Barrie Kosky: On Ecstasy

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Barrie

Kosky On Ecstasy



On Ecstasy



Barrie Kosky

On Ecstasy Aus dem Englischen von Ulrich Lenz


Barrie Kosky On Ecstasy © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Theater der Zeit First published in 2008 by Melbourne University Publishing Copyright © Barrie Kosky 2008 Published in Australia and New Zealand in 2020 by Hachette Australia Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Übersetzung: Ulrich Lenz Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Gudrun Hommers Printed in the EU ISBN 978-3-95749-342-2 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-351-4 (ePDF) ISBN 978-3-95749-352-1 (EPUB)


Für meine Großmütter, Leah and Magda. They don’t make them like that anymore.



Ekstase gesteigerte Freude oder Vergnügen ein emotionaler Zustand von solcher Intensität, dass der Mensch seiner Vernunft und Selbstkontrolle beraubt ist mit mystischer oder prophetischer Begeisterung in Verbindung stehendes Gefühl von Trance, Rausch oder Verzückung vom kirchenlateinischen ecstasis entlehnt, das auf griechisch ἔκστασις(ékstasis)„Außersich­­­ geraten, Verzückung“ zurückgeht, von ἐξ-ίστασθαι (ex-hístasthai) „aus sich heraustreten, außer sich sein“


Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei vÜllig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur ­Entlarvung, sie kann nicht anders, verzßckt wird sie sich vor dir winden. Franz Kafka


I Im Anfang war kein Geruch. Sie schnitt einfach die Möhren, Zwiebeln, Pastinaken und den Sellerie in Stücke und warf sie über das rohe Huhn. Ich mochte dieses rohe Huhn nicht, wie es da tot und bewegungslos in diesem großen Kochtopf saß. Ich mochte es nicht. Ich vertraute ihm nicht. Ich war immer froh, wenn das Gemüse dazu­ geworfen und das Wasser über den Vogel ge­ gossen wurde, um ihn für alle Ewigkeit zu ertränken. Es gab nichts zu riechen und nichts zu schmecken. Ich hatte zu warten. Volle 24 Stunden des Wartens, Wartens, Wartens. Jeder ernst zu nehmende HühnersuppenKenner wird Ihnen sagen, dass das Hühnersuppenritual in drei klar voneinander abgegrenzte Abschnitte geteilt ist: Vorbereitung – Erwartung – Verzehr. Jedes siebenjährige jüdische Kind wird Ihnen sagen, dass Vorbereitung und Erwartung 11


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ärgerliche, quälende Hindernisse auf dem Weg zum Verzehr sind. – Ist sie schon fertig? – Dieser große Kochtopf mit dem großen Deckel, in dem der seltsame Sud aus dicken Gemüseschnitzen und totem Huhn kochte. – Ist sie schon fertig? – Der Dampf, der unter dem Deckel hervorquoll, als ob mein Onkel Sol darunter säße und von dort seinen Zigarrenrauch hervorbliese. – Ist sie schon fertig? – Finger weg! Mit einem Klaps schlug meine Großmutter meine Pfoten weg vom Herd. Meine polnische Großmutter machte eine Hühnersuppe, die mit keiner anderen Hühnersuppe vergleichbar war. Bis zum heutigen Tag ist mir keine bessere in den Teller gekommen. Sie machte eine Gehackte Leber, die in deinem Mund dahinschmolz. Sie machte Gefilte Fisch, die dir noch tagelang auf der Zunge hüpften. Sie machte einen Schokoladenkuchen, wie er in der westlichen Küche nie wieder zu schmecken sein wird. Aber ihre Hühnersuppe übertraf sogar noch all die Superlative dieser Kreationen. Ihre Hühnersuppe war der Caravaggio der Suppen. 12


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Der Rainer Maria Rilke der Suppen. Der Arturo Benedetti Michelangeli der Suppen. Aber so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch weit, sehr weit vom Verzehr entfernt. Als ob ich es nicht gewusst hätte! Nach vielen Stunden neigte meine Großmutter den Kochtopf über eine große Glasschüssel und goss die Flüssigkeit hinein. Und was für eine Flüssigkeit, oh, was für eine Flüssigkeit! Gold! Wie Howard Carter es ­erahnte, als er wunderbare Dinge durch das Loch in Tutanch­amuns Grabmal sah. Gold! Wie die Räder unter dem Bechstein-Flügel meines Großvaters, wo ich immer hockte und versuchte, das Gold abzureiben, damit es an meinen Händen ­kleben bliebe. Gold! Wie das Kästchen auf dem Kaminsims meiner ungarischen Großmutter, in dem die Bridge-Karten darauf warteten, dass die Damen ihren Lunch beenden würden. Es war ein Nil, ein Amazonas, ein Euphrat aus flüssigem Himmelsgold. Aber es war noch nicht meines. Die Kühlschranktür fiel zu und mir wurde wie immer gesagt, dass ich die Suppe nicht stören solle, damit sie schlafen könne. Eine schlafende 13


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Suppe! Ab und zu wollte ich einen Blick er­ haschen, um zu sehen, ob es irgendeine Veränderung in der Schüssel gab. Ich war immer wieder aufs Neue erschüttert, wenn ich feststellen musste, dass sich die zuvor glänzende goldene Flüssigkeit am nächsten Tag in eine dunkle glibberige Pampe verwandelt hatte. Wie konnte etwas, das so unglaublich roch und so umwerfend aussah, nur 24 Stunden später als übler brauner Glibber enden? Das wollte mir einfach nicht einleuchten. Was mir jedoch einleuchtete, war der Beginn von Teil drei des Rituals: der Verzehr. Wenn ich ein guter Junge gewesen war, meine Hausauf­ gaben brav gemacht, Klavier geübt und meine Hände gewaschen hatte, ließ mich meine Großmutter vorsichtig das erstarrte weiße Fett von der Oberfläche der Suppe abkratzen. Ich liebte diesen Teil. Mit dem Geschick, der Geduld und der Fingerfertigkeit eines plastischen Chirurgen trug ich die dicke Lage Fett mit einem Holzlöffel ab, vorsichtig darauf achtgebend, dass ich nicht die Haut der dunklen Pampe darunter verletzte. 14


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Meine Großmutter schöpfte die braune Brühe in einen Kochtopf und schickte mich aus der Küche. – Sitzen. – Warten. – Es war unerträglich. Ich wollte schreien. Manchmal tat ich es. Wie beim berühmten Hühnersuppen-Wutanfall des Jahres 1977. – Ist sie schon fertig? – Und da endlich erschien sie, vor meinen Augen: die ­ Hühnersuppe. Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe in meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe, metaphysische Verzückung. Der zweite Löffel … pures Glück. Der dritte Löffel … kosmische Glückseligkeit. Der Hühnersuppenraum am Ende von Kubricks 2001. Eine Suppe, die dich an den Anfang und das Ende aller­ Zeiten katapultierte. Eine glänzende, reine, klare Rhapsodie in Gold. Ein kleiner Junge mit braunem Cowboyhut hüpft einen steilen, trockenen Abhang hinunter. Er spielt auf einer silbernen Flöte. Der kleine Junge heißt Jimmy. Die silberne Flöte heißt Freddy. Auch die Flöte kann sprechen. Jimmy 15


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und ­Freddy springen in ein großes, schönes, in hellen Farben bemaltes Boot und segeln über das glitzernde Wasser davon. Es ist vier Uhr nachmittags. Ein kalter, unwirt­ licher Nachmittag in einem Vorort von Melbourne. Es ist das Jahr 1974. Ich bin sieben Jahre alt und sitze auf dem braunen Flokati-Teppich in un­serem Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sitze dort, wie ich es seit Wochen tue, jeden Tag pünktlich um 16 Uhr. Um genau zu sein: um 15.52 Uhr. Nur um ganz sicher zu sein. Um es auf keinen Fall zu verpassen. Ich konnte es gar nicht ver­passen. Ich hätte es niemals verpasst. Darauf hatte ich ja den ganzen Tag gewartet. Es war der Höhepunkt des Tages: Jack Wilds nasse Jeans im Vorspann der amerikanischen Kinderserie H. R. Pufnstuf. Sie waren nass. Sehr nass. Und sie waren eng. Sehr eng. Ich erinnere mich an zwei unterschiedliche Bilder: das erste, wie er bewegungslos am sandigen Flussufer auf dem Bauch liegt, mit diesen engen, nassen Jeans noch halb im Wasser; das zweite, wie er wieder auf die Beine 16


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gestellt wird von H. R. Pufnstuf, dem Bürgermeister von Living Island, und seinen beiden zwergenhaften Rettungsrangern Kling und Klang. Jack Wild schüttelt das Wasser aus seinem dichten schwarzen Haar, und seine Kleider kleben ihm am Körper. Nass und eng. Jack Wild war 17, als er die Serie drehte, aber er sah wesentlich jünger aus. Ich war verrückt nach dieser Sendung. Verrückt nach den Farben der Kulissen und der fremdartigen Kostüme, verrückt nach der wilden, fetzigen, zum Mit­ wippen animierenden Musik, verrückt nach all diesen singenden und tanzenden Häusern, Bäumen, Tieren und Uhren, die darin vorkamen. Aber da rührte sich noch etwas anderes, wenn diese dunklen, nassen Jeans über den Bildschirm flimmerten. Eine andere Empfindung. Eine selt­ same, neue Empfindung. Es machte mir Angst, dieses Gefühl. Es brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich fühlte es nur, wenn ich sah, wie die nassen Jeans an seinen Beinen und an seinem Po klebten. Ich saß da im Schneidersitz, ein Brille tragender, sieben Jahre alter Junge in Schul­ 17


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uniform, hielt den Atem an und sank mit einem Gefühl von pochender, wohliger Übelkeit in den Flokati. Ich mochte Jack Wild nicht. Ich mochte seine nassen Jeans, aber ihn mochte ich nicht. Er war nervig, doof und anstrengend. Wie einer dieser nervigen, doofen und anstrengenden Jungs aus der Schule. Bedeutungslos. Ich verstand ihn nicht. Nach dem Vorspann langweilte er mich. Absolut niemals gelangweilt war ich hingegen von der Hexe Witchiepoo. Ich liebte Witchiepoo. Ich liebte alles an ihr: ihren märchenhaften ­fliegenden Besen, ihr märchenhaftes VaudevilleMake-up, ihre märchenhaften roten Haare, ihre märchenhaften bunten Strümpfe, ihre märchenhafte falsche Nase und ihre märchenhaften alber­nen Schergen, Orson und Seymour. Warum hatte ich keine Freunde wie sie? Ich liebte Witchiepoo, ich wollte Witchiepoo sein. Ich wollte meinen Zauberstab zücken und Leute verschwinden lassen. Ich wollte eine große rote Sonnenbrille tragen und „Orangen, Porangen – wer sagt, es gäb keinen Reim für Orangen“ 18


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singen. Ich wollte in einem verfallenen gotischen Palast leben und Leute durch ein großes silbernes Teleskop beobachten. Nein, vergiss Jack Wild und seine strammen, nassen Pobacken, ich wollte üppige rote Haare haben, singen und tanzen und auf einem Besen fliegen. Ich hatte kein Problem damit, meine Liebe zu Witchiepoo mit meiner seltsamen Sehnsucht nach Jacks Jeans zu verbinden. Es schien ein ­ natürlicher Teil meines dreißigminütigen Nachmittagsrituals zu sein. Der Flokati war mein ­magischer Teppich, und für eine halbe Stunde schwebte ich in einem Paralleluniversum. ­Gnade ihnen Gott, wenn mein Bruder oder meine Schwester mich unterbrachen. Es war mein Ritual, und das lange, bevor es so etwas wie ­ Videorekorder gab. Wenn ich den entschei­­ ­ denden Augenblick verpasste, hatte ich den ent­ ­ scheidenden Augenblick verpasst. Aber ich verpasste ihn nie. All diese Bilder vor meinen Augen zu sehen, zu beobachten, wie sie sich auflösten, teilten, ineinander übergingen, ver­ ­ flogen und sich vervielfachten, war mit keinem 19


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anderen zuvor erlebten Gefühl vergleichbar. Alle anderen Erfahrungen wurden daran gemessen. Jacks nasse Jeans raubten mir den Atem. ­Witchiepoo machte mich beschwingt. Dann, um 16.30 Uhr: totale Traurigkeit. Alles vorbei bis zum nächsten Tag. Nach der Sendung drückte ich mich im Haus herum. Unfähig, mich zu konzentrieren. Unfähig, die eigene Freude oder Traurigkeit begreifen zu können. Aus dieser ­Lethargie konnte ich mich nur mit dem schrillen Schrei der Aufregung befreien, der durch meinen Körper ging, wenn ich an morgen ­ ­dachte. Ja, morgen! Morgen um vier Uhr! Nasse Jeans und große Nasen aufs Neue. Etwa um dieselbe Zeit, als Jack, Witchiepoo und die Hühnersuppe in mein Leben traten, kam meine ungarische Großmutter mit einem Stapel Schallplatten zu mir. Ich war etwas verwirrt und unsicher, was ich davon halten sollte. Meine eigenen Platten hatten neue, glänzende Hüllen mit Stofftieren oder Zeichentrickfiguren darauf. 20


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Die Schallplatten meiner Großmutter aber waren alt und fleckig. Die Hüllen waren hellgelb und zeigten eine seltsam aussehende, mich anstarrende Frau. Meine Großmutter erklärte mir, sie wünsche sich, dass ich mir diese Platten anhöre. Denn in ein paar Monaten würde sie mich zu etwas ganz Besonderem mitnehmen. Wohin? – Wart ab. Was? – Hör dir einfach die Musik an. Warum? – Weil du dich vorbereiten musst. Mich vorbereiten? Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber ich rannte zum Plattenspieler und legte eine der Platten auf. Die er­ tönende Kakophonie ließ mich zusammen­ zucken. Die Platte war zerkratzt und die Musik knisterte und knackte durch die Lautsprecher. Ich nahm sie herunter und legte eine andere auf. Noch mehr Kakophonie. Noch mehr Kratzer. Noch mehr Knistern und Knacken. Dieses Mal sangen viele Stimmen zusammen. Das war zu viel für mich. Ich nahm die Platte herunter und versuchte es mit einer dritten, wobei ich erneut Kratzen und Knistern und Knacken erwartete. 21


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Doch dieses Mal wurde ich überrascht. Eine sanfte, hohe Stimme. Ein Klang, den ich noch nie zuvor gehört hatte. Die Stimme war eigenartig. Sie schwebte durch die Luft und schnitt doch auch gleichzeitig durch sie hindurch. Schnitt sie in Scheiben. Stieg höher und höher, und plötzlich, ohne jede Warnung, sank sie nach unten und wurde dunkler, tiefer und unheimlich. Ein Mann versuchte einzustimmen, aber das mochte ich nicht. Ich wollte wieder die Stimme der Frau hören. Und ich wollte sie alleine, ohne das blökende Schaf. Ich setzte die Nadel zurück an den Anfang der Platte, wo ich zuerst die ­Stimme der Frau gehört hatte. Und ich lauschte erneut. Nadel hoch. Nadel aufsetzen. Und noch einmal. Nadel hoch. Nadel aufsetzen. Und noch einmal. Wer war die Frau? Warum sang sie so? Und warum streichelte ihre Stimme meine Haut, drang in meinen Körper und wirbelte in meinem Magen herum? Und worüber sang sie? Und warum klang sie so traurig? Und warum mochte ich das? 22


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Meine Großmutter erklärte mir das Geheimnis. Die Platten hießen Madama Butterfly, die Sän­ gerin sei eine Frau namens Renata Tebaldi, und das sei die Aufnahme von etwas, das wir in ein paar Monaten sehen würden. Ich hatte es immer noch nicht verstanden. Wie konnten wir sehen, was sie sang? In den nächsten Monaten hörte ich mir immer wieder diese Madama Butterfly an. Ich wusste nichts von der Geschichte, den Charakteren oder dem Text der Oper. Ich mochte es nicht, wenn alle durcheinandersangen, ich hasste es, wenn die Männer sangen, und ich langweilte mich wahnsinnig, wenn nur das Orchester spielte. Aber wenn die Frau mit der hohen Stimme sang, war ich wie versteinert. Ich versuchte weiterhin, die seltsam aussehende Frau auf der Plattenhülle mit der Stimme in Verbindung zu bringen. Es war kein Bild einer Aufführung oder etwa die Fotografie einer Sängerin. Es war eine nüchterne geometrische Zeichnung einer japanischen Frau. Meine Großmutter sagte mir, sie heiße Madame Butterfly. Aber für mich sah sie überhaupt nicht 23


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aus wie ein Schmetterling, und außerdem schien sie nichts zu tun zu haben mit der Stimme, die das Wohnzimmer erfüllte. Ich spielte es immer lauter und lauter ab. Ich ließ es schneller laufen, sodass sie wie Micky Maus klang. Ich ließ es langsamer laufen, sodass sie wie ein alter Mann klang. Aber am meisten mochte ich sie, wenn ich es mit normaler Geschwindigkeit laufen ließ. Wer war diese seltsame und wundervolle Madame Butterfly? Und wann würden wir sie treffen? Nach einer gefühlten Ewigkeit war der Abend endlich gekommen. Meine Großmutter hatte mir schließlich eine kurze Zusammenfassung der Handlung erzählt, aber ich hatte keine ­Ahnung, worüber sie sprach. Alles viel zu kompliziert. Sie sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen, solle einfach die Musik genießen, die Bühne, die Kostüme. Ich war bereits zuvor im Theater gewesen. Das köstliche Erlebnis, in einem dunklen Raum mit lauter vollkommen fremden Menschen zu sitzen und Leute vor mir auf der Bühne herumwirbeln zu sehen, war also nicht neu für mich. Neu jedoch war, dass ich 24


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mich später an jedes Detail dieses Erlebnisses ­erinnern konnte: an die seltsamen Frauen, alle in diesen lustigen weißen Kleidern; die durch das Licht schwebenden, die ganze Bühne be­ deckenden Kirschblüten; die eigenartigen, aber schönen Papierschirme – könnte ich so einen haben, Oma? –, die sich pausenlos drehten und schwebten; und in diesem ganzen fremdartigen Traum die Stimme dieser Frau, die durch das Princess Theater in Melbourne vibrierte und meine Trommelfelle streichelte, in meinen Körper eindrang und mich schwindlig machte. An diesem Abend lag ich mit angezogenen Beinen unter der Daunendecke meiner Großmutter, während sie mir wie immer ein Märchen der Brüder Grimm als Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Weil sie einen starken ungarischen Akzent hatte, war es ein bisschen so, als würde einem Béla Lugosi in Frauenkleidern vorlesen. Die ­ Geschichten machten mir Angst. Ihre Stimme machte mir Angst. Nachdem sie ge­ ­ endet, das Licht gelöscht und das Zimmer verlassen hatte, lag ich zitternd unter der Daunen25


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decke. Aber in dieser Nacht war ich nicht alleine. Madame ­ Butterfly sang erneut zu mir. Ihre ­Stimme kehrte zu mir zurück, sanft und wunderschön, wie ein Echo eines Echos eines Echos. Und ich schlief ein. Ich hasste Sport. Ich hasste Wintersport. Ich hasste meinen deutschen Sportlehrer, Fritz Dobberstein, der die Fußballmannschaft trainierte. „Schnell, Kosky! Schnell!!!“, schrie er immer, wenn ich, zu Tode gelangweilt, ziellos in Richtung Ball umherirrte. Sein Gesicht wurde blutwurstrot und ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Ich hasste das nasse Gras. Ich hasste die Bedeutungslosigkeit von alldem. Ich hasste meinen schlaksigen, unproportioniert heranwachsenden Körper, und ich hasste, wenn sie uns im Regen spielen ließen, der Regen über meine Brille lief und ich nichts und niemanden sehen konnte. Aber all das war fünf Minuten später vergeben und vergessen. Besonders wenn die älteren Jungs da waren. Die zwei Stunden sadistischen 26


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Fußballspiels verwandelten sich mit einem Schlag in das olfaktorische Vergnügen eines Gewürzbasars in den Umkleideräumen der ­ ­Melbourne Grammar School. Die Umkleideräume waren für mich kein Ort des Voyeurismus. Das kam später in der Pubertät, wenn der flüchtige Blick auf den Oberschenkel eines Football-Spielers oder auf den Bauchnabel eines Hockey-Spielers ausreichte, „to send me clutching for my pearls“ – womit im Englischen der Griff älterer Damen an ihre Perlen­ kette gemeint ist, um reichlich theatral ihrer ­Empörung angesichts einer plötzlichen Gefühlsaufwallung Ausdruck zu verleihen. Nein, zu ­jener frühen Zeit ging es ausschließlich um den Geruch. Nicht um das Schauen. Auch nicht um das Berühren. Als ich Jahre später zum ersten Mal Istanbul besuchte und mich im Labyrinth des Gewürzbasars verlor, wo das kontrapunk­ tische Durcheinander der Gewürze, Kräuter und Früchte in meine Nasenlöcher drang, musste ich zurückdenken an diese Umkleideräume. Völlig andere Gerüche, aber derselbe Eindruck, wenn 27


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deine Nase brennt und glüht und du den Geruch auf deiner Zunge, deinen Lippen und deiner Haut schmecken kannst. Nicht nur einen Geschmack, nicht zwei oder drei, sondern einen Überfluss an widersprüchlichen Geschmäckern, so intensiv, als würde man sich eine Sinfonie von Skrjabin in die Nase ziehen. Körpergerüche jedes nur erdenklichen Aromas: Schweiß, Socken, Salbe, heißes Wasser, ­billige Seife, das feuchte alte Holz der Spinde. All das drängelte sich in meinen Nasenlöchern, kämpfte darum, in meine Nasenhöhle zu gelangen. Wirbelte in meiner Nase herum wie tausend kleine Tornados. Manchmal wurde es so überwältigend, dass ich wirklich dachte, ich würde in Ohnmacht fallen oder müsste mich übergeben oder schreien. Vergiss Kokain oder pharmazeu­ tische Aufputschmittel – die Gerüche in den Umkleideräumen der Melbourne Grammar School waren das Intensivste, was je in meine Nase gedrungen ist. Normalerweise blieb ich, bis alle gegangen waren. Erstens, weil ich es nicht mochte, mich 28


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vor den anderen Jungs umzuziehen. Und zweitens, weil ich so den Umkleideraum als leeren Tempel erleben konnte. Ich war ein altertüm­ licher israelitischer Priester, der das Allerheiligste im Tempel von Jerusalem betrat. Ein geheiligter Ort, angefüllt mit mehr Gerüchen als das Labor von Chanel. Eine verbotene Zone voller Entzücken. Mein Allerheiligstes. Das Pelzreich meines Vaters befand sich in einem großen Lagerhaus in Richmond. Mein Großvater und seine Brüder und Schwestern ­waren kurz nach der Revolution aus Russland nach Australien gekommen. Inzwischen führte mein Vater das Geschäft alleine, aber zwei ­Frauen leiteten das Ober- und das Erdgeschoss. Das Obergeschoss war das Reich meiner Tante Eda: eine rundliche, kleine Russin mit einer sehr, sehr großen Frisur. Das Erdgeschoss war das Reich meiner Großmutter Leah: eine rund­ liche, kleine Polin mit einer sehr, sehr großen Frisur. Tante Eda führte die Bücher und das Büro, Oma Leah kümmerte sich um das Zuschneiden 29


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und Zusammennähen der Schnittmuster. Das Obergeschoss mochte ich nicht. Obwohl ich ­Tante Eda mochte, auch wenn sie die am ­schlechtesten schmeckenden Matzeknödel in der Geschichte des Judentums machte. Aber das Erdgeschoss war einfach etwas vollkommen anderes. Endlose Reihen von Pelzmänteln füllten das Erdgeschoss. Hunderte und aberhunderte Mäntel. Nerz, Känguru, Opossum, Schaf. Welches Tier einem auch einfallen mag – es hing tot an einer Stange in Richmond. Die Mäntel waren in einer bestimmten Ordnung aufgehängt: von billig bis luxuriös. Billig hing ganz vorne, ganz am Ende nach Stangen um Stangen voller toter Tiere befand sich die Luxus-Abteilung. Ein Nerz­mantel neben dem anderen. Ich hatte kurz zuvor die Bände der Chroniken von Narnia bekommen und war besessen davon. Später in meinem Leben entwickelte ich einen Hass auf diese Bücher, besonders als ich ­schließlich herausfand, was es damit auf sich hatte. Aber als siebenjähriger Junge mit einer blühenden Fantasie und einem hypersensiblen 30


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Wahrnehmungsvermögen hatte ich den ver­ zweifelten Wunsch, auch durch meinen Kleiderschrank hindurchgehen zu können, um auf der anderen Seite schneebedeckte Hügel zu finden. Auf diesen großen Löwen und diese dünne Hexe hätte ich verzichten können (obwohl ich ziemlich scharf auf die türkische Süßigkeit war, die sie in ihrem Pferdeschlitten aufbewahrte), aber der Kleiderschrank war etwas anderes. Jener Kleiderschrank und jene alten Pelzmäntel, die die Kinder auf ihrem Weg nach Narnia fanden, befeuerten meinen kleinen Kopf mit einer Macht, die mir den Atem raubte. Daher war es kein Wunder, dass ich, nachdem ich gelesen hatte, wie man in dieses mystische Reich gelangen konnte, zwischen den Nerzmänteln meines Vaters stand und überzeugt war, dass irgendwo zwischen all diesen schwarz- und braunfelligen Nagetieren mein Zugang nach Narnia liegen würde. Ich liebte es, dort zu sein. Ich liebte es, die Neonröhren auszuschalten und den Raum und mich in Dunkelheit zu tauchen. Die Reise begann, aber bald vergaß ich die Suche 31


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nach Schnee und türkischen Süßigkeiten, denn ich fand mehr Süße im Berühren und Spüren. Ich ließ meine Finger über den Nerz gleiten. Ich verfolgte die Kontur der langen Mäntel vom Kragen bis zum Saum. Ich rieb den Ärmel des Mantels an meinem Gesicht, sodass der weiche Nerz an meiner Wange und meinem Kinn kribbelte. Dann kroch ich unter einen langen Mantel und genoss den nächsten Sinneseindruck: die Futterseide! Ich schlüpfte ins Innere des Mantels, sodass ich vollkommen von Seide umgeben war. Es fühlte sich kühl auf meinem Gesicht an, wie ein Seidensorbet nach der Hitze der Nerze. Viele Stunden lang spielte ich alleine im dunklen Wald der Nerzmäntel. Ich verlor mich darin. Ich ließ mich sinken und ertrinken in einem See dunkler Pelze, und als ich auftauchte, war da kein Schnee, kein Pferdeschlitten, kein Narnia. Nur meine Großmutter mit einem Maßband um ihren Nacken und Nadeln im Mund, die mit behänden Füßen die Singer-Nähmaschine bediente. Und endlose Reihen einsamer Pelzmäntel. 32


II Die Sinfonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen. Gustav Mahler

56 Takte eines tiefen Streicherbrummens in der untersten Oktave. Auf einmal tut sich eine weiträumige Landschaft auf, voller Möglichkeiten, ohne Anfang oder Ende. Aus der Ferne tönen Blech­ bläserfanfaren über das Brummen, als r­iefe die Vergangenheit tapfer und trotzig von einem längst vergessenen Turm eines längst vergessenen Schlosses. Ein Kuckuck ruft, sticht mit seinem Ruf in die Luft. Eine schlangenartig sich windende chromatische Phrase der Streicher gleitet verführerisch und drohend durch die Landschaft. Und die ganze Zeit diese traurigen fallenden Quarten, einzelne Punkte im Panorama, wie seufzende Geister. 33


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Ich war 15, als ich Mahler zum ersten Mal hörte. Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet. Was war das für eine Musik? Was waren das für Klänge? Und warum, warum nur hatte ich trotz der Merkwürdigkeit und Fremdartigkeit dieser Musik das Gefühl, sie schon einmal gehört zu haben? Irgendwo, irgendwie, in einem nur halb erinnerten Traum. Wenn ich schon sprachlos angesichts des musikalischen Vokabulars des 1. Satzes der 1. Sin­ fonie von Mahler war, hätte mich nichts in der Welt auf die Klänge des 3. Satzes vorbereiten können. Bum bum. Bum bum. Der Trauermarsch zieht los. Bum bum. Die Pauken, fast nicht wahrnehmbar. Wie die Füße eines Riesen, in Watte gepackt. Der Kontrabass beginnt, „Bruder Jakob“ in Moll zu spielen. Ein KontrabassSolo? Bruder Jakob? Als Trauermarsch? Ein ­Kinderlied, das die Frage „Bruder Jakob, schläfst du noch?“ stellt, als trauervoller Begräbnis-­ Kanon? Ich war baff. Als das Orchester weiterspielte, sah ich den Leichenwagen des kleinen Kindes vor mir, wie er die leere, matschige Straße 34


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hinunterfährt. Dann schenkt Mahler seinen Zuhörern einen seiner wundersamsten Ein­ ­ fälle: Mitten im „Bruder Jakob“-Trauermarsch erscheint auf einmal eine Klezmer-Band. Ja, ­Onkel Mauries Bar-Mizwa-Band spielt inmitten des ­Orchesters auf, als ob eine Gruppe von Musikern sich soeben in die Mitte des FeierabendStoß­verkehrs gepflanzt hätte. Welcher Komponist bringt auf derselben ­Seite einer sinfonischen Partitur einen Trauermarsch, ein Kinderlied und eine schmissige Klezmer-Band zusammen? Diese Musik ver­ führte mich. Sie nahm mich gefangen, erschütterte mich und ertränkte mich. Sie erstickte mich. Sie war hinreißend, abstoßend und erschreckend zugleich. Sie brachte mich dazu, mir vor Angst fast in die Hose zu machen. Sie tut es immer noch. Bum bum. Bum bum. Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch? Aber was hatte eigentlich die jüdische Band da verloren? Und dieses kratzende hohe Kontrabass-Solo am Anfang ­ des Satzes. So falsch und doch so richtig. Ein 35


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alter Mann mit Lungenemphysem auf dem ­Kinderspielplatz. Das Finale der 1. Sinfonie detonierte in meinem Kinderzimmer, alles zerschmetternd, was ich vor diesen jubelnden Blechbläser-Fanfaren gehört hatte, die zuvor, im 1. Satz, noch ein Echo, nun aber dröhnend präsent und real waren; ­zuvor das schwerfällig trottende Bass-Ostinato, jetzt das aufregende Ausströmen unstillbarer, strahlender Freude. Und diese brüllenden Blechbläser-Ejakulationen am Ende des Satzes, auf­ gehalten nur von den unerwarteten, brutalen Akkorden am Schluss, hingeknallt wie Interpunktionszeichen. All diese Klänge waren neu für mich. Ihre exzessive, übermächtige Kraft überwältigte mich. Ich fühlte mich aufgekratzt und seekrank. Ich fuhr auf einer Achterbahn mitten im Atlantik. Monatelang hörte ich diese Musik und benutzte sie sogar für die allererste Theaterproduktion, die ich inszenierte. Ein Lehrer an meiner Schule hatte mir empfohlen, dass ich es doch mal mit Regie versuchen sollte. Also ging ich 36


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schnurstracks in die Schulbücherei, wo ich eine zerfledderte Kopie eines Stückes mit dem Titel Woyzeck fand, geschrieben von irgendeinem Deutschen. Ich hatte meine nur mit Männern besetzte Inszenierung des Stückes bereits einige Wochen lang geprobt, als ich die Entscheidung traf, dass die Mordszene noch eine ordentliche Portion Mahler benötigte. Als mein WoyzeckJunge die Kehle seiner Geliebten, Marie, aufschlitzte, unterlegte ich die Szene mit dem 3. Satz der 1. Sinfonie. Bum bum. Schnitt. Bum bum. Schnitt. Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch? Schnitt. Schrei. Eimer von Blut. Immer wenn ich die ­Musik höre, sehe ich das Küchenmesser meiner Mutter, das ich mir für die Aufführung geborgt hatte, den Hals eines heranwachsenden Jungen im schwarzen Kleid entlangfahren. Bum bum. Bum bum. Schnitt.

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Ich schlage mit dem Kopf gegen die Wände, aber die Wände geben nach. Gustav Mahler Mahler hat keine Opern geschrieben. Das musste er auch nicht. Wie Leonard Bernstein einst sagte: Jede seiner Sinfonien „benimmt sich wie eine Oper“. Sein Gespür für theatralische Effekte, für Charaktere, für Szene, für dramatische Kon­ frontation, für Licht, für Klangregie ist im sin­ fonischen Bereich beispiellos. Seine Musik ist von Schatten, Armeen und Skeletten bevölkert, von Marschkapellen, Trauerprozessionen und Gestalten, die einem Marktplatz von Pieter ­ ­Brueghel, einem Garten von Hieronymus Bosch, einem Badezimmer von Francis Bacon entsprungen sein könnten. Seine Musik verklärt, verformt, trotzt der Symmetrie, sie ruft Schwindel hervor, Klaustrophobie und Neurosen. Sie be­ ruhigt und tröstet. Und schmerzt. Im Jahre 1910 suchte Mahler den psycho­ analytischen Rat von Sigmund Freud. Die Sitzung fand in Form eines langen vierstündigen 38


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Spaziergangs durch die Straßen der niederlän­ dischen Stadt Leiden statt. Mahler erzählte Freud eine Anekdote aus seiner Kindheit. Er wurde in eine jüdische Familie aus der kleinen Stadt Iglau in Mähren geboren. Seine Eltern stritten oft und heftig miteinander. Einmal lief der kleine Gustav aus dem Haus, um dem wütenden Streit zu ­entkommen. Als er auf die Straße vor seinem ­Elternhaus rannte, hörte er einen Leierkasten ein bekanntes Lied spielen: „Ach, du lieber Augustin“. Freud notierte später: „Mahler meinte nun, von dem Moment an hätten sich in seiner Seele tiefe Tragik und oberflächliche Unterhaltung ­unlösbar verknüpft.“ Tragödie und Unterhaltung. Das war es, was ich erlebte, als Leonard Bernstein das New York Philharmonic Orchestra in einer Aufführung der 2. Sinfonie leitete. Kaum nachdem der AuftrittsApplaus verebbt war, ließ Lenny auch schon den Stab schwingen und gab den Einsatz. Die Tatze eines wilden silberhaarigen Tigers, der die erste Mahlzeit des Tages beanspruchte. Für die nächsten neunzig Minuten saß ich da wie versteinert. 39


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Die Musik zitterte und taumelte. Lenny ging in die Hocke und sprang in die Luft. Die Musik schwebte in einer Wolke aus nostalgischer Süße. Lenny schwankte wie in Trance, schwang sich herum, drehte eine Pirouette. Die Musik weitete sich zu einem gewaltigen, frohlockenden Strahlen. Lenny schien um mehrere Zen­ timeter zu wachsen. Er stand vor dieser riesigen Armee von Musikern und Sängern wie ein Mann vor der Sonne, entschlossen, ihren Lauf zu ändern. Ich sah, wie der Dybbuk von Mahlers Musik vom Körper dieses Mannes Besitz ergriff. Die Musik ergriff Besitz von ihm, um ihn in ver­ änderter Gestalt wieder zu verlassen. Er war die Braut Leah zu Mahlers Kabbala. Und als der Chor sein trotziges „Bereite dich zu leben!“ rief, schien sein Körper eine fast übermenschliche Kraft zu erlangen. Mahlers Kampf wurde zu ­Lennys Kampf.

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O Schmerz! Du Alldurchdringer! Dir bin ich entrungen. O Tod! Du Allbezwinger! Nun bist du bezwungen! Mit Flügeln, die ich mir errungen, In heißem Liebesstreben Werd ich entschweben Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen! Lenny als Supernova. OK, ohne Zweifel eine schwitzende Supernova. Ich hatte nie zuvor so viel Schweiß aus einem menschlichen Körper fließen sehen. Bei der großartigen Steigerung im letzten Satz ähnelte er einem verrückten Pinguin, der versucht, ein Sprinkler-System ­ nachzuahmen. Ihn zu beobachten war eine unglaubliche Erfahrung für einen 16 Jahre alten Schuljungen. Ich hatte nie zuvor einen Körper gesehen, der so zerrissen war zwischen Qual, Freude und Leidenschaft. Mahlers zwiespältige jüdisch-christliche nietzscheanisch-agnostische Persönlichkeit fand ihre lebende, atmende, schwitzende Verkörperung in Bernsteins Muskeln, 41


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Knochen und Fleisch. Ich war elektrisiert. Hatte Musik wirklich die Macht, so etwas mit dem menschlichen Körper anzustellen? Besaß der Mann die Kontrolle darüber? Was wurde im Körper dieses Mannes entfesselt? Und wer oder was lieferte den Impuls für diese ungezügelte Ekstase? Wow, dachte ich, ich will Dirigent ­werden. Also wurde ich Dirigent. Meine Orchester kamen aus London, Dresden, Cleveland, Berlin. Mein Publikum war hingerissen von meinen aufwühlenden Mahler-Interpretationen, und mein Kinderzimmer wurde zu meinem ganz per­ sönlichen Konzertsaal, meinem persönlichen Fetisch-Salon. Ich war so besessen von Mahlers Musik, dass er in meiner kurzen, aber sensationellen Karriere als international renommierter Kinderzimmer-Dirigent der einzige Komponist blieb, dessen Musik ich dirigierte. Ich stampfte durch die Zweite, ging mit breiten Tempi durch die Dritte und an den meisten Nachmittagen, gewöhnlich um 17.22 Uhr, tanzte ich mit den Engeln. Als ich die 8. Sinfonie entdeckte, ­konnte mich nichts mehr zurückhalten. 42


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Ich hob mein Plastik-Essstäbchen (es war das Geeignetste, das ich in der Küche finden konnte), und das Royal Concertgebouw Orchestra und der Chor der Tausend verkündeten jubilierend „Veni, creator spiritus“. Anderthalb Langspielplatten später leitete ich den Chor durch die leise Passage von „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Das ganze Kinderzimmer vibrierte. Das gesamte Universum drehte sich in ihm. Mein Kinderzimmer wurde zum Urknall. Meistens wurde ich von jemandem unterbrochen, der mir sagte, ich solle die Lautstärke reduzieren oder dass das Abendessen fertig sei oder dass die Nachbarn sich beschwert hätten. Aber mir war das alles egal. Rauf mit der Lautstärke. Rauf mit den Dezibel des Orchesters. Rauf mit den aufsteigenden Phrasen des Chores. Dieser Maestro würde auf keinen Fall ein Lammkotelett essen, bevor sein Plastik-Essstäbchen nicht mit den ­Engeln fertig war.

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III So gilt es auch zu verstehen, dass es sich, wenn wir das Wort Leben aussprechen, dabei nicht um das durch die Äußerlichkeit der Tatsachen bestimmte Leben handelt, sondern um jene Art zarten, lebhaften Feuers, an das ­keine Form rührt. Antonin Artaud

So richtig erkundet habe ich die Idee eines ekstatischen Theaters zum ersten Mal in meiner Produktion von Der Dybbuk. Anfänglich wurde ich von Salomon Anskis Text aufgrund seiner starken und geradezu hypnotisierenden Kombination aus religiösem Ritual, Horror und einer verdammt guten klassischen Liebesgeschichte ­ angezogen. Aber als ich die Produktion in der Eiseskälte einer verlassenen Lagerhalle in der 45


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I­nnenstadt von Melbourne probte, begann da noch etwas anderes zutage zu treten und mich zu fesseln. Vielleicht waren es all die Proben spät am Abend, bei denen der Raum nur von einer kleinen Lampe erleuchtet wurde und unsere Schatten bei der Arbeit über die Wände huschten. Vielleicht waren es aber auch die jiddischen und hebräischen Lieder, die durch die Dunkelheit schwebten. Oder war es vielleicht zu viel Hühnerschnitzel vom Café Sheherazade, das ich als tägliche Grundnahrung verzehrte? Der Schauspieler tauchte aus der Dunkelheit als verkrüppelter und abgemagerter JeschiwaStudent auf. Er wurde von einem kleinen Gebetbuch auf seinem Rücken niedergedrückt. An ­seinen Sohlen hatten wir Stahlkappen befestigt, sodass seine Füße beim Schlurfen über den ­Beton ein Kratzen ertönen ließen, das wie eine kranke Katze klang. Er stoppte und fuhr fort, langsam und systematisch, Seite für Seite sein Gebetbuch zu essen. Ein Wort des hebräischen Textes nach dem anderen schob er sich in den 46


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Mund, kaute und schluckte. Es hatte begonnen. Der Prozess des Verzehrs, der Verzehr eines ­Textes aus den Prophezeiungen des Hesekiel, en­dete in einer physischen Manifestation von Ver­zückung. Hesekiel sah Räder in Rädern. Das Verspeisen dieser Bilder bescherte dem jungen Studenten Gottesvisionen. Später im Stück gibt er seine Vision preis, wenn er beschreibt, was er in den versteckten Sätzen, Wörtern und Buch­ staben der mystischen Texte gesehen hat: Zwischen den Buchdeckeln habe ich einen flüchtigen Blick erhascht von Räumen, Kammern und Korridoren im Palast Gottes. … Ich habe mein Herz mit den Seiten der Kabbala aufgeblättert, und mein Herz zersprang zu Flammen. … Augen innerhalb der Augen öffneten sich weit. … Ich habe gesehen, wie sich der Saum des großen dunklen Vorhangs ­langsam hob. Transzendente religiöse Offenbarung, ekstatische Selbstopferung und das Heben des allwissenden, 47


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alles enthüllenden Ur-Theatervorhangs. Und das alles in der einen Vision! Der Dybbuk beinhaltet zwei großartige Momente physischer Ekstase: Der erste ereignet sich, wenn die Seele des toten Jeschiwa-Studenten in den Körper seiner Geliebten an deren Hochzeitstag fährt. Die Braut wird von ihm verschlungen, ihre Stimme wird zu seiner, ihre Sprache wird zu seiner und ihr ­ Körper wird zu seinem. Aber sie kämpft. Sie ­ kämpft ebenso heftig gegen ihn, wie sie ihn begehrt. Er attackiert und penetriert sie zur gleichen Zeit im Inneren ihres eigenen Körpers. Das wird sogar noch weitergetrieben, wenn die Rabbis versuchen, die Seele des Verstor­benen aus dem Körper der lebenden Frau auszutreiben. Ein heftiger Kampf tobt, als die Lebende und der Tote in ihrem Inneren weiterhin zugleich kämpfen und kopulieren. In unserer Inszenierung hing der tote Student sichtbar am Körper seiner Verlobten. Die Rabbis besprenkelten ihn mit Wasser und bliesen die Signale in ihre Schofare: Tekiah! Shevarim! Teruah! Die zwei in schmutzige Unterwäsche gekleideten, von kaltem Wasser 48


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durchnässten Körper begannen den Exorzismus in einer Schubkarre voller dreckiger Kartoffeln. Alsbald lagen zwei kreischende, deformierte Siamesische Zwillinge sich krümmend und ­ um sich schlagend auf dem Betonboden. Zwei ­krabbelnde, sich zwischen feuchten Kartoffeln fickende Kakerlaken. An einem Abend war es besonders kalt. Eiskalt. Der Lagerraum war nicht beheizt. Das ­Publikum saß eingepackt in Schals, Hüte, Handschuhe, Mäntel und das Schaudern der anderen. Die beiden Schauspieler waren am Ende des ­Exorzismus praktisch nackt. Nachdem sie schließ­ lich mit einem ungeheuerlichen Trennungsschrei auseinandergerissen worden waren, gingen sie zu einer Reihe von Fleischerhaken, die hinter ­ihnen hin- und herschwangen. An diesem Winterabend, als sie bewegungslos und durchnässt an den Haken hingen, dampften ihre nassen, nackten Körper. Gute drei Minuten lang, solange wie ein anderer Schauspieler ruhig das Kaddish-­ Gebet für die Seelen der Verstor­benen rezitierte, entstieg den Körpern der beiden Schauspieler 49


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dieser Dampf. Eine verrückte Kombination aus Raum- und Körpertemperatur hatte einen der schönsten Augenblicke hervor­gerufen, den ich je im Theater gesehen habe. Geschlachtetes koscheres Fleisch hing dampfend an glänzenden Fleischerhaken. Das Theater, das nicht in etwas Bestimmtem ist, sondern sich aller Sprachen bedient – Gesten, Töne, Worte, Leidenschaften –, findet sich genau an dem Punkte wieder, wo der Geist einer Sprache bedarf, um seine Äußerungen kundzutun. […] Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen, das heißt Theater schaffen oder neu zu schaffen. Antonin Artaud Das Theater scheint mir der ideale Ort für die Manifestation des Ekstatischen zu sein. Theater ist von seiner Natur her eine alchemistische ­Mischung aus Manipulation, Ritual und Stimulation. Körper, Stimme, Licht, Klang. Wer kann letztlich genau sagen, was entfesselt oder aus­ 50


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gegraben wird, wenn diese Kräfte aufeinandertreffen? Oder in welchen Theatermomenten ­diese Kräfte sich entscheiden, hervorzubrechen? Viele Jahre nach meiner Dybbuk-Inszenierung führte ich Regie bei György Ligetis Le Grand Macabre in Berlin. Die Oper erreicht ihren Höhepunkt, wenn ein riesiger Meteor auf der Erde einschlägt. Das hat ein verrückter Prophet ­namens Nekrotzar bereits vorhergesagt. In Berlin saß ­Nekrotzar auf einer weißen Plastiktoilette, während ein nicht enden wollender Schwall von braunem Exkrement aus der Toilette und über ihn quoll. Ligetis großartige apokalyptische ­Musik explodierte aus dem Orchestergraben heraus, während hinter der Toilette halbtote hermaphroditische Meerjungfrauen über die Bühne krochen, deren glitzernde Flossen traurig durch die Luft wedelten auf der verzweifelten Suche nach Wasser, Ruhe oder Rettung. Viele Menschen im Publikum fanden diese Szene anstößig und geschmacklos. Als ob Theater irgendetwas mit Geschmack zu tun hätte! Der Bariton beschmierte sich mit den Exkrementen, 51


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aß sie und sang. Je strahlender die Musik wurde, desto mehr aß er und beschmierte sich. Ich war hocherfreut, dass manche diese Szene überhaupt nicht geschmacklos, schockierend oder grotesk fanden, sondern wunderschön. G ­ enau das war meine Absicht. Berge von Exkrementen, sterbende hermaphroditische Meerjung­ frauen und ein Bariton auf einer Toilette, der L ­ igeti aus einem von Scheiße verschmierten Mund singt, mag nicht den Erwartungen an eine klassische Abo-Vorstellung entsprechen, aber ­ etwas passierte in diesem Moment im Theater. Etwas entstand. Etwas brach sich Bahn. Es brach sich ebenso Bahn, als Melita Jurisic ihre zwei Kinder in meiner Wiener Inszenierung von Medea tötete. Diese Tat einer Frau, die dazu getrieben wird, eine der extremsten Tabugrenzen menschlichen Lebens zu überschreiten, muss ein schockierender Moment sein. Zumindest für das Publikum. Für Medea bedeutet sie jedoch etwas anderes. Diese Tat sollte weder zärtlich noch in Zerknirschung erfolgen. Sie sollte auch nicht voller Trauer oder voller Selbstmitleid vollzogen 52


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werden. Sie muss der gewaltsame Akt von obszöner Macht und Terror sein. Etwas, das jenseits des Rationalen liegt. Jenseits der Selbstkontrolle. Exzessiv. Gewalttätig. Ekstatisch. Als Melita Jurisic also ihre beiden kleinen Jungs in eine Schublade schubste, ihre Axt schwang und sie niederfahren ließ auf die Nacken der beiden Kinder, entwand sich ihr ein Schrei des Schmerzes, des Zorns – und der Heiterkeit. Es war weder die Axt noch das Blut noch die Tat der doppelten Enthauptung. Es war dieser Schrei, der ihrer Vagina entsprang, durch ihren Körper ging und aus ihrem Mund hervortrat. Eine Musik der Eingeweide, geboren irgendwo anders, sich Bahn brechend durch ihren blut­ verschmierten, schreienden Mund, durch den Raum fliegend, wo sie in unsere Ohren drang, in unsere Körper sank und sich in etwas anderes verwandelte. In etwas, das darauf wartete, bei einer anderen Gelegenheit wiedergeboren zu werden. Etwas, das darauf wartete, von einem anderen Klang, einer anderen Fantasie oder einer anderen Erleuchtung berührt zu werden. 53



IV Ekstase transportiert sich im Theater am besten über Phantasmagorien. Und der Meister theatralischer Phantasmagorien ist Richard Wagner. Sein Theater ist ein komplexer, sich fortwährend verschiebender Kontinent, auf dem es sowohl für seine Bühnenfiguren als auch für seine Zuschauer durchaus schwierig ist zu unter­ ­ scheiden, was real und was imaginiert, was ­gedacht und was halluziniert ist. Der fliegende Holländer ist eine Oper, in der die meisten Figuren zumindest einen Teil der Handlung schlafend, tagträumend oder halluzinierend verbringen. Gleich in den ersten Minuten gibt Daland seiner Mannschaft die Anweisung: „Lange war’t ihr wach: zur Ruhe denn! Mir ist nicht bang!“, um dann unter Deck zu gehen und zu schlafen. Der Steuermann kann die ­Augen selbst beim Wachdienst nicht mehr offen 55


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halten und fällt, schläfrig von seiner Liebsten singend, alsbald am Steuerrad in Schlaf. Der Holländer verkündet, dass er auf den Tag des Jüngsten Gerichts warte, wenn die Toten von ihrem Schlaf auferstehen. Senta hängt am Tag bei der Arbeit Träumen nach und halluziniert bei Nacht. Und Erik hat im Traum prophetische ­Visionen. Niemand in dieser Oper scheint längere Zeit wach zu bleiben, außer vielleicht der arme Holländer, der offenbar an hoffnungsloser akuter Schlaflosigkeit leidet. Oder ist es nur ein Fall von extremem Schlafwandeln? Um den ­Zustand der Ekstase zu erlangen, müssen die Personen in Der fliegende Holländer erst einmal schlafen. Dann erst, in ihren Träumen, sehen und beobachten sie. Dieses Beobachten tritt an die Stelle der Phantasmagorie, um sich dann in einen ekstatischen Zustand zu verwandeln. Der Akt des Sehens ist entscheidend in Der fliegende Holländer. In meinem zweiten Versuch mit diesem Werk am Aalto Theater in Essen machten wir den unerbittlichen Voyeurismus der Figuren zum Schlüsselelement der Inszenie56


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rung. Als der Vorhang sich hob, waren da weder Wasser noch Schiff noch Matrosen zu sehen. Ein 13-jähriges Mädchen in weißer Unterwäsche stand auf einem großen Felsblock in einem ­ansonsten leeren weißen Zimmer. Ein riesiges Fenster hinter ihr wurde von einem weißen Vorhang verdeckt. Als dieser Vorhang sich langsam öffnete, sah das Publikum durch das große Fenster ein Appartementhaus mit weiteren Fenstern, die andere Zimmer zeigten. In diesen Zimmern standen verschiedene Gruppen von Männern, die das Mädchen durch Ferngläser beobachteten. Es war unklar, wer hier eigentlich wen beobachtete. Welche Art von Voyeurismus fand hier statt? Und wie man sich so oft in Wagners Opern ­fragen muss: Wessen Traum ist dies überhaupt? Der Holländer betrat das leere weiße Zimmer durch ein Loch in der Wand, als wäre er ein Einbrecher, der in den Raum der jungen Frau klettert. Später verwandelte sich dann das junge Mädchen, ­Senta, in die ältere, singende Version ihrer selbst und drehte sich während des Chors der Spinnerinnen wie ein Kreisel durch das Zimmer. 57


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Bei jeder Gelegenheit versuchten wir, die ver­ störende Wirkung eines unziemlichen Beobachtens, einer unangenehmen Belästigung zu erzeu­­ gen. Daland zeigte dem Holländer Polaroid-Fotos seiner Tochter, um ihn davon zu überzeugen, an Land zu gehen und eine Frau zu nehmen. Senta erschien sogar im gegenüberliegenden Appar­ tementgebäude und beobachtete sich selbst in dem leeren weißen Zimmer. Als ihr dann schließlich der Holländer erschien, öffneten sich abermals die weißen Vorhänge und enthüllten nicht das gegenüberliegende Gebäude, sondern einen üppigen blühenden Garten. Der Garten Eden war in ihrem Zimmer erschienen. Trunken vor Freude singt sie: Versank ich jetzt in wunderbares Träumen? Was ich erblicke, ist’s ein Wahn? […] Wie ich ihn oft gesehn, so steht er hier. Der fliegende Holländer ist eine seekranke Phantasmagorie. Jeder Takt ist eine weitere Umdre58


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hung von Schrecken, Frustration und Ver­ zückung. Als die Handlung schließlich bei der Hochzeitsfeier und dem Erscheinen des Geisterschiffchores explodierte, füllte sich das weiße Zimmer mit über 150 vollkommen gleich gekleideten Sentas. Männer, Frauen, jung, alt. Doppelgängerin neben Doppelgängerin. Die richtige Senta verschwand in einem wilden Ozean ihrer selbst. Auf dem Höhepunkt der Szene gebar ein alter Senta-Mann ein Senta-Skelett, das die anderen Sentas sogleich vergewaltigten. Die 150 Sentas rissen sich ihre roten Kleider vom Leib und warfen sie wie Tropfen verspritzten Blutes oder Fetzen von Schiffssegeln auf den Boden des weißen Zimmers. Folgerichtig lauten die ersten Worte nach dieser Vision: Was musst ich hören? Gott, was muss ich sehen? Ist’s Täuschung? Wahrheit? Ist es Tat? Senta hat den Holländer mittels eines ekstatischen Fieberwahns zum Leben erweckt. Hitchcocks Vertigo trifft auf Polanskis Ekel. Senta ist 59


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James Stewart, Kim Novak und Catherine Deneuve in einer Person. So vieles in Der fliegende Holländer dreht sich um die Realität, die in der Verlorenheit von Zeit und Raum ausgesetzt wird. Zeit und Raum sind das Wasser. Die Protagonisten suchen nach einem rettenden Ufer, nach Heimat, Zuflucht, Liebe und Erlösung in dieser Wagner’schen Ozean-Halluzination. Es gibt keinen Anker. Es gibt kein rettendes Ufer. Keine Heimat. Am Ende unserer Produktion schlitzte Senta dem Holländer die Kehle durch und opferte ihn auf dem Felsblock in der Mitte ihres Zimmers. Am Ende saß sie da, starrte in die Ferne, ihr geschlachtetes Opfer neben ihr. In ihren Augen ein Ausdruck von Begeisterung und Ekstase. Wenn es in Der fliegende Holländer darum geht, was das Auge aufnimmt, so geht es in ­Lohengrin darum, wie das Ohr das Aufgenom­ mene verändert. Lohengrin ist eine Oper über Laute. Kein anderes von Wagners Bühnen­werken ist so voller Bezüge auf das Hören und Rufen. Der Kern der Oper dreht sich um das Verbot von 60


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drei Fragen. Sie beginnt mit einem Herold, der die Bürger von Brabant zusammenruft, um zu hören, was König Heinrich ihnen zu sagen hat. Der König ruft sodann Telramund, damit er Stellung nehme zu den bösen Gerüchten, die bis zu des Königs Ohren gedrungen sind. Elsa wird ­namentlich aufgerufen: „Elsa, erscheine hier zur Stell’!“ Fortwährend wird hier gerufen und aufgerufen – und es sind gerade einmal 15 Minuten der Oper vergangen! Dieses Dazu-aufgerufen-Werden, dazu aufzurufen, etwas auszurufen wird deutlicher während Elsas Traumerzählung. Wie Senta driftet auch Elsa relativ schnell in Zustände von begeisterter Entrücktheit. Anders als Senta jedoch nimmt Elsa Dinge akustisch, hörend wahr. Zu Beginn ihres Auftritts ist sie stumm. Die Männer befragen sie, sie schweigt, antwortet nur durch Nicken. Als sie schließlich zu singen beginnt, gehen – so Wagners Regieanweisung – ihre ­ „Mienen […] von dem Ausdruck träumerischen Entrücktseins zu dem schwärmerischer Verklärung über“. In Der fliegende Holländer singt Senta 61


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über das Porträt eines Mannes, auf das sie Tag und Nacht wie besessen starrt. Elsas Erwachen vollzieht sich in einer vollkommen anderen Form. Nach dem Verschwinden und mutmaß­ lichen Tod ihres Bruders Gottfried hatte sie sich in einsames Gebet vergraben. Aber als sie im ­Gebet „des Herzens tiefstes Klagen ergoss“, geschah etwas Eigenartiges: Da drang aus meinem Stöhnen ein Laut so klagevoll, der zu gewalt’gem Tönen weit in die Lüfte schwoll: Ich hört’ ihn fernhin hallen, bis kaum mein Ohr er traf; mein Aug’ ist zugefallen, ich sank in süßen Schlaf. Was für ein außergewöhnlicher Vorgang! Aus dem Stöhnen ihrer Qual, der sie im frommen Gebet Ausdruck verleiht, wird ein Laut geboren. Ein Ton. Ein klagender Ton. Melancholie. Ihre Melancholie schwillt zu einem betäubenden 62


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Echo an, um dann wieder zu verklingen, so leise, dass es für das menschliche Ohr beinahe nicht mehr wahrnehmbar ist. Und dann, erst dann fällt sie in Schlaf. Aber anders als die Protago­ nisten in Der fliegende Holländer wird Elsa nicht durch den Schlaf in einen Zustand von Ekstase gebracht. Bei ihr sind Geräusche der Auslöser. Dieser Vorgang war, jedoch in umgekehrter Abfolge, bereits im Vorspiel zur Oper zu hören: Dort beginnt die Musik mit den Streichern, sehr leise in hoher Lage, kaum wahrzunehmen. Sie schwebt irgendwo über irgendetwas. Auf den ersten paar Seiten der Partitur sinkt die Musik langsam herab, nimmt an Lautstärke zu und stirbt dann, am Ende des Vorspiels, zu nicht viel mehr als einem vibrierenden Echo ab. Das Vorspiel selbst scheint ein Echo von Elsas Trance zu sein. Die Gestalt Lohengrins geht aus diesem Echo hervor. Elsa sieht erst, nachdem sie gehört hat – ein Umstand, den ich mit tragischer Ironie in meiner Inszenierung an der Wiener Staatsoper auflud: Elsa war bei mir blind! Mit den ­physischen Augen zu sehen war ihr unmöglich. 63


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Sehen konnte sie nur in ihrer Vorstellung. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung zwingt sie ihren Geliebten ins Leben. Lohengrin wird geboren aus ihrem Stöhnen. Er wird von ihrem Echo gerufen. Er ist ein schallgeborener germanischer Golem. Bevor Lohengrin tatsächlich erscheint, ruft das Volk von Brabant ihn herbei, um ihn physisch Realität werden zu lassen. Der Herold ruft. Die Trompeten blasen. Die Welt wartet in ahnungsvoller Beklemmung. Aber er kommt nicht. „Ohn’ Antwort ist der Ruf verhallt!“, ­singen die Männer von Brabant. Elsa fleht den König an, noch einmal nach ihrem Geliebten zu rufen: „Wohl weilt er fern und hört’ ihn nicht.“ Abermals ruft der Herold, abermals blasen die Trompeten. Abermals wartet die Welt. Und abermals erscheint er nicht: „In düstrem Schweigen richtet Gott!“ Sich fanatisch an ihren Glauben klammernd, ruft Elsa im Zustand freudiger, verklärter Umnachtung nach ihrem Geliebten: „Lass mich ihn sehn, wie ich ihn sah, / wie ich ihn sah, sei er mir nah!“ In Wien musste der Chor Elsa körper64


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lich in Zaum halten, so heftig und gewaltig war ihr Verlangen. Ihr Messias war ihr zuvor im Traum erschienen. Er muss antworten. Er muss jetzt erscheinen. Der Laut muss zu Fleisch ­werden. Der Regieanweisung zufolge erscheint ­diese Inkarnation in schimmernder Silberrüstung, mit Helm, Schild, Schwert, goldenem Horn, und steht auf einem Kahn, der von einem Schwan durch das Wasser gezogen wird. In meiner Inszenierung in Wien gab es keine glänzende ­Rüstung, keinen Kahn und keinen Schwan. In der Oper geht es nicht wirklich um derlei Dinge. Der Chor wirbelte um Elsa herum. Ihre Ekstase wurde zur Ekstase des Chors. Sie alle sahen ihre eigene Version dessen, was Elsa sah, wie bei einer evangelikalen Gebets­ zusammenkunft. Auf dem Höhepunkt ihrer Gruppenekstase füllten sie wild umherrennend mit einem Male den gesamten Bühnenraum. Dann blieb die Bühne vollkommen leer zurück, bis auf einen Mann in einem grauen Anzug, der mit dem Rücken zum Publikum auf einem kleinen Holzstuhl saß. ­Lohengrin war auf ihren 65


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Ruf hin erschienen, auf ihr Verlangen nach seinem Erscheinen. Im zweiten Akt wird das Thema von Hören und Rufen noch weiter ausgebreitet. Elsa dankt den Lüften, die zuvor von ihren traurigen Klagen erfüllt waren, nun aber voll von den Klängen ihres Glückes sein werden. Als Ortrud sie aus der Dunkelheit anruft, erschaudert Elsa: „Wer ruft? Wie schauerlich und klagend ertönt mein Name durch die Nacht?“ Das Rufen eines Namens aus der Dunkelheit durch eine nicht ortbare Stimme ist ein Vorgang, der sich durch fast alle Kulturen und ihre Mythologien zieht. Er hat eine furchtbare Kraft, für Elsa führt er zum Zerfall ihrer Vision. Weil Elsa in meiner Wiener Inszenierung blind war, gelang es Ortrud, sie absichtlich zu verwirren, indem sie sich ständig um sie herum bewegte und so ihre Wahrnehmung in die Irre führte. Der Laut wird hier zur Waffe. Ortruds durch die Dunkelheit gleitende Stimme verwandelt sich in akustisches Gift. In Elsa und Lohengrins Liebesduett im ­dritten Akt sind die beiden erst alleine, wenn der 66


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süße, kränkliche Brautgesang verklungen ist. ­Lohengrin spricht sogar aus, dass es nun keinem Lauscher mehr möglich sein wird, ihre stür­ mischen Liebeserklärungen zu hören. Streng ­geheim, nur für der beiden Ohren bestimmt. Für Elsa ist der Laut jetzt nicht mehr genug. Sie möchte die Freude einatmen, die ihr geschenkt wurde. Sie will sich vor seinem Blick auflösen, vor seinen Augen ins Nichts vergehen. Sie will sich wie ein Bach um seine Füße winden oder wie eine Blume vor ihm beugen. Elsa ist un­ zufrieden mit ihrem physischen Selbst und will sich einer Folge von Verwandlungen unterziehen, die sie immer näher zu ihrem Ehemann bringt. Sie selbst will zur Phantasmagorie werden. Ihre Liebe, „unaussprechlich wonnevoll“, ist namenlos – wie Lohengrin. Schon zuvor, im ersten Akt, wünschte sie sich, einfach nur in ihm zu vergehen. Er nennt zärtlich ihren Namen. Ihre Bitte, seinen Namen zu hören, besitzt eine aufgewühlte erotische Heftigkeit:

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Wie süß mein Name deinem Mund entgleitet! Gönnst du des deinen holden Klang mir nicht? Nur, wenn zur Liebesstille wir geleitet, sollst du gestatten, dass mein Mund ihn spricht. […] Einsam, wenn niemand wacht; nie sei der Welt er zu Gehör gebracht! Was für eine erstaunliche Folge an Bildern präsentiert uns Wagner hier: verbotene Namen, die Stille der Liebe, der Laut, der den Lippen des Geliebten entspringt, und die Unmöglichkeit ­ des Hörens für die wachende, reale Welt. Unfähig, ihre durchaus nachvollziehbare Neugier zu bändigen, fragt Elsa schließlich die verbotenen Fragen: Wer bist du? Woher kamst du? Was ist dein Ursprung? Und damit initiiert sie den letzten Teil der Oper. Am Ende sind die Laute für Elsa zu einem verworrenen, schrecklichen Albtraum geworden. Noch mehr schmetternde Fanfaren, noch mehr brüllende Männer, noch mehr leere Proklamationen. Ihre Halluzinationen bekommen Risse. Ihr toter Bruder kehrt zurück 68


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(wirklich?), Lohengrin zieht sich zurück (wirklich?), und die Welt, die sie aus ihren ersten klagenden Lauten geschaffen, geboren hat, wirft ihr Echo zu ihr zurück, unbarmherzig und furchteinflößend. In Wien war Elsa am Ende der Oper alleine auf der Bühne. Sie klammerte sich an sich selbst wie ein gepeinigtes Embryo, das nicht in den mütterlichen Schoß zurückkehren kann. In einem hilflosen Versuch, den Lärm abzuhalten, presste sie die Hände auf ihre Ohren. Um das Echo abzuhalten. Um den Laut abzuhalten. Da saß ich nun auf der höchsten Galerie des Berliner Opernhauses und vom ersten Einsatz der Celli an krampfte sich mir das Herz zusammen […]. Ich fühlte mich nicht mehr auf der Welt, ich lief danach ziellos auf der Straße umher, als ich nach Hause kam, ­erzählte ich nichts und bat nur, mich nicht zu fragen. Meine Ekstase sang weiter in mir die halbe Nacht und als ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich, dass mein ­Leben verändert war. 69


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Bruno Walters schlichte, aber ungemein schöne Erinnerung an seine erste Begegnung mit Wagners Tristan und Isolde fängt sehr treffend ein, was so viele Künstler und Zuhörer empfunden haben seit der Premiere der Oper im Jahre 1865. In dieser „singenden Ekstase“ gelangt Wagners obsessive Faszination für Blicke, Laute, Berührungen, Gerüche und Geschmäcker zu einer umwerfenden Symbiose. Von der ersten bis zur letzten Note ist diese Oper ein fast ununter­ brochenes Vibrieren, in dem die Definition, wo etwas anfängt und wo etwas aufhört, kaum mehr möglich erscheint. Die Handlung beginnt mit Isolde, angespannt wie ein Panther vor dem Sprung. Sie lauscht einem Spottlied hinter der Bühne und bricht dann in eine Tirade von Zorn, Wut und Frustration aus, die ohne Vorbild oder Entsprechung in irgendeiner anderen Wagner-Oper ist. Das ist keine Einzelhysterie wie bei Senta und keine Trance-Halluzination wie bei Elsa. Das ist nackte Wut. Entblößte Muskeln. Die Musik fährt durch den Text, wie ein Messer Fleisch aufschlitzt. 70


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I­solde beschimpft ihre Kidnapper: Sie befiehlt ihren versteckten Zauberkräften, aus ihrer Brust hervorzubrechen. Sie fordert die Winde dazu auf, einen tobenden Sturm zu entfachen, der sie und alle anderen auf dem Schiff in den tiefen Ozean versenken möge. In ihrem Wüten will sie das „träumende Meer“ aus seinem Schlaf ­wecken, um Rache zu nehmen an der Welt. Den größten Teil dieses ersten Aktes schwankt Isolde wild hin und her zwischen Wut, Sarkasmus und trockener Ironie. Sie ist die einzige weibliche Rolle in Wagners Werk mit Sinn für Ironie. ­Ironie ist ihr eine willkommene Erleichterung. Bei der Vorbereitung des Todestranks und dessen anschließendem, in letzter Minute er­ folgendem Ersetzen durch den Liebestrank erscheint die Ekstase des Schmeckens zum ­ersten Mal. Was als der bittere, endgültige Geschmack des Todes beabsichtigt war, wird zum berauschenden, ins Schwanken bringenden ­Geschmack der Liebe. Kaum hat Tristan seinen Teil hinuntergestürzt, reißt ihm Isolde die ­Schale aus der Hand. Wagners Regieanweisungen 71


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f­ ühren durch einen der atemberaubendsten und vieldeutigsten Augenblicke in der Geschichte der Oper: Sie trinkt. Dann wirft sie die Schale fort. Beide, von Schauder erfasst, blicken sich mit höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen, in deren Ausdruck der Todestrotz bald der Liebesglut weicht. Zittern ergreift sie. Sie fassen sich krampfhaft an das Herz und führen die Hand wieder an die Stirn. Dann suchen sie sich wieder mit dem Blick, senken ihn verwirrt und heften ihn wieder mit steigender Sehnsucht aufeinander. Man sollte nach dem Genuss eines solchen Trankes besser nicht mehr Auto fahren! Das Trinken verursacht Bewegungslosigkeit, die dann Voyeurismus hervorruft, der dann Verlangen bewirkt. Ich fand es immer faszinierend, dass beider Blick so eindringlich ist, dass sie unfähig sind, einander in die Augen zu schauen. Welches Brennen ist da am Werk? Was sehen die beiden 72


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in den Augen des oder der anderen? Erleuchtung? Spiegelung? Wagner nimmt sich Zeit mit diesem Moment. Er verlangsamt alles. Auf einer bestimmten Ebene bedeutet der Moment Erleich­ terung für die beiden Protagonisten, auf einer anderen Ebene aber ist er lediglich eine Aus­ weitung der Entwicklung, die sich vom aller­ ersten Takt der Oper an entfaltet hat. Isolde verliert jeglichen Sinn, wo, wer und was sie ist. Sie fragt sogar, ob sie noch am Leben ist. Und währenddessen pulsiert, wogt und braust die Musik durch die Berauschtheit des Paares, bricht sich eine Klangwelle an der nächsten. Im zweiten Akt sind alle Sinne im Einsatz. Isolde schilt ihre Zofe dafür, dass sie Laute in der Dunkelheit hört. Ihre Zofe entgegnet ihr, dass sie ihr Wunsch, nur das zu hören, was sie hören will, in die Irre führe. Sie warnt Isolde vor dem Gefolgsmann König Markes, dessen Blick voll von Boshaftigkeit und List ist. Als Tristan schließlich in die Szene stürzt, umarmen sich die beiden Liebenden mit fast unerträglich leidenschaftlicher Heftigkeit. Bist das wirklich du, was 73


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ich spüre? Bist das wirklich du, was ich sehe? Bist das wirklich du in meinen Armen? Oder ist das alles nur eine Illusion? Die Worte taumeln von ihren Lippen, die Musik eilt voran mit einer solch unerbittlichen Intensität, dass die Sängerstimmen in einem Tsunami ekstatischen Fragens und Suchens nach oben gerissen werden. Die Nacht sinkt auf die beiden herab und beider Atem wird eins. ISOLDE Herz an Herz dir, Mund an Mund; TRISTAN eines Atems ein’ger Bund; BEIDE bricht mein Blick sich wonnerblindet, erbleicht die Welt mit ihrem Blenden: 74


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ISOLDE die uns der Tag trügend erhellt, TRISTAN zu täuschendem Wahn entgegengestellt, BEIDE selbst dann bin ich die Welt: Wonne-hehrstes Weben, Liebe-heiligstes Leben, Nie-wieder-Erwachens wahnlos hold bewusster Wunsch. Ekstase ist in Tristan und Isolde ein erotisches Verweben von Begehren, Verklärung, Aus­lösch­ung, Dunkelheit und Tod. Eine licht­ durch­ wo­ bene Nachtmusik. Mögen Wagners Text­ meta­ phern bisweilen auch schwer zu verdauen sein – bei 75


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der Musik liegt der Fall vollkommen anders. Anders als in Der fliegende Holländer oder in Lohengrin begleitet das Orchester in dieser Oper nicht das Ritual der Ekstase. Nein, hier atmet es durch die Stimmen hindurch, dreht sich durch sie hindurch. Das ist keine Landschaft aus Musik. Das ist ein Strudel aus Noten. Ein schwarzes Loch des Klangs. Ein kollektiver Pulsschlag. Wir sind nicht länger von dieser Welt. Im dritten Akt regiert der Fieberwahn. Die Ekstase ist zu einer Krankheit geworden, einem Leiden, das Tristans Herz und Seele zerfrisst. Er stirbt in Isoldes Armen, stirbt in ihrem Blick, stirbt in ihren Augen. Ihr Schlussgesang vereint Sehen, Hören, Fühlen, Berühren und Schmecken in einem letzten stürmischen Liebeserguss. Sie fragt die Umstehenden, ob sie nicht sehen können, wie Tristans tote Augen sich öffnen; ob sie nicht sehen können, wie sein totes Herz mutig schwillt; ob sie nicht sehen können, wie seinen stummen Lippen süßer Atem entströmt. Sie ­allein kann sie hören, die verborgene Melodie, so wundervoll, so zärtlich, dass sie ihren Körper 76


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durchdringt. Diese Melodie schwebt um sie herum, verwandelt sich in sanfte Lüfte, in süße, himmlische Düfte. Sie kann die Musik riechen. Sie möchte die Musik schmecken, sie schlürfen, darin ertrinken, in ihrem Duft sterben. Ihre Augen hören. Ihre Ohren schmecken. Ihre ­ ­Zunge hört und ihre Seele berührt. In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All – ertrinken, versinken – unbewusst – höchste Lust! Letztlich muss diese Musik erfahren werden. Jede Interpretation muss am Ende versagen. Worte sind nutzlos. Aufnahmen werden ihr nicht gerecht. Man muss sehen, wie die Melodie aus der Tiefe des singenden Körpers emporsteigt; hören, wie sie aus dem Munde der Sängerin 77


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geboren wird; sie berühren, wenn sie sich durch den Raum bewegt; sie riechen, wenn sie um ­einen herumschwebt; sie schmecken, wenn sie in den eigenen Körper eintaucht. Ein Echo. Ein Vibrieren. Ekstase.

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More ecstasy Barrie Kosky im Gespräch mit Ulrich Lenz über die Ekstase der Komödie, Erfahrungen in Bayreuth und die japanische Küche Du hast On Ecstasy 2007 geschrieben. Seither ist viel passiert in deinem Leben … Es entstand in einer Periode temporärer Heimatlosigkeit: Ich hatte Wien bereits verlassen, wo ich zuvor fünf Jahre lang Co-Direktor des Schauspielhauses gewesen war, der Umzug nach Berlin war bereits geplant, aber zwischendurch bin ich noch mehrfach zwischen Australien und Europa hin- und hergeflogen. Wenn du auf die seither vergangenen Jahre zurückblickst, inwiefern hat sich – als nun in Berlin lebender Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin – dein Blick auf Theater verändert? 79


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Ich glaube, der kreative Prozess des Inszenierens hat sich nicht wesentlich gewandelt. Was sich verändert hat, ist der Blick von außen auf den Musiktheaterbetrieb. Wenn du als Intendant für 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ver­ antwortlich bist, öffnet dir das neue Ein­ sichten, manche davon faszinierend, manche durchaus auch erschreckend. Aber wenn man mich fragt, ob das meine künstlerische Arbeit als Regisseur beeinflusst hat, würde ich das ganz klar verneinen. Ich glaube, auf künstle­ rischer Ebene nähere ich mich den Stücken, die ich i­nszeniere, seit zwanzig Jahren auf die gleiche Weise. Und gab es auch Momente der Ekstase als Intendant? Nein, das würde ich nicht sagen. Ekstase ist ­etwas, das voll und ganz mit meinem künstle­ rischen Erleben und Schaffen zu tun hat. Wenn ich als Intendant die Arbeiten eines anderen ­Regisseurs an der Komischen Oper Berlin betrachte, dann tue ich das auf eine sehr analyti80


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sche Weise. Weil ich als Leiter des Hauses meine Hilfe und Unterstützung anbiete. Es wäre in diesem Sinne kontraproduktiv, wenn ich mich vollkommen fallen lassen würde, wie dies für ekstatische Erfahrungen ja letztlich notwendig ist. Ein Intendant sollte nicht nach Ekstase suchen, ein Regisseur schon. Wenn du das Buch heute schreiben würdest, welche neuen Momente von Ekstase würden Aufnahme ­darin finden? Da fallen mir einige ein! An erster Stelle möchte ich vielleicht die Wiederentdeckung der Operette der Weimarer Republik nennen, die unter meiner Intendanz an der Komischen Oper stattgefunden hat. Das umfasst ja ein ganzes Genre, das ich für mich künstlerisch entdeckt habe, um es dann einem interessierten Publikum in Berlin und darüber hinaus zu präsentieren. Das ist vielleicht sogar etwas, das meinen Blick auf Theater, zumindest auf dieses ganz besondere Genre, ­verändert hat. Es begann gleich im ersten Jahr meiner Intendanz mit Ball im Savoy von Paul 81


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­ braham, der vorletzten Operette der Weimarer A Republik, Abrahams Abschied vom Genre Operette und von Berlin. Ich erinnere mich noch ­genau: Als ich bei der ersten Bühnenorchesterprobe im Zuschauerraum saß und unser ­Orchester unter der Leitung von Adam Benzwi zum ersten Mal diese einzigartige Mischung aus Walzer, Klezmer, Csárdás und Jazz zu spielen ­begann, da wurde ich durchaus von etwas mitgerissen, das ich Ekstase nennen würde. Darauf folgte eine ganze Reihe von „eksta­ tischen Operettenproduktionen“: von Jacques Offenbachs Die schöne Helena über die beiden Oscar-Straus-Operetten Eine Frau, die weiß, was sie will! und Die Perlen der Cleopatra, alle drei an der Komischen Oper, bis zu Offenbachs Orphée aux Enfers bei den Salzburger Festspielen. Sie alle verfolgen die Idee von Ekstase durch Komik. In meinem Buch habe ich über Mahler und ­Wagner geschrieben, deren Musik meist ernst und schwer ist. Aber Dionysos hat eben zwei ­Gesichter! Die Ekstase der Komödie fehlt völlig in On Ecstasy. Obwohl auch Operette und Musical 82


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eine große Rolle in meiner Kindheit gespielt ­haben. Dann fallen mir zwei Produktionen ein, bei denen es eine besondere Verbindung zu den ­jeweiligen Stücken gab. Die erste ist Jean-Philippe Rameaus Castor et Pollux, die ich zunächst an der English National Opera in London heraus­ gebracht und dann an der Komischen Oper Berlin neu einstudiert habe. Da habe ich zum ersten Mal Rameau für mich entdeckt. Im Gegensatz zu der extrovertierten Ekstase der Operette handelt es sich hier um eine sehr introvertierte ­Ekstase. Die Transzendenz von Rameaus Musik mutet wie eine barocke Version der Musik zu Parsifal an. Ich liebe Händel, aber Rameau bete ich geradezu an! Da bin ich sicher das Gegenteil zu den meisten Opernliebhaberinnen und -liebhabern. Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe mehrfach Händel inszeniert, auf meine Inszenierung seines Saul in Glyndebourne ­werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Aber es gibt etwas bei Rameau, das man ansonsten vielleicht noch bei Monteverdi findet, aber 83


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eben nicht bei Händel: diese erstaunliche Unvorhersehbarkeit des musikalischen Verlaufs. Bei Händel ist man erfreut, bewegt, überrascht – aber man weiß, wie es weitergeht, die Struktur der Musik mit ihren Da Capos etc. ist ziemlich klar. Man ist vielleicht von einer harmonischen Wendung überrascht oder einer ganz besonders exquisiten Melodie. Aber die Radikalität von Rameaus harmonischen Verläufen und diese sehr besondere Musikalität haben mir eine vollkommen neue Landschaft eröffnet, ganz besonders in Berlin, wo ich das Werk mit Allan ­Clayton, Günter Papendell und Nicole Chevalier, drei meiner Lieblingssänger, einstudiert habe. Denn um ehrlich zu sein: Um diesen ekstatischen ­Kitzel durch ein Musiktheaterwerk zu bekommen, bedarf es besonderer Sängerdarstellerinnen und -darsteller mit ganz besonderen Stimmen. Auch Saul in Glyndebourne hat mich Momente der Ekstase erleben lassen, aber ich­ denke, das war die Ekstase des Bühnenerlebnisses. Das war der Chor. Dieser englische Chor aus vierzig jungen professionellen Sängerinnen 84


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und Sängern, die Händel auf Englisch sangen. Das besitzt eine solche Authentizität, wie man sie sonst vielleicht nur bei einer Wagner-Auf­ führung in Bayreuth erlebt. Wie dieser Chor in Glyndebourne in meiner Saul-Inszenierung sang, spielte und tanzte, diese Verbindung von Körper, Bewegung und Gesang kam der ursprünglichen Ekstase des griechischen Theaters sehr nahe. Noch vor dem Beginn meiner Intendanz an der Komischen Oper Berlin liegt die Inszenierung von Rusalka an diesem Haus. Meine Zweitbesetzung der Titelrolle war Asmik Grigorian, mittlerweile ein Weltstar. Als sie den dritten und letzten Akt der Oper, von mir als Traum eines Totentanzes inszeniert, sang und spielte, da habe ich erneut den Rocksaum der Ekstase berührt. Es war einfach unglaublich, wie Asmik das mit ihrem Körper und ihrer Stimme umgesetzt hat. Auch hier war also erneut die Darstellerin der Auslöser von Ekstase für mich. Sergei Prokofjews Der feurige Engel, den ich an der Bayerischen Staatsoper in München 85


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i­nszeniert habe, ist eine Oper über Ekstase. ­Renatas Vorstellung von diesem Engel ist, wenn man Text und Musik der Oper folgt, unweigerlich mit einer Form von Ekstase verbunden. Ich habe mit der Sängerin meiner Renata, Svetlana Sozdateleva, endlos darüber gesprochen, was genau Ekstase ist. Hysterie und Besessenheit ­ sind nur ein Teil davon. Die Oper ist ein Beispiel dafür, wie man Ekstase auf der Bühne inszeniert, wenn das Stück genau darüber handelt. Da gibt es für mich eine direkte Verbindung zu Salomon Anskis Schauspiel Der Dybbuk, über das ich in meinem Buch spreche. Herzog Blaubarts Burg in Frankfurt gehört noch auf die Liste. Ich glaube, Béla Bartóks Par­ titur bringt mich definitiv an Orte der Ekstase. Ich denke, es ist eines der größten Werke nicht nur des Musiktheaters, sondern der Musik des 20. Jahrhunderts überhaupt. Für meine Inszenierung brauchte ich keine Architektur, kein Schloss, stattdessen gab es nur Blaubarts Körper. Judith bearbeitet diesen Körper, öffnet ihn, um etwas freizulassen. Ich werde nie den Moment 86


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vergessen, als meine Judith, die wunderbare Claudia Mahnke, immer und immer wieder auf den Körper Robert Haywards in der Rolle des Blaubart einschlug, bis sich „die fünfte Tür“ als Fortissimo des vollen Orchesters in gleißendem, brutalem C-Dur öffnet. Es ist ein Stück voller ­Liebe und Traurigkeit zugleich. Und ganz frisch noch: Salome, ebenfalls in Frankfurt. Salome ist eine geradezu perverse ­Mischung aus Ekstase, Tod, Ironie, Sadomasochismus und Liebe. Wir haben versucht, aus ­Salome kein Opfer zu machen, etwa das Opfer sexuellen Missbrauchs durch Herodes. Es liegt so nahe, diese Frau aus einer moralischen ­jüdisch-christlichen Perspektive zu betrachten. Ich nehme ihre Äußerungen aber ernst und ­halte sie für ehrlich. Ich denke, sie liebt Jocha­ naan wirklich. Wie Ambur Braid das in Frankfurt gespielt hat! Sie hat Dinge in ihrem Körper und ihrer Stimme freigesetzt, die ich selten auf einer Bühne gesehen und gehört habe. Ich glaube, manche der Themen, die ich in meinem Buch 2007 angesprochen habe, haben ihren 87


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Weg in diese Salome-Inszenierung gefunden. Erneut spreche ich von einer konkreten Sängerin, weil die Darstellerinnen und Darsteller so wichtig sind für meine Arbeit. Das Buch enthält ein langes Kapitel über Wagner. Es ist entstanden, bevor du den gesamten Ring des Nibelungen in Hannover und bevor du Die Meistersinger von Nürnberg in Bayreuth inszeniert hast. Hat Bayreuth dir einen Moment der Ekstase beschert? Nein, definitiv nicht. Mein Umgang mit Wagner ist seit damals viel objektiver, analytischer geworden. Ich bin froh, dass ich sehr früh in meinem Leben Tristan und Isolde gehört habe, und zwar in einem Konzert. Wie ich in vielen Interviews gesagt habe: Ich vergebe Wagner alles, wenn ich den Tristan höre! Der Tristan lässt mich all meine persönlichen Vorbehalte gegen den Menschen Wagner und seine Werke vergessen. Mein nächster Wagner danach war Der fliegende Holländer. Und diese beiden Stücke faszinieren mich nach wie vor. Was ich also über den Holländer und 88


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Tristan und Isolde geschrieben habe, würde ich heute noch unterschreiben. Obwohl ich weder Tristan und Isolde noch den Holländer noch einmal inszenieren möchte. Ich denke, besser als die beiden Produktionen in Essen kann ich das nicht inszenieren. Was meine Beziehung zu Wagner verändert hat, war die zwiespältige Zeit der Arbeit an oder besser: meines ganz persönlichen Kampfes mit dem Ring in Hannover. Eine fatale Mischung aus meinen Problemen mit dem Stück, meiner ­extremen Abneigung gegen die Stadt Hannover, in der ich mich sehr unwohl gefühlt habe, und meiner persönlichen Lebenssituation. Ich fühlte mich damals richtiggehend verloren. Es war eben noch, bevor ich an der Komischen Oper begonnen hatte, die mich auch persönlich wieder ins Gleichgewicht gebracht hat. Ich bin glücklich, dass ich die Tetralogie 2023 noch einmal am Royal Opera House Covent Garden in London mit Antonio Pappano werde inszenieren können. Denn ich habe in Hannover so viele Fehler gemacht, das möchte ich gerne zurechtrücken. 89


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Der Grund dafür, das Angebot aus London anzunehmen, war einerseits die Zusammenarbeit mit Pappano und andererseits die Erkenntnis, dass ich das Stück so gut kenne und so genau weiß, worauf man achten muss, dass ich mich nun in einer viel besseren Ausgangssituation ­befinde als in Hannover. Dass ich meine Probleme mit Wagner überwinden konnte, dafür ist letztlich Bayreuth verantwortlich. Für mich gibt es keinerlei Ekstase in Bayreuth. Und das ist gut so. Den Meistersingern habe ich mich mit großer Objektivität genähert. Für mich ist das der einzig richtige Weg, Wagner zu inszenieren. Ich habe nichtsdestotrotz mei­ nen Spaß dabei und es bleibt ein sehr persön­ licher Blick auf das jeweilige Werk. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Opern, die ich inszeniere, springe ich bei Wagner nicht in die Welt der Protagonistinnen und Protagonisten hinein. Ich weiß, dass Wagner dem Publikum und den Sängerinnen und Sängern durchaus eine ekstatische Erfahrung bietet. Und natürlich ist es 90


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etwas Besonderes, in Bayreuth zu arbeiten, das leugne ich nicht. Ich bin froh, dass ich das ­gemacht habe. Und ich bin sehr froh, dass ich dabei diese grandiose Besetzung hatte, allen ­voran Michael Volle, Johannes Martin Kränzle und Klaus Florian Vogt. Aber meine Heran­ gehensweise war wie gesagt von einer großen Objektivität gegenüber dem Werk und den darin behandelten Themen geprägt. Für mich war das fast wie ein Exorzismus, eine innere Befreiung von verborgenen Dämonen. Denn bei den Wagner-­ Inszenierungen zuvor hatte ich jedes Mal das Gefühl, da säße bei den Proben immer so eine Art Gargoyle oder Gollum oder Incubus von Richard Wagner auf meiner Schulter und flüstere mir ins Ohr: „Dreckiger Jude! Dreckiger Jude! Dreckiger Jude!“ Es mag verrückt klingen, aber ich hatte wirklich und wahrhaftig dieses körperliche Gefühl. Und weil ich in meiner ­Meistersinger-Inszenierung den Spieß gewissermaßen umdrehte, indem ich sagte: „Fuck you, ich stelle dich vor Gericht!“, ist dieser kleine Wagner-Gollum-Dämon auf einmal verschwun91


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den. Wir können diese Musik genießen, wir ­können intellektuell und künstlerisch in diesen Werken versinken, aber wir müssen uns endlich von diesem Wagner-Kult befreien. … von der mit der Person Wagners verbundenen Ekstase … Ich weiß, dass es für viele Menschen eine Religion ist. Und Bayreuth ist der Tempel dieser Religion. Für deren Anhängerinnen und Anhänger ist es wie eine Droge. Was für jüngere Menschen die wilde Nacht im Club mit Ecstasy und lauter Musik ist, das ist für ältere Menschen aus bürgerlichen Verhältnissen der Besuch einer sechsstündigen Aufführung in Bayreuth! Ich habe das beobachtet. Ich muss gestehen, dass ich es bei manchen Bayreuth-Besuchen spannender fand, die Menschen in den Pausen zu beobachten, als das, was ich auf der Bühne gesehen habe. Nach meiner eigenen Bayreuth-Erfahrung hat sich mein Blick auf Wagner auf jeden Fall komplett verändert.

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Das heißt, du wirst auch in Zukunft nach keinem Moment der Ekstase in einer Oper von Wagner ­suchen? Nein, sicher nicht. Wenn das Publikum solche Momente in meinen Inszenierungen erlebt, soll mir das nur recht sein. Aber meine Regiearbeit wird davon nicht bestimmt. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass Objektivität nicht mit dem Fehlen von Emotionalität verwechselt werden ­ darf. Es bedeutet nur, dass ich auf jede Art von persönlicher Identifikation mit den Figuren der Handlung verzichte. Du sprichst in On Ecstasy von vielen Erlebnissen deiner Kindheit und Jugend. Würdest du sagen, dass Ekstase etwas ist, das vor allem bei der allerersten Begegnung mit etwas faszinierendem Neuem entsteht? Ja, es ist immer eine Art überraschender Überwältigung. Es hat eine sexuelle Komponente. ­Etwas berührt dich. Wenn du einen bestimmten Klang zum ersten Mal hörst, überwältigt er dich. Er macht etwas mit deinem Körper, mit deiner Seele. Du kannst das noch einmal erleben, aber 93


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nichts ist dieser allerersten Erfahrung vergleichbar, wie damals, als ich das erste Mal das Orchester in Ball im Savoy hörte oder zum ersten Mal in Berührung mit der Musik von Castor et Pollux kam. Werden die Momente der Ekstase weniger, je älter wir werden? Ja sicher. Weil man sich mit dem Älterwerden verändert. Ich denke, Kindheit und Jugend sind Zeiten großer Freiheit – wenn du es dir erlaubst, dich für Klänge und Bilder zu öffnen, also ge­ wissermaßen die Dinge ohne jeden Filter aufzunehmen. Dein Körper verändert sich, du bildest deine eigene Persönlichkeit aus, du sammelst Erfahrungen, deine Hormone spielen verrückt – es ist eine sehr spezielle Zeit in deinem Leben. Mittlerweile bin ich über fünfzig. Heute würde ich ein solches Buch nicht mehr schreiben. Ich denke, das Buch ist nicht zufällig unmit­ telbar nach meinem Weggang aus Wien ent­ standen. In einer Zeit des Übergangs also. Im Wartezimmer zwischen Wien, Berlin und Aus­ tralien. Und es ist auch kein Zufall, dass ich es 94


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vor dem Beginn meiner Intendanz an der Komischen Oper geschrieben habe. Ich musste es schreiben, denn ich wollte ein paar essenzielle Erlebnisse meiner Kindheit einfangen. Immer noch fragen mich viele Leute: „Wie ist es möglich, dass jemand, der in Australien aufgewachsen ist, Opern in Europa inszeniert und ein deutsches Opernhaus leitet!?“ Das könnte man unhöflich nennen. Warum denn, bitte schön, nicht? Aber wenn ich mir selbst die Frage stelle, dann komme ich eben auf die Dinge, die ich in dem Buch beschreibe. Wenn heute jemand zu mir käme und sagen würde: „Barrie, wir machen eine neue Reihe. Erster Teil war On Ecstasy. Womit würdest du die Reihe gerne fortsetzen?“, dann würde ich vielleicht das Thema Lachen vorschlagen. Und in zehn oder fünfzehn Jahren würde ich vielleicht über Melancholie schreiben. Die Momente der Ekstase werden mit zunehmendem Alter weniger, weil die allerersten Begegnungen mit etwas Neuem weniger werden … 95


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Aber sie werden durch etwas anderes ersetzt. Ich höre jetzt andere Musik, als ich sie mit 15 oder dreißig gehört habe. Meine erste Begegnung mit der Musik Robert Schumanns hatte ich in ­meiner Jugend, aber sie hat mich als Jugend­ licher nicht sonderlich berührt. Es gibt in meinen ­Augen auch nichts Ekstatisches im Werk Schumanns. Aber ich finde seine Lieder, seine Kammermusik, seine Klavierstücke erstaunlich. Diese Musik sagt mir mit 54 wesentlich mehr, als sie es vor vierzig Jahren tat. Ähnlich geht es mir mit der Musik von Maurice Ravel. Boléro und La Valse haben etwas Ekstatisches, klar. Diese Stücke habe ich als Jugendlicher natürlich gehört. Aber heute fasziniert mich seine Klaviermusik viel mehr, Stücke wie Gaspard de la nuit zum Beispiel. In unterschiedlichen Momenten des Lebens nimmt man unterschiedliche Dinge in unterschiedlicher Weise auf. Und ich würde diese veränderte Wahrnehmung nicht als Verlust, sondern als Veränderung sehen. Jetzt, mit 54, ist das Thema Ekstase vermutlich nicht mehr so wichtig für meine Arbeit und mein Leben, wie 96


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es das vor 15 Jahren war. Dennoch will ich natürlich niemals die Fähigkeit verlieren, Ekstase zu empfinden. Aber es ist wie beim Sex: Sex mit fünfzig ist anders als Sex mit 15. Er ist nicht besser oder schlechter, er ist nur anders. Letzte Frage: Hattest du je ein kulinarisches Er­ weckungs-Erlebnis, das mit der Hühnersuppe deiner Großmutter vergleichbar war? Da muss ich überlegen … Oh ja, auf einem Gastspiel mit unserer Zauberflöte in Japan lud mich der Fernsehproduzent, der unsere Tour finanziert hatte, in eines der besten Restaurants in ­Tokyo ein. Ein sehr, sehr spezieller Ort. Ich saß mit einer Gruppe japanischer Produzenten und wenigen Leuten aus meinem Team in einem ­privaten Raum, wo zwei Chefköche nur für uns ein japanisches 15-Gänge-Menü zubereiteten. Das war vermutlich die außergewöhnlichste kulinarische Erfahrung, die ich je gemacht ­ habe. Eine unbeschreibliche Mischung an Ge­ schmäckern und Raffinessen und sensationellen Speisen. Und eine Perfektion vom ersten bis 97


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zum letzten Gang. Das war wahrscheinlich das erste Mal nach sehr langer Zeit, dass ich bei einem Essen dachte: „Das werde ich nie vergessen!“ Noch jetzt, wenn ich darüber spreche, habe ich die verschiedenen Geschmäcker in meinem Mund.

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Barrie Kosky wurde 1967 in Melbourne geboren und lebt heute in Berlin. Nach einer Ausbildung in Klavier und Musikgeschichte an der Univer­ sität Melbourne wandte er sich der Theater- und Opernregie zu. Von 1990 bis 1997 war er künstlerischer Leiter der Gilgul Theatre Company in Melborne, 1996 war er Künstlerischer Leiter des Adelaide Festivals, von 2001 bis 2005 Co-Direktor des Wiener Schauspielhauses, seit 2012 ist er Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Engagements als Opernregisseur führten Barrie Kosky unter anderem an die Bayerische Staatsoper München, an das Royal Opera House in London, zum Glyndebourne Festival, an die Oper Frankfurt, die Dutch National Opera und an das Opernhaus Zürich. 2017 debütierte er mit 100


Die Meistersinger von Nürnberg erfolgreich bei den Bayreuther Festspielen. 2019 erfolgte mit Orphée aux enfers sein gefeiertes Debüt bei den Salzburger Festspielen. Seine Inszenierungen wurden außerdem am Teatro Real Madrid, an der Wiener Staatsoper, Opéra de Dijon, Los Angeles Opera, English National Opera in London, Australian Opera Sydney, Oper Graz, Staatsoper Hannover, am Theater Basel, Aalto Theater Essen, Deutschen Theater Berlin, Schauspiel ­ Frankfurt sowie am Berliner Ensemble gezeigt.

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Barrie Kosky versteht es nicht nur als der gefeierte ­Regiestar der Komischen Oper Berlin, sondern auch als unterhaltsamer und fesselnder Erzähler, der über­ ­ wältigenden Macht des Gefühls einen glänzenden Auf­ tritt zu bereiten. On Ecstasy ist seine Biografie des Schreckens und des Glücks im rauschhaften Moment: der Ekstase des Schmeckens beim Genuss der Hühner­ suppe der geliebten Großmutter, der Ekstase des Fühlens im Pelzlager des Vaters in Melbourne, des Sogs der ­unbekannten Zonen des Geschlechts, der Überwältigung in der Begegnung mit den Sinfonien von Gustav Mahler und den theatralischen Phantasmagorien von Richard Wagner … On Ecstasy ist die humorvolle Betrachtung des sinn­lichen Dranges und der éducation sentimentale eines jungen Mannes und seiner Genese als Künstler.

ISBN 978-3-95749-342-2

www.theaterderzeit.de


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