Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg Reportagen und Geschichten aus Davos
Impressum Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg Reportagen und Geschichten aus Davos Prof. Dr. Ivo Hajnal und Franco Item (Hrsg.) ISBN: 978-3-033-01880-8 Ergänzte 2. Auflage Alle Rechte vorbehalten © Schweizerische Text Akademie Der Titel und der Inhalt des Werks sind urheberrechtlich geschützt. Die einzelnen Reportagen und Geschichten gehören den einzelnen Autorinnen und Autoren. Kopien, auch auszugsweise, sind untersagt. www.textakademie.ch
Davos –zwischen Bergzauber und Zauberberg Reportagen und Geschichten aus Davos
Vorwort Davos – zwischen Bergzauber und Zauberberg «Reportagen und Geschichten aus Davos»
Wie erleben unsere Gäste Davos? Diese Frage haben wir uns während unserer Aufenthalte in Davos selbst Dutzende Male gestellt. Vielleicht liefert dieses Geschichtenbuch über Davos die eine oder andere Antwort. Es ist ein weiterer Versuch, die Vergangenheit und die Gegenwart von Davos zu streifen. Diesmal nicht aus der Optik eines Dokumentarfilmers, der die Geschichte von Davos aufarbeitet, sondern aus der Optik von Davoser Gästen. Genau gesagt von Menschen, die sich für ein paar Tage in Davos aufgehalten und darüber eine kurze Reportage – eine kleine Geschichte – verfasst haben. Über die Bierbrauerei in Monstein, über die Jakobshornbahn, über das Hotel Schatzalp oder ganz einfach über eine Davoser Bäuerin, die in ihrer Küche einen Morgen lang über Gott und die Welt philosophiert. Reportagen sind subjektive Schilderungen von persönlich Erlebtem. Darum gilt: Reportagen entsprechen nicht Buchstabe für Buchstabe einer «objektiven Wahrheit» – sofern es eine solche überhaupt gibt. Vielmehr präsentieren sie alle Ereignisse, wie sie die Autorin, der Autor im Augenblick des Geschehens erlebt. Eine Momentaufnahme also. Zur Recherche und zur Niederschrift des gesamten Textes stand den Autorinnen und Autoren nur ein einziger Tag zur Verfügung. Dort, wo uns klare Verwechslungen von Jahreszahlen, Namen oder anderen leicht überprüfbaren Fakten aufgefallen sind, haben wir diese verbessert. Dies immer mit dem Ziel, den Charakter der Reportagen nicht zu verändern.
Dieses Buch «Davoser Reportagen und Geschichten» haben wir erstmals zum fünfjährigen Bestehen der Text Akademie herausgegeben. Die schreibenden Davoser Gäste sind im Rahmen von Schreibausbildungen der Text Akademie nach Davos gekommen. Insgesamt sind zwischen 2001 und 2012 rund 450 Reportagen und Geschichten entstanden. In diesem Buch präsentieren wir Ihnen eine Auswahl der interessantesten, seltsamsten oder lustigsten Texte. Sämtliche Texte, die in dieser Zeit in Davos über Davos geschrieben worden sind, finden Sie auf der Website www.textakademie.ch. Die Auswahl für dieses Buch ist uns nicht leicht gefallen: Als Kriterium für die Aufnahme in diesen Band hat nicht bloss die Qualität der einzelnen Reportagen gedient. Vielmehr haben wir auch auf die Themenvielfalt geachtet. Bei dieser Gelegenheit danken wir allen Autoren herzlich. Ein besonderes Wort der Anerkennung geht ferner an die Dozenten Frank Senn, René Ammann und Trix Angst. Alle drei haben sich persönlich stark für das Gelingen dieser Reportagen und Geschichten eingesetzt. Der grösste Dank jedoch gebührt den Davoserinnen und Davosern, die Jahr für Jahr mit unseren Studentinnen und Studenten offen und geduldig zusammenarbeiten. Ohne diese interessanten Begegnungen zwischen Einheimischen und Gästen gäbe es diese Reportagen nicht – und könnte keine dieser lustigen, traurigen oder kuriosen Geschichten entstehen. Sie alle sind bis zu einem gewissen Grade erfunden – genau gesagt «empfunden». In jedem Fall aber besitzen sie einen wahren Kern. Viel Vergnügen beim Lesen! Prof. Dr. Ivo Hajnal und Franco Item
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Schweizerische Text Akademie –warum ausgerechnet in Davos? Die Schweizerische Text Akademie ist eine Eidgenössische Stiftung, die 2001 von Universitäts-Professor Dr. Ivo Hajnal und dem Journalisten/Dipl. PR-Berater Franco Item gegründet wurde. Das Interesse galt von Anfang an der deutschen Sprache als Instrument der Massen medien und der Unternehmenskommunikation.
Aus der Fördergruppe entstand der Verein Wissensstadt. Er hat im Rahmen einer Regionen-Förderung des Bundes (SECO), des Kantons und der Gemeinde u.a. folgende Ziele: die Davoser Forschungsinstitute zu pflegen und neue wissensbasierte Projekte zu lancieren – wie die Akademie oder ihre Forschungsstelle.
Die Akademie ist Mit-Initiatorin des Vereins Wissensstadt Davos, einer Interessengemeinschaft aller Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen auf Hochschulniveau, die in Davos ansässig sind. Die Akademie pflegt weitere Partnerschaften mit verschiedenen Bildungsinstitutionen, Hochschulen und Verbänden.
Pro Studiengang arbeiten die Studenten an drei bis vier (Block-) Tagen in Davos. Seit 2001 hat die Akademie ihr Studienangebot ausgebaut: Am Anfang waren die Blocktage im Januar, Juli und August. Seit 2008 sind sie auch im März, Juni, September und Dezember. Für Davos ergeben dies 800 zusätzliche Übernachtungen pro Jahr.
Die Gründung der Akademie geht auf den Verein Magic Mountain Club zurück. Er suchte Jungunternehmer mit Geschäftsideen für Davos. Der Förderverein wurde von Kurdirektor Bruno Gerber im Jahre 2000 ins Leben gerufen. Mitglieder waren Touristiker, Politiker und Hilde Schwab, die Frau des WEF-Gründers Klaus Schwab.
800 Übernachtungen (2012) sind ein zusätzlicher Jahresumsatz für das lokale Gewerbe von rund CHF 100’000.–. Um diesen ersten Erfolg auszubauen, haben sich die Akademie und die Wissensstadt zum Ziel gesetzt, den «Campus Davos» zu errichten. Der Campus unterstützt Hochschulen bei ihren Lehrveranstaltungen in Davos.
Der Club bestand ein Jahr. Dabei wurde die Idee einer Akademie mit Sitz in Davos als förderungswürdig eingestuft. Um auch ohne Magic Mountain Club die Akademie voranzutreiben, gründete Franco Item mit Unterstützung von Prof. Dr. Ivo Hajnal eine Fördergruppe mit Vertretern der Gemeinde und von Davos Tourismus, heute DDO.
Hochschulen, die in Davos Kurse durchführen, haben Tradition. Bereits 1928 fanden die ersten «Davoser Hochschulkurse» statt. Die Eröffnungsrede hielt am 18. März Nobelpreisträger Albert Einstein. Insgesamt nahmen 45 Dozenten, 364 Studentinnen und Studenten sowie 400 weitere Hörer an den ersten Davoser Hochschulkursen teil.
Inhalt 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36
Ernst Ludwig Kirchner: Begegnung mit seinem Werk und Wirken in Davos Was nicht riecht, das schmeckt nicht: Wie aus Davoser Alpenmilch Bergkäse wird Ich paddle, also bin ich «KaffeeKlatsch» in Davos «Der Marugg ist ein ganz cooler» Den besten Apfelkuchen gibt’s auf der Stafelalp Fingerspitzengefühl bei minus 20 Grad Davoser Schatzalpträume Von Margriten und Menschen Ein wunderbarer Sommertag und Mamaaccola Ich, der Bahnhof Schiess in den Wind, Marina! Café Weber: Die schnelle Chefin So fein wollt’ ich sein Eintauchen in den Steinschlagwald von Davos Jöris Energieschübe auf dem Kirchturm
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Im Belvédère hängen geblieben Von fitten Senioren und jungen Egosportlern Schwimmfest im Schnee: Wer trainiert ist, läuft am längsten 180/75/A – ab auf die Piste Der Tigerbändiger vom Jakobshorn Pistenengel auf Abruf: Ein Augenschein beim SOS-Rettungsdienst Biergeschichten – von Knopfwürsten, Mungga und Alpenkräutersirup Federleicht durch den Schnee Ungarische Gulaschsuppe vs. Bündner Gerstensuppe Der Käse ist das Ziel Klatsch und Tratsch an der Promenade: Voll im Kuchen Langmut auf der Loipe Schutzengel haben nur einen Flügel Wenn der Kotelettknochen zu Strom wird Von Bäng-Marri und Röschti aus Usedom
Ernst Ludwig Kirchner: Begegnung mit seinem Werk und Wirken in Davos von Regula Krapf | Januar 2004 Freitagmorgen. Schnee und Kälte in Davos. Wir betreten den 1982 eröffneten Neubau des Kirchner Museums. Ruhe herrscht in den Ausstellungsräumen, die Ernst Ludwig Kirchners Werk beherbergen. Das Werk Kirchners weder überhöhen noch konkurrieren war die Idee der Architekten Annette Gigon und Mike Guyer. Der Bau ist Zurückhaltung selbst: ein einfacher Kubus. Ausstellungsräume mit weissen Wänden, Eichenparkettboden, von Wand zu Wand reichende Glasdecken. Sanftes Tageslicht fällt durch die Lichtdecke in die Räume. Durch grosse Fensterscheiben blicken wir auf den umliegenden Park, das Tal, die Strasse, Berge und Landschaft, die Kirchner gemalt hatte. Das Gebäude spielt und arbeitet mit dem Licht, so, wie Kirchner mit Licht und Farben gespielt hatte.
Die derzeitige Ausstellung stellt in einer konzentrierten Auswahl von Porträts und Graphiken aus den Jahren 1912 bis 1938 die Komplexität des Verhältnisses zwischen Erna Schilling und Ernst Ludwig Kirchner vor. Die Kameradschaft zwischen dem Künstler und seiner Muse gehört zu den wichtigen Versuchen innerhalb der Moderne, nicht nur zu einer differenzierten Definition der Mann-Frau-Beziehung zu gelangen, sondern diese auch zu leben. Der Wandel Ernas vom Modell zur Partnerin spiegelt sich ebenso wie die teils tragische Zeitgeschichte in den Kunstwerken Kirchners: Katzen, Pferde, Akte, blauer Fels und Wasserfall, eine weisse Kuh, Bergwald, Badende, Tanzende, Davos im Sommer, drei alte Frauen, ein Akrobatenpaar, spielende Kinder, trauriger Frauenkopf, Melancholie, Waldfriedhof in Grün, das Paar vor Sonnenaufgang, Alpaufzug, der Kuss, Wintermondlandschaft, die Berge, Tinzenhorn und Zügenschlucht bei Monstein, Bergatelier mit Katze, blaue Blume in Vase, Mandolinistin, tanzendes Bauernpaar und immer wieder Erna, als Akt, als erotische Versuchung, als zum Leben hin Drängendes. Kirchner durchdringt und überlagert männliche und weibliche Prinzipien, typisiert und symbolisiert Wirklichkeit, verfolgt, belichtet und beschattet seine unmittelbare Umgebung und Lebensräume, sucht Freiheit in der Behandlung der Figur, sucht das unverfälschte Leben und das Leben bestimmende Element mit Farben auf, sucht die Einheit von Mensch und Natur, verschiebt ständig seine ästhetischen Interessen, in der Malerei, im exzessiven Lebenswandel, in Begegnungen, mit der ihm eigenen Besessenheit, in seiner Alkohol- und Morphiumsucht und in seiner lustvollen, lebenslangen Suche und Schaffenskraft.
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Kirchner ist nur einer von vielen – Maler, Schriftsteller, Kurgäste, internationale Gäste aus Politik und Wirtschaft, Zuckerbäcker, Soldaten, Ärzte, Arme, Reiche –, die Davos aufgesucht, den Ort geprägt und zu einem besonderen und schnell wachsenden gemacht haben. Wie Dr. Roland Scotti, der als Kurator des Museums, als Deutscher und fachlicher Aussenseiter auf Kirchner und den Expressionismus gestossen ist, so ist Kirchner selbst als Aussenseiter nach Davos gekommen – und Aussenseiter geblieben: extrem bewusst lebend, manipulativ, hochsensibel, immer zwischen eigenständigem, unermüdlichem Erschaffen und Selbstzerstörung stehend, sich und seiner eigenen Befreiung und Freiheit der Nächste, gleichsam weit davon entfernt. Es gab für ihn kein Leben und keine Freude ausserhalb der Kunst. Die Diffamierung seiner Person und seines künstlerischen Werkes durch das nationalsozialistische Deutschland stürzten Kirchner in eine tiefe Krise, der er nicht gewachsen war. Manische Depressionen, Krankheit, Sucht und Paranoia verunmöglichten mehr und mehr Kirchners Schaffen. Am 15. Juni 1938 – im 58. Altersjahr – nahm er sich auf dem Wildboden das Leben. Dort, wo er die letzten 15 Jahre mit Erna in stiller Abgeschiedenheit gelebt hatte und höchste Tiefe und Klarheit künstlerischer Darstellung mittels unterschiedlicher Techniken und Materialien erreicht hatte. Dort, wo seine letzten Werke reife Ruhe und grossen Drang zur Freiheit auszustrahlen begannen. Dort, wo bäuerliches Leben Quelle für sein eigenes Schaffen war.
«Traum und Leben, Liebe und Erkenntnis gehören zum Schaffen», hatte Kirchner kurz vor seinem Tod gesagt. Still betrete ich sein Grab und dasjenige seiner Gefährtin Erna auf dem Davoser Waldfriedhof. Davos betrachte ich nun neu und anders durch den Einblick in Kirchners Werk.
Autorin: Regula Krapf Arbeitgeber: Tecan Group Ltd. Funktion: CEO Assistant Wohnort: Küsnacht ZH Neben ihrer beruflichen Tätigkeit und verschiedenen Weiterbildungskursen in der Text Akademie und im Ausland veröffentlichte Regula Krapf Buchbesprechungen, Autorenportraits und Kurzprosa. Weitere Freizeitinteressen neben Lesen und Schreiben sind Philosophie, Psychologie, Kunst, Kultur, klassische Musik, das Piano, Sport und Bewegung in Wäldern, am Berg, im Wasser und im Garten.
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Was nicht riecht, das schmeckt nicht: Wie aus Davoser Alpenmilch Bergkäse wird von Christina Meier | Juli 2006 Eigentlich habe ich in der Davoser Käserei bärtige, brummige Älpler erwartet, doch Jörg Krug, der Produktionsleiter, schmettert uns sein «Guten Morgen» in reinstem Hochdeutsch entgegen. Was macht ein Molkereitechnologe aus Kassel wohl in Davos? Er produziert seit zwei Jahren echten Schweizer Bergkäse. Doch bevor meine Kolleginnen und ich die Käserei betreten dürfen, werden wir hygienisch verpackt. Mit Plastikmänteln, Schuhschonern und Häubchen versehen dürfen wir dann den kleinen, aber modern ausgestatteten Produktionsbetrieb betreten. Feuchte Hitze und ein säuerlicher Geruch schlagen uns entgegen. Dario Candrian, gelernter Milchtechnologe aus Flims und HC-DavosFan, zeigt uns, wie aus der Davoser Alpenmilch Bergkäse wird. In der angenehm kühlen Milchannahme liefern die betriebeignen Tankwagen jeden zweiten Tag bis zu 30’000 Liter Milch an. Die Milch von den rund 50 Davoser Bauernhöfen wird sofort in sechs riesigen Tanks auf 5 Grad Celsius heruntergekühlt. Krugs Frau, eine Lebensmittellaborantin, die ihren Mann am Arbeitsplatz kennengelernt hat, entnimmt Proben, um die Qualität zu sichern. Bevor die Milch weiterverarbeitet werden kann, wird sie zentrifugiert, um Rahm zu gewinnen und Bakterien zu entfernen. Käse produzieren macht Lärm. Die Details über die Produktion von Pastmilch habe ich verpasst, denn Candrians Stimme geht, trotz der Übung anlässlich von Hockeymatchs, im Lärm unter.
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Durch ein Gewirr von Rohrleitungen gelangt die teilentrahmte und gereinigte Milch in den oberen Stock, wo sie in einem Kupferkessi, das 2’500 Liter fasst, auf 32 Grad erhitzt wird. Candrian, der mit einer nur Käser eigenen Geduld unsere Fragen beantwortet, geht voller Elan ans Werk. Er gibt der Milch Bakterien bei. Wozu denn Bakterien, nachdem diese aufwändig entfernt wurden? Es ist die Mischung der richtigen Bakterien, die den Käse ausmacht. Sie bestimmt Geschmack, Loch bildung und Aussehen. Danach geschieht eine Stunde lang nichts. Die Bakterien vermehren sich im Quadrat und wir nützen die Gelegenheit, der tropischen Hitze und dem säuerlichen Geruch zu entfliehen. In der kühlen Bergluft entledigen wir uns der Plastikmäntel, die sich un appetitlich an unserer Haut festgeklebt haben. «In den Wellnesshotels bieten sie solche für teures Geld für Schwitzkuren an, wir kriegen sie gratis in der Käsesauna», lacht eine Kollegin. Candrian ruft uns wieder rein. Das Lab muss zugegeben werden. Wir ziehen brav unsere Schwitzkur-Plastikmäntel an und folgen ihm. Lab – eine merkwürdige Sache. Nur 43 Milliliter davon, aus Kälbermagen gewonnen, braucht es, um 2’500 Liter Milch zu Käse gerinnen zu lassen. Die Milch braucht nun absolute Ruhe. Jede Bewegung würde den Prozess stören. Nach vierzig Minuten ist sie eingedickt, zur Gallerte geworden. Jetzt kommt der alles entscheidende Moment. Denn wird die Gallerte zu früh oder zu spät mit der Harfe geschnitten, ist die ganze Produktion hin. Candrian, voll konzentriert und trotzdem noch eifrig erklärend, entnimmt alle 20 Sekunden kleine Proben. Dann ist es so weit. Candrian und sein Kollege Martin Buol, ein grosser, wortkarger Prättigauer, der froh ist, dass sein Chef das Reden übernimmt, setzen die Harfe ein. Die Gallerte wird in kleine Körner geschnitten, die Molke schwimmt grünlich obenauf. Candrian fragt
uns, ob wir Molke trinken möchten. «Ja, gerne, sie soll doch schön machen», lachen wir. Sie schmeckt wie wässrige Milch, langweilig wie der zweite Aufguss mit einem alten Teebeutel. Nachdem die Körner und die Molke nochmals erhitzt worden sind, wird der Inhalt des Kessis in ein grosses, rechteckiges Becken gepumpt und zusammengepresst. Die Molke ist nun überflüssig und wird abgepumpt. Nebst Wellness-süchtigen Frauen interessieren sich nur noch Schweinebauern dafür. Übrig bleibt Frischkäse. Wir dürfen versuchen, doch er ist noch weit von dem entfernt, was wir als Käse kennen. Die weisse, gummige Masse schmeckt süsslich nach Milch. Mit geübten Bewegungen pressen Candrian und Buol den Frischkäse in runde Formen. Sie schwitzen, wir kleben an unseren Plastikmänteln. Den eigenartigen, säuerlichen Geruch nehmen wir aber nicht mehr wahr. Der Käse wird nochmals gepresst, danach wird er in den kühlen Keller transportiert.
Autorin: Christina Meier Arbeitgeber: Aare-Tessin AG für Elektrizität Beruf: MA in Economics Funktion: Leiterin Corporate Market Communications Wohnort: Walterswil SO Der Kurs in Davos hat ihr «echt Spass gemacht». Normalerweise schreibt Christina Meier Marketingtexte oder politische Kolumnen. Spannend empfand sie, gleich in zwei neue Welten einzutauchen: die des Journalismus und die des Davoser Käses.
Glücklich über den Klimawechsel folgen wir ihm. Im Keller wird der Käse erst 24 Stunden im Salzwasser gebadet, bevor er im Käsekeller für mindestens drei Monate eingelagert und täglich mit Salzwasser gewaschen wird. Hier riecht es nun wirklich rezent nach Käse. Krug, der wieder zu uns gestossen ist, lacht über unsere Bemerkungen und sagt: «Was nicht riecht, schmeckt nicht!» Und er schmeckt wirklich gut, der Davoser Bergkäse!
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Ich paddle, also bin ich von Sara Probst | Juli 2011 Das ursprünglich polynesische Stehpaddeln gibt’s auch auf dem Davosersee. Was passiert, wenn diese exotische Sportart auf Schweizer Bergromantik trifft? Sein Name ist Mano. Ich stehe voll auf ihn. Er ist grösser als ich, schlank und wendig. Er gibt mir Halt und Stabilität, und er entführt mich in fremde Welten – über schwarzblaues Wasser, vorbei an verblassten Schweizerfahnen und steilen, limettengrünen Wiesen. Auf Hawaiianisch bedeutet Mano «Haifisch, leidenschaftlicher Liebhaber». Mehr als die tatsächlichen zwei Bedeutungen des Namens mag ich das trennende Komma, das eher ein «und» als ein «oder» ist. Auf Spanisch bedeutet «la mano» die Hand. Aber momentan denke ich nur an Füsse – meine Füsse. Sie sind kalt, immer noch, oder wieder. Ich biege meine Zehen hoch, dehne so meine Fusssohlen. Darunter kleben einzelne Grashalme, die quietschend jede Bewegung begleiten. Kaltes Wasser schwappt über meine Fersen. Zum Aufwärmen drehe ich kleine Kreise mit meinen Knöcheln. Während ich vor mich hin turne, liegt Mano einfach da und hält still. Das ist zwar nicht so romantisch, aber dafür praktisch. Auf der linken Seite zieht die grüne Bergflanke in Windeseile an mir vorbei, oder ich an ihr. Durch das angespannte Stillstehen und ruhige Paddeln bewege ich mich wie in Zeitlupe und drifte in einen fast meditativen Zustand. Bei der niedrigen Intensität, mit der ich es betreibe, scheint mir Stehpaddeln eine Art Yoga des Wassersports zu sein. Ich gebe mich also ganz der Pose «Forward Moving Paddler» hin – in der Hoffnung, nicht plötzlich doch als «Downward Drifting Diver» zu enden.
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Kein Alte-Leute-Sport Ich weiss nicht, wieso ich mein Übungs-Longboard im Geiste Mano getauft habe. Wohl aus demselben Grund, aus dem mein italienisches Motorrad Skipper heisst, oder mein frei stehender Kühlschrank Milena, oder mein Nicht-Ikea-Schrank Lester. Ich lasse Mano sanft auf den angegilbten Kunstrasen bei der Einfahrt auflaufen und setze meinen linken Fuss ins Wasser. Eigentlich habe ich Stand-Up-Paddle-Surfing als Alte-Leute-Sport eingestuft. Beat Conrad, der Inhaber der Surfschule am Davosersee, belehrt mich aber eines Besseren: Es seien vor allem «die Ambitionierten», die sich diesem in der Schweiz relativ jungen Trend verschreiben. Auch als sanftes Aufbautraining für Sportler nach Verletzungen sei das Paddeln bestens geeignet, gelte als kräftigend für die untere Rückenmuskulatur. Zu dieser Art Surfen steht man, wie ich eben, auf einem 2,3 bis 4 Meter langen Longboard und stösst zur Fortbewegung links und rechts mit dem Paddel ins Wasser, natürlich ohne dabei das Gewicht zur Seite zu verlagern.
Neopren und Plastikkuh Die Surfschule besitzt Beat seit 10, 12 oder mehr Jahren. Wirklich genau weiss er es nicht mehr. Ich frage ihn, was er gerne macht in seiner Freizeit. «Klettern», sagt er. Sein neues Hobby, jetzt, da er sein altes Hobby zum Beruf gemacht hat. «Natürlich wird man mit einer Surfschule nicht Millionär», sagt Beat. Aber an einem schönen Tag stürmen oft schon 40 bis 45 Surfbegeisterte seine Schule. Letzte Woche sei es an einem Tag sogar mal 27 Grad warm gewesen, sagt er. Dabei grinst er breit. Es ist offensichtlich, dass er jedes seiner 10, 12 oder mehr Jahre genossen hat.
Autor: Sara Probst Arbeitgeber: Institut Straumann AG Beruf: Web-Redaktorin Wohnort: Zürich ZH Sara Probst stammt aus dem Berner Oberland und lebt seit drei Jahren in der Grossstadt. Dort schreibt sie, tanzt Salsa, spielt Flamenco-Gitarre und packt Bento-Boxen. Ihr Lieblingsroman endet mit dem Wort «Mayonnaise».
Bei geschätzten 15 und gefühlten 10 Grad Lufttemperatur tummelt sich nun die erste Jugend & Sport-Gruppe mit Windsurfbrettern auf dem Davosersee. Als Panoramabild – gesehen von der Terrasse des Surfschulrestaurants – ist die Szenerie von bunten Plastiksegeln, dunklem Neopren in Kindergrössen und Hausgiebeln von Chalets gewöhnungsbedürftig. Auf dem Dach des Restaurants thront eine Shorley-Werbekuh aus Plastik. Aus dem Restaurant heult Chris Isaak sein «Wicked Game». Natürlich sage ich Beat nicht, dass ich mein Leih-Surfbrett spontan nach dem Mann getauft habe, der im Monat Juli auf meinem Kalender «Beautiful Men of Hawaii» prangt. Ich will ja nicht, dass er denkt, ich sei verrückt. Doch er meint schulterzuckend: «Manchmal hast du halt auch dumme Kunden».
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«KaffeeKlatsch» in Davos von Charlotte Krähenbühl | Juli 2004 Klar, wir bekommen im «KaffeeKlatsch» in Davos auch einen Kaffee crème – wenn’s denn unbedingt sein muss. Doch viel lieber servieren Svea Meyer und Orlando Caeiro eine ihrer 24 Kaffeespezialitäten. Kaffee mit Herz Was uns vier Studentinnen der Text Akademie während unseres ersten Einsatzes als Reporterinnen gleich morgens um neun Uhr an Entscheidungen abgerungen wurde … «Cappuccino, ja gerne, aber welche Röstung bitte? Hell, mittel oder dunkel? Und hätten Sie ihn lieber mit Vollmilch oder mit Magermilch?» Svea Meyers Augen leuchten vor Vergnügen. Auf die gleiche Weise lotet sie die momentane Verfassung all ihrer Gäste aus und serviert ihnen einen Kaffee genau nach ihrem Geschmack, zugeschnitten auf die Tagesverfassung: French Coffee, Kaffee Schoggi, Kaffee fertig, Gingerbread Latte, Espresso Corretto … oder dann eben einen Kaffee crème, wenn’s denn unbedingt sein muss.
Ganz schnell horcht man in sich hinein: Wach? Noch nicht ganz wach = mittlere Röstung – gestern zu viel gegessen? Nein? Ja, doch = Magermilch, bitte. Magermilch hin oder her, was ich eine Minute später vor mit habe, ist ein wunderschöner Cappuccino, mit perfektem Milchschaum, auf dem sich aus Kaffee und Schoggipulver wie zufällig ein Herzchen geformt hat. Zeit für sich selbst gibt einem niemand Svea Meyer und Orlando Caeiro haben sich mit «KaffeeKlatsch» einen Traum erfüllt. Was sie seit November 2003 geschaffen haben, ist jedoch alles andere als Träumerei. Mit dem Fachwissen aus grossen Betrieben wie Mövenpick und Starbucks ausgerüstet, servieren die beiden begeisterten Gastronomen heute A-la-minute-Gerichte, die ihren ganz eigenen Vorstellungen entsprechen. «Wir nehmen uns Zeit», lautet ihr Motto. «Bei mir ist auf jedem Cappuccino ein Herzchen, oder ich schütte ihn weg», sagt uns Svea Meyer mit Bestimmtheit. Und ihr Anspruch an (Lebens-)Qualität zeigt sich auch auf unserer Besichtigungstour hinter den Kulissen, wo morgens um zehn Uhr frisches, saisonales Gemüse gerüstet wird – der portugiesische Koch kommt aus einer Bauernfamilie und ist ein Meister in der Zubereitung köstlicher Suppen. Let’s kaffeeklatsch Dieser Spruch auf einem Serviertablett – es hängt heute im «Kaffee Klatsch» an der Wand – gab Sveas Traum von einem Kaffee den Namen. «Genau so habe ich mir mein Café vorgestellt: Leute, die in einer ruhigen Umgebung Kaffee trinken, plaudern, verweilen, lesen.» Und: «Man geht zusammen einen Kaffee trinken – es ist der Anfang von vielem …»
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Cranberry Lemon Scones und die «NZZ» – oder das «Times Magazine» Die Ruhe eines Wiener Kaffeehauses, Einflüsse aus Amerika, wo Sveas Schwester lebt, Prägungen durch die schwedische Mutter – wir finden im «KaffeeKlatsch» alles harmonisch vereint. Und wir sehen Sveas Gäste genau so, wie sie es sich erträumt hat: alleine hinter einer Zeitung oder einem Buch vergraben, zu zweit im ruhigen Gespräch, Jüngere, Ältere, Frauen und Männer, Einheimische und Touristen. Coffee Kids und Verantwortung «Sich Zeit nehmen», «Lebensqualität», «Verantwortung». Diese drei Begriffe hören wir im Gespräch mit Svea Meyer einige Male. Sie kauft bewusst ein, sei es Kaffee aus Südamerika oder Fleisch von Bauern in der Umgebung. Sie erzählt uns von einer Organisation namens Coffee Kids, die sich speziell um Kinder kümmert, die auf Kaffeeplantagen arbeiten. Es ist ihr wichtig, dass ihr Lieferant in Zuoz diese Organisation unterstützt.
Autorin: Charlotte Krähenbühl Arbeitgeber: Verlag Huber Frauenfeld Beruf: Buchhändlerin / Dipl. PR-Redaktorin Funktion: Marketingleiterin Buchverlag Wohnort: Zürich Wie kommen Bücher zu ihren Leserinnen und Lesern? Dafür zu sorgen, dass die Bücher vom Verlag überall dort zu finden sind, wo man sie auch sucht, das ist die Aufgabe von Charlotte Krähenbühl. Das bedeutet vor allem Kontakte zu Buchhändlern, Bibliothekarinnen, Kulturveranstaltern, Journalistinnen knüpfen und pflegen – und nicht zuletzt mit den Autorinnen und Autoren und deren Netzwerk.
Sveas Begeisterung hat uns schnell angesteckt. Nicht zuletzt, weil wir den ganzen Morgen liebevoll mit Kaffee- und Kuchenmüsterli verwöhnt worden sind. Wird eine von uns je wieder einfach einen Kaffee crème bestellen?
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«Der Marugg ist ein ganz cooler» von Andreas Scherrer | Juli 2003 Alpencity Davos. Buschauffeure am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Hektik in den Strassen. Unfälle mit ortsunkundigen Touristen. Gewalttätige Schwarzfahrer. Randalierende WEF-Gegner. Falsch parkierte Autos. Pöbelnde Passagiere. Oder sieht die Wirklichkeit ganz anders aus? 10.43 Uhr. «Nächster Halt Stilli.» Marugg heisst er, Armon Marugg. Er ist mein Buschauffeur. Ihm werde ich in meiner Reportage auf den Zahn fühlen, er wird mir so manch Spannendes über den Alltag als Buschauffeur in Davos erzählen. Doch schön der Reihe nach. Armon Marugg, 38, sieht aus wie ein waschechter Bündner. Ein attraktiver, braun gebrannter Davoser. Ein ruhiger, souveräner Typ. Marugg wohnt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Klosters. Er ist also sozusagen ein «Fast‑Davoser». Für mich Unterländer macht das aber keinen grossen Unterschied: Klosters-Parsenn ist gleich Davos-Parsenn. Und Parsenn ist im Prinzip gleich Davos. Etwas später erfahre ich, dass der Marugg eigentlich aus Scoul kommt. Die typischen Davoser stammen also aus dem Unterengadin, denke ich. Schon lange vor der Vereina-Autoverladetunnel-Zeit ist der Marugg nach Klosters
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übersiedelt. Seiner Frau wegen. Das muss wahre Liebe sein: Ich stelle mir vor, wie es der frisch verliebte Marugg im Winter vor ungefähr zwanzig Jahren über den zugeschneiten Flüelapass nur mit allerletzter Kraft zum Rendezvous mit seiner Liebsten schaffte. Traumjob So, Herr Marugg, jetzt legen wir aber los! Ich möchte wissen, was sein schlimmstes Erlebnis war. Eigentlich habe er in seiner zwölfjährigen Karriere als Buschauffeur noch nie ein Problem mit einem Fahrgast gehabt, sagt Marugg mit ruhiger Stimme. Eher umgekehrt. Wenn er mal eine Busstation überspringe oder die Route etwas abändere, dann meldeten sich seine Passagiere zu Wort. Aber solche Fehler passieren ihm sehr selten. Denn Marugg mag seinen Job, mag die Mercedes-Busse mit Automatikgetriebe der Verkehrsbetriebe Davos. Und besonders mag er den neusten Bus, wieder ein Mercedes, weil der «so einen schönen Zug hat». Musik für die Gäste Das Wichtigste an seinem Beruf ist für ihn der Kontakt zu den verschiedenen Menschen: «Das ist spannend, und die Zeit vergeht dabei wie im Flug», sagt der Buspilot. «Hat denn der Job gar keine Schattenseiten?», will ich wissen. Marugg überlegt lange. Mühsam findet er es nur in der Zwischensaison, wenn nur wenige Passagiere zu transportieren sind. Dann wird aus einer Sekunde eine Minute und aus einer halben eine ganze Stunde. Dann legt er jeweils eine seiner Musikkassetten ein und beglückt sich und die wenigen Passagiere mit Bündner Schottisch. Und träumt von vergangenen Zeiten, als er die Sommer jeweils auf der Alp Parsenn oberhalb Klosters verbrachte.
Ja und sonst? Was ist mit parkierten Autos auf Bushaltestellen? Was mit Automobilisten, die auf Hotelsuche sämtliche Verkehrsregeln missachten? Was mit der generell zunehmenden Aggressivität auf den Strassen? Von der Antwort Maruggs bin ich nicht ganz überrascht: Einen Unfall habe er – Gott sei Dank – noch nie gehabt, die Hupe brauche er fast nie, und wenn halt ein Auto auf seiner Haltestelle stehe, stoppe er den Mercedes eben auf der Strasse und lasse aussteigen. So einfach ist das. Zum Schluss ein Espresso 11.47 Uhr. Marugg hat Mittagspause. Er will zum Essen zu seiner Familie nach Klosters. Aber ich überrede ihn noch zu einem Espresso im Bahnhofbuffet. Hier möchte ich noch etwas über die schwierigen Seiten des Jobs erfahren. Vielleicht wird er mir ja doch noch etwas Brisantes erzählen, das ich dann in meiner Reportage verwenden könnte. Fehlanzeige! Marugg erzählt mir noch ein bisschen was über sein Privatleben. Das wolle er aber keinesfalls in der Zeitung lesen, auferlegt er mir. Dann geht er zum Mittagessen mit seiner Frau. Als er weg ist, frage ich Carmen, 12, die Tochter der Bahnhofbuffet-Wirtin: «Kennst du den Marugg?» Antwort: «Ja, der ist ein ganz cooler!»
Autor: Andreas Scherrer Arbeitgeber: Denon Film AG Beruf: Producer/Kaufmann Funktion: Mitinhaber/Geschäftsführer Wohnort: Altendorf SZ Andreas Scherrer bedauert, dass er nicht so gut schreiben kann, wie er es gerne möchte. Leider. Sowieso: Die besten Texte entstehen in seinen Gedanken und schaffen den Sprung aufs Papier in den wenigsten Fällen. Umso besser: So bleibt ihm die Illusion, dass er es gut könnte, wenn er nur wollte.
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Den besten Apfelkuchen gibt’s auf der Stafelalp von Ursula Schwarb | Januar 2011 Und irgendeinmal fällt das Wort «Apfelkuchen». Ich stelle mir ein Stück davon vor: Dicker Mürbeteigboden, saftige Apfelstücke in einem Weinbeeren-Zimt-Vanille-Guss, etwas süss-klebrige Zuckerglasur und ein Sahnetupfer. Alles schön angerichtet mit Gäbelchen, weisser Spitzenserviette, direkt aus der Vitrine. Den besten Apfelkuchen gibt es auf der Stafelalp oberhalb Davos, sagt ein Bekannter. Davos liegt auf 1500, die Stafelalp auf 1894 Metern über Meer. Das Taxi stoppt bei den letzten Häusern von Frauenkirch, einem Nachbardörfchen von Davos Platz; im Winter der ideale Ausgangspunkt für eine Wanderung auf die Stafelalp. Der Fahrer nickt bergwärts. Wir sollten zuerst der Strasse, dann dem Wanderweg folgen. Es liegt Schnee und es ist empfindlich kühl. Eine schwarz-weiss gefleckte Katze kauert auf einem Fensterbrett und wärmt sich in den ersten Sonnenstrahlen. Die Strasse ist stellenweise vereist, aber wir kommen munter voran. Und ich muss dauernd an den Apfelkuchen denken – verführerisch.
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Doch da biegt der Wanderweg ab, hangwärts und steiler als bisher. Der Schuh rutscht, schwitzen und schwer atmen ist angesagt. Einige Höfe kommen in Sicht, scheinen aber bis auf ein paar frierende Kühe verlassen. Wo ist diese verflixte Stafelalp? Die Sonne brennt nun ziemlich gemein. Das nett angerichtete Stück Apfelkuchen ist in weite Ferne gerückt. Der Weg windet sich weiter den Berg hoch. Kurve für Kurve, jetzt im Wald. Da plötzlich – die Baumgrenze ist überschritten und die Stafelalp erreicht. Der Apfelkuchen wäre zum Greifen nah – aber wen interessiert das noch? Die Sicht auf die umliegenden Schneegipfel ist überwältigend, die Luft klirrend klar, der Himmel scheint näher denn je. Und die Stille, die hier oben herrscht, die ist tatsächlich hörbar. Hier möchte man länger verweilen! Wie einst Ernst Ludwig Kirchner. Der weltberühmte deutsche Maler, der ums Jahr 1919 hier gelebt und gearbeitet hat. Oder wie Doris Pfenninger und Danielle Breitenbach, die im einzigen Gasthaus auf der Stafelalp Schneeschuhwanderer, Skitourengruppen und alle anderen, die es hierher zieht, verwöhnen. «Man schläft nirgends so gut wie hier», beteuert Danielle Breitenbach, und man glaubt es ihr. Dies, obwohl die Temperatur, wie Doris Pfenninger sagt, im Winter in den Schlafzimmern in den Minusbereich sinken kann. Das Haus, das eigentlich ein Häuschen ist, ist nämlich 250 Jahre alt, ganz aus Holz, ohne Isolation, ohne Stromversorgung – der Holzherd fast schon ein Luxus. In der Gaststube hängen Petrollampen von der Decke. Da es ganz ohne Elektrizität heutzutage aber doch nicht geht, liegen vor dem Häuschen einige Platten Solarzellen. Liefern diese wegen schlechten Wetters zu wenig Energie, hilft ein Generator aus. Dieser wird gebraucht, um die modernen Toiletten in Betrieb zu halten.
Sie habe schon immer «uf de Höger» gelebt, nie in einer Stadt, sagt Doris Pfenninger. Sie rührt gerade in einer Zwiebelsuppe. Weissliche Zwiebelstücke köcheln in einer dunkelroten Flüssigkeit. Es riecht süsslich, würzig, angenehm. Die Küche misst höchstens drei Quadratmeter, und dabei wird hier nicht nur gekocht, sondern auch noch abgewaschen. Gaststube und Gastzimmer sind ebenfalls eng. Wände, Böden, alles ein bisschen schief. Die Räume niedrig, nichts für grosse Leute, aber heimelig. Auch Danielle Breitenbach könnte sich nicht vorstellen, in einer Stadt zu leben. Sie schätzt die Stille hier oben nach getaner Arbeit, die Natur direkt vor der Tür, keinen Rummel, keinen künstlich erzeugten Freizeitstress. «Essen, Bett, Ruhe … und zufriedene Gäste» – braucht es mehr?
Autor: Ursula Schwarb Arbeitgeber: Universität Zürich Beruf: Wissenschaftliche Mitarbeiterin/ Leiterin IPMZ transfer Wohnort: Nussbaumen AG Im Berufsalltag von Ursula Schwarb haben Sprache und «gute Geschichten» schon immer eine wichtige Rolle gespielt: Zuerst als Primarlehrerin, später als freie Journalistin oder PRAngestellte. Mit der Weiterbildung zur PR-Redaktorin hat sich Ursula Schwarb einen lang gehegten Traum erfüllt und ihre Schreibkompetenz gezielt weiterentwickelt.
Wir setzen uns in die Sonne vor dem Gasthaus. Geniessen die Stille und das Leuchten der Schneeberge. Und ach – ich wollte doch noch ein Stück von diesem bekannten Apfelkuchen haben! Er schmeckt himmlisch.
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Fingerspitzengefühl bei minus 20 Grad von Anita Loepfe | Januar 2006 Auch wenn Davos viel von seinem einstigen Glanz als Eissport-Mekka verloren hat, hegen und pflegen Balz Caflisch und seine Männer die grösste Natureisbahn Europas mit viel Wasser und Fingerspitzengefühl. Davos, 7.15 Uhr. Aussentemperatur minus 20 Grad. Es ist noch dunkel – und kalt. Balz Caflisch und seine Männer sind schon seit 6.30 Uhr auf dem Eis. Es gibt viel zu tun, denn die Eisbahn ist riesig. 16’000 Quadratmeter müssen für die Eissportfans vorbereitet werden. Der Schnee ist schon weggeräumt, das Eis geputzt. Jetzt bespritzen sie die Fläche mit riesigen Feuerwehrschläuchen. «Wässern heisst das im Eis-Fachjargon», klärt uns Caflisch auf.
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Der Eismeister, wie die Einheimischen Balz Caflisch liebevoll nennen, ist mit Leib und Seele dabei. Und das schon seit 17 Jahren. Eher zufällig rutschte der gelernte Polier aufs Eis. Denn eigentlich ist der Davoser Vorarbeiter des Werkhofs und Chef von 27 Mitarbeitern. «Wir beschäftigen 23 Jahresangestellte. Im Winter helfen uns noch vier Bauern», erzählt der Eismeister. Neben dem Unterhalt der Fussballfeld-grossen Natureisbahn befreien die Männer die Davoser Strassen vom Schnee oder arbeiten in der Werkhof-eigenen Schreinerei. 8.00 Uhr. Aussentemperatur minus 18 Grad. Es wird langsam hell. Die Kälte langsam unangenehm. Obwohl die Sonne noch nicht gänzlich draussen ist, lassen einen die in warmes Rot getauchten Bergwipfel erahnen, dass sich der Kurort auf einen weiteren Sonnentag freuen kann. Konrad Stifler, Pedro Noya, Eduard Rafler und Nathal Caduff sind noch immer am Wässern. Das dauert zwei bis drei Stunden. Ein bis zwei Mal täglich. Während einer Saison, die im Schnitt rund sechzig bis siebzig Tage dauert, werden rund eine Million Liter Wasser in Eis verwandelt. Sie arbeiten in Zweiergruppen. Einer spritzt und einer trägt den Schlauch. Zwischendurch bückt sich einer. Er füllt Löcher und kleine Risse, die die Sonne am Tag zuvor ins Eis gefressen hat, mit heissem Wasser auf. Das muss schnell gehen. «Löcher und Risse haben auf dem Eis nichts verloren. Jede noch so kleine Unebenheit ist Gift für die scharfen Kufen der Eisschnellläufer», erklärt der Eisprofi. Er muss es wissen, denn sein Sohn trainiert im Schweizer Kader.
Schnelles Schweizer Eis Früher war Davos besonders im anglophonen Raum für das schnellste Eis der Welt bekannt, das sogenannte Swiss Ice. Heute ist es Calgary. Früher war Davos das Mekka des europäischen Eissports. Heute bleiben die Eisschnellläufer lieber daheim und trainieren in ihren modernen, mit Windmaschinen ausgerüsteten Kunsteisbahnhallen. Besonders die Holländer haben den restlichen Europäern schon lange den Rang abgelaufen. 9.00 Uhr. Zähneklappernde minus 16 Grad. Das Eis ist geputzt und gewässert. Jetzt stellen die vier Männer Abschrankungen auf. Die roten Sockel dienen dazu, die Schnellen von den Langsamen zu trennen. Aussen trainieren die Schnellläufer, innen tummeln sich die anderen.
Autorin: Anita Loepfe Arbeitgeber: ABB Schweiz AG Beruf: Kommunikationsberaterin Wohnort: Mumpf AG Anita Loepfe mag Krimis, besonders englische. London, New York, Australien, Indien. Überhaupt Reisen. Fremde Kulturen. Kino. Neues ausprobieren. Saure Gummibärchen. Prince. Weltoffenheit. Flip-Flops. Das «Gigele» ihrer kleinen Tochter. Dackel.
Balz Caflisch muss weiter. Die Pflichten eines Werkhof-Vorarbeiters rufen. Wir verlassen die Eisbahn und gehen Richtung Restaurant. Auf dem Weg dorthin zeigt er auf ein paar Bilder in einer Vitrine. Die Fotos lassen erahnen, wie bedeutend Davos für den Eissport war. 1891/92 entstand das schöne Eisbahngebäude im Jugendstil. Damals unterhielt noch ein echtes Orchester die vielen Eisläufer. Heute ist weniger los auf dem Eisfeld. «Schade», meint Caflisch etwas wehmütig. «Die Davoser lieben ihr Eisfeld jedoch nach wie vor und benutzen es oft und gerne. Besonders am Abend.» Dafür lohne sich der Aufwand allemal. Das stimmt. Mich hat der Swiss-Ice-Virus erwischt. Sobald ich mich im Restaurant einigermassen aufgetaut habe, werde ich mal testen, wie schnell das schnelle Eis noch ist.
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Davoser Schatzalpträume von Dominic Witschi | Juli 2005 Dort oben! Dort oben thront es wie eh und je: das Hotel Schatzalp. Hoch über den Dächern von Davos gelegen, majestätisch entrückt. Unnahbar. Vor zwanzig Jahren war ich zum letzten Mal dort, mit meinen Eltern und meinem Bruder. Heute weiss ich mehr darüber. Ich weiss, dass der Davoser Hausberg, insbesondere das ehemalige Luxussanatorium Schatzalp, viele Geheimnisse birgt. Beinahe akrobatisch erklimmt die Standseilbahn den Berg, hangelt sich von Tanne zu Tanne durch die tief verschneite Waldschneise empor. Wie durch einen langen Korridor. Das Rattern der Räder ist nur dumpf zu vernehmen – die wonnig-weisse Watte verschluckt fast alle Geräusche. Oben angekommen stelle ich fest, dass auch die Zeit hier oben, auf Thomas Manns Zauberberg, langsamer vergeht. Während sich unten im Städtchen das Gesicht von Davos permanent ändert, sieht das Hotel Schatzalp auf den ersten Blick aus wie vor zwanzig Jahren. Dem Gebäude neues Leben einhauchen An der Rezeption treffe ich ihn dann, den neuen, erst 30-jährigen Direktor des Hotels Schatzalp: Maik Kunz aus Flums. Er und die beiden neuen Eigentümer, die das Hotel vor zwei Jahren erworben haben, legen sich tagtäglich ins Zeug. Das Hotel wird langsam, aber stetig saniert. Stolz verweist Maik Kunz auf den kostbaren TerrazzoBoden und die gut erhaltenen, floralen Jugendstilmuster an Wänden und Decken. Ein inneres Feuer treibt den jungen Mann und wohl
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auch die neuen Hotelbesitzer an, dem geschichtsträchtigen Hotel ständig neues Leben einzuhauchen. Wirtschaftliche Beweggründe stehen nicht im Vordergrund. Maik Kunz hat sogar seine leitende Position in einem namhaften Hotel in St. Moritz gegen das Hotel Schatzalp eingetauscht. Gegen seinen Traumjob vielleicht. Zwischen Leben und Tod Nicht nur die opulenten Jugendstilelemente in der Hotelhalle sind beeindruckend. Auch was sich hier am Anfang des letzten Jahrhunderts abgespielt hat, versetzt mich in Staunen. Eine fast dekadente Endzeitstimmung habe damals geherrscht. «Die dem Tod geweihten Tuberkulosekranken kannten kein Pardon: Essen, Rauchen, Feste feiern. Zuweilen bis zum Exzess. Der Tod als Gesprächsthema war hin gegen tabu», sagt Maik Kunz. Und trotzdem war er überall und traumatisierend präsent. So seien die Toten sang- und klanglos während der Nacht über den Schlittenweg ins Tal hinuntergebracht worden. Im Innern des Gebäudekörpers «Kommen Sie, ich zeige Ihnen das ehemalige Kaiserzimmer im oberen Stock», sagt Maik Kunz und jagt davon, taucht ein in die Eingeweide des Gebäudes. Hastig steigt er die Stufen empor, nimmt gleich zwei auf einmal. Keuchend bleibe ich ihm dicht auf den Fersen. Erschöpft oben angekommen lege ich die Hand auf meine Brust. Nein, da ist nichts. Meine Lunge ist gesund. «Sehen Sie sich die traumhafte Aussicht an.» Die Augen von Maik Kunz glänzen. Sie leuchten förmlich und widerspiegeln etwas von dem Glanzvollen und Mystischen, das diesem Ort gerade heute anhaftet. Mit traumwandlerischer Sicherheit folge ich Maik Kunz durch den langen, geraden Korridor. Höre ich da nicht ein Keuchen aus kranken Lungen, das immer noch
in diesen Räumen schwingt? Ist dort nicht ein Röcheln, das aus dem Gemäuer dringt? Alles nur Einbildung? Trauma? Ich folge Maik Kunz, der flink weitereilt. Hinunter in den ehemaligen Röntgenraum, wo einst kranke Lungen durchleuchtet wurden. Heute befindet sich hier die «X-Ray-Bar», wo Hotelgäste genüsslich ihre Stumpen rauchen. Etwas Ambivalentes bleibt Maik Kunz muss gehen. Dann kommt er doch noch einmal zurück: «Soeben hat sich das ZDF bei uns gemeldet. Der deutsche Sender möchte hier im Hotel Schatzalp eine Szene zu Erika Mann drehen.» Dann muss auch ich gehen. Ich kehre diesem verzauberten Berg den Rücken und nehme für den Abstieg einen anderen Weg. Den Totenweg. Ein Davoser Schlitten, auch er noch immer so solide wie vor zwanzig Jahren, trägt mich sicher talwärts. Ich fühle etwas Morbides im Rücken. Vor mir liegt das Leben.
Autor: Dominic Witschi Arbeitgeber: SRG SSR idée suisse Beruf: Übersetzer, Unternehmenspublizist Funktion: Verantwortlicher Print & Electronic Publishing Wohnort: Bern Das Verb «texten» kommt von lat. «texere», was so viel heisst wie «flechten» oder «weben». Insofern sehe ich mich gerne als Handwerker, der beim Weben eines Geschichtenteppichs die passenden Farben, Motive und Muster kombiniert, um schliesslich alles zu einem –wenn’s gelingt –wirkungsvollen Ganzen zu verdichten.
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Von Margriten und Menschen von Nicole Barp | Juli 2008 Er gestikuliert mit langsamen, bedachten Handbewegungen. Seine blauen, wässrigen Augen durchdringen sein Publikum. Pausen. Effektiv gesetzt. Ab und an blitzt eine goldene Krone zwischen den weissen Zahnreihen hervor. Hellbraune Hose, kariertes Hemd, dunkelblauer Faserpelz. Zweckmässige Kleidung. Die Schuhe solide und abgenutzt. Natürlich. Trotz Dreitagebart und Händen, die von Wind und Wetter gezeichnet sind, wirkt er gepflegt. «Die Natur ist immer der Dirigent», sagt er und blickt in die Runde. Bestätigung braucht er keine. Er weiss, wovon er spricht. Das Alpinum in Davos ist seit vier Jahren in seiner Pflege. Er ist der Gärtner.
Keine Frage, Klaus Oetjen hat in seinem Leben schon viel erlebt, ist weit herumgekommen. Der drahtige Mann aus der Lüneburger Heide ist kein Pflanzenrassist. Seine Schützlinge kommen aus China, Italien, Schweden, Kasachstan, Italien. Sogar das Edelweiss ist ein Immigrant. Aus dem Balkan. Pflanzen gedeihen dort, wo es ihnen gefällt. Der Norddeutsche gedeiht in Davos. Seine Arbeit beschreibt er mit dem Wort «verlockend». Langsam, aber mit beherztem Schritt führt er durch sein Reich. Er erzählt von der binären Bezeichnung, mit der Pflanzen benannt werden. Das erste Wort steht für die Gattung, das zweite für die Art. Genau wie beim Menschen. Homo sapiens. Der häufige Vergleich zum Menschen fällt auf. Das Rotgrüne Strauchbasilikum wiegt sich im Wind. Ocimum Kilimand x. bas. pur. «African Blue». Der Zusatz weist darauf hin, dass die Pflanze gezüchtet wurde. «Pflanzen wachsen nicht in ihrem Optimum, sondern da, wo es die Konkurrenz zulässt.» Seine Worte werden härter, sein Blick ernster. Er spricht von «Überlebensstrategie». Zur Veranschaulichung drängt er mit seiner linken Schulter einen imaginären Konkurrenten zur Seite. Um uns ist es grün. Lindgrün, Olivgrün, Tannengrün, Senfgrün, Militärgrün. Und viele Grüntöne mehr, für die noch nicht mal Caran d’Ache eine Bezeichnung kennt. Sogar der Hydrant hinter ihm ist grün. Grün gestrichen. An den Ecken blättert die Farbe ab. Wir befinden uns auf 1862 Metern. Er nennt dieses Gebiet die «Kampfzone». Die Pflanzen kämpfen hier ums Überleben. «Nichts ist erdrückender als Gräser», sagt er und hebt energisch die geballte Faust. Er meint damit, wo Gräser wachsen, wächst so leicht nichts anderes. Die Samen der meisten seiner Pflanzen hätten in der angrenzenden
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Wiese keine Überlebenschance. Sie sind nicht invasiv genug. «Und die, die’s sind, habe ich im Auge.» Er zeigt mit seinem Finger auf seine wachen, durchdringenden Augen. Und man glaubt ihm. Über Pflanzen ärgert er sich nie. Aber über Menschen. Sie stampfen seine Pflanzen nieder – auf der Suche nach verlorenen Gegenständen. Brennen ein Herz in den Rasen – aus einer romantischen Anwandlung heraus. Reissen Blumen ab – einfach so. «Deshalb habe ich hier Konflikte», sagt er. Und man merkt, das Thema ist ihm ernst. Es sind die Menschen, die ihn davon abhalten, sich ausschliesslich um seine Aufgabe, seine Berufung, zu kümmern: die Pflege seiner Pflanzen. Mit einer energischen und gezielten Handbewegung reist er ein Kraut mit gelben Blüten aus und wirft es zur Seite. Er erzählt von seiner Lieblingspflanze, der Wolfsmilch. Ins Auge gerieben kann sie zur Farbenblindheit führen. Wir riechen an der Tigerglocke. Angeblich riecht sie nach Tiger. Ich muss es ihm glauben. Meine Nase an einen Tiger gerieben habe ich noch nie. Die Luft ist kalt. Meine Nase geschwollen. Ich rieche nichts. Ich bücke mich, um noch einen letzten Blick auf das Schnee-Edelweiss zu werfen. Seine Oberfläche wirkt schimmlig. Ob das die Schokohersteller wissen, die es zu Marketingzwecken benutzen? Die Zeit vergeht viel zu schnell. Zum Abschied ein fester Händedruck. Zahlen kann er sich nicht merken. Das erwähnt er mehrmals. Namen auch nicht. Nur bei Pflanzennamen, da kennt er sich aus. Leider heisse ich nicht Veronika, wie meine Freundin. Oder Margrit, wie meine Mutter.
Autorin: Nicole Barp Arbeitgeber: Credit Suisse Beruf: Übersetzerin Funktion: Übersetzerin/Lektorin Wohnort: Zürich Nicole Barp hat ihr Übersetzerstudium an der Dolmetscherschule Zürich 2002 abgeschlossen. Bevor sie 2007 zur Credit Suisse stiess, war sie an der ETH Zürich und bei Phonak tätig. Als Übersetzerin reizt sie, die Seiten zu wechseln und selbst zu texten.
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Ein wunderbarer Sommertag und Mamaaccola von Susanne Thuma | Juli 2006 Keine Autos, die mit ihrem lauten Röhren die Ohren zum Klingeln bringen. Keine Menschenmassen, die ungeduldig vorwärts drängeln. Ein Leben in Ruhe, jenseits von Hektik und Stress. Zwei Frauen, die für eine Weile ausgestiegen sind. «Machen wir eine Pause?», ächze ich zu Rita hinüber, meiner Begleiterin. Sie nickt. Auch ihr ist die Puste ausgegangen. Es ist heiss, die Sonne brennt erbarmungslos auf unseren Köpfen. Vor und hinter uns ein steiniges Strässchen. So steil, dass man meint, geradewegs dem Himmel entgegenzuwandern. Aber unser Ziel befindet sich nicht ganz so hoch. Wir wollen zu Barbara und Erika, die auf der Stafelalp auf uns warten. Oben bietet sich uns ein entzückendes Bild: Rund zwölf kleine Alphüttchen kuscheln sich harmonisch an den Berghang. Auf den Fenstersimsen blühen Geranien und verströmen einen intensiven Duft. Ein laues Lüftchen kühlt unsere erhitzten Gesichter. Nebenan dreht ein Windrad gemächlich seine Runden. Ausser dem Zirpen der Grillen ist es still.
Barbara begrüsst uns in der Küche ihres Bergrestaurants. Es ist warm in der kleinen Kammer. Der Holzofen, die einzige Wärmequelle im Haus, läuft auf Hochtouren. Ich bin überrascht. Erwartet habe ich jemand völlig anderes. Älter. Stämmiger. Mit roten Wangen und Händen, die von viel Arbeit zeugen. Aber vor mir steht eine junge, zierlich wirkende Frau. Mit selbst gemachtem Ice Tea setzen wir uns auf die Terrasse und beginnen zu reden. 28 Jahre alt sei sie, verrät Barbara. Sie ist gelernte kaufmännische Angestellte. Sie ist nur vorübergehend hier oben, bis die eigentliche Besitzerin und Köchin, ihre Schwester, wieder gesund ist. Wer denn jetzt koche, will ich wissen. «Ja ich!», grinst Barbara überzeugt. Ob das wohl gut geht, überlege ich. Denn eine Ausbildung als Kauffrau qualifiziert einen ja wohl noch nicht zur Köchin! Aber Barbara hat viele Hilfskräfte. Zum Beispiel Mamaaccola, die jeden Tag frischen Salat vorbeibringt. «Mama-Wer?» frage ich begriffsstutzig. «Mama accola, die Mutter vom berühmten Skifahrer Paul Accola!» Ach so, der! Barbara steht auf, sie hat nicht viel Zeit für uns. Sie muss ihren Johannisbeer-Kuchen fertig backen. Dafür ist Erika nun da. Erika ist 21 Jahre alt und eine echte Davoserin. Sie hat keine Arbeit gefunden. Nun keucht sie jeden Tag den Berg hinauf, um Barbara im Restaurant zu helfen. Aber nicht mehr lange, sie geht nämlich nach Malta, um Englisch zu lernen. Hoffentlich ist bis dahin Barbaras Schwester wieder da! Erika führt uns durch das Häuschen. Schräge Böden zeugen von dessen hohem Alter. «Über 400 Jahre hat die Hütte auf dem Buckel», ruft Barbara von der Küche her. Ich höre ein altmodisches Ring-Ring, das
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Telefon. Strom gibt es also doch, denke ich. Erika klärt uns auf: «Der kommt von der Solarzelle.» Ein dumpfer Knall lässt mich aufhorchen. Sie hat sich den Kopf am Türrahmen gestossen. Anscheinend wird der Gang durch das niedrige Haus niemals zur Routine. In der Ecke eine Bank, gepolstert mit einer Schaumstoffmatratze und vielen gemütlich wirkenden Kissen. Da habe der frühere Chef jeweils ein Nickerchen gemacht, wenn er ein Glas zu viel getrunken habe, kichert Erika. Barbara ruft. Unser Essen ist fertig. Es gibt Salat und Älplermakkaronen. Mein voreiliges Urteil muss ich revidieren. Es schmeckt köstlich! Nun setzt sich noch das Ehepaar Marti vom Bodensee dazu. Sie haben eine herrliche Wanderung hinter sich und geniessen jetzt einen Most. Der Mann gerät ins Schwärmen und erzählt von den vielen Touren, die sie hier schon gemacht haben. Ich höre zu und geniesse den Johannisbeer-Kuchen.
Autorin: Susanne Thuma Arbeitgeber: SORBA EDV AG, St.Gallen Beruf: PR-Fachfrau Funktion: PR-/Marketingverantwortliche Wohnort: Engelburg SG Das geschriebene Wort gehörte schon immer zu Susanne Thumas Leidenschaften. Bereits mit fünf Jahren brachte ihre Mutter ihr das Lesen bei. Das Schreiben konnte sie während ihrer Ausbildung zur PR-Redaktorin noch perfektionieren: eine tolle Erfahrung, die mir in meinem Beruf gute Dienste leistet.
Die Schweizerfahne auf dem Dach beginnt zu flattern. Es wird Zeit zu gehen. Dankbar verabschieden wir uns. Was Barbara im Winter macht, wenn der Weg auf die Stafelalp kaum passierbar ist und die Wände bittere Kälte verströmen, das möchte ich gar nicht wissen. Ich bewahre mir das Bild der lieblichen Idylle und komme nächsten Sommer wieder. Nach zwanzig Minuten Marsch klatschen dicke Regentropfen auf meine nackten Arme. Ich friere. Wann kommt endlich das Taxi, das uns abholen sollte?
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Ich, der Bahnhof von Kurt Willi | Januar 2011 Ich bin schon sehr alt – uralt. Genauer gesagt, werde ich, der Bahnhof Davos Platz, am 21. Juli 2011 schon einhunderteinundzwanzig Jahre alt. Ich gebe zu, man sieht mir das Alter auch teilweise an. Das stellen auch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Beamten der Rhätischen Bahn RhB, immer wieder fest. Nicht wegen allfälliger Furchen, denn diverse Renovationen haben mir mein «Gesicht» jung erhalten – Gebäude-Botox sei Dank. Aber die starken Temperaturschwankungen, die zehren an uns allen. Trotzdem, auf mein altertümliches Flair bin ich stolz. Und mit mir auch die zwei Langläufer, die sich gerade am Schalter ein Billett gekauft haben. Sie schauen sich ehrfürchtig nach den Toiletten um und loben das grosszügige Bahnhofsgebäude: Hier können sie sogar ihre Skier mit hereinnehmen! Sie vergessen sogar, ihre Sonnenbrillen abzunehmen. Kein Wunder – schliesslich ist meine Schalterhalle so lichtdurchflutet, dass es sogar mich selbst ab und zu blendet. Schon wieder trampeln ein paar Skifahrer mit ihren schweren Klotzschuhen herein und hinterlassen Schneematsch auf meinem Steinboden. Mit ihnen weht ein frostiger Luftzug herein, der durch Mark und Bein geht. Die wartenden Gäste ziehen die Schultern zusammen und beäugen die Hereintretenden. Schwere, in Richtung Gepäckaufgabe rollende Koffer lassen mich zusammenzucken. Wenn bloss nicht das Quietschen der kleinen Räder wäre! Doch letztlich macht mir das alles nichts aus. Denn ich bin ja ein Gebäude der Öffentlichkeit.
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Ehrfürchtig bestaunen mehrere ältere Bahnpassagiere meine Bahnbilder und Bahnutensilien von früher und suchen auf meinen Fahrplänen ihre nächste Zugsverbindung. Auf der abgenutzten Holzbank haben es sich zwei Senioren bequem gemacht und vertiefen sich in die Prospekte des Parc Ela und von Railtour. Ich geniesse das Gemurmel der kleinen Gruppen und schrecke zusammen mit ihnen auf, als der Zug Nummer 1250 einfährt. Der Lautsprecher heisst die ankommenden Fahrgäste in bestem Bündnerdeutsch willkommen. Auch ich freue mich auf neue Gäste. Im Innern bin ich bestückt mit allen Errungenschaften der Technik: Strom und Öl fliessen in Leitungen durch meine Wände und Böden, Telefon- und Faxkabel durchziehen meine Mauern. Fast ununterbrochen piepst, quiekt, läutet oder klingelt irgendein Gerät der RhB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter. Sie haben aber auch immer etwas zu tun: Während der Fahrdienstleiter einen Zug abfertigt und ihm freie Fahrt auf Gleis 1 verschafft, gibt der Lehrling am Schalter geduldig einer älteren Frau Auskunft. Und beim ProntoPhoto-Automaten fährt ein Kinderwagen vor und die Mama lächelt in die Kamera.
Eine Familie hat sich vor der Glasvitrine beim Personendurchgang versammelt und studiert die ausgestellten Geschenkideen der RhB: Neben einem Sackmesser in typisch rotem RhB-Design gefällt den beiden Kindern vor allem die Plüschlokomotive. Nach markdurchdringendem Quengeln geben die Eltern zum Glück endlich nach und erstehen für ihre Sprösslinge die gewünschten Andenken. Endlich verlassen auch die letzten Gäste die Schalterhalle und wir, die Angestellten der RhB und ich, haben Zeit für eine Verschnaufpause. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Auch weil ich unter Schutz stehe. Das heisst – ein wenig bin ich schon erschrocken, als am 25. März 2010 meine Besitzer das Projekt «Instandsetzung Bahnhof» präsentierten. Ich sah schon meinen Abbruch kommen. Meine Beerdigung. Doch die Erklärung meines Bahnhofvorstandes an seine Mitarbeitenden machte mir Mut: «Die RhB und die Gemeinde werten das Gesamtareal ‹Davos Platz› mit einem kundenfreundlichen Bahnhof sowie einem vergrösserten Wohn-und Dienstleistungsangebot mit Gewerbeflächen auf.» Als ich dann noch hörte, dass total sechzig Millionen Schweizer Franken in mich investiert werden sollen, da wich die anfängliche Angst riesigem Stolz.
Autor: Kurt Willi Arbeitgeber: PostAuto Schweiz AG Beruf: Leiter Projekte Region Graubünden Wohnort: Walenstadt SG Als Verantwortlicher der internen und externen Kommunikation ist Kurt Willi dafür zuständig, gemäss Vorgabe seiner Arbeitgeberin zu kommunizieren. Alle Zielgruppen sollen seine Texte lesen und verstehen. Seine Texte müssen also auch interessant und verständlich sein für Personen, die den öffentlichen Verkehr nicht nutzen und für Leserinnen und Leser ohne spezielle Branchenkenntnis.
Ich bin der Bahnhof Davos Platz. Ich bin zwar schon alt – uralt. Aber ich werde gebraucht.
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Schiess in den Wind, Marina! von Christian Petrollini | Juli 2006 Die Schweiz ist eine Segelnation. Ja sogar eine Segelgrossmacht. Spätestens seit dem triumphalen Gewinn des America’s Cup im Jahr 2003 durch das Team «Alinghi» geniessen wir die Hochachtung traditioneller Segelländer wie Australien und Amerika. «Alinghi» – den Namen der Yacht, welche unter Flagge einer schweizerischen Grossbank das scheinbar Unmögliche geschafft hat, kennt hierzulande beinahe jedes Kind.
Von den beiden Instruktoren erfahre ich, dass die Kinder aus allen Regionen der Schweiz stammen und genau eine Woche Zeit haben, ihre Künste auf dem Segelboot zu verfeinern. Die Knirpse sind also keine Anfänger! Die jüngste Teilnehmerin, Lilian, ist gerade mal acht Jahre alt und stammt aus Cham. «Ein grosses Talent», flüstert mir Trainerin Sandra geheimnisvoll ins Ohr. Aha, der nächste Skipper der «Alinghi» ist also eine Frau.
Da stellt sich natürlich die Frage nach unserem Segelnachwuchs. Werden wir den Amerikanern und Australiern auch in den nächsten Jahren um die Ohren segeln? Interessiert sich unser Nachwuchs im Zeitalter von Gameboy und Computerkonsole überhaupt für den Segelsport? Um das herauszufinden, statte ich der Segelschule Davos einen spontanen Besuch ab. Wer weiss, vielleicht kann ich dem künftigen Skipper der «Alinghi» schon mal beim Aufbautraining zuschauen!
Nachdem die Theorie auf dem Land abgehandelt ist, geht’s aufs Wasser. Die Kinder in ihren kleinen Segeljollen. Sandra, ihr Bruder Franco und ich folgen in sicherer Entfernung im Motorboot. Von Weitem wirken die Kinderboote wie eine Szenerie aus der Swissminiatur. Als Einziger trage ich keine Schwimmweste. Franco gibt Gas. Der scharfe Geruch von Schiffsbenzin umgibt mich. Ich halte mich fest!
Auf hoher See «Wenn ihr abdriftet, versucht sofort das Segel in den Wind zu stellen! Die Pinne dürft ihr aber auf keinen Fall loslassen!» Mit diesen Worten erklären die beiden Instruktoren Sandra und Franco ihren Segelschülern, was zu tun ist, wenn sich ein Segelboot selbstständig macht. Auch ich höre den Erläuterungen der jugendlichen Trainer gespannt zu. Dabei fällt mir als Erstes das Markenbewusstsein der angehenden Segelprofis auf. Neopren-Anzüge der Marken Nautica und O’Neill werden vorzugsweise mit Sonnenbrillen aus dem Hause Oakley getragen. Auch hier können wir den Amis inzwischen locker das Wasser reichen. 30
Auf hoher See angekommen, absolvieren die Kinder ihre Übungen. Franco und Sandra geben vom Boot aus lauthals Anweisungen. Die beiden studieren in Zürich und segeln seit frühester Kindheit. Das Segel-Camp wird alljährlich von ihren Eltern organisiert. «Schiess in den Wind, Marina!», schreit Franco. Schiess in den Wind? Die kleine Marina – nomen est omen – dreht ihr Segel, duckt sich im richtigen Augenblick und wechselt unmittelbar die Fahrtrichtung. So schiesst man also in den Wind. Die Gruppe erhält den Befehl, sich für einen Slalom zu formieren. Erklärtes Ziel ist es, die sieben Boote in Reih und Glied aufzustellen, damit das jeweils hinterste Boot zum Slalom ansetzen kann. Die Kollegen dienen dabei sozusagen als lebende Bojen.
Es dauert eine Weile, bis die Reihe steht. Einige der Boote werden immer wieder abgetrieben. Der kleine Thomas aus Zürich kämpft verzweifelt mit den Mächten der Natur. Es nützt nichts. Er hat die Kontrolle über sein Boot, die «White Spirit», verloren. Er zieht an einem Seil, als hänge sein Leben davon ab. Und tatsächlich, mit letzter Kraft gelingt es ihm, die «White Spirit» wieder auf Kurs zu bringen. «Dabei herrscht heute nur wenig Wind», gibt Franco kopfschüttelnd zu bedenken. Er erklärt mir in der Fachsprache der Segler, was Thomas falsch gemacht hat. Ich verstehe kein Wort. Trotzdem nicke ich mit einem wissenden Lächeln. Als wäre ich Captain Ahab persönlich. Taufen und brandmarken Während die Kinder ihre Runden drehen, erzählen mir Sandra und Franco von der vergangenen Woche. Letzten Mittwoch haben sie die Kids «getauft»! «Das ist unser traditionelles Ritual», klärt mich Franco auf. «Zuerst werfen wir unsere Schützlinge mit verbundenen Augen ins Wasser. Danach werden sie gebrandmarkt wie ein Rind.» «Wie bitte?» «Natürlich nur mit Eis. Das fühlt sich beim Hautkontakt an, als wäre es glühend heiss.» Ich frage mich, ob «Alinghi»-Eigner Ernesto Bertarelli ähnliche Überraschungen für seine Crew bereithält. Der Übungsturn wird mit einer Regatta abgeschlossen. Jetzt geht’s um die Wurst! Das Start-Prozedere ist kompliziert. Innerhalb von zwei Minuten müssen sich die Boote längs vor einer Boje aufstellen. Wer in dieser Zeit vor die Boje gerät, muss abdrehen und sich hinten anstellen. Mit einem grellen Pfiff gibt Sandra das sehnsüchtig erwartete Zeichen. Die Boote zischen ab. Die kleine Lilian übernimmt souverän die Spitze. «Habe ich es dir nicht gesagt?», meint Sandra.
«Lilian hat es einfach drauf!» Ich staune. Die kleine Lilian lässt ihren Kontrahenten keine Chance. Bei der ersten Wende liegt sie schon klar in Führung. Im Ziel angekommen, nimmt sie stolz den Siegerpreis von Sandra und Franco entgegen. Zwei Gummibärli. Während sich die anderen noch abmühen, gratuliere ich Lilian. Auf meine Frage, ob sie denn auch mal gerne auf der «Alinghi» mitsegeln würde, antwortet sie mit einem breiten Grinsen. Klar, wer zwei Gummibärli im Mund hat, kann nicht mehr sprechen. Trotzdem bin ich beruhigt. Die Schweiz wird auch in Zukunft Segelnation Nummer eins bleiben.
Autor: Christian Petrollini Arbeitgeber: SFS intec AG, Heerbrugg Beruf: Kommunikationsberater Wohnort: Widnau SG «Das Leben ist ein Segeltörn»: Wahres Glück bedeutet für Christian Petrollini mit gesetztem Segel neue Horizonte zu erkunden. Leider lassen sich die Stürme des Lebens nicht immer umschiffen. Wer aber manövrierfähig bleibt und sich nicht einfach vom Wind treiben lässt, findet letztendlich seine Bestimmung.
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Café Weber: Die schnelle Chefin von Claudia Ineichen | Juli 2010 Ein Paar wache, blaue Augen schauen mich forschend an. Kein Zweifel, das muss Frau Weber sein. «Ich bin von der Schweizerischen Text Akademie», beginne ich meine Einleitung, da streckt sie mir schon die Hand entgegen. Sie schüttelt sie kurz und entschlossen, und weist mir einen Tisch zu. «Nehmed Sie es Kafi?», fragt sie ohne Umschweife. Und schon ist sie wieder weg. Nun denn, denke ich und noch während ich mich langsam mit der Umgebung vertraut mache und mich unauffällig umsehe, hat sie bereits eine Menükarte und ein Fotoalbum vor mir ausgebreitet. Jetzt serviert sie mir einen Kafi. Und ein Vollkorngipfeli, dreht den Kopf Richtung Türe und ruft freundlich: «Grüezi Herr Jansen, wie geht’s?» Herr Jansen freut sich über die Begrüssung. Strahlend und in Begleitung seines Enkels betritt er den Laden. Doch bevor er richtig eingetreten ist, ist Frau Weber verschwunden. Wo ist sie denn jetzt schon wieder hin? Wir schauen uns beide um – und entdecken sie hinter dem Tresen, wo sie Gebäck in weisse Papierbeutel packt und wartende Kunden begrüsst. «Du bisch scho recht wach und in Action», staunt die ältere Kundin, die gerade von Frau Weber einen weiteren weissen Papierbeutel über den Tresen gereicht bekommt. «Ja stell dir vor, ich würd da so ume lahme!», erwidert Frau Weber halb energisch, halb schmunzelnd. Sie wünscht freundlich einen schönen Tag und wendet sich der nächsten Kundin zu.
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Nichts ist so, wie ich es erwartet habe Ich lasse mir den Duft von frischem Kaffee in die Nase steigen und blättere mit mässigem Interesse in der Menükarte. Dort wird mir ein buntes Allerlei von Wurst-Käse-Salat über American Club Sandwich bis zu «Webers saftiger Beefburger» angeboten. Ich bin erstaunt. Erwartet habe ich eine traditionelle, etwas träge Kaffeebar mit lauten Kaffeemaschinen, Serviertöchtern in weissen Blusen und langen schwarzen Lederportemonnaies, die Kaffee in silbernen Kannen servieren. Angetroffen habe ich Frau Weber. Die silbernen Kaffeekannen sind nur noch im Fotoalbum zu finden – Frau Weber hat sie längst in einem Schrank verstaut. Jetzt nimmt sie einen Stuhl und setzt sich mir gegenüber. Ihre kurzen blonden Haare hat sie sorgfältig frisiert, die Perlenohrstecker werden durch eine passende Kette ergänzt. Sie erzählt, dass die Konditorei Weber bereits von der dritten Generation geführt wird und sie selber dieses Jahr ihr 25-Jahr-Jubiläum feiert. In der Hochsaison im Winter arbeiten 42 Personen in der Backstube, dem Café und in der Konditorei. Geöffnet wird morgens um sechs Uhr, sieben Tage die Woche. Frau Weber erzählt von ihren drei Kindern, die alle in die Fussstapfen ihrer Eltern treten möchten. Sie zeigt Bilder vom Umbau des Ladens. Sie zählt auf, was den Gästen gefällt. Sie erwähnt, wie die Einheimischen anfänglich skeptisch waren gegenüber dem Umbau, und was ihr selber wichtig war bei der Ladengestaltung. Ich höre zu und bin fasziniert.
«D’ Lüt verzelled eim ja alles» Jeder, der regelmässig vorbeikommt, wird mit seinem Namen gegrüsst und freundlich empfangen. Die Chefin verrät mir, dass sie dazu extra eine Namensliste hinter der Theke aufbewahrt. «D’Lüt verzelled eim ja alles», sagt sie und zwinkert mir mit den sorgfältig getuschten Wimpern zu. So wisse man über die Jahre vieles über die Kunden und es sei schön, zu sehen, wie deren Kinder grösser würden und schliesslich ohne die Begleitung der Eltern in der Konditorei vorbei kämen. Als Ausgleich zur Arbeit geht Frau Weber gerne und regelmässig Langlaufen. Wenn’s sein muss, halt auch nachts. Die Loipe sei bis 22 Uhr geöffnet. Ihr Traum ist es, einmal an einem Marathon teilzunehmen. Das glaube ich ihr sofort. Und ich sehe sie bereits, wie sie eine Gruppe von Langläufern schwungvoll überholt. Und flink hinter der nächsten Biegung verschwindet.
Autor: Claudia Ineichen Arbeitgeber: Emmi Schweiz AG Beruf: Group Brand Managerin Wohnort: Zug ZG Nach Jahren beruflicher Tätigkeit im internationalen Marketing hat sich Claudia Ineichen für die Weiterbildung zur PR-Redaktorin entschieden. Weil es einige Dinge gibt, die sie als befreiend empfindet: Barfuss durchs Gras spazieren, an einem heissen Sommertag im See abtauchen –oder eine Beobachtung ganz genau auf den Punkt zu formulieren.
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So fein wollt’ ich sein von Mira Reichert | Januar 2008 Geboren bin ich bei Adank in Davos, aufgewachsen im bewässerten Erdbett. Bevor ich dereinst das Ziel meiner Lebensreise erreiche, vergnüge ich mich im Wellnessbad oder in der kühlen Ruhepause. Ich, das Sunstar-Hotel-Kresseblatt.
Nach einer Viertelstunde ist es Zeit für mich, aus dem Bad und in die Salatschleuder zu kommen. «Bist du bereit? Achtung, fertig, los!» Angelo drückt den Startknopf. Juhui, meine Karussellfahrt beginnt! Was für ein Tempo, was für eine Effizienz, meine feinen Seiten trocken zu bringen.
Grün ist die Plastikkiste, in der ich liege. «Was? 22.50 CHF kostet das Kilo seit gestern?» fragt Kurt. Nicht viel, so finde ich, für all das, was ich zu bieten habe. Kurt ist einer der drei Gardemangers, der die kalte Küche im Griff hat. Um 8.30 Uhr habe ich mich bereits von Adanks Lieferanten verabschiedet und bin in der Küche. Manchmal fahre ich von dort aus auf dem Servicewagen wagen in den Kühlraum. Und manchmal trägt mich Kurt, in meiner grünen Kiste. Das gefällt mir noch besser. Denn Kurts starke Arme find ich cool. Kurt zwinkert mir zu: «Das viele Waren-Schleppen ist halt meine tägliche Fitness!» Ich wundere mich, dass ihm bei so viel Zeitdruck noch immer eine gute Prise Humor bleibt. Im Kühlraum stehe ich immer am gleichen Platz. Dann muss mich niemand suchen. Zeit ist ein kostbares Gut in einer Grossküche, wo für bis zu 480 Gäste gekocht wird.
Pikant Während ich mich munter kreisele und trockne, höre ich, wie Stefan sich mit einer heute anwesenden Reporterin unterhält. «Viele unserer Gäste schätzen die Kresse wegen ihres würzigen Geschmacks. Ein bisschen Pfiff am Schluss obendrauf, auf den restlichen Salat, das ist beliebt.» Pfiff! Auch das hab ich gehört! Stefan, der zweite Gardemanger, stoppt nun meine Karussellfahrt. Er hebt mich aus der gedeckten Salatschleuder heraus, und einen Moment lang blendet mich das helle Neonlicht. Eines davon flackert doch schon so lange, denke ich. Nicht, dass das Stefan nervös macht. Er wirkt auf mich wie die Ruhe selbst.
Frisch «Weisst du, was ich am meisten an dir mag? Deine erfrischende Seite, mit dieser leicht bitteren Note.» Komplimente von Kurt lass ich mir gern gefallen, klarer Fall! Zwei Stunden später bringt mich Kurt aus dem kühlen Vorratsraum hinaus in die Küche. Hier muss ich nur so lange warten, bis Angelo genügend Wasser für mein Bad eingelassen hat. Das Schwimmen, diese schwebende Leichtigkeit, die tut mir gut. Während ich dem Plätschern im Nebenbecken zuhöre, beginnen meine schwarzen Samen an den Boden des Beckens abzusinken. Ich selbst schwimme natürlich obenauf, bin ja leicht und fein. 34
Unterdessen liege ich schon in der grossen Glasschüssel und blicke an die Klarsichtfolien-Decke über mir. Auf einem Rollwagen befinde ich mich und warte auf den Salat, der mit mir die Reise in den Kühlraum antreten wird. Ich halte kurz inne – dieser Geschmack der angebratenen Lachsforellen, der ist ja schon fast aufdringlich! Obschon nicht im gleichen Raum wie ich, so rieche ich ihn bis hierhin. Da bin ich doch zurückhaltender, denke ich. Mich muss man schon zwischen den Fingern zerreiben, um meine pikante Note zu entdecken. Nun, vorerst fahre ich in meine wohlverdiente Pause. Das jüngste aller Kresseblättchen bin ich ja auch nicht mehr. Vorbei am Kontrollblatt, das an der Tür zum Pausenraum klebt und auf dem Kurt oder Angelo oder Stefan einträgt, wie kühl es ist. Im Kühlraum drin gleich links ist
das Thermometer, das 4,5 Grad anzeigt. «Brrrrrrr, die Umstellung von der warmen Küche ist schon arg, findest du nicht auch?», frage ich den gehackten französischen Peterli, der neben mir auf dem Silbertablar steht. Doch er und die vielen winzigen Schnittlauch-Rollen haben den Kälteschock längst überwunden. Scharf Ein Tomaten-Schnitz mischt sich in unser Pausengeplauder ein. «Weisst du, was ich gestern über dich hörte, als ich auf dem Buffet lag? Ein Gast sagte, Kresse könne er nicht essen, die sei ihm zu scharf!» Das nehme ich selbstbewusst auf und denke einfach an all die Komplimente von Kurt und Stefan. Selber schuld schliesslich, wer auf ein solch intensives Geschmackserlebnis mit mir verzichten will. Und auf die vielen Vitamine, die ich zu bieten habe. Aber da ist ja auch noch die hellrote Pomodori-Secchi-Terrine neben mir. Vielleicht findet dieser Gast mit ihr Trost, denn sie ist mild. Besser geeignet für anspruchslose Gemüter. Ich widme mich dem rollenden Geräusch des Kunstwindes, der aus dem Kühlventilator kommt, und hierbei entspanne ich mich. So kann ich mich auf eine mentale Reise begeben. Das gelbe Schild neben mir mahnt mich daran, dass ich mich meinem absoluten Ziel nähere: «Dressing italienne». Das Mis-en-Place ist perfekt, alles gerüstet fürs Finale. Sentimental stimmt mich das nicht. Zu klar ist meine Bestimmung. Grüner geht’s nicht Auf dem Salatbuffet werde ich sein, inmitten lauter anderer Kresseblättchen. Vielleicht sind ja heute Abend viele der Gäste konservative Geniesser, so wie es der Herr war, von dem mir der Tomaten-Schnitz in der Pause berichtete. Dann werde ich wieder in die Küche zurückreisen, wenn das Salatbuffet geschlossen ist. Dann wird Kurt so gegen 21 Uhr
zum grossen Messer greifen und mich in kleine Stücke hacken. Meine Einzelteile aufladen auf sein grosses Messer, um mich in eine kleine Schüssel hinein abstreifen zu können. Im kalten Wasser wird er mich pürieren und abpassieren, sodass eine einheitliche knallgrüne Suppe zurückbleibt. Diese wird er auf 80 Grad erhitzen, damit sich das noch verbleibende Wasser vom Farbstoff trennt, dem reingrünen Chlorophyll. Hier bin ich in meiner reinsten Form angekommen. Habe meinen Zustand geändert, aber dabei das Beste meiner Wesensart zur Geltung bringen können. Kurt wird meine natürliche grüne Farbe für eine ganz spezielle Terrine verwenden. Das wird mein intensives Leben im Dienste des Genusses gewesen sein. Wie vielfältig! So vielfältig wie meine Charaktereigenschaften. Nichts werde ich missen wollen, wenn ich dereinst zurückdenke, an meinen schwarzen Samen und meine feine weisse Gestalt. Dann – wenn ich dort bin, im Grünen.
Autorin: Mira Reichert Arbeitgeber: angestellt bei Saisonküche und Credit Suisse selbständig mit: www.cuisiniera.ch Beruf: Redaktorin; Geschäftsführerin Funktion: Kommunikation; Gastköchin Wohnort: Zürich Am Anfang war das Hobby: Kochen. Noch während des Anglistikstudiums wurde es immer mehr zu meinem Beruf. Und doch blieb da … die Passion für Sprache. Erstmals kombiniert habe ich meine beiden Leidenschaften in der Reportage über das Davoser Sunstar-HotelKresseblättchen.
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Eintauchen in den Steinschlagwald von Davos von Markus Brupbacher | Juli 2007 Da steht schon eine. «Wo?» Da, neben dem Parkplatz. Und dort drüben auf dem Golfrasen noch drei. Eine kleine und zwei grosse. Hinter dem Hotel versteckt sich eine ganze Gruppe, eng beisammen. Doch es sind versprengte Grüppchen, die da zwischen den Hotelanlagen herumlungern. Die grosse Masse fliesst von den steilen Hängen direkt auf Davos zu. Erst kurz vor den Häusern kommt sie zum Stillstand. Als Sägeblatt verzahnt sie sich mit dem Himmel. Sie wirkt düster, unheimlich. Wir fahren los. Bei der Einfahrt ins Tal nähert sie sich uns wieder von beiden Seiten. Der Motor verstummt. Wir hören das Rauschen in den Wipfeln. Wir steigen aus und warten auf die anderen. Da kommen sie, und auch der Herr Zuber: «Willkommen zur Exkursion in den Steinschlagwald in Davos!» Und im Halbkreis hinter und über uns ist es still – in den Wipfeln der Fichten.
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Mikado für Riesen und Zwergenwald Die Klasse der «Baumschule» ist komplett. Der jüngste Teilnehmer, Andrea, möchte später Förster werden. Wir sind eine Gruppe von zehn Leuten und einem Hund. «Wem gehört der Hund?» Wir gehen los. Es ist sehr warm und hell. Vor uns die schwarze Masse – der Wald. Und dann tauchen wir ein. Es ist kühl. Frisch. Es harzt. Grosse Felsbrocken liegen herum, überzogen mit Moos. Inmitten von lauter Bäumen den Wald nicht sehen? Herr Zuber möchte uns die Augen öffnen für den Wald – und: «Ein Fichtenwald ist nicht nur ein Fichtenwald – er hat viele Gesichter.» Er will sie uns zeigen. Vieles kann dem Wald zusetzen – Stürme, Schneelasten, Waldbrände, der «Holzhunger» der Besitzer und der Borkenkäfer. Die Hauptfunktion dieses Waldes ist der Schutz vor Steinschlag. Oben das Rauschen in den Wipfeln, unten im Tal das Rauschen des Verkehrs auf der Flüelapassstrasse. Die gilt es vor allem zu schützen. Und jeder Felsbrocken, der sich in diesem Wald verfängt, verkeilt, kommt unten nicht an. In diesem Wald gibt es mehrere Wälder. Wir kommen an einer Stelle vorbei, wo ein starker Sturm vor Jahren die Kronendecke des Waldes aufriss und die Baumstämme durcheinanderwirbelte. Jetzt liegen sie kreuz und quer. Mikado für Riesen. Dann ein Wald mit kleinen Bäumen und vielen Felsbrocken, überzogen mit Moos. An den knorrigen Ästen zottige Flechten. Bärte. Heidelbeeren. Wir stehen in einem uralten, zugewachsenen Steinschlagfeld. Zwischen den Felsen tiefe Löcher, verwinkelte Gänge. Wenn es Zwergen gäbe, dann hier. «Bei diesen Öffnungen kommt Kaltluft raus, ein paar Grad kühler. Früher hat man da Wein und Käse gelagert», erzählt Zuber. Uns knurrt der Magen. Und dann passierts. Ein Fotoapparat fällt, weich abgefedert vom Moos, lautlos, in eine der vielen verborgenen «Zwergenhöhlen». Doch er findet wieder raus.
Bange Blicke nach oben Vom kühlen Märchenwald gehts weiter hoch in die gleissende Schutthalde. Tapfere Bäumchen trotzen den herabstürzenden Felsbrocken. Auf dem Weg liegt frisch gebrochener Fels. Bange Blicke nach oben. Hält das? Ein heftiger Windstoss. «Wem gehört eigentlich der Hund?» Jeder von uns dachte, er gehöre dem anderen. Also gehört er zu uns. Er taucht immer wieder in den Wald und kommt dann irgendwann und irgendwo wieder raus. Herr Zuber gibt uns einen Bestimmungsschlüssel in die Hand, um uns die Augen für die Wälder im Wald zu öffnen. «Die Standortkunde ist entscheidend für die richtige Pflege des Waldes. Ich habe immer Krach gehabt mit den Försterkollegen deswegen», sagt Zuber und lacht. «Manchmal ist es besser, man lässt die Natur einfach machen. Sie sucht ihre Wege – und findet sie.»
Autor: Markus Brupbacher Arbeitgeber: Kraftwerk Werbeagentur Beruf: Texter, PR-Redaktor Wohnort: Winterthur Der Absolvent des schweizerisch-italienischen Kunstgymnasiums studierte an der Universität Zürich Politikwissenschaft, Philosophie und Völkerrecht (lic.phil.) mit Schwerpunkt politische Kommunikation. Für die Kraftwerk Werbeagentur textet er in den Bereichen klassische Werbung und Direct Marketing. Neben dieser Tätigkeit bildete er sich beim SPRI / Schweizerische Text Akademie zum CAS PR-Redaktor weiter.
Wir gehen den gleichen Weg zurück ins Tal – wir erkennen den Wald nicht mehr. Wir sehen ihn anders. Aufgemacht haben wir uns in den Wald, in «die dunkle Masse». Zurückgekehrt sind wir aus den Wäldern. Wir haben vor lauter Wäldern den Wald nicht mehr gesehen. Und wo ist eigentlich der Hund? Er hat uns die ganze Zeit unserer Exkursion begleitet. So unverhofft er aufgetaucht ist, ist er wieder abgetaucht. In einen der vielen Wälder im Wald.
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Jöris Energieschübe auf dem Kirchturm von Heinz Egger | Juli 2003 Er schüttelt vorsichtig ein schwarzes Tütchen über der hohlen Hand. Zwei dunkle Nägel rutschen heraus. «Die könnten eine Geschichte erzählen», schmunzelt Jöri von Balmoos. Die beiden schlanken Stifte sind handgeschmiedet. Sie haben während über 230 Jahren Schindeln auf dem Helm des Kirchturms gehalten. «Ich sammelte einige davon. Es lässt sich daraus doch bestimmt ein Schmuck herstellen. Eine kleine Erinnerung an die Arbeit auf dem Turm», ergänzt Jöri mit einem Leuchten in den Augen. Seit Mitte April läuft die Aussenrenovation der Kirche St.Johann in Davos Platz. Am Bettag soll mit einem Gottesdienst deren Abschluss feierlich begangen werden. Jöri wollte ganz nah bei dieser Erneuerung dabei sein, deshalb heuerte er beim Dachdecker an, um beim Neueindecken zu helfen. «Nein, meine Grundausbildung ist nicht Dachdecker. Ich habe aber nach der Matura als Journalist gearbeitet. Das Dachdecken kannte ich schon ein wenig, allerdings nicht mit Schindeln. Aber wenn einer nicht gerade zwei linke Hände hat, dann ist es keine Hexerei.» Der tiefere Grund aber, diese Nähe zu suchen, liegt in der Dokumentation, die Jöri zu den Arbeiten erstellt. Umfassend soll seine Darstellung werden. So setzt er sich auch eingehend mit der Geschichte der Kirche auseinander: Ein erster Bau stammte aus dem 13. Jahrhundert. Schon dieser besass einen Turm, den heute noch erhaltenen, kleinen Ost-Turm. Ende des 15. Jahrhunderts entstand der grosse, über siebzig Meter hohe Hauptturm, dessen Helm diesen Sommer ein neues Kleid erhielt.
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«Und wia händers mit dr Höhi?», fragt er, bevor wir mit dem Gerüstlift auf die Höhe des Glockenstuhls hinauffahren – eine luftige Höhe von gut dreissig Metern. Hier beginnt der Helm. Rotgolden glänzen die neuen Schindeln im Sonnenlicht. Vier bis sechs Lagen dick liegen sie übereinander – ein absolut dichter Mantel. Die Schindeln sind alle aus Davoser Lärchenholz, geschlagen auf der linken, der schattigen Talseite. Damit sie lange halten, müssen sie durch Spalten gewonnen werden. Nur so bleiben die Fasern unverletzt und weisen das Wasser ab. Jöris Blick gleitet fast zärtlich die unendlichen Reihen von regelmässig angeordneten Schindeln hinauf: «Die Flächen zwischen dem östlichen und dem südlichen Wimperg habe ich fast alleine gedeckt. Knifflig waren die ersten Meter, wo der Anschluss an den gemauerten Wimperg und der Übergang in den achteckigen Helm zu schindeln waren. Fast jede Schindel musste ich zuschneiden.» In einer eleganten Kurve laufen die Linien der Helmspitze zu. Der Dachstock aus Tannenholz von 1588 verdrehte sich in den ersten fünfzig bis sechzig Jahren durch Witterungseinflüsse um nahezu 45 Grad. «Es gibt Leute, die sagen, das sei Ausdruck der negativen Energien, die vom Turm hinunter direkt ins Rathaus nebenan flössen. Darum laufe es in Davos auch nicht so rund», meint Jöri mit einem Augenzwinkern. Sieben Wochen lang stand er auf dem Gerüst. Anfangs tat er es mit etwas weichen Knien. Er sei zwar schwindelfrei, er klettere sonst auch, aber erst habe das Vertrauen in die Konstruktion wachsen müssen. «Wahre Energieschübe trieben mich dann an, eine Art Höhenrausch und das Gefühl der Stärke packten mich. Das war dann
auch die Zeit der unterschätzten Gefahren», beschreibt er seinen Zustand während der Arbeit. Passiert ist nichts Gravierendes: kleine Verletzungen wie Splitter unter der Haut oder auch einmal ein kleiner Schnitt. Die Arbeit war streng, denn die festen Abhänge der Gerüstetagen zwangen ihn, in den verschiedensten Haltungen zu arbeiten: kauernd, kniend, gebückt, aufrecht und so gestreckt, wie es nur ging. Das Wetter war ausgezeichnet. Warm und trocken war es meist. Nie war die Arbeit für mehr als einen Tag unterbrochen. Während Jöri mit der Filmkamera in den Etagen des Gerüsts verschwindet, um die Arbeiten am Putz zu dokumentieren, warte ich im Glockenstuhl. Mein Blick fällt auf Abfälle, die auf einem Sims liegen: Metallklammern aus der Heftpistole, mit denen die neuen Schindeln befestigt wurden, helle und dunkle Holzsplitter, glänzende Stahlstifte. Ich schiebe mit den Fingern die Holzteile etwas auseinander und entdecke ein Kleinod. Krumm, oxidiert, vierkantig mit einem klobigen Kopf: Ein Nagel von 1769 – daraus liesse sich doch etwas machen ...
Autor: Heinz Egger Arbeitgeber: Holcim (Schweiz) AG Beruf: Sekundarlehrer phil. I Funktion: Content Manager Wohnort: Pfäffikon ZH Sprache war für Heinz Egger immer zentral. Ohne vertiefte Kenntnisse der deutschen Sprache hätte er keine seiner Anstellungen ausfüllen können. Heute betreut er für die Holcim Schweiz die Hauszeitung und wirkt als Redaktor für Texte der internen und externen Kommunikation.
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Im Belvédère hängen geblieben von Corina Gyssler | Januar 2005 Unweigerlich verengen sich meine Augen. Das helle Licht zwingt sie dazu. Mit Wucht strahlt das Sonnenlicht von der weissen Fassade zurück. Eine Sonnenbrille täte meinen Augen in diesem Moment gut. Imposant steht das Gebäude da, im glanzvollen Historismus erbaut. Fünf schlichte goldene Sterne zeugen von Qualität und Standards. Wie viele Staatspräsidenten wurden hier wohl schon vom Concierge empfangen? Wie viele Könige haben den säulenumrahmten Eingang schon betreten? 129 Jahre alt und noch kein bisschen Greise. Das «Belvédère» – ein Grandhotel mit Gesicht und Charakter. 24. November 1998. Erster Arbeitstag für Hans Escher. Eigentlich kam er nur für vier Monate ins «Belvédère». Doch er blieb. Angefangen hat er als Chauffeur. Sechs Jahre steht er nun im Dienst des Hauses. Klein, zierlich, aufrecht. Fast etwas drahtig. Im eleganten dunkelblauen Anzug begrüsst mich der Concierge und nimmt mich mit auf eine Tour hinter die Kulissen des Hotels. «Ich kam, sah und blieb», schmunzelt Hans. «Dieses Hotel hat mich von Beginn weg gepackt.» Die familiäre Atmosphäre zur Direktorenfamilie Wyrsch sei das Geheimnis für den wirtschaftlichen Erfolg des Hauses, meint Hans. «Der Direktor hat ein gutes Händchen für Personal und Serviceleistungen.» Das muss wohl stimmen, denn seit 1997 hat das Hotel den Turnaround geschafft. Jetzt schreibt es schwarze Zahlen.
Hans führt mich durch lange Gänge. Die Geräusche unserer Schritte versinken im Teppich. Erster Halt ist in der Waschküche des Personalhauses. Hans erklärt, dass dieser nüchterne Raum in der kommenden Woche der strategisch wichtigste Punkt im Hotel ist. «Noch nimmt man es nicht wahr, doch dann herrscht hier der ‹Tiifu›», erklärt mir Hans; zwar in Hochdeutsch, aber mit starkem Walliser Akzent. Aha, dann herrsche hier der Teufel, meint er. Dann tagt nämlich während fünf Tagen das World Economic Forum. Die Waschküche wird zur Satellitenküche mutieren. Aus dem Schwimmbad wird ein Theater. 3000 Gäste dinieren, trinken und palavern hier um die Wette. Den Gästen wird jeder noch so exzentrische Wunsch erfüllt. Und die Dukaten rollen: Ein Viertel des Jahresumsatzes wird an diesen fünf Tagen gemacht. Wir steigen ins Untergeschoss und laufen durch einen langen Gang. Die Luft ist feucht und schwer. Links steht eine Reihe Skier und Snowboards des Personals, rechts öffnet Hans eine kleine Luke in der Wand. Ein kalter Wind bläst mir aus dem Schacht ins Gesicht und weht mir das Haar senkrecht hoch. Hans fragt: «Wussten Sie, dass das ‹Belvédère› auf einen Bach gebaut wurde?» Jemand vom Personal kontrolliert den Schacht bei starkem Regen oder Schneefall, um Überschwemmungen in den unteren Geschossen frühzeitig zu erkennen. Als Nächstes zeigt mir Hans den Weinkeller. Dann schleust er mich durch weitere Gänge. Wir biegen mehrmals nach links und rechts ab. Die Orientierung habe ich in diesem Labyrinth längst verloren. Dann führt mich der ehemalige Bergsteiger die Treppe hoch. Plötzlich steigt die Raumtemperatur massiv an. Chrom und Metall glänzen von allen
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Seiten. Sonnenlicht durchflutet den Raum. Wir befinden uns in der Lingerie im Erdgeschoss. Die Luft ist weich und duftet sauber. Sofort überkommt mich ein Gefühl von Wohlbehagen, das frisch gewaschene Wäsche immer bei mir weckt. Acht Personen arbeiten hier und waschen auch die Wäsche anderer Hotels. Hans streicht fein mit seiner Hand über einen Stapel Tücher und erklärt: «Im Sommer herrscht hier eine drückende Hitze. Dann beginnen die Arbeiterinnen bereits um vier Uhr morgens, um möglichst bei kühlen Temperaturen die Arbeit zu verrichten.» Hans führt mich durch die weiteren Stationen: Hauptküche, Speisesaal und Tagesrestaurant. Dann tauchen wir wieder im gedämpften Licht der Lobby auf. Dort verrät mir Hans, wie er zum «Belvédère» gekommen ist. «Nachdem mein Sohn Pfarrer und meine Tochter Anwältin wurden, habe ich mich entschlossen, ins Hotelfach einzusteigen.» Und bevor er leicht und elegant wieder hinter die Rezeption verschwindet, schmunzelt er mit Stolz: «Ich glaube, das Gastgewerbe ist die beste Lebensschule.»
Autorin: Corina Gyssler Arbeitgeber: WWF Schweiz Beruf: PR-Fachfrau/PR-Redaktorin Funktion: Kommunikationsbeauftragte Wohnort: Zürich Neben Natur und Umwelt liegt Corina Gyssler Kultur am Herzen. Als Freelancerin engagiert sie sich für kulturelle Projekte, konzipiert und begleitet sie kommunikativ, damit sie auf einen langfristig nachhaltigen Weg gelangen.
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Von fitten Senioren und jungen Egosportlern von Didier Mayenzet | Juli 2010 Hilfe! Sommer, Morgensonne, Wärme. Und ich? Ich stehe mit einer Gruppe Senioren vor einem Davoser Hotel, bereit, zusammen mit ihnen zu wandern. Mit einer ganzen Gruppe wohlverstanden. Ich, der Egosportler. Nicht allein auf meinem geliebten Strassenrad. Die Pässe erklimmend und meinen Fitnessstand testend. Mit jedem Vorausfahrenden im imaginären Wettkampf stehend. Mein Ego aufbauend – eben. Nein! Ich muss stattdessen – begleitet von drei jungen Damen mit derselben Aufgabe – eine Reportage schreiben. Was erwartet uns? Alte Leute, die vermutlich lustige Geschichten erzählen? Dazu wohl sehr gemächlich wandern? Nach der ersten halben Stunde mit Jammern beginnen? Viele Pausen einlegen? Um danach ganz zu kapitulieren? Weit gefehlt! Morgenappell! Manfred, Sieglinde, zwei Margrits, Emil, Heidi, Karl, Frieda, Hans, Liselotte und Robert heissen die Wanderfreunde. 840 Lebensjahre mit bodenständigen Rufnamen stehen vor mir. Wenig Runzeln. Keine Bierbäuche. Sportliche Kleidung. Und Rucksäcke bepackt mit 22 ultraleichten Wanderstöcken. Nur die Wanderschuhe erinnern mich an meine Pflichtwanderungen im Kindesalter. «Vermutlich nehmen wir euch am Schluss Huckepack», meint Robert. Er mustert dabei Nicoles lange, in Bluejeans gehüllte Beine. Nehme ich da erste Anzeichen eines Wettkampfs wahr? Nein, Robert steht auch auf lange Beine und hat die Zeit der Wettkämpfe hinter sich. So glaube ich jedenfalls.
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Endlich. Es geht los. Die aktiven Senioren bewegen sich gemächlich an den Bahnhof. Margrit achtet beim Überqueren der Strasse auf dem Fussgängerstreifen, dass alle passiert haben. Die Funktion als Schlusslicht sei sehr wichtig. Am Montag habe eine Gruppe ohne Schlusslicht nicht bemerkt, dass die Hinterste auf der Strecke blieb. Aha, da machen tatsächlich welche schlapp. Und der Karl: Der würde lieber den Panoramawagen des Bernina-Express besteigen. Das könnte ihm so passen. Jetzt wird der Körper bewegt! 9.36 Uhr. Davos Glaris. Surren und quietschen. Der letzte Transport ohne eigene Körperleistung. Die Gondelbahn zur Bergstation Rinerhorn. Manfred nimmt einen letzten Schluck aus der verbeulten SiggFlasche. Aha, die Flasche hat schon manche Wandertour hinter sich. Er und seine Sieglinde wandern seit über 20 Jahren regelmässig. «Letzte Woche hatten wir im Engadin nur einen Tag Regen», meint Hans im breiten Berndeutsch. «Wohnst du im Engadin?», frage ich. Nein, er wandert im Sommer mehrere Wochen, seit Jahren. Sind meine Vorurteile falsch?
Bergstation Rinerhorn. Jetzt geht es endlich los. Ursina macht den letzten Pinkelaufruf. «Ist das nächste Restaurant weit?», erkundigt sich meine Reporterkollegin Patricia. Schlusslicht Margrit erstaunt diese Frage. «Restaurant! Welches Restaurant? Wir wollen doch wandern!» Schon klicken die ultraleichten Wanderstöcke. Das Bergpanorama ist genial, die Temperatur ideal, die Stimmung friedlich. Und das Tempo? Das Tempo stimmt auch. Die Gruppe bewältigt den ersten Aufstieg mühelos. Ich lasse mich zurückfallen – hinter Margrit – und will ein Bild knipsen. Das «Schlusslicht» dreht sich um und erklärt mir dezidiert den Unterschied zwischen Wandern und Spazieren. Natürlich wandert diese Gruppe und natürlich muss ich mich vor ihr einreihen. Ordnung muss sein! Robert powert an der Spitze. Nur ein Halt erlaubt mir das Aufschliessen zu ihm. Leider könne er jeweils nur zu Beginn der Woche mit der ersten Leistungsgruppe mithalten. Danach wechsle er in diese Leistungsgruppe. Aha, ich – der vermeintlich fitte Egosportler – muss mich bereits in der zweiten Liga sputen. Und dann erklärt Robert noch, dass er vor 22 Jahren ein Augenlicht verloren hat. Jetzt bin ich platt. Meine anfängliche Skepsis weicht der Ehrfurcht. Diese Senioren sind fit, hart im Nehmen und wissen dazu noch allerhand. Schlusslicht Margrit erklärt mir die gesamte Flora und die Wirkung der Pflanzen – ohne je in Atemnot zu geraten.
Ich habe heute erfahren, dass mein Strassenrad und meine Egotrips später durchaus den Wanderschuhen und dem Gruppenerlebnis weichen dürfen. Und zu guter Letzt: Robert hatte mit seiner Vermutung, Nicole Huckepack nehmen zu müssen, beinahe Recht. Ursinas Schnürsenkel bewahrten uns von dieser Schmach. Sie hielten Nicoles Sohle und Schuh zusammen.
Autor: Didier Mayenzet Arbeitgeber: Gemeinde Meilen Beruf: Gemeindeschreiber Wohnort: Meilen ZH Didier Mayenzet arbeitet seit fünf Jahren als Gemeindeschreiber der Gemeinde Meilen und seit zwei Jahren wohnt er auch in der Gemeinde. In seiner Funktion führt er über 100 Mitarbeitende und verantwortet sämtliche Kommunikation nach aussen. Privat treibt er Ausdauersport.
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Schwimmfest im Schnee: Wer trainiert ist, läuft am längsten von Marie-Christine Schindler | Januar 2004 Carbon Gripwax Silver, Dibloc High Fluoro, Swix Krystal, Björn Dahlie «technical wear» – seit dreissig Jahren bekommt man bei Andy Hofmänner in Davos alles für den Langlauf. Wer es wissen will, kommt zu ihm – so auch wir. Für die ersten Gehversuche auf Langlaufski vertrauen wir uns Urban Meier an. Die «Hofmänner» statten uns aus. Die Schuhe sind herrlich leicht – wie Pantoffeln – und das Etikett «autoFIT» stimmt mich hoffnungsvoll. Die Ski sind federleicht, die Stöcke ungewohnt lang – «Skater brauchen Stöcke, die bis zum Kinn reichen», lernen wir.
Schnee gibt, bin ich nach Davos gezogen», gibt sich unser Lehrer freundschaftlich-kommunikativ, ohne dabei je aus dem Gleichgewicht zu geraten. Natalie fährt Snowboard. Yvonne scheinen die Übungen dank Kunstturnen und Ballett leichter zu fallen als uns. Ruth hat vor Jahren das Skilehrerpatent gemacht: «In Langlauf hatte ich eine schlechte Note.» Isabelle ist ein Bewegungsmensch und mit allen möglichen Sportarten vertraut – mit Langlauf noch nicht. Dominic ist ein Jogger und Marathonläufer. Mit meinen SnowbladeErfahrungen, gepaart mit der Schwäche für «Hütten-Kafi» in der Sonne, ahne ich, was kommen wird.
Pinguin-Ballett Draussen im Schnee versuchen die Schuhe in die Bindung zu kommen – kein leichtes Unterfangen, wie sich herausstellt. Der Skilehrer hilft: «Es spielt keine Rolle, ob ihr die Ski links oder rechts an den Füssen trägt, Hauptsache, die Spitze ist vorn!» Und dann legt er los. Während wir mit der Eleganz von Pinguinen in Ballettschuhen erste Bewegungsübungen machen, stellen wir uns vor. «Ich schlage vor, wir nennen uns beim Vornamen. Ich bin der Urbi und komme aus Chur, der ältesten Stadt der Schweiz. Und weil es in Chur zu wenig
«Urbi» et Orbi Der Segen bleibt in jeder Hinsicht aus. Der 40-jährige Bündner versucht uns in der kurzen Zeit von Langlauf so viel beizubringen wie möglich. Links und rechts ziehen Wintersportler an uns vorbei. Die behäbige Dame im violett-grünen Anorak und mit Mütze aus den Fünfzigerjahren läuft im Classic-Stil: mit weichen Schuhen, Stöcken bis zur Schulter und Schuppen an den Ski. Sie darf in der Spur fahren – Skater bewegen sich dynamischer und ausladender, wobei das Sertig ihnen aus Platzgründen verwehrt bleibt. Wir starten in der «Hampelmann»-Technik, schwanken hin und her, bis Yvonne als Erste in den Schnee stürzt. «Es gibt dreissig verschiedene Schneekristalle und Schnee schmilzt, wenn er sich auf über null Grad erwärmt», belehrt uns Urbi und erklärt, wie man wieder aufsteht. «Hoi Urbi», «Sali Rösli», tönt es neben mir, während ich mich abmühe und versuche, alle Ratschläge auf einmal zu befolgen. Mein erster Sturz – ich habe ein Steissbein.
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Anfänger neben Spitzensportlern Es ist elf Uhr. Die Glocken der nahen Kirche St. Johann läuten. Ein Mann mit spinnendünnen Beinen zieht im Rhythmus des Geläuts vorbei – links, rechts, links, rechts. Eine dunkelhaarige Frau mit Indianergesicht in hellblauer Jacke läuft so langsam, dass sie umzufallen droht. Überholt wird sie von der 23-jährigen Seraina Mischol. Die junge Davoserin gilt als Nachwuchstalent im Weltcup. Der Innerschweizer Patrick Mächler, der gerade mit beneidenswerter Leichtigkeit den Nachbarhang bezwingt, hat letztes Jahr den Engadin Marathon gewonnen. Ein Spitzenläufer bringt es – je nach Wind – auf 45 bis 49 km/h und bergab sogar auf 60 km/h. 11.30 Uhr. Isabelle braucht Schokolade, sie ist im Schuss. Mein Steissbein schmerzt. Und Urbi belehrt uns weiter, erzählt von Winkeln in allen Grössen und vom asymmetrischen Schlittschuhschritt. Wie es wohl Roger de Weck, Stéphane Chapuisat oder Roy Hodgson erging, als sie mit ihm auf der Loipe waren? 11.40 Uhr. Nathalie und ich sind uns einig: Skaten ist nicht unser Sport. «Ohne weitere Stürze durchhalten», heisst jetzt die Devise. Langlauf kennt keine Altersgrenzen. 102 Jahre alt war der älteste Läufer, der aus Deutschland nach Davos anreiste. Die dreieinhalbjährigen Zwillinge Seijamarie und Annika bereiten sich mit ihrer finnischen Mutter Nina und dem Davoser Papi Dani auf ihre Ferien vor: In einer Woche reisen sie nach Helsinki.
Schwere Anfänger machen grosse Löcher Ich habe aufgehört zu denken und handle nach Instinkt – das geht besser. Auch den Hügel schaffe ich, wenn auch begleitet von Adrenalinschüben. Im Langlaufzentrum verabschieden wir uns von Urbi. «Ihr wart eine gute Gruppe. Die Schlimmsten sind die Oxford-Ruderer: zwei Meter gross und sehr schwer. Wenn die stürzen, dann machen sie die grössten Löcher.» Beim Abgeben der Ski beim Hofmänner Sport ist den einen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, die anderen wären gerne noch weiter gelaufen. In Davos warten 75 Kilometer Loipen auf sie und dank Beleuchtung können sie sogar nachts laufen.
Autorin: Marie-Christine Schindler Arbeitgeber: Schweizerische Text Akademie Beruf: dipl. PR-Beraterin / CAS PR-Redaktor / CAS Corporate Publisher und CAS Texter Funktion: Kommunikation und Beratung Wohnort: Zürich Kommunikation und die Liebe zur Sprache sind ihre treuen Begleiter –beruflich wie privat. Papier und Schreiber gehörten zu ihren wichtigsten Utensilien. An ihnen hielt sie sich fest. Bis zu jenem Reportageerlebnis in Davos, das Marie-Christine Schindler lehrte, wie schön Schreiben mit allen Sinnen ist.
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180/75/A –ab auf die Piste von Markus Pieren | Januar 2005 In den Sportgeschäften sehen wir sie wieder, die jungen, ausgeflippten «Skimen». Wie die Wandervögel kommen sie mit dem ersten Schnee. Und wenn er schmilzt, sind sie wieder weg. Sind es wirklich nur Aussteiger, Tagelöhner und Sonnyboys? Nein, 180/75/A sind nicht die Traummasse von Claudia Schiffer. Die Ziffern stehen für etwas anderes. Nun aber alles der Reihe nach. Werner und Rita Schuler stehen im Sportgeschäft Angerer an der Promenade in Davos und werden vom Skiman Matthias Ehrsam beraten. Im Computer steht, dass Schulers vor einem Jahr Völkl-Ski gemietet haben und dass sie gute Skifahrer sind. Ausgestattet mit diesen Vorinformationen zeigt Matthias den beiden eine Auswahl von verschiedenen für sie geeignete Ski. «Werner, was denkst du, passen die grünen Atomic zu meinem Skianzug?» «Nein, nimm den roten Völkl», meint er. Nach weiteren drei Paar Ski, die ihr von Matthias gezeigt werden, entscheidet sie sich für den roten Völkl. «Der gefällt mir am besten und vor einem Jahr bin ich mit ihm gut zurecht gekommen», lautet ihre Begründung. Jetzt liegt die Wahl bei Vater Schuler.
Matthias will wissen, ob sich sein skifahrerisches Können verändert hat. «Sind Sie ein mittelmässiger, guter oder sehr guter Skifahrer?» «Na ja, ich mache auf den Ski eine gute Figur, als Könner würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen.» «Dann empfehle ich einen sogenannten A-Ski (Allroundski). In dieser Kategorie ist der grüne Atomic sehr beliebt. Er dreht leicht und auf eisiger Piste hat er gute Kanten», so der Fachmann. «Gut, ich nehme ihn. Bist du damit einverstanden, Rita?» «Er gefällt mir, nimm ihn. Wenn du damit nicht klarkommst, kannst du ihn ja umtauschen, nicht, Herr Ehrsam?» «Selbstverständlich, jederzeit.» «Herr Schuler, wie gross sind Sie, welches Gewicht bringen Sie auf die Waage und haben Sie die Skischuhe dabei?», lauten die Fragen, die der Skiman stellen muss, damit er die Skibindung einstellen kann. «180 cm, 75 kg und die Skischuhe sind da», so die prompte Antwort. Jetzt ist auch klar, was es mit den Ziffern 180/75/A auf sich hat. 180 steht für die Grösse in Zentimeter, 75 für das Gewicht in Kilogramm und A für Allroundski. Nach einer halben Stunde verlassen die beiden Zürcher Feriengäste – topausgerüstet und bereit, die Pisten unsicher zu machen – das Sportgeschäft. Noch vor einem Jahr hätte Ehrsam seine heutigen Kunden vielleicht am Bankschalter bei der Aargauer Kantonalbank in Aarau beraten. Dass sie sich jetzt aber in Davos begegnet sind, ist eine andere Geschichte. Bankschalter – Surfparadies – Bergwelt. Das sind in den letzten zwölf Monaten die Etappen des 22-jährigen Unterländers. Damit er endlich die Haare wachsen lassen durfte, kündete er den gut bezahlten Banker-Job. Downunder sind die Haare gewachsen und das Eng-
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lisch hat er in der Schule perfektioniert. Wenn er heute in lässigem Outfit mit Jeans, Pulli und ungezähmten halblangen blonden Haaren im Untergeschoss von Angerer-Sport steht, kann man ihn sich nicht als spröden Banker im dunklen Zweireiher, hinter einem topmodernen, videoüberwachten Banktresen vorstellen. «Wieso eine solche Veränderung?», frage ich ihn. «Bevor ich in zwei oder drei Jahren an meiner beruflichen Karriere weiterarbeiten werde, wollte ich das Leben und die Welt von einer anderen Seite kennen lernen», erklärt der Skiman und künftige HWZ-Student. Die glänzenden Augen hinter der Brille mit schwarzem Rahmen zwinkern einem schalkhaft zu und man spürt, dass er für sich die richtige Wahl getroffen hat. Auf die Frage, was er am liebsten macht, antwortet er: «Die Beratung und den Verkauf von Schutzausrüstungen wie Helm und Protektoren mache ich gerne. Es macht Spass, den Kunden Material zu verkaufen, welches ihre Gesundheit schützt.»
Autor: Markus Pieren Arbeitgeber: Psychiatrische Dienste Graubünden Beruf: Eidg. dipl. PR-Berater Funktion: Leiter Marketing und Kommunikation Wohnort: Lantsch/Lenz Nach einer handwerklichen Grundausbildung (Automechaniker) und einer Handelsschule hat sich Markus Pieren im Bereich System-Marketing (HSG St.Gallen) und Public Relations (SPRI) weitergebildet. Er ist verwitwet und Vater eines 9-jährigen Lausbuben.
Szenenwechsel. Wir sind im Jahr 2020 im Direktionsbüro einer Schweizer Bank. Bankdirektor Matthias Ehrsam berät das Ehepaar Schuler zu seinen Pensionsgeldern und die drei fragen sich, woher sie sich wohl kennen.
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Der Tigerbändiger vom Jakobshorn von Fabrizio D’Aloisio | Januar 2006 Eine Gondelfahrt mit Fritz Gertsch, Kabinenführer der Davoser Jakobs hornbahn Nummer 4. Noch ist die Schiebetüre zu. Dahinter versammeln sich immer mehr Menschen. Bis es 60 sind. Wie schnaubende, ungeduldige Tiger stehen 60 Touristen vor der Tür und warten auf die Erlösung: Wann geht die verhexte Gondel endlich auf? Fritz Gertsch, 54, macht zwei gemächliche Schritte in Richtung des kleinen, roten Kontrolllkästchens in der Bahn. Auf einem der Knöpfe darin steht «Türe auf». Fritz drückt ihn, die Schiebetüre öffnet sich. Manege frei! Die Menschenmenge strömt in die Gondel. Ski- und Snowboardfahrer, kleine und grosse Menschen, Schweizer, Deutsche, Schweden, Italiener. Fritz lässt, jetzt draussen stehend, alle passieren. Bevor die letzten zehn Leute in der Bahn sind, ruft er in urchigem Berndeutsch: «Ufschlüssa, zämarutscha bitteeee!» Die ausländischen Touristen müssen kein Deutsch beherrschen, um zu wissen, was Fritz Gertsch, Kabinenführer der Davoser Jakobshornbahn Nummer 4, meint: Alle rein, aber subito!
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Die Last mit der Überlast Ein einzigartiges Gedränge. Von drinnen sieht man, wie Fritz das Eisengitter vor der Gondel schliesst. Dann macht er einen Schritt zurück und quetscht sich mit dem Rücken zu den Touristen auch noch über die Schwelle in die Kabine. Ganz ohne Murks geht’s in der Hochsaison wohl nie. Kabinen-Schiebetür geschlossen, ist jetzt alles bereit für die Fahrt nach oben, zu den Pisten! Fritz schaut sich die Anzeige zu seiner Rechten an. Man sieht ihm an, dass etwas nicht stimmt. «Überlast, wir sind zu schwer.» Also doch nichts mit Abfahrt. Fritz öffnet nochmals die Tür der Kabine und das Eisengitter, steigt aus, dreht sich um und schaut zu den Skisportlern in die Bahn: «Wir sind zu schwer, drei Leute müssen hier warten und auf die nächste Bahn.» Drei schwedische Touristen machen den ersten Schritt und steigen aus. Nobelpreis-würdig. «So, jetzt sollte es gehen.» Radadadam! Die Kabinentüre ist zu. Die Anzeige blinkt dieses Mal nicht auf. Es geht aufwärts. Prinz Charles? Lieber in die Berge rausschauen Fritz reicht nach seinem Fahrtenbuch und dem gelben, abgenutzten Caran-d’Ache-Bleistift neben der Instrumententafel. Dann wirft er einen kurzen Blick auf seine goldige Uhr und schreibt Zeit und Anzahl Passagiere auf. Gleich hinter Fritz zwei Mädchen im Pubertätsalter im Gespräch: «Sie ist selber Schuld wenn er sie verlassen hat. Wieso hat sie ihm nicht seine Freiheiten gelassen? Mein Freund würde mich umbringen.» Fritz schaut raus in die Berge, sein Gesicht klebt förmlich am verkratzten Plexiglasfenster seiner Gondel. Man sieht dem gelernten Schreiner an, dass er sich nicht für die Gespräche seiner Fahrgäste interessiert, ja vielleicht ist es ihm sogar pein-
lich, zuhören zu müssen. Einmal hat er sogar Prinz Charles und seine Söhne aufs Jakobshorn befördert. Des Öfteren während des WEF auch einflussreiche Politiker und Regierungschefs. Man muss kein besonders gewiefter Menschenkenner sein, um zu wissen: Fritz Gertsch wird auch dann ruhig und gelassen aus dem Fenster geschaut haben. «So Volksmusik …» Gut fünf Minuten dauert die Fahrt von der Zwischenstation Ischalp zum Jakobshorn. Fritz Gertsch macht sie täglich bis zu 70 Mal. Fast die Hälfte davon ist er ganz alleine in der Bahn. Denn Touristen bevorzugen für den Rückweg die Skier. Die Bahn wird langsamer, die Bergstation ist in Sicht. Fritz reduziert die Geschwindigkeit, indem er auf einen der Knöpfe an der Instrumententafel drückt. Langsam dockt die Bahn an, Fritz öffnet die Türe, alle strömen raus. Eine Gruppe aus Zürich macht sich bemerkbar, sie singt «Und die Händeeee, zum Himmeeeel und lasst uns fröhlich sein …» Die Stimmen tönen nach Katerbewältigung, wird wohl eine kurze Nacht gewesen sein. Alle steigen aus. «Gibt es ab und zu Probleme mit solchen?» Er schüttelt den Kopf: «Ach nein, da muss man abschalten, die hören von alleine auf.» In seinen fünf Jahren Dienstzeit musste er nur einmal einschreiten und drohen, die Bahn anzuhalten, weil eine Gruppe angetrunkener britischer Touristen anfing zu hüpfen. «Ist dir nie langweilig, wenn du alleine runterfährst?» «Nein, ich denke dann an das, was man privat so macht. Und ja …, manchmal, da singe ich auch, so Volksmusik.» Ein sympathisches, verlegenes Lächeln und Fritz fährt wieder runter. Die nächsten 60 Tiger einfangen.
Autor: Fabrizio D’Aloisio Arbeitgeber: Kur- und Verkehrsverein St.Moritz Beruf: Tourismus- und PR-Fachmann Funktion: PR-Leiter Wohnort: St.Moritz/Klosters Der Autor ist begeisterter Carver. Und seit Fabrizio D’Aloisio diese Reportage geschrieben hat, auch begeisterter Bergbahn-Passagier.
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Pistenengel auf Abruf: Ein Augenschein beim SOS-Rettungsdienst von Caspar Türler | Juli 2006 Die Pistenpatrouilleure vom Jakobshorn sind stets in Alarmbereitschaft. Schnell am Unfallort zu sein ist Pflicht, denn bei Verschütteten zählt jede Minute. Doch was machen die «Rettungsdienster» zwischen den Einsätzen und während des Januarlochs? Es liegt in einem Zwischengeschoss der Bergstation Jakobshorn, versteckt zwischen dem Ausgang der Bahn und dem Panoramarestaurant: Mit einem breiten Lächeln öffnet der Dienst habende Nick Conrad die unscheinbare Tür mit der Aufschrift «SOS-Rettungsdienst». Sofort empfängt einen der harzige Geruch von frischem Holz, denn die Räumlichkeiten sind erst vor Wochen aufgestockt und neu bezogen worden. Über eine noch mit Bauvlies bezogene Holztreppe, ohne Brüstung, betrete ich den warmen, hellen und grosszügig ausgebauten Dachstock. Links die Kommandozentrale mit verschiedenen Funkgeräten, Laptops, Druckern und verschiedenen Memorabilien aus vergangenen Rettungszeiten. In der Mitte ein grosser, grober Holztisch mit vier Stühlen. Rechts bei der Pinwand («La-
winenhunde – Wetterprognosen – Nachtfahrten») eine alte Holzbank, die gerade erst aufgefrischt worden ist. Der Hobel liegt auf der Bank, auf dem Spannteppich lauter verstreute Späne. «Wir richten uns gerade erst ein», entschuldigt sich Fadri Erni, der zweite und jüngere der beiden Rettungspatrouilleure. Den ganzen Winter über in Skischuhen. Fadri, ein bärtiger, drahtiger, waschechter Davoser von 38 Jahren, ist eigentlich Elektriker und im vierten Winter mit dabei, nebenbei noch Ambulanzfahrer im Spital Davos. Auch Nick hat keinen medizinischen Werdegang, bloss Miriam, die Praktikantin und einzige Frau im Team, ist Hebamme. Von Miriam höre ich während meines Besuchs übers schnarrende Funkgerät einige kurze Sätze. Sie ist auf der Piste unterwegs und versorgt ein verstauchtes Handgelenk. Ein kleiner Fisch, sozusagen. Januarloch. Draussen eine Sinfonie von tiefem Himmelblau und schier endlosen, gleissend weissen Weiten. Die Abfahrten sind nur spärlich bevölkert. Trotzdem bewegen sich die beiden Pistenengel auch drinnen in Skihosen und Skischuhen, denn reagieren können müssen sie blitzschnell. «Die ziehe ich den ganzen Winter nie aus», lacht Fadri. Von der Brieftaube zum Barryvox Von der «Kommandobrücke» kommen immer wieder mal Funksprüche über den Rega-Kanal, aber dies von entfernten Einsatzorten. So kann mir Fadri etwas aus der Geschichte des Davoser Rettungsdienstes zeigen. So zum Beispiel eine Karbidlampe und ein vergilbtes Foto der Brieftauben des Parsennrettungsdienstes. Er entstand als einer der ersten in Europa mit dem Aufkommen des Wintersports. Die sportverrückten Engländer bauten Bobbahnen und
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erklommen die Gipfel rund um Davos, noch bevor die Bergbahnen gebaut wurden. Mittels Brieftauben wurden damals die Standorte der verletzten Skiläufer ans Weissfluhjoch übermittelt, von dort wurde via Telefon alarmiert. Heute sind dank den Lawinenverschüttetengeräten (auch bekannt als Barryvox), Helikoptern, Lawinenhunden und weitverzweigten Funknetzwerken die Retter in Minutenschnelle vor Ort. Auch mal Zeit zum Verschnaufen Heute bleibt den beiden Männern Zeit, ihren Posten weiter einzurichten, uns ihre Nothelferausrüstung zu zeigen, die Homepage mit dem Schneebericht zu aktualisieren und von ihren schönen, aber auch bedrückenden Erlebnissen zu erzählen. Ob es ihnen nicht auch mal langweilig wird, wenn wie heute nichts läuft? Auf dem Laptop neben dem Funkgerät zeigt Google Earth eine Ansicht von Venedig – eine Fluchtmöglichkeit aus der weissen Schneewüste? Fadri winkt ab: Bei Neuschnee stehen morgens Lawinensprengungen an, dann folgen die Protokolle über Unfälle, das Anbringen von Markierungen vor Ort und schon bald ist wieder Pistenendkontrolle. Da bleibt nicht viel Zeit zum Verschnaufen. Höchstens einmal ein Blick durchs Fernrohr auf wilde Gämsböcke. Oder die Männer bauen selber einen neuen Holzschlitten. Dennoch: Der nächste Einsatz ist nur einen Funkspruch entfernt.
Autor: Caspar Türler Arbeitgeber: Helsana Versicherungen AG Beruf: lic. phil., dipl. PR-Redaktor NDK Funktion: Leiter Mitarbeitendenmagazin, Ghostwriter Wohnort: Rüschlikon ZH Als Sprach(en)tüftler, Zeitreisender und Empathiker begeistert Caspar Türler beinahe jedes Thema, jede Form. Am meisten aber Porträts und Reportagen. Was gibt es Schöneres, als Geschichten zu erzählen, die alle Sinne ansprechen?
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Biergeschichten – von Knopfwürsten, Mungga und Alpenkräutersirup von Claude Frank | Juni 2006 «Die Story geht so: Da hatte einer der Bauern hier oben in Monstein die Idee, seinen Hang zu mähen und das getrocknete Heu in Säcke abzufüllen und als Alpenkräuter-Teemischung nach Deutschland zu verkaufen. Nur klappte dann bei der Ausfuhr am Zoll irgendwas nicht und die ganze Ladung kam zurück. Da hatten wir die Idee mit dem Alpenkräutersirup», so hallen die Worte des Chefs der Bierbrauerei in Davos-Monstein, Andreas Aegerter, durch das kühle Kellergewölbe. Und schon habe ich offenbar vergessen, dass ich eigentlich nur ein Gratis-Bier trinken und eine kurze Reportage über die Brauerei schreiben wollte – jedenfalls halte ich bereits eine dieser vakuumverpackten Brauer-Knopfwürste in der Hand und zücke zahlungswillig meine Brieftasche. Doch der CEO der BierVision Monstein AG hat nicht nur bei meiner Brieftasche Erfolg. Aegerters Produkte verkaufen sich gut, selbst in den Szenelokalen in der Zürcher City bestellt so mancher Heimwehbündner und Möchtegern-Davoser sein schmackhaftes, malzreiches Monsteiner Mungga-Bier. «Mungga?» Aha, Murmeltiere sind das, klar doch. «Und, ähm, die werden zu Bier verarbeitet?», frage ich besorgt. Ach so, ist nur ein Name, den niedlichen Tierchen wird kein Haar gekrümmt. Bei Andreas Aegerter gibt es zu jedem seiner Produkte eine lustige Entstehungsgeschichte. Auch wenn sie vielleicht nur erfunden ist – Hauptsache, es gibt eine. Alles ist Programm, alles steht im Superlativ – mir bleibt da glatt die Spucke weg: Das Monsteiner Bier wird in der «höchstgelegenen Brauerei Europas» gebraut, der touristenkompatible Claim zur Marke lautet in selbstbewusstem Englisch 52
«Last beerstop before heaven!» und die Werbebroschüre verspricht «Erlebnisse auf höchstem Niveau». Aber das ist nicht Heidiland hier oben, erst recht kein Ballenberg. Das wird mir sofort klar. Das Ziel der BierVision Monstein ist denn auch nicht, Tagestouristen ins Dorf zu locken, sondern das regionale Gewerbe ins Geschäft einzubinden und zu fördern – und das in einem Seitental von Davos gelegene Monstein am Leben zu erhalten. (Jetzt habe ich fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht gleich zehn Brauer-Knopfwürste kaufe und den Betrag noch aufrunde. «Save Monstein!») Der Aargauer und Wahldavoser Aegerter sprüht nur so von Storys, wenn er «seine» Brauerei und sein breites Produktangebot vorstellen darf. Im Brauereiladen gibt es denn auch fast alles, was man auf einer Alp produzieren kann. Traditionelles wie Bio-Bündnerfleisch, Unerhörtes wie eben diese famose Brauer-Knopfwurst – eine Wurst mit Brauerei-Nebenprodukten und einem Knoten drin – und Avantgardistisches wie Bierbrand-Pralinés. Überall riecht es streng, ich frage mich, ob ich vielleicht das Deo vergessen habe an diesem warmen Sommermorgen? Aber ich kann aufatmen … das heisst, fast: Denn vor der Brauerei steht ein grüner Wagen, gefüllt mit grünlichem Zeugs, das aussieht wie eine Müsli mischung und … (jedenfalls für meine Nase, Entschuldigung) penetrant stinkt. «Das ist der Malztreber, ein Abfallprodukt. Normalerweise nutzt man das als Schweinefutter, aber wir geben das dem Bäcker drei Häuser weiter für das Brauerbrot und dem Metzger im
Tal für die Brauerwurst, die mit dem lustigen Knoten drin», sagt der Brauer mit den grünen Latzhosen. Der Brauer heisst Baier und ist auch einer: Georg Baier kommt aus Nordbayern und hat letztes Jahr seinen Brauereimeister gemacht. Ich könnte ihm stundenlang mit grossem Interesse zuhören, verstehen würde ich aber nur ein Drittel. Höchstens. Das muss Urbayerisch sein, was er da spricht. Ein Kollege von ihm bei Wädibräu in Wädenswil hat ihm den Tipp gegeben, Andreas Aegerter anzurufen, der suche für ein Jahr einen Profibrauer, weil der bisherige Brauermeister eine Weiterbildung absolviere. So ist er nach Monstein gekommen, bis Ende August läuft der Vertrag. Dann heisst es: ein Bier zum Abschied und weiter gehts. «Ich erhalte Angebote aus aller Welt, aber nach Nordkorea oder Vietnam gehe ich nicht. Das ist mir zu unsicher dort», sagt Georg Baier, und ich glaube ob so viel Globalität fast schon, ich sei am WEF. Eher kann der Brauereimeister sich vorstellen, einen Job in Italien anzutreten, sagt er. «Mal sehen, ich bin ja noch jung und ledig. Mit dreissig kann man noch gut in die Welt hinausgehen und Erfahrungen sammeln.»
Bierbauch – würde mich nicht wundern, bei dem Beruf – hat er aber nicht. «Genetisch bedingt», sagt er. Hm, das glaube ich ihm jetzt aber nicht. Vielleicht liegts doch eher am jahrelangen Fussballtraining? Über die Anstellungsbedingungen in der Monsteiner Brauerei beschwert er sich jedenfalls nicht: «Der Brauerberuf hat auch etwas Gemütliches.»
Autor: Claude Frank Arbeitgeber: CLS Communication AG Beruf: dipl. Übersetzer, dipl. PR-Redaktor Funktion: Team Leader Operations, German Translator Wohnort: Greifensee ZH Was haben Davos und Claude Frank gemeinsam? Ist es das weltwirtschaftliche Flair? Oder das urchige, berglerische, urtümliche Je-ne-sais-quoi? Ehrlich gesagt: nichts. Aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich ja an. Der Autor wünscht Ihnen jedenfalls viel Spass beim Lesen!
Früher wäre er fast mal Profifussballer geworden, in der Bezirksoberliga in der Oberpfalz hat er eine Zeit lang zweitausend Euro pro Monat verdient, nur mit Fussball! Aber Fussball hat er sowieso immer eher als Hobby gesehen. Ich glaube ihm, wenn er sagt, er habe eben Bier im Blut. Schon mit fünfzehn war er ins Brauereigewerbe eingestiegen, die Brauerei stand direkt neben der Schule. Einen 53
Federleicht durch den Schnee von Regula Hollenstein | Januar 2012 Er lacht in die Runde und hat dabei etwas von Thomas Gottschalk. Blondgelocktes Haar guckt an Stirn und im Nacken unter der Mütze hervor, die Sonnenbrille hat er in die Stirn geschoben: «Ein Bündner Dichter sagte einmal: Beim Langlaufen sollte man über den Schnee schweben wie eine Feder. Ich werde euch in der nächsten Stunde die Grundlage dazu etwas näher bringen». Die dünnen, langen Latten an meinen Beinen sind zwar federleicht, aber ich fühle mich wie ein Lot aus Blei, klebe förmlich am Schnee. Und wenn ich nicht klebe – also, wenn es nur schon ein bisschen bergab geht – schlittere ich unkontrolliert über den Schnee. Vielleicht hätte ich mich eher zu einer Übungslektion in Synchronschwimmen anmelden sollen? Dort wäre es zumindest warm, geht mir durch den Kopf. Zum Glück habe ich keine Zeit, den Gedanken zu wälzen. Es geht los: Wir sollen einfach mal fahren, sagt Thomas Gottschalk, der Martin heisst, und für die nächste Stunde unser Lehrer ist. Ähnlich wie Inlineskaten sei es. Davon hab ich leider genauso wenig Ahnung. Auf dem dick eingeschneiten Dach des Sportgeschäfts, in dem wir Schuhe und Skier gemietet haben, sitzt eine Rabenfamilie – Bündner Aasgeier, die auf Langlaufverunfallte warten, vermute ich.
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Unsicher und langsam geht es die ersten hundert Meter vorwärts. Meine Zehen krallen sich in die Schuhsohlen. «Das bringt abgesehen von einem Krampf nichts», sagt Martin. Recht hat er: Meine Füsse und Schienbeine krampfen schon. Ich versuche es also etwas lockerer und – siehe da – fühle mich schon weniger wackelig! Ein Geräusch wie eine Bogensäge, die gleichmässig geführt wird, kommt näher und näher. Begleitet von regelmässigem Klack-Klack der Stöcke. Zwei Langläufer, die – am Umfang der Schenkel beurteilt – bereits einige Kilometer in den Beinen haben, gleiten elegant und mühelos vorbei. Nun sehe ich sie auch, die schwebende Feder. Das möchte ich können! «Langlauf ist ein ausgezeichneter Sport, um Ehrgeiz zu entwickeln», bestätigt Martin. Und: «Man kann sich immer neue Ziele setzen – das rockt!» Nach einigen Übungen verstehe ich, was er meint. Den Fortschritt, den man als absolutes Skating-Greenhorn innerhalb von einer einzigen Lektion spürt, hat Suchtpotential. Bissig bläst der Wind. Aus dem Prättigau steigt dichter Nebel auf. Nur oben auf dem Jakobshorn reissen die Wolken auf; für einen Moment scheint die Sonne durch. Tapfer machen wir Übung um Übung: Zuerst ohne Stöcke, dann mit. Mal mimen wir den Teleboy, mal hieven wir imaginäre Milchkannen durch die Gegend. Ab und zu schlittern die leichten Bretter zwar noch ein wenig, doch ich werde spürbar sicherer, mutiger. Neben uns versucht sich ein älteres Paar im klassischen Langlaufen. Nicht sehr erfolgreich. Sie fallen ständig, obschon sie nur einen Ski tragen und diesen erst noch in der Spur führen.
Später begegnet uns eine Gruppe mit Jugendlichen. Todesmutig stehen sie an einem Abhang und fahren rückwärts in der Spur hinunter. «Langlauf ist ein Sport für die ganze Familie» sagt Martin. «Wenn das Wetter zu schlecht zum Skifahren und zu gut fürs Hallenbad ist, kann man immer noch auf die Loipe». Die Rhätische Bahn tuckert rot und gemütlich wie eh und je in Richtung Unterland. Schnee stiebt in grossen Wolken davon. In der Ferne läuten die Kirchenglocken; es ist Mittag. Unterdessen sind die Wolken ins Tal hinunter gekrochen. Schneeflocken prasseln auf meine Jacke. Trotzdem ist mir alles andere als kalt: Die Wangen glühen, der Körper ist geschmeidig warm, das Herz pocht wild. Mit Langlauf könnte ich richtig fit werden! Noch schwebe ich zwar nicht – aber ich verstehe, was Martin mit dem «ansteckenden Cologna-Effekt» gemeint hat. Ich bin mir sicher: Die Option Hallenbad zieht bei mir in Zukunft nicht mehr – viel lieber trainiere ich so lange, bis auch mir das Gefühl der schwebenden Feder vergönnt ist.
Autor: Regula Hollenstein Arbeitgeber: Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) Beruf: Qualitätskontrolle Korrespondenz Wohnort: Thalwil ZH Regula Hollenstein arbeitet bei SRF im Kundendienst und ist für die Qualität und die Qualitätskontrolle der Korrespondenz verantwortlich. Zudem verfasst sie Textbausteine für wiederkehrende Themen rund um den Fernsehalltag und die Programme von SRF. Ihre Arbeit ist wie auf sie zugeschnitten.
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Ungarische Gulaschsuppe vs. Bündner Gerstensuppe von Eveline Stamm | Juli 2008 Mit gleichmässigem Rauschen rühren die grossen, in die Jahre gekommenen Trommeln die Wäsche im Kreis. Umgeben von warmer Luft, gepaart mit dem Duft frischer Wäsche, schaue ich dem Treiben zu. Der Berg weisser Wäsche in der Mitte des Raums ist so hoch und weich, die Verführung ist gross, sich hineinplumpsen zu lassen. Die kleine, zierliche Frau tritt etwas schüchtern auf uns zu. Sie trägt die Haare zusammengebunden und einen blau-weiss gestreiften Kittel. Zsannett kommt vom Plattensee in Ungarn und arbeitet seit zwei Jahren hier. Mit ihr erkunden wir das Housekeeping des Sunstar Hotels in Davos an diesem kalten und grauen Julitag. Kurz nach der Lobbyhalle mit ihrem grünen, blumig gemusterten Teppich, den hölzernen Chaletwänden und den überall präsenten Broschüren über Wanderungen mit Susan und Adi steuern wir zur angrenzenden Pianobar. Zsannett, die in Ungarn eine Tourismusschule absolviert hat, wedelt bereits flink mit ihrem Putzlappen über die Bar und entfernt darauf Spuren der letzten Nacht. Sie fühlt sich wohl in den Bündner Bergen. Ihre Schwester lebt in Splügen, ihre Freundin in Klosters. Sie lächelt. «Da ist auch jemand anderes in Splügen, ich habe kennengelernt, er ist Schweizer.» Nicht nur die Berge haben es ihr angetan. Ihr fehlen nur die deftig gewürzten Suppen von zu Hause, das Schweizer Essen ist ihr zu fad, auch die Bündner Gerstensuppe. «Deshalb ich esse sehr gerne Kebab mit diese extrascharfe Sauce.» Die Bar liegt im Dunkeln. Erst am Abend, wenn die Gäste sich bei einem Glas Wein unterhalten, wird sie wieder mit schummrig warmem Licht zum Leben erweckt. Schon tänzelt Zsannett um die zahl56
reichen kleinen Glastischchen, die rund um das einsame und unbeachtete Piano stehen. Sie hebt die Getränkekarte, poliert die Glasoberflächen, schüttelt und büschelt die orangen und braunen Kissen auf den Sesseln und Sofas. Am Abend werden sich die Gäste wieder gemütlich darauf einlullen und den Klängen des Pianospielers und der Sängerin lauschen. Im Schnellschritt eilt Zsannett zum Lift, 6. Stock. Wir betreten den Raum eines Hotels, der es zu internationaler Berühmtheit schaffte: den Wäscheraum. Aus dem kleinen Raum schiebt die fröhliche Ungarin den mit Wäsche, WC-Papier, Kugelschreibern und mehr bepackten Reinigungswagen. «Heute ich habe sehr viele Zimmer zu reinigen, 23 total.» Sie lächelt. «Dazu ich habe sieben Départ/ Arrivée!». Ihrem Gesichtsausdruck nach muss das was Schlimmes sein, wir haken nach. «Das sind die Zimmer, bei denen die Gäste heute abreisen und gleichzeitig neue Gäste anreisen. Das bedeutet eine grosse Reinigung.» Ach so. Aber das ist noch nicht alles. «Heute ich auch noch machen Couverture!» Die Hotelwelt hat ihre eigene Sprache. Mit Couverture ist der Rundgang durch alle Zimmer am Abend gemeint, bei dem jede Bettdecke aufgedeckt wird und ein Schokoladen-Präsent des Hotels zusammen mit der Wettervorhersage verteilt wird. Zimmer 609. «Tock-Tock-Tock», klopft sie an die Türe und wartet ein paar Sekunden. Das obligatorische Ritual, bevor ein Gästezimmer betreten wird. Oberstes Gebot in der Hotellerie. Keine Antwort? Bühne frei. Ein Schwall abgestandener Luft schlägt uns entgegen. Ich möchte das Fenster aufreissen und auf den Balkon springen.
Zsannett macht sich zuerst am Pyjama zu schaffen, faltet dieses ordentlich. Sie schüttelt das Kissen und die Bettdecke, presst sie zusammen und wieder auseinander, faltet sie und im Nu ist das Bett gemacht. Das Badezimmer reinigt sie ohne Handschuhe. Im Zimmer liegen Wanderschuhe und Hausschuhe, gehäkelte Socken, ein Schweizer Armeemesser, Äpfel auf Vorrat in der Minibar, eine geöffnete Tafel Schokolade, Sonnenbrille und Sonnenhut. Das Zimmer eines Wanderers. Wie auch restlos alle folgenden Zimmer. Es scheint, hier treffen sich Wanderfreunde. Naturverbunden, ruheliebend, Ü60. Wir entdecken keine skurrilen Zimmerfunde. Kein Einblick in ein spektakuläres Privatleben. Nur Wandern.
Autorin: Eveline Stamm Arbeitgeber: Sopexa –französische Marketing- und Kommunikationsagentur Beruf: Projektleiterin Funktion: Planung und Umsetzung Wohnort: Zürich Nach ihrer kaufmännischen Ausbildung arbeitete Eveline Stamm für drei Jahre in der Hotellerie in London und Genf. Sie hat sich weitergebildet als Marketingplanerin und Textpraktikerin EB Zürich. Aktuell studiert sie im Lehrgang PR-Redaktorin. Ihre Leidenschaften sind Frankreich, gesellige Abende unter Freunden und anregende Gespräche.
Nach gut zehn Minuten ist das Doppelzimmer sauber. Im nächsten Zimmer liegen zehn Franken auf dem Kissen, darunter eine DankesNotiz für das Zimmermädchen. Zsannett strahlt. «Ich sammle alle Notizen, die sind so persönlich, ich mag sehr.» Beim Kaffee im Personalrestaurant erzählt sie von ihren Träumen: ein eigenes Restaurant in Ungarn eröffnen. Aber zuerst gönnt sie sich im Herbst einen Wellness-Urlaub in der Heimat. In den Thermal bädern von Hèviz oder Zalakaros.
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Der Käse ist das Ziel von Andi Vogel | Juli 2009 Die Regale bei Coop und Migros sind gefüllt mit Käse. Doch wo kommt der Käse eigentlich her? In Davos mache ich mich auf die Suche nach einer Alpkäserei. «Für die eingestellten Ski wird keine Haftung übernommen.» Ein paar verstaubte Rossignol-Ski samt Stöcken hängen verlassen im Skidepot vor der Talstation der Jakobshornbahn. An der Fassade hängt ein Plakat mit grossem Titel «Winterparadise» und einem Snowboarder im Neuschnee. Gleich nebenan die roten Geranien in farblosen Eternitkisten. Der Himmel ist knutschblau, die Sonne brennt. In fünf Minuten fährt die Gondelbahn. «Die Maschine funktioniert nicht. Wie kommt diese Karte denn rein?» Franz ist sofort zur Stelle. Er arbeitet seit sieben Jahren bei den Davoser Bergbahnen. «Sie müssen die Karte nicht reinstecken, nur an den Schlitz halten.» Die deutsche Touristin lächelt und quetscht sich mit ihrem prallen Rucksack durch das Drehkreuz. Pünktlicher Auftakt Um neun Uhr, fast auf die Sekunde genau: «Ratsch» und zu ist die Gondeltür. Franz, braungebrannt, drückt den grünen Knopf. Und los geht’s! In der Hochsaison gondelt er vierzig bis fünfzig Mal rauf und runter. «Weisst du, wo der Alpkäse herkommt?» Franz lacht. «In dreissig Minuten weisst du mehr.»
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An der Bergstation werden wir von Ländlermusik empfangen. Franz lassen wir zurück. Käse sehe ich noch keinen. Dafür tanzende Schmetterlinge, zwitschernde Vögel und nach ein paar Metern auf dem steinigen Weg einen rauschenden Bergbach. Die Alpenrosen fühlen sich neben dem Geplätscher und den Tannenbäumen wohl. Pin-up-Girls und Motorenöl In der Reparaturwerkstatt für die Davoser Pistenfahrzeuge beim Usser-Isch-Sessellift treffe ich auf Jürg und – als Pin up Girls – drei nackte Frauen am Meer. «Dieses Poster hat Fritz, der andere Mechaniker, aufgehängt. Wir machen hier die Pistenfahrzeuge für den nächsten Neuschnee flott. Die Mädchen bieten moralische Unterstützung in der finsteren Garage.» Ich erfahre noch, dass ich gleich nach den Schweinen meinen Käse kriege. 15 Minuten später treffen wir auf Rolf und seine deutschen Edelschweine. «Schmatz, schmatz», die Stinkviecher schlürfen die Molke aus dem Fresstrog. Molke kriegen sie jeden Tag. Das Abfallprodukt der Käseproduktion. Also bin ich schon ein bisschen näher an meinem Ziel. Vreni und Otto – das Traumpaar www.igelati.ch steht auf dem roten Sonnenschirm vor der Alphütte. Die Geranien auf dem Fenstersims blühen noch nicht. Das Holz der Alphütte ist von der Sonne schwarz gebrannt. Nur das Schild ist neu: Schau- und Erlebniskäserei Molkerei Davos, Clavadeler Alp. Vreni empfängt mich mit ihrem einladenden Lächeln. «Wollen Sie zur Vorführung? In zwanzig Minuten sind Otto und ich parat.» Ich bin definitiv am richtigen Ort angelangt.
Otto ist siebzig Jahre jung, sieht aus wie fünfzig. Er ist KMHP – Käsermeister in halber Pension. Angestellt von der Alpengenossenschaft. «Vreni ist einfach meine Frau.» Drinnen in der Alphütte dienen Milchkannen als Stühle, Kuhglocken zieren die Decken, Bilder mit Lagerhallen voller Käse die Wände. Doch es stinkt nicht nach Käse. Ich sehe keinen Käse. Bin ich hier wirklich richtig? Kein Zutritt STOP Hygienezone – Zutritt für Unbefugte verboten. Hinter der rotweissen Kette stehe ich dicht neben Touristen aus Holland. Otto und Vreni beginnen die Show. Sie rühren die unbekannte Masse im Käsekessel, trennen den Käsebruch mit der Harfe, geben Wasser dazu ... «Jetzt muss der Inhalt im Kessel ruhen. In zwanzig Minuten geht es weiter. Bis dahin können Sie verfügen.» Otto ist klar der Chef in der Hütte. Ich steige die hölzerne, knarrende Treppe hinunter zum Lagerraum. Endlich Käse! Doch die Glastüre lässt sich nicht öffnen. Stopp, kein Zutritt! Hunger Fertig geruht. Otto ist wieder in seinem Element. Er zieht ein grosses, weisses Netz durch den Kessel, befestigt es an der Kette und zieht es mit dem Flaschenzug langsam hoch. «Ritsch ratsch, ritsch ratsch ...» Das Netz ist pumpevoll. «Ist das nun der Käse?» Vreni vertröstet mich: «Das dauert noch ein Weilchen. Nur Geduld!» Mein Magen knurrt ...
Im überdimensionalen Spülbecken lässt Otto das Netz samt Inhalt abtropfen. Gewichte pressen die letzte Molke raus. Er erklärt trocken: «Die Gewichte sind mit Schweizer Nationalgold gefüllt, deshalb schmecke der Käse auch so gut.» Vreni schneidet die weisse Masse in Stücke und verpackt sie geschickt in bereitstehende Kessel. Später tragen sie die Kessel mit den runden, weissen Klötzen in den Lagerkeller. Dort reifen sie mindestens sechs Wochen. Bis der Alpkäse seinen bekannten Geschmack annimmt: aromatisch, würzig, gut. So lange will ich nicht warten. Ich hab Hunger! Auf der Terrasse serviert mir Vreni endlich ein «Zvieriplättli» mit dem einzigartigen Clavadeler Alpkäse – und verkauft mir zusätzlich je ein Pfund milden und rezenten Clavadeler. Ziel erreicht.
Autor: Andi Vogel Arbeitgeber: Promotion-Tools AG Beruf: Projektleiter Wohnort: Zürich Andi Vogel arbeitet noch bis Ende Jahr bei Promotion-Tools. Anschliessend reist er während sechs Monaten durch Indien ...
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Klatsch und Tratsch an der Promenade: Voll im Kuchen von Pascal Tschamper | Januar 2007 Im Café Schneider ist was los. Wer etwas Zeit hat, dem öffnet sich eine Welt fern vom Alltag im Unterland. Und nicht nur die Gerüchteküche ist gut. Auch die Königin von Jordanien und Bill Gates käfelen hier. Das erzählt uns Frau Wiprächtiger, die Chefin des Café Schneider. Es strahlt im Winter den Charme eines mondänen Traditionshauses aus. Das Café Schneider und seine Nusstorten sind weltweit bekannt. Frau Wiprächtiger erzählt von einer Dame, die Brot in den Iran bestellen wollte. Das macht mich erst recht neugierig –umgehend bestelle ich Frühstück mit allerlei Sorten Brot. Es schmeckt tatsächlich excellent. Und so widme ich meine Aufmerksamkeit bestens gelaunt den anderen Gästen. Sehen und gesehen werden Man lächelt sich an. Gleich neben mir sitzen zwei Frauen. Ich tippe auf Mutter und Tochter, wohl Zürcherinnen aus der Agglomeration. Beide tragen bauchfreie Daunenjäckchen mit pelzbesetzten Krägen und dazu Leggins und gestreifte Schals. An den freien Tisch zu mei-
ner Linken setzen sich drei Deutsche, vermutlich ein Vater mit seinen beiden Söhnen – alle von Kopf bis Fuss in Hilfiger-Mode gekleidet. Sie bestellen American Breakfast und beginnen über die gestrige Rede von George W. Bush herzuziehen. Bald einmal widmen sie sich ausgiebig dem Lieblingsthema der Deutschen: Autos. Weiter vorne sitzt ein älteres Paar. Sie muss mit Lockenwicklern geschlafen haben. Sie trägt eine dieser Brillen von Christian Dior, bei denen die Bügel zu weit unten am Gestell befestigt sind. Auch Deutsche – erkennt man sie an ihren auffälligen Brillen? Dazu eine Perlenkette, ein Burberry-Schal und pelzgefütterte goldene Stiefeletten. Ihrem Mann schaut sie missmutig zu, wie er haufenweise Butter auf Brotscheiben schaufelt und diese dann runterschlingt. Ab und zu herrscht sie ihn an: «Heinz, bitte!» Schräg rechts sitzt ein etwa fünfzigjähriger Herr mit gefärbtem Haar. Schröderbraun. Sein Gesicht ist ledrig-rötlich, aufgedunsen und von Narben übersäht. Die Hände zittern, was durch den überdimensionalen Goldklumpen am Finger noch hervorgehoben wird. An der Bar entdecke ich einen jungen Asiaten. Er trägt eine Snowboardjacke mit Camouflage-Muster und eine Baseballmütze. Vor einem Glas Mineralwasser sitzend starrt er Löcher in die Luft. Über dem Alltag Bei der Türe sitzen vier grölende Holländer. Sie sind eher individuell gekleidet. Der eine trinkt bereits Bier. Es ist zehn Uhr morgens und sie erzählen sich Geschichten von gestern Abend. Das Flachland scheint weit entfernt. Ich schätze, sie sind bereits ein paar Tage hier. Überhaupt: Bis auf Heinz und seine Frau machen alle einen recht vergnügten Eindruck. Selbst der betagte Herr bezahlt seinen Kaffee und bedankt sich lautstark, fast überfreundlich, in breitem Züridüütsch.
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Zürcher und Deutsche Zwei jüngere Damen und ein Herr betreten das Café. Der Kenner sieht sofort: waschechte Zürcher – vermutlich Zürcher, aus Küsnacht oder Kilchberg. Gemeinsam mit den Deutschen sorgen sie hier für Umsätze. Frau Wiprächtiger bestätigt das. Ein Blick in das Buch «Davos – Profil eines Phänomens», das ich dabei habe, unterstreicht das besondere Verhältnis der Zürcher zu den Bündnern. So erstaunt es nicht, dass die Autoren neben vielen Davoser Institutionen auch dem Stadtzürcher Präsidialdepartement danken, das den Kulturbatzen der Stadt verteilt. Zwei Kulturschaffende, finden darin prominente Erwähnung. C.F. Meyer wartete hier bereits vor über 150 Jahren auf seinen Durchbruch, und Thomas Mann verhalf dem Kurort Davos zu literarischer Bekanntheit durch seinen «Zauberberg».
Autor: Pascal Tschamper Arbeitgeber: FHS St.Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Beruf: Dipl. PR-Redaktor CAS Funktion: Kommunikationsbeauftragter Wohnort: St.Gallen Pascal Tschamper ist Kommunikationsbeauftragter der FHS St.Gallen. Zuvor war er Kommunikationsleiter einer Fachmesse und beriet in renommierten Agenturen Kunden im Publishing, in der Medienarbeit, veröffentlichte Fachtexte in Tageszeitungen und war als Werbetexter tätig. Sein Rüstzeug holte er sich an der Uni Zürich, am SPRI und der Text Akademie.
Mitten drin Ich hole mir ein Stück Kuchen und schnappe da und dort ein paar Wortfetzen auf. Der mutmassliche Vater und seine beiden Söhne scheinen Stammgäste in Davos zu sein. Sie zählen Leute auf, die letztes Jahr hier waren und auch dieses Jahr nicht fehlen. In diesem Moment hebt Heinz den Finger, um der Serviertochter ein Zeichen zu geben. Seine Frau legt die «Südostschweiz»- Zeitung weg: «Heinz, ich warne dich!» Aber Heinz will noch mehr Butter. Schliesslich hat er Ferien. Sie spricht nicht mehr mit ihm und hält die Zeitung so, dass sie Heinz nicht mehr sehen muss. Vater und Söhne verabschieden sich bei mir, als käme ich auch schon seit Jahren hierher – «auf Wiedersehen!»
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Langmut auf der Loipe von Gregor Patorski | Januar 2011 Langlaufen ist wie das Leben. Am Anfang fällt man auf die Nase, doch mit der Zeit zieht man ruhig und beständig seine Bahnen. Das zumindest sagen Lebenserfahrung und Langlauflehrer. Ein Blick auf die Praxis des Lebens in der Loipe. Einzig der Gipfel der Weissfluh glänzt in der Morgensonne. Untendrunter ist es kalt und nebelgrau. Heute fängt das Leben an! Langlaufen in der Skating-Technik steht auf dem Programm. Im Sportfachgeschäft Hofmänner in Davos werde ich professionell ausgerüstet. Schuhgrösse, Gewicht – ein Holzstock bestimmt die Höhe der Stöcke. Schuhe an. Rein in die Skier. Braun gebrannt und blau gewandet steht Urbi vor mir und meinen zwei Mitschülern. Urbi Meier ist einer der drei fest angestellten Langlauflehrer vor Ort; mit den Teilzeitlehrern sind sie insgesamt 16. In einer Saison – das heisst, von Ende November bis Anfang April – erteile er gut und gern 450 Stunden Langlaufunterricht, schätzt Urbi. Tendenz steigend. «Langlaufen ist eben eine Trendsportart». Ein halbtägiger Privatunterricht für drei bis vier Personen kostet 220 Franken. Die Ski-Miete schlägt zusätzlich mit 45 Franken zu Buch.
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Kaum stehe ich auf den dünnen Brettern, schliesse ich schon Bekanntschaft mit dem Boden. Bei Langlauf-Skiern ist nämlich ein guter Gleichgewichtsinn gefragt. Besonders bei diesen Verhältnissen: Der Schnee ist aggressiv und die Skier laufen gut. Zu gut. Grossgewachsene Anfänger wie ich haben’s schwerer; ihr Schwerpunkt liegt höher, klärt mich Urbi in breitem Bündner Dialekt auf. «Immer in da Knü bliiba, dänn kan nüüt passiera». Der perfekte Langläufer muss klein sein und breite Füsse haben, denke ich. Zudem ist die Skating-Technik anspruchsvoller als die klassische. Während die klassischen Läufer immer in der Spur bleiben, schwingen die Skater regelmässig von einer Seite zur anderen. Profis schwingen, ich kippe. Nach dem dritten Sturz weiss ich, wo mein Steissbein liegt, und verfluche Pauli Siitonen. Der Finne ist der Urvater dieser Höllentechnik. Er war der Erste, der die vorgespurten Bahnen des klassischen Langlaufs mit einem seitlichen Ausscherschritt verliess. So skatete er noch in hohem Alter seiner klassischen Konkurrenz davon, erzählt Urbi voller Bewunderung. Das Skating kennt sechs verschiedene Schritttechniken, die sinnigerweise Gänge genannt werden. Urbi führt es vor und zieht davon – ein blauer Blitz in der Spur. Meine Mitschüler wiegen sich perfekt von Gang zu Gang. Einzig ich komme nicht in die Gänge. Bloss der Zweite und der Vierte, auch der Asymmetrische und der Eins-Zwei genannt, funktionieren. Ansonsten stockt mein Motor.
Je mehr der Himmel über Davos aufklart, desto düsterer wird meine Stimmung. Beim siebten Sturz kippe ich vornüber. Ich spüre, wie der Schnee langsam unter meinem Gesicht schmilzt. Ich höre – whoosch, whoosch, whoosch – mit welcher Eleganz und Gleichmässigkeit mehrere Läufer an mir vorbeiziehen. Irgendetwas an diesem Sport macht den Leuten Spass. Sonst würden wohl kaum Jahr für Jahr 10’000 Langläufer am Engadiner Ski-Marathon teilnehmen. Und es gäbe keine 5’500 Kilometer präparierte Langlauf-Loipen in der Schweiz. Doch von den gut 80 Kilometern in Davos werde ich heute kaum mehr als ein Prozent gesehen haben. Ich rapple mich auf.
Autor: Gregor Patorski Arbeitgeber: Santésuisse Beruf: Projektleiter Intranet/Extranet Wohnort: Zürich ZH Gregor Patorski arbeitet seit 2010 als Denktanker und Wortwirker bei Santésuisse im Bereich Web 1.0 und Web 2.0. Zuvor war er hauptsächlich bei 20 Minuten Online als OnlineJournalist tätig. Jetzt denktankt und wortwirkt er für den Monsieur-Santé-Blog und den «Brennpunkt Gesundheitspolitik».
Nach zweieinhalb Stunden Langlauf-Lebenserfahrung erteilt mir Urbi seinen Segen und lässt mich alleine meine Runden drehen. Und jetzt! Endlich, endlich komme ich ins Gleiten, setze mutig einen SkatingSchritt vor den anderen. So muss es sein! Die Bretter, die die Welt bedeuten! Eine Art Glücksgefühl kommt auf. Eins-zwei, ein-zwei. Ich schwinge mich von Seite zu Seite. Plötzlich sehe ich nur noch blau: Der Himmel über Davos strahlt stählern sein breites Grinsen auf mich herab. Das Dutzend ist voll.
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Schutzengel haben nur einen Flügel von Kathrin Richter | Januar 2006 Ein Ausflug in die Welt von Andreas Hofer. Eine Welt voller Wunder. Engel begleiten ihn bei seiner Arbeit als Bildhauer für Holz und Stein, immer mit dem Bewusstsein die Welt zu verändern. In dem kleinen chaotischen Atelier von Andreas Hofer hängt links neben der Tür ein vergilbter Zettel mit folgenden Worten von Gisela Hildebrandt: «Die Stille. Tauche ein in das Schweigen, neige dich der Stille zu. Vielleicht spricht sie zu dir, in der Sprache der Rosen, im Leuchten der Sterne, in der Berührung der Seelen, im Lächeln eines Engels. Vielleicht spürst du das Wunder der Begegnung. Neige dich der Stille zu und sie spricht.»
Ohne Wenn und Aber Andreas Hofer, Jahrgang 1971, ist in seiner Art einzigartig. In seiner Gestalt eher klein, in seinem freien Denken hingegen gross. Ein Freigeist. Ein Mann von Welt, ein Mann in unserer Welt. Seine Welt liegt vorerst in Frauenkirch, in der Nähe vom konservativen kleinen Davos, mitten in den Schweizer Bergen. Und dennoch trifft sich hier die Welt. «Eigentlich ein Widerspruch in sich aber hier bieten sich mir dadurch auch viele Möglichkeiten», sagt Andreas, der hier seine Wurzeln hat und mit seiner Familie in einem kleinen Bauernhaus lebt. Seit vier Jahren ist er Künstler ohne Wenn und Aber. Es gibt kein Infragestellen dessen. Er ist, was er ist. Er lebt seine Überzeugung mit einer solchen Normalität, dass einem jeder, der nicht so denkt wie er, als sonderbar vorkommt. Schutzengel begleiten ihn durch sein Leben Seine erste künstlerische Arbeit als Holzbildhauer war ein Schutzengel, geschnitzt in Form einer Säule, mit nur einem Flügel aus Metall. Auf die Frage, warum nicht zwei, antwortete er «ein Schutzengel muss nicht fliegen». Der eine Flügel steht nur symbolisch für den Engel. Sein kleines chaotisches Atelier strotzt vor unkonventioneller Kreativität. Überall liegen Späne herum, selbst in den Schubladen seiner Werkbank. Hier und da finden sich Schutzsymbole, wie die Feng-Shui-Spirale hinter der Eingangstür.
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Auf dem Regal am Fenster liegt hingegen ein Totenschädel. Schmunzelnd erklärt Andreas, dass der Schädel das Symbol für das Leben sei. Es geht um das Gleichgewicht und das versucht er in seinen Skulpturen auszudrücken. Frei von Raum und Zeit arbeitet er an seinen Werken. Er spürt die Wände seines Ateliers nicht. Es gibt nur ihn und seine Skulptur. Künstler verändern die Welt Andreas Hofers Skulpturen entstehen und reifen zum Teil jahrelang in seinen Gedanken. Mit seinen Werken möchte er Menschen zum Innehalten oder Nachdenken anregen. Viele seiner Skulpturen werden daher auch erst durch den Betrachter vervollständigt, wie zum Beispiel bei der Feen-Skulptur. Erst wenn die Menschen einen Stein für jeden ihrer Herzenswünsche vor die Skulptur niederlegen, ist das Kunstwerk vollendet.
Autorin: Kathrin Richter Arbeitgeber: Ammann Schweiz AG Beruf: PR-/Marketing-Managerin Wohnort: Langenthal BE Kathrin Richter lebt seit vier Jahren in der Schweiz und fühlt sich hier sehr wohl. Sie liebt Herausforderungen und entdeckt gern Neues. In ihrer Freizeit malt sie Bilder für Ausstellungen und geht drei bis vier Mal pro Woche zum Sport. Im Winter ist sie gern in den Bergen.
Man spürt, dass in seinen Werken oft ein grosser Gedanke steckt. «Mir ist es wichtig, dass die Menschen meine Werke wahrnehmen und sich auf diese Welt einlassen», erzählt er und fügt lächelnd hinzu: «Als Künstler habe ich die Chance die Welt zu verändern.»
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Wenn der Kotelettknochen zu Strom wird von David Eppenberger | Juli 2006 Der Davoser Bauer Toni Hoffmann produziert aus Speiseresten Ökostrom. Sie sieht eklig aus, die Brühe aus Speiseabfällen, die Toni Hoffmann in das Loch vor seiner Biogasanlage kippt. Er ist soeben von seiner täglichen Tour durch die Hintereingänge der Davoser Hotelküchen zurückgekommen. Es kommt vor, dass sich zwischen angebissenen Brötchen, Salatsauce und Kotelettknochen eine Gabel oder eine Tasse verirrt. «Immer dann, wenn neue Gastarbeiter angekommen sind, die noch nicht geschult wurden», schmunzelt Toni Hoffmann. Der Bauernhof von Toni Hoffmann liegt an einer beliebten Spazierstrecke ausserhalb von Davos. «Haben Sie noch ein Schulterstück für mich im Keller?», fragt ein vorbeispazierender Pensionär mit Unterländerdialekt den jungen Bauern. Dieser stellt die Eimer mit den Abfällen der Touristen beiseite und holt im Keller das edle Fleischstück aus der Tiefkühltruhe. «Am besten wird es im Römertopf!», gibt er ihm mit auf den Weg. Davos lebt vom Tourismus. Bauer Toni Hoffmann verkauft Braten, Siedfleisch und Bündnerfleisch an eine Stammkundschaft, die bis nach Zürich reicht.
Doch am besten lebt er von dem, was die Touristen auf den Tellern liegen lassen. Die Davoser Hotels bezahlen ihn für die Entsorgung der Speiseabfälle. Er teilt sich die riesige Menge von jährlich 500 Tonnen mit zwei Bauernkollegen. Die Speiseabfälle dienen als hoch wertiges Schweinefutter. Doch noch viel besser eignet sich die Brühe – zusammen mit Mist und Grünabfällen – für die Biogasanlage. Aus Gas wird Strom Aus dem kugelförmigen Dach entweicht Dampf in den kühlen Davoser Himmel. Die Anlage erinnert an einen Atomreaktor mitten auf dem Feld. Auf dem Transparent steht in grossen Lettern: «Ökostrom aus Biogas.» Eigentlich passiere in der Biogasanlage das Gleiche wie im Pansenmagen der Kuh, erklärt Bauer Hoffmann. Bakterien helfen bei der Vergärung von organischem Material. Dabei entstehen Methan und Kohlendioxid. Das Gas wird verbrannt und mit der erzeugten Energie kann eine Turbine betrieben werden, die Strom produziert. Das Elektrizitätswerk Davos kauft den Strom. In einem separaten Raum wächst am Ende eines laufenden Fliessbands das vergärte Restmaterial zu einem grossen Haufen heran. Für diesen hochwertigen Dünger löst er noch einmal Geld. Immer einen Schritt voraus sein Toni Hoffmann hat das, was Bauernpolitiker von ihrer Klientel fordern: Unternehmergeist. «Ich gebe immer Vollgas», sagt er mit wachem Blick. Er war der Erste in der Stadt, der mit der Milchwirtschaft aufhörte und auf die Mutterkuhhaltung umstellte. Immer einen Schritt voraus sein, so lautet sein Rezept. «Grüezi Frau Muntener», winkt er einer Dame zu, die die kleinen Kälbchen beim Saugen am
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Euter der Mutter beobachtet. 16 Mutterkühe, 16 Hektaren Fläche und 200 Schweine. «Zu klein für einen normalen Bauernbetrieb!» Deshalb hat er sich vor ein paar Jahren nach Alternativen umgesehen, als in der Landwirtschaft noch kaum jemand von alternativen Energien sprach. So wurde er zum Energiewirt. Doch noch läuft die Maschine nicht auf vollen Touren. Ausgelegt ist die Anlage auf eine Produktion von 800’000 kWh, so viel, wie 150 Haushalte jährlich verbrauchen. Weil die Europäische Union von der Schweiz ein Fütterungsverbot von Speiseabfällen fordert, stehen die Chancen gut, dass er künftig die gesamte Abfallmenge der Hotelküchen übernehmen kann. «Wachse oder weiche» bedeutet das für seine Kollegen. Es weht ein rauer Wind in der Landwirtschaft.
Autor: David Eppenberger Arbeitgeber: Selbständig Beruf: Journalist, Webdesigner, PR-Redaktor Wohnort: Reinach AG David Eppenberger ist freier Journalist, Webdesigner und PR-Redaktor mit eigener Firma – ausgebildet als diplomierter Agronom ETH. Er hat sich auf landwirtschaftliche Themen spezialisiert und arbeitet seit vielen Jahren für Zeitungen, Unternehmen und Verbände.
Lieber Bauer als Greenkeeper Inzwischen bedecken Schneeflocken die Speiseabfälle in den Eimern. Das umliegende Land liegt bereits unter einer dicken Schneedecke. Die Erweiterung des benachbarten Golfplatzes scheiterte einst an Toni Hoffmann. Ein lukrativer Pachtzins und ein Jobangebot als Greenkeeper hätten ihn jeglicher finanziellen Sorgen entledigt. «Nichts für mich, ich will Bauer sein!» Seither ist der Golfplatz für seinen Dünger tabu. «Lieber kaufen sie Kunstdünger», sagt er, während er den nächsten Eimer mit angeknabberten Rüebli und Salatresten vom Lieferwagen zehrt.
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Von Bäng-Marri und Röschti aus Usedom von Michael Vögeli | Januar 2012 Ein seltsames Bild. Die «Wunderbar» scheint schon geöffnet zu haben. Musik dröhnt aus den Schneebar-Lautsprechern in den Morgennebel. Und das um 8.55 Uhr. Dabei sind die Barhocker noch hochgestellt und kein Bergler in Sicht. Restaurant Rinerhorn heisst heute das Ziel. Berggastronomie ist das Thema. Also rein ins Haus und Maia die Chefin suchen. Die ist aber noch gar nicht da. Also muss Daniel her, der Küchenchef. Daniel Rodegast ist Deutscher und seit sieben Jahren hier auf dem Berg. Und er hat’s im Griff. «Wer nicht mitmacht, kann gehen!», sagt er bestimmt. Recht hat er. Trotz klarer Ansage scheint er sehr angenehm im Umgang mit Menschen, denn seine achtköpfige Mann- und Frauschaft in der Küche mag und respektiert ihn. Souverän führt er uns in die Grossküche ein und erklärt kurz die Stationen und Funktionen. Ein kleiner Ausflug in die Hochküchensprache gefällig? «Garde-Manger», «Saucier», «Entremetier» und «Patissier», wobei nur der letztgenannte Koch genau das arbeitet, was wir erwarten. Oder weiss jemand, dass der Garde-Manger die Vorspeisen und der Entremetier die Beilagen «unter sich» hat? Egal. «Und das ist die Bäng-Marri», erklärt er. Wie bitte? «Die Bäng-Marri ist das Wasserbad, wo die Speisen drin warm gehalten werden». Jetzt dämmert es mir: «Bain-Marie» meint er. Die Variante für die Erwärmung der verschiedenen Pastasorten heisst übrigens «Kwattro-Statschoni».
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Marco ist Entremetier und bereitet gerade Röschti vor. «Anfangs war das nicht so einfach, all die neuen Speisen zu kochen», meint er. Mir klar, wenn man von der Ostseeinsel Usedom – nahe der polnischen Grenze kommt. «Wir kochen deftiger und meist Fisch», ergänzt er. Mit einem Kumpel sei er vor einem Jahr in die Schweiz gefahren. Etwas Neues wollten sie machen. Ob’s ihm gefällt hier? «Jawohllllll!» Und ob er jetzt eine echte Schweizer Rösti braten kann: «Jawohlllllll!». Die Zubereitung der Speisen macht Hunger. Der «Vorkoster» Micha, gleichzeitig rechte Hand des Chefs, hat dieses Problem nie. Er sagt nicht viel, probiert aber alle Speisen in der Vorbereitungsphase und stellt so die Qualität sicher. Netter Beruf. Daniel entführt uns nochmals ins Gastrofach: «In diesem Haus wird sehr viel Wert auf hochwertige Produkte, eigene Zubereitung und hygienische Verhältnisse gelegt», führt er aus. Beweis für die einwandfreie Haushaltung finden wir überall, auch an der Tür zum Hinterausgang der Küche, wo geschrieben steht: «Bitte Türe schliessen wegen Mäuse!».
An der Abwaschstrasse schufften Carla, Miguel und Paulo. Alle haben den Nachnamen Costa. Alle sind sehr nett und immer für ein Spässchen zu haben. Leider liegt ein vertieftes Gespräch nicht drin, da sie noch nicht so gut deutsch können. Und sowieso – uns plagt der Hunger. Jetzt testen wir also die Küchenleistung. Wir dürfen am Stammtisch Platz nehmen und Chefin Maia offeriert unser Essen. Danke Maia. Als Gegenleistung erwartet sie eine nette Reportage, wie sie augenzwinkernd anmerkt. Geht sicher. Zu uns gesellt sich noch ein echter Stammgast und bestellt gleich mal ein «Grosses», um halb elf Uhr. Er erzählt seine Geschichte, aber das ist eine andere. Wir bestellen Rösti Usedom, warmgehalten in der «Bäng-Marri» – und wird sind glücklich.
Autor: Beruf: Wohnort:
Michael Vögeli Marketingfachmann Binningen BL
Nach vielen Jahren als Produktmanager und Kommunikationsspezialist für verschiedene Bankdienstleistungen bei der UBS gönnt sich Michael Vögeli eine «Weiterbildungs-Auszeit». Seit er das Schreiben an der Text Akademie weiter professionalisiert, macht es ihm noch mehr Freude. Er mag Kunst, Sport und seit kurzem auch Süsses.
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