angesichts unseres Auftauchens auf Waterloo Road erst einmal legen. Aber es dauerte nicht länger als ein paar Tage, bis das Gefühl der Entrüstung und beleidigter Empörung an die Oberfläche trat und sich uns deutlich zeigte. Die Dame mittleren Alters, die in einem der Häuser lebte, in dessen unmittelbarer Nähe wir uns aufgestellt hatten, kam heraus und befahl uns in einem Ton, der an Hysterie grenzte, wegzugehen und von ihrem Haus zu verschwinden. Wir sahen uns einfach nur an und lachten los. Wahrscheinlich dachte die Frau, wir würden uns über sie lustig machen oder hätten keinen Respekt vor ihr oder beides, in Wahrheit jedoch war weder das eine noch das andere der Fall. Es war nur so, dass uns diese Aufforderung von vorn bis hinten so absurd vorkam, dass Lachen die natürlichste Reaktion war. Sie war absurd, weil die, die forderte, und die, die aufgefordert wurden, aus zwei verschiedenen Welten kamen und Erstere es als zulässig angesehen hatte, Forderungen zu stellen, ohne auch nur den Versuch eines Dialogs zu unternehmen. Wir bekamen mehrfach Besuch von ihr, bis wir ihr schließlich sagten, sie solle sich verpissen. Ihre Haltung war tatsächlich ein Musterbeispiel dafür, wie man sich nicht verhalten sollte, um zu bekommen, was man will. Wäre sie an jenem ersten Abend auf uns zugekommen und hätte uns mit ruhigen, wohlüberlegten und respektvollen Worten erklärt, dass sie berechtigte Befürchtungen hatte, wären wir, wie ich mit Sicherheit weiß, ans andere Ende der Straße weitergezogen, Gasse hin oder her. Wir hatten zunächst überlegt, ob wir am anderen Ende arbeiten sollten, da, wo die Waterloo Road auf die Baggot Street trifft, bevor wir uns am Anfang der Gasse niederließen, die sich in der Nähe des Hauses dieser Frau befand. Das andere Ende der Straße war fast genauso praktisch zum Arbeiten, weil es dort ein großes Gebäude mit einer kurzen Gasse gab, die
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zu einer Tiefgarage führte, die nachts immer leer stand. Doch wir waren uns einig, dass Baggot Street viel zu oft von der Polizei abgefahren wurde und dass wir am entgegengesetzten Ende der Straße weit weniger ihren prüfenden Blicken ausgesetzt sein würden. Wäre die Frau aber mit einem akzeptablen Maß an Respekt auf uns zugekommen und hätte sie ernsthafte Gründe dargelegt – und ganz sicher, wenn Ängste um Kinder dazu gehört hätten –, wären wir an diesem ersten Abend ohne Diskussion weitergezogen. Hätte sie respektvoll mit uns gesprochen, dann hätten wir ihr den Umstand, dass uns ein Wert als Menschen zugestanden wurde, so hoch angerechnet, dass wir alles getan hätten, worum sie uns gebeten hätte, und zwar gern. Stattdessen redete sie mit uns, als ob wir ein Nichts wären, und das war ihr Fehler. Prostituierte Frauen werden routinemäßig bezahlt, damit man sie behandeln kann, als seien sie ein Nichts. Und ich habe festgestellt, dass sie – und dies ist ganz klar eine Folge davon – allgemein eine Haltung kultivieren, aus der heraus sie sich in jeder anderen Situation, in der man sie genau auf diese Art behandelt, aggressiv widersetzen. In den Augen der Leute ist die Straßenprostitution das »Unterste vom Unteren«. Sie glauben, dass man nicht tiefer sinken kann, als auf dem Strich zu arbeiten, wie ich es getan habe. Doch dazu machte ich eine überraschende Entdeckung. Später, als ich die Gelegenheit hatte, internationale Studien zum Thema Prostitution zu recherchieren, erfuhr ich, dass in der Prostitution, die außerhalb der Straße stattfindet, aber auch in anderen Bereichen der Sexindustrie erwiesenermaßen mehr Gewalt vorherrscht als in der Straßenprostitution selbst. So hat man in einer in Seattle durchgeführten Studie herausgefunden, dass Frauen in Striplokalen, Massage salons und in der Pornografie weniger Kontrolle über ihre Lebensbedingungen haben und wohl auch einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt sind als Frauen, die in der Straßenprostitution tätig sind.4 Für mich ist das in keiner Weise überraschend. Meine eigenen Erfahrungen spiegeln es direkt wider.
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Debra Boyer, Lynn Chapman, Brent Marshall, »Survival Sex in King County: Helping Women Out«, 1993.
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In der Zeit, in der ich in Bordellen oder im Escort-Bereich arbeitete, war mir zu jeder Zeit bewusst, dass ich kaum Kontrolle darüber hatte, welchen Mann ich treffen würde oder nicht. In meiner Lage als Straßenpro stituierte war das anders, denn da hatte ich die Möglichkeit, jeden Kunden zu sehen, bevor ich zu ihm ins Auto stieg. In der Straßenprostitution gibt es ein gewisses, wenngleich nur minimales Maß an Auswahlmöglichkeiten. Die Auswahl wird oft von anderen Faktoren beeinflusst, zum Beispiel davon, wie betriebsam oder ruhig eine Nacht ist, wie viel Geld man zusammenbringen muss, wie grässlich das Wetter ist usw., aber letzten Endes hat man die Möglichkeit, sich einen Eindruck vom Verhalten eines Manns zu machen und sich zu fragen, was dieses für einen bedeuten könnte. In Massagesalons oder Escort-Agenturen ist das anders. Arbeitet man für sich, kann man einen Mann allein anhand eines Telefongesprächs nicht hinreichend einschätzen, arbeitet man für jemand anderen, hat man nicht einmal die Chance, es zu versuchen. Hier ist der Grund zu sehen, dass man in der Straßenprostitution die größte Autonomie findet. Das widerspricht dem Bild von der Prostitution, das am weitesten verbreitet ist und die Straßenprostituierte als die Unglücklichste ihrer Zunft darstellt. Was andere Dinge betrifft, mag es sie weniger gut treffen, zum Beispiel was ihr Entgelt anbelangt; in Sachen Eigenverantwortung jedoch kommt kein Prostitutionsbereich an diesen heran. Das ist einer der Gründe, warum sich der Sexual Offences Act, der 1993 in Irland eingeführt wurde, so verheerend auf Straßenprostituierte auswirkte. Dieses Gesetz beraubte uns unserer Autonomie, des winzigen bisschen an Autonomie, über das wir verfügten. Es ist kaum zu glauben, aber das Gesetz zielte nicht darauf ab, den Tatbestand der Prostitution an sich zu kriminalisieren, weder für die männlichen noch für die weiblichen Beteiligten. Dagegen kriminalisierte es den Tatbestand, sich zum Zwecke der Prostitution öffentlich anzubieten. Das englische Wort dafür, »soliciting«, ist der juristische Fachbegriff für den Tatbestand des Herumlungerns mit der Absicht, sich zu prostituieren oder sich an Prostitution zu beteiligen. Folglich kriminalisierte das Gesetz nur eine Sparte der Prostitution, genauer gesagt die Straßenprostituierten. Es nahm die Straßenprostituierten
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ins Visier, und nur sie. Es lag auf der Hand, was dies zur Folge hatte (und was, wie ich glaube, beabsichtigt war): Die Prostitution wurde in die Innenräume gedrängt. Das führte wiederum dazu, dass sich viele Frauen, auch ich selbst, nicht mehr auf der Straße ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Und dies rief ein enormes Maß an Leiden hervor. Ich zum Beispiel war gezwungen, zum ersten Mal bezahlten Geschlechtsverkehr zu haben. Ich war siebzehn Jahre alt und hatte es mehr als zwei Jahre lang geschafft, die Prostitution zu überstehen, ohne diesen Teil meiner selbst aufzugeben. Das war nun nicht mehr möglich. Am Telefon kann man einem Mann nicht klarmachen, dass man bestimmte Handlungen macht, andere dagegen nicht, wenn er weiß, dass er die nächste Nummer wählen kann, um zu bekommen, was er will, egal, was es auch sei. Auf der Straße war mir das möglich, weil ich schlank, jung und hübsch war und sich viele Männer mit Oralsex oder einem Handjob zufriedengaben. Nun war mir das nicht mehr möglich. Der Sexual Offences Act von 1993 nahm mir und vielen anderen das Recht, ein gewisses Maß an Kontrolle über unser Leben auszuüben, das so und so schon aus den Fugen geraten war, während man der Bordellprostitution nicht nur gestattete, fortzubestehen, sondern darüber hinaus deren Expansion begünstigte. Dass ich Geschlechtsverkehr haben musste, war für mich die schlimmste »Ebene der Negativität«, die ich in der Prostitution erlebte. Etwa vier Jahre lang ließ ich mich nur gelegentlich darauf ein, weil ich das Gefühl, vergewaltigt zu werden, einfach als zu traumatisch empfand. Oftmals saß ich stundenlang in den Agenturen und hoffte, dass jemand anrufen würde, der dominiert werden wollte oder ein anderes ungewöhnliches Anliegen hatte. Ich konnte Geschlechtsverkehr nicht verkraften, weder mental noch emotional, und ich glaube, das wurde dadurch verschlimmert, dass ich es so lange geschafft hatte, ihm aus dem Weg zu gehen. Es war ein überwältigendes Gefühl der Niederlage damit verbunden, und ich spürte, wie es mich nun in eine tiefe Depression trieb. Manchmal, wenn ich stundenlang dagesessen hatte, ließ ich mich doch auf Geschlechtsverkehr ein, wenn kein anderer Anruf durch die Leitung kam. Mit der Zeit baute ich mir aber einen Stamm an Transvestiten und Männern auf, die auf S&M und
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Bondage standen, Männer, deren Neigungen ich erträglich fand, während andere Frauen sie üblicherweise als »totale Perverse« bezeichneten. So seltsam es für manche klingen mag, für mich war dies eine Möglichkeit, mich wirklich und authentisch von den Ebenen der Negativität zu lösen, die mich erstickten. Ich war sechzehn, als ich auf Leeson Street zum ersten Mal in einem Bordell landete. Da war ich gerade von einem fünfmonatigen Aufenthalt zwischen einer Jugendstrafanstalt und einer Pflegefamilie zurück, in der mich das Gericht zur Bewährung platziert hatte. Im Frühsommer 1992 war ich in einem von den Medien als »Bordell« bezeichneten Haus festgenommen worden. In Wirklichkeit war es die Bleibe des Mädchens, mit dem ich anschaffen ging, und wir bedienten beide gelegentlich Kunden dort. Meine Verhaftung schaffte es auf die Titelseite der Irish Press. Die Schlagzeile lautete: »SECHZEHNJÄHRIGE AUS BORDELL HERAUSGEHOLT«. Ich war nur froh, dass die Polizei ihre Razzia nicht ein paar Monate zuvor durchgeführt hatte, als ich noch fünfzehn war. Ich stellte mir vor, dass in dem Fall drastischere rechtliche Konsequenzen auf mich zugekommen wären, insofern mich das Jugendgericht noch strenger im Blick gehabt hätte, und wahrscheinlich lag ich damit auch richtig. Zu der Zeit, nach einem Jahr in der Prostitution, überstieg es meine Vorstellungskraft, dass ich mein Leben irgendwie anders führen könnte, denn ich sah keine Alternative, die mir Sicherheit oder Unabhängigkeit in irgendeiner Form geboten hätte. Außerdem dachte ich ohnehin, dass ich zu nichts anderem taugte. Es ist seltsam, wie schnell in der Prostitution das Gefühl apathischer Abhängigkeit einsetzt. In dieser Hinsicht ist die Prostitution der Erfahrung von Gefängnisinsassen vergleichbar. Eine drückende Traurigkeit legt sich auf mich, wenn ich daran denke, wie ich reagierte, als mich meine Pflegeeltern einluden, nach den vom Gericht verordneten Monaten weiter bei ihnen zu bleiben. Sie schlugen mir vor, dort zu leben, aus ihrem Zuhause mein eigenes zu machen. Dort zur Schule zu gehen. Mir ein Leben aufzubauen. Nur wusste ich irgendwo in mir, dass ich nicht dazu imstande war.
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Die Familie hatte einen Hobbybauernhof, und ich verbrachte den Sommer damit, im Hühnerstall Eier einzusammeln und in der Morgendämmerung ein verwaistes, schwarzes Lämmchen mit Milch zu füttern. All diese Dinge fühlten sich zu rein für mich an – anders gesagt, ich fühlte mich zu schmutzig für sie. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht bleiben konnte, weil ich nicht dahin gehörte, und bei dem Gedanken, in der Schule neben Mädchen in meinem Alter zu sitzen, sah ich mich selbst als einen Tropfen Öl in einer Schüssel Wasser – als einen unverkennbaren Fremdkörper. Im Verborgenen richtete ich es ein, im Bordell in der Leeson Street unterzukommen. Ich kannte es, weil ich kurz vor meiner Festnahme ein paar Jobs für den Zuhälter erledigt hatte, der es betrieb. Ich sagte ihnen, dass ich bei einer Freundin übernachten würde. Das war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, war doch eine Freundin aus meinen Heimtagen im selben Bordell untergekommen. Als ich in der Leeson Street ankam, fühlte ich, neben vielen anderen Dingen, zumindest eine gewisse Zugehörigkeit. Ich war es gewohnt, um drei oder vier Uhr morgens draußen zu sein. Ich war es gewohnt, dass mir niemand sagte, wann ich zurück sein sollte oder wie viel Alkohol oder Drogen ich zu nehmen oder nicht zu nehmen hatte. Dieses Gefühl der Zwanglosigkeit war mein Zuhause-Gefühl, und es war das einzige Zuhause, das ich kannte. Eine Stahltreppe führte zum Kellereingang des Bordells. An der Mauer hing ein Schild, auf dem eine altmodische Fotokamera mit Stativ und eine schwarze Katze abgebildet waren, deren Schwanz sich um eins der Stativbeine wand. Ich kann mich nicht mehr an die Farbe der Tür erinnern. Dagegen erinnere ich mich an das dumpfe Pochen meines Herzens, als ich an die Tür klopfte. Der Zuhälter war bei Weitem nicht die widerlichste Person, der ich in der Prostitution begegnet bin, und doch wäre es schwierig, ihn zu beschreiben, ohne ausfallend zu werden. Kurz gesagt war er ein Arschloch. Er war jemand, der über die Prostitution gestolpert war und sie als Möglichkeit ansah, leicht an Geld zu kommen. Er war ein Mann aus der gehobenen Mittelschicht und Ende zwanzig, seine Sprache war getränkt vom Akzent des gehobenen Stadtteils Dublin 4. Er hatte nicht eine Sekunde die har-
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te Lebenswirklichkeit erfahren müssen, die all die Frauen und Mädchen miteinander teilten, die auszubeuten er sich alle Mühe gab. Er war ganz einfach schlecht auf die Welt vorbereitet, in die er eingetaucht war, und ich verabscheute ihn zutiefst. Wenn ich verbittert klinge, dann wohl, weil ich es bin. Wenn es für eine Frau etwas Entwürdigenderes gibt, als einem Mann ihren Körper zu verkaufen, dann ist es, einem Mann ihren Körper zum Nutzen eines anderen zu verkaufen. Es waren mehrere verschiedene Elemente, die er in seinem Betrieb verband. Eine der Haupttätigkeiten war Stripping. Er organisierte Stripperinnen im ganzen Land, und innerhalb kürzester Zeit war ich eine seiner gefragtesten Stripperinnen. Das lag nicht daran, dass ich eine gute Tänzerin war (das war ich nicht), sondern an meiner Jugend und meinem Körperbau. Ich und andere bescherten ihm wöchentlich volle Häuser von Dublin bis Tipperary. Beim Thema Tipperary erinnere ich mich an Cashel, wo einige von uns an einer ganz bestimmten Show beteiligt waren. Als wir in den Ort fuhren, erlebten wir den größten Schock aller Zeiten. Die Straßen waren von oben bis unten zugepflastert mit riesigen Plakaten, auf denen in grellem Grün, Pink und Orange unser Kommen angekündigt wurde. Wir wussten also, dass uns eine lebhafte Nacht blühte. Die Bar wirkte innen wie eine umgebaute Scheune, was überaus passend war, schließlich führten sich die Männer darin wie ein Haufen Tiere auf. Bei ihrem Geschrei konnte man meinen, sie hätten in ihrem ganzen Leben noch nie einen Busen oder einen Frauenhintern gesehen. So verhielten sie sich übrigens im ganzen Land, das war gewiss nicht auf die Männer von Cashel begrenzt. Mit Stripping verband ich ähnliche Gefühle wie mit der Prostitution. Es schien auf eine Abwägung zwischen den beiden hinauszulaufen, darauf, für die Nacht das eine gegen das andere einzutauschen. Entweder man hatte mehr Augen auf sich und dafür weniger Hände oder anders herum. Das bedeutet keineswegs, dass man sich manchmal nicht auch mit beidem zufriedengeben musste, denn das musste man durchaus. Manche Männer fanden großes Vergnügen daran, uns öffentlich zu begrapschen, zu drangsalieren und zu erniedrigen, soweit dies nur möglich war. Ich kannte ein Mädchen, der ein Mann mitten in einer Show seine Finger in die Vagina geschoben hatte. Sie rannte schreiend und tränenüberströmt von der Büh-
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ne. Ich brauche nicht extra zu sagen, dass der Mann, der angeblich dafür bezahlt wurde, um uns zu beschützen, nirgends zu sehen war, wenn derlei Dinge passierten. Viele Leute einschließlich Frauen betrachten Strippen als eine Art harmloses Vergnügen. Das ist es nicht. Es ist weder harmlos noch ein Vergnügen, wenn einem das Herz inmitten einer Meute von fünfzig oder sechzig betrunkenen Männern gegen die Rippen hämmert, die alle vulgäre und obszöne Sachen grölen, und man dasteht und sich langsam die Kleidung abschält, die wenigen Schichten, die einen von ihnen trennen. Es ist durch und durch ein Angriff auf den eigenen Körper. Wenn ich an den Abend im Herbst 1992 zurückdenke, als ich in der Leeson Street ankam, zieht es mich im Geist immer wieder zu jenem ersten Moment zurück, als ich das Bild mit der Katze ansah, die ihren Schwanz um das Stativ wand, denn es bewirkte, dass sich eine negative Energie in mir ausbreitete, die ich nicht einordnen konnte. Wie ich später herausfand, stand das Bild für das, was dort vor sich ging. Es handelte sich um ein Pornostudio. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Männer mich dort fotografiert haben, und ich will es auch gar nicht wissen. Die Abmachung bestand darin, dass ein Mann mit seiner eigenen Kamera und einer leeren Filmrolle kam, einen vereinbarten Betrag zahlte, ich denke, es waren neunzig Pfund, und als er damit fertig war, das Mädchen zu fotografieren, egal, welches er sich ausgesucht hatte, konnte er gegen einen Zuschlag mit ihr machen, was er wollte. Die Filmrolle gab er dann dem Zuhälter, der sie Gott weiß wo entwickeln ließ. Jemand muss in diese Machenschaften eingeweiht gewesen sein, denn es war vor der Zeit der Digitalkameras: Die Fotografien mussten ja irgendwo entwickelt werden, und die meisten Mädchen auf ihnen waren minderjährig. Ich erinnere mich besonders an einen Mann, der gar nicht daran interessiert zu sein schien, eindeutige Fotos zu machen, was ungewöhnlich war. Er sagte mir, ich solle so posieren, wie ich wolle, und wies mich kein einziges Mal an, mich auszuziehen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Fensterbrett saß, den Kopf gegen die Wand gelehnt, das Kinn angehoben und
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die Augen geschlossen, als wäre ich tief in Gedanken versunken. Und plötzlich war ich tief in Gedanken versunken und stellte mir vor, dass ich ein Model war, dass es bei der Modelagentur geklappt hatte und dies ein ganz normaler Arbeitstag war. Das Klicken seiner Kamera holte mich in die Realität zurück. Er sagte mir, es sei ein sehr schönes Foto. Ich fühlte mich getroffen, auf eine neue Art verwundet. Er hatte etwas von meinem wahren Ich auf seiner Filmrolle eingefangen. Dies war eine neue Lektion, die mich lehrte, zu keiner Zeit aus der Deckung zu kommen. Manche Frauen haben kein Problem mit Pornografie. Nun, ich schon. Ich bin selbst in eindeutig sexuellen Posen fotografiert worden und weiß, dass sich hinter den Hochglanzbildern einiges mehr abspielt, als die meisten Leute bereit sind, in Betracht zu ziehen. Es ist ein erniedrigendes, ausbeuterisches Business, das für die Frauen sowohl in der Branche als auch außerhalb erheblichen Schaden zur Folge hat. Im Rahmen des andauernden Versuchs, die Pornografie schönzureden, wird uns erzählt, sie sei eine Form von »sexuellem Empowerment«, von »sexueller Selbstbestimmung«. Für mich traf dies ebenso wenig zu, als ich nackt und posierend fotografiert wurde, wie als ich nackt und posierend gefickt wurde. Damals arbeitete ich mit einem halben Dutzend anderer Mädchen zusammen, alle Mitte bis Ende der Teenagerzeit. Manche kannte ich noch aus den Heimen, andere kannte ich über Mädchen, die ich in den Heimen kennengelernt hatte. Was wir in dem eiskalten, schäbigen Keller machten, war das Gleiche, was wir draußen auf der Straße machten. Wir nahmen uns das Einzige, was wir den Umständen, in denen wir uns befanden, abzuringen vermochten: die Gelegenheit, uns ein Dach über dem Kopf zu besorgen und etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Das war das einzige »Empowerment«, das sich in unserem Leben erkennen ließ. Ein siebzehnjähriges Mädchen, mit dem ich zusammen arbeitete (eine Überlebende sexuellen Kindesmissbrauchs), hatte, gerade schwanger, ihre Wohnung verlassen, weil es ihr Vermieter immer wieder auf Sex mit ihr anlegte. Sie argumentierte, wenn sie schon von älteren Männern sexuell belästigt wurde, dann könne sie sich genauso gut dafür bezahlen lassen. Zu dieser Schlussfolgerung gelangten viele von uns.
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Es war eine allgegenwärtige Realität, dass wir von Männern ausgebeutet wurden, die über mehr gesellschaftliche Macht verfügten als wir. Dagegen konnten wir nichts ausrichten, und da wir dem auch nicht entfliehen konnten, »entschieden« wir uns, die Umstände, unter denen diese Ausbeutung stattfand, allein unter finanziellen Gesichtspunkten zu betrachten, schließlich war dies der einzige Aspekt, der uns offenstand und der von praktischem Nutzen war. Der Versuch, die Prostitution als »sexuelle Selbstbestimmung« zu definieren, scheitert an der Realität, denn unsere Entscheidungen waren nicht sexueller, sondern wirtschaftlicher Natur. Den sexuellen Aspekt lässt man über sich ergehen, man genießt ihn nicht. Wären wir auch nur irgendwie in der Lage gewesen, aus echter Selbstbestimmung heraus zu handeln, dann hätte unser Zuhälter mit einem leeren Bordell dagestanden und unsere Kunden mit einem Haufen leerer Filmrollen. Weil ich auf der anderen Seite der Kamera stand, würde und könnte ich ehrlich gesagt keine Beziehung mit jemandem eingehen, der gegenwärtig Pornografie konsumiert. Jeder Frau, der die Pornografie gegen den Strich geht, würde ich empfehlen, sich von niemandem vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Die Achtung vor dem, wer wir als Menschen sind, macht es ab und zu erforderlich, dass wir klar und deutlich die Grenzen dessen definieren, was wir gewillt sind hinzunehmen. Ich habe am eigenen Leib erfahren, welche Schäden, welche Erniedrigung mit Stripping und Pornografie einhergehen. Diese Branchen sind nicht harmlos. Im Übrigen sind sie auch keine einzelnen Branchen, sondern Teile ein und derselben riesigen Prostitutionsmaschine, eines Mechanismus, der den Wert von Frauen tatkräftig herabsetzt. Und das tut er, indem er ihre Degradierung zur Ware nicht nur als Höhepunkt betreibt, sondern bereits zum Kern hat.