Immer ein Fest für Geist und Sinne! 100 Jahre Landestheater Detmold

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!

LANDESTHEATER DETMOLD



Immer ein Fest fĂźr Geist und Sinne! 100 Jahre Landestheater Detmold

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Inhalt 10 12 14 16 18 20 22 26

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Grußwort des Bundespräsidenten

Frank-Walter Steinmeier

Grußwort der Ministerin für Kultur und Wissenschaft

Isabell Pfeiffer-Poensgen

Grußwort des Landrates des Kreises Lippe

Axel Lehmann

Grußwort des Bürgermeisters

Rainer Heller

Grußwort des Landesverbandes Lippe

Moritz Ilemann

Grußwort des Adelshauses Lippe

Stephan Prinz zur Lippe

Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins

Ulrich Khuon

Einhundert Jahre – wohin geht die Reise? / Georg Heckel Die Kunst, sich über einhundert Jahre immer wieder neu zu erfinden /

Bettina Milz

Unser Theater. Bildserie / A. T. Schaefer „Das Theater ist Volkssache geworden.“ / Michael Dahl

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Ein Geschenk für die Stadt /

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Inszenierungen. Bildserie

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Hartmut Benkmann, Susanne Flottmann und Stefan Dörr im Gespräch

Die Lokalzeitung leistet Geburtshilfe / Michael Dahl Unser Haus. Bildserie Jenseits der Modewellen / Stefan Keim Chronik / Michael Dahl

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Grußwort des Bundespräsidenten

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Liebe Freundinnen und Freunde des Landestheaters Detmold, liebes Publikum, einhundert Jahre sind ein wirklich rundes Jubiläum, das verdient, gewürdigt und gebührend gefeiert zu werden. Ich freue mich, dass ich herzlich gratulieren darf – nicht nur als Bundespräsident, als in Detmold geborener, in Schieder-Schwalenberg aufgewachsener Lipper, der sich an sein allererstes Theatererlebnis „Peterchens Mondfahrt“ im Landestheater vor deutlich mehr als einem halben Jahrhundert noch erinnern kann. Jahre später habe ich im Theaterring Stücke und Inszenierungen kennengelernt, die mir eine Ahnung vermittelt haben, was Kultur vermag und wie arm das Leben ohne sie ist. Einhundert Jahre: wie viel Dialoge sind in dieser Zeit auf dieser Bühne gesprochen worden, wie oft haben sich Liebespaare dort gefunden und verloren, wie viele Bühnentode mögen gestorben worden sein! Und wie viel Glück und Schmerz, wie viel Tragik und Erfüllung hat sich in all den Jahren den Theaterbesuchern mitgeteilt!

„Theater jetzt!“ heißt das Magazin des Landestheaters. Und das heißt ja so viel wie: Theater immer! Ja, immer wird das Theater gebraucht, um die großen Themen des einzelnen menschlichen Lebens, seine Leidenschaften und Konflikte, seine Ausweglosigkeiten und mögliche Lösungen im Spiel durchzuprobieren. Theater wird aber auch gebraucht, um spielerisch die großen Fragen zu verhandeln, die die ganze Gesellschaft bewegen. In schweren und in leichteren Zeiten. Das geschieht durch das immer neue, kritische Befragen der sogenannten Klassiker – und das geschieht durch neue Stücke, die im Heute und für heute geschrieben sind. Nicht nur immer: Auch überall wird das Theater gebraucht. Deswegen sind Landesbühnen für unsere Kultur so bedeutend, damit nicht nur in den Metropolen Theater gespielt wird. Und dazu hat sich das Landestheater Detmold – als größte Reisebühne Europas, wie es stolz von sich selber sagt – in ganz Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus eine treue Theatergemeinde erspielt.

Dass es herausragend ist, was hier geboten wird, davon konnte ich mich erst vor kurzem selber wieder überzeugen.

Ich wünsche dem Landestheater Detmold, den Theaterfreunden in Detmold und Umgebung und allen Zuschauerinnen und Zuschauern, die landauf, landab dieses Theater erleben können, zum Jubiläum alles Gute – vor allem aber eine bunte, erfolgreiche und aufregende Zukunft.

Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident

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Grußwort der Ministerin für Kultur und Wissenschaft

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Sehr verehrtes Publikum,

das Landestheater Detmold kann auf eine einhundertjährige erfolgreiche Geschichte zurückblicken.

Mit Schauspiel, Musiktheater und Tanz gelingt es dem Landestheater Detmold, als einer der größten Landesbühnen in Deutschland immer wieder nicht nur in seiner Sitzstadt Detmold, sondern weit darüber hinaus, für die Kunst und den Austausch zwischen Künstlerinnen und Künstlern und Publikum zu begeistern. Für diese Leistung ist das Landestheater Detmold, als eine von 24 deutschen Landesbühnen, 2010 mit dem Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet worden. Die Landestheater haben eine besondere und wichtige Aufgabe: Sie bieten den Menschen in Nordrhein-Westfalen auch abseits der Metropolen in enger Kooperation mit vielen Partnern anspruchsvolle Theaterkunst. Theater sind in Zeiten der Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche als Orte der realen Begegnung, des Austauschs und der Kommunikation von großer Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Die Landesregierung setzt daher ein klares Zeichen, um die herausragende Theaterlandschaft in Nordrhein-Westfalen zu stärken: Bis zum Ende der Legislaturperiode wird der Etat für Kunst und Kultur in Nordrhein-Westfalen um fünfzig Prozent erhöht. Von der Aufstockung profitieren die Landestheater – und mit ihnen das Landestheater Detmold – seit 2018 unmittelbar. Den rund 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Theaters gilt mein besonderer Dank für ihr Engagement. Der neue Intendant Georg Heckel und sein Team überzeugen in Stadt, Kreis und Land mit einer erfolgreichen ersten Spielzeit.

Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Jubiläumsfest und viele beeindruckende Theatererlebnisse mit dem Landestheater Detmold.

Isabel Pfeiffer-Poensgen Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen

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Grußwort des Landrates des Kreises Lippe

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Sehr geehrtes Publikum,

Lippes Kulturlandschaft ist bunt und vielschichtig, und das Landestheater Detmold nimmt darin seit jeher einen ganz zentralen Platz ein.

Vor hundert Jahren konnte der erfolgreiche Wiederaufbau gefeiert werden, aus dem ehemaligen Hoftheater wurde ein „Theater des Volkes“ und später dann unser Landestheater.

Davon unberührt, findet man noch heute überall im Theater Hinweise auf die enge historische Verknüpfung mit dem Fürstentum Lippe. Es ist genau diese Verbindung von dem wunderschönen historischen Ambiente und der Fähigkeit, immer wieder den Geschmack seines Publikums zu treffen, die das Landestheater so erfolgreich macht.

Ein weiterer Grund ist das Bewusstsein aller Beteiligten, dass auch in Lippe die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Gesellschafter bekennen sich daher mit steigenden Beiträgen zu ihrer Verantwortung, und auch das Land und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützen tatkräftig. Uns alle eint der Wunsch, den Menschen das Kulturprogramm in ihrer Region zu bieten, das sie wollen und verdienen. Dem Landestheater Detmold gelingt es – unter nicht einfachen Rahmenbedingungen – den Menschen in Lippe und darüber hinaus jede Spielzeit erneut ein Programm zu bieten, das einem Landestheater würdig ist und seinem Namen Ehre macht. Es ist in unser aller Interesse, das Landestheater bestmöglich für die Zukunft aufzustellen,

so dass wir uns auch die nächsten einhundert Jahre daran erfreuen können. Dass uns dies gelingen wird, daran habe ich keine Zweifel.

Ihr Landrat Dr. Axel Lehmann

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Grußwort des Bürgermeisters

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde des Landestheaters Detmold! Der einhundertste Geburtstag des heutigen Theatergebäudes ist wahrlich ein Grund zum Feiern! Das Jubiläum ist nicht nur ein Geburtstag des Gebäudes, sondern auch ein besonderes Jubiläum für das Landestheater Detmold.

Wir blicken zurück auf eine erfolgreiche Geschichte des Landestheaters, die natürlich eng verbunden ist mit seinem Gebäude. 1825 als Hochfürstlich Lippisches Hoftheater eingeweiht, brannte das Gebäude 1912 bis auf seine Grundmauern ab. Der sofortige Wiederaufbau in den Jahren 1914/15 legte den Grundstein für unser heutiges Landestheater Detmold. Das Mehrspartentheater ist die größte Reisebühne Europas und zählt zu den kulturellen Aushängeschildern und zum Image der Stadt Detmold. Das Landestheater in seiner heutigen Form bietet mit seinem Angebot an alle Generationen den Zugang zu Kultur und Kunst außerhalb von Großstädten und Ballungsräumen. Nicht ohne Grund wirbt die Stadt mit dem Slogan „Kulturstadt im Teutoburger Wald“, und das Landestheater Detmold hat seinen großen Anteil daran. Der historische Charme des Gebäudes, gepaart mit hochwertiger Theaterkunst, macht die besondere Stellung des Landestheaters im Kulturangebot Detmolds aus und sie damit zu einem wichtigen Standortfaktor. Und blickt man auf die Finanzierung vor einhundert Jahren, war es vor allem die Detmolder Bürgerschaft, die mit ihren Spenden den schnellen Wiederaufbau ermöglichte; sie hält dem Landestheater bis heute die Treue. Mit besonderen Veranstaltungen wird das einhundertste Jubiläum in der neuen Spielzeit begangen. Ich gratuliere herzlich dem Landestheater – auch im Namen von Rat und Verwaltung – und danke gleichzeitig allen Verantwortlichen für die stets gute und konstruktive Zusammenarbeit!

Ihr Rainer Heller Bürgermeister

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Grußwort des Landesverbandes Lippe

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Nur wenige Erfolgsgeschichten beginnen mit einem Brand, aber die Historie des Theatergebäudes des Landestheaters Detmold ist eine solche. Als Ersatz für das 1912 den Flammen zum Opfer gefallene Hoftheater errichtet, überstand es schwierige Zeiten und bewies sich als kulturelle Herzkammer von Lippe. Der Landesverband Lippe als Eigentümer trägt Sorge dafür, dass das so bleibt.

Das Gebäude des Landestheaters Detmold blickt auf einhundert – oft herausfordernde – Jahre zurück. Manche davon dürfen getrost als Schicksalsjahre betitelt werden. Ganz und gar unwahrscheinlich klingt es heute, dass der Neubau des Theaters in den Jahren des Krieges vollzogen wurde. Die Eröffnung und der Übergang in die Hände des Freistaates Lippe machen das Jahr 1919 zu einem Schicksalsjahr. Die erneute Aufnahme des Spielbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg war ebenfalls ein ganz wesentlicher Moment der Verankerung des Theaters in der Lippischen Kulturlandschaft der Nachkriegszeit. Die Konsolidierung des Landestheaters Detmold fand zu großen Teilen im Jahr 1949 statt und fällt somit zusammen mit der Gründung des Landesverbandes Lippe. Dieser übernahm bekanntlich das Vermögen des Freistaates Lippe und hat als Verleiher des Theatergebäudes und finanzieller Unterstützer am Gedeihen des Landestheaters einen Anteil.

Zwei Jahrzehnte später, also 1969, wurden die Beziehungen zwischen dem Landestheater Detmold und dem Landesverband Lippe vertraglich erneuert und zahlreiche Investitionen seitens des Landesverbandes Lippe beschlossen. Schließlich wuchs der Theaterbetrieb und verlangte dem Gebäude immer mehr ab, so dass im Laufe der Jahre in kleineren und größeren Schritten die gesamte Gebäudetechnik erneuert wurde. Gemeinsam mit dem Landestheater und Städten und Gemeinden in Lippe und darüber hinaus – ab 1971 über den Theaterverein, ab 2006 in der gGmbH – stemmte der Landesverband Lippe diese Herausforderungen und investierte große Summen, mithilfe derer das Theatergebäude seinen Aufgaben gerecht wurde und wird. Davon profitieren sowohl die Künstlerinnen und Künstler als auch die Besucherinnen und Besucher. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landestheaters wiederum ist es gelungen, dieses Gebäude Jahr für Jahr mit Leben zu füllen und nie dem Stillstand preiszugeben. Ein ganz großes Kompliment gebührt dem Theaterprogramm und seinen Gestalterinnen und Gestaltern.

In diesem Sinne gratuliert der Landesverband zu einhundert Jahren Landestheater Detmold, freut sich über siebzig Jahre Zusammenarbeit und blickt zuversichtlich auf die nächsten Jahrzehnte. Möge das Theatergebäude auch weiterhin das Heim für ein vielfältiges Bühnenprogramm sein!

Moritz Ilemann Erster stellvertretender Verbandsvorsteher Landesverband Lippe

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Grußwort des Adelshauses Lippe

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In diesem Jahr feiern wir das einhundertste Jubiläum des Landestheaters Detmold. Gegründet wurde dieses Theater bereits 1825 als Hoftheater von Fürst Leopold II., dem Sohn der Fürstin Pauline. Schon damals wurde damit in Detmold ein ständiges Zuhause für Musik und Schauspiel geschaffen. Nach dem Brand des Theaterbaus im Jahr 1912 war es mein Großvater, Fürst Leopold IV., der den Verlust für Stadt und Land ersetzten wollte und gemeinsam mit dem „Lippischen Theaterverein“ auf den Grundmauern des einstigen Hoftheaters und mit dessen historischen Säulen das heutige Gebäude errichten ließ. Dies geschah mitten im Ersten Weltkrieg. Daher sollte der Bau eines Theaters im Krieg wohl auch ein Zeichen der Hoffnung in schwerer Zeit setzen. Tatsächlich wurde das Theater dann erst nach der Revolution 1919 nicht mehr als Hoftheater, sondern nunmehr als Landestheater neu eröffnet. Denn Fürst Leopold IV. hatte gerade abgedankt und dem Freistaat Lippe Platz gemacht. Die Verbundenheit unserer Häuser aber überdauerte die politischen Ereignisse und besteht ungebrochen über die letzten einhundert Jahre nicht nur in Bezug auf die nachbarschaftliche Nähe, sondern auch in der gemeinsamen Förderung der „schönen Künste“. Und auch heute begreifen wir Theater als Zeichen der Hoffnung in einer für uns alle spürbar schwieriger werdenden Zeit, denn der Mensch lebt nicht von Brot alleine. In den letzten einhundert Jahren hat das Landestheater hochwertige Opern-, Operetten-, Musical-, Ballett- und Schauspiel-Inszenierungen in Detmold hervorgebracht, die den Ruf des Theaters weit über die Grenzen Lippes hinausgetragen haben. So wurde das Landestheater durch seine hervorragenden künstlerischen Leistungen gepaart mit einem herausragenden Engagement aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu einem überregionalen kulturellen Leuchtturm und Aushängeschild für Lippe.

Hierfür verdient das Theater großen Dank und unser aller Respekt.

Wir freuen uns alle auf viele neue, interessante, anregende Aufführungen, die wir und unsere Nachkommen noch in den folgenden einhundert Jahren hoffentlich erleben dürfen.

Ihr Stephan Prinz zur Lippe

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Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins

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Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir in diesem Jahr das hundertjährige Bestehen dieses Gebäudes, des Landestheaters Detmold, feiern. Kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges war die Grundsteinlegung. Dass der Wiederaufbau des 1912 bis auf die Grundmauern abgebrannten Theatergebäudes auch während des ersten Weltkrieg fortgesetzt wurde, war ein starkes Signal und zeigt, welchen Stellenwert das Theater für das Fürstentum Lippe hatte. Doch ohne das Engagement des Bürgertums, der Stadt Detmold und des Landes Lippe wäre es auch nicht gegangen, gerade in der turbulenten Zeitenwende der Revolution. So war aus dem in Auftrag gegebenen Hoftheater zur Eröffnung am 28. September 1919 ein Landestheater im neuen Staat Lippe geworden.

Als solches leistet das Landestheater Detmold bis heute den Spagat, einerseits ein vollwertiges Stadttheater in einer theaterbegeisterten Stadt zu sein, und andererseits als Europas größte Reisebühne täglich mit neuen Bedingungen und anderen Zuschauerschaften an den unterschiedlichsten Gastspielorten zu tun zu haben. Das erfordert größtmögliche Flexibilität und einen Blick für das Wesentliche. In unserer globalisierten Welt geht es ebenso wie in unserer lokal-spürbaren Welt um die Frage: Wie wollen wir gerecht zusammenleben. Ein Theater gibt keine Antworten vor, sondern verhandelt die Fragen auf der Bühne künstlerisch so, dass jede und jeder Einzelne im Publikum nicht ohne eine ganz eigene Antwort leben kann.

Jubiläen geben manchmal Anlass, sich in vermeintlich harmonischere, geordnetere Zeiten zurückzusehnen. Doch jede Zeit hat ihre eigenen Widersprüche und völlige Harmonie ist nichts als Langeweile. Erst aus der Diversität – aus der Unterschiedlichkeit der Positionen und Menschen – entsteht so etwas wie Leben. Dass wir, auch als Gesellschaft, nicht permanent identischer, uns selbst ähnlicher werden, sondern die eigene komplizierte Vielschichtigkeit und Zerrissenheit in der Welt suchen, all das hat der Philosoph Achille Mbembe aus Kamerun so beschrieben: „Das Gemeinsame beruht nicht auf Ähnlichkeit, sondern kann nur als konstante Verhandlung von Unterschieden verwirklicht werden, als Prozess der Entähnlichung. Durch das Fremdwerden des Vertrauten.“ Um zu verhandeln, was uns verbindet, braucht es öffentliche Räume wie das Theater.

Mit zahlreichen Veranstaltungen geht das Landestheater Detmold hinaus in die Stadt, erobert mit Matineen, Vis-à-vis-Gottesdiensten oder auch in Kneipen Orte, an denen man Theater nicht unbedingt vermuten würde. Das Junge Theater eröffnet mit seinen zahlreichen Aktivitäten, z. B. dem Projekt „Wer sind wir?“, neue Möglichkeiten zur Begegnung und zum Austausch. In der Jubiläumsspielzeit wird es um die Sparte „Junges Musiktheater“ erweitert, eine sinnvolle Ergänzung, um in Schulen, sozialen Einrichtungen oder sonstigen Versammlungsräumen der Region den Grundstein für die Liebe zum Musiktheater zu legen.

Das Landestheater Detmold lebt aus einer reichen Tradition heraus in einer ermutigenden Gegenwart, von seinem Publikum geschätzt, von der Politik in seiner künstlerischen Freiheit gefördert. Das Detmolder Theaterteam betrachtet dies, davon bin ich überzeugt, als anspornenden und kräftigenden Auftrag für die Zukunft.

Prof. Dr. Ulrich Khuon Präsident des Deutschen Bühnenvereins

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Einhundert Jahre – wohin geht die Reise? Stadttheater und Reisebühne unter einem Dach – ein Plädoyer für einen gemeinschaftlichen Einsatz in Zeiten des Umbruchs Georg Heckel

Das Landestheater Detmold feiert sein 100-Jähriges! Was für eine lange, ereignisreiche

Zeit, gekennzeichnet von Höhen und Tiefen, denn die Geschichte hat auch um Lippe und Detmold keinen Bogen gemacht.

Das Landestheater vollbringt in gewisser Weise ein Theaterwunder. Es ist ein vollwertiges

Dreisparten-Stadttheater und Europas größte Reisebühne zugleich. Das Publikum am

Stammhaus und den Gastspielorten könnte kaum unterschiedlicher sein. Die Aufgabe für

uns Theatermacher besteht darin, trotz der geforderten Programmvielfalt ein wiedererkennbares Profil zu finden. Hohe Qualität kann dabei nur eine Voraussetzung für die Akzeptanz sein. Erfreulicherweise stehen Rekordverkäufe auf dem Abstechermarkt in der

Spielzeit 2019/20 mit einem erheblichen Maß an Überbuchung für eine positive Wahr-

nehmung der Reisebühne, wir können gar nicht alle Anfragen erfüllen.

Der heutige Erfolg darf uns nicht ruhen lassen, die Fragen nach der Entwicklung für ein

Morgen zu stellen. Wie und womit erreichen wir mit Theater ein Publikum von morgen?

Wie wird Theater den unaufhaltsamen Prozess der global-gesellschaftlichen Veränderungen

beeinflussen oder gar mitgestalten? Wo wird die gesellschaftliche Mitte oder eine erreichte

Schnittmenge liegen?

Wer wird also dieses Publikum sein? Die naheliegendste Antwort ist: die heutigen Be-

sucherinnen und Besucher des Jungen Theaters. Das Junge Theater hat sich in der vergangenen Spielzeit relevanten Themen wie dem spielerischen Entdecken unserer Welt,

der Stärkung der Demokratie oder dem Kampf gegen den Antisemitismus gewidmet. Diese

Reise wird weitergehen.

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Die entscheidende Frage wird weiterhin sein, was sich das Publikum von einem Theaterbesuch erhoffen darf. Theater leistet in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Beitrag zur ge-

sellschaftlichen Kommunikation. Zum einen im impulsgebenden Ansprechen von gesellschaftlichen Themen, oft und seit der Antike anschaulich gemacht an Einzelschicksalen.

Zum anderen durch den Anlass selbst: Besucher kommen ins Theater und feiern ein ge-

meinsames Erleben, ungeachtet der Herkunft und des Umfelds des Einzelnen, das Abend

für Abend im Schlussapplaus – meistens – sein Happy End findet, mit oder ohne Musik. Und in jüngerer Zeit sind es gerade die das Publikum einbeziehenden Theaterformen der

Partizipation bei Autorschaft und Darstellern, die zum Gespräch herausfordern. Gespräche,

die spontan, direkt und unzensiert von Angesicht zu Angesicht stattfinden. Ein wichtiger Aspekt für die Erhaltung unserer Demokratie.

Aus heutiger Sicht drängt sich der Eindruck auf, dass wir uns in einer Zeitenwende be-

finden. Stichworte dazu sind z. B. die weit fortgeschrittene Digitalisierung, die sich mani-

festierende Klimaveränderung und nicht zuletzt die Verlagerung der politisch-ökonomischen Gewichtung in Richtung Asiens. Dazu der zutiefst verunsichernde Übergang von

einer Wissens- zu einer ökonomisierten Gesellschaft mit einer nur noch vagen Erinnerung

an eine Wertegesellschaft.

Beispielhaft lässt sich diese im Zeitraffer stattfindende Veränderung am Erstarken der sozialen Medien und der Internetplattformen wie Facebook, Instagram, Twitter, Youtube etc.

betrachten. Zwischenmenschliche Kommunikation hat ihre Form und ihre Inhalte sowie möglicherweise auch ihre Intention stark verändert.

Im Rahmen der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins hat die an der

TU Dresden lehrende Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler einen Vortrag zu den

Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikation gehalten. Ausgehend von der

Beobachtung, dass mehr Wissen in einer Gesellschaft nicht, wie früher einmal angenommen, zu mehr Erkenntnis führt, sondern, ganz im Gegenteil, zu einem generellen Miss-

trauen gegenüber Experten und Institutionen, stellt sie darin unter anderem fest:

„Diese Begriffsprägung (der sozialen Medien) diente einmal dazu, sie begrifflich von den

Informationsmedien (...), zu trennen und zu betonen, dass es sich um Orte der vorwiegend

privaten Kommunikation handele (…). Tatsächlich handelt es sich aber um Plattformen, die zu einer Vermischung von privater und öffentlicher, von persönlicher und politischer,

informationeller und emotional geprägter Kommunikation geführt haben. Diese Vermi-

schung wird von den Algorithmen der Internetgiganten vorangetrieben, die Kommunika-

tionen in hohem Maße steuern. Sie wird aber auch von dem Bedürfnis nach Gemein-

schaftsbildung und Übereinstimmung vorangetrieben. (...) Um sich mit anderen zu verbinden und zu verbünden, muss man nirgendwo mehr hingehen.“

Bemerkenswerter Weise gibt es viele Hinweise darauf, dass die Bildung emotionalisierter

Gemeinschaften über negative Emotionen wie Zorn, Wut, und Hass, die sich in Schmähungen, Herabsetzungen und Stigmatisierungen äußern, sehr viel besser funktioniert als die

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Bildung positiv emotionalisierter Gemeinschaften. Jedenfalls wird hier die Grenze zwi-

schen privat und öffentlich in einer anderen Weise eingerissen als bei positiv emotionalisierter Kommunikation. Negative Emotionalisierung drängt in anderer Weise zur Aktion als positive Emotionalisierung. Sie schafft andere Möglichkeiten von Anführerschaft, die nicht zuletzt durch die Überbietungslogik der Herabsetzung funktioniert.

Neben den bekanntermaßen illegal nutzbaren Teilen des Internets (wie z. B. dem Darknet)

gibt es also noch eine zweite Ebene, die sich im täglichen Umgang mit der „Realität“ Internet zwar transparent gibt, aber dennoch gesteuert ist. Dieser Vortrag war für uns „analoge“

Theatermacher sehr anregend. Zum einen, weil wir uns als Initiatoren und Gastgeber

einer realen, unausweichlich stattfindenden Begegnung mit Mimik, Satzmelodie, Tonali-

tät und Gestik sehen. Zum anderen, da die Fantasie über gesteuerte, anonymisierte Parallelwelten uns alle aufruft, wach für den Umgang mit anderen Sichtweisen und damit

auf der einen Seite offen-konstruktiv und auf der anderen Seite kritisch-diskursiv zu sein. Was wäre, wenn wir dieses Modell der Solidarisierung positiv besetzen und lebendig und

gemeinsam die „Kulturmacher“ und alle Gestalter dieser Stadt Schritt für Schritt zusam-

menbringen?

Ich hatte mich zu Beginn des Jahres 2019 in einer Rede für ein Zusammenrücken der

Kulturinstitutionen und der sozialen und karitativen Einrichtungen Detmolds im Sinne

einer gemeinsamen Zieldefinition ausgesprochen, ich denke, dass sich dieser Kreis noch

erheblich erweitern lässt: z. B. die Politik, die Sportvereine, die Kirchen aller Konfessionen, die Schulen. Diese Idee des Runden Tisches werde ich weiterverfolgen, ich hänge

zutiefst an dem von Hilmar Hoffmann geprägten Begriff und der Idee von „Kultur für alle“.

Ein Austausch kann die brennenden Fragen der Entwicklung von Bevölkerungsgruppen

oder Stadtteilen sowie einer gemeinsamen Vision vom „Detmold der Zukunft“ vorantrei-

ben. Es kann auch die Frage stellen, ob ein Blick in die Vergangenheit ein Verstehen oder

beispielsweise auch eine Orientierung für die Gegenwart bedeuten kann. Die Ausstellung

„Revolution in Lippe“ im Landesmuseum hat gezeigt, wie viel Interesse daran besteht, das

Entstehen der eigenen Lebenswelt mit einem Blick in die Vergangenheit zu unterfüttern.

Das LWL Freilichtmuseum betreibt diese Übertragung von aktuellen Lebenswirklich-

keiten in sein historisches Museumsareal mit größter Kreativität. Dennoch lässt sich aus

meiner Sicht noch erheblich Kraft aus einer gemeinsamen Gestaltung und gemeinsamen

Zugänglichkeit sowie einer gemeinsamen Denkrichtung des Kulturprogramms erzielen,

der Startschuss könnte vielleicht schon mit dem „Paulinenjahr 2020“ gegeben werden.

Das Schlossfestival, zu Gast bei der Familie zur Lippe und veranstaltet mit der Musik-

hochschule, ist ein gutes Beispiel der Ausweitung – in diesem Jahr kamen in einem ökumenischen Gottesdienst erstmals noch die evangelischen und die katholische Kirche hinzu.

Unser Adventskalender im vergangenen Jahr war eine Annäherung, 24 Tage und 24

Aktionen an öffentlichen Plätzen, sozialen Einrichtungen für Jung und Alt sowie in anderen Institutionen. – Auch die Fördervereine der jeweiligen Kultureinrichtungen könnten sich gestaltend einbringen und damit sichtbarer werden. – Die Gestaltenden, das sind nicht zuletzt alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt!

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Das vorliegende Buch wird vermutlich länger zugänglich sein als viele Jahreshefte und

Publikationen der vergangenen Jahrzehnte. Schon bei der Recherche hat sich gezeigt, dass

manche Zeiträume von Intendanzen sehr sorgfältig archiviert worden sind und zu anderen tatsächlich nur sehr wenig Material vorhanden ist. Wir können in der Gegenwart immer

nur versuchen, das zu sehen, was für eine gedeihliche Entwicklung der Zukunft von Wich-

tigkeit zu sein scheint. Und die Möglichkeit ist immanent, dass wir dabei in der Analyse falsch liegen.

Der Gewinn unserer Demokratie liegt in der Vielfalt, der (Meinungs-)Freiheit und der ge-

lebten Selbstverantwortung, die sich daraus ergibt – unter der Prämisse, dass die Gemeinschaft gestärkt sein muss. Zu eingeforderten Rechten gehören untrennbar Pflichten,

deren Erfüllung und Einhaltung der Gesamtheit zugute kommen. Ist es nicht sogar auch eine Pflicht des Theaters, einen sozialen Raum für dieses zu bieten.

Zurück zum Publikum von morgen: Die sich durch den Wunsch nach einem lebenswerten

und lebendigen Umfeld und den Glauben an eine gemeinsame Gestaltung bildende demokratische Mitte, unabhängig von Zugehörigkeiten und Herkunft, definiert sich durch

die Überzeugung, eine offene Gesellschaft leben und gestalten zu wollen.

Beste Unterhaltung und gemeinsames Erleben sind ein guter Ausgangspunkt dafür – Theater fördert und fordert gemeinschaftliches Denken!

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Unser Theater

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Die Kunst, sich über einhundert Jahre immer wieder neu zu erfinden Bettina Milz

Betrachtet man die wechselvolle Geschichte des Landestheaters Detmold, über die in

dieser Festschrift viel zu lesen ist, so ist insbesondere die Beharrlichkeit bemerkenswert,

mit der die Detmolder ihr Theater immer wieder neu auf die Stadtgesellschaft, die Region

wie auch das Land ausrichten. Die Menschen brauchen ihr Theater. Es ist ein Ort gelebter

Öffentlichkeit, der Begegnung mit Künstlerinnen und Künstlern, Ort des Diskurses, auch der Unterhaltung und der Bildung. Das kann man in vielen Städten und Gemeinden in

Nordrhein-Westfalen und weit darüber hinaus beobachten. Aber an der Geschichte des

Landestheaters Detmold wird es besonders deutlich. Der Blick auf diese Geschichte macht

die historischen Herausforderungen deutlich, auch die Gefahren und Chancen, aus denen wir lernen können.

Die Ursprünge des Theaters gehen viel weiter zurück als einhundert Jahre. Bereits 1778

wird ein erstes „Komödienhaus“ errichtet, 1820 beschließt Fürst Leopold II., ein Hoftheater

zu bauen. Aus heutiger Sicht unglaublich: 1825 fand die Grundsteinlegung statt und nur

sechs Monate später wurde die Eröffnung mit Mozarts „Titus der Gütige“ gefeiert. Dieses

von der Bevölkerung und der Region geliebte Hoftheater brannte am 5. Februar 1912 vollständig ab. Erst nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Neubau des Landestheaters Detmold eingeweiht und am 28. September 1919 mit einer Aufführung der Oper „Undine“

von Albert Lortzing gefeiert. Das Landestheater Detmold ist demnach eines der wenigen

Theater in Nordrhein-Westfalen mit feudalen Wurzeln, eine Besonderheit im „Land der

Städte“, wo ansonsten ganz andere Faktoren die enorme Vielfalt prägen: das bürgerschaft-

liche Engagement, die industrielle Landschaft, das herausragende Engagement der Kommunen, Kreise und Landschaftsverbände, die alle gemeinsam sehr stark die wohl weltweit

dichteste und experimentierfreudigste Landschaft an Kunst- und Kultureinrichtungen geprägt haben.

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Zwei Weltkriege, Faschismus, das Auf und Ab im politischen System und die globalen Ver-

änderungen trafen auch das ehemalige Fürstentum Lippe. Zuletzt war es ab 1919 demokra-

tisch verfasster Freistaat in der Weimarer Republik. 1933 endet die Demokratie mit der

Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Lippe ab

1947 durch Beschluss der britischen Militärregierung in das Land Nordrhein-Westfalen

eingegliedert. Unmittelbar ab 1945 wird das Theater wieder als ein Provisorium der Begeg-

nung genutzt. Es ist ebenso Casino der britischen Besatzungstruppen wie Probenort, Treffpunkt, Kino und Theater. In vielen Städten Nordrhein-Westfalens – Münster, Köln, Duisburg,

Gelsenkirchen oder Wuppertal – werden die Theater sehr schnell nach 1945 wieder als Mitte

der Stadt und Zentrum des öffentlichen Lebens – zunächst zumindest notdürftig – stabilisiert, renoviert oder sogar als eines der ersten großen architektonischen Vorhaben ganz neu

gebaut. Dann kehrt langsam die Normalität des Lebens und des Theaterbetriebs zurück.

Es ist ein großer Wert und eine Ehre für alle gemeinsam, für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, der Region Westfalen-Lippe und des Landes Nordrhein-Westfalen, heute in Friedens-

zeiten auf diese Geschichte zurückblicken zu können. Es ist wichtig, an diese zu erinnern,

denn viele scheinen sie zunehmend zu vergessen und mit ihr die Grausamkeit nationalsozialistischer Verbrechen und ihre Folgen für die Menschen. Die Kunst ist auch ein Meister der Aufmerksamkeit, manchmal sogar ein Seismograph.

„Gutes Theater gibt immer Antworten. Die Frage ist, ob man diese akzeptiert“, sagte der große

Theatermacher George Tabori. Die Landestheater Deutschlands engagieren sich flächendeckend für gutes Theater. Sie stellen manchmal mehr Fragen, als sie Antworten geben können. Denn genau das ist der Kern der Kunst. Sie lädt dazu ein, Neues zu entdecken. Sie

lädt dazu ein, wissen zu wollen. Sie lädt dazu ein, neugierig zu sein und dies zu bleiben.

Mit dieser Einladung richtet sich die Kunst an alle. Die Landestheater haben sich dieser Herausforderung von Anfang an gestellt. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe ist

ihnen ein Kernanliegen. Der bundesweit hohe Finanzierungsanteil der Länder ist in diesem

Engagement und dem damit verbundenen Auftrag begründet. Die Landestheater sorgen

mit ihrer Theaterkunst für kulturelle Bildungsangebote nicht nur an ihren Stammsitzen,

sondern auch abseits der großen Städte und Metropolräume. Was sich in der hohen Gastspielquote und der sehr guten Resonanz der Menschen auf die Angebote zeigt: Das Publi-

kum sucht die Kunst, das Neue und die Qualität.

Es war im Jahr 2010, als Prof. Klaus Zehelein, damaliger Präsident des Deutschen Bühnen-

vereins, die Landesbühnen mit dem Theaterpreis DER FAUST ehrte, und zwar mit „dem

Preis des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins für Leistungen, die im Theater herausragende Bedeutung haben“. Er zeichnete das große Engagement der Landestheater aus

und beschrieb sie als „unverzichtbare Theatervermittler – fernab der großen Städte“ und

„beispielhaft für leidenschaftliches Theater, das mehr als nur ein Spiegel der Gesellschaft

sein will“. Es sind in Deutschland insgesamt 24 Landesbühnen, die dies auf ebenso vor-

bildliche wie herausragende Weise tun. Und dabei sind die Bühnen so verschieden, wie sie es nur sein könnten. Allein vier der Landestheater sind in Nordrhein-Westfalen – das

Landestheater hier in Detmold, das Rheinische Landestheater in Neuss, die Burghofbühne

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Dinslaken und das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel. Doch eines verbindet die künstlerische Arbeit der Landestheater, die Spielpläne, das große Engagement der Ensembles

und die Vermittlungsangebote für das Publikum: Die Landesbühnen erarbeiten ein grundlegendes Angebot an Kunst und Kultur. Kulturelle Teilhabe und die regionale Gleichwertig-

keit der Lebensverhältnisse prägen derzeit viele Diskurse. Für die Qualität dieser Lebens-

verhältnisse ist der Arzt ebenso konstitutiv wie das Angebot in der Kunst oder Möglichkeiten des sozialen Austauschs und der Begegnung. Ein gutes Bildungsangebot und der

Kindergarten sind ebenso unverzichtbar wie die künstlerische Partizipation, der Fußball-

platz, das Schwimmbad und das Kinder- und Jugendtheater. Rund die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland lebt außerhalb der Metropolen. Und auch diese Regionen sind in ihrer

Ausprägung kaum vergleichbar: Natur, Peripherie der Städte, bevölkerungsarme Regionen oder „schrumpfende Städte“ bieten sehr unterschiedliche Lebensqualitäten. Was sie aber

eint: Wenn Menschen und Firmen sich hier niederlassen mögen, dann gehört als eine Voraussetzung eine gute soziale und kulturelle Versorgung dazu. Viele Diskussionen drehen

sich um den Begriff „Heimat“, mit dem wir uns gerade in Deutschland auf Grund unserer Geschichte so schwertun. Für die Landestheater ist es die tägliche Praxis, daran zu arbeiten,

dass Menschen ein qualitätsvolles künstlerisches Angebot finden, ganz egal, wo sie leben.

Die Herausforderung der Landestheater ist dabei sicher die Frage: Wie sieht diese Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse konkret aus? Bedeutet sie Angleichung der Angebote

in den Metropolen, in der Peripherie und im ländlichen Raum? Wie können sich gerade die Unterschiede insgesamt bereichernd für die Menschen und die Kunst auswirken?

Wir stehen vor der Herausforderung, einen enormen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu meistern. Die Veränderung der Arbeitswelt im Digitalen Zeitalter, insbesondere

aber auch die Veränderung der Öffentlichkeit selbst und der Kommunikationsstrukturen durch digitale Techniken, existentielle ökologische Fragestellungen wie auch neue Wege

einer kulturellen Nachhaltigkeit, der Rechtsruck in vielen Ländern weltweit stehen zu-

nehmend im Zentrum gesellschaftlicher Analysen und Überlegungen. Künstlerinnen und

Künstler muten sich viel zu, mischen sich ein angesichts der Notwendigkeit, die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften zu lassen. Die Chancen des „ländlichen Raumes“, die Herausforderungen der Transformation, die Unterschiede zwischen Metropole und

Peripherie stehen bei Programmen wie dem neuen Förderprogramm „Dritte Orte“ in Nord-

rhein-Westfalen oder dem Programm „TRAFO“ der Kulturstiftung des Bundes im Zentrum.

Dabei geht es auch um Unterschiede, die uns bereichern – nicht um den Export der Kultur der Metropolen. Künstlerinnen und Künstler, Fachleute, Publikum und Politik stellen neu

die Frage: Wie sieht Gemeinschaft im Zeitalter globaler Migrationsströme aus? Wie viel analoge, sinnliche und auch gemeinsame Erfahrung und Begegnung brauchen Menschen,

um die großen Fragen der Menschheit in einer Gemeinschaft zu realisieren, zu befragen, zu diskutieren und zu gestalten?

Die Landestheater haben ihre Formate in den letzten Jahren viel stärker auf diese Heraus-

forderungen der Gesellschaft und des ländlichen Raumes ausgerichtet. Das drückt sich

insbesondere auch in den spannenden Spielplänen in Detmold aus, ganz aktuell unter der

neuen Intendanz von Georg Heckel. Es sind mehr und diversere Veranstaltungen, die an-

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


geboten werden, und ganz unterschiedliche Formate: Von der großen Schauspielproduktion bis zum Theater für die Allerkleinsten, vom Musiktheater bis zum Workshop, der Fragen

des Zusammenlebens und der Wahrnehmung von Demokratie aufwirft. Mozarts „Don Giovanni“ steht ebenso auf dem Programm wie medienkritische Jugendstücke über Cyber-

Mobbing und Hate-Speech im Internet, Uraufführungen und Experimente, Texte zu Migra-

tionsthemen, Klassiker, Konzerte und Lesungen. Die Abstecher gehen nach wie vor kreuz

und quer durch das Land: von Wesel bis Gütersloh, von Radevormwald bis Witten, von

Rheine bis Remscheid, von Brilon bis Leverkusen. Beim Landestheater Detmold, als einzi-

ger Landesbühne in Nordrhein-Westfalen mit den Sparten Musiktheater und Ballett sowie

eigenem Orchester, gehen die Abstecher auch weit über das eigene Land hinaus. Ganz neu

erfindet das Landestheater mobile Musiktheaterproduktionen für das junge Publikum in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Detmold. Auch damit betritt das Landestheater Neuland: Mit Klassenzimmerstücken und Kinderopern wie der „Prinzessin auf der Erbse“

von Ernst Toch im Sommertheater. So gilt es, dem Landestheater Detmold zu diesem Jubi-

läum zu wünschen, dass es immer wieder den Mut zu Neuem, zu starken künstlerischen

Handschriften findet und die Künstlerinnen und Künstler in Detmold einen Ort haben, der

dazu einlädt, Neuland zu erkunden. Damit startet das Landestheater mit der Unterstützung durch den Kreis Lippe, die Stadt Detmold, den Landesverband Lippe, das Land Nordrhein-

Westfalen, die Theaterfreunde und natürlich insbesondere durch das Publikum mutig in die nächsten einhundert Jahre in der Erfinderregion Ostwestfalen-Lippe.

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Unser Theater

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„Das Theater ist Volkssache geworden.” Zur Geschichte des Landestheaters von 1919 bis 2019 Michael Dahl

Als das Detmolder Hoftheater am 5. Februar 1912 während einer Aufführung des Hermann-

Sudermann-Schauspiels „Der Bettler von Syrakus“ wegen eines defekten Kohleofens bis

auf die Grundmauern niederbrennt, verschwindet nicht nur ein prägendes Gebäude – zu-

mindest vorübergehend – aus dem Stadtbild. Von den Schaulustigen, die das spektakuläre

Ereignis noch am Abend verfolgen, ahnt wohl niemand, dass dieses Unglück, bei dem kein

Mensch zu Schaden kommt, als Menetekel künftiger politischer, wirtschaftlicher, gesell-

schaftlicher und damit auch kultureller Umwälzungen gelten kann. Bei der Wiedereröffnung der Bühne – ursprünglich noch für 1913 vorgesehen, dann aber erst im September

1919 erfolgt – wird im Umfeld des zwischenzeitlich in den Besitz des Freistaates Lippe

übergegangenen Theaters kaum noch etwas so sein wie früher – bis auf den Standort und die künstlerische Leitungsposition.

Die Umbrüche, die sich während des mehrjährigen, durch den Ersten Weltkrieg zeitweilig

unterbrochenen Wiederaufbaus vollziehen, lassen sich noch heute an dem Gebäude ablesen. Soll die neue Hofloge laut Zeitungsberichten ursprünglich „besonders prächtig werden;

mit eigener Freitreppe und Privatfoyer“, so fällt dieser Bereich letztlich sehr viel bescheidener aus. Auf die Ursprungsplanung zurückzuführen sind aber die ungewöhnlich hoch

angesetzten Ränge, die bis heute den Innenraum prägen. Die sechs Säulen statt der vormaligen vier vor der Sandsteinfassade entstammen ebenso wie die Wappengruppe mit der lippischen Rose über dem Portikus noch dem Repräsentationsbedürfnis der Kaiserzeit.

Auf dieses zurückzuführen ist wohl auch die Tatsache, dass sich gleich drei Architekten die Planung teilen. Unter ihnen befindet sich mit dem in Berlin lebenden Otto Kuhlmann

ein gebürtiger Detmolder, der wenige Jahre zuvor die Christuskirche samt Fürstengruft in seiner Heimatstadt errichtet hatte.

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Zwar prangt nach wie vor der Wappenschild des Hauses Lippe über der jetzt so bezeichneten „Fremdenloge“ in dem um knapp ein Viertel auf 741 Plätze angewachsenen Zuschau-

erraum. Doch darf der ehemals regierende Fürst Leopold IV. bei der Eröffnung des „Lippischen Landestheaters“ am 28. September 1919 dort nicht Platz nehmen. Ihm und seiner

Familie wird vom nach der Novemberrevolution gebildeten Landespräsidium die wesentlich kleinere Proszeniumsloge zwischen Vorhang und Orchestergraben zugewiesen. Anders

als im Mai 1914 bei der Grundsteinlegung für das neue „Hoftheater“ spielt die Adelsfamilie

jetzt lediglich eine Nebenrolle. Sie ist nur mehr Ehrengast in Anerkennung vergangener Verdienste um Kunst- und Kulturförderung. „Das Theater ist Volkssache geworden“, heißt

es dazu in der Festschrift. Gegeben wird die Oper „Undine“ von Albert Lortzing – keine

Revolution auf der Bühne also.

Bürgertum auf Augenhöhe

Der Vorsitzende des Trägervereins des Theaters, Professor Dr. Adolf Neumann-Hofer, begegnet dabei Leopold IV. auf Augenhöhe – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Publizist und Kunstmäzen Harry Graf Kessler schreibt darüber in einem Tagebucheintrag

vom 9. November 1924: „Dazwischen führte mich Neumann-Hofer (…) spazieren u. zeigte

mir das Theater, ein hübsches kleines Hoftheater, das gerade zur Revolution fertiggeworden ist. Neumann-Hofer hat dem Leopold Lippe die kleine Hofloge gelassen, während er

sich (...) die Loge genau gegenüber genommen hat. Nun sitzen sich jeden Abend der gestürzte Fürst und sein revolutionärer Nachfolger rechts und links von der Bühne (der Republikaner

natürlich links), gegenüber und das Publikum kann sich je nach seiner Gesinnung nach rechts oder links verbeugen. Ein echt deutsches Revolutions Idyll. Wie heisst doch das

Nestroysche Stück? ‚Revolution in Krähwinkel‘?" Der schon im Kaiserreich umtriebige linksliberale Politiker, Unternehmer und Zeitungsverleger Neumann-Hofer, der noch in den Novemberwirren engen Kontakt zum Hof gehalten hatte, verkörpert damit den Anspruch des

Bürgertums, Sachwalter und Förderer des kulturellen Lebens im Kleinstaat zu sein.

Begonnen hatte dieses bürgerschaftliche Engagement bereits kurz nach dem Feuer, als

sich noch im Februar 1912 unter maßgeblicher Beteiligung örtlicher Honoratioren, darunter

Neumann-Hofers Bruder Fritz, der „Lippische Theaterverein“ gründet. Und so bleiben schon die Kosten für das Neubauprojekt nicht allein am Hofe hängen, der das Ego verschiedener Großspender mit Titeln wie „Fürstlich-Lippischer Kommerzienrat“ bedient. Zuwendungen

von Privatleuten wie dem Sinalco-Eigentümer Franz Hartmann, der allein 50 000 Mark bei-

steuert, Mittel der Stadt Detmold und eine Lotterie tragen wie die – zu niedrige – Versi-

cherungssumme für das alte Theater und ein langfristiges Darlehen zur Finanzierung bei.

Folgerichtig ist es für die neuen Herren – bei denen Adolf Neumann-Hofer in verschiedenen politischen Funktionen kräftig mitmischt – selbstverständlich, den Theaterbetrieb

nach Abdankung des Fürsten am 12. November 1918 und Übernahme des noch nicht vollständig fertiggestellten Gebäudes weiterzuführen. Angesichts der äußeren Umstände im nachrevolutionären Lippe und des schleppenden Baufortschritts grenzt es an ein Wunder,

dass der Spielbetrieb so relativ zügig wieder aufgenommen werden kann. Dies umso mehr,

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als die neue Organisationsstruktur – das Land überlässt das Haus pachtfrei dem Theaterverein, der den Betrieb sicherstellt – erst wenige Tage vor der Einweihung festgezurrt wird.

Der Freistaat sichert sich durch den Erwerb von 250 Anteilen zu je zweihundert Mark ein

Mitspracherecht im Vorstand, hält sich aber bei der finanziellen Förderung zurück. Wesentlicher Zuschussgeber wird in den folgenden Jahren die Stadt Detmold sein, so dass das „Lippische Landestheater“ seinem Namen nur bedingt gerecht wird. Hinzu kommt,

dass sowohl Neumann-Hofer als auch der Möbelfabrikant Albert Eichmann mehrfach mit Ausgleichszahlungen in die Bresche springen.

Sponsoren retten Spielzeit

Theater zu spielen ist in dieser Zeit alles andere als ein Zuckerschlecken. Anhaltende Ver-

sorgungsschwierigkeiten, darunter der Mangel an Heizmaterial, und die fortschreitende

Inflation verlangen nicht nur von dem ohnehin karg bezahlten Personal hohe Opferbereitschaft. Die Lokalzeitung „Volksblatt“ begründet im August 1923 eine Aufführungsabsage wie folgt: „Herr Hoffmann ist erkrankt, der Charakter seiner Krankheit spricht Bände.

Hoffmann hat seit Wochen infolge der jämmerlichen Bezahlung der Künstler des Landes-

theaters kein warmes Essen mehr erhalten. Der physische Zusammenbruch war so unausbleiblich.“

Dem Publikum geht es nicht viel besser: Es muss die Darbietungen in zum Teil eiskalten Zuschauerräumen und wenig einladender Atmosphäre verfolgen. Mangels Zuspruchs wird

schon bald nur noch an drei Abenden in der Woche gespielt; an den anderen Tagen zeigen die flugs ins Leben gerufenen „Landestheater-Lichtspiele“ Stumm- und später Tonfilme,

um zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Erste Abstecher führen das Ensemble nach Paderborn, Bad Salzuflen oder Holzminden – Kommunen, die einen festen Zuschuss zum Etat

zahlen. Doch das alles reicht nicht, zumal das Betriebskapital des Trägervereins durch die Inflation zusammenschrumpft. Zum Ende der Saison 1924/25 – die Stadt Detmold war mit

5000 Reichsmark in die Bresche gesprungen, um die Spielzeit zu retten; Hauptsponsor

Neumann-Hofer hatte der Unfalltod ereilt – wird das Musiktheater aus Kostengründen aufgegeben und erst Mitte der 1930er Jahre wiederbelebt. Die öffentliche Hand – die Stadt Detmold und das Land Lippe – übernimmt die Schulden und in Person des Detmolder Bürger-

meisters Dr. Emil Peters das Zepter in dem Verein.

Adolf Neumann-Hofes Bruder Otto, ehemaliger Direktor des Berliner Lessingtheaters und

Gründer des Deutschen Opernhauses in Berlin-Charlottenburg, setzt die Familientradition

des kulturellen Engagements unterdessen fort. Nach seiner Pensionierung zieht er nach

Detmold und schreibt in der „Lippischen Landes-Zeitung“ brillante Kritiken über heimische Theateraufführungen.

Der erste Intendant des Landestheaters ist der letzte des Hoftheaters: Albert Berthold, seit

1895 im Amt und bereits auf die achtzig zugehend. Nicht nur ein „Akt der Pietät“ sei das gewesen, bemerkt der Detmolder Theater-Chronist Hans Georg Peters, sondern mindestens

in gleichem Maße einer der wirtschaftlichen Vernunft. Berthold gehört der Fundus an

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Kostümen und Dekorationen, den er später an Adolf Neumann-Hofer verkauft. Nach zwei-

jähriger Übergangszeit, geprägt von einer „gespenstigen Wiederkehr von längst Verklungenem“, übernimmt dann Emil Becker.

Das Sommertheater

Die Berufung des an der Saar geborenen Schauspielers und freien Theaterleiters ist wenig

überraschend, gehörte er doch vor der Jahrhundertwende bereits zum Ensemble des Hoftheaters. Vor allem aber hatte er den 1898 vor den Toren der Stadt errichteten Sommer-

theater-Bau regelmäßig bespielt. Beckers Repertoire hebt sich deutlich von dem der Fürsten-

Bühne ab. Bei ihm sind neben Komödien und Schwänken sozialkritische Stücke von Ger-

hart Hauptmann, Henrik Ibsen oder Maxim Gorki zu sehen. Peters urteilt in seiner Theatergeschichte von 1972 anerkennend: „Der Antagonismus von Hoftheater und Sommer-

bühne (…) ist vielleicht das interessanteste und erregendste Kapitel in der Detmolder Thea-

tergeschichte überhaupt.“

Nach dem Brand von 1912 dient das Sommertheater als „Fürstliches Interimstheater“. Becker, der zeitweilig eine Bühne in Oberschlesien geleitet hatte, kehrt 1918 nach Detmold zurück,

wo er das Sommertheater erwirbt und den Spielbetrieb weiterführt. So ist es nicht zuletzt

dem Wirken dieses Mannes zu verdanken, dass die Detmolder noch heute ihr Sommertheater besuchen können. Nach zahlreichen Umnutzungen und Umbauten wird das herunter-

gekommene Gebäude zu Beginn dieses Jahrtausends mit großem bürgerschaftlichen Engagement vor dem Abriss gerettet und saniert.

Mit Beckers Amtsantritt – er mag wie sein Vorgänger nicht auf den Titel Geheimer Intendanzrat verzichten – werden beide Bühnen zusammengeführt. Der Theaterdirektor alter

Schule, bereits 62 Jahre alt, beweist nicht immer großes Geschick bei der Spielplangestal-

tung. Persönlich konzentriert er sich auf die Inszenierung von Schwänken und Operetten,

überlässt immerhin einige modernere Stück seinen Regisseuren. Nach der Einstellung des Musiktheaters 1925 gelingt es Becker nicht, die Weichen für eine literarisch ausgerichtete Bühne zu stellen. Immerhin verschlägt es einige Prominenz in die Residenz. So ist 1929

Otto Gebühr in seiner Paraderolle als Friedrich der Große zu bewundern. In der Saison

1932/33 wird mit 23 605 Zuschauern ein neuer Tiefpunkt erreicht. Als Folge streicht man die Sommerspielzeit in Detmold und Bad Salzuflen.

Das Theater im „Dritten Reich“

Nachdem die NSDAP nach der Kommunalwahl 1932 im Vorstand des Theatervereins vertreten ist, vollzieht sich die Phase der Gleichschaltung in mehreren Schritten. Beginnend

mit Einschüchterungen wie Pöbeleien von SA-Männern während einer Vorstellung des jüdi-

schen Vortragskünstlers Joseph Plaut im April 1932, folgen ein Jahr später – nach der ge-

wonnenen Landtagswahl vom Januar 1933 – die komplette Neubesetzung des Theaterver-

eins mit Gefolgsleuten, die Entlassung des nahezu gesamten Personals und erste Einfluss-

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nahmen auf die Spielplangestaltung. Folglich beginnt die Spielzeit mit dem antifranzösischen Propaganda-Schauspiel „Schlageter“ von Hanns Johst, dem späteren Präsidenten

der Reichsschrifttumskammer. Der schwer erkrankte Intendant Becker kann diesen Entwicklungen nichts entgegensetzen, wird aber – wohl aus Respekt vor seinem Ruf – zunächst

im Amt belassen. Anfang 1934, kurz vor seinem Tod, gelingt es ihm noch, den jungen

Schauspieler Otto Will-Rasing als seinen Nachfolger durchzusetzen.

Für Will-Rasing, seit 1926 Ensemblemitglied und erst 33 Jahre alt, ist es die erste Intendantenstelle – er macht daraus eine Lebensaufgabe. Zu verdanken hat der gebürtige Münste-

raner die Beförderung auf den Chefsessel weniger künstlerischen Meriten als organisatorischen und kaufmännischen Fähigkeiten. Und diese entfaltet Will-Rasing gleichermaßen

geschmeidig sowohl in der NS-Zeit als auch später noch einmal nach seiner Rückkehr im

Jahr 1949. Er macht sich sofort an einen konsequenten Ausbau des wirtschaftlich lukrativen Gastspielbetriebs und steigert die Zahl der Abstecherorte schnell auf knapp zwei

Dutzend. Sondervorstellungen für die Deutsche Arbeitsfront bzw. deren Freizeitorganisation

„Kraft durch Freude“ bringen zusätzlich Besucher ins Haus. Sommerspielzeit und Musiktheater werden wiederbelebt samt Chor, Ballett und Orchesterausbau.

Das geht ins Geld und zieht eine neue Strukturreform nach sich. Nach langen Diskussionen konstituiert sich 1939 ein neuer Trägerverein, dem jetzt keine Privatleute mehr angehören

und dessen Aufgabe es sein soll, „das Kunstverständnis aller Volksschichten im Sinne na-

tionalsozialistischer Weltanschauung zu wecken und zu vertiefen“. Gleichzeitig wird der Einfluss der Stadt Detmold zurückgedrängt. Bestimmende Kraft mit 44 Prozent der Anteile

ist nun das Land Lippe, gefolgt von Kreis und Stadt Detmold (je 23 Prozent) und dem Kreis Lemgo (zehn Prozent). Da die Schulden von den Beteiligten übernommen werden, bessert

sich die Finanzsituation der Bühne. Dennoch muss weiter gespart werden, so dass man zeitgleich Opern wieder aus dem Spielplan streicht.

Detmold im Wagner-Fieber

Das ist aus künstlerischer Sicht zu verschmerzen, da die 1935 ins Leben gerufenen und

als „reichswichtig“ eingestuften „Richard-Wagner-Festwochen“ Jahr für Jahr hochkarätige Gastaufführungen im Landestheater garantieren. Ursprünglich eher als Einstimmung

auf Bayreuth gedacht, wird diese unter der Ägide des Detmolder Musiklehrers Otto Daube

stehende Veranstaltung mit jedem Mal pompöser – zumindest solange noch genügend

Geld da ist. 1938 reist sogar die Bayreuther Originalbesetzung der Berliner Staatsoper an. Das Äquivalent im Schauspielbereich stellen die seit 1936 veranstalteten „Grabbe-Tage“ dar. Auch aus diesem Anlass kommen Ensembles namhafter Bühnen in die Stadt, so vom

Berliner Schiller-Theater. Vorsitzender der kurz darauf in Detmold gegründeten und heute

noch existierenden Grabbe-Gesellschaft ist „Reichsdramaturg“ Rainer Schlösser, Ministerialdirigent im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Intendant Will-Rasing gehört – wie übrigens pro forma auch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels – dem

extrem breit aufgestellten Führungszirkel an.

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Will-Rasing, 1939 in die NSDAP eingetreten und in der örtlichen SA-Brigade als Kulturreferent geführt, hält sich bis zur kriegsbedingten Schließung der Bühne zum 1. September 1944 im Amt. Bezeichnenderweise gibt es in den davor liegenden Jahren bei Kino und

Theater in der Garnisonsstadt einen regelrechten Zuschauerboom, der zeitweilig zu tumultartigen Szenen vor der Abendkasse führt. In der letzten Theaterspielzeit besuchen knapp 224 000 Besucher die Aufführungen, davon 165 000 in Detmold.

Nach allem, was bekannt ist, hat sich der direkte Eingriff der NS-Machthaber in das Tagesgeschäft in Grenzen gehalten. Zwar schaltet sich Gauleiter Alfred Meyer immer mal wieder

gern in Einzelfragen ein – etwa wenn es um Beschwerden „verdienter“ Parteimitglieder

geht –, doch verhält sich der Intendant in seiner Programmgestaltung offensichtlich weitestgehend systemkonform. Dies gilt vor allem für die Zeit nach Kriegsbeginn 1939, als er

verstärkt und publikumswirksam auf die leichte Muse setzt, um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Die NSDAP-Kreisleitung freut sich 1941 über ein „durchaus gutes Einvernehmen“

zwischen Partei und Intendanz.

Theater-Historiker Peters urteilt 1972: „Künstlerisch gesehen, stellen diese (…) Jahre, durch

die politischen Verhältnisse bedingt, einen der Tiefpunkte, vielleicht sogar den absoluten

Tiefpunkt, in der Geschichte des Theaters dar.“ Und weiter: „Man wird gewiß nicht in einer

Zeit, wo selbst die größten Theater versagten, einem so kleinen Theater (…) die eingeschla-

gene Spielplanpolitik vorwerfen können, aber man kann auch nicht von einem Bekennermut sprechen, der sich hier wenigstens hin und wieder geregt habe.“

Wiederbeginn mit Hans Kaufmann

Durchaus erstaunlich ist es, wie schnell sich nach der Besetzung Detmolds durch zunächst

amerikanische und dann britische Truppen in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 wieder kulturelles Leben entwickelt. Zwar steht das von den Streitkräften zum „Casino“ um-

gewidmete Theatergebäude nur sehr eingeschränkt zur Verfügung, zwar bietet das als Ersatzspielstätte reaktivierte Sommertheater nur unzureichende Bedingungen, zwar ist die

allgemeine Versorgungslage schlecht – doch hindert dies die politisch Verantwortlichen um den wieder eingesetzten Landespräsidenten Heinrich Drake und den neu konstituierten Theaterverein nicht daran, schon im Sommer erste Entscheidungen zu treffen. Sie alle eint

die Überzeugung, dass das Theater für Lippe von immenser Bedeutung ist, aber nur als Drei-Sparten-Bühne eine Überlebenschance hat – eine Maxime, die bis heute besteht.

Da Will-Rasing wegen seiner NS-Vergangenheit vorerst nicht für die Leitungsposition infrage kommt, fällt die Wahl auf den aus einer jüdischen Familie stammenden Dr. Hans Kaufmann, ehemals Intendant in Braunschweig und Bern. Den NS-Verfolgten hatte es nach

seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt aufgrund persönlicher Be-

ziehungen ins benachbarte Hiddesen verschlagen. Der Spielbetrieb im, wie es vorübergehend heißt, „Neuen Lippischen Theater“ wird im Dezember 1945 wieder aufgenommen – mit einem sehr konventionellen Programm, bestehend etwa aus „Der eingebildet Kranke“

und „Sappho“ im Schauspiel oder „Zar und Zimmermann“ und „Die Fledermaus“ im Musik-

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theater. Kaufmann bleibt nicht lange im Amt, wird bereits im ersten Halbjahr 1946 abgelöst. Seine Inszenierungen gelten bei der Kritik als steif und nicht zukunftsorientiert; es heißt,

er sei nach der langen Haftzeit überfordert gewesen. Kaufmann stirbt, von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen, 1957 mit achtzig Jahren in Detmold.

„Die Dreigroschenoper“ als Skandal

Kaufmanns Nachfolger Karl Gaebler, ein alter Bekannter, der zu Beginn der 1920er Jahre

als Oberspielleiter des Schauspiels am Landestheater tätig gewesen war, muss sich von

Beginn an zahlreicher Widerstände erwehren. Obwohl er unter schwierigsten technischen und finanziellen Bedingungen nicht nur klassisches Theater aufführen lässt, sondern das Publikum gleichermaßen mit zeitgenössischen Stücken wie Bertolt Brechts „Puntila und sein Knecht Matti“ bekannt macht, ist sein Wirken von ständiger Kritik begleitet. 1948

kommt es in Zusammenhang mit der Aufführung der „Dreigroschenoper“ sogar zu einem handfesten Skandal. Das Stück wird auf Druck des Theatervereins vorzeitig abgesetzt.

Unter anderem der Christliche Verein Junger Männer hatte behauptet, darin werde „planmäßig jeder Maßstab von Gut und Böse zerstört“ – zwanzig Jahre nach der Uraufführung in Berlin. Hinzu treten immer wieder neue Nöte: Da der Kostümfundus beschlagnahmt ist, muss „Don Pasquale“ schon mal im Straßenanzug gespielt werden.

Hinderlich für Gaebler ist zudem, dass in Detmold im November 1945 ein Städtisches Orchester gegründet wird, das einerseits Theateraufführungen begleiten, andererseits aber einen regen Gastspielbetrieb in der Region aufrechterhalten sollte. Die Folgen liegen auf

der Hand: ständige Streitigkeiten über Einsatzzeiten, Umfang des Engagements und Bezahlung des Klangkörpers. Und dann muss Gaebler ausgerechnet mit seinem Vorvorgänger Will-Rasing kooperieren, dem die Stadt 1947 nach erfolgtem Entnazifizierungsverfahren die

Geschäftsführung des kommunalen Orchesters anvertraut.

Gaebler eckt aber noch an anderen Stellen an: Bei der ebenso allmächtigen wie sehr empfindlich reagierenden Besatzungsmacht, weil er sich nicht an die vorgegebenen Nutzungs-

zeiten für das Theater hält; bei seinen Mitarbeitern, weil er im täglichen Umgang das Feingefühl vermissen lässt; beim Trägerverein und der Politik, die ihm – berechtigt oder nicht

– leichtfertigen Umgang mit Geldern und Vernachlässigung des Abstecherbetriebs vor-

werfen. Dies alles führt Ende 1948 zum Rausschmiss. Ein Jahr später endet das Vertragsverhältnis endgültig mit einem Vergleich vor dem Landesarbeitsgericht.

Ein „Korb“ für Heinz Hilpert

Als Will-Rasing 1949 an die Spitze des Theaters zurückkehrt, befindet sich dieses in einer

existenzbedrohenden finanziellen Situation. Das dürfte der Hauptgrund dafür gewesen

sein, dass die Verantwortlichen auf die Dienste des an dieser Aufgabe ebenfalls interessierten

Starregisseurs Heinz Hilpert verzichten. Zwar hätte der ehemalige Intendant des Deut-

schen Theaters in Berlin reichlich Glanz nach Detmold gebracht, doch fürchtet man um

den Bestand des Musiktheaters und hat zudem Zweifel, ob seine Inszenierungen außerhalb

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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zu vermarkten gewesen wären. Hilpert, wegen seiner Karriere in Nazi-Deutschland nicht

unumstritten, geht stattdessen nach Göttingen – wo man sich gerade vom Drei-SpartenTheater verabschiedet hatte – und mehrt den Ruf der dortigen Sprechbühne.

Zu all den ohnehin vorhandenen Problemen kommen für Will-Rasing die Auswirkungen der Währungsreform vom Sommer des Vorjahres. Viele Menschen können sich einen

Theaterbesuch nicht leisten, auch die Kommunen müssen verstärkt sparen. Die Spielzeit

wird 1950 auf acht Monate reduziert – mit allen negativen Folgen für das Personal, das

vom Arbeitsamt zum Teil noch nicht einmal Unterstützung bekommt.

Aber es gibt auch gute Nachrichten. Das Orchester wird wieder Bestandteil des Theaters. Noch wichtiger: Auf der Grundlage der von Landespräsident Drake beim Anschluss Lippes

an das Land Nordrhein-Westfalen ausgehandelten „Punktationen“ fließen jetzt Jahr für

Jahr Gelder aus Düsseldorf als Ausgleich für eine deutliche Erweiterung des Abstecherbetriebs. Dem Trägerverein treten neben dem 1949 neu gegründeten Landesverband Lippe,

der das Theatergebäude kostenlos zur Verfügung stellt, außerlippische Städte wie Güters-

loh, Paderborn und Herford bei. Dort noch existierende kleinere Bühnen, das „Neue Westfalentheater“ in Gütersloh und das „Neue Theater“ in Herford, werden übernommen. Letztgenanntes leitet Dr. Franz Wirtz, der schon 1945 in Detmold inszeniert hatte und der in den

kommenden vier Jahrzehnten unter anderem als Chefdramaturg, Bühnenbildner und Intendant die Bühne maßgeblich prägen sollte.

Nachdem die Briten Mitte 1952 das Theatergebäude wieder freigegeben haben, geht es auf-

wärts. Erfolgreiche Abonnementswerbung und die Einrichtung von Zubringerdiensten sowie spezielle Angebote für junge Menschen und Senioren bringt vermehrt Publikum ins Haus.

Weitere Städte treten dem Theaterverein bei, zeitweilig gibt sogar der „Westdeutsche Rundfunk“ (WDR) einen Zuschuss. In mehreren Schritten gelingt es bis 1963, die ganzjährige Spielzeit für das gesamte Personal wieder einzuführen. Zu diesem Zeitpunkt ist mit mehr als 350 000 Besuchern, davon rund 220 000 auf Abstechern, dann allerdings der Zenit erreicht.

In der Folgezeit, vor allem wegen der wachsenden Konkurrenz durch kostengünstige Tourneetheater und des Siegeszuges des Fernsehens, bricht dieser Markt ein. Kräftige Lohnzuwächse lassen die Personalkosten in die Höhe schnellen. Einzelne Mitgliedsstädte des

Vereins drohen mit Austritt, weil sie den finanziellen Verteilerschlüssel für ungerecht hal-

ten. Das Land, das mitten in einer großen Kommunal- und Verwaltungsreform steckt, hält

sich mit finanziellen Wohltaten zurück. Ab 1968 wird deshalb die Spielzeit – es ist die letzte Will-Rasings – wieder auf elf Monate verkürzt.

Prominente Gäste

Als der in Wien geborene, vom Stadttheater Klagenfurt kommende und mit einem österreichischen Professorentitel versehene Otto Hans Böhm 1969 in Detmold antritt, kann er

auf einen frisch errichteten Erweiterungsbau zurückgreifen. Dieser umfasst neben Werkstätten, Fundus- und Verwaltungsräumen auch einen neuen Ballettsaal. Letzterer wird

zudem für die neu eingerichtete „Studio-Bühne“ genutzt, auf der Zeitkritisches und Expe-

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rimentelles seinen Platz findet. Mit einem Stück des Chilenen Jorge Díaz namens „Der Ort,

wo die Säugetiere sterben“ fand die Eröffnungspremiere statt. Die Klage über Ausbeutung

und Unterdrückung in Südamerika ist zu dieser Zeit gerade ein ganz großes Thema. Die örtliche Kritik ist allerdings nicht überzeugt, sehnt sich vielmehr zurück in die 1950er

Jahre, als in der „Kammerspiele“-Reihe Stücke ganz anderer Qualität, etwa Jean-Paul Sartres

„Geschlossene Gesellschaft“, gegeben wurden.

Böhm, der selbst mitunter als Schauspieler auftritt, steht für eine „ausgewogene Spielplanpolitik“, die die Interessen der Abnehmer in den Abstecherorten berücksichtigt, sich zudem nach den finanziellen Möglichkeiten richtet. Dabei hat er ein Faible für prominente

Gastverpflichtungen. So verkörpert Erik Ode 1977, damals im Fernsehen schon nicht mehr

„Der Kommissar“, mehr als fünfzig Mal den Hauptmann von Köpenick; Hans-Joachim

Kulenkampff gibt „Des Teufels General“ und „Münchhausen“. Ansonsten ist im Schauspiel

neben Klassikern viel Gegenwart vertreten: Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Jean

Anouilh, Albert Camus, Sartre … Auch in der Oper werden Experimente gewagt, so die

Aufführung der „Elegie für junge Liebende“ von Hans-Werner Henze oder Alban Bergs

„Wozzeck“. In Böhms Amtszeit fallen ebenso die Kontakte der Bühne ins belgische Hasselt,

aus denen sich eine bis heute lebendige Partnerschaft auf kommunaler Ebene entwickelt

hat. Durch den von ihm gegründeten „Sozialfonds“ wird es möglich, ehemaligen Ensemblemitgliedern in Notlagen zu helfen.

Die 16-jährige Amtszeit Böhms ist hinter den Kulissen geprägt von andauernden, zum Teil

massiven Finanz- und Vertrauenskrisen. Im Oktober 1971 gelingt es zunächst unter großen

Mühen und mit einigem Druck seitens des Regierungspräsidiums („Zahlen oder schließen!“), den Trägerverein zu reformieren, mehr lippische Kommunen für eine Mitgliedschaft

zu gewinnen und die auswärtigen Mitglieder, wie von diesen seit Jahren gefordert, von der Verlustabdeckung zu befreien.

Doch sehen die Lipper dieses Bekenntnis zum Theater, zu dem auch die zwischenzeitlich

erfolgte Gründung eines Fördervereins gehört, vom Land nicht honoriert. Kurz darauf kur-

sieren Überlegungen, dem in Herford beheimateten Regionalorchester „Nordwestdeutsche Philharmonie“ die musikalische Betreuung der Detmolder Bühne zu übertragen, und

schließlich flattert aus dem Düsseldorfer Kultusministerium ein Papier zur Neuordnung

der Kulturlandschaft auf den Tisch, das die Reduzierung des Landestheaters auf ein reines

Sprechtheater vorsieht. Soweit kommt es dann nicht, das alles ist politisch nicht durch-

setzbar. Im Gegenteil: Ab 1977 gibt es wieder die zwölfmonatige Spielzeit.

Aber Böhm kann den Sarkasmus aus seinen Anfangsjahren („Gefährdet sind wir jede Stunde“)

weiterhin gut gebrauchen. Bis ins Persönliche gehen 1979 nicht nur die Auseinander-

setzungen um den Wechsel im Amt des Generalmusikdirektors, auch mehrfach vorgetragene Vorwürfe aus der Politik über fehlende Haushaltsdisziplin und mangelnde Kostentranspa-

renz schlagen tiefe Wunden. Böhm hätte gern weitergemacht, muss aber – mit allerdings

schon 66 Jahren – 1985 gehen. Er verlässt Lippe in Richtung München, wo er 1996 stirbt.

Während sich Böhm seine Enttäuschung öffentlich nicht anmerken lässt, kann sich der

langjährige stellvertretende Intendant Otto Röhler bei seiner Verabschiedung ein paar Mo-

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2016

Faust von Charles Gounod

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nate später nicht zurückhalten. Der mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Theaterveteran, seit 40 Jahren in verschiedenen Führungspositionen an der Bühne tätig und

zuletzt intern auch gern als „Otto II.“ tituliert, provoziert mit seinen Abschiedsworten Lippes

Landrat Hans Budde dermaßen, dass dieser samt Oberkreisdirektor die Veranstaltung verlässt und sein Geschenk wieder mitnimmt. Und der Kinderchor singt auf Wunsch des Scheidenden: „Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen.“

Nienstedts kurzes Gastspiel

Zu diesem Zeitpunkt hat bereits ein veritabler Weltstar das Ruder übernommen. Der Opernsänger Gerd Nienstedt, ehemaliges Ensemblemitglied der Richard-Wagner-Festspiele in

Bayreuth und auch sonst auf vielen großen Bühnen zuhause, wechselt vom Städtebundtheater Hof nach Lippe. Schnell gibt es wieder Streit. Einige Extravaganzen – darunter die Verpflichtung des Startenors Spas Wenkoff für eine Inszenierung von Richard Wagners

„Tristan und Isolde“ oder der Einsatz von sieben Harfenistinnen beim Fünf-Stunden-Werk

„Les Troyens“ von Hector Berlioz – gehen mächtig ins Geld. Einer Vielzahl an modernen Stücken zeigt das Publikum die kalte Schulter.

Auf ein Millionendefizit in der ersten Spielzeit folgende Sparauflagen veranlassen Nienstedt

im Januar 1987, von seinem Sonderkündigungsrecht zum Juli 1988 Gebrauch zu machen.

Zwar widerruft der Intendant kurz darauf seine Entscheidung, doch bleibt der Theater-

verein hart. Nienstedt muss im Mai 1987 gehen, weil nach einem erneuten Minus im ersten

Quartal das Vertrauensverhältnis als „restlos zerstört“ gilt. Den sofortigen Rausschmiss

lässt sich der Theaterverein sogar eine sechsstellige Abfindungssumme kosten. Der erst

55 Jahre alte Nienstedt zieht sich danach weitgehend aus dem Kulturbetrieb zurück, gibt lediglich noch eine Zeit lang Unterricht am Konservatorium in Wien.

Die schnelle Trennung wird möglich durch zwei personelle Entscheidungen. Zum einen erklärt sich der schon in den Ruhestand verabschiedete, aber noch als Gast am Theater tätige Franz Wirtz bereit, bis Jahresende die Leitung der Bühne zu übernehmen. Seit 1945

dabei und inzwischen im 72. Lebensjahr stehend, ist der vielseitige Theatermann, der in seinem Berufsleben für rund dreihundert Inszenierungen verantwortlich zeichnete, der

Richtige, um extern und intern die aufgeregten Gemüter zu beruhigen und den reibungs-

losen Übergang zu seinem Nachfolger zu gewährleisten. Zeitgleich werden angesichts der

erneut desolaten Finanzlage die Gewichte innerhalb des Hauses verschoben. Die Position

des Verwaltungsleiters – also des Finanzfachmanns – wird gegenüber dem Intendanten deutlich gestärkt. Diese Doppelspitze besteht bis heute.

Das Wunder von Detmold

Zum anderen ist Wirtz – und ebenso der Öffentlichkeit – zu diesem Zeitpunkt schon bekannt, wer künftig das Ruder übernehmen wird. Mit der Verpflichtung des aus der DDR stammenden Theaterleiters und Regisseurs Ulf Reiher trifft der Theaterverein – prominent

beraten vom Generalintendanten der Bayerischen Staatstheater, August Everding – im

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Frühjahr 1987 eine Aufsehen erregende und anfangs auch heftig umstrittene Wahl. Der

fünfzig Jahre zuvor in Stettin geborene Reiher, 1977 in Zusammenhang mit seinem Protest

gegen die Ausbürgerung des Lyrikers und Liedermachers Wolf Biermann als Intendant des

Stadttheaters in Halle an der Saale entlassen, inszeniert zu diesem Zeitpunkt zwar schon einige Jahre in der Bundesrepublik. Dennoch gilt die bundesweit erstmalige Übertragung

eines ganzen Theaterbetriebs in die Hände eines DDR-Bürgers als Sensation. Und so wabern

schnell Gerüchte durch Lippe, der sozialdemokratisch dominierte Theaterverein könne in

seinem Bemühen, „ein Signal von sensationeller Progressivität“ zu setzen, der Usurpation

der Bühne durch „Theaterschaffende aus der DDR“ Vorschub geleistet haben. Und schlimmer noch: Man würde durch die gängigen Pflichtabführungen von Devisen an die DDR zur

Stabilisierung des Honecker-Regimes beitragen. Was erst später herauskommt: Argwöhnisch ist auch das Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Es misstraut Reiher nach wie vor und wirbt im Ensemble Informanten an.

Doch alles Störfeuer bewirkt nichts mehr, Reiher erhält bei seiner Wahl 33 von 35 Stimmen.

Auch Wirtz gibt grünes Licht: „Bei einem exzentrischen Theatermann hätte ich nicht für einen Übergang zur Verfügung gestanden.“ Reiher betätigt diese Bodenständigkeit schon vor Amtsantritt: durch sein Bekenntnis zum Ensemble- und Repertoiretheater; durch seinen erklär-

ten Willen, die Finanzen in Ordnung zu halten; durch seine Liebeserklärung an bewährte

Autoren von Lessing bis Brecht, die seine Skepsis gegenüber DDR-Autoren wie Heiner Müller einschließt. Dass er an seinem an Brecht orientierten Konzept, gutes Theater als eine Einheit

von Vergnügen und Belehrung zu verstehen, die nächsten 17 Jahre an Ort und Stelle würde

arbeiten können, hat Reiher wohl selbst nicht erwartet. Auch nicht, dass ihm 2004 zum Ab-

schied allseitig Lorbeerkränze geflochten werden: Vom „Wunder von Detmold“ ist die Rede.

Reiher, der mit Schillers „Die Räuber“ in Detmold debütiert, gelingen trotz knapper Budgets

nicht nur bedeutende Inszenierungen von Stücken des Detmolder Dichters Christian Dietrich Grabbe – „Don Juan und Faust“ sowie „Napoleon oder die hundert Tage“ werden sogar vom

„Westdeutschen Rundfunkt“ aufgezeichnet –, er brilliert auch mit Musicals wie „Cabaret“

oder „Les Misérables“. Intern versteht er es, alle Theaterschaffenden – und insbesondere auch die, die nicht regelmäßig auf der Bühne stehen – auf seine Philosophie einzuschwören,

nämlich dass Theater gesellschaftlich etwas zu leisten hat, es unverzichtbar ist für die

Seelenhygiene einer Gesellschaft.

Zu den Verdiensten Reihers zählt ebenso die deutliche Ausweitung der Aufführungsorte innerhalb Detmolds. Ab 1990 wird im sanierten Geburtshaus Grabbes die neue Studiobühne

eingeweiht, bis heute ebenso unverzichtbar wie die seit Sommer 1991 angebotenen Freiluftvorstellungen im Innenhof des Theaterkomplexes. Ab 2003 wird das frühere Sommertheater bespielt, im Februar 2004 mit der Hochschule für Musik ein Opernstudio gegründet.

Der Beinahe-Intendant

Der Übergang von Reiher auf seinen Nachfolger, den seinerzeitigen Intendanten des Nord-

harzer Städtebundtheaters, Kay Metzger, im Jahr 2004 erscheint logisch. Beide kennen

sich aus ehrenamtlichen Tätigkeiten beim Deutschen Bühnenverein, Metzger hatte ge-

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


rade erst als Gast in Detmold „Tosca“ inszeniert, er hat Erfahrungen mit dem Abstecherbetrieb, und seine Anfänge als Assistent von August Everding mögen ebenfalls hilfreich gewesen sein.

Dieser Wechsel ist aber auch ein Musterbeispiel dafür, welche Unwägbarkeiten die Beset-

zung einer solchen Spitzenposition mitunter bestimmen. Ursprünglich nämlich war geplant, die Nachfolge Reihers bereits ein Jahr früher mit dessen Erreichen der Altersgrenze

zu regeln. Man hatte mit Heinz-Rudolf Müller vom Westfälischen Landestheater Castrop-

Rauxel schon einen Nachfolger offiziell vorgestellt. Als dieser sogleich acht langjährige

Ensemblemitglieder vor die Tür setzt und dann auch noch vorhat, um die hundert weitere

Mitarbeiter auszuwechseln, überlegt es sich der Theaterverein anders und kündigt den noch nicht schriftlich fixierten Vertrag. Reiher – „Das Landestheater ist mein Kind“ –

hängt noch eine Spielzeit dran und ermöglicht so die Verpflichtung Metzgers, der gerade

erst hauchdünn mit seiner Bewerbung auf den Chefposten der Städtischen Bühnen Bielefeld gescheitert war – übrigens an einer Bewerberin, die ihre Kandidatur schon wenige

Stunden nach der Wahl wieder zurückzieht.

Der ganze Wagner

Metzgers 14-jährige Amtszeit ist einerseits gekennzeichnet durch spektakuläre Opernaufführungen – 2009 gibt es zum 2000. Jahrestag der Varusschlacht den kompletten

Wagner‘schen „Ring des Nibelungen“– und andererseits von einer Intensivierung der Bemühungen um das junge Publikum. So eröffnet die Bühne ebenfalls 2009 in angemieteten Räumen ein Kinder- und Jugendtheater mit dem Fantasienamen „Kaschlupp!“ (jetzt: „Das

Junge Theater“). Mit einer Vielzahl an Formaten gehen Metzger und seine Leute nach drau-

ßen. Es gibt Einführungsmatineen in Geschäftsräumen von Sponsoren, Lesungen in Buch-

handlungen, Gastspiele in Kirchen. In Zusammenarbeit mit dem Förderverein „Theater-

freunde“ und der „Lippischen Landes-Zeitung“ wird der Detmolder Theaterpreis aus der

Taufe gehoben. Jüngstes Ergebnis dieser Strategie ist das 2016 ins Leben gerufene

„Schlossfestival“, das die starke Verbindung, die das Haus Lippe seit rund zweihundert

Jahren zum Theater hat, bekräftigt. Mitte 2018 wechselt Metzger zum Theater Ulm.

Im Hintergrund geht auch während der Metzger-Intendanz der Kampf ums Geld weiter. Nach der Jahrtausendwende kündigen immer mehr Kommunen des Theatervereins die

Mitgliedschaft, um ihre defizitären Haushalte zu entlasten. Als Konsequenz wird der Trä-

gerverein auf Betreiben des damaligen Landrates Friedel Heuwinkel 2006 in eine gemeinnützige GmbH mit der Theater-Doppelspitze als Geschäftsführung überführt. Hauptgesell-

schafter mit knapp unter fünfzig Prozent ist der Kreis Lippe, der die Interessen der kommunalen Familie bündelt. Weitere wesentliche Anteile halten die Stadt Detmold und der Landesverband Lippe. Stadt und Kreis Paderborn sowie die Staatsbad Bad Oeynhausen

GmbH und der Verein zur Förderung des Landestheaters komplettieren den Gesellschaf-

terkreis. Diese Konstruktion hat sich gerade erst wieder bewährt, als es um die Absicherung der Finanzierung des Theaters in den kommenden Jahren ging. Mehr Platz gibt es auch – durch einen weiteren Anbau im rückwärtigen Bereich.

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Der rund 21 Millionen Euro umfassende Etat des Landestheaters wird gegenwärtig knapp

zur Hälfte vom Land Nordrhein-Westfalen getragen, rund ein Viertel entfällt auf die GmbH-

Mitglieder, den Rest erwirtschaftet das Haus selbst. Zu den gut sechshundert Vorstellungen kommen in der Spielzeit 2017/18 gut 163 000 Zuschauerinnen und Zuschauer, davon

71 000 in den Abstecherorten. Das Haus beschäftigt 260 Mitarbeiter, etwa die Hälfte davon ist im künstlerischen Bereich tätig.

Ein Jahr vor dem Jubiläum des Theaterbaus ist mit Georg Heckel, zuvor in Darmstadt,

Augsburg und Freiburg in führenden Funktionen tätig, ein neuer Intendant nach Detmold

gekommen – diesmal in einem Verfahren ganz ohne Streitereien oder Vakanzen. Bestens

vernetzt im Kulturbetrieb ist es ihm schon nach wenigen Monaten mit Produktionen wie den Opern „Faust (Margarethe)“ von Charles Gounod oder „Luisa Miller“ von Giuseppe Verdi gelungen, die Aufmerksamkeit der überregionalen Fachpresse auf das Landestheater zu

ziehen. Zudem schärft er das Profil der Einrichtung als „Aufstiegshaus“, an dem sich vielversprechende Talente für Aufgaben an größeren Bühnen empfehlen können.

Sollte alles gut weiterlaufen, kann Heckel schon bald für das nächste Jubiläum planen.

2025 jährt sich zum zweihundertsten Mal die Einweihung des Detmolder Hoftheaters.

Zum Weiterlesen: Hans Georg Peters: Vom Hoftheater zum Landestheater. Die Detmolder Bühne von 1825 bis 1969 (= Lippische Studien – Forschungsreihe des Landesverbandes Lippe 1), Detmold 1972.

Joachim Kleinmanns: „Lippische Herrschaftsarchitektur in der Revolution. Vom Hoftheater zum

Landestheater“, in: Julia Schafmeister/Bärbel Sunderbrink/Michael Zelle (Hg.): Revolution in Lippe. 1918

und der Aufbruch in die Demokratie (= Kataloge des Lippischen Landesmuseums Detmold 23; = Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe 94), 2. Auflage, Bielefeld 2019, S. 183–193.

Christoph Schmidt: Nationalsozialistische Kulturpolitik im Gau Westfalen-Nord (= Forschungen zur Regionalgeschichte 54), Paderborn 2006, S. 382–428.

Norbert Ebel/Holger Schröder: „Von Otto Will-Rasing zu Otto Will-Rasing. Das Landestheater 1945 – 1949“,

in: Stadt Detmold (Hg.)/Wolfgang Müller, Hermann Niebuhr und Erhard Wiersing (Bearb.): Detmold in der

Nachkriegszeit. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts (= Sonderveröffentlichungen des Natur-

wissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe, 41), Bielefeld 1994, S. 445–471.

Landestheater Detmold (Hg.)/Birgit Reiher/Holger Schröder/Juliane Wulfgramm (Red.): Introite, nam et

heic dii sunt! (Tretet ein, denn auch hier sind Götter!) – Festschrift zum 175jährigen Jubiläum Theater

Detmold 1825–2000. Detmold 2000.

Manfred Fuhrmann: Aus der Bahn geworfen. Die Stationen des jüdischen Theatermannes Dr. Hans Kaufmann (= Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe 70), Bielefeld 2003.

Hans-Joachim Keil: Professor Dr. Adolf Neumann-Hofer (1867 bis 1925) in Lippe (1899 bis 1925) –

der einflussreiche linksliberale Modernisierer in Politik, Regierung, Wirtschaft, Pressewesen und Gesellschaft. Detmold 2018.

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Ein Geschenk für die Stadt Hartmut Benkmann, Susanne Flöttmann und Stefan Dörr im Gespräch Einhundert Jahre steht der Theaterbau in Detmold. Das ist auch ein Anlass, auf die Trägerschaft und die Entwicklung zur heutigen Rechtsform des Theaters zu schauen. Hierzu

ein Interview mit Hartmut Benkmann, der als ehemaliger Kämmerer der Stadt Detmold

ein wesentlicher „Geburtshelfer“ bei der Entstehung der heutigen Rechtsform, der Landes-

theater Detmold GmbH, im Jahr 2006 war. Nachgefragt hat Stefan Dörr, aktueller kaufmän-

nischer Geschäftsführer und Verwaltungsdirektor des Landestheaters. Begleitet wurde das

Interview von Susanne Flöttmann, die ebenfalls als Prokuristin bei der Umwandlung der Gesellschaftsform dabei war und seit über dreißig Jahren dem Theater treu ist.

Stefan Dörr:

Einhundert Jahre – was fällt Ihnen als Erstes, spontan zum Theater ein? Hartmut Benkmann:

Schon als kleiner Junge, später als Jugendlicher, war ich Theaterbesucher. Das erste Stück,

an das ich mich erinnere, ist „Der gestiefelte Kater“. Als ich dann Schüler am Leopoldinum

war, habe ich regelmäßig den damaligen „Restkartenverkauf“ für eine Mark und fünfzig in

Anspruch genommen. Ich erinnere mich besonders an die Mozart-Oper „Die Entführung

aus dem Serail“, da wir zeitgleich im Musikunterricht etwas über die Halbtonmusik gelernt hatten. Das Theater war immer eine feste Institution in meinem Leben.

Stefan Dörr:

Ehemals fürstliches Hoftheater, so war es auch noch 1914 beim Baubeginn des Gebäudes,

dessen Geburtstag wir feiern, heute ist das Theater in der Rechtsform einer GmbH organisiert. Wie kam es dazu?

Hartmut Benkmann:

Warum es zwischenzeitlich ein Verein war und verschiedene Rechtsformen hatte, kann ich nicht genau sagen. Auch wenn für kulturelle Einrichtungen bis heute der Verein eine

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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gängige Rechtsform ist, hat sich herausgestellt, dass die Trennung zwischen der tatsächlichen Fachkompetenz, die im Theater bei Intendanz und Verwaltungsdirektor lag (und

liegt), und der rechtlichen Verantwortung, die bei den Repräsentanten der Mitglieder lag, nicht passte.

Susanne Flöttmann:

Als ich meine Ausbildung im August 1982 am Theater begonnen habe, mussten Überweisungen wie auch heute von zwei Verantwortlichen unterschrieben werden. War aber einer

der beiden – Intendant oder Verwaltungsdirektor – nicht vor Ort, bin ich als Auszubildende

zum Vereinsvorstand ins Rathaus der Stadt Bad Salzuflen oder ins Schloss nach Brake gefahren.

Hinzu kam im Jahr 2000 eine erhebliche Kürzung des Zuschusses des Landes Nordrhein-

Westfalen, so dass sich auch die Frage nach der persönlichen Haftung des Vereinsvorstandes stellte. Mit einer Strukturkommission von 2002 bis 2004 reifte die Erkenntnis, dass eine GmbH mit einem hohen Stammkapital in Höhe von drei Millionen Euro das beste Ergebnis darstellt. Mit dem Arbeitskreis Rechtsformwechsel wurde dann die Satzung

erarbeitet und an die Gegebenheiten des Theaters angepasst – hier kommt dann Herr Benkmann ins Spiel.

Stefan Dörr:

Welches waren die maßgeblichen Ansätze bei der Gründung der GmbH? Hartmut Benkmann:

Mit der Gründung der GmbH wurde die Struktur der Gesellschaft den faktischen Verhält-

nissen angepasst. Intendant und Verwaltungsdirektor wurden zu gleichberechtigten Geschäftsführern. Den Repräsentanten der Träger wurde und wird eine Aufsichtsrolle in

Form des Aufsichtsrates und der Gesellschafterversammlung zugeteilt. Im Aufsichtsrat

und in der Gesellschafterversammlung wurde nun unter anderem der finanzielle Rahmen definiert, in welchem die Geschäftsführung eigenverantwortlich agiert.

Darüber hinaus gab es noch ein anderes Ärgernis: Beim Lesen der Tageszeitung hatte man

häufig den Eindruck, dass mehr über die finanziellen Sorgen des Theaters als über die

künstlerischen Erfolge berichtet wurde. Dies lag daran, dass jede Gemeinde im Kreis Lippe Mitglied im Trägerverein war und in jedem Rat (und auch in den Ausschüssen) jährlich

über die Zuschüsse an das Landestheater beraten und gerade auch in den kleinen Gemeinden zum Teil heftig gestritten wurde. Der Wert eines Theaters in Detmold wurde dort nicht

immer ausreichend gewürdigt. Und über jede Beratung haben die Tageszeitungen natür-

lich pflichtgemäß berichtet. Mit der Gründung der GmbH konnte die Anzahl der zuschuss-

gebenden Gesellschafter deutlich reduziert werden. Hauptzuschussgeber sind der Kreis

Lippe, der Landesverband Lippe und die Stadt Detmold. Weitere Gesellschafter mit einem

deutlich geringeren Anteil sind Stadt und Kreis Paderborn, die Staatsbad Bad Oeynhausen GmbH sowie die „Theaterfreunde”, der Förderverein des Theaters.

70

IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Weiterhin entschied man sich, den Zuschuss der Träger nicht jedes Jahr neu, sondern je-

weils für fünf Jahre zu definieren. Dies stellte sicher, dass Rat, Kreistag und Verbandsversammlung als Träger des Theaters auf jeden Fall einmal in der jeweiligen Legislaturperiode über die Finanzen des Theaters beraten. Da die Ausgaben des Theaters zu achtzig Prozent

aus Personalkosten bestehen und tarifgemäß jährlich steigen, beinhaltete der Zuschussbeschluss natürlich eine jeweilige Steigerungsrate für die nächsten fünf Jahre. Der Vorteil

für das Theater liegt in der Planungssicherheit. Vor allem auch die Stücke, die auf dem

Gastspielmarkt lange im Vorfeld verkauft werden sollen, können so solide geplant werden.

Stefan Dörr:

Welche Bedeutung des Theaters sehen Sie für die Region? Hartmut Benkmann:

Die Bedeutung des Theaters ist damals wie heute für die Region sehr groß. Die Stadt erhält

für einen relativ überschaubaren Betrag – das habe ich damals beim Austausch mit Kämmerern anderer theatertragender Städte erfahren – das komplette Angebot eines Vier-

Sparten-Hauses. Andere Städte zahlen das Fünf- bis Zehnfache für ein solches Angebot

vor Ort. Es ist ein Geschenk für die Stadt, ein – wegen der vielen Gastspiele außerhalb Detmolds – zur Hälfte vom Land Nordrhein-Westfalen finanziertes Theater zu haben. Die an-

deren Gesellschafter, Kreis Lippe, Landesverband Lippe, Kreis und Stadt Paderborn, Staats-

bad Bad Oeynhausen GmbH und die Theaterfreunde, geben einen wichtigen Beitrag dazu.

Mit all diesen Regelungen kann das Landestheater Detmold als durchaus krisensicherer Kulturfaktor bezeichnet werden.

Stefan Dörr:

Welche Herausforderungen sehen Sie für das Theater? Hartmut Benkmann:

Wir als Stadt sind für die vielzitierten „weichen Wirtschaftsfaktoren“ zuständig. Und das

sind eben nicht nur die Schulen, der Sport und vieles andere mehr, sondern ganz besonders auch die Kultur. Hier spielt das Landestheater eine der Hauptrollen und trägt eine große Verantwortung.

Stefan Dörr:

Welche Wünsche für die Zukunft des Theaters haben Sie? Hartmut Benkmann:

Immer neu die Nähe der Besuchers suchen und aktiv werben! Wandlungsfähig sein und

attraktiv für die kommende Gesellschaft. Und natürlich: Immer ein volles Haus! Stefan Dörr:

Herzlichen Dank!

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Inszenierungen

72


2019

Luisa Miller Oper von Giuseppe Verdi

73


q

1924

Ja ̈gerchor aus dem Freischu ̈tz, Oper von Richard Wagner

u

1939

Frau Luna Operette von Paul Lincke

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


q

1943

Der Prinz von Thule Operette von Rolf Kattnigg

e

1949

La traviata Oper von Giuseppe Verdi

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u

1950

Die Journalisten Lustspiel von Gustav Freytag

1953

Faust. Eine Tragรถdie, Johann Wolfgang von Goethe

t

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IMMER EIN FEST Fร R GEIST UND SINNE!


3

1953

Die Komรถdie der Irrungen, William Shakespeare

q

1954

Carmen, Oper von Georges Bizet

e

1955

Gyges und sein Ring Tragรถdie von Friedrich Hebbel

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u

1956

Maria Stuart Trauerspiel von Friedrich Schiller

1962

Blume von Hawai Operette von Paul Abraham

t

1956

Viktoria und ihr Husar Operette von Paul Abraham

t

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IMMER EIN FEST FĂœR GEIST UND SINNE!


13

1970

Don Juan, Jean-Baptiste Molière

1970

Die Erbschaft der Familie Tuggs Ballettabend, Musik: Hans Gresser

t

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7

1978

Wie einst im Mai Operette von Walter und Willi Kollo

7

1975

Die Meistersinger von NĂźrnberg Oper von Richard Wagner

1979

Margarethe Oper von Charles Gounod

t

7

1976

Falstaff Oper von Giuseppe Verdi

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7

1983

Baron Münchhausen nach dem Buch von Erich Ka ̈stner

1989

Napoleon oder die 100 Tage Schauspiel von Christian Dietrich Grabbe

t

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


1

1992

Don Juan und Faust Drama von Christian Dietrich Grabbe

7

1994

Rigoletto, Oper von Giuseppe Verdi

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1

1995

Herzog Theodor von Gothland Drama von Christian Dietrich Grabbe

3

1997

Die Dreigroschenoper, Theaterstück mit Musik Bertolt Brecht

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1

2000

Ariadne auf Naxos Oper von Richard Strauss

1

2000

Zar und Zimmermann Oper von Albert Lortzing

3

2002

Hinter den Spiegeln Balettabend von Richard Lowe

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2004

Let me Live Tanzabend von Richard Lowe

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1

2004

Die lustigen Weiber von Windsor Oper von Otto Nicolai

3

2004

König Drosselbart Gebrüder Grimm

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7

2005

Tannhäuser Oper von Richard Wagner

6

2007

Hoffmanns Erzählungen Oper von Jacques Offenbach

3

2008

Chlestakovs Wiederkehr Oper von Giselher Klebe, UA

3

2009

Die Zauberflöte, Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

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2006

Die Walküre, Oper von Richard Wagner

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


2008

Das Rheingold Oper von Richard Wagner

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2009

GÜtterdämmerung Oper von Richard Wagner

92


2009

Siegfried Oper von Richard Wagner

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7

2011

Die Hochzeit des Figaro Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

3

2012

I Hired a Contract Killer Aki Kaurismäki

3

2013

Charleys Tante Lustspiel von Brandon Thomas

3

2014

Die Verwandlung nach dem Roman von Franz Kafka

7

2014

Hair Musical von Galt MacDermot

3

2014

Hoftheater Beggars Opera Text: John Gay, Musik: Johnann Christoph Pepusch

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7

2015

Anatevka Musical von Joseph Stein

7

2014

Written on skin Oper von George Benjamin

2014

Der Liebestrank Oper von Gaetano Donizetti

t

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IMMER EIN FEST FĂœR GEIST UND SINNE!


3

2015

Herzog Theodor von Gothland Schauspiel von Christian Dietrich Grabbe

2016

Dantons Tod Georg Büchner

t

2016

Let´s rock! Ballettabend zum Leben David Bowies

t

3

2016

Zar und Zimmermann, Oper von Albert Lortzing

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7

2018

Der Sturm William Shakespeare

3

2018

Der Vetter aus Dingsda Operette von Eduard Künneke

5

2019

The Addams Family Musical von Andrew Lippa, Marshall Brickman und Rick Elice

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2018

Faust Oper von Charles Gounod

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2019

Gute Nachbarn Will Enos

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2019

Richard 3.0 Ballettabend von Richard Lowe

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2019

Andorra Max Frisch

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2019

Luisa Miller Oper von Giuseppe Verdi

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Die Lokalzeitung leistet Geburtshilfe Die „Theaterfreunde“ feiern 2020 ihr fünfzigjähriges Bestehen Michael Dahl

Im Jahr 1970 ist wieder einmal Krise. Beileibe nicht die erste in der Geschichte des Landestheaters Detmold und – wie wir heute wissen – auch nicht die letzte. Aber eine besonders tiefgreifende: Nicht weniger als die Existenz der Bühne steht auf dem Spiel. Es geht ums Geld.

Die Situation scheint verfahren. Angesichts des Mangels an klaren Kriterien für die Aufteilung der Kosten und stetig steigenden Zuschussbedarfs – verursacht vor allem durch kräftige Tariflohnsteigerungen – sind es etliche Mitglieder des Theater-Trägervereins leid,

Jahr für Jahr mehr Geld in die Kultureinrichtung zu pumpen. Zudem steckt das Land Nord-

rhein-Westfalen mitten in einer kommunalen Neuordnung und zögert mit allzu üppigen

Bezuschussungen – auch weil es auf lippischer Ebene das klare Bekenntnis zum Theater

vermisst. Die internen Einsparungsmöglichkeiten sind weitgehend ausgereizt: Die Spiel-

zeit beträgt ohnehin nur elf Monate, und eine erneute Personalkürzung um mehr als zehn

Prozent ist gerade beschlossen worden. Auf eine der drei Sparten will man aber keinesfalls

verzichten. Das wäre, so die allgemeine Auffassung in der örtlichen Politik, „der Anfang vom Ende“.

Es ist eine unscheinbare Zeitungsnotiz im Oktober 1970, die Bewegung in die Sache bringt.

Dr. Rolf Böger, als Detmolder Ratsmitglied stellvertretender Vorsitzender des Theaterver-

eins, platziert am Rande eines Pressegesprächs die vom damaligen Regierungsvizepräsidenten Hanns Winter geäußerte Idee, einen „Förderverein“ ins Leben zu rufen. Einen sol-

chen hat zu diesem Zeitpunkt im weiteren Umkreis nur das Stadttheater Bielefeld. Die Anregung ist dem Redakteur der „Lippischen Landes-Zeitung“ (LZ) zwar nur acht Zeilen am

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Vorstand der „Theaterfreunde”

Der Vorstand der „Theaterfreunde“ im Jubiläumsjahr des Landestheaters: Erster Vorsitzender Jürgen Wannhoff (rechts) mit (von links) Andreas Trotz (2. Vorsitzender), Stefan Lüersen (Schatzmeister), Rolf Wieneke (2. Vorsitzender /†), Dr. Beate Schütz (Geschäftsführerin), Michael Dahl (Öffentlichkeitsarbeit) und Stephan Prinz zur Lippe, der sich auf vielfältige Weise für das Theater und den Verein engagiert.

110


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Ende des Artikels wert. Dennoch wirken diese wie eine Initialzündung, weil sich das Lokal-

blatt in der Folgezeit mit ihrem gesamten publizistischen Apparat hinter diesen Vorschlag

stellt.

Es folgten mehrere Artikel und öffentliche Aufrufe – nebst vorgedruckter Beitrittserklärung für den noch gar nicht existierenden Verein –, bis die Tageszeitung ihre sich selbst

gestellte Aufgabe des „Geburtshelfers“ als erfüllt ansieht. Sie präsentiert am Vortag des

Totensonntags 1970 einen „Gründungsausschuss“, der sich um alles Weitere kümmern soll.

Für das 1767 gegründete Traditionsblatt, bestens vernetzt in den Honoratiorenkreisen der Beamten- und Residenzstadt, war es offensichtlich ein Leichtes, innerhalb kürzester Zeit

einen interessierten Kreis aus dem Bildungsbürgertum zusammenzutrommeln. Bekannte

Unternehmer sind darunter, außerdem Hochschuldozenten und Gymnasiallehrer, ein Arzt

und ein Rechtsanwalt sowie – dem Theater aus Tradition besonders verpflichtet – der Chef

des Adelshauses Lippe, Dr. Armin Prinz zur Lippe.

Erschwingliche Mitgliedsbeiträge

Bereits am 14. Dezember ist es soweit: Der „Verein zur Förderung des Landestheaters

Detmold e. V.“ wird im Vortragssaal des Landesmuseums aus der Taufe gehoben. Den Vorsitz übernimmt ein Vorstandsmitglied des seinerzeit für Detmold noch bedeutenden

Getränkeherstellers Sinalco, Bernhard Willée, seine Vertretung Hanns Winter; Schatz-

meister wird der ehemalige Bankdirektor Kurt Jonas. Daneben gibt’s mehrere Beisitzer,

unter ihnen Prinz Armin und den Chef der Nordwestdeutschen Musikakademie (jetzt:

Hochschule für Musik), Professor Martin Stephani. Die Ziele des Vereins, die materielle

und ideelle Unterstützung des Theaters, sind bis heute unverändert geblieben, die Mittel dazu

haben sich geändert. Dies gilt nicht für die Beitragsgestaltung, die nach wie vor auf eine

größtmögliche Breitenwirkung zielt. Ist man bei der Gründung schon mit einem Jahres-

mindestbeitrag von zwanzig Mark dabei, sind es heute ebenso bescheidene dreißig Euro.

Doch trotz euphorischen Beginns steht die Initiative ein Jahr später schon wieder auf der

Kippe. Mit einer Mitgliederzahl von nicht einmal dreihundert Personen, so argumentieren

manche im Vorstand, sei „das Gewicht des Fördervereins außerordentlich gering“. Die

Mehrheit allerdings spricht sich für ein Weitermachen und den Beitritt zur neustrukturierten Trägerorganisation „Theaterverein Detmold e. V.“ aus, der dann 1972 vollzogen wird. Doch das wird teuer.

Denn als Konsequenz daraus – und für ein wenig Mitspracherecht im Beirat – muss der Förderverein sich an den Kosten des Theaterbetriebs beteiligen. Beträgt der Jahresbeitrag

anfangs immerhin schon 6000 Mark, so schwankt dieser in der Folgezeit deutlich und

kann durchaus fünfstellig ausfallen. Hinzu tritt für 1972 eine Mitgift in Höhe von 20 000 Mark als „einmalige Spende“.

Diesem Durchleiten von Mitgliedsbeiträgen und Spenden in den Gesamtetat des Theaters

schieben die Verantwortlichen allerdings schnell einen Riegel vor. Um das Profil des

112

IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


jungen Vereins zu stärken, steigen sie in die Projektförderung ein. Durch die Mitfinan-

zierung mehrerer Abstecher wird der Verein Mitte der 1970er Jahre zu einem wesentlichen Geburtshelfer der Städtepartnerschaft zwischen Detmold und dem belgischen

Hasselt. Weiteres Geld fließt in die Spielplanveröffentlichungen der auswärtigen Presse,

die Veranstaltung „bunter Abende“ in verschiedenen lippischen Städten als Werbung für

die Bühne, aber etwa auch in die Verpflichtung von Gastmusikern für eine „Meister-

singer“-Inszenierung.

Die bedeutendste Initiative der Anfangsjahre ist die Begründung des „Theaterballs“, der ab

1978 zunächst jährlich in der Stadthalle stattfindet und bis in die 1990er Jahre hinein beträchtliche Gewinne erwirtschaftet. Häufig können fünfstellige Beträge dem Sozialfonds des Landestheaters überwiesen werden – insgesamt wohl um die 100 000 Euro. Obwohl

die Veranstaltung schon vor der Jahrtausendwende nichts mehr abwirft und im Vorstand

bereits das Sterbeglöcklein geläutet wird, hat die Idee bis heute überlebt – wenn auch die

Abstände zwischen den einzelnen Ausgaben größer geworden sind. Um finanzielle Überschüsse geht es dabei schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Es müssen Sponsoren-

gelder eingeworben werden. Der gesellschaftliche Charakter des „Theaterballs“, die Möglichkeit der Begegnung von Publikum und Theatermenschen in festlicher Atmosphäre, steht heutzutage eindeutig im Vordergrund.

Der Verein hat in den fast fünf Jahrzehnten seines Bestehens lediglich sechs Vorsitzende

gehabt. Auf Willée-Nachfolger Dr. Rolf Böger (seit 1981) folgen Hanns Winter (1989), der sei-

nerzeit noch amtierende Regierungspräsident Walter Stich (1995), Arbeitsamtschef Dr. Harald Hiltl (2001) und schließlich der Vizepräsident des Sparkassenverbands Westfalen-

Lippe, Jürgen Wannhoff (2009). Ihnen und ihren Mitstreitern im Vorstand, dem stets ein

Vertreter des Hauses Lippe angehört, gelingt es durchgehend, sich als Sachwalter der Interessen des Theaters in der Öffentlichkeit zu positionieren und die Aktivitäten sowie

Strukturen des Vereins den Erfordernissen anzupassen.

Umfassende Reformen

So werden seit Beginn der 1990er Jahre konsequenter als zuvor einzelne Produktionen, so

genannte „Leuchtturmprojekte“, gefördert – ein Grundsatz, der mit der Ermöglichung der

Aufführung des Wagner’schen „Rings“ im Jahr 2009 seinen Höhepunkt findet und nach

wie vor gilt. Für die Opernreihe bringen die „Theaterfreunde“ rund 100 000 Euro auf. Mit

unterschiedlichen Mitteln wird zudem über die Jahrzehnte versucht, junge Menschen an

die Bühne heranzuführen, sei es, wie 1990, durch die Mitfinanzierung der Uraufführung

des Rock-Musicals „Mambo Mortale“, sei es, wie in jüngerer Vergangenheit, durch einen festen jährlichen Zuschuss an das „Junge Theater“ in Höhe von rund 10 000 Euro. Dieses

Geld ermöglicht etwa die regelmäßige Veranstaltung von Schultheaterwochen.

Seit einer umfassenden Vereinsreform, mit der 2002 unter anderem auf rückläufige Mit-

gliederzahlen reagiert wird, gibt es schlankere Strukturen, gestaffelte Mitgliedsbeiträge,

die Position eines ehrenamtlichen Geschäftsführers, eine deutlich verstärkte Öffentlich-

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keitsarbeit und – allerdings nur vorübergehend – das Amt eines Regionalbeauftragten.

Auch der Kurzbegriff „Theaterfreunde“, der inzwischen im allgemeinen Sprachgebrauch ist, wird in dieser Zeit kreiert. Dieses Konzept, ab und an modifiziert und ergänzt – etwa

durch die Mitarbeit an der alljährlichen Verleihung des „Theaterpreises“ oder die Einführung des Intendanten-Neujahrsempfangs –, bewährt sich bis heute. Das beweist allein

schon die Tatsache, dass inzwischen mehr als sechshundert theaterbegeisterte Frauen und Männer den Verein durch ihre Mitgliedschaft unterstützen.

Abseits der finanziellen Zuwendungen bemühen sich die Vorstandsmitglieder seit jeher,

einen engen Kontakt zur Theaterleitung zu halten, um gemeinsam interessierende Fragen

kontinuierlich zu erörtern. Ebenso wichtig ist das stete Werben in der Öffentlichkeit für

die Bedeutung der Bühne, nicht nur in der Bevölkerung, sondern ebenso bei den politi-

schen Entscheidern. Das hat sich zuletzt 2018 gezeigt, als sich der Verein sowohl als Mitglied der Trägergesellschaft als auch durch öffentliche Erklärungen erfolgreich in die Debatte um die auskömmliche Finanzierung der Bühne eingeschaltet hat.

Die „Theaterfreunde“ freuen sich, dass das traditionsreiche Landestheater zum Zeitpunkt

seines hundertjährigen Bestehens auf finanziell sicheren Füßen steht. Sie werden mit un-

verändertem Engagement ihren Beitrag dazu leisten, dass dieses so bleibt – und zählen dabei auf die Unterstützung der kulturinteressierten Bürgerschaft.

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Unser Haus

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


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Das Haus 1825 wurde in Detmold das „HochfürstlichLippische Hoftheater” eröffnet, das 1912 einem Brand zum Opfer fiel. Im Ersten Weltkrieg wurde ein neues Theater erbaut, das 1919 eingeweiht wurde und den Namen „Lippisches Landestheater” erhielt.

q

Fürstliches Hoftheater, Lithografie von Ludwig Menke, 1866

8

Fürstliches Hoftheater, Postkarte, 1903

7

Fürstliches Hottheater, im Hintergrund die 1907 eingeweihte Synagoge, Postkarte, 1910

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


8

Ansicht der Rückseite des Theaters vor dem Brand 1912

q

Brand des Theaters am 5. Februar 1912, nach eine Skizze von Oskar Noltsch

Aufnahme nach dem Brand, ca. 1913

t

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u

Grundsteinlegung für den Neubau am 30. Mai 1914

u

Lippisches Landestheater, 1920

u

SA-Strum aus Barntrup und Bega, 1932

u

Enthu ̈llung der Grabbe- und WagnerBu ̈sten am Landestheater, 1936

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


1

Vor der Vorstellung, 1961

Jugendliche gehen ins Theater, ohne Jahreszahl (1960?)

Luftaufnahme, 1963

t

t

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Wir sind das Theater

q

in der Maske, ca. 1955

e

Kulissen-Transport, ohne Jahreszahl

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IMMER EIN FEST FÃœR GEIST UND SINNE!


u

Zuschauer an der Vorverkaufskasse, 1970

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Am Inspizientenpult, ohne Jahresangabe

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e

An der Abendgarderobe, 1970

e

Publikum im Pausen-Foyer, 1960

t

Herrenschneiderei, 1964

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Im Stofflager. 1964

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Anprobe Darstellerin Miranda, 1964

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Kostümentwurf Donna Elvira für „Don Juan“, 1964

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8q

Anfertigung von Dekoration für „Don Juan“, ca. 1964

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Malsaal, ca. 1964

Beim Zuschneiden in der Herrenschneiderei

t

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q

Im Malerssaal, 1982

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In der Tischlerei, 1982

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2017

Der fliegende Holländer Oper von Richard Wagner

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Jenseits der Modewellen Ein großer Teil der Regietheaterklischees ist an Detmold vorbeigegangen – ein Glückwunsch Stefan Keim

Da steht eine nackte Frau auf der Bühne, nur mit einer surrealen Maske bekleidet. Viel zu

tun hatte sie nicht, stand einfach nur da. Kay Metzger startete 2005 seine Intendanz am

Landestheater Detmold mit einem großartigen „Don Giovanni“. Eine witzige, präzise, abgründige Inszenierung, ein Meisterstück der Personenführung. Und da stand diese Frau, wie aus Stanley Kubricks Film „Eyes Wide Shut“ nach Detmold gebeamt.

Die eiskalte Erotik dieses Films wurde damals oft auf der Bühne zitiert. Erstmals schien

eine Theatermode auch Detmold zu erreichen. Allerdings war das nicht störend, im Gegenteil: Die nackte Frau war ein positiv störender Fremdkörper, die Ahnung einer anderen Sphäre.

So lange ich das Landestheater Detmold besuche, ist es ein Ort des ordentlichen Bühnenhandwerks. Das erregt nicht die Feuilletons, und wahrhaftig war es fast immer die Oper,

die überregionale Aufmerksamkeit erzeugte, durch viele Uraufführungen, die meist publi-

kumsfreundlich und verständlich inszeniert waren. Was an einem Landestheater produziert wird, muss auch in den Abstecherorten überzeugen, die meist kein Metropolentheater

gewöhnt sind. Das diszipliniert, vielleicht engt es die Fantasie auch ein wenig ein. Aber schlimm oder – im bösen Wortsinn – provinziell ist es nicht. Im Gegenteil.

Denn was passiert auf vielen anderen Bühnen der Republik, die vielleicht als wagemutiger

und fortschrittlicher gelten? Natürlich gelingt es manchmal, auch in kleineren Theatern besondere ästhetische Handschriften zu entwickeln, die dann überregional ausstrahlen.

Zum Beispiel in Oberhausen mit dem hoch stilisierten, bunt kostümierten, übergroß gestikulierenden Theater Herbert Fritschs. Oder in Dortmund mit dem bewusst überkomplexen

Bildertheater von Kay Voges. Der Preis für solche Entwicklungen ist, dass es immer eine

Menge Nachahmer gibt. Regisseurinnen und Regisseure wollen auch so toll sein wie

Fritsch oder Frank Castorf oder René Pollesch. Sie erproben sich und ihre Ensembles,

manchmal entwickeln sie sich in eigenständige Richtungen weiter. Aber bis dahin muss ihr Publikum die halbgaren Kopien ertragen.

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Mode Nummer 1: das Brüllen. Da psychologische Feinheiten vielerorts als so etwas von vorgestern gelten,

müssen die Schauspielerinnen und Schauspieler irgendetwas anderes machen. Die ein-

fachste Lösung ist es, einfach immer Vollgas zu geben. Sich auf der Bühne zu wälzen, einander körperlich anzugehen, die Stimme in die Höhe zu schrauben und sich in eine

Dauerhysterie zu hyperventilieren. So etwas hat seinen Reiz in Inszenierungen Frank

Castorfs, bei dem diese Art der Darstellung zum inhaltlichen Konzept gehört. Wer die ge-

dankliche Tiefe Castorfs nicht erreicht, der brüllt wenigstens. Das beeindruckt das Pub-

likum, irgendwas muss doch dahinterstecken, wenn da auf der Bühne so ein Krawall gemacht wird. Früher sagte man, Texte, die zu peinlich sind, um gesprochen zu werden,

müsse man singen. Heute brüllt man sie. Auch Texte, die eigentlich gut sind, deren Sinn Darsteller und Regieteam aber nicht begreifen.

Mode Nummer 2: das Kommentieren. Weil das Misstrauen gegen lineare Geschichten groß geworden ist,

weil die digitalisierte Welt so viel komplexer geworden ist, muss auf der Bühne alles unterspielt, ironisiert und diskutiert werden. Die Kommentarebene schiebt sich über den

Text, manchmal überlagert sie ihn ganz. Das lässt nur außer Acht, dass ein großer Teil

des Publikums weder Germanistik noch Theaterwissenschaft studiert hat und auch der

Blick in den Schauspiel- oder Opernführer zur Kulturgeschichte des langsam verscheidenden Bildungsbürgertums gehört. Viele verstehen gar nicht die vielen Schichten und

diffizilen Gedankengebäude, selbst wenn Auszüge aus entsprechenden philosophischen

Abhandlungen im Programmheft stehen. Die meisten gehen doch einfach ins Theater

und gucken mal, was da passiert. Und sind verloren in der unendlichen Weite der Assoziationsspielräume.

Mode Nummer 3: das Rumsauen. Da Brüllen und Kommentieren keine Reaktionen mehr hervorrufen –

außer einem genervten „Ach, das schon wieder“ –, gibt es als verschärftes Regiemittel

das Rumsauen auf der Bühne. Sich Blut über den Kopf zu schütten, um Gewalttaten anzudeuten, ist ein klassisches Theatermittel und auch in Detmold oft zu sehen. Besonders

gern lassen Regisseurinnen und Regisseure stattdessen Melonen zerplatzen. Sie werden

auf den Boden gepfeffert, das rote Fruchtfleisch quillt heraus, was ein bisschen wie im Horrorfilm aussieht und die Spielfläche klebrig und rutschig macht. Als Symbol für das Töten

jedoch lösen Melonen-Massaker nur noch Mitleid für Fantasielosigkeit aus. Ebenso wie

das Herumschmieren mit Nahrungsmitteln, das an Happenings aus den 1970er Jahren erinnert.

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


Mode Nummer 4: die Videos. Wer kein Video einsetzt, inszeniert bloß im Studio. Denn auf der großen Bühne geht nichts ohne Video. Besonders gern arbeiten die Regisseurinnen und Regisseure mit

Live-Videos, in denen die Aktionen der Schauspieler überlebensgroß gezeigt und dupliziert

werden. Da muss man sich nicht mehr um Sichtachsen kümmern, das Theater wird zum hal-

ben Kino. Wie viele Theatermoden kann auch das Video seinen Reiz haben. Es dient aber

oft auch dazu, die eigene Einfallslosigkeit zu kaschieren. Weil Ablenkungen fürs Auge geschaffen werden und das Publikum immer mit etwas beschäftigt ist. Das Argument, damit

öffne man das Stück für Assoziationen, bedeutet meistens nichts anderes als Ratlosigkeit.

Glückliches Detmold – all diese Dinge sind am Landestheater weitgehend vorbeigegangen.

Weil hier niemand erwartet, dass die angesagten Theaterstile schlecht kopiert werden

müssen.

Es gab mal eine Saison am Kölner Schauspiel, da schien die Bühne fast immer unter Wasser zu stehen. Auch das ist eine viel und oft gesehene Theatermode. Im Wasser müssen sich Menschen anders bewegen, doch in den seltensten Fällen führt das Geplansche und

Gespritze wirklich zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit dem Thema. Bei John von Düffels „Odyssee“ hat es in Detmold zumindest nicht weiter gestört.

Die Theatermoden nähern sich. Sie lauern darauf, auch Detmold einzunehmen. Wer ein

zeitgenössisches und zeitgemäßes Theater machen will, kann ihnen vielleicht auf Dauer

nicht entkommen. Die Zeiten der ehrbaren und etwas trockenen Textarbeit, wie sie unter

dem Intendanten Ulf Reiher vorherrschte, sind wohl auch vorbei. Aber was das Landes-

theater, so lange ich es kenne, auszeichnet, ist die Tatsache, dass man hier nicht versucht,

eine Mini-Volksbühne am Teutoburger Wald zu sein. Weil so etwas in mauen Kompromissen enden muss. Ein Theater wie Detmold braucht die Moden nicht. Wenn etwas zu einer

Inszenierungsidee passt, kann man es ja verwenden. Und mal die Bühne unter Wasser setzen. Oder auch mal mit Videoeinsatz arbeiten. Doch es muss im Dienst der Sache gesche-

hen. Die nackte Frau mit der Maske im „Don Giovanni“ bleibt im Gedächtnis. Weil sie einfach nur da stand. Wenn sie Spaghetti gespuckt oder ins Mikrofon gebrüllt hätte, wäre sie

längst vergessen. Doch als subtile Irritation passte sie in eine sonst klare und konsequente

Inszenierung.

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Postkarte „Gruss aus Detmold”, ca. 1910

u

Neubau des Theaters, 1915

u

Emil Becker: An unsere vorjährigen Abonnenten, 1931

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Chronik 1919

Einweihung des Landestheater-Neubaus am 28. September um 19 Uhr mit einer Aufführung der Oper „Undine“ von Albert Lortzing.

Das alte Hoftheater war am 5. Februar 1912 abgebrannt.

1920

Einrichtung der „Landestheater-Lichtspiele“ zwecks Aufbesserung der Finanzsituation.

1921

Emil Becker folgt auf den langjährigen Intendanten Albert Berthold (seit 1895). Zusammenführung von Landestheater und Sommertheater.

1925

Strukturreform: Die öffentliche Hand (Stadt Detmold/Land Lippe) rettet den Theaterverein

vor dem Konkurs und übernimmt die Mehrheit in den Gremien. Der Detmolder Bürger-

meister Dr. Emil Peters wird Vorsitzender (bis 1933). Das Musiktheater wird aus Kostengründen aufgegeben.

1933

Gleichschaltung des Landestheaters durch die Nationalsozialisten.

Albert

Emil

1895 –1921

1921–1934

Berthold

Becker

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7

Plakat zur Richard Wagner Festwoche in Detmold, 1935

7

Vorbeimarsch anläßlich des Kreisturnfestes, 1935

7

Enthu ̈llung der Grabbe- und Wagner-Bu ̈sten am Landestheater, 1936

7

Beseitigung der Granattreffer vom April 1945, 1952

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1934

Erste Intendanz von Otto Will-Rasing.

Konsequenter Ausbau des Gastspielbetriebs.

1935

Erstmalig „Richard-Wagner-Festwochen“ am Landestheater (bis 1944).

1936

Erstmalig „Grabbe-Tage“ am Landestheater (bis 1944).

1939

Neuorganisation des Theatervereins. Sämtliche Privatleute werden hinausgedrängt.

1944

Das Landestheater wird, wie alle noch aktiven Bühnen im Deutschen Reich, am 1. September geschlossen.

1945

Dr. Hans Kaufmann wird erster Nachkriegsintendant des „Neuen Lippischen Theaters“, das ab Dezember wieder spielt.

Die britischen Besatzungsstreitkräfte nutzen das Theatergebäude als „Casino“ (bis 1952).

1946

Karl Gaebler, in den 1920er Jahren Schauspielchef in Detmold, übernimmt Leitung der Bühne.

Otto

Will-Rasing

Hans

1949 – 1969

1945 – 1946

1934 – 1944,

Kaufmann

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7

Eintrittskarte, 1958

7

Renovierung der Fassade, 1960

7

Landestheater unterwegs, 1960

7

Im Foyer , 1970

140

IMMER EIN FEST FĂœR GEIST UND SINNE!


1949

Otto Will-Rasing kehrt auf den Leitungsposten zurück. Das nach dem Krieg selbständig

geführte Städtische Orchester wird ins Landestheater eingegliedert.

Gründung des Landesverbands Lippe, der als Eigentümer des Theaterbaus und Mitglied

des Theatervereins fortan die Bühne finanziell mitträgt.

Das Land Nordrhein-Westfalen sichert regelmäßige Zuschüsse zu.

1950

Das „Neue Theater“ in Herford, geleitet von Dr. Franz Wirtz, wird übernommen.

1951

Das Landestheater übernimmt das „Neue Westfalentheater“ (Gütersloh) mit Direktor Herbert vom Hau.

1963

Höhepunkt des Expansionskurses von Will-Rasing im Abstecherbereich. Ganzjährige Spielzeit für alle Beschäftigten (bis 1968).

1969

Prof. Otto Hans Böhm folgt auf Otto Will-Rasing.

Am 24. September findet die Einweihung des Erweiterungsbaus in Anwesenheit des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn statt.

1970

In Detmold gründet sich der Verein zur Förderung des Landestheaters („Theaterfreunde“).

Karl

Otto Hans

1946 – 1949

1969 – 1985

Gaebler

Böhm

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Erstes Gastspiel des Landestheaters in Hasselt, Belgien, 1973

Napoleon (Programmheft), Christian Dietrich Grabbe, Regie: Ulf Reiher, 1989

142

IMMER EIN FEST FĂœR GEIST UND SINNE!


1971

Reform des Theatervereins nach einer schweren Finanzkrise.

Die lippischen Gebietskörperschaften übernehmen mehr Verantwortung.

1973

Ein Gastspiel des Landestheaters im belgischen Hasselt führt drei Jahre später zu der bis heute bestehenden Städtepartnerschaft mit Detmold.

1978

Der erste „Theaterball“, veranstaltet gemeinsam mit den „Theaterfreunden“, findet in der Stadthalle statt.

1981

Nach massiven Etatüberschreitungen entsteht eine erhebliche Vertrauenskrise zwischen Theaterverein und Intendanz, die noch Jahre nachwirkt.

1985

Gerd Nienstedt übernimmt das Ruder.

1987

Ulf Reiher, Regisseur und ehemaliger Theaterleiter aus der DDR, wird am 15. Mai zum

neuen Intendanten gewählt. Dr. Franz Wirtz kehrt aus dem Ruhestand zurück und übernimmt bis zum Amtsantritt Reihers am 1. Januar 1988 die Leitung der Bühne.

Gerd

Franz

1985 – 1987

1987

Nienstedt

Wirtz

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Dinner für Spinner (Programmheft) Regie: Joachim Ruczynski, 1999

Sommertheater Detmold nach der Sanierung 2003

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


1990

Einweihung der neuen Studiobühne im Geburtshaus des Dichters Christian Dietrich

Grabbe.

1991

Erste Freiluftaufführung im Innenhof des Theaters.

1994

Gründung eines gemeinsamen Büros der vier nordrhein-westfälischen Landestheater mit Sitz in Neuss.

2002

Heinz-Rudolf Müller, Intendant des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel, wird

zum Nachfolger Reihers gewählt. Noch vor schriftlichem Vertragsabschluss wird ihm in Zusammenhang mit Personalfragen gekündigt. Reiher verlängert um eine Spielzeit bis

2004.

2003

Das sanierte „Sommertheater“ wird erstmalig bespielt.

2004

Landestheater und Hochschule für Musik gründen ein Opernstudio.

Kay Metzger, vom Nordharzer Städtebundtheater kommend, tritt seine Intendanz an.

Ulf

Kay

1988 – 2004

2004 – 2018

Reiher

Metzger

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145


Programmheft Götterdämmerung Richard Wagner, 2010

100 Jahre Landestheater

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IMMER EIN FEST FÜR GEIST UND SINNE!


2006

Aus dem Theaterverein wird eine gemeinnützige GmbH. Als Hauptgesellschafter bündelt

der Kreis die Interessen der kreisangehörigen Kommunen (außer denen der Stadt Detmold, die ebenfalls Gesellschafterin ist).

2008

Inbetriebnahme eines weiteren Anbaus an der Rückseite des Theaters. Ausbau des Orchestergrabens.

2009

Das Landestheater führt zum Varusjahr den kompletten „Ring“ Richard Wagners auf.

Mit dem Kinder- und Jugendtheater „Kaschlupp!“ wird eine weitere Spielstätte eröffnet.

2011

Erstmalige Verleihung des „Detmolder Theaterpreises“.

2016

In Kooperation mit dem Haus Lippe findet das erste „Schlossfestival“ statt.

2018

Georg Heckel folgt Kay Metzger (jetzt Theater Ulm) in der Position des Intendanten.

2019

Das Landestheater feiert sein einhundertjähriges Bestehen.

Georg

Heckel

seit 2018

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Autoren

Michael Dahl

studierte Publizistik, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Politikwissenschaft in

Münster, von 1978 bis 2017 war er als Redakteur bei der „Lippischen Landes-Zeitung“ tätig.

Georg Heckel

ist seit der Spielzeit 2018/19 Intendant des Landestheaters Detmold. Er war in verschiedenen Leitungspositionen am Theater Freiburg, dem Theater Augsburg und am Staats-

theater Darmstadt tätig. Wichtige künstlerische Projekte waren u.a. der Zyklus der Werke

von Carl Orff und „Der Ring des Nibelungen“ in Darmstadt sowie Uraufführungen in Koproduktionen mit dem Gran Teatre Liceu Barcelona, der Münchner Biennale und der Royal Opera Covent Garden. Stefan Keim

ist freier Kulturjournalist, Kabarettist und Theatermacher. Er berichtet regelmäßig über Theater, Musik, Film und andere Themen für „WDR 3“, „WDR 4“, „WDR 5“, „Deutschlandfunk Kultur“, „Welt am Sonntag“ und „Westfalenspiegel“. Keim schreibt, spielt und

inszeniert Theaterstücke und Kabarettprogramme, verfasst Satiren und ist Dozent an der Journalistenschule in Hamm. Bettina Milz

studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitete anschließend als

Dramaturgin, Kuratorin, Dozentin und Autorin. Nach Dramaturgien und künstlerischen Projektleitungen u.a. am Theater Erlangen und für die KulturRegion Stuttgart /

TanzRegion 97 war sie von 1999 bis 2003 als Produktionsleiterin, Dramaturgin und

Geschäftsführerin der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart tätig. Sie war künstlerische Projektleitung der Tanzplattform Deutschland 2006 am Theaterhaus Stuttgart und 2008 des Festivals Freier Theater NRW favoriten. 2008 bis 2013 kuratierte sie das Internatio-

nale Sommerlabor / TANZLABOR_21 am Mousonturm Frankfurt. In den Bereichen

Theater- und Tanzwissenschaften lehrt sie u. a. an den Universitäten Erlangen, Frank-

furt am Main, Mainz, Leipzig und Karlsruhe. Seit 2009 leitet Bettina Milz das Referat für Theater und Tanz im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NordrheinWestfalen.

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Bildnachweise

Lippische Landesbibliothek – Regionaldokumentation Bildarchiv des Stadtarchivs Detmold Landestheater Detmold

Paul Beckmann

Bundesregierung / Steffen Kugler

Ferdinand Düstersiek (Landesbibliothek) Bettina Engel-Albustin

Vera Gerstendorf-Welle Erwin Haak

Michael Hörnschemeyer Birgit Hupfeld Anette Kriete Jamie Lay

Marc Lontzek

Sammlung Mellies (Landesbibliothek)

Patrick Pantze Jochen Quast A.T. Schaefer

Wolf Scherzer

Kerstin Schomburg Kurt Schwabe

Rainer Worms

100 JAHRE LANDESTHEATER DETMOLD

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Impressum

Die Herausgabe dieser Jubiläumsschrift wurde finanziell unterstützt durch:

Dr. Carsten Flick

Stephan Prinz zur Lippe

Verein zur Förderung des Landestheaters Detmold e. V.

Immer ein Fest für Geist und Sinne!

100 Jahre Landestheater Detmold

Herausgegeben vom Landestheater Detmold und Theater der Zeit © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich

im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung

und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Trotz sorgfältiger Recherche konnten nicht alle Fotografen bzw. deren Rechtsnachfolger ausfindig gemacht werden. Sollten unberücksichtigte Rechtsansprüche bestehen, so sind diese beim Verlag

geltend zu machen.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Bildredaktion: Elisabeth Wirtz Lektorat: Erik Zielke

Layout, Satz: mahlke.one

Frontcover: Michael Hahn unter Verwendung eines Fotos von A. T. Schaefer Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-237-1 (Paperback)

ISBN 978-3-95749-256-2 (ePDF)



Als am 28. September 1919 das Lippische Landestheater in Detmold eröffnet wird, sym-

bolisiert das Gebäude wie kein zweites den Umbruch, der wenige Monate zuvor im ehemaligen Fürstentum Lippe wie im gesamten Kaiserreich stattgefunden hatte. Noch als

Nachfolgebau für das vor dem Ersten Weltkrieg abgebrannte Hoftheater von 1825 geplant,

wird die Bühne nach der Novemberrevolution vom Bildungsbürgertum und staatlichen sowie kommunalen Einrichtungen weiterfinanziert.

Das Buch zum hundertsten Geburtstag des Landestheaters Detmold gibt einen Einblick

in die Geschichte des Drei-Sparten-Hauses und zeigt, dass ambitioniertes Theater abseits der Großstädte stets möglich war und ist. Es dokumentiert das Geschehen nicht nur im

Haus, sondern weit darüber hinaus: Das Landestheater Detmold gilt als größte Reisebühne

Europas, nahezu die Hälfte der rund 600 Vorstellungen findet im weiteren Umkreis statt, vorwiegend in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Buxtehude, Worms oder Winterthur.


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