Portfolio Newsletter_Text Akademie_3/2017

Page 1

Newsletter der Text Akademie und der Fachstelle für Schreiben und Publizieren an der HWZ.

EDITORIAL

Storytelling – über Jahrtausende erprobt Liebe Leserinnen und Leser Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat Kommunikation einst als das «kleinste soziale System» definiert. Denn Kommunikation hält alle weiteren Systeme unserer Gesellschaft zusammen. Oder einfach gesagt: «Kommunikation steht am Anfang von allem!» Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, wenn sich die Kommunikationspraxis gelegentlich auf ihre Ursprünge besinnt – und auf uralte Kulturtechniken zurückgreift.

um ökonomische Fragen und Konfliktbewältigung drehten. Die Abendstunden jedoch waren beinahe ausschliesslich dem Erzählen von Geschichten gewidmet. Wichtiger noch: Die Abendgeschichten behandelten kaum Alltägliches, sondern transzendentale Reisen von Heilern oder das Schicksal entfernter Stammesangehöriger. Sie waren zudem deutlich emotionaler als die Tagesgeschichten. Das archaische Beispiel der Ju/’hoansi zeigt deutlich, warum Storytelling in menschlichen Gesellschaften eine solch grosse Bedeutung hat: Geschichten vermitteln ein kulturelles Fundament, stiften Sinn und bieten Zusammenhalt.

Zu diesen Techniken gehört Storytelling. Das Erzählen von Geschichten hat bei der Entstehung menschlicher Gesellschaften und Kulturen eine weit wichtigere Rolle gespielt, als dies gemeinhin angenommen wird. Die US-Anthropologin Polly Wiessner hat in einer 2014 erschienenen Studie den unterschiedlichen Tagesablauf der Ju/’hoansi-San beschrieben (s. http://www.pnas.org/content/111/39/14027.full). Die Ju/’hoansi gehören zu den ältesten Popula­ tionen unseres Planeten: Sie sind seit 20’000 Jahren im südlichen Afrika ansässig und betätigen sich als archaische Jäger und Sammler. Polly Wiessner stellte fest, dass sich die Gespräche der Ju/’hoansi während des Tages mehrheitlich

Uraltes Storytelling rund ums Lagerfeuer bei den Ju/’hansi-San

Wenn Unternehmen in ihrer Kommunikation vermehrt auf Geschichten setzen, tun sie dies folglich aus gutem Grund. Herzliche Grüsse Ivo Hajnal und Franco Item

OK TOBER 2017

eidg. stiftung für sprache in content marketing, medien und wirtschaft


CAS STORY TELLING: WERBUNG UND GESCHICHTEN

Die erfolgreichste Geschichte der Welt – Nostalgie wirkt! Der erfolgreichste Werbebrief der Welt hat drei Jahrzehnte lang mehr als eine Milliarde Dollar eingespielt. Sein Geheimnis: Er beruht auf einer simplen Geschichte – und setzt dabei auf die Macht der Nostalgie … «On a beautiful late spring afternoon, twenty-five years ago, two young men graduated from the same college.» – Dieser Einstiegssatz ist legendär. Denn er leitet den Werbebrief des Wall Street Journals (WSJ) ein, der von 1974 an während 28 Jahren insgesamt über 1 Milliarde Dollar an Umsatz eingespielt haben soll. Eine einfache Geschichte … Verfasser des Meisterwerks ist der 2006 verstorbene Werbetexter Martin Conroy. Sein Geheimnis: Conroy setzt auf die einfache Geschichte zweier hoffnungsvoller junger Männer, die sich nach 25 Jahren wiedersehen. Lieber Leser, an einem wunderschönen Spätsommertag vor 25 Jahren machten zwei junge Männer ihren Abschluss an derselben Hochschule. Sie waren sich sehr ähnlich. Beide waren besser als die durchschnittlichen Absolventen, beide waren Persönlichkeiten und … beide hegten grosse Pläne für ihre Zukunft. Diese beiden Männer trafen sich zum 25. Jahrestag ihrer Abschlussklasse wieder. Sie waren sich immer noch sehr ähnlich. Beide waren glücklich verheiratet. Beide hatten drei Kinder. Es stellte sich sogar heraus, dass beide in derselben Firma arbeiteten, in der sie nach dem Abschluss ihre Karriere begonnen hatten. Aber es gab einen wesentlichen Unterschied. Einer der Männer leitete eine kleine Abteilung dieser Firma. Der andere war der oberste Chef … Was macht den Unterschied? – Der Werbebrief des WSJ stellt den Leser vor eine existentielle Frage.

Den wunden Punkt des Lesers treffen Der Beginn der Geschichte ist deshalb unwiderstehlich, weil er eine existentielle Frage stellt: «Welche Entscheidungen bestimmen den Lebensweg eines Menschen?» Im Falle des Briefs ist die Antwort klar: Das durch das WSJ vermittelte Wissen hat den einen der beiden Männer bis zur Chef­ position gebracht.

2|3

Nostalgia Bias: die Kraft der Nostalgie 40 Jahre nach Entstehung dieses Werbebriefs ist die Neuropsychologie in der Lage, die Wirkung dieser Geschichte auf unser Gehirn exakt nachzuvollziehen. Zwei aktuelle Erkenntnisse sind in diesem Zusammenhang relevant: › Erinnerungen an die Vergangenheit und Vorstellungen möglicher Ereignisse entstehen in identischen Gehirnregionen.1 › F ür nostalgische Erinnerungen sind Gehirnre­ gionen verantwortlich, die am Belohnungssystem beteiligt sind.2 Das bedeutet: Nostalgie unterscheidet sich erstens nicht wesentlich von imaginären Vorstellungen – und belohnt zweitens das Individuum.

Direkter Appell: Die Kognitionsforschung belegt die aktivierende Wirkung von Storytelling.

Mitten ins Gehirn Die Geschichte von Martin Conroy spricht somit das menschliche Gehirn auf eine ganzheitliche Weise an: Sie verknüpft nostalgische Belohnung mit der Vorstellung einer besseren Zukunft. Oder, wie es einst ein Kollege von Conroy ausdrückte: Conroys Geschichte ist «the Hamlet, the Iliad, the Divine Comedy of direct-mail letters.» Quellen: 1

D.L. Schacter et al. (2012). «The Future of Memory: Remembering, Imagining, and the Brain». Neuron 76, 677-694.

2

Y. Kikuchi/M. Noriuchi (2017). «The Nostalgic Brain: Its Neural Basis and Positive Emotional Role in Resilience». In: S. Fukuda (ed.), Emotional Engineering Volume 5. Cham: Springer, 43-53.


CAS STORY TELLING: CHECKLISTE «BR ANDSTORY»

Auf dem Weg zur stimmigen Brandstory – unsere Checkliste Marken erzählen Geschichten, um ihre Werte im Langzeitgedächtnis der Kunden zu verankern. Doch welcher Weg führt zu einer attraktiven Brand­ story? – Die folgende Checkliste zeigt die erforderlichen sieben Schritte. Das Fallbeispiel BLACKSOCKS – das Sockenabo BLACKSOCKS hat sich durch eine schlaue Geschäftsidee einen Namen gemacht: Seine Kunden bestellen schwarze Socken im Abonnement. Sie haben damit stets tadellose Socken im Schrank. Die Idee zum Sockenabo beruht auf einer einfachen Geschichte über den Gründer Samy Liechti. Wie löchrige Socken zur Geschäftsidee werden, erklärt eine schlüssige Markengeschichte.

Geschichten machen eine Marke erst richtig lebendig. Sie lassen sich systematisch in wenigen Schritten konzipieren. Die sieben Schritte zu einer überzeugenden Brandstory lauten: 1. F ühre Dir die drei wichtigsten Markenwerte vor Augen. 2. Kreiere eine erste Idee – und wirf sie weg! 3. Distanziere Dich vom Auftrag: Formuliere die Aufgabenstellung neu. 4. Finde Anknüpfungspunkte (z.B. authentische Lebenssituationen). 5. Skizziere auf Grundlage der Anknüpfungs­punkte eine Geschichte, welche die Markenwerte aufnimmt. 6. Wähle ein erwartetes Ende – zu dem der Weg unerwartet und unvorhersehbar ist. 7. Halte Dich an die folgenden Rahmenbedingungen: a. Teile den Protagonisten zu Beginn eindeutige Rollen («gut», «böse», «klug» usw.) zu. Mache sie zu Vertrauten des Lesers. b. Sprenge bewährte Bezugsrahmen, zerstöre Vor­urteile. Verwende hierzu die klassischen Stil­mittel (z.B. Übertreibung). c. Lasse Protagonisten ausserhalb ihrer gewohnten Umgebung agieren («fish out of the water») und überraschend reagieren. d. Beschreibe nicht («ein ungepflegter Mann»), sondern erzähle («er hat übel gerochen»). e. Vermittle dem Leser ein Ende, das er erwartet – aber nicht so, wie er es erwartet.

BLACKSOCKS: die Marken­geschichte Als junger Werber nahm Samy Liechti an einem wichtigen Bussinessmeeting mit japanischen Kunden teil. Nach dem erfolgreichen Meeting wurde die Delega­ tion zu einer traditionellen japanischen Teezeremonie eingeladen. Doch als Liechti, der Sitte entsprechend, vor Betreten des Teehauses seine Schuhe auszog, war die Blamage perfekt. Die linke Socke erschien in kräftigem Schwarz, die rechte dagegen hellschwarz verwaschen – und durch das Gewebe schimmerte bereits die Zehe … Zwar nahmen die japanischen Gast­geber taktvoll vom Missgeschick Kenntnis. Doch Liechti beschloss, sich und allen anderen Leidensgenossen solch peinliche Momente künftig zu ersparen. Durch das Sockenabo! Quelle: www.blacksocks.com/ch/de/dassockenaboentsteht

Die Analyse Die Gründungsgeschichte entspricht allen Schritten der Checkliste: Sie … › nimmt die Marken­werte (einfach, verlässlich, hochwertig) auf, › geht von einer neuen Aufgabenstellung aus («Wie vermeide ich peinliche Momente?») › und dreht sich um eine Lebenssituation, in welcher der Protagonist ausserhalb seiner gewohnten Umgebung handelt.


CAS STORY TELLING: TAK TISCHE FUNK TION VON CORPOR ATE STORIES

Stories – ein effizientes Mittel gegen Fake News? Auf dem Web verbreiten sich Fehlinformationen in Windeseile. Unternehmen tun sich im Gegenzug mit Richtigstellungen immer schwerer. Sind Geschichten das geeignete Mittel, um ‹Fake News› entgegenzusteuern?

Weniger, einfacher und verständlicher … Ein amerikanisches Psychologenteam hat jüngst unterschiedliche Studien der letzten Jahrzehnte gesichtet, die sich mit «Debunking» – dem Entlarven von Falsch­meldungen – beschäftigen.2 Der Beitrag der Forscher endet mit drei klaren Empfehlungen: Es gilt, im Kampf gegen Falschmeldungen … › neue bzw. nicht bekannte Informationen ins Feld zu führen, um die Richtigstellung zu stützen. › die Anzahl dieser neuen Informationen gering zu halten. Denn je tiefer Leser in die Argumentation eintauchen, desto intensiver befassen sie sich mit der Falschmeldung. › auf leicht verständliche Weise Skepsis zu schüren.

Geschichten weisen richtigen Weg.

› nach automatisierten Vorgängen (sog. ‹Schnelldenken›). › beeinflusst durch soziale Netzwerke, Normen oder Identitäten. › mit Hilfe gewisser Rahmen, die durch Weltsicht oder Weltwissen geprägt sind. Fazit Folglich sind Geschichten in der Lage, Denk- und Entscheidungsprozesse zu steuern. Ob Unternehmen künftig vermehrt auf Storytelling setzen, um ‹Fake News› abzuwehren, bleibt jedoch abzuwarten. Die Plattform leadstories.com macht es zumindest schon einmal vor: Sie kontert Falschmeldungen durch eine Mischung von einfach aufbereiteten Fakten und Geschichten – und hat damit Erfolg. Quellen 1

Geschichten fördern menschliches Entscheiden Den Empfehlungen des Psychologenteams werden Geschichten in vollem Umfang gerecht. Denn Geschichten sind in der Lage, … › eine überschaubare Anzahl an Informationen in einen sozialen Zusammenhang zu stellen, › dadurch auf eine oberflächliche, eingängige Art Sinnzusammenhänge zu schaffen › und durch Anknüpfung an bestehendes Wissen Zweifel an der Fehlmeinung zu verankern. Mehr noch: Geschichten entsprechen den drei Me­ cha­­nismen menschlichen Entscheidens, wie sie in einem 2015 veröffentlichten Bericht der Weltbank genannt sind: 3 Demnach entscheiden Menschen …

https://goo.gl/o5nvue.

2

https://goo.gl/rf7KC1.

3

https://goo.gl/8rprW9.

Impressum Stiftung Schweizerische Text Akademie Technopark Zürich Technoparkstrasse 1 8005 Zürich www.textakademie.ch

Fachstelle Schreiben & Publizieren Hochschule für Wirtschaft in Zürich HWZ

ISSN 2297-5764

Gerüchte und Falschmeldungen sind ein altbekanntes Phänomen – doch die einfache Verbreitung auf sozialen Medien macht sie für Unternehmen immer häufiger zum Problem. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Mitte September vermeldete ein Nachrichtenportal, der Konzern Hershey’s nehme alsbald die überaus beliebte Süssigkeit Reese’s Peanut Butter Cups aus dem Sor­ti­ment. Gegen 70’000 verärgerte User teilten innert kurzer Zeit die Falschmeldung – und zwangen den Konzern zu einer Richtigstellung: «Rest assured, the only people removing Reese’s products from shelves are consumers …»1


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.