Other Spaces – The Independent Performing Arts Venues in Berlin

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Andere Räume

Die Freien Spielstätten in Berlin


Theater braucht Räume. Konkrete Räume, in denen sich Menschen begegnen können und vorübergehend eine Gemeinschaft bilden. Räume, um neue, experimentelle Ästhetiken zu entwickeln und für soziale Experimente. Aber auch einen öffentlichen Raum für die Auseinandersetzung des Publikums mit der darstellenden Kunst, mit sich selbst und untereinander. In diesem Buch haben die Räume der Freien Szene in der ­Theaterstadt Berlin selbst einen Auftritt. 33 Berliner Spielstätten werden in dieser reich bebilderten Publikation porträtiert. Sie alle waren seit 2016 am Performing Arts Festival Berlin beteiligt. Ein erster Versuch, die freien Räume für die darstellenden Künste in ihrer Breite und Unterschiedlichkeit abzubilden. Dabei will das Buch auch der Herkunft dieser Orte nachspüren, ihrer Geschichtlichkeit und dem Wandel ihrer Funktion im jeweils speziellen sozialen und topografischen Umfeld der Stadtlandschaft.

Werkstatt der Initiative Haus der Statistik beim Performing Arts Festival 2019. © Dajana Lothert


Andere Räume / Other Spaces

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Andere Räume – Die Freien Spielstätten in Berlin Other Spaces – The Independent Performing Arts Venues in Berlin Herausgegeben von / Edited by Anja Quickert, Luisa Kaiser und / and Janina Benduski für den LAFT Berlin


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7 Editorial – Oder ein Dank an die Inseln der Unordnung / Editorial – Or, Thank You to the Islands of Disorder 17 Anja Quickert: Performing (in) Berlin. Die Freie Szene als urbaner Motor und Stadtarchiv / Performing (in) Berlin. The Independent Performing Arts Community as Urban Motor and City Archive 31 Mieke Matzke: Andere Räume des Produzierens. Über die Orte des Freien Theaters / Other Spaces for Production. On the Spaces of Independent Theater 43 Eva Behrendt: Zwischen Projekt und Institution. Die Finanzierung der Freien Spielstätten / Between Project and Institution. The Financing of the Independent Performing Arts Venues 59 Patrick Wildermann: Entdeckungen und Visitenkarten. Die Überforderung des Publikums ist beim „­Performing Arts Festival“ Programm / Discoveries and Business Cards. Overwhelming the Audience is Completely Intentional During the “Berlin Performing Arts Festival”

Spielstätten / Venues 70 Acker Stadt Palast 76 Alte Münze 86 Modellprojekt Haus der Statistik und Bühnen 96 Sophiensæle 106 TD Berlin 114 Theaterhaus Berlin 122 Holzmarkt 25 130 radialsystem 140 Vierte Welt 144 SOX 150 Ballhaus Naunynstraße 156 Expedition Metropolis (ExMe) 162 ausland 166 Ballhaus Ost 172 DOCK 11 180 Schaubude Berlin 186 Theater o.N. 192 Theater unterm Dach 200 Brotfabrik 206 Theater im Delphi 216 HAU Hebbel am Ufer 5


228 English Theatre Berlin | International Performing Arts Center & Theater Thikwa 238 Neuköllner Oper 246 Heimathafen Neukölln 252 PAUL Studios 256 TATWERK | PERFORMATIVE FORSCHUNG 262 Theater Strahl 266 Figurentheater Grashüpfer 272 Berliner Ringtheater 280 Centre Français de Berlin (CFB) 286 Theater JARO 290 LAKE Studios Berlin 297 Über den LAFT Berlin und seine Projekte / About LAFT Berlin and Its Projects 299 Die Festivaljahre 2016 bis 2020 begleitet und gestaltet von … / The Editions of the Festival From 2016 to 2020 Were Supported and Created by … 302 Biografien / Biographies 303 Impressum / Imprint

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Editorial Oder ein Dank an die Inseln der Unordnung Dass es diese Publikation gibt, hat ganz unmittelbar mit der letzten Ausgabe des „Performing Arts Festival Berlin“ im Mai 2020 zu tun: Pandemie-bedingt musste der alljährliche Theater-Rundgang zu den über sechzig freien, teils temporären Spielstätten in der Berliner Stadtlandschaft in den „Digital Showroom“ verlegt werden. Das „PAF@home“ eröffnete einen virtuellen Raum, in dem Künstler:innen digitale Versionen ihrer Arbeiten präsentieren konnten und live über Themen diskutiert wurde, mit denen sich die Freie Szene in Berlin aktuell auseinandersetzt. Auch einzelne Spielstätten stellten sich und ihre Arbeit im Digitalen vor. Dass ­Zuschauer:innen weltweit am nunmehr ortsunabhängigen Festival-Format teilnehmen konnten, war einerseits ein großer Gewinn. Andererseits stellte sich für die digital @home isolierten Festival-Besucher:innen die Frage nach der eigentlichen Qualität von Theater mit neuer Dringlichkeit. Die wichtigste Antwort – und Voraussetzung für alle anderen – ist einfach: Theater braucht Räume. Konkrete Räume, in denen sich Menschen begegnen können und vorübergehend eine Gemeinschaft bilden. Einen geschützten Raum für die Entwicklung von neuen, experimentellen Ästhetiken und für soziale Experimente. Aber auch einen ­öffentlichen Raum für die Auseinandersetzung des Publikums mit der darstellenden Kunst, mit sich selbst und ­untereinander. – Deshalb hat sich das „Performing Arts Festival Berlin“ dafür entschieden, den derzeit unzugänglichen Räumen der Freien Szene einen zusätzlichen Auftritt zu ermöglichen und sie in den öffentlichen Fokus zu rücken: mit der vorliegenden Publikation „Andere Räume – Die Freien Spielstätten in Berlin“. Inhalt dieser Publikation sind 33 Berliner Spielstätten; ein erster Versuch, die freien Räume für die

­ arstellenden Künste in Berlin in ihrer Breite und Unterd schiedlichkeit abzubilden. Dabei will die Publikation auch der Herkunft dieser Orte nachspüren, ihrer Geschichtlichkeit und dem Wandel ihrer Funktion im jeweils speziellen sozialen und topografischen Umfeld der Stadtlandschaft. Wie keine andere Stadt hat Berlin seit dem Umbruch 1989 sein politisches, soziales und urbanes Gefüge grundlegend verändert: Das Theater – vor allem das experimentelle und freie – hat diese Entwicklung unermüdlich begleitet, kommentiert, kritisiert und unter großem, letztlich immer persönlichem Engagement das Recht auf Mitgestaltung in dieser Stadt und den Raum für freie Kunst verteidigt. Gleichzeitig will diese Publikation einen Rahmen schaffen: Sie will auch darüber hinaus etwas über die Freie Szene erzählen, über ihre Arbeitsbedingungen und -weisen, ihre Ästhetiken, ihren Bezug zur Stadt Berlin und den Kampf gegen die ökonomischen Verdrängungsfaktoren. Der Beitrag „Performing (in) Berlin“ von Anja Quickert, Mitglied der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ und Autorin für Theater heute, wirft Schlaglichter auf das historisch besondere Verhältnis zwischen der Stadt und ihrem Theater (als A ­ rchiv und Motor), erinnert an temporäre Raumnahmen und ihren Kampf um Verstetigung. Mieke Matzke spricht einerseits aus Künstlerinnen-Perspektive, wenn sie über die Arbeitsweisen in der Freien Szene berichtet und erklärt, weshalb experimentelle Kunst-Formen freie Räume brauchen. Andererseits ist sie Professorin für Theaterwissenschaft in Hildesheim. Eva Behrendt, Redakteurin bei Theater heute, ist durch ihre jahrelange Jurytätigkeit mit der Finanzierung der Freien Szene beschäftigt: Ihr Beitrag erklärt an ausgewählten Beispielen, wie sich Freie Spielstätten (und diese 7


ihre Kunst) finanzieren. Patrick Wildermann, Theater­ kritiker beim Tagesspiegel, hat seit Anbeginn des PAF das Festival besucht, verfolgt, bestaunt und manchmal durchlitten. Er fasst seine langjährigen ästhetischen Eindrücke zusammen. Schließlich wollen wir uns noch bedanken: bei der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa für die Förderung dieser Publikation, beim Verlag Theater der Zeit für die Bereitschaft, sich auf diese kurzfristige Idee einzulassen, und besonders bei den 33 abgebildeten Spielstätten für ihre Mitwirkung an dieser Publikation unter hohem Zeitdruck und inmitten der pandemischen Bedrohungslage – aber auch schlicht für ihre Existenz in diesem schnelllebigen Berlin, in dem so viele saubere und ordentliche ­Fassaden in den letzten dreißig Jahren entstanden sind. Wir bedanken uns dafür, dass sie – wie es der Dramatiker Heiner Müller einmal für die Kunst gefordert hat – „Inseln der Unordnung“ sind. Anja Quickert, Luisa Kaiser und Janina Benduski

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Editorial Or, Thank You to the Islands of Disorder The very fact that this book exists is directly connected to the most recent edition of the “Berlin Performing Arts Festival” in May of 2020: due to the p ­ andemic, the annual theater tour to the over sixty independent performance venues located all over Berlin, some only temporary, had to be moved to a digital showroom. PAF@home opened up a virtual space where artists were able to present digital versions of their work and where live conversations were held to discuss the topics currently being dealt with in Berlin’s independent ­performing arts community. Individual performance venues were also able to present themselves and their work. The fact that audience members from around the world were now able to take part in this festival format regardless of their physical location was, on the one hand, a tremendous benefit. On the other hand, the ­festival visitors who were isolated at home posed themselves the question of the intrinsic quality of theater with a new urgency. The most important answer that arose, and which is a prerequisite for everything else, was: theater needs space. Actual space in which human beings can meet each other and temporarily form a community. A safe space for the development of new experimental aesthetics and for social experiments. It also needs a public space for the encounter of the audience with the performing arts, with itself and between individual members of the audience. This is why the “Performing Arts Festival Berlin” decided to make it possible for the currently inaccessible spaces of the independent performing arts community to present themselves and return to the ­focus of public interest with this book: “Other Spaces – The ­Independent Performing Arts Venues in Berlin”.

33 performing arts venues in Berlin are included in this book and it serves as a first attempt to present the independent spaces for the performing arts in Berlin in all of their breadth and diversity. In doing so, it also explores the origins of these spaces, their r­ espective histories and the ways in which their function has changed in their respective social and topographical environments within the urban landscape. Since the radical changes that began in 1989, Berlin has f­undamentally altered its political, social and urban structure like no other city in the world: theater, ­especially experimental and independent theater, has tirelessly accompanied this development, commented upon it, criticized it and defended the right to actively participate in shaping this city and the space for i­ndependent art with a great deal of personal dedication. At the same time, this book seeks to create a framework: it also wants to talk about the independent performing arts community, about its working conditions and methods, its aesthetics, its connection to the city of Berlin and the struggle against the forces of economic displacement. The essay “Performing (in) Berlin” by Anja Quickert, a member of the Deutsche Forschungsgemeinschaft (German Research Association, or DFG) research group “Krisengefüge der Künste” (Crisis ­Structures of the Arts) and a writer for Theater heute, highlights the special historical relationship between the city and its theaters (as an archive and motor) and recollects temporary spaces and their struggles for stable ­conditions. Mieke Matze speaks from the perspective of an artist when discussing the working methods in the independent performing arts community and ­explains 9


why experimental art forms need open spaces. She is also a professor of applied theater studies at the ­University of Hildesheim. Eva Behrendt, an editor of Theater heute, is well acquainted with the financing of the independent performing arts community thanks to her many years as a jury member for various funding programs. Her article uses selected examples to explain how independent performance venues finance themselves and, in turn, their art. Patrick Wildermann, a theater critic for the newspaper Der Tagesspiegel, has attended, followed, marveled at and sometimes been forced to endure the festival since the very first edition of PAF. He sums up the aesthetic impressions he has made over the years. We also want to take a moment to extend our special thanks to Berlin’s Senate Department for Culture and Europe for the funds they have provided for this book, to the publisher Theater der Zeit for their openness to this idea which came at short notice and ­especially to the 33 performance venues for their contributions to this book made under a great deal of time pressure the middle of the pandemic, but also simply for their existence in this fast-paced Berlin where so many clean and proper façades have arisen over the past thirty years. We thank you for being, as the dramatist Heiner Müller once demanded art should be, “islands of disorder”. Anja Quickert, Luisa Kaiser and Janina Benduski

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Projektraum „Berlin bleibt! Stadt, Kunst, Zukunft“ im alten Postamt, HAU Hebbel am Ufer, 2019. © Dorothea Tuch

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Impressionen vom „Lunapark“ im ehemaligen Spreepark Berlin, HAU Hebbel am Ufer, 2011. © Dorothea Tuch

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„PALAST DES ZWEIFELS“, Installation: Lars Ø Ramberg, Berlin 2005. Der ZWEIFEL als gemeinsamer Nenner der deutschen Identitäts­ debatte war laut Ramberg ein Demokratiebeweis und Zeichen von Intelligenz. © Studio Ramberg

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„PALAST DES ZWEIFELS“. © Studio Ramberg

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Anja Quickert

Performing (in) Berlin Die Freie Szene als urbaner Motor und Stadtarchiv „Wenn über die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz geredet wird, sagt man: Was ihr dort gemacht habt, kann man in Berlin machen, aber nur dort“, schrieb Matthias Lilienthal im Jahr 1999. „Die Volksbühne 1992“, so ­Lilienthal weiter, „war vor allen Dingen ein Abenteuerspielplatz. Der uninstitutionalisierte Moment nach der Wende machte alles möglich. Die russischen Panzer waren schon abgezogen, die alten DDR-Machthaber hatten nicht mehr wirklich etwas zu sagen, die westdeutschen waren noch nicht eingezogen. Es war der utopische Moment, in dem Hierarchien außer Kraft gesetzt schienen.“ Dieser utopische Moment, von dem Lilienthal – von 1992 bis 1999 Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne und zwischen 2003 und 2012 Intendant der Freien Spielstätte HAU Hebbel am Ufer – spricht, ist natürlich längst Geschichte. Ebenso wie die Intendanz von Frank Castorf, die lange vor ihrem Ende im Sommer 2017 bereits als legendär galt. Doch das besondere Verhältnis zwischen Berlin und seinem Theater kann man nur verstehen, wenn man sich die historische Situation der Stadt in Erinnerung ruft – als zugleich repräsentativer Schauplatz und konkreter Verhandlungsort der Wiedervereinigung, mit viel Raum für Gestaltung und Selbstermächtigung in der Mitte. Ab 1992 war das Theater am Rosa-Luxemburg-­ Platz Plattform und Multiplikator einer künstlerischen Praxis, der es gelang, die diversesten sozialen und subkulturellen Milieus zu integrieren. Der Glaube an die soziale Wirksamkeit von Kunst (verbunden mit dem eher

diffusen Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten) war vor allem für die freie Kunst- und Kulturszene die Grundlage des bis heute viel zitierten Berliner Lebens­gefühls – die Feier der Anarchie, die Schönheit im H ­ ässlichen und ein radikaler Vitalismus – und der Identifikation mit der Stadt. Dass die Gestaltung des öffentlichen Raumes, seine sozialen Dynamiken und Austauschprozesse dabei ganz wesentlich von der Frage abhängen, wer welche Räume besetzt, wer sichtbar ist und sich im öffentlichen Raum einen Spielraum erobert – ist in Berlin sozusagen gelebte Stadtgeschichte. Am 9. November 1989 fiel die Mauer – Topografie des Kalten Krieges, der die globale Nachkriegsordnung abgebildet und die Stadt symbolisch wie konkret in zwei Hälften geteilt hatte. (Der ostdeutsche Dramatiker Heiner Müller hatte sie einmal als „Zeitmauer zwischen zwei Geschwindigkeiten“ bezeichnet: „Beschleunigung im Westen, im Osten Verlangsamung“.) Dass sich aus dem Protest gegen den reformunwilligen Staatsapparat der DDR eine friedliche Revolution entwickelt hat, ist auch einigen Theatern in der DDR zu verdanken: als Orte, an denen sich Menschen versammeln, diskutieren und Öffentlichkeit erzeugen konnten. Am 4. November demonstrierten auf dem Berliner Alexanderplatz dann eine Million Menschen gegen staatliche Gewalt und für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Es war die größte nicht-staatliche (und die erste vom Macht-­ Apparat genehmigte) Demonstration der DDR-Geschichte. Und sie wurde maßgeblich von Mitarbeiter:innen des Deutschen Theaters und der Volksbühne organisiert. 17


Anja Quickert

Performing (in) Berlin The Independent Performing Arts ­Community as Urban Motor and City Archi­ve­ “When they talk about the Volksbühne am Rosa-­ Luxemburg-Platz, they’ll say: what you did there can be done in Berlin, but only there”, wrote Matthias Lilienthal in the year 1999. “The Volksbühne in 1992”, ­Lilienthal continues, “was first and foremost a playground. The non-institutionalized moment after the Fall of the Berlin Wall made it all possible. The Russian tanks had already withdrawn, the old East German rulers no longer really had anything to say and the West Germans hadn’t moved in yet. It was a utopian moment where the hierarchies seemed to have been overturned.” This utopian moment that Lilienthal, who was head dramaturg at the Volksbühne from 1992 to 1999 and artistic director of the independent performing arts venue HAU Hebbel am Ufer from 2003 to 2012, speaks of is, of course, long since history. So is the artistic ­directorship of Frank Castorf, deemed legendary long before it came to an end in the summer of 2017. But you can only understand the special relationship between Berlin and its theater when you recall the historical situation in the city, simultaneously a representative setting and specific place of negotiation for the German reunification with a great deal of space for design and self-empowerment in the middle. Beginning in 1992, this theater located at Rosa-­ Luxemburg-Platz served as the platform and amplifier for an artistic practice that was able to integrate the most diverse social and subcultural milieus. The belief in the social efficacy of art (combined with the more diffuse feeling of unlimited possibilities) was, especially for the 18

independent arts community, the foundation of the still much-vaunted Berlin lifestyle, the celebration of anarchy, the beauty of the ugly and a radical vitality as well as the identification with the city. The fact that the shaping of public space, its social dynamics and exchange processes intrinsically revolve around the question of who occupies what space, who is visible and who conquers space to maneuver in public space is a living part of the history of the city of Berlin, so to speak. The Berlin Wall fell on November 9, 1989, the topography of the Cold War that depicted the global postwar order and that had divided the city in two, symbolically as well as tangibly. (The East German playwright Heiner Müller once called it “a time wall between two speeds: acceleration in the west and deceleration in the east”.) The fact that a peaceful revolution arose from protests against the East German state that was u ­ nwilling to reform is also thanks to some theaters in East Germany: as places where people come together, discuss and generate public interest. On November 4, one million people demonstrated against state violence and for freedom of the press, opinion and the right to assembly on Alexanderplatz in Berlin. It was the largest non-state demonstration (and the first to be approved by those in power) in the history of the German Democratic Republic. And it was primarily organized by staff m ­ embers of the Deutsches Theater and the V ­ olksbühne. After the upheaval, theater in the former east, which had played an existential role in the socialist dictatorship as a “substitute


Nach dem Umbruch wurden die Theater Ost, die als „Ersatzöffentlichkeit“ in der sozialistischen Diktatur eine existenzielle Rolle gespielt hatten, abrupt mit ihrem Bedeutungsverlust konfrontiert – das spannendere Theater fand erstmal auf der Straße statt. Bereits 1992 bekräftigte Ulrich Roloff-Momin, ab 1991 Berliner Senator für Kulturelle Angelegenheiten und damit für den entscheidenden Transformationsprozess der Berliner Kulturinstitutionen verantwortlich, auf einem Podium des Deutschen Bühnenvereins die Rolle des Theaters als ein „ganz wichtiges Element zur Überwindung der Teilung“: „Die sozialen, kulturellen Schocks und Wirrnisse unserer Lage könnten sich gerade in Berlin umsetzen: in einen neuen, erhellenden und verstörenden Blick des Theaters.“ Kurz zuvor war Roloff-Momin der Empfehlung des Expertenteams um den Intendanten Ivan Nagel gefolgt, das Theater am Luxemburg-Platz („Der Bau ist von schlagender Häßlichkeit“) einer „jungen Truppe, vermutlich mit Ex-DDR Kern“ zu übergeben. Als „Enfant terrible“ stand der DDR-Regisseur Castorf bei Übernahme seiner Intendanz dem neuen, kapitalistischen Systemzusammenhang West ebenso feindlich gegenüber wie dem vergangenen System DDR. Aus der Position eines neuen, auf den gesamtdeutschen ­Zusammenhang gerichteten Krisenbewusstseins heraus zielte er mit drastischen ästhetischen Mitteln auf eine Kritik der kleinbürgerlichen Mentalitäten. Ab 1994 strahlt der blaue Schriftzug „OST“ vom Dach der Volksbühne selbstbewusst (weil erfolgreich) in die Stadt hinein. Die Volksbühne knüpft unter ­Lilienthals Leitung an die Tradition des Kulturhauses in der DDR an und entwickelt eine für ein Stadttheater völlig neuartige interdisziplinäre Programmdramaturgie. Das Theater öffnet sich radikal für alle Sparten: Tanz, Musiktheater, Film, Konzerte, Diskurs-Veranstaltungen und, nicht zuletzt, Club-Events – am besten natürlich alle und alles gleichzeitig. Das Ensemble internationalisiert sich, ein Theaterprojekt mit Obdachlosen verstetigt sich

zur festen Gruppe Ratten 007 (die kurz darauf das erste freie Theaterprojekt in einem deutschen Gefängnis inspiriert: die Gruppe aufBruch), Christoph Schlingensief lässt echte Neonazis auf der Bühne auftreten und etabliert seine langjährige Theaterfamilie mit behinderten ­Akteur:innen. Die Volksbühne erfindet ein völlig neues Inklusionskonzept: Wo das Andersartige, Unvollkommene zur ästhetischen Norm erklärt wird, fällt niemand mehr aus der Reihe oder Rolle. Umgekehrt bespielt das Theater die Stadt: Es verknüpft das „Spektakel“-Format (1974) des legendären Volksbühnen-Intendanten ­Benno Besson mit der alten Berliner Volksfest-Tradition im Prater, später (2000) baut Bert Neumann einen alten Truck zur „Rollenden-Road-Show“ um und besucht die Berliner Randbezirke. Zur forcierten Durchlässigkeit der institutionellen Rahmung trägt auch die Entgrenzung der Kategorie Zeit bei – durch Marathon-Formate und Themenwochenenden – und verwischt die Grenzen zwischen Kunst und Leben: Ein Nomos ostdeutscher Kunstprogrammatik, die ihre volkspädagogische ­Funktion jedoch völlig vergessen hat und stattdessen temporäre Gemeinschaften stiftet. Vielleicht markiert Christoph Schlingensiefs Projekt „Chance 2000“, die Gründung einer politischen Partei in einem Zirkuszelt im März 1998, das Ende dieser alten Volksbühne. Oder sein Scheitern im darauffolgenden Jahr, als er die Volksbühne in eine Unterkunft für Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo umwandeln will. Während sich die Volksbühne um das Jahr 2000 herum zum Innovationsmodell für die deutsche Stadttheaterlandschaft entwickelt, verschieben sich die politischen und sozialen Diskurse, für die sie fast ikonografisch steht: von der Ost/West- auf eine globale, globalisierungskritische Ebene. Gleichzeitig wird es für die vielfältigen Berliner Subkulturen und ihre Institutionen immer schwieriger, sich gegen den beschleunigenden Ausverkauf der städtischen Liegenschaften an Investor:innen, die zunehmende Privatisierung von öffentlichem Raum und die Gentrifizierung zu behaupten. 19


public realm”, was abruptly confronted with its loss of significance; the more exciting theater initially took place on the streets. Already in 1992, Ulrich Roloff-Momin, Berlin’s Senator for Cultural Affairs since 1991 and thus responsible for the decisive transformation process of Berlin’s cultural institutions, emphasized the role of theater as a “very important element for overcoming the ­separation” in a panel discussion organized by Deutsche Bühnen­verein, the German Theater Association: “The social and cultural shocks and confusion of our situation have just manifested themselves in Berlin: in a new, enlightening and unsettling view of theater.” Shortly before this, Roloff-Momin followed the recommendation of the team of experts led by artistic director Ivan Nagel to give the theater on Rosa-­ Luxemburg-Platz (“the building is strikingly ugly”) to a “young troupe, likely with a former East German core”. As an “enfant terrible”, the East German director Frank Castorf was just as hostile to the new capitalistic system of the west at the start of his artistic directorship as he was to the past system of the German Democratic Republic. From the position of a new awareness of crisis oriented around the overall German context, he aimed a criticism at bourgeois mentalities using drastic aesthetic means. In 1994, the word “OST” (EAST) shone in blue writing from the roof of the Volksbühne into the city self-confidently (because it was successful). Under Lilienthal’s leadership, the Volksbühne took up the tradition of the cultural center in the GDR and developed an interdisciplinary programming dramaturgy that was completely new for a state and municipal theater. The theater opened itself radically to all genres: dance, music theater, film, concerts, discussions and, not least of all, club events. At best, of course, everything and all of it at the same time. The ensemble internationalized itself, a theater project with homeless people became the group Ratten 007 (who shortly afterward inspired 20

the first independent theater project in a German prison, the group aufbruch), Christoph Schlingensief brought real neo-Nazis on stage and established his long-term theater family of actors with disabilities. The Volksbühne created a wholly new concept for inclusion: where the different and imperfect has been declared the aesthetic norm, no one can be left behind. Conversely, the theater performed throughout the city: it drew upon the “­Spektakel” format (1974) of the legendary Volksbühne artistic director Benno Besson with the venerable Berlin public festival tradition in the Prater and later, in 2000, Bert Neumann converted an old truck into a “rolling road show” and visited the outer districts of Berlin. The blurring of the boundaries of the category of time also contributed to the forced permeability of the institutional framework with marathon formats and thematic ­weekends, in turn blurring the boundaries between art and life: a nomos of East German artistic programming that had, however, completely forgotten its function for the “education of the people” and, instead, created temporary communities. Perhaps Christoph Schlingensief’s project “­Chance 2000”, the founding of a political party in a circus tent in March of 1998, marked the end of this old Volksbühne. Or his failure in the following year when he tried to convert the Volksbühne into an accommodation for people fleeing the war in Kosovo. While the ­Volksbühne developed itself in the year 2000 into a model of innovation for the German city and municipal theater landscape, the political and social discourses for which it was almost iconographic shifted: from east/west to a global level, critical of globalization. At the same time, it became increasingly difficult for the diverse Berlin subcultures and their institutions to hold their ground against the accelerating selling of state-owned ­properties to investors, the increasing privatization of ­public space and gentrification. The Volksbühne, of course, was no solitary phenomenon in Berlin in the 1990s, but was instead


Natürlich ist die Volksbühne kein solitäres Phänomen im Berlin der 1990er Jahre, sondern eingebettet in eine schnell wachsende alternative Kunstund Kreativszene mit großer Nähe zur Clubkultur, die sich die vom Leerstand betroffene, meist marode Bausubstanz ausgesprochen erfindungsreich und bemerkenswert leidensfähig erobert. Eines der auch international bekannten Beispiele ist die Künstlerinitiative Tacheles, die 1990 den bereits zum Abriss freigegebenen Gebäudeteil eines ehemaligen Kaufhauses in der Oranienburger Straße besetzte und bis 2012 nutzte. (Ihre erste Publikation erschien bereits 1992 unter dem Motto: „Die Ideale sind ruiniert! Rettet die Ruine!“) Die Hausbesetzung, im Westberliner Kreuzberg seit Ende der 1970er Jahre bereits erfolgreich praktiziert, hatte mit der Ausreisewelle vieler DDR-Bürger:innen im Sommer 1989 und dem Leerstand ihrer Wohnungen auch in Ostberlin eine Entsprechung gefunden. Nun, Mitte der 1990er Jahre, entwickelte Jutta Weitz, eine Angestellte in der Gewerberaumabteilung der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-­Mitte (WBM), eine legale, kreative Lösung gegen den Leerstand und das Problem ungeklärter Eigentumsverhältnisse: Sie erfand das Phänomen der unbürokratischen „Zwischennutzung“. Von 1988 bis 2007 wurden von der WBM ungefähr 4000 Gewerberäume vermittelt – temporäre Institutionen, von denen sich einige trotz der Gentrifizierung in Mitte bis heute verstetigen konnten: das alternative Kunstzentrum Acud zum Beispiel, das 1991 gegründet wurde, oder die Kunst Werke, heute KW Institute for Contemporary Art genannt, die 1992 in eine ehemalige Margarinefabrik einzogen, oder die Freie Spiel- und Produktionsstätte Sophiensæle, die sich seit 1996 im ehemaligen Haus des Berliner Handwerkervereins etabliert haben. In den nuller Jahren – als die Anzahl der Freien ­Spielstätten in Berlin zunahm und sich die Szene weiter internationalisierte – zog das Ballhaus Ost in die ­ehemalige Feier- und Trauerhalle der Freireligiösen Gemeinde ein, die zuvor als Club „Liza Lounge“ genutzt

wurde, und der ­Theaterdiscounter ins ehemalige Fernmeldeamt (Ost). (Dabei ist auch Letzteres der Initiative der legendären Clubreihe WMF geschuldet.) Die neuen Spielstätten-­Betreiber:innen stehen in der Tradition der Club-­Location-Scouts, die ab den 1990ern die erstaunlichsten Räumlichkeiten ausfindig machten, um sie mit Musik und Menschen zu fluten. Das Prinzip dieser alternativen Stadtentwicklung ist einfach: Bestehende, aber funktionslos gewordene Räume werden besetzt, in einen neuen Kontext gesetzt und wieder in die urbane Dynamik integriert – in neue soziale Austauschverhältnisse. Dabei verweist ihr historisches Erscheinungsbild auf die Geschichte ihrer vormaligen Nutzung, auf die Geschichte der Stadt Berlin und ihren Wandel. Wie vielfältig die Spielstätten der Freien Szene in Berlin mittlerweile sind, führt seit 2016 auch das „­Performing Arts Festival“ (PAF) vor Augen. Während das Vorgänger-Format „100° Berlin“ ab 2003 nur das HAU Hebbel am Ufer und die Sophiensæle bespielte, später das Ballhaus Ost und der Theaterdiscounter hinzukamen, beteiligen sich nun knapp sechzig teils ­temporäre Spielorte mit ihren Produktionen. Mit Parcours wie „­Wanderwege“ oder geführten Touren verbindet das Festival den Theaterbesuch auch ganz unmittelbar mit dem Motiv der Stadt-Erkundung. Dabei rücken dann Orte, wie beispielsweise die ehemalige Australische Botschaft der DDR in Pankow, wieder ins öffentliche Bewusstsein: eine modernistische Siebziger-Jahre-Architektur mit Balkonkaskaden (und Tennisplatz), die 2018 von 31 Künstler:innen (und einem Tennislehrer) zur Zwischennutzung bespielt wurde. Auch die Wiederentdeckung des riesigen ehemaligen Stummfilmkinos Delphi in Berlin-Weißensee, das 1929 eröffnete, als der Bezirk mit seinen vielen Filmproduktionsfirmen noch „Klein Hollywood“ genannt wurde, ist der Freien Szene zu verdanken. Darüber hinaus inszenieren dokumentarische site-specific Performances auch die Geschichte von Orten, die dem kollektiven Gedächtnis längst entfallen sind: Wie die 21


embedded in a quickly growing alternative arts ­community with a great proximity to club culture that had taken over the abandoned and mostly dilapidated building stock with a marked inventiveness and remarkable passion. One example that is also known internationally is the artist initiative Tacheles that squatted part of a former department store on Oranienburger Straße in 1990 that had already been slated for demolition and used it until 2012. (Its first publication came out in 1992 under the motto: “The ideals are ruined! Save the ruins!”) The squatting that had already been practiced successfully in Kreuzberg in West Berlin since the end of the 1970s found its equivalent in East Berlin as well with the wave of emigration of many GDR citizens in the summer of 1989 and the vacancy of their apartments. Then, in the middle of the 1990s, Jutta Weitz, a employee in the commercial property department of Wohnungsbau­ gesellschaft Berlin-Mitte (the Berlin-Mitte housing association, or WBM), developed a legal, creative solution to the vacancy and the problem of unsettled property ownership questions: she created the ­phenomenon of the unbureaucratic “Zwischennutzung”, or interim usage. From 1988 to 2007, some 4,000 commercial properties were provided by WBM, temporary institutions, of which some still exist today, despite the gentrification in the district of Mitte: the alternative art center Acud, for example, which was founded in 1991 or Kunst Werke, today called KW Institute for ­Contemporary Art, which moved into a former margarine factory in 1992, or the independent performing arts venue and production house Sophiensæle, which established itself in the former home of the Berlin craftpersons’ association in 1996. In the 2000s, as the number of independent performing arts venues in Berlin increased and the community continued to internationalize itself, Ballhaus Ost moved into the former funeral and assembly hall of the free religious community that had previously been used as the club Liza Lounge and Theaterdiscounter moved 22

into the former East Berlin telecommunications center. (The latter is also due to the initiative of the legendary club series WMF). The new performance venue ­operators stood in the tradition of the club location scouts who, beginning in the 1990s, would seek out the most astonishing spaces to flood them with music and people. The principle of this alternative, self empowered form of urban development is very simple: existing spaces that had become functionless would receive new occupants, be placed in a new context and reintegrated within the urban dynamic in new conditions of social exchange. In doing so, their historic a ­ ppearance refers to the history of their former usage, the history of the city of Berlin and its changes. The “Performing Arts Festival Berlin” (PAF) has shown very clearly how diverse the performing arts venues of Berlin’s independent performing arts community now are since 2016. While the predecessor format, the “100° Berlin” festival, which began in 2003, only performed at HAU Hebbel am Ufer and Sophiensæle (Ballhaus Ost and Theaterdiscounter joined in later), more than sixty performing arts venues, some only temporary, now take part with their productions. With walks like “hiking trails” or guided tours, the festival directly connects attending a theater performance with the motif of discovering the city. In doing so, places like the former Australian embassy in East Germany in the district of Pankow are brought back into the public consciousness: a modernist piece of 1970s architecture with cascades of balconies (and a tennis court) that received interim usage in 2018 by 31 artists (and a tennis instructor). The rediscovery of the enormous former silent movie theater Delphi in Berlin-Weißensee that opened in 1929 when the district was still called “Little Hollywood” because of its many film productions companies is also thanks to the independent performing arts community. In addition, documentary site-specific performances also tell the histories of locations that have long since been forgotten


Theatergruppe OfW (Ohne festen Wohnsitz), die in ihrer Produktion „Opdakh“ die Geschichte der Pankower Stadtbibliothek inszeniert: 1913 als Heim für jüdische Flüchtlingskinder eröffnet, die Opfer der Pogrome in Osteuropa wurden, entwickelte sich die Zuflucht bald selbst zum Ort der Deportation und zur SS-Dienstbehörde. In der DDR wurde sie erst als polnische, dann als kubanische Botschaft genutzt, nach der Wiedervereinigung dem Staat Israel übertragen, der es an eine private Stiftung verkaufte. – Die Freie Szene ist Berlins lebendigstes Stadtarchiv. Aber sie mischt sich mit ihren Projekten auch aktiv in politische Krisendiskurse und soziale Probleme der Stadtentwicklung ein. Eines der symbolträchtigsten und am kontroversesten diskutierte Beispiel dafür ist die Zwischennutzung des ehemaligen Palastes der Republik von 2003 bis 2005, die weit über Berlins Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde. Als vielleicht ikonografischste Architektur der sozialistischen Moderne in Berlins historischer Mitte grenzte der Palast der Republik unmittelbar an den Alexanderplatz. Als riesiges, multifunktionales Kulturhaus angelegt, mit Konzert- und Theaterhallen, Galerien, Diskothek, Gastronomie und Postamt, war es seit seiner Eröffnung im Jahr 1976 auch politischer Sitz der Volkskammer der DDR. 1990 wurde das Gebäude wegen Asbestemission geschlossen, 1997 bis auf die Grundstruktur entkernt. Der Forderung nach einem Abriss des Palastes und der Rekonstruktion der ehemaligen ­Fassaden des Berliner Stadtschlosses – die sich letztlich qua Bundestagsbeschluss auch durchgesetzt hat – stand ein starker, emotional und symbolisch aufgeladener Widerstand gegenüber. Vertreter:innen unterschiedlichster Gruppen von Akteur:innen, darunter die damalige künstlerische Leiterin der Sophiensæle Amelie Deuflhard oder ­Philipp Oswalt, Professor für Architekturtheorie und Teil des EU-Forschungsprojekts „Urban Catalyst“, setzten eine temporäre Bespielung des Areals unter dem Titel „Volkspalast“ durch. Vor allem das

Kollektiv raumlabor, das seit 1999 sein erweitertes Architektur-Verständnis als „Urbane Praxis“ etabliert, überraschte die B ­ esucher:innen mit spektakulären Rauminszenierungen und konfrontierte die sozialistische Architektur mit elementaren Naturkräften: Erst wucherte „Der Berg“ aus dem Inneren des Palastes nach außen, dann schuf „­Palast Fluten“ ein System an Wasserwegen im Foyer, in dem die Besucher:innen mit dem Boot herumfahren konnten. Daneben fand natürlich auch ein internationales Symposium zum Thema Stadtentwicklung statt oder Frank Castorfs topografisch passende Inszenierung von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. – Den Abriss des Palastes konnte die Zwischennutzung zwar nicht verhindern, aber die Installation des Künstlers Lars Ø R ­ amberg auf dem Dach der Palastruine im Jahr 2005 hat sich in die Geschichte des Berliner Stadtbildes eingeschrieben: „Zweifel“. „Ich denke, dass die Leute, die entschieden haben, den Palast zu zerstören, übersehen haben, dass wir in einer Zeit leben, in der die Vernichtung eines Gebäudes dieses Gebäude erst kanonisiert“, erklärte der Kunsttheoretiker Boris Groys damals in einem Gespräch: „Die Zerstörung hat ihn erst zum Star gemacht“ – und zu einem Symbol: Nicht mehr für das Unrechtsregime der DDR, sondern für die Definitionsmacht der Stadtentwicklung über geschichtliche Narrative, für den unaufgearbeiteten Krisendiskurs Ost/West und dafür, wie die Stadt mit ihren Liegenschaften umgeht. Auch im Jahr 2011 positionierten sich gleich zwei große theatrale Stadt-Projekte kritisch gegenüber der Standort- und Liegenschaftspolitik des Berliner Senats und dessen Fokus auf eine boomende Tourismusindustrie, die eine Eventisierung und Gentrifizierung der Stadt beförderte. Das Theaterkombinat HAU Hebbel am Ufer bespielte den seit 2001 geschlossenen „Spreepark“ – der zwischen 1969 und 1991 „VEB Kulturpark“ hieß und der einzige ständige Rummelplatz Berlins war –, e ­ inen realen Schauplatz der ­Abwicklungsgeschichte Ost. Zwischen verwitternden 23


in the public memory: like the theater group OfW (Ohne festen Wohnsitz, or Without Permanent Residence) who told the story of the Pankow city library in its production “Opdakh”: it opened in 1913 as a home for Jewish children seeking asylum who were victims of the pogroms in Eastern Europe and soon developed into a place of deportation and the administrative authority of the SS. During the era of the GDR, it was first used as the Polish embassy, then as the Cuban embassy and was given to the state of Israel after German reunification, which then sold it to a private foundation. – The independent performing arts community is Berlin’s most vital city archive. With its projects, it also actively intervenes in political crisis discussions and social problems of urban development. One of the most symbolic and contro­ versially discussed examples of this is the interim usage of the former Palace of the Republic from 2003 to 2005, which was talked about far beyond the borders of Berlin. Certainly the most iconic piece of socialist modern architecture in Berlin’s historic center, the Palace of the Republic was in the direct vicinity of Alexanderplatz. Designed as an enormous, multifunctional cultural center with concert halls and theaters, galleries, a discotheque, gastronomy and a post office, it also served as the political seat of the East German parliament, the Volks­ kammer, since its opening in 1976. The building was closed in 1990 due to asbestos emissions and gutted down to its core structure in 1997. The call to tear down the building and reconstruct the former façade of the Berlin City Palace, which ultimately was carried out per decision of the German Bundestag, met with a strong, emotional and symbolically charged resistance. Representatives of a wide variety of groups of stakeholders, including the artistic director of Sophiensæle at the time, Amelie Deuflhard, or Philipp Oswalt, professor of architectural theory and part of the EU research project Urban Catalyst, were able to obtain permission to temporarily 24

use the grounds under the title “Volkspalast”, or Palace of the People. The collective raumlabor, which has ­established its expanding understanding of architecture as urban practice since 1999, especially surprised the visitor with spectacular spatial installations and confronted the socialist architecture with the elementary force of nature: first, “Der Berg”, or The Mountain, grew from the inside of the palace to the outside, then “Palast Fluten”, or Palace Floods, created a system of waterways in the foyer that the visitors could travel using boats. Alongside these there were, of course, an international symposium on the topic of the development of urban space or Frank Castorf’s topographically complementary production of Alfred Döblin’s Berlin Alexanderplatz. Even the demolition of the palace could not stop the interim usage. The installation by the artist Lars Ø Ramberg on the roof of the ruined palace in 2005 was etched into the history of Berlin’s cityscape: “Zweifel”, or doubt. “I think the people that decided to demolish the palace overlooked the fact that we live in an era in which the destruction of a building serves to canonize that building”, said the art theorist Boris Groys in a conversation at the time: “It was the destruction that first made it a star”. It also made it a symbol: no longer of the unjust regime of the GDR, but instead for the power of definition of urban development over the historical narrative, for the unresolved crisis discourse of east and west and for how the city deals with its properties. In 2011, two large theatrical city projects positioned themselves critically against the location and real estate policy of Berlin’s Senate and its focus on a booming tourism industry that demanded the eventization and gentrification of the city. HAU Hebbel am Ufer performed in “Spreepark”, which had been closed since 2001 and which had been called “VEB Kulturpark” between 1969 and 1991 and was the only permanent amusement park in Berlin, a real site of the winding up of the history of the east. Between weathered plastic dinosaurs and frog


Dinosaurierplastiken und Froschkonzerten in der ­mittlerweile unfreiwillig zur Biosphäre mutierten Wildwasserbahn erinnerten sich zehntausende Berliner:innen während des Projekts „Lunapark“ daran, dass das still vor sich hin rostende Riesenrad einmal ein Wahrzeichen der Stadt gewesen war, bevor ein konzeptloser Berliner Senat und ein unseriöser Westinvestor den Park gemeinsam in die Insolvenz trieben. Kurz darauf setzten die Sophiensæle unter der neuen künstlerischen Leitung von Franziska Werner mit dem Festival „Berlin del Mar“ eine temporäre Besetzung der Berliner Mitte gegen politische Hindernisse und die Parkraumbewirtschaftung durch. Sie verwandelten den Innenhof des damals vom Abriss bedrohten Hauses der Statistik am Alexanderplatz in das morbide Setting einer touristischen Ferienanlage, samt Strandbar auf Europaletten und Palmen in Zellophanpapier – und nahmen damit ironisch auf die Imagekampagnen der Berlin Tourismus & Kongress GmbH Bezug. Mit dem Slogan „Be Berlin“ hatte diese seit 2008 einerseits begonnen, das subkulturell geprägte Lebensgefühl der 1990er Jahre zu vermarkten („Sei einzigartig, sei vielfältig, sei Berlin!“), andererseits beschwor man auf der Homepage das karibische Flair der Hauptstadt mit ihrer bereits unübersichtlich wuchernden Anzahl von Strandbars („Und wenn am Abend die rote Sonne hinter dem Reichstag versinkt, sind die Hauptstädter so entspannt, als hätten sie einen Tag am Mittelmeer verbracht“). Unter dem Titel „Creative City oder touristischer Hyperraum?“ fragte das Festival bereits damals in Diskussionen nach den städtebaulichen und soziologischen Perspektiven für die Berliner Stadtmitte und thematisierte dabei die paradoxe Rolle von Künstler:innen als „Kreative Klasse“ (Richard Florida), die Opfer der Verdrängung durch Standortfaktoren werden, die sie selbst durch ihre Arbeit erst ermöglicht haben. Im gleichen Jahr wurden auch die Forderungen nach einer Beteiligung der Künstler:innen an der City Tax lauter, die 2012 schließlich in der Gründung der

„­Koalition der Freien Szene Berlin“ im radialsystem mündete, um die kulturpolitischen Interessen stärker zu vertreten. Nach einer Umfrage der Koalition hielt im Jahr 2019 jede:r zweite Künstler:in den Verdrängungsfaktor aus der Berliner Innenstadt für existenzbedrohend. Dass die Ausgabe des PAF im gleichen Jahr sein Festivalzentrum im Haus der Statistik eingerichtet hatte, war insofern natürlich kein Zufall. Mit der Bespielung ist ein klarer Claim verbunden, ebenso wie bereits 2017, als die Alte Münze, das ehemalige Münzprägewerk in Mitte, als Festivalzentrum diente. Auch wenn das HAU Hebbel am Ufer sein zehn­ tägiges Festival zu „Stadt, Kunst, Zukunft“ im September 2019 schlicht und optimistisch „Berlin bleibt!“ nannte, kreist längst nicht mehr nur der Krisendiskurs der Freien Szene um die Frage „Wem gehört Berlin!?“ Unter eben diesem Titel startete die überregionale Zeitung T ­ agesspiegel gemeinsam mit dem Recherchezentrum Correctiv im Herbst 2018 eine interaktive ­Homepage; zuvor wurde eine Petition gestartet, die ein Volksbegehren zur Frage der Enteignung großer Immobiliengesellschaften forderte, und schließlich hat der Berliner Senat am 18. Juni 2019 eine Deckelung der Mietpreise in Privatwohnungen für fünf Jahre beschlossen (deren Rechtmäßigkeit allerdings noch zur verfassungsgerichtlichen Debatte steht). Natürlich greift es viel zu kurz, die große Aufmerksamkeit der Berliner:innen und der Politik für die ­Stadtentwicklung mit der erfolgreichen Sensibilisierung durch Kunst zu begründen. Aber die Freie Szene in Berlin hat an ihr mitgearbeitet und erinnert durch ihre Präsenz ständig daran, dass die Mitgestaltung von Stadt möglich ist.

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concerts in the middle of a whitewater ride that had now involuntarily mutated into a biosphere, the project “Lunapark” invited tens of thousands of Berliners to remember that the rusting Ferris wheel had once been a symbol of the city, before a Berlin Senate without a concept and a dubious investor from the west drove the park to bankruptcy together. Shortly afterward, ­Sophiensæle, under the new artistic directorship of Franziska Werner, used the festival “Berlin del Mar” to temporarily squat a space in the center of Berlin – against political obstacles and parking space management. They transformed the inner courtyard of Haus der Statistik on Alexanderplatz, threatened at the time with demolition, into the morbid setting of a touristy vacation resort, complete with a beach bar made of shipping pallets and palm trees made from cellophane paper, taking ironic aim at the image campaigns of Berlin Tourismus & Kongress GmbH. Using the slogan “Be ­Berlin”, it had been marketing the lifestyle of the 1990s, marked strongly by subculture, since 2008 (“Be unique, be diverse, be Berlin!”) and the homepage attested to the Caribbean flair of the German capital with its already uncountable beach bars (“And when the sun sets behind the Reichstag in the evening, the inhabitants of the capital are so relaxed it is like they spent a day at the Mediterranean Sea”). Under the title “Creative City or Touristy Hyperspace?”, the festival used also discussions to inquire into the urban development and sociological ­perspectives for the middle of Berlin and examined the paradoxical role of artists as the “creative class” (Richard Florida) who become the victims of displacement due to location factors that they first brought about themselves through their work. In the same year, the calls for giving some of the so-called city tax to the artists became louder and led to the founding of the Koalition der Freien Szene Berlin, the Berlin Coalition of the Independent Arts Community, at radialsystem in 2012 to more strongly represent cultural policy 26

i­nterests. According to a survey conducted by the ­Coalition, in 2019 every second artist deemed the displacement factor from Berlin’s inner city as a severe threat to their livelihoods. It was, of course, no coincidence that the edition of PAF that year set up its festival center in Haus der ­Statistik. A clear claim is made by using this space, just as was done in 2017 when Alte Münze, the former mint in the district of Mitte, served as the festival center. Even if HAU Hebbel am Ufer gave its ten-day festival in September 2019 examining the city, art and the future the plain and optimistic name “Berlin bleibt!”, or Berlin Stays!, the question “Wem gehört Berlin!?”, or Who does Berlin belong to?! was being asked far beyond the debates of the independent arts community. Using precisely this title, the national newspaper ­Tagesspiegel, together with the research center Correctiv, launched an interactive homepage in 2018; a ­petition had been started earlier that called for a public referendum on the question of expropriating large real estate companies and, ultimately, Berlin’s senate decided on June 18, 2019 to place a cap on the rental prices for private apartments for five years (whose constitutional legality is still under debate). Of course it is much too simplistic to rationalize the increased attention of Berliners and politicians to urban development by successful sensitization through art. Berlin’s independent arts community, however, has worked on this topic and, through its constant presence, serves as a strong reminder that it is possible to ­participate in shaping the city.

Berlins neue Mitte, 1974. © ddrbildarchiv.de/Klaus Morgenstern


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© ddrbildarchiv.de/Burkhard Lange

28 © ddrbildarchiv.de/Archiv 1


(Bild oben:) Legendäre Großdemonstration zur Reformation der DDR, 4. November 1989. © ddrbildarchiv.de/Lothar Willmann; linke Seite (oben): Protest für Erhalt des Palasts der Republik in Berlin, 1993; (unten) Blick auf die gläserne Westfassade des Palasts der Republik zur Eröffnung in Berlin, 1976.

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Performancefestival „Berlin del Mar“ im Haus der Statistik, Sophiensæle, 30 2011. © Katja Renner


Mieke Matzke

Andere Räume des Produzierens Über die Orte des Freien Theaters Seit über zwanzig Jahren arbeite ich als Künstlerin mit dem Performance-Kollektiv She She Pop in Berlin. Diese gemeinsame Arbeitspraxis ist durch die Räume geprägt, in denen sie stattfand. Zu nennen sind das Podewil, das Tesla, der Prater, das Theater am ­Halleschen Ufer, die Josetti-Höfe, das TATWERK, die S ­ ophiensæle, das Gorki-Theater, das TAK, die ­Uferstudios, eine Brache an der Prenzlauer Allee, Wohnungen in Kreuzberg, Pankow, Wedding und im Prenzlauer Berg, Lager in Hohenschönhausen, ein privater Probenraum in Weißensee, ein Büro im Künstlerhaus Bethanien, das Ballhaus Ost, das Eden und seit 2003 immer wieder das HAU Hebbel am Ufer. Diese Liste ist längst nicht vollständig, aber mit ihr lässt sich eine Arbeitsbiografie schreiben, die auch ein Stück weit die Geschichte des Freien Theaters in Berlin wider­spiegelt. Es sind Aufführungs- oder ­Probenräume, Räume, in die Bühnenbilder ­transportiert und eingelagert wurden, und Räume, in denen Ideen ­entwickelt, Kostüme genäht, Anträge geschrieben oder Projekte abgerechnet wurden. Unsere Arbeit fand an ganz unterschiedlichen Orten statt, die diese auch je unterschiedlich stark prägten und beeinflussten. Und auch die Orte selbst veränderten ihre Namen und ihre Struktur über die Jahre. Die vielen verschiedenen Arbeitsräume zeigen, dass unsere Form, Theater zu machen, immer auch eine Arbeit an der eigenen Infrastruktur ist, die nicht vor­ge­ geben ist: in der Suche nach Aufführungs- und Probenräumen, nach Orten für die administrative Arbeit oder für die Lagerung von Bühnenbildern. Was an dieser

­ nvollständigen Aufzählung aber vor allem deutlich wird, u ist, dass diese Form, Theater zu machen, zwar durch eine große zeitliche Kontinuität in der Zusammenarbeit im Kollektiv gekennzeichnet ist, sie aber keinen konkreten Ort hat. Sie ist in keinem (Theater-)Gebäude verankert, kein konkreter Raum verspricht der künstlerischen Arbeit durch seine bloße Präsenz Kontinuität. Diese scheinbare Ortlosigkeit ist eng mit unserer kollektiven Arbeitspraxis verbunden. Als wir Mitte der 1990er Jahre ein Performance-Kollektiv ohne Regisseur:in mit dem Ziel einer gleichberechtigten Zusammenarbeit gründeten, geschah dies nicht nur aus dem Impuls einer Suche nach neuen Ästhetiken. Wir wollten auch möglichst autonom arbeiten, unsere eigene Form der Zusammenarbeit finden, anstatt eine vorgezeichnete Karriere in den Strukturen der Stadt- und Staatstheater zu machen. Dies war für uns nicht zuletzt eine politische Entscheidung. Zugleich sahen wir uns auch nicht in einer direkten Nachfolge der ersten Generation von Gruppen des Freien Theaters. Anders als unsere Vorgänger:innen im Freien Theater wollten wir keine eigene Spielstätte gründen, kein eigenes Theater haben, sondern suchten eine flexible Form des Produzierens: international vernetzt, überregional orientiert, nicht auf das Theater als Kunstform beschränkt, sondern auch für andere Kunstformen offen. Diese andere Ästhetik war also eng verbunden mit der Vorstellung, dass sie an vielen Orten stattfinden kann und die jeweilige Produktion sich ihren Raum sucht. Daraus ergab sich eine Arbeitspraxis, die sich in der Liste der oben aufgezählten Räume widerspiegelt: Wir haben uns immer wieder neue Orte gesucht 31


Mieke Matzke

Other Spaces for Production On the Spaces of Independent Theater I have worked as an artist with the performance ­collective She She Pop for more than 20 years. This mutual working practice is shaped by the spaces it takes place in. These include Podewil, Tesla, Prater, ­Theater am Halleschen Ufer, Josetti-Höfe, TATWERK, ­Sophiensæle, Maxim Gorki Theater, TAK, Uferstudios, a vacant lot on Prenzlauer Allee, apartments in ­Kreuzberg, Pankow, Wedding and Prenzlauer Berg, a storage space in Höhenschönhausen, a private rehearsal space in Weißensee, an office in Künstlerhaus Bethanien, ­Ballhaus Ost, Eden and, since 2003, over and over again at HAU Hebbel am Ufer. This list is far from complete, but it does allow a biography of work to be written that also reflects the history of independent theater in Berlin to a certain extent. These are performance or rehearsal spaces, spaces where set pieces are transported and stored and spaces where ideas are developed, costumes are sewn, a ­ pplications are written or bookkeeping for projects is conducted. Our work has taken place in a huge variety of different spaces that have shaped and ­influenced it to different extents. The spaces themselves have also changed their names and their structures over the years. These many different working spaces show that our form of making theater is also always work on our own infrastructure that is not prescribed: in the search for performance or rehearsal spaces, spaces for admini­ strative work or to store set pieces. What becomes especially clear from this incomplete list is that this form of making theater is marked by a long chronological continuity in the work with a c ­ ollective that has no 32

specific space. It is not anchored in a (theater) building, there is no actual space that promises continuity for the artistic work due to its simple presence. This apparent lack of a space is closely tied to our collective working practice. In the mid-1990s, when we founded a performance collective without a director with the goal of equal collaboration, this did not take place out of an impulse to search for new aesthetics. We wanted to work as autonomously as possible and find our own form of collaboration instead of pursuing a predefined career within the structures of the state and municipal theaters. This was also a political decision for us. At the same time, we did not see ourselves as direct descendants from the first generation of independent theater groups. In contrast to our predecessors in the independent performing arts community, we did not want to found our own venue, have our own theater, but were instead seeking a flexible form of producing: i­nternationally networked and oriented, not restricted to theater as an art form but also open to other forms of art. This other aesthetic was also closely connected with the idea that it could take place at many different locations and the respective production could choose its space. This resulted in a working practice that is reflected in the list of spaces found above: again and again, we have sought out new spaces and produced where it was possible to do so and this list is far from complete; numerous spaces outside of Berlin, in Hamburg, D ­ üsseldorf, Frankfurt as well as internationally would have to be included.


und dort produziert, wo es möglich war, und diese Liste ist bei weitem nicht vollständig – zahlreiche Orte außerhalb Berlins, in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt wie auch darüber hinaus im internationalen Kontext müssten hinzugefügt werden. Freiheit meint in diesem Sinne frei von der Verort­ung in der Institution Theater. Frei heißt für uns eine möglichst große Unabhängigkeit im Produzieren. In diesem Sinne sind die Strukturen und Arbeitsweisen eines solchen Freien Theaters direkt gekoppelt an die Frage nach dem Raum des Produzierens für ein solches Theater und dessen politische Implikationen. Gemeinhin wird mit dem Begriff Theater sowohl das Gebäude oder der Ort, an dem Theater stattfindet, wie auch die Kunstform selbst bezeichnet. Theater meint sowohl die Institution mit ihren Regeln, Arbeitsstrukturen, Finanzierungsmodellen wie auch die Aufführungspraxis. Hier zeigt sich das besondere Verhältnis des Produzierens von Theater und seinem Gebäude. Wenn man an einem Theater angestellt oder zumindest vertraglich daran gebunden ist, wird davon gesprochen, an einem Theater zu arbeiten. Impliziert wird damit, dass man auch an die Regeln und Strukturen dieser Institution gebunden ist. Die Institution Theater umfasst damit nicht nur den Ort der Aufführung selbst oder die Räume zum Produzieren, sondern darüber hinaus Strukturen und Arbeitsweisen, die sich aus der Logik der Institution ergeben. Für das Stadttheater meint dies zum Beispiel ein Ensemble und die damit notwendige Besetzungspolitik oder den Repertoirebetrieb, der eine bestimmte Probenstruktur vorgibt. Eine solche Vorstellung der Institution Theater koppelt das Produzieren immer schon an einen konkreten Ort, der wiederum die Bedingungen für die Arbeit an der Inszenierung mit vorgibt. Gefragt nach meiner künstlerischen Praxis, sage ich nicht, dass ich an einem Theater arbeite, sondern ich rede davon, dass ich mit einem Performance-Kollektiv

arbeite. In dieser Betonung auf der Zusammenarbeit im Gegensatz zu einer Verortung der Arbeit an einer Institution zeigt sich ein anderes Verhältnis zwischen dem Produzieren von Theater und den Räumen, in denen dies stattfindet. Ein Merkmal des Freien Theaters ist es, dass es keine vorgegebenen Arbeitsstrukturen, Probenpläne, Besetzungslisten oder Tarifverträge mit Pausenzeiten gibt. Freies Theater heißt damit immer auch ein Theater jenseits von Traditionen und Regeln feststehender Institutionen, die ihre Produktionsbedingungen weitestgehend schon vorgeben. Viele freie Theatergruppen suchen sich, so wie wir, für jede Produktion Rahmen und Mittel neu und entscheiden, wer wie wo und mit wem probt. Freies Theater bedeutet damit immer auch die Freiheit, sich selbst zu beauftragen, Theater zu machen, sich eigene Themen zu suchen und dafür entsprechende Produktionsstrukturen und damit Räume zu finden. Betrachtet man also diese Besonderheit des Freien Theaters unter dem Aspekt der Räume, die es braucht, um zu produzieren, eröffnet sich eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Theater als Institution und Theater als Kunstform. Das Freie Theater schafft immer wieder neue Arbeitsweisen, die sich gerade durch Vielfältigkeit auszeichnen. Nicht der Ort des Theaters als ­Institution schafft die Struktur und gibt die Form des Produzierens vor, sondern die Form des Zusammenarbeitens der Beteiligten und die ästhetischen Notwendigkeiten der jeweiligen Inszenierung. Oder anders gesagt: Der ästhetische Prozess ist zugleich als eine Form der Zusammenarbeit gedacht, der die Räume des Produzierens und deren Regelwerk erst im Prozess des Inszenierens hervorbringt. Diese Freiheit im Produzieren ist einerseits ein spezifisches Potenzial unserer Form, Theater zu machen. Sie verspricht Autonomie, unentfremdete Arbeit, flexible Arbeitsstrukturen, Aktualität. Wir tragen keine Verantwortung für eine eigene Spielstätte, wir müssen uns um 33


In this sense, independence means independence from being located within the institution of theater. For us, independence means the greatest possible independence in producing. In this sense, the structures and working methods of such an independent theater are directly tied to the space for producing this kind of theater and its political implications. Generally speaking, the term theater refers both to the building or location in which theater takes place as well as to the art form itself. Theater means both the institution with its rules, working structures and financing models as well as the performance practice. Here we can see the special relationship between the production of theater and its buildings. When you are employed by a theater or at least contractually bound to one, you say that you are working at a theater. This implies that you are also tied to the rules and structures of this institution. In so doing, the institution of theater ­comprises not only the space of the performance itself or the spaces of production, but also the structures and working methods that result from the logic of the institution. For state and municipal theaters, for example, this means an ensemble and thus the necessary casting policy or operating a repertoire, which prescribes a certain rehearsal structure. Such an understanding of the institution of theater always couples production to a specific location, which, in turn, provides the conditions for working on the production. When I am asked about my artistic practice, I don’t say that I work at a theater; instead, I say that I work with a performance collective. Emphasizing the collaboration instead of locating the work at an institution shows a different relationship between the production of theater and the spaces in which this takes place. One characteristic of independent theater is that there are no ­prescribed working structures, rehearsal schedules, cast lists or tariff agreements with break times. Independent 34

theater thus also means a theater outside of the ­traditions and rules of fixed institutions who predefine their production conditions to the greatest extent possible. Many independent theater groups search anew, as we do, for infrastructure and funding for each production and decide who rehearses where, how and with whom. Independent theater also always means the freedom of engaging yourself to make theater, to look for your own themes and to find corresponding production structures and thus spaces. If we look at this special feature of independent theater from the aspect of the spaces that it needs in order to produce, we open up a new perspective on the relationship between theater as an institution and theater as an art form. Independent theater continuously creates new working methods that distinguish ­themselves through their diversity. It is not the space of theater as an institution that creates the structures and defines the form of production, but instead the form of the collaboration of the participants and the aesthetic necessities of the respective production. Or, to put it another way: the aesthetic process is also thought of as a form of collaboration in which the spaces of ­production and their rules first emerge as a process of making the performance. This independence in producing is, on the one hand, a specific potential of our form of making theater. It promises autonomy, non-alienated work, flexible working structures and currentness. We bear no responsibility for our own performance venue; we do not need to worry about any real estate. The focus is placed entirely on the artistic work. This spatial flexibility is, however, simultaneously also a problem. A fixed working location, a recognized institution, a connection to a specific building all promise existence and continuity beyond individual productions. Our working methods, on the other hand, correspond in a special way to the logic of project-based cultural


keine Immobilie kümmern. Der Fokus liegt ganz auf der künstlerischen Arbeit. Die räumliche Flexibilität ist aber zugleich auch ein Problem. Ein fester Arbeitsort, eine anerkannte Institution, eine Anbindung an ein konkretes Gebäude verspricht Bestand und Kontinuität auch jenseits einzelner Aufführungen. Unsere Arbeitsweise dagegen entspricht in besonderer Weise den Logiken einer projektbasierten Kulturförderung: Proben- und Aufführungsräume werden nur für den jeweiligen Projektzeitraum benötigt und müssen auch nur dann finanziert werden. Daraus entstehen neue Zwänge, die der oben beschriebenen Freiheit entgegenstehen. Ohne eigene Spielstätte entsteht für das Performance-Kollektiv die Notwendigkeit, sich für jedes Projekt neu einen Raum zum Aufführen und Produzieren zu sichern. Hier zeigt sich auch das Prekäre eines solchen Arbeitens: Weil die Produktionsform der Logik des Projekts unterworfen ist, kann sie auch jederzeit nicht weitergeführt oder abgesagt werden. Ohne eigenen Ort, ohne feste Auftrittsmöglichkeiten ist die künstlerische Arbeit immer vom Verschwinden, von Unsichtbarkeit bedroht. Ein Projekt kann leicht eingespart werden. Ein Theater zu schließen ist um einiges schwieriger. Verspricht also ein Modell des Produzierens, wie es She She Pop betreibt, zum einen Autonomie über die eigenen Arbeitsstrukturen, dann bleibt zu fragen, wie jenes Potenzial mit einer Form der Institutionalisierung zusammengedacht werden kann, die den einzelnen Künstler:innen Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch Sicherheit und Sichtbarkeit zugleich verspricht. Welche anderen Räume des Produzierens braucht ein Freies Theater? Anders gesagt: Die Ortlosigkeit des freien Produzierens schafft eine Freiheit, die neue Verbindlichkeiten braucht. Diese Frage führt zurück zur einleitenden Aufzählung unsere Arbeitsräume. Diese Liste spiegelt nicht nur eine spezifische Raumpraxis im Freien Theater, die nach Unabhängigkeit von institutioneller Verankerung sucht,

sondern sie erzählt auch von Kooperationen mit konkreten Produktionshäusern, die über Jahre hinweg bestehen und eine Verbindlichkeit haben, die ein anderes Produzieren möglich macht. Denn auch wenn wir an vielen Orten arbeiten, gibt es durchaus Bündnispartner:innen, die uns eine (vorübergehende) Heimat bieten. Für uns ist es in Berlin vor allem das HAU, das Hebbel am Ufer, das seit 2003 unser Produktions- und Aufführungsort ist. Hier finden fast alle Premieren statt. Als Produktionshaus bietet es uns Probenräume, Aufführungsmöglichkeiten, technische Unterstützung wie auch eine Form der Öffentlichkeitsarbeit, die wir selbst mit unseren Produktionsgeldern kaum leisten könnten. Die Dramaturg:innen begleiten unsere Arbeit zum Teil seit vielen Jahren. Das Haus stellt uns seine Infrastruktur zur Verfügung. Aber wie genau die Proben ablaufen, wer auf der Bühne steht und damit besetzt wird, wie wir unsere Arbeit strukturieren, das sind Entscheidungen, die bei uns als Kollektiv liegen. Sicher gibt auch hier das „Haus“ bestimmte Produktionsbedingungen vor: Es werden Premierentermine abgesprochen, über Bühnenzeiten und Technikerstunden verhandelt. Aber dies hat wenig Einfluss darauf, wie wir arbeiten, wie die Proben strukturiert sind, wer auf der Probe ist und damit auch nicht auf die Ästhetik der von uns entwickelten Inszenierungen. In diesem Sinne wäre es korrekter zu sagen, dass wir nicht am HAU arbeiten, sondern vielmehr mit dem HAU. Wir arbeiten mit den Dramaturg:innen, Produktionsleiter:innen, Techniker:innen, den Mitarbeiter:innen der Öffentlichkeitsarbeit in den Räumen des HAU. Dieses Zusammenarbeiten verweist darauf, dass die Produktionsbedingungen, die ganz konkreten Bedingungen des Probens für jede Inszenierung ­wieder neu ausgehandelt werden: je nachdem, was das jeweilige Projekt für eine Proben- und Arbeitsstruktur braucht. Oft wird das Labor als Referenzort zur Beschreibung des Freien Theaters herangezogen und dem Stadttheater gegenübergestellt, das oft als Tanker beschrieben wird. 35


funding: rehearsal and performance spaces are only needed for the respective duration of the project and only have to be financed during that time. This results in new constraints that stand in opposition to the ­independence described above. Without its own performance venue, the performance collective has the necessity of securing a space for performance and production for every project. Here we can also see the precariousness of working in this manner: since the form of the production is subject to the logic of the project, it can be discontinued or cancelled at any time. Without its own space, without fixed performance possibilities, the artistic work is always at risk of disappearing and becoming invisible. A project can easily be cut. It is somewhat more difficult to close a theater. If a model of producing like the one She She Pop uses promises ­autonomy over one’s own working structure, it must be asked how that potential can be thought together with another form of institutionalization that promises ­individual artists independence and self-determination as well as security and visibility at the same time. What other production spaces does an independent theater need? Or, to put it differently: the lack of a space of independent producing creates a freedom that requires new commitments. This question leads back to the list of working spaces that started this essay. This list does not only reflect a specific space practice within independent theater that searches for independence from being anchored within an institution; it also speaks of cooperations with specific production houses that have existed for years and that have a commitment that makes a different kind of producing possible. After all, even if we have worked in many different spaces and places, there are allies who have offered us a (temporary) home. For us, in Berlin, this is especially HAU Hebbel am Ufer which has been our production and performance space since 2003. Almost all of our premieres take place here. As a produc36

tion house, it offers us rehearsal space, opportunities to perform, technical support as well as a form of PR that we could hardly afford ourselves with our production budgets. The dramaturgs have supported our work, in some cases for many years. The institution provides us with its infrastructure. But the questions of how exactly the rehearsals are structured, who is standing on stage and thus part of the cast, how we structure our work, these are decisions that are left to us as a collective. The “­institution” does, of course, prescribe certain production conditions: the date of the premiere is discussed and negotiations are conducted regarding the amount of time the stage can be used and how many hours of technical support can be provided. This, however, has little influence on how we work, how the rehearsals are structured, who attends the rehearsals and thus also does not influence the aesthetic of the productions we have developed. In this sense, it would be much more correct to say that we work with HAU instead of working at HAU. We work with dramaturgs, production managers, technicians and the PR staff in the spaces of HAU. This collaboration shows that the production conditions, the very specific conditions of rehearsal for each p ­ roduction are negotiated anew each time, depending upon what the respective project needs in terms of a rehearsal and working structure. The laboratory is often used as a metaphor when describing the independent performing arts community while the state and municipal theaters are often described as tankers. The latter is associated with an image of resilience, but also of heaviness: unfazed by stormy weather, the tanker plows through the sea. Once it has been pointed in the right director, it is difficult to reroute. The tanker, however, is also not so easy to capsize and thus promises stability, also in difficult times. The topos of the laboratory, on the other hand, found in the descriptions of independent theater, aims at


Mit Letzterem ist ein Bild von Beständigkeit verbunden, aber auch Behäbigkeit: Unbeirrt vom stürmischen Wetter durchpflügt der Tanker das Meer. Einmal in eine Richtung gelenkt, ist er schwer umzusteuern. Aber dadurch kentert der Tanker auch nicht so leicht und verspricht damit Stabilität – auch in schwierigen Zeiten. Der Topos des Labors dagegen, der sich in Beschreibungen für das Freie Theater findet, zielt auf die exemplarische Realisierung von Versuchsaufbauten. Im Labor sollen Rahmenbedingungen für die Untersuchung von Phänomenen geschaffen werden, die zugleich eigens im und für das Labor hergestellt werden müssen. Für jeden Versuch ist der jeweilige Aufbau neu zu definieren und auszuhandeln. Auch wir als She She Pop nutzen den Begriff des Aufbaus in unserer Probenpraxis, um ein experimentelles Setting zu beschreiben, in denen die Möglichkeiten einer Inszenierungsidee erprobt werden. Aber auch jedes einzelne Projekt wird in diesem Sinne als Versuchsaufbau verstanden, dessen Bedingungen nicht gegeben sind, sondern die immer wieder neu austariert werden müssen. Insofern lässt sich das Produktionshaus selbst als Labor denken: Es bietet einen Rahmen, in dem diese Versuche stattfinden können. Dieser Rahmen, das Profil des Hauses, existiert jenseits der einzelnen Inszenierung. In der konkreten Produktion einer Inszenierung aber arbeiten die Spezialist:innen des Hauses mit den Künstler:innen gemeinsam daran, für jede Inszenierung neu die richtigen Rahmenbedingungen für den jeweiligen Versuchsaufbau zu schaffen.

tisch für viele Kollaborationen zwischen Spielstätten oder Produktionshäusern und Theatergruppen, Performance-Kollektiven oder anderen Produktionszusammenhängen gelten kann. Nicht die Institution gibt den Raum und seine Bedingungen vor, sondern die Praxis des Produzierens ist von der Vorstellung eines gemeinsam geteilten Raumes geprägt. Für die Dauer unseres Produzierens eignen wir uns den Raum des Produktionshauses an – wie umgekehrt auch der Raum und die damit verbundenen Akteur:innen Einfluss auf unseren Prozess nehmen. Die ästhetische und die soziale Dimension des Raumes sind dabei gleichermaßen von Bedeutung. So wird der Raum nie als feste Größe, als stabile S ­ truktur gedacht, sondern das Produzieren von Theater basiert hier auf einer Vorstellung von Raum, der im Zusammentreffen verschiedener Akteur:innen und deren Aushandlungen erst hervorgebracht wird. Es ist ein Raum, der offenbleiben muss, um immer wieder neu – für jede Inszenierung – ein anderes Produzieren zu gewährleisten.

Auch wenn die Möglichkeiten der Produktionshäuser und Spielstätten innerhalb der freien darstellenden Künste aufgrund unterschiedlicher finanzieller wie auch räumlicher Ausstattung sehr weit auseinanderliegen und unsere Arbeitserfahrungen am HAU im Kontext des Freien Theaters sicher privilegiert und nicht zu verallgemeinern sind, zeigt sich hier doch ein Verhältnis vom Ort des Theaters zum Theatermachen, das als paradigma37


the exemplary realization of setups for experiments. In the laboratory, the framework conditions for the investigation of phenomena should be created which must simultaneously produced in and for the laboratory. The respective setup must be newly defined and ­negotiated for each experiment. As She She Pop, we also use the term setup in our rehearsal practice in order to describe an experimental setting in which the options for an idea for a production can be tested out. In this sense, each individual project is understood as a setup for an experiment whose conditions are not given, but instead must always be determined anew. This also allows the production house to think of itself as a laboratory: it provides a framework in which these experiments can be conducted. This framework, the profile of the institution, exists beyond the individual production. In the specific creation of a production, however, the specialists of the institution work together with the artists to achieve the proper framework ­conditions for the respective experimental setup for each production. Even if the options of the production houses and ­performing arts venues within the independent performing arts community differ greatly due to the various financial and spatial resources, and our working experiences at HAU are certainly privileged within the context of independent theater and cannot be generalized, a relationship between the space of the theater and the theater makers can be seen here that is paradigmatic for many of the collaborations between performing arts venues or production houses and theater groups, performance collectives and or production contexts. The institution does not prescribe the space and its conditions; instead, it is the practice of production that is shaped by the notion of a mutually shared space. We take possession of the space of the production house for the duration of our producing and, in turn, the space and the people connected to it influence our 38

process. In doing so, the aesthetic and social dimensions of the space remain equally important. The space is never thought of as a constant, as a stable structure; instead, the production of theater is based here on an idea of space that can first emerge in the convening of various people and their negotiations. It is a space that must remain open in order to ensure that a new and different kind of producing can be ensured for each production.


„Unendlicher Spaß von David Foster Wallace – 24 Stunden durch den utopischen Westen“, zum Ende der Intendanz von Matthias Lilienthal, HAU Hebbel am Ufer, 2012. © Dorothea Tuch

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„DER BERG“, Installation: Innen- und Außenansicht; raumlaborberlin, 2005. © raumlaborberlin

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Tamer Yiğit/Branka Prlić (oben) und andcompany&Co (unten) bei „THE WORLD IS NOT FAIR – DIE GROSSE WELTAUS­ STELLUNG“ – Tempelhofer Feld, ­raumlaborberlin, zum Ende der Intendanz Lilienthal, HAU Hebbel am Ufer, 2012. 42 © raumlaborberlin


Eva Behrendt

Zwischen Projekt und Institution Die Finanzierung der Freien Spielstätten 2010 suchten der Regisseur Dirk Cieslak und die Dramaturgin Annett Hardegen einen „Realraum“ für ein Theaterprojekt. Cieslak, einer der Mitbegründer der Sophiensæle Mitte der 1990er Jahre, wo seine Theatergruppe Lubricat bis in die nuller Jahre aufgetreten war, entdeckte ein Ladenlokal im Zentrum ­Kreuzberg. Der 130-Quadratmeter-Raum im 1969 von Wolfgang Jokisch und Johannes Uhl entworfenen ­Sozialwohnungsbau mit seinen 250 Wohnungen und 90 Läden am Kottbusser Tor war mit seinen vier fetten Betonpfeilern in der Mitte für eine Theatersituation denkbar ungeeignet – also genau richtig. „Wir sind es gewohnt, in Situationen zu arbeiten, in denen man sich arrangieren muss“, sagt Cieslak. Aus dem Projekt wurde ein „Theater nach dem Projekt“, wie die Spielstätte Vierte Welt sich ­mittlerweile programmatisch bezeichnet. Der Versuch, sich als Ort zwischen Kunst und Politik selbst zu verwalten und zu behaupten, feiert Ende 2020 seinen zehnten Geburtstag. Tatsächlich stand „das Projekt“ lange Zeit im Zentrum der freien darstellenden Künste, und in gewisser Weise tut es das immer noch. Projektbezogenes Arbeiten meint, dass Kunst ohne den Druck, die Fesseln und Kompromisse, aber auch ohne die Sicherheiten eines Apparats wie am Stadt- oder Staatstheater entstehen kann. Für die Kulturpolitik hieß das lange Zeit, dass sie nur das Projekt zu fördern brauchte, keine Institution, die immer auch einen hohen Personalund Raumbedarf hat. Doch von Projektgeldern allein können Künstler:innen nur unter äußerst prekären Bedingungen, Stichwort Selbstausbeutung, existieren, was ihnen in der Vergangenheit prompt den Vorwurf von

Dramaturg:innen von Stadt- und Staatstheatern eintrug, neoliberalen Strukturen Vorschub zu leisten. Was also tun? Entweder wechseln die Freien nach einem Off-Intermezzo ans Stadt- oder Staatstheater oder in andere Berufe. Oder sie versuchen, selbst Institution zu werden. Diesen Weg haben in Berlin seit Mitte der 1990er Jahre eine ganze Reihe freier Spielstätten und künstlerischer Kollektive beschritten. Tanz- und Theatermacher:innen haben seither immer wieder und mit wachsendem Erfolg versucht, unabhängig von den großen Ensembletheatern eigene Spielorte zu begründen und aufrechtzuerhalten oder als Gruppe Strukturen zu entwickeln, die – auch ohne eigene Räumlichkeiten – institutionellen Charakter haben. Und Berlin ist mitgezogen. Noch im Haushaltsplan 2005 finden sich nur drei Haushaltstitel, die eine regelmäßige institutionalisierte Förderung garantieren: für das damals schon als Spielstättenkonglomerat gefasste HAU (mit Hebbel-­ Theater, Theater am Halleschen Ufer und dem einstigen ­Teatr Kreatur), für sämtliche Privattheater sowie für „­kulturelle Aktivitäten der Freien Szene“ – 2020 sind es an die zwanzig. Was vor allem bedeutet, dass diese Posten nicht ohne Weiteres wieder gestrichen werden können, dass also eine weitaus größere Planungssicherheit besteht. Die gesamte Förderstruktur der Berliner Kulturverwaltung wurde in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder umgebaut und nachjustiert, die Budgets für die Freie Szene fast verdreifacht, Förderinstrumente ausdifferenziert. Jurys, die über die Höhe und die Aufnahme in bestimmte Förderprogramme entscheiden, bitten ausdrücklich um Wirtschaftspläne, die auf fairen Löhnen, Gagen und Honoraren basieren. 43


Eva Behrendt

Between Project and Institution The Financing of the Independent ­Performing Arts Venues In 2010, the director Dirk Cieslak and the dramaturg Annett Hardegen were looking for a “real space” for a theater project. Cieslak, one of the founders of ­Sophiensæle in the middle of the 1990s, where his theater group Lubricat performed until the beginning of the 2000s, discovered a storefront in the building complex called Zentrum Kreuzberg. The 130 square meter space within the social housing complex designed by Wolfgang Jokisch and Johannes Uhl with its 250 apartments and 90 storefronts at Kottbusser Tor had four large concrete pillars right in the middle of it, making it extremely unsuitable for theater and thus exactly the right choice. “We’re used to working in situations where you have to make accommodations”, says Cieslak. The project became a “theater after the project”, as the performing arts venue Vierte Welt now refers to itself and its programming. This attempt to independently manage and maintain itself as a space for the intersection between arts and politics celebrated its tenth birthday at the end of 2020. In fact, the notion of “project” has long since stood at the center of the independent performing arts and, in a certain sense, still does. Project-based work means that art can be created without the pressure, constraints and compromises, but also without the securities of an institution like a state and municipal theater. Cultural policy makers maintained for quite some time that they only needed to fund the project, not an institution, which always has a great deal of needs when it comes to personnel and space. Artists, however, can only exist 44

under extremely precarious conditions, i.e. self-­ exploitation, from project funding alone. In the past, this has promptly earned them the accusation from dramaturgs at state and municipal theaters of encouraging neoliberal structures. So what is to be done? Either the independent theater makers make the move to jobs at state and municipal theaters after a brief intermezzo in the independent performing arts community, or to other professions. Or, they attempt to become institutions themselves. A large number of independent performing arts venues and artist collectives have taken this path in Berlin since the middle of the 1990s. Since then, dance and theater makers have continuously tried, with increasing success, to found their own performance venues independent from the state and municipal theaters and keep them running or have developed structures as groups which, even if they do not operate their own venue, have an institutional character. And the city of Berlin has played along. While the city’s budget for 2005 had only three line items that ensured a regular institutional funding: for the performing arts venue conglomerate HAU that already existed at that time (bringing together Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer and the former Teatr Kreatur), one for all private theaters and one for “cultural activities of the independent arts community”. In 2020, this number had increased to twenty. Most of all, what this means is that these line items cannot simply be deleted on a whim, which creates a much greater


Diese Verbesserungen gehen auf die unermüdliche Lobbyarbeit der Freie Szene und ihrer Akteur:innen zurück, andererseits aber auch auf die Überzeugung von Kulturpolitik und Verwaltung, dass eine lebendige, erfinderische und diverse Kunstszene gerade für eine Stadt wie Berlin durchaus von Bedeutung sein und Einfluss auf Stadtentwicklung, Tourismus und Immobilienmarkt nehmen kann. Mit allen Vor- und Nachteilen: Ein Kunstort wie zum Beispiel die ­Uferstudios lässt im Umfeld Cafés und Restaurants sprießen, macht die Wohnlage attraktiv für eine andere Klientel, verändert gegebenenfalls die proletarisch-­diverse, türkisch-­arabisch-deutsche Bevölkerungsstruktur im Kiez. Er wird Gentrifizierungsmotor – eine Entwicklung, die viele Künstler:innen kritisch sehen, auch wenn sie selbst Teil davon sind. Die freien Berliner Spielstätten haben ihre jeweils eigene, kürzere oder längere Geschichte. Entsprechend unterschiedlich sind auch ihre Finanzierungsmodelle. Lässt sich die Entwicklung der letzten Jahre wirklich als Geschichte des finanziellen Aufstiegs, der Professionalisierung und Institutionalisierung erzählen? Oder verbergen sich hinter den jeweiligen Finanzierungs­ modellen Fallstricke und Haken, die das rosige Bild wieder trüben könnten? Zu seinem zehnten Geburtstag leistete sich das Ballhaus Ost im als biobürgerlich verschrienen Stadtteil Prenzlauer Berg ein „theatrales Immobilienexperiment“. Unter dem Titel „Hotel Berlin“ lud die künstlerische Belegschaft ihr Publikum zum Übernachten auf sechs knarzigen, aber individuell gestalteten Etagen ein und spielte „beispielhaft durch, wie ein Theater sein künstlerisches Kapital vermarktet, um trotz massiv steigender Mieten das eigene Fortbestehen zu sichern“. Das Projekt läutete rückblickend nicht nur eine ganze Reihe von Theaterabenden ein, die sich mit dem Problem der Verdrängung prekärer und geringer verdienender ­Mieter:innen aus den Innenstadtbezirken beschäftigten. Es gab natürlich auch sehr gute Gründe, gerade am Ballhaus Ost darüber zu sprechen.

Denn das verwinkelte Hinterhaus im großteils selbst renovierten Backsteinanbau, der 1907 als A ­ ndachtssaal der Freireligiösen Gemeinde Berlin erbaut, zu DDR-­ Zeiten als Kantine „Casino des Handwerks“ und nach der Wende als Billardsalon und Club genutzt worden war, ächzte seit seiner Neugründung als experimenteller Theaterort 2006 unter einem Staffelmietvertrag. „Allein in den letzten zehn Jahren“, meint Daniel Schrader, der das Ballhaus Ost zusammen mit Tina Pfurr seit 2011 leitet, „hat unsere Miete sich verdoppelt“. In den ersten Jahren musste das Ballhaus-Team die Mietkosten durch Vermietungen und Ausrichtungen von Betriebsfeiern kofinanzieren: „Wir sind sehr froh, dass wir nicht mehr im Event-­Bereich dilettieren müssen!“, lacht Schrader. Inzwischen ist das künstlerisch erfolgreiche Ballhaus Ost – dieses Jahr ist es sogar mit der Produktion „Name her“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen – in die vierjährige Konzept­förderung aufgenommen worden. Das heißt, dass das Ballhaus Ost bis einschließlich 2023 jährlich mit 501.000 Euro bezuschusst wird. Fast die Hälfte davon, nämlich 240.000 Euro, muss das Theater allerdings auch gleich wieder für die Miete ausgeben. Dahinter steht zum einen die Mietpreisentwicklung in der Hauptstadt, die sich nach den paradiesischen neunziger Jahren mittlerweile anderen Großstädten anpasst und in bestimmen Bezirken wie etwa Prenzlauer Berg mit über 15 Euro pro Quadratmeter fast schon an Münchner Dimensionen heranreicht. Angetrieben wird sie durch „Mietanpassungen“ von verschiedenen Grundstücks- und Immobiliengesellschaften, denen in den nuller und zehner Jahren das Ballhaus gehörte. Die letzte immerhin hat dem Theater eine „ziemlich gute“ Lüftungsanlage finanziert. Seit einem Jahr hat das Ballhaus allerdings wieder private Eigentümer, für die die finanzielle Verwertung der Immobilie weniger im Vordergrund steht. Schade dennoch, dass die Vorbesitzer weder das Ballhaus noch den Senat über die Verkaufsabsichten informiert haben: Langfristig wäre der Erwerb der Immobilie für Berlin sicher billiger gewesen. 45


planning security. The entire funding structure within Berlin’s Senate Department for Culture and Europe has been continuously restructured and adjusted over the last fifteen years. The budget for the independent arts community has nearly tripled and the funding instruments have been differentiated. The juries who make the decisions regarding which projects are included in which funding program and how much money they receive expressly ask applicants to submit budgets based upon fair wages, salaries and fees. These improvements are due to the tireless lobbying of the independent arts community and the individuals who are a part of it, but also to the conviction of the cultural policy makers and administrators that a vibrant, inventive and diverse artistic community is especially significant for a city like Berlin and that this can influence urban development, tourism as well as the real estate market. This brings both advantages and disadvantages: a location for the arts like Uferstudios causes cafés and restaurants to sprout up in the vicinity, makes the residential area more attractive for a different clientele and may change the diverse proletarian Turkish-Arab-German population structure of the neighborhood. It becomes a motor of gentrification, a development that many artists view critically, even if they are themselves a part of it. The independent performing arts venues in Berlin each have their history, be it shorter or longer. Their financial models are also correspondingly different. Can the developments of the past years really be told as the story of financial gains, professionalization and institutionalization? Or are pitfalls and obstacles hidden behind these respective financial models that again darken the rosy image? For its tenth birthday, Ballhaus Ost conducted a “theatrical real estate experiment” in the Prenzlauer Berg neighborhood, which is notorious for hipsters and yuppies. Under the title “Hotel Berlin”, the artistic team invited its audience to spend the night in six rough but 46

individually designed floors and performed “as an example, how a theater can market its artistic capital in order to secure its own continued existence despite massively rising rents.” Looking back, the project not only heralded an entire series of productions that dealt with the problem of the displacement of precarious and low income tenants from the districts of the inner city. There were also, of course, very good reasons to talk a ­ bout precisely this topic at Ballhaus Ost. After all, the crooked rear building of the brick complex which was primarily renovated by its users and which was constructed in 1907 as the funeral hall of the free religious community, used as a cafeteria for workers in the area under the name “Casino des Handwerks” during the GDR era and used as a pool hall and club location after the Fall of the Berlin Wall has been subject to a graduated rental agreement since its founding as a place for experimental theater in 2006. “In the last ten years alone”, says Daniel Schrader, who has run B ­ allhaus Ost together with Tina Pfurr since 2011, “our rent has doubled”. In the first years, the Ballhaus Ost team had to cofinance its own rental costs by using the space to host company parties. “We are very happy that we no longer have to dabble in the event industry!” says Schrader. In the meantime, the artistically successful Ballhaus Ost (this year one of its productions, “Name her”, has even been invited to the “Berlin Theatertreffen” festival) receives funding through the four-year concept funding program. This means that Ballhaus Ost will receive 501,000 euros from the state each year through the end of 2023. The theater has to use nearly half of this, 240,000 euros, to pay its rent. Part of this is due to the development of rental prices in the German capital that, following the incredible 1990s, have now adjusted to those of other large cities and in certain areas, such as Prenzlauer Berg at 15 euros per square meter, have nearly reached those of Munich. This is driven by “rental adjustments” imposed by the various property


Stand für das Ballhaus-Team nie zur Debatte, sich angesichts dieser saftigen Miete nach einem neuen Ort umzusehen? Letztlich nicht, „wir schätzen gerade die relativ kleinen und unterschiedlichen Räume des Hauses, die uns inspirieren, Theater anders zu denken“, meint Daniel Schrader. „Und welche Alternativen gäbe es? Der Immobilienmarkt wird ja immer enger und teurer.“ – Was auf den ersten Blick vielleicht ein wenig unbeweglich wirkt, ist aber nicht von der Hand zu weisen: Natürlich nehmen Räume großen Einfluss auf die Kunst – und die Vielfalt der Orte, in denen die Freie Szene produziert, ist einer der Gründe dafür, dass ihre Kunst sich immer wieder signifikant von den Arbeiten an großen Häusern, insbesondere den oft am besten geförderten, repräsentativen Guckkastenbühnen aus dem 19. Jahrhundert unterscheidet. Anfang der nuller Jahre war es die Politik des ­damaligen Finanzsenators Thilo Sarrazin, durch Verkauf und Versteigerung möglichst vieler landeseigener Liegenschaften den maroden Berliner Haushalt zu sanieren. Inzwischen hat sich dieser Trend wieder umgekehrt, gerade mit Blick auf Kulturinstitutionen versucht das Land Berlin, Immobilien abzusichern oder zu erwerben. Berlins größte freie Spielstätte, das internationale Produktionshaus HAU Hebbel am Ufer, verfügt mit dem Hebbel-Theater (HAU1) in der Stresemannstraße und dem ehemaligen Theater am Halleschen Ufer (HAU2) über zwei landeseigene Spielstätten im Bezirk Kreuzberg; die dritte, das HAU3 in anderthalb Hinterhäusern am Tempelhofer Ufer, befindet sich in Privatbesitz. Auch hier konnte man lange an den unterschiedlichen Mietbeträgen die Situation am Immobilienmarkt ablesen: Während das HAU an die landeseigene Berliner Immobiliengesellschaft (BIM) für die beiden großen Bühnen zusammen jährlich 328.000 Euro bezahlte, kostete das deutlich kleinere HAU3 289.000 Euro. 2019 wurden aber auch die Mieten der landeseigenen Liegenschaften an den Markt angeglichen, so dass die

Gesamt­miete nun jährlich 1.057.000 Euro beträgt (davon 725.000 Euro an die BIM, aus Sicht der Berliner Stadtverwaltung also „­durchlaufende Posten“). Hinzu kommt aktuell und hoffentlich auch zukünftig ein digitales HAU4. Auch für das Ballhaus Naunynstraße, dem die heutige Gorki-Intendantin Shermin Langhoff mit „­postmigrantischen“ Themen und Allianzen zwischen 2008 und 2013 zu überregionalem Fame verhalf, ist die Gebäudemiete nicht das drängendste Thema. Seit 2014 baut der künstlerische Leiter Wagner Carvalho, der außerdem dem gemeinnützigen Träger Kultur­ sprünge gGmbH vorsteht, das Haus weiter als Produktionsstätte mit einem Repertoire insbesondere von Künstler:innen of Color, Schwarzen Künstler:innen, queeren P ­ rotagonist:innen und mit postmigrantischen Perspektiven sowie professionell angeleitetem ­Jugendund „Autodidakten“-Theater aus. Das frühere Tanzlokal wurde Anfang der 1980er Jahre zum bezirksgeförderten Kulturzentrum; seit 2020 wird es von der BIM verwaltet (Miete 374.000 Euro jährlich). Probenräume muss das Haus zusätzlich anmieten, weil im Ballhaus selbst kein Platz dafür ist; dafür konnten mit einem Zuschuss von 380.000 Euro der Lottostiftung 2019/20 Teile der technischen Ausstattung des Hauses erneuert werden. „Und unsere Lüftungsanlage ist so gut wie die der Staatsoper“, freut sich Carvalho. Aber es gibt auch noch dritte Wege zwischen Landesimmobilien und Privateigentum. Die kleine, freie Spielstätte Acker Stadt Palast mit dem Schwerpunkt Tanz und Neue Musik hat zusammen mit dem Berliner Schokoladen und dem Club der polnischen Versager das Gebäude in der Ackerstraße 169 zur Erbpacht übertragen bekommen – „auf hundert Jahre mit Option auf hundertjährige Verlängerung!“, freut sich die künstlerische Leiterin Anete Colacioppo. Ihre Wurzeln hat die alternative Projektgemeinschaft im kreativen Chaos der Wendezeit: 1990 besetzten und renovierten Studierende und Künstler:innen die ehemalige Schokoladenfabrik, 47


development and real estate companies that owned the building in the 2000s and 2010s. The last one at least financed a “pretty good” ventilation system for the theater. Since one year, Ballhaus Ost once again has a private owner for whom the financial exploitation of the property is less of a priority. It is, however, still quite regrettable that the previous owner informed neither the Ballhaus Ost team nor Berlin’s Senate about their intention to sell the property: in the long-term, it certainly would have been less expensive for Berlin to have bought the property. Has the Ballhaus Ost team ever thought about moving to a new location due to the high rent? U ­ ltimately not, since “we really like the relatively small and different spaces in the building that inspire us to think about theater differently”, says Daniel Schrader. “And what alternatives are there? The real estate market keeps getting smaller and more expensive.” What may seem a little inflexible at first cannot be denied: of course spaces have a huge influence on art, and the diversity of the locations in which the independent performing arts community produces is one of the reasons why its art is always significantly different than the work created by larger institutions, especially the representative proscenium stages from the 19th century which are often the best funded. At the beginning of the 2000s, the policy of the finance senator, Thilo Sarrazin, was to consolidate Berlin’s ailing budget by selling and auctioning off as many state-owned properties as possible. This trend has now been reversed and, especially in view of cultural institutions, the state of Berlin is now trying to secure or purchase real estate. Berlin’s largest independent performing arts venue, the international production house HAU Hebbel am Ufer, has two state-owned stages with Hebbel-Theater (HAU1) on Stresemannstraße and the former Theater am Halleschen Ufer (HAU2); its third venue, HAU3, in one-and-a-half rear buildings on Tempelhofer Ufer, 48

has a private owner. Here as well, one has long since been able to read the situation of the real estate market by looking at the various rents: while HAU pays the ­state-owned real estate company Berliner Immobilien­ gesellschaft (BIM) a total of 328,000 euros per year for the two larger stages, the significantly smaller HAU3 costs 289,000 euros. In 2019, the rents for state-owned properties were adjusted to the market, so that the total annual rent now amounts to 1,057,000 euros (725,000 euros of this goes to BIM, which is seen by Berlin’s municipal administration as a transitory item on the balance sheet). At the moment, and hopefully in the future as well, there is also a digital venue, HAU4. For Ballhaus Naunynstraße as well, which helped Shermin Langhoff, today the artistic director of the Maxim Gorki Theater, achieve international fame with postmigratory topics and alliances between 2008 and 2013, rent is also not the most pressing topic. Since 2014, the artistic director Wagner Carvalho, who also heads up the not-for-profit organization behind the theater, Kultursprünge gGmbH, has continued to expand it as a production house with a repertoire especially focusing on artists of color, Black artists, queer ­protagonists and postmigratory perspectives as well as a professionally led youth theater and theater for ­autodidacts. This former dance hall became a cultural center funded by the district of Kreuzberg at the beginning of the 1980s and has been managed by BIM since 2020 (the rent is 374,000 euros per year). Rehearsal spaces must be rented on top of this as there is no room at Ballhaus Naunynstraße and a 380,000 euro grant from Berlin’s Lottery Foundation in 2019/2020 allowed some of the technical equipment to be updated. “And our ventilation system is as good as the one at the ­Staatsoper”, says Carvalho. There is also a third path between real estate owned by the city and private property. The small independent performing arts venue Acker Stadt Palast with a focus on dance and new music has, together with


luden Indiebands und Lesebühnen in den Verein ­Schokoladen; 1999 zog das Orphtheater im Hinter­hof ein. Seit 1993 versuchte der Besitzer des Gebäudes, den Mieter:innen zu kündigen – bis 2012 auf Vermittlung des Senats die Schweizer Edith Maryon Stiftung einsprang und das Gebäude erwarb. „Oberstes Ziel der Stiftung Edith Maryon ist es, Grundstücke oder Liegenschaften dauerhaft der Spekulation zu entziehen, sozialverträglich zu nutzen und zur Verfügung zu stellen“, heißt die frohe Botschaft auf der Website der Stiftung, die neben weiteren Kultur- und Sozialprojekten auch das Delphi-Theater und die Halle Tanzbühne Berlin der Compagnie Toula Limnaios zu ihren Berliner Liegenschaften zählt. Ganz umsonst ist allerdings auch die Erbpacht im Acker Stadt Palast nicht – aber mit unter 2000 Euro monatlich vergleichsweise ein Schnäppchen. Als Matthias Lilienthal 2003 die drei Spielstätten im Norden Kreuzbergs übernahm, um daraus das Produktionshaus HAU zu entwickeln, bombardierte das neue Theater gleich in der ersten Spielzeit die Hauptstadt mit siebzig Premieren. Gewuppt wurde das Großaufgebot mit einem minimalistischen Stab von rund 27 festangestellten Mitarbeiter:innen sowie einer großen Zahl von Freelancern quer durch alle Bereiche (Technik, Produktion, Dramaturgie, bis in die Verwaltung); bezuschusst wurde das HAU damals mit rund 4,1 Millionen Euro. Heute erhält das HAU Hebbel am Ufer unter der künstlerischen Leitung von Annemie Vanackere rund 8,6 Mio. Euro vom Land Berlin, hinzu kommen jährlich etwas über eine halbe Million über das von der ­Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters geförderte Bündnis internationaler Produktionshäuser, vorerst befristet bis 2022, sowie ca. 750.000 Euro vom Hauptstadtkulturfonds, die zweckgebunden für das Festival „Tanz im August“ sind. Entsprechend ist auch der Stellenplan gewachsen: Verwaltungsleiter Lars Zühlke spricht von „83 Köpfen“ inklusive Praktikant:innen auf der Payroll, tatsächlich

sind davon aber nur 55 volle, seit 2018 an den TV-L (Tarifvertrag öffentlicher Dienst) angelehnte Stellen (2017 waren es noch 36). „Dass sich die Zuschüsse für das HAU in den letzten acht Jahren verdoppelt haben, heißt nicht, dass wir jetzt überfinanziert sind“, erklärt Annemie Vanackere. „Aber wir befinden uns im Übergang von einer strikt projektbasierten Struktur hin zu einem Haus mit festen Kosten und fair bezahlten Angestellten.“ So konnte mit der in der Freien Szene leider vielfach üblichen Freelancerstruktur gebrochen werden. Diese Entwicklung gehe auf hartnäckige Lobbyarbeit „von uns und vom LAFT“ zurück, bis der rot-rot-grüne Senat sich die Forderung zu eigen gemacht habe, auch im freien Theaterbereich „sozialverträgliche Arbeitsverhältnisse“ zu schaffen. Für das Gros der Freien Szene aber sind feste Stellen oft noch der Bereich, wo sich am leichtesten sparen lässt. Anete Colacioppo betreibt den Acker Stadt Palast mit ingesamt drei Teilzeitstellen und muss als Mutter zweier Kinder noch in einem Nebenjob dazuverdienen. Das Ballhaus Ost, eine der produktivsten freien Spielstätten, hat normalerweise zehn feste Stellen (zwei künstlerische Leiter:innen, eine für Programm/ Presse, eine Technische Leitung, ein Techniker, zwei Technikhelfer und eine Servicekraft an der Bar, zwei für die Abendkasse), von denen zur Zeit nur acht besetzt sind, weil die Minijobs an der Abendkasse gekündigt haben. In Vollzeitstellen ausgedrückt macht das sogar nur 6,25 Stellen. Das mit 900.000 Euro (plus Miete) vom Land und 103.000 Euro vom Bezirk deutlich höher bezuschusste Ballhaus Naunynstraße kann fünf Stellen in der Technik, dreieinhalb in der Verwaltung, drei im Bereich künst­ lerische Leitung, Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit besetzen sowie eine Reihe Minijobs beim Einlass und an der Kasse. Anders als im HAU werden auch hier die Angestellten nicht TVL-konform bezahlt, sondern erhalten ein Gehalt knapp über dem Mindestlohn. „Gemessen am Arbeitspensum“, erklärt Wagner 49


Schokoladen and Club der polnischen Versager, ­received a leasehold agreement for the building at Ackerstraße 169: “for one hundred years with an option for an extension of another hundred years!”, says artistic director Anete Colacioppo. This alternative project community has its roots in the creative chaos of the years following the Fall of the Berlin Wall: in 1990, students and artists squatted the former chocolate factory, invited indie bands and public readings to the Schokoladen association and Orphtheater moved into the rear courtyard in 1999. The owner of the building had attempted to evict the tenants since 1993 until the Swiss Edith Maryon Foundation jumped in at the urging of Berlin’s Senate in 2012 and purchased the building. “The primary goal of the Edith Maryon Foundation is to permanently remove properties or real estate from speculation, use them in a socially sustainable manner and make them available for this use” is the cheery message found on the foundation’s website, which, alongside additional cultural and social projects, also counts the Delphi theater and Halle Tanzbühne Berlin used by Compagnie Toula Limnaios amongst the properties it owns in Berlin. The leasehold agreement for Acker Stadt Palast is, however, not completely free of charge, but it is, at less than 2,000 euros per month, a comparative bargain. When Matthias Lilienthal took over the three venues in northern Kreuzberg in 2003 to develop them into the production house HAU, this new theater proceeded to bombard the German capital with seventy premieres in its first season. This massive output was handled by a minimal team of some 27 formal employees and a large number of freelancers working in all areas (theater technology, production, dramaturgy, even administration) and HAU received 4.1 million euros a year in funding at the time. Today, HAU Hebbel am Ufer is under the artistic direction of Annemie Vanackere and receives some 8.6 million euros per year from the state of Berlin, an additional half a million euros per year from the 50

Alliance of International Production Houses funded by the German Federal Government Commissioner for Culture and the Media, Monika Grütters, initially until the end of 2022, as well as some 750,000 euros per year from Hauptstadtkulturfonds which is specifically for the festival “Tanz im August”. The number of employees has also increased correspondingly: director of administration Lars Zühlke speaks of “83 people”, including interns, currently on the payroll; only 55 of them are employed full-time in positions that are oriented around TV-L (the tariff agreement for public service). In 2017, the number was 36. “The fact that the funding for HAU has doubled over the last eight years does not mean that we are overfunded”, says Annemie Vanackere. “But we are finding ourselves transitioning from a strictly project-based structure to an institution with fixed costs and fairly paid employees.” This has allowed a break to be made from the freelancer structure that is unfortunately much too common in the independent performing arts community. This development is due to persistent lobbying “by us and by LAFT”, until Berlin’s current governing coalition adopted the demand for “socially sustainable working conditions” in the independent performing arts sector as well. For the majority of the community, however, formally employed positions are often still the area where it is easiest to save on costs. Anete Colacioppo runs Acker Stadt Palast with a total of three part-time positions and, as the mother of two children, still has to work a second job. Ballhaus Ost, one of the most productive independent performing arts venues, normally has ten positions (two artistic directors, a ­position for programming and PR, a technical director, a ­technician, two technical assistants, a position for the bar and two positions for the box office) of which only eight are currently filled as the two box office positions, both part-time, recently quit. This is the equivalent of 6.25 full-time positions.


­ arvalho, „ist das eine relativ kleine Anzahl von festen C Stellen. Ein großer Teil der Arbeit wird von projektbezogen beauftragten Künstler:innen erbracht, die ein Honorar erhalten. Für die nicht-künstlerischen Aufgaben müssen wir die Mitarbeiter:innen anstellen, da sie in den Betrieb integriert und weisungsgebunden sind. Hier gilt es, eine Vielzahl von gesetzlichen Regeln einzuhalten. Ohne diese nicht-künstlerische Arbeit wäre zudem die künstlerische Arbeit auf der Bühne gar nicht möglich.“ Laut Wagner Carvalho ist das Ballhaus unterfinanziert, denn ihm fehlen 350.000 Euro an eigenen Produk­tionsmitteln. Die zehn Produktionen, die das Ballhaus Naunynstraße jährlich an rund 110 Spieltagen herausbringt, müssen allesamt klassisch über Drittmittel finanziert werden, also durch Anträge der Künstler:innen bei der Einzel- und spartenübergreifenden Förderung des Senats, beim Hauptstadtkulturfonds, beim Fonds Darstellende Künste sowie weiteren Stiftungen. „Wie ­viele dieser Projekte am Ende bewilligt werden, ist nur schwer vorauszusehen“, meint Carvalho. „­Ausgerechnet 2020 wurde fast alles bewilligt, was wir beantragt hatten – und wir konnten coronabedingt fast nichts realisieren. Wir mussten fünf finanzierte Projekte absagen, zehn Projekte, darunter zwei Festivals, ­verschieben.“ Das Ballhaus baut außerdem mit seinen Produktionen ein Repertoire auf; die Wiederaufnahmen finanziert es selbst. Auch die Vierte Welt kennt das Vabanque-Spiel mit den Projektanträgen natürlich und hatte just im ­Corona-Jahr das Pech, Glück zu haben. Welche der sechs geförderten Projekte externer Künstler:innen tatsächlich stattfinden können, ist noch unklar. Aus ihrer zweijährigen Spielstättenförderung à 90.000 Euro geben sie 20.000 Euro als Produktionsmittel frei. Cieslak und Hardegen, die von der Vierten Welt nicht leben könnten, sehen sich auf der Grenze von Kunst und Aktivismus, wollen „ein öffentliches D ­ enken und Sprechen“ etablieren, das emanzipatorisch,

politisch und antirassistisch ist. Sie setzen inzwischen weniger auf Sprechtheater als auf diskursive Reihen, die beispielsweise aus dem Förderinstrument City Tax bezuschusst werden, oder auf die performative ­Verbindung von Wissenschaft und Kunst wie in der Reihe „Toter ­Winkel“. Der Acker Stadt Palast erhält ebenfalls eine zweijährige Spielstättenförderung à 100.000 Euro, die auch Produktionsmittel in Höhe von zwei mal 5000 Euro einschließt. Die rund vierzig verschiedenen Gruppen, die unter normalen Umständen jährlich vor rund fünfzig bis sechzig Zuschauer:innen im Acker Stadt Palast auftreten, sind jedoch meistens nicht gefördert: Sie sind jung, hochprofessionell, finanzieren sich aus den Abendeinnahmen und kleinen Beiträgen der initiative neue musik berlin. Anete Colacioppo, die in den neunziger Jahren in Brasilien Schauspiel studierte und 2002 nach Berlin kam, träumt davon, den Künstler:innen wenigstens eine Abendgage zahlen zu können –  und vielleicht auch selbst mal wieder Theater zu machen. Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad freier ­Künstler:innen und Gruppen greifen auch die überregionalen und internationalen Netzwerke freier Spielstätten und Produktionshäuser. Das HAU, aber auch das Ballhaus Ost engagieren sich in Kooperationen und Koproduktionen mit anderen Häusern und Festivals, die das Touring von Inszenierungen ermöglichen und das finanzielle Engagement auf mehrere Schultern verteilen. Das Ballhaus Ost (ko-)produziert ohne eigene Programmmittel jährlich rund dreißig Inszenierungen, wobei der eigene Beitrag zumeist im Zur-Verfügung-­ Stellen der Spielstätte besteht. Gastspiele sind verhältnismäßig teuer und müssen, wenn die Mindestgagensätze des NPN (­Nationales Performance Netzwerk) berücksichtigt werden, je nach Größe der Produktion mit rund 5000 Euro pro Vorstellung kalkuliert werden. Mit seinen 200 Vorstellungen im Jahr vor 9000 Zuschauer:innen erzielt das Haus in der Pappelallee Ticket-­ Einnahmen in Höhe von rund 70.000 Euro. 51


Ballhaus Naunynstraße, which receives signifi­cantly more funding (900,000 euros plus rent from the state of Berlin and 103,000 from the district of Friedrichshain-­ Kreuzberg), has five technical staff positions, three-anda-half administrative staff positions, three for the fields of artistic direction, dramaturgy and PR as well as several so-called mini jobs for house management and box office. In contrast to HAU, the employees are not paid in conformity with TVL; instead, they receive a salary just above minimum wage. “In comparison to the workload”, says Wagner Carvalho, “it’s a relatively small number of positions. A majority of the work is conducted by artists hired on a project basis who receive a fee. We have to formally employee people for non-artistic tasks so that they are integrated within the theater and subject to instructions. Here we have to comply with a number of legal regulations. In addition, the artistic work on stage would not even be possible without this non-artistic work.” Carvalho says that Ballhaus Naunynstraße is under financed, lacking 350,000 euros per year in its production budget. The ten productions the theater produces each year which make up a total of some 110 performances all have to be financed in the classic manner with third-party funding, meaning that the artists apply for the individual project funding and multi-sector funding programs of Berlin’s Senate Department for Culture and Europe, Hauptstadtkulturfonds, Fonds Darstellende Künste and other foundations. “It is very difficult to predict how many of these projects will ultimately be funded”, says Carvalho. “Ironically, in 2020 we received funding for nearly every project application and were able to realize almost nothing due to the coronavirus pandemic. We had to turn down five financed projects and postpone ten more projects, including two festivals.” Ballhaus Naunynstraße has also created a repertoire of its productions and finances the additional performances of existing work itself. 52

Vierte Welt, of course, is also well aware of the risky game of project applications and had the bad luck to have good luck in 2020, the so-called “coronavirus year”. It is still unclear which of the six funded projects of external artists will actually be able to take place. They allocate 20,000 euros of the 90,000 they receive from the two-year funding program for performance venues as a production budget. Cieslak and Hardegen are unable to live from their payments from Vierte Welt and see themselves at the border between art and activism, seeking to establish “a public thinking and speaking” that is emancipatory, political and antiracist. They now concentrate less on spoken word theater than on discursive series that, for example, can be financed by the ­multi-sector project funding, or on the performative connection between science and art, as in the series “Toter Winkel”, or Blind Spot. Acker Stadt Palast also receives 100,000 euros per year from the two-year funding program for ­performance venues, which includes two production budgets of 5,000 euros apiece. The forty or so different groups that perform for fifty to sixty audience members at Acker Stadt Palast under regular conditions mostly do not receive funding: they are young, highly ­professional and finance their work from splitting the proceeds from the box office and small sums provided by the association initiative neue musik. Anete ­Colacioppo, who studied acting in Brazil in the 1990s and moved to Berlin in 2002, dreams of being able to pay the artists an evening performance fee, at the very least, and perhaps also of being able to make theater herself again. Once they have achieved a certain level of ­recognition, independent artists and groups begin to work within the national and international networks of independent performance venues and production houses. HAU as well as Ballhaus Ost participate in cooperations and coproductions with other institutions


Das HAU hingegen kommt an seinen drei Spielstätten mit um die 65000 Zuschauer:innen auf über 600.000 Euro Eigeneinnahmen. Es kann inzwischen auch eigene Produktionsmittel einsetzen; trotzdem muss die Programmfinanzierung gemischt bleiben aus Dritt- und Eigenmitteln. Die 2021 zum Berliner Theatertreffen eingeladene Streaming-Produktion „Show Me A Good Time“ von der dem HAU verbundenen Performancegruppe Gob Squad etwa wurde trotz entsprechender Anträge nicht aus Drittmitteln gefördert, so dass das HAU die Finanzierung übernahm. Auch Festivals und Wiederaufnahmen kann das HAU notfalls aus eigenem Budget bestreiten; dennoch bleiben Hauptstadtkulturfonds und Kulturstiftung des Bundes, Einzelprojektförderung und Wiederaufnahmefonds für die Künstler:innen am HAU wichtige Finanzierungsquellen. Die Berliner Freie Szene – also doch eine Erfolgs­ geschichte, gerade auch im überregionalen und internationalen Vergleich? „Ich glaube, auf diese Frage gibt es drei verschiedene Antworten“, sagt HAU-Intendantin Annemie Vanackere. „Das Theater in Deutschland gehört ganz klar zu den am besten geförderten der Welt. Auf Deutschland allein bezogen, sind wir Produktionshäuser finanziell in der Tat sehr viel besser aufgestellt als vor ein paar Jahren, aber – und das wäre die zweite Antwort – es klafft nach wie vor eine große Lücke zwischen der traditionellen Kulturinfrastruktur und der Freien Szene. Die Bereitschaft, diese Lücke zu schließen, halte ich insgesamt für nicht sehr groß. Gleichwohl hat drittens die rot-rot-grüne Regierung in Berlin wirklich viel auf den Weg gebracht. Ich merke das auch im Vergleich mit den anderen Produktionshäusern im Bündnis, die teilweise gut ausgestattet sind, aber in ihren Städten nur mit einer viel kleineren Szene von Künstler:innen zusammenarbeiten können. Berlin hat auch deshalb die größte und lebendigste Freie Szene Deutschlands, weil sie ein anerkannter Wirtschaftsfaktor für die Stadt ist und die Stadt diesem Umstand strukturell und finanziell ­Rechnung trägt.“ Letzteres tut sie – es ist eine Binse,

aber man sollte es nicht vergessen –  in vielen anderen Wirtschaftsbereichen wie Bau, Verkehr etc. allerdings in weitaus größerem U ­ mfang. Im Vergleich zu anderen Sparten wie Literatur, bildende Kunst und teilweise auch Musik erhalten die darstellenden Künste in Berlin tatsächlich mit Abstand die meisten Zuschüsse – wobei davon der weitaus größte Förderanteil auf die traditionelle Berliner Kultur­ infrastruktur mit Opernstiftung, Konzerthäusern und Ensembletheatern entfällt. Darauf bezogen machen die Zuschüsse für die Freie Szene tatsächlich immer noch nur einen Bruchteil aus. Mit Blick auf die Pandemie seit dem Frühling 2020 kann man daher nur von Glück reden, dass deren Institutionalisierung begonnen hat.

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and festivals that make it possible for productions to tour and distribute the financial commitments amongst multiple partners. Ballhaus Ost coproduces some thirty productions per year and has no production budget for this; its contribution is generally in-kind by providing the use of the stage. Guest performances are comparatively expensive and, in order to take the minimum fees of the Nationales Performance Network (National Performance Network, or NPN) into account, around 5,000 euros must be calculated per performance, depending on the size of the production. By offering about 200 performances per year to 9,000 audience members, the theater on ­Pappelallee brings in about 70,000 euros per year from selling tickets. HAU, on the other hand, welcomes around 65,000 audiences to its three performance venues each year, earning more than 600,000 euros in ticket sales. It can now provide its own production budget for some work, but the overall financing for its programming remains a mixture between third-party funding and its own resources. The streaming production “Show Me A Good Time” by Gob Squad, a performance group that is affiliated with HAU and which was invited to the 2021 “Berlin Theatertreffen” festival, applied for third-party funding but did not receive it, forcing HAU to cover the financing. HAU can also finance festivals and presentations of existing work when it absolutely has to out of its own budget, but the Hauptstadtkulturfonds and the German Federal Cultural Foundation, as well as the individual project funding and funding for presentation of existing work programs remain important sources of financing for the artists working at HAU. Berlin’s independent performing arts community: is it then a success story after all, especially in terms of a national and international comparison? “I think there are three different answers to this question”, says HAU’s artistic director, Annemie Vanackere. “Theater in ­Germany is very clearly some of the best funded theater 54

in the world. Even looking solely at Germany, production houses like us are, in fact, in a much better funding situation than we were a few years ago, but, and this is the second answer, there continues to be a tremendous gap between the traditional cultural infrastructure and the independent performing arts community. All in all, I don’t see a lot of willingness to close this gap. At the same time, and as the third answer, the current ­governing coalition in Berlin really has achieved a great deal. I can also see that in comparison with the other production houses in our alliance, who are, in part, also well financed, but are only able to work with a much smaller community of artists in their respective cities. Berlin also has the largest and most vibrant independent performing arts community in Germany because it is a recognized economic factor for the city and the city takes this fact into account both structurally and ­financially.” This is true, but it also should not be forgotten that it also does so to a much greater extent in other e ­ conomic areas such as construction, transportation, et cetera. In comparison to other genres such as literature, visual arts and, in part, music, the performing arts do receive by far the most funding, whereby the majority of these funds go to the traditional cultural infrastructure of Berlin with the opera foundation, concert houses and state and municipal theaters. Compared to this, the funding for the independent performing arts community makes up only a small fraction of the total. In light of the pandemic that began in the spring of 2020, it is extremely fortunate that its professionalization has begun.

„Fête de la Zik“, Centre Français de Berlin, 2019. © Margot Tracq


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„Scooter“ am Haus der Statistik; Terpsichore, 2020. © Jörg F. Klam – Photostudio Klam Berlin

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„Open Up, PAF!“, Eröffnung des Performing Arts Festival Berlin 2018 im SO36. © Paula Reissig

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Patrick Wildermann

Entdeckungen und Visitenkarten Die Überforderung des Publikums ist beim „Performing Arts Festival“ Programm Als das Festival noch „100° Berlin“ hieß, lautete das Prinzip so schlicht wie einleuchtend: Overkill. Als „Vier-Tage-Marathon des freien Theaters“ (allerdings ohne performative Langstrecken mit sinnstiftender Ziellinienaussicht) verstand sich das Festival als ein zumeist gut gelauntes Happening mit schon logistisch überforderndem Parallelprogramm im HAU Hebbel am Ufer und in den Sophiensælen (ab 2014 kamen noch das Ballhaus Ost und der Theaterdiscounter dazu). In der Regel meldeten sich pro Ausgabe mindestens 150 Gruppen und Künstler:innen an, und weil der Markenkern der Veranstaltung ihre extreme Niedrigschwelligkeit war, sortierte dabei eben auch keine schützende kuratierende Hand zwischen Mindestkunstanspruch und Hobbyunternehmung. Was zu einer nicht selten reibungsreichen Gleichzeitigkeit von Newcomer-­ Highlights und Haarsträubendem geführt hat. Bei „100° Berlin“ konnte man sich nie sicher sein: Wartet hinter der nächsten Saaltür das Kammerorchester im Frack oder die dosenbierbedröhnte Death-Metal-­Combo, die einem Schweineblut in den Schoß kippt? Das hatte zwar seinen Reiz, war aber nur bedingt repräsentativ – für die Szene wie für die Stadt. Also stand eine Reform an. Wobei die Verwandlung der Veranstaltung in das „Performing Arts Festival“ (PAF) 2016 weder hinsichtlich des Profils noch des ­ Programms eine Revolution von Grund auf bedeutete. Sie markierte vielmehr den Versuch einer Professionalisierung bei fortbestehender Programmfülle: Overkill minus Dilettantismus.

Wozu gehört, dass die beteiligten Spielstätten jetzt selbst entscheiden durften, was sie zeigen wollten, statt einfach die Bühne freizugeben. Aus radikaldemokratischer Sicht und mit der Erfahrung von dreizehn anarchischen Jahren „100° Berlin“ eine durchaus befragbare Neuerung. Ein weiterer wichtiger Punkt der Konzeptrenovierung: die Einrichtung einer Nachwuchsplattform, „Introducing …“ genannt, über deren Nominierung ein kuratorisches Board aus Vertreter:innen der freien Produktionshäuser bestimmt. Warum damals so entschieden wurde, liegt auf der Hand. Es schien politisch unvorteilhaft, dass die Freie Szene (in ihrer Gesamtheit ja ohnehin kaum abzubilden) mit einem Dilettantenstadl verwechselt werden könnte, in dem alle und jede:r auftreten dürfen. Schließlich fiel die Implementierung des PAF nicht von ungefähr mit einem wichtigen Punktsieg der Koalition der Freien Szene zu­sammen: Es floss jetzt, nach jahrelangem Kampf (in dem nicht zuletzt mit der eigenen Bedeutung als Wirtschafts­ faktor und Tourismusmagnet argumentiert worden war), tatsächlich Geld aus der City Tax an freie Gruppen und Künstler:innen aller Genres. Die „­spartenoffene Förderung“ wurde vom Kultursenat neu geschaffen. Ging es also darum, nach Vorbild des Gallery Weekends eine marktgängige Ästhetik ins Schaufenster zu stellen, die diese Mittel heiligen sollte? Weg von der „100° Berlin“Wundertüte hin zur PAF-­Präsentations­mappe, voll mit inflationären Vokabeln wie Internationalisierung und zugleich andockfähig für kuratierende Showcase-­ Tourist:innen zwischen Caracas und ­Castrop-Rauxel?

Festivalzentrum in der Alten Münze, Performing Arts Festival Berlin, 2017. © David Beecroft

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Patrick Wildermann

Discoveries and Business Cards Overwhelming the Audience is ­Completely Intentional During the “Berlin Performing Arts Festival”­ When the festival was still called “100° Berlin”, the idea was as simple as it was illuminating: overkill. As a “four-day marathon of independent theater” (without, however, any performative long-distance events with an inspiring view of the finish line), the festival saw itself as a mostly cheerful happening with overwhelming logistics and events taking place simultaneously at HAU Hebbel am Ufer and Sophiensæle (Ballhaus Ost and Theaterdiscounter joined in starting in 2014). At least 150 groups and artists would usually register for each edition and, since the quintessence of the festival was its extremely low threshold for ­participation, there was no protective curatorial hand to differentiate between the bare minimum of artistic standards and the simple pursuit of a hobby. This led to a not uncommon simultaneity of newcomer highlights and things that made your hair stand on end. During “100° Berlin”, you could never be certain: was there a chamber orchestra in evening attire waiting behind the next auditorium door or a death metal combo chugging beer from cans who were going to pour pig’s blood into your lap? While this did have its charm, it was only representative in part, for the independent performing arts community as well as for the city. A reform was needed. The transformation of the event into the “Berlin Performing Arts Festival” (PAF) in 2016, however, was not a radical transformation, neither in terms of the profile nor in terms of the schedule of 60

programming. Instead, it marked an attempt at ­professionalization while retaining the abundance of programming: overkill minus dilettantism. Part of this was conducted by allowing the ­participating performance venues to choose for themselves what they wanted to present instead of simply opening their stages. From a radically democratic perspective and with the experience of thirteen anarchic years of “100° Berlin”, this was a thoroughly questionable change. Another important point in the renovation of the concept was the establishment of a newcomer’s ­platform, called “Introducing…”, whose schedule of programming was chosen by a curatorial board composed of members of independent producing institutions. It is obvious why this decision was made. It seemed politically disadvantageous for the Freie Szene, or independent performing arts community, which could scarcely be depicted in its entirety, anyway, to be able to be confused with a group of dilatants where everyone and everybody were allowed to perform. Ultimately, it was no coincidence that the implementation of PAF came at the same time as an important victory of the ­Koalition der Freien Szene, the Coalition of the Independent Arts: after many years of struggle (in which, amongst many other arguments, the community emphasized its significance as an economic factor and magnet for tourists), money from the so-called city tax on


Nach mittlerweile fünf PAF-Ausgaben lautet die Antwort: möglich – spielt aber keine Rolle mehr. Denn das Konzept ist aufgegangen. Der ästhetische ­Wildwuchs der Szene – so er denn eingehegt werden sollte – hat Resilienz bewiesen. Und, vielleicht am wichtigsten, das Festival hat eine Neuverortung vorgenommen, die tatsächlich eine stimmige Topografie des freien Produzierens ergibt. Die knapp sechzig Spielorte, an denen das Festival stattfindet, beglaubigen eben nicht nur die heterogene Vielfaltsspanne von Performance über Objektkunst, Musiktheater, Tanz und Installation bis hin zu Site-specific-Produktionen. Mit ihnen lässt sich eine Berlinkarte des freien Produzierens auffächern: zwischen Acker Stadt Palast und ZUsammenKUNFT, zwischen Holzmarkt und Theater Thikwa. Wohl auch deshalb haben sich die PAF-Macher:innen gleich 2016 entschlossen, die ausgreifende Geo­grafie fußläufig erfahrbar zu machen. Mit dem Format „Wanderwege“, das Exkursionen durch die Stadt und den Spielplan vorschlägt (bei in der Regel rund 120 Inszenierungen pro Ausgabe sind Orientierungsangebote selbst für ortskundige Performance-Meilen-Sammler hilfreich). Oder mit künstlerisch begleiteten Touren, bei denen Expert:innen vom Fach die Besucher:innen von Puppenspiel zu Neuem Zirkus geleiten – beim Debüt-PAF waren das unter anderem Steffen Klewar (copy & waste), Anna K. Becker (bigNOTWENDIGKEIT) oder Elisa Müller (Institut für Widerstand im Postfordismus). Im Gegensatz zu „100° Berlin“-Zeiten, als nur der tapfere Shuttle zwischen HAU Hebbel am Ufer und Sophiensælen verkehrte, vernetzt sich das PAF auf diese Weise sehr viel gründlicher mit der Stadt. Und öffnet obendrein noch individuelle Entdeckungsnischen im urbanen Raum, die ansonsten den Site-specific-Produktionen vorbehalten bleiben. Auch die sind ja ein integraler Part in jeder der telefonbuchdicken Programm­broschüren. In Erinnerung geblieben ist beispielsweise die Rikschafahrt, die das Kollektiv MS Schrittmacher 2016

unternommen hat. Schon das Gefährt war ein treff­ sicherer Kommentar zur aufblühenden Gig Economy. Es ging, mit Tablets ausgerüstet, durch die Berliner Mitte, vom Alex zur Staatsoper etwa, diesem Millionengrab mit prächtiger Akustik, während die Performer:innen auf dem Screen über das soziale Gefälle in der Kulturpolitik der Hauptstadt referierten. Räume, Geld und Gentrifizierung – das sind ja die Dauerbrennerthemen der Freien Szene. Erst jüngst, zum Auftakt des 2019er PAF, lud die Aktion „By Mushrooms“ von Yao Liao zu einer besonders stimmigen Variante des sozialkritischen Audiowalks ein. Im Allmende-Kontor, dem Gemeinschaftsgarten auf dem Tempelhofer Feld, wurden die Festivalgänger:innen mit Kopfhörern und Schaumstoffhelmen in Pilzform ausgestattet. Der Pilz ist nämlich ein besonders verträgliches Wesen und Vorbild in Sachen friedlicher Koexistenz. In Gemüsemontur ging es also durch den Schillerkiez, im Ohr die Stimmen von Anwohner:innen, die Verdrängungserfahrung durch steigende Mieten beschrieben. Mitten auf der Hermannstraße wurde dann eine Polonaise der Pilze veranstaltet – ein sinnfälliges Beispiel dafür, dass die Wege, neue Perspektiven auf alltägliche urbane Umgebungen zu erschließen, so vielfältig wie (manchmal) unergründlich sind. „Entdeckung“ – das ist ja überhaupt das Lieblingswort aller Festivalberichterstatter:innen (zu denen der Autor dieses Textes zählt). Früher musste man sich diesbezüglich allerdings nicht selten auf das Klangversprechen von Titeln verlassen: „Innenwelten oder Der Pudel in dir“; „Elena Ceaucescus Wunderkammer“; „Das sinnlose Projekt“; „Bohnen und Kartoffeln heute frisch – Briefe an die Politik“ – lauter Miniaturdramen schon in der Überschrift. Wobei es bei „100° Berlin“ selbstredend eine Menge echter Entdeckungen in den Schichten zwischen Trash und Tiefsinn zu machen gab: den Text „Weißbrotmusik“ einer damals noch nicht durchgesetzten Autorin namens Sasha Marianna ­Salzmann beispielsweise, die Point-&-Click-Adventures 61


­ vernight stays was going to independent groups and o artists working in all genres. A new funding instrument, ­spartenoffene Förderung, or multi-sector funding, was created by Berlin’s Senate Department for Culture and Europe. Was the idea, then, to showcase a marketable aesthetic to sanctify these funds, along the lines of Gallery Weekend? To move away from the “100° Berlin” grab bag model to the PAF presentation folder model, full of inflationary vocabulary like internationalization while at the same time making it a plausible stop for curatorial showcase tourists from Caracas to Castrop-Rauxel? After what is now five editions of PAF, the answer is: it’s possible, but it really doesn’t matter anymore. The concept has proven itself. The uncontrolled aesthetic proliferation of the community that was meant to have been contained has demonstrated resilience. And, perhaps most importantly, the festival has undertaken a repositioning that actually provides a coherent topography of independent producing. The nearly sixty performance locations at which the festival takes place attest not only to the heterogeneous range of diversity from performance to object art, music theater, dance and installation as well as site-specific productions. They also constitute a Berlin map of independent producing from Acker Stadt Palast to ZUsammenKUNFT, from Holzmarkt to Theater Thikwa. This is also why the creators of PAF decided in 2016 to make this expansive geography explorable by foot. They have done so with the format “Wanderwege”, or hiking trails, that suggest excursions throughout the city and the schedule of programming (with an average of some 120 productions per festival editions, anything that provides some orientation is helpful, even for local performance aficionados). There are also artistic guided tours, where experts accompany the visitors to ­everything from puppet theater to new circus. During the first edition of PAF, these guides included, amongst others, Steffen Klewar (copy & waste), Anna K. Becker 62

(­bigNOTWENDIGKEIT) and Elisa Müller (Institut für Widerstand im Postfordismus). In contrast to the era of “100° Berlin”, when there were only brave shuttle buses running between HAU Hebbel am Ufer and Sophiensæle, PAF networks itself with the city much more thoroughly using these methods. Moreover, it is able to open individual niches for discovery in urban space, something that is otherwise reserved for site-specific productions. These, of course, have also been an integral part of the program booklet for each edition of the festival (and every one of them has been as thick as a telephone book). One performance that sticks in the mind, for example, is the rickshaw trip that the collective MS Schrittmacher put together in 2016. Even the vehicle itself was an accurate commentary about the flourishing gig economy. Equipped with tablets, the passengers were driven through the center of Berlin, from Alexanderplatz to the Staatsoper, that money pit with splendid acoustics, while the performers on the screen referred to the social disparities in the cultural policy of the German capital. Space, money and gentrification, these are, after all, the perennial topics of Berlin’s independent performing arts community. More recently, to kick off the 2019 edition of PAF, Yao Liao’s project “By Mushrooms” provided an invitation to take part in an especially harmonious version of the sociocritical audio walk. In AllmendeKontor, the community garden on Tempelhofer Feld, the festivalgoers were provided headphones and mushroom shaped foam helmets. The mushroom is, in fact, an especially compatible creature and a role model when it comes to the topic of peaceful coexistence. The walk set out through the neighborhood of Schillerkiez with the participants wearing their fungus uniforms, their ears filled with the voices of the neighborhood’s r­ esidents describing their experiences of being displaced due to rising rents. In the middle of Hermannstraße, a polonaise dance of the mushrooms took place, an obvious example of the fact that the ways for gaining new


der Gruppe ­machina eX oder „Polis3000“, die über­ bordende Doku-­Satire des jungen Hildesheimer Duos Markus&Markus, das einen kabarettistischen Parforceritt durch den kruden Celebrity-Kosmos von Carsten Maschmeyer, Christian Wulff, Veronica Ferres & Co. veranstaltete, der auch Videobeweisbebilderung und die Kunst des Spontan-Vomierens vor Publikum mit einschloss. Zumindest die Tradition lockender Titel führt das PAF in Teilen weiter. Man denke nur an: „Schlager als Chance: In meiner Bluse platzt die Primel“ von Verena Unbehaun und Stefan Hillebrand (2016 im Theater­ discounter) oder die „Erotische Außenreinigung Ihres PKWs ohne Trocknung“ von Henrike Iglesias (2018 in den Sophiensælen). Die Entdeckungen allerdings finden mittlerweile auch etwas zielgerichteter statt. Dafür ist die oben schon erwähnte Reihe „Introducing …“ erfunden worden, die vor allem neuen Berliner Künstler:innen zu breiterer Sichtbarkeit verhelfen soll – was sich tatsächlich auch immer wieder einlöst. Zum Beispiel gab es hier die Frühform jener performativen Essays zu sehen, die der Künstler Oliver Zahn mittlerweile für sich perfektioniert hat. Gemeinsam mit Phoebe Wright-Spinks stellte er 2016 auf der Nachwuchsplattform „[Heimatlied]“ vor: die klug reflektierte Kulturgeschichte einer mündlich tradierten Volksweise aus dem Südmährischen, die im Laufe der Jahre mal „Flüchtlingslied“, mal „Fern der Heimat“ hieß – und die von einem Volkskundler mit Nazivergangenheit im Tonarchiv konserviert wurde. Schon „[Heimatlied]“ bewies, wie lässig Zahn theatrale Aktion und ihre simultane Infragestellung auf der miterzählten Reflexionsebene zu verbinden versteht. So funktionierte später auch die Inszenierung „­Situation mit Doppelgänger“, in der Zahn und der Kulturanthropologe Julian Warner Aneignungstechniken und Konstruktionen von Authentizität im Tanz am Beispiel des ­Twerking durchdeklinierten und -choreografierten. Ein Festivalhit – aber da schon in der renommierteren

und höher budgetierten Kategorie der Festivals „Impulse“ oder „Theaterformen“. Es geht beim PAF freilich nicht nur um Ent­deck­ ungen. Sondern auch um Visitenkarten. Gerade die Spielstätten und Produktionshäuser, die sich als „Leuchttürme“ der Szene verstehen, präsentieren im Festivalkontext regelmäßig Arbeiten von durchaus prominenten Künstler:innen und Gruppen, mit denen sie bereits langjährig verbunden sind. Das HAU Hebbel am Ufer programmiert zum Beispiel Gob Squad oder Rimini Protokoll, an den Sophiensælen performen Florentina Holzinger, das Kollektiv Henrike Iglesias oder eben Markus&Markus. Das ist nicht nur nachvollziehbar und ein unbestrittener Qualitätsboost fürs Festival, es produziert auch bereichernde Parallelitäten und ­Kontraste im Gesamtprogramm. Während der PAF-Ausgabe 2017 war im HAU Hebbel am Ufer die Konzertanordnung „Evros Walk Water“ von Daniel Wetzel/Rimini Protokoll zu erleben. Sie erzählt von fünfzehn Jugendlichen, die auf der Flucht aus Irak, Afghanistan oder Syrien unter Lebensgefahr den Evros überwunden haben, den Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland. Jetzt leben sie in einem Heim in Athen. Ihre Geschichten erzählen sie aber nicht in Form von mitleiderregenden Erfahrungsberichten, sondern auf der Folie der Avantgarde-Komposition „Water Walk“ von John Cage. Statt der Haushaltsgegenstände, die Cage in seinem Drei-Minuten-Stück anstelle von Instrumenten erklingen ließ, kommen dabei Objekte zum Einsatz, die mit dem Weg der geflüchteten Kids nach Europa verbunden sind. Und weil sie innerhalb der Festung Europa nicht reisen dürfen, sind die Zuschauer:innen aufgefordert, „Walk Water“ stellvertretend für die Jugendlichen zu reenacten. Ein beachtlicher Ansatz, Fluchterfahrung zu entgrenzen und jenseits von preiswerter Einfühlungsillusion andockfähig zu machen. In der gleichen Ausgabe war auch die Arbeit „Your Love Is Fire“ des syrischen Dramatikers Mudar Alhaggi zu sehen, im Theater im Aufbau Haus Kreuzberg 63


perspectives on everyday urban environments are as diverse as they are (sometimes) unfathomable. “Discovery”: this is definitely the favorite word of everyone who reports on the festival (and the author of this text also numbers amongst them). Previously, it was not uncommon to have to rely upon what was promised by the title to make these discoveries: “Interior Worlds or the Poodle in You”, “Elena Ceausescu’s Cabinet of Curiosities”, “The Senseless Project”, “Beans and Coffee Fresh Today – Letter to Politicians”, these titles alone constituted miniature dramas. With “100° Berlin”, there were a whole lot of true discoveries in the layers between trash and profundity: the text “Weißbrotmusik”, or White Bread Music, by a not-yet-established writer by the name of Sasha Marianna Salzmann, the point & click adventures of the group machina eX or “Polis3000”, the exuberant documentary satire by the young duo ­Markus&Markus from Hildesheim which offered a cabaret tour de force through the crude celebrity cosmos of Carsten Maschmeyer, Christian Wulff, Veronica Ferres & Co that also included images of video evidence and the art of spontaneous vomiting in front of an audience. PAF carries on with the tradition of alluring titles, at least in part. Just think of “Schlager as Opportunity: the Primroses are Popping in My Blouse” by Verena Unbehaun and Stefan Hillebrand (2016 in ­Theaterdiscounter) or “Erotic External Cleaning of Your Vehicles Without Drying” by Henrike Iglesias (2018 in ­Sophiensæle). In the meantime, the discoveries do take place more effectively. To facilitate this, the series mentioned above, “­Introducing …”, was created which is primarily intended to help Berlin-based artists achieve greater visibility, a promise that it always keeps. For example, an early form of those performative essays was seen here which the artist Oliver Zahn has now perfected for himself. Together with Phoebe Wright-Spinks, he presented “[Heimatlied]”, or Homeland Song, within the newcomer’s platform: the smartly reflected upon 64

cultural history of a Southern Moravian folk song passed down in the oral tradition which, over the years, was called “Flüchtlingslied”, or Refugee Song, at times as well as “Fern der Heimat”, or Far From Home, and which was preserved in the sound archive by a folklorist with a Nazi past. “[Heimatlied]” showed how easily Zahn understood how to combine theatrical action and its simultaneous questioning on the reflective level. This is also how the later production “Situation mit Doppelgänger”, or Situation with Doppelgangers, worked, in which Zahn and the cultural anthropologist Julian Warner examined appropriation techniques and constructions of authenticity in dance using the example of twerking. This was a festival hit, but not at PAF; it has made the rounds within the more renowned and better budgeted category of festivals like “Impulse” or “Theaterformen”. PAF, however, is not only about discoveries. It is also about business cards. The performance venues and production houses who see themselves as flagships of the community regularly present work within the context of this festival by prominent artists and groups with whom they have already collaborated for many years. For example, HAU Hebbel am Ufer programs Gob Squad and Rimini Protokoll and Florentina H ­ olzinger, while the collective Henrike Iglesias and Markus&Markus perform at Sophiensæle. This not only makes perfect sense and serves as an undisputed boost of quality for the festival; it also produces rewarding parallels and contrasts within the overall schedule of programming. During the 2017 edition of PAF, the concert arrangement “Evros Walk Water” by Daniel Wetzel/Rimini Protokoll was presented at HAU Hebbel am Ufer. It told the story of 15 young people who had crossed the Evros, the border river between Turkey and Greece, while fleeing for the lives from Iraq, Afghanistan or Syria. Now they live in an asylum center in Athens. Their stories, however, were not told in the form of sympathy-inducing stories of their experiences, but instead


(TAK). Der übersetzte das Klaustrophobische der Kriegssituation in ein Kammerspiel, in das er sich als Autor selbst mit einschreibt – geplagt von Schreibblockade und survivor’s guilt. Regie führte mit Rafat Alzakout ein syrischer Exilkünstler und Neuberliner, der unter dem Assad-Regime mit der klandestinen PuppentheaterKompanie Masasit Mati ein überaus populäres Satire­ format namens „Top Goon“ erfunden hatte. „Your Love Is Fire“ war ästhetisch sicherlich eher Stadttheatergängig als Freie-Szene-typisch (sofern man da noch Trennschärfe gelten lässt). Was aber an der Eindringlichkeit der Erzählung nichts änderte. Aber klar, in der Selbstwahrnehmung ist die Szene gerne Avantgarde. Und bisweilen zu Recht. Gezeigt hat sich das 2020, als das PAF – wie die meisten Festivals – pandemiebedingt auf eine digitale @home-Variante ausweichen musste. Während die meisten großen Häuser noch in ihren Archiven nach Streaming-tauglichem Material forschten, hatte das PAF eine Arbeit wie „es ist zu spät“ des Labels internil im Programm. Die war beim Monologfestival im Theaterdiscounter zur physischen Premiere gekommen, aber schon angelegt darauf, sich in den Rabbit-HoleTiefen des Internets fortzusetzen. Performer und internil-Frontmann Arne Vogelgesang (schon 2016 beim PAF mit „Glühende Landschaften“ vertreten) nimmt hier die Rolle eines YouTubers an, der nicht nur unsere umfassend informierte Untätigkeit angesichts der Klimakrise bespiegelt, sondern auch das Theater als Vehikel befragt, das die Katastrophe konsumierbar zu machen hilft. Und dabei stets das Medium der Behauptung bleibt – nicht geeignet, die Theatralisierung der Wirklichkeit wirksam zu verhandeln. Indem Vogelgesang seine Lecture für eine imaginäre, theaterunkundige Online-Community in die Kamera spricht („Theater ist wie Live-Stream, nur mit viel weniger Publikum“) wird der Text auf denkbar smarte Weise zurückgespielt in jene digitalen Sphären, in denen das Als-ob die anerkannte Währung ist.

Unterdessen dient die Aufzeichnung der „es ist zu spät“-Premiere (die mit einer Komplettrasur von Vogelgesangs Kopf und Bart endete) als Referenz für immer neue Varianten der Performance – willkommen im unendlichen Verweisgeflecht des Internets. Natürlich ist Vogelgesang kein einsamer Pionier der Szene. Selbstredend ließen sich im Programm auch andere Beispiele für digitale Fortschrittlichkeit finden, die Arbeiten der Gruppe CyberRäuber etwa. Überhaupt müssen sämtliche der herausgegriffenen Produktionen letztlich wahllose Repräsentanten des großen Ganzen bleiben: Zum Wesen des PAF gehört es ja, dass jede:r ein eigenes Festival erlebt – und permanent das Gefühl hat, in der schieren Masse der Parallelveranstaltungen das Beste zu verpassen. Das war schon bei „100° ­Berlin“ nicht anders: Overkill eben.

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using the inspiration of the avant-garde composition “Water Walk” by John Cage. Instead of the household objects that Cage uses in place of musical instruments in his three-minute piece, objects are used that have a connection to the route that the children used to flee to Europe. Since they were not allowed to travel inside Fortress Europe, the audience members are called upon to reenact “Water Walk” as stand-ins for the young people. A remarkable approach, to dissolve the boundaries of this refugee experience and make it accessible in a manner beyond the cheap illusion of empathy. The work “Your Love is Fire” by the Syrian ­playwright Mudar Alhaggi was also presented during the same edition at Theater im Aufbau Haus Kreuzberg (TAK). It translated the claustrophobia of the war into a chamber drama in which he also writes about himself as an author, plagued by writer’s block and survivor’s guilt. The director was Rafat Alzakout, a Syrian artist in exile and new Berliner who had created an extremely popular satire format called “Top Goon” during the Assad regime with the clandestine puppet theater company Masasit Mati. Aesthetically, “Your Love is Fire” was certainly more like a state and municipal theater production than is typical for a production from the independent performing arts community (insofar as these things can still be differentiated). This, however, did nothing to change the urgency of the narrative. Of course the community enjoys being avant-garde in its self-perception. And sometimes rightly so. This was clearly demonstrated in 2020 when PAF, like most festivals, had to convert itself to a digital @home version due to the pandemic. While most of the large theaters were still rummaging through their archives looking for material suitable for streaming, PAF had a work like “es ist zu spat”, or it’s too late, by the label internil in its schedule of programming. It had already had its physical premiere at Theaterdiscounter during the “Monologue Festival”, but was made to continue itself in the rabbit hole 66

depths of the internet. The performer and internil frontman Arne Vogelgesang (already represented at PAF in 2016 with “Glühende Landschaften”, or Glowing Landscapes) takes on the role of a YouTuber here who not only reflects upon our comprehensively informed inactivity in light of the climate crisis, but also questions theater as a vehicle that helps to make catastrophes consumable. And, in doing so, it always remains the medium of the assertion; not suitable to effectively negotiate the theatricalization of reality. By speaking his lecture into the camera for an imaginary online community with no knowledge of theater (“theater is like a live stream, only with much less audience”), the text is smartly mirrored back into that digital sphere in which “as if” is a recognized currency. In the meantime, the recording of the “es ist zu spät” premiere (which ends with Vogelgesang completely shaving his head and beard) serves as a reference for more and more new variations of the performance. Welcome to the unending network of references that is the internet. Vogelgesang is, of course, no lonely pioneer of the community. Other examples for digital progress can also be found in the schedule of programming, such as the work of the group CyberRäuber. All the productions mentioned here must ultimately remain random representations of the bigger picture: part of the quintessence of PAF is that every single person experiences their own festival and constantly has the feeling that they are missing out on the best work due to the sheer number of events taking place simultaneously. This was no different during “100° Berlin”: overkill.


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In seiner jetzigen Form wurde der

Acker Stadt Palast 2012 gegründet. Dank des Vereins Freie Bühne Mitte e.V. konnte die seit Mitte der 1990er Jahre bestehende Spielstätte weiter als Theater genutzt werden und sich gleichzeitig für eine größere Zahl von Künstler:innen und Gruppen öffnen. Der Acker Stadt Palast hat dabei das Selbstverständnis des alten Hausbesetzer-Slogans „Das ist unser Haus“ in die Idee der Gastfreundschaft umgewandelt: „Das ist euer Haus!“ Das Gebäude, in dem sich der Acker Stadt Palast befindet, liegt im Hinterhof einer ehemaligen Schokoladenfabrik (1881 – 1971), die in den 1930er Jahren zwischenzeitlich auch als Heim der Hitlerjugend genutzt wurde. Nach dem Ende der Schokoladenproduktion nutzte das Volkseigene Kombinat SERO (Sekundärrohstofferfassung), das Flaschen, Papier, Altmetall und später auch Kunststoffe zur Wiederverwertung aufkaufte, den Hinterhof. 1991 wurde das inzwischen leerstehende Gebäude von Aktivist:innen und Künstler:innen besetzt und ist heute eines der letzten selbstorganisierten Wohn- und Kulturprojekte in der fast flächendeckend gentrifizierten Berliner Mitte, die in den letzten dreißig Jahren massiv durch Umstrukturierung und Verdrängung ihrer angestammten Mieter:innen geprägt wurde. Die heutige Spielstätte Acker Stadt Palast und das alternative Kulturzentrum Schokoladen e.V. liegen zudem in der legendären Ackerstraße, die bis 1989 durch eine Mauer und zwei Staatsideologien geteilt war und sich seither wieder in unterschiedliche, sozial segregierte Milieus (Wedding versus Mitte) aufgespalten hat. Trotz oder wegen der schweren Zeiten, in denen sich die alternativen, nicht-kommerziellen Kulturorte gegen Investor:innen und Eigentümer:innen wehren mussten – zwischen 1993 und 2012 tobte mit dem neuen Besitzer ein erbitterter Kampf um das Gebäude –, 70

konnte sich der Acker Stadt Palast zu genau dem freigeistigen Kulturraum entwickeln, der er heute ist – eine starke Bühne für zeitgenössische darstellende Kunst und Neue Musik in Berlin. Bei der Absicherung des Kunst-Projekts halfen der Berliner Senat und die Schweizer Stiftung Edith Maryon. Der Golden Acker e.V. – ein neu gegründeter Dachverein für alle Kulturvereine und Wohnungen in der ­Ackerstraße 169 – schloss 2012 einen Erbpachtvertrag mit der Stiftung, die die Liegenschaft nach langem Kampf der Nutzer:innen (mit Unterstützung des Senats) vom Vorbesitzer übernommen hatte. Damit ist der Gebäudekomplex bis mindestens zum Jahr 2111 gesichert – eine insbesondere für die Kulturszene komfortable und s­ eltene Situation in Berlin. Im Namen bezieht sich die Spielstätte zunächst natürlich auf ihre Lage, die Ackerstraße, damit aber auch auf die Idee, etwas zu pflanzen und wachsen zu lassen. Gleichzeitig will sie an die Möglichkeiten und Offenheit der Stadt erinnern sowie – nicht ganz unironisch in ­Bezug auf das eigene Erscheinungsbild – an den Palast als Ort für Glamour und Unterhaltung. Der Acker Stadt Palast versteht sich als Raum von und für Künstler:innen. Er möchte kein Ensemble aufbauen, sondern kontinuierliche Arbeitsbeziehungen pflegen und das Netzwerk stetig erweitern. Seit 2015 wird er von der in Brasilien geborenen Schauspielerin und Theaterpädagogin Anete Colacioppo künstlerisch und geschäftsführend geleitet. Ihre guten Kontakte zur iberoamerikanischen Tanz- und Performance-Szene werden im Hinterhof der Ackerstraße sichtbar: Gastspiele aus Südamerika, Spanien, Portugal und Auftritte von mit diesen Regionen verbundenen, aber mittlerweile in Berlin lebenden Künstler:innen prägen den Spielplan. Straßenansicht. © Tuca Vieira


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Performance im Acker Stadt Palast. © Tuca Vieira

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Aber auch Künstler:innen aus Korea, Ägypten, Estland, Frankreich, Belgien, der Schweiz, aus Israel, Japan oder Griechenland zeigen hier ihre Produktionen. Mit einer Kapazität von max. 99 Plätzen entsprechend der Nutzung des Bühnenraums (in der Regel eher zwischen fünfzig und sechzig Plätze) ist der Acker Stadt Palast eine der zentralen Spielstätten und wichtige Ankerposition der Freien Szene in Mitte. (Die gesamte Fläche des Komplexes beträgt 248 Quadratmeter, die Bühne 112 Quadratmeter, ein zweiter Veranstaltungsraum 60 Quadratmeter.) Seit 2017 wird das Haus durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin gefördert. Die Spielpläne entstehen in der Regel aus ­Gastspiel-Anfragen, Kooperationen mit Festivals wie dem „BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater“ oder neuen Produktionen von Berliner Gruppen. Etwa vierzig Gruppen nutzen die Spielstätte pro Jahr, von denen einige öffentliche Förderung erhalten, andere lediglich auf Einnahmenbasis spielen. Dabei steht den Gruppen die Spielstätte durchschnittlich sechs Tage für Aufbau, Proben und (zwei bis vier) Aufführungen zur Verfügung. In der Sommerpause wird die Räumlichkeit für ­Residenzen genutzt. Das Programmprofil des Hauses zeichnet sich durch die Verbindung von zeitgenössischem Tanz, Performance, Theater und Neuer Musik aus und wird 2021 noch um den Bereich „sound-imagetic ­performance“ ergänzt.

After starting life as a chocolate factory in 1881 and its transformation into an East German recycling center, what is now Acker Stadt Palast was squatted by artists and activists shortly after the Fall of the Berlin Wall. It is now one of the last self-organized residential and cultural projects in the district of Mitte, which has been almost completely gentrified. It sees itself as a space for artists, having transformed the message of the former squatters’ “This is our house!” into an invitation to artists “This is your house!” The venue has excellent contacts to the Ibero-American dance and performance communities, as seen by frequent touring productions from South America, Spain and Portugal. In terms of aesthetics, Acker Stadt Palast focuses on contemporary dance, performance art, theater, new music and, as of 2021, sound-imagetic performance. 73


Hof und Eingang zur Bühne. © Tuca Vieira

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Die „Münze Berlin“, also die ehemalige offizielle Münzprägestätte der Stadt, blickt auf eine über 750-jährige ­Geschichte zurück. Am 4. April 1280 – Münzen wurden damals noch mit einem Hammer in Handarbeit gefertigt – wird sie erstmals urkundlich erwähnt. Während des 18. Jahrhunderts wechselte sie mehrfach ihren Standort, ­befand sich jedoch immer im Berliner Zentrum. 1934 beschlossen die Nationalsozialisten, eine zentrale Prägeanstalt in Berlin zu gründen, für die der ehemalige Standort der königlich-preußischen Münze in Friedrichswerder zu klein war. ­Stattdessen sollte am Molkenmarkt 1 bis 3 in Mitte, in der Nähe des Roten Rathauses und des Alten Stadthauses, eine neue Geldfabrik errichtet werden, auf den Fundamenten des historischen Krögel-Viertels, des Mühlenviertels und des Stadtgefängnisses, die allesamt abgerissen wurden. Von 1936 bis 1942 entstand nach Plänen von Fritz Keibel und Arthur Reck die Deutsche Reichsmünze, in deren Komplex das benachbarte barocke Palais Schwerin (­erbaut 1704) integriert wurde. Das Projekt war Bestandteil von Adolf Hitlers Plan, Berlin ab 1938 zur Welthauptstadt „­Germania“ umzugestalten. Die

Alte Münze ist deshalb mit Kellerräumen ausgestattet, die teilweise bis zu zwei Stockwerke tief unterbunkert sind. Wie weit diese Bunkeranlage unterirdisch bis zum Alexanderplatz reicht, ist aufgrund der unbehobenen Kriegsbeschädigungen und Einstürze allerdings ungeklärt. Während des Zweiten Weltkrieges wurden in den Tresorkellern die Berliner Kunstschätze aufbewahrt, die teils dennoch durch Brände zerstört wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau stellte der VEB Münze der DDR in dem Trakt am Rolandufer das Hartgeld der DDR her, während in dem Verwaltungsgebäude am Molkenmarkt mit dem pittoresken Münzfries über dem Portal das Ministerium für Kultur der DDR untergebracht war – zuständig für die Überwachung der Kulturschaffenden und Umsetzung der Beschlüsse der SED auf kulturpolitischem Gebiet. Ab 1990 wurde am Molkenmarkt dann für das vereinigte Deutschland die D-Mark geprägt, ab 2001 auch der Euro. Ende 2005 schloss die Münze ihre Tore und verlegte ihre Produktion nach Reinickendorf. Das Gebäudeensemble mit einer Bruttogeschossfläche von circa 20000 Quadratmetern kam am 1. Mai 2005 zum Liegenschaftsfonds, der 2015 mit der Berliner Immobilienmanagement GmbH zusammengelegt wurde. 76

Ursprünglich sollte die Immobilie im Rahmen eines Bieterverfahrens versteigert werden. Im Zuge der „Transparenten Liegenschaftspolitik“ des Landes Berlin, die eine Abkehr vom Verkauf vorsieht, wurde das Verfahren jedoch gestoppt. Der Berliner Senat hat im Sommer 2018 auf Grundlage eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses bekannt gegeben, das Gebäude als Kultur- und Kreativstandort zu sichern und zu entwickeln. Unter dem Namen „Spreewerkstätten“ zogen ab 2012 Künstler:innen und Kreativunternehmen als sogenannte Zwischennutzer:innen in die leer stehenden Gebäudeteile ein und machten sie in Eigenleistung schrittweise zugänglich. Heute existiert dort eine florierende und vielfältige kreative Gemeinschaft aus Kulturschaffenden, Musikproduzent:innen, Künstler:innen aller Disziplinen, Kunst- und Musikfestivalveranstalter:innen und sozialen Start-ups. Eine interdisziplinäre Gemeinschaft, die sich für eine zukunftsgerichtete Umnutzung historischer Stadträume und eine diverse Stadtgesellschaft einsetzt, in der es ein solidarisches Miteinander zwischen unterschiedlichen Projekten mit verschiedenen Ansprüchen und Möglichkeiten gibt. Bereits jetzt verorten sich unter der Federführung der Spreewerkstätten vierzig junge


Gesamtansicht der VEB Münze in der Hauptstadt der DDR, 1960er Jahre. © Helmut Caspar

aufstrebende Projekte mit 150 Mitarbeiter:innen und dreißig Künstler:innen in der Alten Münze, die in über fünfzehn Ateliers und Studios arbeiten und produzieren. Unter den Prämissen von Partizipation und Nachhaltigkeit verwirklichen sie verschiedene Projekte im Bereich der Kultur und bespielen die Veranstaltungsflächen. Daraus entstehen regelmäßige Performance-Reihen, Ausstellungen, Konzerte, Clubveranstaltungen, historische Führungen, Diskurse, Tage der offenen Tür sowie Märkte, Konferenzen, Workshops und viele weitere Formate. Neue „Räume der Begegnung“ fördern den Austausch und die Vernetzung, verschiedene Konzepte

wie ­Begrünung und Gastronomie haben die Aufenthaltsqualität im industriellen Innenhof erhöht. Das Urban-­ Gardening-Projekt „Münzgarten“ und das Community-­ Café „The Greens“ werden auch von externen ­Besucher:innen genutzt. Die Synergieeffekte, die dabei entstehen, sind bereits jetzt sichtbar. Neben der Bespielung ist die Erhaltung und Instandsetzung der historischen Flächen ein großes Anliegen. In den vergangenen Jahren wurden rund 10000 Quadratmeter entwickelt, behutsam mit ­Infrastruktur versehen und als Arbeits-, Veranstaltungsoder Gemeinschaftsfläche hergestellt und somit das 77


Hof der Alten Münze, Zwischennutzung. © Helmut Caspar

Gebäude zunehmend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als Ergebnis interner Quersubventionierung konnte 2016 die Initiative 2 OG auf zwei Etagen des Produktionsgebäudes ins Leben gerufen werden: diverse Ateliers wurden an Künstler:innen der Freien Szene vergeben und auf den angeschlossenen Projektflächen 78

ein öffentliches Kunst- und Kulturprogramm für den Standort entwickelt. Langfristiges Ziel der aktuellen Betreiber:innen ist es, in einem kooperativen Prozess mit allen Beteiligten – von der Hausgemeinschaft über die Nachbarschaft bis hin zu externen Partner:innen und der Berliner Politik – zusammenzufinden, um das gesamte Areal der Alten Die Alte Münze von oben. © Jonas Fischer


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Garten der Alten Münze mit Blick auf Fernsehturm. © Jonas Fischer

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Modenschau in der Alten Münze. © Jonas Fischer

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Münze zu einem dauerhaften Zentrum für freie und interdisziplinäre Arbeit, kreative Produktion, öffentliche Veranstaltungen und für kulturellen und gesellschaftlichen Diskurs auszubauen. Ob dies gelingt, hängt entscheidend vom politischen Willen der Regierung in Berlin ab. Münzen werden hier mit Sicherheit nicht mehr geprägt – dafür vielleicht die Kunst-, Musik- und Kulturlandschaft in Berlin.

Münze Berlin, the former offical mint of the city, can look back on a 750-year history. It is first mentioned in a document dated April 4, 1280, a time where coins were still made by hand using a hammer. It changed its location multiple times during the 19th century, but always remained in the center of Berlin. In 1934, the National Socialists decided to build a new central mint in Berlin at Molkenmarkt 1 – 3 in Mitte; it was constructed between 1936 and 1942. It housed the East German Ministry of Culture and then once again minted first Deutsche Mark coins and then euro coins after the Fall of the Berlin Wall. Operations transferred to ­Reinickendorf in 2005. Under the name Spreewerkstätten, artists and creative businesses moved into the empty parts of the building in 2012. In 2018, Berlin’s Senate announced that the building now known as Alte Münze would be secured and developed as a location for art and culture. „Eins zu Eins“-Festival, Alte Münze, 2020. © Jonas Fischer

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Alte Münze, Kellergang. © Jonas Fischer

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Alte Münze, Produktionshalle. © Jonas Fischer

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Nach über zehn Jahren Leerstand wird seit 2018 das

Modellprojekt_Haus der Statistik auf dem Areal der ehemaligen Staatlichen Zentralver­ waltung für Statistik (SZS) der DDR am Alexanderplatz, in dessen Erdgeschoss sich damals ein Geschäft für Jagd- und Anglerbedarf („Suhler Jagdhütte“) und für UdSSR-Produkte („Natascha“) befanden, durch eine Kooperation von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinwohlorientiert entwickelt. Im jetzigen Bestand – und zukünftig ergänzt durch ca. 65000 Quadratmeter Neubau – soll Raum für Kunst, Kultur, Soziales und Bildung, für bezahlbares Wohnen sowie ein neues Rathaus für den Bezirk Mitte entstehen. Den konkreten Impuls für die infrastrukturell riesige Projekt-Initiative in der Berliner Mitte gab im September 2015 eine künstlerische Aktion: Die Allianz bedrohter Berliner Atelierhäuser (AbBA), eine Gruppe engagierter Künstler:innen, brachte ein großes Poster im Stile eines offiziellen Bauschilds an der Fassade an: „Hier entstehen für Berlin: Räume für Kultur, Bildung und Soziales“. Kurz darauf formierte sich die Initiative Haus der Statistik als Bündnis von verschiedenen Berliner Akteur:innen – Künstlerkollektive, Architekt:innen, soziale und kulturelle Einrichtungen, Verbände, Stiftungen und Vereine – und verhinderten so den geplanten Abriss des ehemaligen DDR-Verwaltungsgebäudes. Seit 2016 und bis heute organisiert die Initiative Haus der Statistik sogenannte Vernetzungsratschläge als öffentliche Treffen für alle Menschen, die an der Projektentwicklung rund um das Haus der Statistik interessiert sind. Die gesellschaftliche Forderung, das Haus der Statistik in einer kosteneffektiven Nutzungsmischung als Gemeingut zu sichern, wurde von der Berliner Verwaltung und Politik aufgenommen. 2016 wurde die Entwicklung des Gebäudekomplexes in den Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Landesregierung als Modellprojekt 86

aufgenommen. In diesem Zuge und um die kommunale Entwicklung des Projekts zu sichern, erwarb das Land Berlin die Gebäude Ende 2017 von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA). Kooperativ und in gemeinsamer Verantwortung arbeitet nun seit 2018 ein Zusammenschluss aus fünf Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung an der Ausgestaltung des Projekts: Die sogenannte Koop5 – bestehend aus der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, dem Bezirksamt BerlinMitte, den landeseigenen Gesellschaften Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) und Berliner Immobilienmanagement (BIM) sowie der ­ZUsammenKUNFT Berlin eG als rechtsfähigem Organ der Initiative Haus der Statistik – entwickelt das Areal zu einem gemeinwohlorientierten und gemischt genutzten Q ­ uartier. Für die Schaffung eines Planungsrechts wird seit 2019 ein Bebauungsplan für die Neubauten im Quartier festgesetzt. Die Grundlagen dafür wurden von ­September 2018 bis Februar 2019 in einem städtebaulichen Werkstattverfahren unter breiter Mitwirkung der Stadtgesellschaft erarbeitet. Eine erste Anlauf-, ­Informations- und Mitmachzentrale rund um die Entwicklung des Areals ist seit September 2018 die Werkstatt Haus der Statistik. Die Werkstatt (davor „Fahrrad ­Floeckner“), ein kleiner Pavillon neben dem eigentlichen Haus der Statistik, wurde als erstes Gebäude des Komplexes wieder instand gesetzt. Hier finden vielfältige ­Formate der Mitwirkung statt: von niedrigschwelligen Informations­angeboten, die eine breite Zugänglichkeit zum Projekt sicherstellen, bis hin zu Workshops, ­Themenabenden und Quartierslaboren, in denen sich Interessierte aktiv in die laufende Quartiersentwicklung einbringen können.

Haus der Statistik am Alexanderplatz in Berlin, 1971. © ddrbildarchiv.de/Manfred Uhlenhut


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89 Dach vom Haus der Statistik „Allesandersplatz“. © Victoria Tomaschko


Haus der Statistik „Allesandersplatz“. © Victoria Tomaschko

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Seit Sommer 2019 beleben die sogenannten Pioniernutzungen weitere Erdgeschossbereiche des Gebäudekomplexes. Sie kommen aus dem Programm der Initiative Haus der Statistik – Kunst, Kultur, Soziales und Bildung – und reichen von temporären Ausstellungen über offene Werkstätten bis hin zur Nutzung von Arbeitsräumen. Nach elf Jahren Leerstand des Gebäudes entsteht hier ein konkretes Mitmachen: In den Pioniernutzungen wird während der Planungsund Bauphase im Kleinen erprobt, was sich im Quartier etablieren könnte. Sie sind Basis für eine langfristig angelegte gemeinwohlorientierte Entwicklung eines lebendigen Quartiers. Im Gegensatz zum Prinzip der Zwischennutzungen streben die Pioniernutzungen Dauerhaftigkeit an und sind als lernender Prozess angelegt, in dem sich die Projektentwicklung mit der breiten Mitwirkung der Stadtgesellschaft verzahnen und die Nutzer:innenperspektive in die Quartiersentwicklung eingebracht werden soll. Im Rahmen dieser

­ ioniernutzungen werden langfristige Nutzungscluster, P transparente Organisations- und Vergabestrukturen und öffentlich wirksame Formate – wie der gemeinsame Tag der offenen Tür, der Ko-Markt – aufgebaut und kontinuierlich weiterentwickelt. Als „Spielstätte der Stadt“ – seit der künstlerischen Protestaktion der Gruppe AbBA im Jahr 2015 – dient das Haus der Statistik am Alexanderplatz der Zivilgesellschaft als Projektionsfläche für Visionen zukünftigen Zusammenlebens. Denn in Berlin wird der Wachstumsdruck in den letzten Jahren besonders deutlich: rapider Anstieg der Grundstückspreise, knapper werdende bezahlbare Wohn- und Gewerberäume sowie ein zunehmender Verdrängungsdruck für Akteur:innen aus den Bereichen Kunst, Kultur, Bildung, Gewerbe und Soziales. Das Haus der Statistik steht modellhaft für diese Kehrtwende in der Stadtentwicklung und schafft einen Gegenentwurf zur üblichen Verwertungslogik in der Stadt.

Bühnen_Haus der Statistik Haus der Statistik, vorne in Haus A. Ein dunkler Raum neben dem Radio, da steht „THEATER“ über der ­Stahltür. Wenn er aufgeräumt ist, ist da eigentlich auch überhaupt nichts drin. Man sieht dann dauernd welche von denen vom Theater mit so einer merkwürdigen Ernsthaftigkeit zusammen rumstehen oder mit einem Hammer oder einer Zange oder sonst was über den Hof laufen. Die Frage ist so ein bisschen, was die eigentlich die ganze Zeit machen. Und was da überhaupt passiert. Also im Theater. Manchmal hört man die auch schreien oder einer sitzt völlig fertig draußen auf den Stufen. Klar sieht man da auch mal jemanden lachen. Beides halt. Aber nach Spaß sieht das nicht unbedingt aus. Eher irgendwie problematisch. Also, was das soll und was die machen, ist schon irgendwie total unklar. Was das ist,

Theater. Ist vielleicht einfach dieser Raum da, über dessen Tür „THEATER“ steht. Scheinwerfer gehören schon dazu. Und ein Vorhang. Und dann kommen ja auch wirklich ein paar Leute. Das Publikum. Das ist dann Theater. Aber sonst … Am Alexanderplatz gibt es also Primark, Tchibo, ­Galeria Kaufhof und seit dem Winter 2019 auch ein ­Theater. Die Bühnen bespielen das Haus der Statistik am ­Allesandersplatz innen und außen. Sie sind ein ­Provisorium und damit ein Widerspruch. Durch den Zusammenschluss von mehreren Theatergruppen entwickeln die Bühnen im Haus der Statistik ein diverses Programm, das sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen lässt. Die Gemeinsamkeit wird durch den Ort definiert, an dem wir uns befinden. Das Bespielen 91


Bühnen, Haus der Statistik. © Matthias Schellenberger

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„Der Koffer“, Die Dramatische Republik und AKTION DIREKT, 2020. © Rolf Kemnitzer


verschiedenster Außenflächen des Hauses – seien es der Baucontainer oder das Schaufenster, die Ränder der Bauruine oder der Autoscooter – wird über die Zeit zum Markenzeichen der Spielstätte. Die verschiedenen Bühnen bieten Platz für jeweils 50 bis 120 Zuschauer:innen. Indem wir Bühnen in den nicht explizit dafür ­vorgesehenen öffentlichen Raum bauen, zeigen wir, was in einer Stadt möglich ist, in der die Freiräume seltener werden. Im Spätsommer 2019 sind die Bühnen ins Haus gezogen. Der leere Rohbau ohne Stromleitungen und abgehängte Decken wird in ein tropenholzvertäfeltes Foyer verwandelt. Hinzu kommen Werkstatt, Technikraum, Lager, Fundus, die „NIE“-Druckerei und – der Theatersaal. Die Baustelle wird zu einer kollektiven Bühnenbildproduktion und zu einem ganz eigenen Theaterformat: Der Bauprozess wird dokumentiert und ausgestellt. Was wir produzieren, unterliegt keiner Verwertungslogik. Die Mehrheit von uns arbeitet ohne Entlohnung, die Bühnenbilder entstehen aus Müll. Wir sind also ein nachhaltiges Theater. Die Kooperation mit anderen Kollektiven im Haus der Statistik beruht auf gegenseitiger Hilfe, egal in welchem Bereich. So entstehen Kostüme in den Werkstätten der Stadtmission Berlin, während einzelne Ensemblemitglieder bei Entrümpelungen aushelfen. Die Materialmafia unterstützt uns mit ­Bühnenelementen, die Mitkunstzentrale verwandelt sich in ein Bühnenbild im öffentlichen Raum. Die Ausweitung der Definition davon, was eine Bühne ist, wird zum Credo des gemeinsamen Arbeitens. Das Publikum läuft einem Auto mit beleuchtetem Kofferraum hinterher, das über den Innenhof fährt. Oder es sitzt auf dem weiten B ­ ürgersteig der Karl-Marx-Allee und verfolgt über Wireless-Kopfhörer das Geschehen im Schaufenster. Wir produzieren sowohl selbstgeschriebene Theater­ stücke als auch Inszenierungen zeitgenössischer dramatischer Texte. Gemeinsame ästhetische Vorgaben haben wir nicht. Sowohl Elemente „klassischer“ Bühnenstücke als auch neue, intermediale Formen finden sich in unseren Inszenierungen wieder. Die ersten zwei Spiel­ 93


zeiten haben wir unter das Motto „Public Solutions“ gestellt. Mit dem Begriff werben hauptsächlich Firmen, deren Arbeitsfeld die Lenkung, Kontrolle und Überwachung von Öffentlichkeit und öffentlichen Orten ist. Dem zugrunde liegt die Idee, dass Öffentlichkeit tendenziell unkontrollierbar, unberechenbar, im schlimmsten Fall gefährlich ist und nach „Lösungen“ verlangt: ­Kontrolle. Dieser Tendenz möchten wir ein anderes Bild entgegensetzen: Für uns stellt nicht die Öffentlichkeit das Problem dar, sondern ganz im Gegenteil ihr Verschwinden ins Private oder in abgeschlossene (digitale) Blasen Gleichgesinnter, was Populismus und antidemokratische Strukturen fördert. Eine „Lösung“ für dieses Problem stellen offene Orte und Situationen dar, in denen sich ­Öffentlichkeit konstituieren kann. Im Haus der Statistik haben wir ein Theater gebaut. Ende Juli 2021 werden unsere Räume im Zuge der Kernsanierung verschwinden. – Dann werden wir an der Karl-Marx-Allee stehen und weiter Theater spielen. Julius Böhm, Hannah Rumstedt und Daniel Wittkopp für das Team der Bühnen im Haus der Statistik Following more than ten years of vacancy, the former site of the East German State Central Administration for Statistics at Alexanderplatz is being developed for the common good through a cooperation between politicians, administrators and civil society. Haus der Statistik_­Modellprojekt, or the House of Statistics model project, will provide space for art, culture, social ­projects, education, affordable housing as well as a new city hall for the district of Mitte in the existing building as well as a 65,000 square meter new building. So-called pioneering projects have brought new life to the ground floor of the complex since the summer of 2019 in the fields of art, culture, social projects and education, ranging from temporary exhibitions to public workshops to the use of working spaces. 94

„La Agonia“, Ensemble für zeitgenössische Musik SCHWARM 13, 2020. © Daniel Wittkopp „Die Sprachmaschine“, Victoria Szpunberg, 2020. © Daniel Wittkopp


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In einer der ältesten Straßen der Berliner Mitte – der Sophienstraße, unweit des Tourismusmagnets Hackesche Höfe – hat sich hinter der roten Backsteinfassade einer der traditionsreichsten Orte der Freien Szene eingerichtet, die

Sophiensæle Zum Hof des denkmalgeschützten Gebäudekomplexes führt ein auffällig gestaltetes, mit farbigen Terrakotten geschmücktes Doppelportal, in dem die gemauerte Inschrift „Berliner Handwerker Verein“ und das Emblem mit dem symbolischen Händedruck noch zu erkennen sind. Die Geschichte des Hauses beginnt mit seiner Errichtung im Jahr 1905 durch den Berliner Handwerkerverein. Als dessen Hauptgebäude war der Festsaal vor allem ein Ort der politischen Versammlung, der Bildung und des Feierns. Rosa Luxemburg, Karl ­Liebknecht oder Clara Zetkin waren hier zu hören, und so ist das Haus in der Sophienstraße 18 eng mit der Geschichte der Berliner Arbeiter:innenschaft verbunden. Die ­Sophiensæle wurden 1996 auf Initiative von Künstler:innen gegründet, um ein Zentrum für freies Produzieren zu schaffen – zu den Gründer:innen gehörten damals Sasha Waltz, Jochen Sandig, Jo Fabian, Dirk Cieslak und Holger Zebu Kluth. Als sie das Haus übernahmen, war die Berliner Mauer nebenan schon seit ein paar Jahren gefallen und das Maxim Gorki Theater mit seinen Werkstätten gerade ausgezogen. Mit den mittlerweile bröckelnden Wänden und dem fallenden Putz bot das Gebäude inmitten einer durch temporäre Zwischennutzungen neu belebten Berliner Mitte einen idealen Ausgangspunkt für künst­lerische Neuanfänge. Dass bereits eine der ersten Produktionen – Sasha Waltz’ „Allee der Kosmonauten“ – als erste frei produzierte Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, machte das neue Haus schnell über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Auch heute verstehen sich die Sophiensæle als Sprachrohr für die Belange der freien Produktionsstrukturen in Berlin und fördern die 96

Positionierung der Freien Berliner Szene im nationalen und internationalen Kontext. Die „behutsame“ Teilsanierung im Jahr 2011 hat auf den morbiden Charme des Gebäudes Rücksicht ­genommen – die Wände bezeugen mit alten Farb- und Tapetenresten die Spuren vergangener Jahrzehnte. Die Geschichte des Hauses lässt sich auch ein bisschen über diese Wände erzählen: Ein Artikel aus Neues Deutschland hat den Wandel der Zeiten ebenso überlebt wie das ikonografische Graffito „Mr. Friendly“ im alten Treppenhaus, mit dem der Street Artist Nomad seit 1999 die graue Berliner Innenstadt verschönerte. Durchlässigkeit kennzeichnet aber auch die Programmatik und die Idee der Sophiensæle als ­Theater – einem Haus, das in ständigem Austausch bleibt mit Künstler:innen, dem Kiez, dem Publikum und der Gesellschaft. Einem Haus für Experimente. Auch im Kiez rund um die Sophiensæle, der sogenannten Spandauer Vorstadt, wurde in den 1990er Jahren vieles neu begonnen: in besetzten Häusern, Kneipen mit Fensterzugang oder experimentellen Galerien – damals noch abseits des Kunstmarktes. Dieser Geist von Berlin-Mitte findet sich heute vor allem in Erzählungen wieder, die sich an Investor:innen und Tourist:innen richten. Die meisten Wände wurden mittlerweile saniert, die Mieten sind gestiegen und die Bevölkerungsstruktur hat sich weitgehend verändert. Dass sich trotzdem noch ein lebendiges soziales Miteinander im Kiez finden lässt, versuchen die Sophiensæle in regelmäßigen Formaten sichtbar zu machen, in denen sie auch der unmittelbaren Nachbarschaft die Türen öffnen. Seit 2011 werden die Sophiensæle von Franziska Werner geleitet. Über die Jahre hinweg hat sich das Sophiensæle, Hofeingang. © Sarah Böhmer


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Mr. Friendly vom Street Artist Nomad im Treppenhaus der Sophiensæle. © Dorothea Tuch

Haus zu einer verlässlichen Plattform für die Freie Szene entwickelt, mit zurzeit etwa hundert unterschiedlichen Projekten im Jahr. Die Spielstätte erhält eine Konzeptförderung des Berliner Senats, um die sie sich alle vier Jahre neu bewerben muss. Diese Förderung wird vor allem dafür genutzt, die laufenden Kosten des Hauses zu decken; der Großteil der künstlerischen Projekte kann nur über zusätzliche, projektbezogene Anträge auf Bundes- und Landesmittel ermöglicht werden. Hof der Sophiensæle. © Dorothea Tuch

Das Team der Sophiensæle besteht aktuell aus etwa fünfzig festen und freien Mitarbeiter:innen. Das Haus ist Veranstalter der „Tanztage Berlin“ sowie jährlich wechselnder Festivals und Programmschwerpunkte zu spezifischen Themen. Darüber hinaus ist die Spielstätte geschäftsführende Partnerin der Produktionsplattform „Freischwimmen“ – einem Netzwerk von Häusern der Freien Szene im deutschsprachigen Raum – und des Netzwerkprojekts „Making a difference“ (2020 – 2022) 99


Festsaal heute, Sophiensæle. © Joe Goergen

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„OH MY“, Henrike Iglesias, 2018. © Paula Reissig

„TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“, Florentina Holzinger, 2019. © Eva Würdinger (S. 102/103)

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im Rahmen des Tanzpakts Stadt-Land-Bund zur Unterstützung und Förderung von Performer:innen und Choreograf:innen mit körperlichen und/oder sensorischen Behinderungen. Mit den Inszenierungen der Künstler:innen ­Florentina Holzinger („TANZ“, 2019), Thorsten Lensing („Unendlicher Spaß“, 2018) und Milo Rau/IIPM („five easy pieces“, 2016) wurden die Sophiensæle in den letzten Jahren mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 2017 erhielt das Haus den Theaterpreis des Bundes. Doch der Fokus der Programmarbeit liegt nach wie vor auf dem künstlerischen Nachwuchs und der freien Berliner Tanz- und Performanceszene: Hier fördert die Spielstätte Künstler:innen wie Olympia Bukkakis, CHICKS* oder Joana Tischkau. Seit einigen Jahren steht allerdings die Frage, wie diese Szene eigentlich genau aussieht, zunehmend zur Diskussion: Wer ist Teil von ihr und wer bleibt außen vor? Wer produziert und wer ist eigentlich das Publikum? Dabei reicht es nicht aus, Themen wie Queer-Feminismus, Migration, Postkolonialismus oder Behinderung im Programm zu verhandeln – vielmehr muss die Beschaffenheit des Hauses und der Szene als solche auch in ihren Strukturen auf den Prüfstand. Warum kamen marginalisierte Positionen bisher wenig vor und was muss sich ändern, damit es nicht bei zeit­geistigen Schlagworten bleibt? Welche Barrieren müssen weiter abgebaut werden? Mit Festivals wie „After Europe“, das dekoloniale künstlerische Positionen präsentiert, dem Programm „Making a Difference“, welches Künstler:innen mit Behinderung in der Tanzszene unterstützt, barrierefreien Angeboten fürs Publikum wie der Audio-Deskription oder der AntiRassismus-­Klausel in Verträgen für Künstler:innen wollen die S ­ ophiensæle Impulse setzen. Doch diese Prozesse brauchen einen langen Atem – Durchlässigkeit ist eben nicht nur eine Zustandsbeschreibung der Spielstätte, sondern ein Aufruf zur verstetigten Arbeit an den eigenen vier Wänden.

On Sophienstraße, one of the oldest streets in the district of Mitte, the center of Berlin, an historic red brick façade marks the entrance to one of the longest established locations in the independent performing arts community, Sophiensæle. The building was constructed in 1905 by the Berlin craftsperson’s association and it served as a place for political assembly, education and celebration. Rosa Luxemburg and Karl Liebknecht spoke here and the location is closely associated with the history of the working class. Sophiensæle was founded in 1996 by artists as a center for the production of the independent performing arts. Sascha Waltz, Jochen Sandig, Jo ­Fabian, Dirk Cieslak and Holger Zebu Kluth number amongst the founders. When one of the first productions, “Allee der Kosmonauten” by Sascha Waltz, became the first independently produced production to be invited to the “Berlin Theatertreffen” festival, the new venue quickly became known far beyond the borders of Berlin.

„Fidelio – Ein deutscher Albtraum in vier Folgen“, HAUEN•UND•STECHEN, 2018. © Thilo Mössner

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Der TD Berlin wurde 2003 als „Theaterdiscounter Berlin“ gegründet. Zu Zeiten, als Räume in der Stadt noch im Überfluss vorhanden waren und Zwischennutzung gängige Praxis, hat eine Gruppe unabhängiger Theaterschaffender aus der Praxis des Produzierens heraus einen Ort geschaffen, an dem zeitgenössisches Theater über Formate, Experimente und aufwendigere Inszenierungen weiterentwickelt werden konnte. Die Namensgebung war sowohl ironischer Verweis auf als auch Widerspruch gegen die prekären Bedingungen, unter denen Freie Theaterarbeiten damals realisiert wurden – teils noch heute realisiert werden. Zugleich war es auch eine spielerische Einladung an das Publikum, Theater ohne gedankliche Barrieren oder vorgefertigte Vorstellungen von Bühneninnenräumen neu zu entdecken. Die an der Gründung beteiligten Künstler:innen hatten in den Jahren zuvor etliche brachliegende Räume temporär mit großem Erfolg bespielt und brachten diese Energie – einen Nichttheaterraum immer wieder neu als Bühne zu begreifen – auch in die flexibel bespielbare Halle des

TD Berlin mit ein, wo sie das Publikum in ganz unterschiedliche räumliche Konstellationen einluden. Die Gründung des TD ging einher mit der Verstetigung der eigenen Produktionen zu einem Spielplan, dem sukzessiven Ausbau einer technischen Infrastruktur und einer produktionsübergreifenden Organisation. Am Standort im zweiten Obergeschoss des ehemaligen Fernmeldeamtes (Ost) in der Klosterstraße 44 können in einer 370 Quadratmeter großen Halle variable Raumkonzepte und Zuschauer­ situationen realisiert werden. In der Regel finden 99 Personen Platz, nach einem geplanten Umzug innerhalb des Gebäudes in naher Zukunft bis zu 199. Bis 2008 war die Heimat des Theaterdiscounters die alte Packhalle des Telegrafenamtes an der Monbijoustraße gegenüber der Jüdischen Synagoge. Die Zwischennutzung wurde vom Investor durch die Ankündigung von Entwicklungsmaßnahmen beendet, die dann jedoch noch weitere zehn Jahre auf sich warten ließen. 2009 wurde der Theaterdiscounter Pioniernutzer im damals noch komplett leer stehenden, dann nach und nach entstehenden Theater- und Atelierhaus Klosterstraße 44. Im Haus befand sich zu DDR-Zeiten eine Fernmeldezentrale, weshalb es nach der Wiedervereinigung übergangsweise von der Deutschen Telekom genutzt wurde. Nachdem das Haus jahrelang leer stand, 106

erschloss es ein Betreiber aus der Berliner Clubszene für die Zwischennutzung durch den Club WMF. In ­Eigeninitiative und mit großem, weitestgehend unbezahltem Engagement wurde damals die ehemalige Büroetage für die Zwecke des professionellen Theaterbetriebs umfunktioniert. Nach und nach zogen Bildende Künstler:innen und weitere Nutzer:innen aus dem Kunstkontext in das Gebäude ein. Durch wiederholte Verkäufe erhöhte sich über die letzten zehn Jahre zunehmend der Verwertungsdruck auf die Flächen, so dass ansässige Künstler:innen gezwungen waren, ihre Ateliers aufzugeben und Büronutzungen aus dem Kreativ- und Start-up-Bereich zunahmen. Mit dem letzten Verkauf endete vorerst das bisherige Betreibermodell und Stand 2021 ist der TD vorübergehend der letzte verbleibende Nutzer des Gebäudes. Der neue Eigentümer hat zugesagt, im Rahmen der Modernisierung alternative Flächen für die nahtlose Fortsetzung des Theaterbetriebs im Erdgeschoss bereitzustellen. Bis dahin spielt der TD weiter in respektive online aus der zweiten Etage. Der TD Berlin ist ein Theater in der Mitte der Stadt. Auf dem Spielplan steht ein wöchentlich wechselndes Programm neuer Inszenierungen und Performances mit Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Er lädt Monologfestival 2019, TD Berlin. © Loris Rizzo (S. 108/109)


Foyer des TD Berlin (damals noch „Theaterdiscounter“), 2013. © Christiane Patić

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Eingang TD während des Monologfestivals 2019, TD Berlin. © East Princess

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„Save your Love“, Hila Golan und Ariel Nil Levy, 2013. © Christiane Patić

seine Zuschauer:innen zu jährlich weit über dreißig Theaterarbeiten und verwandten Formaten ein. Als Ankerinstitution der Freien Szene befindet sich der TD Berlin in Konzeptförderung durch das Land Berlin. Weitere Teile der Finanzierung erfolgen über Projektmittel für Einzelproduktionen, Festivals und Reihen aus öffentlicher Hand sowie durch private Stiftungen, aber auch

durch Eintrittsgelder und Vermietungen von Probenräumen. Als Produktionsort ist er wichtiger Partner für unabhängige Kompagnien und Künstler:innen in lokalen, überregionalen und internationalen Netzwerken. Dabei liegt der Programmfokus auf der Weiterentwicklung von zeitgenössischem Sprechtheater, aber auch auf Festivals und stadtbezogenen Draußenveranstaltungen. 111


Ziel des TD Berlin ist es, Geschichten ungewöhnlich zu erzählen und Raum für neue Lesarten zu öffnen: beispielsweise in den Arbeiten von somerMaids, Frauen und Fiktion, internil oder Thermoboy FK. Bekannt gewordene Eigenproduktionen und -reihen thematisieren die Interventionsmöglichkeiten künstlerischer Arbeit, die Arbeitsbedingungen und Produktionsformen von Theater und setzen das Medium Theater in provokative Reibung mit anderen künstlerischen ­Disziplinen. Immer wieder entstehen am TD experimentelle, teils waghalsig abwegige Formate, in den letzten Jahren pflegt er auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit digitalen Phänomenen und Netzdiskursen. Originäre Festivalformate wie „Offshore“ und „Festivaali“ beispielsweise ermöglichten Einblicke in die innovativen Theaterszenen der Schweiz und Finnlands, das seit 2007 regelmäßig ausgerichtete „Monologfestival“ ist eines der wenigen Produktionsfestivals der Freien Szene und bringt in jeder Ausgabe bis zu zehn Uraufführungen zu einem gemeinsamen Thema hervor. Der TD ist Kooperationspartner überregionaler Initiativen und Gastspielnetzwerke im Netzwerk Freier Theater und setzt sich aktiv für verbesserte überregionale Vernetzungsund Auswertungsmöglichkeiten Freier Künstler:innen und Kompagnien ein. Die Gegend rund um den TD Berlin – zentral gelegen zwischen Alexanderplatz und Spree – steht vor einer vielversprechenden Verwandlung. Bislang wurde das Gebiet von den meisten Berliner:innen nicht als Kiez wahrgenommen. Die aktuelle Verkehrswegeführung leitet am Viertel vorbei und es existiert kein nennenswertes direktes Wohnumfeld. Seit einigen Jahren erwacht der Kiez jedoch durch sukzessive strukturelle Veränderungen allmählich aus dem Dornröschenschlaf: Mit der Entwicklung des komplett neuen Stadtquartiers Molkenmarkt soll sich das Viertel in Zukunft radikal ändern. Die auf Automobilität ausgerichtete Infrastruktur wird zurückgedrängt, damit städtisches Bauland entsteht, das bis 2026 zu einem neuen Stadtquartier entwickelt werden 112

soll. Kulturelle Nutzungen, sozialer Wohnraum, nachhaltige Architektur und Mobilitätskonzepte sollen dabei prägende Faktoren sein. Ein offenes Beteiligungsverfahren läuft derzeit und es besteht die einmalige Chance, im Zentrum der Stadt ein zukunftsweisendes, lebendiges Kulturquartier zu gestalten. Der TD Berlin ist schon jetzt vor Ort und wird in den kommenden Jahren nicht nur auf der Theaterbühne drinnen, sondern auch auf den öffentlichen Bühnenflächen des Molkenmarkts und des Klosterviertels mit künstlerischen Interventionen Position beziehen und den zukünftigen Begegnungsort bereits in der Gegenwart Realität werden lassen.

TD Berlin was founded in 2003 under the name ­Theaterdiscounter Berlin. At a time when space was still abundant in the city and interim use was standard practice, a group of independent theater makers created a place where contemporary theater could be further developed using formats, experiments and elaborate productions. Until 2008, the theater was located in the former packing hall of the telegraph office on ­Monbijoustraße. After this interim usage was ended, Theaterdiscounter became the first tenant of ­Klosterstraße 44, a building that had been used as the East Berlin t­ elecommunications center and which was completely vacant at the time. Using a great deal of elbow grease as well as a lot of unpaid help, the second floor of the building, previously used for offices, was converted into a professional theater. TD Berlin is a theater in the middle of the city and it offers a weekly alternating schedule of new productions and performances exploring current social topics. Außenansicht, TD Berlin. © Michael Müller


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Gegründet im Jahr 1992 als Theaterprobenhaus durch das Bezirksamt Berlin-Mitte, hat sich das

Theaterhaus Berlin zu einem zentralen Proben- und Produktionsstandort für freie darstellende Künstler:innen in Berlin entwickelt. Nach diversen Standortwechseln – erst zog es aus der Rosenthaler Straße in ein ehemaliges Umspannwerk der BEWAG, dann in eine frühere Grundschule am ­Koppenplatz in Mitte – befindet sich das Theaterhaus seit 2009 in der Wallstraße in einem ehemaligen ­Schulgebäude. So wurde aus dem „Theaterhaus Mitte“ das „Theaterhaus Berlin“. Betrieben wird es durch die Kulturinitiative ­Förderband gGmbH, die seit 2021 auch das Gebäude der ehemaligen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Schöneweide für die Nutzung durch die freien darstellenden Künste geöffnet hat. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa, basiert das Betreiberkonzept dabei vor allem auf der stundenbis tageweisen Überlassung der 23 Probebühnen im Haus an der Wallstraße (thbm) und der zukünftig 36 ­Probebühnen am Standort in Schöneweide (th²) – an 345 Tagen im Jahr, 85 Stunden pro Woche. Vor allem durch dieses große Angebot an kostengünstigen Probenräumen leistet das Theaterhaus Berlin einen wichtigen Beitrag zur institutionellen und infrastrukturellen Grundlage der freien Theaterarbeit in Berlin. Mit gut ausgerüsteten Probenräumen für (Sprech-) Theater, Tanz und Musiktheater in angenehmer Arbeitsatmosphäre und einem zentralen, gut erreichbaren Standort in der Stadtmitte (sowie einem eher idyllischen und wassernahen Standort in Schöneweide), ist das Theaterhaus schon quantitativ der bedeutendste ­Arbeitsplatz für alle Genres der darstellenden Künste – 380 Neuproduktionen und Wiederaufnahmen werden hier jährlich erarbeitet, von denen ein Großteil letztlich an den anderen Berliner Spielstätten zur Premiere kommt. 114

Zum Teil werden die Inszenierungen aber auch auf der Werkstattbühne 003 oder auf Open-air-Bühnen rund um das Theaterhaus selbst gezeigt. Platz in seinem ­Außenbereich, wo das urbane Flair der unmittelbaren Umgebung zur Folie und Bühne der oft bunten, ­a­rtistischen Aufführungen wird, hat das Theaterhaus ­ausreichend. Aber das Theaterhaus versteht sich auch als Ort der Begegnung, des Austausches und der Vernetzung, an dem Professionalisierung gefördert, Dialog ermöglicht und nicht zuletzt die Produktivität darstellender Künstler:innen in Berlin umfangreich dokumentiert wird. Jeden Monat finden hier die „Öffentlichen Proben“ statt, bei denen die Künstler:innen, betreut durch die veranstaltungstechnische Abteilung des Hauses, die Möglichkeit haben, ihre Arbeiten unter professionellen Bedingungen dem Publikum zu präsentieren und in anschließenden Gesprächen Feedback zu bekommen. Auch reguläre Workshop-Angebote von internationalen Größen der darstellenden Kunst wie beispielsweise Susan Batson oder Keith Johnstone gehören zum Portfolio des Hauses. Darüber hinaus werden thematische Reihen angeboten wie die inklusive „Künstler:innen Rampe“ des Berliner Inklusionsbotschafters Roland Walter und Schwerpunktveranstaltungen wie „­Summer’s End“ oder „Stundenhotel“. Bereits für das „100° Berlin“-Festival war das Theaterhaus ein entscheidender Produktionsort, an dem auch niedrigschwellig Bühnenexperimente getestet werden konnten. Das daraus entstandene Festival der Berliner Freien Szene, das „Performing Arts Festival“ (PAF), stellt für die Künstler:innen im Theaterhaus ein Highlight im Spielplan des Proben- und Produktionszentrums dar und ergänzt die Veranstaltungsformate des Hauses.


„Timebank“ an der Fassade des Theaterhaus Berlin, Grotest Maru, 2015. © Ronald Spratte

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In den vergangenen Jahren haben sich die ­Schwerpunkte der freien Theaterarbeit verändert, was sich in neuen thematischen Setzungen, aber auch in den Kooperationen widerspiegelt. Hier haben Projekte mit interkulturellem Hintergrund und unter Diversitäts­ aspekten wie auch das Theater im öffentlichen Raum einen neuen Fokus, eine neue Dringlichkeit erhalten. Durch seine künstlerische Zusammenarbeit mit internationalen Partner:innen hat sich das Theaterhaus auch zu einer wichtigen Anlaufstelle für Gäste aus aller Welt entwickelt.

For more than twenty-eight years, what began life as Theaterhaus Mitte and is now, after multiple moves, Theaterhaus Berlin, has been a central rehearsal and production location as well as communication platform for independent performing artists working in all genres in Berlin. It was founded in 1992 in Rosenthaler Straße by the district office of Berlin-Mitte to support independent theater makers by offering inexpensive rehearsal spaces. After multiple interim locations, including an electrical substation and a former elementary school on Koppenplatz, Theaterhaus Berlin has operated out of a former school building on Wallstraße since 2009. It is operated by the cultural initiative Förderband gGmbH, which began filling a second building with the creative spirit and artistic creations of the independent performing arts community in 2021, the former home of the Ernst Busch Academy of the Dramatic Arts in ­Schöneweide. Theaterhaus Berlin bei Nacht. © Ronald Spratte

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„Erstes Leid“ auf der Open-Air-Bühne des Theaterhaus Berlin, Zirka Trolopp, 2017. © Ronald Spratte

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„Die Wüstenwitwe“, Elektro Kagura, 2019. © Ronald Spratte

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Der

Holzmarkt 25

ist ein

ca. 12000 Quadratmeter großes genossenschaftliches Stadtquartier am Spreeufer in Berlin-Friedrichshain. Er ging aus der subkulturellen Zwischennutzung einer Konversionsfläche der landeseigenen Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) hervor. Kaum ein Projekt steht so beispielhaft für die Besonderheiten der jüngeren Berliner Stadtentwicklungsgeschichte mit ihren schwierigen Aushandlungsprozessen. Gelegen im ehemaligen Grenzgebiet, blieb das Grundstück an der Holzmarktstraße jahrzehntelang unbebaut und wurde nach dem Fall der Mauer zu einer berlintypischen urbanen Leerstelle im Herzen der Stadt. Wie so oft, waren es auch hier zunächst die Pioniere der Subkultur, die sich die Brachfläche als Möglichkeitsraum aneigneten. So entstand ab 2003 die Bar25, die sich zu einem vielbeschriebenen und international bekannten Kulminationspunkt der Berliner Clubkultur entwickeln sollte. Doch das gewachsene Biotop urbaner Freiräume am Spreeufer wurde durch die städtische Masterplanung „Mediaspree“ zur Disposition gestellt. Etliche der inzwischen weltbekannten Institutionen der Subkultur mussten ihren Platz räumen – so auch die Bar25. Schon zuvor war eine Debatte um die Liegenschaftspolitik Berlins und die Entwicklung des Spreeufers entbrannt. Ein Bündnis aus Zivilgesellschaft und Kulturschaffenden forderte 2008 in einem Bürgerentscheid ein „Spreeufer für alle“ und fand damit breite Zustimmung. Das Votum hatte jedoch letztlich vor allem symbolischen Charakter, da bereits Planungsrecht geschaffen war und das Land erhebliche Entschädigungszahlungen fürchtete. Dennoch ist es diese Bewegung gewesen, die dazu ermutigt hat, eine alternative und nutzer:innengetragene Stadtentwicklung zu forcieren. Der Versuch der Zwischennutzer:innen, das Land Berlin davon zu überzeugen, ein Erbbaurecht für das Grundstück zu 122

vergeben, scheiterte 2012 noch an Vorgaben der Finanzverwaltung. Der inzwischen gegründeten Holzmarkt 25 eG und der Genossenschaft für urbane Kreativität blieb nur die Wahl, sich am Bieterverfahren zum Höchstpreis zu beteiligen. Mit dem Konzept für ein „urbanes Dorf“ mit öffentlichem Spreeufer gelang es schließlich, eine nachhaltige Schweizer Pensionskasse, die Stiftung Abendrot, zu überzeugen, das Grundstück zu erwerben und dem Holzmarkt 25 eG das Erbbaurecht zu überlassen. Die Maxime, mehr Wert auf Nutzung als auf Besitz zu legen, überzeugte hunderte Genossenschaftsmitglieder, das notwendige Eigenkapital zu stellen – mit der Umweltbank als Finanzierungspartnerin. Schrittweise sollte nun ein Quartier geschaffen werden – ohne den Vermarktungsdruck der Immobilienwirtschaft. Maßgabe war es dabei von Beginn an (und auch während der Bauphasen), das Grundstück unter der Prämisse größtmöglicher Zugänglichkeit zu entwickeln. So entstand zunächst ein öffentlicher Park am Ufer, den die Genossenschaft mit dem Bürgerverein Mörchenpark e.V. gestaltete. Mit dem Ding Dong Dom entstand zeitgleich eine ephemere Spielstätte in experimenteller Bauweise für 99 Zuschauer:innen aus 800 alten Fenstern, die in ganz Berlin eingesammelt und verbaut wurden („Wenn man alle Fenster öffnet, ist das Theater nicht mehr da. Wir werden den Raum innen und außen bepflanzen, uns mit dem Zeitgefühl der Pflanzen synchronisieren und die Außenwelt an uns vorbeirauschen lassen, bis wir uns in unserer eigenen Zukunft wiederfinden und sehen, was für ein Raum gewachsen ist“, hieß es in der Pressemitteilung). Martin Kaltwasser entwarf das gläserne Theater für eine temporäre Residenz des Performancekollektivs ­Showcase Beat Le Mot, das den Ding Dong Dom am 1. Mai 2013 in einer konzertierten Aktion und in Kooperation mit Holzmarkt und HAU


Blick auf das Gelände Holzmarkt 25. © Studio Eyecandy

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Holzmarkt 25. © Studio Eyecandy

124 Holzmarkt 25 mit Ding Dong Dom. © Studio Eyecandy


Ding Dong Dom auf dem Gelände Holzmarkt 25, Bespielung von Showcase Beat Le Mot. © Atia Trofimoff

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Hebbel am Ufer errichtete (gefördert vom Senat und dem Hauptstadtkulturfonds). Zuvor hatte das Kollektiv über Social-Media-Netzwerke, Plakate und Handzettel befreundete Künstler:innen und Menschen aus der angrenzenden Plattenbausiedlung und Kreuzberg-Friedrichshain eingeladen, sich am Bau der Spielstätte zu beteiligen. („Die Aktion beginnt um 16 Uhr und setzt sich nach dem Lustprinzip bis in die Abendstunden fort.“) Zur Einweihung am 2. Oktober wurden die Besucher:innen mit dem Schiff vom HAU Hebbel am Ufer abgeholt und über die Spree zum Holzmarkt gefahren, um das Theater zeremoniell zu eröffnen. Im Ding Dong Dom wollten Showcase Beat Le Mot ihre Vorstellung vom Theater der Zukunft realisieren: ein Raum, der Forschungsinstitut, Museum, Archiv, Club, Observatorium, Bar, Theaterraum, Treibhaus, Wunder- und Kunstkammer und Lounge zugleich ist. („Im Theater der Zukunft wird es keine Verbote geben und natürlich keine Kulisse.“) Kulturelle Zwischennutzungen der Brache schufen damit von Beginn an die Basis für die Planung und Finanzierung der Neubauten auf dem Holzmarkt 25, die der Kunst und Kultur später einen dauerhaften Raum geben sollten. Heute ist das Quartier verwirklicht und mit dem Aufgreifen lokaler Infrastrukturbedarfe auch ein Stück Urbanität entlang der Narbe zwischen Ost und West geschaffen. Identität stiftet hier noch immer die Clubkultur – doch sie ist nun integrierter Teil eines neu geschaffenen Mikrokosmos, der sich zur Stadt hin öffnet. Ziel der Genossenschaft war es, der Masterplanung „­Mediaspree“ eine Vision entgegenzusetzen, die die Kultur der Zwischennutzung fortschreibt, sie jedoch auch in eine langfristige räumliche Perspektive überführt und dabei gleichzeitig dem zivilgesellschaftlichen Anspruch an ein öffentlich zugängliches und qualitativ hochwertig gestaltetes Ufer gerecht wird. Mehr als die Hälfte der Grundstücksfläche wurde dafür in einem Städtebaulichen Vertrag der Öffentlichkeit gewidmet. Das architektonische Programm der „Hallen und Hütten“ sieht eine solide Infrastruktur als Rohbau mit 126

Industriestandard (Hallen) vor, die flexible An-, Auf- und Umbauten in Holzbauweise zulassen. So können Gestaltungsräume für unterschiedlichste Nutzer:innen entstehen. Erschlossen wird das autofreie Quartier mit einem Uferwanderweg und zahlreichen begrünten Pfaden. Brücken, Laubengänge und Terrassen erschließen die halböffentlichen Bereiche auf den Etagen der Häuser, verbinden die einzelnen Gebäude und schaffen Gemeinschaftsflächen für unterschiedlichste Nutzer:innen. Die Versorgung des Quartiers erfolgt unterdessen durch ein unterirdisches Wegesystem und lässt die öffentlichen Flächen damit unbeansprucht. Seit der Einweihung im Mai 2017 haben sich auf dem Holzmarkt mehr als hundert Kreativschaffende in Studios, Werkstätten und Ateliers angesiedelt. Kunst und Kultur sind damit die DNA des Ortes geblieben. In einer multifunktionalen Halle (dem Säälchen) finden Konzerte, Theater und Ausstellungen statt. In teilweise festen und teilweise temporären Räumen ist Platz für Lesungen, Podiumsdiskussionen und kleinteiligen Einzelhandel. Eine zehn Meter hohe Halle bietet „Birdmilk“, einem jungen Berliner Artistenkollektiv um Eike Stuckenbrock, ein eigenes Wohnzimmer, das speziell auf die Bedürfnisse aufwendiger Artistik zugeschnitten ist. Um den Marktplatz herum haben eine Musikschule, eine Kita, mehrere gemeinnützige Projekte und ein Verlag ihr Zuhause gefunden. Mehr als 400 Menschen arbeiten auf dem Holzmarkt – tagsüber im Café oder in der Nacht im Club. Im Restaurant, auf den Wochenmärkten oder beim Blick aufs Wasser begegnen sich Nutzer:innen, Nachbar:innen und Besucher:innen. Ziel der räumlichen Konfiguration wie auch der Auswahl der Nutzer:innen ist ein größtmögliches Maß an synergetischen Wirtschaftskreisläufen. So liefert der Bäcker sein Brot an das Restaurant und die Patisserie den Nachtisch fürs Catering im Säälchen. Das Studio 25 steht allen Musiker:innen und Künstler:innen zur ­Verfügung. Die dort aufgenommenen Songs finden dann bei Konzerten im Säälchen oder im Club ihr Publikum.


Säälchen, Holzmarkt 25. © Thorsten Herte

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Ding Dong Dom auf dem Gelände Holzmarkt 25. © Veit Sprenger

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Flexible Raumnutzungsmodelle, Sharing-Modelle und Quartierssynergien ermöglichen nicht zuletzt auch eine breite Nutzungsvielfalt, bei der die maximale Ertragskraft kein determinierender Faktor ist. Im Jahr 2020 wurde die Kulturszene ganz ­besonders von der Coronakrise getroffen. Doch gerade am Holzmarkt hat sich gezeigt, dass eine nutzer:innengetragene Besitzstruktur im Genossenschaftsverbund ein hohes Maß an Resilienz schafft. Flexible, multi­ funktionale Raumstrukturen mit großzügigen Freiflächen ermöglichen eine verantwortliche Nutzung – auch in Pandemiezeiten. Mit dem Holzmarkt ist also ein Experiment begonnen worden, das mögliche Rezepte gegen ­Flächenkonkurrenz und Verdrängung von gewachsener Kultur aus der Innenstadt bieten kann.

Holzmarkt 25 is a 12,000 square meter cooperative urban area on the banks of the Spree River in the district of Friedrichshain. It grew from a subcultural interim usage of a conversion area belonging to Berlin’s municipal waste disposal company, BSR. Located in the former border area between East Berlin and West Berlin, this property on Holzmarktstraße remained undeveloped for decades and was an empty space in the heart of the city after the Fall of the Berlin Wall. Bar25 opened here in 2003, which developed into an internationally famous culmination point of Berlin’s club culture until it was forced off the property. After years of struggle, the Abendrot foundation was convinced to purchase the property and lease it to Holzmarkt to support the concept of an urban village, the money for which came from hundreds of members of the cooperative. Since its opening in 2017, hundreds of artists have settled into studios and workshops, ensuring that art and culture are part of the location’s DNA. 129


Seinen Namen hat das

radialsystem

vom historischen

Gebäude übernommen: Das R ­ adialsystem V war eines der ersten Pumpwerke Berlins und wurde 1881 als Teil eines innovativen Systems der Stadtentwässerung erbaut. Bedingt durch das rasante Wachstum Berlins wurde es bereits 1905 auf das Doppelte seiner bisherigen Größe erweitert. Das Bauwerk ist ein typisches Beispiel hochwertiger Industrie‐ und Stil‐Architektur um 1900. Unter Verwendung von Schmuck‐ und Gestaltungselementen der märkischen Backsteingotik entwarf der Architekt Richard Tettenborn (1857 – 1923) mit dem Pumpwerk ein wichtiges Gebäude des kommunalen Gemeinwesens in ästhetisch ansprechender Weise: Große Fenster erlaubten den Blick in helle Räume und auf mächtige, glänzende Maschinen. Beinahe ein Drittel des Gesamtgebäudes wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Nach Kriegsende wurde der Bestand gesichert und bis 1999 als Abwasserpumpwerk genutzt. Dieser Teil steht heute unter Denkmalschutz. Gegründet wurde das radialsystem 2005 als „­RADIALSYSTEM V – New Space for the Arts“ in privater Trägerschaft von Jochen Sandig, Folkert Uhde und Tilman Harckensee. Bereits 2004 hatte der Architekt Gerhard Spangenberg begonnen, die denkmalverträgliche Sanierung und Ergänzung des Bauwerks zu planen. Die Schauseiten des Gebäudes sollten sichtbar bleiben, die Abrissseite neu gefasst werden. Innerhalb eines Jahres wurde der Umbau realisiert. Jochen Sandig und Folkert Uhde standen dem Haus ab der Eröffnung im September 2006 auch als geschäftsführende Gesellschafter und Künstlerische Leiter vor. Impulsgebend war der Wunsch, einen Ort für kreative Entwicklung und einen offenen Raum für den Dialog der Künste zu schaffen. 130

Aus der ehemaligen Maschinenhalle und dem Kesselhaus des denkmalgeschützten Pumpwerks entstanden die Halle (600 Quadratmeter, mit Bestuhlung bis zu 450 Personen, ohne 600) und der Saal (400 Qua­ dratmeter, max. 300 Personen). Der Neubau bietet Publikums‐ und Künstlerfoyer, Garderoben, Büros und die Studios A (400 Quadratmeter), B und C (jeweils 200 Quadratmeter) mit Südblick auf Spree und Innenstadt. Ein zweistöckiger Kubus (ca. 40 Personen) mit durchgehender Glasfassade Richtung Süd­westen, das 400 Quadratmeter große, überdachte Deck (max. 100 Personen) sowie eine großzügige Spreeterrasse mit Bootsanleger machen das radialsystem rund um die Uhr und zu allen Jahreszeiten zu einem spannenden Ort. Seit 2006 verwandeln raumgreifende Performances das gesamte Gebäude des ehemaligen Pumpwerks und seine Außenflächen in eine Bühne. Konzertabende überraschen hier in ungewöhnlichen Settings, die Studios laden ein zu Installationen und das offene Deck zu Listening Sessions in der Abendsonne mit Blick aufs Wasser. Das radialsystem ist ein Ort der Künste, der auf singuläre Weise Musik, zeitgenössischen Tanz, unterschiedliche Wissensformen und gemeinschaftliches Handeln zueinander in Beziehung setzt. Als Präsentations‐ und Entwicklungsraum ist das Haus insbesondere in den Bereichen Choreografie, Musiktheater und Konzert maßgeblich an der Erprobung neuer künstlerischer Ausdrucksformen beteiligt und setzt seit seiner Gründung international Impulse. Es will Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Lebensrealitäten und Hintergründen miteinander ins Gespräch bringen und gemeinsam nach neuen Maschinenhalle Radialsystem V, 1925. © Berliner Wasserbetriebe


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Pumpwerk des Radialsystems V, 1925. © Berliner Wasserbetriebe

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­ rzählungen jenseits eines statischen Kulturbegriffs E suchen. Kultur soll als eine Landschaft vieler gleichwertiger Perspektiven sichtbar und erlebbar werden – ohne dominante Sichtweisen in den Vordergrund zu stellen. Widersprüche dürfen und sollen nebeneinander stehen, sich berühren und Reibung erzeugen. Anknüpfend an die Historie und geografische Lage des Hauses – direkt an der Spree gelegen, befand es sich auch am Übergang von Ost‐ nach Westberlin im heutigen urbanen Zentrum zwischen Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte – will das radialsystem Grenzen ausloten und durchlässig machen. Als Institution für die vielfältigen Freien Szenen in Berlin und darüber hinaus offen, schafft das radialsystem Sichtbarkeit für lokal und international agierende Künstler:innen. Die programmatischen Schwerpunkte sind dabei nicht voneinander abgegrenzt, sondern fließen in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen in die vielfältigen Projekte ein: In der sich auf viele Orte verteilenden Berliner Tanzlandschaft sucht es verstärkt die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, um die Arbeits‐ und Präsentationsbedingungen der Tanzschaffenden in Berlin zu verbessern. Als Haus mit internationaler Strahlkraft übernimmt das radialsystem für Künstler:innen im Zeitgenössischen Tanz eine Gelenkfunktion zwischen Entwicklungsorten und großen Bühnen. Im Bereich Musik beschäftigen sich im radialsystem Kurator:innen, Musiker:innen und Ensembles mit der Frage, was eine Musik des 21. Jahrhunderts sein kann: In ungewohnten Konzertformaten und Programmreihen werden Begriffe wie klassische und zeitgenössische Musik hinterfragt und über eine europäische Perspektive hinaus erweitert. Damit öffnet es auch im zeitgenössischen Musiktheater den Blick für eine Ästhetik jenseits der klassischen Oper und anderer traditioneller Formen und nimmt – insbesondere durch die Verknüpfung von Musik mit choreografischen Ansätzen – eine international herausgehobene Position ein. Als Resonanzraum ist das Haus darüber hinaus Ausgangspunkt für Formate an der Schnittstelle von

Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft: Im Rahmen von Festivals, Foren, Ausstellungen, Mentoring‐ und Residenzprogrammen gestaltet es in Kooperation mit nationalen und internationalen Partner:innen kontinuierlich Entwicklung und Austausch. Bis 2018 leiteten Jochen Sandig und Folkert Uhde gemeinsam mit Bettina Sluzalek das radialsystem künstlerisch, die Geschäfte führten von 2012 an ­Friederike Hofmeister und Janina Paul. Für ihre erfolgreiche Arbeit, ihr Engagement und ihre innovativen Ideen und Formen der Kulturvermittlung wurden Folkert Uhde und Jochen Sandig mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Befreundete Künstler:innen, Ensembles und Festivals im radialsystem waren und sind dabei Constanza Macras, das CTM-Festival, Heroines of Sound, l­aborgras, Nico and the Navigators, Sasha Waltz & Guests, Solistenensemble Kaleidoskop, Sonar Quartett, Splitter Orchester, Vocalconsort Berlin oder das Zafraan Ensemble. Seit 2018 leiten Friederike Hofmeister als Geschäftsführerin und Matthias Mohr als Künstlerischer Leiter gemeinsam das radialsystem. Unterstützt werden sie dabei von einem Team aus circa dreißig festangestellten und zahlreichen freien Mitarbeiter:innen, die das radialsystem von Anfang an begleiten. Darüber hinaus erhält das radialsystem eine Förderung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, mit der die Bedingungen für künstlerische Projekte substanziell verbessert werden konnten. Im Jahr 2019 kaufte das Land Berlin die Immobilie von einem privaten Eigentümer zurück, um sie dauerhaft für die kulturelle Nutzung zu sichern. Seit 2020 ist die gemeinnützige Radial Stiftung Mehrheitsgesellschafterin der Radialsystem V GmbH.

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Außenansichten radialsystem. © Phil Dera (S. 134/135)

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„What’s That Noise?“, Sandhya Daemgen, 2020. © Descha Daemgen

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„Dialoge 2020 – Relevante Systeme II“, Sasha Waltz & Guests. © Sebastian Bolesch

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radialsystem takes its name from the historic building that houses it: Radialsystem V was one of the first pumping stations in Berlin and was built in 1881. Due to how quickly Berlin grew, it was expanded to double its previous size in 1905. Nearly a third of the building was completely destroyed in the Second World War. radialsystem was founded in 2005 as RADIALSYSTEM V – New Space for the Arts as a private partnership between Jochen Sandig, Folkert Uhde and Tilman Harckensee with the goal of creating a place for creative development and an open space for a dialog between the arts. As an institution within Berlin’s diverse independent arts community, radialsystem seeks to generate visibility for local as well as international artists. The state of Berlin purchased the property in 2019 from a private owner to secure its permanent cultural usage. „#freebrahms“, STEGREIF.orchester, 2018. © Phil Dera

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Die Spielstätte

Vierte Welt

hat sich 2010 aus einem Theaterprojekt der Kompagnie Lubricat heraus im Stadtteil Kreuzberg entwickelt. Angezogen vom urbanen Flair des öffentlichen Raums rund um das Kottbusser Tor hatte die Kompagnie unter der Leitung von Dirk Cieslak – seit 1989 als freier Regisseur tätig und Mitbegründer der Sophiensæle – einen Gewerberaum auf der Galerie des Zentrums Kreuzberg gefunden, der ursprünglich als Arztpraxis gedient hatte, dann als türkisches Kulturzentrum. Fast ikonisch steht der Gebäudekomplex im Stil der ­Moderne, der seit dem Jahr 2000 Zentrum Kreuzberg genannt wird und mit 367 Wohnungen auf 12 Etagen plus Gewerbeeinheiten die Adalbertstraße überbrückt, für die radikalen städtebaulichen Strukturmaßnahmen, mit denen die Berliner Verwaltung ab 1963 das ­sogenannte „Erste Stadterneuerungsprogramm West-Berlins“ vorantrieb. Die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg führten hier und im umliegenden Kiez dazu, dass fast die gesamte Vorkriegsbebauung nach 1950 – nach rigorosen Entmietungsmethoden und teilweise unter massivem Protest der Bevölkerung – abgerissen wurde. Zwischen 1969 und 1974 von den Architekten Wolfgang Jokisch und Johannes Uhl erbaut, wurde das Gebäude am U-Bahnhof Kottbusser Tor zum Symbol des städtebaulichen Kahlschlags, dem ab Ende der 1970er Jahre eine wachsende Hausbesetzer:innenszene Widerstand leistete. Von drei Seiten umschlossen von der Berliner Mauer, entwickelte sich das Quartier SO36 in den 1970er und 1980er Jahren zum legendären Zentrum der Berliner Sub- und Alternativkultur, die letztlich ab 1983 durch zivilen Ungehorsam e ­ inen Wechsel der radikalen ­Flächensanierung hin zum Konzept der „Behutsamen Stadterneuerung“ erzwang. Anfangs noch querfinanziert durch die Basisförderung des Berliner Senats für die Kompanie Lubricat – 140

die sich dann im Verlauf der Entwicklung selbst abgeschafft hat – und seit Januar 2015 dann finanziert durch eine Spielstättenförderung, entwickelt die Vierte Welt hier seit 2010 inmitten von Bars, Restaurants, Kinos, einer Stadtteilbibliothek, einem Parkhaus und einer Kita das Modell für eine neue kulturelle Praxis weiter, die Philosophie und Politik, Performance und Diskurs zusammendenkt und für ein diverses Publikum öffnet. Die Vierte Welt will ein offener Raum sein – genauer gesagt zwei Räume, die sich mit jeweils 130 und 70 Quadratmetern vor allem auch für experimentelle Formate anbieten, als Platz für Unfertiges, für junge Künstler:innen am Anfang ihrer Entwicklung, als Labor und Werkstatt. Die Vierte Welt versteht sich als Einladung zu einem freien Denken, das Aktionismus, Kunst und Theater vermischt und in dessen Zentrum kollaborative Produktionsweisen stehen. Gegen den kurzfristigen Verwertungsdruck des Marktes versucht die Spielstätte, Dauer und Kontinuität in der künstlerischen Arbeit zu behaupten – weg von der Fokussierung auf das singuläre ästhetische Ereignis. Gegen die Eingrenzung und den Normierungsdruck in eine „Szene“ arbeitet die Vierte Welt an einer künstlerischen Praxis, die den Versuch unternimmt, die ästhetischen und kunstpolitischen Positionen des gegenwärtigen „Freien Theaters“ neu zu denken und zu erfinden.


Terrasse vor der Vierten Welt. © Vierte Welt

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Blick auf das Zentrum Kreuzberg. © Claudia Raupach

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Veranstaltung in der Vierten Welt. © Vierte Welt

The performance venue Vierte Welt developed in 2010 from a theater project by the company Lubricat in SO36 neighborhood in Kreuzberg. Drawn by the urban flair of the public space surrounding Kottbusser Tor, the company led by Dirk Cieslak, a co-founder of Sophiensæle who has worked as an independent director since 1989, found a commercial space on the gallery of Zentrum Kreuzberg that had originally been used as a doctor’s office and then as a Turkish cultural center. This

nearly iconic housing complex in the modern style has been called Zentrum Kreuzberg since the year 2000 and features 367 apartments over 12 floors plus commercial units and spans Adalbertstraße. Surrounded by bars, restaurants, movie theaters, a district library, a parking garage and a daycare facility, Vierte Welt has developed a model for a new kind of cultural practice that combines philosophy and politics as well as performance and discourse, making it available for a diverse audience. 143


Das

SOX

ist

eines der ältesten Nonprofit-Projekte für zeitgenössische Kunst in Berlin. Es ist ein 2,25 mal 3 mal 0,6 Meter großes Schaufenster auf der Oranienstraße in Kreuzberg. Die erste dokumentierte Ausstellung fand 1981 mit einer Installation des Künstlers Eberhard Bosslet statt. ­Nachdem die Scheibe des damals noch für Produkt­ werbung genutzten Schaufensters bei der Demonstration zum 1. Mai durch einen Steinwurf zerstört wurde, funktionierte Bosslet den Ort für eine künstlerische Arbeit um. Das war die Geburtsstunde des SOX. Es folgten viele verschiedene Ausstellungen, die nicht dokumentiert wurden und hauptsächlich aus der lokalen Kreuzberger Kunstszene stammten. 2007 organisierte eine neue Generation von Künstler:innen und Kuratoren:innen mit Anne Neukamp und Renaud Regnery das SOX und öffnete das Programm für die immer weiter gewachsene und international gewordene Kunstszene in Berlin. Das SOX initiiert jährlich ungefähr zehn Ausstellungen. Die einzige Bedingung für eine Teilnahme ist, eine neue Arbeit für das SOX zu entwickeln – es dürfen also keine bereits bestehenden Arbeiten ausgestellt werden. Die Ausstellungen im SOX zeigen eine große künstlerische Bandbreite – auch im Umgang mit der Idee des Schaufensters: Sie reichen von einem riesigen Banner über der gesamten Oranienstraße über eine Mauer um das Schaufenster hin zu einer Menschenauflademaschine oder einem auslaufenden Bild, das das Fenster mit rosa Farbe auffüllt. Dabei bleibt die Irritation im öffentlichen Raum ein konstantes Ziel. (Wo jedoch konstant irritiert wird, stumpfen die Nerven ab, ein allgemeines Phänomen.) Inhaltlich, ästhetisch und formal müssen die Ausstellungen jedoch über das Moment dieser Irritation hinausgehen. Genau das sollen – auf unterschiedliche Art und Weise – die eingeladenen Künstler:innen durch ihre jeweilige Praxis und Erfahrung mitbringen. In einer Studie über Projekträume 144

(„­Herkules Arbeit“ von Natalie Broschat, Süddeutsche Zeitung, 3.3.2017) wurde deren Erfolg durch den ­schnellen Ortswechsel erklärt: Die Ausstellung wird zum Event. Im Falle des SOX finden die Eröffnungen auf der Straße vor dem Schaufenster statt und die Ausstellungen sind 24 Stunden und sieben Tage die Woche zu sehen. Das bedeutet, dass nicht die Eröffnung der elementare Tag der Ausstellung ist, wo sich an der Anzahl der Besucher der Erfolg messen lässt, sondern der Alltag auf der Straße, in dem uns die Installation begegnet. Das SOX bildet eine Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum. Es ist ein Raum ohne Tür. Das Fenster ist dafür allerdings umso größer. Natürlich kennen viele diesen Ort und wissen, dass dort Installationen gezeigt werden, dennoch kommen die meisten Besucher:innen zufällig vorbei – en passant, im Vorbeigehen. Diese „zufälligen Besucher:innen“ kommen ohne Erwartungen und stellen die Künstler:innen und die ausgestellten Arbeiten vor völlig andere Herausforderungen. Die Un­möglichkeit, das Schaufenster betreten zu können, er­öffnet die Möglichkeit, sich der Kunst anonym zu nähern. Die wechselnde Kunst im Schaufenster ist immer eine unbekannte Variable im Alltag auf der ­Oranienstraße. Durch die Kontinuität der verschiedenen Ausstellungen reagieren die Künstler:innen immer auch auf die Veränderungen in der Stadt. Das SOX ist mit seinen beiden benachbarten Schaufenstern – links die Werbung des FSK-Kinos, rechts die des „Wild at Heart“-Clubs – auch ein Ort der Vergangenheit, der die Stimmung vom freien und wilden Berlin der 1980er Jahre irgendwie zu konservieren scheint. Es steht nicht für die Ansprüche, Erwartungen und Vorstellungen von Tourist:innen, Altpunker:innen, Hipster:innen, alteingesessenen Anwohner:innen, neuen

„LETTERS LADDER LATTER MAKES WORDS SWORDS WORLDS“, Hannah Rath, 2020/21. © 2021 Sox/Marlene Burz


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„wild orchids“, Kristin Wenzel, 2020. © Kristin Wenzel s-e-e-e-n.com

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Anwohner:innen und allen anderen, die vorbeikommen. Es ist ein Freiraum für unabhängige Ausstellungsexperimente von jungen wie erfahrenen Künstler:innen. Mit Beharrlichkeit und der Kontinuität von immer neuen Ausstellungen und temporären Veränderungen des Ortes reagiert das aktuelle Ausstellungsteam Marlene Zoe Burz, Manuel Kirsch und Björn Streeck auf den städtischen Wandel und setzt vielfältige Zeichen für freie und kreative Ideen. Die Erhaltung des SOX als Nonprofit-Projekt, das weiter mit unkonventionellen Installationen und Straßenalltagsstörungen zum ­einzigartig bunten und kunstfreundlichen Stadtbild beiträgt, ist dabei das wichtigste Ziel.

SOX is one of the oldest non-profit projects for contemporary art in Berlin and a one-of-a-kind interface between public and private space. It is a display window on Oranienstraße in the district of Kreuzberg. Its first documented exhibition took place in 1981 and featured an installation by the artist Eberhard Bosslet, who converted the window into a space for artistic work after it had been smashed by rocks during demonstrations on the first of May. This initial installation was followed by a wide variety of exhibitions which were not documented and which primarily came from the local Kreuzberg art community. In 2007, a generation of artists began to organize SOX and opened it up to Berlin’s international art community. It initiates about ten exhibitions per year. The only requirement is that the work presented be created new for SOX; no work that already exists can be e ­ xhibited. 147


„SITZEN und STEHEN“, Yala Juchmann, David Polzin. © 2021 Sox/Marlene Burz

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„Der eilige Geist“, Asta Gröting, 2020


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„Man kann es zur Zeit das einzige schwarze deutsche Theater nennen.“ (taz, 24. 9. 2019) Das

Ballhaus Naunynstraße

hat die deutschsprachige Theaterlandschaft nachhaltig verändert. Es hat mitten in Kreuzberg einen Raum für etwas Neues geschaffen: das postmigrantische Theater. Die wechselhafte Geschichte seines Gebäudes beginnt im Jahr 1863 mit einem Bauantrag für ein viergeschossiges Wohnhaus und einen Tanzsaal. Da die Bauvorschriften im Deutschen Reich auch dem ­umfassenden staatlichen Wunsch nach Kontrolle und Zensur kultureller Veranstaltungen Rechnung trugen, musste Ferdinand Renz, der Besitzer von „Graumann’s ­Fest­sälen“, den Behörden schriftlich versichern, dass das Musikpodium nur „dazu dienen soll, Rednern und Vortragenden Gelegenheit zu geben, von einem erhöhten Standpunkte aus bei festlichen Anlässen ein Kaiserhoch u.s.w. ausbringen (…) zu können“. 1938 wurde das Saalgebäude von der Reichshauptstadt Berlin übernommen und diente während des Krieges der Unterbringung von Zwangsarbeiter:innen, die u. a. beim Bau des Fichte-Bunkers eingesetzt wurden. Dass das Ballhaus heute überhaupt noch als Spielstätte genutzt werden kann, ist einigen Denkmalpfleger:innen im Sanierungsgebiet Kreuzberg zu verdanken, die sich bei einer Ortsbegehung 1972 für den Erhalt des Ballhauses und seine Restaurierung eingesetzt haben. So konnte es ab 1983 vom Kunstamt Kreuzberg als öffentliches Kulturzentrum betrieben werden. Im Jahr 2008 setzte Shermin Langhoff, die zuvor an der von Matthias Lilienthal geleiteten Spielstätte HAU das Festival „Beyond Belonging“ kuratiert hatte, in diesem Ballsaal eine Zäsur. Seit den 1950er Jahren hatte die Zuwanderung in Westdeutschland zwar zum wirtschaftlichen Aufstieg geführt, nicht aber zur kulturellen und politischen 150

Teilhabe der Zugewanderten oder ihrer Nachfahr:innen. Unter dem Begriff „postmigrantisches Theater“ bot das Ballhaus Naunynstraße diesen marginalisierten Stimmen nun eine institutionalisierte Bühne, einen Raum für Protagonist:innen, die Zuwanderung erfahren haben, und für ihre Erzählungen: Es entstand ein neuer ­kultureller Resonanzraum mit öffentlicher Wirksamkeit: Die ­legendäre Theateraufführung „Verrücktes Blut“ in der ­Regie von Nurkan Erpulat wurde 2011 zum Berliner Theatertreffen und zum Mülheimer Stückemarkt ­eingeladen. Seit 2013, als Shermin Langhoff gemeinsam mit Jens Hillje die Intendanz des Maxim Gorki Theaters übernahm, standen im Ballhaus Naunynstraße unter der künstlerischen Leitung und Geschäftsführung von Wagner Carvalho vor allem Schwarze und queere Perspektiven im Fokus der künstlerischen Arbeit – ­Perspektiven of Color. Seitdem agiert das Haus als Impulsgeber für eine Reflexion postkolonialer Strukturen in Kunst und Alltag; es setzt sich für die gesellschaftliche Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands ein und richtet die öffentliche Aufmerksamkeit auf strukturellen Rassismus und intersektionale Ausschlussmechanismen. So schafft das Ballhaus Naunynstraße einen in Deutschland einzigartigen Rahmen für die Begegnung von Schwarzen, queeren und Künstler:innen of Color und für deren selbstbestimmte künstlerische Produktion. Die Voraussetzungen für dieses Modell Ballhaus Naunynstraße, für die Entwicklung von neuen Perspektiven in den darstellenden Künsten, sind Kontinuität und Nachhaltigkeit. Deshalb versucht das Ballhaus, gerade für junge Künstler:innen neue Zugänge zur Kunst zu schaffen und engagiert sich auch im Bereich der kultu-


Außenfassade des Ballhaus Naunynstraße. © Wagner Carvalho

rellen Bildung mit nachhaltigen Projekten wie der „akademie der autodidakten“. Hinzu kommt eine kontinuierliche thematische Weiterentwicklung mit Eigenproduktionen und internationalen Gastspielen, mit Theater, Tanz, Performances, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Filmreihen, Konzerten und interdisziplinären Festivals wie „Black Lux – Ein Heimatfest aus Schwarzen

Perspektiven“ (2013), der Veranstaltungsreihe „We are tomorrow – Visionen und Erinnerungen anlässlich der Berliner Konferenz von 1884“ (2014/15), mit ­Veranstaltungen wie der Ersten Indaba Schwarzer ­Kulturschaffender in Deutschland (2015), dem Festival „Republik Repair – Reparatory Imaginings from Black Berlin“ (2017) und dem internationalen 151


„New Growth“, Nasheeka Nedsreal, 2019. © Zé de Paiva

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„PATTERNS“, Magda Korsinsky, 2019. © Wagner Carvalho


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Performance­festival „­Permanente Beunruhigung“ (2018) oder „Postcolonial Poly Perspectives“ (2019). Der Ballsaal von 1863 ist mittlerweile Begegnungsund Produktionsort eines stetig wachsenden Netzwerks an Schwarzen Künstler:innen, Kulturschaffenden of Color, queeren Performer:innen und postmigrantischen Akteur:innen. Für sie stehen zwei Bühnen zur Verfügung; der Zuschauerraum hat eine durchschnittliche Kapazität von fünfzig bis neunzig Plätzen. Das Ballhaus Naunynstraße wird institutionell gefördert aus Mitteln des Landes Berlin, der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg sowie durch öffentliche Drittmittel.

Ballhaus Naunynstraße has forever changed the ­German-language theater landscape. It created space for something new: postmigratory theater. According to the daily newspaper taz, “You can call it the only Black theater in Germany at the moment.” The building that houses this institution began life in 1863 with plans for a four-story residential building and a ballroom. Its current chapter began in 2008 when Shermin Langhoff created an institutionalized postmigratory theater for marginalized voices and protagonists with migration experiences and their stories. The legendary theater production “Verrücktes Blut” (Crazy Blood) was invited to the 2011 “Berlin Theatertreffen” festival and the “Mülheim New Play Festival”. After Langhoff became artistic director of the Maxim Gorki Theater in 2013, her successor, Wagner Carvalho, has made Black and queer perspectives the focus of the artistic work: perspectives of color. „Everybody can be everybody can not be“, Jao Moon, 2019. © Wagner Carvalho

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Das

Theater Expedition Metropolis (ExMe)

bezog 2010 seinen festen Standort auf dem Gelände der ehemaligen Kreuzberger „Desinfectionsanstalt“ (DESI) in der Ohlauer Straße 41. Die zwischen 1885 und 1887 errichtete, mehrfach umgebaute und erweiterte Einrichtung war bis zu ihrer Schließung 1987 Schauplatz vielfacher sozialer, politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Spiegel des sozialen ­Wandels. Ihre Entstehung fiel in eine Zeit wegweisender neuer Erkenntnisse in der Medizingeschichte, die mit dem Engagement und der experimentellen Forschung namhafter Persönlichkeiten wie Robert Koch oder Rudolf Virchow verbunden sind und dazu führten, dass die Verbreitung von Seuchen und bedrohlichen Infektionskrankheiten erkannt und die Methoden der Hygiene maßgeblich verbessert wurden. Nach einem Entwurf von Stadtbaurat Hermann Blankenstein wurde 1885/86 auf dem Gelände der Pumpstation I der Berliner Kanalisation in der Reichenberger Straße 66 ein erstes Gebäude errichtet. Kurze Zeit später (1892/93) wurde die Anstalt um weitere Backsteinbauten in der Ohlauer Straße erweitert. Am 1. November 1886 nahm die DESI den Betrieb auf. Mit dem Umbau des ehemaligen Verwaltungsgebäudes zum Theater schrieb ExMe die bewegte Geschichte des Ortes im Dialog mit seiner Umgebung fort. Es greift dabei insbesondere den Impuls auf, mit den Mitteln eines Theaters der Sozialen Kunst gestaltend zu wirken: für Vielfalt und Nachhaltigkeit, gegen Exklusion und Destruktion. Denn im Gegensatz zur ehemaligen Funktion der Desinfectionsanstalt, in der mit sozialmedizinischer und epidemiologischer Dringlichkeit „Reines“ von „Unreinem“ geschieden wurde, stellt ExMe aus ebenso dringlichen Gründen Inklusion und Durch­ mischung in den Vordergrund. In den letzten Jahren haben die weltweiten Migrationsbewegungen und 156

die zunehmenden Verdrängungsprozesse im Stadtteil die künstlerische Arbeit von ExMe stark beeinflusst: von der fortwährenden Zusammenarbeit mit ehemals in der nahen Gerhart-Hauptmann-Schule untergebrachten Geflüchteten über die Teilnahme am Programm ­„Weltoffenes Berlin“ bis hin zu der bei ExMe entwickelten szenischen Erzählmethode Multiplex, deren gleichnamiges diverses Ensemble in seinen Produktionen das Verbindende und Gemeinsame in der ­Differenz aufscheinen lässt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit sich verändernden Rahmenbedingungen und dynamischen Kontexten ist seit jeher ein fester Bestandteil der Arbeit von ExMe. So entwickelte ExMe Ende der 1990er Jahre unter der Leitung der damaligen Gründer Ulrich Hardt, Franz Hödl und Michael Kreutzer aus einer langjährigen Kooperation mit dem Teatr Gardzienice (Lublin/Polen) die Methode der Theaterexpedition. Inspiriert von den Arbeiten von Antonin Artaud, Eugenio Barba, Bertolt Brecht und Peter Brook schafft diese Methode mit den Mitteln des Theaters eine Auseinandersetzung mit einem sozialen Raum, der in einer Produktion und Präsentation mündet. Im Mittelpunkt stehen dabei der künstlerische Dialog zwischen dem Vorgefundenen und dem Unvorhersehbaren. Mit der Durchführung und Weiterentwicklung von Theaterexpeditionen wurde ExMe zu dem in mehrfacher Hinsicht mobilen Theater, dem die Auseinandersetzung mit sich wandelnden Kontexten methodisch eingeschrieben ist. Die Erfahrung der Theaterexpeditionen gibt den explorativen Charakter der ExMe-Theaterarbeit ebenso vor wie die dialogische Auseinandersetzung mit einem räumlichen und thematischen Kontext. Das Areal der denkmalgeschützten ehemaligen Desinfectionsanstalt ist für ExMe ein idealer Ort, um Kunst und Gemeinsinn zu verbinden und zu erproben. Die Kleine Kunsthalle, in der Theateraufführungen


Seitenansicht (Ohlauer Straße), 1886, Expedition Metropolis. © Archiv Expedition Metropolis

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und vielfältige künstlerische Zusammenkünfte stattfinden, schafft eine dichte Atmosphäre; der einladende Hof mit den in den eigenen DESI-Lab-Gestaltungswerk­ stätten entwickelten Sitzgelegenheiten ermutigt den ­Austausch zwischen Künstler:innen und Besucher:innen. In den Sommermonaten wird der Hof zur Freiluftspielund -produktionsstätte. In Kreuzberg gelegen, dem Berliner Bezirk mit der höchsten Bevölkerungsdichte, ist ExMe für viele Menschen als Theater in Lauf- oder Fahrradweite auch räumlich nah. Das baut Barrieren ab und erleichtert auch Familien mit Kindern den Besuch von Vorstellungen. Einkommensschwachen Stadtbewohner:innen kommen eine soziale Preisgestaltung und Veranstaltungen auf Spendenbasis entgegen. Damit schafft das Theater Zugang für neue Bevölkerungsgruppen und gestaltet ­Begegnungsräume für Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Die Entwicklung und Präsentation neuer passgenauer Erzählformen, die theatrale Nutzung von Vielsprachigkeit und niedrigschwellige Angebote zum aktiven Engagement tragen den aktuellen Veränderungen in der Nachbarschaft und in der Stadt Rechnung. Bis einschließlich 2019 finanzierte sich ExMe aus Projektmitteln, Mieteinnahmen, Spenden und Eintrittsgeldern. Die Förderung der Produktions- und Spielstätte durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa im Jahr 2020 ermöglichte es ExMe, eine dringend nötige Stelle für Buchhaltung und Administration einzurichten, und stellt eine Anerkennung seiner Arbeit in der Berliner Kulturlandschaft dar. Im ExMe-Labor entstehen die Produktionen von hauseigenen Ensembles wie Multiplex, DESI-Mobil und Ensemble Casa Casanova und die von Kooperationspartner:innen. ExMe hat sich als beliebter Präsentationsund Produktionsort etabliert, der über Berlin hinaus anerkannte Künstler:innen und Gruppen wie Zirkusmaria, Marcozzi Contemporary Theater oder das Scratch Theater anzieht. Die künstlerischen Werkstätten von ExMe wenden sich oft an ein junges Publikum und

leisten ebenso wie die Kooperationen mit Schulen und Bildungsträgern der darstellenden Kunst einen Beitrag zur kulturellen Bildung. Neben einer großen künstlerischen Freiheit, die in einem Labor wie ExMe Teil des Selbstverständnisses ist, schätzen Künstler:innen und Besucher:innen, mit welch spezifischer Aufmerksamkeit und Erfahrung immer wieder Bedingungen dafür geschaffen werden, dass sich sehr unterschiedliche Menschen austauschen und gemeinsam etwas gestalten können.

Theater Expedition Metropolis (ExMe) moved into its current location in 2010, the former disinfection facilities in the district of Kreuzberg, originally constructed between 1885 and 1887. By converting the former administrative building into a theater, ExMe is continuing the moving story of the location in dialog with its ­environment. The inviting courtyard is used for open-air performances in the summer months. It uses the notion of a theater of the social arts to champion diversity and sustainability while working against exclusion and destruction. Productions are created by in-house ensembles such as Multiplex, Desi-Mobil and Ensemble Casa Casanova as well as by groups known well beyond Berlin. The artistic workshops of ExMe are often created for young audiences.

Kreuzberger HofFestSpiele, Expedition Metropolis, 2014. © Archiv Expedition Metropolis

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Über das ausland wird in der Presse gerne so (oder so ähnlich) geschrieben: „Eine der letzten Bastionen des Randständigen im weitgehend durchgentrifizierten Prenzlauer Berg, der seinerzeit ja einer der zentralen Subkultur-Orte in der DDR war.“ (taz, Berlin) International ist das

ausland jedoch nicht wegen seiner Verortung in Berlin, im ­Prenzlauer Berg, sondern durch sein Programm ­bekannt – am häufigsten durch die Experimental­musikReihe „biegungen im ausland“. Im Keller der Lychener Straße 60, einem ehemals besetzten Wohnhaus und heutigem Hauskollektiv, wurde das ausland als Veranstaltungsort für experimentelle Musik gegründet (und vorausschauend aufwendig schallisoliert). Seit seiner Eröffnung im Jahr 2002, die durch die Unterstützung des Hauskollektivs, Kredite bzw. Zuschüsse und viel Eigenarbeit möglich wurde, galt die Veranstaltungsreihe „biegungen“ als einer der wichtigsten Anlaufpunkte für die Berliner Echtzeit­ musik- und Improvisations-Szene, die auch viele internationale Gäste aus der pulsierenden und beständig wachsenden Improvisations-Community anzog und vorstellte. Trotz seines musikalischen Schwerpunkts war der Projektraum ausland mit durchschnittlich etwa achtzig Veranstaltungen jährlich schon immer spartenübergreifend ausgerichtet. Ziel war und ist, auch jenseits kommerzieller Erwägungen und kulturbetrieblicher Trends und Turns gerade mainstreamfernen künstlerischen Ästhetiken und Ansätzen hochwertige Präsentationsbedingungen bieten zu können – in einem Raum, der mit einer Kapazität für (bestuhlt) siebzig Gäste oft genau den richtigen Rahmen bietet. Gerade dadurch wurde das ausland auch international bekannt. Denn bei aller Vielfalt des Programms, sei es nun seitens des Teams oder durch die zahlreichen externen Partner:innen kuratiert, entsteht eine implizite Handschrift zwischen langfristiger Kontinuität und Öffnung gegenüber neuen 162

Formen, Szenen und Akteur:innen. Dieses Selbstverständnis als kleines Mehrspartenhaus, in dem Neue und experimentelle Musik, Indie- und Elektronikkonzerte, aber auch literarische Lesungen, Performances, experimenteller Film, politische Diskussionsformate und manchmal vereinzelte Ausstellungen stattfinden, ist eine Besonderheit im Kontext der Berliner Projektraumlandschaft. Das ausland ist noch immer ein unabhängiger, basisdemokratisch arbeitender Veranstaltungs- und Produktionsort, dessen Betrieb sich wesentlich auf ehrenamtliches Engagement stützt. Neben einzelnen Projektförderungen erhält die Spielstätte seit 2020 eine Basisförderung durch das Land Berlin, mit dem auch das neue, hauseigene Residenzprogramm finanziert wird, welches im Jahr 2021 Residenzen für vier Künstler:innenkollektive im Bereich Tanz und Performance anbietet, die ein besonderes Engagement und Interesse an kollektiver Arbeit, kollaborativen Praktiken, sicheren und inklusiven Performanceräumen und sozio-kulturellen Perspektiven ihrer künstlerischen Arbeitsformen haben.

ausland in der Lychener Straße 60, Hofansicht. © Dorothea Tuch


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„Gangplank“, ausland, 2020. © ausland

taz, a leftist daily newspaper in Berlin, describes ausland as “one of the last bastions of the marginalized in the nearly completely gentrified Prenzlauer Berg, which itself was one of the primary locations of subculture in East Germany”. Founded as a venue for experimental music in the basement of a former squat in 2002, ausland has achieved an international reputation with its experimental music series “biegungen im ausland”.

Despite its focus on music, the venue offers about 80 events per year, most of which are interdisciplinary. One of the many things that makes ausland special is its self-image as an interdisciplinary venue, where, ­alongside concerts of new and experimental music, literary readings, performances, experimental films, political discussion formats and occasional exhibitions all take place.

„THE BAR *****“, Julia Rodríguez, 2020. © Zeina Hanna „Songs We Taught Your Mother – Dialogues with R ­ ecordings From The Music’s Past“, 2018. © ausland

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Das

Ballhaus Ost

ist eine

Spielstätte im Prenzlauer Berg, ein auf den ersten Blick etwas morbide wirkendes „Backsteintempelchen mit kleinem Friedhofsgarten zwischen ­Pappelallee und Lychener Straße“ – „ein verwunschener Ort mitten im Getriebe“, wie Ulrich Seidler einmal in der Berliner Zeitung schrieb. Herz des Hauses ist ein Saal, der sich seit seiner Erbauung 1907 als Trauer- und Versammlungshalle der Freireligiösen Gemeinde Berlin kontinuierlich transformiert hat. Die Freireligiöse Gemeinde wurde 1845 in der preußischen Hauptstadt in Abgrenzung zur katholischen Kirche gegründet; 1848 eröffnete sie ihre eigene Begräbnisstätte auf dem etwa 6000 Quadratmeter großen Gelände (das heute einen kleinen Spielplatz hat); 1920/21 wurde das Grundstück Pappelallee 15 dann vom Friedhof getrennt und ein straßenseitiges Haupthaus als Verwaltungsgebäude und ein an die Feierhalle angrenzendes Hinterhaus als Ledigen- und Altenheim darauf erbaut. 1934 wurde die Gemeinde von den National­ sozialisten aufgelöst und ihr Besitz 1936 verstaatlicht. Zu DDR-Zeiten wurde der Feiersaal als Kantine genutzt, „Casino des Handwerks“ genannt, nach der Wende wandelte er sich erst in ein Kino, dann in einen Billardsalon, danach feierte man hier im Club „Liza Lounge“ bis in den frühen Berliner Morgen, bevor er schließlich zum Theater wurde. Im Jahr 2006, mitten im großen Ausverkauf des Prenzlauer Bergs, gründeten die Regisseure Uwe Moritz Eichler, Philipp Reuter und die Schauspielerin Anne Tismer das Ballhaus Ost in Selbstverwaltung – einer der vielen Versuche in Berlin, Kunst erst einmal ohne Förderung zu betreiben und das Defizit mit Enthusiasmus, Engagement und Hoffnung auf Sponsoren auszugleichen. Bis heute ist das Ballhaus Ost ein Freiraum für neue Formate, Arbeitsweisen und Ästhe­ 166

tiken. Neben etablierteren Künstler:innen – wie dem anarchischen Puppentheater-Kollektiv Das Helmi, der dokumentarisch arbeitenden Costa Compagnie, dem Kollektiv Hysterisches Globusgefühl oder dem Choreografen Christoph Winkler – bietet es auch (noch) weniger bekannten Akteur:innen der freien Berliner Theaterszene Raum, ihre Arbeiten zu zeigen und zu entwickeln. Ergänzt wird der Spielplan durch Gastperformances aus dem deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Seit 2011 leiten Daniel Schrader und Tina Pfurr das Ballhaus und haben es zu einer Ankerinstitution in der Freien Szene entwickelt, in der mit Neugier neue künstlerische Formen und Kollaborationen erforscht werden. Der ehemalige Festsaal verändert sich mit jedem Theaterprojekt und lädt das Publikum in immer neue Räume: einen ganz leeren mit freiem Blick auf Spiegelwände, Parkett und hinaus in den angrenzenden Friedhofspark oder in eine begehbare labyrinthische Installation. Manchmal auch einfach in eine Black Box. Jedes Wochenende wechselt das Programm und zeigt Berliner Nachwuchskünstler:innen ebenso wie die dem Haus seit langem eng verbundenen Gruppen. Den Impuls der Gründung fortsetzend bespielt das Team vom Ballhaus Ost auch weiterhin ab und zu selbst die Bühne – oder im Rahmen von Festivals auch gerne gleich das gesamte Haus. So unterschiedlich die Stücke sind, endet doch jeder Abend an der Bar auf der Galerie des Saales, wo nicht nur an Premierenabenden die Clubatmosphäre früherer Nutzungen wieder erwacht.


Tribüne, Ballhaus Ost. © Ballhaus Ost

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Performing Arts Festival am Ballhaus Ost, 2019. © Mathias Völzke


„Name Her. Eine Suche nach den Frauen+“, Anne Tismer/Marie Schleef, 2020. © Lea Hopp

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„Hotel Berlin“, Recherchepraxis | Nolte | Feindel | Brodowsky, 2016. © David Baltzer

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Ballhaus Ost is a performance venue in Prenzlauer Berg that, at first glance, seems a slightly morbid “little brick temple with a small cemetery garden between ­Pappelallee and Lychener Straße…an enchanted place in the middle of the city’s hustle and bustle”, according to Ulrich Seidler of the Berliner Zeitung. The heart of the building is a hall that has continuously transformed since its original construction in 1907 as a funeral hall. Since the Fall of the Berlin Wall, it was used as a movie theater, pool hall and then the club Liza Lounge before Moritz Eichler, Philipp Reuter and Anne Tismer founded Ballhaus Ost in 2006. Since then, it has served as an open space for new formats, working methods and aesthetics. The former funeral hall changes with every theater project and invites the audience into a new room every time: completely empty with a free view of ­mirror walls, a walkable, labyrinth-like installation or, sometimes, just a black box. „Hotel Berlin“, Recherchepraxis | Nolte | Feindel | Brodowsky, 2016. © David Baltzer

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Zuerst gab es Hinterhof-Multifunktionsräume und eine Fabrikhalle. Heute ist das

DOCK 11 eine wichtige Tanzbühne mit angrenzendem Studiopark und Gästehaus. Angefangen haben Wibke Janssen und Kirsten Seeligmüller, die Gründerinnen und Geschäftsführerinnen des DOCK 11, kurz nach der Wende. Nach dem Mauerfall zog es die beiden Hamburgerinnen in den Ostteil der Stadt. Es interessierte sie das, was im Idealfall positiv vom Osten übrig bleiben würde: ein anderes Verhältnis zu Arbeit und Geld, die Rolle der Frau. Zunächst mieteten sie nur einen Raum, ein Hinterhof-Loft in der Kastanienallee 79 im Prenzlauer Berg. Es wirkte, so erinnern sie sich, als wäre der Ort, der zuvor für Büros und verschiedene Gewerke genutzt wurde, sortiert verlassen worden. Telefoniert wurde damals in der Telefonzelle Ecke Oderberger Straße. Schlange stehen gehörte dazu. Wer übers Telefon kein Glück hatte, kommunizierte über Zettel, die unter Haustüren durchgeschoben wurden. Auf die Energie der Truppe wirkte sich das keinesfalls negativ aus. Im Hinterhof wurde entkernt, renoviert, am Vormittag mit der eigenen Company geprobt, am Nachmittag fanden Kurse statt, am Wochenende Aufführungen und die heute legendären Partys auf dem großteils noch brachliegenden Gelände. Die Rainbirds haben gespielt, oder auch Bob Rutman in Combo mit Musikern der Einstürzenden Neubauten. Doch bald schon war die Community zu groß, der Platz zu knapp. 1996 erfolgte der Ausbau der Fabrikhalle im Hof zum Theater. Um pünktlich für „Tanz im August“, das international bedeutende Berliner Sommer-Tanz­ festival, fertig zu werden, fand eine öffentliche Aktion zum Fenstereinbau statt. Die Halle ist so schlicht wie großzügig gehalten. Die ursprüngliche Bausubstanz blieb erhalten und wurde mit ökologischen Materialien behutsam saniert. Für den Rest des Lofts – inzwischen 172

auf drei große Studios für die rund fünfzehn Tanzkurse täglich sowie ein Café angewachsen – gelang es, Firmen zu Vorleistungen zu überreden. Der Einbau der restlichen Fenster und der Heizungsanlage wurden nicht bei der Bank, sondern bei Handwerksbetrieben abbezahlt. Aber Banken zu überzeugen war dann doch Thema. Der Miet­vertrag lief aus, der Eigentümer wollte verkaufen. Er blieb mit seinen Forderungen zum Glück fair. Die DOCK 11 GbR rang sich zum Kauf durch und fand mit der GLS-Bank einen Partner, der den Kauf möglich machte. Die Studios des Theaters sind in Räumen entstanden, die 1895 eigentlich als Antik- und Eichenleistenfabrik gebaut wurden. Dr. Kurt Rosenfeld, der Sohn des damaligen Bauherrn, wurde als Strafverteidiger von Rosa Luxemburg, Walter Bullerjahn und Carl von Ossietzky bekannt. Sein Anteil am Gelände wurde 1933 von der Gestapo beschlagnahmt. Die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte, die sich in Berlin in permanenter Aufarbeitung befindet, ist somit auch im DOCK 11 stark spürbar – sie war und bleibt Gegenstand von energetischen Auseinandersetzungen und ­Recherchen. Ob geflutet mit Wasser, gefüllt mit Erde, entkernt oder mit Tribüne, jedes Wochenende verwandelt sich die Theaterhalle DOCK 11 in ein anderes Biotop. Jedes heißt jedes! Spielzeitferien gibt es nicht, dafür ist der Raum zu gefragt. Hunderte von Künstler:innen haben die ­DOCK-11-Bühne inzwischen bespielt. Mit höchstens 99 Sitzplätzen bietet sie ein eher intimes Setting, das jedoch nicht nur von Einsteiger:innen genutzt wird. Vielmehr begleiten der Bühnenraum und seine Möglichkeiten viele Tanzschaffende über lange Jahre ihrer Karriere hinweg.


Dock 11, Hofeingang. © Anna Falkenstein

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Hier können Ideen gesponnen werden, die nicht zwangsläufig auf eine Repräsentationsform ausgerichtet sind, sondern aus Begegnungen entstehen oder auch als Begegnung angelegt sind. Das allseits gepriesene Techniker:innen-Team ist dabei ein wichtiger Faktor. Bereits 1996 hat Felix Ruckert den Raum für seine Forschung zu Tanz und Begegnung („Hautnah“) in Eins-zu-eins-Inszenierungen verwandelt. Solche Formate waren damals, als postdramatisches Theater eher Theorie als Praxis war, noch sehr selten. Eine Arbeit am kontemplativen Gegenpol des Prozessorientierten schuf die Choreografin Amanda Miller, als sie – mit Einwilligung des Dalai Lama – buddhistische Mönche einlud, Sandmandalas in den Raum zu legen (OT, 2004). Später hat Nir de Volff, der inzwischen die erste inklusive deutsche Tanzkompanie in Leipzig leitet, die verschiedenen Etappen seiner erfolgreichen Wir-schaffen-das-Choreografie „Come as you are“ (2017) mit syrischen Flüchtlingen im DOCK 11 ­entwickelt, im Coronajahr 2020 konnten Peter Pleyer und Michiel Keuper mit einer durational performance ihre Company Cranky Bodies begründen – eine der sehr wenigen Berliner Initiativen der letzten Jahre, die Verantwortung für eine Gruppe über einen längeren Zeitraum übernehmen will. Bereits 2009 konnte, nach langjährigen Bemühungen, zudem die Dependance EDEN***** in Pankow eröffnet werden, wo auf einem parkähnlichen Grundstück mit Mitteln aus der Stiftung Deutsche Klassenlotterie mehrere Studiohäuser gebaut wurden, die Probenräume, Residenzapartments und eine flexible Bühne für bis zu 150 Zuschauer:innen bieten. Künstler:innen, aber auch Universitäten und auswärtige Kulturinstitute mieten sich dort ein. Die hohe Qualität der Studios ist unbestritten. Unter guten Bedingungen proben zu können, ist für die ständig wachsende Berliner Tanzszene eine wichtige Komponente internationaler Anschlussfähigkeit geworden. Auch die Möglichkeit, flexibel zwischen Proben-, Forschungssituation und Showings zu agieren, richtet sich nach den EDEN Studio, Dock 11 EDEN*****. © A. Emmrich

Bedürfnissen neuer Präsentationsformate. Die Studios sind ganzjährig ausgebucht. Wer einmal da war, kommt meist wieder. Je nach Budget der Pro­duktionen und dem Stand des eigenen Umsatzes können die Geschäftsführerinnen flexibel auf Anfragen reagieren und die Studios auch einmal an finanziell weniger gut ausgestattete Künstler:innen vergeben. Meg Stuart, Laurent Chétouane oder das Dance On Ensemble proben im EDEN*****, und viele schwärmen von der Atmosphäre und den klaren, atmenden Räumen. EDEN***** erinnert an eine Szene aus Wim Wenders’ Pina-Bausch-Film, in der der Tänzer Damiano Ottavio Bigi in einem komplett verglasten Studio im Wald tanzt und es wirkt, als entstünde zwischen den Bewegungen und der Präsenz der Bäume und dem Tanz eine gemeinsame Energie. So ist es auch in Pankow. Die Gebäude wurden dort praktisch zwischen die Bäume geschoben – kein einziger musste gefällt werden. Zusammen mit ihnen erleben die Tänzer:innen die Jahreszeiten und die Bewegungen des Wetters wie Wind und Lichtspiele. Das Gutgemachte der Räume wirkt dabei immer noch untypisch für Berlin – so großzügig gedacht, so sehr der DIY-Nachwende-Ästhetik entwachsen, dass es sich anfühlt, als habe man einen Ausflug zu skandinavischer Großzügigkeit und Weite gemacht. Oder anders gesagt: Hier, in diesen Studios, die auch zu Aufführungs- und Ausstellungsorten umgewandelt werden können, wird die Tanzszene an das internationale Weltstadtflair des heutigen Berlins anschlussfähig. Kirsten Seeligmüllers und Wibke Janssens Studio-Tanzpark in Pankow und die charismatische Fabrikhalle im Prenzlauer Berg verbinden auf diese Art Geschichte und Gegenwart der Stadt. Die noch wesentlichere verbindende Komponente ist jedoch: das Element der Begegnung. Das DOCK 11 ist als Theaterhalle nicht ohne die angegliederten Bereiche denkbar. Die Mischkalkulation der Finanzierung ist dabei das eine, wichtiger sind die Begegnungsmöglichkeiten durch die (Profitrainings-)Kurse, durch die gemeinsamen Pausen von probenden Choreograf:innen 175


„andropolaroid“, Yui Kawaguchi, 2016. © Barbara Dietl

oder durch den Austausch im Café und Garten zwischen in Berlin ansässigen Künstler:innen und internationalen, die sich in die Gästezimmer einmieten. Dabei entsteht ein Austausch über Ideen, neue Techniken, Ästhetiken, Jobs, Tourmöglichkeiten oder gar der Wunsch nach Zusammenarbeit. Solche Räume, die für mehr als ein Schichtsystem stehen, fehlten in Berlin jahrelang. 176

Bislang gibt es hier noch keinen staatlich gestellten Tanzort, so sind es vor allem das DOCK 11, EDEN*****, die Tanzfabrik und die Uferstudios, die solche wichtigen Begegnungsräume bieten. Genauso wichtig wie die Produktionsbedingungen ist, dass der Tanz, der in Berlin produziert wird, auch hier gezeigt werden kann. Der wandelfähige Charakter des

„Cranky Bodies a/company“, Peter Pleyer, Michiel Keuper, 2020. © Michiel Keuper (S. 177/178)


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DOCK 11 zwischen Showcase, Probenbühne und Tribünentheater ist daher nach wie vor eine wichtige Konstante des Tanzschaffens vor Ort. Die Halle ist bis heute Berlins einzige Bühne, die an erster Stelle dem Tanz gewidmet ist. Durch eine seit 2006 im Zweijahrestakt bewilligte Senatsförderung, die inzwischen zunächst bis 2024 in eine Konzeptförderung übergegangen ist, kann die Bühne Künstler:innen ohne Zuzahlung ­angeboten werden und jede Produktion eine ganze Woche lang in den Aufführungsräumen proben – Bedingungen, die es ansonsten außerhalb des Ensem­ blebereichs kaum gibt. Oft gibt es an freien Spielstätten nur eine einzige B ­ ühnenprobe. Auch Festivals entstehen nicht auf Papier, sondern wie das Tanzfilmfestival „Pool“ oder das Nachbarlands­ showcase „Un/polished“ durch die Synergien der Orte und ihrer Möglichkeiten sowie ihrem Treffpunkt-­ Charakter. So hat sich zum Beispiel das ­Research- und Performancefestival „b12“ – von ­Johannes Wieland und Evangelos Poulinas ins Leben gerufen und veranstaltet – inzwischen zum international wahrgenommenen Magnet entwickelt. Für die freie israelische Szene ist der Ort ebenfalls wichtig geworden. Seit Jahren besteht ein reger Austausch zwischen dem MASH-Tanzhaus in Jerusalem und dem DOCK 11. Bei regelmäßigen wechselseitigen Besuchen wird jeweils ein Festivalprogramm zusammengestellt und ein ­Netzwerk für Künstler:innen mit Arbeitsschwerpunkt in den zwei Ländern gebildet. Die Vielseitigkeit der Ausrichtung auf die Communitys und der Umfang des Netzwerks des DOCK 11 sind in jeder Beziehung – inhaltlich wie ästhetisch – wesentlich für das Programm des Theaters. Butoh wird genauso gezeigt wie Konzepttanz, neoklassisch geprägter Tanz und Postmodern, Eva Meyer-Kellers an Bildender Kunst orientierte Raumkunst oder die Traumforschungswelt von Anna Nowicka. Auswahlverfahren gibt es, allein um die Bewerbungen für die Bühnenvergabe zu sichten. Dies geschieht sowohl durch die Geschäftsführer:innen

wie auch durch ein Netzwerk aus kuratorischen Berater:innen. Auch die Mitarbeiter:innen haben die Möglichkeit, sich für ihnen wichtig erscheinende Künstler:innen einzusetzen, indem sie sich für Beratung oder das Schreiben von Förder­anträgen zur Verfügung stellen. Im Rahmen der aktuellen Konzeptförderung können zudem erstmals Koproduktionsbeiträge an Künstler:innen vergeben werden. „Stildiversität“ ist dem Dock 11 dabei ein erklärtes Anliegen. Bei allem Raum für Beziehungen und Begegnungen soll Offenheit für noch nicht Wahrgenommenes und Überraschendes bleiben. Ergänzend zum respektvollen Nebeneinander der Ästhetiken treibt das Bemühen um gleichwertige, nicht-hierarchische Arbeitsverhältnisse die Geschäftsführerinnen in ihrer inzwischen dreißigjährigen Zusammenarbeit an. Hohe Ideale und Pragmatik – das scheint am DOCK 11 kein Widerspruch zu sein.

DOCK 11 has existed as a permanent venue with a specific focus on dance since 1998, operating a venue with 99 seats in a former factory within the Prenzlauer Berg neighborhood of Berlin. In 2009, it opened an additional venue, Eden*****, which can accommodate up to 150 spectators. Dock 11 offers its stage to a different Berlin-based artist or group of artists each week, resulting in a new production nearly every week of the year. In doing so, the theater’s artistic leadership seeks to create open spaces and encounters to help to explore contemporary dance in all of its facets. The dance community in Berlin is decidedly international and many of the dance makers produced here work both in Berlin as well as other cities and countries. While the primary focus is on dance, Dock 11 is also open to other formats and genres. 179


Die

Schaubude Berlin

hat sich seit ihrer Gründung 1993 zu einem wichtigen euro­päischen Standort für Figuren- und Objekttheater entwickelt. Inszenierungen aus dem In- und Ausland, Koproduktionen, Sonderreihen und Festivals spiegeln die wechselhafte Beziehung von Menschen und Dingen wider. Das Gebäude in der Greifswalder Straße 81 – 84 wurde 1929 nach Plänen des Charlottenburger Architekten Ernst Schneckenberg als Karstadt-Kaufhaus erbaut und steht heute unter Denkmalschutz. Ab 1949 war erst das Kino Atlas hier zu Hause, zu DDR-Zeiten zog 1972 dann das Staatliche Puppentheater Berlin ein, das damals größte Ensemble-Puppentheater im deutschsprachigen Raum. Es wurde 1991, nach der sogenannten Wende, abgewickelt. 1993 bezog schließlich die neu gegründete, senatsgeförderte Schaubude Berlin die Räumlichkeiten, die zur Kulturprojekte Berlin GmbH gehört. Die Anfangsjahre des Theaters prägte Gerd Taube, unter dessen Leitung die freie Berliner Figuren- und Puppentheaterszene eine künstlerische Plattform fand und ein regel­mäßiger Abendspielplan für Erwachsene etabliert wurde. Silvia Brendenal, die das Haus von 1997 bis 2015 leitete, öffnete die Schaubude dann künstlerisch stärker für die visuelle Bildsprache eines théâtre d’objets (Objekt­theater). Sie begründete zahlreiche Festivals, darunter das „Theater der Dinge“ und das erste Figuren- und Objekttheater-Festival für die ganz Kleinen „Unter dem Tisch“. Ab 2015 setzte Tim Sandweg als Künstlerischer Leiter die Tradition des Festivals „Theater der Dinge“ fort. Die erste von ihm verantwortete Ausgabe „Digital ist besser“ (2016) war der Auftakt für eine weitere Öffnung des Programms in Richtung Digitalität, Robotik und hybride Formen an der Grenze zwischen darstellenden und bildenden Künsten. 180

Mit einem wöchentlich wechselnden Kinder- und Abendprogramm lädt die Schaubude dazu ein, die Band­breite des zeitgenössischen Figuren- und Objekttheaters zu entdecken. Dabei sind die Grenzbereiche bewusst fließend – so dass neben Puppenspieler:innen auch Künstler:innen aus den Bereichen Performance, Bildende Kunst, Tanz, Musik, Multimedia auf der Bühne stehen. Die Schaubude versteht sich als Möglichkeitsraum: Hier sollen sowohl dem künstlerischen Nachwuchs als auch etablierten freischaffenden Theatermacher:innen gute Rahmenbedingungen und ein produktiver Aus­tausch geboten werden. In Ko-/Produktionen, in Reihen und Projekten unterstützt sie Produktionsgemeinschaften und versucht, in der Berliner Theaterlandschaft Impulse zu setzen: beispielsweise durch die künstlerische Auseinandersetzung mit der digitalen Transformation der Gesellschaft, mit der sich die ­Schaubude seit 2016 be­schäftigt. Dafür vergibt sie seit 2016 jeweils im Sommer eine vierwöchige Künstler:innenresidenz, die sich als Forschungslabor versteht. Das Research-Vorhaben muss nicht Bestandteil einer geplanten Produktion sein und verpflichtet nicht zu einer Premiere. Vielmehr ist es das Ziel, der Gruppe einen Ort zu bieten, um an künstlerischen Ideen zu forschen, neue Formen auszuprobieren und Möglichkeiten neuer Kollaborationen zu entwickeln. Grundsätzlich versteht die Schaubude darstellende Kunst als einen Dialog zwischen Bühnengeschehen und Publikum. Das Anliegen der Theaterpädagogik der Schaubude Berlin ist es, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die Möglichkeit zu geben, mit dem Theater in Austausch zu treten – ob als Zuschauende, Teilnehmende von Workshops oder Projekten, in D ­ iskussionen oder Kooperationen. Im Jahr 2019 erhielt die Schaubude und ihr Künstlerischer Leiter Tim Sandweg den ASSITEJ Veranstalter-

Außenansicht der Schaubude Berlin und Foyer während des Performing Arts Festival 2019, Schaubude Berlin. © Dajana Lothert


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preis für ausgezeichnetes Engagement im Kinder- und Jugendtheater; 2017 wurde die künstlerische Arbeit mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. In der Begründung heißt es: „Mit seinen vielfältigen Kooperationen, Festivals, Nachwuchsförderprogrammen, mit seinen Angeboten für alle Altersgruppen, seinen Genregrenzüberschreitungen und seinen entschiedenen Such- und Forschungsbewegungen in digitale Welten gehört dieses kleine Haus zu den kreativen Motoren Berlins.“ Darüber hinaus ist die Schaubude seit Mai 2020 zusammen mit dem FITZ Zentrum für Figurentheater Stuttgart und dem Westflügel Leipzig Teil der Allianz internationaler Produktionszentren für Figurentheater. Das internationale Festival des zeitgenössischen ­Figuren- und Objekttheaters „Theater der Dinge“, das einmal jährlich stattfindet, stellt unter einem ­jeweiligen Schwerpunktthema aktuelle künstlerische Entwicklungen des Genres vor. Eingeladen werden Inszenierungen, Installationen und Ausstellungen, die sich durch eine einzigartige künstlerische Sprache, eigenwillige ästhetische Qualität und inhaltliche ­Dringlichkeit auszeichnen. Pandemiebedingt fand das Festival im Jahr 2020 zum Thema „Künstliche Körper“ digital statt. Dazu war im Fachmagazin Theater der Zeit zu lesen: „Beim Festival der Dinge, dem Objekttheaterfestival der Berliner Schaubude, entsteht tatsächlich eine Art Begegnungsraum. Jedenfalls dann, wenn man sich die App ‚Nur für einen Tag‛ auf Smartphone oder Tablet herunterlädt und von der Schaubude aus eine GPS-­geleitete Suche nach Skulpturen im Stadtraum beginnt. […] Für den Zeitraum nach der Pandemie kann sich Sandweg Hybridformate aus Livespiel mit Publikum und parallelem Stream für alle ortsabwesenden Interessierten vorstellen. Das klingt glatt nach Theater des 21. Jahrhunderts.“

Since its founding in 1993, Schaubude Berlin has become one of the most important venues for figure and object theater in Europe. Productions from all over Germany and beyond, coproductions, special series and festivals all showcase the ever-changing relationship between human beings and things. Located in the Prenzlauer Berg, the building was constructed in 1929 as a Karstadt department store. Featuring a weekly alternating schedule of programming for children and adults, the venue invites its audience to discover the broad spectrum of figure and object theater and its extremely fluid borders between genres: alongside puppeteers, artists working in the fields of performance, visual art, dance, music and multimedia all share the stage.

„Danish Pork“, Søgaard/Barthel/Glöckler, 2020. © Gianmarco Bresadola (S. 183/184) „A.L.I.C.E. Lost in Cyberland“, Meinhardt & Krauss, 2020. © Katharina Wibmer

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Das

Theater o.N.

ist ein

freies Theater in Berlin, das Inszenierungen für Kinder und Erwachsene produziert. In den letzten zehn Jahren hat sich das Theater zu einer festen Größe in Berlin, aber auch bundesweit im Theater für die Jüngsten entwickelt. Hier engagiert es sich als Produzent, Veranstalter von Festivals und in der Forschung. Das Theater blickt auf eine lange Geschichte zurück: Bereits 1979/80 als Theater Zinnober gegründet, war es das erste freie Theater in der ehemaligen DDR – frei von den vielfältigen Zwängen und Abhängigkeiten des institutionalisierten Theaters, frei für das Erproben und Verwirklichen eigener Ideen von Theater und vom Leben. Seine experimentelle Ästhetik war dabei ebenso stilprägend für eine ganze Generation von jungen Theaterschaffenden und Künstler:innen wie der Ansatz der Gruppe, Leben und Arbeit miteinander zu verbinden. Zinnober richtete den Blick auf sich selbst, um die Welt zu begreifen, und bespielte illegal eine kleine Ladenwohnung in der Knaackstraße. Die ersten Inszenierungen – „Jäger des verlorenen Verstandes“ (1982) und „traumhaft“ (1985) – machte auch die Staatssicherheit auf das Theater aufmerksam: Ein Wartburg parkte regelmäßig auf der anderen Straßenseite, die Fenster beschlagen. Man wurde beobachtet wie die anderen Künstler:innen der alternativen, subversiven Kunst- und Kulturszene der DDR, die sich in den 1980er Jahren im Prenzlauer Berg konzentrierte, war geduldet, durfte proben, aber nicht öffentlich in den eigenen Räumen auftreten. (Zinnober spielte in Schulen, Kitas, Kirchen und Kulturhäusern.) Mitte der 1980er Jahre wurden auch wichtige Künstler:innen wie Heiner Müller, Christa Wolf und Ruth Berghaus auf die freie Gruppe aufmerksam: Sie besuchten das Theater am Kollwitzplatz und setzten sich für die staatliche Förderung der freien Theater-

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gruppe ein – etwas, das es in der DDR bis dahin nicht gegeben hatte. Das Jahr 1989 erschütterte das in Ost und West geteilte Land – allem voran die Stadt Berlin. Angesichts der tiefgreifenden Umbrüche stand auch die Existenz der Theatergruppe infrage: Einige Mitglieder gingen, andere blieben. Ein Kern von Spieler:innen etablierte in den bisherigen Proberäumen des Theaters eine feste Spielstätte und tat sich mit der freien Gruppe Handgemenge zusammen. Doch nur wenige Jahre nach der friedlichen Revolution stiegen die Mietpreise rapide an; die Immobilien am Kollwitzplatz sollten lukrativer genutzt werden, und das Theater musste weichen. Es hatte jedoch Glück: Befreundete Künstler:innen, die als eine der ersten Eigentümer:innengemeinschaften ein Haus in der Kollwitzstraße kauften und sanierten, luden die Theaterleute ein, das Hochparterre des Hauses als Theater zu bespielen. Im Februar 1996 wurde dort der jetzige Theaterraum im einstigen Berliner Zimmer für fünfzig Zuschauer:innen eingeweiht und ist seitdem Heimat für das Theater o.N. – Generationen von Kita-Kindern und Schüler:innen machten hier ihre ersten Theatererfahrungen (und die Erwachsenen neue). Im September 2010 öffnete das Theater o.N. seine Türen unter neuen Vorzeichen: Dreißig Jahre lang war das Theater als Kollektiv und basisdemokratisch organisiert gewesen. Nun wurde erstmals eine künstlerische Leitung berufen und behutsam ein Generationenwechsel eingeleitet. In der Spielzeit 2010/11 übernahm Ania Michaelis die Leitung und holte neue Ensemble­ mitglieder an das Theater. Das neue Team änderte die Organisationsstrukturen und etablierte zwei neue Schwerpunkte in der künstlerischen Arbeit: Theater

Ladenlokal der Theatergruppe Zinnober in der Knaackstraße zu DDR-Zeiten. © Archiv Theater o.N. Theatergruppe Zinnober – von links nach rechts: Gabriele Hänel, Steffen Reck, Werner Hennrich, Iduna Hegen, Christian Werdin, Hans Krüger, Dieter Kraft, Uta Lindner (geb. Schulz), Günther Lindner. © Archiv Theater o.N.


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und Tanz für die Jüngsten und partizipative Projekte in weniger p ­ rivilegierten Bezirken von Berlin. Seit der Spielzeit 2012/13 bilden Dagmar Domrös, Doreen Markert und Vera Strobel das Leitungskollektiv des Theater o.N. Individuelle Biografien ernst zu nehmen – von Menschen egal welchen Alters und unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft – und in Zeitbezug zu setzen, ist seit Gründung der Gruppe der Ansatz ihrer Theaterarbeit. 2014 erhielt das Theater o.N. den ­George-Tabori-Förderpreis für die Impulse, die es regional und international für das „Theater von Anfang an“ und im partizipativen Bereich setzen konnte. Seit 2013 ist es Veranstalter des biennalen „FRATZ ­International“, eines Festivals der darstellenden Künste für die Jüngsten mit Spielorten in sechs Berliner Bezirken, mit dem sich das Theater für ein dezentrales Kulturangebot einsetzt. Im Jahr 2016 wurde das Projekt „Berliner Schaufenster“ entwickelt, um eine Präsentationsplattform für die Berliner Freie Szene des Kindertheaters (0 – 6 Jahre) zu schaffen und Austausch, ­Weiterbildung und Vernetzung der Akteur:innen zu fördern. Als Produzent entwickelt das Theater o.N. jährlich ein oder zwei neue Inszenierungen. Seine Spielstätte bietet seit der Schallschutzsanierung 2018 je nach Bühnenbild, Raumnutzung (und pandemischer Lage) Platz für 30 bis 45 Zuschauer:innen. Dabei werden die Stücke so mobil konzipiert, dass sie sowohl in der eigenen Spielstätte als auch an temporären Spielorten in ganz Berlin gespielt werden können sowie international tourfähig sind. Das Theater arbeitet mit einem festen Ensemble als Kern und sucht immer wieder Anregungen von außen, indem Künstler:innen das Kernteam g ­ enreübergreifend ergänzen. Um den zeitgenössischen Tanz für sehr junge Zuschauer:innen weiterzuentwickeln, kooperiert das Theater mit Partner:innen der Offensive Tanz für junges Publikum – mit dem Theater Strahl, den Tanzkomplizen und dem Purple „Wachträume – Ein Panoptikum“, Ensemble des Theater o.N. © David Beecroft

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Festival (2019 – 2021) – oder erforscht gemeinsam mit der Deutschen Oper Berlin das Musiktheater für die Jüngsten (2016 – 2018). Immer wieder hat sich das Theater o.N. erneuert und als Gefüge verletzlich gemacht, weil es sich nicht stromlinienförmig in die Anforderungen seiner Zeit fügen wollte. Körperbetontes Spiel und eine Art fantastischer Realismus, eine eigene Ausprägung der biografischen Methode und das Objekt- und Puppentheater kennzeichnen seine Inszenierungen. In ihrer Laudatio anlässlich der Preisverleihung des GeorgeTabori-Förderpreises 2014 schreibt die Jurorin Christel Hoffmann: „Was diese Spieler im Inneren bewegt, wo sie sich an der Welt reiben, was ihnen unter die Haut geht, übersetzen sie mit materiellen und immateriellen Dingen, oft mit profanen Gegenständen, die jeder durch seinen alltäglichen Gebrauch kennt. Sie lösen die Dinge aus der gewohnten Umgebung, verwandeln sie und ­entdecken auf diese Weise, was in ihnen steckt. Sie nehmen ihre Zuschauer auf diese Entdeckungsfahrt mit und erleben mit ihnen, wie eine Komposition entsteht, die die Fantasie der Zuschauer – gleich welchen Alters – herausfordert. Wobei – wer will es leugnen – dieses Verhalten der Künstler und das der Kinder – Peter Hacks nennt sie die ‚poetischen Menschen‘ – sich ähneln, wenn nicht sich sogar entsprechen. Die Kunst, die durch dieses Zusammenspiel entsteht, hat sehr viel mit Berührung zu tun.“ Seit den 1990er Jahren ist das Theater Zeuge des Wandels, den der Bezirk Prenzlauer Berg durchlebt hat, und hat sich erfolgreich gegen die Gentrifizierung gewehrt. Zusammen mit dem abenteuerlichen Bauspielplatz Kolle37 bildet das Theater o.N. einen der letzten freien Kultur- und Freizeitorte im Prenzlauer Berg. 2017 kam es zur existenzgefährdenden Krise, als die Eigentümer:innengemeinschaft erklärte, den Mietvertrag des Theaters nicht verlängern zu wollen. Mit Hilfe stadtweiter Solidarität von Kolleg:innen, Zuschauer:innen, Presse Eingang des Theater o.N. © cm production

und Politik gelang es, in einem langen Verhandlungsprozess einen Kompromiss zu erzielen und den Mietvertrag um fünf Jahre zu verlängern. Ende 2023 steht nach fast dreißig Jahren der Auszug aus der Kollwitzstraße an. Das Theater hat einen neuen Wirkungsort im Wedding gefunden. Dort, in der Wiesenburg, soll es 2024 weitergehen, dann heißt es wieder: Alles auf Anfang!

Theater o.N. is an independent theater in Berlin that creates productions for children and adults. Over the last decade, the theater has cemented its place in Berlin and achieved recognition across the nation for its developments in theater for very young audiences. The theater can look back on a long history: it was founded in 1979 as Theater Zinnober and was the first independent theater in the former East Germany. Its experimental aesthetics inspired an entire generation of young theater makers. Theater o.N. moved into its current home in 1996, where generations of children have had their first experiences with theater. After nearly thirty years, the theater will leave Kollwitzstraße at the end of 2023 for a new permanent home in Wiesenburg Berlin in the district of Wedding. 191


Das

Theater unterm Dach

kurz TuD genannt, ist die kommunale Spielstätte des Stadtbezirks Berlin-Pankow, der sich seit der Bezirksfusion im Jahr 2000 aus den Stadtteilen Prenzlauer Berg, Weißensee und Pankow zusammensetzt. Es liegt im Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort entstand 1986 auf dem ehemaligen Gelände der IV. Städtischen Gasanstalt durch umfangreiche Sanierung und Umbauten der alten Werksgebäude ein kulturelles Zentrum mit dem Namen „Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park“ – ein Ensemble mehrerer Häuser mit unterschiedlichen kulturellen und künstlerischen Profilen: Neben dem Theater unterm Dach sind das heute u. a. die WABE, die Galerie Parterre, die Jugendtheateretage und die Kunstwerkstätten. Das Theater befindet sich auf einem historischen Gelände, das mehrfach einen Wandel erlebt hat. Alles begann mit dem Beschluss des Magistrats von Berlin im Jahr 1842, an jener Stelle eine Gaserzeugerstätte (das Gaswerk IV in der Danziger Straße) zu errichten. Der Beginn der Gaserzeugung am Standort Prenzlauer Berg ist eng mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert verbunden: Berlin entwickelte sich als Hauptstadt des Deutschen Reiches ab 1871 zum staatlichen Verwaltungszentrum und wichtigsten Industriestandort in Deutschland, wodurch die Einwohner:innenzahl der Stadt rasant stieg – 1877 betrug sie bereits eine Million. Zu Baubeginn im Jahre 1872 befand sich das Gaswerk noch auf einem Hügelgelände in einem nahezu unbebauten nordöstlichen Randgebiet von Berlin, auf dem sich die Flügel von Windmühlen drehten. Im Jahr 1873 nahm das Gaswerk den Betrieb auf, 1981 stellte es ihn wieder ein: Mit 108 Jahren besitzt es die längste Betriebsdauer einer derartigen Einrichtung in Berlin. Seine Umwandlung im Rahmen des DDR-Wohnungsbauprogramms ging auf die Beschlüsse des VIII. SED-Parteitags im Mai 1971 und der 10. Tagung des 192

Zentralkomitees der SED im Oktober 1973 zurück. Nach der Stilllegung des Gaswerks begann der Wohnungsbau mit der Errichtung des Thälmannparks einschließlich des Denkmals für den Arbeiterführer Ernst Thälmann. Die Wohnanlage umfasste knapp über 1300 Wohnungen, ergänzt um infrastrukturelle Einrichtungen und das bereits erwähnte „Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park“. 1984 waren die Gasbehälter im Juli trotz einsetzender Proteste seitens der Bevölkerung gesprengt worden. Seit 2014 steht das gesamte Thälmann-Park-Areal unter Denkmalschutz. Dieses Kulturareal ist heute die größte kommunale Veranstaltungsstätte des Amtes für Weiterbildung und Kultur. Das Theater unterm Dach hat am 1. April 1986 seinen Spielbetrieb aufgenommen. Zunächst wurde es von den Kulturfunktionären des Stadtbezirks Prenzlauer Berg als Kleinkunstbühne konzipiert: Lesungen, Chansonabende und Gesprächsrunden sollten hier Raum finden. Daneben sollte es als zweite Bühne für das um die Ecke gelegene Puppentheater Berlin (heute Schaubude) dienen. Stattdessen entwickelte es sich noch in der Endzeit der DDR unter der Leitung von Liane ­Düsterhöft zu einem Geheimtipp in der Theaterszene Ostberlins. Hier wurden Uraufführungen (des Ostberliner Autors Lothar Trolle beispielsweise) gezeigt, die sonst auf keiner Bühne zu sehen waren. Auf dem gesamten Kulturareal fanden von 1987 bis 1996 jährlich die „Tage der jiddischen Kultur“ statt. Von 1990 bis 1995 war das TuD vor allem ein Ort für Tanz- und Bewegungstheater: Insbesondere für das Multitalent Jo Fabian wurde die Spielstätte ab 1991 zum Theaterlabor. Hier entwickelte er zusammen mit seiner Gruppe example dept. seinen „Vaterlandskomplex“, dessen Teile „Whisky and Flags“ und „Keine Gnade“ eine Einladung zum Berliner T ­ heatertreffen erhielten – der wichtigsten Auszeichnung für Theaterinszenierungen im deutsch-

Blick vom Hochhaus auf das Kulturareal, heute u. a. Theater unterm Dach. © Michael Zalewski


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Außenansicht des Theaters. © Ines Schulze

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sprachigen Raum, die zuvor außer Andrej Worons Teatr Kreatur noch kein freies Ensemble erhalten hatte. Mit der Übernahme der Theaterleitung durch Liesel Dechant in der Spielzeit 1996/97 hat sich die behutsame Förderung von Regienachwuchs zum konstituierenden Moment der Arbeit entwickelt. Die Spielstätte besitzt eine variable Kapazität von bis zu achtzig Plätzen, hat aber kein eigenes Ensemble und wird daher Aufführungs- und Produktionsort für die Freie Szene. Gezeigt werden Ur-, deutsche Erstaufführungen sowie Klassiker-Adaptionen. Von September 1996 bis Dezember 2004 war auch das Literaturprogramm WOLKENBÜGEL fester Bestandteil des TuD-Spielplans. Das Theater präsentiert die Vielfalt auf dem Gebiet des Sprechtheaters mit sehr unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen und Spielweisen. Dabei strukturiert es seinen Spielplan als Repertoire durch die am Haus in Koproduktion entstandenen Projekte freier Gruppen – eine für die Freie Szene unübliche Bespielung. Das Jahresprogramm setzt sich aus Inszenierungen bereits geförderter Regisseur:innen sowie noch unbekannter Künstler:innen zusammen – manch Karriere hat auf der Bühne des TuD begonnen. Im neuen Jahrtausend schreibt die Regisseurin Anja Gronau mit ihrer „Trilogie der klassischen Mädchen“ („Käthe“ nach Kleists „Das Käthchen von Heilbronn“; „Johanna“ nach Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ und „Grete“ nach Goethes „Faust“) Theatergeschichte und erhält zahlreiche Preise, 2005 beispielsweise den Friedrich-Luft-Preis für „Grete“ als beste Berliner Aufführung des Jahres 2004. In den Jahren 2013 („X-Freunde“ von Felicia Zeller, Regie Stephan Thiel), 2014 („Eier! Wir brauchen Eier! Ein dokumentarisches Spiel über das sonderbare Verhältnis von Fußball, Sexualität und Geschlecht“, Regie Marc Lippuner) und 2016 („Die wohlpräparierte Frau – oder The Ultimate Imitation of Life“ von Susanne Jansen, Regie Stephan Thiel) würdigen weitere Nominierungen zum Berliner Friedrich-Luft-Preis die erfolgreiche Arbeit der Bühne.

Mit minimaler personeller Besetzung (eine Leiterin und zwei Techniker), einer kleinen Probenbühne (die Ende der neunziger Jahre aus der ehemaligen, der WABE angeschlossenen Gaststätte „Rosengarten“ entsteht), deren Belegung oftmals aus den Nähten platzt, ermöglicht das TuD den freien Ensembles durch die kostenlose Nutzung von Probenbühne, Theaterraum sowie der gesamten technischen Infrastruktur des Theaters ein konzentriertes Arbeiten auf professionellem Niveau. Die fachliche Betreuung und die tatkräftige Unterstützung durch die drei Mitarbeiter:innen des Hauses sowie die Einbindung in die Öffentlichkeitsarbeit des Theaters sind gelebte Bestandteile des Fördergedankens der Bühne. Anders als die meisten freien Spielorte der Stadt ist das TuD durch den Stadtbezirk Pankow finanziert und hat für seine Veranstaltungstätigkeit ein kleines Jahresbudget zur Verfügung. Aufgrund dieser kommunalen Anbindung muss sich das TuD nicht in den Strudel schnell produzierter und schnell vergessener Events in der Stadt ziehen lassen. Die Bühne sichert den Künstler:innen eine gewisse Kontinuität ihrer Arbeit, ohne die eine künstlerische Entwicklung nicht möglich ist. Der Spielort ist ein geschützter Raum, in dem die Künstler:innen auch Experimente wagen können. Künstlerisches Scheitern ist hier erlaubt! Das offene Profil ermöglicht ein konkurrenzfreies Nebeneinander unterschiedlicher Künstler:innen und bewirkt eine Vielfalt, die sich nicht in Beliebigkeit verliert. Die beschriebenen Arbeitsbedingungen führen zu einem hohen Identifikationsgrad der Künstler:innen mit dieser Spielstätte – es ist (temporär) ihr Haus. Stellvertretend für die vielen Regisseur:innen, die das TuD Ende der 1990er Jahre bzw. Anfang des neuen Jahrtausends prägten, sollen hier zumindest Astrid Griesbach (Theater des Lachens), Amina Gusner (­Allein im Hausflur), Sebastian Hartmann (wehrtheater hartmann), Jan Jochymski (Theaterschafft), Susanne Truckenbrodt (Orphtheater) und Mareike Mikat (­kunstfehler-produktion) genannt werden. 195


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Mit seinen Aufführungen spricht das Theater unterschiedlichste Interessengruppen und ein generationen-übergreifendes Publikum an. Es hat für Besucher:innen eine klar erkennbare Struktur der Veranstaltungsangebote und bringt in einer Spielzeit durchschnittlich zehn bis zwölf Projekte zur Premiere. Im Repertoire stehen zeitgleich bis zu zwanzig verschiedene Produktionen auf dem Spielplan, mit einem Veranstaltungs­ volumen von ca. 170 Vorstellungen. Die Spielstätte, einschließlich Probenbühne, ist damit voll ausgelastet. Das TuD versteht sich als Erfolgsprojekt einer einzig­ artigen, zielgerichteten Künstler:innenförderung durch den Stadtbezirk Berlin-Pankow, die sich andere Stadt­ bezirke in Berlin wünschen.

Theater unterm Dach, or TuD for short, is the communal performance venue of the district of Pankow in Berlin. The theater is located on the historic site of Berlin’s fourth municipal gasworks, which were operated from 1873 until 1981. In 1986, after comprehensive renovation work, a cultural center was constructed on these grounds consisting of different buildings united under the name Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park. In contrast to the majority of the independent performance venues, TuD is finance directly by the district of Pankow and receives a modest annual budget. This allows the venue to allow independent groups the use of its rehearsal stage, auditorium and technical infrastructure free of charge. The venue prides itself on being a safe place for artistic experimentation where “failure” is expressly allowed. „GRETE – Trilogie der klassischen Mädchen“, Anja Gronau. © Marcus Lieberenz

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Die

Brotfabrik_Bühne

ist ein fester Bestandteil des Kulturzentrums Brotfabrik in Berlin-Weißensee. Die Ursprünge des Kulturzentrums liegen im Jahr 1986: Auf Initiative der Kunsthochschule Weißensee wurde hier ein Jugendklub eröffnet, der schnell bekannt wurde durch Konzerte, Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen und Theateraufführungen. Die Aufrechterhaltung eines kulturell anspruchsvollen Betriebs war zu Zeiten der DDR ein schwieriges ­Unterfangen, so dass ein kontinuierliches Arbeiten nicht möglich war. Kurz nach seiner Eröffnung wurde der Jugendklub aus politischen Gründen bereits wieder geschlossen. Die Kunsthochschule Weißensee zog sich

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aus dem Gebäude zurück und der Stadtbezirk Weißensee übernahm es als kommunale Einrichtung. Ursprünglich befand sich seit 1890 in dem Gebäude in der damaligen Prenzlauer Chaussee 3 – 4 eine Bäckerstube unter dem Namen „Brotfabrik Michael Kohler. Erste Zerpenschleuser Landbrotbäckerei“. Im Jahr 1914 wurde aus der Unternehmung eine Brotfabrik, die 1929 nochmals erweitert und im Zweiten Weltkrieg nur leicht beschädigt wurde. 1952 floh der Bäckermeister nach West-Berlin, die Bäckerei wurde geschlossen, das Gebäude aufgeteilt und als „Selterswasserfabrik“ und Laden für Berufsbekleidung genutzt.


Brotfabrik, historische Außenansicht. © Promo / Brotfabrik

Brotfabrik, Außenansicht heute. © Frank Poddig

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Brotfabrik. © Frank Poddig

202 Brotfabrik, Eingang. © Frank Poddig


Nach Aufgabe der Selterswasserfabrik 1970 nutzte eine Großküche das Hauptgebäude als Lager, während im ehemaligen Bäckerladen Süßwaren verkauft wurden. Die Brotfabrik liegt – quer gegenüber vom Theater im Delphi – am Caligariplatz, der im Volksmund eigentlich Weißenseer Spitze genannt wurde. Erst später initiierte der Verein der Betreiber der Brotfabrik, dass der Platz einen offiziellen Namen bekommt – in Erinnerung an den berühmten expressionistischen Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“, der in den Filmstudios in Weißensee gedreht wurde. Der Name des Platzes ist nicht nur deswegen besonders, weil er nach einer fiktiven Figur benannt wurde, sondern diese zudem einen recht zweifelhaften Charakter besitzt. Zusätzlich hat der Verein den Platz vor der Brotfabrik nicht nur benannt, sondern ihn auch unverwechselbar gestaltet: mit einem speziellen Pflaster aus Rauten und Linien. Erst mit der Wende konnten dann die Pläne für das Kulturzentrum umgesetzt werden – der Stadtbezirk Weißensee ließ der neu gegründeten Betreibergesellschaft „Glashaus. Verein der Nutzer der Brotfabrik e.V.“ freie Hand bei der Programmgestaltung. Unter dem Namen „Brotfabrik“ – an den Ursprung des Gebäude erinnernd – besitzt der Verein derzeit eine Nutzungsvereinbarung mit dem Bezirk Pankow bis 2021 – für eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Arbeit ist er derzeit in Planungsgesprächen mit dem Bezirk. Kino, Galerie und Bühne sind die drei Kernbereiche, die das Erscheinungsbild der Brotfabrik prägen. Ab 2014 ist zusätzlich der Literaturbereich hinzugekommen, der seit 2016 durch eine eigens hierfür geschaffene Honorarstelle betreut wird. Alle Bereiche sind in die Arbeit des Vereins gleichberechtigt eingebunden, inhaltlich miteinander verzahnt, jedoch in ihrer Arbeit unabhängig. Mit dem Wechsel der künstlerischen Leitung im Januar 2008 kam es zu einer Neuausrichtung der Brotfabrik_Bühne. Der neue künstlerische Leiter Nils Foerster führt seitdem die Off-Bühne als Gastspiel- und

Koproduktionshaus – und nicht mehr als Theater mit eigenem Ensemble und eigenen Produktionen. Innerhalb von wenigen Jahren hat er mit diesem Kurswechsel eine Bühne etabliert, die neuen Gruppen und jungen ­Künstler:innen einen Projekt-Raum bietet, die Theatermacher:innen über einen längeren Zeitraum bei ihrer künstlerischen Arbeit begleitet und mit ihnen gemeinsam Projekte initiiert. Das Kindertheater wurde zudem zu einem festen Bestandteil des Spielplans, zusätzliche Probenkapazitäten konnten hierfür bereitgestellt und das Angebot um theaterpädagogische Inhalte erweitert werden. So konnten die bis 2008 kontinuierlich sinkenden Zuschauer:innenzahlen in den vergangenen gut zehn Jahren mit aktuell weit über 10000 Besucher:innen im Jahr verdreifacht werden – jährlich zeigen circa sechzig verschiedene Theatergruppen ihre Arbeit in über 300 Aufführungen. Diese Arbeit wird durch Eigeneinnahmen, Fördermittel des Bezirks und seit 2014 durch eine Spielstättenförderung des Berliner Senats finanziert. Durch Kooperationen mit Schauspielschulen (und anderen Theater-Ausbildungsstätten) lernen zukünftige Theatermacher:innen bereits früh die Brotfabrik_Bühne kennen, die anschließend auch erste eigenständige Projekte begleitet. Daneben arbeitet die Brotfabrik einerseits mit etablierten Theatermacher:innen zusammen wie beispielsweise Bridge Markland oder Die Improvisionäre, erarbeitet aber auch Kiez-bezogene Projekte, beispielsweise Projekte zur Filmgeschichte Weißensee (mit der Autorin Simone Kucher) und geht Kooperationen mit ortsansässigen Theatermacher:innen ein, bespielt verlassene Baudenkmäler im Bezirk (zum Beispiel die ehemalige Mirbachkirche) oder interveniert im Stadtraum – was der Kritiker Tom Mustroph einmal wie folgt kommentierte: „eine ambitionierte Form von Kiezbewusstsein hält Einzug.“ (Zitty, 21-2012) Darüber hinaus wurde 2012 in der Brotfabrik auch das schnellste Theater in Berlin erfunden: das „24h Theater Berlin“, bei dem innerhalb des titelgebenden 203


„Licht im Kasten“, Yoshii Riesen, Maximilian Hirsch, 2019. © On-Point-Production

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Zeitrahmens vier Teams von einander zuvor unbekannten Theatermacher:innen aus den Schlagzeilen einer Tageszeitung vier Kurzdramen schreiben, (kurz) proben und inszenieren – und schließlich an einem Samstagabend zur Uraufführung bringen. In der ­Brotfabrik findet auch der „Berliner Impro Marathon“ statt, bei dem die Spieler:innen fast aller Berliner Improtheatergruppen zehn Stunden lang nonstop auf bis zu fünf Bühnen zeitgleich durchspielen. Auch im Shutdown seit März 2020 konnte die Bühne ihre Impro-Talente unter Beweis stellen und hat verschiedene neue Formate – analog und digital – ausprobiert: vom Audiowalk für nur eine Person durch das geschlossene Theater über eine Telefonhotline mit Mitarbeiter:innen bis hin zu zahlreichen interaktiven Live-Stream-Performances.

The Brotfabrik stage is an integral part of the Brotfabrik cultural center in the Weißensee neighborhood of Berlin. It dates back to 1986, when a youth club opened that quickly became famous for concerts, exhibitions, readings, discussions and theater productions. Maintaining this space proved precarious in East Germany and the youth club was closed shortly after its opening for political reasons. Its name dates back to 1890, when a bakery opened under the name Brotfabrik Michael Kohler. It became an actual bread factory in 1914 and was only slightly damaged in the Second World War. The master baker fled to West Berlin in 1952 and the bakery operations ceased, the building was subdivided and used as a factory for seltzer water and a shop for work clothes. The plans for a cultural center were first fully realized after the Fall of the Wall and today it features a movie theater, gallery and stage. 205


Das

Theater im Delphi

ist ein offener Ort für viele Sparten der zeitgenössischen Kunst im Gebäude des denkmalgeschützten ehemaligen Stummfilmkinos Delphi. Zu finden ist es in Berlin-­ Weißensee, nahe der Grenze zum Prenzlauer Berg. Von Julius Krost geplant und im Jahr 1929 mit 870 Plätzen eröffnet, gilt es heute als das letzte original erhaltene Stummfilmkino seiner Zeit – im damals sogenannten „Klein-Hollywood“. In ­Weißensee baute und verpachtete der Berliner Abbruch-Unternehmer Paul Köhler ein erstes Ateliergebäude in der heutigen Liebermannstraße 24 – 28: 25 Meter lang, ausgestattet mit Garderobe, Kopiereinrichtungen, Anlagen zur Kolorierung und vielem anderem mehr. Hier begann im Oktober 1913 die Vitaskop GmbH mit der Produktion von Filmen wie „Der Hund von Baskerville“, aber auch Filme wie „Das weiße Grab“, „Die Brillanten der Herzogin“ und die „Welt ohne ­Männer“ kamen in den folgenden Monaten in die Kinos. Die Berliner Produktionsfirmen zog es nach Weißensee, weil man vor den Toren der Stadt preiswert große Studios errichten konnte. Und Paul Köhler investierte weiter: In direkter Nachbarschaft zum ersten Studio entstand kurz darauf das zweite. Nach einem kurzen Einbruch der Filmbranche zu Beginn des Ersten Weltkriegs boomte die ­Filmproduktion in Weißensee ab 1915: Regisseur:innen wie Richard Oswald, Reinhold Schünzel, Claire Waldorff oder Harry Liedtke arbeiteten hier, „Die Spinnen“ in der Regie von Fritz Lang kam 1919 bei der neu gegründeten Produktionsgesellschaft Decla heraus, im selben Jahr auch der legendenumwobene Filmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“. Doch bereits ab 1928 verdrängte der Tonfilm unaufhaltsam seinen stummen Vorgänger; den Weißenseer Ateliers fehlten schlicht die technischen Voraussetzungen. Heute erinnern nur noch wenige Standorte an diese Zeit: 1959 wurde der Kino­betrieb des Filmtheaters Delphi, das am 26. November 1929 mit der Premiere des Stummfilms 206

„Hochverrat“ eröffnet wurde, wieder eingestellt, verschie­ dene Zwischennutzungen folgten. Ursprünglich im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut, stand die Fassade des Stummfilmkinos in beabsichtigtem Kontrast zu den flankierenden Wohnbauten: Sie wird lediglich durch das tief eingeschnittene LoggiaBand unterhalb der Attika und die zwei schlitzförmigen, vertikalen Fensterachsen betont – über den Eingängen befand sich der neonbeleuchtete Namenszug. Der Zuschauer:innenraum des Kinos war in Rostrot gehalten und indirekt ausgeleuchtet, seine Leinwand über einer acht Meter breiten Bühne mit markantem dreibogigem Proszenium angebracht. Bereits kurz nach seiner Eröffnung wurde das Stummfilmkino für Tonaufführungen präpariert und das Gebäude modernisiert. – Unter den Nationalsozialisten wurde das Delphi für die Präsentation von Propagandafilmen genutzt. Bereits im Juni 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, informierte die neu gegründete Abteilung für Volksbildung in Ostberlin die Öffentlichkeit: „Kino leicht zerstört, öffnet demnächst.“ Nach der Aufteilung Berlins in vier Sektoren wurde das Delphi zunächst in eine staatliche Verwaltung überführt – 1946 unterschrieb die „Astra-Delphi-Lichtspiele GmbH“, ansässig in Westberlin, einen Pachtvertrag über zehn Jahre. Doch schon 1952 wurde das Kino auf Anordnung des Ostberliner Magistrats unter Treuhandverwaltung gestellt. Nachdem sich Stuck von der Decke gelöst hatte und in den Zuschauerraum gefallen war, prüfte im Februar 1959 eine Baukommission die Bausubstanz des Kinos und verfügte noch am gleichen Tag die Schließung des Hauses. Im Gegensatz zu den anderen Kinos in B ­ erlin-Weißensee war das Delphi nach 1945 nicht grundlegend saniert worden. Im März 1960 erfolgte die Versteigerung des Delphis: als Zwangsvollstreckung. Einziger Bieter war der Ostberliner Magistrat, der das Gebäude vom (hoch verschuldeten) Westberliner „Night of Light“ am Theater im Delphi, 2020. © privat (S. 208)


Eingang zum Delphi, 1955. © privat

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Caligariplatz mit Delphi. © privat


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Saal, Theater im Delphi. © Peter Gesierich

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Eingang des Theater im Delphi. © Torsten Oelscher


Besitzer für 120.000 Mark erwarb. Zu diesem Zeitpunkt war das Delphi noch Teil eines Bauplans aller Kinos im Bezirk, der seine Renovierung bis 1961 vorsah. Über Jahre hinweg fanden Ratssitzungen des Stadtbezirks Weißensee zum Thema Delphi statt, in deren Folge Aufträge für Projektierungsarbeiten erteilt, aber nie umgesetzt wurden. Im August 1961 gab es sogar einen Abrissplan. (Auch er sollte glücklicherweise keine Ausführung erleben.) Nach 1959 wurde es wechselweise als Gemüselager, Rewatex-Wäschereistützpunkt, Briefmarkengeschäft und Lagerhalle der Zivilverteidi­gung der DDR genutzt. Als ehemaliges Kino des berühmten Klein-Hollywood geriet es immer mehr in Vergessenheit. Dann kam die Wende. Im Jahr 2001 wurde das Gebäude von der „Musikwelt Renate Fornal E.K.“ erworben; Arnfried Binhold richtete hier einen Schauraum für Orgeln ein. Rund dreißig Konzert- und Kirchenorgeln standen im Foyer zum Verkauf bereit, während drei andere zwecks Konzert- und Klangerlebnis im großen Kinosaal aufgebaut waren. Als die Firma 2005 in Konkurs ging, wurde das Gebäude zwangsversteigert und der Immobilieninvestor Andreas Jahn erhielt den Zuschlag. Ihm gelang es, das Haus vor dem kompletten Verfall zu bewahren; vorwiegend vermietete er es als Event-Location und für Filmarbeiten. In den frühen Morgenstunden des Neujahrs 2011 entdeckte das Künstler:innenpaar Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider das Gebäude. Angetan von der Ästhetik des Innenraums entstand direkt vor Ort der Wunsch, für das Delphi ein Bühnenstück zu konzipieren. Der Weg dahin erwies sich als steinig. Das Haus war ­weder klimatechnisch gedämmt noch gab es eine angemessene Heizung, die Stromversorgung war mangelhaft und instabil. Die beiden besaßen weder Eigenkapital noch erhielten sie finanzielle Unterstützung – sie waren schlicht von der Vision getrieben, das Haus mit Leben zu füllen und es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bis im Oktober 2012 die erste 210

Musiktheater-Premiere in der Regie von Nikolaus Schneider zur Aufführung kam, veranstaltete das Künstler:innenpaar ab 2011 die damals schnell legendären „Absinth Aperitif Soiréen“ – eine Hommage an das Berlin der 1920er Jahre mit Bühnenprogramm und Tanz (und natürlich Absinth) –, um mit den hier erwirtschafteten Einnahmen die Miete für die Probenzeit zu zahlen. Ein wachsendes Netzwerk an ehrenamtlichen Künstler:innen, Techniker:innen und weiteren Helfer:innen unterstützte die Wiederbelebung des Delphi. Die erste Premiere, das ortsspezifische Musiktheater „­Exposure Berlin“, inspiriert vom deutschen Expressionismus und französischen Surrealismus, war schließlich ein großer Erfolg. Auch die Presse verfolgte aufmerksam, was in Weißensee geschah. Als Künstler:innen der Freien Szene lebten Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider schon vor der Neueröffnung des Delphis den Traum, ihre gesamten Ressourcen in Kunstprojekte zu stecken und um deren Realisierung zu kämpfen. Nach langen Verhandlungen mit dem damaligen Besitzer übernahmen sie im Herbst 2013 einen Mietvertrag und das Management des Hauses. In dem nun folgenden Jahr als Künstlerische Leiter:innen einer eigenen Spielstätte wagten sie Experimente, unterstützten Veranstaltungen, die die Genreund Spartengrenzen überwinden wollten. Seitdem entwickelten sie Konzepte und Ideen, wie der ästhetische Charme des Gebäudes erhalten und gleichzeitig auf eine behutsame Sanierung hingearbeitet werden kann, die den Einsatz von neuen Technologien erlaubt. 2016 sollte das entscheidende Jahr für das Delphi werden: Der damalige Eigentümer plante, das Gebäude zu verkaufen. Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider hatten keine Chance auf einen Kredit. Mehrmals ­wandten sie sich an die Stiftung Edith Maryon, die auf ­Grundlage der künstlerischen Planungen des Paares das Denkmal schließlich übernahm und damit die Zukunft des Ortes als Spielstätte für die Freie Szene sicherte. Im Jahr 2017 fanden alle dringend notwendigen


Swinging Silvesterball, Theater im Delphi. © Peter Gesierich

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„ODYSSEY: Dead Men Die“, Evan Gardner & Michael Höppner/Opera Lab Berlin. © Opera Lab Berlin

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Sanierungsarbeiten statt und die Spielstätte konnte im November eröffnet werden. Seit 2018 erhält das Theater im Delphi eine Spielstättenförderung von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Den größten Teil der durch das Gebäude entstehenden Kosten erwirtschaftet die Leitung des Theaters jedoch durch Vermietungen und Dienstleistungen im Veranstaltungsgewerbe und in der Filmindustrie selbst. Ohne diese Einnahmen wäre ein freier Kulturbetrieb nicht denkbar: Als historisches Bühnensetting „MokaEfti“ in der Serie „Babylon Berlin“ ist das Theater im Delphi längst international berühmt. Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider haben ihren kuratorischen Fokus auf spartenübergreifende Performances und zeitgenössisches Musiktheater gerichtet. (Seit der Trennung von Brina Stinehelfer im Jahr 2018 ist Nikolaus Schneider der alleinige Leiter des Theaters.) Projekte des Zafraan Ensembles, Tanz von Granhoj Dans, eine „Odyssey“ vom Opera Lab Berlin e.V., das site specific-Musiktheater „Redrum“ von gamut inc. oder „Das Lied von der Erde“ von Novoflot seien hier stellvertretend genannt. Die außergewöhnliche Akustik des Saales und seines Orchestergrabens unterstützen vor allem musikalische Formate. Gespräche mit dem Publikum haben gezeigt, dass ein großer Teil der Besucher:innen aus dem umliegenden Weißenseer Kiez stammt. Sie sind diesem neuen Ort für Kultur und Begegnung mit Interesse begegnet. Gleichzeitig repräsentiert das Publikum im Delphi auch die Diversität einer Metropole wie Berlin und der Freien Szene dieser Stadt: Die Nachbarschaft trifft auf Besucher:innen aus der ganzen Welt, die das Setting von „Babylon Berlin“ einmal live sehen und dem Berliner Charme der 1920er Jahre nachspüren wollen. Oft erleben die internationalen Besucher:innen im Delphi zum ersten Mal Arbeiten der Freien Szene in Berlin. Die verschiedenen Sparten und Formate des Programms – von neuer bis klassischer Musik, Tanz, spartenübergreifenden Performances, Schauspiel bis hin zu vielen Hybrid-Projekten – locken

aber natürlich auch ihre ganz eigenen Berliner ­Communitys nach Weißensee. Und so hat das Theater im Delphi kein Publikum – sondern viele, sehr diverse Publika.

Theater im Delphi is an open space for numerous genres working in the field of contemporary culture in the building of the former silent movie theater Delphi. It is located in Weißensee, near the border to Prenzlauer Berg. It opened in 1929 and is now the last originally preserved silent movie theater of its era. Movies were shown at the Delphi until 1959. After this, a wide variety of interim uses followed: a vegetable warehouse, laundry facility, postage stamp shop and a storage facility for the civil defense of East Germany. In 2001, a showroom for organs and pianos was opened; it closed in 2005 and was used sporadically afterward as an event location and film set. Its rebirth as a performing arts venue is thanks to the artists Brina Stinehelfer and Nikolaus Scheneider. After stumbling upon the building in the early hours of New Year’s Day in 2011, they were immediately inspired to create a piece of theater for it. 213


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Das

HAU Hebbel am Ufer

liegt in Kreuzberg, aber auch immer noch ein wenig im Niemandsland. Der Potsdamer Platz, das Abgeordnetenhaus, das Technikmuseum und das Prinzenbad sind nicht weit, der Park am Gleisdreieck und mit ihm neu entstehende Wohnquartiere liegen gleich um die Ecke. Und doch zeigt sich die Stadtlandschaft hier ungeordnet. Restaurants oder Bars muss man suchen (und landet dann vermutlich im Café und Restaurant WAU, der „Kantine“ des HAU2). Fast disparat erscheint hier der Kiez, der keinen Namen hat. Hier kommt man kaum zufällig vorbei, hier hat man ein Ziel. Als im Jahr 2003 aus den drei Häusern Hebbel-­ Theater, Theater am Halleschen Ufer und Theater am Ufer eine neue Institution namens HAU Hebbel am Ufer gegründet wurde, war dies ein Moment, in dem die Berliner Kulturpolitik sich als innovativ und mutig erwies. Wo sonst Schließungen oder bestenfalls die Beibehaltung des Status quo zu den Aufgaben der Kultursenator:innen zu gehören schienen, hatte Anfang dieses Jahrtausends vielleicht nur die räumliche Nähe zwischen den drei Bühnen dazu geführt, dass etwas Neues entstehen konnte. Dabei galten und gelten Theaterfusionen zumeist nur als Rationalisierungstraum der ­Landeshaushälter:innen und künstlerisch eher als wenig gewinnbringend. Nicht so beim HAU: Das Theater am Halleschen Ufer und das Teatr Kreatur, das im Theater am Ufer residierte, kamen schon länger nicht mehr gut über die Runden, künstlerisch und finanziell. Die Auslastungszahlen waren bescheiden. Dazu kam, dass Nele Hertling ihre Intendanz am Hebbel-Theater, dem heutigen HAU1, nach 2003 nicht mehr fortsetzen wollte. Sie hatte dort bereits 1989 den Grundstein dafür gelegt, was sich mit der Zusammenlegung 2003 unter dem HAU-Gründungsintendanten Matthias Lilienthal und ab 2012 unter der ersten international besetzten Berliner Intendanz durch Annemie Vanackere immer mehr 216

und immer sichtbarer entwickelte: ein Produktions- und Kooperationshaus zu etablieren, in dem lokale und internationale Künstler:innen und Gruppen eine Berliner Heimat haben. Die drei Häuser des HAU sind schon lange Orte der Kultur: Das HAU1, vormals Hebbel-Theater, ist eines der drei verbliebenen Häuser des prägenden Theaterarchitekten des beginnenden 20. Jahrhunderts, Oskar Kaufmann. Im Jugendstilbau an der Stresemannstraße, den der Berliner Tagesspiegel gar das „schönste Haus der Republik“ nennt, arbeiteten die Berühmtheiten der Weimarer Republik, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Sartre und Brecht zu sehen, dann zog für eine kurze Zeit der Boulevard ein; danach stand das Haus leer, bis Nele Hertling es wiederbelebt und Theater-WeltStars wie Bob Wilson, die Wooster Group oder Romeo ­Castellucci und internationalen Tanz nach Berlin geholt hat. Am Halleschen Ufer, wo sich heute das HAU2 befindet, schrieb die Schaubühne (heute am Lehniner Platz) Theatergeschichte. Im einstigen Theatersaal der Arbeiterwohlfahrt begannen Dieter Sturm, Jürgen Schitthelm und andere in den 1960er Jahren; als Peter Stein die Bühne 1970 als Künstlerischer Leiter übernahm, wurde sie schnell zu einem Fixpunkt des europäischen Theaters – und für die Schaubühne zu klein. 1982 zog die Theatermanufaktur Berlin ein, später das Theater am Halleschen Ufer und mit diesem auch verstärkt Tanz und Tanztheater. Das Gebäude, in dem sich das HAU3 befindet, ein Hinterhaus am Tempelhofer Ufer, war früher einmal eine Kunstschmiedewerkstatt und seit den späten 1980er Jahren als Theater am Ufer die Spielstätte des Teatr Kreatur des polnischen Regisseurs Andrej Woron. Das HAU1 verfügt in seinem denkmalgeschützten Jugendstilbau über eine klassische Guckkastenbühne HAU1, vor dem Eingangsportal. © Jürgen Fehrmann


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Tierporträt aus der Imagekampagne des HAU Hebbel am Ufer zum Start der Intendanz Vanackere. © Jürgen Fehrmann

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Party vor dem WAU/HAU2. © Jürgen Fehrmann

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HAU2, Außenansicht. © Dorothea Tuch


mitsamt Drehbühne, Versenkungen, Unterbühne und Orchestergraben. Der Saal mit Parkett und zwei Rängen bietet bis zu 517 Besucher:innen Platz. Im HAU2 sind 199 Plätze vorhanden und das HAU3 ist mit 99 Sitzen der kleinste Saal. Daneben stehen koproduzierenden Gruppen und Künstler:innen sowie artists in residence drei Probenräume mittlerer Größe zur Verfügung. Eine Neustrukturierung der drei Häuser wurde in der Senatskulturverwaltung schon im Jahr 2000 als Ufer GmbH in Betracht gezogen, mit dem Ziel, durch die Kombination der drei verschiedenen Bühnen möglichst viele Anforderungen freier Gruppen erfüllen zu können. Im Herbst 2002 wurde der Plan verwirklicht. Eine Findungskommission mit außergewöhnlicher Theatererfahrung wurde eingesetzt und Nele Hertling, Frie Leysen und Renate Klett bestimmten Matthias Lilienthal, den ehemaligen Volksbühnen-Chefdramaturgen, zum künstlerischen Leiter. Zwar war das Budget von knapp 4 Millionen Euro extrem schmal bemessen, aber damit hatte Berlin sein erstes institutionelles Produktionshaus, ein Theatermodell für die Zukunft, wie es in den ­Niederlanden und Belgien bereits existierte und in Berlin neben dem Hebbel-Theater auch im Podewil und den Sophiensælen Vorläufer hatte. Das HAU im Jahr 2021 ist bestes Beispiel dafür, was sich in den vergangenen dreißig Jahren in der Theaterlandschaft entwickelt hat. Aus den Bühnen der vormals so genannten Off-Kultur über die Freie(n) Szene(n) der 1990er Jahre ist im neuen Jahrtausend eine selbstbewusste und aus der Stadtgesellschaft nicht mehr wegzudenkende performative Kulturszene gewachsen und erwachsen geworden, die im HAU Hebbel am Ufer einen ihrer prominentesten Spielorte hat. Seit 2016 ist das HAU als Gründungsmitglied im Bündnis internationaler Produktionshäuser mit sechs weiteren deutschen Institutionen vernetzt, die eine ähnliche Vorreiterrolle in der Entwicklung der performativen Künste in Deutschland einnehmen. Sie sind nicht 220

nur Spielorte, sondern Partnerinstitutionen der Künstler:innen – von der ersten Konzeptionsidee bis zur Koproduktion und Kooperation mit lokalen und internationalen Partner:innen, für Programme und gemeinsame Schwerpunkte. Im HAU wird auf drei Bühnen gespielt, seit Neuestem auch auf der vierten: dem digitalen HAU4. In der Programmabteilung wird gemeinsam mit Künstler:innen und Gruppen geplant, konzeptioniert und diskutiert. Tanz, Theater und andere performative Formate stehen im Spielplan gleichberechtigt neben Musik, Diskurs und den Aktivitäten des Houseclubs. Das HAU hat die vom Land Berlin gewährte institutionelle Förderung konstant und konsequent steigern können, auf aktuell 8,6 Millionen Euro pro Jahr. Als Teil des Bündnisses internationaler Produktionshäuser kommen Mittel aus dem Bundeshaushalt der Beauftragten für Kultur und Medien hinzu. Zusätzlich werden einzelne Produktionen über Projektanträge kofinanziert. Im interdisziplinären Programmteam des HAU wird über den Spielplan, die kommenden Spielzeiten, mögliche Projekte, ästhetische Antworten auf theoretische Fragen und nicht zuletzt über die Lage der Welt und das Leben in Berlin nachgedacht, bevorzugt über den Zusammenhang von beidem: Immer wieder wird hinterfragt, wie die globalen Zusammenhänge sich in der unmittelbaren Kreuzberger Nachbarschaft des HAU auswirken und in welchem Verhältnis die Berliner Stadtgesellschaft zur Welt steht. Spezialist:innen für Theater, Tanz und Performance, Diskurs und Theorie sowie Musik entwerfen gemeinsam mit Partner:innen Inhalte und Dramaturgien für Eigenproduktionen, Veranstaltungsreihen und Festivals. Mit Annemie Vanackere, die 2012 von der Schouwburg in Rotterdam kam, ist Berlin am HAU eine Internationalisierung gelungen und ein Bekenntnis zu kuratorischer Intendanz eines Theaterhauses. Gemeinsam mit Aenne Quiñones als stellvertretende künstlerische Leiterin entstehen ­Spielpläne, die deutsche und internationale Zeitge-


Foyer des HAU3. © Dorothea Tuch

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Foyer des HAU2. © Dorothea Tuch


HAU1 Theatersaal. © Dorothea Tuch

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schichte, Gegenwart und Zukunftsfragen aus diversen Blickwinkeln diskutieren, beleuchten, befragen. Das HAU produziert, indem es gemeinsam mit Künstler:innen Ideen, Fantasien, Gedanken und die Beziehungen zwischen diesen sichtbar und erlebbar werden lässt. Der Kulturjournalist Diedrich Diederichsen beschreibt anschaulich, was das HAU als Erfahrungsraum ausmacht, der Kunst und Welt nicht nur zusammendenkt, sondern tatsächlich zusammenbringt: „Das HAU als mehrteilige Verkettung von Orten artikuliert, indem es drei Spielorte, die für sehr unterschiedliche Formate darstellender Kunst im weitesten Sinne geeignet sind, dass das, was man an diesen Orten macht, zusammengehört, ohne dass es dafür offensichtliche Gründe geben musste: Es entwickelte eine Form.“ (www.hebbel-am-ufer.de/ueber-uns/profil/ein-werbetext-von-diedrich-diederichsen) So wird das Aufeinanderangewiesensein der diskursiven und künstlerischen Formate erkennbar, selbst dann, wenn die Beziehungen überraschend sind – ja, gerade dann zeigt sich, dass Kontexte programmatisch erzwungen werden können und dass dies der Weltverständigung der Zuschauenden dient, in einer Welt, in der längst alles mit allem zusammenhängt und alles mit allem kollaboriert, kommuniziert und interagiert. Neben den international renommierten und seit vielen Jahren dem HAU verbundenen Künstler:innen wie Forced Entertainment, Gob Squad, Nature Theater of Oklahoma, Rimini Protokoll oder She She Pop sind es u. a. Antonia Baehr, Jérôme Bel, Anne Teresa De ­Keersmaeker, Mette Ingvartsen, Toshiki Okada, Philippe Quesne, Eszter Salamon oder Meg Stuart, die regelmäßig im HAU ihre neuesten Arbeiten zeigen und vor allem auch ihr Repertoire durch Wiederaufnahmen oder Weiterentwicklungen einem stetig wachsenden Publikum präsentieren. In den letzten acht Jahren sind weitere Akteur:innen dazugekommen, die im HAU einem größeren Berliner Publikum erstmals vorgestellt wurden: Nicoleta Esinencu

und Teatru Spălătorie, Marlene M. Freitas, Ligia Lewis oder Faustin Linyekula, um nur einige zu nennen; Künstler:innen wie Phil Collins, Laibach, Christiane Rösinger oder Jonas Staal haben hier neues Publikum und neue Ausdrucksformen entdeckt. Die Signatur des Hauses wird immer wieder durch die Bündelung von Veranstaltungen in Festivals und Reihen sichtbar: „Precarious Bodies. Tanz, Performance, Körperpolitik“, „Männlich Weiß Hetero. Ein Festival über Privilegien“, oder „Spy on me – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart“ stehen für eine Gleichzeitigkeit und ein Zusammendenken von Diskurs und ästhetischer Praxis. 2020 fand mit „Alles ist Material – 20 Jahre Postdramatisches Theater“ eine Rückschau auf das Standardwerk des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann statt, das bei seinem Erscheinen 1999 die Szene definiert und akademisch geadelt hat. Neben etablierten Größen der internationalen Theaterszene sind es darüber hinaus die solidarischen Hinwendungen zu Künstler:innen in internationalen Konfliktfeldern, die das Selbstverständnis des Hauses bestimmen – beispielsweise der Belarus-Schwerpunkt „Я выхожу! – Berlin trifft Minsk“ im Januar 2021. Aber auch Programme wie die Auseinandersetzung mit Trauer und Verlust in „Unacknowledged Loss“ stehen für die Setzung eigener Themenfelder. Dass das HAU eine erste Adresse für Tanz in Berlin ist, liegt auch am jährlich stattfindenden Festival „Tanz im August“, Berlins internationalem Festival für zeitgenössischen Tanz, zurzeit unter der künstlerischen Leitung von Virve Sutinen. Jedes Jahr lädt das 1989 gegründete und seit 2013 alleinig vom HAU präsentierte Festival das Publikum ein, die gesamte Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes zu erleben. An vielen Spielorten in der ganzen Stadt erwartet das Publikum Produktionen internationaler Tänzer:innen und Choreograf:innen, darunter zahlreiche Uraufführungen und Deutschlandpremieren. Auch die Berliner Szene präsentiert sich hier einem Publikum aus aller Welt. 223


„Oratorium – Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis“, She She Pop, 2018. © Benjamin Krieg (S. 224/225) 224 „Dansöz“, Tümay Kılınçel, 2020. © Flavio Karrer (S. 226)


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Der Houseclub ist die Kontaktzone des HAU, in der Künstler:innen und junge Kreuzberger:innen zusammenkommen – ein Ort der gleichberechtigten Begegnung, ein Raum für künstlerische Auseinandersetzungen und Experimente von, mit und für Jugendliche. In mehrwöchigen Residenzen werden hier interdisziplinäre künstlerische Projekte entwickelt, deren Ergebnisse als Teil des Programms des HAU Hebbel am Ufer präsentiert werden. Dafür arbeitet der Houseclub u. a. mit vielen Schulen zusammen. Die Jugendlichen agieren im Houseclub als Expert:innen ihres Alltags, beschäftigen sich offensiv mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und eignen sich mit Mitteln des zeitgenössischen Theaters, der Performance und des Tanzes künstlerische Strategien an. In den vergangenen Jahren hat sich mit HAU3000 das Diskursprogramm digital erweitert und einen ­eigenen Ort auf der Homepage gefunden. Hier wird nachvoll­ ziehbar, wie kritische Reflexion der Gegenwart die Programmatik der Veranstaltungen beeinflusst. Die Texte Paul B. Preciados führten das HAU durch die Pandemie in 2020/21 und waren Anstoß für konkrete Mutationen im Theaterraum des HAU1. Beschleunigt durch die notwendigen Schließungen der Bühnen zur COVID-19-Eindämmung haben Annemie Vanackere und ihr Team am HAU die Vision für eine digitale Bühne entwickelt. HAU4 etabliert sich als gleichberechtigte Spielstätte mit eigenen digitalen Regeln und Ästhetiken, die Social Media, Games, Live-Streams, Performances, Workshops und viele weitere hybride Formate zu verbinden vermag.

HAU Hebbel am Ufer is located in Kreuzberg, but it still feels like it is in no man’s land, at least a little bit. ­Potsdamer Platz isn’t far away and Park am Gleisdreieck is just around the corner, but the cityscape here is disorderly. It’s hard to find a restaurant or bar; most people end up in WAU, the café and restaurant in HAU2. The neighborhood doesn’t have a name and almost no one finds themselves here randomly. This is all the more reason why Berlin’s cultural policy proved itself to be innovative and courageous when it founded a new institution named HAU Hebbel am Ufer in 2003 consisting of three theaters: Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer and Theater am Ufer, now called HAU1, HAU2 and HAU3. This resulted in a producing and presenting organization where both local and internatio­nal artists and groups have their artistic home in Berlin. 227


Der Gebäudekomplex, den sich das

English Theatre Berlin | International ­Performing Arts Center und das

Theater Thikwa als Spielstätte teilen, existiert als theaterspezifischer Ort seit 2006. Damals ließen das English Theatre Berlin (das bis dahin Friends of Italian Opera hieß) und das Theater Thikwa mit Hilfe von Fördermitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie den jetzigen Spielort umbauen – mit einem flexiblen Saal für bis zu 150 Zuschauer:innen. Die sogenannten Mühlenhaupthöfe in der ­Fidicinstraße 40 – wie so viele Orte in Kreuzberg – haben eine wechselvolle Geschichte. Ehemals als Stallungen für die Pferde der nahe gelegenen Schultheiß-Brauerei gebaut, dienten sie später als Fabrik für Kochtöpfe, in der (noch später) auch eine Metallummantelung für implosionssichere Farbfernseher erfunden worden sein soll. Die Sache mit der Kunst begann 1989, als der Maler Kurt Mühlenhaupt das verwinkelte Areal kaufte und daraus einen Künstlerhof mit Ateliers machte. In einem kleinen Kabuff im Seitenflügel mietete sich ein Jahr später eine Off-off-Bühne ein: die bereits erwähnten Friends of Italian Opera, gegründet von Bernd ­Hoffmeister und Martin Kamratowski. Mit „Kunst der Komödie“ von Eduardo di Filippo hatte am 17. Juni 1990 ihre erste Produktion im ehemaligen Brauereihof Premiere. Der heute so hippe Bergmannkiez in direkter Nachbarschaft zum Tempelhofer Feld war damals kaum mehr als das weit abgelegene Südende ­Kreuzbergs. 228

In der quirligen Nachwendezeit entwickelt sich das Wohnzimmertheater schnell zu einem Hotspot für die englischsprachige Szene. Auch andere Gruppen entdeckten das lauschige Kreuzberger Kunstbiotop. Mit Kurt Mühlenhaupts Segen bespielten sie eine leerstehende, unbeheizbare Lagerhalle im vorderen Teil des weitläufigen Geländes. Und verließen sie wieder … Auftritt Theater Thikwa: 1991 gegründet, als die Zusammenarbeit zwischen Künstler:innen mit und ohne Behinderung noch absolutes Neuland war, war es Anfang der nuller Jahre bereits über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Nach Jahren des Nomadisierens durch verschiedene Spielstätten vom damaligen Theater am Halleschen Ufer (heute HAU2) über das Maxim Gorki Theater bis zu den Sophiensælen brauchte Thikwa endlich eigene Räume. Persönliche Freundschaften mit den mittlerweile in English Theatre Berlin (ETB) umbenannten Friends of Italian Opera ebneten dafür den Weg. Die Idee einer gemeinsamen Spielstätte passte gut zu Thikwas Anspruch, ein etwas anderer, aber selbstredend gleichberechtigter Player in der Berliner Kulturlandschaft zu sein. 2008 wurde dann die umgebaute ehemalige Lagerhalle als gemeinsame Spielstätte der beiden Gruppen unter dem Namen „F 40“ eröffnet und war das erste komplett barrierefreie Theater in Deutschland.


English Theatre Berlin & Theater Thikwa, Eingang zu den Mühlenhaupthöfen. © Theater Thikwa

Der Name hat sich im Lauf der Jahre als unpraktisch erwiesen, die Partnerschaft zwischen dem ETB und Thikwa ist geblieben. Zusätzlich zum hälftig bespielten „großen“ Theater mit bis zu 120 Plätzen betreibt Thikwa noch eine kleine Studiobühne im hinteren Teil der Mühlenhaupthöfe für sechzig Zuschauer:innen. Performances, Tanz-, Text- und Musiktheater ohne Scheu vor Experimenten sind das Markenzeichen des Theaters. Eigenwillig und Diskurse anstoßend, die gerne und immer wieder die Genres sprengen. Rund zehn bis zwölf

Eigenproduktionen werden in circa achtzig Aufführungen jährlich in beiden Theatern gespielt. Alle zwei Jahre sind sie darüber hinaus eine Hauptspielstätte des internationalen „NoLimits“-Festivals. Das Theater Thikwa arbeitet in besonderem Maße mit der persönlichen Eigenart seiner Performer:innen und sucht dabei neue Ausdrucksformen. Dabei kooperiert es kontinuierlich mit externen Künstler:innen der Freien Szene wie Martin Clausen, Anne Tismer, Angela Schubot, Cora Frost oder den Performance-Kollektiven 229


Monster Truck und hannsjana. Alle Stücke werden gemeinsam mit den Ensemblemitgliedern entwickelt, gemeinsame Autor:innenschaft ist seit langem ein Grundprinzip der Arbeit. Der wegweisende diverse Ansatz wird auch seitens der Fördergremien gewürdigt. Seit 2020 erhält Thikwa die vierjährige Konzeptförderung des Berliner Kultursenats. In unmittelbarer Nähe zum Theater, in der ehemaligen Bockbrauerei auf der anderen Straßenseite, befindet sich die Thikwa-Werkstatt für Theater und Kunst, in der Menschen, die als geistig, psychisch oder lernbehindert gelten, eine Ausbildung in Schauspiel, Tanz und Bildender Kunst erhalten. Hier arbeitet und probt auch das 44-köpfige Ensemble. Die Thikwa-Werkstatt für Theater und Kunst wird gemeinsam mit der Nordberliner Werkgemeinschaft (nbw) betrieben und bietet den behinderten Beschäftigen einen Vollzeitarbeitsplatz im Bereich Kunst. Für seine Arbeit wurde das Theater mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet – unter anderem mit dem Martin-Linzer-Theaterpreis der Zeitschrift Theater der Zeit für die „herausragende Ensemble-Leistung eines Theaters im deutschsprachigen Raum“ und dem Theaterpreis des Bundes für „die in der Theaterszene herausragende Beschwörung von gesellschaftlicher Diversität bei gleichzeitiger Lust an künstlerischer Radikalität“. Dagegen hat sich das English Theatre Berlin (ETB) als eines der ältesten kontinuierlich produzierenden freien Theater in Berlin von Anfang an an der internationalen Vielfalt orientiert. Von der Umbruchzeit nach dem Mauerfall über den Hype der Nuller Jahre bis hin zu den 2010er Jahren mit der zunehmenden Internationalisierung Berlins sowie der Professionalisierung und Etablierung der Freien Szene als feste Größe in der Theater- und Performancelandschaft ist die Geschichte des ETB untrennbar mit der von Berlin verbunden – es hat sich über die Jahrzehnte immer wieder neu erfunden, künstlerisch und namentlich. 230

Ein knappes halbes Jahr nach der ersten Premiere gab es die Uraufführung von „Noodle Highway“, einem Stück der US-amerikanischen Autorin Joy Cutler und der Gruppe Out to Lunch auf Englisch, und ein erstes Gastspiel aus Dublin. Aus der großen Resonanz auf die englischsprachige Fokussierung folgte die Entscheidung, die Spielstätte künftig unter dem Namen Friends of Italian Opera – English Theatre zu betreiben. 1993 kam Günther Grosser, der schon in den 1980er Jahren mit den Berlin PlayActors um Rik Maverik und später mit Out to Lunch gearbeitet hatte, als künstlerischer Leiter an das Haus. 1995 erhielt das Theater seine erste Förderung aus Mitteln für Freie Theater und Gruppen des Landes Berlin. Bis 2006 bespielten Friends of Italian Opera die kleine Bühne mit fünfzig Plätzen und Open-air-Bar, die lange als Geheimtipp galt. Auf dem Spielplan fanden sich renommierte Gastspiele aus allen englischsprachigen Ländern, Eigenproduktionen von neuen Stücken und modernen Klassikern sowie Performances und Produktionen aus der Freien Szene Berlins. Die kleine Spielstätte hatte zahlreiche Erfolge zu verzeichnen, so etwa die Aufnahme der Out-to-Lunch-Produktion von Nicky Silvers „The Food Chain“ ins Programm der Berliner Festwochen von 1998. Die Wende zum heutigen English Theatre Berlin | International Performing Arts Center kam 2012, 23 Jahre nach dem Mauerfall. Daniel Brunet, Hausregisseur in der Spielzeit 2003/04 und Gründer der Entwicklungsreihe THE LAB, wurde zum Producing Artistic Director berufen und vertrat damit im Leitungsteam eine neue Generation von Theatermacher:innen. Mit ihm kam ein neues künstlerisches Konzept, das auf der spannenden und internationalen Freien Szene Berlins basiert: Englisch als Arbeitssprache. Mit diesem Schritt hat sich die ­Spielstätte für alle Künstler:innen der Stadt geöffnet, die auf Englisch arbeiten, dabei aber ausdrücklich nicht-englische Muttersprachler:innen mit einbezogen. Der Spielplan beinhaltet Arbeiten von Künstler:innen aller


Eingang zum Foyer des English Theatre Berlin & Theater Thikwa. © ETBIPAC

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Kontinente, die ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt in Berlin haben. Von Performance über Sprechtheater bis zu Objekt- und Tanztheater sind nahezu alle Sparten der darstellenden Künste regelmäßig vertreten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf mehrsprachigen Arbeiten, die sich mit den wichtigsten soziopolitischen Themen in Berlin und in Deutschland auseinandersetzen und darüber hinaus Sichtbarkeit schaffen für Protagonist:innen und Perspektiven, die auf anderen Bühnen unterrepräsentiert sind. Im jährlichen „Expo“-Festival „A Showcase of Wahlberliner“, das Brunet 2013 ins Leben gerufen hat, präsentiert das Haus eine Woche lang Uraufführungen und Wiederaufnahmen aus Berlins internationaler Freier Szene. Eine Einladung zur „Expo“ bildet oft den ersten Schritt zu einer längerfristigen Beziehung zwischen den Künstler:innen und dem Haus. Gute Beispiele hierfür sind die griechischen Performer von Dirty Granny Tales, das brasilianisch-deutsch-finnische Frauentrio ABA NAIA mit ihren feministischen „post-porn clown“-Extravaganzas, die Gruppe Leinz Lieberman um den deutschen Dramaturgen Ulrich Leinz und den israelischen Regisseur Shlomo Lieberman, die Choreografin Olivia Hyunsin Kim/ddanddarakim, die US-amerikanische Performerin Catherine Duquette, der Choreograf und Tänzer Ming Poon aus Singapur oder die Gruppe Tanween um den syrischen Regisseur Ziad Adwan. Die „Expo“ hat sich mittlerweile als feste Größe innerhalb der Festivallandschaft Berlins etabliert und wurde mehrfach aus Mitteln der spartenoffenen Förderung und des Hauptstadtkulturfonds gefördert. Ein Fokus liegt aber auch weiterhin auf der Einladung bedeutender internationaler Gastspiele. In Zusammenarbeit mit Regine Hengge, Professorin für Mikrobiologie an der Humboldt-Universität, führt das ETB seit 2010 die Reihe „Science&Theatre“ durch, ein Wissenschaftskommunikations-Projekt, in dessen Rahmen Inszenierungen sogenannter „Science Plays“ zu naturwissenschaftlichen Themen präsentiert werden – „Schweigen Impossible.“, Theater Thikwa, 2017. © Florian Krauss

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„Berlin Diary: (Schlüterstraße 27)“ von Andrea Stolowitz, Regie: Daniel Brunet, English Theatre Berlin, 2016. © Jerun Vahle

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regelmäßig ergänzt durch Vorträge internationaler Wissenschaftler:innen. Der Hintergrund von „­Science&Theatre“ ist die nahezu schizophrene Erkenntnis, dass die moderne Naturwissenschaft zwar massiven Einfluss auf unser aller Leben hat, dieser sich allerdings nur randständig und selten konzeptionell in Kulturprodukten niederschlägt, als Thema in Stücken oder Performances schon gar nicht – anders als im angelsächsischen Raum, wo das „Science Play“ inzwischen ein anerkanntes Subgenre ist. Seit 2010 wurden im Rahmen von „­Science&Theatre“ sieben Produktionen realisiert, dazu kam das begleitende Schulprojekt „Designer Jeans Genes“ zur Synthetischen Biologie in Kooperation mit drei Berliner Gymnasien. Im Rahmen der Kulturellen Bildung präsentiert das ETB jährlich eine Produktion des Berlin International Youth Theater, ist seit 2002 als TUSCH-Mitglied jeweils für zwei Jahre Partner einer Berliner Schule und bietet darüber hinaus laufend Workshops für Schüler:innen­ gruppen zu verschiedenen Themen an. Generell ist sein Publikum so divers wie der Spielplan selber: Durch den Fokus auf zahlreiche unterschiedliche Themenkomplexe und Communitys hat das Haus ständig wechselnde ­Zuschauer:innen. Und das Publikum kommt in großer Zahl: Fast alle Hausproduktionen seit 2013 verzeichneten bei zehn bis zwölf Vorstellungen mehr als tausend Zuschauer:innen. Das ETB wird derzeit über die zweijährige Basis­ förderung für Produktionsorte der Berliner Senats­ verwaltung für Kultur und Europa gefördert. In den Jahren 2020 und 2021 betrug die Fördersumme 150.000 Euro – das deckt Miete, Nebenkosten und die bescheidenen Honorare des Kernteams (allesamt Freiberufler:innen). Deshalb müssen sämtliche Eigenproduktionen des Hauses durch Drittmittel finanziert werden, nicht nur über die verschiedenen Fördertöpfe von Bund und Land, sondern auch durch die Zusammenarbeit und Kooperation mit sehr unterschiedlichen Geldgebern, darunter die Kulturabteilungen verschie-

dener Botschaften, Stiftungen oder private Koproduzent:innen. Nach den ersten drei Jahrzehnten freuen sich das Team und das Haus – geleitet von Daniel Brunet, ­Günther Grosser und Bernd Hoffmeister – nun auf die nächsten dreißig Jahre. In guter Partnerschaft mit dem Theater Thikwa natürlich.

English Theatre Berlin | International Performing Arts Center and Theater Thikwa are two of Berlin’s oldest independent theaters and the complex of buildings that they share as a performance venue was converted into a theater with a flexible auditorium for up to 150 ­audience members in 2006. This complex, located in the Mühlenhaupthöfe at Fidicinstraße 40, like so many places in Kreuzberg, has a rich history. It was originally constructed as horse stables for the nearby Schultheiß brewery and then served as a factory for cooking pots. The complex was purchased by the painter Kurt ­Mühlenhaupt in 1989, who turned it into an artists’ courtyard with artist studios. Theater Thikwa is a trailblazer for inclusion whose productions are collaborations between performers with and without so-called ­disabilities while ETB | IPAC provides a (multilingual) space for all artists in the city who work in English, expressly i­ncluding n ­ on-native speakers. 235


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Die

Neuköllner Oper

wurde 1977 vom Komponisten und Dirigenten Winfried Radeke als Gegenentwurf zu den bestehenden Opernhäusern gegründet. Der Verein Neuköllner Oper wollte und will Musiktheater aus seiner doppelten Umklammerung lösen: Er will Uraufführungen zeigen, statt sich auf ein eng begrenztes Repertoire zu beschränken, und Stücke über gesellschaftlich relevante Themen inszenieren mit allen zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln, statt Geschichten von gestern zu erzählen. Nach den Anfangsjahren in verschiedenen Spielstätten zog die alternative Operninstitution 1988 in den Ballsaal der Passage Neukölln in der Karl-Marx-Straße, die der Kaufmann Paul Daedrich 1909/10 errichten ließ. Die Architekten Hoppe/Kiehl entwarfen dafür zwei fünfgeschossige Flügelbauten, die eine öffentliche Ladenpassage mit zwei Höfen flankieren. Sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch die innere Ausstattung mit Kino- und Ballsaal waren damals einmalig in Berlin: Als kommerziellem Zentrum, das auch kulturelle Einrichtungen beherbergt, kommt der Anlage eine große ortsgeschichtliche Bedeutung zu. Um zu den beiden Bühnen – den großen Saal mit bis zu 200 und dem Studio mit bis zu 60 Plätzen – zu gelangen, in denen die Neuköllner Oper bis zu 250 Aufführungen jährlich zeigt, muss man 75 Stufen bis in den vierten Stock des Gebäudes steigen. In der Freien Szene nimmt das Haus eine Sonderstellung ein: Es ist Berlins einziges Produktionshaus für Musiktheater mit durchlaufendem Spielbetrieb. Geleitet wird das Haus mit seinen zweiundzwanzig fest angestellten Mitarbeiter:innen von einem dreiköpfigen Direktorium: Andreas Altenhof (Kommunikation), Bernhard Glocksin (Künstlerische Leitung) und Laura Hörold (Geschäfts­führung). Da es kein festes Ensemble gibt, 238

beschäftigt die Oper bis zu 150 freischaffende Künstler:innen pro Jahr und bietet ihnen die komplette Infrastruktur zur Entwicklung neuer Produktionen. Für die künstlerische Umsetzung der Themen steht die Frage nach ihrer musikalischen Form im Mittelpunkt. Dabei werden alle Genres herangezogen – von der Oper über Operette, Musical bis hin zu performativen Formaten. Für das Haus ist die Zusammenarbeit mit Künstler:innen, die an Genre-übergreifender Arbeit interessiert sind, zentral, darunter Komponist:innen oder Autor:innen wie beispielsweise Moritz Rinke, Peter Lund, Cymin ­Samawatie und Lutz Hübner oder Ensembles wie das STEGREIF.orchester, das Ensemble Adapter und das Trickster Orchestra. Durch Kooperationen mit anderen Akteur:innen der Zivilgesellschaft werden Themen vertieft: Zum Thema „Kunst und Nachhaltigkeit“ wurde beispielsweise eine Zusammenarbeit mit dem Prinzessinnengarten Kollektiv Berlin initiiert, im Themenfeld Zwangsmigration wurde das Berliner Netzwerk „Mondiale – urbane Praxis im Kontext Migration, Asyl und Exil“ mitgegründet. Durch ihre zentrale Lage ist die Neuköllner Oper nahe an den Themen und Geschichten von Berlins vitalstem Stadtteil, der sich durch einen hohen Anteil von Bürger:innen mit Migrationserfahrung auszeichnet. Seit kurzem werden hier auch verstärkt digitale und interaktive Formate ausprobiert, etwa die (bislang) sechsteilige Webserie „Opera for Sale“, die auf Grundlage eines vorhandenen Bühnenstücks umgearbeitet und mithilfe einer eigens dafür entwickelten Webseite gestreamt wurde. Die künstlerische Nachwuchsarbeit bildet einen weiteren Schwerpunkt der Neuköllner Oper und umfasst alle Altersgruppen: Seit 1997 gibt es eine Kooperation mit dem Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste, in deren Rahmen regelmäßig

Historische Ansicht des Passage Kino in Neukölln im Nationalsozialismus. © Museum Neukölln Neuköllner Oper und Passage Kino heute. © Dorothea Tuch (S. 240)


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Veranstaltungsraum. © Dorothea Tuch

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Treppenhaus zur Spielstätte. © Dorothea Tuch


„Drachenherz – Kein Platz für Helden“, Neuköllner Oper, 2019. © Nasser Hashemi

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ein speziell für die Studierenden geschriebenes Musical aufgeführt wird. Darüber hinaus vergibt die Neuköllner Oper den Berliner Opernpreis „comPOSITION“, der sich an Autor:innen richtet, die Werke für ein gesellschaftlich engagiertes und Genre-offenes Musiktheater schaffen. Auch das Junge Ensemble der Neuköllner Oper richtet sich an Jugendliche, die selbst Musiktheater schreiben und spielen wollen. Für die Altersgruppe der Sechs- bis Vierzehnjährigen erarbeitet der Kinder Klub (NOKK) jährlich ein Musiktheater-Stück. International hat die Neuköllner Oper gleichgesinnte Partnerinstitutionen und Kunstschaffende gefunden, mit denen sie in Festivalformaten gemeinsame Arbeiten zeigt: beispielsweise mit der Òpera de Butxaca i Nova Creació in Barcelona, dem Performance-Kollektiv Balletto Civile in La Spezia oder mit dem Festival „Musiktheatertage Wien“. Als Privattheater wird die Neuköllner Oper regelmäßig gefördert durch das Land Berlin (im Rahmen einer vierjährigen Konzeptionsförderung) und den Bezirk Neukölln. Drittmittel werden durch Sponsoring (durch die GASAG Berlin beispielsweise) oder die Akquise von Mitteln aus weiteren Förderprogrammen (Hauptstadt­ kulturfonds, Kulturstiftung des Bundes) eingeworben.

Neuköllner Oper was founded in 1977 by the composer and conductor Winfried Radeke as a counterpoint to the existing opera houses. The institution seeks to free music theater from what it sees as a double stranglehold: it focuses on premiering new work instead of fixating on a limited repertoire and creating productions about socially relevant topics using all available musical means instead of telling yesterday’s stories. After spending its initial years in a variety of performance venues, the alternative opera moved into the ballroom of Passage Neukölln on Karl-Marx-Straße in 1988. It holds a unique place in the independent performing arts community as Berlin’s only producing institution for music theater that offers performances year-round. Working without a permanent ensemble, Neuköllner Oper hires up to 150 freelance artists each year and offers them the complete infrastructure for the development of a new production. 243


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„Elfie“, Neuköllner Oper, 2019. © Matthias Heyde

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„Was, wenn Neukölln nicht bloß Problembezirk ist, sondern Testgelände für den Rest der Republik?“ (Franziska Giffey im Tagesspiegel vom 25.1.2016) Der Ballsaal, in dem heute der

Heimathafen Neukölln

residiert, hat eine lange Historie mit ganz unterschiedlichen Nutzungskonzepten – als beliebter Veranstaltungs­ort für Varieté, Theater, Boxkämpfe, Modenschauen, Film, Musik und Tanz. Diese historisch vielseitige Nutzung dient heute der künstlerischen Leitung des Hauses als Inspiration. 1875 ließ der Gastwirt Ludwig Niesigk den heutigen Heimathafen Neukölln als „Niesigk’schen Salon“ in der Gemeinde Rixdorf erbauen, mit Wirtshaus, Salon und Ballsaal. Rixdorf wuchs rasant und hatte 1899 bereits 80000 Einwohner. Dann übernahm Carl Göpler das Haus und erweiterte es um Kegelbahn, Gaststube, Vereinsräume und – ganz wichtig – Damen- und Herren-Toiletten. Im umbenannten „Göpler’s Salon“ eröffnete dann auch das „Neue Stadttheater“, in dem einmal pro Woche Klassiker aufgeführt wurden. Ab 1909 präsentierte die nun in „Rixdorfer Theater“ umbenannte Spielstätte ein breiteres Spektrum: von Possen bis Tragödien. 1912 wurde Rixdorf mit seinen mittlerweile 250000 Einwohner:innen offiziell in Neukölln umbenannt. Nachdem der Saal zwischenzeitlich zum Kino umfunktioniert worden war, kehrte das Theater 1931 zurück – mit Gastspielen, Operetten und Singspielen. Zwischen 1933 und 1945 schrieb sich auch dieses Haus in die Liste der Tatorte von Verbrechen im Nationalsozialismus ein: Hier fand die Sortierung und Verteilung jüdischen Eigentums nach der Deportation seiner Besitzer:innen in die Konzentrationslager statt. Nach Kriegsende wurde der Saal dann erneut als Kino genutzt, bevor das Gebäude 1955 nach Umbauarbeiten als multifunktionaler Saalbau genutzt wurde, der mit dem Bau der Berliner Mauer allerdings durch 246

die Randlage Neuköllns ins kulturelle Abseits geriet. 1963 wurde im Gebäude eine Passierschein-Stelle eingerichtet, die Verwandtenbesuche trotz des Mauerbaus (vereinzelt) möglich machen sollte, bevor es 1968 aufgrund baulicher Mängel polizeilich gesperrt wurde. Das Haus stand leer und verfiel, bis das Berliner Abgeordnetenhaus 1986 seine Renovierung beschloss. Nach mehr als zwanzigjährigem Dornröschenschlaf wurde das Gebäude im Jahr 1990 dann feierlich an das Neuköllner Kulturamt übergeben – 2009 übernahm das Team des Heimathafens Neukölln. Im Pachtvertrag wurde der Anspruch verankert, ein „niedrigschwelliges Kultur­ angebot für den Bezirk und ganz Berlin zu schaffen“. Dieser Programmatik entsprechend ist der Heimathafen Neukölln mit seinem wunderschönen denkmalgeschützten Ballsaal – der 800 (stehende) bzw. 400 Zuschauer:innen (in der bestuhlten Variante) fasst – seit 2009 fester Bestandteil der Neuköllner Kulturmeile auf der Karl-Marx-Straße. Neben der Saal-Bühne existiert auch eine Studiobühne mit achtzig Sitzplätzen für kleinere Formate. Der Heimathafen ist ein modernes Kieztheater mit einem vielseitigen Programm aus Zeitgenössischem, Konzerten, Debatten- und Showformaten, mitten im Herzen von Deutschlands bekanntestem Problem- und Trendbezirk: Neukölln. Hier prallen Welten aufeinander. Der Berliner Bezirk ist bundesweit bekannt als Synonym für den Schmelztiegel neuer urbaner Konflikte: Kriminalität und wachsende Hartz-IV-Gesellschaften treffen auf steigende Immobilienpreise und den enormen Zulauf einer internationalen digitalen Boheme.

Historische Aufnahme des Eingangs zum Saalbau Neukölln, heute Heimathafen Neukölln. © Museum Neukölln Café Rix, Heimathafen Neukölln. © Dorothea Tuch


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Hof mit Café Rix, Heimathafen Neukölln. © Dorothea Tuch

Im Heimathafen selbst begann alles 2007, als Neukölln noch von Ladenleerstand und Brandbriefen aus den Schulen geprägt war. Ein Team von jungen Theatermacherinnen gründete in temporärer Zwischennutzung ein provisorisches Theater in einer leer stehenden Eckkneipe in der Richardstraße. „Volkstheater aus und für Neukölln“ lautete bereits damals die Devise. Es wurden historische Stücke aus den Polizeiakten des Viertels ausgegraben und aufgeführt, und es entstanden

neue Formate in Zusammenarbeit mit den Anwohner:innen. An dieser Grundidee, aus dem Lokalen – sei es historisch oder aktuell – die Stoffe für die Bühne zu entwickeln, hat sich bis heute nichts geändert. Zwischen 2007 und 2009 fand das Theater noch für fünf Monate temporär in der Pakethalle der Alten Post an der Karl-Marx-Straße 97 statt, bis es dann im April 2009 die heutige Spielstätte im Ballsaal des Saalbaus Neukölln bezog.

„Die Rixdorfer Perlen“ am Heimathafen Neukölln. © Verena Eidel – Rixdorfer Perlen

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Den Anspruch als Kulturraum für alle erfüllt der Heimathafen durch Formatvielfalt und Publikumsnähe. Der Bezirk dient dabei als Ausgangspunkt, als Brennglas der Chancen, Hoffnungen und Konflikte der Welt. Neukölln ist der Untersuchungsraum, ist Schauplatz und Bühne, der mit unterschiedlichsten Formaten bespielt wird – und die Karl-Marx-Straße ihr Boulevard. Fernab der großen Häuser dieser Stadt spiegelt der Heimathafen seine ihn umgebende Realität – als Reaktion auf die sich ständig verändernde Vielfalt aus Farben, Stilen, Genres, Milieus und Kulturen. Der Heimathafen Neukölln ist mit einem in Berlin einzigartigen Konzept der Eigenförderung im Jahr 2019 angetreten. Die Finanzierung des Kulturbereichs wurde in den ersten Jahren durch Einzelprojektförderungen, gewinnbringende Vermietungen und den Bereich Gastronomie ermöglicht. Durch seine Etablierung und das Renommee der Theaterarbeit wurde die Spielstätte in die Basisförderung des Senats aufgenommen. Seit 2020 erhält sie eine Konzeptförderung des Berliner Senats und kann sich intensiver der Kulturarbeit widmen. Dabei will das Haus als Kieztheater vor allem das Gesicht des Bezirks widerspiegeln und offen für viele sein – für die Theaterstücke muss niemand ein Reclam-Heft oder einen Schauspielführer lesen. Hier geht es darum, allen Menschen einen Zugang zu bieten, unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit. Durch Kooperationen mit anderen kulturellen Institutionen im Bezirk ist der Heimathafen Neukölln inhaltlich und strukturell in der Stadt verankert. Projekte und Stücke, die einen besonderen Bezug zur Stadt, ihrer Geschichte und ihren Menschen haben, stehen regelmäßig auf dem Spielplan und erhöhen die identitätsstiftende Funktion des Hauses. Der monatlich wiederkehrende Neukölln-Tag wendet sich speziell an die Bewohner:innen des Bezirks und lädt ein, den Heimathafen Neukölln als Nachbar:in neu zu entdecken. Die stilistische Vielfalt in Form von Eigenproduktionen, Gastspielen und Kooperationen mit der Freien 250

Szene wird durch das Team der künstlerischen Leitung um Inka Löwendorf und Julia von Schacky gewährleistet. Daneben sind die beiden Geschäftsführerinnen Nicole Hasenjäger und Iris Ratei für das Haus in der Verantwortung. Das Programm des Heimathafens Neukölln gliedert sich grob in vier Bereiche: Theater, Amüsemang, ­Tacheles und Musik. Oder wie es die Jury des Theaterpreises des Bundes im Dezember 2015 formuliert hat: „Der Heimathafen Neukölln, der von einem vierköpfigen Team engagierter Theaterfrauen geleitet wird, macht Volkstheater für den Kiez und gewinnt seine Stoffe mit Vorliebe aus der unmittelbaren Umgebung, inszeniert Texte von Neuköllner Autoren und entwickelt immer wieder Rechercheprojekte um ortsspezifische Geschichte(n) herum.“ – In den kleinen Geschichten verbergen sich die großen Themen der Zeit.


Veranstaltung im Saal, Heimathafen Neukölln. © Sabri Patzelt

The ballroom of Heimathafen Neukölln has a long history filled with a wide range of usage concepts and has been a popular location for vaudeville, theater, boxing matches, fashion shows, film, music and dance. The incredible diversity of its history continues to serve as inspiration for its artistic directors today. What is now Heimathafen Neukölln was constructed in 1875 by the restaurateur Ludwig Niesigk as a restaurant, saloon and ballroom in the quickly growing community of Rixdorf.

In 1912, Rixdorf had over 250,000 inhabitants and its name was officially changed to Neukölln. The building fell into disrepair after the construction of the Berlin Wall in 1961. Renovation work began in 1986 and was completed in 1990. In 2009, the team of Heimathafen Neukölln was given a lease and charged with “creating an easily accessible cultural program for the district and all of Berlin”. Today, Heimathafen is a modern neighborhood theater with a diverse schedule of programming. 251


PAUL Studios wurde 2015 von Vera Fenyvesi-Köppern gegründet und hat sich 2016 mit Zahra Banzi-Horn und Edegar Starke zum Kollektiv erweitert. Bislang finanziert sich PAUL ausschließlich selbst. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Unterstützung auf professioneller wie persönlicher Ebene innerhalb der Tanz- und Performancewelt hat das Kollektiv zusammengebracht. Es pflegt einen respektvollen und warmherzigen Umgang miteinander, der auf Transparenz und Fairness gründen soll. Das ist PAULs Funktion: auf diese Weise Künstler:innen zu begegnen, die zur Spielstätte finden. In einer Szene, die geprägt ist von der vermeintlichen Notwendigkeit, sich zu behaupten, sich zu beweisen und durchzusetzen, um einen Platz im Kreis der Etablierten zu finden, hat sich PAUL zu einem kleinen, freundlichen Hafen entwickelt, in dem die zwischenmenschlichen Beziehungen im Vordergrund stehen. PAUL ist eine außergewöhnliche Spielstätte: Als Hybrid aus Studio und Veranstaltungsort sind Bühne und Zuschauer:innenraum nicht voneinander getrennt. So entstehen verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten und eine besondere Nähe zwischen den Performenden und den Zuschauenden. PAUL bietet circa fünfzig Zuschauer:innen Platz. Früher war PAUL erst ein Büro, dann eine Sattlerei, eingebettet in verschiedene andere Werkstätten von der Autoreparatur bis zum Atelier. Im Süden von Neukölln, gleich neben der Sonnenallee und dem Estrel-Hotel, nahe am Kanal und dem Richard-Kiez, ist PAUL einzigartig als Spielstätte, mit Raum für Proben und Residenzen. Mit Räumlichkeiten von insgesamt 100 Quadratmetern ist PAUL recht überschaubar und wirkt inmitten der umliegenden Gebäude wie eine kleine Oase. Das ist zumindest der erste Eindruck, den Menschen oft äußern, wenn sie zu PAUL finden: ein Ort, an dem man sich willkommen fühlt, an dem man Neues entdecken und 252

selbst ausprobieren kann, fernab des täglichen Trubels im Berliner Kunstbetrieb: ein bisschen weniger unter Druck, ein bisschen weniger anonym. Durch dieses Angebot eines unterstützenden, offenen Raums hat sich PAUL in wenigen Jahren innerhalb der Freien Szene eine gewisse Bekanntheit geschaffen. PAUL macht es sich zur Aufgabe, gerade diejenigen Künstler:innen in der darstellenden Kunst – insbesondere Tanz und Performance – zu unterstützen, die professionell tätig, aber noch nicht in der Szene etabliert sind. Als Spielstätte engagiert sich PAUL mit Residency-Showings, mit installativen, speziell für die Besonderheiten des Ortes konzipierten Arbeiten im gesamten Studiobereich, durch Kollaborationen seiner Künstler:innen mit Formaten wie dem „Performing Arts Festival Berlin“ oder „48 Stunden Neukölln“ oder Serien wie „The Wall Series“, die verschiedensten Künstler:innen, vornehmlich aus Tanz und Performance, Raum gibt, ihre Arbeiten zu zeigen. Das PAUL-Kollektiv ist ein internationales Team: Zahra Banzi-Horn ist eine marrokanisch-amerikanische Zeitgenössische Tänzerin und Choreografin für Bühne und Film; Edegar Starke ist ein brasilianischer Tänzer und Performer in Physischem Theater, Butoh und Zeitgenössischem Tanz; Vera Fenyvesi-Köppern ist Tänzerin, Choreografin und Dramaturgin für Zeitgenössischen Flamenco und Tanz. Die unterschiedlichen künstlerischen Herangehensweisen und kulturellen Hintergründe bilden ein facettenreiches Ganzes in der künstlerischen und kuratorischen Zusammenarbeit.


„EMBEDDING“, Edegar Starke, Zahra Banzi, Brad Nath, Vera Fenyvesi Köppern, Jojo Hammer. © Lorenz Becker

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„IMMIGRANT/EXPAT“, Zahra Banzi. © Shai Levy

PAUL is not your ordinary performance venue. As a hybrid between rehearsal studio and event location, the stage and audience seating are not separated from each other. This allows a wide variety of uses and creates a special intimacy between performers and audiences. PAUL started out as an office and was then a saddlery, surrounded by a variety of other workshops, from auto repair shops to artist studios. Located in 254

southern Neukölln, next to Sonnenallee and near the Landwehrkanal, PAUL provides space for performances, rehearsals and residencies. 100 square meters in size, PAUL is small and seems to many visitors like a tiny oasis in the middle of the surrounding buildings, a place where they feel welcomed to discover something new and try it out for themselves, far from the daily hustle and bustle of Berlin’s art world.


Treppenhaus. © Zahra Banzi

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Außenansicht, PAUL Studios. © Dorothea Tuch


Seit der Übernahme Ende 2014 durch das aktuelle Leitungsteam – Aurora Kellermann, Schauspielerin und ­Regisseurin, und Chris Wohlrab, Produzent – hat sich das

TATWERK | PERFORMATIVE FORSCHUNG zu einem Produktionsort entwickelt, der sich auf das Ermöglichen und Begleiten künstlerischen Schaffens spezialisiert hat. Sowohl erfahrene Gruppen und ­Einzelkünstler:innen als auch Einsteiger:innen finden im TATWERK eine Basis für ihre Arbeit. In 2021 wird das TATWERK das erste Mal im Rahmen der einjährigen Förderung für Produktionsorte der Senatsverwaltung für Kultur und Europa finanziert. Der vollumfänglich ausgestattete, flexible Raum an der Hasenheide, direkt am Hermannplatz gelegen, ist eine der wenigen Kulturstätten, die in dieser zentralen und stark gentrifizierten Gegend verblieben sind. Das ­TATWERK widmet sich ausschließlich den freien darstellenden Künsten in allen Phasen des Produzierens: der Recherche am Tisch oder in Bewegung, der Entwicklung von Konzepten, der Erprobung erster szenischer Entwürfe, der Arbeit mit der Technik, dem Bauen des Bühnenbilds, dem konzentrierten Proben. Es begleitet die künstlerische Entwicklung und bildet eine offene Gemeinschaft als Inkubator neuer Ideen, P ­ erspektiven und Praktiken. Das TATWERK ist eine Plattform, auf der sich Künstler:innen miteinander und mit Kurator:innen und dem Publikum austauschen können. Es hat sich der Aufgabe verschrieben, bestmögliche Arbeitsbedingungen und nachhaltige Netzwerke zu bilden. Es bietet einen Schutz- und Freiraum zum Experimentieren und leistet dadurch einen unübersehbaren Beitrag zur stetigen Entwicklung, Professionalisierung, Vernetzung und Sichtbarkeit von künstlerischer Arbeit. Durch ­intensive Zusammenarbeit stellen Künstler:innen Bezüge zum Konzept, zur Arbeit und zur Positionierung des ­TATWERK her und bauen eine Kontinuität in der eigenen künstlerischen Praxis auf. 256

Das Programm besteht aktuell aus vier Veranstaltungsreihen: 1. Prozessorientierte Forschung: a serious playground In diesem Rahmen wird losgelöst von einem konkreten Projektvorhaben gearbeitet. Es werden Themen bzw. künstlerische Sprachen erforscht und entwickelt. Diese konzentrierten Phasen stellen oft die ersten Schritte zu Projekten dar, bieten die Möglichkeit, Ideen zu erproben und diese sowohl hinter geschlossenen Türen als auch im Austausch mit dem Publikum und anderen Künstler:innen voranzutreiben. 2. Produktionsbezogene Prozesse: sharing before showing Hier ermöglicht das TATWERK Künstler:innen in Probenblöcken an Projekten zu arbeiten, die dann an unterschiedlichen Spielstätten – überwiegend in Berlin, aber auch bundesweit und international – präsentiert werden. 3. Fertige Werke: stripped works Im dritten Strang werden fertige Produktionen prä­sentiert. Diese können ausdrücklich für die Räumlichkeiten des TATWERK inszeniert (Premiere) oder ortsspezifisch neu inszeniert (Gastspiele) werden. Dabei werden die Vorstellungen von unterschiedlichen Vermittlungsangeboten begleitet, die zum Teil an das Publikum (Nachgespräche, Vermittlungsformate), zum Teil an die Akteur:innen der Freien Eingang. © Claudia Raupach


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„Oder, ich bin Kampf“, DERIVAT, 2019. © Olaf Jelinski

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Szene (offene Arbeitssessions, Workshops, ­Vorträge) gerichtet sind. 4. Neuartige Streaming-Formate: between us Die Künstler:innen werden dazu eingeladen, innerhalb ihrer Arbeitsprozesse eigenständige digitale und diskursive Formate zu realisieren, die live auf der Plattform „Twitch“ gestreamt werden. Hier entwickeln die Künstler:innen eine künstlerische Sprache und ein Format, das ihrer aktuellen Recherche oder Produktion dient. Im Anschluss an das Livestreaming findet dann ein weiterer Austausch zwischen Künstler:innen und Viewern durch die Öffnung eines einschlägigen Chatrooms statt. „between us – backstage peeping auf Twitch“ wird 2021 im Rahmen des Programms #takepart des Fonds Darstellende Künste gefördert. Jedes Jahr entstehen im TATWERK viele Produktionen, die sowohl in unseren Räumen als auch auf anderen Bühnen der Stadt präsentiert werden. TATWERK | PERFORMATIVE FORSCHUNG is a production location that specializes in accompanying the artistic creative process and making it possible in the first place. Located within a fully equipped and flexible space directly on Hermannplatz in the district of ­Neukölln, it is one of the few cultural locations remaining in this central, gentrified area and which is exclusively dedicated to the independent performing arts. TATWERK supports all phases of artistic producing: table-based or movement research, the development of concepts, the trying out of the first ideas for scenes, working with stage technology, constructing the sets as well as the concentrated rehearsal process. It accompanies the artistic development of projects and functions as an incubator for new ideas, perspectives and practices. 259


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1987 als freie Theatergruppe gegründet, bespielt

Theater Strahl

seit Ende der 1990er Jahre überwiegend mit Uraufführungen seine zwei festen Bühnen im Berliner Stadtteil Schöneberg und seit 2013 auch eine Halle am Ostkreuz. Die Spielstätte im Kulturzentrum „Die Weiße Rose“, 1956 als „Haus der Jugend“ vom Bezirksamt eröffnet, ist das Stammhaus der Gruppe und seine langjährige Wirkungsstätte mit 200 Plätzen für das Publikum. Benannt nach einer der bekanntesten deutschen Widerstandsgruppen gegen den Nationalsozialismus um die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die sechs antinazistische Flugblätter verteilte, bevor sie zerschlagen wurde, steht das Zentrum für eine aktive Erinnerungspolitik. Die kleinere Probebühne in der ausgebauten Turnhalle im Dezentralen Kulturzentrum in der ­Kyffhäuserstraße („Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts.“) wird mit ihren 99 Plätzen eher für interaktive und kleinere Produktionen genutzt. Theater Strahl will neuen künstlerischen Formen und Ideen Raum geben, spielt mit Medien, Musik und Masken, entführt das Publikum in die Interaktion, ver­bindet Tanz mit Theater und inszeniert Klassiker in zeitgemäßen Fassungen. Seit 2013 inszeniert Theater Strahl auch zeitgenössische Tanzstücke für ein junges Publikum mit internationalen Künstler:innen, Tanzinszenierungen sind seitdem fester Bestandteil des Repertoires. Die von Strahl entwickelten Stücke und Angebote richten sich an Zuschauer:innen ab zwölf Jahren und führen auch Erstgänger:innen in die Welt des Theaters ein. Die Jugendlichen werden dabei auch in die ­Stückentwicklung mit einbezogen. So finden ihre Perspektiven und Themen in vielfältigen ästhetischen Formen auch Resonanz auf der Bühne. Theater Strahl geht auf Tour, gastiert deutschlandweit und international, folgt Einladungen zu Kinder- und Jugendtheaterfestivals und wird regelmäßig für Theater262

preise nominiert und ausgezeichnet. Mit dem Ziel, möglichst viele Jugendliche aus allen Lebensbereichen anzusprechen, bietet Strahl ein umfangreiches theaterpädagogisches Programm, oft in Kooperation mit Partner:innen aus Bildungseinrichtungen und Fachinstitutionen. Nach über dreißig Jahren Wanderschaft zwischen den verschiedenen Spielorten wird das Theater voraussichtlich im Herbst 2021 die denkmalgeschützte ­Doppelstockturnhalle am Ostkreuz als eigene feste Spielstätte beziehen – womit Berlin auf dem Gelände der Jugendherberge einen neuen Theaterstandort für junges Publikum bekommt. Dank einer Sondergenehmigung der Bauverwaltung Lichtenberg konnte Theater Strahl die untere Halle bereits zwischen 2013 bis 2020 im Berlin-­ typisch improvisierten Zustand für den S ­ pielbetrieb nutzen. Die Abrissarbeiten in den Hallen und dem Foyer sind nun bereits abgeschlossen, die Fußböden herausgerissen, die Dachböden entkernt und die Kabel gekappt. Das neue Jahr 2021 hat mit einer Fundamentverstärkung und neuen Fußböden in den Hallen begonnen. Mit dem neuen Haus am Ostkreuz, dessen Umbau von der LOTTO-Stiftung Berlin sowie Mitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) finanziert wird, soll im Berliner Osten ein neuer Identifikationsort für theaterbegeisterte (­junge) Menschen entstehen.


„Klasse Glück“, Theater STRAHL. © Jörg Metzner

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Hof des STRAHL.Halle Ostkreuz. © Jörg Metzner

264 Eingang zum STRAHL.Die weiße Rose. © Jörg Metzner


STRAHL.Halle Ostkreuz. © Jörg Metzner

Theater Strahl is dedicated to theater for young ­audiences and was founded as an independent group in 1987. It has operated two stages in the district of Schöneberg since the late 1990s and added a third stage in 2013, near Ostkreuz in the former East Berlin. The primary venue is located in the cultural center Die Weiße Rose, or The White Rose, and has space for 200 audience members. Theater Strahl seeks to

provide space for new artistic forms and ideas. It uses media, music and masks, interacts with its audiences, combines theater with dance and creates modern versions of the classics. After more than 30 years of moving between different venues, Theater Strahl plans to move into its permanent home, a newly renovated two-story gymnasium, in Ostkreuz in the fall of 2021. 265


Das

Figurentheater Grashüpfer

bietet seit 1997 ein kontinuierliches Theaterprogramm für Familien in seiner Spielstätte im Gartendenkmal Treptower Park. Ursprünglich aus einer Amateurtheatergruppe entstanden, die auf einem Hinterhof in ­Friedrichshain spielte, hat es sein Theater zu einem wichtigen Gastspielhaus für Puppen-, Figuren- und Objekttheater in Berlin entwickelt. Den Namen „­Grashüpfer“ gaben die Kinder der Theatergruppe, die in grüner Spielkleidung auftrat. Die wartenden Kinder riefen bei ihrem Anblick: „Da kommen die Grashüpfer!“ – Das fand die Gruppe gut und behielt den Namen bei. Nach der Wiedervereinigung war der Fortbestand des Theaters jedoch erst einmal unsicher: Es fehlte an Raum. Durch einen glücklichen Zufall eröffnete sich die Möglichkeit, das ziemlich versteckt liegende Haus im Gartendenkmal Treptower Park zu nutzen, das die KoKo der ehemaligen DDR (Kommerzielle Koordinierung) erst 1984 hatte bauen lassen. Das zu DDR-Zeiten errichtete Gebäude in der Puschkinallee 16a beherbergte bis zur Wende eine sogenannte Intergaststätte und einen Intershop. Hierher wurden devisenbesitzende Besucher:innen aus dem Westen gebracht, die Ostberlin besuchten, Teilnehmer:innen der Stadtrundfahrten – vor oder nach der Besichtigung des Sowjetischen Ehrenmals. Bürger:­innen der DDR konnten die „Inter“gaststätten oder -geschäfte nur nutzen, wenn sie westliche Devisen besaßen und in „Forumschecks“ umtauschten. In die Räume der ehemaligen Gaststätte zog damals der Revierstützpunkt 1 des Grünflächenamtes ein, in den Ex-Transitshop des Hauses das Figurentheater Grashüpfer. Das Theater bietet Platz für bis zu achtzig Personen und zählt damit zu den kleineren und intimeren Spiel­ stätten in Berlin. Die Anfänge im Treptower Park waren nicht einfach: Die völlig andere Umgebung, die bis dato kein Kulturort gewesen war, musste nun dem Publikum 266

bekannt gemacht werden. Es kamen Familien, die ihre Freizeit im Park verbrachten und zunehmend auch das Figurentheater für sich entdeckten. Heute besuchen ca. 16000 Zuschauer die bis zu 400 jährlichen Veranstaltungen des Figurentheaters. Maßgeblich für diese Entwicklung war die Arbeit von Sigrid Schubert – Puppenspielerin, künstlerische Leiterin, Pressereferentin und Förderantragsschreiberin in Personalunion. Bis 2001 leitete sie das Theater zuerst als ABM-Projekt, danach als Rentnerin im Ehrenamt. Darauf angesprochen, dass sie doch gar nicht mehr arbeiten müsse, antwortete sie stets: „Der eine hat ein Boot, der andere einen Garten und ich habe das ­Theater.“ Mit 76 Jahren war dann allerdings Zeit für eine Übergabe. Dabei war die Frage der Nachfolge zuerst einmal auch eine finanzielle: Das Theater bekam seit 2014 zwar Fördergelder für eine Backoffice-Stelle. Für eine ebenfalls notwendige Theaterleitung reichten diese Mittel aber nicht. Erst als das Figurentheater in die Spielstättenförderung der Senatsverwaltung Berlin aufgenommen wurde, war die finanzielle Voraussetzung für einen Generationenwechsel gegeben: Seit September 2017 leitet Caroline Gutheil das Figurentheater. Das Grashüpfer hat sich als Gastspielhaus für Figuren-, Puppen- und Objekttheater längst etabliert. Es besitzt kein eigenes Ensemble, kooperiert jedoch mit profilbestimmenden mobilen Berliner Bühnen des Genres wie den Artisanen, dem Figurentheater Ute Kahmann, puppen.etc und Rike Schuberty. Das Programm wird ergänzt durch regelmäßige Gastspiele von nationalen und internationalen Kompanien wie dem Fußtheater Anne Klinge, compagnie toit végétal oder dem Theater Tineola aus Prag. Ob traditionelles Handpuppenspiel in der Guckkastenbühne, freie Animation von Objekten oder kunstvolles Marionetten- und


Eingang zum „Transitservice“ im Treptower Park, heute Figurentheater Grashüpfer. © Figurentheater Grashüpfer

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„Die Bremer Stadtmusikanten“, Rike Schuberty. © J. Skroblin


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Märchenjurte am Figurentheater Grashüpfer. © Figurentheater Grashüpfer

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­ chattenspiel – alle künstlerischen Formen des Genres S werden hier gezeigt. Das Programm richtet sich vorrangig an Familien sowie Kita-Einrichtungen und Schulen. Auf dem Spielplan finden sich Puppen­ theaterstücke für die Altersgruppe zwischen zwei und fünf Jahren. Als Besonderheit und Alleinstellungsmerkmal bietet das Theater nach den Familienvorstellungen auch Raum für eine gestalterische Nachbereitung der einzelnen Stücke: Hierbei müssen nur die geringen Kosten für die verbrauchten Bastelmaterialien bezahlt werden. Das Angebot wird besonders gerne von ­Familien genutzt und entspricht dem Hauptanliegen des Theaters, ein gemeinsames Erlebnis für die ganze Familie zu schaffen. Ergänzend zum kontinuierlichen Angebot veranstaltet das Figurentheater einmal jährlich ein Figurentheaterfestival zu unterschiedlichen Themen. Neben Figuren- und Puppentheaterstücken hat sich das Märchenerzählen am Feuer als zweite Programmsparte etabliert. Die Märchenabende am Feuer finden in einer Pfadfinder-Jurte statt, die im Hof des Theaters steht. Ganz unterschiedliche Märchenerzähler:innen entführen die Zuhörer:innen nur mit Worten in alte Zeiten, ferne Länder und Fantasiereiche.

Figurentheater Grashüpfer has offered continuous programming of theater for families in its venue inside Treptower Park since 1997. Originating as an amateur theater group that performed in a rear courtyard in Friedrichshain, the theater is now an important venue for guest performances of puppet, figure and object theater in Berlin. Some 16,000 people attend more than 400 performances each year. The name Grashüpfer, or grasshopper, comes from the children the group originally performed for. The performers wore green costumes and, when the children first saw them, they would yell “here come the grasshoppers!” The group liked the name and decided to keep it. The building that houses the theater was first constructed in 1984 and was originally home to an Intershop, a chain of government-owned East German retail stores carrying highquality goods which only accepted hard currencies and did not accept the East German mark. 271


Das Berliner Ringtheater ist ein Spielort für zeitgenössische Theaterstoffe, das sich zum Ziel gesetzt hat, Geschichten aus neuen, marginalisierten Perspektiven zu erzählen. Es arbeitet seit Oktober 2017 daran, jungen Theaterschaffenden einen Raum für ihre Themen, Ästhetiken, Formate und Arbeitsweisen zu geben und sie in ihren Vorhaben durch eine professionelle, machtkritische Infrastruktur zu unterstützen. Es wird von einem zwölfköpfigen Kollektiv junger ­Theatermacher:innen geleitet. Das

Berliner Ringtheater

ist Teil der ZUKUNFT am Ostkreuz. Die ZUKUNFT ist ein Kulturzentrum, das mehrere Kinos, darunter ein Freiluftkino, eine Brauerei, eine Galerie und einen Konzertbetrieb beherbergt. Im Frühjahr 2017 kamen dessen Betreiber:innen auf den Theatermacher Lars Werner zu und boten ihm an, den Theatersaal zu bespielen: In den darauf folgenden Monaten stellte Werner die erste Spielzeit zusammen – im Oktober wurde das Theater bereits eröffnet. Die außergewöhnliche Geschichte des Geländes an der Laskerstraße lässt sich fast parallel zur neueren Geschichte von Berlin erzählen. Zu DDR-Zeiten befand sich am Standort der heutigen ZUKUNFT am Ostkreuz ein Film-Lager des „Progress“-Film-Verleihs, in den 1990ern stand das Areal leer, bis 2003 der Techno-Club „Ministerium für Entspannung“ in den Räumlichkeiten eröffnet wurde. Ein Brand im September 2009 stellte für 130 Einsatzkräfte der Feuerwehr einen Großeinsatz dar – für den Club bedeutete er sein jähes Ende. ­Zwischen den Jahren 2011 und 2014 konnte sich die ZUKUNFT mit Freiluftkino, ersten Konzerten, Kunstausstellungen, Theater und einer eigenen Brauerei als Veranstaltungsort in Berlin etablieren. Das Gelände ist weitläufig und verwinkelt, alles versprüht den Charme des einladend Unfertigen. Über die Jahre ist die ZUKUNFT am Ostkreuz ein wichtiger Verbindungsort der Subkulturen geworden, der einen großen Kreis von Kulturliebhaber:innen um sich herum gebildet hat. Diese besuchen auch das Ringtheater, das dort über zwei Spielstätten verfügt: den Theatersaal 272

und die Garage. Der Theatersaal (130 Quadratmeter, 99 Personen) ist momentan Probebühne und Aufführungsort in einem. (Seine Räume sind für Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen leider nur eingeschränkt barrierefrei.) Die Garage wird meist für kleinere Formate wie Podiumsdiskussionen oder Lesungen genutzt. Das Berliner Ringtheater macht kritisch(es) Theater. Seine Produzent:innen eint ihre Affinität zu politischen Diskursen sowie deren Verhandlung in experimenteller Form. Während die Produktionen sich bis einschließlich 2020 überwiegend im Bereich des Sprechtheaters verortet haben, erweiterte das Theater sein Angebot und Profil in der Spielzeit 2020/21: Zeitgenössischer Tanz und internationale Performances stehen als gleichberechtigte Programmelemente neben Neuer Dramatik und (post-)dramatischen Stückentwicklungen. Sich selbst betrachtet das künstlerische Leitungskollektiv – in der Spielzeit 2020/21 Johannes Bellermann, Philipp Gärtner, Susanne Wilk, Lars Werner, Tim Jakob, Saskia Ottis, Mariann Yar, Simone Bäuchle, Thalia Hertel und ­Dandan Liu, Julia Wycisk und Sasha Davydova – als Struktur im Werden, als Arbeitsprozess, der seine Ein- und Ausschlüsse permanent durchdenkt, verwirft und sich wieder neu erfindet. Durch seine Open Calls und seine kollektive Aufstellung will das R ­ ingtheater als Theaterort aktiv an einer offenen und zugänglichen Freien Szene mitwirken. Die erste Spielzeit des Berliner Ringtheaters wurde von Franziskus Claus mit „Auf die Bombe“ eröffnet; in der Regie von Leonie Jenning und Martha von Mechow


Open-Air-Bühne beim Performing Arts Festival. © Paula Reissig

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Eingang. © Thu Hoài Tran


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„Daily Thrill“, Celine Meral, 2019. © Anna Thiessen


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„HALT“, Thu Hoài Tran, 2020. © Eunae Anna Jo

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(a.k.a. Bäckerei Harmony) folgte die für das Theatertreffen der Jugend 2019 nominierte Produktion „Hyper Emotional Family“ (2018), die aus dem engen Kontakt mit dem Jugendtheater P14 der Volksbühne Berlin hervorging. Katharina Grosch zeigte bereits mehrere Arbeiten am Ringtheater, unter anderem „Der Zustand“ im Rahmen des „Performing Arts Festivals“ 2018. Als Spielzeitauftakt einer von der Corona-Pandemie gezeichneten Spielzeit 2020/21 brachte das Kollektiv SUKA die politisch aktuelle Stückentwicklung „Am schönsten wär’ die Einzeltat“ zur Premiere, und mit der mit dem Berliner Opernpreis prämierten Gruppe Menade fand zum ersten Mal auch Musiktheater statt – in Zusammenarbeit mit der Autorin und Kleist-Preis­trägerin Franziska vom Heede entstand der moderne, feministische Opernabend „Merchandise Medea“ (2020). Neben dem Show-Format „Happy Gays“ von Monika ­Freinberger und einer feministischen Performance über intersektionale Solidarität von Thu Hoài Tran, wird das Duo Ivana Sokola und Jona Spreter, das durch das „4 + 1 – ein Treffen junger AutorInnen“ am Schauspiel Leipzig bekannt wurde, in der laufenden Spielzeit eine crossmediale Talkreihe initiieren. Nationale und internationale Gastspiele, etwa des Raststättentheaters aus München oder der georgischen Gruppe Open Space, und Programmreihen wie das Asian Performing Artists Lab erweitern Programm und Perspektiven des Ringtheaters. Neben privaten Spenden und Förderung seitens der ZUKUNFT am Ostkreuz erhält das Berliner ­Ringtheater seit 2020 eine Basisförderung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Dank des Förder­ programms „#TakePlace“ des Fonds Darstellende Künste wird außerdem sein Online-Auftritt im Laufe des ­Jahres 2021 in ein „Digitales Foyer“ verwandelt. Das BESTE THEATER gibt es nur in der BESTEN WELT. DAS BESTE Theater findet statt in der Stadt, beim Einstieg in die S-Bahn, beim Gewecktwerden aus dem

Schlaf, in der Schlange vorm Supermarkt, wenn ich das Gespräch vor mir hören will, während das hinter mir zu laut ist. Aus: „Ich muss etwas – ich muss will etwas tun“, Text zur Spielzeit 2020/21, Autor:innenkollektiv Berliner Ringtheater

Ringtheater is a part of Zukunft am Ostkreuz, a cultural center with multiple movie theaters, a brewery, a gallery and a concert venue. It is a performance venue for contemporary theater with a focus on telling stories from new, marginalized perspectives. It is led by a ten-person collective of young theater makers. The extraordinary history of the grounds on Laskerstraße neatly parallels that of the new Berlin. What is now Zukunft am Ostkreuz was used to store film during the era of East Germany and then stood vacant during the 1990s until the techno music club Ministerium für Entspannung opened in 2003. It remained until a fire in September of 2009 closed it permanently. The cultural center began establishing itself as an event location in 2011 with an open-air movie theater, concerts, art exhibitions and an in-house brewery. 277


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Das

Centre Français de Berlin (CFB)

ist eine gemeinnützige GmbH im ehemaligen Kultur­ zentrum der französischen Alliierten im Norden des Berliner Weddings. Ein historischer Ort, der 1961 erbaut wurde, ein Symbol der deutsch-französischen Beziehungen. Bis ins Jahr 1992 wurde es von den französischen Streitkräften betrieben, die einen Teil Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg besetzt hatten. Auf den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 folgte der Rückzug der Besatzungsmächte, weshalb sich auch die französischen Truppen zurückzogen und das Zentrum vorerst geschlossen wurde. Der Gebäudekomplex an der Müllerstraße 74 ging im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrags und des Einigungsvertrags an das Bundesministerium der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland über. Die Regierungen von Frankreich und Deutschland vereinbarten damals, dass die Nutzung des Zentrums „der deutsch-französischen Freundschaft“ und „dem europäischen Gedanken zur Völkerverständigung“ dienen solle. Rund zwei Jahre lang wurde das Gebäude umgebaut, bevor es 1994 als Centre Français de Berlin neu eröffnet wurde. Aufgabe und Zweck der gemeinnützigen Gesellschaft ist es laut ihrer Satzung, im Sinne des europäischen Gedankens zur Völkerverständigung zum ­Jugend-, Bildungs- und Kulturbereich beizutragen: dazu gehören der Kultur- wie auch Kunst- und Künstler:innenaustausch, soziokulturelle Projekte, das Angebot von Filmen und Theaterstücken, aber auch Künstler:innenresidenzen sowie der Betrieb eines lokalen K ­ ulturzentrums. Als Luc Paquier 2014 die künstlerische Leitung des CFB übernahm, hat sich das Team erst einmal grundsätzlich mit seiner Geschichte auseinandergesetzt, um zu verstehen, in welche Richtung die Arbeit zukünftig gehen soll – sie soll der Geschichte Berlins, den deutsch-französischen Beziehungen und dem Aufbau von Europa Rechnung tragen. Das Team des CFB hat 280

jedoch schnell verstanden, dass es von Bewohner:innen des Viertels als ein Ort wahrgenommen wird, der sich an eine Elite und an die französischsprachigen ­Berliner:innen richtet. Tatsächlich war das CFB kaum in das Viertel und das Leben der Menschen dort integriert. Daraus entstand der Wunsch, diesen Ort den Menschen des Bezirks zurückzugeben. Das CFB soll ein kulturelles Zentrum im Norden Berlins sein, das allen offensteht. Ein Ort, an dem sich Künstler:innen und die Berliner Öffentlichkeit willkommen fühlen, ein Ort, der die Beziehungen zwischen Berlin und den französischsprachigen Ländern pflegen will. Das Theater des CFB versteht sich nicht als Ort für ein Standardprogramm, sondern als Ort für Konzepte und Ideen. Es zeigt, unterstützt und initiiert hier Projekte, die helfen, Brücken zwischen Künstler:innen (sowohl aus Berlin als auch aus der frankophonen Welt) und der Bevölkerung im Kiez und ganz Berlin zu bauen. Dabei engagiert sich das CFB nachhaltig für die Idee der Nachbarschaft und bringt sich in aktuelle gesellschaftliche Themen wie Postkolonialismus, Anti-Diskriminierung, Gleichberechtigung oder Ökologie ein. Das Gebäude liegt in einem 0,8 Hektar großen, bewaldeten Park, nur zehn U-Bahn-Minuten (U6) vom Zentrum der Hauptstadt entfernt. Das insgesamt 4500 Quadratmeter große Gebäude bietet alle Möglichkeiten – Seminarräume, Verpflegung, Unterbringung, Innen- und Außenräume, Veranstaltungssaal, Parkplätze – um die Umsetzung diverser Projekte zu gewährleisten. Die Räume sind mit Ton- und Videotechnik ausgestattet. Durch diese Infrastruktur eignet sich das CFB auch als Einrichtung für Künstler:innenresidenzen. 2014 wurde das Theater mit 220 Sitzplätzen renoviert und mit Sound-, Licht- und Projektionstechnik ausgestattet; 2021 werden noch einmal Umbaumaßnahmen stattfinden, um noch bessere Nutzungsmöglich-


Foyer im Centre Français de Berlin. © ZffA

Street Art von Ella & Pitr, entstanden bei der Urban Art Week 2018, Dach des Centre Français de Berlin. © Ella & Pitr (S. 283)

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Historische Aufnahme Saal. © Birkemeyer

282 Historische Außenansicht, 1961. © Landesarchiv


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Theatersaal. © Margot Tracq

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keiten für Künstler:innen bieten zu können. Zudem sollen ein professionelles, achtzig Quadratmeter großes Probenstudio und eine mobile Bühne im anliegenden Gemeinschaftsgarten entstehen, die eine Outdoor-­ Bespielung durch das CFB, aber auch durch die Benutzer:innen des Gartens ermöglichen soll. Gesellschafter des CFB sind je zur Hälfte die Stiftung SPI – Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“ und das Centre d’Echanges Internationaux. Der überwiegende Teil des Gesamtumsatzes stammt dabei aus selbst generierten Einnahmen. Die Veranstaltungsreihe „Körperspuren Ball“ erhielt in den Jahren 2019 und 2020 zusätzlich eine Förderung von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Hinzu kamen weitere Projektförderungen aus anderen Drittmitteln im Rahmen von soziokulturellen Programmen (Deutsch-Französisches Jugendwerk, Projektfonds Kulturelle Bildung, Demokratie leben). Im CFB sind zwei Personen hauptamtlich für Kulturarbeit zuständig sowie ein:e Absolvent:in des Freiwilligendienstes, die gemeinsam daran arbeiten, das Netzwerk an lokalen und internationalen Künstler:innen auszubauen. Ein jährlicher Programmhöhepunkt ist die Fête des Francophonies mit Konzerten, Lesungen und Theateraufführungen. Ein weiterer Schwerpunkt des CFB ist der soziokulturelle Jugendaustausch (Theater, Tanz, Hiphop-Kultur) und Musik- und Tanzprojekte (Körperspuren, InArts) für Zielgruppen, die in der Regel nicht an solchen Projekten oder Veranstaltungen teilnehmen. Die soziokulturellen Jugendprojekte wurden 2019 in Höhe von 145.000 Euro vom Land Berlin gefördert. Außerdem begleitet das CFB junge Künstler:innen und organisiert regelmäßig Künstler:innenresidenzen. Aufgrund seiner internationalen Ausrichtung und seines europäischen Netzwerks versucht das Centre, die jungen Künstler:innen auch untereinander zu vernetzen. Insgesamt besuchen jährlich über 12000 Besucher:innen die circa fünfzig Kulturevents und künstlerischen Austauschprogramme.

Bei seinem aktuellen Projekt „eurograph.art“ hat das Centre 52 der (aus seiner Sicht) kreativsten Künstler:innen aus Deutschland und Frankreich eingeladen, einen der 26 Buchstaben des Alphabets mit einem positiven Wort zu verbinden und dieses durch ein kurzes Video zu verbildlichen: durch Erfahrungsberichte, Musikstücke, Tanzperformances und vieles mehr. Das Projekt versteht sich als lebendige und sich immer weiter entwickelnde Bibliothek, die sich mit grundlegenden Werten wie Solidarität, Toleranz und Fürsorge für andere und für unsere Umwelt auseinandersetzt.

Centre Français de Berlin (CFB) is located in the former cultural center of the French Forces in Berlin in the district of Wedding. This historic location was constructed in 1961 and serves as a symbol of ­Franco-German friendship. It was used by the French Forces until 1992 and was then given to the German Federal Ministry of Finance. The French and German governments agreed that the use of the building should serve “Franco-German friendships” and “the European concept of understanding among nations.” It reopened in 1994 as Centre Français de Berlin. Since 2014, it has served as a cultural center in the north of Berlin that is open for everything. Its theater is used for concepts and ideas to build bridges between artists (both Berlin-based and from the francophone world) and the population of the neighborhood and the rest of Berlin. 285


Als Spielstätte existiert das

Theater JARO

erst seit 2011. Doch als mobile Theatergruppe, als freies, professionelles, nicht-institutionell gefördertes Theater, gegründet von Katja Behounek-Pölzer und Martin Pölzer, ist das JARO bereits seit 1988 in Berlin aktiv und hat seitdem mit einer großen Zahl von Künstler:innen kooperiert. Dann standen die begrenzten Spielmöglichkeiten in Berlin zunehmend im Kontrast zur großen Nachfrage des Publikums. Also hat das JARO nach langer Suche Gewerberäume gefunden und angemietet. Ein großes Risiko, wenn man bedenkt, dass die Gruppe ohne Fördermittel zurechtkommen musste. (Die Degewo als Eigentümerin kam dem Theater anfangs mit dem Preis entgegen.) Der Hinweis auf die Location, leer stehende Gewerberäume in der Großsiedlung Schlangenbader Straße, kam aus dem begeisterten Publikum. Mit Hilfe von zwei Nachbar:innen hat die Gruppe die Räume dann renoviert – die Platz für 99 Zuschauer:innen bieten – und eine komplette Bühne samt Beleuchtung eingebaut. Der Grund, weshalb sich das JARO für die Gewerberäume in Wilmersdorf, an der Grenze zu Schmargendorf und ­Steglitz, entschieden hat, liegt direkt hinter dem Theater in Form eines großen Kinderspielplatzes. Zudem kann es auf ein gewisses Überraschungsmoment setzen: ­Niemand erwartet in einer Großsiedlung ein Theater für Familien. Seit der Einrichtung der Spielstätte 2011 hat sich das Theater lange selbst finanziert; 2018/19 hat es dann Sachmittel aus dem sogenannten Feuerwehrtopf bekommen. Von September 2020 bis August 2021 hält die sogenannte Strukturförderung vom Senat das JARO in schwierigen Zeiten über Wasser. Aktuell besteht das Repertoire aus 16 Produktionen für Kinder zwischen zwei und neun Jahren (und deren Begleitpersonen). Die Inszenierungen werden immer eigenständig entwickelt und integrieren Puppentheater, 286

Schauspiel und Live-Musik. Dabei reicht der Themen­ katalog von Stücken über die Wüste, Wichtelwelten zu Clownstheater, musikalischen Programmen bis hin zu einer Dinosaurier-Trilogie. Für jede Inszenierung werden jeweils unterschiedliche Puppenspielformen (Handfiguren, Marionetten, Stabfiguren, Schattenspiel) genutzt. Die überwiegend live gespielten Lieder sind immer Teil der Handlung und werden vor allem von den jungen Besucher:innen gerne mitgesungen. Seit Januar 2012 unternimmt das Theater auch vielfältige Outdoor-Aktivitäten: beim Projekt „Berliner Großsiedlung“ beispielsweise oder mit Aufführungen in der Gartenarbeitsschule Ilse Demme oder bei Kiezfesten auf dem Rüdesheimer Platz.


Theatersaal im Theater JARO. © Theater JARO

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„Das fliegende Kamel“, Theater JARO. © Theater JARO

Although it did not find a permanent home until 2011, Theater JARO has existed as a mobile theater group since 1988. Thanks to a tip about a vacant commercial location in a large housing development in the district of Charlottenburg-Wilmersdorf from its enthusiastic audience, the space was then converted into a 99-seat theater with the help of two neighbors. The reason „Der Koch und der Zauberfisch“, Theater JARO. © Theater JARO

why the theater group chose to convert this commercial space is found directly behind the theater: a large playground. In addition, this gives the theater an element of surprise for its guests and anyone who stumbles across it: after all, no one expects a theater for families to be located in a large housing development. 289


Die

LAKE Studios Berlin

sind eine internationale Produktions- und Spielstätte für zeitgenössischen Tanz im Berliner Stadtteil Friedrichs­hagen, Köpenick. Sie wurden im Mai 2012 von der Choreografin, Tänzerin und künstlerischen Leiterin Marcela Giesche in einem ehemaligen Tischlerlager gegründet. Für den Aufbau und die Leitung dieses neuen Ortes arbeiteten damals sieben internationale Tanzkünstler:innen zusammen – mit durch Crowdfunding akquiriertem Geld, diversen Spenden und viel ehrenamtlicher Arbeit. Ziel war es, einen konzentrierten, aber dennoch offenen Arbeitsraum und eine freie Spielstätte für darstellende Künstler:innen zu schaffen. Ein wichtiger Teil des Konzepts ist es, die Arbeit im Studio mit dem Wohnort zu verbinden – künstlerische Praxis und alltägliches Leben stärker miteinander zu verflechten. Zwischen 2017 und 2019 unterstützte dann das Bestandsoptimierungsprogramm die Spielstätte; ­zusätzlich finanzierte das Bezirksamt Treptow-Köpenick 2017 einen Teil der technischen Ausstattung des Ortes; seit 2018 erhalten die LAKE Studios eine Produktions­ ortförderung. Die Studios stellen heute die einzige Spielstätte für zeitgenössischen Tanz in Köpenick dar und haben sich mittlerweile für die Berliner Tanzszene zu unverzichtbaren Probe- und Produktionsräumen entwickelt. Auf dem Gelände der LAKE Studios stehen den Künstler:innen fünf Residenzwohnräume, zwei Studios, ein Tech-/Medien-Probestudio, ein Büro mit Bibliothek, eine Holzwerkstatt sowie ein großes Außengelände mit wunderschönem Garten und einer achtzig Quadratmeter großen, überdachten Außenprobebühne mit Tanzschwingboden. Die diversen Denk- und Arbeitsräume haben seit 2013 über tausend Künstler:innen die ­Möglichkeit gegeben, ihre Ideen und Produktionen in allen Bereichen – von Konzipierung, Proben, Kostüm, Bühnenbild, Video und Technik bis zur Aufführung – 290

selbstständig oder in Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen zu erarbeiten, beispielsweise im Rahmen des Residenzprogramms. Dank der Unterstützung des Pilotprojekts Residenzförderung wird es in 2021 für fünfzehn Berliner Künstler:innen die Möglichkeit geben, im LAKE temporär zu leben und zu arbeiten. Die besondere Infrastruktur der Räumlichkeiten ermöglicht es den Künstler:innen, sich intensiv in ihre Kreationen zu vertiefen und darüber hinaus im regelmäßigen Dialog mit Kolleg:innen zu stehen und von deren Feedback zu profitieren. Die gleichzeitige Anwesenheit von zehn bis fünfzehn Künstler:innen, die in den Räumlichkeiten proben, arbeiten und recherchieren, führt dabei regelmäßig zu spontanen Showings mit Feedback- und Austauschmöglichkeiten. Dabei ist die Atmosphäre durch die offenen, lichtdurchfluteten Räumlichkeiten und die unmittelbare Nähe zur Natur konzentriert, ruhig und fördert eine Reflexion und Vertiefung (in) der Arbeit. Neben Künstler:innen aus Berlins turbulenter Mitte sind die LAKE Studios durch ihre Onlinepräsenz und Mundzu-Mund-Propaganda in den letzten Jahren auch international wichtig geworden und ziehen eine große Zahl von renommierten Gastkünstler:innen aus bislang über vierzig Ländern an (wie Julia B. Lapèrriere, Keith Hennessy, Milla Koistinen, Kareth Schaffer oder Mårten Spångberg). Für viele internationale Künstler:innen ist die Residenz der LAKE Studios auch der ­Einstiegspunkt in die Berliner Tanzszene gewesen – sie haben mit Hilfe der Studios während oder nach der Residenz ein Visum beantragt und arbeiten und wohnen jetzt weiterhin in Berlin. Damit bieten die LAKE Studios eine für Berlin einzigartige Ressource: Sie fungieren für viele neu in Berlin ankommende Künstler:innen als erste Probe-, Recherche- und Wohnstätte, die sie direkt mit der


Eingang zu den LAKE Studios. © Marcela Giesche

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Veranstaltung im großen Studio. © Frank Döllinger


lebendigen Berliner Tanzszene vernetzt. Darüber hinaus bieten die Studios die Möglichkeit, nach professioneller Anleitung auch eigenständig mit Mischpulten und Theaterlicht zu proben, Modelle für Bühnenbilder oder Requisiten in der Holzwerkstatt zu konstruieren, die Nähmaschine zu nutzen oder diverse andere technische Hilfsmittel auszuprobieren. Zusätzlich zu den freien Denk- und Arbeitsmöglichkeiten gibt es in den LAKE Studios strukturierte ­Vorstellungs- und Trainingsmöglichkeiten für sowohl Berliner Tanzschaffende als auch für Initiativen, die das Publikum aus dem Bezirk und insbesondere die ­Friedrichshagener:innen in den zeitgenössischen Tanz und in die Performance mit einbeziehen. Die Studios veranstalten die einmal monatlich stattfindende Performanceserie „Unfinished Fridays“ inklusive Publikumsgespräch und Feedbackrunde, die sich als ein Schnittpunkt zwischen den Künstler:innen und dem oft fachfremden lokalen Publikum etabliert hat, und drei- bis viermal im Jahr stattfindende Vorstellungen, die sogenannten „Double/Triple Bills“. Zudem veranstalten die LAKE Studios jährlich das „Submerge Festival – getting into the work“, ein Tanzworkshop- und Performance-Festival, das zwischen 2016 und 2021 mehrmals mit Mitteln aus der City Tax gefördert wurde und das professionellen Berliner Tanzkünstler:innen und international agierenden Gastkünstler:innen eine Möglichkeit zum Austausch und künstlerischen Weiterentwicklung bietet – darunter Meg Stuart, Lea Martini & Dennis Deter, Jeremy Wade, Yasmeen Godder und Jonathan Burrows. Seit 2013 haben die LAKE Studios eine Partnerschaft mit dem Dance-tech.net-Netzwerk, das von Marlon Barios Solano initiiert und geleitet wird. Dabei wird es ausgewählten Künstler:innen für die Dauer eines Monats ermöglicht, ihre Arbeit im Bereich Tanz und Technologie weiterzuentwickeln. Auch die bereits fünfjährige Partnerschaft mit TroikaTronix hat sich mit ein bis zwei gesponserten Künstler:innen zu einem festen 292 Garten und Außenstudio, LAKE Studios Berlin. © Mark Grunow


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„Fire of Unknown Origin“, Marcela Giesche & Monica Gentile. © Nihad Nino Pušija

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Bestandteil des Studio-Programms entwickelt. Mark Coniglio, Entwickler des Computerprogamms ISADORA, sponsort die Residenzen und bietet kostenlose Mentoring-Sessions für die ausgewählten Künstler:innen an. Die Idee, auch fertige Arbeiten in den LAKE Studios zu präsentieren, besteht schon seit ihrer Gründung. 2017 fand die erste abendfüllende Vorstellung in den Studios statt, 2018 konnte das Programm mit einer kleinen Spielstättenförderung für die Technik auf vier Vorstellungen im Jahr erweitert werden. In 2019 konnten mithilfe der Senatsförderung zum ersten Mal die ­Künstler:innen der Formate „Double Bill“ und dem kuratierten „Triple Bill“ (je zwei Vorstellungen mit drei fertigen Stücken) eine Vorstellungsgage erhalten. Seit fünf Jahren bieten die LAKE Studios zusätzlich ein „Open ­Training“-Programm für professionelle lokale Tanz- und Residenzkünstler:innen an, das 2021 weiterentwickelt werden soll. Das „Open Training“ ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, einen vertieften Austausch mit in Berlin lebenden und arbeitenden Künstler:innen zu schaffen und ihnen die Studios als Arbeits- und Produktionsort zu öffnen. Neben den Angeboten für professionelle Tänzer:innen gibt es auch Tanzkurse für Laien – diese sind natürlich offen für alle in Berlin, haben sich jedoch vor allem als guter Anknüpfungspunkt für Anwohner:innen aus dem Stadtteil erwiesen. Einmal in der Woche vermittelt die künstlerische Leiterin Marcela Giesche tänzerische Grundlagen im „zeitgenössischen Tanz für Anfänger:innen“. Auch Kurse für Capoeira, Hip-Hop oder Kampfkunst können besucht werden. Im Stadtteil Friedrichshagen, Köpenick, sind die LAKE Studios der einzige Ort, der dem lokalen Publikum eine Spielstätte für zeitgenössischen Tanz, Tanztheater und Performance bietet. Sie sind ein Treff- und Austauschpunkt für internationale und lokale Künstler:innen mit der Gemeinde, für ein Publikum von Kindern und Erwachsenen. Um die Integration der Studios in den Bezirk weiter zu fördern, finden seit 2013

auch regelmäßig bezirkseigene Veranstaltungen in den Räumen statt. Die Studios fungieren dann als Ort für Gastspiele und Performances auch aus dem Nicht-Tanzbereich, und stellen sich dem örtlichen Publikum zur Verfügung – möglichst in Austausch mit und der Teilnahme von den jeweiligen in den LAKE Studios arbeitenden Künstler:innen.

Lake Studios Berlin is an international production and performance venue for contemporary dance located in the neighborhood of Friedrichshagen in the district of Köpenick. It was founded in May of 2012 in a former carpentry workshop by choreographer, dancer and artistic director Marcela Giesche. An important part of the concept involves combining studio work with one’s place of residence to bring artistic practice and daily life together more strongly. Today, the studios are the only venue for contemporary dance in the district of ­Köpenick. The venue features five apartments for residencies, two studios, a technology and media rehearsal studio, an office with a library and a woodworking shop. The large outdoor area with a lovely garden also has a large terrace with a sprung floor that can also be used as an outdoor rehearsal space. Since 2013, this venue has given over 1,000 artists the opportunity to develop their ideas and productions in all areas, either i­ndependently or in collaboration with other artists through the residency program. 295


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Über den LAFT Berlin und seine Projekte Das „Performing Arts Festival Berlin“ Seit 2016 bildet das „PAF – Performing Arts Festival Berlin“ die Vielfalt der freien darstellenden Künste Berlins an zahlreichen Bühnen und Spielorten in der gesamten Stadt ab. Es wird vom LAFT Berlin in Kooperation mit den Spielstätten Ballhaus Ost, HAU – Hebbel am Ufer, Sophiensæle und Theaterdiscounter veranstaltet und ist der Nachfolger des Festivals „100° Berlin“. Im jährlichen ­Rhythmus präsentiert es die Arbeiten und künstlerischen Positionen von Berliner Künstler:innen und Gruppen aller Genres. Das berlinweite und simultan an über sechzig Spielstätten stattfindende Festival verleiht den in der Freien Szene entwickelten künstle­ rischen Positionen jenseits der Stadt- und Staatstheater eine größere Sichtbarkeit und vermittelt ihre Vielfalt und Diversität an eine breite Öffentlichkeit. Um am Festival beteiligt zu werden, können professionelle Künstler:innen, Gruppen und Spielstätten sich mit ihren Beiträgen auf Open Calls hin melden. Junge Künstler:innen haben darüber hinaus die Möglichkeit, bei einer kuratierten Nachwuchsplattform ihre Arbeit vorzustellen. Das Festivalprogramm richtet sich sowohl an das Berliner Publikum als auch bundesweit und international an Interessierte und Fachleute. Begleitet wird der Spielplan durch ein vielfältiges Rahmenprogramm sowie durch spezielle Formate und Veranstaltungen für ein nationales und internationales Fachpublikum. Das Festival hat sich seit 2016 sowohl im nationalen als auch internationalen Zusammenhängen etabliert. Zunehmend erfolgen Treffen von internationalen Netzwerken oder Initiativen in seinem Rahmen: Im Jahr 2018 wurde auch der europäische Dachverband EAIPA – European Association of Independent Performing Arts beim Festival gegründet, mit zwölf beteiligten europäischen Ländern.

Darüber hinaus besteht eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Verbund der regionalen Festivals der Freien Szene und mit Festivals in Sofia und Prag. Insgesamt ist die Resonanz und Außenwirkung des Festivals stark gestiegen, sowohl hinsichtlich der Presselandschaft als auch im internationalen Kreis der Kurator:innen. Einen eindeutig positiven Effekt hat auch die lokale Verortung des Festivals in den Berliner Kiezen bei Publikumsgruppen, denen die Performing-­ Arts-Szene bislang unbekannt war.

Performing Arts Programm Berlin Das Performing Arts Programm Berlin ist die zentrale Anlaufstelle für Künstler:innen und Akteur:innen der freien darstellenden Künste der Stadt, wie auch für alle, die sich über die Freie Szene Berlins informieren und mit ihr in Kontakt treten möchten.

Der LAFT Berlin Der LAFT – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e. V. vertritt die Interessen seiner über 430 Mitglieder, darunter die wesentlichen Spielstätten, Gruppen und Einzelkünst­ler:innen Berlins, gegenüber Politik und Öffentlichkeit. Er unterstützt die Mitglieder durch Netzwerkarbeit, Beratung, Koordination und Dienstleistungen, formuliert gemeinsame Interessen und Bedarfe und betreibt beherzte Lobbyarbeit. Er engagiert sich für den konstruktiven Dialog über Problemfelder und Forderungen der freien darstellenden Künste in Berlin. Die Ziele des LAFT Berlin – Schaffung einer Grundlage für solidarische Formen der Vernetzung in den freien darstellenden Künsten – Vernetzung der verschiedenen künstlerischen Sparten und ihrer gesellschaftspolitischen Interessensverbände – Lobbyarbeit für eine breite öffentliche und politische Wahrnehmung und regelmäßiger Austausch mit den kulturpolitischen Akteur:innen – Etaterhöhungen im Bereich der freien darstellenden Künste – Engagement für Strukturveränderungen in der Kulturlandschaft – Engagement für innovative Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen für freie Kreativ- und Wissensarbeiter:innen

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About LAFT Berlin and Its Projects The “Berlin Performing Arts Festival” Since 2016, the “Berlin Performing Arts Festival”, or PAF, has ­celebrated the diversity of Berlin’s independent performing arts ­community at numerous theaters and performance venues throughout the entire city. It is organized by LAFT Berlin in cooperation with the performance venues Ballhaus Ost, HAU Hebbel am Ufer, Sophiensæle and Theaterdiscounter and is the successor to the “100° Berlin” festival. Each year, it presents the work and artistic positions of Berlin-based artists and groups working in all genres of the performing arts. This festival, which takes place simultaneously all over Berlin at more than sixty performance venues, provides a greater visibility for the artistic positions developed in the independent performing arts community outside of state and municipal theaters and communicates their richness and diversity to a wide audience. To present their work within the festival, professional artists, groups and performance venues can offer their contributions in response to an open call. In addition, artistic newcomers have the opportunity to present their work within a curated newcomer’s platform. The festival’s schedule of programming is intended both for a Berlin-based audience as well as interested parties and professionals throughout Germany and abroad. The schedule of programming is supplemented by a diverse schedule of ancillary programming as well as special formats and events for German and international professionals. Since 2016, the festival has established itself both national as well as internationally. An increasing number of meetings of international networks or initiatives are taking place within the context of the festival: in 2018, the European umbrella organization EAIPA – the European Association of Independent Per­forming Arts was founded during the festival by participants from twelve different European countries. In addition, there is a continuous collaboration with the Association of Regional Festival of the

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Independent Performing Arts Community and with festival in Sofia and Prague. The resonance and public image of the festival has increased greatly, both in terms of the press as well as within the international circle of curators. Another very positive effect is the local placement of the festival in neighborhoods in Berlin for groups of audience who were previously unfamiliar with the independent performing arts community. LAFT Berlin LAFT Berlin – Berlin State Association for the Independent Performing Arts e.V. represents the interests of its more than 430 members, including the essential performance venues, groups and independent artists of Berlin, in dealing with politicians and the public. It supports its members through networking, advisement, coordination and services, formulates the shared interests and needs of the community and passionately conducts lobbying work. It is committed to pursuing constructive dialog to discuss the problems and demands of Berlin’s independent performing arts ­community. The Goals of LAFT Berlin – The creation of a foundation for solidary forms of networking within the independent p ­ erforming arts – The networking of the different artistic genres and their respective socio-political advocacy groups – The conducting of lobbying work for wider public and political recognition and a regular exchange with the cultural policy makers – The achievement of an increase in the budget available for the independent performing arts – The bringing about of structural changes in the cultural landscape – The bringing about of innovative changes in the economic and sociopolitical ­framework conditions for independent creative and knowledge workers

The Berlin Performing Arts Program The Berlin Performing Arts Program is the central point of contact for artists and ­members of the city’s independent performing arts community as well as for everyone who would like to inform themselves about Berlin’s independent performing arts community and enter into contact with it.


Die Festivaljahre 2016 bis 2020 begleitet und ­gestaltet von … / The Editions of the Festival From 2016 to 2020 Were Supported and Created by ... Künstler:innen & Gruppen / Artists and Groups 12H Project Moonsuk Choi | 4Rude | ­A&Others | Aba Naia (Kysy Fischer, Rafuska Marks, Teija Vaittinen) | Agata Siniarska & Madalina Dan | Agentur für Anerkennung | Akseli Aittomäki – massavuoto-massescape | Albatrosse | Alex Bäke | Alexander Schröder | Alexandria Panetta | Alica Minárová | Alright Gandhi | Amalgam Kollektiv & Das Gegenteil | Ambra Myrrha | Ana Kavalis | Ana Laura Lozza & Bárbara Hang | Ana Mendes | Anat Tuvia | andcompany&Co | Andrea Posca | Andrei Cucu & Yannis Mitsos | Andreú ­Andreú | Andrew Kerton | Andriana Seecker & Andreas Catjar (Institutet) | Angela Fegers | Angela Lamprianidou | Angela Schubot & Jared Gradinger | Angelika Perdelwitz | Ania Nowak | animi motus | Anita Hernadi | Anja Kolmanics (Team „Light Night Perform“) | Anke Schiemann | Anna Aristarkhova | Anna McCarthy | Anna Nowicka | Anna-Maria Gesine Schreiber | Annalisa Derossi | ­anne&ich | AnniKa von Trier | Annukka ­Hirvonen & Martina Garbelli | Anonyme Anwohnende | Arnita Jaunsubrēna | Aumüller/ Krause/Salasse/Schmidt (ScriptedReality) | B_Tour in Kollaboration mit Ilona Marti. | B.E.T. – Berlin Expat Theatre | Bambi Bambule | Barbara Raes | Barletti/Waas | Begemot (freie Theatergruppe) | Berit Einemo ­Frøysland | Berlocken Theaterkollektiv | Bert Mario Temme | Betty Despoina Athanasiadou/ Helena Kontoudakis/Milena Alice Kopper | Bishop Black | Bisu ro | Blauhauch ­Productions ltd. | Bodypoet productions / Kazuma Glen Motomura | Borgtheater – ­cyborg performing theater | Brad Nath | Brandon Miller & Kitty Solaris | Bridge ­Markland | bruit! & Freund:innen | Bruno Senune & Flavio Rodrigues | bücking&kröger |

Cameryn Moore/Littler Black Book Production | Camila Rhodi | Carlos Manuel | Caroline Creutzburg | Catia Gatelli & Karina Villavicencio | Cecilie Ullerup Schmidt & Andreas Liebmann | Chang Nai Wen | Chapeau Club | Charlotte Pfeifer | chekh-OFF players berlin | Chicks* freies performancekollektiv | Christiane Rösinger | Christoph Winkler | Cie Sapharide | cie. toula limnaios | Cine Fantasma | Cinema Cantabile | Clare Schweitzer | club á l’ètranger | Club Real | cmd+c Company | Collective Anderplatz – Valentina Bordenave | Collective Ma’louba | Compagnie C ­ ompagnie | Compagnie des Wanderers & A Dog’s Heart Theatre | copy & waste | Corinne Maier | costa compagnie | Daniel Schrader | Daniela Ehemann/Carron Little | Daniela Marcozzi/Marcozzi Contemporary Theater | Darragh McLoughlin | Squarehead Productions | Stickman | Das Helmi | Das Weite Theater | Das Wilde Klingen | Dasniya Sommer & Silke Schönfleisch | David Garcia Garcia/Ludwig Obst | der Flugelefant (SdF) | Derivat | Despina Kapetanaki | die elektroschuhe | Die Improvisionäre & Die Improbanden | Die Neue Kompanie | Die Papillons | Die Spalter | Dirk Cieslak | Gerko Egert | Stefan Hölscher & Netta Weiser | Do-Theatre | Doable Storytelling | ­dollytakesatrip | Drifting Underground | Duckie L’Orange | Ebene D | Écoleflâneurs | Ekaterina Statkus | Elektro Kagura | Elen Moos | Elisa Müller | Elpida Orfanidou & Guests | Emmanouela Dolianiti | Yuya ­Fujinami & Hristina Vasić Tomše | Emmilou Rößling | English Theatre Berlin International Performing Arts Center | Enis Turan | ­Enkidu-events | Eva Baumann & Katrin Wittig | Evgenia Chetvertkova | Felix Lüke | Film Riss Theater | Fliegendes Theater | Flinn Works | Florentina Holzinger / Campo | Forough Fami | Frauen und Fiktion | Frauke Havemann / On air | FrauVonDaProduktionen & Schneider TM | FREMTheater | Freya Treutmann | fringe ensemble | Fux | Gali Kinkulkin | Galli Jugendensemble | gamut inc | Gang | gefühlt frei* | Gianni Maccaronni | Gilliéron/Koch/Wey | Girl to Guerilla – Das Theaterkollektiv | Gloria

Höckner & Team | Gob Squad | Görli ­Dreamin’ | Gosia Gajdemska | Gretchen Blegen | Christina Ertl-Shirley | Grosch | Grupo Oito | hannsjana | Hans Unstern | Harake Dance Company | hardt attacks | Hauptstadtoper Verein zur Förderung der Musiktheaterkunst e. V. | Helen Schröder | Helena Kontoudakis | Hendrik Kaalund | Hendrik Quast & Maika Knoblich | Henrike Iglesias | HexenBerg Theaterproduktions gGmbH | Hidden Tracks Company/Jennifer Ocampo Monsalve | Highnoon Sushki | Regina Gyr | Ludmila Skripkina | Petra Klabunde | HKI | Regina Gyr | Holle/Nguyen/Rebgetz/Wolf | Holy Conflict | HOR-Künstlerkollektiv | Howool Baek | Hoyoung Im | Hyenaz | Hyoung-Min Kim | Hysterisches Globusgefühl | i can be your translator | i:kozaeder e. V. | Il Teatrino degli Errori – das Puppentheater der Fehler | Iliana Kalapotharakou | Jenny Ocampo | Kerem Shemi | Carmen Volpe | Daniela Lucato | Andrea Krohn | In Kyung Lee (Inky) | IN.TO Collective | Ingo Reulecke – Choreographie | Initiative X Tage | Inner | Institut für angewandtes Halbwissen | Institut für Widerstand im Postfordismus | internil | Ira Hadžić & Harm Coordes | Irina Demina (Lost&Found Ltd.) | Irina Demina | Tobias Leira | Isabelle Schad | Isadorino gore | Ixchel Mendoza Hernandez/Anna Weißenfels | Jahman Davine | Jakob Krog, Jay Fiskerstrand & Simon Zeller | Jan Mocek | Jan Rozman | Jana Korb & phyla | Janne Gregor | János ­Brückner | Xaver Hirsch, Astarte Posch, Victoria Sarangova, Jennifer Ocampo ­Monsalve & Jasminka Stenz | Jenny Haack, Akemi Nagao, Adam Pultz Melbye | Jérémie Pujau | Johannes Müller & Philine Rinnert | Jojo Hammer, Elisabeth Keuck, Vera Köppern, Henna-Elise Selkälä/Compagnie el_contrabando | Joseph Wegmann & Minna Partanen | Joshua Rutter | Judith Sánchez Ruíz | JSR Company & Edivaldo Ernesto | Juli Reinartz | Julia Förster | Christian Wehmeier & Kay Kastner | Julia Maria Repke | Julia Maria Koch | Julia Plawgo | Julia Rosa Stöckl | Junges Ensemble Circus Schatzinsel | K.A.U. & Wdowik | K77 Open Stage | Kadir

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Amigo Memis | Kanaltheater | Kasia Wolinska | Katerina Valdivia Bruch | Katharina Bévand & Shahed A. Naji | Katharina Haverich & Christopher Hotti Böhm | Kathleen Heil | Katia Engel & Silja Korn, Polett Kasza, Angelina Kartsaki, Eva Coenen, Sebastian Schlemminger | Katia Sophia Ditzler | Katja Hensel | Juliane Torhorst | Kazuma Glen Motomura | Ken Shakin & Per Aspera | KGI | Kinbom & Kessner | Klara Kroymann | Kleine Zukunft | kNoname Artist / Roderick George | Kollektiv 52°07 | Kolonastix | Kommando: SpitzBube | komplexbrigade | Kostia Rapoport | Kulturschlund | laborgras | Lamusica/meet ­MIMOSA | Lasenkan Theater Berlin | Laura Carvalho | Lavamover Contemporary Dance Company | Lea Pischke | Lea Schneidermann | Leien des Alltags | Leon Stiehl | Lina Gomez | Liz Erber & Dan Farberoff | Liz Rosenfeld | Lois Bartel | Lori Baldwin & Nicola Bullock | Lotte Meinzer, Katja Tannert & Florentine Schara, Chaim Gebber, Roberta Pupotto, Helena Botto, Gregory Jackson, Max Levy, Saul Vega Mendoza, Thomas Kleinschmidt, Sonja Salkowitsch, Per Salkowitsch | Luise Schubert, Anne-Catrin Märzke, Thaddäus Meiling & Lorris Andre Blazejewski, Jule Flierl | Lulu Obermeyer | Lwowski•Kronfoth• Musiktheaterkollektiv | Małgorzata ­Gajdemska | MamArt | Manuela Rzytki | Marc Carrera/MDVZ | Marcel Luxinger | Marcela Giesche | Monica Gentile | Marcio Kerber Canabarro – Csaba Molnár – Zsófia Tamara Vadas – Imre Vass | Maria de Vasconcelos | María Ferrara | Korhan Erel, Beatrice Madach, Maria Turik & Spree:public | MariaKron | Marie Golüke | Markus Riexinger & Team | Markus&Markus | Marlies Pahlenberg | Martha Hincapié Charry | Max Howitz | Melody Pasanideh & Jos Porath | Menade | ­Metacorpus | metzner&schüchner | Michael Vorfeld – Musik | Mikala Hyldig Dal & Sharon Paz | mimedance – Irina Kowallik | Ming Poon | Mirjam Gurtner | Modjgan Hashemian | Monica Gentile | Monster Control District (MCD) | Morphtheater | Movan | MS Schrittmacher | multicultural city | Multiplex | Nadja Haas, Christine Bonansea, Kathleen

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­ ermsdorf, Mata Sakka, Inga & Superhand | H müller***** | Natalie Reckert | Nele Stuhler | Nicole Felden | Nicole Weißbrodt | Niels Bormann | Nir de Volff / Total Brutal | Nir Shauloff & Avner Foyglgezang | Nir Vidan & Adi Shildan | Noemi Veberic Levovnik | nomerMaids. | Novoflot | Objective Spectacle | OfW | Okapi | Oleg Mirzak & Timur Isik | Oliver Zahn | Olivia Hyunsin Kim/ddanddarakim | Once We Were Islands | OpusXX Orchestra | Out Of The Box – Florentine Schara | P_A_R_A_R / Immersive Performance Art | p.u.r.e. – performative urban research ensemble | Panse/Kastner Productions | Panthea Mime Theatre | Pantless Bitches | Paradise Garden Productions, Jens Vilela Neumann | Passaggio Oper | Patrick Faurot | Paul Kollektiv Berlin | Pauline Jacob | Paweł Świerczek | Per Aspera | Performance Collective Kitchen Rave | Peter Trabner | Peter Waschinsky | Phil Collins | Philipp Joy Reinhardt | Phoebe Wright-Spinks | Phyla, Phyla & MIRC | Pink Valley | Platypus Theater | Pomp & Puder | post theater | Pragmata | Prinzip Gonzo | progresstheater | ­Przemek Kaminski | Ralle Balle Kollektiv | Raphael Hillebrand | Raze de Soare | ­Reaktionsraum e. V. | Regina Gyr | Ren Saibara | Renae Shadler & Collaborators | Renen Itzhaki | Retrofuturisten | Rhea Schmid | Richard Pettifer | Richter/Meyer/Marx | Rike Schuberty | Rodrigo Batista | Rolf Kasteleiner & Lapama | Roman Škadra aka Cie Expats | Darragh McLoughlin alias Stockman & Matthias & Friend | Romuald Krężel, Monica Duncan | Rosiris Garrido | Rough Triangle | Ruben Reniers / rubarb dance & art | S R & C o m p a n y | Sabrina Strehl | Sam Auinger, Hannes Strobl, Georg Spehr, Sandra Setzkorn & Emma Grün | Sanierte Altbauten | Sarah Jegelka & Hannes Buder/Greta Salgado Kurass/Edegar Starke/ Joséphine Auffray | Schauplatz International | Schauspielstudierende der UDK | Sebastian Brünger | sesperisi AKA Özgür Erkök ­Moroder | Shai Faran | Shakespeare Company Berlin | Shiran Eliaserov | Shlomi Moto Wagner | Siciliano Contemporary Ballet |

Simon Köslich | Simona Klaniute | Sinasan & Soraya Schulthess | Siniša Mitrović | ­Sisyphos | Sonja Augart – Zeitgenössischer Tanz Berlin | Sono-Choreographic Collective | Sophia Kurmann | Vio G.C & Sabina Drąg, Moritz Lucht, RiLa, Sophie Bogdan, Stefan Klein, Stephan Thiel, Halina Kratochwil, Franziska Hoffmann, Meda Gheorghiu-Banciu, Anja Lechle, Nadine Nollau & Eléna Weiß | suite42 | Sunia Asbach/Darko Radosavljev | Susanne Stern | Sweet Phoebe Theatre | TAK e. V. | Tanja Krone | Teatur | Technocandy | The Berlin Opera Group | The Hole Collective | the kickpäck | The Limelight Collective | The Navidsons | The West | Theater der ­Migranten | Theater ohne Probe | Theater Strahl Berlin | Theater.Macht.Staat | Thermoboy FK | Tilla Kratochwil | The Berlin collect-Eve | Tilthaus | Tobak Lithium | Tobias Malcharzik & Co. | TsaDiEli (Frederika Tsai, Davide Di Palo, Hannah Elischer) | Tucké Royale | Turbo Pascal | tutti d*amore | UKOREVV – Universal Korean Organic Ensemble – Viktoria & Virtuosi e. V. | Ullrich/ Kuithan | Ulrike Düregger & Compagnie | Unconscious Collections | unitedOFFproductions | Valentin Tszin | Vashanti Argouin | Vera Strobel | Verena Steffen (Mentzel) | Verena Unbehaun, Stefan Hillebrand, Veronika Bökelmann & Moran ­Sanderovic | Véronique Langlott | Veruschka Bohn & Christian Graupner | Viola Köster & Ren Saibara | virtuellestheater | vorschlag:hammer | WagnerHowitz | We Didn’t Do It! Crew | Welcome Project/The foreigner’s theatre | Wenzel U. Vöcks & Federico Schwindt | Wer ist Jack | weristjack | Wittig/Hinze/Baumann/ Nagel | y-productions | Yoriko Maeno | Zahra Banzi-Horn | Zander Porter | Zeitbanditen* & friends | zirka trollop | Zirkusmaria | ____ gemelos2000 & guests: Sung Baeg, Rubén González Escudero, Lady Gaby, Xilena Grint, MicoMusik_Loreto Zamora & Nikolas Klau, Seamus O’Donnell, Jan Raydan, Denise Reynoard, Yureimi Rodriguez & Co, Christian Schmidt-Chemnitzer, Hong-jae Shim, Karina Villavicencio, Groove Daniel, Leo de Munk, Theodor di Ricco, Turbo Jambon, Zam


Johnson, Amy J. Klement, Elya May, Séamus O’Donnel, Konik Polny, André Putzmann, Christian Schmidt-Chemnitzer, Alfredo Sciuto Spiel- & Veranstaltungsorte / Performance and Event Locations : / / about blank | Acker Stadt Palast | ACUD Studio | ACUD Theater | Allmende-Kontor Gemeinschaftsgarten | Alte Münze | Altes Farmhaus | aquarium | arkaoda | ArtisTraum Weißensee | Atelier ¾ | Aviatrix Atelier | Ballhaus Naunynstraße | Ballhaus Ost | bat-Studiotheater | BcmA | Berliner ­Ringtheater | BKA-Theater | Bootschafft – ­Atelierhaus Australische Botschaft (Ost) | Botanischer Volkspark | BrotfabrikBühne | Café Fincan | Centre Français de Berlin | Circus ­Schatzinsel | CLB Berlin im Aufbau Haus | Club der Polnischen Versager | Clubtee | Collegium Hungaricum | Coop Anti-War Café Kellergalerie | Damiens HAUS.92 | Das Weite Theater | Deutsch-­ Jüdisches Theater | Ding Dong Dom Theater vom Holzmarkt | District | Dock 11 | EDEN***** | Ehemaliges Jüdisches Waisenhaus | Errant Bodies | F2 Theater im ­Pflegewohnheim | FEZ-Berlin Astrid-LindgrenBühne | Figurentheater Grashüpfer | Fliegendes Theater | Flutgraben e. V. | Galerie Cankova | Galli Theater | Garten Hannah Höch | Greenhouse Berlin | Gretchen Berlin | Großer Wasserspeicher | Halle Tanzbühne Berlin | HAU Hebbel am Ufer | Hauptstadt­ oper | Haus der Statistik | Heimathafen Neukölln | Holzmarkt | K77 Studio | Kreuzberg Pavillon | Kühlhaus Berlin | KuLe | Kulturfabrik Moabit | LAKE Studios Berlin | Loophole | Mensch Meier | Mime Centrum Berlin | Oblomov | Panke.culture/panke.gallery | PAUL Studios Berlin | Pavillon am Milchhof | ­Pfefferberg Theater | Phasmid Studios | Platzhaus am Helmholtzplatz | Playing with eels | Polymedialer Ponyhof | Projektraum Ventilator 24 | Radialsystem | Ruhm Theater | Ruine der Franziskaner Klosterkirche | ­Schaubude Berlin | Schiller Bibliothek Berlin | Schokoladen | Schwartzsche Villa | Schwarze Pumpe | Sisyphos | Sophiensæle | Sox |

Statthaus Böcklerpark | STRAHL.Die Weiße Rose | STRAHL.Halle Ostkreuz | Studio 142 ­Kunstquartier Bethanien | Studio laborgras Berlin | Studio Я – Maxim Gorki Theater | Studioboerne45 | Studiobühne Alte Feuerwache Friedrichshain | Studiobühne der Reduta Berlin | tak Theater Aufbau Kreuzber | Tatwerk Performative Forschung | The Limelight Collective | Theater der kleinen Form | Theater Expedition Metropolis | Theater im Delphi | Theater im Kino Süd | Theater o.N. | Theater RambaZamba | Theater Thikwa | Theater unterm Dach | Theater Verlängertes Wohnzimmer | Theater Zukunft | Theaterdiscounter | Theaterhaus Berlin Mitte | thespis | tik Theater im Kino | ufaFabrik | URBANRAUM | Verlin | Vexer Verlag Büro Berlin | Vierte Welt | ­Village Berlin | Wabe am Ernst Thälmann Park | Weekend Club | Weinsalon | Weißenfelder Theater | Werkstatt der Kulturen | ­Wiesenburg | Willner-Brauerei-­ Berlin | Zentrum danziger50 | Zitadelle

Susanne Chrudina | Talea Schuré | Tessa Hartig | Thomas Fabian Eder | ­Valentina Felicetti | Vera Nau | Zazie ­Rothfuchs

Team & Partner / Team and Partners Asal Shokooie | Anna Wille | Anka Belz | Alexander Ostojski | Anika Andreßen | Berit Becker | Anna-Sophie Lühmann | ÄnneMarthe Kühn | Bernd Fauler | Björn Frers | Caroline Peterik | Christin Endter | Clara Debour | Claudia Marks | Claudia Raupach | Dagmar Domrös | Daniel Brunet | Der Grafikladen | Elmar Conzen | Engenhart ° Design Studio | Eva Behrendt | Felizitas Stilleke | Florian Bücking | Frank Oberhäußer | Franziska Janke | Hannah Pelny | Ilka Rümke | Janette Mickan | Janina Benduski | Johanna Werheid | Jörg Albrecht | Josephine Heide | Julian Kamphausen | Katharina Bischoff | Konstanze Grotkopp | Laura Cabiscol | Leoni Grützmacher | Luisa Kaiser | Martin Grünheit | Martin Stiefermann | Mascha Wendel | ­Mateusz Szymanówka | Melanie Klimmer | Mieke Matzke | Nicola Nord | Nora Wagner | Philine Rinnert | plan+stage (Florian Becht + Anke Ulbrich) | Sahar Rahimi | Sandra Klöss | Sarah Israel | Sarah Kindermann | Stefan Sahlmann | Stefanie Wenner | ­studio stg |

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Biografien / Biographies Eva Behrendt, geboren 1973 in Waiblingen, ist Redakteurin der Zeitschrift Theater heute und freie Kritikerin u. a. für taz, Die Zeit und Merkur. Sie war und ist Mitglied in verschiedenen Jurys und unterrichtet als Gastdozentin an der Freien Universität Berlin. Eva Behrendt was born in 1972 in Waiblingen, is an editor for the magazine Theater heute and is a freelance critic for many publications, including taz, Zeit and Merkur. She has been and is currently a member of various juries and teaches as a guest instructor at the Free University of Berlin. Janina Benduski ist Programmdirektorin des Performing Arts Programm und Performing Arts Festival Berlin. Sie ist Teil des ­Kollektivs ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, kooptiertes Mitglied im Vorstand des LAFT – Landesverband freie Künste Berlin sowie Vorstandsvorsitzende des BFDK – Bundesverband freie darstellende Künste. Janina Benduski is the Program Director of the Berlin Performing Arts Program and the “Berlin Performing Arts Festival”. She is part of the collective ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, a coopted member of the board of LAFT – the Berlin State Association of the Independent Performing Arts as well as chair of the board of BFDK – the German Federal Association of the Independent Performing Arts.

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Daniel Brunet ist Regisseur, Performer, Produzent und Übersetzer. Er wurde 1979 in New York geboren und studierte Theater und Film am Boston College. Als Fulbright ­Stipendiat kam er 2001 nach Berlin. Seit 2012 ist er Producing Artistic Director am English Theatre Berlin | International Performing Arts Center. Daniel Brunet is a director, performer, producer and translator. He was born in New York in 1979 and studied theater and film at Boston College. He moved to Berlin in 2001 with the support of a Fulbright ­Scholarship. He has worked as Producing Artistic Director at English Theatre Berlin | International Performing Arts Center since 2012. Luisa Kaiser ist seit 2017 Redakteurin des „Performing Arts Festival Berlin“ und studierte Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Luisa Kaiser has been the editor for the “Berlin Performing Arts Festival” since 2017 and studied comparative literature at the Free University of Berlin. Mieke Matzke ist Mitglied des Performance-­ Kollektivs She She Pop und Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsgebiete sind Theorie und Praxis der Probe, Theaterräume, Performance Art und Schauspieltheorien. Mieke Matzke is a member of the performance collective She She Pop and a professor for experimental forms of contemporary theater at the University of Hildesheim. Her research areas include the theory and practice of rehearsals, theater spaces, performance art and acting theories.

Anja Quickert ist freie Autorin für u. a. Theater heute, Mitglied der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“, Geschäftsführerin der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und Theatermacherin. Anja Quickert is a freelance writer for many publications including Theater heute, a ­member of the DFG research group ­Crisis Structures in the Arts, managing director of the International Heiner Müller Society and a theater maker. Patrick Wildermann lebt als freier Kulturjournalist in Berlin und schreibt vorwiegend für den Tagesspiegel über Theater, insbesondere die Freie Szene. Er war „100° Berlin“-Festival-­ Fan der ersten Stunde und verfolgt natürlich auch das PAF seit Beginn, obschon er sich als Westfale mit Neuerungen schwertut. Patrick Wildermann is a freelance culture journalist based in Berlin and primarily writes for Tagesspiegel about theater, especially the independent performing arts community. He was a fan of the “100° Berlin” festival from the very beginning and, of course, has also followed PAF since it started even though, as a Westphalian, he has a very difficult time with change.


Das PAF – Performing Arts Festival Berlin dankt allen teilnehmenden Spielstätten, der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und den Autor:innen, die dieses Buch möglich gemacht haben. Das PAF wird veranstaltet vom LAFT – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e. V. und gefördert durch das Land Berlin – Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Impressum / Imprint Andere Räume – Die Freien Spielstätten in Berlin / Other Spaces – The Independent Performing Arts Venues in Berlin Herausgegeben von / Edited by Anja Q ­ uickert, Luisa Kaiser und / and Janina Benduski für den LAFT Berlin © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. / All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopied, recorded or otherwise, without the prior permission of the publisher. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter / Publisher Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion / Editor: Anja Quickert Redaktionelle Mitarbeit / Editorial ­Collaboration: Luisa Kaiser, Marit Buchmeier Übersetzung / Translation: Daniel Brunet Lektorat / Editorial Office: Nicole Gronemeyer Gestaltung / Design: Tabea Feuerstein Karten / Maps: Bernhard Moosbauer Quelle / Source: Geoportal Berlin: Digitale farbige Orthophotos 2020 (DOP20RGB) Printed in the EU ISBN 978-3-95749-360-6 (Paperback) ISBN 978-3-95749-361-3 (ePDF)

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Theater needs space. Actual space in which human beings can meet each other and ­temporarily form a community. Space to develop new, experimental aesthetics and for social ­experiments. It also needs a public space for the encounter of the audience with the performing arts, with itself and between individual members of the audience. In this book, the spaces of the independent performing arts community in the theater metropolis of Berlin take center stage. 33 performing arts venues in Berlin are profiled in this richly illustrated volume. They have all been part of the Berlin Performing Arts Festival since 2016. It is a first attempt to present the independent spaces for the performing arts in Berlin in all of their breadth and diversity. In doing so, this book also explores the origins of these spaces, their respective histories and the ways in which their function has changed in their social and topographical environments within the urban landscape.

„DIY“ – Sommerferienprogramm mit Kindern und Jugend­lichen im Haus der Statistik. © Matthias Schellenberger


Other Spaces

The Independent Performing Arts Venues in ­Berlin


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