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Valery Tscheplanowa trat wie eine Explosion auf die Bühne. „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern“. Mit diesen Worten fesselte sie 2007 das Publikum im Deutschen Theater Berlin von der ersten Sekunde an. Murmelnd, rufend, schreiend. Seit dieser Ins­ zenierung von Heiner Müllers Hamlet­ maschine in der Regie von Dimiter Gotscheff sind 13 Jahre vergangen, in denen Valery Tscheplanowa wie ein Irrlicht d ­ urch die Stadttheater zog und längst auch ihren Weg zum Film gefunden hat. Es waren trotz beglückender Momente auch ­Kämpfe, die sie dort austrug – gegen den Betrieb und für lebendige Arbeit. Dieser reich bebilderte Gesprächsband schildert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein einsames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinensischen Macho-Frauen erzählt und mit ihrer Theaterarbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet.


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Dorte Lena Eilers

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Mit Gedichten von Valery Tscheplanowa und einem Nachwort von Josef Bierbichler



Fünf Gedichte von Valery Tscheplanowa

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Die Geste ist blank Und es beginnt Der Umriss sich zu meiĂ&#x;eln Und ich erkenne das Gesicht, Das Du zu Anbeginn am Herzen trugst. Ich stehe nebst zur Seite Und Wache halt ich, Adler Echo, Ăźber Dich, Der Du den Aufbruch wagst ins Eigne.

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Setzung Engel und Affen sind eitel. Der beliebige Raum ist Kirche. Du bist unschuldig. Gnade und Ungnade ist Rauschgift. Vielleicht ist ein Seufzen. Du bist eine Anzahl von Engeln und Affen. Den Einlass bringt nicht Sehnsucht noch Gewalt. Jedweder Angriff trifft ins Leere, Da dort der wahre Widerstand Den Aufenthalt verschweigt.

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Ungezählte Deine Namen Ohne Kleider und Erbarmen ohne Andacht, ohne Ohnmacht, Nur ein klaglos offen Obdach, Eine Klippe überm Meer und ein Moor, das naht. Gut ist, wenn Du nackt und schweigsam, Täglich bei dem Hochzeitsmahle mein Gesicht vergessen hast Und Dich wundert, wer sie ist, die an Deiner Seite isst. Tausche mein Gesicht. Ich bleibe. Mach die Tür zu. Ich bin hier. Schneide meine Haut. Ich weine. Trotzdem bin ich, trotzdem hier. Der Verdacht, dass ich Dich brauche, endet, Wenn Du siehst, Wie ich Dein Gesicht beweine. Wenn Du nicht mehr bist. Deine Hand, die halt ich heute, morgen auch und gestern nicht. Und der Lohn, den ich erschleiche, ist nur Dein Gesicht. Deine Kinder nenn ich Bäume, Gräser, Milch und Stadt Und das eine oder andere wird nicht satt. Unser Haus ist eine Straße, die zum Grab uns führt. An den Rändern lauter Leiber, die wir nicht berührt. Und im Grab, da leg ich meinen Arm um Dich, denn erst dort, So nackt und schweigsam fliehst Du nicht.

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Lied vom Selbstmitleid Fällt der Tag so auf mich nieder Ohne Gnade aufs Gefieder Schlägt mich nieder Schlägt mich wieder Ohne Gnade aufs Gefieder Ich erlahme ich ersticke ich verende ich verrecke Ich ersaufe ich verlaufe mich in meinen Zimmerecken Kommt denn niemand mich zu wecken Mich aus meinem Schlaf zu schrecken So zu enden ist doch schrecklich So zu enden mich zu schrecken Mich aus meinem Schlaf zu wecken Leider muss ich immer weiter leider find ich keine Ruh Leider geht es immer weiter leider steht die Ruhe mir nicht zu Und ich stehe wacklig steh ich und vergehe so im Stehen Immer tiefer immer weiter immer nur hinab die Leiter Grabe Wurzeln in die Erde grabe mir mein eigen Grab

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Abgang Wieder auf Wieder Den Schädel an den Wolken sich stoßen Und Fall auf Fall nicht Trauer tragen Denn Schritt auf Schritt drängt es mich zu denen Die zu leuchten wissen Wie die Heiligkeit Erhalten dessen was ich vor dem Wissen gewusst Wie klaglos weil kein Schmerz mehr trügt Den Ort nicht mehr verlassen Wo das Meer sich öffnet meinwärts Dem Tod Ein Bett kaufen Und seine Hand halten Während er neben mir schläft Aber für einen Menschen bereite die Kissen Habe keine Angst Ich hänge am Himmel Nicht an Dir.

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V

alery Tscheplanowa, Sie kommen gerade aus Salzburg, wo Sie bei den Festspielen im diesjährigen Jedermann die Buhlschaft spielen. Hugo von Hofmannsthal sagte vor einhundert Jahren über diese Stadt: Das mittlere Europa habe keinen schöneren Raum. Der ewige Salzburg-Hasser Thomas Bernhard hingegen sprach von einer perfiden Fassade, derer man so schnell wie möglich entfliehen solle. Steht Ihr Fluchtauto auch schon ­bereit? Beides trifft zu! Ich empfinde die Stadt aber als sehr ange­ nehm. Die Leute haben, vor allem, was den Jedermann betrifft, teils ein enormes Wissen … … und können wahrscheinlich die ganze Rezeptionsgeschichte herunterbeten. Oh ja! Letztens nahm ich zwei Zuschauer in meinem Taxi mit, die standen da so am Straßenrand herum. Der Mann erzählte, dass man früher die Buhlschaft nach der Qualität ihres Schreis beurteilt habe. Anders als in unserer Stückfassung gab es da­ mals noch keinen dritten Auftritt für die Buhlschaft, keine Sze­ ne, in der sie sich, kurz bevor der Jedermann stirbt, von ihm verabschiedet. Daher habe sie, wenn der Tod kam, einfach nur geschrien. Und dieser Schrei war das Wichtigste. Das ist interessant. Denn tatsächlich ist das Erste, wenn ich an Valery Tscheplanowa auf der Bühne denke, ihr Schrei. Als Zuschauer der Hamletmaschine von Heiner Müller, Ihrer ersten großen Arbeit am Deutschen Theater Berlin 2007 in der Regie von Dimiter Gotscheff, wurde man von Ihrem Schlussschrei als Ophelia, „Im Namen der Opfer!“, förmlich vom Sitzplatz gefegt. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit Gotscheff Die Perser geprobt, eine Inszenierung, in der Sie letztlich nicht mitspielten. Mark Lammert, der für diese Produktion die berühmte gelbe Wand geschaffen hatte, berichtete 2018 in seiner Laudatio zur Verleihung des

Valery Tscheplanowa in Die Hamlet­ maschine, Regie: Dimiter Gotscheff, Deutsches Theater Berlin 2007

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­ lrich-Wildgruber-Preises an Sie, dass die Proben mit Ihnen U größtenteils aus zwei Elementen bestanden: einem „elfenhaften Drehen der Wand“ und einem „wesenhaften Schreien“. Ja! Das war der Anfang!

Ein Antlitz und ein Schrei

Wie entdeckt man diesen Schrei? Diesen eigenen Ton? Sicherlich nicht auf der Schauspielschule. Ich habe mal eine Kritik über Edith Clever gelesen, in der stand, sie habe ein Antlitz und einen Schrei. Diese Beschreibung hat mich so getroffen! Ich dachte: Ja, das ist es! Man muss als Schauspieler ein Antlitz und einen Schrei haben. Diesen Schrei zu finden, ist für mich wie das Zentrum des Bühnendaseins. Es gibt eine lustige Geschichte aus der Schauspielschule. Ich spielte Anna Petrowna aus Iwanow und sollte in einer Szene jemanden rufen. Einer meiner Dozenten sagte: „Du rufst so, dass man mitschreien will.“ Angeblich ist er hinterher in sei­ nen Schuppen gegangen und hat es ausprobiert. Den Schrei? Ja! (lacht) Also so zu schreien, dass es einen mit dem Schrei wegträgt. Nachdem ich mit den beiden Zuschauern in Salzburg im Taxi gesessen hatte, dachte ich: Komisch, warum ist der Schrei weg? Ich würde gerne mal recherchieren, wer zuletzt geschrien hat. Und was bedeutet Antlitz? Auf jeden Fall nicht bloß ein Gesicht. Es ist eher das Wesen, das einem innewohnt. Und das auch nicht damit beschrieben ist, dass ich eine Frau bin, dass ich 39 Jahre alt bin, dass ich aus Russland stamme. Der Schrei wiederum hat für mich auch damit zu tun, noch zu wissen, wie man als Kind ge­ schrien hat.

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Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in Jedermann, Regie: Michael Sturminger, Salzburger Festspiele 2019

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Er hat etwas Ursprüngliches. Genau. Es gibt ein Schreien, das einen nicht heiser macht. Das ist aber Technik. Nicht nur. Es ist eine Art von Zustand. Denn das Kind schreit aus einem Gefühl des Vertrauens heraus. Und zwar zur Mutter, zur Welt, zum eigenen Körper. Wenn es mir gelingt, so zu schreien, ist das etwas sehr Angenehmes, ich glaube, auch für den Zuschauer. Wobei es auch den Angstschrei gibt. Etwa wenn einem, wie im Jedermann, der Tod begegnet. Auch den Schrei der Empörung, den Verzweiflungsschrei. Ein Kind schreit aus einer Not heraus, weil es sich noch nicht anders artikulieren kann. Ja, der Ort, von dem der Schrei kommt, ist für mich entschei­ dend. Ich glaube, wer den Schrei in sich findet, hat auch den Zugang, um emotionale Räume zu gestalten. Viele Stücke han­ deln von Zuständen, von Sackgassen oder von Figuren, die in Not geraten. Diese Not zu beschreiben, erfordert in der Regel viel Sprache – und die will geführt sein, will zum Klingen gebracht sein. In der Suche nach einem Schrei liegt der ­ ­Ursprung, diesen ausdeklinieren zu können, davon erzählen zu können. Eine Art Kristallisationspunkt für alles. Genau. Und Djadja Mitja, also Onkel Mitja – so nannte ich ­Dimiter Gotscheff –, suchte diesen Schrei von Anfang an. Er ließ mich wochenlang nur schreien. (lacht) Daraus entstand später Die Hamletmaschine. Gotscheff soll gesagt haben: „Ein Ton ist wichtig in unser Gewässer Raum“. Mir kam es zunächst seltsam vor, ein Gespräch über ein Schauspielerleben mit einem Stück zu beginnen, das wie der

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Jedermann von den letzten Dingen handelt. Aber für Sie ist es möglicherweise gar nicht seltsam. Ja, das stimmt. Denn das steckt für mich auch in diesem Schrei: Ich habe das Gefühl, da steht jemand auf der Bühne, der über ein größeres Weltwissen verfügt als andere. Was für ein Wort! Weltwissen! Ja, ein Wissen um das Leben und eben auch um den Tod. Für mich hat Ihre Präsenz auf der Bühne – und das mag an einer Erfahrung liegen, die ich selbst einmal in Sibirien gemacht habe – etwas Schamanisches. Ich will nicht in die Folklore-Kiste greifen, aber könnte dieser Eindruck auch etwas mit der Landschaft zu tun haben, aus der Sie kommen? Sie sind in Kasan geboren, Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland. Das ist wirklich verrückt, dass wir hier anfangen. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch festgestellt, dass ich eine Menge steiler Thesen habe, und gedacht: Jetzt mal langsam. Wo verorte ich den Ursprung meiner Gedankenwelt? Hatte ich erzählt, dass ich jetzt zum ersten Mal bei einem Schamanen war? Nein! Tatsächlich. Seit zehn Jahren habe ich davon geträumt. Und diesen Winter sagte einer meiner Freunde, ein sechzigjähriger Professor, plötzlich: „Komm, wir machen eine Spritztour in die Wälder!“ Ich fragte ihn, wohin es denn gehe. Und er sagte: „Zum Schamanen!“ Ich bin auf dieser Fahrt für zweieinhalb Stunden eingeschlafen vor Aufregung. Es hätte ja auch sein können, dass es ganz doof wird und gar nicht das, was ich mir erhoffte. Und dann kamen wir an. Es waren Minus 25 Grad, in der Nähe gab es eine heiße Quelle.

Auf dem Weg zum Schamanen

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Die Praxis des Schamanen in der Nähe von Marijnka

Wo war das genau? In der Nähe von Marijnka, das ist dreieinhalb Stunden von Ka­ san entfernt. Diesen Ort kennen nur diejenigen, die den Scha­ manen kennen und einen Termin haben. Wobei es nie klar ist, ob er einen dann auch empfängt. Uns hat ein Chemiker mit­ genommen, der ihn seit Jahren aufsucht, weil er beruflich mit giftigen Chemikalien arbeiten muss. Als wir in diesen Wald ­kamen … Moment! Ich zeige Ihnen ein Bild! Sie müssen sehen, wie es dort aussieht. (zeigt ein Foto auf ihrem Handy) Dort ist die heiße Quelle und hier ein kleines Häuschen.

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Das sieht gar nicht nach Wohnhaus aus. Das ist auch kein Wohnhaus, das ist seine Praxis. Mitten im Wald. Er wohnt irgendwo anders. Ich zeige Ihnen auch ein Bild von ihm. (Auf dem Foto ist ein Mann mit halblangen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke zu sehen.) Der sieht ja aus wie ein Rockstar! Als wir ankamen, lachte es uns aus diesem Häuschen entge­ gen. Plötzlich kam er herausgerannt und bremste direkt vor meinem Gesicht. „Wer bist du?“, fragte er. Ich sagte: „Vica.“ Das ist mein Spitzname. Er sagte: „Okay. Du kannst gleich rein.“ Alle anderen mussten draußen bleiben. Er ließ mich eineinhalb Stunden in diesem Häuschen sitzen, während er nach und nach die anderen hereinholte, um sie zu behandeln. Er hat mir sozusagen gezeigt, wie er arbeitet. Dann war ich an der Reihe. Wie läuft eine Behandlung bei ihm ab? Er führt ganz praktische Dinge durch und Dinge, die nicht er­ klärbar sind. Praktische Dinge sind: Er gibt einem Ameisensäu­ re zu schnupfen, sodass einem die Plörre aus allen Öffnungen schießt, Augen, Nase, Ohren, das pustet alles frei … … als Reinigung … Ja. Danach gibt er einem unbeschreiblich bittere Kräuter zu trinken. Später legt er einen auf den Bauch, zieht an der Haut, knackt die Wirbel ein, knackt den Rumpf an das Becken. Und dann – und das ist das Gruseligste, die Leute vor mir haben geschrien wie am Spieß, ich sagte mir, ich werde nicht schreien … Ich habe so geschrien! Er greift mit den Fingern in den Körper und ertastet über Hitze Krankheiten, Entzündungen, Ge­ schwüre … Es war ein junger Mann da, dem er sagte, es sei schon zu spät für eine Behandlung bei ihm selbst, er müsse

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zum Arzt. Auch bei mir hat er etwas ertastet, nichts Schlim­ mes, aber auch ich bin zum Arzt und sagte zu ihm: „Entschul­ digen Sie, ich war beim Schamanen, können Sie mal gucken?“ (lacht) Der Arzt hat die Diagnose bestätigt und meinte, ich kön­ ne ruhig weiter zum Schamanen gehen. Die Vereinigung von Wissenschaft und Metaphysik. Er liest auch in den Augen und sagte zum Beispiel zu mir, dass ich etwas Neues beginnen werde und dass ich meinem Partner noch nicht vertraue. Ich glaube, er meinte meine Agentin. (lacht) Das hat sich inzwischen geändert. Hatten Sie keine Zweifel, dass er einfach mit Versatzstücken ­arbeitet und den Leuten erzählt, was sie hören wollen? Da war ich sehr aufmerksam. Ich habe schon erlebt, dass Leute eine Art Technik haben. Auch Regisseure. Was mich an dem Schamanen so beeindruckt hat, war zum einen sein Wissen um den Körper und zum anderen sein Wissen um sehr konkrete Dinge, von denen er im Grunde nichts wissen kann. Nicht einmal durch Google-Recherche? Nein. Zumal ich ja unerwartet kam. Er sagte zum Beispiel – und das hat mich umgehauen: „Du wohnst aber nicht im PutinLand.“ Ich sagte: „Nein.“ Und er sagte: „Dort, wo du lebst, wird funktionieren, was du vorhast.“ Ich müsse nur sehr viel Verant­ wortung übernehmen, so viel wie möglich, mit der Zeit immer mehr, je mehr, desto besser. Insofern: Zweifel? Nein. Und sowieso: Er hat mir ja auch gezeigt, wie er arbeitet. Wenn sich jemand derart in die Karten gucken lässt, ist das für mich immer das beste Zeichen, dass jemand das ist, was er vorgibt zu sein. Und: Er hat keinen Preis. Du gibst, was du willst. Du kannst auch nichts geben. Du kannst auch deine Jacke dalassen.

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Auch Gotscheff stammt aus einer Gegend, den Rhodopen in ­Bulgarien, wo der Zugang zum Leben kein rein wissenschaft­ licher ist. Es heißt, er habe in seiner Jugend seinem Vater geholfen, der Tierarzt war, und auf diese Weise miterlebt, wie Leben entsteht und auch endet. Was an dem Schamanen auch sehr wichtig war: Er hat wahn­ sinnig viel gelacht und war sehr unverschämt. Er war ungeheu­ er unmittelbar und verhielt sich auch nicht wie eine Autorität, sondern eher wie eine Art Pendel. Er war sehr sensibel und hat schnell reagiert. Was ich toll fand: Er ging ständig raus und hat das, was er empfing, immer abgeschüttelt. Ich meine, was für ein Glück! Ein europäischer Arzt sitzt den ganzen Tag in seiner Praxis, muss alles schlucken, was seine Patienten mitbringen, und hat bloß eine Mittagspause. Der Schamane kann alle 15 Minuten raus in die Natur. Deswegen wirkt er tatsächlich wie ein Rockstar. Weil er frisch ist. Die Haare waren bestimmt gefärbt. Ich schätze schon, dass er weit über sechzig Jahre alt ist. Aber voller Leben. Nun würde man Schamanismus und den Jedermann in der ­Regie von Michael Sturminger gar nicht zusammenbringen. Der Abend ist mit seinem Bühnenbild, den Kostümen und dem auf Psychologie setzenden Spiel durchaus für ein Salzburger Domplatzpublikum gebaut. Nichtsdestoweniger fand ich, dass Ihre Buhlschaft – auch dadurch, dass Sie sehr viel singen, ein aus dem Schrei heraus entwickeltes Singen – etwas Ursprüngliches hat. Inwieweit hat die Erfahrung mit dem Schamanismus Ihre B ­ eschäftigung mit dem Jedermann, diesem Stück über den Tod, beeinflusst? Was mich wahnsinnig anzieht, ist die Rolle des Todes. (lacht) Der Tod ist in der hundertjährigen Aufführungsgeschichte des Jedermann in Salzburg nur einmal mit einer Frau besetzt worden: mit Ulrike Folkerts 2005 in einer Wiederaufnahme der Inszenie-

Die Anzie­ hungskraft des Todes

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Jedermann: Eine gemein­ same Zeremonie

rung von Christian Stückl, aufgefrischt von Martin Kušej. Das Stück basiert ja auf dem englischen Mysterienspiel Everyman aus dem späten 15. Jahrhundert. Auch verwendete Hugo von Hofmannsthal Versatzstücke aus Hans Sachs‘ Von dem sterben­ den reichen Menschen, Hekastus genannt und aus mittelalterlichem Minnesang. Statt Individuen treten mit Gott, Tod, Teufel, Mammon, Werke, Glaube eher Allegorien auf. Seit der ersten Aufführung in Salzburg durch Max Reinhardt 1920 waren die Inszenierungen immer sehr schlicht, fast archaisch gehalten, setzten auf die Kulisse des Domplatzes und auf das Spiel. Erst 2002 modernisierte Christian Stückl den Jedermann. Für meinen Geschmack kann das alles auch sehr viel rauer ge­ staltet werden. Ich finde, es muss auch nicht weiterentwickelt werden, sondern eher im einfachen Sinne bewahrt, als Phäno­ men: Wir treffen uns und denken gemeinsam über den Tod nach. Wir erschaffen diesen Augenblick, wo wir unter freiem Himmel – das ist schon toll! – das Nachdenken spürbar ma­ chen. Solche Momente gibt es auch in unserer Inszenierung, aber sie könnten simpler sein. Deshalb war ich froh, dass ich singen durfte, weil ich dadurch den Domplatz einnehmen konnte. Das ist etwas, das mich von Anfang an beschäftigt hat. Bevor ich zum Theater ging, habe ich mich gefragt: Wie stelle ich mir Theater vor, wenn ich nicht weiß, was es ist? Für mich war es immer diese gemeinsame Zeremonie, bei der wir zu­ sammen über ein Thema nachdenken, das grundlegend ist. Und am heilsamsten ist die Frage nach dem Tod. Es geht also um eine Versinnbildlichung oder ein Spürbarmachen von Tod. Von Todesnähe. Und das Stück hat das. Fühlen Sie sich in der Inszenierung von Michael Sturminger fremd? Ja. Aber ich fühle mich akzeptiert. Und das mag ich daran sehr. Auch Tobias Moretti, der den Jedermann spielt, und ich sind

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Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti, 2019

uns fremd. Aber in dieser Fremdheit kommen wir uns doch er­ staunlich nah. Vor allem aber ist es der Domplatz, der mich ­annimmt, die Stadt, die Menschen, der Ort. Ich träume davon, in einer anderen Zeit wiederzukommen, mit einem anderen Regisseur, mit einem geradlinigeren Zugang, um diesen Ort noch einmal anders zu erobern.

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„Eine Form von Archaik, die ich unterschreibe“

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Der Domplatz wird dominiert von dem riesigen sakralen ­Barockbau des Salzburger Doms, vor dessen Portal der Jeder­ mann spielt. Das Thema Religion erzeugt heutzutage die größte Reibung. Die Institution Kirche bildet, so wie sie sich auch hier in diesem Bau manifestiert, nicht mehr das metaphysische Zentrum unserer Gesellschaft. Trotzdem schreitet der Jedermann auch in dieser Inszenierung, wenn er in sich geht und Buße tun soll, auf das Kirchenportal zu. Peter ­Lohmeyer als Tod entführt den Jedermann ebenfalls in diese Richtung. Welche Rolle spielt der Dom für Sie? Welche Rolle Religion in der heutigen Zeit? Da muss ich wieder vom Schamanen erzählen. Der stellte mir relativ schnell zwei Fragen. Die erste war: „Gehörst du einer Religion an?“ Ich sagte: „Nein.“ Er sagte: „Halte das so. Gehe aber in jede Art von Gotteshaus. Das sind gute Orte. Gehe zu den Buddhisten, den Muslimen, den Christen … Besuche diese Orte, aber schließe dich nicht an.“ Dann fragte er mich: „Hast du jemals deinen Nachnamen geändert, also den Namen eines Mannes angenommen.“ Ich sagte: „Nein.“ Und er sagte: „Halte das so. Trage deinen Namen, und ordne dich in der Gesellschaft nicht einem männlichen Prinzip unter.“ Das ist bei Schamanen ganz wichtig. Die Frauen geben ihre Linie an die Töchter weiter, die Männer an die Söhne. Und das Dritte, was er sagte, war: „Achte darauf, dass du isst, wenn du Hunger hast, und nicht, wenn es 13 Uhr ist. Ordne dich also nicht den Gegebenheiten der Nahrungsaufnahme eines Breitengrades unter.“ Das ist eine Form von Archaik, die ich unterschreibe. Das heißt: Reli­ gion ist für mich Respekt vor der Natur. Nicht mehr und nicht weniger. Das Gotteshaus ist ein Symbol für – ich würde sagen – Stil und Fantasie. Es ist eine Art, Religion auszudeklinieren. In der Bibel steht: „Du sollst auch nicht auf Stufen zu meinem Altar steigen, dass nicht deine Blöße aufgedeckt werde vor ihm.“ Ich meine, jedes Gotteshaus hat doch Stufen!


Und auch der Salzburger Dom, wobei die Bühnenbildner Renate Martin und Andreas Donhauser diese durch eine Überbauung noch multipliziert haben. Der Jedermann muss ganz schön ­kraxeln, um ins Jenseits zu gelangen. Darin steckt für mich etwas Wahres: Nicht über Stufen in einen Raum der Religion gehen. Der Raum der Religion ist ein kollek­ tiver Raum. Und er hat auch kein Zentrum, keine Mitte, keine Ausrichtung. Dieses ganze Beten nach rechts oder links, hier steht der Altar …

Ausgebranntes Haus in der Nähe von Kasan

… dort oben die Kanzel … … der Predigende geht über Stufen dort hinauf. Ich war in der ältesten Moschee Kasans. Dort wurde die Utopie, keine Mitte zu haben, verwirklicht, und trotzdem gibt es dann doch ein Podest, auf dem derjenige steht, der spricht …

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„Auch Frank Castorf praktiziert eine Form von Religion“

… Frauen und Männer sind getrennt … Ich glaube, dass jeder Mensch die poetische und schöpferische Kraft hat, eine Religion zu gestalten. Genau das ist doch die Bibel: ein Gemeinschaftswerk von unzähligen Menschen. Es wäre schön, wenn man sie immer weiterschreiben würde. Reli­ gion ist für mich Ausformulieren. Wie eine künstlerische Äuße­ rung. Für mich ist das, was Gotscheff praktiziert hat, eine Reli­ gion. Das Ausformulieren und Gestalten einer Gemeinschaft. Für diese Religion gibt es keine Regeln, nur den Geschmack oder die Lust des Künstlers. Auch Frank Castorf praktiziert eine Form von Religion. Sicherlich auch mit allen Untiefen einer ­Religion (lacht), aber es ist eine lebendige, eine von ihm er­ schaffene. Bei der der Zuschauer sofort merkt, ob er Teil von ihr werden kann oder nicht. Sie haben von Weltwissen gesprochen: Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der allen bewusst ist, dass wir in der Natur etwas verletzt haben, was wiederum das kollektive Welt­ wissen und unsere Körper beschädigt. Wir wollen „zurück“, un­ sere Gewohnheiten überprüfen und sehnen uns nach Einfach­ heit, wobei ich mit Einfachheit Verbundenheit meine. Was fördert Verbundenheit und was irritiert sie? Das kann schon ein Mikroport sein. (lacht) Denn ich würde schon gerne wissen, wie meine Stimme fliegt, wenn ich auf dem Domplatz spiele. Bei den Proben habe ich es immer genossen, wenn mein ­Mikroport noch nicht an war und ich dem Regisseur etwas zu sagen hatte. Der hört’s ja! Bei Gotscheff habe ich erlebt, dass ich Licht machen kann, wenn der Regisseur es zulässt. Beim Hydra-Monolog … … von Heiner Müller, den Sie in Gotscheffs Inszenierung von ­Zement am Münchner Residenztheater 2013 gesprochen haben …

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… da haben wir eine Nacht vor der Premiere gesagt: Wir ­machen das Licht im ganzen Bühnen- und Zuschauerraum an. Denn wenn das Licht an ist und ich anfange zu spielen, ver­ ändert mein Spiel das Licht im Raum, und nicht der Schein­ werfer, der auf mich gerichtet ist, macht das Licht. Ein Schamane ist ein Schamane, wenn er zeigt, was er macht. Wenn er etwas verschleiern muss, ist er keiner. Tages­ licht, k­ eine Musik, keine Requisiten, er hat ein bisschen Maul­ trommel gespielt, alles war handgemacht. Das ist es: Was kann ich körperlich tun? Das Geschenk Gotscheffs war es, mich nicht zuzudecken.

Gotscheffs Geschenk

Als ich in Salzburg in der Schlange zum Einlass stand, war eine Frau hinter mir, die sich fürchterlich über eine Zuschauerin echauffierte, die ihrer Meinung nach schlecht angezogen war. Sie sagte: „Da leistet die sich eine Karte für zweihundert Euro und kann sich nicht mal angemessen kleiden.“ Ich dachte erst, sie meint mich mit meinen Turnschuhen. Insofern habe ich ­generell, was die Sehnsucht nach Einfachheit angeht, im Sinne eines Gespürs für die Verbundenheit, meine Zweifel. Das Publikum in Salzburg scheint durchaus Geld zu haben und dies auch zeigen zu wollen. Es entspricht vielleicht wirklich diesem Jedermann, der Geld hat … … der es missbraucht … … der seine Leidenschaft in weltliche Dinge investiert. Das Publikum schaut sich das an, tut vielleicht innerlich ein bisschen Buße – und kann beruhigt weitermachen wie bisher. Eine sehr katholische Art von Reinigung. Castorf sagte, nach seiner Sympathie für den Katholizismus gefragt: „Was ich wunderbar finde: Ich be­ gehe Sünden, und durch die Gnade der Vergebung kann ich die nächste Sünde begehen. Das ist mir sehr nahe, dieses Perpetuum mobile des Menschen, seiner Moral, seiner Asozialität.“

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Wenn die Inszenierung vermittelt, dass alles in Butter ist, er­ füllt sie nicht den Zweck. Es muss eine Art von Schreck bleiben! Daher habe ich mich auch entschieden, im nächsten Jahr die Rolle der Buhlschaft nicht mehr zu spielen. Warum? Weil ich als Tod wiederkommen will. Was für ein Satz! Wenn ich nächstes Jahr wiederkommen würde und alles brav noch einmal so spielte wie jetzt, würde ich das, was ich dieses Jahr hingelegt habe, kaputt machen. Ich möchte den nächsten Schritt gehen. Ursprünglich sollten Sie im nächsten Jahr zusätzlich zur Buhlschaft die Werke spielen. Man müsste dann aber das ganze Ensemble zusammenlegen, das heißt nicht nur Buhlschaft und Werke, sondern zum Bei­ spiel auch Vettern und Mammon … … Teufel und Geselle sind bereits zusammengelegt, Gregor Bloéb spielt beide Rollen. Aber je mehr Rollen doppelt besetzt sind, desto mehr ver­ dichtet sich das Stück. Das muss man wollen. Und können. So etwas lässt sich auf diese sanfte, bürgerliche Art nicht er­ zählen.

Jedermanns Frauen

Was hätte Sie an der Rolle der Werke gereizt? Die Korrespondenz zwischen der Frau, die vom Jedermann ­beachtet wird, aber geht, weil sie leben will, und dieser Frau, die immer unbeachtet an seiner Seite war – und bleibt. Sie würden die Werke als Frau bezeichnen?

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Besser als Prinzip. Die Buhlschaft ist ja auch eher ein Prinzip, oder: eine Allegorie. Die Werke haben etwas sehr Alptraum­ haftes. Wie ein Aufschrei der Erde, etwas Misshandeltes. Und dieses Misshandelte begleitet den Jedermann. Ich finde, dass da noch einiges zu holen ist an Dunkelheit in diesem Geschöpf. Von der Buhlschaft erwartet der Jedermann vorrangig Befreiung und zwar von sich selbst. „Sprengst ums Herz die ewgen Ketten“, lässt ihn Tobias Moretti in seiner 2019 vorgelegten ­Aktualisierung des Hofmannsthal-Textes sagen. Es heißt, dass besonders hochrangige Manager die Dienste von Dominas in Anspruch nehmen, damit sie, als die ewigen Entscheider, auch einmal Macht abgeben können, was wiederum als Befreiung erlebt wird. Für mich ist die Buhlschaft ein Aspekt, die Lesart einer Bezie­ hung. Interessant aber, dass sich gerade dieser „Aspekt einer Beziehung“ so lange hält und diese Aufmerksamkeit be­ kommt. Seit hundert Jahren wird über diese dreißig Sätze ein solches Bohei gemacht. Sie haben die siebenhundertste Vorstellung gespielt! Ja, wirklich Wahnsinn. Selbst die Journalisten sind eingesperrt in der Rezeption dieser Figur. Darin spiegelt sich auch eine ­Gesellschaftsstruktur wider, die sehr zu überprüfen ist. Ich habe manchmal bewusst gebohrt: „Wollen Sie mir jetzt die Frage zu dem Kleid stellen?“ „Ehrlich gesagt: Nein.“ „Na, dann stellen Sie doch eine andere.“ Und dann kamen auch andere. Meistens die Frage, ob ich den Jedermann spielen will. Klar. Er ist das Zentrum. Man könnte das Stück sogar als Monolog denken, der sich in seinem Kopf abspielt. Ja. Die anderen laufen Spalier, treten kurz auf und wieder ab. Das sind Abschiede.

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Dennoch ist es immer ein Mann, der da im Mittelpunkt steht und dessen Gedanken wir folgen. Insofern ist die Frage, ob Sie den Jedermann spielen wollen würden, auch verständlich. Eben wie es gemeint ist: Jedermann, Jedefrau … Jedermensch!

„Das, was mich am Männerspie­ len interessiert, ist gar nicht das Männerspielen“

Genau. Mann und Frau müssten die Rolle spielen. Der Gedanke kam mir, als ich Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek im Jedermann sah. Die beiden sind ein so starkes Spielteam! Die könn­ ten sich einfach Szene für Szene abwechseln. Ein Kostüm – und fertig. Das würde ich sehr gerne sehen. Denn wenn lediglich eine Frau den Jedermann spielt, gut, dann dreht man es ein­ fach um. Ich finde sowieso: Das, was mich am Männerspielen interessiert, ist gar nicht das Männerspielen. Gleichzeitig müssten Männer Frauen spielen und zwar nicht im Kleid, son­ dern genauso unkommentiert, wie ich Männer spiele. Das würde ich gerne mal erleben: zwischen den Geschlechtern wechseln zu können, ohne das Stück aufschneiden zu müssen, um Texte irgendeines Philosophen zu integrieren. Man sollte Themen einfach als Mensch beleuchten können und mit den Geschlechtern jonglieren. Sie haben 2002 an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin auch mit einer Männerrolle vorgesprochen. Leonce und Frau Tod. (lacht) Warum diese Rollen? Frau Tod gefiel mir, weil die Rolle so griffig geschrieben ist. Sie stammt aus George Taboris Stück „Mein Kampf“. Bei meinem ersten Auftritt sagte ich: „Guten Tag, ich suche einen Herrn Hotler oder Hutler, nein, oder Hitler.“ Das gefiel mir gut.

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Und bei Leonce dachte ich tatsächlich – ich hatte damals noch nicht viel Theater geschaut –, dass es völlig normal ist, wenn Frauen Männerrollen spielen. Ihre erste große Rolle allerdings war wie gesagt Ophelia in der Hamletmaschine. Da waren Sie 27. Ophelia, „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis“. Eigentlich genau das Gegenteil der klassischen ­bürgerlichen jungen Frauen wie Goethes Stella, die Sie 2011 am Schauspiel Frankfurt spielten. Was ist das für ein Gefühl, relativ jung so eine Rolle zu bekommen. Da muss ich etwas weiter ausholen: Ich war 22, als ich auf die Schauspielschule kam. Vier Mal hatten sie mich zuvor getestet. Am Ende wurde mir gesagt: „Wenn wir zehn von deiner Sorte aufnehmen, können wir die Schule schließen. Aber eine leisten wir uns.“ So wurde ich angenommen. Auf Probe für ein halbes Jahr.

Auf Probe an der Hochschule für Schauspiel­ kunst Ernst Busch

Warum waren die Prüfer so zögerlich? Ich hatte schon ein bisschen was gesehen vom Leben. Frau Tod und Leonce fanden sie gut. Aber sie sagten: „Komm nochmal wieder und sprich eine Russin vor. Die Mascha aus der Möwe“. Ich habe versucht, die Rolle zu lernen, hatte aber überhaupt keine Lust. Also habe ich mir den Kopf rasiert und einen Text geschrieben: „Die Welt ist eine Schauspielschule und auf den Fluren treffen wir uns alle wieder, bevor wir die Türen schlie­ ßen, hinter denen wir unsere Rollen spielen.“ Ich habe mich auf die Bühne gesetzt und diesen Text gesprochen. Die Prüfer sagten: „Der Text ist gut, aber hier werden nun mal keine Schriftsteller ausgebildet. Wir sind uns nicht sicher, ob man aus dir eine Schauspielerin machen kann. Und wir machen hier Schauspieler. Aber lass es uns versuchen.“ Ich hatte auf der Straße gelebt, ich habe in Palästina gelebt, habe Puppenspiel

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studiert und kam an diese Schauspielschule mit dem Wunsch, Theater so zu machen, wie ich es mir vorstelle. Und nicht so, wie ich es dann ziemlich schnell kennenlernte. Ihr Lebenslauf entspricht tatsächlich nicht dem „üblichen“ Schema. Sie wurden 1980 in Kasan geboren. Als Sie acht Jahre alt waren, wanderten Sie mit Ihrer Mutter nach Deutschland aus, in die Nähe von Kiel. Haben Sie Erinnerungen an Kasan? Ich habe eine Wohnung dort geerbt.

Erinnerung an Kasan

Von Ihren Eltern? Nein. Meine Urgroßmutter und meine Großmutter haben dort gewohnt. Die Wohnung liegt sechzig Kilometer von Kasan ent­ fernt auf dem Land. Seitdem ich sie besitze und immer wieder Zeit dort verbringe, wird mir bewusst, wie sehr die Jahre, in denen ich als Kind in Russland gelebt habe, von den Um­ brüchen geprägt waren. Die Perestroika begann ja 1986. Sie sind in die letzten zwei Jahre der Breschnew-Ära hineinge­ boren worden. In diese Zeit fällt die Eskalation des Afghanistankriegs nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 sowie die Gründung und das Verbot der Solidarnosc ´´ in Polen. 1985 wurde Michail Gorbatschow neuer Generalsekretär. Die Reformen setzten ein. Ich erinnere mich sehr gut an die Struktur des Zusammen­ lebens, als ich Kind war. Und vor allem an die wenigen Waren, die es gab. Man hat alles selbst gemacht. Noch heute näht meine Mutter meine Kleidung. Die Erinnerung daran, wie sehr das Stadtbild davon geprägt war, dass Frauen sich ihre Klei­ dung selbst nähen, ist mir noch heute präsent. Wie anders eine Stadt wirkt, wenn eine Frau sich über ihren selbstgemachten Stil äußert. Die Frauen sind sehr jung Mutter geworden, teils mit 19, aber gleichzeitig haben sie sich duelliert, in der Art und

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Weise des Nähens oder der Verwendung bestimmter Stoffe, die man gelagert und ausgetauscht hat. Überhaupt das Lagern! Das ist mir erst bewusst geworden, als ich die Wohnung meiner Oma ausgeräumt habe. Sie hatte alles aufbewahrt, all die Dinge aus dem Sozialismus: Gläser, Watte, Zucker, Salz, Streichhölzer … Wie ein Archiv Ihrer Großmutter … … und dieser Zeit. Jeder hatte seinen kleinen Garten und sei­ nen eigenen kleinen Krämerladen. Woran ich mich auch sehr gut erinnere, sind die Momente, in denen eine ganze Stadt Marmelade kocht.

Nachlass von Valery Tscheplanowas Großmutter in Kasan

Eine ganze Stadt kocht Marmelade

Das roch man?

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Ja. Man erntet, alle kaufen Zucker, und dann kochen alle inner­ halb von zwei Wochen Marmelade. Die Erinnerung an solche kollektiven Aktionen, die völlig selbstverständlich abliefen, ist mit den Jahren stärker geworden. Warum? Ist das etwas, das Sie heute vermissen? Ja, ich kann sagen, ich vermisse es. Mir war auch völlig fremd, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, zwischen Männern und Frauen einen Standes­ unterschied oder einen gesellschaftlichen Wertunterschied zu sehen. Das ist mir erst mit 25 am Theater bewusst geworden. Aufgrund der Rollen, die Sie zu spielen hatten? Und aufgrund des Umgangs. Gleichzeitig war mir nicht klar, von wem das ausgeht. Vom Intendanten? Von den Regisseu­ ren? Vom Publikum, das diese Rollen erwartet? Oder eventuell sogar von den Frauen selbst, die das ausstrah­ len. In der Clique meiner Eltern, Männer wie Frauen, gab es das nicht. Zumal die Gehälter von meinem Vater und meiner Mut­ ter, generell zwischen Frauen und Männern im Sozialismus, relativ gleich waren. Auch zwischen meiner Großmutter und meinem Großvater gab es keine Hierarchien. Es gab kein Familienoberhaupt? Nein. Überhaupt nicht.

Kult der physikoder chemie­ affinen Frauen

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Und in der Schule? Nein, auch dort ist mir nicht aufgefallen, dass zwischen Mäd­ chen und Jungen Unterschiede gemacht worden wären. Es gab sehr oft Direktorinnen. Die Mutter meines Vaters, der Mathe­ matiker war, war ebenfalls Mathematikerin. Es gab einen Kult


Valery Tscheplanowa und ihre Lehrerin in der ersten Klasse

der physik- oder chemieaffinen Frauen in Russland. Als ich Kind war, war es gang und gäbe, bevor man in die Schule kam, schon Rechnen zu können. Sie waren sehr gut in Mathe. Genau. Das war wie ein Spiel: das Einmaleins zu können, bevor man Lesen konnte.

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Kasan ist die Hauptstadt der heute autonomen Republik Tatarstan und gilt als ein wichtiges Zentrum des russischen Islams. Wie haben Sie die Stadt damals erlebt? Als ich Kind war, war die Regierung Tatarstans in russischer Hand, das heißt, Russisch war Amtssprache. Während des Zer­ falls der Sowjetunion erklärte sich Tatarstan 1990 zur souve­ ränen Republik. Jetzt ist auch Tatarisch Amtssprache und wird schon in der Schule gelehrt.

Von einer sowjetischen zu einer muslimi­ schen Stadt

Sprechen Sie Tatarisch? Nein. Die Sprache hat auch keine Nähe zum Russischen, geht eher in Richtung Türkisch. Kasan ist inzwischen eine musli­ misch geprägte Stadt. Es gibt keinen Alkohol auf der Straße. Die Stadt hat sich verändert. Ja. Es gibt sehr viel mehr Moscheen. Die Religion, also der Islam, und der Familienverbund, so erzählen es Freunde meiner Mut­ ter, die dort leben, sind in den Vordergrund gerückt. Als ich Kind war, stand das Soziale im Vordergrund. Oder der Versuch des Sozialen, vor allem auf der Arbeit. Meine Mutter hat an der Universität unterrichtet, das war hauptsächlich ihr Lebens­ raum. Wir Kinder gingen zwar in den Kindergarten, wurden aber auch sehr oft auf die Arbeit mitgenommen. Sie haben 2015 in der Produktion The Dark Ages von Milo Rau am Residenztheater München, in der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler aus Bosnien, Deutschland, Russland und Serbien ihre persönlichen Lebensgeschichten erzählen, davon berichtet, wie sich zu Perestroika-Zeiten alles plötzlich umkehrte und durcheinander geriet. Ihr Onkel musste mehrere Jobs annehmen. Wie wirkte sich die Politik auf Ihre Familie aus? Ich empfinde es wirklich als Glück, dass ich eine Zeit mit­ bekommen habe, in der die Auswirkungen der Krise noch nicht

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Straße in der Nähe von Kasan

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Heimliche Taufe

so stark spürbar waren. Kasan ist nicht Moskau und nicht Sankt Petersburg, es liegt tief in Russland. Das heißt, der Sozia­ lismus, der dort gelebt wurde, war von den Leuten hand­ gemacht. Spürbar wurde der Druck des Systems nur in be­ stimmten Bereichen. So war die Ausübung von Religion verboten. Ich bin zum Beispiel heimlich getauft worden, meine Urgroßmutter hat lange gespart, um mit mir nach Kasan zu fahren und mich in einer verdunkelten Kirche taufen zu lassen. Das wusste, bis ich zwanzig war, niemand. Nicht einmal Ihre Mutter? Nein. Das war ein Geheimnis zwischen meiner Urgroßmutter und mir. Sie wurde 1914 geboren. Bei meiner Geburt war sie 66 Jahre alt, meine Oma war 44 und meine Mutter 22. Eigent­ lich hatte nur meine Urgroßmutter wirklich Zeit für mich. Ich war sehr viel bei ihr auf dem Land. Dort bekam ich eine nahezu jenseits des politischen Systems lebende Dorfgemeinschaft mit – meine Oma konnte kaum Lesen und Schreiben –, in der sich die Menschen untereinander organisierten. Diese außer­ halb des Sozialismus stehende Dorfstruktur stand der Partei­ struktur in der Stadt gegenüber. Meine Mutter arbeitete, wie gesagt, an der Universität, meine Großmutter in einer Psychia­ trie. Später bekamen wir heraus, dass es sich dabei um eine Strafpsychia­trie handelte. Für Menschen, die eingeliefert wurden, weil sie politisch „unbequem“ waren? Erschreckend, dass wir davon nichts wussten. War sie Psychiaterin? Nein. Oberkrankenschwester. Aber zu Hause sprachen wir nie­ mals darüber. Meine Mutter hat meine Großmutter sehr viel später vor ihrem Tod noch befragt und darüber ein Hörspiel

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­ emacht. Das ist also auch ein Teil dessen, was unser Leben g war: Tägliche Lügen oder tägliches Verschweigen, es war spür­ bar, lag in der Luft, aber erst, als ich Mitte dreißig war, erfuhr ich davon.

Tägliche Lügen oder tägliches Verschweigen

Sie selbst haben nie mit Ihrer Großmutter darüber gesprochen? Nein. Bedauern Sie es heute? Ja. Ich hätte sie sehr gerne noch befragt. Ich bin froh, dass meine Mutter es noch geschafft hat. Und Ihr Onkel, von dem Sie in The Dark Ages erzählen? Er ist, glaube ich, nicht in die Partei eingetreten und hatte dann Schwierigkeiten an seiner Arbeitsstelle. Das sorgte für inner­ familiäre Querelen zwischen denen, die Arbeit hatten, und meinem Onkel, der keinen Fuß fasste im System. Im Nachhinein glaube ich, dass viele familiäre Konflikte eigentlich politische Konflikte waren. Abseits dieser ganzen Verschwiegenheit gab

Sowjetische Erntegruppe 1977

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es aber auch hier Dorfstrukturen, die sich bis in die Stadt zo­ gen. Ich habe hier in Deutschland eine ganze Weile gebraucht, um zu verstehen, wie sehr ich das vermisse. Die Verlässlichkeit des Kollektivs? Ja. Wir haben anfangs über Salzburg gesprochen. Das Schönste für mich war, dort solche Strukturen zu sehen. In einem kleine­ ren Verbund ist das lebbar. Auch in Berlin ist das lebbar, aber es bedarf der Mühe, es aufzubauen. Ich erinnere mich noch, wie wir alle drei Monate mit einem Bollerwagen Kartoffeln holen gingen, die dann im Keller eingelagert wurden. Oder wie wir befruchtete Eier kauften, um Küken auszubrüten. Man kaufte also nur das Rohmaterial und nichts Verarbeitetes. Es gab keine Plastiktüten, nur Glasmilchflaschen. Eine meiner zentralsten Erinnerungen ist der Brunnen und das Wasser, das wir nach Hause trugen. Ich glaube, dass einer der extremsten Aspekte der körperlichen Entfremdung der Umgang mit Wasser ist. Es kam nicht einfach aus dem Wasserhahn. Wir mussten es holen, einmal am Tag, auch ich hatte ein kleines Tragjoch aus Holz. Wir tranken das Wasser, wuschen damit das Geschirr ab, mit dem Geschirrwasser wuschen wir noch den Fußboden. Dieser Umgang mit dem Wasser verändert den Umgang mit dem Kör­ per und auch den Umgang mit Dingen. Das ist etwas, das ich im westlichen Leben am schwierigsten finde. Wer einen Wasseranschluss hat, weiß nicht, was es heißt, wenn das Wasser aufgebraucht ist und man mittels seiner eigenen Körperkraft neues holen muss. Es mangelt an einem Verständnis, dass Ressourcen auch zu Ende gehen können. Dennoch haben Sie in The Dark Ages erzählt, dass das Wasser Sie als Kind krank gemacht hat. Das war die andere Seite. Die Stadt. Die Wasserleitungen waren marode, viele Menschen hatten Nierensteine. Kinder und ältere Menschen waren hauptsächlich davon betroffen. Es gab keine

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Kontrollinstanz für die Qualität des Wassers, auch nicht in Be­ zug auf Fleisch. Man sagte unter der Hand, dass in der Wurst Papier sei. Bereits als Kind erlernte man das Misstrauen gegen­ über der Regierung. Es lag ein fatalistisches Gefühl in der Luft. Ein Gefühl, dass alles jederzeit zusammenbrechen könnte? Ja. Und auch, dass wir nicht wussten, wohin es dann geht. Die Menschen waren sich bewusst, dass Teile der Utopie, die sie versucht hatten zu leben, tatsächlich auch gelebt wurden. Gleichzeitig spürten sie, dass der sehr viel größere Anteil, der über den Staat lief, aufgrund der überall grassierenden Korrup­ tion zusammenbrechen würde. Was dann ja auch geschah. Ich weiß noch, wie wir, als ich acht war, mit Taschen voller Geld Tomaten kaufen gingen. Die Tasche mit dem Geld war genauso groß wie die Tasche mit den Tomaten, die man im Tausch be­ kam. Die Währung war komplett eingebrochen. Die einen ver­ loren ihr Erspartes, die anderen ihre Schulden. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung von Freude und Entsetzen. Alle kauften Fahrkarten, weil sie eine Form von Währung wurden. Plötzlich waren alle Tickets in privater Hand. Man begann, ­Zucker oder Salz oder Land aufzukaufen, um damit zu handeln. Die Unsicherheit darüber, wie man sich absichern könnte, machte die Menschen feinnervig, das spürte ich sogar als Kind. Auch Freundschaften oder Familien zerbrachen daran. Selbst als Kind musste man Flagge zeigen.

„Es lag ein fatalistisches Gefühl in der Luft“

In der Schule? Nein, in der Familie. Meine Mutter und mein Vater trennten sich zum Beispiel. Ihre Mutter traf dann irgendwann die Entscheidung zu gehen. Das war ihr Instinkt. Ich war kränklich, es gab keine Ärzte, de­ nen wir vertrauten. Sie spürte, dass es Zeit war zu gehen.

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Mit einem Alleinunter­ halter nach Deutschland

Schleunigst. Dann traf sie auf einem Kreuzfahrtschiff einen Alleinunterhalter. Ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff. Ich nenne diesen Moment unsere Groschenromanepisode. (lacht) Ich hatte mit meiner Mutter einige Konflikte, ob ich davon überhaupt erzählen soll. Aber dahinter stehen ja ganz grund­ legende Fragen: Warum kommt man in ein anderes Land? Und wie? Mit welchen Mitteln? Dieser Vorgang ist unter Umstän­ den mit Scham verbunden. Ich finde es aber wichtig, darüber zu sprechen. Denn diese Scham ist da. Als ich jünger war, habe ich mich immer wieder gefragt: Warum bin ich hier? Ich habe mich, als wir aus Russland aufbrachen, aggressiv dagegen ge­ wehrt. Da war ich acht. Sie wollten bleiben. Ja. Vor allem bei meiner Uroma, sie war mein Zentrum. Ich habe ihr damals gesagt, wir werden im Westen nichts anderes finden. Jetzt, mit vierzig, kann ich sagen, wir haben nichts an­ deres gefunden. Kürzlich war ich in Kasan im Theater, Molière auf Tatarisch, das war eine gute Aufführung, die ich vergleichen kann mit einer Aufführung am Residenztheater München, ­einer besseren. Wären wir in Russland geblieben, hätte ich dort sicherlich auch Theater gespielt und wäre irgendwann nach Moskau gegangen. Ich bin sehr froh, dass ich mich dort so ­sehen kann. In einem Parallelleben, das, wenn frühere Entscheidungen ­anders getroffen worden wären, auch denkbar ist. Ja! Ich kenne Leute dort, auch Theatermacher, ich kann mir eine Biografie dort vorstellen. Sie wäre von anderen Geschich­ ten geprägt.

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Verwandte von Valery Tscheplanowa in Kasan

Würden Sie sagen, dass Sie es in diesem Parallelleben einfacher gehabt hätten? Nein. Es hätte bloß andere Schwierigkeiten gegeben und an­ dere Vorteile. Seitdem ich mehr und mehr über das Leben in Kasan weiß, denke ich viel weniger darüber nach, dass ich in Deutschland Ausländerin bin. Ich empfinde mich nicht mehr als solche. Ich bin mit zwei Sprachen aufgewachsen, das unter­

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scheidet mich. Ich bin mit zwei Landschaften aufgewachsen, das unterscheidet mich. Es bringt mich in die Bredouille, mit­ unter zwei verschiedene Impulse zu verspüren, denen ich nach­ gehen will, die ich dann auslote und verwandle. Entscheide ich mich für beide? Oder nur für einen? Aber ich empfinde mich nicht mehr als Russin in Deutschland. Das haben Sie aber lange getan? Ja. Ein Gefühl von Fremdheit? Ja. Und immer wieder die Frage: Warum bin ich hier? Warum bin ich umgezogen? Die Freunde meiner Mutter sind durch die harte Zeit in Russland durchgegangen. Eine wichtige Freundin meiner Mutter ist Dozentin und Dichterin, dann gibt es noch einen Mikrobiologieprofessor, der sich auch politisch positio­ niert hat. Es entsteht ein Bruch in der Biografie, wenn jemand geht und von Null anfängt. Besonders für meine Mutter war es sehr schwierig, ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt, sie musste alles wiederholen und wurde extrem zurückgeworfen. Ich habe, als ich am Schauspiel Frankfurt gearbeitet habe, ­Stella auf Russisch gespielt. Privat? Ich habe das Stück für mich übersetzt und geschaut, wie ich die Rolle auf Russisch spielen würde. Plötzlich gab es eine ­doppelte Stella. Wie ist die russische Stella? Härter? Wobei ich auch Ihre deutsche Stella als sehr stark empfand. Das ist das Thema: Was ist Verletzlichkeit, und wie zeige ich sie? Verletzlich sind wir doch alle. Da ist die Angst, sich einem anderen Menschen zu offenbaren und zurückgestoßen zu

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­ erden für das, was man ist. Wie explizit stelle ich diese Angst w dar? Und mit welchen Mitteln? Tue ich es über Ironie, über ­Understatement, über Humor, über Stille, über Geduld? Oder verausgabe ich mich in der Entäußerung? Was ich in Deutsch­ land anfangs nicht fand, war diese Art der Verausgabung. Das heißt, ganz praktisch, wenn Menschen in Runden zusammen­ saßen, stellte ich irgendwann fest: Ha, die singen und die wei­ nen nicht! Ich dachte, irgendwie hängt das zusammen. Man sitzt zusammen, trinkt Wein, genießt die Zeit – und plötzlich ist es zwei Uhr. Was dann? Man geht auseinander. Aber durch dieses Auseinandergehen passiert „etwas“ nicht. Das ist für mich der grundsätzliche Unterschied. Was ist dieses „Etwas“, das dann nicht passiert? Für mich hat es tatsächlich mit der Musik zu tun und dem Stellenwert, den Musik in einer Gesell­ schaft hat. Ich empfinde Musik in der deutschen Gesellschaft als deklinierten Kunstvorgang. Man geht irgendwo hin und hört sich Musik an. Aber dieses Machen von Musik, die Selbst­ verständlichkeit, dass jeder aus dem Stand eine Stunde singen kann! Meine Großmutter und mein Großvater konnten das.

„Deutsche singen und weinen nicht“

Das Repertoire war da. Ja. Sie hatten einfach ein festes Repertoire, das sie unter Um­ ständen ein Leben lang sangen. In Deutschland haben viele Volkslieder durch die Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich einen bitteren Beigeschmack. Dadurch, dass man nicht singt, öffnen sich die Schleusen nicht. Was passiert in Deutschland? Wir haben uns alles erzählt, und plötzlich entsteht ein Raum von Scham und Schweigen. Ich kam in Deutschland immer wieder an den Punkt, wo sich gemein­ same Zusammenkünfte plötzlich auflösten. Stattdessen ist hier der reflektierende Raum sehr viel mehr ausformuliert, die Fähig­ keit der Selbstbeobachtung, was ja auch ein Genuss ist. Auch

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das Verhältnis zum Gefühl ist viel reflektierter, bewusster. Ich bin in einem sehr emotionalen Raum aufgewachsen und war hier dann damit konfrontiert, Bewusstheit zu erlernen. Wer mir dabei half, war Max Frisch. Den habe ich mit 14 entdeckt. Stiller und Mein Name sei Gantenbein waren wirklich meine Bibeln.

Hilfe von Max Frisch

Es ist fantastisch, wenn man sich über Literatur eine Kultur erschließen kann. Ich brauchte das auch. Weil: Niemand erklärt es einem. Und als Kind beziehungsweise Jugendliche ist das, was Sie eben beschrieben haben, vielleicht auch nur ein diffuses Gefühl. Du spürst, dass irgendetwas fehlt, gleichzeitig weißt du aber auch nicht, wie das, was da ist, funktioniert. Stiller war in die­ sem Negieren von Persönlichkeit – „Ich bin nicht Stiller!“ – für mich eine Revolution! Das war meine Pforte in die deutsche Gesellschaft. Ich trug große Kämpfe aus, war aber auch froh um die Verwandlung. Weil Sie vorhin von Weltwissen sprachen: Dieses Wissen verorte ich auf dem Land. Auch ein Schauspieler und Autor wie Sepp Bierbichler verfügt darüber. Josef Bierbichler, der in Ambach, einem Dorf am Starnberger See lebt. Für mich war es immer fantastisch, solche Menschen zu tref­ fen, weil ich davon satt wurde. Da war etwas, woran ich an­ knüpfen konnte. Trotzdem empfand ich früher – heute ist das anders – immer auch Scham. Da trifft meine Mutter auf einem Kreuzfahrtschiff einen 22 Jahre älteren Alleinunterhalter, des­ sen Karriere unter die Räder gekommen ist, der früher mal in New York war, toll Saxofon spielte, Platten gemacht hat und nun auf diesem Kreuzfahrtschiff „Hier kommt der Eiermann“ singt. Der einen himmelblauen Smoking mit Seidenrevier trägt, ein Meter neunzig groß ist und sich in meine Mutter ver­

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liebt. Der ein Jahr jünger ist als meine Großmutter und auch sie ganz schnuckelig findet, dann aber zu meiner Mutter sagt: „Okay, kommt mit!“ Meine Mutter war eine fantastisch geklei­ dete, glamouröse Frau, die halb Kasan den Kopf verdreht hatte. Und plötzlich fanden wir uns in einem Haus in einem Kuhdorf an der B77 wieder, gegenüber ein Misthaufen und eine Schweine­ mast. Das war wirklich kein Aufstieg. Wo genau war das? In Remmels. Das ist mitten in Schleswig-Holstein, zwischen Itzehoe und Rendsburg. Nicht sehr romantisch. Für meine Mutter war das ein rapider Lebensqualitätsabfall. Sie kam aus der Stadt, hatte ein Leben mit Maniküre, Pediküre, Massage geführt. Die Entscheidung zu bleiben oder nicht war richtig kompliziert. In Russland brach alles zusammen. Dennoch kehrten wir 1990 noch einmal zu­ rück, ich wurde wieder eingeschult, in die dritte Klasse, meine Mutter fing wieder an zu arbeiten. Künstler gab es in meiner Familie nicht, aber die Gegenwart von künstlerischem Schaffen war jeden Tag zu spüren. Fast jeder hat gemalt, musiziert, Ge­ dichte geschrieben, meine Mutter hat Maria Stuart gespielt und ist mit ihren Studienkollegen getourt.

Zurück nach Russland

Als Laiengruppe? Ja. Einmal haben sie zwei Wochen lang nur in Versen gespro­ chen. Es gab keine Trennung zwischen den Künstlern dort in Moskau und uns, die wir brav unseren Job machten. Es gab kein YouTube und wenige Kinos, das heißt, auch auf diesem Gebiet hat man vieles selbst gemacht. Das war der erste Schock, als wir nach Deutschland kamen: zu sehen, dass alle irgendwie in ihren Häusern sitzen und ich auch nicht so genau

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Valery Tscheplanowa und der Alleinunter­ halter Horst Karl Johnny Lubitz

wusste, was sie da machen – außer fernsehen. Natürlich gab es auch bei uns Fernseher, aber geschaut haben wir nicht viel. Das hat sich natürlich auch in Russland komplett gewandelt. Die ganze Kultur des Selbermachens ist längst kaputt. Aber da­ mals kamen wir eben aus dieser sehr lebendigen Alltagskultur. Daher wahrscheinlich auch die Rückkehr nach Russland nach eineinhalb Jahren. Warum sind Sie dort nicht geblieben? Weil wir nach einem halben Jahr merkten, dass die Umbrüche nun wirklich einsetzten. Zudem wurden wir aufgrund unserer Westkontakte sehr beäugt. Meine Großmutter bekam Probleme auf der Arbeit. Es entstand wirklich Spannung, sodass ­meine Mutter entschied: Okay, wir gehen und bleiben in Deutschland!

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Zurück also nach Remmels. Zurück nach Remmels. Sie hatte entschieden, dass wir da jetzt durchgehen. Sie hat angefangen, ihre Abschlüsse nachzu­ machen, intensiv Deutsch zu lernen. Es war schwer, den Weg in die Gesellschaft zu finden. Zum Glück hat sie in Kiel eine wun­ derbare Frau kennengelernt, die ihr geholfen hat. Sie hat dann als Simultandolmetscherin gearbeitet, als Übersetzerin. Und ich musste mich darauf einstellen, nun in Deutschland zu ­bleiben.

Endgültig Remmels

Sie haben mal erzählt, dass Ihre Mutter von heute auf morgen aufgehört hat, mit Ihnen Russisch zu sprechen. Stimmt. Für mich war damals der Wechsel ins Gymnasium sehr wichtig. Tatsächlich war es wieder die Literatur, die mir half. Ich ging auf ein altsprachliches Gymnasium, die Kieler Gelehrtenschule, wo es einen enorm tollen Lateinlehrer gab. Er war mein Anker. Durch ihn kam ich wirklich an. Alles an­ dere davor war scheues, sehr zurückgezogenes Lernen. Er ­entdeckte, dass ich relativ schnell lerne und eine Affinität zu Sprachen habe. Mit ihm übersetzte ich Ovid, und tatsächlich war er es, der mit mir das erste Stück inszenierte – in lateini­ scher Sprache! Das erste Mal auf der Bühne stand ich also mit 14 Jahren. Auf Latein!?! Genau! Er war auch der erste Mensch, der mir sagte, ich könne Schauspielerin werden. Im Nachhinein ein unglaublicher Satz! Er sagte: „Du kannst das. Du hast aber ein Problem: Du bist entweder sehr gut oder sehr schlecht.“ Das finde ich enorm! Denn genau so ist es. Es muss für mich ganz viel stimmen im Theater, denn sonst bin ich teilweise nicht lesbar. Die Theater­ kritikerin der Süddeutschen Zeitung, Christine Dössel, sagte bei

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einem Interview zu mir: „Wo waren Sie denn in Frankfurt? Ich habe Sie nicht bemerkt! Dann sah ich Sie in Zement in Mün­ chen und dachte: Wo war diese Frau …“ … all die Jahre. Wir stellten dann fest, dass sie mich in Frankfurt mindestens drei, vier Mal gesehen hat. Ich war aber nicht lesbar. Und das hat mein Lehrer irgendwie schon gerochen. Es war eine irrsin­ nig beglückende Zeit. Dann aber passierte etwas, das ich über­ haupt nicht erklären kann: Ich bekam Lachanfälle.

Lachanfälle in der Schule

Beim Theaterspielen in der Schule? Nein, im Unterricht. Das klingt jetzt lustig, aber es war über­ haupt nicht lustig. Es war nicht abzustellen? Ich saß im Unterricht und fing an zu lachen. Aber nicht, weil ich es lustig fand. Es war wirklich unangenehm. Ich musste regelmäßig den Raum verlassen. Die Lehrer waren total ent­ setzt, denn ich war das bravste Kind, das man sich vorstellen konnte, sehr still. Alle waren ratlos, auch ich. Meine Mutter meinte, das verwächst sich. Ich fing an, immer mehr zu schwänzen und immer mehr zu schreiben, und entwickelte eine eigene Welt, eine Parallelwelt. Meine Mutter arbeitete sehr viel, ich war auf mich allein gestellt, ging teilweise wo­ chenlang nicht in die Schule. Bis die Situation irgendwann überkochte und ich auf den hanebüchenen Gedanken kam auszubüchsen. Wie alt waren Sie damals? 16 ½? Ich ließ meinen Schlüssel da, meine Bankkarte. Ich hatte, glaube ich, noch zehn D-Mark und fuhr damit nach Hamburg. Von dort ging es weiter.

Valery Tscheplanowa und Ensemble in Zement, Regie: Dimiter Gotscheff, Residenzthea­ ter München 2013

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Das System des Trampens

Per Anhalter? Ja. Ich trampte zunächst nach Berlin, fing an, auf der Straße zu singen, was überraschend gut funktionierte, bekam aber auch ziemlich schnell Angst. Die Stadt war mir zu groß. Nachdem ich eine Nacht in einem Hauseingang geschlafen hatte, ging es weiter nach Düsseldorf. Ich verstand das System des Trampens recht fix. Lastwagenfahrer geben einen untereinander weiter, telefonieren kurz mit einem Kollegen, damit man an der nächs­ ten Raststätte umsteigen kann. In Düsseldorf schlief ich eben­ falls in Hauseingängen, die man übrigens relativ leicht findet, wenn man schaut, wo Türen offen sind. Auch in den oberen Etagen, die zum Dachboden führen und ungenutzt sind, lässt sich gut übernachten. Erzählenswert ist aber Köln: Dieser Aufenthalt war wirklich magisch und veränderte meine Wahrnehmung von Welt. Auch dort verdiente ich Geld mit Singen und Zeichnen auf der Straße. Plötzlich blieb ein kleiner Junge vor mir stehen, der unbedingt meine Zeichnung kaufen wollte. Der Vater ließ sich überreden. Ein paar Stunden später traf ich die beiden in der U-Bahn. Der Vater sagte: „Du siehst irgendwie heimatlos aus.“ Sie fuhren gerade zu einem Fest und luden mich einfach ein mitzukom­ men. Das Fest wurde von zwei Sängerinnen veranstaltet, die mich sofort sehr herzlich aufnahmen. Sie ließen mich ein paar Tage bei sich wohnen und gaben mir zum Schluss zweihundert D-Mark. So großzügig! Ähnliches passierte mir wenig später, als ich wieder auf der Straße sang. Ein Paar kam auf mich zu. Sie meinten: „Du singst unter unserem Fenster. Hast du eine Bleibe?“ Ich sagte: „Nein.“ Also nahmen sie mich mit nach Hause. Hatten Sie nie Sorge, dass Sie an die falschen Leute geraten? Ich hatte damals ein merkwürdiges Erscheinungsbild. Ich hatte kurzrasiertes rotes Haar und eine komische, hässliche Brille,

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war ziemlich mager, das heißt, ich war nicht hübsch, hatte keinerlei weibliche Symbole. Dieses Feld war für mich damals noch unbekannt. Die Mädchen in meiner Klasse waren da schon viel weiter. Ich nahm das aus den Augenwinkeln wahr, hatte aber selbst noch keine Erfahrungen in dieser Hinsicht. Deshalb ist mir wahrscheinlich nichts passiert. Irgendwann kam auf der Straße ein Junge mit Behinderung auf mich zu, der zwei unglaubliche Dinge sagte. Er fragte: „Singst du oder übst du?“ Ich sagte: „Ich übe.“ Darauf sagte er: „Es gibt ein Problem mit dir. Du hast ein Gesicht, das nicht nach dem aus­ sieht, was in dir drin ist. Ziemlich viele Leute werden das missverstehen, und es wird lange dauern, bis du es überein bekommst.“

Valery Tscheplanowa im Alter von 17 Jahren

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Ja, es gibt Menschen, die verfügen irgendwie über einen siebten Sinn. Und wie sie sich ausdrücken! Ich habe später viel mit Spielern mit Behinderung gearbeitet. Diese Begegnung war eine Vor­ ahnung. Die letzten beiden Erlebnisse auf dieser Reise waren indes etwas zwielichtig. Die erste seltsame Situation hatte ich mit einem türkischen Mann, der mir einen Schlafplatz anbot. Er fuhr mich durch die ganze Stadt, brachte mich in eine ­Wohnung, zog mich ganz schnell in sein Zimmer, schloss die Tür ab und schob einen Schrank davor. Oh! Er wohnte mit seiner Mutter zusammen. Da dachte ich zum ersten Mal: Ja, es hat auch Gefahren, was ich hier treibe. Schlussendlich spielte er mir nur auf seiner Sitar vor. Dabei erzählte er mir, dass auch er auf der Straße gelebt hatte – um Jesus zu suchen. Gefunden habe er ihn nicht beziehungs­ weise erst später, als er feststellte, dass er im Nachbarhaus wohnt.

Jesus in Köln

Ach, Jesus wohnt in Köln! Ja, getroffen hab ich ihn leider nicht. Später lernte ich einen Künstler kennen, der irgendein Großprojekt fürs Millennium vorbereitete. Auch bei ihm habe ich einige Zeit verbracht. Plötzlich aber, wir saßen gerade im Auto, überkam es mich. Ich sagte: „Ich möchte jetzt aussteigen!“ Ich bin ausgestiegen und habe meine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass ich nach Hause komme. Ihre Mutter muss tausend Tode gestorben sein. Ich habe Ewigkeiten nicht gefragt, was sie während dieser Zeit gemacht hat.

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Sie haben sich auch zwischendurch nicht gemeldet? Nein, nichts. Drei Wochen lang. Einfach verschollen. Ich wusste einfach nicht, wo lang. Ich hatte eigentlich vor, in eine akade­ mische Richtung zu gehen, Journalistin zu werden. Das war vorgezeichnet. Die einzige künstlerische Person in meinem Umfeld war Samir Odeh-Tamimi. Er ist Komponist. Ich hatte ihn kennen­ gelernt, als er 24 Jahre alt war und ich 14. Er war die einzige Person in meinem Umfeld, die mir zeigte, dass auch eine künstlerische Laufbahn lebbar ist. Es gab keinen Vater, deshalb brauchte ich diese Bestätigung von der Außenwelt, von diesen beiden Sängerinnen in Köln, die mir das Gefühl gaben dazu­ zugehören, letztlich auch von diesem Künstler in Köln, der mich so selbstverständlich erkannte. Nach dieser Reise hatte ich ein anderes Gespür für meine Möglichkeiten. Ich entschied, auf die Palucca Schule in Dresden zu gehen. Ich verließ das Gymnasium vor dem Abitur, was schrecklich für meine Mutter war, und ging nach Dresden. Da war ich 17. Sie hatten zuvor nicht getanzt. Warum wollten Sie gerade auf die Palucca Schule, die ja in zeitgenössischem und klassischem Tanz ausbildet? Ich hatte auf der Straße gelernt, ganz willkürlichen Impulsen zu folgen. Zum Beispiel, gegen Türen zu drücken und zu m ­ er­ken: Ah, die gehen auf. Ich hatte eine kleine Annonce der Palucca Schule in einer Zeitschrift gesehen und einfach hingeschrie­ ben. In die Schauspielschule traute ich mich noch nicht. Sie ­luden mich tatsächlich ein. Ich dachte, die nehmen mich nie und nimmer! Trotzdem fuhr ich hin. Während des Improvisa­ tionsteils bei der Aufnahmeprüfung merkte ich plötzlich, dass den Prüfern offenbar gefällt, was ich mache. Sie nahmen mich auf – auf Probe, wie sie sagten. Ich war dort ungefähr sechs, sieben Monate. Nach einem halben Jahr sollte ich Spitzentanz

Palucca Schule in Dresden

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­ usprobieren, und da merkte ich schon: Hm, das wäre jetzt a mutig ohne Vorbildung.

Fantastische Jahre: die Kleinkunst­ szene in Dresden

Ich würde sowieso infrage stellen, ob klassisches Ballett in seiner Formstrenge etwas für Sie gewesen wäre. Die Palucca Schule ist natürlich eine sehr freie Schule, aber mir fehlte die Sprache. Gerade der Improvisationsunterricht war natürlich ein schöner Baustein für später, weil ich dort körper­ lich gelernt habe, einfach so ins Blaue hinein zu experimentie­ ren. Nachdem ich die Palucca Schule verlassen hatte, machte ich ein Praktikum an einem Theater, am Theater Junge Genera­ tion in Dresden. Dort gefiel es mir überhaupt nicht – bis ich auf das Puppentheater am Haus stieß. Ich war sofort elektri­ siert – von dem Kollektivgedanken dort, davon, dass alle alles machten. Die fackelten auch nicht lange. Sie merkten, dass ich zeichnen kann, also zeichnete ich Schattenspiele, baute Puppen, arbeitete mit den Spielern körperlich. Als wir Ovids Metamorphosen inszenierten, war ich im siebten Himmel. Zudem jobbte ich in Dresden in einem Café als singende ­Kellnerin, gründete mit einer Flötistin die Gruppe Die Sinn­ verwandten, mit der wir im kleinen Rahmen tourten. Ich war also schnell Teil der Kleinkunstszene in Dresden, fantastische Jahre, weil ich so das Leben auf der Straße weiterleben ­konnte, nach dem Zufallsprinzip. Meine sehr weise Mutter sagte dann aber irgendwann: „Stopp! Ist ja alles gut und schön. Aber: Du solltest studieren. Du brauchst ein Funda­ ment.“ Ich sagte: „Ja gut, dann studiere ich Puppenspiel.“ Und so bewarb ich mich an der Hochschule für Schauspiel­ kunst Ernst Busch in Berlin im Fach Puppenspiel. Wir nähern uns dem Schauspielstudium. Es gab dort einen Lehrer, der das Improseminar leitete. Die Auf­ gabenstellung war: Spiele einen Pfeil. Ich habe eine halbe

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Stunde lang improvisiert, bis er schließlich sagte: „Du brauchst keine Puppe.“ Hatte er eine Begründung dafür? Er sagte, mein Körper genügt. Auch ich merkte, dass ich als Puppenspielerin nicht gut war. Das Einzige, was ich gut konnte, waren Ganzkörperpuppen. Im Handpuppenbereich aber war ich unbegabt. Ich hatte auch keinen Hau-drauf-Humor, war nicht schnell genug und literarisch zu interessiert.

Von der Puppe zum Schauspiel

Sie waren wahrscheinlich zu präsent für die Puppe. Genau. Ich konnte zu wenig Abstand zu meinem eigenen ­Körper einnehmen. Nichtsdestotrotz konnte ich auch diese ­Erfahrungen später verwenden. In The Dark Ages habe ich ­beispielsweise mit Objekten eine kleine Geschichte über den Selbstmord einer Kopfschmerztablette erzählt. Dafür, Leute kennengelernt zu haben wie Gyula Molnár, bin ich wahnsinnig dankbar. Leute, die mit Objekten arbeiten und diese behan­ deln wie gleichwertige Partner. Ein Zugang zum Theater, den ich später gebraucht habe. Wenn ich zum Beispiel auf der ­Bühne einfach nur eine Wand drehte. Wenn ich mit interessan­ ten Bühnenbildnern arbeitete, wo die Bühne ein Partner ist. Das Studium schlossen Sie aber trotzdem ab? Nein. Ich bewarb mich mit 22 für das Schauspielstudium an der Ernst Busch und machte die Aufnahmeprüfung. Zwischendurch hatte ich ein halbes Jahr Pause. In dieser Zeit fuhr ich mit einem Freund nach Palästina. Diese Reise war für mich sehr wichtig. Haben Sie dort längere Zeit gelebt? Nicht sehr lange. Es war wahrscheinlich kürzer, als ich denke, weil es so beeindruckend war. Was mich umgehauen hat, waren die Macho-Frauen.

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Valery Tscheplanowas Mutter Elena Knipp im Alter von zwanzig Jahren

Die Macho-Frauen? Ich kannte bis dahin keine Kßnstlerinnen, ich kannte noch keine Marina Abramovic, ´ keine Cindy Sherman. Ich kannte meine Mutter, die fraglos selbstbewusst war, aber immer irgendwie zwischen ihrem Beruf und mir zerrissen. Ich kannte die Frauen aus unserem Umkreis, die alle arbeiteten oder Hausfrauen ­waren, maximal vier Kinder hatten und damit rangen. Ich hatte aber noch keine einzige Frau gesehen, die so im Saft steht.

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Dann aber in Palästina? Ich hatte das auch nicht erwartet. Ich reiste an. Mir wurde Im Sahid vorgestellt, die elf Kinder geboren hatte und die Blume der Straße genannt wurde, weil sie die gesamte Straße zur Welt gebracht hatte. Diese Frau war ein Berg, sie umarmte mich und fasste mich an die Hüfte – wow! –, ich hatte wirklich das Gefühl, der Teufel wird mir ausgetrieben! Ich dachte so­ fort: Die ist ein Macho! Ich hatte gar kein Wort dafür. Ich sah einfach: Sie hat keine Komplexe! Sie hat circa 25 Enkelkinder, von denen sie teilweise die Namen nicht kennt.

Frauen in Palästina: „Die ist ein Macho!“

Gab es einen Ehemann? Ja. Wie war das Verhältnis zwischen den beiden? Gleichberechtigt. Er hat die Familie ernährt, sie das Haus diri­ giert. Es war das erste Mal, dass ich in Palästina ein so gelöstes Paar sah: Sie war eine Frau, die keinen Konflikt in sich trug, zu­ mindest war für mich keiner erkennbar. Ich kannte solche Frau­ en aus Russland vom Land, aus Deutschland aber kaum. Davon war ich sehr irritiert. An der Kieler Gelehrtenschule waren sehr viele Kinder aus reichen Familien, deren Mütter teilweise auch nicht gearbeitet haben, obwohl sie nur zwei Kinder hatten. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was mit denen krumm ist. In Russland war es eher so, dass Frauen trotz Kindern im­ mer auch gearbeitet haben. Das ist bei elf Kindern und in einem System, wo die Frau traditionellerweise den Haushalt schmeißt, natürlich schwer. Andere Frauen würden, statt Hausfrau und Mutter zu sein, lieber arbeiten, Karriere machen. Darin liegt der Kampf um Gleichberechtigung. Ja klar, ohne Frage! Natürlich unterstütze ich die Eigenverant­ wortlichkeit der Frau in der Gesellschaft, und ich lebe das auch.

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Lücken in der Rezeptions­ geschichte: „Was ist mit all den Frauen?“

Mir geht es nur um ein ganz anderes Konzept von Familie, das ich dort entdeckte. Im Sahid erledigte alles, was sie im Haus zu tun hatte, bis 16 Uhr. Danach machte sie, wozu sie Lust hatte. Den Rest organisierten die Kinder untereinander. Bei elf Kin­ dern regelte sich das von allein. Dort, in Israel/Palästina, fragte ich mich zum ersten Mal: Haben die interessanten Menschen wirklich alle geschrieben? Kann ich mich überhaupt über die Rezeptionsgeschichte der verzeichneten Literatur definieren? Was ist mit all den Frauen, die gewebt haben, Teppiche ge­ knüpft haben, unglaubliche Kunstwerke des Stickens herge­ stellt haben? Sie haben mal erzählt, wie Sie im Louvre vor den Wandteppichen standen, deren Schöpferinnen, die webenden Frauen, schlicht nicht namentlich genannt sind. Eine ganze Kunstgeschichte wird so verschwiegen. Eine Kunst, die zu Hause stattfindet, weben, sticken, singen, diese ganze alltägliche Kunst, wo der Mensch auch nicht so gespalten ist in Kunstproduktion und Alltag. Frauen, die Frauen sind, Mütter, Sängerinnen, Dichterinnen, alles gleichzeitig. Das ist ein Be­ schriftungsproblem! Ich lernte in Palästina Menschen kennen, die mich meinen Kunstbegriff komplett infrage stellen ließen. Ich fragte mich: Was ist mein Kunstbegriff in Bezug auf die ­Gesellschaft, in der ich lebe? Meine Erfahrungen als Kind auf dem Land in Russland überschnitten sich plötzlich mit den ­Erfahrungen in Palästina. Als ich dann zurückkehrte … … zum Vorsprechen an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch … Sie ahnen schon, mit was für einem Gepäck ich dort vorsprach. Mit meinen 22 Jahren hatte ich das alles angesammelt und war wirklich der unmögliche Student! Geschenk und Alptraum zugleich. So fing ich an zu studieren. Immer mit der Frage, was

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ich alles von mir abspalten muss, um innerhalb dieser Litera­ turrezeptionsgeschichte etwas auszudrücken, was für unser Heute relevant ist. Für wen ist das relevant? Definiere ich mich über diese Literatur der letzten hundert Jahre? Stücke wie ­Hedda Gabler waren für mich, ehrlich gesagt, böhmische ­Dörfer. Das war mein Hauptproblem: dass ich nicht begriff, welches Problem diese Frauen haben, ich konnte es nicht ent­ ziffern, die Aggressivität nicht begreifen.

Hedda Gabler: ein böhmisches Dorf

Die Schwierigkeiten, sich als Frau aus einer aufgezwungenen ­gesellschaftlichen Rolle zu befreien, verstanden Sie nicht? Zuerst nicht. Ich hatte Unterdrückung aufgrund meines Weib­ lichseins nicht erlebt. Ich musste also erst verstehen lernen. In der Geschichte zurückgehen. Was ich sah, war, dass Dorfstruk­ turen ab dem Moment, wo Kriege mit Waffen geführt und ­Waren im Ausland produziert wurden, zerbrachen, Geld wird über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht. Ich habe aber nicht verstanden, was das mit Mann und Frau zu tun hat. Der Produktionsmechanismus hat Menschen entfremdet, aber nicht die Geschlechter. Die Entfremdung, die ja tatsächlich stattfand, ist in meinen Augen ein Trugbild. Das Verhältnis zwi­ schen den Körpern kann sich nicht über Waren oder Geldwert definieren. Hingabe kann sich in meinen Augen nicht wandeln. Sie kann stattfinden oder ausbleiben. An die Stelle der Hingabe trat das Geld. Geldliebesgeschichten. Ich begreife den ganzen Unmut zwischen den Geschlechtern bis heute nicht. Er ist aber in den Stücken notiert. Ich hielt ihn von Anfang an für gefähr­ lich, weil ich das Gefühl hatte, mich damit als Konsument in den Dienst dieser Produkte zu stellen, für die ich mich nie inte­ ressiert habe. Dieser Konflikt darf für mich nicht in den Raum zwischen Mann und Frau eindringen. Ferner all die Produkte, die erfunden werden, um Geld zu machen, die Massenproduk­ tion im Bereich der Kleidung, Einrichtung, Ernährung, dem

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wollte ich mich nicht anschließen. Aber als Schauspielerin, als jemand, der in dieser Erzählmaschinerie verortet ist, bin ich dann doch plötzlich Teil davon. Sie müssen diese Dinge auf der Bühne verhandeln. Ich werde eingekleidet, und mir wird diese Sprache in den Mund gelegt. Und ich muss mich dazu verhalten.

„Tisch, Mann, Frau, Küche, Konflikt. Darauf hatte ich einfach keine Lust“

Ich ahne, dass die Zeit Ihres Schauspielstudiums an der Ernst Busch nicht ganz kollisionsfrei ablief. Nein. Alles andere als kollisionsfrei. (lacht) Beispielsweise im Improseminar. Da kommen dann so Szenen wie: Tisch, Mann, Frau, Küche, Konflikt. Darauf hatte ich einfach keine Lust. Die Lehrer warfen mir lauter plakative Dinge vor: „Du kannst nicht verführen. Du kannst keinen Konflikt spielen. Du bist verklemmt. Du bist nicht lustig. Deine Sprache sitzt nicht.“ Mir wurden sozusagen alle Schauspielerverbrechen attes­ tiert, die es gibt. Nach einem halben Jahr hieß es: „Entweder wir schmeißen dich jetzt raus oder du machst, was wir dir ­sagen.“ So saß ich also da und dachte: Na gut, entweder gehe ich jetzt raus – ich hatte ja auch schon in der freien Szene gearbeitet – oder ich versuche es. Und dann fand ich etwas ganz Tolles: alte Platten vom Deutschen Theater Berlin mit Tilla Durieux … … legendäre, äußerst charismatische und experimentierfreudige Schauspielerin, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts unter Max Reinhardt erstmals am Deutschen Theater auftrat … Und auch Alexander Moissi und andere. Das war überhaupt nicht bürgerlich! Was Tilla Durieux als Klytämnestra veranstal­ tete, war kurz vor Gesang, bei Moissi sowieso. Das war genau mein Stil. Und das am Deutschen Theater! Ich wollte es also an dieser Schule versuchen.

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Und lernten sprechen wie Tilla Durieux? Nein. Als erstes verdonnerte man mich – ich hatte es geahnt –, eine Prostituierte zu spielen, Leocadia in Schnitzlers Reigen. Gottseidank war Peter Stoltzenberg mein Dozent. Er ver­ stand, was mich umtrieb, redete mir aber auch zu, es mit dem Reigen zu probieren. Er öffnete mir die Augen für – ich sag‘s jetzt mal ganz mit Bedacht – das Bedienen des Bürgertums. Die Zutaten: genaue Spracharbeit, genaue Dosierung, Aus­ stellen von Liebreiz an der richtigen Stelle und – ich hab das mal Leiden ab halb acht genannt: um spätestens 21 Uhr 30 sollte der Bürger ein Tränchen im linken Auge haben. Damit er um 21 Uhr 30 ein Tränchen im Auge hat, muss ich vorher eine ganze Menge richtig gemacht haben. Mitleid erregen! Wie funktioniert das? Eine nachvollziehbare Geschichte er­ zählen, wohldosierte Hilflosigkeit mit einer Spur Gegenarbeit kombinieren, aber nicht zu viel, damit der Zuschauer mit­ arbeiten kann und schlussendlich zu seinem gewünschten Rührungsmoment gelangt.

Leiden ab halb acht

Wie haben Sie das ausgehalten? Durch die Wahlrollen. Da habe ich gedacht: Okay, jetzt lasst mich mal machen! Ich nahm mir wieder Leonce vor, schrieb die Rolle aber um, baute mein eigenes Bühnenbild und lud die ­Dozenten ein. Und die mochten das. So habe ich überlebt: Ich bediente ihre Linie, sie schätzten gleichzeitig meine. Daher bin ich auch stolz auf die Ernst Busch. Denn natürlich war mein Verhalten teils quälend: Ich stieg aus allen Studio-Inszenierun­ gen von jungen Regisseuren aus, begegnete einem auswär­ tigen Dozenten und arbeitete drei Monate mit ihm an Salome. Die Ernst Busch hat mir Technik beigebracht, und diese Technik ermöglichte mir meine Verirrungen ebenso, wie sie meine ­eigene Stimme förderte. Das war sehr anstrengend, da ich doppelt so viel arbeiten musste wie alle anderen, ich wollte ja

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auf beiden Hochzeiten tanzen. Als ich mit der Schule fertig war, war der erste, den ich traf, Dimiter Gotscheff. Eine Begeg­ nung, die meine innerste Seite bestätigte.

Sdrawstwujtje. Begegnung mit Dimiter Gotscheff

Wo sind Sie Gotscheff das erste Mal begegnet? Das erste Vorsprechen fand am Deutschen Theater Berlin statt. Ich kam in die Kantine, und da saß er und sagte auf Russisch: Sdrawstwujtje. Guten Tag. Das war meine allererste Begeg­ nung in meiner allerersten Minute im Theater. Wusste er, wer Sie sind? Es hatte ihm jemand erzählt, dass eine Russin ans Deutsche Theater kommt. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Ich rief meine Mutter an und sagte: „Ich will gar nicht zum Thea­ ter, ich will mit Gotscheff arbeiten.“ Damit begann die Spal­ tung meiner eigenartigen Anfangskarriere. Er nannte mich so­ fort Muse, was dazu führte, dass niemand sonst mit mir arbeiten wollte. „Was? Gotscheffs Muse?“, hieß es, „Zeig erst­ mal, was du kannst.“ Das Theater wusste nicht, wohin mit mir, und steckte mich in Projekte von nicht sehr erfahrenen Assis­ tenten. Die größtmögliche Kluft. Wie war die Arbeit mit Gotscheff? Frei! Der erste Satz, den er zu mir sagte, war: „Walja, ich habe viele Frauen zerstört. Du musst dir selbst helfen.“ Was für ein Glück! Aber was heißt das jetzt genau? Da treffe ich diesen tol­ len Regisseur und warte darauf, dass er mir irgendetwas zeigt. Stattdessen legte er mir eine Postkarte von Heiner Müller auf den Tisch, auf der stand: „Bleib weg von mir der dir nicht helfen kann“. So war die Stimmung bei den Proben. Mach, halte es aus, und ich gucke dir zu. Irgendwann sagte er: „Walja, die Scheiße ist unerschöpflich!“

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Er meinte Ihr Spiel?! Nicht direkt. Ich lernte durch ihn zu experimentieren, ins Blaue hinein zu spielen, Geräusche, Kriechen, Sabbern, Laufen, Schreien – wochenlang. Ganz wichtig bei diesen Proben war der Bühnenbildner Mark Lammert, der immer an unserer Seite war. „Lass sie forschen“, sagte er wieder und wieder. In den ­Momenten, in denen auch Gotscheff ratlos war – denn wenn ein junger Mensch forscht, ist einfach auch viel Müll dabei –, war Mark Lammert immer derjenige, der sehr nüchtern sagte: „Guck mal, das könnte was werden …“ Warum waren Sie bei Gotscheffs Persern, an deren Proben Sie ja teilgenommen hatten, dann nicht dabei? Ich hatte wochenlang improvisiert, und die Ausbeute waren ein paar Schreie und Drehungen der Wand, Text fehlte und ­Verknüpfung. Die Perser waren die Vorarbeit. Von ihnen zur Hamletmaschine war es ein Bogen. Und so sah das Publikum im Deutschen Theater Berlin Sie in Ihrer ersten großen Rolle: in einem gelben Kleid auf einer ­nahezu leeren ­Bühne stehend, den Hals gereckt, weil Sie in ein viel zu hoch aufgehängtes Mikrofon sprachen, in einer Art langgezogenem Schrei den ganzen bisher gesprochenen Text wiederholend, der eigentlich gar nicht der Ihrige war. Sondern Gotscheffs als Hamlet. Ja. Es war im Grunde gar nicht geplant, dass ich seinen ganzen Text wiederhole. Ich tat dies anfangs aus Verzweiflung, weil ich dachte, ich bräuchte Text. Ophelia ist eine so große Figur, spricht aber nur einige wenige Zeilen. Wie sollte ich das mit dem bisschen Text verkörpern? Also habe ich den Hamlet-Text wiederholt. Gotscheff sagte sofort: „Das ist mein Text!“ Aber Mark Lammert meinte: „Lass sie.“

Die Hamlet­ maschine: Spiel aus Verzweiflung

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Wie schon in Philoktet 2005 an der Volksbühne Berlin stand ­Gotscheff in der Hamletmaschine selbst auf der Bühne. Lammert schrieb in seiner Laudatio, dass das Stück, weil Gotscheff ja selbst spielte, keinen Spielleiter mehr hatte. Was gar nicht so einfach war. Mich hat die Arbeit mit Gotscheff bestätigt, aber auch ratlos gemacht. Er forderte ständig von mir das Unmögliche, legte mir Artikel von Marina Abramovic´ und Cindy Sherman auf den Tisch. So saß ich da mit meinen 26 Jahren und dachte: Puh, ja, ich bin eine Schauspielerin in einem Festengagement – wie soll ich jetzt Cindy Sherman werden? Er aber bestätigte mich immer wieder: „Gehe diesen Weg. Eigenständig.“

Vom Deutschen Theater Berlin ans Schauspiel Frankfurt

Warum sind Sie dann nicht mit ihm nach Hamburg ans Thalia Theater gegangen? Aus eben diesem Grund. Ich wollte schauen, wer ich alleine bin. Ich wollte irgendwo ganz allein an einem Stadttheater sein und schauen, was ich dort mache. So ging ich vom Deut­ schen Theater Berlin ans Schauspiel Frankfurt. Gemeinsam mit Oliver Reese, der nach seiner Zeit am Deutschen Theater dort Intendant wurde. Am Ende war es wie ein Ausdeklinieren der Schauspielschule. Zunächst haben Oliver Reese und ich ganz viel gestritten, dann sind wir ganz viel spazieren gegangen. Ich habe versucht zu erklären, was ich vorhabe, noch mit diesem Drive aus der Hamletmaschine. Er sagte nur: „Lass zu, dass ich für dich denke!“ Diesen Satz lohnt es, mit dem von Gotscheff zu vergleichen: „Bleib weg von mir der dir nicht helfen kann“ und „Lass zu, dass ich für dich denke!“. Diese beiden Gegensätze, das war extrem! 2009 in der ersten Produktion in Frankfurt hatte ich eine klitze­kleine Rolle: Fräulein

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Kost in Cabaret. Das war also die Quintessenz, die heraus­ kommt, wenn ich zulasse, dass jemand für mich denkt. Ich ­beschloss: In einer Inszenierung, in der das der Gedanke ist, zeige ich mein Gesicht nicht. Das hieß konkret? Ich habe Masken getragen, obwohl sonst niemand Masken trug.

Esther Hausmann und Valery Tscheplanowa in Remake :: Rosemarie, Regie: Bernhard Mikeska, Schauspiel Frankfurt 2009

Und das war für den Regisseur Michael Simon in Ordnung? Er hat es zumindest zugelassen. Für mich war es ein Trick, diese Inszenierung noch nicht als Arbeit betrachten zu müssen. Trotzdem fragte ich mich, was diese Besetzung bedeuten soll. Soll mein Wille gebrochen werden? Es roch sehr danach. Den­

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Thalheimer, Kriegenburg, Pollesch: drei deutlich unterschied­ liche Hand­ schriften

noch wollte ich es probieren. Das erste halbe Jahr spielte ich kaum, ich fing an, große Stücke durchzuackern, ihre Struktur zu analysieren. Ich hatte mich ja zuvor eher mit expressionisti­ scher Literatur beschäftigt, Heiner Müller, Franz Kafka, nicht so sehr mit Abendunterhaltungsstücken. Stücke, die nicht dazu gemacht sind, zu verstören, sondern zu unterhalten. Auch habe ich ein wenig Thalheimer geschaut … … der erst am Deutschen Theater Berlin, dann in Frankfurt Hausregisseur war. Tatsächlich kamen wir nach einem Jahr Willen-Brechens bei Maria Stuart zusammen. Sie spielten die Titelrolle. Zuvor hatte ich bei Andreas Kriegenburg schon die Stella ge­ spielt sowie in einer Produktion von René Pollesch. Mit dem lustigen Titel: Sozialistische Schauspieler sind schwe­ rer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen. Meinte er Sie damit? Keine Ahnung! Auf jeden Fall retteten mich diese Produktio­ nen total. Zumal diese drei Regisseure so deutlich unterschied­ liche Handschriften hatten. Wie waren Ihre Erfahrungen mit Maria Stuart, dieser doch sehr starken und spannenden Frauenfigur? Ja, stark – das finde ich auch. In seiner Version blendete M ­ ichael Thalheimer allerdings … … er konzentriert die Stücke ja immer sehr … … die Welt, in der die Figuren agieren, aus. Für mich machte die Figur der Maria Stuart aber nur Sinn in ihrem Verhältnis zur Welt. Ihr unbedingter Wille zu teilweise hane­büchenen Ent­

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Nils Kahnwald, Valery Tschep­lanowa, Oliver Kraushaar, Traute Hoess und Michael Goldberg in Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regis­ seurs zu überzeugen, Regie: René Pollesch, Schauspiel Frankfurt 2010

scheidungen formt sich für mich durch den Druck der Gesell­ schaft. Das heißt, ich sah eher einen Hof, und in den hinein tritt die Figur.

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Stattdessen befand sich auf Olaf Altmanns Bühne nur eine große graue Wand, die Sie und Stephanie Eidt als Königin Elisabeth trennte. Ich sah diese Figur rein auf ihr Gefühlsleben konzentriert. Ich akzeptierte diesen Ansatz als neuzeitliche Lesart, hatte aber auch Mühe damit; es erzeugte in mir eine große Aggression. Weil die Figur lediglich als eine mit sich kämpfende, leidende Frau gezeigt wird und nicht als gesellschaftlich und politisch agierende Person? Ja. Auch die Beichte. Eigentlich beichtet sie einem Pastor, der war aber gestrichen, sodass sie sich selbst die Beichte ab­ nehmen musste. Warum? Ist sie so religiös, dass sie im Todes­ moment eine ganze Performance abzieht? Gut, ich war eine junge Schauspielerin. Vielleicht, so dachte ich damals, verlange ich auch zu viel und sollte froh sein, dieses Stück Fleisch zu be­ kommen.

„Ich würde diese Zeit als ganz wichtige Sackgasse beschreiben“

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Mark Lammert nennt Sie eine Waffe. Möglicherweise meinte er Ihre Fragen. Sie sollen einigen Regisseuren sogar den Blick­ kontakt verweigert haben. Ja, das kam vor. Darauf bin ich aber nicht stolz, das war nur ein Trick, um für mich unverständliche Forderungen zu überleben. Michael Thalheimer sagte zu mir: „Ich kritisiere dich gar nicht mehr, weil du viel strenger zu dir selbst bist, als ich es sein könnte.“ Das schätzte ich. Trotzdem führte diese Zeit zu etwas, ich würde sie als ganz wichtige Sackgasse beschreiben. Weil ich auf all meine Fragen keine Antworten bekam, versuchte ich das, was mir fehlte, mit Wahn zu kompensieren, mit Geschwindigkeit, Lautstärke: Ich verletzte mich stimmlich selbst, habe im Laufe meiner Arbeits­ jahre meine Stimme drei Mal bis zur Unkenntlichkeit zerstört und musste sie in Stimmtherapien wieder herstellen. Das war


eine wichtige Erfahrung. Ich konnte teilweise nach der Vorstel­ lung drei Stunden lang nicht nach Hause gehen; stattdessen weinte ich in der Garderobe, weil ich so unglücklich mit dem war, was ich da geliefert hatte, dieser Situation aber nicht ent­ kam. Wenn ich besser drauf war, jonglierte ich meine verord­ nete Rolle souveräner, war danach jedoch noch unglücklicher, weil ich das Gefühl hatte, mich zu fügen. Wenn ich mich selbst verletzte, litten die Zuschauer, weil es keinen Spaß macht, je­ mandem zwei Stunden lang bei der Selbstverletzung zuzu­ schauen. Ich spürte die Wut vor diesen berechneten Gefühlen um 21 Uhr 30 körperlich. Ich wünschte mir so sehr das, was Frank Castorf mir später gab.

Berechnete Gefühle

Mit dem Sie das erste Mal 2016 am Münchner Residenztheater zusammengearbeitet haben, in Die Abenteuer des braven Sol­ daten Švejk im Weltkrieg, und in dessen Faust Sie 2017 an der Berliner Volksbühne spielten. Man weiß nie, wo man bei Frank weint. Es kann sein, dass ich tränenüberströmt anfange. Oder ich weine gar nicht. Oder es passiert bei einem Satz, bei dem ich es gar nicht gedacht hätte. Genauso bei Gotscheff: Die Emotionalität des Schau­ spielers ist frei! Und dann ist sie auch beim Zuschauer frei. Aber in dieser Struktur von Stücken, in denen du vierzig ­Minuten heiter durchhalten, dann die richtigen Brüche spie­ len musst, ist die Emotionalität nicht frei. Ich will nicht ­sagen, dass diese Art des Spiels uninteressant oder einfach wäre. Sie erfordert Technik, Können, Disziplin. Als es mir das erste Mal gelang, war lustigerweise meine Mutter in der ­Vorstellung. Sie erzählte mir, dass Männer ihre Brillen ab­ nehmen mussten, weil sie weinten. Da habe ich begriffen, dass ich das kann: Einen Mann, der normalerweise vor mir nicht weinen würde, weil er mich nicht nachvollziehbar fin­ det, zum Weinen zu bringen.

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Valery Tscheplanowa und Bettina Hoppe in Stella, Regie: Andreas Kriegenburg, Schauspiel Frankfurt 2011

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Irgendwie klingt auch das gefährlich. Vielleicht. Aber als ein Mensch, der sich in dieser kalkulierten Erzählweise nicht zu Hause fühlt, diese Emotionen trotzdem in einem Zuschauer auslösen zu können, darüber war ich froh. Die Kritiken waren auf jeden Fall gut! Ja, man gilt als intensiv, nur weil man leidet. Aber auch das akzeptierte ich letztlich nicht. Ich fand, ich hatte alles in allem verschissen. Geholfen haben mir Sätze wie der von Andreas Kriegenburg. Er sagte mir zu Beginn der Proben: „Du kannst die Stella nicht.“ So etwas kommt mir entgegen. Er gab sich wirklich Mühe, erklärte mir Stella als hilflose, schutzbedürftige Frau.


Puh. Also ich fand Ihre Stella ja extrem stark. Sie hat ein Ziel und dieses Ziel ist, nun gut, eben dieser Mann, Fernando. Sie ist absolut konsequent, gesteht sich selbst gegenüber keine Konzessionen zu. Für mich wirkte eher die Männerfigur, also Fernando, in seinem Schwanken zwischen den Frauen charakterlich schwach. Das mag sein. Andreas Kriegenburg aber hat mich dressiert wie einen Schoßhund: Sprache, Körperhaltung, ich sagte im­ mer wieder: „Das ist nicht das, was ich suche“, und er akzep­ tierte das, ließ aber nicht locker. Ich habe ihn letztens in Salz­ burg getroffen und ihm noch einmal gedankt.

„Andreas Kriegenburg hat mich dressiert wie einen Schoßhund“

Meinen Sie das ironisch? Nein, wirklich! Ohne ihn wäre die Buhlschaft unmöglich ge­ wesen. Und auch der Faust. In dem Sie unter anderem Gretchen und Helena spielten. Mit Kriegenburgs Idee von Stella bekommt man diese Frauenfiguren gar nicht zusammen! Doch, doch. In ihrer Vielfarbigkeit. In den mittleren Strecken des Faust habe ich ganz bewusst die Stella herausgeholt. Was ist für Sie der Unterschied zwischen Thalheimer und Kriegenburg? Andreas Kriegenburg ist bereit, eine Form aufzubauen und sie dann zerbrechen zu lassen. Und Thalheimer will die Form erhalten. Und sie sogar schärfen. Ich habe zwei Schauspieler bei Michael Thalheimer irrsinnig geliebt: Sven Lehmann und Constanze Becker. Vor allem Sven Lehmann hatte etwas auf natürliche Weise Überbordendes, sodass ihn diese Form nie hat einschrän­ ken können. Dann ist die Form spannend. Ich selbst bin eher ein Gestalter, für mich war diese Ästhetik kein Zuhause.

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„Mich interessiert die Welt, nicht das Ausgestellt-­ Sein als Figur“

­ eshalb liebe ich Frank. Ich brauche eine große Welt, in der ich D die Reduktion selbst herstellen kann. Mich interessiert die Welt, nicht das Ausgestellt-Sein als Figur. Auch Pollesch, sagen Sie, habe Sie gerettet. Zumindest die ­Produktion am Schauspiel Frankfurt. Welche Rolle spielte er für Ihre weitere Laufbahn? Durch René Pollesch hatte ich die Möglichkeit, meine Gedan­ ken hinsichtlich des Theaters auszudrücken. Er erlaubte mir, selbst zu formulieren, und meine Widerstände wurden zum Thema. Ich empfinde mich bei ihm als Zuschauer, als spielen­ den Zuschauer. René macht die Gegenwart von Gesellschaft in fast jedem privaten Satz sichtbar. Durch ihn wurde ich neu­ gierig auf die Geschichten hinter den Stücken. Er blies Luft in die Kiste, und ich konnte weiter auf die Suche gehen. Weil Ihnen hier kein Text vorgesetzt wurde, sondern dieser, wie bei Pollesch üblich, in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern entstand? Ja, René fordert auf, selbstständig zu sein. Figurenspiel ist ja auch Verwandlung. Aber was verwandelt sich da? Von wo ­arbeite ich? Was ist das Material für die Verwandlung? Für mich war es ein wichtiger Moment, all diese Überlegungen vor ihm zu formulieren. Trotzdem beschloss ich, nachdem ich das Stück gespielt hatte, zukünftig Figuren spielen zu wollen oder Wesen, meine Gedanken in sie einzubauen, nicht aber über das Spielen selbst zu sprechen. Pollesch war Ihnen zu viel Diskurs? Jein. Das ist ein anderer Raum. Ein Denkraum. Ein Labor! Ich bin Zeichner. Aber auch diese Erfahrung war wichtig! Ohne ihn wären die anderen Schritte nicht möglich gewesen. Mit dem verbunden, was ich mache, fühlte ich mich erst wieder bei

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Valery Tscheplanowa in Alice im Wunderland, Regie: Philipp Preuss, Schau­ spiel Frankfurt 2010

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­ ement und später bei Faust. Das Stück stimmt, die Welt Z stimmt, das Drumherum stimmt. Aber zu formulieren, was ich alles von einem Regisseur will, lernte ich durch die Arbeit mit René Pollesch. Dadurch konnte ich auch Andreas Kriegenburg sagen: „Ich schätze, was du machst, aber mir fehlt, mir fehlt, mir fehlt …“ Ich habe mein Handwerk ausgebaut, aber auch gelernt zu formulieren, was für mich ein gutes Stück ist, von dem ich satt werde.

Der Trick mit dem Geld

Insofern war der Stadttheaterbetrieb doch auf eine Art eine Lehranstalt. Ich hätte es nicht überlebt, wenn nicht immer wieder Kompro­ misse möglich gewesen wären und Oliver Reese nicht irgend­ wann zugelassen hätte, dass auch ich für ihn denke. Er hat mir Experimente gestattet, beispielsweise Alice im Wunderland in der Regie von Philipp Preuss. Im Tausch gegen Rollen wie Stella. Mein Trick dabei war immer auch das Geld. Ich weiß nicht, ob das ein kluger Trick war, aber ich habe nicht verhandelt, ich habe genommen, was mir angeboten wurde, weil ich künstle­ risch schon so viel forderte, weil es so anstrengend war, mit mir zu arbeiten. Ich will mein Nichtverhandeln nicht glorifi­ zieren. Ich will es gestehen. Vielleicht war es auch eine Form von Feigheit. Mich entlastete es damals. Machte mich angriffs­ lustiger. Das haben hungrige Tiere so an sich. Den Schauspielerinnen, Regisseurinnen, Bühnen- und Kostümbildnerinnen, die zu Recht nicht nur gegen schlechte Bezahlung, sondern auch gegen den Gender-Pay-Gap protestieren, stehen jetzt wahrscheinlich die Haare zu Berge. Bei einer Podiums­ diskussion der Berliner Akademie der Künste und des Bundes der Szenografen 2019 sprachen Sie mit dem Schauspieler Lars Eidinger über das Thema. Er konnte es gar nicht fassen, mit welch niedrigen Gehältern Sie angefangen haben.

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Valery Tscheplanowa in Die Irr­fahr­ten des Odysseus, Regie: Corinna von Rad, Resi­denz­theater München 2014

Zu Recht stehen ihnen die Haare zu Berge! Es war nur ein Trick. Wenn du dir nicht einmal eine eigene Wohnung leisten kannst, dann gehst du eben nach der Probe nicht nach Hause, sondern auf die Probebühne. Wenn du nicht in den Urlaub fliegst, dann muss die Arbeit Genuss sein. Und letztlich, wie gesagt, hat es

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mir sehr geholfen zu lernen, verschiedene Dinge gleichzeitig nebeneinander verkörpern zu können. Der Spielplan ist nicht auf Entwicklung angelegt, sondern auf Verkauf. Das partielle Bedienen dieser Verkaufsstrategie bei gleichzeitiger Abwehr hat mir die Möglichkeit gegeben, diese Vielfarbigkeit zu ent­ wickeln. Denn jede Art von Grenzziehung, auch die freieste, birgt die Gefahr des Biotops. Diesen Weg zu gehen, mitzugehen, aber gleichzeitig dagegen zu agieren, erfordert sicherlich viel Kraft. Viele scheitern am Apparat, weil sie diese Kraft nicht haben. Verständlich. Auch ich habe zwanzig Vorstellungen pro Monat gespielt und nicht begriffen, dass mich keiner schützt. Natür­ lich las ich Peter Brook oder schaute Pina Bausch. Ich hatte den Wunsch in mir, genau wie sie mit ihren Ensembles gemeinsam Dinge zu entwickeln und dabei aufeinander zu achten. Als ich verstand, dass ich hier gerade ausblute, war das ein ganz wich­ tiger Moment. Ich zog allein die Notbremse.

Einzelkämpfer­ tum in München

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Dennoch sind Sie 2013 zu Martin Kušej ans Münchner Residenztheater gegangen. Ja. Und auch in München habe ich gekämpft. Ich war, das ist mir wichtig zu sagen, ein Einzelkämpfer und darin für meine Kollegen teilweise sehr anstrengend. Ich kam nicht einfach und spielte, sondern ging mit sehr viel Kritik an die Sachen ran. Nach den Aufführungen war ich mitunter ungenießbar, nie­ mand, mit dem man hinterher ein Bier trinken gehen konnte. Mein Lieblingssatz stammt von Hans Neuenfels. Er traf meine Kollegin Traute Hoess nach einer Aufführung und fragte sie: „Traute, warum sprichst du da immer in die Ecke? Da steht Va­ lery doch gar nicht?“ Und Traute sagte: „Ja, aber gestern stand sie dort.“ Von diesen Situationen gab es eine Menge. Meine Partner meinten oft zu mir, dass sich die Aufführungen durch


mich von einem Abend zum nächsten komplett verändern konnten. Die mussten ganz schön durch was durch mit mir! Auch in Torquato Tasso! Da spielten Sie endlich eine Männerrolle – in der Regie von ­Philipp Preuss. Ja, das wollte ich unbedingt! Ohne Verkleidung. Aber wie geht das? Bis ich es raushatte, waren zig Aufführungen rum. Die Kollegen mussten diese Suche mit mir durchstehen. Ich war jedenfalls arrogant genug zu sagen: „Tja, ihr müsst da durch, auch wenn’s scheiße wird.“

Valery Tscheplanowa und Ensemble in Torquato Tasso, Regie: Philipp Preuss, Residenzthea­ ter München 2015

Das klingt natürlich weniger nach der gemeinsamen Achtsamkeit innerhalb eines Ensembles, von der Sie gerade sprachen.

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Macht der Apparat einen zum Einzelkämpfer? Oder ist es doch der eigene Ehrgeiz? Ich denke, das eine bedingt das andere. Wo ich den Willen des Regisseurs nicht spüre, Besetzungen unachtsam gemacht wer­ den, wo Willkür herrscht, blüht der Egoismus. Auch mich hat er befallen. Es gibt aber auch ein Plus am Apparat: Wenn du ihn ab einem bestimmten Punkt dazu bringen kannst zu machen, was du willst. Mein Trick war eben: wenig verdienen, viel arbei­ ten und viel fordern. Da muss ich auch Martin Kušej noch ein­ mal danken: Ich bin aus seiner Faust-Inszenierung am dritten Tag ausgestiegen, weil mir die Konzeption nicht interessant erschien. Ich meine, ich war immerhin bei ihm engagiert! Und er war der Intendant. Da zu sagen, nein, ich schmeiße dich nicht raus, mach halt, auch wenn du scheiterst, erfordert Geduld. Den Tasso habe ich vor die Wand gefahren. Ich musste mich dafür auch rechtferti­ gen. Dann bekam ich den Franz …

Dauer, Wucht, Mechanik: Ulrich Rasche

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… Moor in der Räuber-Inszenierung von Ulrich Rasche. Und den habe ich gerockt! Das klingt erstaunlich positiv. Ich hätte gedacht, dass Ihnen die extrem strenge Form Rasches – die Schauspieler schreiten auf kontinuierlich rotierenden Laufbändern, ein maschineller Prozess, der auch die Sprache beeinflusst – gar nicht behagt. Mir erscheint seine Ästhetik alles andere als frei. In seiner Frank­ furter Perser-Inszenierung, Ihrer zweiten Arbeit mit ihm, waren es zwei große, sich drehende Scheiben, die die Schauspielerinnen und Schauspieler permanent in Bewegung hielten. Ein Mensch, der mich sehr gut kennt und dessen Meinung ich schätze, sagte, nachdem er Die Perser gesehen hatte, die mit ähnlichen Wirkungsmechanismen arbeiten wie Die Räuber: „Ich


Valery Tscheplanowa und Ensemble in Die Räuber, Regie: Ulrich Rasche, Residenzthea­ ter München 2016

kann dich nachts aufwecken, und du könntest das im Schlaf.“ Da ist was dran! Also habe ich Die Räuber nicht gerockt, sondern wohl eher gestemmt. Rasche arbeitet in meinen ­Augen mit Überwältigungsmitteln, Lautstärke, Dauer, Wucht, Mechanik, es ist spannend, als kleiner Körper sich dagegen­zustemmen, aber es erzeugt in meinen Augen Vereinsamung.

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Katja Bürkle und Valery Tscheplanowa in Die Perser, Regie: Ulrich Rasche, Schauspiel Frankfurt 2018

Weil die Maschinerie, gegen die man sich stemmt, zu stark ist, als dass man noch Kontakt zu seinen Mitspielern aufnehmen könnte? Ich würde nicht „stark“ sagen, sondern die Maschine kann nicht reagieren und wird dadurch zu einem unnachgiebigen Mitspieler. Ich habe immer wieder beim Spielen erlebt, wie mein Körper sich davon anstecken ließ und ebenfalls verhärte­ te. Dagegen anzugehen, erforderte zu viel Aufmerksamkeit, sodass für den Mitspieler teilweise zu wenig blieb. Vielleicht braucht es Jahre, um diese Maschine bespielen zu lernen.

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Vedrana Seksan, Valery Tscheplanowa, Manfred Zapatka und Sudbin Music in The Dark Ages, Regie: Milo Rau, Residenztheater München 2015

Am Münchner Residenztheater ist auch Milo Raus The Dark Ages entstanden. Sie erzählen dort, wie gesagt, sehr persönliche Geschichten aus Ihrem Leben. Ein Verfahren, das Rau sehr häufig anwendet. Fiel Ihnen dieser radikal persönliche Zugang schwer? Ja, aber ich fand sehr schnell für mich den Begriff der „politi­ schen Hygiene“: Informieren ohne Umweg, seine eigene Ge­ schichte teilen, sich mit internationalen Kollegen verbinden, das ist ein Aspekt von Erzählung. Informieren, aufklären kann und muss zu meinem Spielerleben gehören. Milo Raus Arbeit schätze ich sehr.

Milo Rau: Informieren ohne Umweg

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In München kamen Sie in Zement auch wieder mit Gotscheff zusammen. Sie verkörpern eine Figur, die in Heiner Müllers Stück, geschrieben nach einem Roman von Fjodor Gladkow, gar nicht in Erscheinung tritt. Das Stück spielt im Jahr 1920/21 in Sowjetrussland. Der Schlosser Gleb Tschumalow kehrt aus dem Bürgerkrieg heim und findet das Zementwerk, in dem er arbeitete, ­zerstört. Seine Frau Dascha, mittlerweile eine engagierte Parteiarbeiterin, verweigert sich ihm. Sie spielen Njurka, das Kind der beiden, das, von Dascha ins Kinderheim geschickt, dort am Ende verhungert. Was hat Ihnen diese Inszenierung, speziell diese Rolle, bedeutet? Wie wurde sie in München aufgenommen? Ein Freund fragte mich vor kurzem: „Wann warst du das erste Mal im Beruf mit dir ident?“ Ich antwortete: „Hamletmaschine.“ Vielleicht war es aber eher Zement. Da war eine von Gotscheff erfundene Figur, unsere gemeinsame Vergangenheit, das ­Heute, da waren Zeiten, die sich von verschiedenen Seiten querstellten, und ein Zum-Tod-Hindenken. Ich habe ein Bedürf­ nis, über Frank Castorf zu sprechen, und einen Unmut, über Dimiter Gotscheff zu sprechen. Frank lehrte mich, ungehemmt zu sprechen, und Gotscheff, zu schweigen. Sie sprechen in Zement einen weiteren furiosen Müller-Text und zwar Herakles 2 oder Die Hydra, der davon handelt, wie der Held einen Wald durchquert auf der Suche nach dem Ungeheuer. Irgendwann jedoch merkt er, dass der Wald selbst das Ungeheuer ist, mit dem er, Herakles, schicksalhaft verstrickt ist. Müllers Auffassung von seinen späten Theatertexten war, dass sie nicht Mitteilungsträger von Wirklichkeit sind, sondern Wirklichkeit selbst. In einem Interview sagte er einmal in Anlehnung an die berühmte Performance von Joseph Beuys mit dem Coyoten in New York: Der Text sei wie ein Coyote. Man wisse nie, wie er sich verhalte. Wie gehen Sie mit diesem Coyoten um? Was bedeutet Heiner Müller für Sie?

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Gotscheff arbeitete in meinen Augen nicht in Bildern, sondern er baute Pisten für die Bilder der Zuschauer. Das will ich dann doch noch über ihn sagen! Das tut Müllers Sprache auch. Seine Sprache ist eine unverschämte. Zu dicht, zu kantig, zu hellsich­ tig, zu betrunken, zu deftig, zu zärtlich, zu klug. Verausgabung oder Unmittelbarkeit, alles andere schien er mir nicht zu er­ lauben. Seine Sprache braucht Widerstände, gegen die sie sich stemmen kann. Dazu ist sie gemacht. Ein Brecheisen. Heiner Müller hat für mich keine Bedeutung, weil keine Deutung. Er ist Lebensraum, der irrsinnig viel erlaubt und das Verschämte unmöglich macht.

Lebensraum Heiner Müller

Das heißt, auch in München wurde Ihnen die Aufspaltung zwischen künstlerisch befriedigenden Produktionen und dem Betrieb wieder schmerzlich bewusst. Ich habe irgendwann angefangen, zwischen Bühnenidentität und meiner Identität als Privatperson zu trennen. Als Privat­ person lebe ich so, wie ich will. Ich besitze nicht viel, ich flicke meine Kleidung und Schuhe, ich schaffe nicht mehr an, als ich reinigen kann – und zwar selbst. Das ist der Raum, durch den ich geprägt bin. Für die professionelle Person habe ich zwei Ebenen entwickelt: Es gibt die Ebene, auf der ich meinen Impulsen folge, die aus diesem persönlichen Hintergrund ­ erwachsen. Das betrifft lediglich die Arbeiten mit Dimiter ­ ­Gotscheff und Frank Castorf. Auf der anderen Professionali­ tätsebene lasse ich mich nach dem System der Straße treiben und gehe in Räume hinein, die mir fremd sind. Welche Arbeiten würden Sie zur zweiten Ebene zählen? Alle anderen. Da gibt es natürlich Präferenzen, aber diese ­Arbeiten sind in dem Raum angesiedelt, der auf verschiedene Arten beschreibt, was unsere Gesellschaft heute ist. Der andere Raum ist für mich ein Raum … Archaik ist ein großes und auch

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Grab von Dimiter Gotscheff

ein gefährliches Wort. Und doch gibt es etwas, womit ich die­ ses Wort verbinde. Weil wir mit dem Schrei begonnen haben, würde ich sagen: Archaik bedeutet für mich, soviel wie mög­ lich im eigenen Körper zu verorten und so wenig wie möglich abgeben und deswegen auch kompensieren zu müssen. Das ist der Raum, in dem ich am glücklichsten bin. Das andere sind eher Abenteuer, die ich nur bestreiten kann, wenn … ja, wenn ich auch gehen kann. Das Interessante ist, dass mich der Appa­ rat aber auch immer wieder auflud. Das heißt, ich spielte Die Ratten und war schwach, spielte Zement und ging am Abend

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strahlend raus mit einer Kraft, die ich in Tasso investieren konnte. Das war wie in einer Spirale, bis ich nach dem Tod von Gotscheff allmählich erlahmte. Er starb im Oktober 2013. Als ich 36 war, hatte ich zehn Jahre lang auf drei Hochzeiten getanzt und war einfach müde. So richtig müde. Gotscheffs Tod machte mich ratlos. Ich beschloss, jetzt ist Schluss mit dem Einzelkämpfertum! Ich hatte ausgelotet, was ich kann. Jetzt wollte ich Partner. Und dann wurden meine Bitten erhört, und Frank Castorf fiel vom Himmel. Ich war so bereit, ich war so hungrig nach allem, was er ist. Er war genau das, was ich suchte.

Frank Castorf fällt vom Himmel

Wo genau fiel er vom Himmel? In München. Ich habe jeden Morgen den Chefdramaturgen an­ gerufen, Sebastian Huber. Ich wusste, Frank Castorf ist im Haus … … für die Proben zu Jaroslav Hašeks Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg … … und ich wusste, ich muss dahin! Ich bin einfach zur Konzep­ tionsprobe gegangen. Drei Wochen später stieg ich in die Pro­ duktion ein. Sie haben sich also selbst besetzt? Ich wollte da sein! Und dann sah ich ihn. Die Konzeptions­ proben bei Frank ähneln ja eher einer Vernissage. Er spricht zwei Stunden über den Autor, seine Gedanken, dann geht man auseinander. Er hält einen Vortrag? Keinen Vortrag, er spricht über das, was er gelesen hat. Wer zum Beispiel der Mensch ist, der den Text, um den es geht,

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­ eschrieben hat. Das tut er ganz für sich. Und man ist zugegen. g Ich dachte danach: Was zum Henker war das?! Ich fühlte mich wie ein Sträfling, der noch drei Wochen ins Lager muss. Wieso? Ich war zur Zeit der Konzeptionsprobe noch in einer anderen größeren Produktion. In welcher? Das sage ich nicht! Aber plötzlich hatte ich die Aussicht, dass, wenn ich jetzt brav diese drei Wochen und die Premiere über­ lebe, auf Franks Proben darf. Ich wundere mich immer über den menschlichen Geist und Körper: Gerade hast du noch ­irgendeinen Schmu gemacht und alles ist wund und kaputt an dir – und plötzlich kommst du in einen Raum, wo er sitzt … Das ist wie bei Terminator … … oder bei Popeye … Mit einem Mal füllt man sich wieder auf. Danach haben wir uns erstmal hauptsächlich beleidigt. Beleidigt? Ja, also er hat mich beleidigt, und ich habe ihn beleidigt. Aber schon bezogen auf das Spiel? Nein. Sondern? Persönlich. Welche Worte fielen da? Er sagte so Sachen wie „Und? Sind Sie auch bei SOKO Stuttgart?“ Und ich fragte: „Und? Sind Sie auch schon Großvater?“

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(lacht) Und er sagte: „So nich‘!“ Auf diesem Niveau haben wir uns mehrere Tage nur beleidigt. Bereits da dachte ich schon immer nach den Proben: Oooh, das ist aber lecker. So was gibt’s? Irgendwann forderte er mich auf, ein Lied zu lernen. Also lernte ich ein Lied. Er sagte: „Sing mal.“ Also sang ich. Da er­ lebte ich das erste Mal diesen Moment, wo Frank irgendetwas hört – und zack! Als würde sich eine Schleuse öffnen. Du fängst an zu zeichnen, und plötzlich treibt es dich raus, er folgt dir und zeichnet innerhalb von zwanzig bis dreißig Minuten einen ­Entwurf. Einmal hat er mich eine ganze Probe lang auf einem Stuhl sitzen lassen. Die Drehbühne drehte sich, ich verschwand auf meinem Stuhl für längere Zeit nach hinten, tauchte beim nächsten Dreh irgendwann wieder auf, und er sagte nur: „Ah, Sie können ja warten.“ Wie gemein! Fand ich überhaupt nicht! Ich dachte: Ja, kann ich! Ich kann sehr gut warten. Einmal, bei den Bühnenproben, kam ich eine ganze Woche nicht dran, weil er nur den ersten Teil probte. Ich saß eine Woche lang in der Garderobe. Nicht mal im Zuschauerraum? Nein, zuschauen darf man nicht. Ich fand es aber ganz toll. Du probst eine Woche lang ganz allein für dich in deiner Garderobe, und dann kommt der Moment, wo der Elefant das Wasser lässt, du wirst in die Arena gespült und fängst an zu spielen. Es gibt ja immer eine Probe, wo Frank alles auf der Bühne wieder­ holt, und da sagt er ganz genau und ruhig, was wohin gehört und warum. An diesem Punkt hat sich die Inszenierung in seinem Kopf verfertigt?

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Gebildet, nicht verfertigt. Er guckt und sieht, wo was nicht stimmt, was man noch bräuchte, auch als Spieler merkst du das. Er ist darin ungeheuer schnell, wie ein Surfer, er nimmt den Tag und den Wind so, wie sie sind. Darin ist er auch auf eine Art bedürftig oder horchend. Die Spieler bieten an, gestalten mit. Ohne diese besondere Truppe, heißt es, würde dem Castorf-Theater etwas Entscheidendes fehlen. Er nimmt an, was kommt und gestaltet es weiter. Und dann gab‘s diesen Moment, wo ich ihn durch die Mithöranlage in meiner Garderobe eine Woche lang nur brüllen hörte, es gab Tränen und so weiter. Ja, auch das hört man von Castorf-Proben. Ich finde aber gar nicht, dass er brüllt. Er ruft eher auf so eine bestimmte Art … „Ich habe gar nicht geschrien. Ich habe nur gerufen.“ Ja, ein Sprechen auf einem sehr hohen Energielevel. Er beför­ dert sich selbst in die Energie, die er sehen will. Und er macht sich verwundbar. Nichts ist schrecklicher, finde ich, als ein ­Regisseur, der ganz ruhig im Parkett sitzt und sagt: „So, und jetzt brenn das Haus nieder! Mach das Wunder!“ Bei Frank ist das anders. Er selbst macht das Wunder! Ich als Spieler nehme es auf und lasse mich auf den Wellen davontragen. Er selbst ist dabei alles andere als in Sicherheit.

Das schöne Gefühl der Angst

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Hat Ihnen, als Sie da in der Garderobe saßen und diesem hochenergetischen Sprechen lauschten, die Art und Weise der Proben nicht auch Angst gemacht? Da ich Angst für ein sehr schönes Gefühl halte, hat es mir Angst gemacht und ich freute mich. (lacht) Es ist ein großes


Ereignis, wenn mir etwas Angst macht. Meiner Meinung nach ist Angst die Fährte. Da geht es lang! Einen solchen Moment hatte ich damals wirklich zwei Jahre lang nicht erlebt. Das ­letzte Mal bei Zement. Ich will das, was ich zwischendurch ­gemacht habe, überhaupt nicht kleinreden. Ich habe gesucht und geforscht und auch viel Querliteratur gelesen. Auch das ist bei Frank anders. Da liegen auf der Probe viele Bücher rum.

Stephanie Eidt und Valery Tscheplanowa in Maria Stuart, Regie: Michael Thalheimer, Schauspiel Frankfurt 2011

Das heißt, das Querlesen erfolgt nicht nebenbei. Es entstehen bei den Proben sehr, sehr viele Leerläufe – nein, Leerlauf ist nicht das richtige Wort –, es entstehen Räume, in denen Frank nichts vorhat. Das ist schon mal sensationell! Weil ich heutzutage hauptsächlich Menschen erlebe, die etwas vor­ haben. Sie haben etwas vorbereitet, haben ein Konzept oder einen Zeitplan, wissen auf wundersame Weise schon vorher, dass der Abend zweieinhalb Stunden dauern wird, es gibt eine fertige Textfassung, die der Dramaturg erstellt hat. Ich sage

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nicht, dass Maria Stuart nach einer guten Fassung zu spielen, leicht ist. Das ist immer noch viel Arbeit. Aber der Vorgang ist auch sehr stark gesellschaftlich konstruiert. Dass ein Mensch einen Raum zulässt, der erst einmal keinem klaren Zweck dient, wo du nicht durchschaust, wohin er rudert und von wo er kommt, ist schon etwas sehr Besonderes. Frank fragt auch immer wieder: „Was machen wir denn jetzt?“ Manche sagen nichts, andere bieten etwas an – und das gehört dann dir. Frank hat genug Handwerk für hundert Jahre, um etwas vor­ zugeben, wenn du nichts sagst, aber er ist bereit, wenn du ­etwas zu sagen hast, es auch zu nehmen. Nicht alle Schauspielerinnen und Schauspieler kommen damit wahrscheinlich klar. Natürlich. Es gibt Menschen, die sich damit nicht wohlfühlen. Aber wenn du beginnst, dich wohlzufühlen, entsteht komi­ scherweise eine Art Lebensraum und eben kein Arbeitsraum. Dann fangen Dinge an zu passieren. Frank hat irgendwann mal über den Unterschied zwischen Urwald und Symmetrie ­gesprochen. Für mich verbindet sich damit oft auch eine reli­ giöse Symmetrie. Wenn ich auf einer Konzeptionsprobe zum ersten Mal das Bühnenbild sehe, spüre ich sehr häufig diese religiösen Dogmen im Raum. Ich verstehe, dass es mit einem etwas zu tun haben kann. Aber mit mir hat es, würde ich sagen, nichts zu tun. Ich bin nicht religiös sozialisiert, und Religion ­findet für mich ganz sicher nicht in einem Raum mit einem Zentrum statt, mit Säulen und einem Altar. Aleksandar Denics ´ Bühnenwucherungen, in denen Sie in Die Aben­ teuer des braven Soldaten Švejk im Weltkrieg, später in Faust und Les Misérables spielten, sind tatsächlich eher ein Urwald. Diese Räume sind für mich religiös. Da geht es wirklich ums Überleben. Du betrittst sie, und es gibt kein Zentrum. Ich wür­

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de auch sagen, dass Frank nicht das Zentrum einer Inszenie­ rung ist. Für mich ist er so eine Art Urzeitkröte, die nichts vor­ hat. Er ist beschäftigt mit Lektüre und zwar seiner ganz persönlichen, dann mit seiner Liebe zu dieser Frau, zu jener Frau, zu diesem Mann, zu jenem Mann. Es sind seine Partner, die auf der Bühne sind, Spieler, ja, aber was ich mit Liebe ­meine, ist ein unbedingtes Interesse, die Bereitschaft, einem Menschen zuzuhören. Dem Menschen und nicht dem Schauspieler. Dem Menschen, der mit ihm ist. Dadurch, dass Frank beim ­Inszenieren lange Strecken gestaltet, muss er auch in der Lage sein, dem Schauspieler oder der Schauspielerin zuzuhören. Es gibt ja Stücke, zwanzig Rollen, kurze Auftritte, wo der Einsatz des Einzelnen kein Kunststück ist. Da braucht man als Regis­ seur nicht groß zuhören. Aber wenn du so arbeitest wie Frank, musst du den Menschen auf der Bühne tragen. Das tut er. ­Bevor er beginnt zu arbeiten, erschafft er so einen seltsamen Raum: Er stöhnt und seufzt und ächzt. Oft war ich da das ­Opfer: „Och, Valery mit ihrem Ehrgeiz, kommt da jetzt aus ­München und will hier den Faust … will jetzt hier die Hauptrolle spielen. Oh Gott, wie die hier schon sitzt, so vorbereitet, die hat schon alle Texte gelernt …“ Und dann ruft sein Sohn an, „Hallo …“, dann redet der erstmal mit dem, dann ruft seine Tochter an. Er hat ja sechs Kinder – bis die alle angerufen ­haben … Nach die­ ser langen Phase des Nichtstuns aber hängt plötzlich eine Art von Sinnlosigkeit, Zwecklosigkeit im Raum. Und genau an die­ sem Punkt passiert oft was ganz Erstaunliches, weil du nichts mehr planst. Diesen Punkt erreichen oft nur L­ iebespaare. Das ist zum Beispiel auch der Grund – es liegt mir sehr am Herzen, das zu sagen –, warum Frauen und auch M ­ änner bei ihm nackt sind. Gut, meinetwegen, die Körper sind auch schön, aber ich glaube, es hat primär mit Intimität zu tun. Wenn ich an diesen

Warum Männer und Frauen bei Castorf nackt sind

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Punkt komme, will ich mich ausziehen, denn wenn ich schon Dinge offenbare, gehört das dazu. Da gibt es auch keine Scham mehr. Weil sich die Intimität selbst mit dem Publikum herstellt, mit dem Sie diese sechs, sieben, acht Stunden durchlebt haben. Ja, ich habe das Gefühl, die Leute, die da im Zuschauerraum sitzen, zu kennen. Ich habe sie lachen gehört. Ich habe ge­ sehen, wie sie sich langweilen …

„Oh, kann die nicht mal aufhören?!“

… wie sie schlafen … … wie sie mich verachten. Ich habe in ihren Gesichtern ge­ sehen, wie sie dachten: „Oh, kann die nicht mal aufhören?!“ Und wie sie mich dann plötzlich wiederentdecken. Ich habe mit ihnen all das durchlebt. Sind die Texte am Ende von Faust romantisch? Dieses „Wendet zur Klarheit / Euch, liebende Flammen! / Die sich ver­ dammen, / Heile die Wahrheit“? Ist das romantisch, oder ist da tatsächlich eine Klarheit? Wie mache ich diese Klarheit hör­ bar? Ganz gewiss kann ich das Ende von Faust nicht nach zwei Stunden aussprechen. Das ist genauso wie du „Ich mag dich“ nicht sagen kannst, bevor ganz viele Dinge passiert sind, und „Ich liebe dich“ schon gar nicht. Vielleicht sagst du diesen Satz nie oder erst nach zwanzig Jahren. Es braucht diese Strecke, ­bevor ich etwas sagen kann, eine Strecke, auf der ich ganz viel tun muss in Gegenwart eines anderen Menschen, bevor ich ihm nahekommen darf, auch dem Publikum nahekommen darf – und es mir. Ich empfinde den Raum, den Frank schafft, als unwahrscheinlich respektvoll. Und sehr nah am Leben. Auch in der Annäherung an eine andere Person ist es ja oft so, dass ich mich zunächst von der Seite zeige, die ich für die beste

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Zeichnung von Thomas Palme

halte. Irgendwann bricht die Situation ein wenig auf, ich er­ zähle vielleicht Erlebnisse aus der Kindheit. Aber ist mir das schon genug? Ist es mir schon genug, dass ich einen Menschen verortet habe? Wo ist er geboren? Was mag er? Wie sieht er aus? Finde ich ihn sexy? Ist er giftig? Essbar? Möglicher Sexual­ partner? Oder Feind? Bei vielen Aufführungen ist da schon Schluss. Es passiert eine Verortung: Ich lerne die Personen kennen,

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Castorf: „Wenn du mit mir rumhängen willst, musst du durch den Wald“

und wir haben uns alle verständigt. Wir haben uns in einen Literaturkanon oder Schauspielkanon eingereiht und können noch essen gehen. Es ist noch nicht 22 Uhr 30 und wir können uns gesittet bei einem Wein darüber unterhalten, was wir ­gesehen haben, ob diese Maria Stuart besser war als die vor­ letzte oder die vorvorletzte. Das alles macht Frank unmög­ lich. Er, als Liebender, sagt: „Wenn du mit mir rumhängen willst, musst du durch den Wald. Es reicht nicht, im Park ­spazieren zu gehen.“ Er zwingt dich, ihn kennenzulernen. Aber er lernt auch dich kennen. Und das Ensemble sich untereinander sicherlich auch. Oh ja! Marc Hosemann als Mephisto hat Ihnen bei einer Faust-Vors­ tellung das Kreuzband ruiniert. Nein, es war ein Unfall! (lacht) Das war echt hart. Marc hat von Anfang an mit mir zu kämpfen gehabt. Vor allem damit, wie ich spreche. So gepflegt, gar nicht rotzig. Ich glaube, ihn hat das angekotzt. In einer Szene merkte ich richtig, wie er vor mei­ nen Worten floh. Er rückte immer weiter von mir ab, ich wollte das aber nicht auf mir sitzen lassen und bin ihm hinterher, habe ihm immer so in den Nacken gesprochen. Die Szene sah dann vor, dass ich Mephisto auf den Rücken springe, also sprang ich. Er aber sprang nahezu gleichzeitig wie eine Heu­ schrecke mit allen Vieren in die Luft. Das hat uns beide umge­ worfen. Sie haben trotzdem weitergespielt? Ja. Anfangs merkte ich gar nicht, dass da was gerissen war. Zwischendurch saß ich aber hinten auf der Seitenbühne und habe nur geheult. Marc hat sich dann auch neben mich gesetzt und es mit mir ausgehalten.

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Jenseits solcher Unfälle liegt die große Kraft des Castorf-Theaters darin, dass es Vorgänge wirklich geschehen lässt. Da stehen ­keine dressierten oder domestizierten Tiere auf der Bühne. Statt sich Vorgänge anzutrainieren, werden sie in allen Facetten durchlebt. Sie ändern sich auch ständig, ebenso wie sich das ­Leben ständig ändert. Es gibt keine … Verbote!

Valery Tscheplanowa und Martin Wuttke in Faust, Regie: Frank Castorf, Volksbühne Berlin 2017

Genau. Interessant finde ich, dass die Regieanweisungen in ­Castorfs Textbüchern eigentlich das genaue Gegenteil erzählen. Da steht minutiös drin, wer wo zu stehen, zu gehen und zu agieren hat. „Alexander jetzt links ab, Valery hinterher“ und so weiter. Als säße da jemand am Joystick und würde die Schauspieler wie Avatare durch eine virtuelle Welt manövrieren. Wie wirkt sich diese Strenge letztlich auf das Spiel aus? Haben Sie das

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Genauigkeit und Abwei­ chung

­ efühl: Oh, jetzt darf ich eigentlich gar nicht Marc hinterherG laufen, da ich ja links stehen bleiben soll? Oder gibt es den Punkt, wo alles durch die enorme Kraftanstrengung, die das Spiel erfordert, auseinanderfliegt? Ja, es kommt natürlich zu Abweichungen. Es fliegt durch die Dauer der Genauigkeit irgendwann auseinander. Verselbst­ ständigt sich. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal über einen sehr langen Zeitraum eine ganz stupide Sache machen mussten. Ich bin zum Beispiel mal mit dem Auto nach Russland gefah­ ren. Es schneite. Nach drei Tagen Schnee auf einer immer gera­ den Straße kommt der Körper in einen komischen Zustand. Plötzlich fängt man an zu lachen – ohne erkennbaren Grund. Irgendwann begreift der Körper die Notwendigkeit der Erfül­ lung von etwas nicht mehr. Irgendwann sagt er wie ein Hund, der seinem Herrchen nicht mehr gehorcht: „Jetzt ist Schluss.“ Es ist einfach egal, ich weiß, es gibt noch zwei Stunden oder drei Stunden Textanweisungen. Aber es ist mir einfach ab jetzt egal. Wann dieser Moment eintritt, ist jedem Spieler selbst überlassen – er kann auch nicht eintreten, es gibt Abende, wo es möglich ist, die Regieanweisungen eins zu eins bis zum Schluss durchzuspielen. Aber wenn die Pferde mit dir durchgehen, geschieht dies jeden Abend an einer an­ deren Stelle. Frank Castorf gibt das nicht vor. Er gibt auch nicht vor, wo welche Emotion zu herrschen hat. Das, finde ich, ist die größte Gewalttätigkeit: dass etwas auf einen Moment hin gebaut ist. Man fühlt sich in emotionaler Geiselhaft. Meine Lieblingsvorstellung von Faust war, als gleich zu Anfang – ich lag schon auf meinem Sarg, hatte mich zuvor zwei Stun­ den lang vorbereitet, hatte gegurgelt, meine Bonbons ge­ lutscht – plötzlich die Inspizientin auf die Bühne kam und sagte: „Alexander ist noch zu Hause!“

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Faust, Regie: Frank Castorf, VolksbĂźhne Berlin 2017 Fotostrecke: Just Loomis





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Oh ha! Alexander Scheer, der gleich in der ersten Szene mit dabei ist. Das Publikum war sogar schon drin. Ich dachte, jetzt muss doch mal jemand kommen und den Leuten sagen, dass sich der Anfang verzögert. Nein! Niemand kam. Auch Alexander nicht. Der war erst nach einer halben Stunde da. Er wird’s mir, glaube ich, verzeihen, dass ich das hier so erzähle – weil’s so schön war. (lacht) Ich war dann doch ein Stadttheaterzirkus­ pferdchen, das erst so langsam aus seinem verknöcherten Pan­ zer geholt wurde. Erst dachte ich: Was? Wie soll das jetzt hier ablaufen? Irgendwann aber begann ich die Situation zu genie­ ßen. Nach 15 Minuten fragten sich die Zuschauer, ob das Ganze eventuell schon einen Sinn hätte, und hörten auf zu sprechen. Plötzlich war es ganz still. Es passierte nichts? Nichts! Ich saß auf meinem Sarg, niemand kam, die Zuschauer schwiegen. Irgendwann kam dann endlich Alexander, und wir fingen an. Das war eine der tollsten Aufführungen. Durch die Stille waren die Zuschauer ganz anders vorbereitet. Das hat Alexander durch seine Abwesenheit geschafft. Ich war natür­ lich auf ’nem Mordspegel. Wir starteten irrsinnig hoch – und surften auf dieser Energie durch den Abend. Dann gab es Auf­ führungen, die sich gleich zu Anfang zweimal langsamer an­ fühlten. Jeder sagt brav seinen Satz und so weiter. Es hängt vom Tag ab. Wie Wettervorgänge: Ströme, Wirbel, Anziehungs­ kräfte. Das ist das, was Frank schafft: weibliche, männliche, androgyne, kindliche, alte, greisenhafte Kräfte, körperlich ­Starke, körperlich Schwache, Sprache, die Unfähigkeit, sich zu formulieren, zu penible Fähigkeit, sich zu formulieren, zusam­ menzumischen und es den Kräften zu überlassen, was pas­ siert. Er schützt das Ganze durch die literarische Struktur. Er schützt als Dramaturg.

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Im Faust, wie auch in vielen anderen Castorf-Inszenierungen, gibt es keine klar definierten Rollen. Wie war das für Sie? Sie­ kamen aus München, vom Residenztheater, wo man ja doch eher an Rollen hängt, und plötzlich spielten Sie, anfangs in relativ schnellen Wechseln, Gretchen, Helena … … Gott …

„Wenn ich Antigone war, habe ich neidisch zu Kreon geschielt“

War es schwierig für Sie, sich im Prinzip nur an der textlichen Gedankenwelt entlanghangeln zu können und nicht an einer Figur? Ich würde sagen, dass es mir leicht gefallen ist, weil ich mir immer vom Autor aus ein Stück erarbeitet habe, nie von einer Figur her. Ich kannte immer alle Figuren, mir fiel es dann eher schwer, mich auf eine Figur zu beschränken, zu sagen, ich muss jetzt diesen Aspekt spielen, damit der Kollege den anderen ­Aspekt spielen kann. René Pollesch sagt: „Menschen zeigen Pässe, die sind teilweise sehr detailliert: Ich mag Folkmusik, ich mag Dostojewski, ich mag dies, ich mag das.“ So soll dann ­angeblich der Umriss meiner Persona entstehen, die dann ­lesbar wird – und unter Umständen verwendbar, in einem ­Rollenfach verwendbar. Wenn ich Antigone war, habe ich im­ mer neidisch zu Kreon geschielt. Wobei es Ihnen wahrscheinlich auch nicht reichen würde, nur Kreon zu spielen. Mich hat immer der Autor interessiert. Im Vorgang des Schrei­ bens erschafft er diese Gemeinschaft, er fächert seinen Blick auf. Bei Castorf ist man eher Träger der Gedankenwelt eines Autors oder sogar einer ganzen Gesellschaftsstruktur. Aber auch darin ist er ungeheuer respektvoll. Er sagt nicht: „Der Autor hat mir das hier hinterlassen, und ich kann das jetzt

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nutzen.“ Er sagt vielleicht vielmehr: „Ich kann da gar nicht so nah ran, nehme nur eine bestimmte Kurve und lasse sie auf etwas anderes treffen.“ Wenn ich an Frank denke, kommt mir immer wieder das Wort Vollständigkeit in den Kopf. Ich habe das Gefühl, dass er männliche und weibliche Eigenschaften vereint. Er ist ein Mann, aber er hat Frauen wie Männer so stark ausgelotet. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass er jetzt irgend­ etwas präferiert oder vorzieht. So, jetzt sind wir in diesem flachen Gewässer. (lacht) Bei der Frauen-Frage. Ich finde ja das Bild mit den Pässen sehr schön. Man könnte sagen, bei Castorf hat man keine doppelte Staatsbürgerschaft, sondern eine multiple oder gar keine. Ich habe keinen Pass, genau. Man ist außerhalb des Systems – des Figurensystems sowieso, aber vielleicht auch des Rollensystems im Sinne von Mann und Frau. Es changiert ständig. Manchmal ist die Frau, wenngleich sie hochhackige Schuhe trägt, männlicher als der Mann. Und umgekehrt. Jugend, Alter, Dominanz, Bedürftigkeit, Stärke, Schwäche. ­Diese Zustände musst du nirgendwo definieren. Du musst dich nicht dafür entscheiden, sie hier oder dort zu erzeugen. Das ist etwas sehr Organisches. Es ähnelt für mich eher ei­ nem A ­ möbenhaufen, der ohne Absicht Formen bildet. Das ist das, was der Volksbühnenorganismus in meinen Augen war.

Die Volksbühne als Amöben­ haufen

Dennoch hält sich das Vorurteil in der Öffentlichkeit hartnäckig, dass Castorf, wie der Theaterkritiker Till Briegleb neulich wieder in der Süddeutschen Zeitung schrieb, Frauen lediglich als Salonprostituierte zeigen würde. Natürlich sind Émile Zolas Nana, die Sie im Faust spielen, und Victor Hugos Fantine, die Sie in Castorfs

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Les Misérables am Berliner Ensemble spielen, Frauen, die aus ihrer Not heraus ihren Körper verkaufen. Prostituierte. Aber Nana war im Faust ja nur ein Teilaspekt.

„Ich zeige meinen Körper nicht, wenn die Dramaturgie nicht stimmt“

Aber auch Gretchen könnte so gelesen werden, dass sie immer nur reagiert. Oft macht sich der oben zitierte Einwand auch am Kostüm fest. Da will ich ein paar Dinge trennen. Adriana Braga Peretzki, die Kostümbildnerin, ist gebürtige Brasilianerin. Das ist sehr wich­ tig, ich werde nie müde, das zu betonen. Klar entwirft sie Kos­ tüme, die ihr gefallen, aber sie macht das ganz unabhängig, vor der Probe. Sie arbeitet mit Blöße, aber sie entblößt nicht jeden. Ich wollte dieses offene Kostüm, weil es mir gefiel, weil es auch etwas ist, das mir sehr viel Spaß macht. Ich habe sehr lange gearbeitet, ohne meinen Körper zu zeigen. Für mich ist es ein Privileg, meinen Körper zu zeigen. Ich zeige meinen Kör­ per allerdings nicht, wenn die Dramaturgie nicht stimmt, wenn die Regie nicht stimmt, dann verschließe ich mich auch optisch. Das geht nur mit Text, mit Inhalt. Wenn mich jemand bitten würde, ausschließlich meinen Körper auszustellen, bin ich der falsche Adressat. Oder es bedarf einer sehr starken Form. Ich denke da an Marina Abramovic.´ Da gibt es keinen Text, aber eben ein klares performatives Setting, eine Rahmung. Es braucht einen Kontext. Für mich ist es immer wieder ein ge­ sellschaftlicher Zusammenhang, für den ich mich entscheide. Ich entscheide mich für jemanden, der sich gesellschaftlich positioniert. In dem Augenblick, in dem ich sage, ich bin einver­ standen mit deiner Lesart, lege ich alles auf den Tisch. Aber ich will das auch nicht wegbügeln. Was ich sagen will ist: Frank lässt zu. Er lässt auch die Masochisten zu, die sich demütigen lassen wollen, er lässt auch das Weibchen zu, das stöckeln will,

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er lässt auch die Verklemmte zu, die sich heimlich befreit ­wissen will, er lässt die Verweigerer zu, er lässt die Denker zu. Dennoch habe ich mich oft gefragt, wer sich überhaupt auf diese Spielform einlässt. Meine Vermutung ist … (kurzes ­Zögern) Traue ich mich das jetzt zu sagen? Sie können es zur Not ja hinterher wieder streichen. Ich will mich trauen – warum nicht? Manchmal wollen sich Menschen, die etwas können, in einen Sicherheitsraum zu­ rückziehen wie so ein kleiner Marder, der irgendetwas ge­ schnappt hat und dann mit seiner Beute, mit seinem Können, in seinen Bau schlüpft. Was dieser kleine Marder besitzt, soll kostbar gerahmt werden. Es gibt Leute, die können kostbar rahmen. Das ist wirklich toll, wenn jemand so etwas be­ herrscht. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass bestimmte Menschen zu Frank gar nicht kommen, sodass er tatsächlich, das sage ich jetzt in Anführungsstrichen, eine „beschränkte“ Auswahl hat. Er hat ja als junger Mann am Deutschen Theater gearbeitet. Wenn ich jetzt eine Zeitreise machen dürfte und dafür etwas ganz Kostbares hergeben müsste, meinen kleinen Finger zum Beispiel, dann würde ich gerne seine Anfänge se­ hen. Ich würde gerne sehen, wie er mit diesen großen Spielern am Deutschen Theater Berlin, die aus einer anderen Genera­ tion kamen, gearbeitet, geforscht hat. Er ist dann immer mit dem umgegangen, was er vorfand, glaube ich. Anklam, Deut­ sches Theater, Volksbühne. Immer entstand eine Art von ­Alltag. Ein Bühnenalltag oder, meinetwegen, ein Trink- und Drogenalltag, was auch immer. Er zog überall bestimmte Menschen an, andere nicht, andere fürchteten sich davor. ­ Durch diese Wanderbewegungen entstanden, wie auch in München, für kurze Zeit interessante Konstellationen. Die ­gehen hinterher aber auch kaputt. Er ist niemand, der eine Konstellation konserviert und daran festhält. Wie ein Klima

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Die Intelligenz des Zufalls

eben. Auch bei Ein grüner Junge 2018 in Köln waren das alles junge Leute, von der Volksbühne war niemand dabei, aber es stimmte. Andere haben kluge Absichten, denken scharf über die Besetzung nach, zerstören aber mit dieser Absicht die Intel­ ligenz des Zufalls. „So fühlt man Absicht und man ist verstimmt“, heißt es in Goethes Torquato Tasso. Deswegen würde ich wirklich bei Frank von einer Intelligenz sprechen, die ich eher in Indien verorte oder auf Kuba oder im Schamanismus. Es ist eine Form von Intelligenz, die nicht auf europäische Art Dinge ausschließt. Sie sagt nicht, das hier ist der reine Raum, die saubere Kunst, das geordnete Gedicht, die abgeschlossene Form. Er ist ein Dichter, der auswandert, der sich verirrt, der im Nationalsozialismus verloren geht oder in Afrika. Es sind Schicksale, die nicht abgeschlossen, nicht ge­ schützt sind vor dem Phänomen Leben. Deswegen bewegt er sich auch immer weiter, er ist nicht dingfest zu machen. (Im Hintergrund an der Bar wird es plötzlich laut. Ein Gast in weißer Dschallabija, wie man sie etwa im Sudan trägt, dis­kutiert wild gestikulierend mit den K ­ ellnern. Er gehe schon seit 25 Jahren in die Paris Bar, ruft er in akzentfreiem Deutsch, aber so ­etwas habe er noch nie erlebt.) Warum arbeiten Sie nicht weiterhin mit Castorf? Ich werde wieder mit ihm arbeiten. Er treibt sich gerade an Stadttheatern rum. Das ist ein anderes Gewässer, als es die Volksbühne war. Für mich ist Intelligenz etwas, das nicht in meinem Kopf stattfindet. Intelligenz ist etwas, das zum ­Beispiel in dem Moment stattfindet, wo dieser Mann hier so einen Lärm macht. Ich erzähle gerade über Chaos, und plötzlich kommt jemand und bekommt einen Wutanfall. Das sind Dinge,

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die sich im Alltag einfach ereignen. Das ist eine Kreativität oder ein künstlerisches Schaffen, das nicht zentriert ist. Diese Krea­ tivität ist nicht optimiert. Sie ist nicht transportierbar. Sie ist nicht verkäuflich. Sie ist kein System. Da ist kein Label drauf. Und das war nur an der Volksbühne möglich? Ich sage nicht, dass das Stadttheater ein Folterwerkzeug ist, aber mir haben bestimmte Produktionen nichts anderes ge­ geben als Kasteiung, weil man aus einem – in meiner Wahr­ nehmung – Mangel an Intelligenz Zwang ausgeübt hat. Bei Faust gab es einen Schauspieler, der erst drei Tage vor der Pre­ miere „aufgewacht“ ist. Frank Castorf hat sofort reagiert und umgebaut. Die Stücke sind so konzipiert, dass auch ich als Schauspielerin jederzeit umschwenken kann. Frank ist sowieso schon ab der Generalprobe abwesend. Und dann stehst du da, in diesem Irrgarten. Was würde passieren, wenn wir jetzt nach einer so langen Zeit Faust spielen? Es wäre alles anders. Ich bin nicht gebunden, weder an die Dramaturgie eines Autors noch an die eines Dramaturgen oder an die Erwartungen des Zu­ schauers. Und wer mir dann erzählen will, dass ich, nur weil ich Stöckelschuhe anhabe und man meine Brüste sieht, als etwas missbraucht werde, bei diesem Ausmaß an Verantwortung und Freiheit, habe ich das Gefühl, da ist jemand reingefallen auf Zeichen.

„Ich sage nicht, dass das Stadt­ theater ein Folterwerkzeug ist“

Auf Oberflächen? Auf Reize. Und dann empfehle ich demjenigen auch wirklich mal in einer stillen Minute ein Paar sehr hohe Stöckelschuhe anzuziehen, eine Federboa umzubinden, seinen Popo zu ent­ blößen und zu spüren, was das macht. Ich bin klein, ein Meter 67, wiege 55 Kilogramm, an mir ist nicht viel dran. Wenn ich aber so ausgestattet bin, verwandle ich mich in ein Tier. Das kann ich nicht einfach so. Ich brauche

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Hilfsmittel. Diese Hilfsmittel kann ich abnehmen. Diese Mög­ lichkeit hat Frank mir ja auch gegeben. Ich nehme sie zuneh­ mend ab, und man sieht einfach mein Fleisch, so wie es ist. Natürlich sind diese Hilfsmittel zur Steigerung der sexuellen Kraft dem Rotlichtmilieu entlehnt. Oder dem Varieté … … dem Karneval … … der Zeit der Gesetzlosigkeit … … des Spiels. Wobei der Grundtenor seiner Aufführungen seine politische Haltung zur Jetzt-Zeit ist. Wie seriös muss Auseinander­setzung aussehen? Bin ich nur seriös im Rollkragenpullover? Steigert es meine Seniösi… Seri…

Seriosität und Senilität

Seriosität. Ich denke immer Senilität. Steigert die Abwesenheit von Haut meine Seriosität? Die Frauen in Vorstandsetagen oder in der Politik tragen eher hochgeschlossene Kleidung. Einschlägige Karrierecoaches raten Frauen auch, bei Verhandlungen nicht zu sexy aufzutreten. Oder ist es so, dass eine männliche Welt mir vorschreiben will, wie ich meinen weiblichen Körper einzusetzen habe und vor allen Dingen, was ich zu verstecken habe, wenn ich Inhalt ver­ mitteln soll? Insofern wäre es eine bloße Anpassungsleistung, wenn sich die weibliche Welt, im Bestreben, ernstgenommen zu werden, selbst verbietet, Stöckelschuhe zu tragen, Röcke zu tragen, die Weiblichkeit auszustellen. Das ist ein irrsinniger Gedanke! Ernstgenommen werde ich doch, weil ich mich selbst ernstnehme. Nicht weil ich so viel

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Goethe gelesen habe oder sonst was auswendig herunter­ beten kann. Auch nicht weil ich einen Anzug anhabe. Es hat etwas damit zu tun, wie ich mit mir verbunden bin. Satyrspiel Ein Mann kommt an den Tisch, einer der letzten Gäste. Er spricht Valery Tscheplanowa an. Mann Wenn du mit deinen schönen Händen mal Sushi essen willst, ich habe auch WhatsApp. Tscheplanowa Sehr gut. Mann Ich wohne nicht weit von hier. Tscheplanowa Ich finde Sie. Mann Sag mal, bei deiner Stimme, da könntest du glatt … Tscheplanowa Schauspielerin sein. Von hinten ruft die Barfrau, er solle doch endlich verschwinden. Der Mann verabschiedet sich murrend und geht. Eilers Wie oft passiert Ihnen das? Tscheplanowa Sehr oft. (lacht) Manchmal sogar, wenn ich nur an der Kasse Danke sage. Die Barfrau kommt an den Tisch. Barfrau Bei dem fällt mir noch einer ein. Ihr kennt doch den, oder? (zeigt den Mittelfinger) Tscheplanowa / Eilers Ja. Barfrau Kennt ihr den? (zeigt den kleinen Finger) Tscheplanowa / Eilers Ne, was heißt das? Barfrau Für ‘nen echten Kerl nehme ich den Mittelfinger. (hämisches Lachen) Dennoch stellt sich mir bei Castorf eine Frage inhaltlicher Art. Im Faust ist ja eines der zentralen Themen der Kolonialismus beziehungsweise Postkolonialismus, auch der Kolonialismus bezogen auf den Frauenkörper. Die Textpassagen über den ­algerischen Freiheitskampf werden indes selten von Frauen

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Weibliche Körper in politischen Zusammen­ hängen

­ esprochen, wenngleich Frauen in diese Kämpfe durchaus involg viert waren, wenn auch nicht an vorderster Stelle. Luigi Nono zum Beispiel hat mit Al gran sole carico d’amore eine Oper über die Frauen während der Pariser Kommune geschrieben. Assia Djebar ist eine Autorin, die sich mit den Frauen im kolonialen und post­kolonialen Algerien beschäftigt hat. Bei Castorf sind es dann doch meist wie in Les Misérables die Männer, die auf den Barrikaden stehen. Ja, Frank ist ja dann doch ein Mann. Und eine Frau ist eine Frau, Marina Abramovic´ ist da ein fantastisches Beispiel: Sie be­ schäftigt sich als Frau mit ihrem weiblichen Körper und stellt ihn in politische Zusammenhänge, erlöst ihn davon, zeigt das Verhältnis von Körper und Gesellschaft. Das tut sie als Frau mit sich. Frank spricht von den Themen, die ihn interessieren. Ich gestehe ihm zu, dass er, wenngleich er sich enorm als Mensch ausgebreitet hat, ein Mann bleibt. Auch in der Literatur, die man liest. Mich zum Beispiel interessiert Louise Bourgeois ­irrsinnig oder Janis Joplin oder eben Marina Abramovic´ oder Cindy Sherman, da zieht es mich hin als Frau. Und Frank zieht es eben dorthin. Dazu addiert er weibliche Gestalten, die er seinem Erfahrungshorizont entnimmt. Virginia Woolf schreibt in ihrem Essay Ein Zimmer für sich ­allein: Es sei tödlich für all diejenigen, die schreiben, an ihr ­Geschlecht zu denken. Alles, was mit dieser bewussten Einseitigkeit geschrieben werde, sei zum Tode verurteilt. Bevor der Schöpfungsakt vollbracht werden könne, müsse im Geist vielmehr eine Zusammenarbeit zwischen Frau und Mann stattfinden. Dem stimme ich zu! Ich bin ein vollständiges Wesen, aber ich bin auch ein sexuelles Wesen. Und weil ich ein sexuelles ­Wesen bin, bedarf ich des Gegenübers. Ich empfinde Frank und Marina – mit beiden habe ich zusammengesessen – als Gefährten, ­beide sitzen, auch wenn sie sich selbst nie begegnet sind, in

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meinem Kopf an einem Tisch. Marina muss jetzt nicht in Franks Aufführung mitspielen oder umgekehrt. Was für eine Vorstellung! Ja. Es gibt eine Kabarettistin, Wanda Sykes, die sagt: „I don’t choose that.“ Ich wähle nicht, homosexuell zu sein, ich bin es. Es ist keine Diskussionsgrundlage und deswegen auch kein Thema. Natürlich ist es wichtig, einer Gesellschaft zu vermit­ teln, dass es kein Thema ist, dass es jedem frei steht zu wählen. Aber auch für mich kann es kein Gegenstand von Rechtferti­ gungsvorgängen sein, dass ich mich für die männliche Kraft interessiere. Was auch nicht heißt, dass ich sie verstehe. Wenn ich an all die Männer denke, die ich in meinem Leben kennen durfte, kann ich nicht sagen, dass ich verstehe, wie darin be­ stimmte Reaktionen zustande kommen. Da laufen die Dinge anders. Und ich habe nicht den Wunsch, das wegzunehmen.

„Bei Männern laufen die Dinge anders“

Also sich durch und durch zu verstehen, wie es immer so schön heißt. Eine schreckliche Vorstellung. Ich will die Anziehung nicht missen, die so entsteht – und die auch entsteht, weil der Mann nicht deuten kann, wie ich ­reagiere. Nehmen wir ganz klassisch diesen Konflikt: Ich bin ein weibliches Wesen, ich habe keine Kinder, aber ich will be­ schützen, und das kann auch ein Text sein, ein Inhalt sein, das Ensemble. Für mich war es sehr lange Zeit der Dichter. Ich habe die Dichter beschützt wie eine Wölfin vor dem Zugriff des mei­ nes Erachtens nicht kompetenten Regisseurs. Ich ziehe daraus meine Kraft, dass ich entscheide, was schützenswert ist. Gleichzeitig ist für mich im Wesen eines Mannes der Angriff interessant, das Gefährden, das Dachwegreißen, das Weg­ laufen, die Flucht. Die Flucht vor mir zum Beispiel. Ein ganz wichtiger Aspekt, der mich dazu bringt, interessant auf die Flucht eines Mannes zu reagieren.

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Wie? Zum Beispiel gar nicht und einfach zu warten, bis derjenige einen großen Bogen um mich gemacht hat, bis wir, da ich ja immer noch da bin, weitermachen. Das kann auch innerhalb einer Probe passieren, wenn der Regisseur zum Beispiel sagt: „Ich will nicht“, und ich einfach dasitze, bis es stattfindet. Das würde ich als weiblich beschreiben. Als mein eigenes „weib­ lich“. Meine Fähigkeit sitzenzubleiben, meine Geduld im Klei­ nen, in meinem Interesse an Goethe, jede Scheiß-Zeile wirklich Jede ScheißZeile von Goethe getrunken zu haben. Das ist mein Interesse für ein Wesen. trinken Aber dieses Interesse muss angegriffen werden. Aber offensichtlich treibt Sie das nicht hinfort. Nein. Ich wähle heute aus der Fülle der Eigenschaften, die ich keiner Geschlechtlichkeit zuordnen muss. Trotzdem bleibe ich eine Frau. Die Polung kommt aus der Struktur meiner Haut, meiner Nerven, meiner Gehirnstruktur. Die Jahrtausende, die in meiner Biologie umhergehen … … welche aber auch, siehe Woolfs Orlando, auf Jahrtausende ­gerechnet auch mal männlich gewesen sein kann … Ja. Ich war über Jahrtausende alles Mögliche, und das ist in meiner Biologie enthalten. Aber diesmal, für diesen ­Moment, für diesen Körper, bin ich eine Frau. Womit fülle ich diesen Begriff: Frau? Es ist ein ungeheures Privileg, mir diese Frage stellen zu können und nicht wie zum Beispiel meine Mutter mit 22 Jahren schwanger zu sein und diese Frage beantwortet zu bekommen, indem sie mich ernährte, pflegte, lehrte, beschützte, mich bis heute in allem, was ich tue, begleitet und unterstützt. Ich kann meine Weiblichkeit heute, auch ohne zu gebären, in einer Gemeinschaft neu ­definieren. Aber ich bin auch ein Tier, gesteuert von Hormonen. Ich bin nicht nur ein weltoffenes Hirn. Ich bin Geschlecht

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und Hirn. Und irgendwo dazwischen verorte ich mich als Frau. Das bedeutet nicht, dass ich mich darüber definiere. Ich ­definiere mich nur über das Phänomen, dass ich ein Säugetier bin und lebe. Ein Säugetier, das sehr sprachbegabt ist und das bewusst ist. Aber die Prozesse, die in mir ablaufen, sind tieri­ sche Prozesse. Mein Organismus erfährt Antrieb über Begeh­ ren und Gegnerschaft. Weil wir vorhin von Angst sprachen. Ich finde, Frank Castorf hat begriffen, dass der zivilisierte Mensch, der durchschnittszivilisierte Mensch unterfordert ist. Er be­ wegt sich zu wenig, er sitzt zu viel, er isst zu viel, er fastet zu wenig … … denkt zu wenig … … oder zu viel! Auf jeden Fall sitzt er zu viel. Und er geht im Geist an seine Grenzen. Er redet sich selber krank oder denkt sich krank und so weiter. Aber sein Körper kommt nicht an die Reserven. Frank hat das begriffen und versetzt den Schauspie­ lerkörper und die Zuschauer in Ausnahmezustände. Nach sechs Stunden Vorstellung bin ich entweder extrem müde oder extrem glücklich. Frank erzeugt diese Zustände über Ver­ ausgabung. Das ist unserem Organismus eigen, aber wir wis­ sen es nicht mehr, es ist verschüttgegangen. Ich glaube, dieses Schreien hat teilweise die Funktion, uns aus der normalen Um­ laufbahn herauszukatapultieren. Eigentlich geht das ganz leicht. Aber trotzdem ist diese Grenze so schwer zu über­ queren. Weil die Grenze das sogenannte zivilisierte Verhalten markiert. Damit erreichen wir die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält. Wirklich Verkauf? Oder der Respekt vor dem Raum, den jeder Mensch oder jedes Tier, auch die Erde selbst braucht, um gesund zu sein. Ein Baum kann nur eine bestimm­ te Anzahl von Früchten tragen. Ein Körper kann nur ein be­ stimmtes Maß an Bewegung aushalten. Die heutige Gesell­

Zuschauer in Ausnahme­ zuständen

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schaft, behaftet mit diesem Phänomen des Verkaufs, ignoriert diese Grenzen.

„Was ist mein Interesse?“

„Rettet die Marktwirtschaft, schmeißt das Geld weg“ – so lauteten stattdessen die Parolen an der Castorf-Volksbühne, hier Christoph Schlingensiefs Slogan für seine Chance-2000-Partei. Es ging nicht um Verkauf. Nein. Durch das Fehlen einer Zielsetzung und durch das Ver­ trauen auf sein eigenes Interesse entstand vielmehr ein Raum, in dem plötzlich die Frage auftauchte: Was ist denn mein Inte­ resse? Wie ließ sich dieses Eigeninteresse konkret umsetzen? Zum Beispiel sagte Frank Büttner bei den Proben zu Faust mit einem Mal zu mir: „Da muss was raus. Denk nach, was du bei deinem Text weglassen kannst.“ Ich entschied mich also für eine Stelle. Martin Wuttke sagte sofort: „Ja, dann könnte man da und da anschließen.“ Alexander Scheer sagte: „Ah, wir ­waren noch nicht dort.“ Martin Wuttke meinte, wir müssten aufs Dach – plötzlich war also ein Vorgang losgetreten, der ohne diese Freiheit nicht möglich gewesen wäre. Und Castorf geht da mit? Man muss sich das wie in einer Dorfgemeinschaft vorstellen. Ich gehe zum Bürgermeister und sage: „Da muss was raus.“ Nicht: „Da muss vielleicht etwas raus.“ Das ist eine richtige Not. Ich schlafe eine Nacht nicht und denke: Was zum Henker kann da raus! Wenn diese Entscheidung unabdingbar ist in mir, dann wird irgendjemand anderes darauf reagieren. Es gibt keine Diskussion. Frank bringt dich an diesen Punkt des Unab­ dingbaren, an dem du sagst: Kann ich nicht, es geht nicht, ich muss was tun. Und dieses „Ich muss was tun“ ist wieder Tier, ist wieder Adrenalin, ist Fluchtimpuls. Er bringt dich zu deinen

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animalischen Instinkten – und die sind nicht anfechtbar, wie der Mutterinstinkt oder der Fluchtinstinkt oder der Instinkt zu beschützen. Jenseits ziviler Strukturen. Wenn ich ins Arbeits­ amt gehe und ich sitze dort mit den Menschen und warte, ­spüre ich, dass jeden Moment jemand aufspringen könnte, weil er es nicht mehr aushält, und alles zerschlägt. Frank gibt diesem Nicht-mehr-Aushalten eine Stimme. Er geht im Pro­ benprozess so weit, bis jemand Stopp sagt. Die meisten Men­ schen gehen hingegen, glaube ich, nur so weit, bis sich ihnen religiöse oder gesellschaftliche Stereotype in den Weg stellen. Sie externalisieren das Stopp. Dabei liegt es in der Freiheit eines jeden, diese Grenze selbst zu bestimmen. Natürlich muss Gesellschaft auch bestimmte Normen beachten, gewisse Spielregeln. Ich muss anerkennen, dass ein Mensch, wenn er mir gegenübersteht, eine völlig andere Komposition hat als ich. Ich kann nicht erwarten, dass er genauso agiert wie ich. Dennoch müssen wir irgendwie miteinander klarkommen. Was ich auch ganz wichtig finde: Wie definiert man Klarkom­ men? Was muss ich mit einem Schauspieler, mit dem ich im Raum agiere, überhaupt klären? Bei Franks Proben sind das ganz grobe körperliche Dinge. Plötzlich sind da Textmassen in unseren Köpfen, die uns dazu bringen, uns aufeinanderzu­ stürzen. Ich habe die unglaublich faszinierende Erfahrung ge­ macht, mit dem Ensemble bei Faust nichts zu besprechen zu haben. Ich hatte aber ganz viel zu bespielen. Ich musste da­ nach nichts auswerten oder davor „Guten Abend“ sagen. Es gab überhaupt keine Notwendigkeit für all jenes, was norma­ lerweise notwendig ist – weil nämlich oft etwas fehlte: eine Spielfläche, Material. Ich kann körperlich Dinge aushalten, aber es ist auch ganz simpel so, dass ich eine kleine Frau bin. Wenn jemand seine Kräfte gehen lässt, muss ich mir vorher überlegen, ob ich da jetzt in den Sturm reingehe oder nicht.

„Plötzlich sind Textmassen in unseren Köpfen“

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Wie wenn ich auf ein sehr schnelles Motorrad steige, das mit seinen PS meine Kräfte körperlich übersteigt. Ich kann mich aber auch zurückhalten, den Ausdruck anders regeln. Die Theaterszene setzt sich gerade intensiv mit Machtstrukturen auseinander, besonders was den hierarchisch strukturierten Stadttheaterbetrieb angeht. Wie haben Sie das Klima an der Volksbühne in dieser Hinsicht wahrgenommen? Frank, glaube ich, hat auf eine Art eine „natürliche Herrschaft“ an der Volksbühne ausgeübt – durch viel, viel Abwesenheit. Ich muss bei ihm immer an den Trickfilm-Kater Garfield denken, der hauptsächlich schläft und isst, aber im richtigen Moment die Maus fängt. Es gibt aber auch Intendanten, die ihre Position durch Ge­ duld, nicht durch Können bekommen haben. Diese Menschen sind überfordert, dürfen das aber nicht zeigen. Ich war bereits als junger Mensch auf der Suche nach Kompetenz, bin aber an Orte geraten, wo ich teilweise auf schmerzliche Art und Weise Hilflosigkeit in meinem Vorgesetzten sehen musste. Die meis­ Lächerliches Protz-Domi­ ten Arbeitgeber, denen ich begegnete, haben sich dem Phäno­ nanz-Verhalten men von Kauf und Verkauf unterworfen und sind dadurch in von überforder­ ten Vorgesetzten komplexeste Abhängigkeitsverhältnisse geraten. Die Quint­ essenz ist ein lächerliches Protz-Dominanz-Verhalten. Dieses Verhalten ist nicht schwer zu entschlüsseln. Wer in Büros laut wird, droht, erpresst, unpassende schlüpfrige Gesten oder Bemerkungen macht oder sich keine Zeit nimmt für ein ­ ­Gespräch, ist unter Druck, inkompetent und unvorbereitet. Für meine Arbeit mit Frank gab es einen Schlüsseltext von ­Rimbaud, der lag da bei den Proben so auf dem Tisch rum: „Und wäre die Welt verwandelt in einen einzigen, dunklen Wald für unsere staunenden Augen / in ein Gestade für uns beide gläubige Kinder / in ein klingendes Haus für unsere leuchtende Neigung / ich würde dich finden. Und gäbe es

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­ inen einzigen Greis, der still wäre und schön, und inmitten e eines ,unsagbaren Luxus‘ / ich läge dir zu Füßen. Und hätte ich all dein Erinnern verwirklicht / und wäre ich die, die zu foltern dich weiß / ich würde dich töten.“ Sie sprechen in Les Misérables ebenfalls einen fantastischen Text, eine Traumsequenz aus Drei traurige Tiger des kubanischen Autors Guillermo Cabrera Infante. Das war mein Lieblingstext.

Valery Tscheplanowa und Abdoul Kader Traoré in Les Misérables, Regie: Frank Castorf, Berliner Ensemble 2017

Darin berichtet ein namenloser Protagonist, wie er an einen Strand kommt, an dem ihm ein brennender Hund entgegenläuft. Er folgt ihm in ein Gebäude, wo er einen weiteren Hund sieht, der auf einer Art Scheiterhaufen liegt und schon ganz verkohlt ist. Und trotzdem schafft es der andere Hund, ihn da rauszuholen …

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„Zufall ist das Pseudonym Gottes“

… ohne dass der Körper zerfällt. Die Szene ist fast irreal, gleichzeitig voller Traurigkeit, aber auch Solidarität oder eben Liebe. Diesen Text in einem Buch zu finden, das kaum jemand kennt, ist – wie dieser Moment mit dem Mann in der Bar – totaler ­Zufall. Was ist Zufall? Es gibt in Russland ein altes Sprichwort, das besagt: Zufall ist das Pseudonym Gottes. Das heißt, Zufall ist eigentlich der Moment, in dem sich meine Absicht mit einer anderen Absicht verbindet. Das Buch spielt im vorrevolutionären Kuba, im Kuba der Spielkasinos und Mafia-Bosse, Meyer Lansky und Co. Sie haben kurz nach Dimiter Gotscheffs Tod mit der Hamletmaschine in Havanna gastiert. Wie haben Sie die Gesellschaft dort erlebt? Der Sozialismus, das habe ich ja auch selbst in Russland erlebt, ist für mich keine Utopie, kein Phantasma mehr. Es kann für mich nicht darum gehen, irgendwo die Reste des Sozialismus zusammenzukratzen. Oder die Reste einer sozialistischen­Uto­ pie. Was ich auf Kuba gesehen habe, waren Körper. Körper, über die zwar eine Gesellschaftsordnung drübergerollt ist, die aber beeindruckend schillernd waren. Die Art, wie sich Men­ schen dort bewegen und sich Raum nehmen. Das waren Kör­ per, die mich interessieren. Wenn ich hier durch die Stadt laufe, sehe ich oft uninteressante Körper. Es ist, als hätte man die Naturvorgänge besiegt, als hätte man gelernt, sich fortzube­ wegen, sehr viel Geld zu verdienen, zu sparen und anzulegen, der Körper jedoch ist dabei wie geschrumpft. Aber am Ende des Tages, wenn der Körper nicht lebt, lebt gar nichts.

„Auf Kuba war mein Schrei ein Konzert“

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Wie haben die Kubaner auf Heiner Müller reagiert? Auf Kuba fand ich sein bestes Publikum. Am Deutschen Theater habe ich mich oft wund geschrien an der Widerstandslosigkeit im Raum. Auf Kuba war mein Schrei ein Konzert, das die Menge mittrug. Hunger verbindet, Völlerei trennt. Müller macht das


unausweichlich fühlbar. Im Deutschen Theater herrschte im­ mer Grabesstille. Oder wie es in der Hamletmaschine heißt: „Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand.“ Als auf Kuba aber der tote Gotscheff auf Video sagte: „Der Mutterschoß ist keine Einbahnstraße“, war das ein Lacher. Auch „In den (…) Haut- und Uniformfalten des zertrüm­ merten Standbilds haust die ärmere Bevölkerung der Metro­ pole“ war ein Lacher. „Die Hyäne liebt die Panzer, die in der Wüste stehen bleiben, weil die Besatzung stirbt. Sie kann war­ ten. (…) Ihr Gott ist die Null“ war ein Lacher. Das heißt, die Hamletmaschine war wie ein Stand-up. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was im Kunstapparat aus diesem Stück le­ bendigster Literatur wird. Für mich war dieses Gastspiel das denkbar schönste Begräbnis. Gotscheff spielte direkt nach dem Tod und wurde von hauptsächlich jungen Kubanern dafür gefeiert.

Die Hamlet­ maschine als Stand-up

Er wurde in der Inszenierung per Video dazugeholt. Ich will nichts romantisieren, auf keinen Fall. Aber ich will doch sagen, weil ich so lebe, dass ich als Körper nicht viel brauche, um glücklich zu sein, und dass das Wenige, was ich brauche, mich gesellschaftlich unter keinerlei Druck setzt. In Russland gab es, als ich Kind war, wenig Auswahl, viel Qualität. Es gab wenig Bewegung, viel Inhaltlichkeit. Das lag aber nicht am So­ zialismus. Das gab es auch in jedem anderen beliebigen Dorf unter jeder anderen Art von Regierung. Einfach eine Men­ schengemeinschaft. Nichts anderes ist eine Theatertruppe. Wie eine Dorfstruktur. Die kann auch nur begrenzt wachsen. 25 oder dreißig Menschen. Dann ist Schluss. Und die Leute beginnen ins nächste Dorf zu ziehen. Auch die Strahlkraft eines Regisseurs wie Frank ist endlich. Wie vielen Körpern und Wesen kann er seine Zeit geben,

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s­odass sie satt an ihm werden? Ich kann nicht wirklich in ­Gesellschaftsutopien denken, ich kann mich nur über meine Körperlichkeit in der Welt verorten. Das bedeutet nicht, dass ich mich nicht geistig enorm entwickeln kann. Aber ich kann mich nicht ausdehnen. Ich werde nicht größer. Und ich kann mich auch nicht optimieren. Ich kann natürlich bestimmte Dinge beschleunigen, aber ich werde nicht schneller, als mein Körper es ist.

Casting bei Ilya Khrzhanovsky

Einen Raum, den Sie sehr gerne betreten beziehungsweise noch intensiver bespielen wollen, ist der Film. Auch in diesem Bereich haben Sie sehr früh eine recht extreme Erfahrung gemacht: Sie lernten den russischen Regisseur Ilya Khrzhanovsky kennen, der in den vergangenen Jahren mit seinem irrwitzig groß ange­ legten DAU-Projekt auf sich aufmerksam machte. Zuallererst ­handelt es sich dabei um ein Filmprojekt über den sowjetischen Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau, der von 1906 bis 1968 lebte. Die Dreharbeiten dauerten über drei Jahre und fanden größtenteils auf einem 12 000 Quadratmeter großen Gelände in Charkow in der Ukraine statt, wo Khrzhanovsky das Institut hat nachbauen lassen, in dem Landau von 1932 bis 1937 wohnte und unterrichtete. In dieser Laborkulisse samt Stadtquartier lebten zwischen 2009 bis 2011 bis zu vierhundert Menschen. Wann und wo haben Sie Khrzhanovsky kennengelernt? Nach der Schauspielschule. Damals hatte ich sehr viele Cas­ tings, vorrangig als russische Nutte, sehr entmutigend. Im Zuge dieser Castings hatte ich auch ein Casting bei Ilya Khrzha­ novsky. Zunächst in Berlin, später in Moskau. Er suchte eine Schauspielerin für die Rolle der Ehefrau, die neben Landau zu besetzen war. Der von dem Dirigenten Teodor Currentzis gespielt wurde. ­Haben Sie auch auf dem Set in der Ukraine gedreht?

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Nein. Ich wollte mich schlussendlich nicht länger an dieses ­Projekt binden. Ich war junge Schauspielerin und gerade erst gestartet. Ilya sagte zu mir: „Du wirst es in Deutschland nicht schaffen. Sie werden dich nicht lassen. Komm zu uns.“ Aber ich wollte nicht. Warum? Ilya hat irgendwann angefangen, mit Laien zu arbeiten. Er ging mit ihnen an einen Punkt, an dem ich das Gefühl bekam, sie waren ihm ausgeliefert. Diesen Weg wollte ich nicht mit­gehen. Wenn ich Laien ohne Vorgaben improvisieren lasse, ihnen also keine Form oder Richtung vorgebe, keinerlei Grenzpunkte setze, lande ich immer bei Streit, Gewalt oder Sex. Wenn die Mög­ lichkeit da ist, gehen Menschen an diesen Punkt. Den er möglicherweise als radikale Authentizität bezeichnen würde. In meinen Augen ist das keine Authentizität, sondern Gewalt, Streit und Sex. Ich verstand, dass er sich konsequent für Laien entschieden hatte. Ich akzeptierte diese Haltung. In seinen Vorspännen sieht man eine Maus, der der Kopf abgeschnitten wird. Das war seine Geste. Meiner Meinung nach bietet die Arbeit mit Laien aber ebenso Möglichkeiten wie Risiken. Sie zwingt zu einer Art von Verantwortung. Ich habe mit Milo Rau mit Laien gearbeitet, und auch da tauchten wunderbare Möglichkeiten wie Schwierigkeiten auf. Ich finde, es gibt einen Punkt, wo es für den Laien wichtig ist, eine Grenze zu setzen. Das ist für mich ein Arbeitsethos. Ich schätze zum Beispiel die Arbeiten von Ulrich Seidel sehr, die sich ebenfalls in einem Grenzbereich bewegen. ­Authentizität, Echtheit hat für mich mit Professionalität zu tun. Wenn ich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lese, habe ich nicht das Gefühl, dass es nicht echt wäre. Das ist äußerst echt. Und wenn ich einem Schauspieler wie Daniel Day-Lewis

Keine Authentizität, sondern Gewalt, Streit und Sex

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Auf der Suche nach lebenden Dichtern im Kino

oder Philip Seymour Hoffman zuschaue, ist das in jedem ­Moment echt – weil es gute Schauspieler sind. Ich finde, es ist keine Entschuldigung, jemandem, der kein Handwerk besitzt, zu sagen, er müsse mit jemandem schlafen, damit es echt wird, oder jemanden schlagen. Der Grund, warum ich überhaupt zum Kino gehen will, ist der, dass ich dort Dichter finden will. Lebende Dichter! Sie haben bereits mit Regisseuren wie Andreas Dresen, Christian Schwochow und Dominik Graf gedreht. Besser kann ein Einstieg in die Filmbranche gar nicht laufen, oder? Ich habe nur mal durch eine angelehnte Tür gelugt. Ein Dreh­ tag bei Khrzhanovsky, zwei bei Graf, die naive Blonde bei ­Dresen und ein paar Tage Schwochow. Ich beginne diese Welt zu betreten. Ich erlebe zurzeit und reflektiere nicht. Kehren Sie dem Theater nun den Rücken? Eine Zeit lang. Ich bin gerade dabei, die alten Dichter, die ich im Theater gesucht und verteidigt habe, loszulassen, um zu schauen, wer dichtet jetzt. Bei den jungen Bühnenschriftstel­ lern wurde ich nicht fündig. Um lebenden Dichtern zu begeg­ nen, will ich zum Film. Sie zu suchen, aber mich auch gleichzei­ tig dafür zu verwandeln, ist die Aufgabe, die ich mir für die nächsten Jahre gestellt habe. Ich habe für 2020 die Buhlschaft abgesagt. Ich habe gesagt, es gibt einen Cut. Passt auch so hübsch. Ich hatte richtig Adrenalinentzug. Ein Jahrzehnt hatte ich durchgehend mehrmals die Woche einen Adrenalinschub. Davon wegzukommen, musste ich lernen. Wie ein Drogenentzug. Ja. Leiden ab halb acht gibt es halt nicht mehr! Ich muss ler­ nen, nicht mehr so hochgepuscht zu sein am Abend. Ich will lernen, die Sprache gehenzulassen, diese Masse an Sprache,

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die ­beständig in meinem Kopf war. Im Theater ist es ja notwen­ dig, Sprache zu binden. Über Jahre trainierte ich mich darin, einen Hydra-Monolog von fünf Seiten über die Bühnenrampe zu wuchten, Emotionen in eins zu gießen oder lange zu nut­ zen. Das ist für den Film nicht zuträglich. Die Sensation beim Drehen ist für mich der Augenkontakt. Im Theater habe ich

Valery Tscheplanowa und Victor Khomut in Son of Sofia, Regie: Elina Psykou, 2017

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„Theater ist graben, und Drehen ist fischen“

sehr viel mit dem Publikum gearbeitet. Gotscheffs häufigste Regieanweisung war: „Nicht in den Dialog kippen.“ Was ich beim Drehen ebenfalls als magisch empfinde, ist mein Gesicht zu gebrauchen. Im Theater war es primär meine Stimme, die den Raum erschloss. Und mein Körper. Nun die ei­ genen Augen nutzen zu dürfen, ist ein komplett neues Feld. Fantastisch beim Drehen ist zudem der Zufall, gerade bei ­Außenaufnahmen, plötzlich kommt der Mond, man ist in einer bestimmten Stimmung, der Partner wacht gerade auf – und dann entsteht ein magischer Moment. Am Theater passiert das auch, aber da zählt eher die Fähigkeit, diese sechs Stunden zu denken und zu fühlen. Beim Film sind es die ­Momente, die man sammelt. Ich dachte letztens, Theater ist graben, und ­Drehen ist fischen. Auch die Finanzierung im Film interessiert mich sehr. Inwiefern? Wenngleich auch die Theater unter immer größerem finanziel­ len Druck stehen, ist jemand wie Frank nicht denkbar ohne die Lücke, die er genutzt hat, dieses Experimentieren, wo man ­seinen Instinkten nachgeht und sich auch verirren darf. Auch für mich war, wenn ich auf meine Stadttheaterjahre zurück­ blicke, ein großer Anteil Ausdauertraining, ein großer Anteil Bühnenerfahrung sammeln, ein großer Anteil Publikumsver­ bindung stärken. Das heißt, egal, was ich spielte, ich fokussier­ te mich auf etwas Grundsätzliches. Das Stadttheatersystem bot mir diese Möglichkeiten, mich auszuprobieren. Beim Film ist das anders, weil er teuer ist … … und man sich die Finanzierung immer wieder neu suchen muss. Ja. Man sollte sich sehr bewusst füreinander entscheiden.

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Wie geht es jetzt bei Ihnen weiter? Neulich war ich bei einem Agenturtreffen: Es war bereits nachts um vier, alle hatten schon recht viel getrunken. Da kam ein bezaubernder Typ auf mich zu und fragte: „Und? Wo stehst du gerade so im Leben?“ Ich musste einige Zeit überlegen und sagte dann: „Am Nullpunkt.“ „Was, am Nullpunkt?!?“, antwor­ tete er ganz entsetzt. Und ich sagte: „Ja. Ich bin gerne am Null­ punkt.“

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NACHWORT von Josef Bierbichler Ein unterhaltsamer Dialog, gesprächig, aber nicht geschwät­ zig. Kein Dokument der Selbstbespiegelung. Eines der Selbst­ erkennung. Reflexionen über sich und den erkannten eigenen Bedarf. Daraus die Forderung an sich selbst und den Betrieb, nicht unter Bedarf zu arbeiten. Erworbenes Bewusstsein auf Grundlage eines entstandenen Selbst-Bewusstseins beim zwar eigensinnigen, aber intellektuell disziplinierten Nach­ denken über sich und die Umgebung. Nicht Selbstbewusstsein ohne Bewusstsein, wie es im Beruf leider häufig daherkommt. Ein Gespräch aus fundierten Fragen und interessanten, oft un­ erwarteten Antworten. Vielleicht sogar ein selber gemachtes Interview der Protagonistin? Es wäre egal. Es entwickelt sich beim Lesen eine Spannung, die zum Weiter­lesen treibt und die Unterbrechung verweigert. Irgendwann weiß man: Die Frau ist selbstgemacht. Sie hat keinen Mentor als Hilfsdienstleister gebraucht. Auch wenn sie selber auf zweien besteht, ahnt man: Die haben sie lediglich rechtzeitig erkannt. Wer dabei wann wem hinterhergelaufen ist, bleibt egal. Drum verwun­ dert es am Ende, dass sie, nachdem der ­erste ihr weggestorben ist, vom zweiten nicht lassen mag, s­ ondern so lang an ihm festhält, bis der ihr den Korb gibt. Jetzt macht sie Pause vom Theater und verbraucht ihre Zeit beim Film. Und sie formuliert auch da ihren erkannten Bedarf. Drum muss man sich nicht sorgen, dass beim Film auch immer irgendwann das Fernsehen droht. Da in diesem Medium eine intellektuelle Sehnsucht eher gering ist, wird sie dieser Mangel rechtzeitig wieder zum Theater zurückbringen. Wenn nicht, wäre es ein ziemlicher Verlust.

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Oder wird es ihr auch ergehen wie vielen, die im drohenden Sumpf versacken, weil sie den Anforderungen nicht gewach­ sen sind, die das filmische und fernseherische Milieu bereit­ hält: Viel Geld, breite Aufmerksamkeit, den farbigen Abglanz der scheinbar gesellschaftlichen Bedeutung, die erlahmende Widerstandskraft, das Schwinden der Ideale und des geistigen Aufbegehrens beim von allen möglichen Sorgen befreiten ­Älterwerden im geblähten Wohlstand, wo es sich angenehm lebt? oder Wird sie sich endlich die Zeit, die sie dann haben wird, nehmen fürs Schreiben? Ich weiß, dass sie das kann. Drum erlaube ich mir diese Hoffnung.

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Der Regisseur Dimiter Gotscheff auf dem Roten Platz in Moskau


Rollenverzeichnis THEATER Deutsches Theater Berlin DAS DUELL Anton Tschechow Regie: Jo-Anna Hamann 2006 VOLPONE Ben Jonson Regie: Dimiter Gotscheff Rolle: Celia 2006 DIE FLEDERMAUS Johann Strauß Regie: Michael Thalheimer Rolle: Ida 2006 DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT Rainer Werner Fassbinder Regie: Philipp Preuss Rolle: Marlene 2006 DIE HAMLETMASCHINE Heiner Müller Regie: Dimiter Gotscheff Rolle: Ophelia 2007 DAS PULVERFASS Dejan Dukovski Regie: Dimiter Gotscheff 2008

IDOMENEUS Roland Schimmelpfennig Regie: Jürgen Gosch 2009 Schauspiel Frankfurt CABARET John Kander, Fred Ebb, Joe Masteroff Regie: Michael Simon Rolle: Fräulein Kost 2009 M.E.Z. Roland Schimmelpfennig Regie: Karoline Behrens 2009 REMAKE :: ROSEMARIE Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein Regie: Bernhard Mikeska Rolle: Rosemarie 2009 DER DIENER ZWEIER HERREN Carlo Goldoni Regie: Andreas Kriegenburg Rolle: Rosaura 2010 ALICE IM WUNDERLAND Lewis Carroll Regie: Philipp Preuss Rolle: Alice 2010

SOZIALISTISCHE SCHAUSPIELER SIND SCHWERER VON DER IDEE EINES REGISSEURS ZU ÜBERZEUGEN René Pollesch Regie: René Pollesch 2010 MEIN KAMPF George Tabori Regie: Amélie Niermeyer Rolle: Tod 2010 STELLA Johann Wolfgang von Goethe Regie: Andreas Kriegenburg Rolle: Stella 2011 MARIA STUART Friedrich Schiller Regie: Michael Thalheimer Rolle: Maria Stuart 2011 JE T’AIME :: JE T’AIME Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein Regie: Bernhard Mikeska Rolle: Olga 2011 TRAUMNOVELLE Arthur Schnitzler Regie: Bastian Kraft 2011

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SALOMÉ Oscar Wilde Regie: Günter Krämer Rolle: Salome 2012

EURYDICE :: NOIR DESIR Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein Regie: Bernhard Mikeska 2013

HEXENJAGD Arthur Miller Regie: Tina Lanik Rolle: Abigail Williams 2016

FAUST II Johann Wolfgang von Goethe Regie: Günter Krämer Rollen: Helena, Baucis, Sorge 2012

VORBEI! – VERWEILE! Jakub Gawlik Regie: Jakub Gawlik 2014

DIE ABENTEUR DES GUTEN SOLDATEN ŠVEJK IM WELTKRIEG Jaroslav Hašek Regie: Frank Castorf Rolle: Schwarze Witwe 2016

DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN Heinrich von Kleist Regie: Philipp Preuss Rolle: Käthchen 2012 DIE PERSER Aischylos Koproduktion mit den Salzburger Festspielen Regie: Ulrich Rasche Rollen: Chor des persischen Ältestenrates, Dareios’ Geist 2018 Residenztheater München ZEMENT Heiner Müller Regie: Dimiter Gotscheff Rolle: Njurka 2013 DIE RATTEN Gerhart Hauptmann Regie: Yannis Houvardas Rollen: Frau John, Putzkraft von Hassenreuter 2013

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DIE IRRFAHRTEN DES ODYSSEUS Homer Regie: Corinna von Rad Rolle: Morpheus, Argos 2014 TORQUATO TASSO Johann Wolfgang von Goethe Regie: Philipp Preuss Rolle: Tasso 2015 THE DARK AGES Milo Rau Regie: Milo Rau 2015 THE LAND Peeping Tom Regie: Gabriela Carrizo 2015 DER AUFTRAG Heiner Müller Regie: Jakub Gawlik 2015 DER BAU Franz Kafka Regie: Jakub Gawlik 2015

DIE RÄUBER Friedrich Schiller Regie: Ulrich Rasche Rolle: Franz Moor 2016 ANTIGONE Sophokles Regie: Hans Neuenfels Rolle: Antigone 2016 DER EINDRINGLING Maurice Maeterlinck Regie: Hannes Köpke Rolle: Magd 2017 Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, Berlin FAUST Johann Wolfgang von Goethe Regie: Frank Castorf Rollen: Margarete, Helena, Sorge 2017


Berliner Ensemble

FILM UND FERNSEHEN

LES MISÉRABLES Victor Hugo Regie: Frank Castorf Rolle: Fantine 2017

2007 SPEED RACER Regie: Geschwister Wachowski

Salzburger Festspiele JEDERMANN Hugo von Hofmannsthal Regie: Michael Sturminger Rolle: Buhlschaft 2019 Staatsoper Hamburg MOLTO AGITATO Kurt Weill, Györgi Ligeti, Johannes Brahms Regie: Frank Castorf 2020

KÜSTENWACHE: VERSCHWUNDEN Regie: Zbynek Cerven 2009 WHISKY MIT WODKA Regie: Andreas Dresen DOKTOR MARTIN Regie: Claudia Garde und Zoltan Spirandelli 2010 IM ANGESICHT DES VERBRECHENS: WER ANGST HAT, VERLIERT Regie: Dominik Graf MINUSLAND Regie: Katharina Wyss

2018 TATORT: TIERE DER GROSSSTADT Regie: Roland Suso Richter DER ZÜRICHKRIMI: BORCHERT UND DIE MÖRDERISCHE GIER Regie: Roland Suso Richter 2019 WAS WIR WUSSTEN – RISIKO PILLE Regie: Isabel Prahl TRÜMMERMÄDCHEN Regie: Oliver Kracht SHADOWPLAY Regie: Måns Mårlind und Björn Stein JE SUIS KARL Regie: Christian Schwochow

2011 ÜBER UNS ALL DAS Regie: Jan Schomburg 2012 DER TURM Regie: Christian Schwochow 2014 STEREO Regie: Maximilian Erlenwein 2017 SON OF SOFIA Regie: Elina Psykou

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PREISE DER FAUST-Theaterpreis für Maria Stuart Nominierung, 2011 ALFRED-KERRDARSTELLERPREIS 2014 BAYERISCHER KUNSTFÖRDERPREIS 2015 KUNSTPREIS BERLIN der Akademie der Künste, Berlin 2017 HEART OF SARAJEVO des Sarajevo Film Festivals für Son of Sofia Nominierung, 2017 BESTER INTERNATIONALER FILM Tribeca Film Festival für Son of Sofia 2017 EUROPÄISCHER FILMPREIS für Son of Sofia Nominierung, 2017 SCHAUSPIELERIN DES JAHRES ausgezeichnet von Theater heute 2017 ULRICH-WILDGRUBERPREIS 2018

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DEUTSCHER HÖRBUCHPREIS Auszeichnung als beste Interpretin für Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war 2018


Bildnachweis S. 97 © Thomas Aurin; S. 135 © Heike Blenk; S. 77, 79, 81, 83 © Thomas Dashuber; S. 75 © Alexander Paul Englert; S. 129 © Heretic; S. 67 © Heinz Holzmann; S. 15, 123 © Matthias Horn; S. 69, 72, 82, 91 © Birgit Hupfeld; S. 12, 136 © Mark Lammert; S. 99–106, 142 f. © Just Loomis; S. 95 © Thomas Palme; S. 18, 23, 25, 33, 35, 37, 39, 43, 48, 53, 58, 86 privat; S. 50 © Armin Smailovic

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Die Gespräche zwischen Valery Tscheplanowa und Dorte Lena Eilers wurden im Herbst/Winter 2019 geführt. Valery Tscheplanowa dankt: Elena Knipp, Mark Lammert, Johannes Schütz, Martina Wurm, Prinz, Hanna Hilsdorf, Bernd Schneider, Josef Bierbichler, Dorte Lena Eilers, Erik Zielke und Harald Müller

Impressum Dorte Lena Eilers TSCHEPLANOWA backstage © 2020 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im UrheberrechtsGesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Umschlag und Gestaltung: Gudrun Hommers Umschlagfoto: © Just Loomis Printed in Germany ISBN 978-3-95749-276-0 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-311-8 (ePDF) ISBN 978-3-95749-312-5 (EPUB)


Dorte Lena Eilers, geboren 1978 in Bremen, ist Chefredakteurin von Theater der Zeit. Als Mitherausgeberin publizierte sie zahlreiche Bücher, darunter „Dimiter Gotscheff: Dunkel das uns blendet“ (2013), „Castorf“ (2016), „Heart of the City II. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft“ (2017) sowie „Stück-Werk 6. Neue deutschsprachige Dramatik“ (2020). Sie lebt und arbeitet in Berlin.


„Tscheplanowa ist eine Intellektschauspielerin. Eine Frau mit besonderer Aura, trotzig-selbstbewusst, eisig-intelligent, von innen leuchtend. Vor allem ist sie eine Sprachvirtuosin.“ SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

ISBN 978-3-95749-276-0

www.theaterderzeit.de


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