Programmheft Holländer

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2013 / 2014 – Heft #9

der fliegende holländer

Romantische Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner


der fliegende holländer

Romantische Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner Text vom Komponisten Uraufführung am 2. Januar 1843, Hoftheater Dresden

Daland, ein norwegischer Seefahrer Loren Lang / Patrick Zielke Senta, seine Tochter Patricia Andress /  Agnieszka Hauzer Erik, ein Jäger Luis Olivares Sandoval  Mary, Sentas Amme Tamara Klivadenko Der Steuermann Dalands Christian-Andreas Engelhardt Der Holländer Carsten Wittmoser  Der Heizer

Marc Steven Hallock

Chor und Extrachor des Theater Bremen Statisterie des Theater Bremen Es spielen die Bremer Philharmoniker

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Musikalische Leitung: Markus Poschner / Clemens Heil Regie: Sebastian Baumgarten Bühne: Thilo Reuther Kostüme / Video: Jana Findeklee, Joki Tewes Chor: Daniel Mayr Licht: Christian Kemmetmüller Dramaturgie: Ingo Gerlach Regieassistenz: Lennart Hantke, Katharina Steinhausen, Katharina Fritsch Studienleitung: Karen Schulze-Koops Musikalische Assistenz: Jinie Ka Bühnenbildassistenz: Franziska Waldemer Kostümassistenz: Asima Amriko Regiehospitanz: Sarah Kohm Inspizienz: Angelika Schirmer/ Peter Mischke Souffleuse: Ursel Hoffmann Übertexte: Jill Trautzl Einrichtung Übertexte: Nora Menke

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Technische Gesamtleitung: Frank Sonnemann, KarlHeinz Drähn Leiter der Werkstätten: Carsten Schmid Bühne: Christian Köpper, Andreas Düchting Beleuchtung: Christian Kemmetmüller Ton: Dietrich Seevers, Mathias Kluge, Theresia Werner Requisite: Andrea Gießelmann, Corinna Schenck, Dieter Konrad Kostümdirektion: Paul Zimmermann Kostümleitung: Claudia Hartmann Chefmaskenbildner: Rabi Akil Leitung Dekorationsabteilung: Frank Bethe Leitung Malersaal: Maria Minchevici Leitung Schlosserei: Christian Pape Leitung Tischlerei: Karlheinz Böhmermann

Premiere 15. September 2013 im Theater am Goetheplatz

Aufführungsrechte: Schott Music GmbH & Co. KG Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

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der fliegende holl채nder

inhalt

Vom Fliegenden Holl채nder ..................................... Sebastian Baumgarten im Gespr채ch .......................... Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage ....... Der Engel der Geschichte........................................ Im Namen des Mediums......................................... Liebe, Treue und Wahn .......................................... Richard Wagner .................................................... Handlung ............................................................ Bildnachweise und Impressum.................................

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Zu diesem Heft

„Zum ersten Male sah ich den Rhein, – mit hellen Tränen im Auge schwur ich armer Künstler meinem deutschen Vaterlande ewige Treue.“ So endet Wagners Autobiographi­ sche Skizze 1842. Von Paris aus war er auf dem Weg nach Dresden, wo später der gerade fertiggestellte Fliegende Hol­ länder uraufgeführt werden sollte, mit dem er in Deutschland zu reüssieren hoffte. Das Komponieren einer „deutschen Oper“ beschäftigte den 29-Jährigen schon seit Jahren: „Warum ist so lange kein deutscher Opernkomponist durchgedrungen? Weil sich keiner die Stimme des Volkes zu verschaffen wusste, weil keiner das wahre, warme Leben packte, wie es ist“, schrieb er 1834. Dass das Leben des Holländers dann doch eher ein kaltes war, tat dem Erfolg seiner Oper keinen Abbruch, ist aber vielleicht Grund dafür, dass die Aufnahme des Stückes zunächst kühler ausfiel als erhofft. Ewige Treue treibt also Autor wie Titelfigur. Natürlich ist sie auch Thema des Hefts, das sich darüber hinaus schwerpunktmäßig mit der Liaison von Wagner und Karl May beschäftigt. Unser Diskurspate Prof. Dr. Gerhard Vinnai wirft einen psychoanalytischen Blick auf „Liebe, Treue und Wahn“ und Gespenster spielen auch eine Rolle. Ob Drohung oder Hoffnung: Ein Schiff wird kommen ... IG

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woher?

vom Fliegenden Holländer von Heinrich Heine

Es ist die Geschichte von dem verwünschten Schiffe, das nie in den Hafen gelangen kann, und jetzt schon seit undenklicher Zeit auf dem Meere herumfährt. Jenes hölzerne Gespenst, jenes grauenhafte Schiff, führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, der einst bei allen Teufeln geschworen, dass er irgendein Vorgebirge, dessen Namen mir entfallen, trotz des heftigsten Sturms, der eben wehte, umschiffen wolle, und sollte er auch bis zum jüngsten Tage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort gefasst, er muss bis zum jüngsten Tage auf dem Meere herumirren, es sei denn, dass er durch die Treue eines Weibes erlöst werde. Der Teufel, dumm wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue, und erlaubte daher dem verwünschten Kapitän alle sieben Jahr einmal ans Land zu steigen, und zu heuraten, und bei dieser Gelegenheit seine Erlösung zu betreiben. Armer Holländer! Er ist oft froh genug von der Ehe selbst wieder erlöst und seine Erlöserin loszuwerden, und er begibt sich dann wieder an Bord. Die Moral des Stückes ist für die Frauen, dass sie sich in acht nehmen müssen, keinen Fliegenden Holländer zu heuraten; und wir Männer ersehen aus diesem Stücke, wie wir durch die Weiber, im günstigsten Falle, zugrunde gehn.

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Sebastian Baumgarten im Gespräch

„bei Wagner ist immer auch Gottesdienst zu inszenieren“ Sebastian Baumgarten über den Fliegenden Holländer Ingo Gerlach: In der Vorbereitung für die Inszenierung des Fliegenden Holländers spielte Ernst Blochs Text Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage eine zentrale Rol­ le. Wovor oder vor wem muss man Wagner retten? Sebastian Baumgarten: Ich glaube gar nicht, dass man Wagner retten oder ihn zwingend als surrealistische Kolportage lesen muss. Man müsste Wagner erst einmal wieder so realisieren, wie er sich seine Werke gedacht hat. Das wäre schon fremd genug. Für uns war die Kolportage aber ein Weg, um sich Wagners Holländer-Patchwork-Mythos zu nähern. In einem der Gespensterschiff-Romane von Marryat oder Traven gibt es die Beschreibung eines Schiffes, bei dem, wann immer etwas ausgebessert wurde, die Farbe genommen wurde, die man gerade zur Hand hatte. Das Schiff wurde dadurch zu etwas sehr buntem und grellem, mit extremen Kontrasten. Und so stelle ich mir den Umgang mit dem Stoff vor, den Wagner ja nicht lediglich den Matrosen auf der stürmischen Überfahrt von Riga nach London abgelauscht hat, wie er später behauptete, sondern für den er sich einer Vielzahl unterschiedlichster Quellen bedient hat. Das Bild dieses Schiffes mit den verschiedenen sich überlagernden Lackschichten, dieses Über- und Nebeneinander wollte ich in der Auseinandersetzung mit dem HolländerStoff spürbar machen.

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Sebastian Baumgarten im Gespräch

Um Rettung bzw. Erlösung geht es auch in dem Stück. Alex­ ander Kluge hat einmal gesagt „In jeder Oper, die von Erlö­ sung handelt, wird im letzten Akt eine Frau geopfert.“ Das klingt sehr blutig, trifft aber genau. Erlösung, Ehre, Treue, Heil – was fängt man mit diesen Zentralbegriffen des Holländers an? Das ist natürlich schwierig, weil diese Begriffe historisch stark gebunden wirken. Erlösung setzt zuerst mal eine Schuld voraus, die man auf sich geladen hat, und aus der man unter gewissen Bedingungen wieder heraus kommen kann. Das ist im Fall des Holländers der Versuch, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln um den schnellsten Handelsweg nach Indien zu finden. Ehre ist ein Begriff aus dem militärischen Bereich, der für mich gewisse moralische Werte und Verbindlichkeiten voraussetzt, Sekundärtugenden, die aber antiquiert wirken. Die Ehre setzt sich hier mit einer Musik, die zum Teil auch aus militärischen Elementen besteht, mit Märschen etwa, in einen konservativen Zusammenhang. Dadurch wird sie zu einem belasteten Begriff, der seinerseits erlöst werden muss. Heil ist das, was nach der Erlösung folgen kann. Und Treue hat immer mit einer Versprechung zu tun, bei der, zumindest wie man sie heute liest, mitschwingt, zu etwas stehen zu müssen, was man freiwillig nicht mehr machen würde. Die absolute Hinwendung zu

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einem Menschen, zu einem politischen System oder zu einer bestimmten religiösen Haltung. Für mich sind das alles eher repressive Begriffe. Und sie klingen alle extrem religiös … Ja, das ist es immer. Bei Richard Wagner ist immer auch ein Gottesdienst zu inszenieren, weil viele musikalischen Formen, die er für gesellschaftliche Zusammenhänge erfindet, aus dem kirchenmusikalischen Kontext kommen: Choräle, Gebete. Das wiederum steht dem Anarchischen, frei rezitierenden Singen gegenüber. Das war beim Freischütz ja ähnlich. Auch dort zitierte die Musik für das Kollektiv vor allem Choräle und Märsche. Du hast beide Inszenierungen als Folge gedacht. Spielt der den Freischütz bestimmende Dualismus von Gut und Böse hier eine ähnlich zentrale Rolle? Der ist für mich im Holländer gar nicht so präsent. Die Gefühlswelt des Holländers hat mit einer fortgeschrittenen Romantik zu tun. Diese deutlichen Kontraste, die für den Freischütz relevant waren – hell/dunkel, schnell/langsam, schwarz/ weiß etc. – sind hier schon aufgelöst. Hier sind es also verschiedene Kategorien, die sich einander gegenüberstehen.

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Sebastian Baumgarten im Gespräch

Emotionale Kategorien auf der einen und gesellschaftliche Wertbegriffe auf der anderen Seite. Schon beim frühen Wagner findet man Hinweise darauf, dass die Eindeutigkeiten oder klaren Affekte sich verändern. Aus der Traurigkeit wird Depressivität, aus dem Glück die Sehnsucht nach dem Glück. „Am Brunnen vor dem Tore“ – als wäre die eigentliche Welt dahinter, als rücke sie in die Ferne. Und das tut sie ja als Realität auch. Wenn man die Romantik als erste Stufe der Postmoderne liest, dann rückt dort die Realität als erlebtes Leben ein Stück weit vom Ich ab. Sie wird gerahmt, in die Ferne gesetzt, eben an den Brunnen vor dem Tore. Dieser Vorgang spielte im Freischütz eine große Rolle, das Schauen durchs Fenster, von beiden Seiten. Und hier sind es eher Bilder, die wirken. Das Bild des Holländers an der Wand, das Bild des Holländers, das Senta in ihrer Ballade zeichnet. Damit korrespondieren dann auch die Rahmen bzw. Rah­ mungen der Inszenierung. Es gibt einen Rahmen durch ein Portal am Portal, Rahmen die im Bühnenbild präsent sind, die aber auch durch die verschiedenen medialen Ebenen her­ gestellt werden, durch Video beispielsweise. Welche Rolle spielt das? Man kann die etwas verrückt verblasene Geschichte einer Frau, die sich einer übersteigerten nationalen Idee hingibt

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nur in einem bestimmten Rahmen erzählen. Das Kolportagehafte des Bühnenbilds, das die Geschichte ins pulp-artige, in Richtung Jahrmarktsbude zieht, macht das mit seinen gewollt billigen Mitteln möglich, weil von Anfang an klar wird, dass es sich um eine nicht-identifikatorische Spielweise handelt. Würde ich das ganze Stück in einem realistischen Raum spielen, wäre das so gar nicht umsetzbar. Dann würde die Rahmung fehlen und ich müsste sie narrativ einbauen – durch Schlüsse oder Abbrechen der Musik. Indem ich aber einen Rahmen um die Erzählung setze und sie so klar fiktionalisiere, kann ich innerhalb des Rahmens deutlich bis überdeutlich werden. Das wäre für mich das, was ich als eine „affirmative Spielweise“ beschreiben würde. Und dann gibt es auch innerhalb des Stückes ständig Rahmen, weil sich jeder ein Bild von dem anderen macht. Es geht also ständig um Realität und Projektion. Ist das Kolportagehafte denn wirklich ein angemessener Um­ gang mit Wagner? Wird man ihm so gerecht? Es geht nicht darum, Wagner zu denunzieren oder kleinzumachen, sondern wie gesagt um dieses Konglomerat aus tausenden von literarischen Quellen, Überschreibungen und Einflüssen, die ja für die damaligen Rezipienten lesbar waren. Mit welchem Ernst oder Nichternst gehe ich da ran?

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Sebastian Baumgarten im Gespräch

Mit einer feingezogenen psychologischen Regieführung – oder arbeite ich doch eher aus dem starken Gestus der Musik, mit der stark in die Kontraste gehenden Zeichnung der Figuren? Wie kriege ich es hin, Wagner wieder theatral zu hören und ihn nicht immer nur als Filmmusik zu empfinden. Denn das wäre ja die letzte Konsequenz der filmrealistischen Spielweise. Darum geht's mir eigentlich: das Künstliche, das Unechte, das Erfundene, das Phantasierte der Wagnerwelten als Qualität zu nehmen, es stark zu machen. Nicht bloß das Kriterium anzulegen, dass etwas nicht realistisch genug oder nicht echt ist. Das empfinde ich als Problem. Und ich glaube, dass unser Weg viel näher an Wagners Idee ist. Wenn ich unsere Inszenierung in einem originalen WagnerNeuschwanstein-Bühnenbild spielen würde, wäre das genauso kolportagehaft wie unsere Bretterbude. Für was steht die Holländer-Besatzung? Ich würde sagen, es ist die Kontinuität des deutschen Militarismus, die sich da abbildet, auch als Fortsetzung von unserem Freischütz. In der Zeit ging es um die Eroberung von Kolonien. Ganz eindeutig wird vom „Mohrenstrand“ gesungen und vom Südwind. Solche Zeichen und Hinweise will ich nicht einfach übergehen. Wenn Dalands Schiff landet, war klar, dass er von einer Reise aus der exotischen Welt

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zurückkehrt. Jetzt kann man natürlich sagen „das haben wir schon tausendmal gesehen“. Ich bin allerdings der Meinung, dass ich als Regisseur verpflichtet bin, die Stücke auf der entstehungsgeschichtlichen Grundlage und Realität der damaligen Zeit, als ein Zeitprodukt darzustellen. In einem historischen Roman würde diese Welt mit großer Ernsthaftigkeit als etwas Fremdes, durchaus Bedrohliches aber auch als etwas zu Eroberndes gezeigt werden. Und etwas erobern kann man nur, wenn man es militärisch begleitet, unterstützt oder forciert. Das ist das Thema der deutschen Geschichte an der Stelle – übrigens ganz explizit im Rahmen der jungdeutschen Bewegung um 1848, zu der Wagner inklusive der Barrikadenkämpfe in Dresden gehört. Deutschland hat sich im europäischen Vergleich schwer getan bei der Eroberung von Kolonien und daraus dann eine Aggression entwickelt, die zu zwei Weltkriegen und eben auch zu einem Phänomen wie Adolf Hitler geführt hat, der wiederum Freund der pathetischen Geste von Wagners Musik war. Da schließen sich Kreise, die kann ich nicht einfach ignorieren. Aber tut man dem Werk nicht unrecht, wenn man seine Re­ zeptionsgeschichte mit hineininszeniert? Im Gegenteil. Ich werde ihm nur dann gerecht. Wenn ich das nicht reflektiere, wenn ich mir nicht überlege, wie be-

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Sebastian Baumgarten im Gespräch

stimmte Musiken historisch umgewertet wurden, dann höre ich die mit anderen Ohren als die Zuschauer damals. Und meine Verpflichtung als Regisseur ist es, das Ohr von damals zu rekonstruieren und das für unsere Wahrnehmung heute zu adaptieren. Wie man etwa den Walkürenritt gar nicht hören kann, ohne die Hubschrauber aus Apocalypse now mitzudenken. Mit dem Werk geschieht also etwas im kollektiven Bewusstsein, es wandelt sich im Laufe der Zeit. Genau. Das muss man reflektieren. Und wenn man das nicht will, muss man es umwerten, allerdings so deutlich, dass der Gedanke daran nicht mehr aufkommt. Es gilt sich also nicht nur von den Klischeevorstellungen einer Gruppe von Opernfans zu lösen, die klare Vorstellungen davon haben, wie Richard Wagner auszusehen hat, sondern man muss auch berücksichtigen, dass die Musik Teil einer populären Kunst geworden ist. Und somit ist sie nicht nur zeitlich, sondern auch medial gebunden. Gespenster spielen eine zentrale Rolle in dem Stoff um den Fliegenden Holländer, den es ja schon vor Wagner als Stück gab. Nicht als Oper, sondern als Schauerstück. Lässt sich der Holländer als ein Horrorschocker begreifen?

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Ja. Und das wollte ich erst mal machen – mit den Mitteln der Bühne und nicht mit denen des Films. Das ist ganz schön kompliziert, rauszufinden, was einen da wirklich noch beängstigen kann, und das mit konventionellen Mitteln herzustellen. Das hat aber auch Wagner an dem Stoff interessiert. Das sollte einschlagen beim Zuschauer und Wirkung hinterlassen. Deswegen ist die Komposition teilweise so mimetisch: große Bewegungen von Naturgewalten, musikalisch dargestellt und illustriert. Wenn da die Gespensterwelt hineinbricht, das Übernatürliche, dann wird es spannend. Das war ein wichtiges Thema der Zeit: Die Wolfsschlucht aus dem Freischütz oder Marschners Vampyr, die Welten E. T. A. Hoffmanns, die „schwarze Romantik“ oder die „Gothic“-Tradition die dann im Horrorfilm des 20. Jahrhunderts ihre Fortsetzung fand. Das war Mode. Und in dieser Tradition steht auch Wagners Fliegender Holländer.

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kolportage

Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage von Ernst Bloch Man muss Wagner hören lernen, wie man Karl May verschlang, mit ihm auf den Jahrmarkt gehen. Dann hören die Phrasen auf, weil sie noch greller werden, auch das Züchtige verlieren, das sich feierlich nennt. Schräg wird Nahes seit je am besten gesehen. Der Blick von der Seite lockert Gewohntes oder biegt es neu. Hindert den mittleren Genuss, trennt, was verfilzt war, geniert sich der Frische nicht, sondern spricht sie aus. Dadurch rücken Dinge zusammen, die weit voneinander entfernt scheinen. Das Gefühl eines Knaben wird derart lehrreich, der sechs Stunden in Wagners Ring aushalten musste. Seitdem hasste er diese Musik; sie sah aus, wie die gute Stube, war auch genauso sesshaft und langweilig wie der Besuch darin. Da hört er später, ganz gelegentlich, den Matrosentanz aus dem Holländer, die großartige None, die Piccoloflöte als Bootsmannspfeife. Gleich wurde das Stück wild, bunt, kolonial; Karl May und Richard Wagner schüttelten sich die Hand. Ein Wort zuvor, damit der Händedruck nicht zu früh stimme. Weder Wagner noch Karl May sind in diesem Zusammenhang, was sie dem Leser sind, der sich über ihre Conductio wundert, schlicht ärgert oder auch schlicht freut. Wagner ist eine Verlegenheit, das ist ja klar, aber Ironie an ihr ist billig, unverschämt und hilflos, wird nirgends gemeint. Und Karl May, an sich schon einer der spannendsten,

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buntesten Erzähler, steht gut für Jahrmarkt, Kolportage, für Wesen also, deren Improvisation und Grelle man wichtig, fast ernst zu nehmen hat. „Rettung“ Wagners durch Karl May bedeutet also keinen Witz auf einem Leichenschmaus, sondern ein lebendiges Stück. Manch surrealistischer Versuch sieht ja die gute Stube auf dem Jahrmarkt; kurz, hier ist eine Zuspitzung fälliger Tendenzen. Wagner in Kolportage ist eine Übertragung der genialsten Fragwürdigkeit auf die Ebene einer heutigen Frage. Betrachtet man zunächst die gute Stube, aus der jeder Junge floh. Sie ist widerlich geblieben, aber ein Rätsel geworden, Wagner mit ihr. Das erste gefühlte Merkmal der guten Stube ist der Traum, worin sie steht. Er überzieht heute das Bild ihrer Nippes; die Kindheit, woher er stammt, hatte in dem selber Hohlen und Spukhaften des vorigen Jahrhunderts sehr guten Platz. Ja, auch die Erwachsenen lagen damals im Bett, das Bürgertum lag im Adelsbett; außerstande seine eigene Form zu haben, träumte es alte Kultur nach, mit überfülltem Magen, ohne Zusammenhang mit dem sehr nüchternen Arbeitstag. Der Kapitalismus und seine Technik, der die überkommene Kultur zerstört hatte, gestand sich noch nicht; neue Kräfte, die gerade aus dem kulturellen Hohlraum hätten schaffen können, waren noch nicht gekommen, vom Einsturz regierte nur der Staub daraus, der sich zu dekorativen Wolken bildete. So kam dieser

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kolportage

Traumkitsch (nach dem Ausdruck Benjamins), aus allen Stilarten übereinander gelegt, diese unsägliche Überschneidung historischer Gesichter, diese eigentliche Kitsch­ mythologie, an der nichteinmal mehr ideologische Wahrheit ist. So kam vor allem das zweite Merkmal der guten Stube, an und über dem Traum: nämlich der vollendete Schein. Dieser aber ist, außer der bloß subjektiven Lüge, nicht nur Flucht und widerlichstes Falsifikat, sondern er entzauberte die Mythen, die der Kapitalismus zerstört hat, nochmals durch vollendeten „ästhetischen“ Nicht-Ernst an ihnen. Der Jahrmarkt betrachtet den Kitsch nicht, sondern legt ihn um. Früher besorgte das, mythischen Mächten gegenüber, das Märchen, mit dem hilflosen, dennoch siegreichen Hänsel, auch Kasperle. Das Märchen wird beerbt von der Kolportage (die dem Jahrmarkt so nahe steht); die mythischen Mächte sind ihr der Scheinkitsch der besitzenden geworden, und sie plündert die gute Stube aus. Die Kolportage ist folglich die eigentlichste Rettung Wagners, über dem Traumkitsch an ihm; sie ist die Bootsmannspfeife, an der der frische Wagner-Eindruck begann, an der nichts rätselhaft, aber auch nichts staubig ist. Wie die gute Stube stammt auch die Kolportage aus dem XIX. Jahrhundert, ist gleichfalls ein Traum, doch: keiner der Satten, sondern der Gespannten und Wartenden.

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der engel der Geschichte Walter Benjamin

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

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Nun wollen wir in Schiffen über das Meer f land gründen, es mit den Ergebnissen unser edelsten, gottähnlichen Kinder zeugen und als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäf Engländer, denen sie ein Krämerladen wurd machen: vom Aufgang bis zum Niedergang s land sehen und an den Grenzen der Tochter des, kein zertretenes unfreies Volk wohnen deutscher Milde sollen den Kosaken und Fr wärmen und verklären. Richard Wagner


fahren, da und dort ein junges Deutschres Ringens und Strebens befruchten, die d erziehen: wir wollen es besser machen ffisches Schlächterhaus, anders als die de. Wir wollen es deutsch und herrlich soll die Sonne ein schÜnes, freies Deutschrlande soll, wie an denen des Mutterlann, die Strahlen deutscher Freiheit und anzosen, den Buschmann und Chinesen




















die stimmen der geister

Im Namen des Mediums von Boris Groys

Man kann wirklich sagen, dass die Medientheorie die Ideologie unserer Zeit ist und zwar deswegen, weil wir glauben, dass wir nicht inmitten einer Welt leben, die mit wissenschaftlichen Mitteln erfahrbar und erfassbar ist, sondern dass wir in einer Medienwelt leben, einer Welt, die uns ständig Botschaften übermittelt, deren Ursprünge irgendwo hinter einer medialen Oberfläche verborgen sind. Diese Vorstellung von einer medialen Oberfläche, die den Menschen von einer Realität trennt, die, wie Baudrillard schreibt, unzugänglich geworden ist oder verschwindet, lassen uns vergessen, dass der Begriff „Medium“ zu dem Zeitpunkt, als er angefangen hat, einflussreich zu werden, dass zu dieser Zeit das Medium par excellence der Mensch selbst war. Der Mensch ist ein ursprüngliches Medium. Er ist das Medium. Im Kontext spiritistischer Gesellschaften und Séancen, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Verbreitung in Europa gefunden haben, treten die Medien auf, Menschen, die Stimmen und Botschaften der Geister auffangen und den Lebenden übermitteln. Einer der Systematiker dieser spiritistischen Praxis war Allan Kardec, der 1861 Das Buch der Medien veröffentlichte. Ein Titel, der sehr gegenwärtig scheint. Im Zentrum stand bei ihm die Frage, wie der Mensch zum Medium werden und als Medium agieren kann. Und in wie weit wir als Empfänger der Botschaften, die das Medium überbringt, fähig sind zu unterscheiden, ob sie authentisch sind.

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Wir glauben meistens, dass die Zeit des Spiritismus eine naiv gläubige war. Aber Kardec ist extrem vorsichtig. Im Grunde sagt er, dass wir keine Kriterien haben, um festzustellen, ob die Botschaften, die uns übermittelt werden, tatsächlich von den Geistern kommen oder von dem Medium bewusst manipuliert werden. Das heißt, wir haben hier schon in nuce mit der Problematik zu tun, inwieweit die Botschaften, die wir medial auffangen, etwas über die wahre Beschaffenheit einer submedialen Welt offenbaren, also der Welt, die sich hinter der medialen Oberfläche verbirgt.

wenn Hitler nun heute hier zur Tür reinkäme, ich wäre genau so fröhlich und glücklich, ihn hier zu sehen und zu haben wie immer. alles was ins Dunkle geht bei ihm, ich weiss, dass es existiert, aber für mich nicht, weil ich diesen Teil nicht kenne. Winifred Wagner

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diskurspate

Liebe, Treue und Wahn. Ein Versuch über Wagner von Gerhard Vinnai Der 22-jährige Wagner schreibt an seine Mutter „voll der Gefühle des Dankes für deine herrliche Liebe zu Deinem Kinde, die Du ihm zuletzt wieder so innig und warm an den Tag legtest, so sehr, dass ich dir in dem zärtlichsten Tone eines Verliebten gegen seine Geliebte davon schreiben und sagen möchte. Ach, aber weit mehr, – ist denn nicht die Liebe einer Mutter weit mehr – weit unbefleckter als jede andere? Ich will dir nur danken und wiederum danken. Weiß ich doch, dass gewiss kein Herz so innig teilnahmsvoll, so sorgenvoll mir jetzt nachblickt, wie das Deine –, ja, dass es vielleicht das einzige ist, das jeden meiner Schritte bewacht, um ihn in dein Gebet einzuschließen. Warst Du nicht immer die Einzige, die mir unverändert treu blieb.“ Die idealisierende Beschwörung der Liebe und Treue der Mutter, in einem erotisch getönten Liebesbrief, verdeckt eine fatale Abhängigkeit. Die reale Beziehung zwischen Mutter und Sohn war keineswegs nur von unendlicher Liebe bestimmt. Wagner beschwert sich gegenüber seiner Schwester über seiner Mutter „wirklich grenzenlose Charakterlosigkeit und gänzlich aufgelöste Launenhaftigkeit“, überdies treibe sie „in unsrer Familie nichts als Unfug durch einen merkwürdigen Hang zu Verdrehungen, Entstellungen und Klatschereien, so dass jedes unserer Geschwister sie sich vom Leib hält“. An anderer Stelle klagt er, von ihr „kaum je geliebkost worden zu sein, wie überhaupt zärtli-

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che Ergießungen in unsrer Familie nicht stattfanden“. Eine solche Erfahrung erzeugt unvermeidbar Enttäuschungswut und die Sehnsucht, von einem mütterlich-weiblichen Objekt endlich das Vermisste zu erlangen. Beides fixiert an die Mutter als primäres Objekt und belastet spätere Beziehungen zu Frauen. Man kann im Fliegenden Holländer eine prekäre Fixierung an primäre Beziehungen ausmachen, die der frühen Kindheit entsprechen. Dem Holländer und Senta gelingt keine erwachsene Liebesbeziehung. Es treffen keine Menschen aufeinander, die zu Subjekten geworden sind und den Anderen als Subjekt annehmen können. Sie sprechen nicht miteinander, sie flirten nicht, sie nehmen nicht gemeinsam ein alltagspraktisches Problem in Angriff, das für eine gelingende Beziehung gelöst werden muss. Sie verfallen blind psychischen Mächten, ohne sie bewusst beeinflussen zu können. Ihre Beziehung ist regressiv: auf einem frühen infantilen Niveau angesiedelt. Der oder die Andere ist nicht als Person von Interesse, sondern nur als Repräsentant narzisstischer Wünsche. (Sie werden nicht wegen ihrer Individualität geschätzt, sondern nur als Repräsentanten eigener Wünsche – also zu erlösen oder erlöst zu werden.) Der Kontakt des Paares beruht vor allem auf einem Verfallensein mit Hilfe des Blicks. Der Säugling fixiert sich beim Stillen durch seinen Blick auf die Augen der Mutter und die Mutter bin-

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det ihn dabei durch ihren Blick. Die Macht des Begehrens zwischen Senta und dem Holländer hebt Trennungen zwischen ihnen auf. Senta löst sich gewissermaßen im Holländer auf und verfällt so einer Symbiose, wie sie Psychoanalytiker für die frühe Kindheit annehmen. Wagners scheinbar liebendes Paar ist einer eigentümlichen, düsteren Dumpfheit verfallen: Diese wird besonders deutlich, wenn man sie mit der reifen erotischen Kommunikation konfrontiert, die zum Beispiel Mozart in seinen italienischen Opern vorführt. Der Holländer will keine Liebe, die an eine Beziehung zwischen Subjekten gebunden ist, er will Erlösung von allen Übeln der äußeren und inneren Realität. In der frühen Kindheit kann die Mutter eine solche Erfahrung der Erlösung ermöglichen. Nicht zufällig verbindet der Holländer die Sehnsucht nach Erlösung mit „der Ferne längst vergangner Zeiten“: Das erste Liebesobjekt eines männlichen Wesens ist im Normalfall die Mutter. Dieses erste Liebesobjekt entspricht aber nicht der Realität der Mutter, es wird vor allem von Wünschen erzeugt. Diese Wünsche lassen sie als weit liebevoller und fürsorglicher erscheinen, als sie es in der Realität ist. Diese Idealisierung dient nicht zuletzt der Abwehr der kindlichen Ängste vor dem Verlassenwerden, dem Liebesverlust oder der psychischen Hilflosigkeit. Das Bild der guten Mutter hält der Realität allerdings nicht stand. Das muss die sich entwickelnde Psyche schmerzlich

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akzeptieren lernen. Sie muss lernen, Wunsch und Wirklichkeit zu trennen. Das Fantasma eines frühen idealen weiblich-mütterlichen Wesens muss deshalb verdrängt werden. Es verschwindet aber nicht einfach, sondern wirkt im Unbewussten fort. Es drängt zur Suche nach einem idealen Liebesobjekt, das endlich alle Wünsche zu erfüllen vermag. Zu Ehen gehört fast immer die geheime Sehnsucht nach einem idealen Objekt, dessen Verführungskraft die Ehefessel aufbricht. Ein mehr oder minder großes Maß an Untreue gehört also, zumindest wenn man die Phantasie mitberücksichtigt, dazu: Absolute Treue kann es nicht geben. Das Ungenügen der Realität kann zu lebendig erhaltenden erotischen Suchbewegungen aber auch zur Flucht in das innere Kloster der Neurose führen, wo unbewusst verbissen an unerfüllbaren frühen Liebeswünschen, die einst auf die Mutter bezogen waren, festgehalten wird, was eine gelingende reale Beziehung zur Frau untergräbt. Man kann vermuten, dass Wagners ideales „Weib der Zukunft“, das die Liebe in völliger Treue bis zum Opfertod vertritt, das Produkt einer solchen neurotischen Disposition ist. Die Mutter als erstes Liebesobjekt muss für eine gelingende psychische Entwicklung vom Kind verlassen werden. Der Sohn muss anfangen, die Untreue ihr gegenüber zu wollen. Das wird dadurch erleichtert, dass die Mutter demonstriert, dass sie Treueverpflichtungen gegenüber ihrem Mann hat,

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Schnee. Schlachtlärm. Drei Soldaten. Ihre Körper sind nicht mehr v

Soldat 1: Da kommt Nachschub. Soldat 2: Der hat noch alles. Soldat 3: Wer ist dran? Soldat 1: Ich. Soldat 2: Woher, Kamerad? Junger Soldat: Aus der Schlacht. Soldat 3: Wohin, Kamerad? Junger Soldat: Wo keine Schlacht ist. Soldat 1: Deine Hand, Kamerad.

Reißt ihm den Arm aus. Der junge Soldat schreit. Die Toten lachen

Soldat 3 (den Arm anbietend): Hast Du kei

Der junge Soldat verdeckt seine Augen mit der verbliebenen Hand.

Soldat 1: Das nächste Mal bist du dran. De Stimmen: Vive l’empereur. Es lebe der Kaise Soldat 1: Das ist Napoleon. Er kommt jede

Napoleon geht vorbei. Er ist bleich und dick. Er schleift einen Sold

Soldat 1: Das geht in Ordnung. Es sind sei Und er zählt nach, er ist filzig. Kamerads lich nichts essen? Der junge Soldat läuft schreiend weg.

Soldat 3: Der kommt wieder. Der Kessel ist Heiner Müller, Germania Tod in Berlin


vollständig. Auftritt im Schneetreiben ein junger Soldat.

n und fangen an, den Arm abzunagen.

inen Hunger?

.

er Kessel hat für alle Fleisch. er. e dritte Nacht.

daten seiner Großen Armee an den Füßen hinter sich her.

ine Leichen. Ohne ihn wären sie nicht hier. chaft gibt es nur bei uns. Willst du wirk-

t dicht.


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die das Kind ausschließen, wodurch die Mutter als treulos erfahren werden kann. Wenn die Mutter zu wenig Treue zu ihrem Mann vorlebt und der Vater zu wenig als überlegener Rivale auftritt, kann sie dem Kind als besonders verführerisch erscheinen, was eine inzestuöse Bindung an sie fördert. In der Pubertät wird diese ödipale Problematik mit dem Erwachen der Sexualität der Jugendlichen nochmals aufgeladen. Wieder muss das Kind seinen Eltern untreu werden können, um einen Zugang zur erwachsenen Sexualität zu erlangen, die mit außerfamiliären Liebesobjekten verbunden ist. Ebenso müssen die Eltern lernen, dem Kind durch ein eigenes neues Leben untreu zu werden und nicht mehr zu viel Treue von ihm zu verlangen. Eine lebenslange völlige Treue würde eine Fixierung an ein primäres Liebesobjekt bedeuten, die für die Psyche tödliche Konsequenzen hat, weil sie die Subjektwerdung untergräbt. Die ungelöste Bindung an das primäre mütterliche Objekt, bzw. der permanente Drang zur Rückkehr zu diesem, bedroht die Psyche durch eine Neigung zum psychotischen Wahn und zum Tod durch Selbstzerstörung. Wagners Opern kultivieren immer wieder diese übersteigerte selbstquälerische Lust am Leiden, die sich als Tugend des Mitleids ausgibt. Der fliegende Holländer führt eine ungelöste primäre Beziehung zwischen Tochter und Vater und deren fatale Konsequenzen vor. Hinter dieser fragwürdigen Beziehung kann

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man auch eine prekäre Beziehung zwischen Mutter und Tochter vermuten, über die nichts berichtet wird. Senta ist ein mutterloses Kind, Daland hat die Mutter durch Tod oder Untreue verloren. Die Tochter ist dem Vater immer treu ergeben, sie lässt sich konfliktlos an einen anderen Mann weiterreichen. Ein Vater, der seine Tochter liebt, gibt diese nicht gerne an einen anderen Mann her – er zeigt Eifersucht. Als Senta gegen Schluss der Oper nochmals ihr entschiedenes Festhalten an der Treue besingt, gibt sie irritierend offen zu verstehen, dass ihre Treue zum Holländer der ungelösten Abhängigkeit vom Vater entsprungen ist. Er mag sein, wer er will, er wird akzeptiert, solange er, psychoanalytisch gesprochen, eine Vaterübertragung auf sich ziehen kann: „Wer Du auch seist und welches das Verderben, dem grausam dich dein Schicksal konnte weihn, – was auch das Los, das ich mir sollt erwerben, gehorsam werd ich stets dem Vater sein!“ Das Martyrium Sentas, das die Oper vorführt, wäre demnach die Konsequenz eines Missbrauchs ihrer infantilen Abhängigkeit vom und durch den Vater. Die überdrehte, bombastische Beschwörung der Treue einer weiblichen Heldin verschleiert die psychische Hinrichtung einer jungen Frau, die in der Oper insgeheim dargestellt wird. Senta opfert sich am Schluss der Oper angeblich, um ihre Treue zu beglaubigen. Vielleicht begeht sie aber Selbstmord, weil die

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Abhängigkeit, die ihr in der Beziehung zum Vater aufgezwungen wurde, für Sie in einer inzestiösen Beziehung mit einem Doppelgänger des Vaters, in Gestalt des Holländers, nicht lebbar ist. Eine solche Beziehung bedroht Senta mit der Psychose. Wagners Musik, viel mehr als sein Text, führt eine junge Frau vor, die von einem psychotischen Wahn ergriffen wird. Wie kann sie sich gegen die Erfahrung der Zerstörung ihrer Psyche durch den Wahn retten? Die Liebe zu Erik, der sie verzweifelt an die Realität binden möchte, ist dazu zu schwach geworden. Mitunter besteht die letzte Möglichkeit die eigene Subjektivität zu retten darin, sich umzubringen. Die süßlich-kitschige Himmelfahrt am Ende der Oper weist darauf hin, dass hier etwas nicht stimmt. Wagners Kunst lebt nicht zuletzt von der Kraft der Neurose. Aber Wagner ist keineswegs ein gewöhnlicher Neurotiker, sondern ein genialer. Er hat Grenzbereichen des Seelischen in der Nähe von Tod, Inzest und psychotischem Wahn einen ästhetischen Ausdruck verliehen, der es erlauben kann, sich gründlicher mit ihnen zu beschäftigen. Mit Wagner kann man sichtbar machen, wie furchtbar es sein kann, ein Subjekt sein zu müssen. Mit seiner Hilfe kann man zeigen, welche schmerzlichen Trennungen und Verhärtungen die Subjektwerdung verlangen kann, die den Wunsch wecken, die Subjektwerdung wieder zurückzunehmen. Aber Wagner beinhaltet auch eine Gefahr. Er glorifiziert einen Masochis-

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mus, der trefflich als Kitt für irrationale Machtverhältnisse dienen kann. Er hat insbesondere die masochistische Leidensbereitschaft von Frauen und damit zugleich auch heimlich einen Sadismus von Männern unterstützt, der es diesen erlaubt, sich am weiblichen Masochismus zu erfreuen. Dieser Sadismus kann es zulassen, es als erbauliches Erlebnis zu verbuchen, wenn Senta, angeblich im Dienste der Erlösung, von der Klippe springt. Schon Nietzsche hat sich darüber empört, dass unter Wagners Einfluss viele auf lebensfeindliche Art angefangen haben, vom mit Treue verbundenen Opfertod zu schwärmen. Nicht zuletzt deshalb hatte Wagner im Dritten Reich Konjunktur. Für Senta ist Treue bis in den Tod „des Weibes schönste Tugend“. Die SS-Männer, die wie der Holländer schwarz gekleidet waren, und ein Totenkopfabzeichen trugen, sollten im Dritten Reichs bereit sein, ihr Leben auf dem Schlachtfeld aus Liebe zum ihrem Führer zu opfern. Auf ihrem Koppelschloss stand die Parole: „Meine Ehre heißt Treue“. Man sollte darüber nachdenken, ob es zwischen beidem Beziehungen gibt. Prof. Dr. Gerhard Vinnai lehrte bis 2005 Analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Er arbeitete schwerpunktmäßig zu den Themen Psychologie der Gewalt, Psychoanalyse der Religion, Geschlechterrollenprobleme und veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter eines zu Adolf Hitler und der Genese des faschistischen Täters.

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richard wagner

Richard Wagner, 1813 in Leipzig geboren, begann seine Theaterlaufbahn 1833 als Chordirektor in Würzburg. Sein Weg führte ihn über Lauchstädt, Magdeburg und Königsberg 1837 als Musikdirektor nach Riga. Von dort floh er 1839 mit seiner Frau Minna vor Gläubigern über London nach Paris, wo u. a. die Urfassung des Fliegenden Holländers entstand. 1840 ging er nach Dresden, wo er Hofkapellmeister wurde, Tannhäuser und Lohengrin komponierte und 1849 auf den Barrikaden kämpfte. Steckbrieflich gesucht floh er nach Zürich, wo er vom Ehepaar Wesendonck unterstützt wurde. Bis 1858 entstanden dort neben zentralen theoretischen Schriften wie Das Kunstwerk der Zukunft der antisemitische Aufsatz Das Judentum in der Musik, der Großteil der Ring-Dichtung (Komposition 1851 – 1874) sowie Tristan und Isolde. Wegen der intensiven Freundschaft zu Mathilde Wesendonck, der Frau seines Gönners, kam es zu Spannungen und auch zum endgültigen Bruch mit Minna. Wagner verließ Zürich. Ab 1864 wurde der hoch verschuldete Komponist von Ludwig II. finanziert. 1867 beendete er die Arbeit an Die Meistersinger von Nürnberg. 1870 heiratete er Cosima von Bülow. 1872 zog er mit seiner Familie nach Bayreuth, wo 1876 der Ring-Zyklus und 1882 Par­ sifal uraufgeführt wurden. Wagner starb 1883 in Venedig.

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HANDLUNG

Kurz vor Erreichen des heimatlichen Hafens, wird Dalands Schiff vom Sturm überrascht und in eine Bucht getrieben. Dort landet auch ein holländisches Schiff, dessen Kapitän Daland reiche Schätze für ein Nachtlager anbietet. Als der seine Tochter Senta erwähnt, schlägt der Fremde eine Hochzeit vor. Daland willigt ein. Der Sturm hat sich gelegt, sie brechen auf. Während sich die Frauen auf die Rückkehr der Männer vorbereiten, vertieft Senta sich in das Bild eines mysteriösen Seemanns. Sie singt die Ballade vom Fliegenden Holländer und dessen Suche nach Erlösung durch die Treue einer Frau. Sie steigert sich in ihre Erlösungsfantasie hinein – zum Unmut ihres Verlobten, Erik, der von Dalands Ankunft berichtet. Zur Warnung erzählt Erik einen Traum, in dem Senta dem Fliegenden Holländer aufs Meer gefolgt sei. Sie ist begeistert: ihr Weg scheint vorbestimmt. Zu Hause angekommen, stellt Daland Senta den Holländer vor. Sie fühlen sich einander tief verbunden. Senta schwört ihm Treue. Die Matrosen wollen ihre Rückkehr mit den Frauen feiern, die bleiben aber distanziert. Die aufsteigende Frustration entlädt sich. Erik erinnert Senta an die Treue, die sie ihm einst gelobt hatte. Der Holländer sieht sich betrogen und besteigt sein Schiff. Senta bleibt treu.

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Bildnachweise / impressum Umschlag vorne: Chor; S. 28: Carsten Wittmoser; S. 30: Loren Lang, Chor S. 32: Luis Olivares Sandoval, Patricia Andress; S. 34: Christian-Andreas Engelhardt, Statisterie; S. 36: Tamara Klivadenko, Marc Steven Hallock; S. 38: Tamara Klivadenko, Chor; S. 40: Patricia Andress; S. 42: Carsten Wittmoser, Loren Lang; Umschlag hinten: Carsten Wittmoser, Patricia Andress, Statisterie

Impressum Herausgeber Theater Bremen GmbH Geschäftsführung

Prof. Michael Börgerding (Generalintendant), Michael Helmbold (Kaufmännischer ­Geschäftsführer) Redaktion Ingo Gerlach Fotos Jörg Landsberg (Probenfotos vom 5. September 2013) Texte Das Interview mit Sebastian Baumgarten ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. Diskurspate Prof. Dr. Gerhard Vinnai hielt seinen Vortrag, der hier in gekürzter Form abgedruckt ist, am 1. September 2013 (gesamter Text auf www.theaterbremen. de). Weitere Texte: Ernst Bloch: Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage, in: Zur Philosophie der Musik, Frankfurt/ Main 1974. Boris Groys: Im Namen des Mediums (audio-CD), Supposé 2004. Richard Wagner: Rede vom 15. Juni 1848, in: Gisela Graichen/Horst Gründer, Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, Berlin 2005. Hans-Jürgen Syberberg, Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried von 1914 bis 1975, BR/ORF 1975. Die Kurzbiographie und die Handlung schrieb Ingo Gerlach. Gestaltung ErlerSkibbeTönsmann, Tim Feßner Druck DruckVerlag Kettler GmbH

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