CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021

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CHANGES

Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit


Dieser Reader ist die Selbstanalyse einer Institution und ihres Programms, und er ist gleichzeitig der Versuch, ästhetische und politische Ereignisse, wie Botho Strauß es nannte, zusammenzudenken. Im Brennglas eines Jahrzehnts werden Wandlungen in der Organisation von Festivals, Ausstellungen, Aufführungen und Diskursveranstaltungen entlang von fünf Leitbegriffen reflektiert: Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit. Nach einer Bildstrecke zu ausgewählten Produktionen, Persönlichkeiten und Raumgestaltungen aus zehn Jahren Programm folgt der zweite Teil des Buches zur Geschichte der Berliner Festspiele und ihrem Widerhall in verschiedenen audiovisuellen Archivmaterialien. Mit Texten und Gesprächsbeiträgen von Frédérique Aït-Touati, Ed Atkins, Sivan Ben Yishai, Jens Bisky, Emanuele Coccia, Brian Eno, Thilo Fischer, Naika Foroutan, Donna Haraway, Susanne Kennedy, William Kentridge, Signa Köstler, Bruno Latour, Robert Maharajh, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Thomas Oberender, David OReilly, Diana Palm, Philippe Parreno, Stephanie Rosenthal, Alex Ross, Rebecca Saunders, Frank Schirrmacher, Stephan Schwingeler, Tino Sehgal, Markus Selg, Gereon Sievernich, Gabriele Stötzer, Lucien Strauch, Christina Tilmann, Jeroen Versteele, Gabriela Walde.


CHANGES Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender


Wir danken den Berliner Festspielen für die Zusammenarbeit bei dieser Publikation. CHANGES Berliner Festspiele 2012–2021 Herausgegeben von Thomas Oberender © 2021 von Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Das Redaktionsteam war in der Vorbereitung dieses Buches bemüht, alle Rechte an Bild, Text und geistigem Eigentum rechtzeitig zum Druckschluss einzuholen. Sollten dennoch Rechte Dritter verletzt worden sein, bitten wir um Mitteilung an intendant@berlinerfestspiele.de. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter: Harald Müller Winsstraße 72, 10405 Berlin, Deutschland www.theaterderzeit.de

Konzept: Thomas Oberender, Jeroen Versteele Recherche und Redaktion: Tobias Kluge, Nafi Mirzaii, Angela Rosenberg, Lucien Strauch, Jeroen Versteele Lektorat: Thomas Irmer Korrektorat: Sybill Schulte Bildbearbeitung: Holger Herschel Verträge und Rechte: Diana Palm, Raphaela Phannavong Übersetzungen: Christoph Jelicka, Maren Kames, Philipp Sack (small-time), Julia Schell Umschlaggestaltung und Textlayout: HIT Gestaltung Bildstrecke: Nafi Mirzaii Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-95749-398-9


Thomas Oberender Ch-ch-ch-ch-changes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Themen FORMATE Thomas Oberender Neue Formate – Formate des Neuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Formate 2012–2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Alex Ross Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Signa Köstler 36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 William Kentridge im Gespräch „Erfolg ist immer ein Desaster“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Emanuele Coccia und Philippe Parreno im Gespräch Die Ausstellung als Film ohne Kamera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Gereon Sievernich im Porträt „Museen haben eine friedensstiftende Qualität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Christina Tilmann Zehn Jahre Editionen der Berliner Festspiele. Grenzgänge zwischen Kunst und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 DIGITALKULTUR Thomas Oberender Kultur des Digitalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Frank Schirrmacher Unsichtbare Kräfte: Maschinen, Menschen, Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Susanne Kennedy Exorzismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Stephan Schwingeler System Everything . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 David OReilly The Art of Realtime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95


IDENTITÄTSPOLITIK Thomas Oberender Gegenstimmen. Fünf Felder der Identitätspolitik in zehn Jahren Festspielprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Donna Haraway Decolonizing Time . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Naika Foroutan Heimat ist nicht immer die Antwort. Was haben Migrant*innen und Ostdeutsche gemeinsam? . . . . . . . . . . . . . . 109 Gabriele Stötzer im Gespräch „Ich wollte das Bild ändern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Sivan Ben Yishai Das Chaos der Selbstrevolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Bonaventure Soh Bejeng Ndikung Klangliche Kompassnadeln in schlechten Zeiten! Was kann der Jazz tun? oder Wenn der Jazz in Berlin gestorben ist, könnte Berlin auch ein Ort seiner Wiederbelebung sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Robert Maharajh Kein einzelnes Wesen sein: Otobong Nkanga und Theaster Gates. . . . . . . . . . 135 Stephanie Rosenthal Making Kin – Verwandtschaften schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 Jens Bisky Angekommen im Niemandsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IMMERSION Lucien Strauch „Alle Botschaften meinten auch immer mich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Thomas Oberender im Gespräch Welten ohne Außen. Immersion 2016–2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Markus Selg Mind in the Cave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Ed Atkins und Rebecca Saunders im Gespräch Eine mögliche Wunde aufreißen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Brian Eno im Gespräch Unendliche Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173


NACHHALTIGKEIT Diana Palm Maßnahmen für die Mitwelt. Nachhaltigkeit bei den Berliner Festspielen . . . . . 183 Tino Sehgal im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Frédérique Aït-Touati und Bruno Latour im Gespräch Staging Gaia. Bühne, Klima und Bewusstseinswandel . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Bilder aus zehn Jahren Berliner Festspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Geschichte Biografie einer Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Thilo Fischer, Jeroen Versteele Everything Is Just for a While. 70 Jahre Festspielgeschichte neu betrachtet . . . . . 457 70 Jahre Berliner Festspiele. Filme aus privaten und öffentlichen Archiven . . . . . 460 Chronik 2012–2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Publikationen der Berliner Festspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Mitarbeiter*innen 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514



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Die Berliner Festspiele waren von Beginn an Berlins Hauptanlaufstelle für zu Kompliziertes, zu Großes, zu Teures, zu Nischenhaftes, zu Waghalsiges und zu Nervenaufreibendes. Sie konnten mit ihren Festivals, Ausstellungen, Programmreihen und Wettbewerben im Tagesgeschäft bedeutsame Maßstäbe setzen und manch eine Weltkarriere ebnen bzw. Bruchlandung überstehen. Nahezu alle Kunst- und Kultursparten bedienend, erforschend, gleichermaßen repräsentativ und eigenwillig denkend, entging den Berliner Festwochen und den Folgeformaten der Berliner Festspiele kaum eine international bedeutsame Veranstaltung. Hervorgegangen aus der Tradition verschiedener Sommerfestspiele, aber auch aus der kulturpolitischen Konkurrenz zu sozialistischen Institutionen und Gruppierungen, die ebenfalls 1951 die „Weltfestspiele“ nach Ostberlin holten und 26.000 Jugendliche aus aller Welt einluden, dauerte es nicht lange, bis die Berliner Festwochen mit ihren sich bald verselbstständigenden Theater-, Musik- und Ausstellungsprogrammen ein ganzes Kalenderjahr füllten. Nicht alles ist Ausnahme im Jahresprogramm von heute – vieles ist im Gegenteil eine Form von intelligenter Wiederkehr: Da sind die großen, internationalen Orchester mit ihrem spezifischen Klang und Programm im jährlichen Musikfest Berlin, die freien und festen Ensembles der deutschsprachigen Theaterwelt beim Theatertreffen. Die zyklischen Formate der Berliner Festspiele sind wiederkehrende Inseln einer vertieften Auseinandersetzung mit bestimmten Fragestellungen – der Bedeutung der Zeit in der Musik, der Rolle des Orchesters als eines Apparats oder Instruments in der Geschichte sich wandelnder Erfahrungsräume von Klang und Gemeinschaft. Nicht alles ist Disruption in diesem hektischen Geschäft der ständigen Produktion von Neuem und Bedeutung, die den Kulturbetrieb prägen. Festspiele schaffen auch Schutzräume für unterschiedliche Formen des Widerstands: Er kann sich in Langsamkeit genauso ausdrücken wie im Drängen der Avantgarde. Was ist Jazz? Das Verlassen des Skripts. Das kann Neue Musik genauso sein wie improvisierte Poesie. Doch vieles war in den letzten Jahren eben auch ein Schritt zur Seite: Marathonvorstellungen mit traditioneller Shanghai-Oper, eine queere Geschichte Amerikas im Feiern und Ernstnehmen der Gegenstimmen aus 100 Jahren Popmusik, die griechische Antike als Exzess einer Performance über 24 Stunden mit tanzenden, schreienden, singenden und schlafenden Performer*innen auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele, und, mitten im Lockdown: die lebendige Zeitansage echter Menschen im Live-Stream oder Life-Stream. Festspiele waren der losgelassene Jazz von Anthony Braxton, Weltstars wie Ai Weiwei oder Yayoi Kusama und ihre bewusstseinserweiternden Entgrenzungs-Installationen im Gropius Bau und auch eine gemalte Neuschaffung der Welt im No-Limit-Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller. Es war japanisches Nō -Theater in Hans Scharouns Philharmonie, Teodor Currentzis mit seinem ätherischen MusicAeterna-Chor und die neuen Kompositionen von Rebecca Saunders und ihren Zeremonien der menschlichen Stimme. Es waren die nächtlichen Erlebnisse

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von Minimal Music auf Feldbetten im Kraftwerk Berlin, eine aus praktischer Sicht eigentlich unmögliche, aber doch umgesetzte Wiederaufnahme von Frank Castorfs Faust beim Theatertreffen und das in der Planung nicht minder aufwendige Film- und Communityprojekt mit dem Titel DAU, das in einem komplizierten Gefüge zwischen Veranstalter*innen, Behörden und Berliner Feuilletons letztlich nicht umgesetzt werden konnte. Die Berliner Festspiele waren Open-Air-Tanzprojekte mit Choreografien aus 100 Jahren vor dem sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park und, im Dunkeln verborgen, William Kentridges Sonderausstellung unter der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele. Festspiele – das war Kunst mit Objekten, Pflanzen, Puppen und Avataren, das waren internationale Ausstellungen und eine kluge Liebe zu den vergessenen Unvergessenen wie Germaine Krull oder Wenzel Hablik und den namenlosen Schöpfer*innen historischer Artefakte der archäologischen Ausstellungen von Matthias Wemhoff. Die Berliner Festspiele sind eine der bekanntesten und zugleich eine hinter der Vielfalt ihrer Formate und Projekte verborgene Kulturinstitution. Berliner Festspiele sind immer – angesichts ihrer Festivalformate, Jugendwettbewerbe, Ausstellungsprojekte, Symposien oder Publikationen bleiben sie als Veranstalter im Hintergrund, obgleich der Gropius Bau und das Haus der Berliner Festspiele längst bekannte Adressen im Kulturleben der Stadt geworden sind. Doch nur wenige unserer Gäste wissen, dass die Berliner Festspiele Teil der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH sind, zu der auch das Haus der Kulturen der Welt, die Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) und eine zentrale Verwaltung mit eigenem Standort am Schöneberger Ufer zählen. Seit 2003 finden die Berliner Festspiele das ganze Jahr über statt und sind eine Modellinstitution des Bundes, die einzige, die Theater, Musik und Ausstellungen verbindet. Aber was verbindet die Berliner Festspiele mit den anderen Kulturbetrieben des Bundes?

Kunst, Markt, Diskurs In den letzten Jahren wurde die Arbeit der drei Geschäftsbereiche im Grunde durch die unterschiedliche Gewichtung von drei Komponenten geprägt: Kunst, Markt und Diskurs. Der Hauptakzent auf dem Diskurs lag unter der Leitung von Bernd Scherer beim Haus der Kulturen der Welt, der des Marktes bei der Berlinale mit ihrem Europäischen Filmmarkt unter der Leitung von Dieter Kosslick und später von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek und der auf der Kunst bei den Berliner Festspielen, wobei natürlich Anteile aller Komponenten in jedem Geschäftsbereich zu finden sind. Der Bund hat sich mit dieser Firma ein kostbares Instrument geschaffen, in dem keine Sammlung und keine Ensembles beherbergt werden, sondern flexible Infrastrukturen, die in der Lage sind, verschiedenste Themen und Formate zu realisieren, deren Struktur dem Inhalt folgt und sich den jeweiligen Bedürfnissen anschmiegt, statt diese auf die eigenen Routinen herunterbrechen zu müssen. Strukturell unterstehen die Berliner Festspiele dem*der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM), derzeit Staatsministerin Monika Grütters, unter deren Leitung in den letzten Jahren wesentliche Schritte für die Konsolidierung der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH eingeleitet wurden. Waren die

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Berliner Festspiele vor 2001 eine Einrichtung ohne eigene Häuser, so änderte sich das mit dem Ende der Intendanz von Ulrich Eckhardt grundlegend. Der Bund übernahm das ehemalige „Theater der Freien Volksbühne“ und den Martin-Gropius-Bau zu 100 Prozent, und die legendären Berliner Festwochen wurden von Joachim Sartorius zugunsten einer ganzjährigen Bespielung des neuen „Hauses der Berliner Festspiele“ in spezialisierte Festivals zerlegt, die in ihrer Struktur bis heute existieren und zu denen die ältesten Formate der Berliner Festspiele zählen – das Theatertreffen, das Jazzfest Berlin, das Theatertreffen der Jugend und die später hinzugekommenen Festivals MaerzMusik und Musikfest Berlin sowie die drei Jugendwettbewerbe für Tanz, Musik und Literatur, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und von den Berliner Festspielen gestaltet werden. Für eine Zuwendung seitens des Bundes von 20 Millionen Euro im Jahr, was ungefähr dem Etat des Deutschen Theaters Berlin entspricht, sollten die Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin mit dem Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten, dem Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße und dem Martin-Gropius-Bau in der Niederkirchnerstraße drei große Spielstätten Berlins ganzjährig betreiben. Um dieser Erwartung und dem innerstädtischen Wettbewerb mit anderen Institutionen gerecht zu werden, haben die unterschiedlichen Geschäftsbereiche inzwischen ein operatives Budget, inklusive Einnahmen und Drittmittel, von rund 60 Millionen Euro erreicht, das seinen institutionell vorgesehenen Kern bei Weitem übersteigt. Projekt- und Sponsor*innen-mittel bei der Berlinale ermöglichen einen essenziellen Teil der betrieblichen Arbeit und bestimmen damit untergründig eine Veränderung der institutionellen Arbeitsweise, die in den letzten Jahren immer stärker von großen Projektanträgen wie „Anthropozän“ im Haus der Kulturen der Welt und „Immersion“ bei den Berliner Festspielen abhingen. So sind es vor allem diese mehrjährigen Themenprojekte, die einen Großteil der institutionellen Innovationskraft und Weiterentwicklung unserer Arbeit ermöglicht haben. Ohne Projektmittel keine großen Eigenproduktionen oder Gastspiele im Bereich von Theater, Tanz und Ausstellungen und auch keine temporären Produktionsbüros, Publikationen und Vermittlungsprojekte. Ohne Hauptstadtkulturfonds oder die Kulturstiftung des Bundes, ohne die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und private Sponsor*innen gäbe es keine Berliner Festspiele, wie wir sie heute kennen. Aber natürlich auch nicht ohne die finanzielle Basisausstattung, die – dank vielfältigster Bemühungen der Geschäftsführung, des BKM und vor allem eines Beschlusses des Parlaments erstmals seit der Gründung der KBB – angehoben wurde und in den nächsten Jahren durch den*die Staatsminister*in für Kultur und Medien in jährlichen Schritten glücklicherweise weiter erhöht werden kann. Die mit der Zuwendungssituation verbundene Projektkultur hat unsere Festivalangebote grundlegend verändert, aber auch unsere Verwaltung und unser Planungsverhalten. Die nachfolgend in diesem Buch abgebildete Fülle von Formaten resultiert nicht nur aus einer inhaltlichen Neugier und dem Wunsch, auf ästhetische und gesellschaftliche Veränderungen mit neuen Produktions- und Präsentationsformen zu reagieren, sondern auch aus dem politischen Brauch, dass neues Geld nur für neue Ideen zu finden ist und kaum mehr für den eigentlichen Regelbetrieb der traditionellen Festivals und Programmarbeit im Ausstellungshaus. Der ständig aktivierte und monetär belohnte Ideenstrom der Programmerfinder*innen führt also zu einer nervösen

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Zeitgenoss*innenschaft, die sehr wachsam nach Themen, Trends und Namen sucht, mit der Kehrseite einer immer kurzfristigeren Planungs- und Beschäftigungszeit und einem Auseinanderdriften der Repräsentanz von temporären Arbeitskräften und den Interessen der Stammbeschäftigten. Ohne die diversen Fonds und Stiftungen und die Förderprojekte des Parlaments wären die Programme der großen Akteur*innen unseres Kultursystems wahrscheinlich um ein Viertel kleiner, so auch bei den Berliner Festspielen in ihren beiden Häusern. Intendant*innen werden in der Öffentlichkeit vor allem mit den inhaltlichen Profilen verbunden, sie sind zugleich aber, gemeinsam mit ihrem Programmteam, im alten Wortsinn die „Besorger*innen“ der ökonomischen Ressourcen. Meist wird über diese Tatsache eher kein weiteres Aufheben gemacht, weil sie so normal geworden ist, oft aber auch, weil sie so unnormal ist. Erfreulicherweise kam es 2020 neben der Anhebung der institutionellen Zuwendungen an die KBB auch zu substanziellen Sachinvestitionen in den Bereichen einer digitalen Infrastruktur und baulichen Instandsetzung des Hauses der Berliner Festspiele und auch des Gropius Baus. Mussten die Berliner Festspiele 2012 noch sämtliche Programmmittel für die Produktion oder Koproduktion von Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau durch Eintrittserlöse und Drittmittel einspielen, gelang es seit 2018 durch Monika Grütters’ Unterstützung erstmals, einen Grundstock an Eigenmitteln für das Ausstellungsprogramm zu bilden. Der Bund wurde zudem 2014 Eigentümer des Martin-Gropius-Baus und des Hauses der Berliner Festspiele, und seither sind die Berliner Festspiele mit ihren beiden Häusern Mieter bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA). Mit der voranschreitenden Bündelung diverser Arbeitsbereiche unter dem Dach der zentralen Verwaltung in der Schöneberger Straße entstand in den letzten zehn Jahren innerhalb unserer Firma eine Meta-Administration. Sie steuert nicht nur Finanzbuchhaltung, Budgetkontrolle, Lohnbuchhaltung, Personalleitung, Ausschreibungs-, Vergabe- und Gebäudemanagement, sondern hat nun auch die technischen Abteilungen aller Geschäftsbereiche der Kulturveranstaltungen des Bundes und die Leitung und Kontrolle der IT und des Ticketing von Berlinale, Haus der Kulturen der Welt und Berliner Festspielen mit dem Martin-Gropius-Bau inne. Am Ende dieses Prozesses sind die produzierenden Bereiche der KBB, und unter ihnen vor allem die Berliner Festspiele, in allen Gewerken und Bereichen geprägt von den Vorgaben der zentralen Verwaltung. Diese wurde 2001 gegründet, um Spareffekte innerhalb der Verwaltung der Berliner Festspiele (damals noch mit der Berlinale) und dem Haus der Kulturen der Welt zu erzielen. Von diesem Ursprung her erfolgte in den vergangenen zehn Jahren die Zentralisierung aller produktionsrelevanten Arbeitsbereiche unter der Leitung der kaufmännischen Geschäftsführung. Ich habe mir als Dramaturg, Schauspieldirektor in Salzburg und Intendant in Berlin stets gewünscht, in einer Struktur zu arbeiten, in der zu ermöglichen ist, was anderswo unmöglich ist. Die Berliner Festspiele sollten produzieren können, was andernorts als zu spezifisch, aufwendig, extrem oder inopportun galt. Über weite Teile ist uns das gelungen – nicht nur in großen Sonderprojekten, sondern auch in unseren zyklischen Formaten. Angesichts der ganz „normalen“ Deregulierung künstlerischer Prozesse wird es wahrscheinlich auch in den nächsten zehn Jahren keinen pflegeleichten Einladungsbetrieb bei den Berliner Festspielen geben. Und zugleich, man braucht sich nur die

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filmischen Installationen von Thilo Fischer zur Geschichte der Festspielarbeit anzuschauen, sind staatliche Kulturinstitutionen mit ihren beschränkten Ressourcen und Ankaufetats schon seit Längerem kaum mehr in der Lage, so übergroße und überbordende Formate zu kreieren wie die Metamusik-Festivals von Walter Bachauer oder das Zirkusprogramm von 1978. Dafür konnten wir andere Türen öffnen.

Eine Lücke in der Landschaft schließen In allen Sparten und Genres der Berliner Festspiele hat sich eine Entwicklung fortgesetzt, die wegführt von den Begriffen und Praktiken traditioneller Sparten und Genres, weil die künstlerische Praxis diese Grenze auflöst. Viele Gastspiele sind heute multimediale Installationslandschaften, brauchen lange Aufbau- und Probezeiten, sprengen den Rahmen klassischer Festivalproduktionen. So vergrößern sich die Aufwände nicht nur im Bereich der Eigenproduktionen der Berliner Festspiele, sondern auch bei den Gastspielen. Diese Herausforderung ist eine Tendenz der Zeit, keine Mode, sondern eine Entsicherung des Kunstbetriebs, wie sie von den Künstler*innen ausgeht und unsere Institutionen herausfordert. Eine konstante Herausforderung für die Berliner Festspiele war es auch, einen hohen Anteil an eigenen Produktionen zu entwickeln, um neben ihrer Haupttätigkeit als einladende, gastgebende Institution jene Werke oder Formate selbst zu produzieren, die den Berliner Festspielen ein eigenes Profil geben und eine Lücke in der institutionellen Landschaft Berlins schließen – also genau das anbieten, was in Repertoirebetrieben oder Häusern mit einer eigenen Sammlung schwer zu verwirklichen ist. Oft waren das Langzeitformate wie „The Long Now“, Vinge/Müllers Nationaltheater Reinickendorf, Troubleyn/Jan Fabres Mount Olympus, Ilya Khrzhanovskys geplantes DAU-Projekt oder Taylor Macs A 24-Decade History of Popular Music. Groß angelegt konnten aber auch Fragestellungen und über mehrere Spielzeiten hinweg untersuchte Themen sein, wie zum Beispiel „Zeit“ bei MaerzMusik, „Healing & Care“ im Gropius Bau oder ein Weltbildwandel und eine sich ändernde Kunstpraxis in der Projektreihe „Immersion“. Gereon Sievernich hat zuvor über fast zwei Jahrzehnte ein eigenwilliges, neugieriges Programm am Martin-Gropius-Bau realisiert, das im Laufe der Zeit eine eigene „Archäologie der Moderne“ um enigmatische Künstler*innen wie Hans Richter, Friedrich Kiesler, die WChUTEMAS-Schule, Germaine Krull, Wenzel Hablik oder Franz Kafka entwickelte, kontinuierlich große Fotografieausstellungen wie von Diane Arbus oder Barbara Klemm zeigte und aufsehenerregende Lichthof-Inszenierungen durch zeitgenössische Künstler*innen, die man zuvor so nur in der Londoner Turbine Hall gesehen hat. Zum Profil des Martin-Gropius-Baus gehörten imposante Ausstellungen über die Kulturen der Maya oder Irokesen, prähistorische Felszeichnungen oder japanische Holzschnitte von Hokusai, aber auch Ausstellungen über das Bauen mit Holz oder die Präsentation großer Privatsammlungen. In ähnlicher Weise entdeckungsreich hat Winrich Hopp im Musikfest Berlin an der Genealogie und Konturierung eines Orchesterkanons des 21. Jahrhunderts gearbeitet. Mit Nadin Deventer übernahm nach Bert Noglik und Richard Williams 2018 eine Produzentin und Kuratorin aus dem Team des Jazzfestes Berlin die Leitung des Festivals, die dieser Männerdomäne ein neues

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Hören lehrte, politisch frische Allianzen schloss und, genauso wie Yvonne Büdenhölzer im Theatertreffen, Kunst und Diskurs immer mit Seitenblick auf aktuell virulente Gesellschaftsthemen kuratierte.

Der rote Rahmen als Fokus Der rote Rahmen wurde 2012 als Logo eingeführt, um das Zusammengehörende all dieser Formate und Orte zu betonen und zugleich zu signalisieren, dass die Plattform der Berliner Festspiele wie ein Fokus im Sucher einer Kamera funktioniert – im roten Rahmen erschienen die verschiedensten Phänomene und Tendenzen wie im Brennglas. Die großen Themen der Berliner Festspiele, denen in diesem Buch nachgespürt wird, waren und sind das Anbrechen einer neuen Identitätspolitik (mit ihren Debatten um Gender, Herkunft und eine neue Rechte), die Auswirkungen der digitalen Kulturrevolution, der Klimawandel und ein neues Weltbild, das eher in Ökologien und symbiotischen Strukturen denkt als in dialektischen Gegensätzen und einer dirigistischen Gewalt von oben. Die Hashtags dieses Jahrzehnts lauteten #MeToo, #BlackLivesMatter oder #Corona und werden gerahmt vom Ende der Ära Merkel und der ersten Generation von Deutschen, die ihr Land nur als ein Land kennengelernt haben, ohne Todesstreifen und Tagesvisa. Zugleich stehen wir noch am Anfang einer offenen und ausgewogenen Betrachtung der deutschen Wiedervereinigung und der Re-Programmierung unserer eigenen Betriebssysteme im Kontext des Festival- und Ausstellungsmachens, um dem Stand unserer Einsichten über notwendige Veränderungen im Bereich der Nachhaltigkeit und Diversität auch eine gewandelte Praxis folgen zu lassen. Eines der bewegendsten Werke über diese Herausforderung ist vielleicht Arne Vogelgesangs und Marina Dessaus Produktion Es ist zu spät, die als Livestream im Rahmenprogramm des Theatertreffens 2021 zu sehen war. Die letzten zehn Jahre haben eine Reihe neuer Formate hervorgebracht, die auch Formate des Neuen waren: Konzertcluster von 30 Stunden Dauer im Kraftwerk Berlin, in denen sich die Besucher*innen Feldbetten in der Turbinenhalle aneignen konnten, oder Jazz, der wieder stärker in die Nähe von experimenteller Szene und politischem Aktivismus rückt, oder eine eigene Sendeplattform wie „Berliner Festspiele on Demand“, Künstler*innenresidenzen im Gropius Bau, eigene VR-Produktionen und Fulldome-Festivals im Zeiss-Großplanetarium. Wir haben große Gastspiele von Robert Wilson und Alain Platel, von Taylor Mac und Jan Fabre, Pina Bausch, FC Bergman und Marino Formenti gezeigt. In einer ehemaligen Munitionsfabrik in Reinickendorf haben wir zusammen mit den Künstler*innen und Programmmacher*innen ein „Nationaltheater“ gebaut, wir haben die Frauenquote im Theatertreffen eingeführt, und wir wollten für vier Wochen im historischen Stadtzentrum die Berliner Mauer wiederaufbauen, um sie noch einmal zu öffnen. Wir haben die nationalsozialistische Vergangenheit des ersten Festspielintendanten erforscht und in der Reihe „Immersion“ mit „Down to Earth“ das erste Ausstellungsprojekt in Deutschland realisiert, das auf das Thema Klimawandel mit einem Wechsel im Betriebssystem reagiert – unplugged, ohne Flugreisen der Beteiligten, ohne Strom, mit Transparenz über alle Verbräuche und die positive Erfahrung einer analogen Kunstpraxis und Lebensschule.

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Die Bundeswettbewerbe erhielten eine einheitliche Struktur und mit dem Tanztreffen der Jugend 2014 eine neue Sparte. Was sind die Berliner Festspiele? Wir haben immer wieder überlegt, ob wir die Atomisierung der ursprünglichen Berliner Festwochen, die einst wie die Wiener Festwochen oder das Holland Festival einen kompakten Veranstaltungsblock mit Ausstellungen, Theater und Konzerten gebildet haben, wieder rückgängig machen und ein großes Stadtfestival gründen. Allerdings erschien uns das, ähnlich wie unseren Vorgänger*innen, als seltsam dominant und zu konsumistisch. Auch hatten wir die Idee, das im Jahreskalender verstreute Programm zu zwei Spielzeiten zusammenzufassen, die im ersten Halbjahr ein großes Theaterfestival rund um das Theatertreffen realisieren und im zweiten Halbjahr die improvisierte Musik zwischen Jazz und aktueller Musik mit dem zeitgenössischen Orchesterrepertoire verknüpfen. Letztlich haben wir uns dafür entschieden, bestehende Formate zu schützen und ergänzend neue Formate zu gründen, die spezifische Fragestellungen, Praktiken und Communities verbinden. Die ständige Frage in den letzten Jahren war, ob wir innerhalb der vorhandenen Formate Veränderungen ausprobieren oder neben diesen Zyklen auch Freiräume schaffen, die alternative Veranstaltungsformen aufnehmen, wie sie in Repertoirehäusern oder kurzen Festivals nicht zu realisieren sind – etwa ein analoges Digitalfestival oder eben die nie endende Ibsen-Saga von Vinge/Müller.

Themen – Bilder – Chronik Hinsichtlich der künstlerischen Projekte und Entwicklungen wird nachfolgend die Chronik der Festspielprogramme, wie sie in früheren Abschlusspublikationen der Berliner Festspiele von Ulrich Eckhardt und Joachim Sartorius angelegt wurde, in ähnlicher Form fortgesetzt. Ihr voraus geht im ersten Teil des Buches eine Darstellung thematischer Schwerpunktsetzungen, die unsere Arbeit in den letzten zehn Jahren geprägt haben. Dies geschieht auf der Ebene der großen Themenlinien, wie sie in mehreren Festivals und Ausstellungsprojekten ihren Niederschlag gefunden haben. Die Geschichte der konkreten Festivalarbeit wird hier in ihren Details genauso wenig nacherzählt wie die Geschichte sämtlicher Ausstellungen oder Mitarbeiter*innenpersönlichkeiten. Vielmehr sind die nachfolgenden Thementexte der Versuch, die grobe Signatur des zurückliegenden Festspieljahrzehnts auf einer übergreifenden Ebene zu beschreiben. Dieses Buch hat also drei Hauptkapitel: Themen, Bilder, Chronik. Der Thementeil beginnt in fünf Kategorien jeweils mit einem Übersichtstext und enthält dann eine Fülle von Dokumenten, die auf oder für oder über Veranstaltungen der Berliner Festspiele in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Einerseits ist dieses Buch eine Handreichung in Richtung unserer Nachfolger*innen – es ist im dritten Teil die Chronik der gelaufenen Ereignisse und veröffentlicht kostbare mediengeschichtliche Quellen und Recherchen zur Biografie unserer Institution. Zugleich ist das Buch aber auch ein Versuch, die Hand in den Strom der Zeit zu halten und etwas festzuhalten: Statements mit eingeschaltetem Warnlicht. Achtung! Veränderung in Sicht. Das Buch zeigt unseren Blick auf das eigene Treiben im Rückspiegel der jüngsten Erfahrung. Es legt dafür fünf Filter über die Programme, die unsere

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Arbeit auf andere Weise lesbar machen – Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit. Wie dieses Buch überhaupt hier und da aus der Küche plaudert – über die Rezepte wird ja nur selten gesprochen, fast immer über die Speisen. Wobei Rezepte das falsche Wort ist, es geht ja nicht ums Nachkochen, sondern um Gedankenwege, Konzepte und Konflikte: Die Reflexion der Rolle der Formate ist zum Beispiel der Versuch, transparent zu machen, was in der Programmarbeit oft nur widerwillig hergezeigt und ausgesprochen wird. Die Formate der Berliner Festspiele zu reflektieren, erzeugt mehr als nur die Chronik einer Erfindungsgeschichte, sondern thematisiert die vielleicht wichtigste Verschiebung im Kulturbetrieb der letzten zehn oder zwanzig Jahre. Denn Formate zu lesen und zu verstehen, bedeutet, ein neues Verhältnis zwischen Werk und Institution zu reflektieren, das die Berliner Festspiele in vielen ihrer Programmreihen, Ausstellungen und Festivals aktiv umgestaltet haben. „Immersion“ wurde dafür zum Synonym, es wurde zu einem Wort für etwas, das für mehr zu stehen begann als nur für anders konzipierte Kunst – es stand für ein neues Genre und altes Prinzip der Verbundenheit. Es gab keinen Immersions-Hype, wie Die Deutsche Bühne einmal titelte, vor 2016. Wir konnten dieses Wort zudem von seinem Insiderklang befreien und es zur Metapher für neue Konzepte machen, die mit Ängsten und Vorurteilen genauso verbunden waren wie mit einem neu entstehenden Gaia-Bewusstsein, das unseren alten Betriebssystemen auf den Zahn fühlt.

To turn and face the strange Die Berliner Festspiele sind eine wunderbare und in ihrer Konstruktion einzigartige Struktur, die mit ihren beiden Häusern fast alle Kunstformen repräsentieren – Ausstellungen, Aufführungen, Konzerte, Inszenierungen, Performances, Symposien und Wettbewerbe. Theoretisch und gelegentlich auch praktisch kann es gelingen, in dieser Struktur Expert*innen unterschiedlichster Künste in der Auseinandersetzung mit einzelnen Themen und künstlerischen Œuvres zusammenzuführen, wie uns das bei Pina Bausch, William Kentridge oder Isa Genzken gelungen ist, die in Ausstellungen und Festivals oder Filmen zeitgleich verschiedene Aspekte und Facetten ihres Schaffens gezeigt haben. Vergleichbare Strukturen sind in Europa selten, am ehesten lässt sich noch an das Southbank Centre in London denken, aus dessen Hayward Gallery wir Stephanie Rosenthal für ihre Direktion am Gropius Bau gewinnen konnten. Danke, in unvollständiger Reihung, für die Arbeit von Kurator*innen wie Frie Leysen und Berno Odo Polzer, danke an Annika Kuhlmann, Richard Williams und Stephanie Rosenthal, was wären wir ohne die Intelligenz und Kompromisslosigkeit von Tino Sehgal und Taylor Mac, Vegard Vinge und Ida Müller, Philippe Parreno und Susanne Kennedy, Markus Selg, Joulia Strauss und Jonatahan Meese, Milo Rau, Ed Atkins und Isa Genzken. Danke an Gabriele Stötzer und Elske Rosenfeldt, Robert Wilson, David OReilly, Mona el Gammal, Bruno Latour und Frédérique Aït-Touati. An Jeroen Versteele, Teresa Minn, Anja Predeick, Winrich Hopp und Yvonne Büdenhölzer, Christina Tilmann, Susanne Ritzal und Susanne Goetze und Nafi Mirzaii, die als Grafikerin der Berliner Festspiele die Bildstrecke dieses Bandes verantwortet. Dank auch an den Fotografen und Grafiker Christian Riis Ruggaber und an die

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Grafikagenturen Ta-Trung und Eps51, an Andreas Weidmann und viele, viele andere. Und vor allem auch an alle Fotograf*innen, die ab und an mit Alienblick und David Bowie im Ohr auf den Auslöser drückten: „to turn and face the strange – Ch-ch-ch-ch-changes“.

Thomas Oberender ist Autor und Kurator und seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele.

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Themen Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit



Formate



NEUE FORMATE – FORMATE DES NEUEN Thomas Oberender

Die Erfahrung von Kunst ist in der Regel die Erfahrung einer Begegnung mit Werken. Oft begegnen wir allerdings den Werken nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch Formate. Formate leisten als Veranstaltungsform die Vermittlung der Werke – sei dies eine Ausstellung oder eine Aufführung – als Sendeformat. Immer sind Formate Container diverser Werke, und aus der Summe unterschiedlicher Formate ergibt sich das Programm. Eine Struktur wird zum Format, wenn sie unterschiedliche Werke aufnimmt, entweder in Kombination oder sukzessive. Formate haben also gleichermaßen eine konstitutive Beziehung zu Werken wie auch zu Institutionen. Da Formate die Begegnungsform zwischen Werk und Publikum sind, wurden sie oft zu Synonymen für die Kunstformen an sich, etwa, wenn Menschen sagen: Ich gehe „ins Theater“, oder „in eine Ausstellung“ oder „in ein Konzert“ und damit nicht das Gebäude meinen, sondern das Ereignis. Formate können also mit Institutionen verschmelzen und geradezu unsichtbar werden, sie können sich aber auch von ihren Gewohnheiten lösen und temporäre Alternativen bilden. Diese Kreationen erhalten dann oft eigene Namen, als seien sie selber Werke. Sie entwickeln eine eigene Narration, die sich mit ihrem Titel und ihren Erfinder*innen verbindet. Institutionalisierte Formate hingegen wurden im Laufe der Zeit vermeintlich neutral, weil sie die Gewohnheitsform unserer traditionellen Kunstbegegnung geworden sind. Im Gegensatz zu den institutionalisierten Formaten schaffen neu kreierte Formate Originale, doch immer handelt es sich um Darreichungsformen von Werken. Formate sind keineswegs universelle Kategorien, sondern kulturell und historisch spezifisch. Ihnen eigen ist, dass normalerweise in Formaten gespielt wird, doch nicht mit Formaten. Das aber ist, wovon die nachfolgenden Zeilen handeln. Das Wort Format löst in der deutschen Sprache mehrere Assoziationen aus: Zum einen denkt man an genormte Größen oder Zustände. Durch das Formatieren werden Daten oder Datenträger im Bereich der digitalen Technologien nutzbar gemacht. Formatieren heißt hier Überschreiben. Umgangssprachlich kennt man auch unterschiedliche Buchformate – womit in der Regel Heftgrößen gemeint sind, Bucharten wie Softcover oder Hardcover. In der Medienbranche sind Formate bestimmte Produktsorten – also eine Talkshow im Unterschied zu einer Nachrichtensendung. All diesen Wortverwendungen gemein ist, dass Formate eine Art von Behältnis erzeugen, eine genormte, vordefinierte Rahmung, die diverse Werke aufnehmen kann. Gesehen wird in der Regel das Werk, nicht das Format. Aber das Format sorgt in hohem Maße dafür, wie das Werk „gelesen“ wird – ist es eine Aufführung oder eher eine Installation? Formate sind Ordnungsprinzipien, die selber zur Form werden. Sie erzeugen ein Display, das eine Grundaussage trifft: Es vermittelt unausgesprochen, dass es sich zum Beispiel um Nachrichten oder eine Castingshow handelt, allein durch die Form, in der Inhalte aufbereitet werden. Die Inhalte selbst, all die diversen Beiträge, Filme, Stücke, Texte, werden durch das Format hingegen nicht fixiert, sondern es muss sich für diese so flexibel wie möglich zeigen, ohne seine eigenen Prämissen zu verraten. Denn was sich innerhalb der Formate versammelt, kann sich jederzeit ändern, das Format als solches ändert sich hingegen nicht.

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Werk – Format – Programm Wenn nachfolgend von Ausstellungen, Aufführungen, Festivals, Themenreihen und anderen Veranstaltungsformen die Rede ist, besitzen diese eine große Nähe zu dem, was hier als „Format“ beschrieben wird. Formate sind Mittel. Sie werden benutzt, um übergeordnete Programme zu strukturieren, die sich aus einer Vielzahl von Formaten zusammensetzen, die ihrerseits eine Vielzahl von Werken präsentieren. Ein ganz normales Fernsehprogramm besteht aus einer Abfolge diverser Formate, die zum Beispiel eine Magazinsendung, ein bestimmtes Spielfilmformat, eine Nachrichten- oder Sportsendung sein können. Jedes dieser Formate zeigt im Laufe der Zeit wiederum verschiedenste Werke, die einander im Laufe eines Abends oder von Wochen und Monaten ablösen. All die unterschiedlichen Formate zusammen ergeben das Programm, und ähnlich ist es bei Theatern und Konzerthäusern mit ihren Aufführungen, Matineen, Publikumsgesprächen, Führungen und Festen. Formate erzeugen also „Territorien“, die bespielt werden, und wer sie wie bespielt, wird von den Werken her gedacht und oft von den Interessen der Institutionen bestimmt. Wer Formate „lesen“ kann, auch die klassischen, unsichtbaren, erkennt oft komplexe politische und ästhetische Verhältnisse, und zwar nicht, indem er über die Werke und Programme spricht, sondern über diese Erfindungen eines „Dazwischen“, eines Kitts zwischen den Werken, der das Verbindende erzeugt und ihren Zusammenhalt schafft. Kompliziert und interessant wird das Verhältnis zwischen Werk und Format aber vor allem dadurch, dass gut erfundene Formate selber den Charakter von Werken annehmen können. Umgekehrt agieren heute aber auch viele Künstler*innen auf eine eher kuratorische Weise und begreifen ihr jeweiliges Werk als ein Format, als ein von ihnen umrissenes Spielfeld unterschiedlicher Akteur*innen, die sie ermächtigen, in diesem Rahmen mit ihrer eigenen Geschichte und Form vernehmbar zu werden. Formate sind Beziehungsformen. Ihre Essenz ist das Beziehungsdesign zwischen Werk und Publikum. Sie reduzieren die Unerschöpflichkeit von gesellschaftlichen Themen und künstlerischen Formen, indem sie nicht definieren, worum es geht, sondern wie es geht. Diese Regel ist die DNA des Formats. Programme sind wiederum die Container für diese Formate. Für Programmgestalter*innen sind die Formate ein Mittel, um einen Mix an Perspektiven und Werkformen herzustellen, der die Intention oder die Signatur eines Programms möglichst lebendig und vielfältig definiert. So stellen die Programmverantwortlichen in der gleichen Weise Regeln für die Formate auf, wie Formate Regeln für diverse Werke definieren. Jede*r Autor*in kennt dieses Spiel in der Begegnung mit den Redaktionen von Sendern, Zeitungen oder Theatern, in denen die Programmwächter „Dramaturg*innen“ heißen und die Hüter*innen der Formate sind. Sie stutzen daher oft die Werke auf die Grundsätze der Formate zurecht, wo hingegen die Programmleiter*innen die Formate der Redakteur*innen verändern. Diese FramingHierarchien erzeugen „Inhalt“ schlicht durch die Definition des Formats. Dessen Implikationen auf die Auswahl und Sichtweise auf Themen werden oft gar nicht explizit definiert, sondern ergeben sich durch die strukturellen Guidelines der Formate „wie von selbst“. Das Ausstellungs- und Festivalprojekt „Down to Earth“ ist dafür ein Beispiel. Die Spielregeln des Formats lauteten: keine Flugreisen, Offenlegung aller Verbräuche und Herkünfte der verwendeten Ressourcen und keine Verwendung von Strom in der

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Ausstellung – was erhebliche Konsequenzen für die eingeladenen, oft schon länger bestehenden und tourenden Arbeiten hatte. Statt elektrischem Licht wurde mit Tageslicht und farbigen Vorhängen vor den Fenstern der Südseite des Gropius Baus gearbeitet. Statt Mikrofone und Lautsprecher zu verwenden, wurden die Gesangspartien des Stücks Felices Radices von François Chaignaud und Marie-Pierre Brébant live musiziert und die Publikumsplatzierung darauf abgestimmt. Musik aus dem Laptop wurde ersetzt durch die Auftritte von Musiker*innen (Velvet von Claire Vivianne Sobottke), und elektronische Effekte wurden von analogen Instrumenten übernommen (Signs of Affection von Meg Stuart / Damaged Goods). Das Format „Ohne Strom“ hat, vor allem im Hinblick auf den Versuch, die Klimaanlage auszuschalten und entsprechende Verträge mit Versicherern und Leihgeber*innen zu schließen, viele Fragen und Grundsatzprobleme aufgeworfen. Aber trotz allem erwies sich genau diese Spielregel tatsächlich als inspirierend und konstruktiv und gab einigen der eingeladenen Künstler*innen Impulse für weitere „analoge“ Arbeiten. Wir können von einem „Spiel von unten“ in unseren Institutionen sprechen, wenn Autor*innen mit neuen Vorschlägen und Regelübertretungen auf der Ebene von Werken in Erscheinung treten. Hingegen ist das „Spiel von oben“ eines der Einhegung und des Framings. Wobei das interessante Spiel vielleicht jenes ist, das kein „oben“ und „unten“ kennt, sondern nur Erkenntnisgewinn, Dringlichkeit und weiche Kriterien wie Schönheit, Qualität, Wahrhaftigkeit oder Problemrelevanz. Hier stellt sich auch die Frage nach institutioneller Macht und Hierarchien. Die Arbeit am Format ist ohne Zweifel eine Begegnung mit der Macht von Institutionen – und sie unterscheidet sich von der Begegnung mit dem Publikum, das seinerseits auch ein Machtfaktor ist. Was ist die Erfindung einer Wetter-App im Vergleich zur Erfindung des Formats der mobilen Anwendungssoftware „App“? Den meisten geschriebenen Werken gelingt eine lange Lebensdauer, weil sie, wie Theaterstücke, Choreografien oder Kompositionen und auch Apps, dafür geschaffen wurden, dass ihr Skript letztlich in Verhalten übersetzt wird – jedes Stück will, dass wir etwas tun. Diese Notationen erlauben es uns, durch ihre „Anwendung“ in Stadttheatern oder Konzerthäusern immer wieder auf die Höhe unserer eigenen Aktualität zu gelangen. All diese Werke, die im Laufe der Zeit für Bühnen entstanden, blieben anwendbar, weil sie in Formaten funktionieren, die auf eine entsprechende Hardware abgestimmt sind, und so können die Werke oft umstandslos aufgeführt werden.

Kanon der Formate Eine Aufführung ist also in gewisser Weise die „Anwendung“ des Werks im Format. Die Werke werden im Laufe der Zeit dabei genauso ein ums andere Mal neu interpretiert und evaluiert, wie auch die Formate sich in der Wahrnehmung des Publikums und der Programmverantwortlichen bewähren müssen. Der für jede Epoche unterschiedliche Bestand zentraler Werke, ihr „Kanon“, ist genauso veränderlich wie der Kanon der Formate. Wie auf der Werkebene gibt es auch bei den Formaten die Kategorie der „Kreationen“ bzw. „créations“, die nur im Entstehungszusammenhang der sie hervorbringenden

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Künstler*innen funktionieren und sich von ihnen nie wirklich ablösen. Aus ihnen wird selten ein Werk, das autonom existiert und auf andere Interpret*innen wartet. So verhält es sich oft mit den Stücken des devised theatre, die auf den Leib bestimmter Künstler*innen geschrieben wurden bzw. von deren Mitgestaltung geformt wurden, sodass sie das Ergebnis eines kollektiven Entstehungsprozesses sind und an die Präsenz der sie Hervorbringenden gebunden bleiben. Temporäre oder neue Formatkreationen bleiben oft in ähnlicher Weise an die Urheber*innen gebunden, und das bedeutet, dass diese den Inhalt ihres Formats immer wieder neu schreiben, manchmal über Jahre hinweg. Und so nagt der Zahn der Zeit am Format vor allem von innen. Es sei denn, das Format kann sich von den es Hervorbringenden lösen und wie ein Showformat auf die Reise durch die Sender und Länder gehen. Aber warum spricht man kaum über Formate? Bei Showformaten wissen wir oft gar nicht, dass sie in der Regel nicht von den Sendern entwickelt wurden, die sie zeigen. Ein Personality-Show-Format wie „Kessler ist …“, das in Deutschland vom ZDF produziert wurde, stammt eigentlich aus Israel und hieß dort „How to be“. Das Format der „Late Night Show“ ist wiederum mit legendären Figuren des amerikanischen Fernsehbusiness verbunden, aber gleichzeitig so allgemein, dass es in unzähligen Spielarten produziert wurde und wird. Zur Unauffälligkeit von Formaten trägt auch bei, dass viele Menschen zum Beispiel gerne „Nachrichten“ schauen und damit die „Tagesschau“ meinen, was zeigt, dass Formate oft ihre eigene Attraktion besitzen. Manche Zuschauer*innen oder Zuhörer*innen lieben zum Beispiel Podcasts und finden dann den speziellen, der zu ihnen passt. Oder sie lieben „Ausstellungen“ und „Konzerte“ oder „Theater“. Wenn jemand sagt: „Ich liebe Tatort“, dann meint das selten einen speziellen Film, sondern ein Spielfilmformat, das in deutschsprachigen Städten mit ihren lokaltypischen Kommissar*innen geprägt ist. Und vielleicht spricht man auch deshalb nicht oft über Formate, weil die ästhetische Anmutung sich in der Regel nur auf der Ebene der Werke entfaltet – Formate sind Abstraktionen. Formate sind Mustererkennungswerkzeuge. Ihre wachsende Bedeutung und auch ihre jüngsten Entwicklungen verbinden sich eng mit der Entwicklung des digitalen Zeitalters. Weniger in dem Sinne, dass sie mit dem Bau der ersten Computer in die Welt gekommen sind, sondern eher im Verständnis von „Digitalität“ des Philosophen Armin Nassehi, der das digitale Zeitalter mit dem Beginn einer Praxis der Vermessung und Kultur der Standardisierung und Präkognition verbindet (Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019). Formate entwickeln formale, oft intuitive und nicht kommunizierte Algorithmen für die Diagnose des Zusammengehörigen. Formate bringen also Ordnung in die Welt, weil sie deren Muster lesen und aufweisen.

Das Format als Werk Für Künstler*innen wie Philippe Parreno oder Yayoi Kusama ist das eigentliche Werk nicht das einzelne Objekt, das sie in einer Ausstellung zeigen und in der Galerie verkaufen, sondern das Gesamtgefüge der Ausstellung selbst – erst ihre Totalität erzeugt am Ende das „Werk“, und dafür wird hier alles, was im Raum ist, inklusive der baulichen Infrastruktur, der anwesenden Künstler*in oder Besucher*in zum Teil des Werks.

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In der Gestaltung der Ausstellung, wie sie Kai Althoff 2016 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York entwickelt hat, wird das Format als spezifisches Werk begriffen – eine Gesamtkomposition aus Dingen, Musik, Gerüchen und gelegentlich auch Abfall, die in ihrem Zusammenspiel ähnlich durchgestaltet wurde wie das einzelne Objekt. Seine Ausstellung „und dann überlasst mich den Mauerseglern“ organisiert die Begegnung mit den Bildern und Klängen durch die Einbettung aller Objekte in ein ebenfalls werkhaftes Ambiente völlig anders als eine White-Cube-Ausstellung. Wo klassische Ausstellungen septische Räume kreieren, Übersicht und Abstand, und so das aus seinem Kontext extrahierte Werk als Objekt präsentieren, vergräbt Althoff seine Arbeiten in der Ausstellung wieder. Dafür hat er im großen Saal des obersten Geschosses eine WhiteTent-Höhle geschaffen, und die Besucher*innen entdecken darin die Welt des Künstlers in einem Gewirr von Arbeiten und Fundstücken, in Grafiken und kunstvollen Briefen unter bekleckerten Glasplatten, neben verbrannten Matratzen, oder man sieht sie einfach gar nicht, weil die Bilder verpackt in grauem Papier an der Wand lehnen. In seiner exquisiten Ausstellung mit Lutz Braun bei der Berlin Biennale 4 roch es nach Exkrementen. Zwar besetzt Kai Althoff den Ausstellungsraum, aber er inszeniert seine Arbeit nicht als Kette singulärer Ereignisse, die Gemälde oder Zeichnungen wie Heiligtümer ohne Einbettung und Kontext präsentieren – was auch interessant sein kann, nur eben nicht für Kai Althoff. Er spielt mit dem Format, seiner verborgenen Pädagogik, seiner subtilen Macht, die auf uns via ihrer für selbstverständlich gehaltenen Konventionen einwirken, auf dass auch wir aus ihnen kommend ein bisschen sauberer und aufgeklärter zurück in die Welt gehen. Kai Althoff gestaltet lieber unordentliche Ausstellungen, die in ihren eintausend arrangierten Details so überaus pedantisch sind, dass man lachen möchte über die Befreiung, die von ihnen ausgeht. Das Format, von dem hier die Rede ist, ist ein Container oder Ordner, der nie neutral ist, auch wenn er an sich „leer“ sein mag. Formate vereinen Werke, bilden oder ermöglichen eine Erzählung, sie strukturieren den Raum und kreieren ein eigenes „Nutzer*innenverhalten“ mit Konventionen wie Applaus oder Berührungsverbot, die, wie Botho Strauß einmal über die Erscheinung von Schauspieler*innen bemerkte, eine Mischung aus Prostitution und Keuschheit erzeugen, aus energetischer Verbindung und physischer Trennung. Formate rivalisieren bisweilen mit den Werken, vor allem aber verleihen sie ihnen Aufmerksamkeit und Kraft. Alle heute als „klassisch“ empfundenen Veranstaltungsformen sind institutionalisierte Formate, also Formate, die heute das Basisangebot von Institutionen darstellen, die ihrem Publikum Begegnungen mit Werken anbieten, die man kennt, noch bevor man die Werke kennt. Kulturaffine Besucher*innen wissen, was eine Lesung ist oder ein Interview oder ein Festival, eine Aufführung oder eine Ausstellung, eine Biennale oder Lecture Performance: Man kann diese Container mit Inhalt füllen wie man möchte, immer wird das Format als „Fassung“ des zu Veröffentlichenden aufseiten des Publikums eine Form von Sicherheit, Gewohnheit und Wiedererkennung zur Folge haben. Formate formalisieren dafür verschiedene Funktionen und Zwecke, die in einer ausreichend großen Zahl von Werken angelegt waren. Und so kommt es, dass Formate als Formate nur auffällig werden, wenn gegen ihre eigenen Formalisierungen und Regeln verstoßen wird oder es sich um temporäre Kreationen handelt, also Abweichungen von den institutionellen Gewohnheitsformen. Ein

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Dokumentarfilm oder eine Reportage wird sofort aus dem jeweiligen Format verstoßen, wenn sich herausstellt, dass die O-Töne und authentischen Bilder des Werkes Fake sind und Fiction, die sich als solche nicht zu erkennen gab. Bei einem Dokumentarfilm oder einer Reportage wird die Signatur eines „Erfinders“ oder einer „Erfinderin“ auf der Werkebene zum Problem für das Format. Eine künstlerische Produktion wie 100% Stadt des Kollektivs Rimini Protokoll kann als ein Format verstanden werden, das überall, wo das Werk aufgeführt wird, mit ortsspezifischen Vertreter*innen ein szenisches Selbstporträt der Stadt entsprechend unterschiedlicher statistischer Profile entwickelt. Formate definieren dabei an sich keine Ästhetik, sondern meist nur Parameter, innerhalb derer sie sichtbar wird. Festivals sind Pan-Formate, die in sich nahezu alles mit allem verbinden können. Unterformen der Festivals können Mitternachtskonzerte oder Marathons sein, ein Stadtraumprojekt, eine Party, ein Battle oder Wettbewerb, Preisverleihungen, ein LARP oder Symposium, aber jedes dieser Unterformate hat auf die eine oder andere Weise einen Bezug zur großen Erzählung des Festivals. All das kann es auch im Repertoiretheater neben den klassischen Aufführungen geben – es gibt auch dort Lecture Performances und hybride Formate zwischen Streaming und Livepräsentation vor Ort, Publikumsdiskussionen und Matineen. Aber aufwendige Formate im Stadtraum wie Matthias Lilienthals „X-Wohnungen“, die nicht mehr im Inneren der Institutionen stattfinden, sind ähnlich wie der „Schwarzmarkt des Wissens“ von Hannah Hurtzig auf flexiblere Strukturen und auch auf ein anderes Publikum angewiesen. Formate in diesem autor*innenhaften Sinne adressieren ihrerseits ein Publikum, das neugierig auf Kreationen ist und nicht so sehr auf die Interpretation von etwas Bekanntem. Auch das führt oft aus den traditionellen Institutionen der Kunst hinaus in kunstfremde Räume.

Neue Räume Denn die klassischen Veranstaltungsformen wie Ausstellung, Kongress, Konzert oder Aufführung sind direkt mit baulichen Infrastrukturen verbunden, die mit dem Format den Werken oft auch die jeweils nötigen Voraussetzungen garantieren – keine Ausstellung ohne Klimaanlage, kein Konzert ohne Saal und Bühne, keine Aufführung ohne Gewerke. Formate schaffen also in erster Linie Räume – sie organisieren das Sicht- und Hörbarwerden der einzelnen Arbeit und definieren das in einer spezifischen Weise. Die Kreation eines spezifischen, über Jahre wiederholten Konzertformats wie „The Long Now“ schafft zum Beispiel einen 30 Stunden währenden Flow von unterschiedlichsten Kompositionen, der mittelalterliche Werke in die Nachbarschaft von Minimal Music und Ambient-Stücken bringt, zugleich aber auch eine liberalisierte Aufführungspraxis schafft – mit Musiker*innen, die sich bisweilen inmitten des Publikums aufhalten, das seinerseits ständig kommen und gehen kann. Man schläft in der riesigen Turbinenhalle des Veranstaltungsortes Kraftwerk Berlin auf den gleichen Feldbetten ein, auf denen man zuvor mit Freund*innen saß, etwas gegessen oder angehört hat – all das zusammen ergibt die Signatur des Formats. Wobei ein Event nur zum Format werden kann, wenn es sich wiederholt, ohne immer das Gleiche zu sein – die Musikauswahl wiederholt sich ja nie, auch nicht die das Konzert begleitende Ausstellung und Filmreihe. Ein Großteil

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der Besucher*innen kommt bei „The Long Now“ nicht für einzelne Stücke, sondern für diese Erfahrung einer Vergleichgültigung von Zeit, das Erlebnis der freundlichen Nachbarschaft verschiedener Stile und Menschen. Das Format überragt hier in gewisser Weise das einzelne Werk in der Wirkung auf das Publikum. Das ist genau jener Aspekt, den manche zeitgenössischen Künstler*innen auch als Konkurrenz von Werk und Format beschreiben, als eine neue Übermacht des Formats, oder zumindest eine starke Präsenz, die zu wenig reflektiert wird. Ein großer Teil unserer Arbeit bei den Berliner Festspielen bestand in den letzten zehn Jahren im Experimentieren mit diesen institutionell verbürgten Konventionen. Künstler*innen, aber auch Programmmacher*innen veränderten das Ritual des Konzerts, der Aufführung oder Ausstellung selbst als Format. Oft entstanden neben den sich selbst entgrenzenden Werken auch ganz neue Formate, die eine eigene Autor*innenschaft besaßen. Ein Werk wie das Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller ist nicht nur ein Stück oder eine Serie von Stücken, sondern eine inszenierte Welt, die Ausstellung, Konzert und Aufführung vereint und ihrerseits von Künstler*innen bespielt wurde, die dafür eingeladen wurden und in einem kuratierten Gesamtkonzept erschienen. Viele Arbeiten von Rimini Protokoll dagegen sind Formate, die theoretisch durch andere Akteur*innen wiederholbar und neu interpretierbar wären. Die Tendenz, dass die Attraktivität von Veranstaltungen heute oft von Formaten ausgeht, die in ihrer Wirkung die Werke überstrahlen, ist meiner Erfahrung nach die eigentliche Verschiebung im Kunstsystem der letzten 20 oder 25 Jahre. Die Tendenz vom Werk zum Format ist eine, die andere Gewichtungen schafft und die primäre Welt der Werke gelegentlich in den Schatten stellt. Wirklich gute Formate, die nicht nur eine These verfolgen, sondern auch ihr angemessene Wahrnehmungssituationen schaffen, sind Glücksfälle – in ihnen kristallisieren sich Erlebniswelten aus, die spezifische Werkaspekte in Atmosphären übersetzen und für sie neue Verortungen schaffen. Sie erzeugen die Unruhe der Erfahrung von etwas Neuem und von oft ungeahnten Verbindungen zu anderen Feldern der Kunst, der Nichtkunst, anderen Milieus und Generationen. Sich mit Formaten zu beschäftigen, heißt, Rahmungen zu lesen, eine Metaerzählung zu genießen, unabhängig vom Geschmack am einzelnen Werk. Man kann dies als Vorteil dieser Verschiebung vom Werk zum Format empfinden, aber auch als Gefahr. Auf diese Verschiebung zu achten, ist noch eine relativ junge Beschäftigung. Traditionell wird vor allem auf Werke geachtet. Doch nun wächst sowohl auf der Werkebene, also dem singulären Ereignis, als auch auf der Veranstaltungsebene ein kuratorischer Gestus heran, der diese intentionalen Sammelbecken diverser Werke hervorbringt, die als übergeordnete Fassung selbst eine Erzählung bilden. Formate, insbesondere operative Formate, die für bestimmte Themen oder Aufgabenstellungen erfunden wurden, haben sich im traditionellen Feld der Begegnung zwischen Kunstwerk, Institution und Publikum als eigene Entitäten etabliert. Auch im Bereich der Unternehmensentwicklung oder Pädagogik sind an die Stelle der klassischen Mitarbeiter*innenschulung diverse operative Formate getreten. Formate sind keineswegs Modeerscheinungen einer deregulierten Kunstszene, deren Werke immer interdisziplinärer, internationaler, intermedialer werden und nach neuen Rahmungen verlangen, sondern eine generelle Tendenz des digitalen Zeitalters. Klassische Formate, also die Formate der klassischen Institutionen, sind Sendeformate mit einem linearen

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Charakter – sie senden von „oben“ und sind in ihrer Struktur festgelegt, das heißt verbindlich für Werke, die in Institutionen nach Sichtbarkeit streben. Dieses Privileg der Formatierung ist inzwischen weniger zwingend mit diesen Institutionen verbunden. So, wie es neben den traditionellen Häusern immer mehr Orte und Strukturen gibt, in denen Formate leichter aus den Bedürfnissen der Werke abgeleitet werden können, hat sich auch eine alternative Kulturszene herausgebildet, die längst ebenfalls „Hochkultur“ produziert, nur nach anderen Spielregeln und Ressourcen. Eine Ausstellung von Pierre Huyghe schafft zum Beispiel eine schwebende Erfahrung von Kunst, die sich durch die unterschiedlichsten Medien und Orte hindurchbewegt und oft größere Organismen bildet, als klassische Formate sie aufnehmen können. Gerard Mortier hat als Opernspezialist und Festivaldirektor dafür Anfang der 2000er-Jahre, als er die Ruhrtriennale gründete, den bereits erwähnten Begriff der „Kreation“ geprägt – die Beschreibung der Zusammenführung von Romanen mit Räumen und Kompositionen, die ein eigenes, neues Werk hervorgebracht haben, das unwiederholbar durch andere Künstler*innen blieb, weil diese Kreation keine Interpretation war, sondern Schöpfung – was oft schwer zu trennen ist. Während sich im frankophonen Theater der Begriff der „création“ weitgehend durchgesetzt hat, ist sein deutschsprachiges Pendant heute nur selten auf Spielplänen zu lesen. Häufiger stößt man auf die „Stückentwicklung“, die eine vergleichbare Abhängigkeit von Werk und Akteur*innen in der Werkgenese beschreibt, die Wiederholbarkeit durch andere Interpret*innen aber vielleicht weniger kategorisch ausschließt und häufig impliziert, dass das enstandene Werk dem Sprechtheater zuzuordnen ist. Kreationen bzw. créations wie Alain Platels Wolf interpretierten nicht mehr einzelne Werke Mozarts, sondern in der Collage verschiedenster seiner Arbeiten Mozart selbst. In Gerard Mortiers Programm entstanden Formate wie „Century of Song“ oder „Die Wiedererrichtung des Himmels“, die mehrjährige Kreationen auf der Ebene eines anderen Framings von Musik oder Literatur waren und neue Berührungsräume zwischen Literatur und Nicht-Literatur, Malerei oder Politik schufen, um einer Idee, einer Fragestellung bis in ihre feinsten und überraschendsten Verästelungen zu folgen. Formate sind Inszenierungen von Zusammenhängen, die weniger spezifische Inhalte als Verbindungen aufführen. Festivals sind wahrscheinlich die größten und auch flexibelsten „Maschinen“ für die Zusammenkunft diverser Werkformen. Der moderne Begriff des Kuratierens zielt tatsächlich stärker auf die Inszenierung und das Spiel mit Formaten ab als auf die Arbeit am oder mit dem einzelnen Werk. Dramaturg*innen interessiert im Berufszusammenhang das singuläre Stück, Kurator*innen die Erzählung, die es im Zusammenspiel mit anderen Stücken und vor allem anderen Räumen und Akteur*innen bilden kann. Festivaldirektor*innen orientieren sich hingegen oft an den Eigenbedürfnissen der ihnen übergebenen Festivalmarke – sie haben ein Budget und einen Zeitplan, einen Ort und eine Zielgruppe, und in der Regel sind diese Parameter über viele Jahre oder Jahrzehnte stabil. Die kuratorische Arbeit bricht diese Eigenbedürfnisse der Marke aufgrund der Begegnung mit den Werken und den Schmerzthemen der Gesellschaft immer wieder auf, und Kurator*innen arbeiten daher oft operativer als Direktor*innen – sie formulieren zugespitzte Behauptungen und rahmen sie in einer Struktur, die sie über weite Teile den Werken verdanken. Diese Strukturerfindung ist das Format.

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Das Versprechen der Abweichung Neu kreierte Formate unterscheiden sich von institutionalisierten Formaten auch dadurch, dass sie sich begründen müssen oder wollen. Sie verbinden sich mit ästhetischen Eigenarten oder Inhalten, die nach besonderen Räumen oder einer anderen Spieldauer verlangen. Temporäre Formate sind in der Regel programmierte Abweichungen, die etwas Abweichendes versprechen – Theaterabende in privaten Wohnzimmern, Performancekunst-Ausstellungen im Museum, intensive Themendiskussionen über Nacht in der Galerie – Formate dieser Art sind Interventionen. Und zugleich sind sie Brands, sie schaffen etwas, das immer gleich ist, auch wenn sich darin nichts wiederholt – wie bei einer Nachrichtensendung. Nur dass diese Sendeformen zunächst auf sich selbst als Plattform verweisen, auf ihre eigenen Spielregeln und Masterminds. Am Anfang „gehören“ Formate ihren Autor*innen, am Ende aber, weil Formate sie tragende Strukturen brauchen, den Redaktionen. Temporäre Formate sind die Projekte der Institutionen. Während eine tägliche Nachrichtensendung als solche scheinbar außerhalb sich wandelnder Programmangebote zu stehen scheint, sind neu kreierte Formate immer auch Zugeständnisse an den Tag, an spezifische Fragestellungen, Talente und Interessen und müssen sich immer wieder fragen lassen, ob es sie noch braucht. Insofern sind temporäre Formate die Inkubatoren für Neues im System, sie beatmen die traditionellen Häuser und ihre regulären Angebote mit frischen Ideen. Und da es frisches Geld nur für frische Ideen gibt, sind neue Formate oft die einzige Möglichkeit, gewachsene Strukturen für andere Milieus und ein jüngeres Publikum wieder attraktiv zu gestalten. Insofern resultiert der Hang zum neuen Format auch aus der strukturellen Notwendigkeit zur Veränderung. Formate sind Instrumente. Wer Programme gestaltet, braucht die Gestalter*innen dieser Erzählungen, die dem großen Patchwork die entscheidenden inhaltlichen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Akzente verleihen. Auch jede Interpretation alter Stücke schafft etwas Neues. Das gilt für Werke genauso wie für Formate. Jede Interpretation bezieht ihre Relevanz aus der Abweichung von anderen Gesten der Wiederholung. In der Klassik, ähnlich auch im Jazz, zielt die Anstrengung darauf, das Gleiche immer wieder anders zu hören und trotzdem als die Erfahrung einer erfüllten Begegnung mit dem Original. In der Regel tritt das Format in der Welt der Interpretationen völlig hinter das Werk zurück und wird nur auffällig, wenn eine Aufführung 30 Stunden dauert oder in einem Saal mit vier Bühnen stattfindet. Vielleicht wird es irgendwann in der Kunst- und Theaterwissenschaft „Formatstudien“ geben, die uns den Werkcharakter der institutionellen und auch der vergänglichen Formate aufmerksamer lesen und verstehen lehren. Sie könnten eine eigene Forschungs- und Sensibilisierungsschule für diese Sprache des Formats oder jener Werke sein, die selber die Form kuratierter Agglomerationen angenommen haben. Formate sind eben auch eine Software – sie programmieren Ideen in der Hardware von Institutionen, um neue Erlebnis- und Kongruenzerfahrungen zu schaffen. Was spielt mit wem zusammen, und wofür steht das? Wie viele Perspektiven auf eine Fragestellung muss ich einnehmen, um ein Thema oder Œuvre nicht eindimensional und ideologisch zu behandeln? Wie organisiere ich die „Luft“ zwischen den Phänomenen, den Freiraum, den Entdeckungen brauchen, um nicht nur These zu bleiben? Wie öffne ich diese

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Sendestrukturen für das Feedback unterschiedlichster Akteur*innen und Communities? Fast jedes temporäre Format organisiert dafür Regeln, die sich von den institutionellen Standards oft deutlich unterscheiden, aber wir achten nicht auf diese Regeln oder Umstände, und im Grunde ist das auch sehr gut, denn es geht ja nicht wirklich um die Formate, sondern das, was drin ist in diesen Containern. Die Formate sind Instrumente – sie sind, in einem bescheidenen Sinne, die erweiterten Medien der Werke. Als William S. Burroughs mit David Bowie über die Lyrics seiner Songs sprach, fragte er ihn, ob er glaube, dass seine Fans diese anspruchsvollen Gedichte wirklich verstehen würden. Worauf Bowie erwiderte, oh nein, er glaube das nicht, sie hören wahrscheinlich „nur“ das Medium. Und so ist es mit dem Format auch – oft hören wir nur die „Musik“. Der Kern des temporären Formats ist sein Erlebnisversprechen bei gleichzeitigem Erwartungsbruch – es liberalisiert und verändert die für Institutionen typischen Formen der Aufführung, Ausstellung oder Konzerte. Temporäre Formate vermitteln oft exklusivere Inhalte als die traditionellen Formate der Institutionen, die im Laufe der Zeit eine enorme Fülle unterschiedlicher Werke aufnehmen können, alte genauso wie aktuelle. Trotzdem treten die neuen, temporären Formate stets mit dem Gestus der Öffnung und Liberalisierung auf, und dieses Formatparadox fällt nur auf, solange das neue Format noch überraschend ist. Sobald seine Form vertraut geworden ist, vermittelt sie genügend Sicherheit, um die Werke wirken zu lassen und sich selbst wieder weitestgehend zum Verschwinden zu bringen. Temporäre Formate unterscheiden sich von den institutionellen Begleitformaten kanonischer Werke, zum Beispiel Publikumsdiskussionen oder Matineen, vor allem durch ihre eigenständige Erzählung – temporäre Formate dienen nicht anderen Werken, sondern abstrahieren sie und bilden autonome Erlebniswelten. Daher stehen sie oft in einem intuitiven Gegensatz zu den Veranstaltungsformen klassischer Institutionen, die die Besuchenden über Jahrhunderte hinweg sanft erzogen haben. Institutionelle Rituale lehren uns, kein Foto während der Aufführung zu machen und so werden wir langsam einverstanden mit der Institution und ihrem Platz in der Welt, weil sie Genuss und Privilegien beschert. Während die traditionellen Veranstaltungsformen wie Aufführung oder Ausstellung auf Disziplinierung beruhen, beruhen viele experimentellen Formate auf Kontrolle – wir können kommen und gehen, manchmal auch mitmachen, aber nur, wenn wir in die Welt eintreten, die uns scannt. Temporäre Formate liberalisieren den Zugang, sie erzeugen ein Vergleichen und Besprechen, aber sie drängen sich auch mehr auf – sie zeigen stärker mit dem Finger auf sich und ihre These und Leistungen. Formate sind Neugierplattformen, die auf ihr Publikum deshalb stärker einwirken als klassische Rituale, weil sie stärker sein Feedback suchen. Matthias Lilienthal zeigte am Berliner Ku’damm zehn ortsspezifische Choreografien in Galerieräumen und auf der Straße, in Ladenlokalen und Kneipen. Jedes Werk hat in dieser Struktur seine eigene Fassung, und diese singulären Präsentationen bilden im Zusammenspiel eine Erzählung über Veränderungen innerhalb des Genres Tanz, aber nutzen diesen Vorgang auch, um einen anderen Blick auf die Stadt anzuregen, die wir so gut zu kennen glauben. Solche Deregulierungen des Aufführungsformats erscheinen einem Teil der Besucher*innen unter Umständen als Zumutung, andere erleben Tanz in dieser Einbettung vielleicht als eine Möglichkeit, eine Choreografie ohne die traditionelle Markierung der Aufführung als Kunst gerade deshalb in ihrer künstle-

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rischen Eigenart besonders eindringlich zu erleben. Viele zeitgenössische Werke sind mit einer Aufführungspraxis verbunden, die sie vor der Konvention dessen, was Kunst ist, schützen, indem sie sich in Umgebungen einbetten, die eine andere, eigene historische Realität und Situation erfordern – sei dies in ehemaligen Industrieanlagen oder privaten Räumen. Die Produktion Hausbesuch von Rimini Protokoll organisierte zum Beispiel ein Gemeinschaftsspiel im Wohnzimmer fremder Leute, da diese Leute nicht nur die Gastgeber*innen, sondern ihre persönlichen Geschichten auch ein Element dieses Begegnungsspiels waren.

In der Gesellschaftsschule Die konventionellen Formate verhalten sich im Vergleich dazu diskret. Wissenschaftlerinnen wie Isabelle Stengers oder Dorothea von Hantelmann haben in ihren Arbeiten die verborgene Pädagogik der Formate sichtbar gemacht. Sie untersuchen die Rolle des in Institutionen eingelernten Verhaltens bei der Herausbildung des modernen Subjekts. Teil dieser Überlegungen ist die Reflexion des Formats als des eigentlichen Erlebnisraums der Institutionen. Denn die institutionellen Formate bleiben stabil, hingegen sowohl seine Gäste wie auch seine Werke sich ständig ändern. Ausstellungen zum Beispiel können Gemälde und Skulpturen, Environments, Tiere oder Filme zeigen, aber was auch immer in ihnen zur Betrachtung kommt, wird nicht angefasst, nicht angesprochen und wird sich für die Dauer der Ausstellung auch nicht verändern. Jede Ausstellung braucht heute ungefähr die gleichen Bedingungen wie die letzte Ausstellung, zumindest aus Sicht der Leihgeber*innen und Versicherer – 20 Grad Raumtemperatur und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit. Denn um jedes Format hat sich ein komplexes System von Hilfsdiensten, Absicherungen und Routinen gebildet, das die schnelle und ununterbrochene „Bedienung“ des Formats sicherstellt. So wird auch im Theater jedes Stück davor geschützt, dass die Besucher*innen auf die Bühne gehen, ihre Meinung kundtun oder anfangen, untereinander zu sprechen, denn es hat sein Publikum an Sicht- und Verhaltensweisen gewöhnt, die der Epoche ihrer Veranstaltungen entsprechen. Und um die Aufführung herum ist ein System aus Aufsichten, Services und diversen Verträgen entstanden. Das Werk an sich könnte ohne Format gar nicht erscheinen, und ohne eine Institution könnte kein Format bewirtschaftet werden. Das klassische Abendkonzert ist ein Format der Disziplinargesellschaft – Menschen werden eingeladen und terminiert. Für die Dauer der Veranstaltung werden sie eingeschlossen, dürfen nicht an der falschen Stelle klatschen und nur in den Pausen husten. Das klassische Konzert ist eine Zeremonie der Meisterschaft, und der Dirigent hat zwei Leiber, deren einer profan ist und schwitzt und deren anderer heilig ist – an dieser patriarchalen Struktur ändert auch eine Dirigentin am Pult wenig. Es ist die Sprache des Einen an die Vielen und auch der Genuss der Vielen an dem Einen – des Werks, der Spiritualität einer Verbindung, die über die Musik hinausführt und kollektiv erfahren wird. Im Ausstellungsparcours kann ich gehen, wie, wann und wohin ich möchte, aber nichts anfassen. Ich bewege mich in diesem etwas jüngeren Format als Individuum und lerne im Museum die Kunst einer sich selbst für objektiv haltenden Betrachtungsweise. Alles liegt so schön sauber und neutral vor mir, ein Fetisch mit zauberischer

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Wirkung, ein Ding, das Begehren auslöst und Macht ausübt. Die Öffnungszeiten überlassen es mir, wie lange ich am Ort dieser Nähe zum Begehrten bleibe, aber an jedem Fenster ist der Sensor einer Alarmanlage und in Sichtweite immer Personal. Formate, näher betrachtet, sind, ganz gleich, ob sie von Institutionen bereits adoptiert wurden oder nicht, immer Gesellschaftsschulen, immer freiwillige Trainingsstätten, in denen wir auf die Höhe des Neuen und seiner Sprache, Codes, Freuden und Tücken gelangen. Formate sind Mittel – sie verbinden den Einzelnen mit der Fülle von Gefühlen und Ideen, die scheinbar in den Werken schlummern, indem sie diese sacht aufwecken und in einen Zusammenhang mit der Architektur eines Gebäudes, der Blickrichtung und Perspektive der Gäste bringen. Formate wollen nie, dass wir nur das Eine sehen. Formate wollen binden und verbinden. Sie wollen, dass wir länger bleiben als nur für die eine Sache, und sie unterscheiden sich vom reinen Theaterrepertoire, das auch eine Fülle von Werken in eine Nachbarschaft bringt, dadurch, dass die Form des Formats eine andere ist als die des Werks, genauer gesagt: Wenn Werke immer die gleiche Form haben, zum Beispiel immer nur in der Guckkastenbühne spielen, dann bildet sich vielleicht ein Spielplan, aber kein Format, das über die Veranstaltungsform hinausweist. Denn nur das Format überschreitet die singuläre Form des Werks und bildet eine eigene Form. Genauso wie der nie verrinnende Strom neuer Stücke, Bilder, Skulpturen oder Kompositionen stoppt auch nie die Arbeit am Format, in dem sie erscheinen. Genau wie die Produktion der primären Werke ist auch die Entwicklung angemessener Formate eine zeitgenössische Leistung und Aufgabe. Temporäre Formate sind Vorverdauungsapparate dafür, was sich an Institutionen ändern wird – sie bringen die verschiedenen Weltstoffe entsprechend eines abweichenden Interesses oder Themas zusammen, um eine Erfahrung zu vermitteln, und dienen neuen Werken und Ideen, wenn diese aus den bekannten Ritualen hinausführen. Denn Formate, ob die unbemerkbar gewordenen Klassiker oder ihre temporären Begleiter, sind nützliche Vehikel, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit umzuleiten – vom Ritual und allem, was wir schon zu kennen glauben, auf das, was unerhört ist. Da Formate immer eine Gemeinschaft von Werken herstellen, können sie auch Aufmerksamkeit organisieren und von populären Stücken auf Unerwartetes lenken. Nicht alles, was im Folgenden aufgelistet wird, war im strengen Sinne ein neues Format, manches Festival ist inzwischen selbst schon zur Institution geworden, manches auch eher eine klassische Themenreihe. Aber die vielen „Rahmensetzungen“ in den letzten zehn Jahren, die hier angeführt werden, sind doch mehr als nur Begleitveranstaltungen größerer Einzelveranstaltungen und bearbeiten in ihrer oft sehr spezifischen Struktur immer wieder andere Suchbefehle. Insofern sind diese Festspielformate der letzten zehn Jahre auch eine kurze Geschichte vergänglicher Erfindungen und der Abriss einiger großer Themen des vergangenen Jahrzehnts – Identitätspolitik, Digitalisierungseffekte und die Frage, wie das Weltbild des postfossilen Kapitalismus aussehen könnte. Denn neue Formate sind die Formate des Neuen.

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raum von sechs Stunden beschäftigen sich parallel bis zu 15 Ensembles mit bis zu 300 Kompositionen aus der „Ghost Trance Music“-Epoche von Braxton, wobei sie von Werk zu Werk wechseln und auf das Spiel benachbarter Gruppen reagieren. Wie lebendige Organismen spalten sich die Gruppen auf, bewegen sich durch den Gropius Bau, schließen sich in anderen Besetzungen zusammen, verbinden sich zu kleinen Zellen oder zum dirigierten Großensemble. Auch die Besucher*innen bewegen sich frei im gesamten Raum des Gropius Baus inklusive seiner Ausstellungen und entscheiden selbst, welchen Zusammensetzungen sie zuhören möchten.

10 DAYS OF IRANIAN CINEMA Mit einem Lang- und Kurzfilmprogramm aus historischen und aktuellen fiktiven und dokumentarischen Filmen richten die Berliner Festspiele mit diesem Online-Filmformat einen Blick auf die iranische Kinolandschaft. Die Reihe wird gerahmt von Gesprächen mit Filmemacher*innen wie Bahram Beyzai und Rakhshan Banietemad. Kuratorin des Programms ist Afsun Moshiry. 10ER AUSWAHL Zehn bemerkenswerte Inszenierungen werden jedes Jahr von einer unabhängigen Kritiker*innenjury aus rund 400 Theaterarbeiten des deutschsprachigen Raums ausgewählt und im Mai im Haus der Berliner Festspiele und anderen Orten der Stadt gezeigt. Die 10er Auswahl stellt das Zentrum des Festivals dar, eine Einladung zum Theatertreffen ist mit überregionaler Anerkennung verbunden. Mit der Festivalausgabe 2020 führte das Theatertreffen eine Frauenquote von mindestens 50 Prozent in den Regiepositionen der 10er Auswahl ein.

ARENA – SPIELRAUM FÜR SPONTANE TANZKUNST! In einem Dancebattle, konzipiert und moderiert von nutrospektif – urbanes tanztheater kollektiv (Daniela Rodriguez Romero, Bahar Gökten, Yeliz Pazar), treten seit 2015 im Rahmen des Tanztreffens der Jugend jeweils zwei Tänzer*innen der eingeladenen Ensembles gemeinsam in die ARENA. Sie sind aufgefordert, auf unbekannte Musik aus verschiedenen Genres zu improvisieren, Bewegungsaufgaben umzusetzen und ihre kreativen Fähigkeiten in unterschiedlichen Konstellationen zu zeigen.

A ANTHONY BRAXTON’S SONIC GENOME Die immersive Durational Performance des Komponisten Anthony Braxton eröffnet mit über 60 Musiker*innen aus den USA, Berlin und Australien das Jazzfest Berlin 2019. Über einen Zeit-

ARTISTIC CITIZENSHIP Beim Künstler*innengipfel „Artistic Citizenship“, im Rahmen des Theatertreffens 2016 von Yvonne Büdenhölzer initiiert, begeben sich Alumni von Stückemarkt, Internationalem Forum

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und TT-Blog auf die Suche nach einer Gesellschaft der Zukunft. In Lectures und Workshops fragen sie nach dem Nutzen der Kunst für neue Sozialformen von „Citizenship“ und danach, wie die Rolle als Bürger*in in einem performativen Akt zu verändern wäre.

Arbeiten vor Publikum und treten in Workshops und Aufführungsgesprächen in einen produktiven Austausch miteinander. Bis Frühjahr 2021 werden sie von Christina Schulz geleitet, dann übernimmt Susanne Chrudina. BURNING ISSUES MEETS THEATERTREFFEN Wie kann die Theaterwelt geschlechtergerecht und diverser gestaltet werden? In einer 2019 von Nicola Bramkamp, Yvonne Büdenhölzer, Lisa Jopt und Maria Nübling initiierten Konferenz forschen Burning Issues und das Theatertreffen zusammen mit 400 Teilnehmer*innen drei Tage lang in Keynotes, Panels, Workshops, Netzwerkveranstaltungen und künstlerischen Interventionen nach Strategien für ein faires und vielfältiges Miteinander.

B BE MY GUEST Im Rahmen des Programms „Be my Guest“ ist in den Jahren 2014 bis 2016 je ein*e Theaterfestivalkurator*in eingeladen, das Theatertreffen zu begleiten und zu reflektieren. Zum Ende des Theatertreffens spricht er*sie einer der ausgewählten Produktionen eine Einladung zum eigenen Festival aus. BPA AT GROPIUS STUDIOS In Anknüpfung an die Geschichte des Gropius Baus, der 1881 als Kunstgewerbemuseum und -schule mit zahlreichen Ateliers und Werkstätten eröffnet wurde, ermöglicht ein von Gropius Bau und BPA//Berlin program for artists gemeinsam mit Künstler*innen initiiertes Mentoring-Programm elf Künstler*innen, im Herbst 2020 die Räume des Gropius Baus als Ateliers zu nutzen und zugleich von dort aus ihre Arbeiten einer digitalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Grenzen zwischen Arbeits- und Ausstellungsraum werden dabei bewusst verwischt.

C CONNECTED WITHIN THAT LIGHT In Lese- und Theoriegruppen richtet der Gropius Bau den Blick auf Themen wie intersektionalenFeminismus,Geschlechtsausdruck sowie Agency von Körpern und begleitet das Ausstellungsprogramm des Gropius Baus in den Jahren 2020/21. Die Reihe wird von der Kuratorin, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Kathy-Ann Tan konzipiert und realisiert. D

BUNDESWETTBEWERBE Die vier Nachwuchsformate der Berliner Festspiele – Theatertreffen der Jugend, Tanztreffen der Jugend, Treffen junger Autor*innen und Treffen junge MusikSzene – bilden zusammen die Bundeswettbewerbe. Die Teilnehmer*innen der Treffen zeigen ihre künstlerischen

DAU FREIHEIT Für den Filmzyklus DAU lässt der Regisseur Ilya Khrzhanovsky in Charkiw (Ukraine) auf einem 12.000 m² großen Areal ein Institut bauen, das historische Elemente mit fiktiven fusioniert und eine artifizielle Parallelwelt erschafft.

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Zwischen 2009 und 2011 leben dort bis zu 400 Menschen. Aus rund 700 Stunden Filmmaterial entsteht eine Vielzahl von Filmen und mehrere Serien. Im Sommer 2018 arbeiten die Berliner Festspiele als Veranstalter an der Präsentation von DAU als Stadtraumprojekt in Berlin-Mitte. Das Projekt, das die Besucher*innen dicht an die Erfahrungswelt der Bewohner*innen des Instituts heranführen soll und die temporäre Installation einer Replik der Berliner Mauer im historischen Stadtkern zwischen Humboldt Forum und Staatsoper Unter den Linden Berlin beinhalten soll, kann nicht umgesetzt werden. Im Frühjahr 2019 findet die Weltpremiere des DAU-Projekts in Paris statt.

kuratiert von Julia Badaljan, Thomas Oberender, Anja Predeick, Tino Sehgal und Jeroen Versteele und verzichtet auf Strom. E EDITIONEN Das von den Programmen und Festivals der Berliner Festspiele unabhängige Publikationsformat wird von Christina Tilmann und Thomas Oberender entwickelt. Ab 2012 werden über 30 Hefte veröffentlicht, in denen seltene oder exklusive wegweisende literarische und journalistische Texte autonomen Positionen aus der bildenden Kunst begegnen. Das Erscheinungsbild der Editionen bleibt stets das gleiche: Der rote Rahmen, der als Logo der Berliner Festspiele ab 2012 dient und vom Designer Christian Riis Ruggaber stammt, ist auf dem Cover aus grauer Pappe abgebildet.

DIGITAL ARTISTS IN RESIDENCE Angelehnt an das seit 2018 bestehende Programm „In House: Artist in Residence“ etabliert der Gropius Bau 2021 ein digitales Residency-Programm. Erste Künstlerin in diesem neuen Format ist Ana Prvac̆ki, die eine Reihe von Interventionen entwickelt, in denen sich übergeordnete programmatische Themen des Gropius Baus materialisieren: Gastfreundschaft, natürliche Strukturen und Ökologie.

ES GEHT AUCH ANDERS! Initiiert von Christina Tilmann und Thomas Oberender, finden 2013 in der Kassenhalle im Haus der Berliner Festspiele vier kulturpolitische MontagsDiskussionen über inspirierende, bisweilen auch erschreckende Vorkommnisse aus unseren Nachbarländern statt. Das Format ist als Anregung für Kulturpolitiker*innen, Intendanten*innen, Förderinstitutionen und Künstler*innen und Produzent*innen gedacht. Die Themen sind: „Produzenten*innenförderung“ am Beispiel Belgien, „Partizipative Kulturformate“ am Beispiel Finnland, „Nach der Sparwelle“ am Beispiel Großbritannien, „Wandel statt Krise“ am Beispiel Deutschland.

DOWN TO EARTH Die Ausstellung im Gropius Bau 2020 verbindet sich mit einem künstlerischen Unplugged-Programm mit täglich wechselnden Live-Angeboten, das der Frage nachgeht, auf welche Art und Weise die Agenda einer klimapolitischen Wende unser eigenes „Betriebssystem“ tangiert. Wie können wir den Modus, in dem wir arbeiten, uns ernähren, reisen oder Ausstellungen machen, nachhaltig verändern? „Down to Earth“ wird

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EVERYTHING IS JUST FOR A WHILE Für die von Thomas Oberender und Jeroen Versteele konzipierte Ausstellung anlässlich des 70. Jubiläums der Berliner Festspiele werden ca. 1000 Stunden Filmmaterial aus öffentlichen und privaten Archiven gesichtet, daraus über fünf Stunden in Bild und Ton restauriert und von Thilo Fischer und David von der Stein zu drei Videoinstallationen verdichtet, die journalistische Beiträge, Diskurs und Kunst aus 70 Jahren zeigen. Darunter ist eine 3-Kanal-Videoinstallation, die sich Kunstpositionen aus allen Festivalbereichen widmet und chronologisch durch die Geschichte der Berliner Festspiele reist.

wöhnliche Produktionen an der Grenze von Performance und Theater, bildender Kunst, Tanz und Videokunst. Künstler*innen wie William Kentridge bespielen sowohl das Haus der Berliner Festspiele als auch den Martin-Gropius-Bau. FORUM ÖKOLOGISCHE NACHHALTIGKEIT IM THEATER In Zusammenarbeit mit dem Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien und koordiniert von Yvonne Büdenhölzer und Katharina Fritzsche findet das Pilotprojekt erstmalig im Rahmen des Theatertreffens 2021 statt. Ziel ist die Entwicklung eines langfristigen Netzwerks für Nachhaltigkeitsthemen im deutschsprachigen Theater. Vertreter*innen der für die 10er Auswahl des Festivals nominierten Theater und Produktionshäuser kommen als Green Ambassadors zusammen und entwickeln Strategien für eine ökologisch nachhaltige Kulturproduktion.

F FOCUS Unter der Leitung von Yvonne Büdenhölzer etabliert das Theatertreffen die Reihe „Focus“ und setzt damit künstlerische und diskursive Schwerpunkte innerhalb des Festivalprogramms. In den Jahren 2014 bis 2016 entstehen: Focus Dimiter Gotscheff, Focus Fassbinder, Focus Skulptur, Performances, Schauspiel. 2021 wird die Reihe mit einer Rückschau auf die Arbeit der New Yorker Gruppe Living Theatre neu aufgelegt.

G GROPIUS BAU FRIENDS Die Gropius Bau Friends verbringen viele Stunden in den Ausstellungsräumen, Eingangsbereichen, Fluren und etlichen anderen Orten im Gropius Bau. Dort sprechen sie mit Besucher*innen über deren Fragen und Eindrücke und geben Tipps rund um den Besuch des Hauses. Was erleben sie bei dieser Arbeit? Was bleibt in Erinnerung? Worauf freuen sie sich gerade besonders? In der Kolumne „Die Friends empfehlen“ geben sie etwa ein Mal monatlich Einblick in ihre persönlichen Ausstellungshöhepunkte.

FOREIGN AFFAIRS Das internationale Performing Arts Festival der Berliner Festspiele wird 2012 gegründet. Die belgische Festivalmacherin Frie Leysen ist für die erste Edition verantwortlich, danach ist Matthias von Hartz bis zur Auflösung des Festivals im Jahr 2016 künstlerischer Leiter. Das Festivalformat präsentiert außerge-

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GROPIUS BAU JOURNAL Das Gropius Bau Journal ist eine OnlinePlattform, auf der miteinander verwobene Zukünfte und Wege des gemeinsamen Denkens und Lebens erkundet werden. Die übergreifenden Themen des Ausstellungsprogramms dienen dabei als Ausgangspunkt für einen Blick in die weitere Welt. Mit der Veröffentlichung neuer Beiträge von Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Denker*innen werden unterschiedliche Disziplinen verknüpft und die Rolle der Kunstinstitution im 21. Jahrhundert betrachtet.

Werk und Besucher*in, Bühne und Saal, Objekt und Betrachter*in auflösen. Im Zentrum der ersten Programmphase steht die Verräumlichung der zeitbasierten Kunst des Theaters. Der zweite Schwerpunkt des Programms widmet sich der Verzeitlichung des klassischen Ausstellungsformats. Im dritten Jahr der Projektreihe wendet sich der Begriff ins Gesellschaftliche: Was bedeutet es, wenn politische Grenzen verschwinden, wie können wir künstlerisch andere Formen von Gesellschaft erschließen? IN HOUSE: ARTIST IN RESIDENCE Das Residency-Programm des Gropius Baus unter der Leitung von Stephanie Rosenthal bringt Künstler*innen und ihre kreativen Prozesse zurück ins Haus: Anknüpfend an die Geschichte des Gebäudes als ursprüngliches Kunstgewerbemuseum mit zahlreichen Ateliers und Werkstätten wird der Gropius Bau wieder zu einem Ort der künstlerischen Kreation und Produktion und lädt Künstler*innen ein, aus institutionellen Formaten auszubrechen und das Ausstellungshaus für das 21. Jahrhundert neu zu denken. Residents sind Wu Tsang (2018), Otobong Nkanga (2019), Zheng Bo (2020) und SERAFINE1369 (2021).

H HAUS OF JAZZ Die Eröffnung des Jazzfestes Berlin 2018 bespielt mit zehn Acts auf fünf Bühnen über sieben Stunden das gesamte Haus der Berliner Festspiele: von der großen Bühne und der Seitenbühne über das Foyer und die Kassenhalle bis zur selten für das Publikum geöffneten Unterbühne, auf der das KIM Collective mit einem musikalischen Echo auf das oberirdische Geschehen reagiert. Zwei Performances bilden den Anfangs- und Endpunkt des Abends auf der großen Bühne, dazwischen bewegt sich das Publikum frei zwischen den parallel stattfindenden Programmen im gesamten Festspielhaus.

INTERNATIONALES FORUM 1965 als „Begegnung junger Bühnenangehöriger“ gegründet, versammelt das Internationale Forum im Rahmen des Theatertreffens jährlich junge professionelle Theatermacher*innen in Berlin. War der Teilnehmer*innenkreis zunächst auf den deutschsprachigen Raum begrenzt, dehnt ihn die 1980 begonnene Kooperation mit dem Goethe-Institut auf die ganze Welt aus. Seit 2015 öffnet

I IMMERSION In dieser Programmreihe präsentieren die Berliner Festspiele unter der künstlerischen Leitung von Thomas Oberender und mit wechselnden kuratorischen Teams seit 2016 Arbeiten von Künstler*innen, die die gewohnte Gegenüberstellung von

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sich das Internationale Forum in Workshops und Diskursveranstaltungen verstärkt für globalgesellschaftliche Dynamiken und befragt Theater als Raum politischer Öffentlichkeit. Nach Uwe Gössel (2006–2014) und Daniel Richter (2015–2017) wird das Internationale Forum seit 2018 von Necati Öziri geleitet.

experimentelle, interdisziplinäre Formate entwickelt. 2021 wird das Jazzfest Berlin vom Europe Jazz Network mit dem Award for Adventurous Programming ausgezeichnet. JAZZFEST BERLIN – NEW YORK Als die COVID-19-Pandemie Konzertreisen zeitweise nahezu unmöglich macht, wagt das Jazzfest Berlin 2020 einen internationalen Brückenschlag zwischen zwei Avantgarde-Szenen und präsentiert in Kooperation mit ARTE Concert und dem Institut für Bewegtbild einen zweitägigen Konzertmarathon mit zwölf Projekten in sechs transatlantischen Tandems: je ein Set als Livestream aus der Betonhalle des silent green in Berlin und ein Set als Livestream aus dem Roulette in New York. Auch 2021 setzt das Jazzfest wegen der andauernden pandemischen Situation auf digitale Verschaltungsprojekte, dieses Mal mit lokalen Partner*innen und Musiker*innen in Johannesburg, Kairo und São Paulo.

INTO WORLDS. DAS HANDWERK DER ENTGRENZUNG An drei Tagen im Januar 2018 blickt die Konferenz im durch Eva Veronica Born gestalteten Lichthof des Martin-GropiusBaus aus drei Perspektiven auf den Vorgang der Immersion: in handwerklichen Körpertechniken, spektakulären Unterhaltungsformaten und spirituellen Mentalpraktiken. Er zeigt sich dabei als ambivalente Bewegung, steht einerseits für Selbst- oder Medienvergessenheit, ist jedoch andererseits Anlass für Distanznahme und kritische Reflexion. J JAZZFEST BERLIN Als „Berliner Jazztage“ 1964 gegründet, zählt das Jazzfest Berlin zu Europas ältesten und renommiertesten Festivals seiner Art. Während die ersten beiden Festival-Dekaden geprägt waren von den stilbildenden und populären Jazzgrößen aus den USA, hat sich das Spektrum inzwischen global geweitet, mit einem Schwerpunkt auf dem gegenwärtigen Jazz europäischer Provenienz. Nach Bert Noglik (2012–2014) und Richard Williams (2015–2017) liegt die künstlerische Verantwortung ab 2018 bei Nadin Deventer, die in ihrem Programm verstärkt auf musikalische Grenzgänger*innen und starke Festivalnarration setzt und auch immer wieder

JAZZFEST BERLIN OFF STAGE Ebenfalls in Reaktion auf die CoronaKrise und ihre gravierenden Auswirkungen auf den Live-Musik-Sektor entwickelt das Jazzfest Berlin 2020 nicht nur ein umfassendes Live- und StreamingKonzertangebot, im Format „Jazzfest Berlin Off Stage“ beauftragt es darüber hinaus Künstler*innen mit Videoarbeiten und audiovisuellen Statements. So erweitert sich das Festival in Raum und Zeit, schlägt kreative Brücken in die Stadt und über den Atlantik und lässt die Bühne hinter sich, um nach den Dissonanzen in der Welt „da draußen“ zu horchen.

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JAZZFEST BERLIN RADIO EDITION Das Jazzfest Berlin expandiert im Pandemiejahr 2020 in Kooperation mit der ARD und Deutschlandfunk Kultur in sieben deutsche Bundesländer und präsentiert erstmals Studio-Konzerte regionaler Künstler*innen in acht Funkhäusern der Landesrundfunkanstalten. Im Jahr 2021 wird die Radio Edition neu aufgelegt.

Hauptbühne des Festspielhauses zu bespielen. Im Pandemie-Jahr 2020 inszeniert das KIM Collective bereits im ersten Lockdown betroffene Orte und entwickelt drei Videoarbeiten, die die Grundlage für die Festivalabschlussproduktion De-Isolation bilden. KINDER KURATIEREN_TAKEOVER Mitbestimmen, Selbermachen, neue Ausdrucksformen finden und Teamarbeit stehen bei „Kinder kuratieren_Takeover“ im Vordergrund: Das Kooperationsprojekt des Gropius Baus und der Stiftung Brandenburger Tor ermöglicht Berliner Grundschüler*innen, den Weg von der Kunstproduktion bis zur eigenständig konzipierten Ausstellung selbst zu erleben und zu gestalten. Mit dabei sind die Carl-Humann-Grundschule, die Grundschule im Blumenviertel, die Heinrich-von-StephanGemeinschaftsschule und die Picasso Grundschule.

JUGROBA – JUNGER GROPIUS BAU JuGroBa schlägt Brücken zwischen dem Gropius Bau und jungen Menschen und bietet eine Plattform für ihre vielfältigen Reflexionen über das Programm des Ausstellungshauses. K KIM COLLECTIVE @ JAZZFEST BERLIN Eine außergewöhnliche Allianz entspinnt sich von 2018–2020 zwischen dem Jazzfest Berlin unter der Leitung von Nadin Deventer und dem neunköpfigen KIM Collective. Für die Festivalausgabe 2018 zieht sich das KIM Collective für die Dauer des Festivals auf die Unterbühne des Festspielhauses zurück und reagiert mit Erschaffung ihres UN(TER)ORTS und simultanen musikalischen Performance-Echos auf die Konzerte, die zeitgleich auf der Hauptbühne stattfinden. 2019 steigt das Kollektiv als selbsternanntes Pilzgeflecht des Jazzfestes Berlin aus der Unterwelt empor und breitet seine Wurzeln im Foyer des Festspielhauses zu der zweitägigen, sich ständig weiterentwickelnden Installation Garden of Hyphae aus, um schließlich zum Festivalabschluss mit der ‚Fungus Opera‘ The Mass of Hyphae selbst die

L LANDSCAPES OF UNCERTAINTY Das Symposium findet unter der Leitung von Carolin Hochleichter, Maria Rössler und Matthias von Hartz 2016 im Rahmen von Foreign Affairs auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele statt. Der Ausgangspunkt für die Erforschung des Themenfelds „Uncertainty“ ist die Zusammenarbeit mit dem Künstler William Kentridge: Fortwährende Transformation zieht sich vor dem Hintergrund südafrikanischer Geschichte und Gegenwart durch dessen Werk. Ergänzend zum künstlerischen Programm werden Künstler*innen und Wissenschaftler*innen eingeladen,

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Perspektiven und Strategien für den Umgang mit Ungewissheiten vorzustellen.

in diesem Setting präsentieren Ictus und ensemble mosaik im Verlauf eines Abends über zwanzig Stücke von ebenso vielen Komponist*innen mit ganz unterschiedlichen musikalischen Hintergründen. Ohne feste Sitzplätze, mit tragbaren Hockern und einer Bar, die auch während der Konzerte geöffnet bleibt, kann sich das Publikum frei bewegen.

LATE NIGHT LAB Etablierte Bands im Jazz bilden zwar eigenständige Gemeinschaften, aber erst in der Improvisationskultur konnten sich zahlreiche Musiker*innen zu einer globalen Community zusammenfinden und Klang als Lingua franca entdecken. Das Format der „Late Night Labs“ beim Jazzfest 2019 präsentiert an zwei aufeinanderfolgenden Abenden Begegnungen von je drei bestehenden, eigenständigen Trios. Die Musiker*innen bespielen in stets wechselnden Formationen die eigens für diese Festivalausgabe gestaltete Arenabühne. Während jede der Gruppen ihre jeweils eigene, unverwechselbare Identität mitbringt, kommt es zu musikalischen Kollisionen und Überschneidungen.

THE LONG NOW Mit einer Dauer von 30 Stunden ist „The Long Now“ konzipiert als eine Zeitblase, in der sich die Besucher*innen verlieren und von der getakteten Chronometrie der Gegenwart lösen können. Initiiert von Berno Odo Polzer und kuratiert in Zusammenarbeit mit Laurens von Oswald und Harry Glass, bildet „The Long Now“ ab 2015 den Abschluss von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen. In der monumentalen Kulisse des Kraftwerks Berlin sind Konzerte, Performances und elektronische Live-Acts mit Filmpräsentationen, Licht-, Klang- und Videoinstallationen zu einer großformatigen Komposition in Zeit und Raum versammelt. Das musikalische Spektrum reicht von Alter Musik über Kompositionen der Avantgarde und Improvisation bis hin zu experimenteller Elektronik, Ambient Music oder Noise. Das Publikum ist eingeladen, den gesamten Zeitraum von „The Long Now“ im Kraftwerk Berlin zu verbringen, dort auf bereitgestellten Betten zu übernachten oder mehrmals wiederzukommen.

LIMITS OF KNOWING Im Sommer 2017 erkundet „Limits of Knowing“ die äußersten Grenzen rationalen Wissens. Inspiriert von der Agnoseologie, der „Lehre der Unerkennbarkeit“, lädt ein interdisziplinäres Programm zum Gleiten zwischen Vernunft und Vorstellung ein. In der Wissensgesellschaft wenig verbreitete Kompetenzen wie Ahnung, Befremden und Verblüffung führen die Besucher*innen in Tiefen künstlerischer, wissenschaftlicher und philosophischer Fragen. Das Format wird kuratiert von Joanna Petkiewicz.

M LIQUID ROOM Mit diesem Format des belgischen Ensembles Ictus eröffnet Berno Odo Polzer 2015 MaerzMusik als neu konzipiertes „Festival für Zeitfragen“. Ein Raum, vier Bühnen, zwei Ensembles –

MAERZMUSIK MaerzMusik, gegründet 2001, ist das Nachfolgefestival der Musik-Biennale Berlin. Diese war ursprünglich Bestandteil der Berliner Festtage der DDR.

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Als einziges Format des renommierten Ostberliner Pendants zu den Westberliner Festspielen bleibt das Format nach der Wiedervereinigung 1990 bestehen. 2001 wandelt Matthias Osterwold die Musik-Biennale zu „MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik“ um, bevor Berno Odo Polzer das Format ab 2015 als „Festival für Zeitfragen“ neu konzipiert.

des Gropius Baus reicht daher in Kreuzberger Wohngegenden hinaus – mit dem Ziel, die verschiedenen Facetten des Lebens in dieser Gegend in das Haus einzubringen. Gestaltet wird diese Vermittlungsarbeit grundlegend gemeinschaftlich, in Kollaborationen mit interkulturellen, generationenübergreifenden und queeren Nachbarschaftsinitiativen.

MUSIKFEST BERLIN Das Orchesterfestival der Berliner Festspiele – veranstaltet in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker – bildet jeweils im Spätsommer den Auftakt der Berliner Konzertsaison. Internationale Spitzenorchester, Instrumental- und Vokalensembles präsentieren gemeinsam mit den großen Symphonieorchestern der Stadt Berlin ein Programm mit jeweils wechselnden thematischen Schwerpunkten. Das rund dreiwöchige Festival widmet sich nicht nur dem symphonischen Repertoire, sondern insbesondere den bedeutenden, raren, vergessenen, ungewöhnlichen und neuen Werken aus Geschichte und Gegenwart. Künstlerischer Leiter ist seit 2006 Winrich Hopp.

NAHAUFNAHME LITERATUR Das Format besteht seit 2010 und wird konzipiert von Christina Schulz, ursprünglich unter dem Titel „Meisterklasse“. Fünf junge Autor*innen, die ehemalige Preisträger*innen des Treffens junger Autor*innen sind und bereits an ersten größeren Schreibprojekten arbeiten, werden jährlich eingeladen. Das Format gliedert sich in ein Arbeitswochenende und eine öffentliche Lesung, in der Regel im Rahmen des internationalen literaturfestivals berlin. Die jungen Autor*innen arbeiten mit erfahreneren Kolleg*innen an eigenen Texten und tauschen sich über persönliche Sichtweisen und Erfahrungen im Schreibprozess aus. NAHAUFNAHME MUSIK Nach einem Konzept der Jury des Treffens junge Musik-Szene und Christina Schulz werden seit 2016 jährlich fünf ehemalige Teilnehmer*innen des Treffens junge Musik-Szene zur „Nahaufnahme“ eingeladen. Das Format gliedert sich in drei Arbeitstreffen mit Profis und mündet in einem Konzert. Der Text als die zentrale künstlerische Idee eines Songs steht ebenso im Zentrum wie sein Verhältnis zur Musik, die ihn inspirieren und tragen kann.

N NACHBARSCHAFTSAUSTAUSCH Eine Besonderheit des Gropius Baus ist seine Lage. Das Ausstellungshaus ist angesiedelt zwischen historischen Schauplätzen, Gebäuden der aktuellen politischen Arbeit, touristischen Angeboten und Büroetagen. Ein gewöhnlicher „Kiez“ mit alltäglichem, nachbarschaftlichem Leben ist diese Umgebung nicht. Der Austausch mit der Nachbarschaft

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NETZKULTUR In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und kuratiert von Nikola Richter diskutiert „Netzkultur“ in den Jahren 2013 und 2014 in drei Konferenzen Aspekte unserer durch digitale Technologien veränderten Lebenswirklichkeit. Einer wachsenden Technologieskepsis stellt das Format die Utopie des Netzes gegenüber, beleuchtet Potenziale und Gefahren digitaler Identitäten, neue Formen politischer Meinungsbildung und die Konsequenzen des digital turn für die Kulturlandschaft.

forscherin Bénédicte Savoy, dem Schriftsteller Bernhard Schlink und der Künstlerin Gabriele Stötzer. ONE ON ONE ON ONE Ein*e Schauspieler*in, eine Kamera, eine Szene – das sind die Komponenten des Videoprojekts, das der Fotograf und Regisseur Marcus Gaab in den Jahren 2015–2019 für das Theatertreffen produziert. Aus jeder Inszenierung, die im Rahmen der 10er Auswahl beim Theatertreffen gastiert, wird ein*e Schauspieler*in eingeladen, einen kurzen Film zu drehen. Dabei entscheiden die Protagonisten*innen selbst, in welcher Form sie die jeweilige Inszenierung, mit der sie zum Theatertreffen eingeladen sind, einfangen wollen.

THE NEW INFINITY Planetarien sind nur selten Räume der zeitgenössischen Kunst. Dabei bespielen sie die größte Bildfläche unserer Zeit, und der Fulldome bietet einen einzigartigen Raumklang. Ab 2017 produziert die Programmreihe „The New Infinity“ Auftragsarbeiten zeitgenössischer Künstler*innen, die speziell für den Fulldome entwickelt und in Planetarien und auf Festivals weltweit gezeigt werden. Nachdem das Programm in den Jahren 2017 und 2018 knapp 40.000 Besucher*innen in den Mobile Dome auf dem Mariannenplatz zieht, findet „The New Infinity“ ab 2019 im Zeiss-Großplanetarium statt.

OPEN CAMPUS Der Open Campus ist Begegnungsund Vernetzungsort für Theatermacher*innen von morgen und verknüpft unter Leitung von Anneke Wiesner das Theatertreffen mit Schauspielschulen und theaterwissenschaftlichen Studiengängen im deutschsprachigen Raum sowie Berliner Gymnasien. Durch Workshops, Gespräche mit Künstler*innen und gemeinsame Besuche der Aufführungen und des Diskursprogramms kommen Studierende und Schüler*innen in eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Ästhetiken und Arbeitsweisen. Gespräche mit dem Festivalteam erlauben einen Blick hinter die Kulissen des Theatertreffens.

O OCCUPY HISTORY Im Rahmen des „Palastes der Republik“, der dreizehn Jahre nach seinem Verschwinden im Haus der Berliner Festspiele symbolisch wiedererrichtet wird, führt Thomas Oberender 2019 Gespräche mit der Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper, der Provenienz-

ORCHESTERKARAOKE Ein Sinfonieorchester hat Popsongs geprobt, über die Leinwand laufen die Lyrics, eine*r kriegt ein Mikrofon in die Hand. Mit dieser Mischung aus

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Popkonzert, Party und politischer Bewegung findet Foreign Affairs 2013 unter Leitung von Matthias von Hartz seinen ungewöhnlichen Schlusspunkt.

POLITIK TRIFFT THEATER. FORUM KULTURPOLITIK In den Jahren 2012 und 2013 richtet das Theatertreffen gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung ein Forum aus, bei dem Theaterschaffende auf Kulturpolitiker*innen treffen.

DIE ORIGINALE Konzipiert von Josa Kölbel und Johannes Hilliger 2018 als Teil der Programmlinie „Circus“, die internationale und nationale Gastspiele des zeitgenössischen Circus präsentiert, ist „Die Originale“ vor allem ein Ort für den Austausch zwischen der Tanz- und Performanceszene und zeitgenössischen Artist*innen. Das im Haus der Berliner Festspiele realisierte interdisziplinäre Festival beinhaltet acht Research-Präsentationen, zwei Circusproduktionen, Konzerte, eine Ausstellung und Talks.

Q QUARTETT DER KRITIKER Im „Quartett der Kritiker“, einem Format des Preises der deutschen Schauspielkritik e.V., das die Ausgaben des Musikfestes Berlin begleitet, treffen vier namhafte Musikkritiker*innen aufeinander, die für das Publikum eine Vielzahl vorliegender Einspielungen – zum Beispiel der Eroica von Ludwig van Beethoven, der Lyrischen Suite von Alban Berg oder der Symphonie Nr. 4 von Dmitri Schostakowitsch – sichten und ausgewählte Interpretationen auf den Prüfstand stellen.

P PALAST DER REPUBLIK Der „Palast der Republik“ als dreitägiges Festival im Haus der Berliner Festspiele erinnert im März 2019 an die Geschichte der Revolution vor 30 Jahren, an alternative Konzepte von Politik, Ökonomie und Umweltschutz, wie sie damals von Bürgerrechtler*innen und Expert*innen in einem neuen Verfassungsentwurf formuliert wurden. Im symbolisch neu errichteten Palast als soziale Skulptur wird mit parlamentarischen Ausschüssen und paraparlamentarischen Panels, Konzerten und Performances drei Tage lang das Denken anderer Verhältnisse diskutiert, praktiziert und gefeiert. Das Format wird kuratiert von Maximilian Haas, Sebastian Kaiser, Thomas Oberender, Elske Rosenfeld und Joshua Wicke, die Programmleitung übernimmt Anja Predeick.

R REDEN ÜBER VERÄNDERUNG In dieser Diskussionreihe im FishbowlFormat auf der Bühne des Festspielhauses ist die Interaktion mit dem Publikum ausdrücklich erwünscht. Die Reihe, die zwischen 2017 und 2019 gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Initiative kulturelle Integration und in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur stattfindet, behandelt Themen wie die Zukunft der Arbeit und die Zukunft Europas. REVOLVERKINO IM GROPIUS BAU Quer durch die Filmgeschichte, Formate und Genres: Die Filmzeitschrift

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Revolver zeigt im Gropius Bau, was Kino sein kann. Im Jahr 2019 monatlich, 2020 dann an drei Abenden in Folge.

finden in versteckten Treppenhäusern, selten besuchbaren Winkeln und auf dem Dach des Martin-Gropius-Baus Performances, Vorträge und Installationen statt.

RITUALS OF CARE Die Performancereihe vereint 2020 im Gropius Bau experimentelle Choreografie, Heilungspraktiken, Klanginstallationen und gemeinschaftliches Zusammenkommen. Die interdisziplinären Arbeiten beschäftigen sich mit den grundlegenden Bedingungen, wie wir gemeinsam handeln und mit unserer Umwelt anders umgehen können. Sie knüpfen an die Geschichte des Ausstellungshauses an, das noch heute durch sichtbare Reparaturen die Spuren der Kriegsschäden zeigt. Das Format wird kuratiert von Stephanie Rosenthal und Noémie Solomon.

SHIFTING PERSPECTIVES 2017 und 2018 findet unter der Leitung von Daniel Richter die internationale Plattform des Theatertreffens „Shifting Perspectives“ statt, die über die zehn bemerkenswerten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum hinaus außereuropäische Perspektiven in das Festival holt und ein breiteres Spektrum an aktuellen gesellschaftlichen Themen, ästhetischen Positionen und wegweisenden Tendenzen widerspiegelt. THE SINGING PROJECT Zu der sich ständig neu formenden singenden Skulptur lädt die Violinistin und bildende Künstlerin Ayumi Paul zu Workshops in den Gropius Bau und Gropius Hain ein. In Vorbereitung zu den Workshops studiert Ayumi Paul unterschiedlichste Gesangstraditionen – von Operngesang, dem Tao der Stimme und Obertongesängen bis hin zu Heilungsmethoden und historischmythologischen Überlieferungen von Gesangsritualen – und verbindet das Gelernte zu einer beweglichen Methodologie des Singens. Im Laufe des Projekts lädt Ayumi Paul weitere Künstler*innen und Forscher*innen dazu ein, ihr Wissen mit den Teilnehmenden zu teilen.

RUSIMPORT Das 12-tägige Festival, kuratiert von Andrea Tatjana Wigger und Thomas Oberender, präsentiert 2012 Theater, Kunst und Kino zeitgenössischer Künstler*innen aus Moskau und Sankt Petersburg. Teil des Programms ist die interaktive Ausstellung „V_Museum – Platform Moscow“ und eine Ausstellung der Künstler*innengruppe AES+F mit ihren großen Mythencollagen im Martin-Gropius-Bau. S SCHULE DER DISTANZ NO. 1 Nach einem Konzept von Cornelius Puschke entwickeln im Jahr 2016 Künstler*innen und Wissenschaftler*innen wie Ed Atkins, Omer Fast oder Doris Kolesch im Martin-Gropius-Bau Beiträge zu Nähe und Distanz in immersiven Zeiten. Bis tief in die Nacht

SONIC ARTS LOUNGE Gegründet 2002 nach einem Konzept von Matthias Osterwold, zitiert das Format den Titel der ehemaligen Musikgruppe Sonic Arts Union. In dem Late-Night-Format von MaerzMusik –

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Festival für aktuelle Musik präsentieren die Berliner Festspiele ein Programm zwischen Kunst und Party, Klangkunst und Clubmusik.

spricht das nach einer Songzeile aus David Bowies Memory Of A Free Festival (1969) benannte Projekt dort Licht, Raum und die Möglichkeit der Verwandlung. Das Projekt wird kuratiert von Thilo Fischer, Wolfgang Hoffmann, Martin Hossbach, Thomas Oberender, Jeroen Versteele und der Julia Stoschek Foundation.

STÜCKEMARKT Diese Förderinitiative für neue Dramatik findet seit 1978 im Rahmen des Theatertreffens statt. 2003 öffnet sich der Stückemarkt für Autor*innen aus ganz Europa, 2019 für Dramatiker*innen und Theatermacher*innen aus der ganzen Welt. 2011 bis 2018 ist Christina Zintl die Leiterin des Stückemarkts, danach übernimmt Maria Nübling und ab 2021 Anna-Katharina Müller.

T EIN TAG MIT … Gemeinsam mit der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius widmen die Berliner Festspiele zwischen 2013 und 2016 regelmäßig einen ganzen Tag im Haus der Berliner Festspiele einer herausragenden Künstler*innenpersönlichkeit und seinem*ihrem Kosmos. In Gesprächen, Lesungen, Videos und musikalischen Intermezzi entstehen lebendige Porträts von unter anderen Arnon Grünberg, Andrzej T. Wirth, Karl Ove Knausgård, Sibylle Berg, David Bowie und Martin Luther King.

SUNDAYS FOR HONG KONG Als Reaktion auf die Proteste in Hongkong gegen das Sicherheitsgesetz 2019 präsentieren die Berliner Festspiele, initiiert von Jeroen Versteele und in Zusammenarbeit mit Künstler*innen und Filmemacher*innen aus China, Hongkong und Deutschland, Dokumentar- und Spielfilme über die frühere britische Kronkolonie und ihre Bewohner*innen. Die erste Ausgabe findet bei freiem Eintritt im Kinosaal des Gropius Baus statt, die zweite Edition wird pandemiebedingt ins Internet verlegt.

TANZTREFFEN DER JUGEND Gegründet 2014 mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und unter der Leitung von Christina Schulz, widmet sich das Tanztreffen der Jugend als Teil der Bundeswettbewerbe dem zeitgenössischen und urbanen Tanz junger Menschen im Bühnenkontext. Eine Fachjury wählt aus den Bewerbungen Preisträger*innen aus, die nach Berlin eingeladen werden, um ihre Choreografien unter professionellen Bedingungen einander und der Öffentlichkeit zu präsentieren und sich im Rahmen eines Workshop-Programms auszutauschen.

THE SUN MACHINE IS COMING DOWN Anlässlich ihres 70. Geburtstags bespielen die Berliner Festspiele das Internationale Congress Centrum Berlin (ICC) und öffnen zehn Tage das seit Jahren stillgelegte Gebäude für Live Art, Installationen und Filme, die simultan in den großen und kleinen Sälen, in den Foyers und Gängen, Galerien und auf der Dachterrasse zu sehen sind. In einer von der Pandemie geprägten Zeit ver-

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TELE-VISIONS Das Projekt „Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV“ präsentiert im Rahmen von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2019 Schätze aus über 40 Fernseharchiven, die die Geschichte der musikalischen Avantgarde der 1950er- bis 1990er-Jahre erzählen. Das von Berno Odo Polzer entwickelte und kuratierte Projekt besteht aus einer Filminstallation mit über 250 Filmen in der neuen Betonhalle des silent green Kulturquartier und wird ergänzt durch acht ganztägige Filmprogramme, Konzerte und Gesprächsveranstaltungen mit internationalen Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Kurator*innen.

geber für die Theaterarbeit von und mit Jugendlichen im gesamten Spektrum von Schulklassen, Theater-AGs an Schulen über freie Gruppen bis zu Jugendclubs an Theatern. Zentrales Auswahlkriterium für die Expert*innenJury sind Eigenständigkeit und Authentizität des künstlerischen Ausdrucks der jungen Künstler*innen. Neben der Einladung der Gruppen nach Berlin und der Aufführung ihrer Arbeiten unter professionellen Bedingungen bietet das Theatertreffen der Jugend Möglichkeiten zum Austausch im Rahmen eines qualifizierten Workshop-Programms. THEATERTREFFEN DER JUGEND – DIGITAL: BLICK AUS DEM UNIVERSUM 2021 konzipieren Susanne Chrudina und das Studio für unendliche Möglichkeiten für die digitale Ausgabe des Theatertreffens der Jugend einen virtuellen Festivalraum auf der Basis der 2D-Plattform Gather Town und mit Illustrationen von Ai-Nhu Vo. Er ist Treffpunkt und Bühne zugleich und bietet allen Besucher*innen die Möglichkeit, sich mit Avataren durch die galaktische Welt von Großer Galaxie, Bühnen-Universum, Star-Planet, Weltraum-Laboren und dem Club der Dimensionen zu bewegen, sich zu begegnen und in Interaktion zu treten.

THEATERTREFFEN Bemerkenswerte Inszenierungen des deutschsprachigen Raums sowie Arbeiten von Nachwuchskünstler*innen weltweit holt das Theatertreffen seit 1964 jedes Jahr nach Berlin. Welche Themen, Ästhetiken und Schwerpunkte prägen das Theater? Das Festival wirft zusammen mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und dem Publikum einen Blick auf den Status quo sowie in die Zukunft. 2020 führt das Theatertreffen eine Frauenquote von mindestens 50 Prozent bei den Regisseur*innen der 10er Auswahl – den zehn bemerkenswerten Inszenierungen einer Saison, die eine unabhängige Kritiker*innenjury auswählt – ein. Leiterin ist seit 2012 Yvonne Büdenhölzer.

THEATERTREFFEN IN CHINA Seit 2016 lädt Wu Promotion in Kooperation mit dem Goethe-Institut China und mit Unterstützung der Berliner Festspiele jährlich zwei bis drei Produktionen des Theatertreffens, Filmaufzeichnungen, Stückemarktprojekte und Jurymitglieder nach China ein. Die Auswahl trifft ein deutsch-chinesisches Kuratorium, dem unter anderen Regisseur Meng Jinghui, Theatertreffen-

THEATERTREFFEN DER JUGEND Initiiert und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), fungiert der Bundeswettbewerb seit 1979 als Schaufenster und Impuls-

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Leiterin Yvonne Büdenhölzer und Intendant Thomas Oberender angehören.

bietet das Treffen jungen schreibenden Menschen eine Plattform, auf der sie ihre Texte vorstellen können, und schafft damit Aufmerksamkeit für ihre Anliegen, Themen und Standpunkte. Stilistisch ist der Wettbewerb offen: Gedichte, Geschichten, kurze Erzählungen, Slam Poetry oder experimentelle Erzählformen treten gleichberechtigt in Erscheinung. Gleichzeitig öffnet das Treffen einen geschützten Raum, in dem sich die jungen Künstler*innen begegnen, gegenseitig inspirieren und ihren persönlichen künstlerischen Ausdruck weiterentwickeln.

THINKING TOGETHER Das von Berno Odo Polzer etablierte und kuratierte Diskurs-Format widmet sich dem Phänomen Zeit in seinen gesellschaftlich-politischen, philosophischen und künstlerischen Dimensionen. Gegründet 2014, ist „Thinking Together“ eine transdisziplinäre Plattform, die für möglichst viele zugänglich sein will. Zeit wird dabei als zentrale Kategorie des Politischen verstanden, als ein Phänomen, das unsere Lebens-, Arbeits- und Produktionsweisen maßgeblich bestimmt. Die Kassenhalle im Haus der Berliner Festspiele wird zur Infrastruktur, in der Besucher*innen, eingeladene Gäste sowie Künstler*innen gemeinsam über Zeit und das Politische nachdenken.

TT KONTEXT 2018 fand erstmals, initiiert von Yvonne Budenholzer und Daniel Richter, das übergreifende Diskurs-Programm „TT Kontext“ statt, das die etablierten künstlerischen Programmsäulen des Theatertreffens begleitet. Es eröffnet einen diskursiven Zugang zu seinen künstlerischen Beiträgen, indem es soziale, politische und ökonomische Kontexte und Hintergründe herstellt und die Werke als Anlass nimmt, auch darüber hinausgehende Fragen für unser Zusammenleben hier und heute zu stellen. Das Format ist eine Weiterentwicklung des Formats „Camp“, das zuvor die Diskursveranstaltungen des Theatertreffens bündelte.

TREFFEN JUNGE MUSIK-SZENE Initiiert und gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), bietet das Treffen junge Musik-Szene seit 1984 talentierten jungen Musiker*innen eine Plattform, um ihre selbst komponierte Musik, ihre Texte, Beobachtungen und Standpunkte zu präsentieren. Neben öffentlichen Konzerten schafft das Treffen einen kreativen Begegnungsraum, in dem sich die jungen Musiker*innen austauschen können und von professionellen Musiker*innen auf dem Weg zu ihrer eigenen künstlerischen Handschrift begleitet werden.

U UNBOXING STAGES Das Format ist eine Kooperation des Theatertreffens, der Akademie für Theater und Digitalität und der Digitalen Dramaturgie im Rahmen von „Theatertreffen virtuell“ im Pandemie-Jahr 2020. In Paneldiskussionen eröffnet sich das Gespräch zwischen Netz-Theater-

TREFFEN JUNGER AUTOR*INNEN Gegründet 1968 und initiiert und gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF),

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Akteur*innen und Theaterschaffenden, zwischen Künstler*innen der 10er Auswahl und IT-Expert*innen, Techniker*innen, Netzaktivist*innen sowie Theater- und Medienwissenschaftler*innen. In der „Langen Nacht der Tutorials“ teilen Expert*innen ihr Praxis-Wissen. 2021 wird das Format als „Stages Unboxed“ fortgesetzt: Ein Showcase präsentiert fünf neue künstlerische Arbeiten, die exemplarisch das Potenzial der Verzahnung von Theater und Digitalem aufzeigen. Konzipiert werden beide Formate von Yvonne Büdenhölzer, Anna-Katharina Müller, Maria Nübling und Necati Öziri.

Arbeit ermöglicht, sich in ihrer je eigenen Zeitlichkeit zu entfalten. Erstmals wird vom Gropius Bau eine Dauerkarte aufgelegt, die über die gesamte Laufzeit hinweg die Teilnahme an allen Workshops und Aufführungen ermöglicht. WILD TIMES, PLANETARY MOTIONS Anlässlich des 70. Geburtstags der Berliner Festspiele kuratieren Nathasha Ginwala und Jeroen Versteele gemeinsam mit den Festivalleiter*innen und Thilo Fischer für das Erdgeschoss des Gropius Baus ein fünftägiges Programm mit Durational Performances, Theaterarbeiten, belebten Installationen und Konzerten. Geplant ist eine Tages- und eine Nachtversion des Programms, das zum ersten Mal künstlerische Beiträge von allen Festivalleiter*innen und Direktor*innen der gesamten Berliner Festspiele umfasst. Das Projekt muss aufgrund der COVID-19-Pandemie abgesagt werden.

UNLEARNING … Mit „UNLEARNING Theater“, „UNLEARNING Patriarchat“, „UNLEARNING History“ und „UNLEARNING 1. Klasse“ finden im Rahmen des Theatertreffens 2018 auf Initiative von Yvonne Büdenhölzer, Maria Nübling, Necati Öziri, Daniel Richter, Felizitas Stilleke und Christina Zintl Gespräche mit Theatermacher*innen und Autor*innen über etablierte Vorstellungen von Wirklichkeit, verkrustete Systeme und die Möglichkeit neuer Verhältnisse statt. W WELT OHNE AUSSEN Die von Thomas Oberender, Tino Sehgal und Annika Kuhlmann 2018 kuratierte Ausstellung spannt einen Bogen von Pionier*innen immersiver Raumgestaltung zu zeitgenössischen Positionen. In Objekten, Installationen, Virtual Reality, 3D-Film, Aufführungen und Workshops entwickelt „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“ eine Dramaturgie, die es jeder

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DIE KLANGLICHEN EXTREME DES MAERZMUSIK-FESTIVALS Alex Ross

Der österreichische Komponist Peter Ablinger sitzt auf einem Stuhl auf der Bühne einer leeren Konzerthalle und beginnt, die Zeit anzusagen. „Beim dritten Schlag wird es genau zwanzig Uhr sein“, sagt er und hält sich damit an die heilige Formel der BBC-Zeitansage. Dabei begleitet er sich selbst mit einem einfachen c-Moll-Akkord auf dem Keyboard. Nachdem er zwanzig Minuten so weitergemacht hat, überlässt Ablinger die Bühne der jungen deutschen Schauspielerin Salome Manyak, die ihre Ansagen zu einem atmosphärisch piepsenden Soundtrack des finnischen Experimentalmusikers Olli Aarni macht. Dieses Ritual dauert fast zweiundsiebzig Stunden, wobei ein ständig wechselndes Team aus Künstler*innen, Kurator*innen, Komponist*innen, Sänger*innen und DJs die Zeit auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch, Farsi, Oromo, Mandarin sowie zwölf weiteren Sprachen ansagen. Eine wechselnde Auswahl aufgezeichneter, zumeist elektronischer Tracks sorgt dabei für die Begleitung. Die meisten der Rezitator*innen bewahren ein sprödes, kühles Auftreten, obgleich ihre Websites etwas Stürmischeres erwarten lassen. Der schwedische Tänzer und Kostümbildner Björn Ivan Ekemark zum Beispiel lässt in keinster Weise erahnen, dass er auch unter dem Namen Ivanka Tramp auftritt und eine „klebrige und viszerale Kuchen-Sitz-Performance-Gruppe“ namens analkollaps leitet. Wir sind natürlich in Berlin, und zwar beim Finale von MaerzMusik, einem jährlichen Bacchanal klanglicher Extreme unter der Schirmherrschaft der Berliner Festspiele. Die diesjährige Ausgabe wurde ausschließlich online gestreamt, wodurch man sie im bequemen Alltagsumfeld des amerikanischen Zuhauses rezipieren konnte. Wie in Europa üblich, gab es eine imposante, wenngleich vage Leitidee: „Zeitfragen“. Der Schwerpunkt des Programms lag auf Erfahrungen, die über konventionelle Zeitrahmen hinauswuchern und das Bewusstsein überfluten. Das eindrücklichste Beispiel hierfür lieferte Éliane Radigues Trilogie de la Mort (1988–1993), eine dreistündige Klanglandschaft aus düster-hypnotischem Elektrogedröhne, das sich wie ein unentzifferbares, der Zeit entrücktes Monument anfühlte. Doch MaerzMusik hatte mehr zu bieten als die Flucht aus ästhetischen Normen. Bei einem solch hochkarätigen und auskömmlich finanzierten Festival wie diesem wird die Zeit zu einer politischen Frage: Wer kommt zu Wort und wie lange? Auch im europäischen Kulturraum wird die lange Zeit unbestrittene Dominanz der weißen, männlichen Perspektive hinterfragt – fast ebenso stark wie in Amerika. Und so hat das von Kurator Berno Odo Polzer geleitete Festival MaerzMusik sich deutlich von den üblichen Verdächtigen abgewendet. Stattdessen war der afroamerikanische Komponist und Wissenschaftler George E. Lewis eingeladen, ein Konzert zu organisieren, das Schwarzen Komponist*innen gewidmet ist. Mehrere Veranstaltungen würdigten den vielseitigen ägyptisch-amerikanischen Komponisten Halim El-Dabh, der 2017 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstarb. Zwei Berliner Experimentalgruppen,

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PHØNIX16 und noiserkroiser, präsentierten einen Multimedia-Abend in Zusammenarbeit mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, einem bolivianischen Ensemble, das traditionelle Instrumente aus den Anden in neue Kontexte überführt. Der stets überragende Lewis, der an der Columbia University lehrt und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin ist, hat die deutsche Neue Musik mit der Frage der Race konfrontiert. Vor einigen Jahren stellte er Statistiken zusammen, aus denen hervorging, dass bei den ehrwürdigen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik in sieben Jahrzehnten nur zwei Schwarze Komponist*innen vertreten waren – das entspricht 0,04 Prozent aller ausgewählten Kompositionen. Lewis hat daraufhin nicht nur für eine größere quantitative Vielfalt plädiert, sondern auch für eine andere Vision der Musikkultur selbst – nämlich die einer „kreolisierten“ Welt, in der Geschichten und Identitäten frei zirkulieren. Das Wort „kreolisch“ wird gemeinhin oft verwendet, um die „Vermischung“ verschiedener Races zu kennzeichnen, bezeichnet für Lewis aber – ebenso wie für postkoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff übernommen haben – ein viel umfassenderes Zusammenfließen unterschiedlicher Sprachen und Werte. Der junge Schweizer Komponist und Schlagzeuger Jessie Cox, der bei Lewis an der Columbia University studiert, veranschaulicht, wie eine solche Mix-Zukunft aussehen und klingen könnte. Cox wuchs in der mehrheitlich deutschsprachigen Schweizer Stadt Biel auf, seine Familie hat Wurzeln in Trinidad und Tobago. Schon früh lernte er Djembe und lateinamerikanische Rhythmen und widmete sich später einem gründlichen Studium der modernen Komposition. Bei MaerzMusik trat er im Rahmen der Hommage an El-Dabh am Schlagzeug auf und präsentierte mit Gitarrist Nicola Hein und Sheng-Spieler Wu Wei das teilweise improvisierte Stück Sound is Where Drums Meet. Cox trat auch in einem Programm des Ensemble Modern mit dem Titel Afro-Modernism in Contemporary Music auf, das auch Werke von Hannah Kendall, Alvin Singleton, Daniel Kidane, Andile Khumalo und Tania León vorstellte. Am deutlichsten offenbarte sich die Idee einer kreolisierten Musik in Sound Is Where Drums Meet, in dem tief verwurzelte Welttraditionen implizit miteinander verschmolzen (die Sheng, ein chinesisches Instrument mit durchschlagender Zunge, eine Art Mundorgel, ist mindestens dreitausend Jahre alt). Das Stück war jedoch keineswegs eine ethno-musikwissenschaftliche Übung; vielmehr bedienten sich die Interpret*innen einer experimentellen Lingua franca, die von zarten Klangfarben bis hin zu furiosen Anfällen im kollektiven Pandämonium reichte und mich in manchen Momenten an Duos von Max Roach und Cecil Taylor erinnerte. Nicht weniger beeindruckend war Existence lies In-Between, Cox’ Beitrag zum Ensemble-Modern-Programm. Dabei handelt es sich um eine vollständig notierte Partitur, die den Interpret*innen dennoch Freiheiten lässt. So wird beispielsweise die Bassklarinette manchmal aufgefordert, „wild, frei, jazzig“ in der Art von Marshall Allen, dem langjährigen Saxofonisten des Sun Ra Arkestra, zu spielen. Cox’ Stil könnte man als dynamischen Pointillismus bezeichnen, bei dem hingehauchte Instrumentalgeräusche in klagende Glissandi übergehen, um im Ansturm rasender Figurationen zu kulminieren. Dennoch schienen beide Stücke in getrennten Welten zu verweilen: das eine in der experimentellen Zone, das andere im Konzertsaal. Online hat Cox bereits Projekte durchgeführt, die solche Unterscheidungen aufheben, indem sie ihre eigenen, virtuellen Akustikräume erschaffen. So präsentierte er kurz nach seinem Besuch in Berlin in

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DIE KLANGLICHEN EXTREME DES MAERZMUSIK-FESTIVALS

Zusammenarbeit mit dem ISSUE Project Room eine 90-minütige Arbeit namens The Sound of Listening, die das Publikum zum Besuch diverser „Räume“ einlädt, in denen sich verschiedene musikalische Aktivitäten abspielen. Dabei herrscht eine nachdenkliche Stimmung, die frei schweifenden Gedanken viel Raum gibt: Das Eröffnungssolo der Bassistin Kathryn Schulmeister etwa wirkt wie eine rastlos suchende Meditation. Weitaus hektischer wirkt Breathing, eine Art Video-Arie, die Cox im November für die „Songbook“-Reihe der Long Beach Opera aufnahm. Der Schwarze Bassbariton Derrell Acon singt dabei mit vor Schmerz und Wut gebrochener Stimme, während er durch Stadt- und Waldlandschaften wandert. Am Ende atmet er aus, während Vogelgezwitscher die Tonspur füllt – eine idyllische Wendung, die ihn ebenso zu erstaunen scheint wie die Zuschauer*innen. Inmitten der allgemeinen Tendenz zur Ad-libitum-Ekstase bei MaerzMusik – die Veranstaltung mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos schwoll zu einem beeindruckend apokalyptischen Getöse an – bot die Uraufführung von Jürg Freys Streichquartett Nr. 4 eine Oase der konzentrierten Stille. Frey, der aus Aarau in der Schweiz stammt – etwa fünfundvierzig Meilen von Cox’ Heimatstadt Biel entfernt –, schreibt Kammermusik, die dort anzuknüpfen scheint, wo Schostakowitsch aufgehört hat: in einem Bereich, in dem die romantischen Harmonien zu schönen, halbverschütteten Ruinen verkommen sind. Das Streichquartett Nr. 4 ist besonders aufgrund seiner Coda bemerkenswert, in der ein weiches, tiefes Cis mehr als hundert Mal wie eine gedämpfte Uhr auf dem Cello gezupft wird, während Geigen und Bratsche nach geisterhaften Akkorden greifen. Das epische Finale des Festivals, die Zeitansage, bot ganz eigene umnebelnde Freuden. Mit dem Titel TIMEPIECE knüpfte es an Ablingers Werk TIM Song von 2012 an. In der ersten Stunde trat Lewis selbst als Rezitator auf; einige Stunden später begleitete das Quatuor Bozzini die Rezitator*innen mit Michael Oesterles Consolations, das der Stimmung nach Freys Quartett nicht unähnlich ist. Weit nach Mitternacht übernahm dann die irische Komponistin und Performerin Jennifer Walshe die Sendung und sorgte, ganz nach ihrer Gewohnheit, für Verwirrung. Sie stellte auf die Dublin-Zeit um, die seit 1916 nicht mehr gilt, und wich mit Ansagen wie „Beim dritten Glockenschlag wird es arsch Uhr sein“ vom Drehbuch ab. Vor allem aber war es faszinierend, die Uhrzeit in so vielen Sprachen zu hören – eine Vielfalt, die von der Weltoffenheit Berlins zeugt. Dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder zufolge sollten die verschiedenen Kulturen der Welt auf ihre Eigenheiten stolz sein und gleichzeitig nach einer höheren Wahrheit in der gemeinsamen Menschlichkeit suchen. Für ungefähr einen Tag schien diese Utopie Wirklichkeit zu werden, denn die Menschen vieler Nationen waren sich zumindest in einem Punkt einig: der Zeit.

Alex Ross ist Musikkritiker und schreibt seit 1996 für The New Yorker. Der Beitrag „The Sonic Extremes of the MaerzMusik Festival“ (Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals) ist zuerst am 19. April 2021 unter dem Titel „The Noise of Time“ (Der Lärm der Zeit) in der Printausgabe von The New Yorker erschienen.

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36 PUNKTE ZUM MASSLOSEN SCHAFFEN UNSERER WERKE Signa Köstler

Liebe Kolleg*innen, ich wurde gebeten, heute und hier einen Impuls zu geben. Ich habe die ehrenwerte Aufgabe, Mut zur Maßlosigkeit einzuflößen. Ich muss mich in Zeiten wie diesen an Schriftsteller*innen wie Georges Bataille klammern und erkennen, dass (ich zitiere) „unser bestimmendes Moment der Überfluss ist, die Überfülle an Energie, und unser Ausgangspunkt ist die Sonne, die nichts als Verschwendung ist“. In meiner Vorstellung fordert die Kunst an sich eine Grenzenlosigkeit. Gegenüber dieser Forderung fühle ich mich gering, denn das Grenzenlose hat keinen Meister und seine Arbeit ist nie vollendet. Es ist gänzlich unbequem, das Unmögliche zu begehren, aber das Mögliche erbleicht im Vergleich. Das maßlose Schaffen ist eine ungesunde Besessenheit, egal, unter welchen Bedingungen, und ja, unsere Leidenschaften beuten uns aus und werden uns schließlich fressen, aber sind sie nicht das schönere Raubtier als die Biester, die uns sonst erbeuten?

Also 36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke: 1. Wir müssen unsere Werke an der äußersten Front aufbauen. Die Grenzen sind zu verletzen. 2. Wir müssen mit Verlusten rechnen, denn schädliche Elemente dürfen nicht verbannt werden. Wer am Messer leckt, zerschneidet sich die Zunge. 3. Unser Blick muss bis über den Überblick hinaus reichen, um sich dort zu verlieren. Wir haben keinen Anspruch darauf, unser Werk vollends zu kennen. 4. Wir schaffen mit vollstem Ernst. Auch wenn es lächerlich erscheint. 5. Wir müssen uns weder erklären noch rechtfertigen. Wir müssen auch gar nicht dazu imstande sein. 6. Wir dürfen uns pathetisch im schlechten Geschmack suhlen, denn was das heißt, weiß eh keiner. 7. Wir sind verpflichtet und verdammt zum maßlosen Schaffen. Keine Ruhe, keine Vollkommenheit, keine Erlösung … Weiter.

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36 PUNKTE ZUM MASSLOSEN SCHAFFEN UNSERER WERKE

8. Das Werk muss um jeden Preis geschaffen und durchgeführt werden. Ohne Verspätung und ohne Beschränkung. 9. Wenn die Zeit knapp wird und Verstärkung fehlt, müssen wir Medikamente nehmen. 10. Wir müssen alle Aspekte des Werks in seiner Produktion und Präsentation kennen und unseren Einfluss gelten lassen. Unseren Produzenten müssen wir drohen, wenn sie uns beschränken. Unsere Dramaturgen müssen wir würgen, wenn sie uns durchkreuzen. 11. Wir bauen ein Modell, 1:1, akribisch bis ins letzte Detail. Mit Küche, Klo und Schlafzimmer. 12. Wir stecken unser Bühnenbild in Brand, wenn es notwendig ist. 13. Wir archivieren alle unsere Spuren und schießen Millionen Fotografien. 14. Wir schreiben die Geschichte wie ein Gen, denn sie hat sich zu entfalten. Unvorhersehbar und ohne Drehbuch. 15. Die Fiktion ist unzerbrechlich und endet nie. Die Realität ist sowieso ein Irrtum. 16. Immer müssen 53 Handlungen gleichzeitig geschehen. Zwar miteinander verbunden, aber nicht auf einmal wahrzunehmen. 17. Weil die Kunst ein Ausnahmezustand ist, verlangen wir volle, unbedingte Konzentration und stetige Wachsamkeit vom Publikum. 18. Unser Anliegen ist mit dem Alltag des Publikums unvereinbar. Es fordert gänzlich seine Freude und überlässt sie der Langeweile und dem Unbehagen. 19. Das Publikum wird die Treppen auf und ab gejagt, und in einen Raum nach dem anderen. Denn wer den Weg verliert, lernt ihn kennen. 20. Wir müssen beim Publikum betteln und drängen, um seine Haare, Nägel und Körperflüssigkeiten zu erlangen. Auch diese sind zu archivieren. 21. Wir müssen das Publikum beschenken und ernähren. Wir müssen in seine Gläser spucken. Wir lassen sie auch wetten, aber wir behalten den Gewinn. 22. Wir müssen das Publikum berühren, und manchmal auch schlagen. 23. Das Publikum muss in unseren Werken schlafen. Ihr Schlaf muss überwacht werden. 53


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24. Wir müssen das Publikum (das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum) zu Hause und bei ihrer Arbeit aufsuchen. 25. Wir schulden dem Publikum das Maßlose. 26. Wir müssen bis zur Erschöpfung spielen. Tage, Wochen, Monate ohne Pause. Jeder Augenblick zählt in der fanatischen Verzweiflung des Werks. 27. Schmerz, Müdigkeit, Harndrang, Hunger und Durst sind uneingeschränkt dem Werk zu widmen. 28. Wir müssen in unseren Werken kollabieren, dort, wo uns jeder sieht. 29. Wir müssen uns schämen und unsere Scham preisgeben, bis zum Himmel stinken und kotzen einfach so. 30. Wir sind völlig indiskret. 31. Nur ungern entschuldigen wir uns. 32. Wir lügen wilder als die Pferde rennen können. 33. Wir müssen uns die Knochen brechen, die Zähne ausschlagen, die Augen verätzen, die Haut verbrennen, die Finger zerquetschen, die Genitalien elektrifizieren. Wir müssen uns vergiften und den Verstand verlieren. 34. Wir müssen unsere Mitspieler lieben und unbedingt vertrauen. 35. Wir müssen geduldig sein. 36. Wenn wir uns vom Werk zurückziehen, sind wir erschöpft, desorientiert, frigid, hustend und alternd.

Signa Köstler ist Performerin und Mitgründerin der Performancegruppe SIGNA. „36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke“ war ihre Eröffnungsrede am 19. Mai 2012 beim Künstler*innengipfel des Theatertreffens.

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„ERFOLG IST IMMER EIN DESASTER“ William Kentridge im Gespräch mit Christiane Peitz

2016 wurde eine umfangreiche Schau aus dem vielfältigen Werk des Künstlers William Kentridge erstmals in Berlin von den Berliner Festspielen präsentiert: im Martin-GropiusBau (12. Mai bis 21. August 2016) und im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals Foreign Affairs (5. bis 17. Juli 2016). Kentridge ist nicht nur bildender Künstler, sondern auch Filmemacher, Regisseur und ein großer Erzähler. Seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten bewegt sich sein Schaffen durch unterschiedliche künstlerische Disziplinen. Im Mittelpunkt seines Denkens steht die bildnerische Arbeit. Sie war Ausgangspunkt für eine große, von Wulf Herzogenrath kuratierte Ausstellung mit dem Titel „NO IT IS !“ im Martin-Gropius-Bau, mit Zeichnungen über die berühmten, Georges Méliès gewidmeten Animationsfilme von 2003 und Drawings for Projection (1989–2011) bis hin zu dem monumentalen filmischen Fries More Sweetly Play the Dance (2015) und der Rauminstallation The Refusal of Time, die 2012 erstmals auf der documenta zu sehen war. Die 45 Meter breite Filmprojektion More Sweetly Play The Dance war nicht nur im Martin-Gropius-Bau, sondern auch an der Fassade des Hauses der Berliner Festspiele zu erleben. Im Festspielhaus gab es außerdem weitere Filminstallationen des Künstlers zu sehen, und er präsentierte seine transdisziplinäre Lecture „Drawing Lessons“ auf der großen Bühne. 2012 als Vorlesungsreihe in Harvard entstanden, sind sie Reflektionen der eigenen ästhetischen Praxis, die sowohl vom Leben im Studio, von Kentridges Wertschätzung der Schatten und der Missverständnisse als auch von Kolonialgeschichte und dem politischen Umfeld zwischen Apartheid

und Gegenwart erzählen. Das folgende Interview führte Christiane Peitz für Der Tagesspiegel.

Christiane Peitz: Mr. Kentridge, Sie sagen, Ihren Erfolg verdanken Sie Ihrem Scheitern. Wie meinen Sie das? William Kentridge: Wahrscheinlich kann man jede Biografie so erzählen. Man ist, wer man ist, weil man mit diesem oder jenem scheiterte. Ich bin gescheitert bei meinen Versuchen, in Öl zu malen, Schauspieler zu werden, Filmemacher zu werden. Eines Tages fand ich mich im Atelier wieder, jetzt mache ich alles, malen, spielen, filmen. Ich profitiere von Dada, davon, dass diese Anti-Kunst den Raum der Kunst in alle Richtungen geöffnet hat. Mit 15 wollte ich Dirigent werden. Dann erfuhr ich aber, dass man dafür Noten lesen muss, also wurde es nichts. Jetzt inszeniere ich Opern, das ist fast wie Dirigieren, ohne Noten lesen zu können. CP: Sie zeichnen vor der Kamera, machen ein Foto von der Zeichnung, ändern sie, machen wieder ein Foto: Wie kamen Sie zu dieser umständlichen Animationstechnik? WK: Ich machte normale Filme mit Schauspieler*innen, in einem davon gab es eine kurze animierte Kohlezeichnung. Ein Freund von mir meinte, warum machst du nicht einen vollständigen Film

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nur auf diese Weise? Ich erwiderte: Bist du verrückt, weißt du, wie lange das dauert? Oft sind es sechs oder acht Monate für einen Zehn-Minuten-Film.

Maschine, und sie dazu bringt, unzufrieden zu sein, zu protestieren und die Dinge verändern zu wollen. CP: Ihre Eltern arbeiteten als Anwälte. Sie verteidigten die Schwarzen, Opfer der Apartheid. Mit sechs entdeckten Sie auf dem Schreibtisch Ihres Vaters eine Schachtel mit Fotos von Leichen, Beweismaterial für einen Prozess. Ein Schlüsselmoment?

CP: Was geschieht auf diesen zahllosen Wegen zwischen Zeichnung und Kamera? WK: Ich gehe weg von der Zeichnung, drehe mich um, mache zwei Fotos, gehe wieder zurück und habe jedes Mal einen frischen Blick auf das Bild. Kunst ist vielleicht genau das: dass man die Dinge immer neu sieht. Das Gehen hat etwas Repetitives. Man beginnt zu zählen, die Zeit wird zur Entfernung, zur Maßeinheit. Es ist ein sehr produktiver Raum für neue Ideen.

WK: Höchstens im Rückblick. Ich dachte, es ist eine Schachtel Schokolade, aber da waren diese Bilder von Menschen, die erschossen worden waren. Erst als ich mich fragte, warum in meinem Animationsfilm Felix in Exile solche Bilder auftauchen, fiel die Schachtel mir wieder ein. Damals war es ein Moment der Beschämung. Nicht dass ich mich persönlich geschämt hätte, es war die Scham der Welt.

CP: In den Drawing Lessons erzählen Sie, wie Sie als Neunjähriger an Sommernachmittagen in Johannesburg die sich ständig verändernden Gewitterwolken beobachtet haben. Die vor dem Übermalen verwischte Kohle in Ihren Filmen erinnert daran.

CP: Würden Sie sich selber einen politischen Künstler nennen?

WK: Alle Kinder gucken gerne in die Wolken und schauen, welche Formen sie annehmen. Und wenn man erst mal einen alten Mann oder einen Hundekopf identifiziert hat, sieht man nur noch diese eine konkrete Gestalt. Wir können nicht anders: Wir wollen der Welt Sinn verleihen.

WK: Nur insofern, als ich ein polemisches Verhältnis zur Politik als Provisorium habe und mir ihrer Ungewissheit bewusst bin. Das Fehlen jeder politischen Botschaft in meinen Werken ist Ausdruck meiner Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit. Erfolg ist immer ein Desaster.

CP: Hat Ihre Technik des Übermalens auch einen politischen Aspekt? Die Wirklichkeit – die Apartheid in Südafrika – wurde übertüncht, aber sie hinterließ Spuren?

CP: Ihre Filmfiguren reden nie, es gibt Musik, Gesang, aber keinen Dialog. Misstrauen Sie der Sprache? WK: Nein, ich kann ganz gut reden, anfangs war Jura durchaus eine Option. Aber mein Vater – er ist 93 Jahre alt und bei guter Gesundheit – war ein derart guter Anwalt, dass es keine gute Idee

WK: Und es gibt ständig Bewegung, etwas, was die Gesellschaft wie eine Maschine im Inneren antreibt, wie eine

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„ERFOLG IST IMMER EIN DESASTER“

gewesen wäre, in seine Fußstapfen zu treten. Meine jüngere Tochter ist eine gute Anwältin geworden, die Begabung hat eine Generation übersprungen. Außerdem bin ich ein schlechter Dialogschreiber. Und vor allem gibt es nichts Komplizierteres, als Mundbewegungen zu animieren. Wiederholte Bewegung ist weit schwerer zu zeichnen als Transformation: Es ist leichter, ein Telefon in eine Katze zu verwandeln, als das Telefon umzudrehen.

dunklen Höhle dorthin führt. Und weil es nur zu unserem Besten ist, kann auch Gewalt angewendet werden. Nehmen wir Libyen: Amerikaner und Briten retten die Libyer vor dem dunklen Zeitalter Gaddafis, indem sie töten und die Infrastruktur in die Luft jagen. Und dann sind wir überrascht, wenn es nicht in der Demokratie endet, sondern in einer Katastrophe. Missionierung, erzwungenes Bewusstsein, all das lässt sich auf Platon zurückführen. Was die Zukunft Südafrikas nach der Apartheid betrifft, bin ich übrigens verhalten pessimistisch.

CP: Sie arbeiten mit Kohle, mit Scherenschnitten, fast immer schwarzweiß. Warum kaum Farbe?

CP: Sie ziehen alte Technologien den neuen vor, zeichnen Schreibmaschinen, alte Telefone …

WK: Eine Frage des Temperaments. Es gibt Künstler*innen, die denken in Farbe, für mich ist Farbe eher Dekor. Ich arbeite gern mit Farbe, die schon da ist, der Farbe auf Landkarten zum Beispiel. Aber wenn ich selber Farben auf einer Palette mische, kommt immer das Gleiche heraus und nie das, was ich möchte. In meinen Operninszenierungen gibt es fantastische Farben, aber die verdanke ich den Kostümbildner*innen.

WK: … aber ich benutze auch digitale Techniken, zum Ausstellungskatalog wird es eine App geben! Abgesehen davon ist es schöner, eine Schreibmaschine zu zeichnen als einen modernen Computer. Die Schwärze einer alten Schreibmaschine und die Schwärze des Kohlestifts, das passt gut zusammen. Sie hat eine klare Form, die in hunderten Varianten existiert: Ich könnte ein Jahr damit zubringen, Schreibmaschinen zu zeichnen. (Schaut auf sein Smartphone): Beim Smartphone ist die Reflexion auf der glänzenden dunklen Oberfläche künstlerisch vielleicht interessant, viel mehr aber auch nicht.

CP: Und warum schicken Sie einen in Ihren Installationen gern in dunkle Räume? WK: Es geht nicht anders, wegen der Filmprojektionen. CP: Nur praktische Gründe? Sie zitieren oft Platons Höhlengleichnis.

CP: Sie treten oft selber vor der Kamera auf, manchmal sogar doppelt, oder Sie zeichnen sich selbst. Warum so persönlich?

WK: Wir sind alle Kinder der Aufklärung, jedenfalls hier im Westen. Das Höhlengleichnis ist eine Art Gründungsmythos der Aufklärung. Wir müssen alle ins Licht kommen, es bedarf aber einer Autorität, die uns Gefangene aus der

WK: Ich bin kein Schriftsteller, der es vermag, sich in die Psyche anderer hineinzuversetzen. Es geht mir aber nicht

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darum, Ich zu sagen, ich bin nur der Ausgangspunkt, alles andere wäre zu beliebig. Könnte ich auch Kunst machen, wie eine 30-jährige Schwarze Südafrikanerin sie kreiert? Höchstens als Pastiche, als Collage.

unterscheidet, was die Autoritäten über sie behaupten. Über die Minderwertigkeit eines Teils der südafrikanischen Bevölkerung zum Beispiel: Es ist vollkommen irrational, dass dein Schicksal von deiner Hautfarbe abhängt. Oder die Behauptung, unsere siebenjährige Dürre wäre von Frauen verursacht worden, die Miniröcke tragen und damit die Götter erzürnen. Wie gesagt, absurd!

CP: Eine Frage der Ehrlichkeit? WK: Nein, es ist nichts Moralisches, nur die praktische Frage des Ausgangspunkts. Das Inauthentische interessiert mich ohnehin mehr, das Ich rückt schnell in den Hintergrund. Meinen Film Felix in Exile …

CP: Stimmt es, dass Sie auch deutsche Vorfahren haben? WK: Bei meiner Großmutter väterlicherseits gab es deutsche Juden aus Polen, die über Großbritannien nach Südafrika kamen. Komischerweise ist die deutsche Kultur sehr wichtig für mich geworden, ich verstehe selber nicht ganz, warum.

CP: … in dem Ihr gezeichnetes Alter Ego die Hauptrolle spielt … WK: … habe ich deshalb begonnen, weil ich es mochte, dass die Wörter im Titel fast ein Anagramm sind. Ich hatte nicht vor, etwas über die Entfremdung oder Einsamkeit einer Person zu machen. Mir gefiel einfach das Buchstabenspiel, der Anblick der beiden Wörter untereinander.

CP: Sie haben Hegel gelesen, kürzlich gab es in Berlin eine Ausstellung über Ihre Verbindungen zu Dürer. Als Junge hörten Sie mit Ihrem Vater Franz Schuberts Winterreise, mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore …

CP: Ihre Familie stammt aus Litauen, Kentridge kommt von Kantrovich. Sie wuchsen als Nachfahre jüdisch-osteuropäischer Migrant*innen in Südafrika auf, wie hat das Ihre Arbeit geprägt?

WK: … und ich habe den Faust mit der Handspring Puppet Company gemacht, später Georg Büchners Woyzeck inszeniert, Die Zauberflöte und kürzlich Alban Bergs Lulu. Die frühe Moderne, die das Soziale und das Menschliche im Blick behielt, ist mir näher als die Abstraktion und die Emanzipation der Farbe. Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Beckmann – George Grosz hat mich schon als Student interessiert. Aber ich müsste mich wohl einer Psychotherapie unterziehen, um herauszufinden, was mich damals Tausende Meilen von Deutschland entfernt an der Winterreise so faszinierte.

WK: Ich bin am Rand der Gesellschaft aufgewachsen, nicht im Zentrum, mit dem Bewusstsein, dass die Geschichte turbulent verläuft und dass wir mit vielen Traditionen verbunden sind, nicht nur mit einer. Deshalb misstraue ich allen großen Theorien, bin skeptisch gegenüber Autoritäten. Ich halte die Welt für provisorisch und für absurd. Diese Respektlosigkeit entsteht fast von selber, wenn man ständig bemerkt, wie sehr sich die tatsächlich erlebte Welt von dem

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CP: Ihre Mutter verließ dann den Raum.

den Spuren der Vergangenheit, auch beim Pergamon-Altar gucke ich sofort, was ist alter Marmor, was ist ergänzt. Der schwedische Zimmermann, der den Elefanten in der Ausstellung hier gebaut hat, wollte kein deutsches Eichenholz verwenden. Ich dachte, ist das schwedischer Chauvinismus? Nein, es hat praktische Gründe, deutsche Eiche ist voller Schrapnell-Splitter.

WK: Sie konnte es nicht ertragen. Sie war neun bei Kriegsbeginn, alles Deutsche war ihr verleidet. Es war die Generation, die sich nicht in der Lage sah, ein deutsches Auto zu kaufen, und erst in den Siebzigern wieder nach Deutschland reiste. In der jüdischen Community von Johannesburg war das weit verbreitet. Meine Mutter hätte nie eine Wagner-Oper besucht oder einen Liederabend.

CP: Heute noch? WK: Die großen alten Bäume sind mit Metallsplittern aus dem Zweiten Weltkrieg gespickt, sie beschädigen das Sägeblatt, wenn man das Holz bearbeitet. Die deutsche Geschichte ist lebendig, sie steckt in den Wunden der Bäume, die nicht heilen wollen. Fast wie die Wunde von Amfortas: Noch 300 Jahre lang wird der Krieg in den Bäumen stecken.

CP: Berlin haben Sie zum ersten Mal 1981 besucht, wie war das? WK: Wir sahen (auf Deutsch:) Die Macht des Schicksals, außerdem Brecht am Berliner Ensemble. Brecht war wichtig in Südafrika, sein Theater galt als Modell für politisches Theater mit radikalen Wurzeln. Das marxistische Gedankengut war uns vertraut. Ich sage gerne: Die beiden großen Rabbis des 19. Jahrhunderts waren Karl Marx und Sigmund Freud. Ihr Gedankengut hat mich geprägt, ohne dass ich ein Marxist oder ein Freudianer wäre.

CP: Im Martin-Gropius-Bau ist auch Ihre Rauminstallation The Refusal of Time zu sehen. Metronome, Uhren, das Zählen der Bilder bei Ihren Filmen: Was haben Sie im Lauf der Jahre über die Zeit herausgefunden? WK: Am Ende geht es um Schicksal, weil das Leben endlich ist. Auch darum, was wir gern ungeschehen machen würden, die Dinge, die wir lieber nicht gesagt, die Mails, die wir lieber nicht verschickt hätten. Alles mündet in einem schwarzen Loch, alle Bilder, alles Leben, die Zeit selbst wird verschlungen. Der Sarg, in dem wir enden, ist das Urbild dieses schwarzen Lochs. Bleibt etwas von der Seele? Damit befasst sich die Stringtheorie, aber auch die Wissenschaftler*innen sind Poet*innen, die den Gedanken nicht ertragen, dass nichts bleibt.

CP: Und wie haben Sie Berlin als Stadt wahrgenommen? WK: Der Zweite Weltkrieg war allgegenwärtig. Die Hälfte der Häuser war zerstört, die andere Hälfte voller Einschusslöcher. In Westberlin waren die Fassaden zwar repariert, aber man konnte es immer noch sehen. Das ist jetzt vollkommen anders. Ich wohne in einem Hotel unweit vom Checkpoint Charlie, der ehemalige Grenzübergang ist eine Disney World geworden, mit TrabiSafaris, verrückt. Ich suche immer nach

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(Auf Kentridges Smartphone ertönen Glockenschläge.) CP: Da ist sie, die Zeit. WK: Ich habe die Uhr gestellt. 45 Minuten Interview, wie vereinbart. CP: In den Drawing Lessons schreiben Sie „Torschlusspanik“, deutsch, in Versalien. WK: Ein tolles Wort, es gibt kein Äquivalent im Englischen. Die Panik der verpassten Gelegenheiten. Walter Benjamin sprach vom Engel der Geschichte, dem der Sturm entgegenweht, während er zurückblickt. Stellen Sie sich diesen Wind vor, wie er einem alle Türen vor der Nase zuschlägt, das ist Torschlusspanik. Ich weiß nicht, wie ich 50 Jahre ohne dieses Wort leben konnte.

William Kentridge ist bildender Künstler, Filmemacher und Regisseur. Das Gespräch mit der Journalistin Christiane Peitz „Erfolg ist immer ein Desaster“ ist zuerst am 10. Mai 2016 in Der Tagesspiegel erschienen.

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DIE AUSSTELLUNG ALS FILM OHNE KAMERA Emanuele Coccia und Philippe Parreno im Gespräch mit Thomas Oberender

Thomas Oberender: Philippe Parreno ist der Künstler der Ausstellung, die aktuell im Lichthof und im Erdgeschoss des Gropius Baus zu sehen ist. Und neben ihm sitzt Emanuele Coccia, Philosoph und Professor in Paris sowie Autor von Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. Als Philippe mit seinen Büchern auf mich zukam, war ich besonders von deinem Buch Das Gute in den Dingen. Werbung als moralischer Diskurs fasziniert. Es ist ein kleines Buch, das eine seltsame Perspektive auf den Kapitalismus wirft, speziell darauf, wie dieses System Moral schafft, indem es Werbung macht. Bevor wir über dein neues Buch und über die Arbeiten von Philippe sprechen, welche Idee steckt hinter Das Gute in den Dingen?

gegenständen zu sehen sind? Die Werbung ist nicht nur ein kommerzielles Unternehmen. Mein Gedanke war, dass sie etwas Moralisches und Ethisches mit sich bringt: Die Moral ist in den Dingen. Darum ist es so wichtig, die Idee aufzugeben, Objekte zu produzieren. Eine besondere Eigenschaft von Philippes Kunst ist, dass du von Anfang an gesagt hast: „Ich betrachte mich nicht als Objektproduzent.“ Für Philippe ist klar, dass die zentrale Geste der Kunst nicht darin besteht, Objekte zu produzieren, sondern das Objekt zu installieren. Die Ausstellung ist in gewisser Weise ein Medium. So auch die Ausstellung hier im Gropius Bau. Philippe Parreno: Diese Arbeitsweise war nicht nur formal begründet, sondern hat eigentlich bei der Tatsache begonnen, dass ich mit anderen Künstler*innen zusammenarbeite – wir arbeiten immer in Kooperationen –, und wir glauben, dass es mehr um das Projekt geht als um die Objekte. Es geht darum, zusammen Ideen zu projizieren, und da wir Künstler*innen sind oder zu sein versuchen, entwickelte sich aus diesem Projekt eine Reihe von Ausstellungen. Aber es war ein Projekt, das auf objektbasierter Entropie fußte. Das lag daran, dass wir entschieden hatten, jede der Ausstellungen einzigartig und singulär auftreten zu lassen, sodass jede auf einen so speziellen Kontext und Inhalt reagieren würde, dass man sie kein zweites Mal produzieren kann. Und sie waren Ergebnisse eines Gesprächs

Emanuele Coccia: Von Gegenständen über Pflanzen zu Menschen: Das Buch geht von dem Ort aus, an dem Werbung normalerweise erscheint, nämlich an Mauern, die wir sehen, und die eigentlich während der gesamten Geschichte – zumindest der europäischen Zivilisation – der Ort waren, an dem die Stadt ihrer eigenen Stimme Ausdruck verliehen hat. Formal geht es um ethische Systeme, um Götter und Geschichte, um die Pest und die Toten. Die Frage, die mich beim Schreiben begleitete, war: Was bedeutet es, dass auf denselben Flächen, auf die eine Stadt normalerweise ihre eigene Vorstellung von ethischen und moralischen Grundsätzen projiziert, jetzt in gewisser Weise nur noch Bilder von Gebrauchs-

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zwischen den Akteur*innen der Ausstellung. Innerhalb dieser Projekte gab es zwar auch einige Objekte, die jedoch unklar, undefiniert waren, also nicht wirklich als solche gekennzeichnet. Ich meine damit, dass sie in einer komplexen Beziehung zu anderen Objekten standen, sodass keine klar benennbare Grenze zwischen den einzelnen Objekten gezogen werden konnte. Es ging von Anfang an immer um die Beziehung zwischen Dingen und Menschen.

versammelt, hat man noch kein Spiel. Und ohne Spiel kann man auch vom Ball noch nicht als Objekt sprechen. Erst wenn man den Spieler*innen den Ball gibt und er zwischen ihnen hin- und herläuft, wird es ein Spiel. Der Ball bringt die Handlung als Produzent des Spiels voran – und indem er gespielt wird, wird er als Objekt definiert. Ein anspruchsvolleres Beispiel für Objekte und Rituale ist der Körper. EC: Die Art und Weise, wie du das Konzept des Quasi-Objekts verwendest, bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel, der äußerst interessant ist. Die Tatsache, dass es aktiviert werden muss. Das Beispiel des Fußballs zeigt genau das. Und es erinnert wiederum daran, was du vorhin sagtest: Dein Ansatz sei es, Projekte mit Menschen zu machen, nicht nur mit Objekten. Objekte, die in gewisser Weise ein Vorwand sind, um etwas viel Komplexeres zu schaffen, in das die Menschen ganzheitlich involviert sind.

TO: Philippe, du hast ein besonderes Verständnis von den Dingen entwickelt – und nennst sie Quasi-Objekte. Einerseits existieren sie physisch und wirken passiv, andererseits entwickeln sie ein Eigenleben, sobald sie Teil des menschlichen Verhaltens werden, das sie stark beeinflussen. Mit dieser Dimension beschäftigt sich auch dein Text The Speaking Stone. Das Quasi-Objekt, zum Beispiel dieser Stein, den wir in der Ausstellung zeigen, entwickelt eine Sprache, weil es eine Art Skript im Verhalten der Menschen aktiviert. Wie zeigt sich das in deiner Ausstellung?

PP: Die Zusammenarbeit mit all den Leuten war für mich sehr wichtig. Anfangs ging es darum, schneller zu sein. Wenn man Ideen austauscht, produziert man sie auch, während man spricht. Und dann hängt das Interesse auch mit den 1990er-Jahren zusammen: Gruppenausstellungen waren als Konzept für mich etwas Fantastisches, denn sie waren auf eine Art und Weise wie Filme, in der Künstler*innen mit anderen Künstler*innen und Objekten zusammen etwas aufführten. Ich erinnere mich, dass ich viel Zeit mit Pierre Joseph verbracht habe, der etwas sehr Interessantes feststellte: Wenn wir uns über eine Idee oder ein Projekt unterhielten, haben wir eigentlich in

PP: Das Quasi-Objekt ist ein Konzept, das ich von dem französischen Philosophen Michel Serres übernommen habe, der in seinem Buch Der Parasit eine Quasi-Objekt-Theorie entwickelt, in der es keine Objekte und Subjekte gibt, sondern ausschließlich kontextbezogen jemand zum Subjekt durch ein Verhalten bestimmt wird. Ich fand es nützlich als eine Form der Terminologie, um zu definieren, was ein Objekt ist und wann es unvollständig ist. Man kann also sagen, dass ein Objekt nur dann vollständig ist, wenn es benutzt oder aktiviert wird. Ein einfaches Beispiel ist der Fußball: Wenn man 22 Leute auf einem Platz ohne Ball

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dem Moment angefangen, wo ich mir vorstellen konnte, was er beschreibt und wie es weitergeht. Deshalb musste er es dann nicht mehr tun, denn wenn es existierte, ohne dass ich es sah, dann war es damit real. In diesem Fall sagte er im Laufe unseres Gesprächs, dass es existiert. Die Dinge schweben also mit unterschiedlicher Intensität um diese virtuelle Idee herum. Sie können sowohl auf der virtuellen Ebene existieren als auch in der Vorstellung oder in der Realität. Sie oszillieren zwischen diesen drei Instanzen.

zum Beispiel in deiner Arbeit mit einem Manga-Charakter wie Ann Lee, den du von einer japanischen Firma gekauft hast, unterschiedliche Künstler*innen dieselbe Person reaktivieren. Das ist wirklich eine perfekte Veranschaulichung der poetischen Aussage, dass das Kunstwerk ein Werk in Beziehung ist, weil es beispielsweise ohne diese Beziehung zu anderen Künstler*innen nicht existiert. Du sagtest auch, dass es für dich wichtig war, das Leben eines Bildes oder das Streben eines Bildes zu überprüfen. Das ist einer der auffälligsten Aspekte deiner Kunst: Du zeigst immer wieder, wie schwierig es ist, eine Grenze zwischen Leben, Zeichen, Lebewesen und Objekten zu ziehen. In gewisser Weise ist das Werk auch eine lebende Person, nur nicht in menschlicher Form: diese Idee, dass das Leben etwas Schwebendes ist, das verschiedene Stadien und Körper durchläuft. Wir reinkarnieren von Zeichen zu Zeichen, von Körper zu Körper. Und die Kunst muss diese Fähigkeit des Lebens zeigen. Und im Fall der aktuellen Ausstellung ist es die Tatsache, dass alles vorbestimmt wird, der Rhythmus, der Atem, die Lichter, alles wird von der Hefe in diesem zentralen Bioreaktor entschieden. Die Hefe ist in diesem Raum das Gehirn von allem – das aber auch von den Menschen, die vorbeikommen, beeinflusst wird.

TO: Wenn ich mich an dieses Buch von Michel Serres erinnere, ist der Parasit eine Metapher für eine Person, die nur eine Beziehung zu Beziehungen hat. Andere Personen haben eine Beziehung zu Dingen oder Objekten, aber auch zu Ideen oder Ideologien. Im Sinne von Serres verlieren immer die Menschen, die an Dinge glauben und eine Loyalität zur Sache an sich haben, wenn sie in einen Konflikt mit Menschen geraten, die sich völlig anders verhalten. Ein Parasit ist nur der Beziehung selbst treu. Ich denke, das ist auch eine Entwicklung in deiner Arbeit: Du arbeitest mit Objekten wie mit Schauspieler*innen und inszenierst sie in einem Beziehungsfeld. Und dieses Feld ist wichtiger als die Objekte selbst. Damit gibst du der Ausstellung eine eigene Existenz. Es geht um mehr als die bloße Anordnung von Objekten.

TO: Ich erkenne einen Zusammenhang zwischen euren Interessen: Ihr habt beide in eurer Arbeit den Versuch unternommen, ein Verständnis von animierten oder animierenden Objekten zu entwickeln, in denen sich das Leben in unterschiedlichen Körpern – technischen genauso wie pflanzlichen oder künstlerischen – realisiert und einen Systemzusammenhang herstellt, der wichtiger ist

EC: Das Quasi-Objekt ist durch seine Gleichzeitigkeit, Subjekt und Objekt zu sein, eine außergewöhnliche Veranschaulichung der extrem unterschiedlichen Stadien; es ist eine Art Produkt, aber zugleich eine Persönlichkeit. Aber diese Persönlichkeit sucht nach einer Aktivierung durch andere Menschen. Du lässt

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als das einzelne Objekt. Das ist wesentlich für euer Nachdenken über das Leben von Pflanzen und das Leben von Ausstellungen. Die vielen fliegenden Luftballon-Fische, die in Philippes Ausstellung einen Raum in ein Aquarium verwandeln und die Gäste dazu verführen, mit ihnen zu spielen oder zu tanzen und Tausende Fotos zu machen, sind dafür vielleicht ein schönes Symbol.

anderen. Und ich glaube, dass eine Ausstellung ein Raum sein sollte, in dem die Aufmerksamkeit nicht von einer Autorität vereinnahmt wird, sondern in dem man sich treiben lässt und beginnt, Dinge miteinander zu verbinden, ein Bild mit einem Klang. Man kann auf eine Reihe von Synchronizitäten stoßen, aber es gibt keinen klaren Anfang und kein klares Ende. Mal ist es ein White Cube und mal eine Black Box, die flackert und nicht als Theater definiert ist, sondern als Kino. Die Ausstellung oszilliert zwischen verschiedenen Formen der Existenz, der Architekturkanäle. Wenn man im Kino ist, gehen plötzlich die Lichter an, und man merkt, dass es einen Ton gibt, aber man fragt sich, wo er herkommt. Und warum tut man das? Man achtet vielleicht auf die Klimaanlage oder die Luftveränderung, und dann bewegen sich die Dinge um einen herum. Und in der Ausstellung achtet man vielleicht auf die Tatsache, dass, wenn die Sonne im Westen ankommt, die Fische anfangen abzutauchen – die Temperatur ändert sich und demnach die Form. Und all diese Verkettungen der Dinge schaffen eine seltsame Logik für eine spezifische Form des Wahnsinns. Ich interessiere mich immer mehr für die Idee des Deliriums.

EC: Interessant ist die Idee der Immersion als ein Vorgang des Eintauchens. In gewisser Weise ist der Fisch eine Lebensform, die auf diesen Zustand der Immersion ausgerichtet ist. Ein Eintauchen ist immer etwas, bei dem sich die Beziehung zwischen dem Ort und dem Inhalt ändert. Der Fisch ist in das Wasser eingetaucht, zugleich ist es das Wasser, was den Körper ausmacht. Was ich in jeder Ausstellung, die ich von Philippe besucht habe, sehr stark fand, ist diese Verpflichtung der Besucher*innen, selbst ein sehr aktiver Teil der Ausstellung zu werden. Nicht im partizipatorischen Sinne, dass man etwas tun muss, sondern auf andere Art und Weise. Ich hatte zum Beispiel gestern und heute den Eindruck, dass man nach ein paar Minuten, wenn man von einem Raum zum anderen geht, nicht mehr weiß, ob man etwas anderes ist als diese Fische. Man ist einfach etwas, das in dieser neuen Landschaft schwebt.

TO: Du hast in deinem Text Invisible boy über das Gefühl der Besessenheit oder des Deliriums geschrieben. Ich habe auch den Eindruck, wenn ich deinen Film The Crowd sehe, dass die Menschen, die er zeigt, im Bann von etwas stehen, das ich nicht sehen kann, das aber eine große Präsenz besitzt.

PP: Was mich mehr und mehr fasziniert, ist der Begriff der Aufmerksamkeit. In den 1970er-Jahren definierte Godard die schwebende Aufmerksamkeit, was bedeutet, dass der Moment, in dem man keine Ordnung in den Dingen erkennen kann, ein Traum und eine Erinnerung an den Traum gleichzeitig existieren. Die eine Sache steht nicht vor oder über der

PP: Ich habe The Crowd vor vier Jahren gedreht und drei oder vier Mal neu geschnitten. Die letzte Version ist so

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etwas wie eine Art Ankommen. Wir sprachen über das Kollektiv und die Beziehung eines Bildes zu einem Kollektiv. In diesem Fall ist es eine Art Theaterstück, aber mit 300 Schauspieler*innen. Sie hören gemeinsam zu, sie werden gemeinsam still, sie beginnen, gemeinsam zu träumen. Sie flüstern zusammen, sie beginnen, zu summen, zu singen und zu tanzen. Irgendwann erschaffen sie sogar eine Stadt, indem sie sich bewegen, und die Sonne kommt herein. Es ist eine Art Theaterstück. Ich interessiere mich für Theaterstücke, für Film und Kino, weil es alles öffentliche Räume sind, in denen etwas passieren kann. Ich mag den öffentlichen Raum, aber ich will keine Fiktion erzählen. Ich will die Wahrheit erzählen, und das ist schwierig.

eine Sommerausstellung. Im Sommer würde es in Berlin hell sein, im Sommer ist alles offen, die Leute gehen raus, die Parks sind voller Menschen. Also dachte ich, der Raum würde komplett mit Licht gefüllt sein. Das war die erste Entscheidung in einer Reihe verrückter Entscheidungen.

TO: In deinen Ausstellungen erzeugst du dieses Fließen von Situationen zwischen dem Geschriebenen und Ungeschriebenen, das dem Theater sehr ähnlich ist. Du schaffst szenische Settings und Bühnen – und bist ja offensichtlich auch fasziniert von der Arbeit visionärer Set-Designer wie Jacques Polieri. Deine Ausstellungen allerdings sind jede für sich einzigartig, da sie eben nicht transportabel wie ein Bühnenbild sind, sondern das Haus selbst als Akteur*in betrachten und in dein Stück integrieren. Für dich ist auch das Haus ein Quasi-Objekt. Deine Ausstellungen sind so gesehen Meta-Werke, etwas höchst Spezifisches.

EC: In einem Text, der in der französischen Zeitung Libération veröffentlicht wurde, hast du diese schöne Idee einer Ausstellung als Film ohne Kamera formuliert. Was in gewisser Weise dem entspricht, was du über die seltsame Beziehung zum Theater gesagt hast. Ein Film ohne Kamera, das Leben als solches, in einen anderen Zustand versetzt. In diesem Text erwähnst du auch, dass das Prinzip einer Ausstellung das ist, was jedes Mal stattfindet, wenn man sie zeigt. Wenn man als Kind Fußball spielt, kommentiert man das, was man tut. Auch wenn man Philippe folgt, gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen der Tatsache, der Person und den Kommentaren zu dem, was geschieht. Es gibt keine Hierarchien. Da das Physische immer Teil dieses Skripts ist, befindet man sich auf derselben Ebene. Die Hefe und die Marquise, beides kündigt einen Aspekt der Ausstellung an, aber sie sind zugleich schon Teil der Ausstellung innerhalb der Ausstellung. Das ist eine sehr präzise Definition dessen, was in einer Ausstellung passiert, die dem Theater oder dem Kino ähnlich ist.

PP: Genau, weil sie raumbezogen sind. Die Ausstellungen sind jeweils eine Lesart des Raums, dieses spezifischen Raums und dieser spezifischen Zeit. Als du nach einem Zeitraum gefragt hast, um die Ausstellung im Gropius Bau zu realisieren, war meine erste Assoziation

PP: Mir gefällt auch diese Idee des untätigen Objekts, die ich in deiner Philosophie finde. Wenn man beispielsweise eine Ausstellung produziert, verwendet man einen Raumplan, der den Grundriss zeigt und in dem man die Exponate vorab platziert. Wenn man diese Schicht

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ausblendet, auf der sich die Architektur befindet, entfernt man sozusagen den Körper, und man hat nur noch die Organe. Ich habe angefangen, damit zu spielen. Für mich sind zwei Filme dieser Ausstellung in gewisser Weise wie zwei Augen dieser Kreatur. Dann hat man die Kabel, die die Venen und das Blut darstellen, das Verdauungssystem in Form des Aufzugsystems zwischen den Stockwerken. Und so weiter. Es beginnt zwar mit dem Raum, aber der Raum produziert seine eigenen Objekte. Es ist, als ob ich als Überträger da bin und nur die Werkzeuge zur Verfügung stelle.

Perspektive spielt. Was man für flach hält, hat eine Tiefe und so weiter. Ich mag diese fantastische Idee des Raums, die mit dem Scripted Space verbunden ist. Ich denke an das Trompe-l’Œil als etwas, das Zeit und Raum ist – also eine raumbezogene Form. Damit begann ich, den Ausstellungsbesuch als eine einmalige Erfahrung aufzufassen, indem ich die räumlichen und zeitlichen Grenzen mit den sensorischen Erfahrungen der Besucher*innen verflocht. EC: In gewisser Weise ist es eine Verkomplizierung des barocken Modus des Trompe-l’Œil, des Scripted Space, weil es auch eine Scripted Time, ein Scripted Life ist. Interessant ist der Vergleich mit der barocken Architektur. Dass man zwei Elemente gleichzeitig einbezieht. Man baut keine Kathedrale oder einen Palast, sondern die Zeit ist mit einbezogen. Das ist vielleicht der Grund, warum eine Ausstellung irgendwann zu Ende gehen muss. Denn ja, einerseits ist sie ein Scripted Space, andererseits ist sie auch etwas ganz anderes. Die Frage ist: Was unterscheidet eine Ausstellung von einer barocken Kathedrale? Du beziehst die zeitliche Dimension mit ein. Diese Art der Einbeziehung beruht zusätzlich darauf, dass die Räume von uns beeinflusst werden, sodass wir Teil dieses besonderen Effekts sind; wir sind Teil dieser extrem seltsamen Kathedrale, die auf sich selbst basiert. Ich denke, dass du in Beziehung oder im Vergleich zum Barock noch etwas hinzufügst.

TO: Deine Objekte machen oft Dinge präsent, die abwesend sind. Die Marquise beispielsweise ist wie ein Performance-Werkzeug, das normalerweise benutzt wird, um eine Ankündigung zu machen. Aber in deiner Ausstellung geht es nur um das Ding selbst. Ausstellungen sind für dich, hast du einmal gesagt, Gespräche zwischen Objekten, die es vermeiden, Symbole zu sein. Sie haben ihre eigene Schönheit, sie verfügen über eine eigene Komposition – und sie beginnen eine Art von Konversation, in der sie nicht unsere Worte benutzen. Das ist für mich etwas, das sich sehr vom Theater unterscheidet. Aber es gibt ein Skript. Du hast erwähnt, dass Norman Klein derjenige war, der den für deine Ausstellungen sehr erhellenden Begriff des „Scripted Space“ entwickelt hat. Was genau bedeutet der Begriff für dich? PP: Ich habe ihn in dem Buch über die barocke Architektur gefunden, wo Klein schreibt, dass es im Barock einen Punkt gab, an dem man durch den Raum ging und das Durchgehen die Bedeutung der Position erzeugte. Die Dinge erscheinen und verschwinden, wenn man mit der

TO: Philippe, du verwendest oft Musik als ein abstraktes Kompositionsprinzip für die Organisation von Bewegungen in Räumen, manchmal auch in Verbindung mit Algorithmen. In deinen letzten

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Ausstellungen waren es Mikroorganismen, die einen wichtigen Einfluss auf das Skript hatten, um über die programmierten Veränderungen hin zu einer wirklichen Lebendigkeit des Ausstellungsorganismus zu gelangen.

das Prinzip des Lebens, nein, der lebendigen Körper. Es ist interessant, es ist in gewisser Weise eine Mise en abyme. Im Christentum nehmen wir immer an, dass wir nur in diesem menschlichen und persönlichen Körper leben. Die Idee der Auferstehung ist, dass wir in einer sehr wesentlichen Weise mit dem Leben verbunden sind, und wir vergessen, dass wir sogar aus wissenschaftlicher Sicht eine Reinkarnation von Kühen und Elefanten sind. Selbst der einfache Akt des Essens ist eine Form der Reinkarnation. Ich habe heute zum Beispiel Huhn gegessen. Ich nehme das Fleisch des Huhns zu mir, und das Huhn nimmt meine Form an, reinkarniert in meinem Körper. In gewisser Weise denke ich, dass Philippes Praxis sehr eng mit der Idee der Reinkarnation verbunden ist. Das Interessante an dem, was du zeigst, ist die Vorstellung, dass das Leben eine Art Transformation ist: das Leben der Hefe, die das Licht und die Klänge kontrolliert. Das Leben ist nicht nur auf atomare Weise in diesem Körper existent, es geht durch viele Körper hindurch.

PP: Es war genau diese Idee, dass die Mikroorganismen als Werkzeug funktionieren, um die Produktion periodischer Zyklen zu vermeiden. Ich wollte mit dem Zufall operieren. Dazu benutze ich die Hefe. Ich setze Samen, und die schicken dann ihr eigenes Verständnis davon zurück, sie bringen es ein bisschen durcheinander, und dann geht es wieder von vorn los. Das ist meine Art, mit der Zeit bestimmte Veränderungen zu erzeugen. Ich verwende seit drei Jahren dieselbe Hefepopulation. Sie imitiert ihre DNA, was wirklich faszinierend ist. Die Hefe war in der ganzen Welt zu sehen, in New York, dann in der Ausstellung in der Tate Modern und dann in Mexiko. Sie hat diese Welten und deren Kosmologien kennengelernt. Also hat sie begonnen, auf diese Welten zu reagieren, und indem sie reagiert und eine große Menge an Generationen produziert, beginnt sie zu mutieren. Sie ist gewissermaßen die Erinnerung an das, was in den letzten Jahren stattgefunden hat.

Emanuele Coccia ist Philosoph, Philippe Parreno ist Künstler und Filmemacher. Der Beitrag „Die Ausstellung als Film ohne Kamera“ basiert auf einem Gespräch mit Thomas Oberender, das im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung „Philippe Parreno“ im Gropius Bau 2018 geführt wurde.

TO: Sie verhält sich für einen Moment wie in Mexiko. PP: Ja, sie träumt von Mexiko. EC: Das ist interessant, denn bei der Hefe handelt es sich um ein lebendiges Skript, das alles steuert. In gewisser Weise ist es so, als wäre das Skript der genetische Code. Aber auch das Skript selbst hat sein Eigenleben, das nicht exakt das gleiche Leben der Ausstellung ist. Das ist

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„MUSEEN HABEN EINE FRIEDENSSTIFTENDE QUALITÄT“ Gereon Sievernich im Porträt von Gabriela Walde

Alles weiß und leer – die verwinkelten Gänge, die zu seinem Büro führen, wirken geisterhaft. Noch vor Kurzem hingen hier die Plakate verschiedener Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau. Am Sonntag wird Gereon Sievernich nach 17 Jahren als Direktor verabschiedet. Mit ihm gehen seine Plakate, sie kommen ins Plakatmuseum Dortmund. Für den 69-Jährigen ist das durchaus ein symbolischer Akt, seiner Nachfolgerin Stephanie Rosenthal hinterlässt er eine Carte blanche. Mit 45 Jahren wird die gebürtige Münchnerin, die zuletzt in London lebte, neue Bilder erfinden und für den MartinGropius-Bau vermutlich ein etwas anderes Profil entwickeln. Was wird er am meisten vermissen? „Die Möglichkeit, die Welt zu erkunden!“, sagt Gereon Sievernich. Von L.A. bis nach Peking führten ihn seine Dienstreisen. Er war selbst dabei auf einem Schiff in der Bucht von Abukir. An der Küste Ägyptens lagen einst zwei reiche Handelszentren: Heraklion und Kanopus. Dann verschluckte sie das Meer. „Was für ein verwunschener Ort“, erzählt er. Er sah, wie Taucher*innen die Antiken mit dem Kran aus dem Wasser holten. Getaucht ist er selbst nicht. Die Schau „Die versunkenen Schätze Ägyptens“ hält bis heute mit 450.000 Besucher*innen den Besucher*innenrekord. Als er Ai Weiwei in Peking besuchte, sah er, wie eingeschränkt der chinesische Künstler leben musste. Hunderte Überwachungskameras umkreisten sein Atelier, drinnen hingen überall Abhör-Wanzen. Es gab ein langes Ringen um Ai Weiweis Ausreise, so wurde die riesige Ausstellung im MartinGropius-Bau schnell zum Politikum. Angela Merkel versuchte, sich für den Künstler einzusetzen, Sievernich avancierte in diesen Wochen zu einem stillen Diplomaten. Ohnehin ist er der Stille unter den Berliner Museumschefs, Selbstinszenierungen liegen ihm einfach nicht. Ob er zufrieden sei, mit dem, was er geschafft hat? Ja, ja, ja, so sagt er das. Mit seiner Frau hätte er sich darauf geeinigt, dass sein derzeitiger Zustand bis zur Pensionierung mit „melancholisch“ zu bezeichnen sei. Seine Form von Humor. Er darf zufrieden sein, seiner Nachfolgerin überlässt er ein gut aufgestelltes Haus. Es gehört zu den größten, erfolgreichsten und international vernetzten Ausstellungshäusern in Deutschland. Für Tourist*innen ist es eine feste Adresse beim Berlin-Besuch. 60 Prozent der Besucher*innen kämen nicht aus Berlin, erzählt er uns. 190 Ausstellungen hat er seit 2001 ausgerichtet. Es läuft so gut, weil das Programm auf drei Säulen steht: Dazu gehört zeitgenössische Kunst, Fotografie und Archäologie. Ólafur Elíasson, Anish Kapoor, Rebecca Horn für die Kunstfans. Ein Drittel Fotografie: Henry Cartier-Bresson, Robert Capa, Barbara Klemm. Und dann die großen historischen Ausstellungen: die Kultur der Maya, die Wikinger und derzeit: „Juden, Christen, Muslime“, aktueller kann eine Ausstellung kaum sein. Wiederentdeckungen liegen dem 69-Jährigen besonders am Herzen, dazu gehörten etwa Meret Oppenheim und Wenzel Hablik. „Entdeckungen“, meint er, „sind notwendig, um den Blick des Zuschauer*innen immer wieder zu trainieren.“ Dabei

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„MUSEEN HABEN EINE FRIEDENSSTIFTENDE QUALITÄT“

spielt die Mischung von großen und kleinen Formaten eine wichtige Rolle. Für jeden Geschmack, für jedes Alter ist etwas dabei. Wenn die Planungen liefen, konnte er auf drei Etagen fünf bis sechs Ausstellungen pro Jahr zeigen. Sein Ziel ist es, einen „Sickereffekt“ zu erzielen, die Besucher*innen von einer gleich zur nächsten Ausstellung hinüberzuziehen. Ai Weiweis Schau etwa lief zusammen mit David Bowie und den „Wikingern“. Musik, Kunst-Politik, Clip-Ästhetik, alles dabei. So ein breit aufgestelltes Programm ist natürlich nicht jedes Jahr zu stemmen. Nun sind wir beim Geld – von Anfang an fehlte dem Ausstellungsmanager eine ausreichende Finanzierung. 3,1 Millionen erhält er seit 2016 jährlich als institutionelle Förderung, zumindest hat er mittlerweile einen festen Stellenplan für die Angestellten. Sein täglich Brot hieß die letzten Jahre: Geld einwerben, immerhin 70 Prozent des Jahresetats macht das aus. Das muss man erst einmal schaffen, und dann diese Angst, Kooperationen nicht einhalten zu können, weil die Finanzierung fehlt. Da hatte selbst der Chef manche schlaflose Nacht. Zumal im internationalen Museumsbetrieb drei bis vier Jahre Vorlauf normal sind, und US-Museen bekanntlich für Kooperationen stolze Preise aufrufen. So war es kürzlich im Fall des amerikanischen Meisterfotografen Irving Penn, dessen Retrospektive aus dem Metropolitan Museum in New York kommt. Umso wichtiger sei es, dass ein Haus wie der Martin-Gropius-Bau mit „universalistischer Vorgehensweise“ vom Bund ausreichend gefördert wird. Ein Ort, um „die Welt zu verstehen“. In einer Zeit, wo es im Bundestag eine Partei gibt, die das Fremde ablehnt, müsse man sich mit dem Fremden beschäftigen. „Ins Museum zu gehen, hat eine friedensstiftende Qualität. Weil man sich dort vergewissern kann, was unsere kulturellen Voraussetzungen sind, und zwar der Menschheit, und nicht der eines Landes oder einer Nation.“

Gereon Sievernich ist Kurator und war von 2001 bis Anfang 2018 Direktor des Martin-Gropius-Baus. Das Porträt der Journalistin Gabriela Walde „Museen haben eine friedensstiftende Qualität“ ist zuerst am 27. Januar 2018 in der Berliner Morgenpost erschienen.

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ZEHN JAHRE BERLINER FESTSPIELE EDITIONEN. GRENZGÄNGE ZWISCHEN KUNST UND LITERATUR Christina Tilmann

„Die Sprache existiert zwischen uns; man hat sie nie und man kann sie auch nicht verleihen und sie ist auch nie etwas, was man verpflichtend verstehen muss. Ich bin keine Pflanze, die eine*n Gärtner*in braucht, um zu blühen. Ich kaufe mir mein Wasser selbst bei Rewe und wenn ich Licht brauche, gehe ich spazieren.“ (Benny Claessens, Berliner Festspiele Edition 27) „Für einen Augenblick tritt man heraus aus den engen Grenzen des eigenen Ichs und lebt andere Leben, die man nicht kennt. Wenn Literatur keine Utopie ist, dann weiß ich nicht, was sonst.“ (Taiye Selasi, Berliner Festspiele Edition 25) Stellen wir uns eine Bühne vor, wenn alle gegangen sind. Ein Konzerthaus nach dem Applaus. Oder ein Museum des Nachts, wenn die Werke unter sich sind und einen Dialog beginnen können, ein Raunen, Wispern, Lachen, Rascheln, ohne Zeug*innen. Was bleibt, wenn der Vorhang fällt, der letzte Ton verklingt, die Ausstellung wieder abgebaut ist? Gute Frage für ein Haus, das den lebenden, flüchtigen Künsten gewidmet ist, die zwar in der Erinnerung nachwirken können, aber von denen materiell bestenfalls eine Videoaufzeichnung, ein Katalog oder Programmheft bleibt, in jedem Fall: ein Derivat. Um etwas zu schaffen, das bleibt, haben die Berliner Festspiele mit Beginn der Intendanz von Thomas Oberender 2012 die Publikationsreihe „Berliner Festspiele Editionen“ aufgelegt. Die Idee: originäre Beiträge aus Literatur und bildender Kunst, in assoziativer, aber nicht zufälliger Gegenüberstellung, einem losen und doch anregenden Zwiegespräch. Jenseits von Corporate Publishing, Selbstvermarktung und publizistischen oder politischen Indienstnahmen ist das eine Geste des absichtslosen Geschenks an das Publikum: hochwertige Bände, kostenlos verteilt in den Häusern der Berliner Festspiele, aber auch geistesverwandten Orten wie Literaturbuchhandlungen, Cafés und Galerien. In Zeiten, in denen Digitalisierung in Verlags- und Veranstaltungshäusern das Wort der Stunde ist, ist das ein entschiedenes Bekenntnis zu Druck, Papier und Gestaltungsschönheit. Dank der Gestaltung des Züricher Grafikers Christian Riis Ruggaber hat die Berliner Festspiele Edition eine ikonische Form gefunden und bis heute als Markenzeichen bewahrt: der Umschlag aus Graukarton, das Festspiel-Signet des roten Rahmens darauf, die schlichte Nummer, mehr nicht. Es sind schmale Hefte, selten umfangreicher als 40 Seiten, die bescheiden daherkommen, alles andere als Hochglanz, und in begrenzter Auflage. Über 30 Ausgaben werden es mit Ende der Intendanz Thomas Oberender sein. Es sind längst Sammlerstücke – die meisten Bände vergriffen, bestenfalls im Schuber erhältlich, die Ausgaben der letzten Jahre auf der Webseite www.berlinerfest-

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ZEHN JAHRE EDITIONEN DER BERLINER FESTSPIELE

spiele.de herunterzuladen. So ist das mit der Marktferne – in Internet-Portalen werden zum Teil hohe Summen für einzelne vergriffene Hefte gezahlt. Glücklich, wer früh gesammelt (und nicht weggeworfen) hat. Schönheit, Überraschung und Eigensinn sind Impulse, aus denen sich die Auswahl speist. Wiederentdeckungen sind dabei, bewusste Grenzgänge und Abseitigkeiten, Experimente und Wagnisse, prominente Namen und noch unbekannte, und immer wieder auch eine Hommage an Künstler*innen, denen sich die Berliner Festspiele in ihrer programmatischen Arbeit verbunden fühlen oder die sie als Vorbilder und Impulsgeber*innen schätzen. In den letzten Ausgaben geht es zunehmend um gesellschaftliche Debatten, die in den Diskursformaten der Berliner Festspiele geführt und in den Editionen erweitert und fortgesetzt werden, Fragen nach dem Begriff „Heimat“ und dem, was Migrant*innen damit verbinden, und ob es Parallelen zu den Nachwendeerfahrungen der Ostdeutschen gibt (Edition 28). Oder, im 30. Jahr der Deutschen Einheit, Gespräche zwischen Elske Rosenfeld, Jan Wenzel und Klaus Wolfram darüber, wie die Bürgerbewegung 1990 neue Öffentlichkeiten schuf (Edition 29). Doch im Mittelpunkt steht die Kunst, ohne Kommentar. Und weil die Berliner Festspiele das Haus sind, in dem sich die verschiedenen Künste begegnen, befruchten, in Dialog treten, fördern auch die Berliner Festspiele Editionen das Wechselspiel zwischen Wort und Bild, Bühne und Leinwand, Klang und Papier. Auffallend oft verlassen hier Künstler*innen ihr ursprüngliches Terrain, wagen Ausflüge und Aufbrüche in andere Genres. Die wunderbar spielerischen Wortcollagen der Nobelpreisträgerin Herta Müller – sie erschienen in der Edition 15, lange bevor sie in aller Munde waren. Oder der DDR-Künstler Strawalde, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag beging – wer hätte gedacht, dass er neben seinen Bildern und Tuschezeichnungen auch der hinterlistige, wortwitzige Lyriker ist, als den ihn die Edition 9 präsentiert. Bildende Künstler*innen zieht es immer wieder zum Wort, zur Notation, wie Jorinde Voigt, die grafische Partituren schafft (Edition 2), oder Brigitte Waldach, die in Flashfiction vom Theater inspirierte Erzählungen zeichnet (Edition 5). Die britische, zeitweilig in Berlin lebende Foto-Künstlerin Tacita Dean hat mit Event for a Stage ein Theaterstück entwickelt (Edition 16), und Biennale-Star Isa Genzken lässt in Skizzen für einen Spielfilm ihre Kindheit und Künstlerinnenwerdung Revue passieren (Edition 22). Und wer hätte gedacht, dass der Filmmagier David Lynch nebenbei Dokumentarfotograf ist, mit einem Faible für verfallene Industriearchitektur, die er in Berlin und Łódź fand: lost places, bevor der Ruinen-Hype in Berlin und Brandenburg begann (Edition 10). Oft sind die Editionen nachgerade Vermächtnisse geworden, so für den großen Dramatiker Tankred Dorst, dem kurz vor seinem Tod 2017 die Edition 20 gewidmet war, mit autobiografischen Texten und einem Blick auf die Bilder, die sein Leben und Schaffen bestimmt und die Wände seiner Wohnung bis zuletzt geziert haben (Die Bilder an meiner Wand). Hier zeigt sich ein Wortkünstler geprägt von bildender Kunst, wie auch der ebenfalls 2017 verstorbene Kunstkritiker und Essayist John Berger, dessen Oszillieren zwischen Wort und Bild, Lyrik und Reflektion die Edition 21 aufs Schönste beweist. Peter Kurzeck, der große orale Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur, hinterließ bei seinem Tod 2013 Fragmente eines Romans, die wir kurz zuvor in der Edition 6 veröffentlicht hatten und die mit ihrem Kreisen um den Bahnhof als Abfahrts- und

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FORMATE

Ankunftsort einen Bogen schlägt zur allerersten Edition, die der Schauspieler und Allround-Künstler Hanns Zischler 2012 bestückt hatte. Und noch ein Vermächtnis: Der 2013 verstorbene Theaterregisseur Dimiter Gotscheff hinterlässt bis heute eine große, schmerzliche Leerstelle im Gegenwartstheater – sein Bühnenbildner Mark Lammert hat ihn vor seinem Tod in fünf Sitzungen (Five Sessions) gezeichnet, mit feinem Bleistift, fast vor dem Verschwinden (Edition 11). Doch nicht immer sind es Andenken, oft auch Ausgrabungen: ein Programmheft des jungen Botho Strauß über Kleists Traum vom Prinzen Homburg (Edition 7). Oder ein Comic von Robert Crumb von 1986, in dem er die visionären spirituellen Erfahrungen des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick reflektiert (Die religiöse Erweckung des Philip K. Dick, Edition 30). Das passt zu dem Niederländer Marcel van Eeden, der in seinen fiktiven Comic-Strips lustvoll mit historischem Bildmaterial spielt (Edition 3). Und dann sind da noch die Ikonen der Popkultur, die wie Riesen in die Gegenwart hineinragen: David Bowie, den der Martin-Gropius-Bau 2014 mit einer multimedialen Retrospektive ehrte, die insbesondere auch seine Berliner Zeit 1976–1978 thematisierte. Die Fotografin Esther Friedman hatte dieses Westberlin der 1970er-Jahre dokumentiert, sie fotografierte Kinder in Kreuzberg im Schatten der Mauer und natürlich auch die Hauptstraße in Schöneberg, wo heute eine Gedenkplakette das Mietshaus ziert, in dem Bowie wohnte (Edition 12). Kleiner, nicht zufälliger Nebenweg: Die androgyne Tilda Swinton, die auf der Berlinale 2016 wie David Bowies Wiedergänger auftrat, schwärmt gleichermaßen für John Berger, dem sie für die Edition ein poetisches Vorwort widmete. Und noch ein dritter Strang darf nicht fehlen, wenn es um Kunst geht: der soziale Aspekt. Es mag als Luxus erscheinen, hochwertige Editionen zu verschenken, die von Kultur- und Steuergeld produziert werden. Doch wie lebens- und seelenwichtig Kunst ist in Zeiten, in den Wirtschaft, Gesundheit und soziale Rücksicht vorrangig erscheinen, und wie wenig sich das in Markt und wirtschaftlichen Nutzen rückübersetzen lässt, haben uns die vergangenen zwei Corona-Jahre dringlich gezeigt. Die Debatte, ob wir uns Kultur leisten können, dürfen – oder müssen – wir unter Sparzwängen sicher noch schärfer führen. Umso wichtiger zu dokumentieren, dass Kunst auch immer soziales Gewissen ist – mit eindrücklichen Fotografien, in denen der Künstler Jens Ullrich Geflüchtete in all ihrer Ortlosigkeit in das Umfeld einer deutschen Gründerzeit-Villa versetzt (Refugees in a State Apartment, Edition 19), oder in mitgeschnittenen Telefonaten Kölner Obdachloser, die der Künstler Phil Collins als Ausgangsmaterial für ein Musikprojekt verwendet (Edition 8). Obdachlosigkeit und Ortlosigkeit hat auch Mark Greif in Thoreau Trailer Park thematisiert (Edition 4), lange bevor die USA unter Donald Trump zum Schauplatz dramatischer sozialer Spannungen wurden. Immer wieder kann man diskutieren, ob das teilnehmende Beobachtung oder Instrumentalisierung ist. Aber solche Diskussionen sind nötig, und es ist immer ein gutes Zeichen, wenn um Kunst gestritten wird. Ab und zu muss dann doch ein institutioneller Rückblick stattfinden, nämlich dann, wenn etwas besonders schiefläuft. Leuchtturm-Institutionen wie die Berlinale oder die documenta haben erst sehr spät noch einmal den Blick auf die Gründungsväter geworfen und gemerkt, da war keine „Stunde Null“ nach 1945, sondern Verstrickung und Vertuschung. Da ist es nötig, dass auch die Berliner Festspiele ihre Frühzeit unter

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ZEHN JAHRE EDITIONEN DER BERLINER FESTSPIELE

die Lupe nehmen, wie es Angela Rosenberg mit Blick auf Gerhart von Westerman, den ersten Intendanten der Berliner Festwochen, getan hat (Edition 31). Und wenn das gegenwärtige Theater in einer Krise der Repräsentanz, der Zaghaftigkeit und des Realitätsverlustes steckt, braucht es Schauspieler wie Fabian Hinrichs und Benny Claessens und Theatermacher wie Milo Rau, die schmerzhaft Kritik üben (Edition 27). Wer schließlich die im Zuge der Eröffnung des Humboldt Forums in Berlins Mitte spät, aber umso schärfer geführte Kolonialismus-Debatte in Deutschland verfolgt, dem sei Taiye Selasis wütende Rede African Literature Doesn’t Exist empfohlen (Edition 25). Manches davon mag heute quer zum Zeitgeist stehen oder reif sein für eine Wiederentdeckung. Was kanonisch wird oder was vergessen, was zum Widerspruch reizt oder zum Nachdenken – ist nicht auch das nur Momentgefühl und Momentaufnahme? Die Editionen widmen sich, in jeder Ausgabe, den Stimmen der Kunst mit ihrem eigenen Recht. Die Berliner Festspiele haben nur den Rahmen darum gelegt.

Christina Tilmann ist Kulturjournalistin und leitete von 2011 bis 2016 die Redaktion und Dramaturgie der Berliner Festspiele.

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Digitalkultur



KULTUR DES DIGITALEN Thomas Oberender

In seinem Buch Kultur der Digitalität beschreibt Felix Stalder, wie Facebook kurz nach dem Erfolg von Conchita Wurst beim European Song Contest die Wahlmöglichkeiten der Geschlechtsidentität für seine Nutzer*innen von zwei auf 60 Optionen erhöhte. Für Felix Stalder ist nicht die scheinbare Immaterialität der Datensphäre, die Perfektion oder Virtualität ihrer Produkte das, was die Kultur des Digitalen prägt, sondern die enorme Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten. Diese Prozesse setzen bereits im 19. Jahrhundert ein, und seit den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts, so Stalder, haben sie sich enorm beschleunigt und dazu geführt, dass immer mehr Menschen sich an kulturellen Prozessen beteiligen. „Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsansprüchen umzugehen.“ (Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Suhrkamp Verlag 2016, S. 11) Viele dieser Prozesse sind in komplexe Technologien eingebettet und verbinden sich um das Jahr 2000 zu etwas, das sich in Stalders Worten als eine neue kulturelle Konstellation beschreiben lässt, eine neue Galaxis in Nachfolge jener Gutenbergs. Dieses Bild des „Digitalen“ ist insofern ungewöhnlich, als es nicht die etablierte Dichotomie zwischen alt und neu, analog und digital zur Grundlage nimmt, sondern, wie Stalder sagt, die neuen Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen. „Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (Ebd., S. 18) Es bilden sich neue ethische und kulturelle Konventionen, die, so stellt Stalder mit Referenz auf Florian Cramer fest, von Online-Communities und OpenSource-Szenen in den Mainstream wandern und dann auch in der ‚analogen‘ Medienproduktion sichtbar werden. Die Reflexion und der Mitvollzug dieser digitalen Kulturrevolution fand in den letzten zehn Jahren bei den Berliner Festspielen auf verschiedenste Weise statt. Nimmt man die Überlegungen von Felix Stalder zur Grundlage, so könnten die diversen Aktivitäten der Berliner Festspiele in diesem Feld vergleichsweise naiv wirken. Die Kultur des Digitalen war für uns oft verbunden mit Fragen der Künstlichen Intelligenz, der virtuellen Realität, der Herausbildung eines Überwachungskapitalismus. Zugleich starteten wir in der Reihe „Immersion“ mit einem Programmsegment, das sich mit den Auswirkungen des digitalen Zeitalters auf die analogen Künste beschäftigte. Die ästhetischen Auswirkungen, Erzählweisen, Raumkonzepte des Digitalen waren zu Beginn mit einem neuen Blick auf die nach wie vor überwiegend analoge Praxis der Theaterkünstler*innen und bildenden Künstler*innen der Gegenwart verbunden.

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DIGITALKULTUR

Und so verknüpft sich der Themenschwerpunkt Digitalität, wie er sich durch die Programmgeschichte der letzten zehn Festspieljahre zieht, aufs Engste mit den anderen Kapiteln des ersten Teils dieses Buches, denn Identitätspolitik, Nachhaltigkeit und Immersion sind allesamt Phänomene einer neuen Art, menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen miteinander zu verknüpfen. Diese neuen relationalen Muster kulturalisieren viele Fragen, die zuvor als rein politisch oder religiös betrachtet wurden, nun aber als identitätspolitische Debatte diskutiert werden, die sich mit den Begriffen der Heimat und der Gerechtigkeit verbindet. Jene Begriffe verknüpfen Identitätsfragen mit der Nachhaltigkeitsdebatte, die wiederum von einer Sichtweise bestimmt wird, die ganzheitlich ist und der Praxis der Extraktion, der Verdinglichung und des Konsums eine Kultur der Kreisläufe, der Einbettung und des Post-Anthropozäns gegenüberstellt. So kommt der Begriff „Immersion“ ins Spiel, der auf das Verschwinden des Trennenden bezogen ist. Der Spur des digitalen Kulturwandels durch die Festspielarbeit der letzten zehn Jahre zu folgen, heißt, die Arbeit der Berliner Festspiele auf mehreren Ebenen zu untersuchen: Da ist ganz simpel zunächst der infrastrukturelle Wandel der Berliner Festspiele selbst. Er betrifft die sich verändernde Hardware und Software, mit der wir arbeiten, ebenso wie die sich ändernde Personalstruktur. Neben neuen Rechnern, Apps, Servern und Datenschutzkonzepten bedeutete Digitalisierung auch neue Angebote im Bereich der Kund*inneninformation und des Marketings sowie ein Weiterdenken der kommunikativen Selbstpositionierung der Berliner Festspiele. 2012 haben die Berliner Festspiele ein Blog eingeführt, weil Blogs damals unverzichtbar schienen, und die Bespielung der sozialen Medien von Twitter über Facebook bis Instagram fest in der Kommunikationsstrategie und Personalstruktur verankert. Bestehende Diskussionen über aufzubauende Streaming-Strukturen erfuhren wie vielerorts durch die COVID-19-Pandemie eine massive Beschleunigung und mündeten in der dynamischen Errichtung der Plattform „Berliner Festspiele On Demand“ und des Services „Berliner Festspiele Digital“. Da in der Pandemie-Zeit der Druck, die eigenen Festivals nun hybrid oder rein digital zu realisieren, in allen Formaten der Berliner Festspiele gleichzeitig wirkte, wurden diverse Plattformen parallel entwickelt. Jedes Format erforderte eine eigene, auf der Struktur und Eigenart des Festivals oder Programms basierende digitale Infrastruktur mit eigenen Dienstleister*innen wie Programmierer*innen und Designer*innen. Zu den Fragen nach der Nachhaltigkeit dieser neuen Infrastrukturen zählen jene nach Serverstandorten oder Stromverbräuchen ebenso wie die, wie man Datenschutz gewährleisten und trotzdem das mit unzähligen Arbeitsstunden und Kreativität Entwickelte langfristig nutzbar halten kann. Die Corona-Zeit hat schließlich dazu geführt, dass die Berliner Festspiele ein völlig neues „Sendeschema“ entwickelt haben. Bereits zuvor wurden immer mehr unserer Aktivitäten nicht mehr in Büchern dokumentiert, sondern online in Blogs, Audiofiles, auf YouTube oder im eigenen Medienarchiv gespeichert, was innerbetrieblich natürlich immer größere Datenmassen hervorgebracht hat. Diese präsent zu machen, aber intern in der Speicherstruktur zu reduzieren, wurde ein handfestes Nachhaltigkeitsthema. In der Zeit der Pandemie ging es nicht mehr um die digitale Archivierung, sondern in kürzester Zeit darum, digitale künstlerische Angebote zu schaffen, die in reinen

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KULTUR DES DIGITALEN

Online-Festivals präsentiert wurden. So entstand eine neue Festivalpraxis, die plötzlich andere Aufführungsverträge erforderte, andere Rechte- und Honorar-Regelungen für eine neue Art von Mediatheken-Service, neue Werbekonzepte und Feedbackstrukturen, da Streamen allein nicht jener Zuwachs von Möglichkeiten ist, die sich mit der digitalen Kultur verbinden – erst die Freiheit, sich das Angebot zu anderen Zeiten anzuschauen, im Austausch mit anderen Gästen, aber auch im Feedback zu den Akteur*innen selbst, macht das Digitale attraktiv. Während die pandemische Weltlage interne Strukturveränderungen und neue Distributionswege vor allem in der jüngsten Vergangenheit einforderte, reicht die Auseinandersetzung mit der Kultur der Digitalität im Bereich der künstlerischen Produktion und im öffentlichen Diskurs schon weiter zurück: 2013 und 2014 haben die Berliner Festspiele den digitalen Wandel in der von Nikola Richter kuratierten Reihe „Netzkultur“ reflektiert, später innerhalb der Reihe „Immersion“ in Kongress-Formaten wie „Schule der Distanz“ und „INTO WORLDS. Das Handwerk der Entgrenzung“, die Diskurs und künstlerische Produktion verbunden haben, genauso wie dies in den festivalartigen Ausstellungsformaten „Limits of Knowing“, „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er-Jahren“ und „Down to Earth“ geschah. 2017 zeigte und diskutierte das Theatertreffen in seinem interdisziplinären Format „Shifting Perspectives“ den Film Democracy – Im Rausch der Daten von David Bernet zum Thema Postdemokratie – der Film führte vor, wie unsere persönlichen Daten eine begehrte Ressource im globalen Spiel um Macht und Geld geworden sind. Ein Akteur, der Kunst und Diskurs in seiner Reflexion des Digitalen konsequent zusammenführt, ist Arne Vogelgesang. Nachdem sein Film Quelle: YouTube bereits 2017 beim Stückemarkt gelaufen war, zeigten die Berliner Festspiele 2021 This Is Not a Game und Es ist zu spät. Für 2022 hat Arne Vogelgesang einen Stückauftrag erhalten – Arbeitstitel Fleisch – wie zuvor Mona el Gammal für ihre VR-Produktion RHIZOMAT oder Brigitte und Jonathan Meese für ihre VR-Arbeit Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit). Auf vielen Festivals und in Ausstellungen der letzten Jahre wurden VR-Arbeiten von Pierre Zandrowicz, Nonny de la Peña und Björk gezeigt, und seit 2016 mehr als 15 digitale Produktionen in der Reihe „The New Infinity“ für Planetarien produziert, darunter Werke von Agnieszka Polska, Metahaven, David OReilly, Emeka Ogboh, Robert Lippok, Lucas Gutierrez und vielen mehr. Für „The Sun Machine Is Coming Down“ im dafür wiedereröffneten Internationalen Congress Centrum Berlin (ICC) zeigen Monira Al Qadiri und Raed Yassin einen auf künstlicher Intelligenz basierten Dialog zwischen drei Roboterköpfen. Joulia Strauss richtet eine Ausstellung und Séance für den Medientheoretiker Friedrich Kittler ein. Markus Selg, ein Künstler des digitalen Zeitalters und archaischen Revivals, macht Vitrinen zu Fenstern in andere Welten. Auf digitaler Technologie beruhten auch die CGI-Charaktere aus Ed Atkins’ Filmen, die er für die Ausstellung „Old Food“ im Gropius Bau produziert hat, genauso wie seine 3D-Druck-Replika der Bauhaus-Wandlampen des Ausstellungshauses. Die Kultur der Digitalität aber, wie sie bei den Berliner Festspielen in den letzten zehn Jahren zu erleben und zu diskutieren war, ist im Eingangssinne jedoch nie an digitale Apparate und Infrastrukturen gebunden, sondern, wie Felix Stalder es nannte, an neue relationale Muster, die unser Leben durchziehen, teils technologiebasiert,

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DIGITALKULTUR

oft aber nur medieninduziert, also als eine sich verändernde Erzähl- und Erlebnishaltung, als eine andere Vorstellung von dem, was „Realität“ oder eine Figur ist, ein neues Verhältnis zwischen Werk und Publikum, Kunst und Aktivismus, Ressource und Verantwortung. Die eigentliche Veränderung im digitalen Zeitalter war bei den Berliner Festspielen wahrscheinlich noch immer analog zu erleben – in den Kompositionen von Georg Friedrich Haas oder Rebecca Saunders, im Nationaltheater Reinickendorf von Vinge/Müller oder in einem Marathonformat wie „The Long Now“, in Gastspielen wie Hideous (Wo)men und Orfeo von Susanne Kennedy oder den Narrative Spaces von Mona el Gammal, die zum ersten Mal beim Stückemarkt des Theatertreffens zu entdecken waren. Nachfolgende Texte und Gespräche sind eine Auslese aus dem Diskurs, der sich um diese Arbeiten und Formate der Berliner Festspiele in den letzten Jahren angelagert hat.

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UNSICHTBARE KRÄFTE: MASCHINEN, MENSCHEN, UTOPIEN Frank Schirrmacher

Wie kommt die Herrschaft ins Netz? Woher kommt plötzlich der Zentralismus? Wieso macht wenige Jahre, nachdem eine Welt der Transparenz und Partizipation möglich schien, ein politischer Begriff wieder Karriere, der weltgeschichtlich der Ausdruck von totaler, unüberbietbarer Kommunikationslosigkeit war: der Begriff des „Kalten Kriegs“? Den will Kanzlerin Merkel, wie wir wissen, unter Freunden nicht gelten lassen. Aber niemandem kann entgehen, dass die Bundesregierung mit Blick auf die eigene Bevölkerung genau das tut, was wir aus jener Epoche kennen: Sie schweigt. Nicht aus böser Absicht, sondern, viel schlimmer, weil für sie der Diskurs beendet ist, weil es keine Gesprächspartner für sie gibt, weder in Amerika noch in England, wahrscheinlich nicht einmal in den eigenen Apparaten. Es ist ein Schweigen, in dem der junge Edward Snowden wirken soll, als habe er die Aufmarschpläne der NATO in der Kuba-Krise verraten. Er hat aber verraten, dass die Zivilgesellschaft und das Handy der Kanzlerin, das wichtigstes Kommunikationsmittel ihrer Politik, abgehört werden. Die Frage, die das Schweigen der Regierung erklärt und jeden Einzelnen betrifft, lautet deshalb: Wie wird man eigentlich zum Feind oder – in der Sprache der Überwachungsmärkte – zum Risiko in dieser neuen Welt?

Total Information Awareness Program Jeder Schüler kennt den Brief, mit dem Albert Einstein den amerikanischen Präsidenten Roosevelt beschwor, die Atombombe zu bauen. Weniger bekannt ist ein Brief „besorgter amerikanischer Wissenschaftler“ an den amerikanischen Präsidenten George W. Bush, in dem diese auf künftige terroristische Bedrohungen hinweisen. Sie schreiben: „Wir drängen und beschwören Sie, unverzüglich zu reagieren und eine Art Cyber Warfare Defence Project zu bauen in der Art des Manhattan Projects. Wir meinen mit Manhattan Project ein Projekt in genau diesem Sinn. Nationale Priorität“ – also höchste Priorität im Budget –, „Inklusion der wichtigsten Wissenschaftler, ganz genauer Fokus, hohes Investment und ein Gefühl für die Dringlichkeit, mit der dieses nationale Projekt entwickelt werden muss.“ Dieser Brief stand in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Ereignis vom Oktober 2001. Damals – natürlich ist das erst später bekannt geworden – präsentierte Admiral John Pointdexter dem Chef der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), Anthony Tether, ein Dossier mit dem Titel „Ein ManhattanProjekt für die Terrorismusbekämpfung“. Es sollte – wie sich mittlerweile herumgesprochen hat – den Namen „Total Information Awareness Program“ (TIA) tragen. Es wurde der Kern dessen, was James Bamford heute „das größte Datenüberwachungssystem, das jemals gebaut worden war“ nennt, und es wurde – so Bamford weiter – „in die Hände eines Mannes gelegt, der fünfmal wegen Verbrechens der Lüge gegenüber

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DIGITALKULTUR

dem Kongress überführt worden war, der Vernichtung offizieller Dokumente, und der Behinderung von Untersuchungsverfahren des amerikanischen Kongresses“. Wiederum wenig später benutzten sowohl Condoleezza Rice als auch George W. Bush öffentlich den Begriff „Manhattan-Projekt“ für ein Datenüberwachungssystem der Vereinigten Staaten von Amerika.

Was hat die Atombombe mit dem Internet zu tun? Dieser Begriff, scheinbar jetzt out of the blue angewandt von der amerikanischen Politik, hatte eine Vorgeschichte noch vor dem 11. September 2001, von der Pointdexter natürlich wusste. Ende der 1990er-Jahre hatte die Wall Street die digitale Revolution und das damals noch fast vollständig unkommerzielle Internet entdeckt. Physiker fluteten die Büros der Investment-Banken, und als Goldman Sachs 1999 die Firma Hull Trading kaufte, die wörtlich auf „Marktüberwachung und Algotrading“ spezialisiert war, war die Zeitenwende erreicht. Damals konnte man in Wirtschaftszeitungen lesen, was diese bislang auf dem Börsenparkett total exotisch gebliebenen Nerds in Wahrheit planten: „Ein Manhattan-Projekt“, wie ein JP-Morgan-Chef sagte, „das uns ermöglicht, alle Informationen der Märkte zu sammeln und auszuwerten“. Jetzt, im 21. Jahrhundert, sollten die an der Börse gesammelten technologischen Erkenntnisse und die neu konstruierten Algorithmen für das politische Total Information Awareness Program genutzt werden. Admiral Pointdexter hatte eine weitere Idee, die bereits elementarer Bestandteil dieses Programms war, dann aber durch die New York Times an die Öffentlichkeit geriet und seinen Rücktritt zur Folge hatte. Er dachte den Zusammenhang zwischen Überwachungsmärkten und Überwachungstechnologie konsequent weiter und hatte vor, als einen Grundpfeiler des Systems „marktbasierte Techniken zu entwickeln, die Überraschungen verhindern und künftige Entwicklungen voraussehen würden“. Faktisch hieß das, es sollte eine Art Börse konstruiert werden, in der es möglich gewesen wäre, zum Beispiel auf Terroranschläge, auch auf potenzielle Terroristen, auf politische Stabilität oder Instabilität an dieser Börse zu wetten. Als die New York Times das herausfand, gab es einen uproar. Das ging dann auch den Senatoren zu weit. Allerdings war deren Argument dagegen damals, dass das ja bedeuten würde, dass Terroristen sehr reich würden, weil sie auf ihre eigenen Anschläge wetten würden. Das Projekt ist damals eingestellt worden, aber durch Snowden sehen wir, dass es auf andere Weise wieder implementiert wurde. Ich will hier keine Geschichtsaufarbeitung machen, mich interessiert der Begriff des Manhattan-Projekts: Wie ist er zu verstehen? Was hat die Atombombe mit dem Internet zu tun, was Los Alamos mit einem Kommunikationsmittel? Tatsächlich haben wir Europäer, wir Deutschen insbesondere, selten verstanden, was das Manhattan-Projekt aus amerikanischer Sicht gewesen ist. Es war vorrangig nicht Hiroshima und Nagasaki, das waren Bestandteile der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs. Das Manhattan-Projekt war in den Augen der amerikanischen strategischen Eliten vielmehr eine Waffe des Denkens. Die Atombombe war nach 1945 niemals zum Einsatz gelangt, aber sie hatte zu einer völlig neuen Art der ‚Kommunikation‘ zwischen zwei nicht miteinander kommunizierenden Weltmächten geführt. Sie ermöglichte ein System der Verhaltensvoraussage, eine Welt des first strike, in der es gilt, schneller zu sein

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UNSICHTBARE KRÄFTE: MASCHINEN, MENSCHEN, UTOPIEN

als der Gegner und ihn mit kompletter Vernichtung zu bedrohen, und zwar so schnell, dass am Schluss nur automatisierte Systeme in der Lage waren, diesen first strike auszuführen; später übernommen, fast identisch, in den Börsenalgorithmen der Wall Street. Außerdem: eine Welt der zentralistischen Befehlsinstanz. Eine Welt, die uns damals nicht so richtig bewusst war, weil wir nicht wussten, dass das Internet kommt, die ja auch mit nichts anderem beschäftigt war – allerdings eben nicht auf die gesamte Gesellschaft bezogen –, als permanent zu monitoren, permanent zu überwachen, permanent auf Radarschirmen oder in den Datenanalysefabriken des Pentagon das gegnerische Denken vorauszusagen und die Absichten dessen, der da auf der anderen Seite operierte, zu dekodieren. Ein Zitat eines amerikanischen Admirals aus dem Jahr 1983, lange vor Big Data, lautet: „Wenn wir wissen, wann die Wäschereien in russischen U-Boot-Häfen besonders intensiv arbeiten, dann wissen wir, wann U-Boote ein- und auslaufen“. Wenn man verstehen will, wie neutrale, aber ursprünglich emanzipativ und partizipativ gedachte digitale Technologien heute erkennbar zum Herrschaftsinstrument werden, muss man über dieses Denken reden. Wem das zu sonntagsredenhaft ist, kann die Frage in den Worten der NSA stellen. Man muss sich fragen, ob das, was die NSA „epistemologische Kriegsführung nennt“, also der Angriff, die Manipulation und die Implementierung von Weltbildern, im Begriff ist, zumindest partiell unsere Zivilgesellschaft anzugreifen. Wir diskutieren im Augenblick mit den Vokabeln des Rechts, der politischen Wissenschaft oder der Moral über die Transformation des Netzes zu etwas, das so nicht gewollt war. Doch keine dieser Semantiken scheint auch nur annähernd in der Lage zu sein, das Problem, mit dem wir es zu tun haben, in Handlungsoptionen zu übersetzen: Was tun? Was müsste geschehen? Was von der Politik fordern? Im Gegenteil – die Tatsache, dass sich von der Bundeskanzlerin bis zum Blogger alle einig sind, dass Souveränität kein anwendbarer Begriff mehr zu sein scheint, ist auf politisch-staatlicher Ebene genau das, was das Schweigen der Bundesregierung auf kommunikativer Ebene ist. Staatliche Souveränität, auch europäische Souveränität, die man jetzt beiseiteschiebt oder als nicht mehr möglich erachtet, ist, wenn sie aufgegeben wird, nach allem, was wir historisch wissen, sofort ein Angriff auf die Souveränität des Einzelnen.

Hayeks Traum In einer Welt, in der vom Papst über Rupert Murdoch bis zum Chaos Computer Club alle twittern, ist die Debatte darüber, ob das Netz böse ist oder nicht, ermüdend. Die Völker des Internets haben längst damit begonnen, den Organisations- und Reflexionsgrad ihrer Gesellschaften massiv zu verändern und die Technologien als Vehikel der Freiheit begriffen. Ich schlage vor, sich bei der Debatte von der Konzentration auf die USA und England zu lösen und zu erkennen, dass wir es mit einer viel größeren Herausforderung zu tun haben, die sich durch noch so gut gemeinte bilaterale No-SpyAbkommen oder Willensbekundungen nicht wird lösen lassen. Die Organisation von Überwachung – das hat Snowden nun noch einmal bewiesen – und die Organisation des kommerzialisierten Internets entsprechen in Wahrheit in allen Details mittlerweile der Organisation von Märkten.

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DIGITALKULTUR

Wenn man gesagt hat, die NSA sei der feuchte Traum der Stasi, so kann man ebenso gut sagen, dass die Entwicklung der digitalen Welt, so wie sie sich abzeichnet, der tiefste und innigste Traum Friedrich Hayeks zu werden scheint. Er ist das Ergebnis einer epistemologischen Kriegsführung, die heute schon dazu führt, dass Leute, die sich für links halten, manchmal ohne es überhaupt zu merken, Vorzeigeagenten des Neoliberalismus sind. Friedrich Hayeks Aufsatz The Use of Knowledge in Society gilt in der Forschung mittlerweile, wie Philip Mirowski schreibt, unbestritten als das Ur-Manifest der Cyborgrevolution. Ehe überhaupt ans Internet zu denken und der Computer noch im Babystatus war, porträtierte Hayek den Markt als einen gigantischen Informationsprozessor, der alle irgendwie relevanten Informationen sammelt und für die Preisfindung nutzt. Ich zitiere die wichtigste Passage von Hayek, die Pointdexter nachweislich kannte und sehr interessant fand: „Wenn wir alle relevanten Informationen besitzen und wenn wir von gegebenen Voraussetzungen ausgehen können und wenn wir zudem über das gesamte Wissen hinsichtlich der vorhandenen Mittel verfügen, so ist das verbleibende Problem ein rein logisches Problem, kein ökonomisches. Aber die Daten, von denen die wirtschaftliche Berechnung ausgeht, liegen ja niemals für die gesamte Gesellschaft einem einzigen Denker vor, der daraus Schlussfolgerungen ziehen könnte und können auch niemals vorliegen“. Das Verrückte ist, dass die Väter und Mütter des Netzes aus solchen Sätzen und durchaus zu Recht ableiteten: Da es dieses absolute Wissen niemals geben wird, schaffen wir doch ein dezentrales Wissen, das sich auf unendlich viele Individuen und Signale verteilt, und das in sich eine Wahrheit herauskristallisiert, die von niemandem mehr kontrolliert und beherrscht werden kann.

Eine Art Zentralparasit Herb Simon, der Nobelpreisträger, der Hayek in die Tradition der Cyborgs einordnete, sagte in den 1970er-Jahren mit Blick darauf – der Begriff Schwarmintelligenz war noch nicht erfunden, aber es ging in diese Richtung –, dass man den Computer nur verstehen könne, wenn man seinen wahren Erfinder kenne, und das sei nicht Allen Turing, sondern Adam Smith. Jetzt erkennen wir, dass im Zuge der exponentiell wachsenden Vernetzung Institutionen und Bürokratien aus dieser Idee der Väter des Netzes und auch mit Hayek im Rücken eine ganz andere Schlussfolgerung ziehen. Sie setzen sich als eine Art Zentralparasit auf die verteilte Kommunikation auf und korrigieren Hayek in diesem einen Punkt: Es ist doch möglich, von einer ganzen Gesellschaft Daten zu sammeln. Es ist zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich, jede Information zu sammeln und aus ihr das absolute Wissen über eine gesellschaftliche Steuerung abzuleiten. Das ist es, was Snowden offenbart hat. Das erklärt den ökonomischen Jargon der Schriften des NSA. Es erklärt auch, wieso Pointdexter auf die Idee verfiel, mit „FutureMAP“ einen Markt zu schaffen, der auf Verhaltensvoraussagen und politischen Voraussagen basierte. Ich glaube angesichts solcher Analogien, dass die Debatte fruchtbarer und politisch wirksamer wird, wenn wir uns von Orwell und seinen Bildern verabschieden und tatsächlich von einer neuen Leitökonomie des 21. Jahrhunderts reden, die in Wahrheit

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UNSICHTBARE KRÄFTE: MASCHINEN, MENSCHEN, UTOPIEN

offenbar eine Überwachungsökonomie ist. Das hilft uns, aus den normativen und politischen Narrativen in einen Bereich zu wechseln, der endlich Forderungen stellt, Forderungen, die nicht einem Wertewandel unterliegen. Wie das zu verstehen ist, will ich abschließend an dem Begriff der Privatsphäre erläutern.

Privatsphäre nach Snowden Was das bedeutet, wissen wir alle, oder glauben es zu wissen. Keine Minute vergeht, ohne dass nicht über sie diskutiert wird, juristisch, politisch, soziologisch, sie wird verteidigt oder wird verdammt. Sie ist aber in jedem Fall immer irgendetwas Softes, etwas, das viel damit zu tun hat, dass ich etwas verteidigen möchte, etwas, bei dem Interessen nur sehr abstrakt in den Vordergrund rücken und man sich sehr schwer tut, Argumentationen zu finden. Um zu verstehen, welche Machtasymmetrien jetzt entstanden sind, ist es besser, sich bei der Frage der Privatsphäre nach Snowden dem Vokabular der epistemologischen Kriegsführung der NSA und ihrer Verbündeten zu bedienen. Wenn es wirklich Überwachungsmärkte sind, die hier entstehen, in einem bisher völlig unbekannten Ausmaß, dann muss man schauen, wo dieser Begriff im Bereich des Marktes auftaucht. 1982 taucht der Begriff privacy in einem legendären und ersten Computerexperiment in völlig ungewohnter Umgebung auf. Der spätere Nobelpreisträger Vernon L. Smith hatte Computersimulationen von Märkten erschaffen, um die Zuverlässigkeit und Rationalität von robotergesteuerten Märkten zu beweisen. Mir geht es hier nicht um das Experiment, sondern um eine der wesentlichen Voraussetzungen für Smith, damit es überhaupt funktionierte. Diese wesentliche Voraussetzung bestand in dem, was Smith privacy nannte. Darunter verstand er die privacy der Geschäftspartner: Der Verkäufer hatte exklusiv die Information, was das Produkt kostete. Das konnte man ihm nicht durch Überwachung nehmen. Der Käufer hatte, und das kennen wir aus unserem Leben, exklusiv das Wissen darüber, welchen Preis er zu zahlen bereit war. Privacy, wenn man sie so betrachtet, zeigt, dass es hier um eine ganz banale Machtasymmetrie geht, die man auf alle Lebensverhältnisse übertragen kann: Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen? Ich will nicht immer, dass das jemand weiß. Das erzeugt tatsächlich eine Asymmetrie, vor allen Dingen, wenn es nicht nur um Geld geht, sondern um viele andere Dinge, zum Beispiel welchen Preis ist man bereit, moralisch zu zahlen, welchen Preis ist man bereit, ästhetisch zu bezahlen, welchen Preis ist man bereit, kommunikativ zu bezahlen, das alles sind Einpreisungen. Und wenn die herausgefunden werden, kommt derjenige, über den sie herausgefunden werden, nicht etwa nur in den Nachteil, er verliert jede Chance, das Spiel zu gewinnen. Womit wir es also in Wahrheit zu tun haben, ist das Entstehen eines neoliberalen Marktes in der Wirklichkeit der digitalen Welt, die durch Währungsumwandlung, durch Daten jede menschliche Information ökonomisiert, und zwar wirklich buchstäblich jede. Je stärker das im Zeitalter von Big Data wird, desto wichtiger ist es, die Symmetrie durch privacy wieder herzustellen. Für die neoliberale Ideologie dieser Art gilt, was Philip Mirowski großartig dargestellt hat: Das Wesen dieser Ideologie ist, Regeln aufzustellen, die für sie selbst nicht gelten. Die NSA weiß potenziell alles über uns, wir aber nichts über sie. Facebook weiß

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sehr viel über uns und liebt jedes Blinzeln von uns, aber ihre Security verjagt sogar FDP-Minister vom Campus. Die Auseinandersetzung der Zukunft sollte nicht mit Empörung im Sinne einer moralischen Empörung geführt werden, das wäre viel zu schwach. Wir haben es mit einem Verteilungsproblem zu tun, bei dem Daten so wichtig sind wie früher Lebensmittel oder Lohn, und genau so sollten wir diese Auseinandersetzung führen. Sie hat im 19. und im 20. Jahrhundert leider zu irrsinnigen Konflikten geführt. Wir können nur hoffen, dass es im 21. Jahrhundert anders sein wird. Ich sage nicht, dass die Überwachungsökonomie einen Karl Marx braucht, ein Ludwig Erhard im wohlverstandenen Sinne würde mir schon reichen. Wohlverstanden vor allem bezüglich seiner partizipativen Ideen, die ein tragkräftiges Modell sind, das zumindest sagt: „Wir wollen partizipieren an dem Wohlstandsgewinn.“ Und der Wohlstandsgewinn im Netz ist halt ein anderer: Er ist die totale Asymmetrie zwischen dem Einzelnen und den Konzernen, oder zwischen meinen Daten und dem, was daraus gemacht wird. Da ist Erhard ein ganz gutes Vehikel, und man müsste sich anschauen, ob man nicht aus den Verteilungsdebatten der damaligen Zeit Anregungen finden kann, um etwas zurückzufordern. Vielleicht gibt es auch andere, die dafür besser taugen, aber so ist das gemeint.

Frank Schirrmacher war Journalist, Essayist, Buchautor und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Unsichtbare Kräfte: Maschinen, Menschen, Utopien“ basiert auf einem Vortrag vom 30. November 2013 im Rahmen des Formats „Netzkultur“ im Haus der Berliner Festspiele.

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EXORZISMUS Susanne Kennedy

Am Anfang war: ER. Der Mensch als Maß aller Dinge, damit er über die Fische im Meer und die Vögel am Himmel, über das Vieh und alle wilden Tiere und über alle Kreaturen, die sich über den Boden bewegen, herrschen konnte. Er trennte sich vom Tanzen und Rezitieren des griechischen Chorus und sprach: „ICH“ – die Geburt des tragischen Helden. Von dort ging er hinaus in die Welt, um sie und all ihre Bewohner zu erobern. Er ernannte sich selbst zum „ICH“ und den Rest zum „Anderen“. Er erklärte sich zu einem vernünftigen und denkenden Wesen und erzählte auf der Bühne von seinen Abenteuern: Eroberung der Wilden und Schlachtung der Tiere. Der Monolog des Imperialisten über die condition humaine war ausgezeichnet: Er erzählte uns, wie er nach Gottes Bild erschaffen wurde: ER machte ihn zu einem Subjekt – einem tragischen Adam, der aus dem Paradies verjagt wurde, von Eva verführt. Unser Protagonist ruft, er weint, er fleht, er rührt das Publikum zu Tränen. Sie erkennen sich in ihm wieder! Der Beifall ist endlos. Die Kritiker knien vor ihm danieder. Aber jetzt! Mitten in seinem Auftritt verzerrt sich das Gesicht unseres Protagonisten, seine Worte werden zu dünnflüssigem Brei, unverständlich. Seine Bewegungen, die gerade noch stark und entschlossen waren, werden schwach und leblos. Man hört einen Schrei wie aus der Ferne, doch er stammt aus seiner eigenen Brust. Seine Augen rollen zurück in seinen Kopf, und da! Er explodiert in Tausende von Bruchstücken! Seine harte Leder-Körper-Rüstung pulverisiert, und er wird zu einem Körper ohne Organe! Das Publikum keucht vor Entsetzen. Es wird zum Zeugen dieses dionysischen Kastrationsprozesses gemacht. Geschlechtsorgane sprießen überall … Darmausgänge öffnen, entleeren und schließen sich wieder … innerhalb von Sekundenbruchteilen passt der gesamte Organismus sich an, ändert ständig Farbe und Konsistenz 1 Unser Protagonist wird zur Frau, wird zum Kind, wird zum Tier, Gemüse oder Mineral, wird zum Molekularteilchen. Und zu guter Letzt wird er gänzlich unwahrnehmbar. Sein Werden wird niemals enden und niemals fertig sein, das Stück geht weiter und weiter, Stunden werden zu Tagen, Wochen zu Jahren. Die Bühne scheint leer zu sein, aber am Rand gibt es Bewegung und Kichern. In den Flügeln rühren sich fremde Wesen, Menschen und Nichtmenschen, die sich langsam von links und rechts zur Bühnenmitte hinbewegen.

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Sie sprechen mit Stimmen und Gesichtern, die ihnen nicht gehören. Sie bewegen sich mit Körpern, die Tentakel, Fühler und Schwänze haben, sie krabbeln und schweben und werden manchmal per Fernbedienung bedient. Sie alle sprechen Sprachen, die wir noch lernen müssen. Die Stimmen auf der Bühne folgen einem uralten Rhythmus. Sie heulen und vibrieren und werden dann sehr still. Wir werden jetzt Zeugen eines Exorzismus. Es ist der Mensch, der hier ausgetrieben wird. Die Kreaturen legen unseren Protagonisten – oder was von ihm übrig ist bzw. was nicht von ihm übrig ist – ein letztes Mal auf den Autopsietisch, um seine Anatomie neu zu gestalten. Ihr Dialog klingt folgendermaßen: – Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. – Man muss sich dazu entschließen, ihn bloßzulegen, um ihm diese Mikrobe abzukratzen, die ihn zu Tode reizt: – Gott und mit Gott seine Organe. Unser Protagonist, der längst kein Protagonist mehr ist, antwortet voller Freude: – Dann binden Sie mich, wenn Sie wollen, aber es gibt nichts Sinnloseres als ein Organ! Die Kreaturen raunen: – Wenn wir ihm einen Körper ohne Organe gemacht haben, dann werden wir ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben. Dann werden wir ihm wieder beibringen, wie im Delirium Musetten verkehrt herum zu tanzen, und diese Kehrseite wird seine richtige Seite sein.2 Ein paar Psychologen, die sich noch im dunklen Auditorium befinden, rufen: „Hör auf, finde dich wieder!“ Aber ihre verzweifelten Schreie verhallen ungehört. Der Körper unseres Protagonisten hat sich in Tausende von Fragmenten aufgelöst. Es ist ein Prozess des Werdens, und Er ist zur Sie und dann zum Es geworden. Er oder sie oder es ist zum organlosen Körper geworden. Ein Körper, der Teil von allem anderen geworden ist, sei es Tier, Pflanze oder Roboter. Ja! Dies ist ein freudiges Ereignis. Er/sie/es braucht keine Stimme mehr, um uns zu erzählen, wie er seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Er/sie/es braucht auch kein Gesicht mehr, um seine tragischen Tränen zu weinen. Der Komplex hat sich in der heißen Luft des Theaters aufgelöst.

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Er/sie/es ist unwahrnehmbar geworden. Er/sie/es ist nicht mehr menschlich und von einem „Ich“ kann man nicht mehr sprechen. Es will noch die Worte „Sein oder Nichtsein“ sprechen, aber die Worte können nicht mehr gesagt werden. Die Natur hat ihren Lauf genommen, und das Publikum erkennt in seinem Delirium die dunkle Wahrheit: Es gibt keine Trennung! Der Körper auf der Bühne hat keine Grenzen, weil er immer schon Teil von etwas anderem ist. Und die Zuschauenden sind gezwungen, diese Transformation mit anzusehen. Verwirrung macht sich breit. Wo ist der Konflikt der Gefühle? Was ist dieses seltsame Happening auf der Bühne? Wo ist unser Hauptdarsteller? Wo ist unser Held? Immer mehr Menschen verlassen das Theater. Inzwischen sind wir bei der Szene angekommen, in der unser vormaliger Protagonist sich mit den anderen Körpern, Wesen und Kräften auf und jenseits der Bühne verbindet und vermischt. Das ist pure Schizophrenie! Eine schreckliche Erkenntnis bricht an: Es gibt kein Subjekt auf oder hinter der Bühne! Unerträglich. Mit hochrotem Gesicht bricht es aus einem im Zuschauerraum heraus „Spielt doch mal jetze!“, gurgelt er verzweifelt. Andere fragen: „Wie ist dein Name? Was willst du? Was ist deine Sprache?“ Aber unser Protagonist kann nicht mehr antworten, und er verspürt auch kein Verlangen mehr zu antworten. Lichtstrahlen, Vögel und Nervenenden brechen aus seinem fragmentierten Körper hervor. Kein Gesicht. Kein Mund. Keine Zunge. Keine Leber. Keine Innereien. Und doch gibt es Geräusche. Ein Summen und Knurren. Kosmische Töne, die diese Überwindung des Menschen begleiten. Es ist eine ekstatische Feier. Die Worte sind zusammengebrochen, nicht in Unsinn, sondern in die Körper, die sie produzieren und hören. Eine neue Dimension des schizophrenen Körpers, ein Organismus ohne Teile, der ausschließlich durch Einblasung, Atmung, Verdampfung und Flüssigkeitsübertragung funktioniert. Dieser Körper heult, er spricht eine Sprache ohne Artikulation, die mehr mit dem Erzeugen eines Ur-Klangs zu tun hat als mit dem Kommunizieren konkreter Worte. Tiefe, prärationale, unbewusste Kräfte werden genutzt und transformiert, um etwas Wundervolles zu erschaffen.

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Unser fragmentierter Protagonist wächst und wächst – über die Grenzen des Theaters, der Straße, der Stadt, der Nation und des Universums hinaus. Unser Protagonist, der kein Protagonist mehr ist, nähert sich dem Unbekannten und Unvorhersehbaren – eine Mission voller Überraschungen. Er/sie/es bleibt sich selbst absolut treu während dieser Reise durch Zeit und Raum: ein immer sich veränderndes nomadisches Subjekt. Diesen Körper kann man nicht mehr länger als menschlich bezeichnen – er ist mineralisch geworden, er ist tierisch geworden. Er hat sich mit unzähligen anderen Körpern verbunden und transformiert sich bis ins Unendliche weiter. Das ist pures Theater. Die Grenzen und Beschränkungen, denen dieser Körper während seines Werdens begegnet, werden einfach einverleibt: Institutionen, Staatsgrenzen, Zonen, Alter, Geschlecht, Tod. Das ist das Spiel – das unendliche Spiel des Werdens. Niemand weiß, wann dieses Spiel anfing, es gibt weder Anfang noch Ende. Das unendliche Spiel ist weder zeitlich noch räumlich begrenzt, und die Regeln ändern sich ständig. Unser unendlicher Schauspieler muss sich immer wieder neu darauf einstellen. Diese Inszenierung hat keinen Regisseur, kein Skript, kein Endergebnis. Das Einzige, was es gibt, sind Nicht-Protagonisten. Die Nicht-Protagonisten verändern sich, während das Stück ewig weitergeht. Unser nicht-protagonistischer Körper ist zu einer Vielzahl geworden, und seine polyphonen Schreie hallen durch den kosmischen Raum. Währenddessen haben die Maschinen und Kreaturen auf der Bühne begonnen, sich sanft zu Strawinskys Le sacre du printemps zu bewegen. Wie Balletttänzer schwanken sie über die Bühne und streuen weißes Pulver aus gemahlenen Knochen, das als Dünger verwendet wird, auf die Bühne. Es gibt viele ritualisierte Gesten, zu denen wir keinen Schlüssel, keinen Zugang haben. Ihre Bewegungen stimmen mit der grundlegenden Dynamik von Kosmos und Natur überein. Die mechanischen Tänzer werden zu Gefäßen latenter Kräfte. Halluzination und Angst. Ein dionysischer Tanz aus animierten Hieroglyphen. Der Sound wird unerträglich. Ein Stöhnen, Raunen, Heulen und Gelächter, das die Sprache überwindet, um das Leben zu berühren – das nennen sie Realität. Langsam, mit großer Mühe können wir einige Worte erkennen … die Kreaturen flüstern dem Publikum zu:

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Findet euren organlosen Körper, findet heraus, wie man ihn macht, das ist eine Frage von Leben und Tod, von Jugend und Alter, von Traurigkeit und Fröhlichkeit. Und eben da spielt sich alles ab.3 Als alles vorbei ist, betritt eine Gruppe von Menschen in weißen Schutzanzügen die Bühne und räumt sie auf.

Susanne Kennedy ist Regisseurin. Der Beitrag „Exorzismus“ wurde in mündlicher Form bei der Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises 2019 an den Schauspieler Johannes Nussbaum gehalten und ist in schriftlicher Form zuerst in Theater heute im Juli 2019 erschienen.

1 William S. Burroughs: Naked Lunch, Olympia Press, 1959. 2 Nach Antonin Artaud: Schluss mit dem Gottesgericht, Radio-Hörspiel, 1947. 3 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankreich 1980.

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SYSTEM EVERYTHING Stephan Schwingeler

Am Anfang war ich ein Elefant. Mein erster Playthrough von David OReillys Computerspiel Everything begann für mich in der Haut eines Rüsseltiers. Kurz darauf schlüpfte ich in den Körper eines Käfers, verwandelte mich in eine Blütenpolle und wieder zurück. Ich steuerte Grasbüschel und wurde zur Palme, zur Insel, aber auch zum Billardtisch, zu einer Gitarre, zur Sonne und zur Galaxis, in der ich gleichzeitig alles war, alle anderen Dinge verkörperte, die in ihr enthalten sind. David OReillys Everything spielt zum einen mit diesem ständigen Perspektivwechsel, die Dinge und die Welt aus den Augen anderer Dinge zu betrachten. Zum anderen setzt das Spiel den Wechsel der Größenverhältnisse ein, sodass das zuvor verkörperte Objekt zum Maßstab des anderen wird. Es ist eine Reise vom Kleinen ins Große, vom Mikro- zum Makrokosmos und zurück, wie im berühmten Experimentalfilm Powers of 10 (1977) von Charles und Ray Eames. Der wesentliche Unterschied zum Film ist gewiss, dass Everything ein digitales Spiel ist, ein interaktives Werk, in dem keine Durchquerung der anderen gleicht und die Rezeption individuell erfolgt, je nachdem, welchen Pfad durch den Kosmos Everything der*die Spieler*in wählt. Dieser Pfad führt nicht linear von A nach B, sondern ist viel eher mit einem Netz, einem Wurzelgeflecht, einem Rhizom, vergleichbar. Der*Die Spieler*in bewegt sich durch dieses System aus Objekten und Regeln und navigiert dieses System damit selbst, indem er*sie Einfluss auf das System ausübt.

Spiele als System Spiele sind geregelte Systeme. Diese Systeme sind im Falle von Computerspielen als Software programmiert. Im Falle von Everything handelt es sich nicht nur um ein geregeltes System auf der spielerischen und algorithmischen Ebene, sondern es bildet auch ein System ab: Everything ist die Repräsentation eines fantastischen, fiktionalen Ökosystems, in dem ganz im Sinne der Philosophie Alan Watts’ Alles in Allem zu Hause ist und Alles auf Alles Einfluss nimmt. Das Kleine findet seine Entsprechung im Großen, und das Große findet sich im Kleinen wieder, wobei das Eine ohne das Andere nicht zu denken ist und überhaupt erst gar nicht existieren kann. Im digitalen Spiel findet Everything sein perfektes Medium. Im Deutschen bezeichnet das Wort Spiel mindestens zwei Dinge, die im Englischen mit den Worten game und play bezeichnet werden. Mit game ist meistens ein bestimmtes Spiel gemeint, während play auch das Spielen als Aktivität bezeichnet. Das game folgt bestimmten Regeln, während das play eine freie Betätigung ist. Diese Pole des Spielerischen werden nach Roger Caillois auch als ludus und paidia bezeichnet.

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SYSTEM EVERYTHING

Das digitale Game Everything bildet ein System und ist in seiner Struktur algorithmisch geregelt. Innerhalb der Grenzen dieses Systems bewegen sich die Spieler*innen aber frei. Paidia, das freie Spiel innerhalb der Repräsentationen der Objekte und Umgebungen, das Mäandern zwischen Mikro- und Makrokosmos, das Flanieren von Avatar zu Avatar, steht im Zentrum der Welt, die von Everything aufgeworfen wird und dadurch entsteht. Die spielerische Handlung im Fokus der Version dieser Welt, die David OReilly für das neue Dispositiv von „The New Infinity“ entworfen hat, ist der Tanz. Der Tanz ist paidia par excellence, die raison d‘être des Tanzes ist die (spielerische) Bewegung durch den Raum.

Ambience Act: das sich selbst spielende Spiel Interessanterweise ist Everything auch ein Spiel, das ohne Spieler*innen auskommen kann. Das Computerspiel hat einen Modus, durch den es beginnt, sich selbst zu spielen – ohne Eingaben der äußeren Instanz der User*innen. Everything beginnt in diesem Falle ein Eigenleben als algorithmisches, simuliertes Ökosystem, in dem der*die Spieler*in zum*zur Betrachter*in wird wie bei der Rezeption lebendiger Kunstwerke des Künstlers Pierre Huyghe. Was im Falle des sich selbst spielenden Spiels medientheoretisch vonstatten geht, ist ein sogenannter Ambience Act. Es handelt sich dabei um das diegetische Weiterexistieren einer Spielwelt ohne Eingaben und Einfluss des*der Spieler*in. So ist zum Beispiel in vielen Spielen ein Wechsel der Tageszeiten programmiert, NPCs (non-player characters) gehen weiterhin ihren programmierten Handlungen nach etc. Ambience Acts halten die Diegese, also das fiktionale Universum, der Spielwelt aufrecht und sind demnach diegetische Maschinenhandlungen ohne Handlungen der Spielenden. Im übertragenen Sinne ist der*die Spieler*in bei einem Ambience Act im Pausenmodus. Der Apparat handelt aber weiter in einem Schwebezustand des ständigen Prozesses der Berechnung.

Countergaming Ab ca. 1995 beginnen Künstler*innen, mit dem Medium Computerspiel als Material umzugehen und/oder die von Games ausgehenden kulturellen Einflüsse aufzugreifen und mittels anderer Medien zu verarbeiten. Unter dem Etikett der Game Art ist seitdem ein reicher Fundus an künstlerischen Arbeiten entstanden. Der erste Zugang der Künstler*innen zum Material zu dieser Zeit war durch eine gewisse Antihaltung gegenüber Computerspielen geprägt: Häufig handelt es sich bei den ersten Zugängen zum neuen Material des Computerspiels um ein medienanalytisches Sezieren der Software und ihrer Strukturen. Künstler*innen wie JODI oder Cory Arcangel haben Gegenentwürfe zu etablierten Formen kommerzieller Spiele entworfen und zielten dabei auf ein Bewusstmachen ihrer medialen Bedingtheit. JODI haben beispielsweise ein nahezu komplett weißes Spiel vorgelegt (Untitled Game: Arena, 1998–2001),

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und Arcangel hat ein Super-Mario-Spiel so modifiziert, dass nur noch der hellblaue Hintergrund mit seinen weißen Wolken zu sehen ist (Super Mario Clouds, 2009). Bei beiden Beispielen handelt es sich um paradoxe Artefakte, um unspielbare Spiele. Sie machen sich Strategien der Verfremdung zunutze – ganz im Brecht’schen Sinne. Alexander R. Galloway hat diese Strategien unter dem Stichwort Countergaming zusammengefasst. Er stellt folgende künstlerischen Strategien heraus: die Bewusstmachung des Apparativen, formal-ästhetische Experimente, die Herstellung von Inkohärenzen, Beschränkungen der Interaktivität und radikale und/oder nicht-spielkonforme Handlungen. Im Zusammenhang mit dem letzten Punkt der radikalen Handlung, der radical action, merkt Galloway im Jahr 2006 an, dass diese Form in Kunst mit Computerspielen kaum anzutreffen ist. Er beobachtet, dass insbesondere künstlerische Computerspielmodifikationen auf der visuellen Ebene als progressiv, auf der Ebene der Handlung aber als reaktionär zu charakterisieren sind, da die Künstler*innen sich paradoxerweise gegen das Spielen wenden und es damit nicht weiterentwickeln. Erst wenn die Künstler*innen echte Alternativen zu den Handlungen in Computerspielen entwickeln – so Galloway –, sei das Projekt Countergaming erfüllt und von einer echten Avantgarde zu sprechen. Als Weg zu einer radical action der Computerspiel-Avantgarde nennt Galloway programmatisch die Herstellung „purer Freude“ im Spielvollzug („pure joy“). Durch die Konzentration auf Freude können sich Spielhandlungen etablieren, die Galloway unter dem Schlagwort der radical action zuvor eingefordert hat. Genau dies löst David OReilly ein. Er wendet sich nicht gegen die Spiele, sondern entwickelt innerhalb des Systems neue alternative Spielformen im positiven Sinne. Im Gegensatz also zum aggressiven, zerstörerischen Impetus der Dekonstruktion baut OReilly etwas auf: Er erschafft einen eigenen Kosmos, ein eigenes System – eine Welt für sich – mit ihren eigenen Regeln. Dementsprechend kann OReilly als Vertreter einer neuen Game-Avantgarde gelten, der zum Verbündeten des Mediums wird und sich nicht (mehr) an seinen Strukturen abarbeitet, sondern aktiv neue Strukturen schafft.

Stephan Schwingeler ist Professor für Medienwissenschaft an der HAWK Hochschule für angewandte Kunst Hildesheim. Der Beitrag „System Everything“ ist zuerst im Programmheft von „The New Infinity“ im September 2018 erschienen.

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THE ART OF REALTIME David OReilly

Als ich von der Animation ausgehend angefangen habe, Videospiele zu entwickeln, ist mir bewusst geworden, dass dieses neue Medium nach völlig anderen Regeln funktioniert. In Videospielen geht es um Echtzeit-Interaktion, um interaktive Simulationen oder wie auch immer Sie es nennen möchten. Das ist ein grundsätzlich anderes Paradigma. In der Kunstwelt ist das noch nicht angekommen, aber das Videospiel ist wirklich die faszinierendste der gegenwärtigen Kunstformen. Die Grundlage dieser Kunstform sind Systeme, ist Mathematik. Der übliche Anwendungsbereich der Softwares, mit denen man Spiele macht, ist, Systeme zu nutzen, die Objekte beschreiben, und ich habe begonnen, das umzudrehen und mich für das Beschreiben der Systeme der Natur durch ihre Objekte zu interessieren. Die Systeme der Natur sind immer da, aber sie sind für uns üblicherweise unsichtbar, weil sie uns so nah sind. Wir organisieren die Welt durch Sprache. Das ist ein Prozess, in dem wir vor allem Dinge voneinander unterscheiden, in dem wir die Realität in kleine Scheiben schneiden. Je schlauer Sie sind, je mehr verschiedene Worte Sie gebrauchen, desto weniger sehen Sie von den Übereinstimmungen unterhalb des sichtbaren Lebens, von den Verbindungen unterhalb der Dinge. Wenn ich einen Baum nur darstellen möchte, kann ich ihn einfach malen. Wenn ich ihn aber im Sinne eines Systems beschreiben möchte, würde ich anfangs die Form des Baums gestalten, aber ich wäre darüber hinaus in der Lage, eine Umgebung zu erschaffen, in der der Baum wächst und sich entwickelt und immer komplexer wird und Blätter bekommt und sich verändert und abstirbt und dann, weil er beleuchtet wird, würde ich auch die Sonne beschreiben, und auch die Sonne ist nicht statisch, sie ist in Bewegung, also beschreibe ich auch das System der Bewegungen der Sonne, und in diesem System ist auch wieder mein Baum Teil der Natur. Und all die anderen Organismen um ihn herum ermöglichen erst, dass dieser Baum genau an diesem Ort seinen Platz hat – er könnte gar nicht anderswo stehen. Dabei werden Pattern sichtbar, die in ihrer Grundstruktur die immer gleichen bleiben, auch wenn sie sich wandeln und Objekte durch sie hindurchziehen und sie wieder verlassen. In Videospielen kann man jederzeit mit dem Fokus zwischen dem Pattern und dem Objekt wechseln. Sie sind für mich ein Weg, die Systeme und Pattern unter den Dingen, die mich so interessieren, zu beschreiben. Zu beschreiben, wie die Dinge wachsen und sich miteinander arrangieren, wie sie miteinander in Konkurrenz treten und in welchen visuellen und sonstigen Relationen sie zueinander stehen. Die meisten Spiele sind um einen Konflikt herum gebaut, ebenso verhält es sich beim Kino oder in Dramen. Sichtbar wird der Konflikt in Gegensätzen. Immer geht es darum, diese Gegensätze in eine Balance zu bringen, sie aufzulösen. Wir können darauf allerdings auch mit einer Idee von Symmetrie schauen, und das deckt eine Menge auf. Konflikte gibt es in gewisser Weise auch dadurch, dass wir es in Videospielen mit Inter-

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aktivität zu tun haben. Sie ermöglichen uns, die sehr komplexen Algorithmen unterhalb des Lebens zu beschreiben. Was ich mache, ist nichts weiter, als den Systemen der Natur in sehr einfachen digitalen Repräsentationen eine Form zu geben.

David OReilly arbeitet als Künstler in den Bereichen Design, Animation und Videospiele. Der Beitrag „The Art of Realtime“ basiert auf einem Gespräch zwischen David OReilly und der Journalistin Birgit Rieger, das am 26. September 2018 im Rahmen von „The New Infinity“ geführt worden ist.

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Identitätspolitik



GEGENSTIMMEN. FÜNF FELDER DER IDENTITÄTSPOLITIK IN ZEHN JAHREN FESTSPIELPROGRAMM Thomas Oberender

Im Rückblick auf das Festspielprogramm zwischen 2012 und 2021 fallen „Langzeitthemen“ auf, die über die Jahre hinweg in zahlreichen Aufführungen, Ausstellungen und Diskursveranstaltungen eine Form von kontinuierlich geführter Auseinandersetzung prägen. Neben Themen wie Nachhaltigkeit, dem Verhältnis von Werk zu Format oder von Ost zu West dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ist auch die Identitätspolitik ein aufschlussreicher Filter, um die Wandlungen im Veranstaltungsprofil der letzten zehn Jahre besser zu verstehen. Die verschiedenen identitätspolitischen Konzepte und Praktiken verbindet nachfolgend die Annahme, dass Identitätspolitik stets mit einer Gewalterfahrung zu tun hat, deren Diagnose und Bearbeitung sowohl der Handlungsmotor für diverse Akteur*innen ist, genauso wie sie auch die damit verbundene Gemeinschaftsbildung prägt. Die Spätmoderne, so schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten, setzt in ihrer Hyperkultur, ihrem Postindustrialismus von Wissens- und Kulturökonomie, ihrem kuratierten Lebensstil, ihrer Geschlechtergleichberechtigung, ihren Märkten und Projekten und ihrer liberalen Politik stets eine „pazifistische Gesellschaft“ und eine extreme „psychische Selbstkontrolle“ der Individuen in ihrem Alltag voraus. (Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp Verlag 2019, S. 425). Konflikte sind für Reckwitz in der Spätmoderne Konflikte „um Sichtbarkeit und Wertzuschreibungen“ (Ebd., S. 430). Wenn die Kultur der Digitalität, wie sie Felix Stalder in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, vor allem vom Zuwachs an Wahlmöglichkeiten geprägt ist, das heißt von neuen Möglichkeiten zur Teilhabe, so muss diese Teilhabe stets auch erkämpft werden. Dies erfordert eine erhöhte Sichtbarkeit und eine Bedeutungs- oder Wertkonstruktion, die die eigenen Ansprüche legitimiert. Diese Dynamik erweist sich somit als eine der wesentlichen Triebkräfte und Mechanismen der spätmodernen Identitätspolitik. Ihr Kompass ist heute vor allem eine erhöhte Sensibilität für physische, psychische oder staatlich und institutionell ausgeübte Gewaltmomente. Dies beginnt für Reckwitz mit der Gewalt in der Ehe, der Gewalt zwischen Eltern und Kindern, diskriminierender verbaler Gewalt, Belästigung und Mobbing, schließt aber auch die Gewalt der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer Vielzahl von Minderheiten ein, die auch in einer liberalen Gesellschaft unterschiedlichste Formen der Marginalisierung und Abwertung erleben. Viele dieser Erfahrungen weisen tief in die Geschichte unserer Erziehungs-, Wirtschafts- und Kolonialsysteme zurück. Die aktuellen Erfahrungen von Gewalt zu bekämpfen, bedeutet daher zugleich, die verdrängte oder geleugnete Geschichte historischer Gewaltstrukturen sichtbar zu machen und zu problematisieren. So verbindet sich diese identitätspolitsche Auseinandersetzung eng mit dem für die Spätmoderne signifikanten Kampf um Sichtbarkeit,

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IDENTITÄTSPOLITIK

Differenz und Einzigartigkeit. Er wird zudem von sozialen Medien unter den Vorzeichen der Aufmerksamkeitsökonomie beschleunigt und intensiviert. Die für die klassische Moderne typische Zuversicht, in einer Welt des Fortschritts zu leben, hat sich nach Andreas Reckwitz genauso aufgelöst wie ihre Grundannahme, dass eine zivilisierte Gesellschaft auf einer Konstruktion von etwas Allgemeinem beruht, das ihr die sie stabilisierenden Grundsätze und Regeln stiftet. Was ist in einer Gesellschaft, deren Ideal das Besondere wurde, noch von verbindender und verbindlicher Wirkung? Der sozialen Logik des Allgemeinen, wie sie die klassische Moderne prägte, kommt in der Gesellschaft der Singularisierung für Andreas Reckwitz nur noch die Rolle einer ermöglichenden Infrastruktur zu. „Das Soziale“ bildet sich heute entweder in „heterogenen Kollaborationen“, etwa in Projekten und Netzwerken, oder in „Neogemeinschaften religiöser, ethnischer oder politischer Art“ aus.

„Say it loud, say it clear …!“ Projekte und Netzwerke prägten die Festspielarbeit der letzten zehn Jahre offensichtlich genauso wie die Diskurse und Aktionen von diversen „Neogemeinschaften“ – von der Mitwirkung in der Bewegung Die Vielen bis zur Auseinandersetzung mit Phänomenen wie den Kulturstöraktionen der Identitären und den Online-Gemeinschaften von QAnon. Ohne tiefer auf die Hintergründe, die vielfältige Praxis und die Fragestellungen der Formen und Foren von Identitätspolitiken einzugehen, sollen in diesem Kapitel vor allem die wiederkehrenden Themenfelder betrachtet werden, die sich grob in fünf Schwerpunkten beschreiben lassen. An erster Stelle fällt die Konstanz von Arbeiten und Formaten auf, die sich der Aufarbeitung des westlichen Kolonialismus widmen. Neben ihnen gab es kontinuierlich Veranstaltungsformen zu den Themen der Geschlechtergerechtigkeit und Genderpolitik, der Ost-West-Thematik, der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und Neofaschismus, zu anderen Zeitpolitiken und zum politischen Aktivismus im Bereich des Umweltschutzes, dessen Hauptziel die Nachhaltigkeit ist, deren Programmgeschichte in diesem Buch ein eigenes Themenkapitel gewidmet wird. Am Anfang der hier betrachteten Dekade stand die Auseinandersetzung mit dem Thema Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus in der Arbeit Exhibit B des südafrikanischen Künstlers Brett Bailey – einer theatralen Begegnung mit lebenden ‚Exponaten‘ im ehemaligen Wasserturm im Prenzlauer Berg 2012, die im Rahmen des neu gegründeten Festivals Foreign Affairs stattfand. Die Podiumsdiskussion „Calling Africa – Fiktion und Wirklichkeit“ widmete sich dem gleichnamigen Themenschwerpunkt im Programm des Jazzfestes Berlin von Bert Noglik 2013 und stellte die Frage: „Was bedeutet das ständig im Um- und Aufbruch befindliche Afrika für das globalisierte Europa, und sind uns die Menschen aus Afrika genauso willkommen wie ihre Musik?“ Intensiv geführt wurde im gleichen Jahr die Blackfacing-Debatte um die Aufführung von Sebastian Baumgartens Die heilige Johanna der Schlachthöfe beim Theatertreffen 2013. Das Thema Theater und Postkolonialismus wurde 2015 zum Festivalschwerpunkt des Theatertreffens mit Spezialveranstaltungen wie „Wer sind wir in der weißen Welt“ und dem Thementag „Say it loud, say it clear …!“, der einen Kampfruf der Flüchtlingsbewegung aufgriff, die bei ihrem Marsch nach Berlin Solidarität einforderte. Im

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GEGENSTIMMEN

gleichen Jahr reagierten die Berliner Festspiele auf die sogenannte Flüchtlingskrise und die krisenhaften Zustände vor den Meldestellen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin mit einer Open-Air-Ausstellung mit Fotocollagen des Berliner Künstlers Jens Ullrich unter dem Titel „Refugees in a State Department“, deren Arbeiten in der Edition 19 der Berliner Festspiele abgebildet wurden. Ebenfalls 2015 führte das Festival Foreign Affairs einen Workshop mit dem Kollektiv The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Lab of ii) durch, das sich zwischen Kunst und Aktivismus, Poesie und Politik bewegt und, wie es im Ankündigungstext hieß, berüchtigt ist für Aktionen wie Fahrrad-Demonstrationen während des Klimagipfels in Kopenhagen, das Rekrutieren einer Armee von Clowns im Rahmen einer Tour durch Großbritannien und das Veranstalten von Kursen in postkapitalistischer Kultur. Das Lab of ii, hieß es auf unserer Website, ist keine Institution und keine Gruppe, weder ein Netzwerk noch eine NGO, sondern ein loser Zusammenschluss von Freund*innen, die die Schönheit des gemeinsamen, kreativen Widerstands erkennen.

Die Kunst des Protests – Der Protest der Kunst 2016 präsentierten der Martin-Gropius-Bau und Foreign Affairs im Haus der Berliner Festspiele einen Künstler*innenschwerpunkt zum Werk von William Kentridge mit apartheidskritischen Arbeiten wie Ubu and the Truth Commission von der Handspring Puppet Company mit William Kentridge und Jane Taylor und More Sweetly Play The Dance von William Kentridge. Im gleichen Jahr zeigte das Festival auch die feministische Nachtausstellung Urban Mermaid von Nelisiwe Xaba. Für die Ausstellung „Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976–1989“ über dissidente Kunst in der DDR war das Jahr 1976 der Ausgangspunkt. Denn die damals erfolgte Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch die DDR-Staatsführung hat zu einer langfristig folgenreichen Politisierung von Künstler*innen und im Kulturbereich Arbeitenden geführt. In unterschiedlichen Sparten wurde in der Ausstellung des Martin-Gropius-Baus die Wechselwirkung zwischen „Geist“ (künstlerischer Freiheit) und „Macht“ (repressivem Regime) aufgespürt. In der westdeutschen Museumslandschaft ist Kunst mit DDR-Bezug – eine Kunst, die gänzlich quer zu Erfolgskriterien und Marktmaßstäben entstanden ist und eine singuläre kunsthistorische Situation spiegelt – bis heute kaum vertreten. 2017 zeigte der Martin-Gropius-Bau die Ausstellung der Fotografin Regina Schmeken unter dem Titel „Blutiger Boden. Die Tatorte der NSU“. Das Festival MaerzMusik – Festival für Zeitfragen widmete sich dem Thema „Decolonizing Time“. In ihm brachte der künstlerische Leiter Berno Odo Polzer das Phänomen Zeit in Zusammenhang mit verschiedenen Formen der Kolonialität, der Chrono-Politik der Moderne, den Gender-Problematiken in der zeitgenössischen Musik und ihren oftmals normativen Geschichtsverständnissen. Das Format „Shifting Perspectives“ des Theatertreffens widmete sich im selben Jahr unter dem Titel „Uncertain Identities“ dem Gespräch über Lebensformen, gesellschaftliche Zuschreibungen und Identitätspolitik. Im Rahmen der Konferenz „The Art of Democracy“ und des Stückemarkts 2017 zeigte Arne Vogelgesang seinen Video-Essay Quelle: YouTube. Er präsentiert darin Teile

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einer Gesichts-Geschichte rechter Internetpropaganda. In Vogelgesangs geführtem VR-Ausflug brachte er zudem einzelne Gäste auf virtuelle Tuchfühlung mit der Realität postpolitischen Vloggens. Der Werkstattversuch verstand sich als Anregung für zivilgesellschaftliche Diskussionen über Strategien der „Gegenrede“ und des „(Keine) Bühne Bietens“ für rechte Propaganda. Im gleichen Stückemarkt-Programm fand der Workshop „The failure of Eastern European intellectuals after the fall of the Berlin wall“ der Autorin Petra Hůlová statt. Nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, so ihre These, wurde das „rückständige“ Osteuropa zum Ziel der intellektuellen westeuropäischen Dominanz. Es solle nicht nur lernen, sich im Kapitalismus zurechtzufinden, sondern auch das „debile“ kommunistische Gedankengut loswerden. Dieser Workshop räsonierte unmittelbar mit der „Gegenbilder“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und den Beiträgen der Berliner Festspiele im dreißigsten Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Eine der intensivsten Debatten, die um das Festspielprogramm entbrannte, war mit dem Projekt DAU des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky verbunden. Dessen Herzstück sollte die Weltpremiere von 13 Kinofilmen werden, die aus über 700 Stunden 35-mm-Filmmaterial entstanden waren. In einer ukrainischen Filmstadt hatten ca. 400 Menschen für zweieinhalb Jahre in einer fiktionalen, der Sowjetunion zwischen 1938 und 1968 nachempfundenen geschlossenen Welt gelebt. Der Kameramann Jürgen Jürges hatte sie begleitet und wurde für diese Arbeit 2020 mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Im Zentrum von DAU stand die Biografie des einzigen sowjetischen Nobelpreisträgers, des Physikers und Erotomanen Lew Landau, gespielt von dem Dirigenten Teodor Currentzis. Teil der Berliner Uraufführungspläne war, die Berliner Mauer innerhalb eines kleinen Areals inmitten der Stadt über Nacht noch einmal aufzubauen und in ihrem Schatten für wenige Wochen eine ähnlich andersartige Zeit und Welt entstehen zu lassen, wie sie während des Kalten Kriegs bestanden hatte – nicht zuletzt in der Hoffnung, die Traumata dieser Epoche, die Berlin wie keine andere Stadt der Welt geprägt und zerrissen haben, durch eine kollektive Befreiung vom Symbol der Mauer zu bearbeiten. Dieses große Ost-West-Programm konnte in Berlin nicht realisiert werden, die Premiere fand wenig später in Paris statt. Für MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2018 verband Berno Odo Polzer das Thema der Zeitlichkeit mit dem der Migration. Unter anderem wurde ein neues Werk von George Aperghis mit dem Titel Migrants aufgeführt sowie Salims Salon des Komponisten Hannes Seidl, in dem vier Musiker*innen verschiedener Kulturen in einem artifiziellen Setting miteinander musizierten. Das Jazzfest Berlin setzte 2018 den Schwerpunkt Afrofuturismus und begann mit einem Eröffnungsvortrag des Kurators, Aktivisten und Autors Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der in einer Tour de Force die Black-Liberation-Rhetorik der 1960er-Jahre mit der jüngsten postkolonialen Identitätspolitik zusammenschloss und eindringlich daran erinnerte, dass Jazz eine Kunst des Protests ist, der die Weißen den sozialen Aspekt austreiben wollen. Das Theatertreffen setzte 2018 den Schwerpunkt „UNLEARNING PATRIARCHAT“ und wurde mit einer Keynote von Felwine Sarr eröffnet. In „Réouvrir les futurs / Reopening the future / Zukunft neu öffnen“ sprach der Schriftsteller, Ökonom und Philosoph über ein gerechtes Morgen, über Demokratie heute und die Frage, wie man die Gedanken dekolonisieren kann. Aufsehen erregte im Theatertreffen 2018 auch die Aufführung von Josef Bierbichlers Roman Mittelreich in der Inszenierung von

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Anta Helena Recke. Bereits im Theatertreffen 2017 war Mittelreich beim Theatertreffen gezeigt worden, allerdings in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler an den Münchner Kammerspielen. In der Tradition der Appropriation Art, die Ende der 1970er-Jahre normative Kategorien der Kunstwelt infrage stellte, hatte Anta Helena Recke diese Inszenierung, ebenfalls an den Münchner Kammerspielen, kopiert und dabei ein bedeutendes Detail verändert: Ihr Cast bestand ausschließlich aus Schauspieler*innen of Colour. Während auf der Bühne die bereits bei Bierbichler bzw. Mahler verhandelten Themen wie Privilegien, Ausgrenzung und Verdrängung neu und doppelt ins Schwingen gerieten, forderte die „Kopie“ eine Reflexion der eigenen Wahrnehmungsmuster sowie der Institution Theater und ihrer strukturellen Rassismen.

„Welchen Geschichtsnarrativen begegnen wir?“ Die Frage nach Provenienz und Restitution verband sich 2018 mit der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ im Gropius Bau. Die über 1500 Kunstwerke, die der zurückgezogen lebende Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt (1895–1956) von seinem Vater geerbt hatte, standen unter dem Verdacht, Raubkunst aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu sein. Nach dem Krieg konnte Hildebrand Gurlitt, ungeachtet seiner Dienste für das NS-Regime, weitgehend an seine Vorkriegskarriere als Museumsmann anknüpfen. Gurlitts Werdegang wurde in der Ausstellung eine Reihe exemplarischer Biografien seiner Zeitgenoss*innen gegenübergestellt. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Schicksalen der meist jüdischen Künstler*innen, Sammler*innen und Kunsthändler*innen, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. 2019 begann MaerzMusik – Festival für Zeitfragen mit Performances von Hassan Khan und Jace Clayton zur Eröffnung der Ausstellung „Julius Eastman: Let Sonorities Ring“ im SAVVY Contemporary und mit The Electric Harpsichord von Catherine Christer Hennix im silent green. Aufgeführt wurden drei Werke für vier Klaviere von Eastman und eine Performance nach Frantz Fanon von Uriel Barthélémi mit Texten von Hassan Khan. Das Projekt „Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV 1950s–1990s“ präsentierte im silent green Schätze aus über 40 Fernseharchiven, die die Geschichte der musikalischen Avantgarde der 1950er- bis 1990er-Jahre erzählen. Aktuelle Berichterstattung, Dokumentar- und Porträtfilme, Konzertmitschnitte, Talkshows und künstlerische Formate wie Fernseh-Opern aus Europa (darunter der ehemaligen DDR), den USA, Lateinamerika und Nordafrika zeichneten ein massenmedial verbreitetes Bild der westlichen Kunstmusik, von der Nachkriegszeit bis in die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Welchen Geschichtsnarrativen begegnen wir? Was ist die jeweilige Position ihrer Erzähler*innen? Welche Perspektiven ergeben sich aus zeitlicher Distanz, nicht zuletzt hinsichtlich aktueller Fragestellungen bezüglich Diversität, Ungleichheit der Geschlechter, Intersektionalität, Kolonialität und weißer Vorherrschaft? Wie verhält sich, fragten die Veranstalter*innen weiter in ihrem Programm, die Entwicklung der musikalischen Avantgarde zu den gesellschaftlichen Bruchlinien der jüngeren Geschichte, von Klassismus, Sexismus und Rassismus bis hin zu epistemischen und ästhetischen Ausgrenzungen?

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Beim Theatertreffen stellte Max Czollek 2019 in seiner Keynote Wessen Heimat? die Fragen: Mündete die Zusammenführung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1989/90 wirklich in ein „Deutschland“, das zur neuen Heimat für ein neues deutsches „Wir“ wurde? Wer ist mit diesem „Wir“ gemeint und wer nicht? Welches Potenzial liegt im Heimatbegriff, wie lässt er sich von rechten Ressentiments befreien, und welche neuen Allianzen wachsen aus gemeinsamen Erfahrungen? Zugleich sorgte das Theatertreffen für großes Aufsehen, als seine Leiterin Yvonne Büdenhölzer die Quote von mindestens 50 Prozent Frauen in den Regiepositionen der 10er Auswahl des Festivals, die eine Kritiker*innenjury vornimmt, einführte. Auf die Frage des Journalisten Peter Laudenbach nach ihren Motiven antwortete sie: „Zwischen 1964, dem ersten Jahrgang des Festivals, und 2019 stammten insgesamt nur 11,7 Prozent der zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen von Regisseurinnen. Nach einer aktuellen Untersuchung stammten in der Spielzeit 2014/2015 etwa 70 Prozent aller Inszenierungen an deutschen Theatern von Männern, und nur etwa 30 Prozent von Frauen. Das bildet sich auch in der Auswahl des diesjährigen Theatertreffens ab, mit zwei Inszenierungen von Regisseurinnen und einer Arbeit eines vorwiegend weiblichen Kollektivs. Das ist ein Missverhältnis, das wir nicht fortsetzen wollen.“ (Süddeutsche Zeitung, 1. Mai 2019) Die Entscheidung korrespondierte mit der Entwicklung des Programms des Jazzfestes Berlin 2018 unter seiner neuen Leiterin Nadin Deventer. In ihrem ersten Jahr als Festivalleiterin wurden die Leading Acts zu 100 Prozent mit Frauen besetzt. Auch das Ausstellungsprogramm von Stephanie Rosenthal – der neuen Direktorin des Gropius Baus, der fortan nicht mehr Martin-Gropius-Bau heißt – legt sein Augenmerk vor allem auf Positionen internationaler Künstler*innen und präsentierte seit 2018 keine Einzelausstellung eines weißen Mannes. Dieser Umstand trat jedoch hinter dem vielschichtigen Programm des Hauses zurück und wurde, anders als die feministische Programmpolitik von Nadin Deventer und die neuen Jurygrundsätze des Theatertreffens, kaum diskutiert. Der Diskussion zur ostdeutschen Theatergeschichte beim Theatertreffen ging im März 2019 eine symbolträchtige Initiative voraus. Die Programmreihe „Immersion“ hatte aus Anlass des 30. Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung den Begriff aus dem ästhetischen Raum ins gesellschaftliche Feld verschoben und sich mit der Revolution, die 1989 zur Öffnung der Grenze führte, beschäftigt. Das Verschwinden dieser Grenze und Ineinanderfließen von zwei Kulturen war sicher eine der intensivsten Erfahrungen von Immersion in der jüngeren Geschichte unseres Landes. Drei Tage wurde im Haus der Berliner Festspiele der Palast der Republik symbolisch neu errichtet: Als ein „Palast der Gegenerzählungen“ voller Diskurs, Performance, Musik und Film, der die Ereignisse der Wende- und Nachwendejahre neu betrachtet hat. Entstanden sind drei Tage fast ununterbrochenes Programm mit dem Ziel, unterschiedliche Perspektiven auf Empowerment zu vermitteln – von der Revolution von 1989 bis zu den Allianzen für ein neues Europa von heute, die die Aktivist*innen der Bürger*innenbewegung der Friedlichen Revolution mit den jungen Aktivist*innen von heute zusammengebracht haben. Den Palast der Republik auferstehen zu lassen, ohne ihn zu verklären, war das Anliegen des Eröffnungsabends, der mit einer Ideenrevue an die progressiven Impulse der neuen Verfassung erinnerte, wie sie 1989/90 am Zentralen

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Runden Tisch der DDR entwickelt wurde. In „parlamentarischen Ausschüssen“ wurde am Folgetag aktuellen politischen Konflikten nachgegangen, die in Verbindung zu den Ereignissen der Wendejahre stehen. Dem gegenübergestellt wurde ein Paraparlament, das jenseits der großen Bühne repräsentationaler Politik einen Raum für andere Formen der politischen Praxis öffnete. Der „Palast der Republik“ endete am dritten Tag mit Überlegungen zu einer Erneuerung des Gesellschaftsvertrags und schloss abends mit dem „Musikpalast“, einem Live-Mixtape, das gleichzeitig Laboratorium und Live-Seminar neuester Musik war. Zum 30. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer 2019 untersuchte im Gropius Bau die Gruppenausstellung „Durch Mauern gehen“ auf Teilung und Spaltung basierende Machtstrukturen und richtete den Blick auf die damit verknüpften Erfahrungen und Auswirkungen auf individueller und kollektiver Ebene. Mit „The Black Image Corporation“ zeigte Theaster Gates im Gropius Bau eine partizipative Fotoausstellung, die das weitreichende Erbe der Archive der Johnson Publishing Company erforschte – einem Verlag, der zur Gestaltung der ästhetischen und kulturellen Sprache afroamerikanischer Identität wesentlich beigetragen hat. 2020 versammelte die Gruppenausstellung „Masculinities: Liberation through Photography“ unter anderem Arbeiten von Laurie Anderson, Richard Avedon, Rotimi Fani-Kayode, Isaac Julien, Annette Messager sowie Wolfgang Tillmans und untersuchte, auf welche Weise Männlichkeit seit den 1960er-Jahren erlebt, performativ hergestellt und sozial konstruiert wird. In Es ist zu spät stellten Arne Vogelgesang und Marina Dessau im Theatertreffen 2021 die Wirksamkeit von Theater angesichts der Klimakatastrophe infrage. Parallel dazu zeigten die Berliner Festspiele auf ihrer neu geschaffenen Plattform Berliner Festspiele On Demand Vogelgesangs Videoessay This Is Not a Game, der verblüffende Verbindungen zwischen Alternate Reality Games, der LARPing-Szene und dem Mythos QAnon im Kontext US-amerikanischer Politik aufzeigt. Im Herbst 2021 präsentiert der Gropius Bau die erste umfassende Einzelausstellung Zanele Muholis in Deutschland. Muholi bezeichnet sich selbst als visuelle*r Aktivist*in und dokumentiert seit den frühen 2000erJahren das Leben der Schwarzen LGBTQIA+-Community Südafrikas in eindrücklichen, intimen Fotografien. Dieser abrissartige und unvollständige Parforceritt durch das identitätspolitische Themenfeld der Programme der Berliner Festspiele der letzten zehn Jahre müsste erweitert werden um die internen Abstimmungen und Umsetzungsprozesse zur Einführung von genderneutralen Toiletten, zu Gendersternchen, Pronomen in E-MailSignaturen, neuer Kund*innen-Ansprache, Workshopangebote zum Thema Diversität, die Gründung einer Diversitäts-AG, die Einrichtung einer Diversitäts-Beauftragtenstelle, interne Überlegungen um Themen wie Blackfacing, #MeToo, diskriminierungsfreie Bewerbungsverfahren, Workshops zu Barrierefreiheit und Coachingangebote für den befürchteten Fall von rechtsextremen oder identitären Störaktionen bei Festspielveranstaltungen. Es fehlt die ausführliche Auflistung unserer Allianzen mit gesellschaftspolitischen Initiativen wie Den Vielen, Black Lives Matter und anderen mehr. Dennoch macht diese skizzenhafte Übersicht identitätspolitischer Programmelemente eine Entwicklung in der Arbeit einer Kurator*innengeneration deutlich, die eher bei den Formaten ansetzt, um ihre thematischen Schwerpunkte in spezifische

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Veranstaltungsstrukturen zu übersetzen. Aufschlussreich ist dazu auch das Verzeichnis der Formate der letzten zehn Jahre in diesem Buch. Es bleibt darüber hinaus zu diskutieren, ob sich manche Genres eher für kuratorische Zugriffe eignen oder ihrer bedürfen als andere. Warum entstehen in Programmen um klassische Orchesterwerke weniger neue Formate, während aktuelle Musik oft schon in seiner Komposition mit dem Format des Konzerts als solchem experimentiert? Nachfolgend veröffentlichen wir Beiträge, die im Zusammenhang mit einigen der hier angeführten Veranstaltungen entstanden und für uns noch immer inspirierend sind. Sie stehen beispielhaft für eine Reflexion des Kampfes um Sichtbarkeit und Wertekonstruktionen im Sinne von Andreas Reckwitz, also für Versuche, die gewaltvollen Momente unserer Gesellschaftsstrukturen zu thematisieren und auf die Tendenz der Kulturalisierung von politischen und ökonomischen Konflikten zu reagieren, die somit zu identitätspolitischen Konflikten werden – zu Konflikten um die Herstellung des Gemeinsamen. „Allein wäre ich zu nichts gut“, schrieb Julian Beck in seinem Buch Das Theater leben (S. 29, original The Life of the Theatre, 1972). „Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht.“ Und genauso ist es mit Festspielen – auch ihre Angebote sind Übungen in Gemeinschaft.

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DECOLONIZING TIME Donna Haraway

Für mich besteht eine der Hauptbedeutungen von „Decolonizing Time“ darin, mehrere Zeitlichkeiten zu bewohnen, umhüllte und verworrene Zeiten, die ontologisch komplex sind – eine Art Langsam-Sein beim ontologischen Schlussfolgern, eine Verlangsamung der Kategorisierungsarbeit, um die Kontaktzonen des Denkens zu öffnen. Marilyn Strathern hat mich gelehrt, dass es wichtig ist, welche Gedanken die Gedanken denken, dass es wichtig ist, welche Kategorien die Kategorien kategorisieren. Eine Art Öffnung der gefährlichen Kontaktzonen von Denk- und Seinsweisen, die wirklich aus verschiedenen Arten von Lebens- und Sterbeerfahrungen stammen. Die Kontaktzonen, die daraus entstehen, dass wir Verantwortung füreinander und miteinander übernehmen, dass wir die Probleme der kolonialen Geschichte erben, dass wir die Probleme der Auslöschungen und Ausbeutungen erben, aber auch die Erfindungen von kostbaren Dingen – zum Beispiel darf vieles aus der Aufklärung nie wieder von unserem Planeten verschwinden –, dass wir das Kostbare und das Schreckliche erben und die Kategorien öffnen. Zuhören lernen. „Decolonizing Time“ beinhaltet die Kultivierung der Fähigkeit, still zu sein, zuzuhören und nicht selbstgewiss zu sein. Es geht darum zu verstehen, dass man die koloniale Zeit als Plantationozän („Plantagenzeitalter“) definieren könnte, als Zeit der Vereinfachung zum Zwecke der Wertschöpfung und der hierarchischen Verteilung von Werten, verbunden mit massiven Völkermorden an Menschen und anderen Lebewesen – jene Arten von massiven Vereinfachungen und Deportationen, die mit dem Verschwinden einhergehen. Ich denke, die Kolonialzeit geht mit beidem einher, mit dem Verschwinden vieler Arten von Lebewesen, die im Weg sind – Pflanzen, Tiere, Menschen, Mikroben, Landund Lebensformen –, aber auch mit der Förderung des Wachstums und der Vermehrung derjenigen Arten von Lebewesen, die für das erzwungene Leben notwendig sind, für die Wertschöpfung, wenn man so will. Die Kolonialzeit ist voll von beiden, den Verschwundenen und denen, die ich die „Geborenen“ nenne, den erzwungenen Reproduktionen des Plantationozäns und des Kapitalozäns. Und „Decolonizing Time“ bedeutet meiner Meinung nach, dass wir lernen müssen, in diesen Zeiten dringender Probleme mit dem Bewusstsein zu leben, dass dies nicht die ganze Zeit ist und auch nie die ganze Zeit war, auch nicht das ganze Jetzt –, dass wir nicht nur in einer Zeit der Herrschaft leben, sondern auch in Zeiten ungeheuren Gedeihens und Entstehens und der Fähigkeit, sich miteinander zu verbinden. Ich denke, „Decolonizing Time“ erfordert, dass wir uns unserer Spezies als reisender bewusst sind, sowohl freiwillig als auch gezwungenermaßen reisender. Wir gehören zu einer Spezies von Reisenden. In einer Zeit der Massenmigration – sowohl der freiwilligen als auch der erzwungenen, aber überwiegend der erzwungenen – bedeutet „Decolonizing Time“, sich auf die Zeitlichkeiten der Vertriebenen einzustellen, auf die Zeit in den Lagern, auf die Zeit,

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in der man versucht, ein Visum zu bekommen, auf die Zeit der Ausweisung; und sich auf das einzustellen, was die Menschen bereits mit- und füreinander tun. Es ist nicht der Versuch, eine neue Fantasie einer Avantgardepartei zu gründen, sondern der, eine spekulative Fantasie über die Art von systemischer Einheit zu entwickeln, die uns flexibel und anpassungsfähig macht. Ich bin zurzeit Teil der „Sanctuary“-Bewegungen, die sich mit der Einwanderung in die Vereinigten Staaten und nach Kalifornien beschäftigen. Wir bilden Fast-ResponseNetzwerke, bauen Netzwerke von Einwanderungsanwält*innen auf und verbünden uns sowohl mit den sichtbaren als auch mit den unsichtbaren Populationen von Einwander*innen. Wie mein Freund Chris Connery über das politische Handeln – und über „Decolonizing Time“ – sagt: „it really means showing up“. Es bedeutet aufzutauchen und wirklich da zu sein. Es gibt keine Formel dafür, keine Idee von einer einzigen Bewegung. Wir haben viele gute Ideen und viele gute politische Maßnahmen in diesen schwierigen Zeiten; es ist nicht so, dass es uns an gut durchdachten, artikulierten Programmen fehlt. Aber der eigentliche Schlüssel zur Politik liegt darin, da zu sein, einander in schwierigen Zeiten nicht allein zu lassen. Ich denke, das ist eine aktive Entkolonialisierung. Und dann gehört zur Entkolonialisierung natürlich auch, dass Leute wie ich verstehen, dass wir – ob wir wollen oder nicht – das Erbe des weißen Siedlerkolonialismus antreten, und dass dessen Praktiken nicht beendet sind, sondern immer noch weitergehen. Es geht darum zu lernen, sich mit den Eingeborenen und den indigenen Völkern zu verbünden, anstatt immer zu glauben, dass man die Führungsrolle übernehmen kann. Ich denke, die Entkolonialisierung erfordert eine Art radikalen Nicht-Wissens, eine Entleerung, ein wahres Nicht-Wissen, um gewissermaßen weniger dumm zu sein. All das scheint mir in ganz praktischer Hinsicht Teil von „Decolonizing Time“ zu sein.

Donna Haraway ist Biologin, Wissenschaftsphilosophin und Literaturwissenschaftlerin. Der Beitrag „Decolonizing Time“ basiert auf einem Gespräch mit dem Kurator und künstlerischen Leiter von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen Berno Odo Polzer, das im Rahmen von „Thinking Together – Decolonizing Time“ bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2017 stattfand.

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HEIMAT IST NICHT IMMER DIE ANTWORT. WAS HABEN MIGRANT*INNEN UND OSTDEUTSCHE GEMEINSAM? Naika Foroutan

Minderheiten wie Ostdeutsche oder Migrant*innen praktizieren häufig ein markantes Bekenntnis zu ihrer jeweiligen Gruppe. Das Normalitätsparadigma in diesem Land ist westdeutsch – und es gibt eine Konkurrenz um den zweiten Platz in diesem hierarchischen Paradigma. Ich glaube nicht, dass die Ostdeutschen immer Teil des deutschen Narrativs waren, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es in diesem überhaupt jemals einen Platz für sie gab oder gibt. Das deutsche Narrativ ist so dominant westdeutsch, dass die ostdeutschen Erzählungen eigentlich nie Eingang in das gefunden haben, was wir heute „deutsch“ nennen. Vergleichbares erfahren viele Migrant*innen der dritten Generation: Meine Eltern sind beispielsweise vor 50 Jahren eingewandert, und ich bin vor über 40 Jahren hier geboren – ich empfinde mich als Deutsche. Diese Erzählung findet sich aber in dem Narrativ, mit dem Deutschland oft beschrieben wird, nicht wieder. Ich glaube, das betrifft auch die Vorstellung von der Wiedervereinigung mit ihrem Narrativ des „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“. Nach dieser Erzählung sind die beiden Teile, die immer als eins imaginiert wurden, endlich zusammengewachsen. Letztlich ist das aber nie wirklich geschehen. Ersetze ich das Wort „Ostdeutsche“ durch „Muslime“, erkenne ich schnell Analogien zwischen diesen beiden Gruppen, die ich in meiner Forschung betrachte. Relevant ist zunächst die Erkenntnis, dass es keine homogenen Gruppen gibt – Gruppen werden gemacht. Muslime sind eine sehr heterogene Gruppe, aber mittlerweile findet bei vielen eine Art Selbst-Ethnisierung statt. Eine ganze Weile gab es „die Muslime“ in Deutschland überhaupt nicht – es gab Gastarbeiter*innen, Türk*innen, Bosniak*innen, Libanes*innen etc. Irgendwann wurde dann auf einmal von „den Muslimen“ gesprochen, und man imaginierte sie im selben Moment als eine homogene Gruppe. Gleichzeitig existieren viele Widerstände gegen diese Homogenisierung, zum Beispiel durch Gruppen queerer Muslime. Für deren Aktivismus gibt es inzwischen sogar ein eigenes Archiv. Wir müssen nicht darüber debattieren, dass es einen großen Unterschied macht, ob man als weiße*r Ostdeutsche*r in bestimmte Positionen nicht kommt oder ob man als migrantisch markierte Person darüber hinaus noch tagtäglich mit Rassismus konfrontiert ist. Ich betrachte dennoch die Analogien zwischen Ostdeutschen und Migrant*innen, weil ich versuche herauszufinden, welches politische Potenzial sie bergen. Wenn ich Ähnlichkeiten in Zuschreibungen, Strukturen und Formen des Widerstands gegen diese erkenne, dann fällt mir auch auf, dass wir die letzten Jahre viel Zeit damit verloren haben, über Abweichungen und Unterschiede zu sprechen. Wir behaupten zum Beispiel oft, dass diese Gruppen noch nicht sichtbar oder in Spitzenpositionen vertreten sind, weil sie Antidemokrat*innen sind. Sie sind gesellschaftlich nicht erfolgreich, weil sie sich nicht für Bildung interessieren oder extremistische Positionen vertreten – und sie sind da unten, weil sie es in Wahrheit verdienen. Das kann man mit jeder marginalisierten Gruppe durchspielen.

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Wenn wir uns das bewusst machen, bringt das die Unterschiede der einzelnen Gruppen keineswegs zum Verschwinden. Wenn man zum Beispiel die Armutsgefährdungsquote betrachtet, weicht diese zwischen Ost- und Westdeutschland nur unmerklich voneinander ab. Sie liegt in Westdeutschland bei circa 15 Prozent, in Ostdeutschland bei etwa 17 Prozent. In der migrantischen Community liegt sie hingegen bei 27 Prozent. Die Positionen der Ungleichheit unterliegen offensichtlich einer Hierarchie. Die Kraft der Analogie liegt nun in der Erkenntnis, den Fokus nicht auf die vermeintlichen Unterschiede – also das abweichende Sozialverhalten – von marginalisierten Gruppen zu legen, sondern auf die systemischen Fehler. Diese wirken immer weiter fort, da sie mit Privilegien verbunden sind, die keine*r der Privilegierten freiwillig aufgibt. Die Frauenfrage ist ein weiteres Beispiel: Wie kann es sein, dass wir uns ein Gleichheitsnarrativ erzählen, aber nur 25 Prozent der Führungspositionen in der Privatwirtschaft und nur acht Prozent der Führungspositionen in den DAX-Unternehmen von Frauen besetzt sind? Oder der Gender Pay Gap? Am 17. März ist jedes Jahr der Equal Pay Day. Aufgrund des Lohnunterschieds zwischen Männern und Frauen arbeiten umgerechnet alle Frauen jedoch von Jahresanfang bis Mitte März – also insgesamt zweieinhalb Monate – umsonst. Und dann hören wir Argumente wie „Frauen wollen eine politische Gleichstellung gar nicht“ oder dass wir „als Gesellschaft noch nicht so weit sind“. Dieselben Argumente erzählen wir uns auch in Bezug auf andere marginalisierte Gruppen. Deshalb beruht die Kraft der Analogie vor allem darin, nicht auf den Einzelfall, sondern auf den systemischen Charakter zu schauen. Wir können über den Dialog ein Bündnis von Marginalisierten erzeugen, zum Beispiel indem wir auf eine ähnlich gelagerte Marginalisierung hinweisen. Wir können aber auch das Gegenteil bewirken, indem wir kulturelle Unterschiede betonen oder uns darüber aufregen, Ostdeutsche mit Migrant*innen zu vergleichen. Ich war kürzlich in einer Gesprächsveranstaltung, bei der ich meine Studie mit Ostdeutschen diskutieren wollte. Unter ihnen gab es große Empörung über diesen Vergleich. Das war interessant für mich, denn in meiner migrantischen Peergroup kann ich diesen Vergleich auch nicht leicht vermitteln. Migrant*innen sind über diesen Vergleich ebenso wenig begeistert: „Wie bitte, diesen rassistischen Ossis sollen wir jetzt auch noch ähnlich sein?“ Die beiden Gruppen miteinander zu verbinden, ist schwierig, zu tief sind oft die bestehenden Gräben. Denn: Beide Gruppen kämpfen um den zweiten Platz im deutschen Dominanzparadigma. In diesem Kampf wird mit fiesen Tricks und unfair gespielt, denn um auf dem zweiten Platz zu landen, muss jemand auf den dritten Platz verwiesen werden. Solidarität hat viel mit Empathie, mit der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, manchmal auch mit Paternalismus zu tun. Denn in Solidarität stellt man sich oft vor jemanden. Bei Allianzen muss man jedoch nebeneinander kämpfen. Bestimmte Unterschiede werden dabei immer bestehen bleiben, aber man kann sich mit ihnen strategisch arrangieren: Um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, muss man die verschiedensten Akteur*innen zusammenbringen. Man kann die Unterschiede zwischen ihnen nicht unsichtbar machen, aber man kann sie hoffentlich für eine gewisse Zeit hintanstellen – denn wir erleben im Moment eine akute Bedrohungslage. Wir erleben diese Bedrohungslage europaweit. Bei mir persönlich führt das mittlerweile dazu, dass ich dazu bereit bin, mich mit CDU-Leuten zu assoziieren und zu alliieren – wenn wir nur gemeinsam gegen die Rechtspopulist*innen vorgehen.

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HEIMAT IST NICHT IMMER DIE ANTWORT

Ich glaube fest daran, dass die Ähnlichkeit von Geschichten und Erfahrungen als Augenöffner wirken kann. Ich stelle mir vor, dass wir bei der nächsten Palastausgabe Personen der ersten Einwanderungsgeneration hier sitzen haben, die ab Mitte der 1950erJahre als Gastarbeiter*innen ins Ruhrgebiet eingewandert sind, dann irgendwann durch Deindustrialisierungsmaßnahmen ihren Job verloren haben und seitdem als „unproduktiv“ imaginiert werden. Leute also, die nie angekommen sind, die unendliche Nachteile erlitten haben und als „unintegrierbar“ gelten. Wir lassen diese Menschen hier ihre Geschichten erzählen, und dann hören wir durch einen Vorhang getrennt Ostdeutsche und ihre ähnlichen Erlebnisse und Erfahrungen – etwa vom Arbeitsplatzverlust, dem damit verbundenen Gefühl der Wertlosigkeit, des Nicht-Ankommens und der Neuorientierung. Dabei lassen sich vielleicht Gemeinsamkeiten finden. Neuorientierung bedeutete für die Ostdeutschen – anders als für Migrant*innen – nicht das Erlernen einer neuen Sprache, das Gewöhnen an neue institutionelle, juristische und kulturelle Strukturen hingegen ganz gewiss. Wenn wir migrantische und ostdeutsche Geschichten nebeneinanderstellen, können wir verstehen, wie viele Ähnlichkeiten es zwischen ihnen gibt, und aufhören, die beiden Gruppen als Konkurrenz füreinander zu konstruieren.

Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der HumboldtUniversität zu Berlin, Gründungsvorstand des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V. und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Beitrag „Heimat ist nicht immer die Antwort“ basiert auf einem Gespräch mit dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Thomas Krüger und Thomas Oberender, das am 9. März 2019 im Rahmen von „Palast der Republik“ im Haus der Berliner Festspiele stattgefunden hat. Die ungekürzte Fassung des Gesprächs ist im Dezember 2019 als Edition 28 der Berliner Festspiele erschienen.

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„ICH WOLLTE DAS BILD ÄNDERN“ Gabriele Stötzer im Gespräch mit Thomas Oberender

Thomas Oberender: Gabriele Stötzer ist Schriftstellerin, Künstlerin und Aktivistin. Sie wurde in einem Dorf bei Erfurt geboren, hat eine Berufsausbildung als medizinisch-technische Assistentin begonnen, das Abitur nachgeholt, an der Pädagogischen Hochschule Deutsch und Kunsterziehung studiert. 1976 wurde sie im letzten Studienjahr wegen einer Solidaritätsaktion für einen Mitstudenten zusammen mit zwei weiteren Studentinnen politisch exmatrikuliert und im gleichen Jahr wegen einer Unterschriftensammlung für Wolf Biermann inhaftiert. Sie kam in das Zuchthaus Hoheneck, hat danach eine der wenigen freien Galerien in der DDR, die Galerie im Flur, geleitet, wurde selbst bildende Künstlerin und hat eine Frauengruppe gegründet, die im Untergrund Ausstellungen, Performances und Filme gemacht hat. Gabriele Stötzer zeichnet ihre unbändige Individualität aus, ihr vielgestaltiges Werk aus Texten, Filmen, Fotografie und Objekten, aber auch ihre Gabe, über viele Jahre eine sich ständig wandelnde Gruppe von freien Menschen um sich herum zu versammeln, und ihr stets beharrlicher Wille, trotz massiver Repressionen nicht in den Westen zu gehen, sondern in der DDR für ein anderes Leben zu stehen und zu wirken. Frau Stötzer, Sie haben 1976 aus Protest gegen Biermanns Ausbürgerung eine Unterschriftensammlung organisiert, was zu fünf Monaten Untersuchungshaft führte, auf das sieben Monate

im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck folgten. Darüber haben Sie den Roman Bröckelnde Festung geschrieben, und es gibt über Ihre Erfahrungen einen sehr bewegenden AnimationsDokumentarfilm, in dem auch Ihre Stimme zu hören ist – er heißt Kaputt und weht einem jede Form von Illusion über die Realität der DDR aus dem Kopf. Ihre Galerie im Flur war für viele Untergrundkünstler*innen, nicht nur für die aus Thüringen, ein wichtiger Ort. Genauso wie die von Ihnen gegründete Künstlerinnengruppe in Erfurt eine Form von feministischer Kunst geschaffen hat, die wegweisend war. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, dass Sie Feinde hatten, von denen Sie gar nichts ahnten. Die Galerie im Flur wurde von der Stasi geschlossen. Gabriele Stötzer: Liquidiert. TO: Liquidiert. Welche Rolle spielte dabei Sascha Anderson? GS: Sascha Anderson war der Freund von Ralf Kerbach, und Ralf Kerbach war ein Maler, den ich als letzten Künstler in der Galerie im Flur ausgestellt hatte bevor sie liquidiert wurde. Diese Untergrundgalerie hatte sich bei uns in Erfurt etabliert, andere gab es in Berlin und Magdeburg. Die Galerie im Flur wurde von dem Berliner Künstler Peter Peinzger gegründet, der mit seiner Frau nach Erfurt musste, weil sie Pädagogin war, und die wurden gerne

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„ICH WOLLTE DAS BILD ÄNDERN“

auch mal für drei Jahre an den Rand der Republik versetzt. Peter Peinzger kam nach Erfurt mit einer Naivität, die man in der Stadt, wenn man da aufgewachsen ist, gar nicht mehr haben konnte. Und so hat er einfach in seiner Wohnung, sie hatte einen Riesenflur, diese Galerie im Flur eröffnet. Nach drei Jahren ging Peter Peinzger wieder zurück nach Berlin, und ich hatte nach dem Knast aufgehört zu arbeiten. Ich bin dann in den Untergrund gegangen, und just zu der Zeit sagte eben dieser Peter Peinzger aus Berlin: Übernimm doch meine Galerie.

Freunde verloren – Schicht für Schicht. Wenn man gerade eine Gruppe aufgebaut hatte und das funktioniert hat, ja, dann hat die Stasi das zerstört. Entweder hat sie dafür IMs von innen eingesetzt und einen Freund gebrochen, erpresst, oder es kam dafür jemand von außen. Und dann war die Gruppe wieder weg, und wir mussten eine neue Gruppe aufbauen. Die ganze DDR-Zeit über war es so, dass ich immer neu, neu, neu aufgebaut und immer wieder verloren, verloren, verloren habe. Deswegen habe ich damals eine Postkarte gemacht, so wie ich sie heute immer noch mache, auf die ich draufgestempelt habe: „Und das Bleiben ist auch eine Entscheidung – die Weigerung zu gehen.“

TO: Wovon haben Sie gelebt, wenn Sie sagen, Sie sind in den Untergrund gegangen? GS: Naja, ich habe mit anderen, auch exmatrikulierten Studenten, zwei Häuser im Zentrum von Erfurt besetzt. Es ging ja eigentlich immer nur um die Frage, wofür wir leben wollen. Unsere Berufung war die Kunst, das spürt man einfach. Wofür lebst du? Wir haben zwei Häuser besetzt und darin Werkstätten nach dem Vorbild des Bauhauses eingerichtet. Ich hatte eine Webwerkstatt, es gab eine Fotowerkstatt, eine Siebdruckwerkstatt, wir sind nach Weimar und Dessau gefahren und haben uns weitergebildet. Ich habe alte Bücher vom und über das Bauhaus gefunden und mich mit den Farblehren beschäftigt und gewebt und Fotos gemacht. Als die Galerie liquidiert wurde, hatte ich dann plötzlich ein eigenes Fotolabor und habe auch weiter gewebt. Die Leute aber, die in der Galerie mitgewirkt haben, waren nach der Schließung so desillusioniert, dass sie alle in den Westen gegangen sind. Und Freunde waren wirklich das Wichtigste, was man im Osten hatte. Ständig hat man seine

TO: Wieso sind Sie in der DDR geblieben? GS: Egal, wo man hinkam, hörten wir immer: Habt ihr schon gepackt? Wie habt ihr das formuliert? Wo wollt ihr hin? Wem habt ihr geschrieben? Und so weiter. Das ging mir auf den Senkel, man lebte gar nicht mehr in der DDR. Man floh, und ich war ja als DDRSteherin bekannt. Und wir hatten eine Idee! Mit der Kunst hat sich die Idee von einem anderen Leben verbunden. Wir lebten arm, aber vollkommen fasziniert von diesem Leben in Freiheit. Wir haben uns ja dieser Dogmatik, Zwangsarbeit machen zu müssen, völlig entzogen. In der DDR musste ja jeder arbeiten. Nicht nur, dass er es konnte, er musste es. Und wer nicht gearbeitet hat, der konnte belangt werden. 1968, als die Menschen im Westen frei auf die Straße gingen und andere Lebensmodelle ausprobierten, wurde in der DDR ein Gesetz erlassen, der Asozialen-Paragraf, durch den man verhaftet werden konnte,

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wenn man nicht im System oder Sinne des Staates arbeitet. Das war schwierig.

sagte ich mir: Jetzt kannst du alles, was man in so einer Schuhfabrik lernen kann, deshalb musst du wieder aufhören mit dem, was du gerade kannst und was dich sichert. Du musst immer wieder raus ins Ungewisse. Deshalb habe ich die Galerie übernommen, und als letzten Künstler, den wir einladen konnten, bevor die Galerie liquidiert wurde, haben wir Ralf ausgestellt, der in Dresden lebte.

TO: Was hat dieses Jahr im Zuchthaus Hoheneck für Sie bedeutet? GS: Ich habe im Knast viel gesehen. Zum Beispiel, dass die Kriminellen im Knast gelebt haben. Die haben mir gezeigt: Lebe da, wo du bist. Die haben im Knast getanzt, geliebt, sich tätowiert. Ich weiß das alles aus dem Knast. Ich kannte den Begriff lesbisch vorher gar nicht, und dann taten die das und hatten Tätowierungen von oben bis unten. Wenn ich heute Tätowierungen sehe, ist das für mich immer noch traumatisch, weil es mich daran erinnert, dass das im Knast Selbstverstümmelung hieß, naja. Als ich rauskam, war klar, dass dieser Staat so nicht stimmte. Zusätzlich zu diesen Sachen hatte ich ja auch noch den Gefangenenverkauf an die Bundesrepublik mitbekommen und die Zwangsarbeit der Gefangenen. Also meine Ideale, die mich in den Knast gebracht hatten, die hatte ich dann nicht mehr. Aber ich hatte diesen Überlebenswillen. Ich gebe nicht auf. Ich sagte mir: So leicht mache ich es denen nicht. Ich bleibe hier und arbeite hier. Damals grassierte eine Postkarte mit dem Aufdruck: „Bleibe im Lande und wehre Dich täglich.“ Das musste man dann auch leben.

TO: Ralf Kerbach. Und so kommt wieder Sascha Anderson ins Spiel. GS: Sein bester Freund war Sascha Anderson, und der sollte zur Eröffnung lesen. Das war die erste Einzelausstellung seines Freundes. Ralf Kerbach musste wegen seiner Kunst die Universität verlassen, konnte aber nicht ausstellen. Und später hat er dann herausgekriegt, tja, wir alle haben das rausgekriegt, dass Sascha alles an die Stasi verraten hat. TO: Wie haben Sie das entdeckt? GS: Durch meine Stasi-Akten. TO: Also erst nach dem Ende der DDR. GS: Damals wussten wir das nicht. TO: Das war nicht vorstellbar.

TO: Und wie sah das aus?

GS: Nicht vorstellbar. Es war unglaublich. Er war der beste Freund, der verbotene Literat, und er kam und wollte lesen, und wir alle, in aufrechter Solidarität, haben gesagt, dass wir einen Raum haben und er da selbstverständlich lesen kann. Und dann kam der Kerbach mit seinen Bildern, und ich wurde drei Tage vor der Ausstellungseröffnung plötzlich in das Erfurter Kulturamt

GS: Nach dem Knast habe ich noch mal kurz in dieser Schuhfabrik gearbeitet, aber mich immer daran erinnert, dass ich mir im Knast vorgenommen habe, Kunst zu machen. Also, habe ich mir gesagt, dann mach das jetzt auch. Höre auf damit, dich beschäftigen zu lassen. Und dann ist man ja auch eitel. Deshalb

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bestellt. Wir hatten zuvor immer alle Aufforderungen, uns in irgendeiner sozialistischen Organisation zu beteiligen, zurückgewiesen. Wir wollten autark bleiben und ausstellen, wen wir wollen. Aber auf diesem Kulturamt sagte der staatliche Leiter: Wissen Sie, Ihre Galerie brauche ich gar nicht zu verbieten, weil, Sie existieren nicht. Und Sie werden jetzt mit Ihren Ausstellungen aufhören, und falls nicht, kommen wir und werden das in drei Tagen beenden.

Himmel. Dort waren viele junge Künstler*innen, die nicht im offiziellen Verband waren und wenn, deren Arbeiten nicht in den staatlichen Galerien ausgestellt wurden. Wir haben in Hüpstedt gemeinsam gezeichnet und an Ort und Stelle unsere Ausstellung gemacht. Das ging ein, zwei Jahre gut; dann hat das Sascha Anderson, während er bei uns in der Galerie im Flur war, mitbekommen und an die Stasi gemeldet, die ihm postwendend den Auftrag gab, dorthin zu gehen. Plötzlich kam er, bevor das nächste Pleinair stattfand, zu uns aufs Land, angeblich, um zu schreiben, aber er sollte nur alles ausforschen, und das war dann das Ende. Unsere Pleinairs sind liquidiert worden.

TO: Und „wir“ war die Staatssicherheit? Die Polizei? GS: Ja, das wussten wir auch noch nicht. Am folgenden Tag haben wir die Ausstellung aufgebaut, und am dritten Tag haben wir das natürlich nicht abgesagt – es kam der Ekke Maaß aus Berlin, aus Dresden kam Peter Herrmann, also viele Freunde, und wir haben ihnen die Tür aufgemacht und sie mit den Worten begrüßt: Sie sehen hier eine verbotene Ausstellung! Wir zeigten das gerade mal eine Stunde, bis die schwarz gekleideten Männer kamen und verkündeten: Wenn Sie jetzt nicht schließen, dann kommt die Polizei. Naja, wir sind in eines der besetzten Häuser und haben gesungen, geredet, es gab Lesungen, und so saßen wir zusammen und haben uns getröstet. Wir hatten weiterhin die besetzen Häuser in der Pergamentergasse mit unseren Bauhaus-Werkstätten und dann unsere Eichsfeld Pleinairs. Dorthin haben wir Künstler*innen eingeladen und viel draußen gezeichnet und fotografiert.

TO: Wie muss man sich sowas vorstellen? GS: Ralf Klement, ein Maler, dem wir vertraut hatten und der die Pleinairs bis dahin organisiert hat, wurde zum Kulturbund bestellt, und dort wurde ihm gesagt: Diese Treffen müssen beendet werden, und Sie müssen die Leute ausladen. Man hat ihn unter Druck gesetzt, und noch vor Ort haben sie Briefe an die schon angemeldeten Künstler*innen geschrieben und mit der Stasi und dem Rat der Stadt zusammengearbeitet. Die Stasi hatte ein riesiges Netzwerk, das immer funktioniert hat. Deshalb sind wir ja raus aufs Land. Im Verbotsjahr 1981 sind dann im Sommer keine der ausgeladenen Männer zum Pleinair angereist, nur drei Frauen. Cornelia Schleime, ich und Dörte aus Halle.

TO: Was sind Pleinairs? TO: Es wirkt metaphorisch, dass es ausgerechnet der Besuch eines Mannes war, ich meine Sascha Anderson, der dieses künstlerische Projekt zerstörte

GS: Der Begriff kommt aus Frankreich – man geht raus an die Luft und malt zusammen unter dem freien

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und nur eine Gruppe von Frauen übrig bleibt. Wie kam es zu dieser Fraueninsel auf dem Land?

GS: Nein, das war andersrum: Die Stasi hat den Frauen misstraut. TO: Aha, okay, warum?

GS: In Hüpstedt hatten wir plötzlich Zeit. Da war niemand, für den wir Frauen, sagen wir mal, die Betten hätten machen müssen. Wären Männer da gewesen, hätten wir denen wieder geholfen, das Frühstück zu machen und es wegzuräumen, damit sie sich nett fühlen – man kam ganz automatisch in diese Rolle. Aber das gab es diesmal nicht. Da waren nur wir, und so entstand die erste performative Fotografie – mit Cornelia Schleime, Dörte und mir. Endlich, habe ich mir damals gesagt, können wir die Frauenthemen, die ich schon immer im Kopf hatte, gestalten. Wir waren nackt, sind auf die Wiese gegangen und haben versucht, unsere Haltung zueinander zu klären. Was ist mit meinem Körper? Wer bin ich? Ich hab’ mich auf einen Steinboden gelegt und wollte, dass die Steine über mich kommen oder aus mir heraus – die Vulva als Quelle. Ich habe mich dort vom Organisator des nun verbotenen Pleinairs, unserem Freund Ralf Klement, breitbeinig fotografieren lassen. Aber der hatte irgendwann keine Lust mehr, immer nur Frauen zu fotografieren! Deshalb musste ich selber fotografieren, und Conny startete eine große Malaktion. Das war das erste Mal, dass Frauen in der DDR gemeinsam eine eigene Bildhaftigkeit gefunden und nach außen gegeben haben. Und diese Art von erzählerischem Fotografieren habe ich seither beibehalten.

GS: Für die Stasi waren Frauen zu redselig, zu gefühlsbestimmt. Die haben sich sogar in die Leute verliebt, die sie bespitzeln sollten. TO: Unter Ihren Freundinnen waren keine IM. GS: Genau. Für die Stasi war die Arbeit eines Informellen Mitarbeiters eine lebenslängliche Verabredung. Für Männer war das interessant. Jeder Mann hat irgendwo einen nicht ausgelebten Familienkrach oder Generationenkonflikt. Und plötzlich kriegten sie einen Ersatz-Papa. Sie bekamen einen neuen Namen, einen geheimen Treffpunkt. In diesen konspirativen Wohnungen bekamen sie Geld und den Auftrag, irgendwo hinzugehen, wo sie sich vorher nicht hin getraut hätten. Plötzlich durften sie in den Untergrund, und das war ja auch attraktiv, die DDR war schließlich langweilig. Für Männer war die Stasi eine Art Sicherheitsnetz – es hat diese Männer beschäftigt und auch gehalten. Die waren ja alle bis zum Lebensende dabei. TO: Hatten Sie schriftstellerische Vorbilder? GS: Ich hatte als Schriftstellerin die Idee, dass man Vorbilder haben muss. Doris Lessing hatte ich gelesen. Natürlich Simone de Beauvoir und Christa Wolf. Wobei meine Bewunderung von Christa Wolf erst mit dem Buch Kein Ort. Nirgends angefangen hat. Die ersten Bücher fand ich schwatzhaft, viel zu

TO: Im Frauengefängnis und Untergrund haben Sie beobachtet, dass Frauen weniger anfällig waren für Anwerbungen durch die Stasi.

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kompliziert und matschig. Aber dann kam Kein Ort. Nirgends. Klack, klack, klack, jeder Satz war eine Aussage, das hat mich berührt, und ich dachte: Naja, das ist groß!

ab. Ich hatte das erste Buch dabei, das ich geschrieben hatte – Dabei sein und nicht schweigen. In ihm beschrieb ich das Leben im Zuchthaus. Ich habe an ihrer Tür geklingelt und gesagt: Hallo, ich bin Gabi Stötzer aus Erfurt und möchte Sie kennenlernen. Und sie hat mich reingelassen; das hat sie dann später in ihrem Buch Was bleibt beschrieben – wie da eine Frau zu ihr kam und erzählt hat, dass es im Knast so kalt war und sie etwas geschrieben hat. Und dass sie, Christa Wolf, zu ihr sagt: Zeigen Sie das keinem, legen Sie das ins Schubfach, sonst kommen Sie wieder in den Knast. Ich meine, ich gab ihr all diese Informationen: Dass es ein Gefängnis in der DDR gibt, in dem zweitausend Frauen inhaftiert sind, soundsoviele wegen angeblicher Asozialität, junge Frauen, soundsoviele wegen Politik und dass die politischen Häftlinge zusammen sind mit Mörder*innen und Schwerverbrecher*innen und selber so hohe Strafen erhalten wie Schwerverbrecher*innen. Sie hätte es in den Westen geben können, mit ihren Sachen hat sie es ja auch gemacht. Dann hätte man anders über die DDR gedacht, schon damals. Ich wollte einfach immer das Bild ändern. Damals hat sie gesagt: Gehen Sie nach Hause, legen Sie Ihr Buch ins Schubfach, verhalten Sie sich ruhig und schreiben Sie.

TO: Sie haben sie getroffen? GS: Ich bin zu ihr gefahren. Zu Doris Lessing konnte ich nicht, und Simone de Beauvoir war gerade gestorben – es blieb nur noch Christa Wolf übrig. Und ich fand sie klasse, sie war im Verband und führte ein glückliches Leben. Das ganze Gegenteil von mir: Mein Mann hatte mich im Knast betrogen und verlassen, wir waren geschieden. Das haben mir die Kriminellen im Frauenzuchthaus schon vorausgesagt: Während du hier drinnen bist, betrügt dich draußen dein Mann. Ich dachte natürlich, das passiert mir doch nicht! Ich bin eine politische Gefangene, ich bin eine Heldin, und eine Heldin wird nicht betrogen! Nachdem ich entlassen wurde, kriegte ich allerdings mit, dass alle meine Freundinnen meinen Mann getröstet haben, weil – die Männer brauchen das ja. Später haben wir unser eigenes Kind abgetrieben, weil ich mich von ihm scheiden lassen habe, um zu schreiben. Mir war klar, dass ich, wenn ich ein Kind kriege, wieder arbeiten gehen muss, und dann werde ich das Kind schützen und nicht meine Texte. Im Grunde genommen ist mir nach und nach alles passiert, was einem in so einem Frauenleben so alles passieren kann. Christa Wolf war im Verband, sie hatte noch ihren Mann, sie hatte ein Auto, sie hatte eine Wohnung in Berlin, und die Männer sind ihr erlegen, alle erlagen sie ihr, die Frauen auch, und da dachte ich: Das ist ein toller Job. Das will ich auch. Also gehst du jetzt zu dieser Frau, vielleicht kriegst du was

TO: Das mit dem Ruhig-Verhalten war eigentlich nicht Ihre Sache. GS: Ich habe mich gefragt: Was schreiben denn die anderen? Ach, die schreiben alle Ausreiseanträge! Und so habe ich auch Ausreiseanträge geschrieben, aber als Kunstform. Mit diesen Texten bin ich dann wieder zu Christa Wolf gefahren und habe ihr das gezeigt, und da sagte sie: Oh, das ist aber schlecht. Ich sollte

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wieder nach Hause fahren und anders schreiben. Bleiben Sie mal in Erfurt. Sie schickte mich zwei, dreimal weg, und dann dachte ich: So, das reicht. Jetzt versuchst du, dich selber zu vermarkten, und dann bin ich in den männlichen Untergrund gegangen, in die PrenzlauerBerg-Szene. Ich habe meine Texte dann in Zeitschriften wie Mikado, Ariadnefaden oder UND untergebracht, weil ich da eben reinkam.

das eine ziemliche Performance, das muss ich sagen, das war Fulltime, und wir hatten wirklich keine Zeit für irgendwas anderes. In diesem Moment habe ich gemerkt, wie groß der Abstand ist von ihr zu mir. TO: Wirklicher Beistand ist etwas anderes. GS: Ja, aber sie hat mir auch vorgeschlagen, mich zu unterstützen, hat gesagt: Du kannst von mir Geld bekommen. Die Verbandskünstler haben uns beschützt, indem sie zu unseren Untergrundlesungen kamen und uns Geld gegeben haben. Das wusste man einfach. Christa Wolf hat an mich Geld gegeben, und wenn sie mir Geld gegeben hatte, 1000 Ostmark, was viel war, bin ich nach Erfurt gefahren und habe mir für 999 Mark einen Kassettenrekorder gekauft. Denn inzwischen existierte eine Künstlerinnengruppe, die auf Dachböden Musik gemacht hat, und die wollte ich aufnehmen. Ich wollte Frauenarchetypen schaffen, in Bildern und Tönen. So entstand die Filmmusik zu unseren Super-8-Filmen – wir haben immer alles mit allem verbunden und daraus das Nächste entwickelt. Das Wichtigste war ja, dass man nicht aufhörte, dass man einfach weitergemacht hat.

TO: Wie ging die Geschichte mit Christa Wolf weiter? GS: Nach ein paar Jahren hat sie einen Schriftsteller aus der Erfurter Szene zu mir geschickt, er war ein IM, was ich aber damals nicht wusste, und der hat mich gefragt, ob ich nicht mal wieder zu Christa Wolf kommen möchte. Inzwischen hatte sich zu ihr herumgesprochen, dass ich mir in der Untergrundszene einen Namen gemacht hatte. Ich war bei vielen Lesungen dabei, auch bei vielen Untergrundausstellungen, für die ich Leporellos mit meinen Fotografien machte. Sie begann, mich auszufragen über meine Frauenrolle im Untergrund. Sie hat mir keine Veröffentlichung in einer Anthologie angeboten, als Schriftstellerin hat sie mich weder unterstützt noch ermutigt, aber als Frau. Doch auch das hatte seine Grenzen. Irgendwann hat sie zu mir gesagt, dass wir, die Künstler*innen in der Szene, in der ich mich bewegte, faul sind. Da habe ich mich gefragt: Was machst du hier eigentlich? Du bist die Szene, wir machen die Szene, wir schreiben, wir lesen, wir machen unsere eigenen Veröffentlichungen, und dann gehe ich zu Christa Wolf und erzähle ihr alles über die Rolle der Frauen dort, wie wir uns durchschlagen. Ist das nicht genug Arbeit? Für mich war

TO: Ich will jetzt einen kleinen Sprung machen, der dennoch beim Thema bleibt, denn Sie und einige Mitstreiterinnen haben Anfang Dezember 1989 in einer überraschenden Aktion die Stasi-Zentrale in Erfurt besetzt. Es war die erste Besetzung eines Stasiquartiers und ich glaube auch ein weltgeschichtlicher Präzedenzfall, denn nirgendwo haben vorher Bürger*innen die Büros eines Geheimdienstes besetzt. Der

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Dezember 1989 war eine Zeit, wo vieles auf der Kippe stand. Was gab den Auslöser für diese Besetzung, und warum haben Sie so etwas Gefährliches getan?

vollkommen idiotisch. Ich hatte diesen Text vorher nicht richtig gelesen, weil ich dachte, wenn Christa Wolf mich darum bittet, lese ich diesen Aufruf natürlich vor. Aber all diese Menschen auf der Demonstration, die sind so ehrlich gewesen – sie hatten keine Illusion mehr. Sie wollten sich nicht mehr belügen lassen. Ich muss wirklich sagen, dass es ein paar Monate in der DDR gab, in denen eine Bewusstseinserweiterung in der Masse stattfand, die unglaublich war. Und während ich das also gelesen habe, dachte ich: Die besten Leute sind weg. Es hat wieder keiner Ahnung, wie politische Demokratie gelebt und organisiert wird. Die Intellektuellen waren weg, und wenn jetzt wieder irgendwelche selbsternannten Leute an die Macht kommen, die Dilettanten sind und Fehler machen und nicht bekennen, dass es Fehler sind, die also nicht lernen und nicht mit den Menschen reden können und natürlich auch eitel sind und denken: „Toll, jetzt habe ich meinen Platz!“, dann ist das alles gerade total falsch!

GS: Uns war klar, dass die SEDFunktionäre trotz Perestroika und Gorbatschow immer noch vollkommen reaktionär und altmännerkräftig waren und ihre eigene Sache machen, also völlig unberechenbar waren. Wir waren der festen Überzeugung, dass, wenn wir diese Leute nicht selbst entwaffnen, das nie passieren wird. Denn die warteten, was wir machen. Wobei mir das überhaupt nicht wirklich klar war, weil wir in Erfurt so viel zu tun hatten. Dann gingen die vielen Demonstrationen los, Demos, Demos, Demos, und irgendwann rief mich wieder mal Christa Wolf zu sich hoch und wollte wissen, wie es war. TO: „Hoch“ heißt nach Berlin? GS: Nach Berlin. Sie gab mir ganz überraschend diesen Brief mit dem Aufruf für einen „Dritten Weg“, weil sie der Meinung war, ich solle das auf der Demonstration in Erfurt vorlesen.

TO: Sie waren das Sprachrohr von Christa Wolf. Wann war das ungefähr? GS: Das war im Dezember.

TO: Was bedeutete die Idee des „Dritten Wegs“ damals?

TO: Also noch vor Ihrer Stasi-Besetzung.

GS: Die Idee des „Dritten Wegs“ bedeutete, dass wir uns jetzt selbst als Staat formieren und die Posten einnehmen sollten.

GS: Da muss ich mal überlegen …

TO: Und diesen Aufruf sollten Sie vorlesen?

GS: Ja, sicher. Während des Vorlesens wusste ich, dass diese Idee vom „Dritten Weg“ nicht funktionieren wird. Wir haben gar nicht so viel Zeit, um das alles zu entwickeln. Denn auf unsere Aktionen würde sofort die Reaktion folgen.

TO: War es nach der großen Demonstration in Berlin am 4. November?

GS: Als ich das, man muss sich vorstellen, vor zigtausend Leuten vorgelesen habe, wusste ich plötzlich: Das ist alles

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Also wir haben uns weiter in dem Frauen- und Künstlerinnenkreis Frauen für Veränderung getroffen. Und am Morgen des 4. Dezember klingelten Kerstin Schön und Sabine Fabian von Frauen für Veränderung bei mir an der Tür und sagten: „Wir müssen jetzt die Stasi besetzen. Die verbrennen die Akten. Und Akten sind unser Eigentum.“ Und diese Idee, dass die Stasi-Akten unser Eigentum sind und wir in das Stasigebäude müssen, weil sie unser Eigentum verbrennen – die fand ich so geil! Diese Idee war so frech und logisch, dass ich dachte, das ist eine gute Argumentation, um bei der Stasi reinzukommen und denen ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn wir hingekommen wären mit der Ansage: „Liebe Staatssicherheit, wir wollen euch auflösen!“, dann hätten die sich höchstens amüsiert. Aber wir haben gesagt: „Ihr habt unser Eigentum, und ihr verbrennt das.“ Und weil sie das abgestritten haben, haben wir gesagt: „Zeigt uns, dass ihr das nicht macht!“ Und mit dieser Argumentation sind wir da hingegangen.

dann noch zu Teli Büchner, die in unserer Künstlerinnengruppe war. Und dann war das so: Sabine Fabian ist mit ihrem Trabant ganz alleine, es war ja Montagfrüh, in die Großbetriebe gefahren, wo die Sitzungen stattfanden, und hat da eine Art Mantra gesprochen: „Wir besetzen heute die Staatssicherheit. Überlegen Sie sich, was Sie beitragen können.“ Die zwei Sätze. Und ist wieder gegangen. Worauf die Leute in ihren Betrieben über Lautsprecher verkündet haben: „Frauen besetzen heute die Stasi. Wenn Sie wollen, können Sie heute frei haben.“ So weit war die Demoralisierung schon vorangeschritten. Das haben die Frauen gemacht. TO: Das heißt, Sie sind da zu zehnt hingegangen oder zu viert oder zu – GS: Warten Sie doch mal ab. Nein, wir waren erst zu viert beim Bürgermeister, dann blieben zwei im Rathaus, um mit dem Abteilungsleiter Inneres zu sprechen, und die zwei anderen sind zur SED-Bezirksleitung gegangen und dann zum Gebäude der Bezirksstaatssicherheit in der Straße der Einheit, das auch schon von Bürger*innen umstellt war, und haben dort um Einlass gebeten. Sie hatten die Stasi umringt, während wir noch beim Bürgermeister waren. Und wissen Sie: Das kam alles nur durch uns Frauen! Es gab diese Zweifellosigkeit ohne jede Angst. Wir hatten einfach keine Zeit für Angst.

TO: Wie viele Frauen waren das? GS: Das waren am Morgen erst mal zwei Frauen. TO: Zwei Frauen stürmen die Stasi-Zentrale? GS: Nein, nein, nein, nein, nein, die kamen zu mir, weil sie dachten, die ist verrückt genug, um das mitzumachen. Die beiden Frauen hatten zwei Autos „Trabant“, und mit denen sind wir los und haben von allen anderen Frauengruppen auch die Leiterinnen informiert. Ich bin zu der autonomen Frauengruppe um Claudia Bogenhardt gegangen und

TO: Haben Sie sich nicht zwischendurch beratschlagt? GS: Wir haben einfach gesagt, wir machen das. Das war die entscheidende Kraft an diesem Tag – dass es Frauen waren. Und wo wir an diesem Tag

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überall waren! Ich bin am Ende sogar noch zum Staatsanwalt, um eine Anzeige aufzugeben. Denn wir wollten verhindern, dass diejenigen, die in das Stasi-Gebäude reingehen, kriminalisiert werden. Deshalb habe ich zu den Staatsanwälten gesagt: „Wir zeigen jetzt die Staatssicherheit an, weil die Volkseigentum vernichten. Unsere Akten sind Volkseigentum.“ Der Staatsanwalt sagte aber, dass sie für die Stasi nicht zuständig sind, sondern der Militärstaatsanwalt in Berlin. „In Ordnung“, habe ich gesagt. „Dann rufen Sie ihn an.“ Was er auch gemacht hat, und der Militärstaatsanwalt sagte: „Ich bin in dreieinhalb Stunden da.“ Das war aber viel zu spät! Alles war schon in vollem Gang. Was sollten wir tun? Ich habe dann einfach zu dem Staatsanwalt gesagt, dass jetzt er mitkommen muss. „Wir gehen zusammen in dieses Gebäude, und Sie versiegeln die Räume.“ Gleichzeitig waren Barbara Sengewald und Kerstin Schön und Manfred Ruge, der später Bürgermeister von Erfurt wurde, bei einem anderen Staatsanwalt. Und so haben wir mit mehreren Staatsanwälten an der Seite anschließend im Stasi-Gebäude die Zimmer versiegelt. Die noch erhaltenen Akten haben wir in die inzwischen leeren Stasi-U-Haftzellen eingelagert und eingeschlossen.

TO: Die Geschichte war gerettet, zumindest die Akten. Und das bringt uns natürlich zum Thema unseres Gesprächs: Dass die Geschichten, die Sie uns erzählen, ein anderes Bild von den Ereignissen und Intentionen der Revolution im Osten zeichnen. Die Mauer ist nicht gefallen wie ein Blatt Herbstlaub vom Baum. Die Leute sind nicht für die D-Mark auf die Straße, und sie hatten durchaus eigene Vorstellungen, wie die Dinge in Zukunft laufen sollen. GS: In meinem Archiv habe ich also vor Kurzem einen Brief gefunden, den ich 1991 an Willy Brandt geschrieben habe. Willy Brandt ist ja 1971 für seine Ostpolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Deshalb habe ich ihm sinngemäß geschrieben: Lieber Willy Brandt, ich habe gesehen, was und wie das bei der Revolution im Osten gelaufen ist. Schlagen Sie bitte die Bürgerkomitees der DDR für den Friedensnobelpreis vor. Denn die haben die Wende gemacht. Die Revolution war eine Gruppenarbeit – es waren diese Gruppen, die eine Gesellschaft friedlich in eine andere überführt haben. Durch deren Arbeit ist etwas geschichtlich sehr Wichtiges passiert, nicht nur für uns in Deutschland, sondern für Europa. Naja. Und das Büro von Willy Brandt schrieb, dass Herr Brandt zwar noch sein Büro führt, aber keine Leute mehr für den Friedensnobelpreis vorschlägt. Und da dachte ich: Warum machst du das nicht selbst, du, Gabi Stötzer aus Erfurt? Ich sage das nicht nur aus Eitelkeit oder Frechheit, sondern weil ich mich frage, was dieses Zeichen hätte bewirken können. Wenn alle gesehen hätten, dass zur DDR dieser Akt der Selbstbefreiung gehört und dass dieser Aufstand auf der Arbeit vieler Gruppen beruhte. Es hätte

TO: Wenn Sie nicht gekommen wären, wäre Ihre Geschichte weggewesen. GS: Alle Geschichten wären weggewesen. Die Stasi hatte die Vorgabe, bis zum 14. Dezember 1989 alle Akten zu vernichten. Überlegen Sie mal – wir sind da am 4. Dezember reingegangen und haben zehn Tage vor Ablauf der Frist noch gerettet, was zu retten war, sonst wäre all das, was heute einsehbar ist, verschwunden. Das war eine große Sache.

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gezeigt, dass Menschen sich ändern können.

Gabriele Stötzer ist Künstlerin und Schriftstellerin. Der Beitrag „Ich wollte das Bild ändern“ basiert auf einem Gespräch mit Thomas Oberender, das am 9. März 2019 als Teil der Reihe „Occupy History“ im Rahmen von „Palast der Republik“ im Haus der Berliner Festspiele stattgefunden hat.

TO: Was lehrte Sie das? GS: Wenn es kein Ich gibt, wenn es keinen Mut gibt und Leute, die in so einem Moment wie im Dezember 1989 nicht versagen, sondern eine klare Haltung zeigen, dann gibt es keine Geschichte. Die Masse kommt immer hinterher. Deshalb plädiere ich für den Individualismus. Auch in unserer Frauengruppe haben wir gesagt: Wir sind nicht gegen Männer, sondern für Frauen. Und für die Individualität. In dieser Gruppe, die sich selbst geschützt hat, konnten wir uns entwickeln, mutig sein und frech. Um zu einem starken Individuum zu werden, brauchst du eine Gruppe, die dich bestätigt. Nach außen hatte ich ja keine Bestätigung und die anderen auch nicht. Für mich war dieses Nach-außen-Gehen mit Frauen auch durch das Gehalten-Sein in der Gruppe möglich. Dadurch waren wir zur Frechheit fähig und konnten unsere Performances machen. TO: Das war eindrucksvoll, was Sie erzählt haben. GS: Wir sind ja beide aus Thüringen. Und ich muss über Erfurt einfach aus einer anderen Perspektive sprechen, damit diese ewige Provinz dort endlich mal aufhört. Erfurt ist eine große Stadt und hat Vermächtnisse, die einen großen Atem haben. TO: Ein hidden champion. Vielen Dank.

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DAS CHAOS DER SELBSTREVOLTE Sivan Ben Yishai

„Lieber Necati, danke für deine E-Mail, und ja, ich schreibe gerne etwas über ‚Unlearning‘ für das Theatertreffen-Magazin, das klingt sehr interessant. Würdest du mir vielleicht ein paar Beispielartikel aus den letzten Jahren schicken, damit ich den Kontext verstehe? Danke dir, ich freu mich sehr! Sivan“ Die Absurdität meiner Nachricht wird mir klar, unmittelbar nachdem sie getippt ist. Ich bin eingeladen, über das Thema „Unlearning“ nachzudenken, und mein erster Impuls ist es, den Dress-Code zu checken?! Diese Angst, nackt auf einem gut angezogenen Event aufzutauchen. Und beim Theatertreffen geht es nicht nur um die Anzüge und die Krawatten – es ist der rote, tiefrote Teppich des deutschen Theaters, das „international bedeutendste Branchenfestival“ mit den „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison, die alljährlich von einer unabhängigen Kritiker*innenjury ausgewählt werden“. Nicht unbedingt der Ort, an dem eine ihre weniger bemerkenswerte Cellulitis und ihre nackte Haut zur Schau stellen will. Auf die Worte meiner nicht gesendeten Nachricht schauend, registriere ich den leisen Unterstrom jener Angst der Immigrantin, unwissentlich „falsch gestimmt“ zu sein oder „aus dem Rahmen zu fallen“. Sie ist auch immer Teil des Ganzen. Es ist erst vier Jahre her, dass ich die Wegbeschreibung zu einer Veranstaltung bekommen und gegoogelt habe, was das Wort „REWE“ bedeutet. Es ist erst drei Jahre her, dass ich das Wort „Theatertreffen“ auf genau die gleiche Weise gegoogelt habe. Mit dem Verlassen des Mittleren Ostens, wo sich mein Wissen entwickelt hat, veränderte der gesamte Komplex meiner Gewohnheiten und Erfahrungen seinen „Wert“ und korreliert oft nicht mehr mit dem der lokalen, „typischen“. Was das neu gewonnene Wissen angeht: Der Unterschied zwischen „REWE“ und „Theatertreffen“ ist vielleicht inzwischen klar, der zwischen „UMfahren“ und „umFAHren“ noch nicht wirklich. Die lokalen Berühmtheiten kommen mir immer noch alle gleich vor. Die Sprache hört nicht auf zu zwicken. Die Identität des Publikums bleibt ein Rätsel: Wer seid ihr? Ich merke, dass ich durch mein Außenseitersein in der deutschen Gesellschaft genauso wie in der Theaterszene zwangsläufig in der Position einer „Unlearnerin“ bin. Und eine „Unlearnerin“, die im Rahmen eines Branchenfestivals über „Unlearning“ spricht, ist nicht notwendigerweise auf der sicheren Seite. Sie ist ein nackter Körper in einer gut angezogenen Umgebung. Ich klicke auf „Versenden“. Die Nachricht wird verschickt, wie sie ist. „Affirmative Sabotage“, sagt Gayatri Chakravorty Spivak zu „Unlearning“. Die Trennung von dem Ort, an dem ich mein ganzes Wissen gesammelt habe, hat eine Veränderung der Umgebung hervorgerufen, die zu überraschenden Zusammenstößen mit diesem entlernt-sabotierten Ich geführt hat.

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Faktoren wie meine Position in der Gesellschaft, mein Set von Privilegien oder das schlichte Gefühl von Redefluss werden immer noch täglich entblößt. „Sivan, ich muss dich was fragen“, sagte eine Kollegin vor weniger als einem Jahr. „Ich finde, die meisten Israelis lesen nicht wirklich, denen fehlt so viel grundlegendes Wissen … Wie kommt’s, dass du so kritisch geworden bist?“ Nicht ihren Wissensbestand zu haben, macht mich weniger kultiviert. Würde das jemand zugeben? Selbst in den liberalsten Kreisen wird der*die Umgesiedelte oft insgeheim als ignorant angesehen. Als unbeholfen, als faul. Als Schlamassel. Und Umsiedlung ist, in diesem Fall, eine Metapher. Für Überdenken, für Transformieren, für Verlernen. Ob jemand seinen Ort wechselt – seine Perspektive – seinen Körper – oder sein bevorzugtes Pronomen. Die Versuchung, jetzt zu „betrügen“, mit Wissen „anzugeben“. Zu lehren. Wäre dies ein Text mit pädagogischen Absichten, käme jetzt der Moment, ein Zitat fallen zu lassen. Mir war vorher nie bewusst, dass im Englischen die Wörter „cheat“ und „teach“ so nah beieinander liegen. Unter dem Schlagwort „Essay“ bei Wikipedia finde ich: „… Formelle Essays zeichnen sich durch ‚ernsthafte Absicht, logischen Aufbau‘, informelle Essays durch ‚Selbstoffenbarung, individuelle Erfahrungen und Geständnischarakter‘ aus“. Pädagogisch, ernsthaft, zitierend, formell. Fragmentarisch, intuitiv, nackt, informell. Männlich. Weiblich. Lehren. Ent-lernen. „Es ist nicht möglich, seine Privilegien zu verlernen, Privilegien sind historisch gegeben. Deshalb sollte ich, statt auf mich selbst zu fokussieren – und zu verlernen und zu verlernen und zu verlernen – meine Privilegien gegen den Strich anwenden: Man muss seine Privilegien verlernen, als Verlust.“ (Gayatri Chakravorty Spivak) Wenn ein subventioniertes, historisch privilegiertes System eine radikale Idee als Diskussions-Gegenstand übernimmt, ist das Resultat eine Gruppe beauftragter Künstler*innen/Denker*innen, die das System lehren, wie es sich selbst und seine eigenen Privilegien verlernt. Na schön. Aber ich frage mich, ob das System bereit ist für ein bisschen Chaos. Ist das System bereit für einen Verlust? Ich komme nicht umhin, mich zu fragen: Während wir hier sitzen und „Unlearning“ als Teil eines angesehenen Festivals für Staatstheater-Produktionen diskutieren, sind wir nicht eigentlich schon das, was irgendjemand, irgendwo versucht zu ver-lernen? “Damned if I do, if I don’t / Goddamn us all if you won’t / Damn, damn, damn, it’s a goddamn shame / You ain’t frontline, get out the goddamn way /” (Kendrick Lamar) Manchmal tagträume ich meine Zukunft in Deutschland. In meinem Traum liegt mein gealtertes Selbst allein in einem deutschen Pflegeheim. Schmales Bett auf Rädern, unfähig, mich zu bewegen. Yona Wallach – eine israelische Dichterin – schrieb in ihrem letzten Tagebuch,

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DAS CHAOS DER SELBSTREVOLTE

wie die Pflegerin in dem Hospiz in Tel Aviv, in dem sie ihr Leben beendete, jede Nacht ihr Gesicht streichelte, bis sie einschlief. In meinen Tagträumen rufe ich den Pfleger (Gender-Rollen ver-lernen), versuche, ihm irgendetwas über meine Bedürfnisse mitzuteilen, aber die Grammatik meiner Sätze verwirrt sich mehr und mehr, und an einem Punkt schneidet er mir einfach das Wort ab: „Ja ja, alles okay“ und verlässt das Zimmer. Ich kann sehen, wie abgestoßen er von meiner Sprache ist. Der grammatische Schlamassel hat den Eindruck von Dummheit entstehen lassen. Er wird niemals mein Haar streicheln, um mir beim Einschlafen zu helfen. Die erste erlernte Sprache ist ein guter Ausgangspunkt für eine Untersuchung dazu, wie tief der Akt des Erlernens tatsächlich geht. Wie die organische Zunge sich in der Mundhöhle bewegt – ein Leben lang – nach Mustern, die in den ersten Jahren erlernt wurden. Die Überreste der Mutterzunge („erlernen“) im Versuch, sie hinter sich zu lassen oder sich von ihr zu entfernen („ent-lernen“) – können durch das faszinierende Phänomen von Akzenten erkannt werden. Die privaten und kollektiven Akzente sind für mich ein konstantes Relikt, eine Erinnerung an die unentrinnbaren „Lehren“ der Vergangenheit. Die Abtrennung von meiner Sprache und die Entscheidung, an ihrer Stelle mein unperfektes Englisch und Deutsch zu benutzen – wurden zu einem Weg, meine inneren Muster als Schreiberin und Denkerin zu ver-lernen. Sie wurden zu einem Weg, mit kulturellen Mustern umzugehen, ihnen zu widerstehen. Man kann sie auch Narben nennen. Was man weiß, verlässt einen nicht. Aber innerhalb dieses „Wissens“, das ich vermutlich hauptsächlich aufgrund meiner Hautfarbe, meines Geldes und meiner Zugänge erworben habe, kann ich immer noch wählen, wo ich stehe. Ich kann entscheiden, meinem Standpunkt eine Perspektive hinzuzufügen. Und noch eine. Und noch eine. Ich kann mich entscheiden, diesen roten Teppich mit meiner entblößten Cellulitis zu betreten. Es ist eine Handlung. Und Handlungen sprechen. Der*die Immigrant*in kann nicht dem „Wissen“ und dem „Erlernten“ folgen, selbst wenn sie oder er es versucht. Das Ent-lernen lebt in ihren Körpern, als ein schwerer, stotternder Zungen-Muskel, der sie in eine konstante Dringlichkeit gegenüber der Form bringt, gegenüber dem Inhalt, gegenüber der Konfrontation mit jedwedem System, das will, dass alles perfekt funktioniert. Ich denke über Dringlichkeit nach. Je privilegierter jemand ist, umso weniger Dringlichkeit hat sein Handeln. Theater gründet sich auf Dringlichkeit. Die Lücke zwischen Publikum und Bühne wird dialektisch und herausfordernd für beide Seiten, wenn keine Zeit für Dekorationen und Adjektive ist. Dringlichkeit kann nicht in Auftrag gegeben, kann nicht eingeladen werden. Dringlichkeit ist, wie Privilegien, historisch gegeben. Wenn sich jemand im öffentlichen Raum befindet, und es juckt unter den Kleidern – wird dieser Jemand, höchstwahrscheinlich, das Jucken ignorieren und weitergehen. Aber wenn das Jucken ein Schlangenbiss ist. Dann wird Ent-lernen zu einem Notstandsgesetz. Man macht sich nackt, weil man muss. Man erhebt die Stimme, weil man muss. Man fordert Aufmerksamkeit, weil man muss.

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Vielleicht ist Ent-lernen einfach Zuhören. Das stille Wasser aufspüren, das unter jedem Wissenssystem fließt? Den Text lesen, aber im Raum zwischen den Worten innehalten. Vielleicht ist Ent-lernen einfach die Fahrt entschleunigen und nach dem zu schauen, was auf dem Weg verloren gegangen ist? Das Fenster öffnen und in die Dunkelheit schreien, wissend, dass da etwas warten muss, unerkannt. Vielleicht ist Ent-lernen, einfach zu zählen, wie oft am Tag jemand entscheidet zu schreien, aus vollem Halse: „Wer ist nicht hier?“

Sivan Ben Yishai ist Autorin und Regisseurin. Der Beitrag „Das Chaos der Selbstrevolte“ ist zuerst im Theater-treffen-Magazin 2018 erschienen.

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KLANGLICHE KOMPASSNADELN IN SCHLECHTEN ZEITEN! WAS KANN DER JAZZ TUN? ODER WENN DER JAZZ IN BERLIN GESTORBEN IST, KÖNNTE BERLIN AUCH EIN ORT SEINER WIEDERBELEBUNG SEIN Bonaventure Soh Bejeng Ndikung

TRÄUMEN IN FREMDEN – nach Caliban Gib deine Kehle her für alles, nicht dein Wort, die Sache selbst. Was der Körper spricht, ist nicht zu übersetzen, wie immer ein unbevölkerter Schmerz, unsere Münder um die Vergangenheit geschlossen wie Messer. Jah, denk an unsere Worte, unsere Wunde. Unser Ausreißer kletterte tief in die Cockpithügel, küsste sein gutes Gedächtnis in den Kalkstein, in die blaue Farnschlucht, baute dasselbe Feuer, das sie verbrennt diese gestohlenen Ränder, unser heiliger doppelter Blick, Shantytowns aufgeschlitzt von Ohr zu Ohr schwarz. Die Umstände haben uns hier zu Fremden gemacht, wilder Tanz, den wir langsam vergessen; was Heimat ist. Der Himmel von Montego Bay eine nachklingende Fackel der Meuterei. Rebellion. Hier verschwöre ich mich mit dem Fischmonster, zünde an und randaliere mit Zuckerrohr, mit Shame-a-Ladies, bürste Palmen in Solidarität mit jedem Stachel, jedem schüchternen Tentakel, unsere Körper öffnen und schließen sich gierig, atmen die Dunkelheit unmöglich. Wie die Zeit mich hält, unter einem Schatten, den ich nicht benennen kann, die Buschmusik und ihr süßes Bangarang. Weck mich nicht auf. Downtown werde ich wild umherstreifen mit den unwahrscheinlichen Goats, Fensterputzer, die durch den Verkehr rasen, reifer Straßenjunge, der seine endlose Hoffnung zum Tausch anbietet: Jeder Tag ist zu gebrauchen, möchte ich ihnen sagen. Unser Hunger ist kriminell, die Gesichter sind zugenäht.

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Sie schnüren unsere Zungen ein, die Lieder von unbekannten Vögeln, eine ausgestorbene Diktion. Feuer verbrenne diesen Schiffbruch, seinen ziellosen Fluch. Jah, leite diese Worte, dieses Leben eine unsichtbare Säule, meine einzige Blutlinie dehnt sich aus, rote Lebensader, erscheint quer über diesen entführten Dekaden, erfindet das Paradies. (Safiya Sinclair: Cannibal)

Erster Akt Das Bedürfnis, sich mit der Erfindung und Neuerfindung von Utopien zu befassen, hat es schon immer gegeben, insbesondere unter den Prekarisierten und Entrechteten der Menschheitsgeschichte. Wir befinden uns in diesen schrecklichen Momenten, in den Klauen der extremen politischen und sozioökonomischen Erfordernisse unserer Zeit. Tausende von Menschen haben als zerbrechliche kollektive Körper ihre Heimat in Honduras oder Guatemala, Kamerun oder Nigeria, Syrien oder Jemen verlassen, um sich auf die unmenschlichsten und unbequemsten Prozesse des Übergangs einzulassen – zu Fuß durch die Gefahren der Wüste oder über das Mittelmeer –, nur um den Untergang zu finden oder die Festung Europa oder die Mauern der Vereinigten Staaten. Der Rechtsruck, die Wiederauferstehung des Protofaschismus, das Erstarken des Autoritarismus ist nicht mehr nur eine Befürchtung, sondern Realität. Wir erleben, wie Rassisten, Frauenfeinde, Fremdenhasser und Neoliberale in den USA, Brasilien, Italien, Polen, Indien, England oder Kamerun demokratisch gewählt werden, und wie in Deutschland oder England rechtsextreme politische Bewegungen entstehen. Wir leben in Zeiten, in denen innerhalb derselben Woche Rohrbomben an politische Gegner verschickt und unschuldige Betende in einer Synagoge angegriffen werden. Zeiten, in denen Schwarze und Braune, Frauen und LGBTQ-Gemeinschaften auf der ganzen Welt buchstäblich in der Schusslinie stehen und den Bedrohungen des Patriarchats und des Hyperkapitalismus ausgesetzt sind. Was kann der Jazz in diesen schwierigen und herausfordernden Zeiten tun, in denen wir all unsere Vorstellungskraft brauchen, um diese Utopie heraufzubeschwören – und jene Konstellationen, die an die sozio-politischen und ökonomischen Kontexte erinnern, in denen das, was wir als Jazz bezeichnen, entstanden ist? Nehmen wir als Haupthimmelsrichtung We Insist! Freedom Now Suite von Max Roach und Abbey Lincoln aus dem Jahr 1960 – diese klanglich verkörperte QuasiGeschichtsstunde, die uns vom staubtrockenen Kernstück der Unterdrückung, dem Sklavengesang Driva’ Man, durch die Beschwörung Triptych: Prayer/Protest/Peace führt – zu der Nat Hentoff in den Liner Notes schreibt, dass es die „Entfesselung von Wut und Zorn ist, die so lange in Angst komprimiert waren, dass die einzige Katharsis das äußerst schmerzhafte Herausreißen all der aufgestauten Wut sein kann“ und das damit endet, dass es uns mit Tears For Johannesburg, einem Gelöbnis für Freiheit überall auf der Welt, zurück nach Afrika führt, einem Stück, das in Solidarität und als Reaktion auf

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das Massaker von Sharpeville in Südafrika 1960 komponiert wurde, bei dem die Polizei des Apartheid-Regimes das Feuer auf die Menge eröffnete und 69 Menschen tötete. In einer späten Rezension von We Insist! schrieb Nick Reynolds, dass „in den letzten vierzig Jahren das Wort ‚Freiheit‘ zerkaut, ausgespuckt, herumgekickt und zur Rechtfertigung von so ziemlich allem verwendet wurde. We Insist! bringt einen zurück in eine Zeit, in der es noch etwas bedeutete.“ Mit anderen Worten: Jazz kann Protest sein. Er kann Katalysator sein für den Ausdruck von Wut, er kann der Raum sein, in dem eine Katharsis stattfindet, in dem Protest das Gleiche ist wie radikale Liebe. Er kann Solidarität anbieten und ermöglichen und in seiner Klanglichkeit eine Koalition der Unterdrückten beschwören. Diese Art der Beschwörung, die Dutty Boukman und Cécile Fatiman im August 1791 im Bois Caïman erzeugten und die als Katalysator für den Sklavenaufstand diente, der zur haitianischen Revolution wurde.

Was also kann der Jazz tun? Doch bevor man sich mit der Idee einer Koalition auseinandersetzt, muss man notwendigerweise sein eigenes „Selbst“ finden … sei es „durch das Berühren der Rückseite unseres Verstandes“, wie es so überzeugend in Staircase Struggle von Nicole Mitchell und dem Black Earth Ensemble in Mandorla Awakening II: Emerging Worlds zum Ausdruck kommt. Oder sei es in Form dessen, was Zim Ngqawana als „eine Studie des Selbst“ beschreibt: „Es geht darum, wer ich bin, was ich getan habe, was ich tue und wohin ich mich mit meiner Musik entwickle.“ Er fährt fort, dass „der Tod durch den stillen Moment nach jedem Ausatmen studiert werden kann“ und schlägt vor, dass „alle große Musik einen zur Stille führen sollte – zu einem selbst“. Jazz kann also die Introspektive oder Reflexion fördern – physisch, psychisch und spirituell. Es geht um jene Art der Suche nach dem Selbst, die nicht einem direkten und linearen Weg der Selbstfindung oder der Chrononormativität folgen muss, sondern ein Mäandern durch eine Fülle von Körpern ist, von geografischen und spirituellen Räumen, durch die uns auch Alice Coltrane in Journey in Satchidananda (Impulse!, 1970) geführt hat; oder wenn Alice Coltrane und Carlos Santana uns in Illuminations (Columbia, 1974) über unsere Ohren auf eine Mission zur Erreichung dieses Selbst mitnehmen, durch die Beschwörung eines höheren Wesens, und natürlich auch zur Göttlichkeit, wenn in Universal Consciousness (Impulse!, 1971) dieses Selbst in Rhythmus, Synchronisation und Einklang mit dem Universum gebracht wird. Ob Genres wie Malombo als Jazz gelten oder nicht, ist irrelevant und banal, denn das „Malombo“, das den Jazz in Südafrika verändert hat, ist ein Venda-Wort und bedeutet „Geist“. Im Pidgin der kamerunischen Grasländer bedeutet Jazz „Hexerei“. Die Möglichkeit von Malombo-Urvätern wie Philip Tabane, aus den Quellen der Ahnen zu schöpfen, andere Musiktraditionen zu beschwören, den Jazz als Umweg zu nutzen, durch den sich die Komponist*innen und Musiker*innen auf sich selbst beziehen konnten oder, wie Galane in The music of Philip Tabane hervorhebt (eine Textstelle, die Asher Simiso Gamedze in seiner Arbeit It’s in the out sides: An investigation into the cosmological contexts of South African jazz zitiert): „Beim Malombo führt der Lelombo/Lelopo oder die Leadsänger*in bzw. eingeweihte Praktizierende das Lied an und die anderen

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Eingeweihten oder Malombo/Malopo antworten. Die Struktur ist zyklisch, mit einem gleichbleibenden Refrain und verschiedenen Soloabschnitten. Die Sprache der einheimischen Malombo/Malopo ist oft die Sprache des*der eingeweihten Praktizierenden.“ So kann der Jazz uns in diese spirituellen Sphären hineintragen und begleiten.

Was also kann der Jazz tun? LeRoi Jones/Amiri Baraka äußerte sich in Jazz and the White Critic (1960) sehr kritisch gegenüber weißen Jazzkritiker*innen und -musiker*innen. Er sagte, dass die ersten weißen Kritiker*innen versuchten, den Jazz zu verstehen, um das Geheimnis der Subkultur, aus der die Musik hervorging, und das Geheimnis des Lebens der Schwarzen zu verstehen und sich diese Geheimnisse anzueignen, und dass der Hauptfehler der weißen Kritiker*innen darin besteht, dass sie die Musik zu leichtfertig ihrer sozialen und kulturellen Intention berauben, weil Jazz (in kritischer Hinsicht) nicht vollständig verstanden werden kann, ohne den Haltungen, die ihn hervorgebracht haben, Beachtung zu schenken: „Weil die meisten Jazzkritiker weiße Mittelschichtler sind, setzen die meisten Jazzkritiker weiße Mittelschichtsstandards der Exzellenz als Kriterien für die Aufführung einer Musik durch, die in ihren tiefsten Ausprägungen völlig gegensätzlich zu solchen Standards ist; tatsächlich ist sie oft eine direkte Reaktion auf diese Standards.“ (Amiri Baraka: Jazz and the White Critic, 1960.) Trotz dieser harten Worte Barakas war und ist der Jazz immer noch eine der gastfreundlichsten Formen und Disziplinen, die man sich vorstellen kann. Er hat Musikgenres aus Indien oder Kamerun, Mali, Äthiopien oder Finnland, aus Brasilien und sogar aus Deutschland aufgenommen, ebenso wie er umgekehrt in Musikkulturen in aller Welt zu Gast war. Der Jazz war Gastgeber für Menschen und Musiker*innen aus unterschiedlichen geografischen Räumen, mit unterschiedlichen Hautfarben, Klassen und Geschlechtern, wie man am Bamako*Chicago Sound System oder dem Black Earth Ensemble sehen kann. Und der Jazz hat sich als Gefäß und Träger für alle Arten von existenziellen Fragen, Liebesbotschaften, Belastungen und vielem mehr zur Verfügung gestellt; es ist seine Fähigkeit, die Fragilität des gleichzeitigen Gast- und Gastgeberseins offenzulegen, mit der man sich näher befassen muss.

Was kann der Jazz tun? Wenn wir darüber nachdenken, was Jazz bewirken kann, sollten wir die heilenden Aspekte des Klangs nicht vergessen. Und es geht dabei nicht nur um die Heilung des einzelnen, sondern um die Heilung des kollektiven Körpers und Geistes. Im Jahr 2014 veröffentlichte Hrayr Attarian einen Artikel über Jazz, Heilung und Musiktherapie bei bestimmten neurologischen Erkrankungen; mit besonderem Bezug zur Geschichte des Trompeters Louis Smith, der unter anderem für seine Alben Here Comes Louis Smith (Blue Note, 1958) und Smithville (Blue Note, 1958) bekannt ist. Louis Smith erlitt 2006 einen Schlaganfall, der zu einer vollständigen Lähmung seines rechten Arms und Beins sowie seiner rechten Gesichtshälfte führte und den Verlust seiner Sprachfähigkeit zur

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Folge hatte. Logopäd*innen setzten eine geniale Methode ein, um Smith zu helfen, seine Sprache wiederzuerlangen; sie forderten ihn auf, das Trompetespielen neu zu erlernen. Durch die Melodische Intonationstherapie (MIT) erlangte Smith einige funktionale Sprachfähigkeiten zurück, lernte, mit der linken Hand Trompete zu spielen, und begann wieder zu improvisieren. Interessanterweise schreibt LeRoi Jones/Amiri Baraka in seinem 1963 erschienenen Essay A Jazz Great: John Coltrane, dass es sich für ihn, als er eines Abends Coltrane dabei zuhörte, wie er das Hauptthema von Confirmation mehr als 20 Mal hintereinander improvisierte, auf erschreckende Weise so anfühlte, als würde ein erwachsener Mann das Sprechen lernen. Und er war davon überzeugt, dass genau dies geschah. Die Forschung hat gezeigt, dass während der Improvisation die Aktivität in den Bereichen des Gehirns zunimmt, die für autobiografische Erzählungen und intern motivierte, selbst erzeugte und reizunabhängige Verhaltensweisen verantwortlich sind. Die spirituelle Heilwirkung des Klangs wurde ebenfalls breit diskutiert. In dem bereits erwähnten Text von Asher Simiso Gamedze beschreibt er Krankheit als die Inbesitznahme oder den Moment des Eindringens der Ahnen in die Körper der Lebenden, sodass wiederum „die Funktion von Malombo darin besteht, eine kranke Person durch Inbesitznahme zu heilen“, und die Person dann geheilt ist, wenn es dem Geist gelingt, in sie einzudringen“ (Victor Ralushai: The origin and social significance of Malombo, 1984). Bei den Gnawas werden spirituell Schwache, Besessene und sogenannte Verrückte durch Gnawa-Musik und rituelle Praktiken unter der Leitung eines Maalem geheilt. Durch die Performativität von Liturgien, die lila oder derdeba genannt werden, stellen die Gnawa-Zeremonien das erste Opfer und die Entstehung des Universums durch die Beschwörung der sieben Hauptmanifestationen der göttlichen demiurgischen Aktivität wieder her.

Was also kann der Jazz tun? Als Klang, der aus dem Widerstand geboren wurde, muss der Jazz auch hinsichtlich der Komplexität von Widerstandsformen betrachtet werden, die über den Widerstand als Affront hinausgeht; vor allem hinsichtlich des Widerstands in Form der „Marronage“ – der Flucht und des Rückzugs. Jazz selbst ist Marronage, aber auch Ermöglicher von Marronage. In der Binarität von „Kampf oder Flucht“ wird oft der Kampf als aktive Form des Widerstands betrachtet. Aber in der Geschichte der Sklaverei in der Karibik und in Lateinamerika, zum Beispiel auf Barbados oder Jamaika, in Brasilien oder Surinam, aber auch im Indischen Ozean, zum Beispiel auf La Réunion, diente die Marronage den Sklaven als Möglichkeit, von den Plantagen zu fliehen und Maroon-Gemeinschaften in den Randgebieten der Sklavenbetriebe zu bilden: sei es in Form der petit marronage, bei der Menschen für kurze Zeit entkamen, um dann zurückzukehren, oder der grand marronage, bei der sie dauerhaft entkamen. Im Mittelpunkt stehen dabei Strategien des Widerstands, die in einigen Kolonien zu Aufständen führten. In ihren Verstecken konnten die Maroons das Plantagensystem durch ihre bloße Abwesenheit herausfordern, indem sie die Plantage ihrer Arbeitskräfte beraubten, die Plantagen angriffen oder ihre Freiheit und Autonomie aushandelten – aber auch indem sie andere dazu ermutigten oder anstifteten, ihrem Beispiel zu folgen.

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Faszinierend am Akt der Marronage ist aber auch die Fähigkeit, sich aus dem Raum des Lichts und der Erleuchtung, der gleichbedeutend mit der Plantage ist, in die Dunkelheit zurückzuziehen. Dunkelheit nicht als das Gegenteil von Licht, sondern als jener Raum, zu dem wir, die Maroons und andere Eingeweihte, Zugang haben, aber eben nicht alle. Dunkelheit als der Raum, in dem wir, die wir zur Unsichtbarkeit verdammt sind, Trost suchen. Dunkelheit als der Raum, in dem ihr uns nicht sehen könnt, weil ihr im Licht seid, aber wir können euch sehen … und vor allem können wir uns sehen, das heißt jeden von uns, und uns um einander kümmern, weil unsere Augen sich an diese Dunkelheit angepasst haben und wir uns gegenseitig spüren können. In diesen düsteren gesellschaftspolitischen Momenten kann uns der Jazz also diesen Rückzugsort bieten, diese Dunkelheit, diesen Raum der Marronage, diese Flucht aus den Räumen der Hyper-Illumination. Jazz kann uns klangliche und physische Räume der Rekalibrierung und Neuausrichtung bieten. Räume für Eingeweihte, in denen wir es uns leisten können, sicher zu sein; uns mit existenziellen Fragen zu befassen, Gedichte zu schreiben, das Leben zu leben oder einfach nur Mensch zu sein. Nicole Mitchell drückt es in Staircase Struggle noch differenzierter aus, wenn sie sagt: „Einige von uns hatten das Glück, unsere Hände in die schwarze Erde zu stecken. Wir haben instinktiv gelernt, dass die Dunkelheit wichtig ist. Dort ist der Geist frei. Vögel singen miteinander verwobene Lieder der Vorstellungskraft. Eine Nation der Bilder von unendlichen Möglichkeiten. Es gibt einen Ort der Innovation, der Improvisation, des Unmöglichen. Das ist der Ort unseres Überlebens. Viele sind eingetaucht, um von seiner Kraft zu trinken. Dunkelheit ist Schönheit und wird es immer sein. Neue Welten und Worte können diese illusionäre Welt verändern. Tritt ein.“

Also, was kann der Jazz tun? Jazz hat keine Angst davor, ein Raum der Unsicherheit zu sein oder einen solchen zu schaffen. Er hat keine Angst vor Verletzlichkeit. „Kunst ist am besten, wenn sie in der Lage ist, Verletzlichkeit zu zeigen. Sie ist in der Lage, die Menschlichkeit des Künstlers zu zeigen und diese Menschlichkeit und Verletzlichkeit auch im Betrachter zu wecken“, sagte Black Thought alias Tariq Trotter in Between The World And Black Thought. Toxische Bilder von Männlichkeit haben uns fälschlicherweise gelehrt, dass Verletzlichkeit Schwäche sei – und das Patriarchat Stärke. In den Gesprächen über Verletzlichkeit, die ich mit meiner Kollegin und Freundin Natasha Ginwala führe, werde ich immer wieder daran erinnert, dass Verletzlichkeit eher eine Position der Stärke als der Schwäche sein kann; sie kann eine Position des Widerstands sein und nicht der Passivität. Der Jazz kann also diese Räume bieten, in denen Menschen und die Gesellschaft ihre Wunden zeigen können, und die Geschichte des Jazz ist ein Beleg dafür. Der Prozess, sich einander zuzuwenden und anzuerkennen, dass wir alle irgendeine Art von Wunde haben, ist entscheidend. Denn nur wenn wir uns diese Verletzlichkeit eingestehen, können wir uns wirklich sehen, miteinander sprechen und uns gegenseitig heilen. Die Kunst kann dieser Raum sein, oder diese Möglichkeit, die Wunden unserer Zeit darzustellen und dann einen Weg der individuellen und kollektiven Heilung zu bieten. Eine Katharsis. Wie kann der Jazz uns bei Prozessen des Ver- und

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Entsorgens oder des Wieder-Gesundens helfen – kognitiv, emotional, körperlich, gesellschaftlich und menschlich?

Zweiter Akt Für mich stand Berlin immer auf eine seltsame und perverse Weise für den Untergang des Jazz. Nicht wegen der Berliner Jazzszene an sich, sondern weil in Berlin zwei Menschen gestorben sind, die nicht nur Jazz spielten, sondern für mich die Verkörperung und der Inbegriff des Jazz waren. Am 28. Juni 1964 brach Eric Allan Dolphy, amerikanischer Flötist, Klarinettist und Saxophonist, in Berlin zusammen und starb am nächsten Tag in einem Berliner Krankenhaus, im Alter von 36 Jahren, offenbar an einer nicht diagnostizierten Diabeteserkrankung. Der virtuose Improvisateur hatte 27 Tage vor seinem Tod in den Niederlanden ein Konzert aufgenommen, das als Last Date veröffentlicht wurde – im selben Jahr, 1964, in dem auch das Album Out to Lunch! erschien. Dolphy war Anfang 1964 mit dem Sextett von Charles Mingus auf Europatournee und bereitete sich darauf vor, eine Aufnahme mit Albert Ayler zu machen. Als Dolphy nach seinem Zusammenbruch ins Krankenhaus gebracht wurde, dachte der diensthabende Arzt, dass Dolphy eine Überdosis Drogen genommen hätte, obwohl Dolphy sein ganzes Leben lang Alkohol und Drogen gemieden hatte. Es heißt, dass die Verzögerung der Behandlung sein Ableben zumindest beschleunigt habe. Ob diese Gerüchte wahr sind oder nicht, ist eher nebensächlich. Es geht um das plötzliche Ende eines zarten Jazzlebens in Berlin. Johnny Mbizo Dyani, zweifellos einer der besten Kontrabassisten des afrikanischen Kontinents, war 1964 aus Südafrika (dem Südafrika der Apartheid) geflohen, um in Europa nach grüneren politischen und musikalischen Weiden zu suchen. Mbizo war Mitglied der Jazzband The Blue Notes mit Dudu Pukwana, Mongezi Feza, Chris McGregor, Nikele Moyake und Louis Moholo und später Mitglied von The Brotherhood of Breath. Zusammen mit Mongezi Feza und Okay Temiz nahm er das Album Music for Xaba auf. Der Jazz sollte nie mehr derselbe sein, nachdem Mbizo und seine Mitstreiter in Europa und Amerika unterwegs waren und mit Dollar Brand/Abdullah Ibrahim, Don Cherry, Mal Waldron und vielen anderen aufnahmen. 1986 arbeitete Mbizo auf eine Deutschlandtournee des Johnny Dyani South African Project hin, unter anderen mit der Sängerin Pinise Saul und in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Jazz gegen Apartheid“ unter der Leitung von Jürgen Leinhos. Laut Lars Rasmussen wurde die Tournee am 16. Oktober 1986 im Quartier Latin in Berlin im Rahmen der Berliner Festspiele eröffnet. Am Tag des Konzerts leitete Mbizo die Proben auf dem Boden liegend und fühlte sich nicht wohl, war aber am Abend fit genug, um zu spielen. Nach dem Konzert brach er hinter der Bühne zusammen und fiel ins Koma. Nach zehn Tagen Koma im Elisabeth-Krankenhaus starb Mbizo am 26. Oktober im Alter von 39 Jahren (Lars Rasmussen: When Man and Bass Became One. Johnny Dyani 1947–1986, 2003). Leider haben diese Ereignisse meine Wahrnehmung von Jazz und Berlin beeinflusst. Aber man muss sich die Zeit nehmen, die unglaubliche Jazzszene dieser Stadt zu würdigen, von den Anfängen der Funk-Stunde Berlin, den Berliner Jazztagen, später

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dem Jazzfest Berlin, der Berliner Free Music Production (FMP), der Jazzbühne Berlin, Jazz in der Kammer oder Jazz im tip, um nur einige zu nennen. Und es gibt Hoffnung. Hoffnung – denn auch wenn Berlin trotz seiner hochinteressanten Jazzgeschichte noch immer die Erinnerung an den Untergang in sich trägt, könnte Berlin der Ort der Wiederbelebung sein. Hoffnung – weil mit der Ernennung einer jungen Kuratorin für das Jazzfest Berlin, Nadin Deventer, eine Frau von der Basis des Jazz im Ruhrgebiet und in Brüssel kommt, die sich auch im European Jazz Network engagiert; eine Kuratorin, die trotz ihrer Individualität auch Botschafterin einer Generation ist, die ein anderes Verständnis von Jazz vertritt und dabei das Hypervertraute umgeht; eine Kuratorin, in deren erster Saison wir das Art Ensemble of Chicago, Roscoe Mitchell, Moor Mother, Tania Giannouli Trio, Hamid Drake & Yuko Oshima, Julien Desprez & Rob Mazurek und viele andere sehen werden. Es gibt Hoffnung. Aber es gibt vor allem Hoffnung und Freude, weil wir dieses Festival mit der wunderbaren Nicole Mitchell beginnen, die mit ihrem Black Earth Ensemble Mandorla Awakening – Emerging Worlds performen wird, das 2015 vom Chicago Museum of Contemporary Art anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) in Auftrag gegeben wurde: zum ersten Mal in Deutschland. Es gibt Hoffnung in diesen düsteren Momenten, in denen wir leben, denn durch die Musik von Nicole Mitchell können wir uns eine neue Utopie vorstellen und existierende Utopien neu erfinden. Wie Nicole Mitchell so treffend in ihrer E-Mail-Signatur schreibt: „Willkommen zum Beginn einer neuen Ära. Die Zeit der Gerechtigkeit, der Klarheit, der Zusammenarbeit, des Aufbruchs …“

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung ist Kurator, Kunstkritiker und Autor sowie ab 2023 Intendant des Hauses der Kulturen der Welt (HKW). „Klangliche Kompassnadeln in schlechten Zeiten! Was kann der Jazz tun? oder Wenn der Jazz in Berlin gestorben ist, könnte Berlin auch ein Ort seiner Wiederbelebung sein“ (Sonic Compasses in Dire Times! So What Can Jazz Do? or If Jazz Died in Berlin Could Berlin Also Be a Point of Revivification) war seine Eröffnungsrede am 1. November 2018 beim Jazzfest Berlin.

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KEIN EINZELNES WESEN SEIN: OTOBONG NKANGA UND THEASTER GATES Robert Maharajh

„Die Politik schlägt vor, uns zu Besseren zu machen, aber es ging uns schon gut in der gegenseitigen Verschuldung, die sich niemals gut machen lässt. Wir schulden es einander gegenseitig, die Institution zu widerlegen, die Politik unverbesserlich zu machen, unsere eigene Festlegung Lügen zu strafen. Wir schulden einander das Unbestimmte. Wir schulden einander alles.“ 1 (Stefano Harney und Fred Moten) In Bezug auf seine Entscheidung, die Archive der Johnson Publishing Company zu erwerben, macht Theaster Gates deutlich, dass er sich nicht als Archivar im herkömmlichen Sinne versteht: „Meine Sammlungen sind immer noch aktives Rohmaterial, ich bastele immer noch daran herum … Die Zusammenstellung ist nie abgeschlossen, sie ist nicht immer abrufbar – es ist ein Haufen Zeug.“ 2 Was ihn interessiert, ist „die Macht, alltägliche Dinge so zu organisieren, dass die Leute verstehen, dass die Besonderheit nicht immer in der Sache selbst liegt – sondern darin, dass eine Gesellschaft, eine Nation, ein Volk oder eine Person sich die Mühe macht, sie zu organisieren.“ 3 Was wird in einem Archiv oder einer Institution aufbewahrt – und warum? Was hat Wert und ist zukunftsfähig, und was wird am Ende entwertet, verdrängt, im Keller versteckt? Diese Fragen sind zutiefst mit Macht, Autorität und Befehlshierarchien verbunden, wie Derrida zeigte, als er die Etymologie des Wortes auf das griechische Wort archeion zurückführte. In seiner Umschreibung bedeutet archeion: „ein Haus, ein Wohnsitz, eine Adresse, die Wohnung der höheren Magistratsangehörigen, der árchontes.“ 4 Für Otobong Nkanga gibt es keine einheitliche Vorstellung von einem Ort, an dem für etwas gesorgt wird: „Wenn man etwas in einen Ausstellungsraum stellt, erzwingt man damit, dass sich um diese Arbeit gekümmert wird.“ 5 Ihre Vision von Fürsorge ist ein relationales und fluktuierendes Feld. Dieses Verständnis prägt ihre künstlerische Praxis, die in einem expansiven Sinn sowohl Kunstinstitutionen als auch Netzwerke unabhängiger Organisationen als Verbreitungsorte nutzt. Ein Beispiel dafür ist ihr Projekt Carved to Flow (2017–heute), das sich in mehrere soziale Räume und Forschungsbereiche erstreckt. Es ist zu einem Modus der fortwährenden spekulativen Praxis geworden, die sich – unter der Rubrik der Fürsorge für die beteiligten Einrichtungen und Gebilde und des gemeinsamen Gestaltens – durch die Zeit, Krisen und improvisierten Zukünfte hindurch entfaltet. Die Strukturen, die Gates und Nkanga schaffen, entspringen ihrer Beschäftigung mit bestimmten Formen des Wissens und der sozialen Existenz, die unter Druck gesetzt, abgewertet und marginalisiert wurde oder wird. Ihre Praktiken erwachsen aus und sind tief verbunden mit Lebensformen, die ein Element dessen aufweisen, was die amerikanische Schriftstellerin und Akademikerin Saidiya Hartman als Eigenwilligkeit bezeichnen würde: Sie bilden so etwas wie eine Kurve, die neben der Linie von

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Autorität und Zentralität verläuft. Carved to Flow entstand 2017 in Athen während einer Zeit, als der griechische Staat wirtschaftlich zusammenbrach und sich die Migrationskrisen im Nahen Osten, in Nordafrika und Europa zuspitzten. Das Projekt verkörpert das Durchdenken von und Arbeiten mit dem, „was in einer Gesellschaft geschieht, die Menschen, Körper, Pflanzen und Tiere – einfach alles – zur Veränderung zwingt.“ 6 In ähnlicher Weise ist ein Großteil von Gates’ Praxis in das Leben der South Side von Chicago eingebettet, einer Gegend mit weitgehend Schwarzen Bewohner*innen, die jahrzehntelang unter Wirtschaftsflucht und Vernachlässigung durch die Bürger*innen sowie unter den Konsequenzen systematischer Benachteiligung litt. Konzepte von Eigenwilligkeit und Flüchtigkeit spielen ebenfalls im Werk von Fred Moten eine sehr große Rolle. In Anlehnung an Derridas Untersuchung zeichnet Moten eine Erblinie kultureller Autorität nach, die auf die Aufklärung zurückgeht (am deutlichsten ist sie in Kants Kritik der reinen Vernunft und anderen Publikationen der 1790erJahre definiert) und die die Grundidee des modernen Subjekts bildet. Moten zufolge sind Kants Propositionen ein katastrophales Ereignis in der Weltgeschichte. Und zwar aufgrund dessen, was er darin ausschließt: „Es ist das Abweichende, was Kant stört; es stellt in seinem System eine Störung von außen dar.“ 7 Was außerhalb der Kant’schen Prinzipien liegt – unregulierte Differenzierungs- oder Entstehungsprozesse –, befindet sich gleichzeitig außerhalb des Bereichs der Institutionen, wird abgewertet oder als Störung bzw. Bedrohung kodiert. Entscheidend für Moten ist, dass einer der wichtigsten Störfaktoren der der „Rasse“ ist. Kants Anwendung des Rassebegriffs ist laut Moten sogar „das beispielhafte regulative und/oder teleologische Prinzip.“ 8 Das weite Feld, das außerhalb des regulierten institutionellen Denkens liegt – und insbesondere die Identifikation mit Blackness und Schwarzen oder „eigenwilligen“ Lebensformen – ist das, was Moten und sein Mitstreiter Stefano Harney erforschen und worin sie sich über das Konzept des „Studiums“ engagieren. Es ist ein Terrain außerhalb der politischen, akademischen oder institutionellen Sphäre, das aus dem gemeinschaftlichen Prozess, der sozialen Aktivität hervorgeht – oder vielleicht auch nur aus dem „Konsens, kein einzelnes Wesen zu sein“ 9, um Édouard Glissant zu zitieren. Dieser Konsens ist jedoch nicht als Akt der Subjektivität zu verstehen, sondern als soziales Feld. „Wir sind der Idee verpflichtet, dass Studieren etwas ist, das man gemeinsam mit anderen Menschen macht“ 10, schreiben Moten und Harney in The Undercommons. „Es ist das Reden und Umhergehen mit anderen Menschen, das Arbeiten, Tanzen, Leiden, eine nicht reduzierbare Konvergenz dieser drei Dinge, die unter dem Begriff der spekulativen Praxis zusammengefasst werden können […]. Der Sinn, es Studium zu nennen, besteht darin, deutlich zu machen, dass die unaufhörliche und irreversible Intellektualität dieser Aktivitäten bereits vorhanden ist […]. Diese Dinge zu tun, bedeutet, sich an einer Art gemeinsamer intellektueller Praxis zu beteiligen. Es ist wichtig, dies anzuerkennen – denn diese Anerkennung ermöglicht den Zugang zu einer vielfältigen, alternativen Geistesgeschichte.“ 11 Durch Prozesse der Fürsorge und des Studiums sind sowohl Gates als auch Nkanga in soziale Felder und Lebensformen eingebunden und setzen sich mit Geistesgeschichten auseinander, die der stark rassifizierten Linie Kant’scher Regulierung und institutioneller Parameter nebengelagert sind. Während sie mit Institutionen interagieren, errichten beide Künstler*innen auch Gegenräume als Mittel zur Bewahrung und

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Verbreitung von Kultur und bringen damit eine greifbare Art der Fürsorge für die Gemeinschaften, deren Teil sie sind, zum Ausdruck. Gleichzeitig überdenken sie die relationale Natur des Kunstwerks auf diese Weise vollkommen neu. Gates’ Interesse am Archiv der Johnson Publishing Company, die 1942 von dem afroamerikanischen Geschäftsmann John H. Johnson gegründet wurde, rührte zum Teil daher, dass Leute erwähnten, sie hätten noch alte Ausgaben der Zeitschriften Ebony oder Jet. „In dem Moment, in dem du entscheidest, dass sie etwas anderes verdienen als den Keller, fängst du an, Kultur zu bewahren“ 12, sagt er. Das Archiv bildet inzwischen einen Kernbestandteil der Stony Island Arts Bank – früher eine verfallende, leerstehende Bank in South Side Chicago, einem Viertel, das hauptsächlich von Schwarzen und jüdischen Communitys bewohnt wird. Den Kauf und die Restaurierung des Gebäudes finanzierte Gates durch die Ausgabe von Bankanleihen als Kunstwerke auf der Art Basel 2013. So schuf er effektiv eine Gegeninstitution in einem Gebiet, das zuvor unter wirtschaftlicher Unterinvestition und Vernachlässigung litt. Moten schreibt über Gates in Nowhere, Everywhere: „Seine ortsgestaltende, dingliche Anordnung von Objekten in ungewöhnlichen Gärten, die in der fortwährenden, allgemeinen (Fehl-)Bewertung des Nichts als nichtig angesehen wurden, trägt dazu bei, nicht anerkannten Reichtum sichtbar zu machen und zu vermehren.“ 13 Nkanga erforscht „nicht anerkannten Reichtum“ in einer künstlerischen Praxis, die sich über Kontinente erstreckt, dabei gleichzeitig auf intensive Weise ortsgebunden bleibt und vielfältige soziale Räume und menschliche Existenzen umfasst. Die Seife, die als Teil von Carved to Flow produziert wird, stellt somit auch ein Archiv oder einen Index regionalen Wissens und psychischer Zustände dar. Die Einbeziehung von Holzkohle als Material beschwört den Begriff der Flüchtigkeit herauf: Sie entsteht durch die Erhitzung organischen Materials in Abwesenheit von Sauerstoff und symbolisiert die Degradierungen – physischer oder psychischer Natur –, die Menschen, Pflanzen oder ganze Länder nach Luft schnappen lassen, in die Flucht treiben oder erstarren lassen. Zugleich ist der Prozess der Seifenherstellung jedoch auch generativ: Es werden Kenntnisse des Ölanbaus, der Ölgewinnung, -herstellung und -lagerung genutzt (in Fortführung der alten Traditionen aus Aleppo). Das performative Umfeld der Seifenherstellung schafft einen Raum der Gemeinschaft und des Studiums, in dem Hersteller*innen, Verkäufer*innen und Zuschauer*innen zusammenkommen – der Kauf von Seife muss mit einem Gespräch beginnen. Die Arbeit erstreckt sich auch auf die wirtschaftliche Sphäre und hilft, Produzent*innen, Verkäufer*innen und andere am Prozess Beteiligte zu unterstützen. Seife hat besondere Eigenschaften. Wenn sie Archiv und Ware ist, dann ist sie auch Material – und zwar eines von eigentümlicher Intimität. Sie berührt die Haut, hinterlässt Spurenmoleküle; der Geist griechischer Olivenbäume und verkohlter Wälder – und der jener vielen Hände, die sie pflegten – verweilt in den Poren. „Ein Gefühl für das Fühlen anderer, die dich fühlen (…)“ 14, schreiben Moten und Harney in The Undercommon und verweisen auf die haptische Gemeinschaftlichkeit, die sie als Privileg der afrikanischen Diaspora sehen, als Erbe des Grauens des atlantischen Sklavenhandels: „Das ist das aufständische Gefühl der Moderne, ihre geerbte Liebkosung, das Sprechen ihrer Haut, die Berührung ihrer Zunge, die Rede ihres Atems, das Lachen ihrer Hand.“ (In Nkangas Wandteppichen, Zeichnungen und Workshops

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finden sich zahlreiche Bilder von Händen, die in der Pflege oder im gemeinschaftlichen Streben verbunden sind). In den frühen Phasen von Carved to Flow ging es darum, Materialien zu verstehen, indem disparate Elemente kombiniert und in Beziehung gesetzt wurden. Die dritte Phase der im Gropius Bau präsentierten Arbeit – Germination (dt. Keimung) – geht jedoch über Anbau, Herstellung und Wertschöpfung hinaus. Als Mittel zur Wiederherstellung, zur Rückzahlung der Wissensschuld, die in die Produktion der Seife eingeflossen ist, wird das vergängliche Objekt zu einem Vehikel für die Evolution in den Bereich der Bewahrung, der Weitergabe und des Austauschs von Wissen. Der Erlös aus dem Verkauf der Seife fließt in den Betrieb mehrerer Räume. Akwa Ibom Athen, kuratiert von Maya Tounta, wurde 2019 mit interaktiven Gesprächen über zirkuläre Ökonomien und Seifenherstellungs-Workshops mit Migrantinnen eröffnet. Akwa Ibom Ostnigeria, das sich auf dem Land der Familie Nkangas befindet, beginnt mit dem Ziel, lokales Wissen über Materialien zu bewahren – zum Beispiel in Bezug auf die traditionelle Verarbeitung von Bast sowie Palm- und Erdöl. Diese Traditionen sind durch die kommerzielle Ausbeutung großer Konzerne zunehmend gefährdet. Gleichzeitig bietet Akwa Ibom eine Unterstützungsstruktur für alle Beteiligten: In der Anfangsphase wird mit dem Verkauf von Produkten eine Mikroökonomie für die ortsansässigen Arbeiter*innen geschaffen. Carved to Flow ist ein sich ständig entwickelnder Prozess, der nicht auf individueller Subjektivität (oder „auktorialer/künstlerischer Souveränität“) basiert; das Projekt bildet einen unberechenbaren Verlauf in Raum und Zeit ab. Sein grundlegendes Feld ist nicht das der künstlerischen Form oder Intentionalität, sondern vielmehr das der gegenseitigen Beziehung und Fürsorge. Mit den Worten Nkangas: „Es geht nicht mehr darum, ein Kunstwerk zu schaffen – wenn man ein Teil davon ist, wird man zutiefst verantwortlich für alle anderen, die daran teilnehmen.“ 15 Im Raum des Werks ist die Ökonomie des Überlebens untrennbar mit psychischen Topografien verbunden, als Teil einer Meditation über die Beziehungen innerhalb von Nationalstaaten, Terrains und ökologischen Traumata: „Was bedeutet es, das Fehlen einer Unterstützungsstruktur für ein anderes Wesen zu überdenken?“ 16 Diese entscheidende Frage wird jedoch auch auf mikrokosmischer Ebene betrachtet: Um die Unterstützung der Betroffenen zu ermöglichen, wird die Form des Werks unter dem Begriff der „Metamorphose [zusammengefasst], als vielfältige Wege des Seins – sie folgt einer anderen Linie.“ 17 Die Improvisation ist zentraler Bestandteil der Praxis beider Künstler*innen. Gates’ Entwicklung vom Töpfer zum Stadterneuerer vollzog sich in mehreren, aufeinander aufbauenden Schritten, wobei die Natur und Poetik der einen Disziplin die andere beeinflusste. Er setzt dies mit seiner Biografie und den historischen Umständen in Beziehung: Sein Vater wurde kurz vor der Rente von einem Kühlschrankhersteller gefeuert, weil er sich weigerte, einen jüngeren Weißen auszubilden, der dann erfahrenere Schwarze Mitarbeiter leiten sollte. Er gründete eine Reihe von Unternehmen, um für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen: eine Autowaschanlage, einen Dachdeckerbetrieb, eine Immobiliensanierung und einen Süßigkeitenladen. „Mein Vater und meine Mutter … gehörten zu einer Generation, die sich fragte: Wie setzt man seine Fähigkeiten in etwas um, das einem hilft, zu überleben? Es hieß nie: ‚Mache eine Sache und mache sie gut.‘ Den Luxus dieser Philosophie konnten wir uns nicht leisten.“ 18

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Nkangas Arbeitsmethoden lassen sich ebenfalls mit ihrer Biografie in Verbindung bringen. Während ihrer Jugend in Nigeria half sie ihrer Mutter, einer Regierungsangestellten, Stoffe zu färben, die an Designer*innen verkauft wurden – als Einkommen in einer Zeit, als keine staatlichen Löhne gezahlt wurden. Die Bedeutung kommunaler Unterstützungsstrukturen ist bereits seit ihrer Kindheit in Afrika tief verwurzelt: „Wenn man sich nicht auf den Staat verlassen kann, wird es für die Menschen unerlässlich, ihre eigenen Formen der kommunalen Widerstandsfähigkeit zu schaffen. Dieser Ansatz bildet das Fundament von Carved to Flow: Es geht nicht darum, ob etwas ein Kunstwerk ist oder nicht, es geht darum, wie man Fürsorge – eine unterstützende Struktur – installiert. Wenn sich dazu die Form des Werkes komplett verändern muss, dann ist das in Ordnung.“ 19 Improvisation ist für Moten eine lebenswichtige Fähigkeit. Er führt die Wurzeln des Wortes auf das lateinische visare zurück – sehen; pro visare heißt also nach vorne schauen oder vorwärtsblicken. „Improvisieren bedeutet demnach fortzufahren, ohne nach vorne zu schauen, ohne Voraussicht“ 20, sagt er. Diese Verfahrensweise werde abgewertet, weil „die westliche philosophische Tradition ein idealisiertes Subjekt hervorbringt, dessen Rationalität sich, zumindest auf eine Weise, als Planung, als Voraussicht manifestiert. Und so wird einem Werk, das ohne diese Planung und Voraussicht entsteht, im Allgemeinen ein geringerer Bezug zu jener normativen Rationalität zugesprochen.“ 21 Während er jedoch das Thema durch seine Schriften weiter ausführt, legt er eine improvisatorische Fähigkeit zur Umgestaltung offen, die die Grenzen der rationalen Subjektivität überschreitet und die Codes der Rationalität durcheinander bringt, indem sie sich in ein Gebiet des Visionären bewegt: „Was ohne Voraussicht ist, ist nichts anderes als Voraussicht“ 22, schreibt er. Und diese Fähigkeit zur Improvisation eröffnet Möglichkeiten zur Dekonstruktion – vielleicht sogar zur Neuformulierung – der Aufklärung und ihrer bedrückenden sozio-politischen und kulturellen Manifestierungen.23 Wenn Improvisation nicht einfach Handlung oder Rede ohne Vorbereitungen ist, schreibt er, müsse man „mit einer Art Drehmoment vorausschauen, welches den Gegenstand der Betrachtung formt. Man muss dies tun, ohne die Assoziationen einzuschränken, durch eine Verdrehung der Epoche oder eine verdoppelte Wendung in der Schreibung und unvorbereiteten Gestaltung und Umgestaltung von Regeln, anstelle ihrer Befolgung.“ 24 Nkanga und Gates formulieren Regeln neu und schaffen Räume, die nicht dem normativen Ausdruck, sondern der Erforschung, dem Studium und der Improvisation in diesem visionären Sinne dienen; Orte, die nach außen blicken und miteinander verknüpfte Zukünfte formen und dabei die Brüche der Vergangenheit und Gegenwart mit einbeziehen. Mit Motens Worten könnte man dies als „Verweilen im Bruch“ bezeichnen; mit denen von Donna Haraway als „unruhig bleiben“.

Robert Maharajh ist Schriftsteller und Kurator und Editor at Large im Gropius Bau. Der Beitrag „Kein einzelnes Wesen sein: Otobong Nkanga und Theaster Gates“ ist zuerst 2020 im Gropius Bau Journal erschienen.

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IDENTITÄTSPOLITIK 1 Stefano Harney und Fred Moten: Die Undercommons: Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien 2016, S. 15. 2 Theaster Gates im Gespräch mit Andrew Perchuk, The Getty Center Conversation, Los Angeles, 8. Mai 2019: https:// www.youtube.com/watch?v=Cammz0BMWKU (Zugriff am 12. Oktober 2020). Übersetzt von Christoph Jehlicka. Die Archive der Johnson Publishing Company waren im Rahmen der Ausstellung „The Black Image Corporation. Theaster Gates“ vom 25. April bis 28. Juli 2019 zu sehen. 3 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 4 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S. 11. 5 “When you put something in an exhibition space you force that work to be taken care of.” Otobong Nkanga im Gespräch mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka. Otobong Nkanga war „In House: Artist in Residence“ 2019. Ihre Einzelausstellung „There’s No Such Thing as Solid Ground“ war vom 10. Juli bis 13. Dezember 2020 im Gropius Bau zu sehen.

9 Édouard Glissant im Gespräch mit Manthia Diawara, in: Manthia Diawara, Édouard Glissant: One World in Relation, K’a Yéléma Productions, 2009, 48 Min. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 10 Stefano Harney und Fred Moten: The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study (Wivenhoe, New York, Port Watson: Minor Compositions, 2013), S. 110. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 11 Ebd. 12 „Dance of Malaga: A Conversation with Theaster Gates“, a.a.O. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 13 Fred Moten: Black and Blur, Durham 2017, S. 165–166. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 14 Stefano Harney und Fred Moten: Die Undercommons: Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien 2016, S. 120. 15 Otobong Nkanga im Interview mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 16 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

6 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

17 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

7 Fred Moten: Stolen Life (Consent Not to Be a Single Being), Durham and London 2018, S. 1. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

18 „Conversations with Artists: Theaster Gates“, Theaster Gates im Gespräch mit Sarah Newman, National Gallery of Art, Washington D.C., April 2017: https://www.youtube.com/ watch?v=vCavX_VyL6c (Zugriff am 12. Oktober 2020).

8 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka.

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19 Otobong Nkanga im Interview mit Clara Meister, Kuratorische Referentin, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 20 Fred Moten im Gespräch mit Wu Tsang, Gropius Bau, 2019. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 21 Ebd. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 22 Fred Moten: In the Break: The Aesthetics of the Black Radical Tradition, Minneapolis und London 2003, S. 63. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 23 Vgl. Fred Moten: Stolen Life (Consent Not to Be a Single Being), a.a.O., S. 40–45. Übersetzt von Christoph Jehlicka. 24 Fred Moten: In the Break, a.a.O., S. 63. Übersetzt von Christoph Jehlicka.


MAKING KIN – VERWANDTSCHAFTEN SCHAFFEN Stephanie Rosenthal

Viel hat sich in den letzten knapp vier Jahren am Gropius Bau verändert, und wir konnten uns mit den Themen der Kunst verändern. Gemeinsam haben wir neue Formate aufgebaut, über 15 Ausstellungen kuratiert und die Institution neu benannt – der Name „Gropius Bau“ steht auch für eine Loslösung von einer einzelnen namentlich genannten Person, dem damaligen „Martin-Gropius-Bau“ und somit dem Architekten des Gebäudes und soll so auch Platz schaffen für die unterschiedlichen Erzähler*innen der Geschichte der Institution. Bei allen Gedanken über die Themen unserer Gegenwart und was eine Institution der Zukunft sein sollte, sind viele Ansprüche, mit denen ich hier begonnen habe, geblieben. Auch in den Jahren zuvor hatte ich immer wieder das Glück und die Möglichkeit, gemeinsam mit Künstler*innen intensiv an Ausstellungen zu arbeiten, die zum Dialog einladen, inspirieren, verführen und herausfordern. Vor dem Hintergrund der bewegten Geschichte des Hauses verstehen wir den Gropius Bau als offenen Rahmen für den Umgang mit verschiedensten künstlerischen Denkweisen und deren gesellschaftlichen Implikationen. Am Anfang haben wir einige architektonische Interventionen vorgenommen, um mehr Licht in das Gebäude zu lassen und es dem Denkmalschutz gemäß zu öffnen. Mein Wunsch war es, das Gebäude poröser wirken zu lassen, was geradezu unmöglich ist, aber ein Anliegen bleibt. Die Geschichte des Gropius Baus ist ebenso vielschichtig wie die Architektur des Gebäudes selbst, das im Stil der Renaissance errichtet wurde. Es hatte bereits viele Gesichter, war zunächst Kunstgewerbemuseum und Kunstgewerbeschule (ab 1881), beherbergte das Ethnologische Museum (ab 1921) sowie später auch das Museum für Vor- und Frühgeschichte (ab 1931). Unter dem Motto „Walking in the Artist’s Mind“ haben wir Studios in das Haus zurückgeholt und Künstler*innen als Mitwirkende ins Zentrum des Ausstellungsprogramms gerückt. Seit 2018 läuft unser Programm „In House: Artist in Residence, welches konkret Künstler*innen und ihre kreativen Prozesse in den Gropius Bau zurückholt. Diese sind eingeladen, aus existierenden institutionellen Formaten auszubrechen und mit uns das Ausstellungshaus für das 21. Jahrhundert neu zu denken. So konnten wir bisher Wu Tsang, Otobong Nkanga, Zheng Bo und SERAFINE1369 willkommen heißen. Produktion und Kreation zurück ins Ausstellungshaus holen konnten wir auch in der Zusammenarbeit mit Hella Jongerius und ihrem Studio Jongeriuslab, die in dem halben Jahr vor ihrer Ausstellungseröffnung das Studio und ihre Recherche in den 2. Stock des Gropius Baus verlagert haben und dort die neuen Werke für die Ausstellung herstellten, die sich kritisch mit Fragen nach Produktion und Nachhaltigkeit auseinandersetzten. Mit den Künstler*innen können wir auch unseren Blick auf unsere nahe Umgebung schärfen, uns aus unterschiedlichen Perspektiven mit Fragen der Nachhaltigkeit beschäftigen und den uns umgebenden Pflanzen begegnen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Nachhaltigkeit und der Kinship – also der Verwandtschaft der

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Arten – machten wir mit der Gruppenausstellung „Garten der irdischen Freuden“ sichtbar, und sie zog sich durch Residencies und Ausstellungen, wie der von Otobong Nkanga, die an den komplexen Beziehungen zwischen Mensch und Land interessiert ist und in ihren Arbeiten das Spannungsfeld von ausbeuterischen Extraktionsverfahren und Strukturen von Reparatur und Fürsorge untersucht. Der Künstler Zheng Bo betrachtet Pflanzen nie allein und lädt uns dazu ein, von ihren verflochtenen Lebensformen zu lernen, ganz von seinem Interesse bewegt, neue Formen der Auseinandersetzung mit der Klimakrise und eine Gleichstellung der unterschiedlichen Arten zu schaffen. Im Sommer 2021 fand das „Wanwu Council 萬物社“ am Gropius Bau und einem nahegelegenen Wald statt. Ausgehend von der Frage, wie der Gropius Bau eine mehr-als-menschliche Zukunft willkommen heißen kann, lud Zheng Bo zwölf Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Gärtner*innen als Ratsmitglieder ein, um gemeinsam zu überlegen, wie der Gropius Bau wanwu werden kann. Der daoistische Begriff „wanwu“ lässt sich als „zehntausend Dinge“ oder „Vielzahl von Ereignissen“ übersetzen, aber auch als „mehr-als-menschlich“ und steht so für die unendlichen Möglichkeiten des Lebens in all seinen Formen. Im Kontext der aktuellen Klima- und Umweltkrise hat Zheng Bo dieses Arbeitstreffen ins Leben gerufen, aus denen Manifeste entstanden, die weiter im Gropius Bau räsonieren werden. Das Thema, wie wir mit Ressourcen umgehen, wird nicht nur in den Ausstellungen sichtbar, sondern auch im Umgang mit der Institution und der Ausstellungsarchitektur. Einen Großteil der Ausstellungsarchitektur recyceln wir, und wir benutzen Rohmaterialien, die wir woanders entfernen, wieder in den Ausstellungsräumen: So wurden Steine aus unserem Parkplatz, die für eine Plattform entfernt wurden, zu Sockeln in der Ausstellung. Umbauten und räumliche Eingriffe basieren auf unserer Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit, das gilt für die Baumaterialien wie auch für die strukturelle Nachhaltigkeit, wenn wir an Arbeitsbedingungen denken. Der Blick auf unsere Umgebung, das bedeutet auch den Ausblick auf unsere Umgebung, vor allem auf die Ostseite unseres Gebäudes. Mit dem Leitspruch „The space the place“ – also der Raum und der Ort – beschäftigen wir uns einerseits mit der Geschichte des Hauses selbst wie auch mit dem Standort des Gropius Baus in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer. Einst teilte sie als physische Verkörperung unterschiedlicher Ideologien und erzeugt in unserer Zeit eine ganz neue symbolische Resonanz. In diesem Verständnis haben wir im Herbst 2018 die Filme von Ana Mendieta gezeigt und eine umfassende Werkschau von Lee Bul ausgerichtet. Als südkoreanische Künstlerin teilt Lee Bul die Erfahrung, in einem geteilten Land zu leben, ihr gleichermaßen erfinderisch-provokantes wie einflussreiches Werk verbindet sich mit zahlreichen Gedanken um Mauern und Grenzlinien jedweder Art. Im Mittelpunkt der Reflexionen von Ana Mendieta, aber auch Lee Bul steht die Frage, wohin wir gehören; auf welche Weise wir uns dieser Frage annähern können und das Recht auf Zugehörigkeit. Dies räsonierte auch in der Ausstellung „Durch Mauern Gehen“ zum 30. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer, die mit Grenzen und Trennungen verbundenen Vorstellungen in einem breiten gedanklichen und geografischen Kontext nachspürte und emotionale, psychologische und physische Bedeutungsschichten offenlegte, die weit über das Augenscheinliche hinausgingen. Sie beschäftigte sich mit der physischen Präsenz von Mauern und inwieweit diese als Orte der Trennung wirken; dem Einfluss

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von physischen und metaphorischen Mauern; und dem Kampf, diese vorhandenen Trennungen zu überwinden. Auch die im Herbst 2021 eröffnete Gruppenausstellung „The Cool and the Cold. Malerei aus den USA und der UdSSR 1960–1990“ nimmt diese thematische Auseinandersetzung auf und zeigt 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion US-amerikanische und sowjetische Kunst aus der Sammlung Ludwig. Die Ausstellung ermöglicht die kritische Gegenüberstellung von Werken aus beiden Lagern des Ost-West-Konflikts zur Zeit des Kalten Kriegs und die Betrachtung, wie damals Vorstellungen individueller und gesellschaftlicher Freiheit verhandelt wurden. So setzte sich unser Programm mit den Narben der Geschichte auseinander und auch mit der Frage, wie Fürsorge und Heilung miteinander verbunden sind. Dies ist, wie vieles in unserer Auseinandersetzung, sowohl inspiriert von den Künstler*innen, mit denen wir arbeiten, als auch vom Gropius Bau und seiner Geschichte selbst. Die Ruinen des 1945 stark bombardierten Gebäudes wurden Ende der 1970er-Jahre restauriert, wobei die sichtbaren Reparaturen ganz bewusst die Spuren der Kriegsschäden zeigen. Das Nachdenken darüber haben wir in der Ausstellung von Lee Mingwei und mit dem Performance-Programm „Rituals of Care“ in unsere Räume geholt, die mit experimentellen Choreografien, Heilungspraktiken und gemeinschaftlichem Zusammenkommen die grundlegenden Bedingungen, wie wir gemeinsam handeln und mit unserer Umwelt – der physischen wie auch spirituellen Welt und anderen Lebewesen – umgehen können, thematisierte. Mit unserer Forschungswoche und der anschließenden Ausstellung 2022 stellen wir uns der Komplexität von Fürsorge und Reparatur als materiellem und psychologischem Prozess und damit dem erweiterten Verständnis von Heilung. Denn bei dem Begriff der Fürsorge geht es nicht nur um Liebe oder Zuneigung. So diskutiert beispielsweise die Philosophin María Puig de la Bellacasa in ihrem Buch Matters of Care: Speculative Ethics in More Than Human Worlds (University of Minnesota Press, 2017) die Widersprüche und Spannungen, die verschiedene Formen des Sich-Sorgens und Sich-Kümmerns darstellen. Unser Ausstellungsprogramm bleibt geprägt von der Auseinandersetzung mit den Konzepten von Fürsorge und Reparatur, Gastlichkeit, Körper und Land, Transformation, Grenzen und Grenzziehungen. In den letzten Jahren begleitet mich Donna Haraways Staying with the Trouble (2016), und ich versuche immer, das Buch in meine Arbeit, unser Ausstellungshaus und das Ausstellungsmachen mitzudenken. Sie schreibt: „Wir alle Terra-Bewohner leben in verstörenden Zeiten, aufgewühlten Zeiten, beunruhigenden und trüben Zeiten.“ (Aus dem Englischen übersetzt nach Donna J. Haraway: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Duke University Press 2016, S. 1) Die Aufgabe für uns, die wir in einer öffentlichen Institution arbeiten, ist es, nicht wegzuschauen und nicht zu denken, dass wir die Welt ändert können. Aber ich denke, es ist dieser Prozess des Nicht-Aufgebens, den Haraway fordert, der entscheidend ist.

Stephanie Rosenthal ist Kunsthistorikerin und Kuratorin und seit Februar 2018 Direktorin des Gropius Baus.

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ANGEKOMMEN IM NIEMANDSLAND Jens Bisky

Vor dem Haus der Berliner Festspiele, an einem der idyllischen Orte mitten im Großstadtgewusel, die für Berlin so typisch sind, stehen zehn große Plakatwände mit Schwarz-Weiß-Fotografien. Man sieht darauf Menschen in Räumen, die erkennbar nicht die ihren sind und in denen sie doch Platz finden zum Ausruhen, Schauen, Nachsinnen, zum Warten vor allem. Eine Frau mit Kinderwagen steht in einem herrschaftlichen Flur vor verschlossenen Türen, ein junger Mann sitzt auf einem Stuhl vor zwei leeren, getrennt voneinander aufgestellten Betten, ein anderer sitzt im Marmorbad zwischen WC und Doppelwaschbecken. Vereinzelt wirken sie, ihre Gesichter sieht man kaum; sie wenden dem Betrachter den Rücken zu oder haben die Köpfe gesenkt, und meist sind sie verhüllt von Kopftuch oder Kapuze, geborgen in Stoff. Refugees In A State Apartment heißt die Fotoserie von Jens Ullrich. Sie ist vor dem Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße zu sehen oder in der Edition der Berliner Festspiele, Nummer 19, die an vielen Orten ausliegt, man kann sie sich auch von der Webseite herunterladen, ausdrucken – und hat dann eines der wenigen gelungenen Kunstwerke zur Berliner Gegenwart zwischen Hauptstadtroutine und Flüchtlingsalltag in der Hand. Hier wird nichts nachgespielt, hier wird nicht Journalismus imitiert – Ullrich hat sich ein Bild gemacht und bietet Bilder an zur Situation, Ankunftsbilder. Der Fotograf, Jahrgang 1968, lebt in der Nähe der Meldestelle in Moabit, wo die Flüchtlinge auf ihre Registrierung warten mussten: Stunden, Tage, Wochen. Er ist immer wieder dorthin gegangen, nach einiger Zeit auch mit seiner Kamera, um die Wartenden zu fotografieren. Einige von ihnen hat er in historische Bilder montiert, in Aufnahmen einer großzügigen Bremer Wollfabrikantenvilla. Diese Fotos stammen aus dem Jahr 1929, sie sind menschenleer, zeigen ein anspruchsvoll, aber nicht sehr geschmackssicher eingerichtetes Haus. Nachdem der Besitzer bankrottgegangen war, diente das Hundertzimmerhaus als Offizierskasino, Krankenhaus, Klinik für Drogenabhängige. Derzeit wird ein Käufer gesucht. Er habe, sagt Jens Ullrich, eine „eher ruhige und sagen wir passive Stimmung“ erzeugen wollen – und das, obwohl in seinen Ankunftsbildern Extreme aufeinandertreffen: Bilder deutscher Wohnkultur, die so vertraut wie vergangen wirken, und Bilder ganz zeitgemäß, modisch, praktisch Gekleideter. Wäre der Titel der Serie nicht, würde nicht jedes zweite Gespräch in der Stadt rasch um das Thema Flüchtlinge kreisen, man wüsste nicht sofort zu sagen, wer die Menschen auf diesen Bildern sind. Probeweise scheinen sie Platz genommen zu haben, ungewiss scheint alles auf diesen Bildern – die Zukunft der verwunschenen Räume und der nächste Schritt der Geflüchteten. Es sind Bilder einer offenen Situation, sehr willkommen in einer Stadt der Besserwisser.

Der Beitrag des Journalisten Jens Bisky „Angekommen im Niemandsland“ ist zuerst am 12. November 2015 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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Immersion



„ALLE BOTSCHAFTEN MEINTEN AUCH IMMER MICH“ Lucien Strauch

„Immersion“ ist der Name einer Programmreihe, die ab 2016 neben den lange etablierten Theater- und Musikfestivals Theatertreffen, MaerzMusik, Jazzfest Berlin, Musikfest Berlin und den Bundeswettbewerben unter dem Dach der Berliner Festspiele stattfindet. Immersion meint einen Vorgang des Eintauchens oder Eindringens, des sich In-etwasVertiefens, auch das Untertauchen des Kopfes bei einer Taufe ist im Englischen to immerse. Dass künstlerische Werke ‚eindringlich‘ auf uns wirken, ist keine Neuheit. Die Fiktionen oder Atmosphären von antiken Dramen, Romanen, Sinfonien oder uns über mehrere Staffeln hinweg absorbierende Serien dringen bisweilen in uns, berühren uns von innen heraus und im Innersten. Während diese wirkungsästhetische Perspektive auf Immersion kaum eines neuen kuratorischen Zugriffs bedarf, interessiert sich die gleichnamige Programmreihe eher für die Sichtbarmachung eines Genres und nimmt bei ihrer Gründung eine gegenläufige Bewegung in den Blick: Nicht nur das Werk dringt in sein Publikum ein, das Publikum dringt seinerseits in das Werk ein. Die Bühnenrampe und der Bilderrahmen zwischen Werk und Publikum geraten nicht mehr nur temporär aus dem Blickfeld, sondern lösen sich tatsächlich auf. Gleichzeitig findet, so definieren es die Berliner Festspiele von Anfang an für ihren Immersionsbegriff, eine weitere Grenzauflösung statt: jene der Grenze zwischen der zeitbasierten Kunstform des Theaters und der raumbasierten Kunstform der Ausstellung von bildender Kunst. So treffen zwei Disziplinen oder Genres, vor allem aber zwei Präsentationsformen aufeinander. Was ausgestellt wird, ist nicht mehr einfach nur da, statisch, um im eigenen Tempo frontal oder von allen Seiten betrachtet zu werden, und was gespielt wird, schwappt über die Rampe in den Saal. Exemplarisch für diese Verwischungen stehen zwei Arbeiten aus den Anfängen des auf fünf Jahre angelegten „Immersion“-Projekts: Mit RHIZOMAT entwirft Mona el Gammal 2016 in einem ehemaligen DDR-Fernmeldeamt in Berlin einen Narrative Space, der ohne Schauspieler*innen auskommt und doch durchgängig über drei Monate hinweg zwölf Stunden am Tag bespielt wird. Die ausgestellten Objekte selbst sind es, die inszeniert werden, sie reagieren – rhizomatisch – ihrerseits auf die Reaktionen der Besucher*innen und bilden eine komplexe Dystopie ab, deren Erzählungen und Zusammenhänge sich das Publikum im Durchwandern sukzessiv erschließt. Ist die Arbeit in dieser Form noch an einen physischen Ort gebunden, der, von Mauern umgeben und nach außen hin abgeschlossen, betreten und verlassen werden muss, löst sie sich in ihrer 360°-Virtual-Reality-Variante vom Aufführungsort und ist so potenziell überall auf der Welt zugänglich. Eine, wenn auch mit ganz anderem künstlerischem Gestus, ähnlich radikale Neubelebung eines historischen Ortes erlebt auch die Munitionsfabrik am Berliner Stadtrand, in der Ida Müller und Vegard Vinge vorübergehend das Nationaltheater Reinickendorf errichten, das neben einem Theaterbau als Herzstück auch eine „Panini-Kathedrale“,

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IMMERSION

eine Bar und ein U-Boot beherbergt. Begegnen sich Subjekte und Objekte im RHIZOMAT noch vergleichsweise mit Zurückhaltung, ist das Totaltheater von Vinge/ Müller eines der maximalen Konfrontation. Aus über 200 Stunden vorbereitetem Aufführungsmaterial entsteht eine immer wieder neu kombinierte zwölfstündige Theaternacht als sinnliche Überforderung. Als „Pausen“ ausgerufene Intermezzi geben nur vor, die verstreichenden Stunden zu strukturieren. Während Performer*innen hinter Horror-Masken ihr Publikum liebevoll mit Obst versorgen und die Dauer des Besuchs in der Wahrnehmung verschwimmt, hämmert Lana del Rey in zunehmend beunruhigendem Loop das Verstreichen der Lebenszeit aller Anwesenden ins Bewusstsein: „Will you still love me when I’m no longer young and beautiful?“ Nur eine gerade rechtzeitig zwischen dem mit einem schussbereiten Feuerlöscher bewaffneten Vegard Vinge und den Zuschauer*innenreihen heruntergelassene Plastikplane markiert die Grenzen der Grenzauflösung. Das Bespielen eines nicht unbedingt für die jeweilige Kunstform vorgesehenen Ortes, die Kombination, bisweilen Verschmelzung von Darstellung und Ausstellung, das Verwischen der räumlichen, affektiven und kognitiven Trennung von Bühne und Saal, von Akteur*innen und Publikum, letztlich von Subjekt und Objekt, und schließlich ein Umgang mit Zeit, der den Anspruch an ein bloß nicht länger als „abendfüllendes“ Werk häufig sprengt und Zeit eher als eine unendliche, vielleicht erneuerbare, Ressource begreift – diese Aspekte lassen sich als Charakteristika ausmachen, die sich auf viele der künstlerischen Werke und Formate, Ausstellungen und Stücke im Rahmen der Programmreihe „Immersion“ anwenden lassen. Sei es Jonathan Meeses ParsifalVision, die im Haus der Berliner Festspiele Installation und Oper ineinander übergehen lässt, sei es seine Virtual-Reality-Arbeit mit Brigitte Meese, die Einblicke in die vielleicht produktivste Mutter-Sohn-Beziehung der Gegenwartskunst bietet. Seien es Diskursformate wie Cornelius Puschkes „Schule der Distanz No. 1“ oder Ausstellungen von und mit Omer Fast, Ed Atkins, Philippe Parreno oder Tino Sehgal, die immer wieder neu die Konventionen dessen, was wir erwarten, wenn wir in eine „Ausstellung“ gehen, auf den Kopf stellen und beispielsweise im Fall von „Down to Earth“ weit über die Kunst hinaus in den Betrieb hineinragen. Blickt man durch die Brille der oben genannten Charakteristika über die Programmreihe „Immersion“ hinaus auf die letzten zehn Jahre der Berliner Festspielgeschichte, stellt man allerdings fest: Immersion gab es längst nicht nur bei „Immersion“. Immersive Formate finden auch in den anderen Programmbereichen und Festivals unter dem Dach der Berliner Festspiele statt und haben das schon lange getan. Schon bevor Mona el Gammal mit RHIZOMAT in der Programmreihe in Erscheinung trat, war sie 2014 mit der „Zeit- und Rauminstallation“ HAUS//NUMMER//NULL beim Stückemarkt des Theatertreffens vertreten. Das fiel in die kurze Phase, in der der Stückemarkt seine Modalitäten temporär geändert hatte: Statt dass eine Jury aus eingesandten Stücktexten auswählt, nominierten etablierte Künstler*innen jüngere Theatermacher*innen. Es ist kein Zufall, dass Mona el Gammal ausgerechnet von Signa Köstler für den Stückemarkt nominiert wurde, die ihrerseits mit der Gruppe SIGNA schon seit Beginn der 2000er-Jahre an immersiven Performances arbeitet. 2008 läuft das 84-stündige Die Erscheinungen der Martha Rubin beim Theatertreffen. SIGNA erschaffen, häufig an stillgelegten düsteren Orten, hyperrealistische atmosphärische Welten. Man

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kann diese Welten Stunde um Stunde durchwandern und, wie bei Mona el Gammal, aus gesammelten Hinweisen eine komplexe netzartige Erzählung zusammensetzen, man kann sich in diesen Welten verlieren. Anders als im RHIZOMAT kommt das Publikum bei SIGNA den Performer*innen häufig sehr nah, man fürchtet sich voreinander oder verbündet sich. Und bisweilen kommt es vor, dass Performer*in und Zuschauer*in sich außerhalb des Formats, in der Sphäre ihres privaten Alltags, zufällig wiederbegegnen und dann unweigerlich in die gemeinsame intensive Erfahrung der SIGNA-Welt zurückkatapultiert werden. Allein aus den letzten zehn Jahren Theatertreffen fallen eine Fülle von Arbeiten ins Auge, die die Grenzen des Theaters sprengten, in räumlicher, zeitlicher wie oft auch produktionspraktischer Hinsicht: Mit Show Me A Good Time (Theatertreffen 2021) reagieren Gob Squad auf die pandemischen Einschränkungen und machen für zwölf Stunden die Straßen Berlins zu ihrem Theaterraum, mit den Zuschauer*innen per Live-Schaltung verbunden, immer zur „vollen halben Stunde“ lachen Performer*innen und Publikum, ob sie wollen oder nicht, ein minutenlanges kathartisches Lachen. Christopher Rüping und sein Ensemble laden mit Dionysos Stadt (Theatertreffen 2019) zu einem fast zehnstündigen Fest der Antike. Wer in der laufenden Vorstellung im Theater rauchen möchte, darf dafür, solange eine Ampel grünes Licht gibt, die Bühne betreten. Fast müßig zu erwähnen ist Frank Castorfs Faust (Theatertreffen 2018, sieben Stunden Spieldauer), gehört doch Eindringlichkeit mittels zeitlicher und informationeller Überforderung seit jeher zur Poetik dieses Regisseurs. Ein Jahr zuvor zieht das Theatertreffen für die Vorstellungsserie von Kay Voges’ Die Borderline Prozession in die Berliner Rathenau-Hallen. Das Publikum blickt aus wechselnden Blickwinkeln auf unzählige simultan belebte Stillleben in einem Gebäudekomplex. Ein unaufhörlich um das Set kreisender Kamera-Dolly multipliziert die Perspektiven. Auf eine gerahmte Zentralperspektive ist hier kein Verlass mehr. In Karin Henkels BEUTE FRAUEN KRIEG (Theatertreffen 2018, wieder in den Rathenau-Hallen) setzt sich das Spiel mit den Perspektivwechseln fort. Das Publikum, die Stimmen der Tragöd*innen des Trojanischen Kriegs via Kopfhörer ganz nah im Kopf, bewegt sich immer wieder zwischen drei Tribünen und drei Blickachsen hin und her. Vielleicht einen der einfachsten und berührendsten Wege in die Grenzauflösung von Betrachten und Betrachtetwerden finden two-women-machine-show und Jonathan Bonnici mit TRANS- beim Stückemarkt 2016 auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele: Das Publikum nimmt im Kreis um vier Performer*innen herum Platz, die lediglich beschreiben, was sie sehen, den Raum, die Gesichter und Körper, Blicke. Die Macht des Blicks spielt auch eine zentrale Rolle in Markus Öhrns Conte d’amour, seiner verstörenden Auseinandersetzung mit dem Fall Josef Fritzl, die im Rahmen des Theatertreffens 2012 bei den Berliner Festspielen gezeigt wird. Die Besucher*innen entscheiden selbst, wie lange sie dem Treiben in Öhrns Albtraum-Keller zuzusehen bereit sind. Im gleichen Theatertreffen-Jahr 2012 sind auch Vinge/Müller mit John Gabriel Borkman. 4. Teil der Ibsen-Saga. Season 2 / Vorstellungen #20–25 erstmals im Programm der Berliner Festspiele vertreten, und Milo Rau verwischt mit Hate Radio die Grenzen von Theater und Politik. In Troubleyn / Jan Fabres Mount Olympus, 2015 bei Foreign Affairs, spielen, schwitzen, schlafen, träumen sich die Performer*innen vierundzwanzig Stunden lang durch

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die Mythen der griechischen Antike. Im Folgejahr tanzen in Pere Fauras Sweet Fever (all night version) Tänzer*innen und Publikum die Kultchoreografie aus dem Film Saturday Night Fever zur Musik der Bee Gees ohne Unterbrechung von der Dämmerung bis zum Morgengrauen durch das Haus der Berliner Festspiele und geraten bisweilen in tranceartige Zustände, die, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, dem Wiederholungsprinzip bei Vinge/Müller artverwandt sind. Extreme Laufzeiten, ungewöhnliche Spielorte und tranceartige Zustände markieren auch wichtige Wegpunkte aufseiten des musikalischen Programms der Berliner Festspiele. Prägend über Jahre hinweg ist das von Berno Odo Polzer konzipierte „The Long Now“ als fester Bestandteil und Abschluss der MaerzMusik-Ausgaben in den Jahren 2015 bis 2019. Das 30-stündige Projekt im Berliner Kraftwerk Mitte mit Feldbetten statt Bestuhlung ist ein Format in jenem Sinne, in dem Thomas Oberender diese Vermittlungsinstanz zwischen Werk und Publikum in seinem Essay zum Thema in diesem Buch identifiziert: „The Long Now“ fordert neue Verabredungen zwischen Besucher*innen und Macher*innen ein, die subtil laufend verhandelt werden und innerhalb einer kleinen Szene über die wenigen vergangenen Jahre vielleicht bereits kanonisiert wurden. Als „The Long Now“ 2021 pandemiebedingt nicht stattfinden kann, tritt an seine Stelle TIMEPIECE, eine menschliche Zeitansage basierend auf einer Komposition von Peter Ablinger, die 27 Stunden ununterbrochen von der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele aus ins Internet gesendet wird. In einer Kollaboration mit dem Jazzfest Berlin über mehrere Festivalausgaben hinweg prüft das KIM Collective die Räume, Gänge, Treppenhäuser und Winkel des Hauses der Berliner Festspiele intensiv auf ihre Klangtauglichkeit. 2018 noch im UN(TER)ORT, reagiert die Formation echoartig auf das musikalische Geschehen an der Oberfläche. 2019 steigt das KIM Collective dann als selbsternanntes „Pilzgeflecht des Jazzfest Berlin“ empor und breitet seine Wurzeln im Foyer des Festspielhauses zu einer zweitägigen, sich ständig weiterentwickelnden Klanginstallation aus. Ganz ähnliche Bewegungsmuster vollziehen sich nur einen Tag zuvor auch im Gropius Bau. Bei Anthony Braxton’s Sonic Genome bewegen sich mehrere kleine Ensembles aus dem Umfeld des Komponisten nach dessen improvisatorischem „Ghost Trance Music“Prinzip durch das weitläufige Ausstellungshaus, wechseln von Werk zu Werk, spalten sich wie lebendige Organismen auf und bilden neue Besetzungen, während die Besucher*innen ihrerseits mobil sind und sich ihren Konzertabend laufend selbst zusammensetzen. Zwei Ausstellungen des Gropius Baus aus den letzten Jahren stehen exemplarisch für immersive Ansätze aus den Stoßrichtungen der bildenden Kunst bzw. Architektur. Yayoi Kusama ist für ihre Infinity Mirror Rooms weltberühmt. Gleich mehrere davon zeigt 2021 die Retrospektive „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“. Mittels unzähliger Spiegel scheinen sie sich ins Unendliche zu vervielfältigen. Vielleicht ist es ein Glück, dass die Ausstellung fast durchgängig ausverkauft ist: Der Respekt gegenüber nachströmenden Besucher*innen verbietet es, sich zu lange in diesen mises en abyme aufzuhalten und neben dem Raum- auch das Zeitgefühl völlig zu verlieren. Endlos fließende Räume sind auch ein Kernthema des Universalkünstlers Friedrich Kiesler, dem der Martin-Gropius-Bau 2017 die erste Ausstellung seiner Reihe „Wiederentdeckte Moderne“ widmet. „Life is short, art is long, architecture endless“

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wird Kiesler gerne zitiert. Seine „Raumbühne“, die die Zuschauer*innen schleifenförmig um einen schwebenden Kern anordnet, ist ein Gegenentwurf zur Guckkastenbühne, der in seiner Radikalität vielleicht nur von Kieslers Endless Theatre übertroffen wird, das den Theaterbau als höhlenförmigen Uterus begreift. Der Martin-Gropius-Bau macht diese Orte in Modellen erfahrbar, begleitend diskutieren Hans Ulrich Obrist, Dorothea von Hantelmann, Milo Rau und Thomas Oberender unter dem Titel „Das Theater seiner Träume“ und setzen Kieslers Entwürfe in Bezug zu einer anderen Theaterraumvision: dem Fun Palace von Cedric Price. Das Phänomen Immersion zieht sich nicht nur durch alle Sparten des Festspielprogramms, es lässt sich auch auf der Zeitachse weit zurückverfolgen. Schon während der Intendanz von Ulrich Eckhardt arbeiteten die Berliner Festspiele an der Entgrenzung von Spielstätten und Stadtlandschaft und an der Zusammenführung verschiedenster Zielgruppen oder Szenen. Die „SternStunden“ im Rahmen der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin sperrten in einem Kraftakt im Sommer 1987 über Wochen den Großen Stern um die Siegessäule und richteten in einem temporären Theater mit 25.000 Plätzen vier Revuen mit bis zu 1000 Akteur*innen aus. Noch früher, bereits 1974, lud Metamusik Nico, John Cale und Brian Eno zu einem Auftritt in der Neuen Nationalgalerie ein und führte so unterschiedlichste Besucher*innengruppen zusammen. Ab 2001 bespielen die Berliner Festspiele dann sowohl das ehemalige Theater der Freien Volksbühne in der Schaperstraße, einen klassischen Theaterbau mit zwei Bühnen, bestuhltem Saal, Garderoben, Kantine und Foyers, als auch das Ausstellungshaus Martin-Gropius-Bau mit seinem vielfältig einsetzbaren Lichthof. Die Verschmelzung von Theater und Ausstellung unter dem Dach einer gemeinsamen Institution nicht nur in betrieblichen Belangen, sondern auch in der künstlerischen Arbeit liegt spätestens ab diesem Zeitpunkt auf der Hand. Die hier gesammelte Auswahl an Werken und Formaten ist unvollständig und strittig und bildet dennoch eine Tendenz der letzten Jahre ab. Es bleibt ein amüsantes Paradox, dass ausgerechnet eine Institution, die seit zehn Jahren den Rahmen schon im Logo trägt, sich auf so vielschichtige Weise und über diverse Formate, Festivals und Produktionsweisen hinweg ausgerechnet der Auflösung ebenjenes Rahmens widmet. Und doch scheint diese Schwerpunktsetzung, die im Rückblick umso deutlicher sichtbar wird, folgerichtig für eine sich in Transformation befindliche Kulturproduktion und für ein neues Weltbild, das den Blick nicht von den Interdependenzen abwenden kann. „Alle Botschaften meinten am Ende auch immer mich, der ich noch immer zu allen Seiten hin schaute“, sagt der Erzähler in Thomas Melles autofiktionalem Buch Die Welt im Rücken (Rowohlt 2016, S. 59), dessen Wiener Bühnenadaption im Theatertreffen 2018 lief. Es ist jener Weltzugang des permanenten „Mitgemeint-Seins“, dem die Berliner Festspiele seit ihrem Bestehen und vermehrt in den vergangenen zehn Jahren zu zahlreichen künstlerischen Ausdrucksformen verholfen haben.

Lucien Strauch ist Dramaturg für Theater und Oper.

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WELTEN OHNE AUSSEN. IMMERSION 2016–2021 Thomas Oberender im Gespräch mit Nancy Pettinicchio

Nancy Pettinicchio: Ich habe mich gefragt, ob du den Raum beschreiben könntest, in dem du gerade bist.

Theater. Damit verbunden sind bestimmte Rituale und Konventionen, die vierte Wand zum Beispiel, die Erwartung, dass Theater etwas mit Texten zu tun hat, wiederholbare Ereignisse herstellt, Schauspieler*innen, die uns Figuren zeigen und so weiter. Normalerweise findet dieses Theater in einem begrenzten Raum statt, einer künstlichen Höhle, es ist ein „Theater der Nacht“, in dem Vampire leben, eben diese Figuren, die das Blut der Lebenden brauchen und nie Tageslicht sehen. Man kann diese Art von Theater aber auch ganz anders organisieren. Es gibt zum Beispiel ein Theater ohne Menschen. Damit meine ich kein Robotertheater oder Objekttheater, sondern eine Form von Theater, in der der Raum selber zur Figur wird und eine Geschichte erzählt. Wir haben Theaterstücke produziert, in denen das Publikum der Szenerie nicht gegenübersitzt, sondern sie betritt und durchwandert. Wie ein*e Kommissar*in auf Spurensuche. Jedes Detail ist in dieser Welt inszeniertes Indiz, und so entsteht ein „narrativer Raum“. Das Leben, von dem diese Theaterstücke erzählen, steckt vollkommen in den Dingen – es spricht zu uns aus den Einrichtungen und der situativen Anordnung all des Kleinkrams, der uns umgibt. In diesen Narrative Spaces blättern wir in Tagebüchern, studieren Schreibtische, hören den Text von Anrufbeantwortern und finden Medikamente oder Speisen, die viel über die Menschen sagen, die an diesem Ort leben. Wir haben mit Mona

Thomas Oberender: Im Moment bin ich im Homeoffice, in einem unaufgeräumten Arbeitszimmer, das du durch meinen digitalen Bildschirmhintergrund aber nicht sehen kannst. Du siehst eine Tapete, die David Bowie designt hat. NP: Arbeitest du zurzeit normalerweise von zu Hause aus? TO: In den letzten anderthalb Jahren schon. Wir haben aber auch Ausstellungen gemacht, als die Vorschriften sich ein wenig gelockert haben. NP: In Kanada herrschen die gleichen Bedingungen. Die meisten Menschen haben die Möglichkeit, in einer Mischform an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, die Mehrheit ist aber noch zu Hause. Ich möchte eine Frage zu deinem Hintergrund stellen. Deine Hauptmedien waren ja ursprünglich die Performance und das Theater. Vielleicht können wir über die Stärke der Performance und des Theaters sprechen, über die Verbindung zum Publikum und über das Zum-Nachdenken-Anregen. TO: Wenn wir über das Theater sprechen, sprechen wir ja über recht spezifische Formen von westlichem

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el Gammal einen Narrative Space über mehrere Etagen eines ehemaligen Fernmeldeamtes produziert. Das Stück hieß RHIZOMAT und erzählte die dystopische Geschichte einer Untergrundbewegung, die gerade ihre Büros verlassen hat, weil der Aufstand gegen das Big-Brother-Regime begonnen hat. Die Kaffeetassen auf den Tischen waren noch warm. Mit dem norwegischen Künstler*innenduo Vegard Vinge und Ida Müller haben wir in einer ehemaligen Munitionsfabrik am Stadtrand über sechs Monate ein komplettes Theater aufgebaut, eine riesige Installation mit mehreren Bühnen und großem Saal, einem U-Boot und einer Kathedrale – alles von Hand bemalt und mit Soundund Projektionstechnik ausgestattet, ein Gesamtkunstwerk. Dort haben die Künstler*innen eine zwölfstündige Aufführung produziert, die für jede Aufführung aus zweihundert Stunden vorbereitetem Material je nach Situation neu zusammengestellt wurde. Das Publikum wurde bewirtet und gequält, man hat Filme gesehen und Konzerte gehört, kein Abend war wie der andere. Die Leute saßen mitten in dieser komplett durchgestalteten Welt in der Welt. Das war immersiv, oft auch langweilig, was ja auch immersiv ist, man wusste nicht, was passiert, und dann wurde es zu einem Rausch. Immersiv kann ja jede Art von Kunst sein, weil Kunst uns dazu bringt, uns verbunden zu fühlen, die Perspektive zu wechseln, in die Geschichte, die Situation, die Stimmung der Menschen, die wir beobachten, einzutauchen. Wenn man im Theater heult, weiß man natürlich, dass man im Theater ist, aber man weiß plötzlich auch, dass das Leben eben so ist, wie das Theater. Das ist, was wir in der Kunst suchen. Und zwar von Anfang an, seit

Aischylos. Die frische Aufmerksamkeit für das Phänomen „Immersion“ ist meiner Meinung nach mit der Ankunft neuer Technologien im Alltag verbunden, die ihn mit ihren neuen Service- und Trackingfunktionen stark prägen. Heute können digitale Medien auch viel besser herstellen, was in der Malerei mit dem Trompe-l’Œil und der Erfindung der Panoramen und Planetarien begonnen hat. Die Digital Natives sind durch Online-Spiele an offene Welten im digitalen Raum gewöhnt und daran, dort eine eigene Rolle zu spielen. Sich in immersiven Umgebungen zu bewegen, heißt ja nicht, sich selbst zu verlieren, sondern einfach nur, sich mit viel mehr zu verbinden. NP: Kannst du mir ein wenig über den Prozess der Reihe „Immersion“ von den Anfängen bis heute erzählen, und vielleicht auch darüber, wie sich die Auswahl der Werke entwickelt hat? Wie du ausgewählt hast, was zusammenpasst und was sich als immersives Kunstwerk qualifiziert? TO: Für Immersion gibt es in der deutschen Sprache keine echte Entsprechung. Vor fünf oder sechs Jahren wurde der Begriff Immersion in der Alltagssprache kaum verwendet. Wenn man im Englischen sagt, etwas sei immersiv, dann muss das nicht unbedingt etwas mit Kunst zu tun haben. Im Deutschen haben wir kein vergleichbares Wort. Wir sagen vielleicht, etwas sei „eindringlich“, aber die Fülle an Bedeutungen ist im Englischen bei „Immersion“ viel größer – das reicht von Methoden des Spracherwerbs bis zum Museumsdesign. In Deutschland setzte sich dieser Begriff erst in den 1990er-Jahren im Wissenschaftsbetrieb und der Kunstszene langsam fest,

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stark beeinflusst von der Entwicklung der neuen Medien. So bin auch ich damit in Berührung bekommen. Ich besuchte beim internationalen literaturfestival berlin einen Workshop, in dem junge Gamedesigner*innen über die Adaption von Romanen sprachen, und immer, wenn sie ein besonders clever konstruiertes Moment ihres Spiels demonstrierten, sprachen sie von einer „immersiven Situation“. Ich war überrascht von diesem neuen Wort – für mich persönlich war es neu –, mit dem sie ihre künstlerische Erfahrung und auch ihre Absichten beschrieben. So begannen wir, ein Programm zu entwickeln, das den Begriff als Werkzeug nutzt. Denn der Begriff führt zu vergleichbaren Phänomenen in verschiedenen Bereichen der zeitgenössischen Kunst, der Musik, der Philosophie und der Wissenschaft. Es war die Begegnung mit einer Art von Kunstproduktion, die für die traditionelle Infrastruktur von Museen und Theatern eine große Herausforderung darstellt. Wir begannen mit der Produktion einer Ausstellung von Omer Fast, an der Performer*innen beteiligt waren und in der ein neuartiges Präsentationskonzept seiner Kunstfilme entstehen sollte. Omer Fast wollte Umgebungen schaffen, in denen die Filme so präsentiert werden, wie man sie im Alltag wahrnehmen würde – etwa auf Screens in einem Wartezimmer oder am Flughafen. So kam es, dass er im MartinGropius-Bau mit einer Bühnenbildnerin hyperrealistische Alltagsräume baute, in die seine Filme eingebettet wurden. Das Erste, was ich über das Phänomen „Immersion“ damals gelernt habe, ist, dass sie immer mit der Konstruktion einer besonderen Form von Raum verbunden sind. Immersive Werke sind raumbasierte Werke. Und so haben wir

den Begriff Immersion auf ganz andere Bereiche übertragen: Wir untersuchten in unserem Projekt „Limits of Knowing“ alternative Formen des Wissens und der Wissenschaft, wir arbeiteten dafür mit Astrophysiker*innen des LIGO in Kalifornien, die wiederum Künstler*innen engagieren, um ihre kontraintuitiven Theorien in erfahrbare Welten zu übersetzen. Wir haben auch versucht, soziale Prozesse wie die Deutsche Wiedervereinigung als immersiven Prozess zu begreifen, der das Verschwinden der Grenze und das Ineinanderfließen von sehr unterschiedlichen politischen Systemen mit anderen Augen betrachtet. Unser letztes Projekt setzte sich mit dem Klimawandel auseinander, denn das Klimasystem ist ein immersives System, aus dem man nicht aussteigen kann – wir beeinflussen es genauso, wie es jeden Tag uns beeinflusst. Im Klimasystem gibt es kein Außen. Immersion meint für uns nicht, dass im Museum die Wände wackeln und Staub von der Decke rieselt, wenn wir eine Ausstellung zum Thema Erdbeben besuchen, sondern die Erschütterung der Welt des Museums selbst. Die Erschütterung der Welt der Politik, der Wirtschaft, des Theaters – dem nachzuspüren, dafür ist der Begriff der „Immersion“ unsere Sonde. NP: Als ich mich über das Programm der vergangenen Jahre informierte, entdeckte ich Mariano Pensottis / Grupo Mareas Diamante, das die Berliner Festspiele koproduziert und 2019 eingeladen haben. Ich mochte das Konzept einer „Testgesellschaft“, wie ihr das nennt, bei dem Kunst, eine immersive Performance, als Möglichkeit genutzt wird, ein Modell zu testen, zu experimentieren und die Menschen dazu zu

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bringen, sich eine Welt vorzustellen oder zu erleben, an der sie in ihrem täglichen Leben nicht teilhaben, oder eine Art paralleles Leben zu dieser „Testgesellschaft“ zu führen. Wie könnte deiner Meinung nach das Erleben dieser Art von Arbeit als Teilnehmer*in unser Verständnis von Zukunft in der heutigen Gesellschaft beeinflussen?

grund, im Dunkeln, er ereignet sich an einem geheimen Ort, der ein verletzlicher Raum ist, gut versteckt und geschützt. Daher sind Studios und Probebühnen in der Regel für die Öffentlichkeit tabu, und niemand darf hinein, außer jene, die an diesem Prozess teilnehmen. Immersive Formen von Kunst öffnen diese Testwelt nun für das Publikum. In gewisser Weise wird das nur simuliert, aber in mancher Hinsicht ereignet sich das schon. Deshalb haben wir unser Programm „Immersion“ zu Beginn auch als eine Projektreihe über die „digitale Kultur in den analogen Künsten“ genannt. Ich wollte diese Testsituation nicht in der Einsamkeit der VR-Brillen-Erfahrung suchen, sondern Welten zeigen, in denen Künstler*innen kollektive Erlebnisräume schaffen – Ausstellungen, Theater, Planetarien, man ist dort nie allein. Auch wenn das heute etwas ganz anderes bedeutet. Man kann in diese Räume eintreten, sie führen uns einen Schritt weg von der – im Sinne von Michel Foucault – Disziplinargesellschaft, also dem, was im traditionellen Black-Box-Theater vor sich geht: Man sitzt auf seinem Platz, schweigt, bewegt sich nicht, macht keine Witze und ist auf eine Art vollständig abwesend, um präsent zu sein. In der Disziplinargesellschaft werden wir als Teil eines Kollektivs behandelt und dressiert, in der Kontrollgesellschaft hingegen fühlt sich alles viel liberaler an – ich kann, um wieder im Bild des Theaters zu sprechen, hingehen, wohin und scheinbar auch, wann ich will. Aber dabei wirst du halt ständig kontrolliert – jede Minute. Im traditionellen Theater endet die Arbeit des*der Regisseur*in mit dem Moment der Premiere. Normalerweise geht der*die Regisseur*in danach nach Hause, alles ist erledigt, die Maschine gebaut, sie

TO: Den Begriff „Testgesellschaft“ habe ich entwickelt, weil Theaterformen wie von SIGNA oder Punchdrunk so etwas wie ein eigenes Genre bilden. Normalerweise ist man im Theater Beobachter*in von etwas, aber probiert es selbst nicht aus. Für mich ist aber genau dieses Moment des Ausprobierens das Entscheidende. Wir bezahlen normalerweise Schauspieler*innen dafür, im Umgang mit einem Text etwas Neues auszuprobieren, auf der Grundlage von etwas Altem. Ich habe über dieses „Leben auf Probe“ ein Buch geschrieben. Theater wurde als Testraum erfunden, aber eben nur für die, die Theater machen. Auf der Probe können sie alternative Welten ausprobieren, und später wiederholen und variieren sie ihre Erfahrungen in stabilisierten Strukturen. Und wir schauen zu. Aber das ändert sich, wenn man den Raum betritt. Denn dann passiert auch für die Besucher*innen etwas, was sonst nur in Proben passiert. Für bildende Künstler*innen geschieht das in ihrem Studio, für Theaterleute auf der Probe, und in immersiven Welten können wir das nun plötzlich alle. Gemeinsam mit anderen verändern wir Spielregeln, ohne Schaden zu nehmen. Diese privilegierte Form der Begegnung mit einer Welt, die keine Strafe kennt, keine Verneinung, erfährt das Publikum normalerweise nur durch das Ergebnis. Der Prozess aber passiert im Hinter-

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funktioniert, die Schauspieler*innen übernehmen. Aber in dieser immersiven Welt beginnt das eigentliche Kunstwerk erst in dem Moment, wenn das Publikum eintritt. Erst dann wird der*die Regisseur *in aktiv und steuert die Effekte im Raum, manipuliert die Szenerie und das Timing. Hier ist alles eine Art Probelauf – für das Publikum, aber auch für die verborgenen Kontrolleur*innen des Geschehens. Man erforscht die Regeln, nach denen Macht funktioniert.

schwer möglich. Wegweisend für diese Art von „Testgesellschaft“ war sicher die dänische Theatergruppe SIGNA, deren Theatersets auch ohne Schauspieler*innen erzählen, wie narrative Räume zugleich auf Interaktion angelegt sind und partizipatorische Strukturen enthalten. Uns hat interessiert, dass Künstler*innen diese Art von Überwachungs- und Rückkopplungsräumen nutzen, um sie als Werkzeuge der Befreiung zu verwenden. Und sie führen uns dafür oft in ziemlich dunkle Bereiche des Lebens, durch Abgründe, aber eben auch in Zonen ungeahnter Empathie mit anderen Menschen, Welten, Wissensräumen. Daneben gibt es weiter diese traditionelle, eher dialektische Struktur von „ich bin hier – du bist dort, und das ist eine strikt getrennte andere Seite der Realität“. Die meisten Menschen erleben Theater genau so, als eine Veranstaltung hinter der Vierten Wand und das ist ja auch sehr künstlich und interessant. Immersion entsichert diese Welten und kontrolliert sie zugleich in noch raffinierterer Weise. Ich denke, das ist der Grund, warum ich mich für immersives Theater interessiere – übrigens auch für eine andere Art der Ausstellungsgestaltung, die in den letzten Jahren ein großer Teil meiner Arbeit und der Arbeit des Teams war. Wenn du dich wirklich mit dem Format von Ausstellungen und Theaterarbeiten beschäftigst, und nicht mit deren Inhalt, was ja der Regelfall ist, wenn wir über Werke sprechen, dann passiert etwas sehr Radikales – du fängst an, die Machtund Gewaltstrukturen des Formats, und somit der Institution selbst, zu thematisieren, und das verändert das ganze Spiel.

NP: Könntest du die Erfahrung beschreiben, die jemand macht, der das Kunstwerk Diamante besichtigt? TO: Ehrlich gesagt, Mariano Pensottis Werk Diamante gefällt mir sehr, aber es ist auch etwas Altmodisches. Es ist interessant, dass Pensotti den Aufführungsraum für das Publikum öffnet, also diese große Installation von verschiedenen Häusern schafft, jedes für eine andere Familie oder Funktion, zwischen denen man sich frei bewegen kann, aber das Publikum bleibt in einer beobachtenden Position. Man geht im Dorf umher, man wählt seine Perspektive und die individuelle Abfolge der Szenen, denen man beiwohnt, aber im Grunde ist die eigene Rolle nicht so viel anders als im traditionellen Theater. Man geht nicht rein in die Häuser, durch deren große Scheiben man schaut. Es wirkt eher wie ein räumlicher Film, was Pensotti da geschaffen hat. Etwas anderes wäre es, wenn man wirklich etwas tun kann, wenn man aufgefordert wird, eine Entscheidung zu treffen oder in eine Art Gespräch zu gehen. Das ist etwas, was von Zeit zu Zeit in den Aufführungen von Vegard Vinge und Ida Müller passiert. Man kann sich in deren Welt nie sicher fühlen. Ein passives Konsumieren von Kunst ist da nur

NP: Was ist neu an diesen Machtstrukturen?

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TO: Die traditionelle Struktur der westlichen Kultur, etwas auszustellen, bedeutet, etwas herauszunehmen aus den üblichen Zusammenhängen. Ausstellungen beruhen auf Extraktion. So wie die Moderne mit allem umgeht – Rohstoffen, Informationen, Techniken. In vormodernen Zeiten waren Objekte, die man heute als Kunstwerke empfindet, eingebettet in religiöse oder lebenspraktische Zusammenhänge. Mit der Moderne entstand die Idee der Objektivität, der Fetischisierung der isolierten Sache, die zur Erfindung des White Cube führte, zum Bild an der weißen Wand oder dem Exponat in der Vitrine. Hier steht der*die Besucher*in dem Objekt gegenüber, alles wirkt neutral und frei. Man denkt nicht über die Situation dieses Objekts nach, auch nicht über die eigene Situation. Man ist Teil einer Struktur, die einem das Gefühl gibt, ein Individuum zu sein, das seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo und alles andere selbst bestimmen kann. Wir glauben, dass wir unter diesen Bedingungen sehen, wie die Dinge wirklich sind. Aber es könnte auch das Gegenteil davon sein. Museen organisieren diese Erfahrung dabei anders als das Theater. Während im Museum die Ausstellung und Erfahrung der Besucher*innen raumbasiert sind, machen sie im Theater eine zeitbasierte Erfahrung. Was auf der Bühne passiert, ist durch das Stück und sein Timing vorgegeben. Wir haben nun vor ein paar Jahren begonnen, zeitbasierte Ausstellungen zu konzipieren. Das heißt, wir haben nicht zeitbasierte Arbeiten in Ausstellungen gezeigt, sondern das Format selbst dramatisiert und mit einem Skript verbunden. Wir haben dafür Module mit unterschiedlichen Ein- und Auslasssystemen entwickelt, die die Besucher*innen

willkommen heißen und ihre Anwesenheit anerkennen. Und das verändert das Wesen des Formats ganz grundsätzlich. In einer Ausstellung von Philippe Parreno ist das Kunstwerk nicht das Objekt an der Wand, sondern die Struktur, die einen einbezieht, die einen zum Bestandteil des Systems macht. Das ist technisch sehr kompliziert, aber gleichzeitig auch magisch, weil man spürt: „Wow, das ist ein lebender Organismus, und ich bin Teil dieses Lebens.“ NP: Wenn wir an Immersion in Bezug auf traditionellere Medien wie Kino und Fernsehen denken, hat das etwas Eskapistisches an sich, wie etwa die Tatsache, dass man völlig eintauchen und fast vergessen kann, wo man ist. Ich frage mich jedoch, wie du das Verhältnis zwischen dem Eskapismus der völligen Immersion und dem Ablegen der Scheuklappen und der direkten Konfrontation mit schwierigen Themen durch immersive Arbeiten einschätzt. Inwiefern hast du das Gefühl, dass die Arbeit Teilnehmer*innen dazu einlädt, sich beides zu vergegenwärtigen, anstatt nur vorübergehend aus dem Alltag auszubrechen? TO: Was bedeutet Eskapismus? Intuitiv würde ich antworten, dass man in die Realität flieht, nicht in etwas anderes. Es ist nichts anderes als die Realität, aber es ist eine andere Art von Realität, es ist nicht nicht real, egal, wohin man geht. Wenn du also denkst: „Oh, das könnte eine interessante Perspektive sein“, dann verlässt du nicht die Welt, sondern du betrittst nur eine andere. Dass etwas immersiv ist, nicht im Genre-Sinne, sondern wirkungsästhetisch, bedeutet, dass ein Kunstwerk uns die Möglichkeit bietet, in einen anderen Raum einzutreten – in eine andere Welt.

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Jede Kunstform bewirkt dieses Worldbuilding – jeder Roman, jedes Theaterstück, ob abstrakt oder realistisch, immer wird eine Welt in der Welt geschaffen, insbesondere dann, wenn wir Arbeiten sehen, die aus einem immersiven Genre stammen, technisch gesehen. Immersion ist immer mit einem Vorgang von Worldbuilding verbunden. Man schafft die seltsame Situation, in zwei Welten gleichzeitig zu sein. Unter einer VR-Brille ist ein Körper, der auf einem Stuhl sitzt, während unser innerer Körper sich gerade in einem anderen Leib durch eine digitale Realität bewegt. Wann immer etwas intensiver wird, sind wir in zwei Räumen zugleich. Wie im Traum. Es fühlt sich vollkommen echt an, und ist auch echt, aber anders. In einer solchen Situation ist die kunstbasierte Erfahrung kein Eskapismus, sondern eine Erweiterung unserer Existenz in zusätzliche Räume. Es mag „dort drüben“ intensiver sein, es mag langweiliger sein, aber es öffnen sich Türen, und was dahinter auf uns wartet, ist ja eine andere Erfahrung des Hier und Jetzt. Auch Meditation ist Immersion, Liebe ist Immersion, alles, was tief und intensiv ist, ist immersiv. Immersion hebt die Grenze zwischen dem Ich in unserem Selbst und der Welt unter bestimmten Bedingungen, die sich nicht verstetigen lassen, auf. Wir sind leider nicht ständig verliebt, sondern nur manchmal. Warum das so ist, weiß ich nicht. Und woher kommt diese Angst vor der Verschmelzung, warum fürchten wir uns vor dem Eskapismus und sagen: „Oh, wir verlassen etwas.“ Dabei verlieren wir nichts – wir treten nur in etwas anderes ein.

TO: Kontrolle. NP: Bewusstheit. TO: Das, was wir Realität nennen. Die kritische Distanz. Alles, was man uns beigebracht hat. Das mentale System der Moderne hat unseren Verstand über Jahrzehnte und Jahrhunderte darin geübt, Wissen mit Distanz zu verbinden, Erkenntnis mit Vernunft. Dabei wurden viele große Entdeckungen erträumt, und wir treffen viele Entscheidungen eher intuitiv, also aus einer ganzheitlichen, auch gefühlsgeleiteten Einschätzung heraus. NP: Wie hat sich die Beschäftigung mit dem Konzept der Immersion im Laufe der Jahre auf deine persönliche Sichtweise auf die Überschneidungen von Kunst und Technologie ausgewirkt? TO: Ich glaube nicht an das Vorwärts, ich glaube an die Intensität und an das Gefühl, verbunden zu sein oder nicht. Normalerweise sagen wir, Immersion bedeutet, dass wir die Medien vergessen, die uns mit der anderen Welt verbinden, und in diesem Moment tauchen wir in sie ein – wir vergessen dann das Buch oder den Film, wir sind drin. Aber niemand vergisst die Medien, wir genießen einfach die Medien. Und gleichzeitig macht es uns schlauer, darüber nachzudenken, was Medien sind. Auch wenn ich die VR-Brille absetze, trage ich eine Brille im Kopf. Das ist es, was uns diese Technologien lehren und auch genießen lassen. Ich persönlich mag diese klobige VR-Brille auf meiner Nase nicht. Aber es ist im Moment die einzige Möglichkeit, die physische Wirklichkeit um eine andere zu ergänzen und Anschluss an diese intensiven Welten zu finden, ohne

NP: Etwas zu verlieren im Sinne von …

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Drogen zu nehmen oder exzessiv zu meditieren. Ich glaube, ich schätze die Verbindung einfach an sich, weil sie mich dem Leben näherbringt, dem Leben von allem, von Pflanzen, Tieren, Menschen, der Realität, die mich umgibt. Ich glaube, die Immersion bringt uns in Verbindung, und das ist sehr wertvoll in einer Zeit, in der wir entdecken, dass unsere Art, mit der Welt umzugehen, ihr so vieles zu entnehmen, das wir nur als Ressourcen verstehen, als zu verbrauchende Rohstoffe, sehr viel Schaden angerichtet hat und anrichtet. Und vielleicht ist das Eintauchen ein Weg, dieses Böse zu überwinden und ein ganzheitlicheres Verständnis davon zu entwickeln, dass wir immer in Beziehung zu den Dingen stehen, die uns umgeben, und diese Dinge beseelt sind, eine Seele haben, wie das für alle animistischen Kulturen selbstverständlich der Fall ist.

Tonsysteme zu entwickeln. Lange bevor Virtual Reality zu einem ernstzunehmenden Medium wurde, wusste man im Planetarium, wie man Bilder, die unser komplettes Sehfeld ausfüllen und dynamisch sind, kontrolliert und mit dem entsprechenden Raumklang zusammenfügt. Wir beschlossen, diese Räume für zeitgenössische Künstler*innen zu öffnen und bezahlten sie dafür, die für Planetarien entwickelte Technologie zu erlernen und ihre Kunst in diese Infrastruktur einzubringen, denn es handelt sich um eine globale, eine planetarische Infrastruktur, die sehr immersiv ist. Das Planetarium ist für die Immersion gebaut. Vor hundert Jahren wurde es erfunden, um eine technologisch vermittelte Erfahrung der Unendlichkeit zu schaffen, die immer entsteht, wenn sich über einem der unendliche Raum des Sternenhimmels öffnet. Es ist ein wunderbarer, hochtechnologischer Raum, der gebaut wurde, um mit dieser Unendlichkeit zu spielen, ihre verschiedensten Konstellationen auszuprobieren, und insofern sind auch Planetarien Testwelten. Gleichzeitig stellen sie eine Verbindung her, fast archaisch. Die Perspektive ist planetarisch, immer vom Ganzen ausgehend. Das verbindet sie mit der letzten Ausstellung, die wir produziert haben. Sie hieß „Down to Earth“ nach einem Buch von Bruno Latour über den Klimawandel. Für dieses Projekt haben wir beschlossen, nicht nur Werke zum Thema zu zeigen, sondern das eigene Betriebssystem zu ändern, zum Beispiel keinen Strom zu verwenden, keine Videoleinwand, keine Spotlights, keine Mikrofone. In allen Räumen gab es nur Tageslicht. Wir haben komplett auf Flüge verzichtet, alle sind mit dem Zug gekommen. Statt Ölfarbe haben wir nur schwarze Algenfarbe verwendet, alle

NP: Wie denkst du über die Auswirkungen und die Rolle der Technologie im Hinblick auf die sich ständig verändernde Hardware, die sich ständig verändernde Software und die damit verbundenen ökologischen Auswirkungen? Wie denkst du über diese Dinge nach, und wie ist dein Verhältnis zu Künstler*innen, die mit neuen Technologien arbeiten? TO: Du wirst überrascht sein, aber wir haben nicht so viel mit Leuten zu tun, die mit neuen Technologien arbeiten. Unsere Programmreihe hat das Thema Ökologie und Nachhaltigkeit vor allem in zwei Projekten thematisiert. Zum einen haben wir auf eine Technologie gesetzt, die es auf der ganzen Welt gibt: Planetarien. Ein Planetarium ist ein Raum, in dem man schon vor über 30 Jahren begann, digitale Projektionen und

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Verbräuche wurden veröffentlicht. Wir haben die Künstler*innen eingeladen, mit Live-Musiker*innen und Chorsänger*innen zu arbeiten, statt Aufnahmen aus dem Laptop abzuspielen. Das hat die Atmosphäre völlig verändert. Der Effekt war sehr eindringlich, aber nicht durch teure Technologien bedingt, sondern durch das Gegenteil.

Es gibt natürlich Fortschritte in unseren sozialen Beziehungen, im Schutz des*der Einzelnen – vor, aber auch durch institutionelle Machtstrukturen. Das ist der tägliche Kampf. Aber diese Art von Fortschritt, die wir meinen, wenn wir ganz allgemein von Fortschritt sprechen, hat die Welt ruiniert. Wir sollten aufhören, so zu denken. Fortschritt ist das, was gut für uns ist, aber nicht nur für uns Menschen, sondern für das terrestrische System, für Gaia, für die Bewohner*innen von Gaia.

NP: Kannst du mir ein wenig darüber erzählen, woran du im Moment arbeitest und welche Fragen du untersuchen möchtest?

NP: Möchtest du noch etwas zu deinen Erfahrungen mit dem Thema Immersion im Allgemeinen hinzufügen?

TO: Das Projekt „Immersion“ endet in diesem Jahr, weil unser Budget ausläuft. Das Letzte, was ich bei den Berliner Festspielen entwickle, ist die temporäre Wiedereröffnung des Internationalen Congress Centrums Berlin (ICC). Das ICC war das größte und teuerste Gebäude im westlichen Teil Berlins, und es ist seit mehr als zehn Jahren geschlossen. Es sieht aus wie ein Raumschiff und hat die größten Säle der Stadt. Dort wollen wir einen Corona-Exorzismus veranstalten. Und in dieser utopischen Architektur, die jetzt schläft und wieder träumen kann, eine andere Form des Umgangs mit diesen Hinterlassenschaften des gewaltigen Erdverbrauchs üben.

TO: Immersion ist eine Perspektive, keine Technologie. Immersion ist eine Lebensweise, Immersion ist auch die Struktur, die das kapitalistische System auf ein neues Level bringt, weil sie mit der Extraktion von ganz anderen Ressourcen verbunden ist – unseren Daten, Beziehungen, sämtlichen Lebensregungen, eben all das, was getrackt und benutzbar gemacht wird. Deshalb spüren viele Menschen, dass dieses Thema sie etwas angeht. Sie werden ja auch ständig mit irgendetwas verbunden, das sie wie in der Vorstellung früherer Menschen wie die Geister verfolgt und sich von ihnen ernährt wie ein Dämon. Und wenn sie sich davon abwenden, geraten sie genauso in immersive Gefilde, denn alles, was uns wegführt aus dieser Welt der Extraktion und Konsumption, ist tendenziell auch grenzauflösend. Unser Interesse bei den Berliner Festspielen ist aber ein anderes als das der Industrie. Es geht nicht um Überwältigung. Wir sollten Immersion auf die Art und Weise der Bewohner*innen des Regenwaldes verstehen, als eine Erfahrung von

NP: Du sagtest vorhin, du glaubst nicht an das Vorwärts. Was soll das bedeuten? TO: Ich denke, was unsere Beziehung zum Planeten angeht, war die Jungsteinzeit viel fortschrittlicher. Vielleicht hat, wie Terence McKenna sagt, eine Art neoarchaische Epoche begonnen. Wir lernen von den Indigenen, wir lernen von denen, die uns überlebt haben.

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WELTEN OHNE AUSSEN. IMMERSION 2016–2021

Verbundenheit und Mitverantwortung, die sehr kompliziert, sehr vielschichtig ist, gefährlich ist und ständig neu verhandelt werden muss. Das ist es, was wir mit vielen Künstler*innen und Kolleg*innen mehr oder weniger explizit ausprobieren. NP: Könntest du noch ein wenig näher auf die Unterscheidung zwischen der kapitalistischen Vorstellung von Immersion und einer traditionelleren, indigenen Version eingehen? TO: Ich denke, die kapitalistische Betrachtungsweise von Immersion ist geprägt durch die Verweigerung geschützter Zonen bzw. von gleichwertigen Ansprüchen aller Beteiligter. Dein Privatleben, deine Emotionen, deine Daten, die Informationen über dein Verhalten, alles wird zu einem extrahierbaren Material, das von Leuten genutzt wird, die damit Geld verdienen. Es gibt also, wie in jeder immersiven Struktur, keine Grenze. Es ist ein kybernetisches System von Geben und Nehmen, aber sie nehmen mehr als sie geben. Es zerstört nicht mehr nur die materielle Umwelt, sondern beutet das Lebendigsein des Menschen an sich aus. Wir können daher vor allem etwas von Menschen lernen, die uns und unsere kolonialen Strukturen überlebt haben. Ihnen gehört die Zukunft, wenn wir von Fortschritt sprechen.

Der Beitrag „Welten ohne Außen. Immersion 2016–2021“ basiert auf einem Gespräch der Autorin, Filmregisseurin und Podcast-Produzentin der Plattform Magnéto Nancy Pettinicchio mit Thomas Oberender, das für die Podcast-Reihe „The Big Ponder“ der Goethe-Institute Nordamerikas geführt wurde.

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MIND IN THE CAVE Markus Selg

Höhle Vor etwa 45.000 Jahren begann sich ein neues Bewusstsein der Menschheit in Form von Zeichnungen an den Wänden von Höhlen zu manifestieren. Die Fähigkeit, innere Bilder nach außen zu projizieren, sie dadurch über längere Zeit mit anderen teilen zu können und so die Welt durch Imagination zu gestalten, nahm hier einen ihrer Ursprünge. Betritt man heute eine der Höhlen und leuchtet mit der brennenden Fackel entlang der Zeichnungen, stockt einem fast der Atem. Die unbegreifliche Schönheit und dreidimensionale Präsenz der Bilder und das schleichende Gefühl, sich weniger in einer Höhle als im Gehirn jener Menschen zu befinden, die diese Kunstwerke schufen, ist nur sehr schwer fassbar. Eine dieser Höhlen heißt Chauvet. Sie liegt eigentlich im Südosten Frankreichs, jetzt aber kann sie unmittelbar im Inneren des eigenen Schädels entstehen, und man betritt sie mithilfe eines Virtual-Reality-Headsets, den Controller dabei als virtuelle Fackel in der Hand. Durch einen Felsabbruch war die Chauvet-Höhle fast 20.000 Jahre unberührt in einer Zeitkapsel verschlossen und wurde erst 1994 wiederentdeckt. Zum Schutz vor menschlichen Aerosolen, die das Höhlenklima gefährden würden, bleibt die Höhle für Publikum geschlossen, ist aber in Form verschiedener Simulacren erfahrbar. Als maßstabsgetreue Kopie, 3D-Film, 3D-Scan und Virtual-Reality-Experience ist dieser paläolithische Ritualort nun Teil des virtuellen Raums geworden. Teil jener grenzenlosen Spiegelwelt, die wir um uns herum erschaffen und in die wir uns zum Schutz vor der Pandemie gerade verstärkt zurückziehen. Die digitale Höhle, die einmal den Geist der heutigen Menschheit widerspiegeln wird.

Avatar „Die reichhaltigste, maximal stabile und nahezu perfekte Virtual-Reality Erfahrung, die wir derzeit kennen, ist unsere eigene, biologisch entwickelte Form des Wachbewusstseins. VR ist die beste technologische Metapher für bewusste Erfahrung, die wir derzeit haben … eine kontrollierte Halluzination, die auf Vorhersagen über den aktuellen sensorischen Input basiert.“ 1 (Thomas Metzinger) VR ist nicht nur eine wirkungsmächtige Technologie der Simulation, wie am Beispiel der Höhlen von Chauvet zu sehen ist, sondern ein tiefgreifendes Reflektionswerkzeug über die menschliche Wahrnehmung und das Ich-Bewusstsein. Wer bin ich? Wer ist dieser Avatar, mit dem wir uns als Ich identifizieren? Existieren wir in der physikalischen

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MIND IN THE CAVE

Welt, oder existieren wir vor allem innerhalb der Geschichten, die sich unser Gehirn selbst erzählt? Wer oder was halluziniert diese Geschichten? Wie erhalten wir Zugang zu einer Wirklichkeit außerhalb unserer begrenzten Sinneswahrnehmungen? Wenn wir in unserer eigenen Simulation leben, wie können wir dann mit anderen interagieren? Wie unterscheiden wir zwischen Realität und Simulation? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Und was bedeutet dann Tod, Auferstehung und Wiedergeburt in diesem Zusammenhang? „Erkenne Dich selbst.“ Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen, das Verhältnis von Materie und Geist, Individuum und Ganzheit, Geburt und Tod zu ergründen. Jede Zeit hat ihre Metaphern für die Beschaffenheit des Menschen und den Ursprung des Bewusstseins. Der Mensch als Avatar oder Gottesgeschöpf, zum Leben erweckt durch Atem, Lehm, Schrift oder Information. Das Leben selbst – ein Traum, Illusion, Spiel, Zufall oder Simulation. “We are such stuff / As dreams are made on and our little life / Is rounded with a sleep.” 2 (William Shakespeare) Die Metaphern erwachsen aus den Glaubenssystemen und Technologien der jeweiligen Zeit. Mythologie, Politik, Religion und Kunst sind von uns erschaffene virtuelle Realitäten, archetypische Programme, durch die wir versuchen, unsere Rollen im (je nach Programm) endlichen oder unendlichen Spiel zu finden – dem kosmischen Drama, an dem wir alle teilhaben. Welche Programme wollen wir also für unsere Gegenwart schreiben? Und auf welche Technologien und Erfahrungen können wir überhaupt zurückgreifen, um unser Zusammenleben friedlicher und in Einklang mit Gaia, dem Organismus Erde, zu gestalten? Können wir überhaupt den Begrenzungen unseres Egotunnels, dem immersiven Meisterwerk der menschlichen Erfahrung, entkommen, um uns mit den größeren Zyklen des Lebens zu verbinden? Oder im Sinne Platons: Können wir aus der Höhle der sinnlich wahrnehmbaren Welt emporsteigen in die Welt des unwandelbaren Seins? Können wir uns gegenseitig dabei helfen, oder müssen alle diese Held*innenreise für sich selber unternehmen? Neben den bewusstseinserweiternden Methoden der Wissenschaft stehen uns Techniken wie Meditation, schamanische Trance, Opferrituale, Mysterienspiele und psychedelische Medizin zur Verfügung. Alles hilfreiche Werkzeuge, um festgefahrene Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und neue, vielleicht noch kontraintuitive Informationen zu verarbeiten. Thesen der heutigen Kognitionswissenschaft, dass ein Selbst im traditionellen Sinne nicht existiert, stimmen mit buddhistischen und anderen durch intensive Innenschau gewonnenen Einsichten weitestgehend überein. Die Erforschung der Erde als komplexes, sich selbst regulierendes System führt die moderne Wissenschaft nun endlich wieder zum Wissen indigener Kulturen, dass jeder Organismus und seine Umwelt einen untrennbaren Prozess bilden, dass Unterscheidungen zwischen Selbst und Nicht-Selbst im Grunde nur oberflächlich möglich sind. Auch wenn vieles davon nur langsam zu verinnerlichen ist, drängen Klimawandel, Artensterben und Pandemie zu einer Beschleunigung und weisen darauf hin, dass zum Überleben der Menschheit eine grundlegende Erweiterung unserer Empathie nicht nur auf alle menschlichen, sondern auch auf nichtmenschliche Lebensformen notwendig sein wird.

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Kosmische Bühne “It’s important to realize, when you interact with others, that everybody in a sense is you in a different timeline …” 3 (Joscha Bach) Kunst und Theater können Raum geben für Euphorie und Unsicherheit angesichts dieser Erkenntnisse. Erfahrungsräume, in denen wir die gleichsam befreienden wie auch schmerzhaften Transformationen unseres Menschenbildes in Gemeinschaft erproben können. Ein geschützter Raum, in dem diverseste Identitäten entstehen und wieder vergehen können. Das Theater verkörpert seit seinem Ursprung das Feld der ständigen Wandlungen und bietet so den idealen Ort für die gerade stattfindende Metamorphose. Ein Labor für die experimentelle Verschmelzung mit den uns umgebenden Technologien. Ein Knotenpunkt im Netzwerk unserer durch das Internet verbundenen Nervensysteme. Ein Ort, an dem Hyperkonnektivität genauso erlebt werden kann wie das gemeinsame Zelebrieren absoluter Stille oder die Abwesenheit jeglichen Inputs. Gegen die damit einhergehende nervöse Unruhe werden wir wieder lernen, uns mit Wesen und Netzwerken zu verbinden, die in geduldigeren Zeitzyklen existieren als wir. Planeten, Bäume, Pilze, Viren. “All that you touch, you change. All that you change, changes you. The only lasting truth is change.” 4 (Octavia E. Butler) Die Bühne als eine ritualistische Architektur für Gemeinschaft, ein System des kollektiven Traums. Eine Stätte, an der die unzähligen Realitätszentren, die nach dem Verlust der allgemein geteilten Realität entstanden sind, zu einem Spektrum gebündelt und in ihrer Unterschiedlichkeit erfahrbar gemacht werden können. Die Anwendung des Komplementaritätsprinzips der Quantenphysik, in dem sich scheinbar widersprüchliche, einander ausschließende Beschreibungsweisen wechselseitig ergänzen, kann zu mehr gegenseitigem Verständnis und einem Heilungsprozess innerhalb der Zersplitterungen beitragen. Die archaische Theatermaschinerie (Dea Ex Machina), in den digitalen Raum erweitert, gibt den unterschiedlichsten Akteur*innen, menschlichen, nichtmenschlichen, biologischen und synthetischen Intelligenzen, die Möglichkeit, gemeinsam zu spielen. Physikalische Beschränkungen können aufgehoben, das Navigieren zwischen den Welten fließend werden. Mit der begehbaren Bühne und VR verfügt das Theater über Möglichkeiten der kollektiven Immersion mit gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit im Raum. Computerspiele und Live-Rollenspiele, Club und Retreats bieten verwandte Anordnungen, und ihre Vernetzung kann ein System erzeugen, in dem das Leuchten unseres komplexen Kosmos aufscheinen kann. Mit den Beteiligten als Akteur*innen in seinem Zentrum. Eine Plattform, die dem Gesamtkunstwerk näherkommen wird als jede Kunstform zuvor. Diese kosmische Bühne wird der Schauplatz sein, an dem wir unsere algorithmischen Rituale vollziehen, um das Leben in all seiner Rätselhaftigkeit zu zelebrieren. Mit den ersten Pinselstrichen an den Wänden dieser von uns selbst erschaffenen Höhle beginnt eine Zukunft, die aus unseren Visionen erwachsen wird, deren wirkliche Beschaffenheit wir uns aber nicht in den kühnsten Träumen vorstellen können. Wenn sich die Menschen der Zukunft unsere Visionen

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in die Höhle ihrer Köpfe laden, irgendwo im zeitlosen, unendlichen Fraktal des Universums, werden sie sich vielleicht wundern, welche Bedeutung wir den Geschichten in unseren Köpfen beigemessen haben. Sie werden aber das Pulsieren unseres Herzschlags als Muster des Lebens darin erkennen.

Markus Selg ist bildender Künstler. Der Beitrag „Mind in the Cave“ ist zuerst unter dem Titel „Aus der Höhle der Zukunft“ im Mai 2021 in Die deutsche Bühne erschienen.

1 https://www.frontiersin.org/ articles/10.3389/ frobt.2018.00101/full#B45 (Zugriff am 3. September 2021). 2 William Shakespeare: The Tempest, 1611. 3 Michael W. Taft: „What Can AI Tell Us about the Human Mind? – with Joscha Bach“, https://deconstructingyourself. com/dy-029-what-can-ai-tellus-about-the-human-mindwith-joscha-bach.html (Zugriff am 3. September 2021). 4 Octavia Butler: Parable of the Sower, 1993.

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EINE MÖGLICHE WUNDE AUFREISSEN Ed Atkins und Rebecca Saunders im Gespräch mit Bastian Zimmermann

Bastian Zimmermann: Rebecca, der Monolog der Molly Bloom aus James Joyces Ulysses hat über die letzten zwanzig Jahre hinweg eine ganze Reihe deiner Arbeiten inspiriert. Warum ist dieser Text so wichtig für dich?

BZ: Ed, welche Bedeutung hat dieser Monolog der Molly Bloom für dich? Dein Schreiben scheint ja ziemlich durch Joyce beeinflusst zu sein. Ed Atkins: Ja, obwohl ich schon durch den bloßen Gedanken an Joyce eingeschüchtert bin, davon fang ich besser gar nicht erst an. Genau deswegen, was Rebecca gerade über die schiere Unauflösbarkeit der ganzen Sache gesagt hat, der Prosa von Joyce; der schlichte Umstand, dass sie sich nicht ohne Weiteres vermitteln lässt, falls es überhaupt möglich ist, sie auf konventionelle Weise zu vermitteln. Sie ist einfach derart schwindelerregend, man fällt den Text ja regelrecht hinunter. Er windet sich ständig, es ist sehr schwer, ihn auf eindeutige Weise zu fassen zu kriegen. Gerade dieses Gefühl aber war mir immer wichtig. Insbesondere der Monolog der Molly Bloom – seine Virtuosität – hat auf mein Schreiben sowohl direkt als auch indirekt großen Einfluss ausgeübt. Irgendwo dort drin, an einem Punkt, wo das Schreiben sich von der geläufigen Vorstellung frei zu machen beginnt, Bedeutung vermitteln zu müssen … wenn es bei dem Gefühl eher darum geht, das Schreiben – oder eine Stimme mit all ihren Begleiterscheinungen, oder den Text an sich – als Sache, als Ereignis zu erleben … entstehen plötzlich ganz neue Dinge. Vielleicht sogar buchstäblich. Der Text wird opak und erscheint als Ding an sich – ein

Rebecca Saunders: Was mich am Monolog der Molly Bloom wirklich reizt, ist ein bestimmter Aspekt der Textstruktur: diese unzähligen Stränge von Ideen und Sprachfiguren, die von Zeit zu Zeit an die Oberfläche treten, um dann im kontinuierlichen Dahinfließen des Monologs wieder zu verschwinden. Er verfügt auch über diese außergewöhnliche, unerbittliche Energie. Es ist ganz erstaunlich zu beobachten, wie sich manche Ideen, Passagen, Erinnerungen, einzelne Wörter oder Sätze im strukturellen Verlauf des Textes immer wieder ereignen, nicht nur das Wort „yes“, sondern auch Wörter wie „oh“, „ah“ und „no“ – tatsächlich ziemlich viele „nos“. Diese Art formaler Interpunktion hat mich fasziniert. Für mich drückt sich das musikalisch am besten in einer Art Polyphonie aus. Beim Lesen des Textes höre ich diese Polyphonie: Wie die verschiedenen Stimmen, Erscheinungen, Vorstellungen, Perspektiven, Figuren, die unterschiedlichen Gefühlszustände dauernd verschränkt werden und so neue und überraschende Sichtweisen eröffnen. Fasziniert hat mich auch die Brutalität und Rohheit von Molly Blooms Sprache.

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EINE MÖGLICHE WUNDE AUFREISSEN

schon ziemlich außergewöhnlicher Vorgang magischen Denkens. Die reinste Zauberei. Dieser Prozess – vom transparenten Text zum materiellen Eindruck – hat mich enorm beeinflusst. Oft geht es mir allein darum. Für mich ist Beckett ein noch stärkerer Bezugspunkt. So vieles bei Beckett fühlt sich an, als würde das, was Ausdruck finden sollte, von Materialität durchkreuzt, von materieller Begrenztheit. Das Verlangen zu sprechen, ohne zu wissen, was man sagen will, das Verlangen, die Zeit aufzuhalten, anzuhalten, und diesen Raum mit Inhalt zu füllen … Wie das, was ich gerade mache: Sprache, die sich nach und nach einfach auflöst, Bedeutung, die abgewickelt wird, und auf einmal kann ich diesen Satz nicht mehr beenden … nicht ohne Ellipsen.

eine Art von Unmittelbarkeit, ist als praktischer Vorgang zugänglich. Mein Denken ist in erster Linie durch das Schreiben bestimmt, nicht durch so was wie einen synästhetischen Blick. BZ: Rebecca, was bedeutet es für dich, eine Stimme auf die Bühne zu bringen? RS: Diese Frage hat mich beschäftigt, als ich den Monolog Yes geschrieben habe. Ich hab das für mich noch nicht abschließend geklärt, aber ich glaube, was die Stimme zutiefst persönlich macht, ist ihre außergewöhnliche Intimität, Subjektivität, die bedrückende Nähe zum Atem. Wenn man mit der Stimme arbeitet, muss man bereit sein, das Monster in sich rauszulassen. Man beginnt, die Begrenzungen der Sprache hinter sich zu lassen: nichts sagen und es wirklich meinen. Anfangs fand ich es unglaublich schwierig, einen Zugang zur Stimme zu finden, da ich mich in meiner Musik nicht gerne auf eine Aussage festlegen lasse. Ich möchte, dass die Musik für sich selbst spricht. Wir kundschaften etwas aus, deuten etwas an, ermöglichen etwas, ja, durchaus, aber die fast schon arrogante Haltung, sich hinzustellen und zu sagen: „Es geht um dies oder jenes, lasst uns nun über dies oder jenes nachdenken“, mag ich nicht. Beckett und sein Schreiben zeichnen sich unter anderem durch diesen ungewöhnlichen Aspekt aus, den er mit seinem außergewöhnlich reduzierten, spröden und zutiefst ausdrucksstarken, zerbrechlichen und zugleich brutalen Wort- und Sprachschatz so virtuos erfasst: nichts zu sagen, und das auf eine so kunstvolle Weise. Mich interessiert, was sich unter der Oberfläche der Dinge befindet – das zentrale Modul von Yes trägt den Titel Nether (dt. „unter-“ ; d. Übers.) und

BZ: Deine Videoarbeiten basieren ebenfalls auf von dir verfassten Texten. Kannst du uns mehr über den Schaffensprozess erzählen und darüber, was Schreiben für dich bedeutet? EA: Früher war es eindeutiger: Erst habe ich etwas geschrieben und dann daraus ein Video gemacht; mein Schreiben war mehr oder weniger an Drehbüchern orientiert. Später sind die beiden dann nach und nach auseinandergedriftet. Ich habe angefangen, mich für dieses Moment von Handlungsunfähigkeit zu interessieren. Dieses Beckett’sche Unvermögen zu sprechen – eine Art Einhegung von Sprache und Kohärenz zugunsten eines drängenden Ausdrucks, der Zeit und Raum zwar mit einem Bedürfnis, aber nicht unbedingt mit Bedeutung oder Sinn füllt. Videos zu machen, ist ein langer und mühsamer Prozess, einen Satz aufzuschreiben, dagegen nicht. Nicht unbedingt. Es hat

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beschäftigt sich mit dem, was unter der Oberfläche zurückgehalten wird – und ich glaube, indem man mit der Stimme arbeitet, kann man buchstäblich den Deckel lüften.

thematisieren die Besessenheit durch die Stimme. Die Szene in Der Exorzist, in der die Stimme des Mädchens in eine tiefe, dämonische Männerstimme umschlägt, ist viel entsetzlicher als die Veränderung ihres Aussehens. Die Stimme nistet sich ein, sie ergreift Besitz. Sie ist das Innere, das nach außen tritt. Der Umstand, dass sie besessen ist von diesem Atem, dieser Stimme, ist das eigentlich Monströse. Die Stimme hat etwas Gebieterisches und Beängstigendes.

EA: Die Stimme ist ein distinktes und einzigartiges Merkmal jedes Menschen, doch im Gegensatz zu allen anderen Eigenschaften verlässt die Stimme einen, verlässt deinen Körper. Dieser kleine, verletzliche Laut, den du hervorbringst, verlässt deinen Körper und vermischt sich mit der Welt, landet in anderen Körpern, bringt die Luft zum Erzittern. Genau diese Verletzlichkeit eines Aspekts deines intimsten Selbst, der außerhalb von dir besteht … das habe ich schon immer gesucht, dieses Gefühl von Intimität, durch die sich eine Art unvermittelter Sprache auszeichnet. Sozusagen: „Was passiert, wenn ich meinen Mund öffne und anfange zu sprechen?“ – das irrsinnige Risiko dabei. Es reißt eine mögliche Wunde auf. Aber ich stelle mir sie als anmutig vor, als eine Art Öffnung – eine Offenheit, die angenommen oder zurückgewiesen werden kann. Den Protagonist*innen meiner Videos leihe ich immer meine eigene Stimme. Ich habe versucht, dafür mit anderen Leuten, mit Schauspieler*innen zusammenzuarbeiten, aber meine Arbeiten – wenn sie auch nicht im strengen Sinn autobiografisch sind – haben doch die angesengten Ränder einer Art Biografie, oder einer tiefen persönlichen Beziehung. Es ist problematisch, andere Leute dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Insbesondere Dinge, die einen so verletzlich machen. Auch das ist ja ein wichtiger Teil der Stimme: die Angst davor, sie zu verlieren, dass jemand an meiner statt spricht – wie beim Bauchreden. Viele Horrorfilme

BZ: Rebecca, in deinen Arbeiten kommen viele Laute vor, die der Sprache vorgängig sind, von Sprache durchsetzt, die sich in Sprache hinein- und aus ihr herausentwickeln. RS: Die Erkundung einer räumlichen und musikalischen Polyphonie, eine räumliche Collage, ist ein struktureller Ansatz, mit dem ich seit vielen Jahren arbeite. So wie der Monolog von Joyce selbst wie collagiert wirkt, wie die Gedankenströme auftauchen und wieder verschwinden, so erlebt man auch den architektonischen und akustischen Raum, in dem meine Stücke aufgeführt werden. Ähnlich nähere ich mich auch Texten, da es ja nicht darum geht, die unmittelbare Bedeutung jedes Satzes zu kommunizieren. Ich spiele damit, die Bedeutung eines Textes unterschiedlich stark zu unterdrücken, will aber dennoch durch ein komplexes Gemenge aus Wörtern und Musik eine Interpretation oder ein Verständnis von Texten durchscheinen lassen. EA: Auf mich wirkt das extrem radikal: Die Stimme gerade nicht als eine beruhigende, anthropozentrische Instanz zu privilegieren, im Sinne von: „O ja, selbstverständlich sollten wir Sprache

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EINE MÖGLICHE WUNDE AUFREISSEN

und uns selbst als Menschen, die wir doch ganz andere Schattierungen von Bedeutung und Sinn auszudrücken imstande sind, anders behandeln als ein bloßes Instrument.“ Es ist beängstigend und ganz außergewöhnlich, wie in Rebeccas Musik solche Unterschiede einfach eingeebnet werden, der Körper wird dort zum Instrument und Sprache zu Musik. Oder das Instrument wird zum Körper und die Musik zu einer Art gestörten Sprache. Die Gewichtung wird hier komplett umgekehrt: Es wirkt fast schon posthuman, wie hier die Ontologie möglicher Ausdrucksweisen gedeutet wird.

Ding an, das sprechen will, aber nicht weiß, was es sagen soll?“ Als käme etwas von außerhalb des Körpers, das sagt: „Hier ist dieses Instrument, der Körper: Was werde ich ihn sagen lassen?“ Definitiv verweisen die vielen Schnitte und Sprünge in meinen Videos auf eine Welt des Zauderns, der beunruhigenden Ungewissheit darüber, wie man eine Aussage trifft, woher man weiß, was man zu sagen hat. RS: Bei meiner Bearbeitung des Monologs von Molly Bloom habe ich ein feines Gespür dafür entwickeln können, wie die Sopranistin, die das Stück singt, atmet. Selbst in unglaublich ruhigen Klangflächen liegt ein enormes Potenzial, einen hohen Grad an Spannung zu erzeugen, indem man die Begrenztheit der Atmung kontrolliert und ausreizt, was wiederum eine fesselnde Wirkung auf den*die Zuhörer*in hat. Auch die daraus resultierenden körperlichen Gebärden und Ausdrucksformen – oder ihr Fehlen – bei den Interpret*innen genau in Betracht zu nehmen, ist unerlässlich. Wenn man in einem fort mit erhobener Stimme redet (ahmt atemlose Stimme nach), geht einem ab einem gewissen Punkt die Luft aus. Besteht nun die Musik aber auf einem Schweigen, bei dem die Luft angehalten werden soll, hat das potenziell einen heftigen Effekt. Wenn man dann noch gezwungen wird, weiter zu sprechen, immer noch, ohne Luft geholt zu haben, wird das Sprechen verzerrt, langsamer, das Timbre ändert sich, der Ausdruck – nicht nur der Klang – ist sozusagen mutiert.

BZ: Ed, auch in deinen Arbeiten kommen ja häufig stimmliche Lautgebilde zum Einsatz. Ich bin mir nicht sicher, aber gibt es nicht auch einige Arbeiten, wo diese sich nicht zu Sprache weiterentwickeln? EA: Ich würde da nicht von etwas Vor-Sprachlichem reden, das ist einfach symptomatisch für Echtzeitaufzeichnung. Ich mag, was passiert, wenn jemand ohne Skript spricht. Oder, wie das eigentliche Transkript eines in Echtzeit geführten Gesprächs von der überarbeiteten Fassung abweicht, die du gerade liest. Man weiß nicht, was man sagen und wie man es sagen wird: Man denkt es sich einfach spontan aus, während man spricht. Klar kann man das nicht machen, wenn man an einem Video arbeitet, weil es ja nicht live ist. Dennoch ist da dieser Echtzeit-Eindruck in meinen Videos, was wohl zum Teil an der Intimität, dieser Verletzlichkeit der Stimme liegt und in Fragen wie: „Was zur Hölle sagt er als Nächstes? Wird er überhaupt irgendwas von Belang sagen können? Welches Begehren treibt dieses

EA: Ich fand die Vorstellung einer Sprache spannend, die nur aus Wörtern besteht, lautmalerisch, aber aus Materie. Eine materielle Onomatopöie, gesprochen

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von komplett ephemeren, digitalen Nobodys. Die Vorstellung, dass Sprache zu einem Gegenstand wird oder ihre Bedeutung ablegt, gibt es ja schon lange – dass man einen Text eher ansieht oder anfasst, statt ihn zu lesen. Was es bedeutet, ein Wort immer wieder zu wiederholen, wie ein Mantra, die Bedeutung aus ihm rauszuwringen, bis nur noch eine Hülse übrig bleibt … Und was dann? Das Wort muss verschwinden, um zu bedeuten. Aber was passiert, wenn man es opak werden lässt, auf seine Präsenz besteht? Die Musikalität von Sprache ist ein Weg, die Wort-Materie freizulegen. Ich habe die Musik auf jeden Fall um ihr besonderes Vermögen beneidet, die Herstellung von Bedeutung einfach abzustreifen. Das Musikstück handelt von sich selbst, es ist, ist, ist. Es hat seine ganz eigene Wesenhaftigkeit und Integrität, einen eigenen Sinn. Die Immanenz des Dings statt seiner Transzendenz, als ob es irgendeine höhere Bedeutung hätte oder seine Wahrheit nur außerhalb seiner selbst läge.

und es jeder es schon zigmal gehört hat. Was dann? Was passiert mit diesem Ding, und wie könnte man sich das zunutze machen? Oder vielleicht sogar etwas davon zurückfordern? Aber auch Karaoke im Allgemeinen, als eine Art Methode. Leute, die ihr Lieblingslied singen, ihr Ein und Alles, das wahrscheinlich mit einer lebendigen, schönen Erinnerung verknüpft ist … Wenn man Leuten beim Karaokesingen zusieht – eine echte Lieblingsbeschäftigung –, kann man, wenn sie nur betrunken genug sind, etwas sehen: Es blendet einen förmlich, weil hier eine Seite der Leute – eine total persönliche Seite – zum Vorschein kommt, etwas, das normalerweise ihren innigsten narzisstischen und onanistischen Umklammerungen vorbehalten ist, und zu dem sie dir jetzt Zugang gewähren. BZ: Rebecca, welche Fragen in Bezug auf den Gesang beschäftigen dich? Für wen wir singen? Was interessiert dich daran, vom Text zum gesprochenen Wort zu springen und von dort vielleicht weiter zum Singen?

BZ: In vielen deiner Installationen fangen Avatare in irgendeinem Moment zu singen an. Ist das dieser weitere Schritt, von dem du gerade gesprochen hast?

RS: Nun, es ist ja nicht so, als gäbe es einen reibungslosen, linearen Übergang vom Text zur Sprache zum Gesang, eher finden sich Abgründe zwischen ihnen. Singt ein*e ausgebildete*r Sänger*in, tut er*sie das natürlich mit einer speziell ausgebildeten Stimme. Wenn er*sie aber 75 Minuten lang auf der Bühne steht und überhaupt nicht singt, dann ist das schon ein Statement, oder? Also wird er*sie singen. Ich habe nach Möglichkeiten gesucht, die Grenzen zwischen Sprache und Gesang aufzulösen, sie zusammenzubringen, und werde daran auch weiterarbeiten.

EA: Es ist nicht nur wichtig, dass sie singen, sondern auch, was sie singen. Überwiegend singen sie eine Art Karaoke, eine Menge total ausgelutschter Songs, die wieder und wieder verwendet und im Zuge dessen komplett runtergerockt wurden. Lieder, die zum Beispiel durch die Verwendung in einer Autowerbung ruiniert worden sind. An diesem Punkt beginnt ein Musikstück für mich interessant zu sein: wenn es aufgebraucht ist, wenn die Luft raus ist

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EINE MÖGLICHE WUNDE AUFREISSEN

BZ: Ed, kannst du noch mehr darüber erzählen, wie du mit Musik arbeitest? Schreibst du Partituren?

macht, ist die inhärente, beunruhigend persönliche Ebene, auf der man mit ihr arbeiten kann. Genau die menschliche Fehlbarkeit, die Unvollkommenheit dieses Dings, das wir alle sind und was zu fühlen, darzulegen, zu erfahren uns solche Angst macht. Ich fände es spannend, auf diese sehr körperliche und intime Art mit Sprache für einen Avatar zu arbeiten, und könnte mir vorstellen, daraus eine formale Spannung aufzubauen.

EA: Nein, und ich arbeite auch nicht wirklich musikalisch: Es wäre irrwitzig, das zu behaupten. Ich würde sagen, ich arbeite grammatikalisch. Es geht wohl eher um die Struktur von Sprache, Sätzen und Absätzen als um die von Musik. Natürlich ist meine Arbeitsweise insofern schon musikalisch, als Sprache ja die gesamte Ausdruckswelt durchdringt. Mit Sicherheit ist sie rhythmisch. Wenn ich diese Videos mache, habe ich beim Einsatz von Klängen und Musik die größte Freude. Echt, das ist immer der Aufhänger. Ein großer Teil meiner Sachen beruht auf einem bestimmten Grad an Vertrautheit mit Musik, um jedoch genau damit letztlich zu brechen: Irgendein generischer Ausdruck wird zunächst nochmals bestätigt, um dann seine vertraute Verwendung versagt zu bekommen. Ich versuche auch immer, Tonaufnahmen davon zu machen, wie ich arbeite, nur das Klicken der Maus, die Tastatur, mein Schnauben und Husten. Es ist der Spaß an Schichtungen, der auch eng mit Technologie zusammenhängt: Ich schichte verschiedenen Lagen aufeinander, setze Klang- und Musikspuren zusammen, hebe bestimmte Aspekte hervor. Eine intensive Zeit wahnwitziger Pedanterie und Spannung.

EA: Etwas aufzuführen, bedeutet ja, es in einen Gegenstand zu verwandeln, der von einer Menge Leute gesehen, gehört und gefühlt wird. Perverserweise glaube ich, dass die Sachen, die ihre Künstlichkeit offen zur Schau stellen, den Weg zurück zu einem enormen Grad an Intimität eröffnen. Da kippt das Ganze. Als Teil des Publikums fällt es einem angesichts von etwas augenscheinlich Künstlichem möglicherweise leichter, loszulassen und zu entspannen, um dann mit etwas beängstigend Realem oder Verletzlichem konfrontiert zu werden, das in dieser Künstlichkeit enthalten ist. Dieses Hin und Her zwischen Künstlichkeit und materieller Authentizität – ein Körper, der einem was vorgaukelt – kann ziemlich unheimlich wirken, sodass einem ganz mulmig wird.

BZ: Rebecca, kannst du dir vorstellen, ein Solostück für einen Avatar zu schreiben oder zu arrangieren?

BZ: Ed, wäre es interessant für dich, deine Texte mal in der Form von Gesang oder eines Vortrags aufbereitet zu erleben? Du sprichst sie ja selbst. Was passiert, wenn jemand anderes sie liest?

RS: Ja. Ich glaube, das ist tatsächlich sehr interessant, weil es hieße, mit einem zutiefst verstörenden Widerspruch zu spielen. Was die Stimme für mich so schwierig, aber auch so faszinierend

EA: Das ist seltsam. Es kommt mir vor, als würde jemand meine Kleidung tragen oder in meinem Bett liegen. So „Was zur Hölle machst du hier? Machst dieses Ding? Das bin ich!“ Vielleicht ist es zu

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IMMERSION

nah an mir dran. Ich hab da keine Distanz. Aber vielleicht sollte ich mehr riskieren. In der Hinsicht bin ich ein Feigling: Ich will nicht riskieren, dass jemand anderes Scheiße damit baut. Selber Scheiße zu bauen, macht mir nichts aus.

Ed Atkins ist Künstler, Rebecca Saunders ist Komponistin. Das Gespräch „Eine mögliche Wunde aufreißen“ (Opening a Possible Wound) hat am 10. September 2017 im Rahmen des Musikfestes Berlin und des Monats der zeitgenössischen Musik in Kooperation mit field notes / initiative neue musik berlin e. V. und in der Moderation des Autors und Filmemachers Bastian Zimmermann stattgefunden. Der vollständige Text ist als Edition 26 der Berliner Festspiele im November 2017 erschienen.

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UNENDLICHE MUSIK Brian Eno im Gespräch mit Thomas Oberender

Thomas Oberender: Ein durchgängiger Aspekt deiner Arbeit ist die Verschiebung von einem objektbasierten Verständnis von Kunst hin zu einem prozessorientierten Interesse an Kunst. Diese Verschiebung verändert tatsächlich eine Menge: Sie betrifft die Art der Produktion und Präsentation, unser Verständnis von dem, was das Werk eigentlich ist, und öffnet die Situation des Kunsterlebens stärker für Einwirkungen seitens des Publikums. Kunstwerke sind nicht mehr fertige Produkte, sondern Situationen in ständiger Veränderung. Alles begann, würde ich sagen, mit deiner Ausbildung an der Ipswich Art School. Was war das für eine Kunstschule, die du Ende der 1960er-Jahre besucht hast?

die Schule übernommen. Und er hatte eine ganze Reihe neuer Mitarbeiter*innen eingestellt, sehr interessante neue Leute aus der Kybernetik, Mathematik, Malerei, Bildhauerei und Installationskunst. Das war nicht die Art von Leuten, die man normalerweise in den 1960er-Jahren an einer Kunsthochschule traf. Die ganze Herangehensweise der Hochschule war für mich sehr überraschend, als ich als 16-Jähriger mit meinem kleinen Malkasten dort ankam. Ich dachte, ich würde – wenn ich Glück hätte – Aktbilder malen. Aber es gab keine Aktbilder. (lacht) Wir haben nicht einmal die Farben benutzt. Uns wurden Projektaufgaben gestellt, die sich von allem, was ich mir bis dahin vorstellen konnte, sehr, sehr stark unterschieden. Wir sollten zum Beispiel alle Zeitungen kaufen, die an einem bestimmten Tag erhältlich waren, ein Thema finden, das sie alle gemeinsam hatten, und dann eine Präsentation zu diesem Thema machen, aber ganz ohne Sprache.

Brian Eno: Ich hatte großes Glück. Eigentlich wollte ich ursprünglich auf eine andere Schule, denn die bekannteste Kunstschule in meinem Teil Englands befand sich in Colchester. Aber meine Eltern hatten kein Geld, und ich konnte keinen Zuschuss vom örtlichen Bildungsausschuss bekommen, um nach Colchester zu gehen. Also besuchte ich eher widerwillig diese andere Kunstschule, die Ipswich Art School. Ich ging 1964 dorthin und war zwei Jahre lang dort. Es war eine sehr kleine Hochschule, und sie hatte keinen guten Ruf. Aber zufälligerweise hatte genau zu dieser Zeit ein sehr charismatischer Lehrer, Roy Ascott,

TO: Es klingt so, als ob das wenig mit der Ausbildung klassischer Techniken wie des künstlerischen Zeichnens oder Modellierens zu tun hatte. BE: Ja. Allerdings wurden Menschen, die sich für das Handwerk der Malerei interessierten, nicht entmutigt, sie wurden jedoch auch nicht ermutigt. Das Konzept war, dass wir lernten, kreativ zu sein und über Situationen nachzudenken.

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TO: Ist es möglich, Kreativität zu erlernen?

nicht verpflichtet fühlen, sich über ihre Arbeit zu äußern – im Gegensatz zu Wissenschaftler*innen. Wissenschaft muss eine öffentliche Sprache nutzen, sie muss etwas sein, das man überprüfen kann, sonst ist sie keine Wissenschaft. Wenn es sich um Wissenschaft handelt, muss sie in der Lage sein, sich in einer Sprache auszudrücken, sodass man das, was behauptet wird, auch überprüfen kann. Kunst muss keine öffentliche Sprache sprechen und hat oft eine Art perverses Vergnügen daran, eine sehr private Sprache zu nutzen. Ich denke manchmal, dass sich Künstler*innen hinter einer Art Nebelwand verstecken, insbesondere hinter der Vorstellung: „Wenn ich zu viel darüber nachdenke, verschwindet alles.“ Es ist diese Vorstellung, dass Kunst eine Art Ballon ist, den man immer wieder aufbläst und den man von allen scharfen Gegenständen, wie zum Beispiel ernsthafter Kritik, fernhalten muss. Um auf Tom Phillips zurückzukommen: Was ihn für mich sehr wichtig machte, war, dass er ein sehr kritischer Denker war und sehr intellektuell. Und er wollte wirklich, dass man klare Ideen hat, dass man klare Ideen artikuliert. Das war nicht gerade typisch für Kunstlehrer*innen dieser Zeit.

BE: Ich glaube schon. Eine Erkenntnis, die ich von diesem Ort mitgenommen habe, war, dass man in Bezug auf jede Arbeits- oder Denksituation Perspektiven einnehmen kann, die frisch und neu sind. TO: Ein wichtiger Lehrer in Ipswich war für dich Tom Phillips. Er hatte besonderen Einfluss auf dein Interesse an der Musik. Ich glaube, er empfahl dir auch Bücher wie Stafford Beers Brain of the Firm, die kybernetische Bibel der damaligen Zeit. BE: Es war nicht Tom, der mir die Bücher von Stafford Beer empfohlen hat, sondern die Mutter meiner Freundin, Joan Harvey. Sie hatte dieses Buch über die Anwendung der Kybernetik im Management und in Organisationen in der örtlichen Bibliothek gefunden und dachte: „Das wird Brian gefallen.“ Sie hatte absolut recht. Es war ein lebensveränderndes Buch. TO: Weil es so völlig anders war als alles, was mit Kunst zu tun hat? BE: Ja, es wurde in dem Buch überhaupt nicht über Kunst gesprochen. In der Tat kommt das Wort „Kunst“ in den meisten guten Büchern, die ich über Kunst gelesen habe, kein einziges Mal vor. Es sind nicht wirklich Bücher über Kunst, es sind Bücher über Menschen und darüber, wie sie sich selbst organisieren, wie wir denken und wie wir so etwas wie Wert und Bedeutung finden. Es gibt eigentlich nicht sehr viele gute Bücher über Kunst, und das liegt zum Teil daran, dass Künstler*innen sich

TO: Und er hat dir die Musik von Terry Riley empfohlen. BE: Ja, er war die erste Person, die in mir die Idee erweckte, dass ich Musik machen könnte. Ich spielte kein Instrument, aber ich liebte Musik und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine ziemlich große Plattensammlung und eine sehr ausgeprägte Meinung über Musik. Erst durch Tom Phillips entdeckte ich Leute wie John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff, Cornelius Cardew und

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so weiter – all diese Komponisten aus der Mitte der 1960er-Jahre. Ich erkannte, dass es ein ganz neues Verständnis von Musik gab, an dem ich teilhaben konnte.

herum beschlossen Maler*innen, dass ihre Bilder eine Komposition aus Formen und Farben sein sollten, die etwas in einem auslöst. Es war also eine Abkehr von der Idee der Malerei als eine Art Übermittlerin von Informationen, einer Geschichte, einer Erzählung, eines Abbildes oder etwas Ähnlichem – hin zur Idee der Kunst als eines Auslösers, der etwas geschehen lässt. Die Sache, die etwas auslöst, kann fast willkürlich sein, sie hat in gewissem Sinne keine inhaltliche Geschichte.

TO: Was war dieses neue Verständnis? BE: Ich denke, dieses neue Verständnis besagte, dass Musik eine Reihe von Prozessen sein kann und nicht zwangsläufig eine Häufung von besonderen Fähigkeiten. Was auch immer man tun kann – selbst wenn man bloß dazu in der Lage ist, ein Glas auf den Tisch zu schlagen –, man kann um diesen Vorgang herum Musik konstruieren. Christian Wolff schrieb zum Beispiel ein Stück namens Stones, in dem er dazu aufforderte: „Sammle ein paar Steine und schlage sie zusammen.“ Das konnte auch ich.

TO: Wenn ich deine Entwicklung als Künstler sehe, beginnt sie mit dem Hinterfragen der Grenzen eines Kunstwerks. Das Konzept der Ambient Music, das du Mitte der 1970er-Jahre erfunden hast, erzeugt ein unendliches Spiel im Sinne von James Carse. Es hört theoretisch nicht auf, sondern tendiert dazu, Umwelt zu werden, etwas, das uns ständig umgibt, sich moduliert, verändert, aber eben völlig zur Stimmung wird und weniger auf Entwicklung zielt als auf Dauer. Diese Art von Musik absorbiert uns, die Zuhörenden stehen ihr nicht gegenüber, sondern das Werk umgibt sie: Man befindet sich in der Situation des Kunstwerks, wie zum Beispiel in dieser Hexadome-Konstruktion, für die du ein Stück geschrieben hast. Diese Mischung aus Raumklangund Videoscreen-Architektur, die das Hexadom-Instrument erzeugt, kann man ja auch nicht von außen anschauen.

TO: Es war die Zeit, in der Formalismus und Abstraktion eine sehr hohe Wertschätzung genossen. Der Feind dieser Kunstepoche war die figurative Malerei. Was hast du heute für ein Verhältnis zum figurativen Moment? In der Malerei erfährt es ja ein gewisses Comeback. BE: Natürlich hat der Formalismus in der Musik eine ganz andere Bedeutung als in der bildenden Kunst. Musik war immer eine abstrakte Kunst. Deshalb haben Leute wie Kandinsky gesagt: „Ich will Bilder machen, die wie Musik sind.“ Weil die Maler*innen, die in der Tradition der Repräsentation verhaftet waren, die Musik als einen Ausweg betrachteten: „Hier ist eine Kunst, die völlig abstrakt ist und schon immer völlig abstrakt war.“ Niemand hört sich ein Musikstück an und fragt: „Was soll das darstellen?“ – was man bei Gemälden oft tut. Um die Wende zum 20. Jahrhundert

BE: In den 1960er- und 1970er-Jahren hat sich viel getan, nicht nur in Bezug auf die Frage, was ein Kunstwerk sein kann, sondern auch dahingehend, was ein*e Künstler*in sein kann, und was ein Mitglied des Publikums, der*die sogenannte Zuhörer*in, tut. Ich habe

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immer gesagt, dass jede neue Form der Kunst eine neue Form des Zuhörens oder eine neue Form des Betrachtens erfordert. Ich erinnere mich an eine lustige Situation aus der Zeit, als mein Album Music for Airports herauskam – 1978 war das. Ein Kritiker veröffentlichte eine Rezension – es sollte der größte Verriss aller Zeiten sein. Er schrieb: „Diese Musik hat keinen Beat, keine Melodie, kein Thema, keine Struktur.“ Und ich dachte: „Das ist genau das, was ich wollte.“ Ich war sehr zufrieden und schrieb ihm einen Dankesbrief.

BE: Ich denke, dass ich versuche, beide Medien in der Art und Weise, wie ich sie verwende, zusammenzuführen. Als ich anfing, das zu machen, was wir heute „Ambient Music“ nennen, hatte ich die Idee, Musik zu machen, die man wie ein Gemälde behandeln kann. TO: In welchem Sinn? BE: Was passiert, wenn du ein Gemälde in deinem Haus an die Wand hängst? Du sitzt nicht die nächsten 35 Jahre da und starrst es die ganze Zeit an. Du lebst dein Leben, und ab und zu schaust du dir das Bild an. Es ist Teil deines Lebens, Teil deiner Lebensumgebung. Bei der Musik war das nicht so: Man legte eine Platte auf, setzte sich in die perfekte Position, mit korrekt ausgerichteten Lautsprechern und hörte die Musik, bis sie zu Ende war. Dann legte man eine andere Musik auf. Musik war eine Erfahrung, die Aufmerksamkeit erforderte und einen klaren Anfang und ein klares Ende hatte. Ich dachte: „Was, wenn man Musik machen könnte, die keinen Anfang und kein Ende hat, die unendlich lang ist?“ Das war der Ausgangspunkt: Musik zu machen, die langsam oder ruhig genug war, um wie ein Gemälde zu wirken. Andererseits arbeitete ich inzwischen mit Licht und führte einige Experimente fort, die ich in der Kunstschule gemacht hatte. Und ich wollte Objekte gestalten, die wie Gemälde aussehen, sich aber sehr langsam verändern. Und so wurde mir klar: „Oh ja, ich versuche, Bilder zu machen, die ein bisschen wie Musik sind.“ Ich versuchte, Musik wie Gemälde und Gemälde wie Musik zu machen. Nach und nach fügten sich diese Ideen zu Installationen zusammen. Ich glaube, das hat viel mit einer Idee zu tun, die

TO: Wenn ich deine Arbeiten betrachte, sehe ich zwei große Werkkomplexe, die kaum voneinander zu trennen sind: deine Arbeit als Musiker und deine Arbeit als bildender Künstler. Ende der 1970er-Jahre hast du deine Karriere als bildender Künstler gestartet und viele Ausstellungen, Installationen und visuelle Objekte gestaltet. Davon ausgehend hast du größere Environments wie deine Quiet Clubs geschaffen. Deine Arbeit erzeugte schon sehr früh ein Wechselspiel zwischen Musik und visueller Musik, also optischen Kompositionen, die gemeinsam mit dem Sound ein Ambiente erzeugen, in das ich eintreten kann. Du hast auch das Verständnis von Videokunst sehr verändert – deine 77 Million Paintings sind die computergesteuerte Kreation eines endlosen Werks, eines sich ständig umbildenden Gemäldes, das von einem Bild ins nächste gleitet. Wenn ich diese Arbeit mit den Apps vergleiche, in denen du Sound und Bild spielerisch verbindest, so erzeugen sie Artefakte, in denen Hören und Sehen verschmelzen. Diese Artefakte werden exakt in der Zeit erzeugt, in der ich die Sache selbst erlebe.

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du eingangs erwähnt hast, nämlich dem Übergang vom Herstellen von Objekten zum Herstellen von Prozessen, zum Herstellen von Dingen, die sich fortsetzen. Das hat mich zu der Idee geführt, dass man als Künstler eher ein Gärtner ist als ein Architekt.

BE: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Als ich anfing, Ambient Music zu machen, geschah das aus einem ganz bestimmten Grund, aus einem ganz bestimmten Ereignis heraus. Ich lag nach einem Autounfall im Bett. Ich konnte mich nicht bewegen, und eine Freundin besuchte mich. Als sie ging, sagte ich: „Oh, kannst du bitte diese Platte auflegen?“ Es war eine Platte mit Harfenmusik von einer walisischen Dame. Sie legte die Platte auf und ging. Es war ein sehr regnerischer, windiger Tag, und die Musik war zu leise. Ich konnte sie kaum hören und einer der Lautsprecher funktionierte nicht richtig. Also lauschte ich dem Regen an den Fenstern und gelegentlich den lautesten Tönen, die diese Dame auf der Harfe spielte. Ich konnte mich nicht bewegen, also konnte ich auch nicht aufstehen, um die Lautstärke zu ändern. Und plötzlich wurde mir klar, dass dies eine sehr schöne neue Idee von Musik war. Die Idee einer Musik, deren Ränder man nicht hören konnte. Nach einer Weile konnte ich nicht mehr unterscheiden, was die Harfe und was das Geräusch des Regens war. Ich dachte: „Wie wäre es mit einer Musik, bei der der ganze Rest der Welt Teil der Musik zu sein scheint?“ Man hört also diese Musik, und man hört andere Dinge, und man denkt: „Ist das Musik, oder ist das ein vorbeifahrendes Auto? Oder ist das ein entferntes Donnern, oder singt da ein Vogel?“ Und nach einer Weile hört man auf, diese Frage zu stellen. Man betrachtet das alles als Teil der Musik.

TO: Deine Arbeiten spielen ja auch mit der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem. Nach deinen 77 Million Paintings hast du als einer der ersten Künstler Apps entwickelt. Deine VideoGemälde sind Arbeiten, die wie auf eine Öffentlichkeit warten und von vielen Menschen gesehen werden wollen oder können. Man sieht sie auf einem Screen, der groß sein sollte. Apps hingegen werden eher privat erlebt. Der Bildschirm deiner Video-Gemälde reagiert nicht auf uns. Er sendet. Ganz anders ist es bei den Apps. Sie reagieren auf uns, und wir kreieren, was sie uns zeigen. Wie ist das bei einer Struktur wie dem Hexadome, der sich ja auch als ein Instrument versteht? BE: Es gibt einen großen Unterschied zwischen etwas, das man in der Hand hält, und etwas, das einen in der Hand hält. Wenn man in den Hexadome geht, ist man mitten in etwas drin. Die Immersion, das Eintauchen, ist ein sehr wichtiger Teil davon: Die Idee, etwas zu erschaffen, in das man hineingeht und das einen umgibt, das überall um einen herum passiert und das einen sich in gewisser Weise klein fühlen lässt. TO: Klein bedeutet nicht, dass man keine Position hat, sondern, dass man in der Mitte des Geschehens steht und das Zentrum von etwas bildet, das einen umgibt und unendlich zu sein scheint. Man sieht oder fühlt die Grenze nicht.

TO: Wie wichtig war die Technologie für diese Entwicklung? Ich denke, ohne Synthesizer und Computer wäre diese generative Gestaltung nicht möglich gewesen.

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BE: Ja. Sie nimmt das Zeitalter der Algorithmen, in dem wir uns jetzt befinden, sehr stark vorweg. Und deshalb waren Kybernetik und Stafford Beer für mich so interessant. In Brain of the Firm gab es einen Satz – es gab viele gute Sätze –, aber einer beschrieb genau, was ich in der Musik machen wollte. In dem Buch geht es um Management. Von Musik ist in dem ganzen Buch nicht die Rede. Der Satz lautete: „Anstatt zu versuchen, das System bis ins kleinste Detail zu spezifizieren, spezifiziert man es nur ein wenig und lässt sich dann von der Dynamik des Systems in die Richtung tragen, in die man möchte.“ Er sprach von einer neuen Idee der Organisation, einer Art Bottom-up-Organisation anstelle der Top-down-Struktur, bei der es einen Chef an der Spitze gibt, der entscheidet, was alle tun, und alle erstatten ihm Bericht, und er gibt dann wieder Befehle nach unten. Viele Menschen haben noch immer dieses alte Bild von Organisation im Kopf. Alternativ dazu sagt Beer: „Nein, man schafft ein System, das reaktionsfähig, schnell und engmaschig vernetzt ist.“ Anstatt alles über diese hypothetische Spitzenperson laufen zu lassen, gibt es ein Netz von Rückkopplungsschleifen. Beer baute daraufhin Anfang der 1970er-Jahre ein kybernetisches Regierungssystem für die sozialistische Regierung von Salvador Allende in Chile auf. Tatsächlich arbeitete er mit Allende bis zehn Tage vor dessen Ermordung durch die CIA und Pinochet zusammen, die erkannten, welche Auswirkungen eine vollständig kybernetische Regierung haben würde. Sie waren klug genug, das Experiment zu beenden. Stafford baute dieses ganz außergewöhnliche System für Allende, das auf Telexen basierte.

TO: Das waren die SMS der damaligen Zeit. Noch vor dem Fax. BE: Es waren die Textnachrichten der damaligen Zeit und die schnellste Form der Kommunikation. Interessanterweise haben die Menschen gerade in den letzten Jahren begonnen, sich wieder für Stafford Beers Experiment zu interessieren und es in die moderne Verwaltung einzuführen. TO: Der Traum solcher Systeme ist ein realtime processing von komplexen Situationen – ob in der Wirtschaft oder Politik: Wir können die Effekte unseres Handelns sofort beobachten und darauf reagieren. Du hast sehr früh begonnen, mit diesen Rückkopplungsstrukturen zu arbeiten. Sie sind weder willkürlich noch völlig festgelegt. Sie befinden sich irgendwo dazwischen. BE: Es gibt ein schönes Wort dafür. Es heißt „stochastisch“ – eines meiner Lieblingswörter. TO: Was bedeutet es? BE: Es bedeutet „unbestimmt innerhalb bestimmter Grenzen“. Stell dir vor, du stehst an einer Straßenecke und beobachtest die Farben der Autos. Das Auftauchen von roten Autos ist stochastisch. Du weißt, dass rote Autos vorbeikommen werden, und du kannst der Wahrscheinlichkeit nach sagen, dass in einer Stunde normalerweise etwa 240 rote Autos vorbeikommen, aber kennst nicht die Reihenfolge, in der sie kommen werden. Es kann sein, dass sechs auf einmal kommen und dann für eine bestimmte Zeit kein einziges mehr. Viele der interessantesten Prozesse sind also stochastische Prozesse: Man kennt

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gewissermaßen die statistischen Fakten, aber nicht die spezifischen. Tatsächlich bezeichne ich vieles, was ich mit Musik und Licht mache, als „zufällig“, weil die Leute wissen, was zufällig bedeutet. Aber das ist eigentlich nicht richtig. „Zufällig“ ist nicht das richtige Wort, „stochastisch“ schon. TO: Du bist also nicht nur Gärtner, sondern auch Mathematiker. Ich mag an beiden, dass sie keine klassischen Autoritätsfiguren sind. BE: Das stimmt. Als Künstler verstehe ich mich nicht als das Genie, das alle und alles beherrscht, sondern als jemand, der etwas wie einen Samen in die Welt setzt, der sich dann eigenständig fortschreibt und verändert. Das regelt die Natur sowieso schon ganz von alleine: Nichts bleibt, wie es ist.

Brian Eno ist Musiker, Musikproduzent, Musiktheoretiker und bildender Künstler. Das Gespräch mit Thomas Oberender „Unendliche Musik“ hat am 31. März 2018 im Kontext der Installation Empty Formalism von Brian Eno, die im „ISM Hexadome“ im Gropius Bau gezeigt wurde, stattgefunden.

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Nachhaltigkeit



MASSNAHMEN FÜR DIE MITWELT. NACHHALTIGKEIT BEI DEN BERLINER FESTSPIELEN Diana Palm

Die Berliner Festspiele als Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH sind mit ihrer ganzjährigen Festivalstruktur und ihren beiden Häusern – dem Haus der Berliner Festspiele und dem Martin-Gropius-Bau – eine Institution, die sich seit einigen Jahren intensiv mit der ökologischen Transformation des Kultursektors auseinandersetzt. Sie stellte sich schon weit vor der zugespitzten Klimadebatte im Wahljahr 2021 die Frage, wie wir mit den endlichen Ressourcen und unserer „Mitwelt“, die alle nichtmenschlichen Entitäten einschließt, umgehen. Nachhaltigkeit darf nicht nur inhaltlich proklamiert und die Klimakrise lamentiert werden, ohne veraltete Standards und gängige Arbeitsprozesse zu hinterfragen sowie das eigene Betriebssystem Schritt für Schritt neu auszurichten. Ansonsten verharrt man in dem Glauben, man hätte mit der inhaltlichen Aufklärung und Mahnung zur Wende bereits das Notwendigste getan – ein Phänomen, das in Verbindung mit der kognitiven Dissonanz alles beim Alten, bei business as usual belässt 1. Ohne eine praktische Umstellung des Betriebssystems der eigenen Institution und der entsprechenden Veränderung ihres Arbeitsalltags bleibt die Wende zu mehr Nachhaltigkeit lediglich bei einem Lippenbekenntnis, einem allenfalls kurzfristigen Image-Zugewinn stehen, der langfristig zu einem Glaubwürdigkeitsproblem führt. Daher haben die Berliner Festspiele in den vergangenen zehn Jahren einiges getan, um nicht nur nach außen in die Öffentlichkeit und den Kultursektor, sondern auch nach innen in den eigenen Betrieb verändernd zu wirken. Ein wichtiger und nahezu alle Bereiche der KBB erfassender Schritt war die erstmalige EMAS-Zertifizierung im Jahr 2013 – zu einer Zeit, als noch kein anderer Kulturbetrieb in Deutschland sich einer solchen Evaluierung seiner betrieblichen Praxis unterzog. EMAS (Eco-Management and Audit Scheme) ist ein von der Europäischen Union entwickeltes Umweltmanagementsystem und -gütesiegel, das die systematische Erfassung der eigenen institutionellen Umweltauswirkungen verlangt und in Maßnahmen zur Reduzierung des eigenen ökologischen Fußabdrucks übersetzt. EMAS betrachtet dabei den gesamten Betrieb und setzt die kontinuierliche Verbesserung der eigenen Umweltleistung voraus, die alle drei Jahre geprüft und auditiert wird 2. Besondere Erwähnung verdient hier Andreas Weidmann, der ehemalige Technische Direktor der KBB, als Initiator der EMAS-Nachhaltigkeitsbemühungen in den Berliner Festspielen. Seit 2019 leitet Christoph Hügelmeyer, sein Nachfolger und Umweltmanagementbeauftragter, die auf EMAS zurückzuführenden Leistungen und Maßnahmen der KBB. Als Begleiterscheinung dieses Verfahrens wurde im Büroalltag schadstoffarmes Material eingeführt, das von recyceltem Papier über nachfüllbare Kartuschen mit umweltfreundlicher Farbe für die Kopiergeräte bis hin zu der Inanspruchnahme öko-zertifizierter Dienstleister wie zum Beispiel Druckereien, aber auch Lieferant*innen reicht.

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Außerdem wurde die technische Infrastruktur der KBB erneuert, Informationswege wurden gekürzt und Datenlasten reduziert. Single use wurde zu re-use-Verbrauchsmaterial, konventioneller Strom zu Ökostrom und herkömmliche Beleuchtung flächendeckend durch LED ersetzt. Zusammen mit der Installierung einer Photovoltaikanlage auf dem Dach des Gropius Baus reagierte die KBB damit auf die am stärksten ins Gewicht fallende Umweltauswirkung einer kulturellen Institution, die eigene Häuser verwaltet, nämlich die des Energie- und Ressourcenverbrauchs 3. Beide Häuser stellen sich außerdem einer energetischen Generalsanierung, die im Fall des Hauses der Berliner Festspiele bereits angelaufen ist und im Jahr 2022 abgeschlossen sein wird. In mehreren Bauabschnitten wurde neben strukturellen Maßnahmen an Fassaden, Fenstern und dem Dach die Belüftungs- und Heizanlage saniert sowie die Haustechnik unter der Berücksichtigung ökologischer Aspekte erneuert. Das Resultat: Zwischen den Jahren 2016 und 2019 hat sich der Gesamtenergieverbrauch um etwa 23 Prozent reduziert 4. Eine energetische Gebäudesanierung wird in den nächsten Jahren auch im Gropius Bau umgesetzt. Grundsätzlich werden hierbei ökologische Aspekte im gesamten Prozess mitgedacht sowie auch die Klimatisierung einzelner Teilbereiche der Ausstellungsfläche infrage gestellt. Die Montage einer modernen, nach Etagen und Gebäudeteilen differenzierenden Klimaanlage und der Wunsch, weniger Beton zu verwenden, sind angestrebt, um den Energieverbrauch insgesamt zu senken. Denn nicht alle Kunstwerke erfordern eine Klimatisierung, und darauf können sowohl die Programmplanung als auch das Sanierungskonzept eingehen. In Bezug auf den zweiten bedeutenden Hebel des institutionellen Umweltschutzes, der Mobilität, erließ die KBB im Jahr 2019 eine neue Dienstreiserichtlinie. Sie verpflichtet alle Mitarbeiter*innen, Reisen innerhalb Deutschlands mit der Bahn anzutreten, und verbietet faktisch alle Inlandsflüge, unabhängig von höher anfallenden Kosten. Auch der betriebliche Fuhrpark durchläuft einen Umstieg auf E-Mobilität, und für kurze Strecken werden den Kolleg*innen Lastenräder zur Verfügung gestellt. Innerhalb der Festivals gibt es seit Jahren überwiegend vegetarisches Catering, das Wasser kommt gefiltert in eigenen Festspiel-Wasserflaschen, und Merchandise-Produkte werden in reduzierter Auflage aus nachhaltigen Quellen bezogen. Ferner widmet sich das Team des Theatertreffens um Katharina Fritzsche und Yvonne Büdenhölzer seit mehreren Jahren der Frage, wie sich Festivals langfristig ökologisch nachhaltiger organisieren lassen. Auf dieser Grundlage entstand 2021 in Zusammenarbeit mit dem Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien das „Forum ökologische Nachhaltigkeit im Theater“, das als Ort des voneinander und miteinander Lernens dient und den Aufruf zu einer nachhaltigen Produktionsweise verhandelt. Die für die 10er Auswahl des Festivals nominierten Theater und Produktionshäuser wurden dazu aufgefordert, zwei Mitarbeiter*innen zu Green Ambassadors/Grünen Botschafter*innen zu ernennen, die das Wissen und die Erkenntnisse aus den Workshops und Vernetzungstreffen des Forums in ihre eigenen Häuser tragen. Zusätzlich begann das Theatertreffen im Jahr 2019, sich jedes Jahr einer Klimabilanzierung zu unterziehen, also alle organisatorischen Prozesse und Aktivitäten des Festivals in Emissionswerte zu übertragen. Warum? Wie im Gesamtbetrieb der KBB lassen sich so auch in einem einzelnen Festival Maßnahmen entwickeln, die zu reduzierten Mobilitätsemissionen führen, weil zum

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MASSNAHMEN FÜR DIE MITWELT

Beispiel durch ein Tour-Pooling über Kooperationen mit anderen Festivals die Produktionen und Gastspiele weniger hin- und herreisen müssen. Zum anderen kann aber auch Strom gespart werden, indem Probenverhältnisse geschaffen werden, bei denen zum Beispiel nicht alle Scheinwerfer auf Hochtouren laufen müssen. Nicht umsonst sagte der Nachhaltigkeitspionier Peter Drucker: „You can’t manage what you don’t measure“. Denn erst das Wissen über den eigenen Ressourcenverbrauch und die Emissionsquellen schafft die Voraussetzung zu einer Optimierung unserer Maßnahmen. Das Ziel des Theatertreffens lautet daher, das verschwenderische Theater in ein zukunftsfähiges Theater zu verwandeln.5 Im Zuge der Nachhaltigkeitsbemühungen finden für das Kollegium der KBB seit 2013 wiederholt Schulungen und Coachings statt. Zusätzlich wurde die „Umwelt-AG“ ins Leben gerufen, die regelmäßige „Umweltsitzungen“ organisiert. Darin werden nicht nur arbeitsübergreifende Inhalte, wie zum Beispiel das Bedürfnis nach mehr öffentlichkeitswirksamer Kommunikation klimarelevanter Themen, behandelt, sondern auch konkrete Pläne entwickelt, die das gemeinsame Ziel der Reduzierung der betrieblichen Gesamtemissionen verfolgen. So entstanden aus eigener Initiative heraus Leitfäden, die über den Einflussbereich des EMAS-Systems hinausgehen und dennoch wichtige Bereiche des kulturellen Alltags abdecken, zum Beispiel zu den Themen nachhaltiges Catering oder nachhaltige Veranstaltungsorganisation. Die Teilnahme an den Sitzungen oder Aktionen wie dem „World-Cleanup-Day“ im angrenzenden Stadtpark erfolgt freiwillig, wird aber von der Geschäftsführung als Arbeitszeit angerechnet und dient dazu, die Bedeutung des Themas im Unternehmen zu unterstreichen. Natürlich gibt es in einem international agierenden Kulturbetrieb auch Emissionen, die nicht zu vermeiden sind. Unverzichtbare Flugreisen werden kompensiert und folgen dem Grundsatz zur Reduzierung des eigenen Fußabdrucks, demzufolge es gilt, Emissionen zuerst zu verhindern, dann zu verringern und als Letztes, wenn beides nicht möglich ist, zu kompensieren. Deshalb unterstützt die KBB das Projekt „MoorFutures“, das im nahegelegenen Umfeld Berlins die Wiedervernässung trockengelegter Moore jährlich mit einem fünfstelligen Betrag fördert. Denn intakte Moore, genauso wie intakte Wälder und Ozeane, binden Kohlendioxid zeitweilig oder dauerhaft und begünstigen somit den Klimaschutz.6 Welche künstlerischen Entscheidungen sind in Anbetracht der Klimakrise noch tragbar? Und können wir als Kulturinstitution den Bewusstseinswandel weiter ankurbeln? Wie können wir Nachhaltigkeit als Qualität und Chance für die Zukunft anstatt als Verzicht auf Gewohntes oder Verlust erlebbar machen? Mit solchen Fragen befasste sich das komplexe Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt „Down to Earth“, das im Rahmen der Programmreihe „Immersion“ entwickelt wurde. Als radikales Veranstaltungsexperiment erprobte und veränderte das Projekt die Ausstellungspraxis einer international beachteten Institution, ohne durch diese Neuerungen die Erfahrung von Verlust zu erzeugen. Stattdessen kreierte „Down to Earth“ eine Atmosphäre unmittelbarer Gastlichkeit und zwischenmenschlicher Begegnung im Gropius Bau, eine Kultur des Respekts für andere Spezies und des Empowerments von Akteur*innen, deren gesellschaftlich wertvolle Praxis in Kulturinstitutionen normalerweise keine Stimme erhält wie zum Beispiel die Künstlerin und Aktivistin Joulia Strauss, die im Rahmen der Avtonomi Akadimia in Athen indigene Wissensformen vermittelt.

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NACHHALTIGKEIT

Im Rahmen dieses Alternativkonzepts wurde auf jegliche technischen Extras wie elektrisches Licht, Lautsprecher oder Bildschirme verzichtet, wodurch alle Präsentationen der Werke ausschließlich live und unplugged stattfanden. Dies fiel umso mehr ins Gewicht, als das Konzept dieses Projekts neben einer 2000 m2 großen Ausstellung auch Praxismodule, Performances, Konzerte und die Workshops zweier Akademien aus Athen und Paris enthielten. Dabei kristallisierten sich Grundfragen für den Betrieb eines Ausstellungshauses exemplarisch heraus: Ist es legitim, Kopien bestimmter Werke zu zeigen und damit aufwendige Transporte von Originalwerken und Produktionen zu vermeiden? Wie lässt sich der Verbrauch verwendeter Materialien reduzieren, öffentlich machen und nachhaltiger gestalten? Und ist eine Raumtemperatur von 20 °C und eine Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent für zeitgenössische Kunstwerke noch zeitgemäß? Als Antwort auf diese Fragen hat das kuratorische Team von „Down to Earth“ alle Verbräuche des Gropius Baus veröffentlicht und nach Konzepten des re-use optimiert. Alte Poster und Plakate wurden auf ihrer Rückseite neu bedruckt und zum Cover der Projektbroschüre. Da der Energieverbrauch im Druckprozess stark durch die Farbigkeit der Darstellungen beeinflusst wird, wurde in den Publikationen auf Farbe verzichtet und die schwarze Ölfarbe durch emissionsarme Algenfarbe ersetzt. Bei den Materialien für den Veranstaltungsaufbau wurde auf die Wiederverwertbarkeit geachtet, Künstler*innen wurden aufgefordert, ihre Arbeiten unter ökologischen Gesichtspunkten neu zu reflektieren, und alle Flüge der Gäste, Künstler*innen und Kurator*innen wurden ausnahmslos durch Bahnreisen ersetzt. Schließlich wurde auch die Notwendigkeit strenger klimatischer Bestimmungen diskutiert, was dazu führte, dass die Verantwortlichen der Programm- und Geschäftsleitung in den Keller und aufs Dach stiegen, um mit den Expert*innen des eigenen Unternehmens zu sprechen und sich mit ihnen ein Bild von der Lage und ihren Erfahrungen zu machen. Das bedeutete auch, ein neues Konzept von Kollegialität und betrieblichem Miteinander zu entwickeln, das über eine administrative und verwaltungstechnische Planung hinausgeht. Neben den ökologischen Ansätzen experimentierte „Down to Earth“ mit der Veränderung des Angebots, das klassische Institutionen bei der Umsetzung eines Programmthemas entwickeln können. Die ausgestellten Objekte und Installationen machten dabei nur einen Teil des gesamten Programms aus, das den Fokus auf Workshops, Live Art, Interventionen und soziale Module wie das vor dem Gebäude eingerichtete Repair Café, die gemeinsame Errichtung eines Tiny House oder die Durchführung eines animistischen Ndeup-Rituals des senegalesischen Künstlers Mansour Ciss Kanakassy legte. Begleitet wurden diese Angebote über sechs Wochen durch Vorträge von Pionier*innen des ökologischen Wandels, sodass Down to Earth weder bloß eine Ausstellung noch bloß ein Festival war, sondern eine kollektive und kulturelle Praxis neuen Handelns und Denkens. So kulminierte letztlich das Ausstellungsprojekt in der Neuverhandlung scheinbar unveränderbarer Routinen des Kulturbetriebs: Warum sind die Klimadaten ausschlaggebend für den Leihverkehr? Und wie wirkt sich das auf das Projekt aus? Das Team der Programmreihe „Immersion“ verhandelte für ausgestellte Kunstwerke Leihverträge, die keinen Zwang zur Erfüllung der 20/50-Regel mehr enthielten und klärte auch die damit im Zusammenhang stehenden Versicherungsfragen. So entstand eine durchaus aktivistische Perspektive, die gängige Prozesse aufbricht, öffentliche Debatten anregt und juristische Regelungen neu gestaltet.

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MASSNAHMEN FÜR DIE MITWELT

Albert Einstein sagte einst, dass man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind. Die Berliner Festspiele haben seit 2012 verschiedene Initiativen ergriffen, ihr Denken und Handeln entsprechend dieser Überlegung verändert und verdanken in diesem Prozess sehr wertvolle Impulse ihren eigenen Mitarbeiter*innen, die innerhalb und außerhalb von künstlerischen Projekten beharrlich nach anderen Wegen und Veränderungen gesucht haben und die schließlich auch radikale Veränderungen in der Praxis der täglichen Programmarbeit auf den Weg brachten.

Diana Palm ist Autorin und Kulturmanagerin.

1 Bernd Sommer / Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Oekom Verlag. München 2017, S. 40. 2 EMAS: „Über EMAS“, https://emas.de/was-ist-emas. (Zugriff am 12. Mai 2021). 3 Körber-Stiftung: „Theater klimaneutral?“, https://www. youtube.com/watch?v=qhDRE-n5d6c (Zugriff am 24. März 2021). 4 Karin Winkelsesser: „Zurück in die Steinzeit müssen wir auch nicht“, in: Theater Heute, Nr. 7, 2021, S. 52–56. 5 Ebd., S. 56. 6 Bernd Sommer / Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Oekom Verlag. München 2017, S. 15.

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TINO SEHGAL IM GESPRÄCH

Volkswirtschaftslehre und Tanz – wieso wollten Sie gerade diese beiden Fächer studieren?

einen solch andersartigen Produktionsmodus in den Markt einzuführen und gesellschaftlich aufzuwerten. Kapitalismuskritik ist dabei nicht mein vorrangiges Motiv. Im Kern ist Kapitalismuskritik eine an kurzfristigen Problemen orientierte Debatte, bei der es um die durchaus relevante Frage nach der genauen Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens geht. Wesentlicher ist meiner Einschätzung nach aber, dass es zivilisationsgeschichtlich präzedenzlos ist, dass es heutzutage ganze Gesellschaften gibt, die einen Überschuss an Grundversorgung aufweisen. Ich denke, dass das die Parameter verändert, unter denen wir Kultur oder Ökonomie betrachten müssen. Nehmen wir zum Beispiel die Beschäftigung. In dem Moment, in dem der Zivilisationsprozess sozusagen sein Ziel erreicht hat, nämlich die Grundversorgung sichern zu können, ist die Frage: Warum überhaupt noch weiter wachsen oder neuartige Dinge herstellen? Der Hauptgrund, warum Leute heute meines Erachtens nach mit etwas beschäftigt sind, liegt nicht mehr darin, dass das, was sie produzieren, gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen ist. Der Nutzen liegt vielmehr darin, dass eine Menge Leute schlicht beschäftigt sind – dass sie ein Einkommen haben, wodurch sie konsumieren können, und dass sie über diese Beschäftigung einen Status beziehen. Was wir früher als Produktion bezeichnet hätten, trägt heute in vielen Fällen Züge des Konsums. Man konsu-

Ich habe beides in der gleichen Woche angefangen, und zwar aus der gleichen Motivation heraus. Mich hat die Frage bewegt, ob es noch andere Formen des Produzierens gibt, als natürliche Ressourcen in Gebrauchsgegenstände umzuwandeln. Die Volkswirtschaftslehre erschien mir als ein Fach, das mir das theoretische Handwerkszeug zur Bearbeitung einer solchen Fragestellung vermitteln könnte. Tanz hingegen als eine Art Lösung oder Antwort auf diese Frage, da er ja per se einem anderen Produktionsmodus folgt: Er baut sich gleichzeitig auf und wieder ab, trotzdem ist er da und produziert Effekte. Steckt dahinter ein antikapitalistischer Impuls? Wir leben in einem Distributionssystem, das man den „Markt“ nennen kann. Ihm unterliegt ein Produktionsmodus, der den zivilisatorischen Prozess angetrieben hat, nämlich das Transformieren von natürlichen Ressourcen. Das sind zwei verschiedene Dinge, die aber oft vermischt werden. Ich suche nun schon seit einigen Jahren nach einem anderen Produktionsmodus, nicht aber nach einem anderen Distributionssystem. Und dabei frage ich mich, ob innerhalb unseres Distributionssystems nicht auch ein anderer Produktionsmodus realisierbar ist. Meine Arbeiten versuchen also,

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miert seinen Arbeitsplatz. Die direkte Steigerung des Wohlbefindens, die das Produzierte selbst hervorzubringen vermag, ist hingegen oft minimal. Dieses ganze Modell – ich muss beschäftigt sein, nur dadurch kann ich einen gesellschaftlichen Status erlangen – beruht auf Fragen, mit denen sich die Kultur stärker beschäftigen sollte. Ich bin zum Beispiel durchaus für den Markt. Aber der Markt ist auch nur ein Werkzeug. Es gibt daneben sehr viele Dinge, die wir außerhalb des Marktes regeln können und sollten. Mit dem Markt verbindet sich zudem eine gewisse Gewalt, die mitten in unserer Gesellschaft stattfindet, nämlich dass in ihr Status und damit zu weiten Teilen auch gesellschaftliche Teilhabe nur über ein Beschäftigungsverhältnis erlangt werden können. Wir sollten uns daher fragen: Gibt es nicht noch andere Wege? Oder können wir das zumindest teilweise auslagern? Für mich ist das ein konzeptuelles Problem, und meine Arbeit reagiert auf solche Fragen.

gung gleich mehr Wohlstand. Dabei richtet sich die Kritik des Ökonomischen heute meist gegen die zunehmende Ökonomisierung des Lebens, aber diese ist meiner Einschätzung nach nicht aufhaltbar: In dem Maße, in dem Grundbedürfnisse mit immer weniger Arbeitsaufwand befriedigt werden können, werden immer weitere Bereiche des Lebens andere Formen von Arbeitsangeboten hervorbringen, da ja auch die im Zuge der Effektivitätsteigerung freigesetzten Arbeitskräfte weiterhin ein Einkommen benötigen. Die zunehmende Ökonomisierung nur zu beklagen, hilft da nicht weiter. Wichtiger ist die Frage, wie wir diesen Prozess gestalten können, anstatt von vornherein zu sagen, diese Entwicklung sei etwas Schlimmes. Entziehen Sie sich mit immaterieller Kunst dem Kunstmarkt? Nein. Wie jeder Markt ist der Kunstmarkt grundsätzlich offen: Es wird das angeboten, was kulturell wertgeschätzt wird, also eine Nachfrage hat. Ich ändere lediglich die Verfasstheit dessen, was da getauscht wird. Persönlich interessiert mich der Kunstmarkt allerdings nur, weil er einerseits ein normaler, nichtsubventionierter Markt ist, andererseits aber auch, weil es in ihm offenbar möglich ist, Experimente wie meine durchzuführen. Der Markt integriert selbst immaterielle Kunstproduktionen, wie ich sie realisiere. Das missverstehen allerdings manche Leute als Kritik an der Distributionsform selbst, da dies leider die einzige Form der Kritik an Ökonomie zu sein scheint, die ein heutiger Diskurs vorsieht. Dabei erleben wir, dass heute an die Stelle der Transformation von Materie, also natürlichen Ressourcen, die Transformation von Handlungen

Wie sehen die Produkte der Zukunft aus? Schon seit meiner frühen Jugend hat es mich interessiert, dieses Problem anzugehen: Denn wir haben bisher das „gute Leben“ dadurch definiert, möglichst viel Materie in möglichst viele Produkte umzuwandeln. Je mehr Produkte wir erzeugen und besitzen, desto besser geht es uns. Wie diese Idee des 19. und 20. Jahrhunderts, diese Grundüberzeugung westlicher Industriegesellschaften, anders gefasst werden kann, ist das große Thema unserer Zeit. Immer mehr Menschen spüren, dass wir mit den Prämissen einer vergangenen Ära operieren – nämlich: mehr Wachstum gleich mehr Beschäfti-

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tritt oder treten sollte. In einer meiner Arbeiten gibt es zum Beispiel eine Transformation von Handlungen beim Singen, so wie es bei anderen Arbeiten um die Transformation von Materie geht oder sie darauf beruhen. Letzteres ist allerdings ein Modell, das fortschreitend langweilig und problematisch wird, da nicht nachhaltig. Das Interessante an der Kunst im Allgemeinen ist: Sie ist ein Modell dafür, wie Produkte in der Zukunft aussehen werden, wenn sie keinen unmittelbaren Gebrauchswert mehr behaupten. Die Produkte, die heute eigentlich so etwas wie Subjektivität verkaufen, meinen aber rhetorisch immer noch einen Gebrauchswert behaupten zu müssen. Seitdem Kunst im Museum hängt und autonom ist, behauptet sie dies schon nicht mehr. Ich glaube, dass in Zukunft auch immer mehr andere Produkte keinen unmittelbaren Gebrauchswert mehr behaupten wollen.

ich bewusst keine Dinge produziere, von denen die Welt ohnehin voll genug ist. Bis zu welchem Grad mein Prinzip der Transformation von Handlungen, die einen ähnlichen Effekt wie Dinge hervorrufen können, volkswirtschaftlich funktionieren könnte, weiß ich nicht. Aber es ist ja schon so, dass Dienstleistungen den größten Wirtschaftssektor ausmachen. Aber ich weiß, dass unser jetziges Modell nicht nachhaltig ist. Meine Arbeit versucht daher, nicht nur die Idee eines anderen Umgangs mit Ressourcen zu proklamieren, sondern auch eine andere Form von Praxis umzusetzen. Deswegen interessiert mich letztlich die Kunst mehr als die ökonomische Theorie. Ich produziere daher Werke, die Subjektivität nicht mehr an einen materiellen Gegenstand heften, sondern andere Formen von Verhalten kreieren. Ich bin in der Umweltbewegung der 1980er-Jahre groß geworden. Anfang der 1990er-Jahre gab es eine Studie über die Umweltbewegung und die Wähler*innen der Grünen. Dabei kam heraus, dass sie mehr CO2 verbrauchen als zum Beispiel die Großmutter, die CDU wählt, aber zu Hause bleibt und Fernsehen guckt. Da wurde mir klar, dass es in dieser ganzen Sache immer sehr stark um das Verhältnis von Sagen und Tun geht. Man kann viel sagen und es sogar so meinen. Das heißt aber noch nicht viel.

Sie sagen, dass an die Stelle der Transformation von natürlichen Ressourcen die Transformation von Handlungen treten muss. Glauben Sie, dass das volkswirtschaftlich funktionieren kann? Wir sind in einer Phase des Übergangs. Wir verkaufen Dinge, aber wir verkaufen nicht mehr unbedingt deren Gebrauchswert, sondern immer häufiger eine Gestaltung von Identität. Dafür gibt es einen Bedarf. Wir müssen und wollen vermehrt unsere Subjektivität differenzieren. Eine Marke will ja eine bestimmte Weltanschauung sein, eine bestimmte Subjektivität vermitteln. In der Regel passiert das als ein mentaler Effekt von Markenprodukten, also von Dingen. Und hier gehe ich in meiner künstlerischen Praxis einen Schritt weiter, indem

Und warum nun gerade in Museen? Museen sind dafür die prädestinierten Orte, denn als Institution machen sie langfristige Problemstellungen und Werteverschiebungen sichtbar. Wo gibt es das noch? Der Markt operiert nach einer Logik des Trends. Politik im Vierjahresrhythmus. Aber Museen operieren

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auf der Ebene ganzer Epochen. Das Museum ist eigentlich die einzige Institution unserer Gesellschaft, die über Dekaden funktioniert oder über Jahrhunderte. Deswegen war es auch für mich interessant, auf diesen Ort zu schauen, der sehr stark auf Dinge und auf Materialumwandlung fokussiert ist – bei der ja grundsätzlich immer CO2 produziert wird. Und sie sind Archive. Ich muss von meinen Arbeiten keine Aufzeichnungen herstellen und will das auch nicht, weil ich weiß, dass solche Filme zirkulieren würden und sie letztlich, wenn sie als Dokument autorisiert würden, irgendwann ununterscheidbar werden von einem Werk. Davon abgesehen ist mir daran gelegen, daran zu erinnern, dass unsere orale Gedächtniskultur auch in unserer heutigen Gesellschaft immer noch das stärkste Moment der Übertragung von Wissen ist.

Heute, im Jahr 2020, kommt Nachhaltigkeit als Thema langsam im Kulturbereich an, mehr und mehr Künstler*innen und Institutionen setzten sich damit auseinander. Was können und müssen Museen heute tun, um sich nachhaltig aufzustellen? Nachhaltigkeit ist ja ein langfristiges Problem. Wir können zum einen sagen, dass wir bestimmte Sachen nicht mehr machen wollen. Das ist dann sozusagen die negative Variante, und die ist ja auch soweit gut. Das haben wir mit unserem Projekt „Down to Earth“ im Gropius Bau gemacht, als wir beispielsweise die Klimaanlage des Museums gedrosselt haben, nachdem es uns aufgrund der baulichen Besonderheiten des Gebäudes nicht gelungen war, sie komplett auszuschalten. Es ist generell ja so, dass Klimaanlagen zwei Drittel des Energieverbrauchs von Ausstellungshäusern verursachen. Als wir begonnen haben, das von Thomas Oberender initiierte Projekt zu Nachhaltigkeit zu planen, habe ich daher gesagt, dass wir bei unserer eigenen Praxis ansetzen müssen. Und so haben wir uns einige sehr einfache Regeln gegeben: Niemand, der an dem Projekt mitwirkt, benutzt ein Flugzeug. Die Kunst in der Ausstellung ist komplett ohne Strom. Ferner legen wir jeden Verbrauch offen. Allein beim Licht kamen da Hunderte von Kilowattstunden pro Tag zusammen – mehr als wir dachten. Von der Klimaanlage ganz zu schweigen. Die Klimaanlage in einem Ausstellungshaus stellt traditionell eine Temperatur von 20 Grad Celsius und eine Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent her. Diese Norm wurde zum internationalen Standard, und wenn man Leihverträge mit großen Sammlungen abschließen und versichern möchte, muss sie ganzjährig ohne

Sind Sie bemüht, eine kleine Ökonomie des Immateriellen zu erschaffen? Sie schaffen immaterielle Kunst und gestatten nur mündliche Kaufverträge. Ja, so könnte man das sagen. Meine Arbeiten sind einerseits sehr konzeptionell, aber zugleich schaffen sie eine spezifische soziale Situation. Und an diesen Arbeiten interessiert mich vor allem der Moment, in dem ein*e Besucher*in merkt: Ich bin gefragt, ich bin verantwortlich, ich spiele eine Rolle. Denn in unserer Gesellschaft haben wir über die Demokratie, aber vor allem über den Markt, sehr große Gestaltungs-und Machtmöglichkeiten. Man muss nur überlegen, wie man sie nutzt. Das reflektieren meine Arbeiten. In vielen Arbeiten spüren die Besucher*innen, dass sie auch eine Macht über diese Sache haben.

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die geringste Schwankung garantiert werden, ob man gerade eine Ausstellung zeigt oder nicht. Diese Parameter sind natürlich sinnvoll, wenn zum Beispiel Zeichnungen, die teilweise Hunderte von Jahren alt sind, erhalten werden sollen oder wenn archäologische Artefakte ausgestellt werden. Aber bei einem zeitgenössischen Werk, das jedes Mal wieder auf- und abgebaut wird, oder einer Videoprojektion gibt es wirklich keinen Grund, diese Standards ungeprüft zu übernehmen. Die positive Variante von Nachhaltigkeit hingegen besteht für mich darin zu sagen: Wir machen etwas attraktiver. Das war schon immer mein Ansatz. Ich kann mich darauf fokussieren, die Erde in möglichst viele Gegenstände umzuwandeln, oder ich kann an mir selbst arbeiten. Und das ist die Grundidee meiner gesamten Arbeit: Wenn ich an mir selbst arbeite, dann produziere ich keine Gegenstände – das ist wie beim Tanz. Aber dafür habe ich dann vielleicht etwas Anderes, Interessantes gefunden: nämlich Lebensqualität. Wenn es gelingt, etwas Attraktives zu erschaffen, dann ist es auch nicht mehr nötig, auf ein „grünes Gütesiegel“ zu bauen. Mir ging es immer darum zu zeigen, dass etwas an und für sich attraktiv sein kann und nicht, weil es irgendwie „gut“ ist – das erschien mir immer effektiver und ja: nachhaltiger. Denn das Bewusstsein scheint hierzulande nicht mehr das Problem zu sein – es gibt heute bei den meisten Menschen ein hohes ökologisches Bewusstsein. Aber wenn man jemanden fragt: Was tust du dafür? Dann wird die Antwort oft anders ausfallen. Unser Ziel war es deshalb, interessante Tätigkeiten zu finden, die andere Leute nachmachen können. Deshalb

entstand ein ganzes Expert*innen-Programm mit Talks, kleinen Workshops von Spezialist*innen einer nachhaltigen Praxis. Wir wollten diese Menschen und das, was sie tun, im Gropius Bau zeigen und so auch ihren gesellschaftlichen Beitrag würdigen. Wenn man eine Ausstellung kuratiert, fragt man sich ja oft: Wer sind die Pionier*innen in dem betreffenden Feld? Wer hat in dem Bereich schon vor Jahrzehnten gearbeitet? Und mein Gefühl war hier: Die gibt es in der Kunstszene kaum. Aber es gibt Leute, die sich seit Jahrzehnten damit beschäftigen, auf eine kreative Art und Weise, und sie sind auch im Umkreis von Berlin zu finden. Und so haben wir dann eine Suche nach diesen Expert*innen der Praxis gestartet und diese Menschen gefunden, die im Alltag schon heute etwas anders machen und dieses Wissen an uns weitergeben. Eigentlich hat die Kultur ja eine vorreitende Rolle, wenn es darum geht, gesellschaftlich relevante Fragen zu stellen. Momentan hat man aber eher das Gefühl, es ist die Fridays for Future-Generation, die aus der Gesellschaft in die Kultur hineinwirkt – nicht wie sonst andersherum. Was ist da los? Ich würde schon sagen, dass die Kultur etwas von ihrer vorreitenden Rolle eingebüßt hat. Aber das heißt ja nicht, dass die Kultur nicht auch in ihrem eigenen Bereich noch etwas bewirken kann. Kultur wird auch nicht aufhören zu existieren. Die Kultur kann, genauso wie jeder andere Bereich, immer noch zeigen, dass sie jetzt aufräumt, auch wenn sie die ersten 30 Jahre verschlafen hat. Letztlich geht es darum, eine Praxis zu finden, die über einen längeren Zeitraum trägt. Das heißt ja nicht, nichts zu verbrauchen, sondern es geht um ein nachhaltiges Haushalten. „Nachhaltig“

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im ursprünglichen Wortsinne entstammt der Forstwirtschaft und meint, dass wir Ressourcen nicht schneller verbrauchen dürfen, als sie nachwachsen. Es geht um eine tragfähige Praxis, und das führt zu grundlegenden Fragen wie: Für welche Art von Kunst braucht man welche Temperatur und Luftfeuchtigkeit? Ich bezweifle, dass Ausstellungen zeitgenössischer Kunst notwendigerweise die gleichen Klimabedingungen wie alte Meister in Museen benötigen. Und ich wünsche mir, dass Ausstellungshäuser darüber nachdenken, wie sie da flexibler agieren können. Das ist eine Sache, die jetzt, da die Zeit reif ist, angestoßen werden muss. Wenn man das vor zehn Jahren gesagt hätte, hätten alle gedacht, man ist verrückt. Aber heute können wir das angehen.

Tino Sehgal ist Künstler. Der Beitrag „Tino Sehgal im Gespräch“ basiert auf einem Interview, das die Journalist*innen Christiane Fricke, Susanne Schreiber, Petra Schwarz und Bernd Ziesemer im Jahr 2005 mit dem Künstler für das Handelsblatt geführt haben, der Schlussteil entstammt einem Gespräch mit der Journalistin Frauke Schlieckau, das fünfzehn Jahre später für die Kulturdokumentation „Klimawandel in der Kunst“ des Senders 3sat im Gropius Bau aufgezeichnet wurde. Der Beitrag ist zuerst in der Publikation Down to Earth. Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit (hrsg. von Thomas Oberender, Spector Books, Leipzig 2021) erschienen.

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STAGING GAIA. BÜHNE, KLIMA UND BEWUSSTSEINSWANDEL Frédérique Aït-Touati und Bruno Latour im Gespräch mit Thomas Oberender

Thomas Oberender: Für uns ist dein Buch Down to Earth ein kleines Organon im Brecht’schen Sinne – ein praktisches Werkzeug, ein Leitfaden zur Verhaltensänderung. Das kommt den Absichten unseres gleichnamigen Projekts im Gropius Bau sehr nahe. Mich interessiert an unserer Zusammenarbeit sehr deine und Frédériques Faszination für das Theater. In deinem Buch sprichst du immer wieder in Theatermetaphern. Du schreibst: „Heute sind alle – Dekor, Kulissen, Hinterbühne: das gesamte Gebäude – auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspieler*innen die Hauptrolle streitig.“ Das ist eine schöne Idee: Konflikte spielen sich auf der Bühne nicht mehr nur in der Sphäre des Zwischenmenschlichen ab, sondern auch die Dinge, all diese Einrichtungen, die eine Bühne bevölkern, sind ebensolche Akteur*innen. Das erinnert mich an die „systemische“ Sicht der Erde von James Lovelock. Seine Gaia-Theorie bewirkt einen ähnlich fundamentalen Weltbildwandel wie Galileo vor ungefähr 400 Jahren.

Position unseres Planeten einmal mehr auf den Kopf gestellt, und zwar durch neue Wissenschaften, die darlegen, wie menschliches Handeln unerwartete Reaktionen der Erde auslöst. Galileo lehrte uns, dass die Erde in Bewegung ist. Die Wissenschaftler*innen James Lovelock und Lynn Margulis entdeckten eine Erde, die auf andere Art und Weise „in Bewegung“ ist: Sie beschreiben einen Planeten, auf dem Raum und Zeit Produkte des Handelns von Lebewesen sind. Sie bringen uns dazu, ein neues Bild von der Welt und ein neues Verständnis des Kosmos zu entwickeln. Und wieder scheint die gesamte Organisation unserer Gesellschaft infrage zu stehen. Mussten wir also im Jahr 1610 den Schock verkraften, dass „die Erde sich bewegt“, müssen wir heute die noch weitaus schockierendere Erkenntnis akzeptieren, dass die Erde bebt und auf menschliches Handeln reagiert, und zwar in einem Maße, das sämtlichen unserer laufenden Projekte Einhalt gebietet und eine Neukalibrierung unseres Denkens fordert.

Bruno Latour: Als Galileo Galilei im Jahr 1609 sein Teleskop in den Himmel richtete, entdeckte er Berge auf der Mondoberfläche. So wurde der Mond zu einer weiteren Erde und die Erde zu einem Stern unter vielen. Damit revolutionierte er die kosmische, aber auch die politische und soziale Ordnung seiner Zeit. Vier Jahrhunderte später werden Rolle und

TO: Ihr habt über Lovelock und das Gaia-Thema in den letzten Jahren verschiedene Stücke und auch Ausstellungen gestaltet. Ich würde mit euch gerne über Brecht und sein Theater sprechen, denn sein Leben des Galilei war für euch ein wichtiger Orientierungspunkt. In eurer Produktion Moving Earths verwendet ihr eine amerikanische Verfilmung des Stücks aus dem Jahr

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1975 – ein traditioneller Kostümfilm, im Grunde das genaue Gegenteil eurer Theaterform.

eine geradlinige Parallele zwischen Galileo und Lovelock ziehen wollte. Sie sagte: „Das ist lächerlich, wir können im 21. Jahrhundert keine androzentrische Parallele zwischen diesem großen Mann Galileo und einem anderen großen Mann des 20. Jahrhunderts ziehen.“ Mein erster Entwurf musste sich also ändern, da zudem die Vorstellung falsch war, Galileo sei im 16. oder im 17. Jahrhundert ein Einzelgänger gewesen. Er war vielmehr eingebettet in ein wissenschaftliches und gesellschaftliches Umfeld, das ihn überhaupt erst ermöglichte. Wir mussten daher die Figurenredeanteile neu verteilen, die Handlung mit der Wissenschaftlerin Lynn Margulis, die leider 2011 gestorben ist, in Verbindung bringen, um dann auf Lovelock zurückzukommen. Er ist jetzt 101 Jahre alt …

BL: (lacht) Frédérique Aït-Touati: Du hast recht! Bruno ist von diesem Film sehr angetan. Zuerst wollte ich ihn nicht verwenden, gerade weil er so anders ist als das Theater, das ich mache. Natürlich erzeugt seine Verwendung eine Spannung: Wir nehmen in unserer szenischen Demonstration schließlich eine Fiktion wie diesen Film als paradoxen „Beweis“. TO: Um die Inszenierung von Beweisen ging es ja schon sehr früh in Brunos Arbeit, in seinem Buch über Pasteur. In deinem Essay When NonHumans Enter the Stage schilderst du dein Interesse als Regisseurin an Brunos Studie. Dich interessiert, wie Wissenschaftler*innen Beweise inszenieren. In Die Hoffnung der Pandora hat Bruno unter anderem beschrieben, mit welcher Genialität Pasteur eine theatralische Situation schuf, in der die Beweise seiner Entdeckung des Milchsäureferments für jedermann sichtbar wurden. Auch Brecht wollte ganz in diesem Sinne ein „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ entwickeln: Galileo ist in seinem Stück 46 Jahre alt, sein Werk stagniert, und plötzlich bringt ihm ein junger Mann die Nachricht von der Erfindung des Fernglases in den Niederlanden. Mit diesem Instrument kann er sein neues Weltbild für jedermann sichtbar machen. Brecht zeigt uns Galileo als großen Mann, Einzelgänger und Geistesriesen. Bei euch scheint das anders zu sein.

FA: Brecht war ein guter Ausgangspunkt, weil er die Verbindung zwischen Galileo und dem wissenschaftlichen Zeitalter herstellt; im Kleinen Organon für das Theater erklärt er, dass er ein Theater für das wissenschaftliche Zeitalter machen will. Aber genau diese Art von Kosmologie und Physik der frühen Neuzeit wird durch die Gaia-Theorie von Lovelock und Margulis infrage gestellt. Wir mussten also neben der Parallele gleichzeitig eine Umkehr darstellen. Bruno sagte irgendwann: „Okay, wir brauchen einen neuen Brecht, um die Geschichte von Lovelock zu erzählen. Indem er die Geschichte von Galileo erzählt, verbindet Brecht die kosmologische Revolution mit dem gesellschaftlichen Umbruch des 17. Jahrhunderts. Jetzt brauchen wir wieder eine*n Dramatiker*in, um die Geschichte von Lovelock, die Entdeckung von Gaia und ihre politischen Folgen zu erzählen,

BL: Diese Problematik kam auf, als ich von Frédérique gegeißelt wurde, weil ich

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um die Verbindung zwischen dem Wandel der kosmologischen Ordnung und dem Wandel der politischen Ordnung herzustellen.“ Die Parallele zwischen Galileo und Lovelock folgt einer Intuition, die in gewisser Weise bereits eine theatralische Situation darstellt: Galileo schaut mit seinem Teleskop in den Himmel und entdeckt, dass die Erde ein Planet unter anderen ist. Lovelock hingegen stellt sich einen Marsmenschen vor, der sein hypersensibles Instrument auf die Erde richtet und entdeckt, dass die Erde einzigartig ist. Das Problem ist, wie gesagt, dass Brecht in Anlehnung an eine lange Tradition in der Wissenschaftsgeschichte Galileo zur Heldengestalt der Wissenschaft stilisiert hat, die den Weg für die Moderne ebnet. Wir können diese Art von Geschichten aber nicht mehr erzählen, mit dem männlichen Wissenschaftler als alleinigem Helden. Brunos Buch über Pasteur ist eine perfekte Kritik an dieser Erzählung. Vor allem, weil die Geschichte der Entdeckung von Gaia viel komplexer, interessanter und kollektiver ist! Das war ein Grund dafür, warum wir Leben des Galilei nicht einfach in „Leben des Lovelock“ verwandeln konnten.

wesenheit von Gaia auf der Bühne sichtbar machen. Dazu bin ich durch die Dramatisierung des theoretischen Konzepts gekommen, die mich immer interessiert hat. Denn seit 40 Jahren unterrichte ich hauptsächlich Erstsemester*innen. Wenn man Studienanfänger*innen unterrichtet, darf man nicht zu kompliziert werden, man muss ein Konzept dramatisieren. Es hat mich sehr beeindruckt, bei der Arbeit über Pasteur zu sehen, dass dies auch der Antrieb eines großen Wissenschaftlers ist, wenn er eine Entdeckung macht und diese der Öffentlichkeit zeigen möchte. Als ich den Ausdruck „Theater der Beweise“ nutzte, löste das bei Frédérique etwas aus, weil sie, vom Theater kommend, an einer ähnlichen Fragestellung interessiert war. TO: Es gibt eine sehr interessante Kritik zu Brechts Historienstücken von Botho Strauß. Er sagt, sie zeugen von einem vorkybernetischen Zeitalter und spiegeln ein mechanistisches Verständnis der Welt wider: Es geht um Ursache und Wirkung, lineare Prozesse. Strauß sagt in den frühen 1990er-Jahren, dass unser aktuelles Weltbild von Phänomenen und Konzepten wie Rückkopplung, Emergenz oder der Chaostheorie geprägt ist. Heute verbindet sich das für uns vor allem mit unserem Eingebettet-Sein in Netzwerke und Systeme, die uns mit Akteur*innen verbinden, die keine Menschen sind, sondern andere Spezies, Landschaften, Dinge und Technologien. Strauß wendet sich auch aus weltanschaulichen Gründen von Brechts dialektischer Ästhetik und ihren Argumenten ab, weil sie ihm in der Praxis zu gewalttätig waren, und wissenschaftlich zu linear.

BL: Wir haben keine Helden mehr, aber wir haben Gaia. TO: Ist Gaia eine weibliche Figur? BL: Sie ist weiblich, aber vor allem ist sie eine mythische und eine ziemlich große Figur. Die Idee war, nicht schon wieder die Geschichte des berühmten Mannes zu erzählen, sondern das Theater als Mittel zu nutzen, um ein Gefühl für die Neuartigkeit von Gaia zu vermitteln. Eigentlich wollte Frédérique die An-

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BL: Uns interessierte, was an dieser linearen Entwicklung linear ist. Gerade weil sie einen Kontrast zu dem zirkulären Feedback-Denken von Lovelock bildete, war sie dramatischer. Wir waren uns nie sicher, wie wir diese letzte Szene neu interpretieren sollen, in der Galilei nicht weiß, ob er sich für die Verbrechen entschuldigen soll oder nicht, die durch seine „lineare Betrachtungsweise“ verursacht wurden. „Wenn Wissenschaftler“, sagt er da, „eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein […] Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden.“ Nun, obwohl auch Lovelock für den britischen Staat gearbeitet hat, kann man das nicht einfach übertragen. Es war meiner Naivität geschuldet, dass ich zunächst jede einzelne Szene von Brecht verwendete und sie so veränderte, dass ich nur die Sätze nahm, die sich auch im Hinblick auf Lovelock nutzen ließen. So habe ich eine lange Beschreibung von einem Stück gemacht (lacht), in dem ein Karneval stattfindet – und den kann man natürlich sehr leicht uminterpretieren, genauso die Episode des kleinen Mönchs. Der kleine Mönch entschuldigt sich bei Brecht dafür, dass er die Wissenschaft aufgegeben hat, weil er seine Eltern nicht in Verzweiflung stürzen will. Und natürlich die Szene, als der Beweis von Galileis

Entdeckung von den fürstlichen Astronomen und Philosophen aufgrund eines Schwalls von Scheinargumenten ignoriert wird … TO: Indem sie sich geschickt weigern, durch das bereitstehende Teleskop zu schauen. BL: Genau die gleiche Szene gibt es mit Lovelock, wenn die Beweise für eine Rückkopplung, durch die sich der Planet selbst zu regulieren vermag und durch die er das Leben lebendig hält, fortlaufend von verschiedenen Disziplinen geleugnet werden. Diese fast buchstäbliche Eins-zu-eins-Übertragung mündete aber schließlich in ein Stück, das so traditionell war wie Brecht und das wir so nicht machen wollten. FA: Es war ein Probelauf, den wir schließlich als Vorlage benutzt haben, um die Unterschiede zwischen Galileo und Lovelock hervorzuheben. Wichtig ist, dass Brecht die Verbindung zwischen dem kosmologischen und dem politischen Argument herstellt. Das war einer der Hauptgründe für diese Parallelität, und das haben wir in unserem Stück Moving Earths letztlich beibehalten. BL: Interessanterweise gibt es Brechts Stück, und es gibt die Losey-Version, den erwähnten Film von 1975. Du hast gesagt, er sei traditionell – ich liebe ihn! Ich habe ihn zehnmal gesehen. Er ist sehr schön. Daneben gibt es unsere erste Version, die eine Imitation von Brecht war, weil wir versucht haben, dem gleichen Muster zu folgen. Aber in dieser Imitation gab es bereits etwas ganz Neues: einen wissenschaftlichen Vortrag. In unserer Endfassung haben wir trotzdem, wie Frédérique gerade schon

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meinte, eines der zentralen Elemente von Brecht übernommen, nämlich die eindringliche Weise, mit der er die politische Ordnung mit der wissenschaftlichen Kosmologie verbindet: „Unsere Kunst des Zweifelns entzückte das große Publikum. Es riss uns das Teleskop aus der Hand und richtete es auf seine Peiniger, Fürsten, Grundbesitzer, Pfaffen.“ Und genau da bin ich jetzt. Ich würde sagen, dass unser Experiment, obwohl es formal ganz anders ist, noch Brecht’scher ist als Brecht. Dieses angesprochene Streben in Brechts Stück, eine Verbindung zwischen sozialer beziehungsweise politischer Ordnung und wissenschaftlicher Kosmologie herzustellen, haben wir übernommen und enorm intensiviert. Als wir unsere Arbeit Historiker*innen, die zu Galileo forschen, präsentiert haben, waren sie über die Qualität des Stücks erstaunt. Wir sind beide Wissenschaftshistoriker*innen, daher war es uns wichtig, dass die historische Verbindung stimmt. Und jetzt versuchen wir natürlich dasselbe mit Margulis und Lovelock. Es handelt sich also um eine andere Form, da eine neue Art des Nachdenkens über die Welt einhergeht mit neuen Darstellungsweisen von dieser Welt, aber einen Aspekt der Brecht’schen „Doktrin“ haben wir beibehalten.

TO: Es gibt einen Moment, da arbeiten Sagredo und Galileo die ganze Nacht hindurch. Brecht schreibt in der Regieanweisung: „Sie setzen sich erregt zur Arbeit. Es wird dunkel auf der Bühne, jedoch sieht man weiter am Rundhorizont den Jupiter und seine Begleitsterne. Wenn es wieder hell wird, sitzen sie immer noch, mit Wintermänteln an.“ Die beiden Zeilen sind Regieanweisungen, die plötzlich die Maschinerie des Theaters selbst offenbaren – die „Natürlichkeit“ der Szene wird durch das demonstrative Vorspulen als etwas Künstliches entlarvt. Brecht spielt kurz mit der Zeit, um danach wieder in den gewohnten Modus zurückzukehren, was als Wechsel eben nur durch die Konventionalität seiner Theatersprache sichtbar wird. Dieser kleine Moment ist episch – hier haben wir etwas mit der Szene gemacht und nicht innerhalb der Szene. Der epische Stil des Brecht’schen Theaters ist in seinen früheren Stücken viel ausgeprägter als in diesem monumentalen Werk. Sie haben einen Erzähler, der die Szene im Auftrag des verborgenen Autors beschreibt und inszeniert. Aber das macht Brecht in diesem Stück nicht, er hat es wie einen Hollywood-Film geschrieben: well-made. BL: Wissen wir, warum er diese Form gewählt hat, die für dieses Thema so anders ist als in seinen anderen Stücken?

TO: Obwohl Leben des Galilei nicht gerade ein Brecht-Stück im Sinne seiner eigenen Theorie ist. Die formale Gestaltung ist eher naturalistisch und könnte von Gerhart Hauptmann stammen.

TO: Ich glaube, weil er möglichst viele überzeugen wollte. Brecht schrieb das Stück 1939 im Exil in Dänemark. Er schrieb für das dominierende Theatermodell seiner Zeit. Mit Stücken wie Leben des Galilei oder Mutter Courage und ihre Kinder wollte er die Praxis des Theaters weniger formal als vielmehr argumentativ und intentional verändern.

BL: Es ist überhaupt kein Brecht’sches Stück, darüber haben wir auch viel gesprochen.

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Warum schreibt man 1939 ein Stück über einen Wissenschaftler? Das Stück sagt: „Ich glaube daran, dass Menschen vernünftig sind. Wenn sie Beweise haben, ändern sie ihr Verhalten. Widrige Umstände währen nicht ewig. Auch wenn sie uns einen Knacks versetzen.“ Darum modelliert Brecht diesen einsamen Gelehrten: sinnlich, egomanisch, ein theoretischer Wissenschaftler und praktischer Ingenieur, zu Verschlagenheit und Naivität gleichermaßen begabt. Und immer mit der Frage konfrontiert, wie stark die Wahrheitsbehauptung von den Umständen und der eigenen Charakterstärke abhängt. Brechts Galileo hat politische Gegner, aber in der wissenschaftlichen Sache hat er einfach recht, und das ist ein bisschen langweilig, weil wir das heute alle wissen.

Lovelock überträgt, neigt der*die Rezipient*in dazu, der Argumentation des Kardinals zu folgen und nicht mehr dem Wissenschaftler. Denn wer ist bitte dieser Mann, der heute daherkommt, um die kosmische und die soziale Ordnung zu zerstören? Es ist wirklich außerordentlich, was passiert, wenn man eine*n heute nicht allseits bekannte*n und anerkannte*n Wissenschaftler*in nimmt, sondern jemanden, der wie Lovelock umstritten ist. Das Stück verschiebt sich dann auf sehr interessante Weise. Im Centre Pompidou sagten manche Zuschauer*innen sogar: „Ah, wow, der Kardinal hat wirklich recht.“ Warum ist das so? Weil der Kardinal am besten ausdrückt, was der Wissenschaftler alles zerstört, nämlich die gesamte soziale und kosmische Ordnung. Und man identifiziert sich eben leicht mit dem alten Kardinal, wenn Brecht ihn sagen lässt: „Ich gehe auf einer festen Erde, in sicherem Schritt, sie ruht, sie ist der Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir und auf mir allein.“ Unsere heutige Situation stellt genau das Gegenteil dar. Wir befinden uns zwar auch wieder im Wandel der Kosmologie, in der gleichen Verschiebung zwischen Wissenschaft und sozialer Ordnung. Aber wir wissen nicht, wo wir stehen. Unterstützen wir die Lobbyist*innen? Unterstützen wir die Klimaskeptiker*innen? Unterstützen wir die Wissenschaft? Wir wissen nicht mehr genau, auf was für einem Planeten wir leben oder wie wir ihn beschreiben sollen. Es handelt sich nicht um eine einzige, fixierte und stabile Erde, sondern um eine Vielzahl von Planeten, die vor uns liegen und die wir erforschen müssen, um zu wissen, auf welchem von ihnen wir landen sollen. Und angesichts

BL: Darin liegt eine große Schwierigkeit, wenn wir eine Parallele zu Lovelock aufzeigen. Denn leider weiß niemand, wer er ist, und niemand glaubt, dass er recht hat. Wir haben mit jüngeren Leuten gesprochen, und viele wissen nichts von der heute stattfindenden wissenschaftlichen Revolution. Sie wissen nichts von der „Kritischen Zone“, wo Wasser, Boden, Unterboden und die Welt der Lebewesen interagieren und die deshalb so wichtig ist, weil in diesem dünnen Oberflächenfilm der Erde das Leben, menschliches Handeln und seine Ressourcen gebündelt sind. Wir brechtisieren das Brecht-Stück also mehrmals, zum Beispiel in der Szene, wenn der alte Kardinal sagt, dass Galileo ein Feind des Volks ist: „Ich höre, dieser Herr Galilei versetzt den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls irgendwohin an den Rand. Er ist folglich deutlich ein Feind des Menschengeschlechts!“ Wenn man diese Szene auf

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dieser Verwirrung betrachtet man plötzlich Brechts Stück als eine außergewöhnlich reichhaltige, widersprüchliche Mischung.

verbundenen, sich überlappenden Akteur*innen. Jede*r von uns versucht, den Weg dahin selbst zu erspüren, denn alle Einstellungen, Gefühle und Widerstände des Materials sind völlig unterschiedlich, je nachdem, ob man auf der Galilei’schen Erde landet oder eben auf der Lovelock’schen, Margulis’schen Erde. Es gibt eine sehr interessante Neuinterpretation der vorletzten Szene von Brechts Leben des Galilei, die mit seinem Schüler Andrea, die wirklich seltsam ist und von Brecht nach der HiroshimaBombe umgeschrieben wurde. Es handelt sich um eine sehr komplexe Neuinterpretation der Stoßrichtung wissenschaftlicher Entwicklung: Das Ziel der Wissenschaft bestehe allein darin, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wir sind in einer ähnlichen Situation der Uminterpretation, nicht nur wegen der Atombombe – die übrigens immer noch da ist –, sondern aufgrund des ökologischen Wandels, den wir alle neu bewerten müssen. Wenn man „down to earth“ ist, erforscht man eine allgemeine Ontologie, die sich so sehr von der Galileos unterscheidet wie die Galileos von der scholastischen Version, die er angriff und von der er genau genommen profitierte. Wir sollten uns nicht damit beeilen festzulegen, was Gaia ist. Wir brauchen jetzt das, wozu Frédérique uns motivieren will, nämlich eine ganze Reihe verschiedener Dispositive, die es zu erfassen gilt – einschließlich dessen, was du mit Tino Sehgal zu „Down to Earth“ in Berlin tust. Auch die „Critical Zones“Ausstellung in Karlsruhe ist für mich sehr wichtig, weil dort all die verschiedenen Versionen von Gaia zu finden sind.

TO: Wie würdet ihr Gaia als Figur beschreiben? BL: Wissenschaftlich gesehen haben wir jetzt eine viel bessere Vorstellung davon, was Gaia ist, nämlich eine Nicht-Figur, etwas, das sich stark von der Natur unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen Natur und Gaia ist sehr klar definiert, denn wenn man von Natur spricht, dann schließt das alles ein, vom Urknall bis zu COVID-19. COVID-19 gehört zu Gaia, aber nicht der Urknall. Es gibt also eine wissenschaftliche Beschreibung von Gaia. Dann gibt es unzählige Mythen über Gaia in den Schriften der Griechen, die Vielzahl der Namen von Gaia in der griechischen Tradition. Sie ändert ständig ihre Namen. Sie ist keine Figur, die leicht zu verorten ist. Des Weiteren gibt es interessante Arbeiten, die Gaia als eine Art juristische Person betrachten und nach ihrem rechtlichen Status fragen. Denn diese Frage lastet schwer auf uns. Sie hat eine gewisse Autorität, aber sie ist nicht der Staat. Außerdem gibt es viele Versuche, Gaia mehr im Feld der Herkunft zu betrachten. Das wäre eher die ökofeministische Tradition, zu der Donna Haraway und Isabelle Stengers gehören. Es gibt wirklich viele Menschen, die versuchen, Gaia neu zu denken, denn genau an diesem Punkt befinden wir uns jetzt – aber wir wissen nicht, wo das ist. Um zu wissen, wo wir landen sollen, um wirklich „down to earth“ zu sein, müssen wir Gaia neu denken. Sie ist kein Objekt in der alten Tradition von Galileo, sondern ein Netzwerk von ständig

FA: Gaia ist kein freundlicher Charakter. Ich glaube, der Umweg über die

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mythische Gaia war sehr wichtig, denn Gaia ist in der Mythologie schrecklich. Jemand – ich glaube, es war Margulis oder Stengers – sagte: „Gaia is a bitch.“

BL: Sie ist eine gute weibliche Mutter. Sie ist keine schlechte Mutter. TO: Ich erinnere mich an diese Idee von Lyotard, der sagt, dass „männlich“ und „weiblich“ keine biologischen Kategorien sind, sondern verschiedene Weisen der Beziehung zum Tod. Männlichkeit im metaphysischen Sinne stellt die Idee über das Leben. Sie opfert sich und andere für ein abstraktes Prinzip. Weiblichkeit im metaphysischen Sinne ist dasjenige, was das Leben nicht für eine Idee opfert. Ich kann mir Gaia nicht als eine Figur vorstellen, die Leben zerstört.

BL: Es war Margulis, und sie sagte: „Gaia is a tough bitch.“ FA: Ich war sehr beeindruckt, als Bruno vor mehr als zehn Jahren diesen kurzen Artikel über Theater und Wissenschaft schrieb. Die letzte Zeile dieses Artikels, der als Dialog zwischen fiktiven Charakteren verfasst ist, lautet: „Gaia betritt die Bühne.“ Damals verstand ich nicht, was Bruno meinte, denn Gaia war überhaupt kein Name, der in dem Text vorkam. Aber natürlich betrat Gaia die wissenschaftliche, die politische und die theatralische Bühne. Eines der Dinge, an denen wir während eines anderen Projekts, unserem Gaia Global Circus, vor zehn Jahren intensiv gearbeitet haben, war das Bühnenbild. Gaia, die wir mithilfe eines fliegenden Baldachins darstellten, wurde für uns zu einer*m der Schauspieler*innen auf der Bühne, der*die fünfte Schauspieler*in. Es war ein sehr naives Modell der Rückkopplungsschleife, und das mochten wir daran sehr. Viele Klimawissenschaftler*innen stellten sich damals die Frage, wie man immer genauere und überzeugendere Modelle für den Klimawandel entwerfen könnte. Meine theatralische Antwort war dieses schwebende Bühnengerät, ein Modell, das natürlich eine starke Vereinfachung von Gaia ist. Aber einige Aspekte wurden beibehalten: die Rückkopplungsschleifen und die Selbstanimation.

BL: Aber das hat sie viele Male getan. Es war oft sehr knapp. TO: Die Vulkane und die Kometen. BL: Oder das Eis. Es war wirklich knapp. Es gibt nichts Ausgeglichenes in der Lovelock’schen und Margulis’schen Gaia. Sie ist nicht ausgeglichen, sondern, wenn man so will: die Anhäufung einer Vielzahl einander folgender, vorsichtiger, glücklicher Momente. Ich glaube nicht, dass wir daraus irgendwelche Schlüsse ziehen sollten. Deshalb beunruhigt es mich eher, dass es sich um einen weiblichen Charakter handeln soll. Sie ist eine mythische Figur – und damit tiefer gelagert als der Unterschied zwischen männlich und weiblich. Und sie ist eine ursprüngliche Figur, es geht um Herkunft, ja, aber es geht nicht um sie als weibliche Figur. Sowohl in der Geschichte der mythologischen Gaia als auch in der Geschichte der wissenschaftlichen Gaia gibt es „toughe“ Arten zu erklären, wie das Leben weitergeht. Darin liegt nichts Ausgewogenes. Das ist ein wichtiger Aspekt. Natur hat hier

TO: Nach meinem Verständnis versucht Gaia, das Sein lebendig zu halten. Eine Mutter kann auch eine „tough bitch“ sein.

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nichts von einem positivistischen oder neo-darwinistischen Kampf aller gegen alle um das Leben. Sie hat nichts mit Balance und Einheit zu tun. Margulis bestand mehr noch als Lovelock auf dem nicht-mütterlichen Charakter von Gaia. Das muss man mit großer Präzision zeigen. Der Charakter ist weitaus interessanter, wenn er das Gleichgewicht nicht wiederherstellt, vor allem kein globales. Gleichzeitig hat er eine seltsame Art, global zu sein, wie wir an der Ausbreitung von COVID-19 gesehen haben – durch Ansteckung von einem zum anderen. Das Virus ist für mich ein sehr schönes Beispiel für jene Dinge, die es Gaia ermöglicht haben zu wachsen. Es ist nicht groß, sondern sehr klein. Etwas Kleines, das sich über vier Millionen Jahre angesammelt hat und nun große Wirkung entfaltet. Gaia ist kein Charakter, der mit Mutter Erde assoziiert wird. Warum nennt ihr euer Projekt „Down to Earth“?

das viel mit aktuellen künstlerischen Praktiken zu tun. Viele davon sind aktivistisch. Und viele Aktivitäten sehen überhaupt nicht nach Kunst aus. Oft ist das, was Leute in der experimentellen Nachhaltigkeitspraxis ausprobieren, auch avancierter als das, was im Feld der Kunst geschieht. So steht das Experimentieren mit einer anderen Art von Landwirtschaft und Ernährung sowie neue Arten des Hausbaus neben Künstler*innen, die lebendige Erde in unser Ausstellungshaus bringen, einen zersägten Porsche, Schamanen. Inzwischen ist das Konzept der Ausstellung auch sehr mit der Arbeit von Tino Sehgal verbunden. Wir werden auf Flugreisen und Strom verzichten und versuchen, in der Ausstellung sehr verschiedene Öffentlichkeiten zusammenzuführen. Auf diese Weise entsteht eine Pause innerhalb unserer Kunstbetriebsroutine, die gleichzeitig ein konkretes Angebot macht – man wird es spüren, wenn man da ist, dass etwas anders ist. Zum Beispiel auch, dass es am Abend in der Ausstellung dunkel wird. Deshalb ist dein Terrestrisches Manifest für uns so hilfreich, deine Idee des dritten Attraktors. Es ist nicht das Lokale, es ist nicht das Globale, es ist das Ganzheitliche dieser „Kritischen Zone“ des Lebens, die uns als ein sehr konkretes Territorium mit allem verbindet.

TO: Für uns geht es um die Frage, wo wir in diesen Zeiten des Übergangs Halt finden. Deshalb gefällt uns ja auch der Doppelsinn des englischen Titels deines Buches: „Down to Earth“ ist etwas Angenehmes, man weiß, wo man steht, und ist entspannt. Aber du lenkst unsere Aufmerksamkeit natürlich auch auf etwas sehr Konkretes, nämlich auf den Bereich dieser Erde, in dem wir interagieren und den du die „Kritische Zone“ nennst. Dieser dünne Mantel des physischen Lebens, gelegen zwischen der Grundwassersohle und der Spitze der Vegetation. Und du sprichst im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben von hilfreichen, unterschätzten Praktiken wie dem Verhandeln oder Bemühen, Überschneidungen zwischen verschiedenen nationalen und lokalen Interessen und Strukturen herzustellen. Aus unserer Sicht hat

BL: Mich interessiert der deutsche Titel, weil „terrestrisch“ es nicht wirklich erfasst. Man würde ein Festival nicht Das terrestrische Manifest nennen. TO: Nein, der Begriff ist nicht sonderlich üblich. Man sagt ja auch nicht mehr „terrestrischer Rundfunk“. Aber Das terrestrische Manifest hat mich trotzdem angesprochen. Denn wer spricht da? Die Erde selbst? Kurz vorm

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Klimakollaps? Für uns war das Klima das größte Beispiel für ein immersives Phänomen, also für etwas, dem wir nicht nur gegenüberstehen, sondern in das wir eingebettet und in dem wir alle mit menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen verbunden sind. Für uns ist es der Höhepunkt einer langen Entwicklung unserer Programmreihe, die den Begriff „Immersion“ immer weiter ausdehnt. Von der Kunst über soziale Transformationen – wie der deutschen Wiedervereinigung – bis hin zum Klima, alles Prozesse, die nicht mehr im Schema eines Dualismus zu beschreiben sind. Die letzte Ausstellung, die Tino Sehgal und ich gestaltet haben, hieß „Welt ohne Außen“.

von Museen und Ämtern mit dem Begriff der „leichten Sprache“ verbinden. Auch mir ist aufgefallen, dass ein Begriff wie „Immersion“ im deutschen Sprachraum viel Ablehnung hervorgerufen hat. Er wurde schnell mit Angst aufgeladen, vielleicht, weil die Deutschen im Dritten Reich mit allem, was affektiv oder intuitiv ist, eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben. Wenn wir das Wort „Immersion“ verwenden, dann meist auf einer anderen Bedeutungsebene – für uns markiert es das Ende einer Weltanschauung, die auf der Isolierung diskreter Phänomene, auf einem dialektischen Hin und Her beruht. Immersion bedeutet für uns, in Systemen zu leben, die durch Hybride und Quasi-Objekte gekennzeichnet sind, durch Akteur*innen, die auch Maschinen und andere Spezies sein können, mit denen wir auf vielfältige Weise verbunden sind. All die Dinge, die ihr beide vorhin im Zusammenhang mit Gaia beschrieben habt.

BL: Mit Inside, einem unserer Vorträge, wollen wir zeigen, dass es kein Außen gibt: sondern nur die dünne, fragile Haut der „Kritischen Zone“. Wir wollen zeigen, dass wir nicht mehr auf der Erde gehen, sondern mit ihr. Und in Moving Earths beschreiben wir die reziproke Parallele, dass Galileo den Mond betrachtet und sich dabei vorstellt, mit dem gleichen „view from nowhere“ den gesamten Kosmos zu sehen, wohingegen Lovelock mit seinem Elektronendetektor in unserer Umwelt – man könnte auch sagen: Nahwelt – schwefelhaltige, nitrierte oder halogenierte Verbindungen nachweist. Galileo interessiert sich also für das große Außen der Objekte und Lovelock für die „Kritische Zone“.

BL: Wir sind in Gaia eingebettet, aber wir müssen einen Brecht’schen, nichtimmersiven Weg finden, um den Menschen zu demonstrieren, dass sie eingetaucht sind. Das war ein bisschen das, was wir mit Inside im Sinn hatten, wobei unsere theatralen Mittel völlig künstlich waren: Es gibt keinen einzigen Moment, in dem man der Situation Glauben schenken kann, das ist der Brecht’sche Teil. Aber es geht inhaltlich darum, drinnen zu sein.

TO: Das Thema Sprache ist auch sehr wichtig in Brechts Leben des Galilei. Galilei bittet die Gelehrten und Standespersonen immer darum, in Gesellschaft seiner Begleiter umgangssprachlich zu sprechen, nicht auf Latein. Es geht um das, was wir heute in den Publikationen

TO: Exakt, genau darum geht es. Immersion macht das Portal unsichtbar. Brecht hingegen weist im Theater explizit darauf hin. Nicht in Leben des Galilei, dafür in anderen Stücken. „Glotzt nicht so romantisch!“ – es ist nur Theater, seht es als Theater. Aber man

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kann immersive Prozesse, die das Portal als Zeichen des Künstlichen zum Verschwinden bringen, natürlich auch nutzen, um erfahrbar zu machen, dass „Normalität“ immer in Anführungszeichen steht. Weil ich bemerke, dass ich in etwas „hineingeglitten“ bin oder in etwas aufgehe. Für den Fisch gibt es kein Wasser – nur, wenn man ihn kurz herausnimmt. Und das können VR-Arbeiten unwahrscheinlich intensiv vermitteln. Wenn ich mich als Avatar in einer VR-Welt bewege, kann ich vor einem virtuellen Abgrund echte Höhenangst bekommen. Mein Kopf weiß, dass ich in einem Spiel bin, aber ich erlebe es real. Niemand verliert im Theater das Bewusstsein für die Künstlichkeit der Situation. Gleichzeitig fühle ich etwas beim Betrachten, das tiefer sitzt und wirkt als meine Reflexion. Bei Brecht vermag es das Theater durch bestimmte Gesten, uns das Medium der Repräsentation selbst sichtbar zu machen, und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bezaubert es. Für gewöhnlich sehe ich den Vogel vorm Fenster, aber nicht das Fenster, wie Thomas Metzinger sagt. Theater kann dafür ein Bewusstsein schaffen. Wobei es in der Kunst immer zwei Formen der Immersion gibt – die psychologische Erfahrung des Grenzverlusts, der Empathie, des Im-Anderen-Seins. Und dann den eher technischen Aspekt, der im Theater, in den digitalen Medien oder bei Konzerten eine bestimmte Aufführungskonvention beziehungsweise ein ganz eigenes Genre charakterisiert. Ich sitze, stehe oder bewege mich hier tatsächlich physisch mitten auf der Bühne, die Szene umgibt mich und steht mir nicht „objektiv“ gegenüber.

Bühne zu bringen, und meint: „Das ist vorbei, wir schwimmen auf einer postromantischen Welle.“ Denn man riskiert, das Publikum in eine Sache zu versenken; die Sache mit der vierten Wand, die zerstört werden muss … FA: Das habe ich so nicht gesagt! Und es ist auch keine absolute Doktrin. Ich glaube nur, dass wir alle mittlerweile die Grenzen einer bestimmten Art von linearer Erzählung erkannt haben. Und wir Theaterleute und Autor*innen müssen daher neue Wege finden, Geschichten zu erzählen, weil die Akteur*innen auf der Bühne eben nicht nur menschliche Wesen sind. Es gibt diese Diskussion zwischen uns, weil ich denke, dass Bruno uns gedanklich auf einen neuen Weg führt, aber gleichzeitig sagst du, Bruno, immer: „Ich mag das alte Theater mit Figuren und einer Geschichte.“ Was sagst du dazu, Thomas? TO: Im Kino mag ich das auch lieber, fürchte ich. Aber im Theater mag ich dieses Pendeln, von dem ich sprach, und das braucht eine modernere Form. Die sozusagen auch das Fenster zeigt, und nicht nur den Vogel. Frédérique, du selbst hast gerade beschrieben, dass du nicht nur Menschen, sondern auch Dinge, den Apparat des Theaters selbst auf der Bühne als Akteur zeigen willst. Das ist für mich eine der wirklich interessanten Entwicklungen im jüngeren Theater. Da, wo wir von „Immersion“ als eigener Gattung sprechen, stoßen wir auf ein Phänomen, das für mich „Worldbuilding“ ist, wie im Science-Fiction-Film oder beim Gamedesign. Werke wie die von SIGNA oder Vegard Vinge und Ida Müller bauen Räume, die Weltkapseln sind – Kosmen, in die man eintritt. Und alles, was dort

BL: Frédérique findet, dass ich eine sehr naive Art habe, Figuren auf die

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passiert, ist gescriptet. Wie das in der Welt „draußen“ ja auch immer deutlicher wird: Es sind immer kontrolliertere Umgebungen. Kluge Künstler*innen können uns mit ihrem „Worldbuilding“ sehr weit in andere Verständnisweisen der Welt und von uns selber führen. Das alles ist geprägt von Echtzeit und echtem Feedback und ethisch zugleich sehr, sehr herausfordernd.

TO: Wenn du den Theaterbegriff sehr weit ausdehnst, was ich gut finde, dann ja. Vielleicht bist du in deinen performativen Lectures dem Verständnis des zeitgenössischen Tanzes nach eher ein Performer als ein Schauspieler. Denn du spielst keine Rolle, das Material der Rolle bist mehr oder weniger du selbst. Das Format des inszenierten Vortrags bringt philosophisches Staunen in das Theater, und dazu benutzt ihr beide alle Formen des Zeigens und Erzählens, die den komplexen Apparat der Bühne erfordern. Bei den Werken von Tino Sehgal würde ich sagen, dass er kein Portal braucht. Er geht in Ausstellungsräume, um hier als Live Art eine neue Form von Ritual zu schaffen. Ein Ritual ist immer eine immersive Begegnung, es ist nichts, was man von außen anschaut, sondern ein sozialer „Raum“, in den man eintritt. Tino schafft durch seine Form des choreografierten Verhaltens absorbierende Räume. In seiner Arbeit geht es nicht mehr um die Entfaltung von Konflikten und Narrativen, sondern um mäandernde Erfahrungen innerhalb einer spezifischen Situation. Die Realität der Situation ist dabei wichtiger als der Begriff der Entwicklung, ohne den beispielsweise Brechts Stücke nicht denkbar sind. Aber um zu deiner Frage zurückzukehren – ja, ich denke, es ist eine neue Theatergattung, genauso wie diese andere Form von Ausstellungen, die wir hier entwickelt haben. Deshalb passt unsere Arbeit vielleicht auch so gut zusammen.

BL: Wie würdest du deinem Argument zufolge einen Vortrag charakterisieren? Frédériques Idee ist nämlich, mit dem Vortrag die vierte Wand zu durchbrechen, indem man sich an das Publikum wendet. Und natürlich in Echtzeit, weil man improvisiert. Würdest du den Vortrag wie Frédérique als fiktionalen Vortrag beschreiben? Oder weniger als fiktionalen, sondern als echten, denn ich halte echte Vorträge. FA: Aber in einer theatralen Umgebung sind die Leute daran gewöhnt, dass Vorlesungen fiktional sind und wir uns über das akademische Format lustig machen oder damit spielen. Zugleich sind unsere performativen Lectures echte Vorträge, die einen Gedanken teilen, der gerade im Entstehen begriffen ist. Tino Sehgal entwickelt eine andere Art der Immersion – als ich sie in Kassel auf der documenta 13 entdeckte, war das etwas sehr Wichtiges für mich. Diese Erfahrung, wie Tino Situationen schafft, werde ich nie vergessen. Selbst wenn ich Vorträge inszeniere, was ein sehr frontales Format ist, versuche ich, solche Momente der Begegnung zu kreieren.

Frédérique Aït-Touati ist Literaturwissenschaftlerin und Regisseurin, Bruno Latour ist Soziologe und Philosoph. Das Gespräch mit Thomas Oberender „Staging Gaia. Bühne, Klima und Bewusstseinswandel“ fand während der Vorbereitung der Ausstellung „Down to Earth“ 2020 statt. Die vollständige Fassung des Gesprächs ist auf einem Essayplakat im Rahmen von „Down to Earth“ erschienen.

BL: Thomas, ist das nicht eine neue Theatergattung?

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Bilder aus zehn Jahren Berliner Festspiele


Faust I + II, Inszenierung: Nicolas Stemann, Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2012. © Piero Chiussi


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Sophie Rois (li. mit Thomas Oberender), Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung, Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2012. © Piero Chiussi


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МИНИСТЕРСТВО КУЛЬТУРЫ

RUS IMP ORT РОССИЙСКОЙ ФЕДЕРАЦИИ

RUSSLAND SPEZIAL 29.11.-09.12.

ТЕАТР КОНЦЕРТ КИНО

HAUS DER BERLINER FESTSPIELE WWW.BERLINERFESTSPIELE.DE WWW.RUSIMPORT.NETFEST.RU

RusImport: Theater und Kunst aus Russland Taissia Korotkowa, Technology 4, Haus der Berliner Festspiele, 2012.


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Frie Leysen, Foreign Affairs, 2012. © Ilja Höpping


Kyohei Sakaguchi, Mobile House, Foreign Affairs, Vorplatz Haus der Berliner Festspiele, 2012. © Oben: Kyohei Sakaguchi; unten: Anke Schüttler

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Gereon Sievernich mit Bernd Neumann, Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Martin-Gropius-Bau, 2012. © Jirka Jansch


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„Pacific Standard Time – Kunst in Los Angeles 1950–1980“, Schliemannsaal im Martin-Gropius-Bau, 2012. © Jirka Jansch


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Jérôme Bel / Theater Hora, Disabled Theater, Theatertreffen, HAU Hebbel am Ufer, 2013. © Piero Chiussi


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William Forsythe, White Bouncy Castle, Foreign Affairs, Lokhalle Schöneberg, 2013. © Piero Chiussi


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Johannes Paul Raether, Protektoramae – Forking Horizon 5.5.5.1-3, Foreign Affairs, 2013. © Johannes Paul Raether


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Michael Schmidt, Ohne Titel, „Lebensmittel“, Martin-Gropius-Bau, 2013. © Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt


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Jazzfest Berlin, Haus der Berliner Festspiele, 2013. Li.: Monika Roscher, re.: Gnawa Jazz Voodoo mit Pharoah Sanders. © Li: Ali Ghandtschi; re: Matthias Creutziger


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„Meret Oppenheim – Retrospektive“, Martin-Gropius-Bau, 2013. Oben: Pelzhandschuhe, unten: Das Paar, re: Portrait mit Tätowierung. © VG Bildkunst


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„Netzkultur“, Symposium, Haus der Berliner Festspiele, 2013. © Detlef Eden


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Anish Kapoor, Shooting into the Corner, „Kapoor in Berlin“, Martin-Gropius-Bau, 2013. © VG Bildkunst


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„Ein Tag mit … Sibylle Berg und Freunden“, Haus der Berliner Festspiele, 2013. Li. oben: Helene Hegemann, Annika Meier, Katja Riemann, li. unten: Martin Hossbach, re.: Sibylle Berg. © Ali Ghandtschi, li. unten: Thomas Oberender


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Philip Glass und Robert Wilson, Einstein on the Beach, MaerzMusik extended, Haus der Berliner Festspiele, 2014. © Lesley Leslie-Spinks


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Pier Paolo Pasolini am Set von Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß, „Pasolini Roma“, Martin-Gropius-Bau, 2014. © Associazione Pasolini Matera, Foto: Archivio Notarangelo


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Øyvind Torvund & Splitter Orchester, Constructing Jungle Books, MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik, Museum für Naturkunde Berlin, 2014. © Steffi Weismann


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„Ai Weiwei – Evidence“, Martin-Gropius-Bau, 2014. Li.: Forever Bicycles. re.: Stools. © Eric Gregory Powell


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Fegefeuer in Ingolstadt, Inszenierung: Susanne Kennedy, Theatertreffen, HAU Hebbel am Ufer, 2014. © Julian Röder


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Fegefeuer Ingolstadt Situations Room

Rimini Protokoll, Situation Rooms, Theatertreffen, HAU Hebbel am Ufer, 2014. © Jörg Baumann


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I. Kusmin, I. Leonidow, „WChUTEMAS – Ein russisches Labor der Moderne“, Martin-Gropius-Bau, 2014 M. Korshew, Abstrakte Aufgabe zur Ermittlung von Masse und Gewicht. © Staatliches Schtschussew Museum für Architektur Moskau


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Boris Charmatz, 20 Dancers for the XX Century, Foreign Affairs, Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park, 2014. © Jirka Jansch


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„David Bowie“, Martin-Gropius-Bau, 2014. © Jirka Jansch


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Tino Sehgal, Martin-Gropius-Bau, 2015. © Mathias Völzke


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Ictus Ensemble, Liquid Room, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Basche/Hufner


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Katrin Schmitz, Daniel Richter, Anneke Wiesner, Yvonne Büdenhölzer, Albrecht Grüß, Thomas Oberender, Söke Tonat, Beobachtung einer partiellen Sonnenfinsternis, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Bettina Oberender


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„The Long Now“, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Kraftwerk Berlin, 2015. © Camille Blake


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Maske abwan, „Tanz der Ahnen – Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea“, Martin-Gropius-Bau, 2015. © Museum der Kulturen Basel


Maske der brag-Geister, „Tanz der Ahnen – Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea“, Martin-Gropius-Bau, 2015. © Linden-Museum Stuttgart

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„Ein Tag mit … Karl Ove Knausgård“, Karl Ove Knausgård, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © André Løyning


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Alain Platel / Serge Kakudji / Fabrizio Cassol, Coup Fatal, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Chris Van der Burght


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Atlas der abgelegenen Inseln, Inszenierung: Thom Luz, Theatertreffen, Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, Pankow, 2015. © Pierro Chiussi


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Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Pierro Chiussi


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„Von Hockney bis Holbein. Die Sammlung Würth in Berlin“, Martin-Gropius-Bau, 2015. William Kentridge vor Hans Holbein der Jüngere, Madonna des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen. Sammlung Würth, Inv. 14910 © TO


„Von Hockney bis Holbein. Die Sammlung Würth in Berlin“, Martin-Gropius-Bau, 2015. Tilman Riemenschneider, Lüsterweibchen. Sammlung Würth, Inv. 5926 © Sammlung Würth, Philipp Schönborn

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Holzinger / Riebeek, Gonzo. The Making-of, Foreign Affairs, Parkdeck Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Florentina Holzinger


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Troubleyn / Jan Fabre, Mount Olympus, Foreign Affairs, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © TO, Wonge Bergmann (re. oben)


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Marco Blaauw in einer Probe für Karlheinz Stockhausen, Michaels Reise um die Erde, Ensemble Musikfabrik, Musikfest Berlin, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Kai Bienert


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Jens Ullrich, Refugees In A State Apartment, Vorplatz Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Jens Ullrich


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Jazzfest Berlin, Haus der Berliner Festspiele, 2015. © Camille Blake


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Richard Williams und Cécile McLorin Salvant, Jazzfest Berlin, 2015. © Camille Blake


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Susanne Kennedy / Suzan Boogaerdt / Bianca van der Schoot / Solistenensemble Kaleidoskop, Orfeo. Eine Sterbeübung, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Li.: Rodrik Biersteker & Lotte Goos (Kostüm und Maske), re: Julian Röder


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Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielt Wolfgang Rihm, Tutuguri, Musikfest Berlin, Philharmonie Berlin, 2016. © Peter Adamik


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two-women-machine-show & Jonathan Bonnici, TRANS-, Theatertreffen, Stückemarkt, Haus der Berliner Festspiele, 2016. Bild: Lars Kjær Dideriksen / Bora Bora


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Chiharu Shiota & Zafraan Ensemble, alif::split in the wall, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Radialsystem V, 2016. © Camille Blake


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der die mann, Inszenierung: Herbert Fritsch, Theatertreffen, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, 2016. © Thomas Aurin


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William Kentridge, More Sweetly Play The Dance, NO IT IS !, Foreign Affairs, Haus der Berliner Festspiele, 2016. © Christopher Hewitt


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Susanne Kennedy / Suzan Boogaerdt / Bianca van der Schoot, Hideous (Wo)men, Haus der Berliner Festspiele, 2016. © Sanne Peper


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Omer Fast, „Reden ist nicht immer die Lösung“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2016. © Enric Duch


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Ausschnitt aus Hand- und Fußsilhouetten, „Kunst der Vorzeit. Felsbilder aus der Sammlung Frobenius“, Martin-Gropius-Bau, 2016. © Frobenius-Institut Frankfurt am Main


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Mona el Gammal, RHIZOMAT, ehem. Fernmeldeamt Mitte, Immersion, 2016. © Torben Otten (oben), Michael Rudolph (li. unten), TO (re. unten)


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Pina Bausch, Probe in der Lichtburg Wuppertal, um 1978. © Ulli Weiss / Pina Bausch Foundation


„Pina Bausch und das Tanztheater“, Workshop im Nachbau der Lichtburg, Martin-Gropius-Bau, 2016. © TO

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Ruth Wolf-Rehfeldt, Spheres of Interest, „Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976–1989“, Martin-Gropius-Bau, 2016. © Courtesy of The Artist and ChertLüdde, Berlin


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Julius Eastman / The Unbreathing – Opening, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Haus der Berliner Festspiele, 2017. © Camille Blake


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Catherine Christer Hennix, Kalam-i-Nur, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, silent green Kulturquartier, 2017. © Camille Blake


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„Wenzel Hablik – Expressionistische Utopien“, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Jirka Jansch


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Teodor Currentzis und das Orchester MusicAeterna, Musikfest Berlin, Philharmonie Berlin, 2017. © Kai Bienert


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Trondheim Voices & Kit Downes, Jazzfest Berlin, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 2017. © Camille Blake


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Ed Atkins, „Old Food“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Mark Blower


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Rana X. Adhikari, Arrival of Time, „Limits of Knowing“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Jirka Jansch


Rimini Protokoll, Nachlass, „Limits of Knowing“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Jirka Jansch

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Jonathan Meese / Bernhard Lang / Simone Young, MONDPARSIFAL BETA 9–23. (VON EINEM, DER AUSZOG DEN „WAGNERIANERN DES GRAUENS“ DAS „GEILSTGRUSELN“ ZU ERZLEHREN…)


Immersion, Haus der Berliner Festspiele, 2017. © Jan Bauer

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Vegard Vinge / Ida Müller, Nationaltheater Reinickendorf, Immersion, ehem. Munitionsfabrik in Reinickendorf, 2017. © Julian Röder


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Vegard Vinge / Ida Müller, Nationaltheater Reinickendorf, 2017. © Julian Röder


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Vegard Vinge / Ida Müller, Nationaltheater Reinickendorf, 2017. © Julian Röder


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Regina Schmeken, „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“, Martin-Gropius-Bau, 2017. © Regina Schmeken


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Terre Thaemlitz, „Thinking Together“, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Camille Blake


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Compagnie MPTA, Somnium, Teil des Circus-Workshop-Programms Die Originale, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Christophe Raynaud de Lage


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Benny Claessens, Am Königsweg, Inszenierung: Falk Richter, Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Arno Declair


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Faust, Inszenierung: Frank Castorf, Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Thomas Aurin


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„The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“, Immersion, Kunstquartier Bethanien, 2018. © Michael Nast


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Brigitte & Jonathan Meese, Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit), Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. © René Päpke, Daniel Waldhecker, TO


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Fabrizio Cassol / Alain Platel, Requiem pour L., Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Chris Van der Burght


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Larry Bell, 6 × 8: An Improvisation (1994), „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. © Mathias Völzke


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„Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. Doug Wheeler, Untitled. © TO


„Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. Carsten Höller, Light Wall. © Mathias Völzke

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Wolfgang Georgsdorf, Quarter Autocomplete (Osmodrama via Smeller 2.0), „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er Jahren“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. © TO, Mathias Völzke


355


Grand Opening, Jazzfest Berlin, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Camille Blake


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Aufbau von „Philippe Parreno“, Immersion, Gropius Bau, 2018. © TO


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„Philippe Parreno“, Immersion, Gropius Bau, 2018. © Andrea Rossetti


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Li.: Ilya Khrzhanovsky, mi.: Filmstills aus der Reihe DAU. re. oben: Ilya Permyakov und Ilya Khrzhanovsky, re. unten: Silberner Bär für Jürgen Jürges für die Kamera in DAU: Natasha, 2020. © TO, Jörg Gruber (mi.), Olympia Orlova (mi. oben, unten)


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Pläne und Zeichnungen für DAU Freiheit (nicht durchgeführt), 2018. © Denis Shibanov, Phenomen Berlin Filmproduktion GmbH | Berliner Festspiele


365


„INTO WORLDS. Das Handwerk der Entgrenzung“, Immersion, Martin-Gropius-Bau, 2018. © Eike Walkenhorst


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Ana Mendieta, Creek, „Covered in Time and History: Die Filme von Ana Mendieta“, Gropius Bau, 2018. © The Estate of Ana Mendieta Collection, LLC., Courtesy Galerie Lelong & Co.


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Shanghai Kunqu Opera Company, Die vier Träume aus Linchuan, Haus der Berliner Festspiele, 2018. © Jürgen Sieckmeyer


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Lee Bul, Willing To Be Vulnerable, „Lee Bul: Crash“, Gropius Bau, 2018. © Mathias Völzke


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Stephanie Rosenthal, Gropius Bau, 2018. © Mathias Völzke


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„The Long Now“, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Kraftwerk Berlin, 2019. © Camille Blake


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Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV 1950s–1990s, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, silent green Kulturquartier, 2019. Li.: Berno Odo Polzer bei der Eröffnung. © Camille Blake


379


Yvonne Büdenhölzer und Maria Nübling, „Burning Issues meets Theatertreffen. Konferenz zu Gender(un)gleichheit“, Delphi Filmpalast, 2019. © Eike Walkenhorst


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36. Treffen junge Musik-Szene, Jamsession, Haus der Berliner Festspiele, 2019. © Dave Großmann


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Anthony Braxton’s Sonic Genome, Jazzfest Berlin, Gropius Bau, 2019. © Adam Janisch


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Japanisches Nō-Theater in der Philharmonie, Umewaka Kennōkai Foundation Tokio, Musikfest Berlin, Philharmonie Berlin, 2019. © Adam Janisch


387


Internationales Forum des Theatertreffens meets Die Vielen, Rosa-Luxemburg-Platz, 2019. © Eike Walkenhorst


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Replika des Staatswappens der DDR an der Fassade des Palast der Republik, auf der Fassade des Hauses der Berliner Festspiele, Immersion, 2019. © Mathias Völzke


391


Susanne Sachsse und Cheap, „Palast der Republik“, Immersion, Haus der Berliner Festspiele, 2019. © Eike Walkenhorst


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Metahaven, Elektra, „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“, Immersion, 2019. © Anja Beutler


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Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) & Thomas Melle, Uncanny Valley, Immersion, Haus der Berliner Festspiele, 2019. © Gabriela Neeb


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Rashid Johnson, Antoine‘s Organ, „Garten der irdischen Freuden“, Gropius Bau, 2019. © André Wunstorf


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Taylor Mac, A 24-Decade History of Popular Music, Immersion, Haus der Berliner Festspiele, 2019. © Eike Walkenhorst


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Evans Chan, Raise the Umbrellas, „Sundays for Hong Kong“, Gropius Bau, 2019. © Evans Chan


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Mohammadreza Farzad, Falgoosh (Blames and Flames), „10 Days of Iranian Cinema“, Berliner Festspiele on Demand, 2020. © Abbas Attar


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Screenshot-Collage, Teilnehmer*innen des virtuellen Theatertreffens, 2020


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Sanierung der Büroräume im Haus der Berliner Festspiele, 2020. © TO


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Igor Levit, Beethoven. Die 32 Klaviersonaten in 8 Konzerten, Musikfest Berlin, Philharmonie Berlin, 2020. © Monika Karczmarczyk


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Tanztreffen der Jugend, Bundeswettbewerbe, Uferstudios, 2020. © Dave Großmann


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Nadin Deventer, Eröffnung „Jazzfest Berlin – New York“, silent green Kulturquartier, 2020. © Camille Blake


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„Down to Earth“, Immersion, Gropius Bau, 2020. Oben im Bild: Andreas Gursky, Antarctic und Ocean II, VI. Unten im Bild: Kirsten Pieroth, Berliner Pfütze. © Eike Walkenhorst


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Agnes Denes, Wheatfield – A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan – With New York Financial Center, 1982 (detail). „Down to Earth“, Immersion, Gropius Bau, 2020. © Agnes Denes, courtesy Leslie Tonkonow Artworks + Projects, New York


Yngve Holen, Cake. „Down to Earth“, Immersion, Gropius Bau, 2020. © Eike Walkenhorst

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Oktopus-Tattoo von Sanne Vaghi auf der Schulter von Pierre Joël Becker, Haus der Berliner Festspiele, 2020. © TO


Joulia Strauss, Avtonomi Akadimia — Akademie für Transformation, „Down To Earth“, Immersion, Gropius Bau, 2020. © Eike Walkenhorst

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Mansour Ciss Kanakassy, Ndeup-Ritual, „Down to Earth“, Immersion, Gropius Bau, 2020. © TO, Eike Walkenhorst (re. oben)


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„The New Infinity“, Immersion, 2020. Projektor des Zeiss-Großplanetariums Berlin. © TO


David OReilly, The End of Stories. „The New Infinity“, Immersion, 2020. © Mathias Völzke

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Sanierung der Probebühne im Haus der Berliner Festspiele, 2020. © TO


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TIMEPIECE, MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, Haus der Berliner Festspiele, 2021. © Camille Blake


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internil (Arne Vogelgesang & Marina Dessau), Es ist zu spät, „Stages Unboxed“, Theatertreffen, 2021. © Eike Walkenhorst


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Eröffnung des Theatertreffens 2021. Re.: Yvonne Büdenhölzer. © Eike Walkenhorst


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Sandra Hüller erhält den Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung und spielt die Pausenszene aus Hamlet (Inszenierung: Johan Simons), Theatertreffen, Haus der Berliner Festspiele, 2021. © Monika Karczmarczyk


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„Otobong Nkanga: There’s No Such Thing as Solid Ground“, Gropius Bau, 2021. © Laura Fiorio


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„Yayoi Kusama: Eine Retrospektive. A Bouquet of Love I Saw in the Universe“, Gropius Bau, 2021. © Luca Girardini


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Winrich Hopp und Heiner Goebbels, 2021. © Adam Janisch


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Franco Stiepe, über 30 Jahre lang Betreiber der Kantine im Haus der Berliner Festspiele, 2021. © TO


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Plakatmotiv für „The Sun Machine Is Coming Down. Kunst im ICC“, Internationales Congress Centrum Berlin (ICC), 2021. Design & Art Direction: Eps51 | CGI: bus.group


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Geschichte



BIOGRAFIE EINER INSTITUTION

1951

1953

– Mit der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler, eröffnen die 1. Berliner Festwochen am 5. September im wiederaufgebauten Schiller-Theater. – Die städtischen und privaten Theater Berlins entwickeln im Rahmen der 1. Berliner Festwochen ein dreiwöchiges Programm, das unterschiedliche künstlerische Sparten und populäre Sport und Großveranstaltungen (wie zum Beispiel Boxkämpfe und einen „Tag der Sensationen“) umfasst. – Die Berliner Festwochen und die Internationalen Filmfestspiele Berlin, für die sich das Namenskürzel „Berlinale“ etabliert und die am 6. Juni im Titania-Palast eröffnet werden, sollen als kulturpolitische Reaktion auf die ebenfalls 1951 zum ersten Mal in Ostberlin stattfindenden „Weltfestspiele“ (Weltjugendtreffen mit 26.000 Teilnehmer*innen aus 104 Ländern) ein „Schaufenster der freien Welt“ anbieten. – Die Kosten der ersten beiden Jahrgänge der Berliner Festwochen werden von den drei westlichen Alliierten Großbritannien, USA und Frankreich getragen.

– Das Land Berlin übernimmt die Finanzierung der Berliner Festwochen. – Die Ausstellung „100 Jahre amerikanische Malerei 1800 – 1900“ markiert den Beginn der Tradition großer Themen-Ausstellungen im Rahmen der Berliner Festwochen.

1957 – Als neues Programmelement werden Produktionen von Schauspielbühnen aus Wien, München, Düsseldorf und Köln vorgestellt. Dies ist der Ausgangspunkt für das spätere Theatertreffen.

1959 – Zum ersten Mal finden im Rahmen der Berliner Festwochen im Sportpalast die „Jazz Salons“ statt. Das Format erfährt 1962 seine zweite und letzte Ausgabe.

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GESCHICHTE

1962

– Auch der „Berliner Theaterwettbewerb“ wird von den Festwochen abgekoppelt, in den Mai verlegt und umbenannt in „Theatertreffen Berlin“ (ab 2004: „Theatertreffen“). Mit der „Begegnung junger Bühnenangehöriger“ im Rahmen des Theatertreffens wird erstmals ein Akademieprogramm für professionelle internationale Nachwuchstheatermacher*innen organisiert und der Grundstein für das heutige „Internationale Forum“ gelegt.

– Für die 12. Ausgabe der Berliner Festwochen wird in Reaktion auf den Bau der Berliner Mauer eine FunkBrücke eingerichtet, die den Ostberliner*innen die Teilnahme an Konzerten ermöglichen soll.

1964

1967

– Ein Gedenkkonzert für John F. Kennedy und Ansprachen von Martin Luther King Jr. und Willy Brandt eröffnen die 14. Berliner Festwochen. – Der „Berliner Theaterwettbewerb“ findet zum ersten Mal statt und lädt die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen einer Saison aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach Berlin ein, ausgewählt von einer Theaterkritiker*innen-Jury. – Die erste „Woche der experimentellen Musik“ findet in der Akademie der Künste statt und wird in die Berliner Festwochen eingebunden. Hier liegen die Anfänge für die späteren Festivals für neue Musik wie „Metamusik-Festival“ (1974, 1976, 1978) und „MaerzMusik“ (ab 2002). – Die „Berliner Jazztage“ finden im September im Rahmen der Berliner Festwochen zum ersten Mal statt.

– Die „Berliner Festspiele GmbH“ wird als Trägergesellschaft für die Internationalen Filmfestspiele Berlin, das Theatertreffen Berlin, die Berliner Festwochen und die Berliner Jazztage gegründet. Die bislang vom Land Berlin und der Bundesrepublik jährlich ausgerichteten Kulturveranstaltungen werden zu einer ordentlichen Gesellschaft des Landes Berlin und des Bundes. So entwickelt sich ein Komplex eigenständiger, inhaltlich verbundener kultureller Veranstaltungen über das ganze Jahr hinweg. – Die Berliner Festwochen beginnen ihre Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern.

1970

1965

– Die ersten „Arbeitstage für Musik“ mit dem Fokus auf zeitgenössischer Musik finden statt.

– Die Berliner Jazztage werden aus den Berliner Festwochen ausgegliedert und in den November verlegt.

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BIOGRAFIE EINER INSTITUTION

1972

1977

– Gemeinsam mit dem Berliner Künstlerprogramm DAAD organisieren die Berliner Festwochen im Juli die „Berliner Musiktage“, ein Programm für avantgardistische Musik. Eine zweite und letzte Edition findet 1980 statt.

– Die Zentrale der Berliner Festspiele zieht von der Bundesallee 1–12 ins Bikini-Haus in der Budapester Straße 48.

1978

1973

– Der „Stückemarkt“, die erste Förderinitiative für neue Dramatik im deutschsprachigen Raum, wird gegründet und findet im Rahmen des Theatertreffens Berlin statt.

– Im Rahmen der Berliner Festwochen finden die „Tage außereuropäischer Musik“ in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Institut für vergleichende Musikstudien statt. – Die „Aktionen der Avantgarde“ (ADA I‚ 1973), ein neues Format für Ausstellungen, Happenings und Prozesse im Stadtgebiet, finden zum ersten Mal statt. Das Format erfährt 1974 seine zweite und letzte Ausgabe (ADA II‚ 1974).

1979 – Im Juni findet das erste „Horizonte – Festival der Weltkulturen“ mit dem Schwerpunkt auf Künstler*innen aus Afrika statt. Es werden zeitgenössisches Theater und moderne Kunst, Tanz und Musik, Kunsthandwerk und Filme gezeigt. Weitere Festivalausgaben widmen sich 1982 Lateinamerika, 1985 Ost- und Südostasien und 1989 dem Nahen Osten. – Zum ersten Mal finden im Rahmen des Theatertreffens Berlin internationale Gastspiele statt.

1974 – Mit dem „Metamusik-Festival“ entstehen drei Ausgaben (1974, 1976, 1978) eines experimentellen Musikformats, dessen Programm eine Verbindung von europäischer Avantgarde mit amerikanischen und außereuropäischen Einflüssen im Bereich der experimentellen Musik und später der sogenannten Weltmusik abbildet.

1980 – Die Berliner Festspiele veranstalten das erste „Schülertheatertreffen“, das ab 1985 jährlich als „Theatertreffen der Jugend“ für junge Theatergruppen

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GESCHICHTE

aus der gesamten Bundesrepublik stattfindet. In den kommenden Jahren werden weitere „jugendkulturelle Bundeswettbewerbe“ für Musik, Literatur und Tanz gegründet. Die Besonderheit der Bundeswettbewerbe liegt in ihrem Ansatz, nicht nur eine konkurrenzfreie Plattform für die Begegnung und Weiterentwicklung junger Künstler*innen zu schaffen, sondern auch für die Weiterbildung von deren künstlerischen Leiter*innen einzutreten. Finanziert werden die Akademieprogramme der Bundeswettbewerbe durch das Ministerium für Bildung und Forschung.

Jüdischen Abteilung des ehemaligen Berlin Museums, der Stadt Berlin und den Berliner Festspielen genutzt.

1984 – Das „Treffen junger Liedermacher“ wird gegründet, das spätere „Treffen junge Musik-Szene“.

1986 – Das „Treffen junger Autoren“ wird gegründet, heute das „Treffen junger Autor*innen“.

1981

1987

– Die „Berliner Jazztage“ werden nach internen Rechtsstreitigkeiten in „JazzFest Berlin“ (ab 2012: „Jazzfest Berlin“) umbenannt. – Der Martin-Gropius-Bau, der 1945 bei einem der letzten Luftangriffe auf Berlin schwer beschädigt und seit 1978 wiederaufgebaut wurde, wird unter anderem mit der Ausstellung „Preußen. Versuch einer Bilanz“ im Rahmen der Berliner Festwochen als Ausstellungsort wiedereröffnet. Bis 2001 wird das Gebäude von verschiedenen Kultureinrichtungen wie den Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, dem Deutschen Künstlerbund, dem Neuen Berliner Kunstverein, der Berlinischen Galerie (unter anderem in Zusammenarbeit mit der HumboldtUniversität zu Berlin und der Sammlung Grothe), dem WerkbundArchiv – Museum der Dinge und der

– Die 750-Jahr-Feier der noch geteilten Stadt wird in Westberlin durch die Berliner Festspiele gestaltet. – Mit den „Berliner Lektionen“ beginnt in Zusammenarbeit mit dem Bertelsmann Verlag eine Reihe von Gesprächen mit Philosoph*innen, Künstler*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen im Renaissance-Theater. Die Reihe läuft bis 2011.

1989 – Im Martin-Gropius-Bau findet die Ausstellung „Europa und der Orient 800 – 1900“ im Rahmen von Horizonte ’89, der vierten Ausgabe des Festivals für Weltkulturen, statt. Auch bei den vorangegangenen

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BIOGRAFIE EINER INSTITUTION

Horizonte-Festivals wurden Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau organisiert: 1982 „Mythen der neuen Welt: zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas“ und 1985 „Palastmuseum Peking. Schätze aus der Verbotenen Stadt“. Der Erfolg dieser Veranstaltungen gab den Anstoß, 1989 auf der Grundlage eines Konzepts der Berliner Festspiele einen dauerhaften Ort der Auseinandersetzung mit nicht-europäischen Kulturen zu gründen: das „Haus der Kulturen der Welt“ in der ehemaligen Kongresshalle im Tiergarten. – Zum ersten Mal nehmen eingeladene Produktionen aus der DDR tatsächlich am Berliner Theatertreffen teil. Gezeigt werden Inszenierungen des Maxim-Gorki-Theaters und des Mecklenburgischen Staatstheaters.

für zeitgenössische Musik“ gegründete und bis 1989 vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR und vom Ministerium für Kultur ausgerichtete „MusikBiennale Berlin“. Aus ihr geht später das Festival „MaerzMusik“ hervor.

– Der Bund mietet das ehemalige „Theater der Freien Volksbühne“ in der Schaperstraße und stellt es den Berliner Festspielen zur Verfügung. Das nach Entwürfen des Architekten Fritz Bornemann erbaute Haus zählt zu den herausragenden Theaterbauten der Nachkriegsmoderne und steht unter Denkmalschutz.

1990

2001

– Nach der Öffnung der Berliner Mauer zeigen die Berliner Festspiele im Rahmen der Berlinale erstmals Wettbewerbsfilme und ausgewählte Sektionen im Osten der Stadt. – Im Rahmenprogramm des Theatertreffens findet im Kunstforum der Grundkreditbank die Ausstellung „Bühnenbilder aus der DDR“ statt. – Die Berliner Festspiele realisieren in Zusammenarbeit mit dem Bundesminister des Innern das „Fest der Einheit“.

– Das ehemalige Theater der Freien Volksbühne wird zur festen Spielstätte der Berliner Festspiele. Die Büros werden vom Bikini-Haus in das Theater in der Schaperstraße verlagert, das in „Haus der Berliner Festspiele“ umbenannt wird. – Die Berliner Festspiele übernehmen im Auftrag des Beauftragten für Kultur und Medien den Betrieb des Martin-Gropius-Baus. Das Ausstellungshaus zeigt sowohl moderne und zeitgenössische Kunst als auch archäologisch und kulturgeschichtlich orientierte Programmpunkte.

2000

1991 – Die Berliner Festspiele übernehmen die 1967 als „Internationales Festival

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GESCHICHTE

2002

Von November bis Januar zeigt die neue Gastspielreihe „spielzeit’europa“ Produktionen der internationalen Theater- und Tanzszene. Das Format hat bis 2011 Bestand.

– Durch den Hauptstadtkulturvertrag wird der Bund zum alleinigen Gesellschafter der Berliner Festspiele GmbH und der Haus der Kulturen der Welt GmbH. Mit der rückwirkenden Fusion beider Gesellschaften zum 1. Januar 2002 entsteht die Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH. Alleinige Gesellschafterin ist die Bundesrepublik Deutschland. Mit der Gründung der KBB steuern eine zentrale Verwaltung und eine gemeinsame kaufmännische Geschäftsführung die drei Geschäftsbereiche: die Berliner Festspiele mit dem Martin-GropiusBau, das Haus der Kulturen der Welt und die Internationalen Filmfestspiele Berlin. – „MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik“ löst die Musik-Biennale Berlin ab. Das Festival findet von nun an jährlich statt.

2005 – Das Musikprogramm der Berliner Festspiele wird zum „Musikfest Berlin“, das in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker jedes Jahr mit internationalen Gastorchestern die Berliner Konzertsaison in der Philharmonie Berlin eröffnet. – Das Theatertreffen wird in die „Leuchtturmförderung“ der Kulturstiftung des Bundes übernommen. – Das „internationale literaturfestival berlin“, das 2001 gegründet wurde, ist erstmals bei den Berliner Festspielen zu Gast. Es ergänzt als jährlich wiederkehrendes Gastfestival das Programm und präsentiert die literarische Vielfalt zeitgenössischer Lyrik, Prosa, Non-Fiction, Graphic Novels sowie Kinder- und Jugendliteratur aus aller Welt.

2003

2009

– Die Berliner Festwochen finden zum letzten Mal statt.

2004

– Anlässlich des 20. Jubiläums der Öffnung der Berliner Mauer veranstaltet spielzeit’europa ein viertägiges Theaterspektakel in der ganzen Stadt mit rund zwei Millionen Zuschauer*innen. Der Höhepunkt ist die Produktion Die Riesen in Berlin der Straßentheatergruppe Royal de Luxe: Das Märchen von Trennung und Wiederfindung erinnert an die

– Die ehemaligen Berliner Festwochen werden in zwei neue Formate überführt. Im traditionellen Fest wochenZeitraum im Spätsommer findet das Musikprogramm einmalig unter dem Namen „Konzerte | Oper“ statt.

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BIOGRAFIE EINER INSTITUTION

Vereinigung der beiden deutschen Staaten BRD und DDR 1989. – Um den multifunktionalen Anforderungen des Festival- und Gastspielbetriebs weiterhin entsprechen zu können, wird in den Jahren 2009 bis 2011 die veraltete Bühnen- und Haustechnik des Hauses der Berliner Festspiele modernisiert.

Bis 2016 werden regelmäßig ein*e Künstler*in und sein*ihr Kosmos im Haus der Berliner Festspiele präsentiert. – Die Berliner Festspiele stellen sich als Geschäftsbereich der KBB ihrer Verantwortung für nachhaltiges Umweltverhalten und werden nach dem EMAS-Umweltmanagementsystem zertifiziert.

2012

2014

– Nach dem Ende des Gastspielprogramms von spielzeit’europa gründen die Berliner Festspiele mit „Foreign Affairs“ ein Festival, das experimentelle und interdisziplinäre zeitgenössische Positionen aus dem Bereich Musik, Theater, bildende Kunst und Tanz verbindet. Das Format hat bis 2016 Bestand. – Als Beitrag zur Strukturdebatte der deutschen Stadttheater präsentieren die Berliner Festspiele in der kulturpolitischen Gesprächsreihe „Es geht auch anders!“ alternative Modellund Praxisbeispiele aus dem In- und Ausland. – Die Publikationsreihe „Editionen“ wird gegründet und verbindet literarische Beiträge mit Werken bildender Künstler*innen.

– Das Haus der Berliner Festspiele wird durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) in Namen der KBB erworben. Die KBB mietet wiederum das Haus der Berliner Festspiele von der BImA. – Das „Tanztreffen der Jugend“ wird gegründet.

2016 – Mit „Immersion“ gründen die Berliner Festspiele ein neues Format für immersive Kunst zwischen Ausstellung und Aufführung. Die Programmreihe, die bis 2021 läuft, realisiert große Eigenproduktionen, die dem institutionellen Wandel zeitgenössischer Kultureinrichtungen neue Impulse geben sollen.

2013

2017

– Erstmals wird das Haus der Berliner Festspiele zum Spielort der Berlinale, die hier Wettbewerbsfilme und die Programmreihe „Specials“ zeigt. – Die Veranstaltungsreihe „Ein Tag mit …“ findet zum ersten Mal statt.

– „The New Infinity – Neue Kunst für Planetarien“ wird als Kooperationsprojekt mit dem Planetarium Hamburg

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GESCHICHTE

2020

gegründet. Das neue Format findet im Rahmen der Programmreihe „Immersion“ statt und präsentiert Filme und Konzerte, die eigens für Planetarien entwickelt werden.

– Die Online-Plattform „Berliner Festspiele on Demand“ wird gegründet und bietet im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie eine digitale Bühne für die Streamings des Theatertreffens, des Musikfestes Berlin und des Jazzfestes Berlin. – Mit „Down to Earth“ veranstalten die Berliner Festspiele im Gropius Bau erstmals ein Ausstellungs- und Festivalprogramm, das auf Strom und Flugreisen verzichtet und Expert*innen des nachhaltigen Wandels zusammenführt.

2018 – Der Martin-Gropius-Bau wird zum „Gropius Bau“ und nimmt die Idee auf, Ateliers und Werkstätten, wie sie zu Zeiten des Kunstgewerbemuseums im Gebäude existierten, als Residenzräume einzurichten. Die Tradition archäologischer Sammlungspräsentationen wird fortgeführt und verknüpft mit gegenwärtigen Fragestellungen und Diskursen. – 2018 starten verschiedene Maßnahmen zur energetischen und technischen Generalsanierung des Hauses der Berliner Festspiele, darunter die Ertüchtigung des Dachs der Kassenhalle, die Sanierung der Fassaden, der Dachflächen, des Bühnenturms und der Seitenbühne. Außerdem wird eine neue Entwässerungsanlage für den Außenbereich gebaut, und die Lüftungsanlage wird erneuert. Die Arbeiten dauern bis 2022.

2021 – Die Berliner Festspiele begehen ihr 70-jähriges Jubiläum. Die Ausstellung „Everything Is Just for a While“ im Gropius Bau präsentiert zu diesem Anlass drei Videoinstallationen mit in Bild und Ton restauriertem Filmmaterial, die Nachrichten, Diskurs und Kunst aus 70 Jahren Berliner Festspiele zeigen. – Der Gropius Bau wird 140 Jahre alt. – Das Projekt „The Sun Machine Is Coming Down“ öffnet für zehn Tage das seit Jahren stillgelegte Internationale Congress Centrum Berlin (ICC) für Live Art, Installationen und Filme.

2019 – Anlässlich des 30. Jubiläums der Öffnung der Berliner Mauer gestalten die Berliner Festspiele das Haus der Berliner Festspiele in Anlehnung an den abgerissenen Palast der Republik um.

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EVERYTHING IS JUST FOR A WHILE. 70 JAHRE FESTSPIELGESCHICHTE NEU BETRACHTET Thilo Fischer, Jeroen Versteele

Labor und Experiment, Seismograf des Zeitgeists, Ausstellungsort und Debattierklub, Radical Art und Workshops für Jugendliche, Feuerwerk und Sport, wochenlang afrikanische Kunst, Städteplanung und Autor*innenförderung, Wissenschaftskolleg und Festumzug mit Wasserkorso und immer wieder Plattform der internationalen Kunstszene – all das waren die Berliner Festspiele in den vergangenen 70 Jahren.

Play, Rewind, Repeat Der erste Tag der 1. Berliner Festwochen – 5. September 1951: Menschenmengen sammeln sich bereits tagsüber vor dem Schiller-Theater. Schaut man heute in die Gesichter dieser Menschen, sechs Jahre nach der totalen Niederlage, nach Bombennächten und Häuserkampf, Massenvergewaltigungen und Eiseskälte, kann man es schlicht nicht fassen, dass Wilhelm Furtwängler, der ehemalige Vizepräsident der Reichsmusikkammer, der sich zugleich aber auch gegen die Vorgaben des NS-Regimes aufgelehnt hat, wieder dirigiert und inmitten dieser Trümmerstadt nun wieder FESTWOCHEN auf dem Programm stehen. Die Berliner Philharmoniker, die mit Furtwängler den ersten Abend gestalten, erhalten endlich wieder einen repräsentativen Rahmen. Denn die weltberühmte Stadt der Bühnen, der großen Theater und Konzerthäuser ist das eingeschlossene Westberlin zu diesem Zeitpunkt ganz und gar nicht. Im Osten der Stadt stehen sowohl die historisch renommierten als auch die modernsten Theater dieser Zeit. Der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik gelingt es nicht nur viel schneller, bedeutende Bühnen wie das Deutsche Theater oder die Volksbühne wiederzueröffnen. Mit Helene Weigel, Bertolt Brecht oder Hanns Eisler setzen sie außerdem die geeigneten Leute für einen Neuanfang ein. Ein Austausch zwischen den beiden Teilen Berlins ist zur Gründungszeit der Berliner Festwochen strengstens untersagt und die erste große Anti-Ost-Kampagne längst in vollem Gange. Die Berliner Presse hetzt: „Westberliner. Für euch ist es selbstverständlich, daß ihr keine der vom Stadt-Sowjet kontrollierten Einrichtungen des Ostsektors unterstützt. Kein Westberliner besucht ein ‚Staatstheater‘ des Ostens. Kein Westberliner liest eine Zeitung des Ostens.“ (Erik Reger: „Wofür?“. In: Der Tagesspiegel, 5. Dezember 1948) Doch blicken wir auf den zweiten Tag: Boreslaw Barlog, neuer Intendant des am Vortag wiedereröffneten SchillerTheaters, inszeniert auf Anregung von Theodor Heuss Schillers Wilhelm Tell als Drama der Freiheit. Auf den neuen Bühnenbrettern werden die Insignien der Tyrannen symbolisch auf den Haufen geworfen, aber wer muss im Stück draußen bleiben? Richtig: Ostberlin. Einer guten Gewohnheit folgend, lädt Intendant Barlog seine Kolleg*innen

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GESCHICHTE

aus den anderen Theatern der Stadt ein, nicht ahnend, dass er auf Drängen von Kultursenator Joachim Tiburtius am Premierentag jene Ostberliner Intendant*innen peinlich berührt wieder wird ausladen müssen.

Die Berliner Festspiele sind viele Geschichten Es gibt die Geschichte der Nachkriegszeit, in der die Alliierten mit den Berliner Festwochen und den Internationalen Filmfestspielen Berlin ein Schaufenster für Kunst aus der „freien Welt“ schufen. Es gibt die Geschichte der von der Mauer geteilten Stadt mit Festtagen im Osten und Festwochen im Westen. Es gibt die Geschichte der Kontinuität inzwischen traditionsreicher Festivals wie dem „Theatertreffen“ oder dem „Jazzfest Berlin“, und es gibt eine Geschichte des Wandels, den sie durchliefen, begleitet von ständigen Neuerfindungen experimenteller Formate und temporärer Strukturen. Es gibt die Geschichte der viel zu wenigen Frauen im Programm und in den Leitungspositionen und die aktuelle Geschichte der Frauenquote beim Theatertreffen. Es gibt die Geschichte großer Impulsgeber wie die Formate „Metamusik-Festival“, „Horizonte – Festival der Weltkulturen“, die „Musik-Biennale Berlin“, die „Aktionen der Avantgarde“ (ADA) oder „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“. Es gibt die Geschichten der Intendanten mit ihren künstlerischen Akzenten, Netzwerken und kulturpolitischen Strategien und die Geschichten der Generationen von Mitarbeiter*innen, die ihre Leidenschaft, ihre Expertise, Abertausende Arbeitsstunden und endlose Kreativität in die Festivalgestaltung gegeben haben und immer noch geben. Es gibt die Parallelgeschichte der Festtage im Osten mit ihrem hervorragenden und den Berliner Festwochen in nichts nachstehenden Programm und deren unsägliche Abwicklung 1990. Es gibt die Geschichte der Funkbrücke, mit der die neu errichtete Mauer umgangen wurde, und die der On-Demand-Plattform, dank der die Berliner Festspiele ihre Archive und Festivals in und auch nach Corona-Zeiten einem auf der ganzen Welt verteilten Publikum zugänglich machen. Es gibt die Geschichte der Bespielung des Gropius Baus und des Hauses der Berliner Festspiele, und es gibt die Geschichte der langen Zeit, bevor die Berliner Festspiele diese beiden Häuser betrieben, weil sie stattdessen in nahezu allen anderen Häusern der Stadt als (Ko-)Produzent von großen und experimentell angelegten Aufführungen, Symposien und Ausstellungen zu Gast waren. Es gibt also auch die Geschichte Hunderter Spielorte – viele sind mittlerweile verschollen oder umgewidmet, andere immer noch prominent in der Berliner Kulturlandschaft vertreten. Und es gibt die Geschichten der zahllosen Partnerinstitutionen, die die Programme der Berliner Festspiele bereichern und mitgestalten. Es gibt die Geschichten der Maßlosigkeit und des Feinsinns, der Repräsentation und der Innovation, der Verwurzlung in Berlin und der Faszination fürs Außereuropäische, des Wahnsinnserfolgs und der schmerzhaften Bauchlandungen, der prickelnden Erwartungen und der immer weiter wegrückenden Erinnerungen. Und es gibt die vielen, vielen unerzählten Geschichten.

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EVERYTHING IS JUST FOR A WHILE

Was funkelt heute noch? Leichtathletik und Boxkämpfe, Brecht-Theater aus Syrien, Hildegard Knefs Ausführungen über Mexiko in der Gesprächsreihe „Berliner Lektionen“, CO2 -neutrale Ausstellungskonzepte, Brian Eno, John Cale und Nico mit ihrer Version des Deutschlandlieds in der Nationalgalerie, Martin Luther King Jr.’s Eröffnungsrede zum Gedenken an John F. Kennedy, Ilya Khrzhanovskys unvollendetes DAU-Projekt Unter den Linden, Fela Anikulapo Kuti im Wahlkampf, Marionettenballett aus Mailand, John Cages und Merce Cunninghams Auftritte in Europa, ein Gespräch mit der LivingTheatre-Gründerin Judith Malina in den Berliner Lektionen, ein ganzes Festival gewidmet dem Zirkus, Erwin Piscators Kampf mit der Oper, vertrackter Free Jazz von Sun Ra & his Solar Arkestra, stundenlange im Fernsehen übertragene Live-Debatten der 1960er-Jahre, Bert Neumanns subversive Bühnenbauten und Kostümbilder, Bildhauerei und Freiluftstudios vor der Philharmonie Berlin, Boris Blachers Ballettabende mit Tatjana Gsovsky, Ida Müllers und Vegard Vinges Nationaltheater in Reinickendorf, die Topographie des Terrors, Pina Bauschs Tänze beim Theatertreffen, Griots aus Mali, Kabuki und Nō aus Japan, Volkslieder aus Deutschland und Modelloper aus China und Wolf Vostells Environments am Mauerstreifen. Dort treffen wir auch Gordon Matta-Clark und Ulrike Ottinger; wir sehen Theater ohne Akteur*innen, Allan Kaprow in Treppenhäusern und Ulrich Papenberg im Galerieraum, George Maciunas und Shigeko Kubota mit Fluxus am Cembalo, seichte Höflichkeiten und aus heutiger Sicht fragwürdige Konzepte zur sogenannten Dritten Welt, Luca Ronconis Ritterspiele in der Deutschlandhalle und Joseph Beuys im Martin-Gropius-Bau, legendäre Auftritte von Igor Strawinsky, Wolfgang Rihm, Luigi Nono und Vladimir Horowitz; Fassbinders viel zu seltene Ausflüge ins Theater und Schlingensiefs Kunstausstellungen auf der Bühne, bildende Kunst aus Afrika, aus Nord- und Lateinamerika und Asien und all die Menschen, die kamen, guckten, zuhörten, lachten, buhten, klatschten, debattierten und wieder gingen.

Thilo Fischer beschäftigt sich als Filmemacher, Dramaturg und Kurator mit Theater-, Film- und Kunstgeschichte. Jeroen Versteele ist Dramaturg. Der Beitrag „Everything Is Just for a While. 70 Jahre Festspielgeschichte neu betrachtet“ ist zuerst im Booklet zur gleichnamigen Ausstellung erschienen.

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70 JAHRE BERLINER FESTSPIELE. FILME AUS PRIVATEN UND ÖFFENTLICHEN ARCHIVEN

Im Rahmen der Ausstellung „Everything Is Just for a While“ im Gropius Bau, die anlässlich des 70. Jubiläums der Berliner Festspiele organisiert wurde, sichtete der Filmemacher, Dramaturg und Kurator Thilo Fischer gemeinsam mit David von der Stein ca. 1000 Stunden Filmmaterial aus öffentlichen und privaten Archiven. Daraus wurden über fünf Stunden in Bild und Ton restauriert und zu drei Videoinstallationen montiert, die Nachrichten, Diskurs und Kunst aus 70 Jahren zeigen: Channel Three. Arts, Channel Sixteen. Breaking News und Channel One. Talking Heads. Außerdem kuratierte Thilo Fischer ein Kinoprogramm mit Aufzeichnungen in voller Länge von außergewöhnlichen Konzerten, Aufführungen, Aktionen, Reportagen und Gesprächen, das im Oktober 2021 als Teil des Projekts „The Sun Machine Is Coming Down“ im Internationalen Congress Centrum Berlin (ICC) gezeigt wurde. Die Videoinstallationen, die Filme und ihre Beschreibungen, die wir auf den folgenden Seiten präsentieren, geben einen lustvollen Eindruck von dem Wechselverhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit und einem inspirierenden Teil der Berliner Kunstgeschichte.

CHANNEL THREE. ARTS Film von Thilo Fischer und David von der Stein Ton: Max Heesen 260 Minuten Superbreitbildformat, Stereo Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, teilweise mit deutschen Untertiteln 2021

Channel Three. Arts zeigt einen insgesamt mehr als vier Stunden langen Zusammenschnitt von Kunstpositionen aus allen Jahrzehnten der Festspielgeschichte, ausgewählt nach größtmöglicher Kompromisslosigkeit, Eigensinn und Wahnwitz. Mit ihrer umfassenden filmischen Collage anlässlich des 70. Jubiläums der Berliner Festspiele begeben sich Thilo Fischer und David von der Stein auf Zeitreise. Das teils unveröffentlichte, in Bild und Ton restaurierte und digitalisierte Material schlägt der Skepsis gegenüber der Konservierbarkeit längst vergangener Bühnenkünste ein Schnippchen und transportiert ein Gefühl davon, was einst live zu erleben war. Anna Magnani, Herbie Mann, John Cage oder Merce Cunningham – das Programm der ersten 20 Jahre (1951–1969) Festspielgeschichte versammelt bereits klangvolle Namen der internationalen Kunstszene. Es sind Entdeckungen wie das Living Theatre aus New York oder der Dudelsack-Jazzer Rufus Harley aus Pennsylvania, aber auch Berliner Größen wie Boris Blacher, Boleslaw Barlog, Erwin Piscator oder Tatjana Gsovsky dabei. Auch Kunstposi-

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tionen aus Afrika sind von Beginn an Teil des Programms. In den 1970er-Jahren verlassen die Künstler*innen verstärkt die konventionellen Aufführungsorte – sie bespielen Ausstellungsräume mit Performances und Konzerten und erobern auch den öffentlichen Raum. Das Publikum wird zur direkten Teilhabe ermutigt, und das Politische, Aktivistische und Prozessuale erhält Einzug in das Programm. Von Happening bis Zirkus, von Prozession bis Konfusion – die Kunst der 1970er-Jahre rüttelt auf und agitiert. Dazu gehört: Theater von Samuel Beckett, Rainer Werner Fassbinder, Tadeusz Kantor und Peter Zadek, Performancekunst aus New York, ein ganzes Festival gewidmet dem Zirkus, Tanzdrama aus China, Kriegstänze aus Burundi und Happenings von Allan Kaprow und Wolf Kahlen. Außerdem trifft in den Metamusik-Festivals des österreichischen Musikpioniers Walter Bachauer und später auch in den ersten Horizonte-Festivals die Musik aller Genres und Kontinente aufeinander: Griots aus Afrika, Rock aus Europa, experimenteller Gesang aus Amerika und Koto-Saitenspiel aus Japan. Zu sehen sind auch Aktionen von Gordon Matta-Clark, George Maciunas und Wolf Vostell, Luca Ronconis Ritterspiele und erstmals in Europa traditionelles Kabuki-Theater aus Tokio. Das geteilte Berlin als Konstruktion für den Frieden in Europa wird zum beherrschenden Thema der Programme der Berliner Festspiele in den 1980erJahren. Vor allem die Malerei und die Theaterkunst der DDR finden bereits lange vor dem Mauerfall ihre Wertschätzung im Westteil der Stadt. Als die Schülerband Anyway 1989 beim Treffen Junger Liedermacher auftritt, findet zeitgleich wenige Kilometer weiter die

Grenzöffnung statt. Die deutschsprachige Theaterszene wird fortan nachdrücklich geprägt von ostdeutschen Künstler*innen wie Bert Neumann, Corinna Harfouch, Frank Castorf und Heiner Müller. Doch auch aus anderen Richtungen bezieht das bei den Berliner Festwochen aufgeführte Theater neue Schlagkraft: Pina Bausch zeigt erstmals Tanz beim Theatertreffen, Thomas Braschs kontroverse Stücktexte werden überbordend interpretiert, und Einar Schleef setzt die Wirkkräfte des chorischen Theaters ein. Daneben erfindet René Block eine Ausstellung für Augen und Ohren, die sich ganz dem musikalischen Raumexperiment widmet, im wiedereröffneten Martin-Gropius-Bau läuft eine Ausstellung über Preußen, und auf dem Nachbargrundstück wird die bis heute bestehende „Topographie des Terrors“ eröffnet. Angekommen im 21. Jahrhundert, blicken wir zurück auf das legendäre Stadtraum-Wiedervereinigungs-Spektakel Die Riesen in Berlin von Jean-Luc Courcoult, auf Ólafur Elíassons Spiel mit optischer Täuschung, René Polleschs Volksbühnendiskurse, Milo Raus hochpolitisches Dokumentartheater, Christoph Schlingensiefs Nazi-Hamlet, Sasha Waltz’ abstrakten Tanzpathos, Susanne Kennedys expressives Verfremdungstheater und vieles mehr. Selten war die Kunst auf den Bühnen der Berliner Festspiele vielleicht so kompromisslos und eigensinnig wie in den letzten 20 Jahren. Sie begreift, dass sie nichts mehr gewinnen muss, sondern das Spiel selbst der große Gewinn ist. More is more, und Liebe, Brutalität und Humor schließen sich keinesfalls aus. Dieser Einschätzung folgen wir bis zur Zielgerade. Künstler*innen wie Ida Müller und Vegard Vinge, Ragnar Kjartansson,

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GESCHICHTE

William Forsythe, Jonathan Meese und Ilya Khrzhanovsky schlagen zum Ende noch einmal tief in die Magengrube internationaler Kunstbeflissenheit. Entweder wird es ganz laut oder ganz leise, superlang oder pure Wiederholung, schnell und direkt überführt aus der unmittelbaren Lebensrealität oder jahrelang künstlich erschaffen. Außerdem blicken wir zurück auf die Programmreihe „Immersion“ und betrachten wunderbar ausufernde musikalische Experimente.

CHANNEL ONE. TALKING HEADS Film von Thilo Fischer und David von der Stein Ton: Max Heesen 42 Minuten 4:3, Stereo Deutsch, Englisch, Französisch mit deutschen Untertiteln 2021

Channel One. Talking Heads zeigt anlässlich des Jubiläums der Berliner Festspiele 70 Jahre gelebte Gesprächskultur und Konfliktgeschichte der Stadt Berlin und der Institutionen Berliner Festwochen und Berliner Festspiele, verdichtet in einer 40-minütigen Collage mit hochkarätigen Vertreter*innen aus Kunst und Politik. Welche Folgen hat die Berliner Konstruktion als geteilte Stadt auf Kunst, Kultur und Gesellschaft? Welche Hinterlassenschaften der Nazizeit prägen Kunst, Politik und Gesellschaft bis heute? Und welcher Anspruch kann ganz generell an die Künste erhoben werden? Sollen sie nur sich selbst dienen oder besser doch der ganzen komplexen Wirklichkeit? Channel One. Talking Heads lässt bedeutende Gespräche, Diskussionen und Zusammenkünfte der letzten 70 Jahre Revue passieren. Mit dabei: Äußerungen von Willy Brandt bis Judith Malina, von Volker Braun bis Alfred Hitchcock, von Martin Luther King Jr. bis Hildegard Knef, von Fela Anikulapo Kuti bis Steffie Spira und von Angela Hampel bis Udo Lindenberg.

CHANNEL SIXTEEN. BREAKING NEWS Film von Thilo Fischer und David von der Stein Ton: Max Heesen 11 Minuten 4:3, Stereo Deutsch ohne Untertitel 2021

Der elfminütige Film Breaking News rückt die öffentliche Berichterstattung in den Fokus: Wie wurden die Berliner Festwochen zwischen 1951 und 1987 wahrgenommen, wie kommentiert und von welchen politischen Ereignissen geprägt? Sichtbar wird ein Emanzipationsprozess der Institution Berliner Festwochen im Spannungsfeld zwischen außen- und kulturpolitischem Auftrag, den amerikanischen Alliierten, nationaler Aufbruchstimmung und unendlich viel Kunst und Kultur, die nach 1945 wieder gezeigt und diskutiert werden will. Emanzipation in erster Linie durch das Programm selbst: Hinwendung zu politischer, aktivistischer, experimenteller und avantgardistischer Kunst und Einbeziehung von Kultur- und Kunstspektren außerhalb des mitteleuropäischen Horizonts. Ein televisionäres Ornament.

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BREMER FREIHEIT – FRAU GEESCHE GOTTFRIED

bild besonders auf: ein paar Möbel und eine den kompletten Bühnenhintergrund rahmende Videoprojektion, ein roter Meeresschlund und kein Entrinnen. „Ich habe dich davor bewahren wollen, das Leben, das du führst, noch weiter führen zu müssen.“ (Geesche Gottfried in: Bremer Freiheit, 1971 von R.W. Fassbinder)

Ein bürgerliches Trauerspiel von Rainer Werner Fassbinder 86 Minuten, Farbe, Deutsch ohne Untertitel, 1972 Fernsehbearbeitung durch R.W. Fassbinder mit dem Ensemble des Bremer Theaters Regie: Rainer Werner Fassbinder Ausstattung: Kurt Raab Kamera: Dietrich Lohmann, Hans Schugg, Peter Weyrich Mit: Margit Carstensen, Wolfgang Schenck, Wolfgang Kieling, Lilo Pempeit, Ulli Lommel, Hanna Schygulla, Kurt Raab, Fritz Schediwy, Rudolf Waldemar Brem, Walter Sedlmayr

© SR | Fassbinder Foundation | Verlag der Autoren

BERLIN FIEBER Wolf Vostell 1973 Farbe, 11 Minuten Regie: Ulrike Ottinger Aufzeichnung eines Environments von Wolf Vostell im Rahmen der Aktionen der Avantgarde (ADA I, 1973) des Neuen Berliner Kunstvereins e.V. in Zusammenarbeit mit dem DAAD und den Berliner Festspielen

Mit seinem bürgerlichen Trauerspiel Bremer Freiheit – Frau Geesche Gottfried erzählt Rainer Werner Fassbinder die Geschichte einer Frau, die im frühen 19. Jahrhundert in Bremen lebt und reihenweise Personen vergiftet, die sie zuvor quälten. Es ist die Zeit seiner Ehe mit Ingrid Caven und den Wochenenden in Paris des Jahres 1971. Rainer Werner Fassbinder schreibt an seinem 16. Bühnenstück über die junge Frau Geesche, die nacheinander ihre Tyrannen beseitigt: zuerst ihren Mann, dann ihre Mutter, ihre beiden Kinder, ihren neuen Verlobten usw. Insgesamt kommen 15 Menschen durch Geesches Kaffeegemisch binnen 90 Minuten zu Tode. Geesche Gottfried war 1831 in Bremen die letzte Frau, die öffentlich enthauptet wurde. Noch heute gibt es einen Erinnerungsstein am Bremer Dom. Das Theaterstück ist der Beginn von Fassbinders Werken über Frauenemanzipation. Noch im selben Jahr inszeniert er es in Bremen und wird damit 1972 zum ersten und einzigen Mal nach Berlin zum Theatertreffen eingeladen. Neben dem Starensemble mit Carstensen, Hirschmüller, Raab, Lommel, Schygulla und Fassbinder selbst fällt das Bühnen-

Der Maler, Bildhauer und HappeningKünstler Wolf Vostell war Mitbegründer der Veranstaltungsreihe ADA – Aktionen der Avantgarde, die die Berliner Festwochen mit dem Neuen Berliner Kunstverein 1973 ins Leben riefen. Er beteiligte sich an der ersten Ausgabe mit seinem Environment Auto-Fieber und dem Happening Berlin-Fieber. Die Künstlerin Ulrike Ottinger begleitete die Aktionen damals mit ihrer Filmkamera. „ADA – Aktionen der Avantgarde“, unter diesem Stichwort fand sich 1973 im Neuen Berliner Kunstverein eine Initiativgruppe zusammen, um kurzfristig ein Modell einer Veranstaltung experimenteller Kunst zu den Berliner Festwochen 1973 zu realisieren. ADA ging von der Idee aus, traditionelle Ausstellungsformen zu überwinden. ADA sollte nicht von ‚Machern‘ konzipiert werden, sondern von Künstlern. ADA sollte nichts Feststehendes sein, das dem Publikum zum Eröffnungstag fertig und für vier oder fünf Wochen unverändert serviert wird.“

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GESCHICHTE

(Jörn Merkert, Ursula Prinz) „Autofahren ist Psycho-Aesthetik.“ (Wolf Vostell)

Verhaltensweisen. Wolf Vostell hingegen lässt in Regen im Alltäglichen das Symbolhafte der Kunst und Kunstwahrnehmung als ein psychoästhetisches Ereignis erscheinen, bei dem die Freiwilligen sich in einem liminalen Raum zwischen dem Schönen der Künste und dem Grauen der Weltgeschichte befinden. Der schöne Schein des Guten und die Güte des schönen Scheins und all die Schrecken, die dahinter verborgen liegen.

© Ulrike Ottinger Filmproduktion | Arsenal – Institut für Film- und Videokunst e.V. | The Wolf Vostell Estate

HAPPENING X ZWEI Film von Ilona Schrumpf über KAHV (Kaprow Activity Happening Vostell) Im Rahmen der Berliner Festwochen 1976, veranstaltet durch den Neuen Berliner Kunstverein 8 Minuten, Farbe, Deutsch ohne Untertitel, 1976

© RBB | Allan Kaprow Estate | Courtesy Hauser & Wirth | The Wolf Vostell Estate

Nach den „Aktionen der Avantgarde“ 1973 und 1974 tun sich die Begründer des Happenings in Amerika und Europa, Allan Kaprow und Wolf Vostell, 1976 erneut zusammen und gestalten für die Berliner Festwochen zwei neue Aktionen. Happening x Zwei zeichnet die unterschiedlichen Herangehensweisen der Künstler nach und befragt auch die Teilnehmer*innen der Aktionen. „Wir sind zwei alte Happener und wir dachten uns, es könnte Spaß machen, unsere lange Erfahrung mit dieser Form gemeinsam in Berlin darzustellen und unsere Freunde dazu einzuladen. Mitmachen ist beim Happening besser als darüber zu reden und zu lesen.“ (Allan Kaprow) Die Happening-Kunst war Mitte der 1970er-Jahre schon wieder aus den Seiten der Sensationspresse verschwunden und befand sich in einer Art inneren Revision. Allan Kaprow, der selbst den Namen „Happening“ einst eingeführt hatte, nutzte nun den weniger aufrührerischen Begriff „Activity“. In Frames of Mind zeigt er anhand von in Gruppen ausgeführten Aufgaben unterschiedliche Wirkmechanismen sozialer Rollenausbildung, gesellschaftlicher Normenstrukturen und zwischenmenschlicher

LOBLIED AUF DAS YIMENG-GEBIRGE Staatliches Tanzdrama-Ensemble der Volksrepublik China Fernsehregie: Sigmar Börner 1977 Staatliches Tanzdrama-Ensemble der Volksrepublik China / Ausschnitte der Aufführung am 23. Oktober 1976 im Theater des Westens, Berliner Festwochen 1976 41 Minuten, Farbe

Die Aufzeichnung der Aufführung des Staatlichen Tanzdrama-Ensembles der Volksrepublik China im Rahmen der Berliner Festwochen 1976 gibt einen seltenen Einblick in eine der damals führenden künstlerischen Positionen Chinas, die nur einen Monat nach dem Tod des chinesischen Staatspräsidenten Mao Zedong freilich nicht ohne Berücksichtigung seiner kulturrevolutionären Kampagne betrachtet werden kann. „Das Chinesische Tanzdrama-Ensemble wurde 1959 gegründet; sein Vorgänger war die Experimental-Ballettbühne der Pekinger Tanzschule. Es ist eines der wichtigsten Tanzdrama-Ensembles, die sich durch kämpferische Stählung in der Großen Proletarischen Kulturrevolution entwickelt haben und herangewachsen sind. Von 1964 an leitete

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Genossin Djiang Tjing im Lichte der revolutionären Linie des Vorsitzenden Mao und in Befolgung der Richtlinien […] für Literatur und Kunst: ‚Laßt hundert Blumen blühen! Laßt das Neue durch kritische Aufnahme aus dem Alten hervorgehen!‘ ‚Das Alte in den Dienst der Gegenwart stellen, das Ausländische für China nutzbar machen‘, die revolutionären Mitarbeiter in Literatur und Kunst dazu, die vielen von der revisionistischen Linie aufgerichteten Hindernisse zu durchbrechen. […] In diesen Werken wird durch die Reihe glanzvoller proletarischer Heldengestalten […] das kämpferische Leben der Arbeiter, Bauern und Soldaten enthusiastisch besungen; diese Werke spielen so eine militante Rolle‚ für den Zusammenschluss und die Erziehung des Volkes, für die Schläge gegen den Feind und dessen Vernichtung‘. Am 8. Oktober 1964 sah sich der große Führer des chinesischen Volkes, der Vorsitzende Mao Tsetung, die Aufführung des Tanzdramas ‚Die Rote Frauenkompanie‘ an und gab ihm eine hohe Einschätzung. […] Nach der revolutionären Linie des Vorsitzenden Mao in Literatur und Kunst schreitet das Chinesische-Tanzdrama-Ensemble voran.“ (Ankündigungstext aus dem Programmheft von 1976)

Intention, einen Teil der Berliner Mauer in die Luft zu sprengen. Die Berliner Mauer mit Dynamit sprengen. Um nicht mehr und nicht weniger ging es dem Konzept-Künstler Gordon Matta-Clark bei seiner Teilnahme an der von der Akademie der Künste und den Berliner Festwochen organisierten Ausstellung und Programmreihe „New York – Downtown Manhattan: SoHo. Ausstellungen, Theater, Musik, Performance“ im Jahr 1976 in Berlin. Langes und gutes Zureden seiner Freunde soll ihn dann von seinem abenteuerlichen Plan abgebracht haben. Zu einer besonderen und ausdrucksstarken Performance kam es dennoch, mitsamt Personenkontrolle der Westberliner Schutzpolizei – zum Glück gebannt auf Super8. © Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York

GIL EVANS ORCHESTRA Konzert im Rahmen der Berliner Jazztage 1976 Philharmonie, 3. November 1976, 44 Minuten, Farbe

Berühmt für seine originelle Experimentierfreude erweiterte Gil Evans konsequent die Stilgrenzen des Jazz. 1976 spielte das Gil Evans Orchestra im Rahmen der Berliner Jazztage. „Gil Evans ist der beste Arrangeur, den ich kenne. Mir ist seit dem Augenblick, als ich Charlie Parker das erste Mal hörte, nichts mehr begegnet, was mich immer wieder so umwirft wie seine Musik.“ (Miles Davis) Diese lobenden Worte des US-amerikanischen Trompeters Miles Davis kommen nicht von ungefähr, denn mit dem Kanadier Gil Evans nahm er drei Studioalben auf, die zu den wichtigsten Beiträgen des Cool Jazz zählen. Augenfällig ist bei Gil Evans bereits die Zusammenstellung seiner

© RBB | National Ballet of China

THE WALL 1976/2007, 15 Minuten, Farbe Regie: Gordon Matta-Clark Aktion im Rahmen von „New York – Downtown Manhattan: SoHo. Ausstellungen, Theater, Musik, Performance“, Video der Akademie der Künste und der Berliner Festwochen 1976

Raum radikal verwandeln – mit diesem Vorhaben zerschnitt Gordon Matta-Clark seit den 1970er-Jahren Gebäude und verlassene Häuser und durchbrach damit die Grenzen zwischen Architektur und öffentlichem Raum. 1976 kam der Konzeptkünstler nach Berlin mit der

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GESCHICHTE

Orchester, bei denen er bisher eher der Klassik vorbehaltene Instrumente wie Fagott, Horn, Oboe oder Tuba integrierte. Mit Arrangements für nicht selten um die 20 Musiker*innen schuf er ausgefallene Klangteppichfarben, die sich dennoch seinen sehr streng strukturierten Kompositionen unterordneten. Bei seinem zweiten von drei Auftritten bei den Berliner Jazztagen versammelte der damals 62-Jährige Größen wie die Trompeter Jon Faddis und Lew Solof, Peter Levin am Synthesizer, Bob Stewart an der Tuba sowie die erst 25-jährige Sue Evans am Schlagzeug; mit im Gepäck Arrangements eines zwei Jahre zuvor aufgenommenen Albums, auf dem er Stücke des Rockgitarristen Jimi Hendrix neu interpretierte.

Für den Musiker Fela Anikulapo Kuti, dem in Nigeria und Ghana aufgrund seines politischen Engagements für die Befreiungsbewegung ein Auftrittsverbot auferlegt wurde, war sein Auftritt bei den Berliner Jazztagen das letzte Konzert mit seiner mit Ausnahme-Schlagzeuger Tony Allen begründeten Afrobeat-Gruppe. Während des Konzerts verkündete er seine Kandidatur als nigerianischer Präsident, und sämtliche Einnahmen aus der Europareise sollten schließlich für seinen Wahlkampf auch draufgegangen sein. Der Auftritt gilt als Höhepunkt der Bandgeschichte und als ihr am besten dokumentiertes Konzert mit einer Vielzahl an Kamerawinkeln, einer Formation von 20 Musiker*innen und 27 Tänzerinnen, die zu Ehren der Göttin Osun auf nackter Haut bemalt waren. Das Berliner Publikum saß dem völlig irritiert und regungslos gegenüber. Die Zeitungen überschlugen sich tags darauf in negativer Kritik, die weiteren Europakonzerte wurden abgesagt, und das jähe Ende seiner Band war besiegelt. Seine Kandidatur mit dem neu gegründeten Movement of the People wurde schließlich gar nicht zur Wahl anerkannt. Er resignierte nicht und widmete sich weiter afrikanischen Themen, die an Landesgrenzen keineswegs Halt machten. Heute, 14 Jahre nach seinem Tod, ist er in Westafrika ein Volksheld und auch in Europa mittlerweile als einer der wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts anerkannt.

© RBB | Courtesy the Artist

FELA ANIKULAPO KUTI AND AFRICA 70 Konzert im Rahmen der Berliner Jazztage 1978 Philharmonie, 4. November 1978, 83 Minuten, Farbe

Das Konzert der von Fela Anikulapo Kuti und Tony Allen gegründeten Afrobeat-Bigband Africa 70 in der Berliner Philharmonie 1978 ist Höhepunkt und Endpunkt der Band, die bereits damals mit ihren künstlerisch wie politisch hochexplosiven Auftritten als legendär galt. Der Musiker und Produzent Quincy Joppes scheut keine Superlative in seiner einführenden Bühnenansprache: „Wir präsentieren Ihnen heute das Größte, was je aus Afrika kam: Fela und die Afrika 70 – ein Erlebnis echter afrikanischer Musik: Sie werden etwas sehr Ursprüngliches sehen, politisch, religiös und musikalisch.“

© BMG Rights Management GmbH

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ZIRKUS, CIRCUS, CIRQUE

„METAMUSIK III kennt keine erste, keine dritte Welt. Ökonomische Teilungen in Nord und Süd, Ost und West besitzen wenig Relevanz, will man sie ungeprüft auf das Feld musikalischer Ästhetik transportieren. METAMUSIK III zeigt – wie die Festivals 1974 und 1976 – Beispiele zu einer noch kaum formulierten Theorie des Widerspruchs von Vielfalt und Einheit in der Weltmusik. […] Der letzte Tag oder der erste, Ottes Menschen aus alten Dynastien, Kämpfer, Göttinnen, Potentaten, singaporianische Sänger, Pantomimen, Akrobaten, der UnterwasserFight im jadegrünen Fluß Lok – Noh-Mimen und elektronische Musik, Stille und Aktion, Japanische Koto-Spieler, Herr Kita und die Drehung des Fächers, die Stimme der Meredith Monk im Takt der Weltmusik, das Rundfunkorchester Peking und die 100 Blumen des Kulturfrühlings, Gensho Honda verläßt mit den Mönchen das Tendei-Kloster um in Berlin Shomoyo zu zelebrieren, die zarten Alaps des Munawar Ali Khan im Calcutta Stil, die Geburt der modernen Tai-Oper in der Binsenhütte … hereinspaziert in die Menagerie …“ (Auszüge aus dem Programmtext)

Berliner Festwochen 1978, 110 Minuten, Farbe Mit: Circus Barum, Circus Safari, Cirque Gruss, Tänzer der Deutschen Oper Berlin, Gruppe Neue Musik, Clown Dimitri und Varieté, Varieté nach Oskar Schlemmer von Helfried Foron

Das Festival mit dem polyglotten Titel „Zirkus, Circus, Cirque“ von 1978 war eines der erfolgreichsten Festivals in der Festwochen-Geschichte und wie es dem Zirkus ähnlich ist, vielleicht eines der wenigen, bei dem auch Tiere und Kinder eine vordergründige Rolle spielten. Eine für dieses Kinoprogramm neu zusammengestellte Archivfilm-Collage zeigt Highlights des 1978er-ZirkusFestivals unter anderen mit dem französischen Cirque Gruess, dem deutschen Circus Barum, dem Schweizer Clown Dimitri und einmaligen Manegedarbietungen der Gruppe Neue Musik Berlin. Den Abschluss bilden Ausschnitte aus Varieté Varieté des Tübinger Zimmertheaters unter der Regie von Helfried Foron nach den Plänen und Skizzen von Oskar Schlemmer. Daneben werden auch Fragen der Tierhaltung und des Zirkusmanagements erörtert und über die lange Tradition des Zirkus gesprochen.

© RBB | DMB Film Berlin

MASTER SRINIVAS GROUP

© RBB | Courtesy the Artists

Konzert im Rahmen der Berliner Jazztage 1983 Philharmonie, 29. Oktober 1983, 27 Minuten, Farbe

ASIEN UND AVANTGARDE. METAMUSIK FESTIVAL III

Die Mandoline wurde bereits in der Renaissance in Kompositionen von Beethoven und Mozart, aber auch in unzähligen Bluegrass-Melodien verwendet. Der indische Musiker Uppalapu Srinivas führte die mandelförmige Laute schließlich auch in die klassische indische Musik ein und fand im Crossover der Genres ein Publikum auf der ganzen Welt. Als Uppalapu Srinivas 1983 als gerade Vierzehnjähriger mit seiner Band

Neue Nationalgalerie, 3.–31. Oktober 1978, 58 Minuten, Farbe Dokumentarfilm von Detlef Michael Behrends

Metamusik III von 1978 stellt den Abschluss des vom österreichischen Radiopionier und Kurator Walter Bachauer konzipierten, legendären Festivalformats dar.

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GESCHICHTE

auf den Berliner Jazztagen in der Philharmonie auftrat, stand er noch ganz am Anfang seiner Karriere, dennoch trug er bereits zentnerschwer das Label „Indischer Mozart“ mit sich herum. 27 Minuten großes Virtuosentum und pure Freude an der Improvisation eines Vierzehnjährigen. Die Bühne teilte er sich an jenem Oktobertag in Berlin mit keinen Geringeren als den Sun Ra Allstars und Miles Davis, was die ZEIT damals maßlos empörte und zu einer Debatte über guten und schlechten Kulturimperialismus verleiten ließ. Vergessen wurde dabei, dass es noch Breakdance der New Yorker Magnificent Force im Pausenfoyer gab – all das live übertragen im Fernsehen.

Not geriet, verwandelte er ein Kindervergnügen zum Beruf und zog mit seinen Puppen durch die Städte Piemonts. Die kleine Marionettenbühne übernahm die Erfolgsproduktion des renommierten Teatro alla Scala in ihr Repertoire und imitierte mit Sorgfalt Dekorationen und Kostüme. Die Handlung wurde auf die bekanntesten Arien reduziert, und oft wurde zusätzlich eine komische Figur eingefügt. An Pracht und Aufwand konnten diese Aufführungen für alle durchaus mit denen konkurrieren, die nur für Adel und Bourgeoisie gemacht waren. Etliche Werke Meyerbeers, Bellinis, Ponchiellis und Donizettis überlebten sogar nur auf diese Art. Der Ballo Excelsior, jenes legendäre Spektakel zur Verherrlichung der Wissenschaft, das bei der Weltausstellung 1881 Furore machte, existiert als getreue Kopie der monströsen Uraufführung. Es war zwar die erfolgreichste Produktion der Scala überhaupt, erforderte aber mit allein 600 Mitwirkenden einen ungeheuren Aufwand, sodass heute nur noch die Marionettenbühne einen authentischen Eindruck von der Fortschrittsgläubigkeit unserer Urgroßväter und -mütter vermitteln kann.

© RBB

BALLO EXCELSIOR ODER DIE REISE DURCH DIE EROBERUNGEN DES MENSCHLICHEN GEISTES Compagnia marionettistica Carlo Colla e figli Ballett von Luigi Manzotti Musik von Romualdo Marnco Künstlerische Leitung: Eugenio Monti Colla 16.–18. September 1983, 66 Minuten, Farbe

© RBB | Associazione Grupporiani

Die von Gaspare Carlo Gioacchino Colla gegründete Compagnia Colla pflegt eine der schönsten Traditionen des Puppenspiels – Sänger und Tänzer aus Holz führen in bezaubernden Dekorationen die großen Opern, die kleinen Singspiele und die prächtigen Ballette vor. Zur Ausstattung vornehmer Mailänder Wohnungen gehörte im vorigen Jahrhundert ein Marionettentheater, oft von beträchtlichen Ausmaßen. Als Gaspare Carlo Gioacchino Colla, genannt Giuseppe, Spross einer ehemals wohlhabenden Familie, in finanzielle

SUN RA ALLSTARS Konzert im Rahmen der Berliner Jazztage 1983 Philharmonie, 29. Oktober 1983, 53 Minuten, Farbe

Wer Sun Ra in den 1980er-Jahren hören wollte, der musste dies in der Regel live erledigen. Zwar war er produktiv wie kaum ein anderer Jazzmusiker, doch wurden seine Aufnahmen bis in die 1990er-Jahren nur auf kleinen Plattenlabels verlegt. Seine Live-Darbietung im Rahmen der Berliner Jazztage 1983

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bezeugt die musikalische Neugierde Sun Ras und seines Allstar-Ensembles. Umhüllt von glitzernden Gewändern – irgendwas zwischen Science Fiction, Psychedelic und Altem Ägypten – entspinnten Sun Ras Ensembles ihre ganz eigenen spirituellen und geheimnisvollen Free-Jazz-Landschaften, die auch 40 Jahre später noch zeigen, wie sich Humor, Könnerschaft und musikalisches Experiment lustvoll vereinen können. Live aus der Berliner Philharmonie mit seiner Allstar-Bigband: unter anderen mit Trompeter Don Cherry, Schlagzeuger Philly Joe Jones, Saxofonist Archie Shepp und am Klavier Sun Ra.

keinen neuen trendgemäßen Anzug kaufen, ich werde weiter Marlene Dietrich und Erich Kästner zuhören, Bertolt Brecht und Heiner Müller, ich werde weiter über die Mauer schauen, bis sie nicht mehr da ist. Ich werde Honni besuchen, und ich werde protestieren, wenn ich Anstoß nehme. Was auch immer gegen mich gesagt wird: Ich habe Berlin im Kopf. Liebe Leute, jetzt singe ich meinen letzten Song. Es sei denn, ihr wollt auch mal ein bisschen singen. Heute ist offene Bühne.“ 33 Jahre später schreibt das uPhone zu diesem Mix aus Lesung, Konzert mit kleiner Band und Ansprachen: „is n toller beitrag, legér, locker, großzügige freigaben bitte udo.“

© RBB | Sun Ra LLC

© Berliner Festspiele | Haus Bertelsmann | ZEIT-Stiftung | Courtesy the Artist

SACHLICHE ROMANZEN Udo Lindenberg Berliner Lektionen Renaissance Theater, 27. November 1988, 45 Minuten, Farbe Deutsch ohne Untertitel

GESCHICHTEN ÜBER BERLIN Hildegard Knef Berliner Lektionen Renaissance Theater, 27. Oktober 1989, 113 Minuten, Farbe Deutsch ohne Untertitel

Das zweite Jahr der „Berliner Lektionen“, eine Gesprächsreihe, die bis 2011 fortgesetzt wurde und ganze 24 Jahre das Diskursprogramm der Berliner Festspiele prägte, beschließt Udo Lindenberg als Bühnengast. Ein freudvoller Mix aus Lesung und Konzert, bei dem sich alles um die geteilte Hauptstadt dreht. Udo Lindenberg, der nonkonformistische Wahlberliner, dem das Unikum gestattet wurde, dass ausnahmsweise eine Lektion einmal nicht am Sonntag bereits vormittags stattfinden muss, fühlt sich „mit Geschichte voll konfrontiert“ und „politisch voll auf Zack“, denn „Eins ist doch klar, Politikern alleine darfst Du sowieso nichts überlassen, dass die zu viel Scheiße bauen, zeigt die Geschichte. […] Die Stadt ist ein bisschen schickimickimäßig drauf. Aber ich werde mir

Mit ihrer Lesung bei den Berliner Lektionen 1989 gibt die Schauspielerin, Sängerin und Autorin Hildegard Knef Einblick in wichtige Stationen ihres Lebens und bezieht Stellung zu gesellschaftspolitischen Themen ihrer Zeit. „Sie ist zu einer Symbolgestalt geworden für das Berlin der Nachkriegszeit. In ihrer beruflichen und persönlichen Existenz spiegelt sich unsere eigene Geschichte, sie ist zu einem Teil unseres Lebens geworden. Sie wuchs in Berlin auf, 1944 im ersten Film, sie überlebte das Kriegsende hier – Gefangenschaft, Flucht, Hunger – Viktor de Kowa am Kurfürstendamm, in seinem Theater gab er ihr zum ersten Mal eine Rolle auf dem Theater, dann die DEFA, 1946 der erste Nachkriegs-

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GESCHICHTE

film „Die Mörder sind unter uns“, Regie Wolfang Staudte. 1947 USA – 1950 zurück. Sünderin, Skandal und Erfolg. 1954 internationaler Durchbruch am Broadway. 675 Vorstellungen als Ninotschka. International 50 Filme, dann Theater: 1960 im Schlosspark Theater bei Barlog. Vielleicht hat Hildegard Knef auch auf dieser Bühne gespielt? 1963 zweite Karriere als Chanson-Sängerin. Ella Fitzgerald sagte über sie: „The greatest singer in the world without a voice.“ 1970 Schriftstellerin. „Der geschenkte Gaul“, 1975 „Das Urteil“. 1975 auch der Film „Jeder stirbt für sich allein“ nach Fallada. 1982 Übersiedlung nach Hollywood. 1984 ein Film mit Helma Sanders-Brahms. 1987 im Theater des Westens im „Cabaret“ die Zimmerwirtin. 1989 hier „Geschichten über Berlin“ von und mit Hildegard Knef.“ (Einleitende Worte von Intendant Ulrich Eckhardt)

Ersten Weltkrieg bis zur Zweiteilung Deutschlands und der ebenso unerwarteten wie glücklichen Wiedervereinigung in diesem Jahre, sinnbildlich-symbolisch im Schicksal seiner Hauptfiguren zur Darstellung käme. Er würde zu diesem Zwecke zwei etwa gleichaltrige Schwestern wählen. Im ersten Jahrzehnt geboren, am Ende der Geschichte, über achtzigjährige, ehrwürdige Damen. Aus dem Theatermilieu würde er sie wählen – weil nicht klassenspezifisch, aber soziologische Mittellage, Indikator des Kulturniveaus –, die beide eine Karriere als Schauspielerinnen machen – in Berlin. Jetzt aber, und das ist die Leitidee, mit zwei extrem konträren Weltanschauungen: Die eine ist Kommunistin, Mitglied der KPD, wird deswegen verfolgt, geht ins Exil, nach dem Zusammenbruch kehrt sie nach Deutschland zurück, in das geteilte Deutschland und das kann für sie nur das östliche Deutschland, dann später die DDR sein, Brechts Ensemble am Schiffbauer Damm. Die Andere macht eine westliche Karriere, Reinhardt, Boulevardtheater, Operette, Renaissance Theater, hier in diesem Haus, UFA, aus der hübschen Debütantin wird ein gefeierter Star. Auch sie muss Deutschland verlassen und kehrt nach 1946 zurück, natürlich nach Westdeutschland, nach Westberlin, wo sie fast 20 Jahre lang ihre Karriere fortsetzt – eine berühmte Schauspielerin der 50er und 60er Jahre. Warum musste sie Deutschland verlassen? Die zweite Leitidee unseres Autors ist nämlich – es soll ja auch ein Bestseller werden – beide Schwestern haben einen jüdischen Vater, Fritz Spira, ein bekannter Schauspieler war auch er, in den 20er Jahren vielleicht sogar berühmter als seine Töchter damals. Er muss 1933 nach Wien ausweichen, er ist Österreicher, nach dem Anschluss erreichten ihn die Nazischergen, er wird deportiert und kommt in ein Konzentrationslager. Die beiden ungleichen Schwestern sind also – wie es damals hieß – Halbjüdinnen. Sie personifizieren nicht nur den Gegensatz

© Berliner Festspiele | Haus Bertelsmann | ZEIT-Stiftung | Funkturm Verlag

DER GETEILTE HIMMEL – LEBEN IN OST UND WEST CAMILLA UND STEFFIE SPIRA Gespräch mit Nicolaus Sombart, Berliner Lektionen Renaissance Theater, 16. September 1990, 75 Minuten, Farbe Deutsch ohne Untertitel

Zwei Schwestern, die vom Ersten und Zweiten Weltkrieg über die Teilung Deutschlands bis zur Wiedervereinigung ganz verschiedene Leben führen und doch ein Schicksal teilen. Im Gespräch mit Nicolaus Sombart zeigt sich, Camilla und Steffie Spira sind ein Symbol der Wiedervereinigung der Extreme. „Stellen wir uns einmal vor, ein gewiefter Volksautor hätte sich vorgenommen einen Roman, oder einen Film, oder besser noch eine Filmserie zu machen, in der die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts vom

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von Links und Rechts, Ost und West, sie personifizieren auch das Schicksal des deutschen Judentums. Die deutschjüdische Kultursymbiose in den 20er Jahren, den antisemitischen Wahn mit seinen kulturzerstörerischen Folgen, die Problematik eines Neubeginns nach dem Holocaust. Unser Autor weiß, dass hier der Nerv des deutschen Schicksals liegt: Man kann nicht über die deutsche Geschichte sprechen, ohne von der Rolle der deutschen Juden zu sprechen. Um das ganz klar herauszubringen, erfindet er für beide Schwestern die dazu passenden Männer, die beide Juden sind. Die kommunistische Steffie bekommt einen Mann, der militanter Kommunist ist. Schauspieler auch er, aber er macht politisches Kabarett, AgitpropKabarett, Parteiarbeit, auch im Exil, auch in der DDR, wo er zu politisch-kulturellen Nomenklatura gehört. Sie heiraten nicht, das passt nicht zum Stil. Sie sind Lebensgefährten, die durch alle Wechselfälle und Peripetien in Treue zusammenhalten bis der Tod sie scheidet. Und der Mann von Camilla? Bildungsbürgertum, Kapitalist, Millionär, Kriegsteilnehmer aus dem Ersten Weltkrieg mit Auszeichnung, ein deutschnationaler Jude wie Rathenau, dem sein Deutschtum so wichtig ist wie sein Judentum und der bis 1938 die Gefahr, in der er schwebte nicht begreifen will, auch nach der Kristallnacht sagt: ‚Es kann einfach nicht wahr sein.‘ Und den seine junge Frau zur Emigration zwingen muss. Sie gehen nach Holland. Auch er kehrt mit seiner Frau 1947 zurück, nach Westberlin natürlich. Dahlem, Villa, eine bürgerliche Vernunftehe mit allem was dazugehört. Die eine lebt im Luxus, den sie liebt, aber trotz aller Erfolge – sie hat die größten Rollen auf der Bühne und im Film gespielt – ist sie nicht wirklich glücklich. Sie sieht auf ihr Leben zurück mit Melancholie. Für die Andere spielt das Geld und das materielle Wohlleben keine Rolle. Auch ihre passionierte Theaterleidenschaft steht jäh im Dienst einer großen politischen Idee: Sie, die Überlebenden konnten eine neue Welt

aufbauen, ohne Krieg, erfüllt von den Ideen des Kommunismus. Das war ihr Programm bei der Rückkehr in das Deutschland Ulbrichts. Was ist daraus geworden? Am 4. November 1989 hat sie, die sich wie immer mit ihren kleinen Rollen begnügt hat, den größten Auftritt als Akteurin auf der Bühne der Geschichte, auf der sie immer beheimatet war. Vor Millionen verurteilt sie ein Regime, das den Schwächen der Bürokratie und der Verführung der Macht erlegen ist, aber sie bekennt sich nach wie vor zu der Idee, um deren Willen sie ihm gedient hat. Nach dem Fall der Mauer werden die beiden von der Mediengesellschaft vereinnahmt und vermarktet. Arm in Arm fahren sie von Talkshow zu Talkshow, ein Film wird von ihnen gemacht, sie genießen es und sind es leid. Ein Symbol der Wiedervereinigung der Extreme, der Versöhnung von Rechts und Links, von Ost und West, ein Happy End, das ein Roman nun einmal haben muss, ein Lehrstück für Lifestyle Freaks, wer weiß …“ (Nicolaus Sombart) © Berliner Festspiele | Haus Bertelsmann | Steffie-Spira-Archiv der Akademie der Künste | Alexander Sombart

SONEZAKI SHINJU (LIEBESTOD IN SONEZAKI) Bunraku Theater Osaka Text: Chikamatsu Monzaemon Komposition: Nozawa Matsunosuke Schiller-Theater Berlin, 29. September 1999 85 Minuten, Farbe Mit deutschen Untertiteln

Das klassische japanische BunrakuTheater gibt es schon seit mehr als 300 Jahren und zählt heute zum UNESCOKulturerbe. Auf Reisen begibt sich das Puppentheater jedoch äußerst selten. Eine Ausnahme stellte das Gastspiel des Bunraku Theaters Osaka 1999 bei den Berliner Festspielen dar. Bunraku ist eine formal anspruchsvolle Kunst, die sehr rituell abläuft –

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GESCHICHTE

wenn der Vorhang aufgeht, tritt eine schwarz verhüllte Gestalt auf und kündet das Stück an, stellt den Rezitator und den Musiker vor, die beide rechts auf der Seite der Bühne Platz nehmen. Jede der auftretenden Puppen ist ein Kunstwerk für sich, knapp einen Meter hoch, aufwendig gestaltet und kostümiert, jede wird von drei Männern geführt, wobei zwei von ihnen schwarz verhüllt sind. Der eine führt die Beine, der andere den linken Arm und der dritte den Kopf und die rechte Hand. Zusammen mit der ausdrucksstarken Vortragskunst des Rezitators und eines Lautenspielers, der sein dreiseitiges, mit Katzenfell gespanntes Instrument dazu anschlägt, wird im Bunraku aus diesem Puppenspiel eine künstlerische Einheit. Der Text ist eine Mischung aus Erzählung, Dialog und Lyrik. Liebestod in Sonezaki, das in Berlin gezeigt wurde, handelt von einem jungen Mann, der um sein Vermögen und seine unstandesgemäße Braut, eine junge Kurtisane, gebracht wird. Ein mehr oder weniger klassisches bürgerliches Drama, formal dargeboten in einer Detailgetreue und Feinfühligkeit, die zugleich lebensecht wie fremdartig erscheint, wenn die Puppen nicht nur ihre Gliedmaßen, sondern auch Augen und Mund bewegen, in zarten Gesten sich Tränen von den Wangen abwischen oder sich gegenseitig sanft berühren – Vorgänge, die im Theater den ersten Zuschauerreihen in besonderen Maßen vorbehalten sind, in der Aufnahme des SFB von 1999 aber niemandem mehr entgehen können.

DÄMONEN von Fjodor Dostojewskij Eingeladen zum Theatertreffen 2000 Regie: Frank Castorf Bühne und Kostüme: Bert Neumann Dramaturgie: Matthias Pees Musikalische Einrichtung: Sir Henry, Thomas Krinzinger Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Wiener Festwochen, 232 Minuten, Farbe Deutsch und Russisch ohne Untertitel Mit: Kathrin Angerer, Hendrik Arnst, Henry Hübchen, Sebastian König, Astrid Meyerfeldt, Milan Peschel, Silvia Rieger, Sophie Rois, Bernhard Schütz, Sir Henry, Jeanette Spassova, Joachim Tomaschewsky, Ulrich Voß, Martin Wuttke

Wer im Abgrund lebt, hat das Gröbste hinter sich. Fjodor Dostojewskijs Dämonen spielt am Übergang vom religiösen Glauben zur materialistischen Ideologie, doch ahnt das Werk nicht nur den nahenden Tod Gottes voraus, sondern auch schon das Scheitern des Sozialismus. Entstanden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, eröffnet Fjodor Dostojewskijs Roman Dämonen nicht nur ein philosophisches Panorama des unterschiedlichen menschlichen Strebens nach Transzendenz, sondern knüpft auch derart schicksalhafte Bande zwischen den einzelnen Strebenden, dass am Ende nur der ganze Schrecken staatlicher Konstitution der allgemeinen Vernichtung Einhalt gebieten kann. Schönheit und Terror paaren sich vor Einbruch der Dunkelheit. In einem letzten Haus kurz hinter der Westgrenze Russlands, irgendwo zwischen Paris, Texas, Cindy Sherman, Dogma 95 und Duma 2000, inszeniert Frank Castorf im Bühnenund Kostümbild von Bert Neumann. Auf der Bühne stehen unter anderen Henry Hübchen, Milan Peschel, Silvia Rieger, Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Bernhard Schütz, Sophie Rois und Hendrik Arnst.

© RBB | Courtesy the Artist

© Volksbühne Berlin | Bert Neumann Association

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EINE KIRCHE DER ANGST VOR DEM FREMDEN IN MIR

dem seiner Heimatgemeinde Herz Jesu in Oberhausen nachempfunden. Er entwirft Bilder, Bekenntnisse und Litaneien, die dem Eindringling nachspüren und sich der Angst vor dem Tod annähern. Es prozessieren unter anderen Margit Carstensen, Angela Winkler, Komi Mizrajim Togobonou, Karin Witt und in der Besetzung der RuhrtriennaleVersion von 2008 auch noch Christoph Schlingensief.

Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief Regie: Christoph Schlingensief Bühne: Thomas Goerge, Thekla von Mülheim Kostüme: Aino Labarenz Dramaturgie: Carl Hegemann Aufzeichnung der Ruhrtriennale 21. August 2008, 95 Minuten, Farbe Mit: Margit Carstensen, Angela Winkler, Mira Partecke, Komi Mizrajim Togbonou, Stefan Kolosko, Karin Witt, Horst Gelloneck, Kerstin Grassmann, Norbert Müller, Achim von Paczensky, Klaus Beyer und Christoph Schlingensief Eingeladen zum Theatertreffen 2009

© Filmgalerie 451 | Schlingensief Nachlass

In seinem Fluxus-Oratorium führt Christoph Schlingensief konsequent seine Selbstinszenierung fort und macht seine diagnostizierte Krebserkrankung zum Anlass und Thema seiner Theateraktion. Das Requiem ist zugleich eine Huldigung an die Künstler*innen des Fluxus, denen das Leben und Sterben als Kunstwerk galt. „Wir gedenken des zukünftig Verstorbenen, der vieles leisten wollte, kaum dass er schon wieder weg war. Ein Mensch wie wir, wie du, wie ich, wie alle – und damit auch besonders. Er war der, der er war, mehr nicht, aber immehin, wer kann das schon von sich sagen. Viele sind tot, viele sind untot, uns hat man jedenfalls noch nicht beerdigt. Halleluja!“ In seinem FluxusOratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir widmet sich Christoph Schlingensief zum ersten Mal seiner im gleichen Jahr diagnostizierten Krebserkrankung. Angst ist der Fels, auf dem Schlingensief seine Kirche baut. Darin forscht er, Messdiener a. D., nicht nur nach seinem Verhältnis zu Gott, sondern vor allem nach seinem Verhältnis zu sich selbst. So beginnt eine Reise ins Ich. Transzendenz und Transparenz auf Kollisionskurs: Der Kirchenraum ist

IWAN DER SCHRECKLICHE 1944/1946 Film von Sergei Eisenstein s/w und Farbe, 184 Minuten RSB / Frank Strobel Rundfunk-Chor Berlin, Marina Prudenskaya (Alt), Alexander Vinogradov (Bass) Russisch mit deutschen Untertiteln Aufführung im Rahmen des Musikfestes Berlin 2016

Mitten im Zweiten Weltkrieg entstand der Monumentalfilm Iwan der Schreckliche von Sergei Eisenstein. 2016 zeigte das Musikfest Berlin zum ersten Mal den Tonfilmklassiker mit der Filmmusik von Sergej Prokofjew live und machte dessen Musikkompositionen erneut erlebbar. Filmkonzerte haben inzwischen ihren festen Platz im Spielplan von Sinfonieorchestern, selten aber werden so monumentale Film- und Musikwerke geboten wie bei den drei Filmkonzerten, die das Musikfest Berlin in Kooperation mit dem RSB und der Filmredaktion ZDF/ARTE zwischen 2016 und 2019 realisierte. Mit den beiden französischen Filmen J‘accuse (1918) und La Roue (1923) von Abel Gance waren zwei große Stummfilme zu erleben, mit Iwan der Schreckliche ein Tonfilmklassiker, der in den 1940er-Jahren entstand.

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GESCHICHTE

Bei allen drei Projekten spielte die Musik eine besondere Rolle. Die Filmmusik zu Iwan der Schreckliche stammt von Sergej Prokofjew und wurde 2016 zum ersten Mal live zum Film gespielt. Geschrieben ist sie für Chor, Gesangssolisten und Sinfonieorchester. Hört man sie im Kino auf der Tonfilmkopie, vermittelt sich kaum ein adäquater Eindruck von ihrer ursprünglichen Kühnheit. Im großen Saal des Konzerthauses, wo der Chor auf dem Balkon direkt neben der Leinwand platziert war, entfaltete sich hingegen ein gigantisches Klangerlebnis.

unter anderem Grundlagen und Grenzen des intellektuellen Verstehens und des menschlichen Handelns. Bis zur Erschaffung des „neuen Menschen“ und darüber hinaus: zum blutigen Ende. Bisher sind aus dem DAU-Projekt 14 Spielfilme und mehrere Serien hervorgegangen. DAU. Degeneratsia zeigt das Geheiminstitut als einen Ort, an dem wissenschaftliche und okkulte Experimente an Tieren und Menschen durchgeführt und menschliche Idealbilder verhandelt werden. Unter den Mitwirkenden sind Marina Abramović, Romeo Castellucci und Rabbi Adin Steinsaltz. Der Geheimdienst zieht es vor, die Augen vor den erotischen Ausschweifungen, abendlichen Exzessen und den grausamen und befremdlichen Versuchsmethoden der Wissenschaftler*innen zu verschließen, bis letzten Endes, getarnt als neue Testpersonen, eine Gruppe radikaler Jugendlicher in das Institut eingeschleust und von einer neuen Institutsleitung mit dem Auftrag betraut wird, das Treiben der Wissenschaftler*innen und Forscher*innen zu stoppen.

© ZDF/ARTE

DAU. DEGENERATSIA Buch und Regie von Ilya Khrzhanovsky, Ilya Permyakov Kamera: Jürgen Jürges Sound Design: Stefan Smith, Rob Walker, Alex Joseph Production Design: Denis Shibanov 2020, 355 Minuten, Farbe, Russisch und Englisch mit deutschen Untertiteln Mit Prof. Dmitry Kaledin, Vladimir Azhippo, Olga Shkabarnya, Prof. Alexei Blinov, Prof. Nikita Nekrasov, Rabbi Adin Steinsaltz, Dr. Zoya Popova, Alexey Trifonov, Kristina Voloschina, Viktoria Skitskaya, Maksim Martsinkevitsch

© Phenomen Berlin Filmproduktion GmbH

Das Institut, um das es in diesem Film geht, hat zwei Mal existiert. Ein Mal als streng geheimes Institut für Physikalische Probleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, das zwischen 1938 und 1968 betrieben wurde, ein zweites Mal als größtes Filmset Europas, das am Ende des Projekts zerstört wurde. Das DAU-Institut in Charkiw war eine von Regisseur Ilya Khrzhanovskiy konzipierte Experimentierstation, in der zwischen 2009 und 2011 führende Mathematiker*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen und Mystiker*innen lebten und arbeiteten. Erforscht wurden

Der Beitrag „70 Jahre Berliner Festspiele. Filme aus privaten und öffentlichen Archiven“ ist zuerst im Booklet zur Ausstellung „Everything Is Just for a While“ erschienen.

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CHRONIK 2012–2021

Dieser Überblick widmet sich dem Programm der Berliner Festspiele von 2012 bis Ende 2021. Seit Beginn der Intendanz von Thomas Oberender lag der Fokus der Festspielarbeit neben Festivals und thematischen Veranstaltungen auf den Einladungen von internationalen Künstler*innen und experimentellen Formaten. Sie verbergen sich in den nachfolgend angeführten Programmbereichen und -verantwortlichen, die kontinuierlich gewechselt haben, und ebenso in den größeren und kleineren Konzerten, Uraufführungen, deutschen Erstaufführungen, Performances, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen der Berliner Festspiele. Die Berliner Festspiele haben seit 2001 zwei feste Veranstaltungsorte, was in ihrer Geschichte eine bedeutsame Veränderung darstellte: das Haus der Berliner Festspiele, das zwischen 1960 und 1963 vom Architekten Fritz Bornemann als „Theater der Freien Volksbühne“ mit 1000 Plätzen erbaut wurde, und den Martin-Gropius-Bau (heute „Gropius Bau“) als Ausstellungshaus, der von 1877 bis 1881 von Martin Gropius als Kunstgewerbemuseum errichtet wurde. Jenseits von diesen beiden Häusern ermöglichten zahlreiche Kooperationen mit Berliner Institutionen den Berliner Festspielen, diverse Veranstaltungen an wechselnden Orten zu realisieren und mit diesen ortsspezifischen Projekten den urbanen Raum zu erkunden. Neben Konzerthäusern, Theatern, Kirchen, Messegeländen, Hallen und Clubs wurden auch private Orte und der öffentliche Raum bespielt. Aufgrund der Vielfalt des umfangreichen Programms der Berliner Festspiele kann der vorliegende Überblick nur einen Bruchteil der Veranstaltungen abbilden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch können die vielen Protagonist*innen der bildenden und darstellenden Künste an dieser Stelle weder alle genannt noch angemessen gewürdigt werden. Ein ergänzender Überblick und detaillierte Informationen zu den einzelnen Projekten der Berliner Festspiele sowie sämtliche Beteiligte, Jurymitglieder, Diskussionsteilnehmer*innen und Kooperationspartner*innen sind nicht vergessen, sondern abrufbar auf der Website der Berliner Festspiele: www.berlinerfestspiele.de. Zusätzlich zu den hier fragmentarisch wiedergegebenen Festivals und Programmen gibt es die vier Bundeswettbewerbe, die jährlich von den Berliner Festspielen organisiert werden. Diese richten sich an junge Menschen im Alter zwischen 11 und 21 Jahren in den Bereichen Theater, Tanz, Musik und Literatur. Die Förderphilosophie der Bundeswettbewerbe beruht auf der Anerkennung der jugendlichen Kreativität, ihrem Anspruch auf Unversehrtheit und Fürsorge und der Etablierung einer konkurrenzfreien Atmosphäre und sozialer Offenheit. Die vier Bundeswettbewerbe Theatertreffen der Jugend, Tanztreffen der Jugend, Treffen junger Autor*innen und Treffen junge Musik-Szene sind bewusst thematisch und stilistisch offen ausgeschrieben, um der Vielfalt der Möglichkeiten Rechnung zu

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GESCHICHTE

tragen, die die Sparten in sich bergen – es sind keine Themenschwerpunkte oder stilistische Vorgaben gefragt, sondern ein Bewusstsein dafür, dass junge Menschen selbst Themen setzen. Eine Besonderheit ist, dass mit der Auswahl der Preisträger*innen der Wettbewerb abgeschlossen ist. Die jungen Künstler*innen begegnen sich bei den Treffen auf Augenhöhe und erleben ein durch ihre eigenen Arbeiten geprägtes Festivalprogramm und zugleich eine Förderstruktur mit einem System aus Workshops, Aufführungen und Austausch zwischen den Akteur*innen auch über die Sparten hinweg. So ist es in den vergangenen Jahren gelungen, eine Atmosphäre von Offenheit und Neugier zu kreieren, frei von Konkurrenzdenken und Abgrenzungen. Eine vollständige Chronik und einen Überblick aller Teilnehmenden seit der jeweiligen Gründung des Wettbewerbs finden Sie unter: www.berlinerfestspiele.de/bundeswettbewerbe.

2012 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR AKTUELLE MUSIK 17. bis 25. März Zwei musikalische Schwerpunkt-Künstler: John Cage und Wolfgang Rihm. Eröffnung mit der Sängerin Joan La Barbara, dem Ensemble Ne(x)tworks und den Maulwerkern. gefaltet, ein choreografisches Konzert von Sasha Waltz und Mark Andre. Für Cages Orchesterstück 103 kommen 103 Mitglieder des Konzerthausorchesters Berlin ohne Dirigent*in und ohne Partitur zusammen. Internationales Symposium „Cage und die Folgen“ mit Claus-Steffen Mahnkopf. Gastspiel des Just Alap Raga Ensembles mit La Monte Young – Marian Zazeela in der Villa Elisabeth. Im Haus der Berliner Festspiele treffen sich Robert Ashley, Gordon Mumma, Alvin Lucier und David Behrman zur Sonic Arts (Re)Union. Kompositionsauftrag an Elliott Sharp für das Ensemble zeitkratzer. Das Remix Ensemble (Leitung: Peter Rundel) konfrontiert zwei Rihm-Kompositionen mit solchen der Cage-Nachfolge. Wolfgang Rihm im Gespräch mit Rudolf Frisius. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Lothar Zagrosek spielt Werke von Morton Feldman, Arnold Schönberg, Christian Wolff und Wolfgang Rihm, Auftritt der Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky. THEATERTREFFEN 4. bis 21. Mai Ibsens John Gabriel Borkman in der Regie von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen, Kill Your Darlings. Streets of Berladelphia von René Pollesch und Die [s]panische Fliege in der Regie von Herbert Fritsch. Hate Radio von Milo Rau im Memorial Centre / HAU Hebbel am Ufer, Berlin u. a. Dort ist auch Before Your Very Eyes von Gob Squad zu sehen. Lukas Langhoff mit Henrik Ibsens Der Volksfeind vom Theater Bonn, Alvis Hermanis mit Platonov von Anton Č echov vom Burgtheater Wien. Von den Münchner Kammerspielen kommen zwei Inszenierungen: Johan Simons zeigt Werke von Sarah Kane, Karin Henkel inszeniert William Shakespeares Macbeth. Der Regisseur

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CHRONIK 2012–2021

Nicolas Stemann erhält den 3sat-Preis für seine herausragende Leistung für die Inszenierung Faust I + II. Den Theaterpreis Berlin erhält Sophie Rois, den Alfred-KerrDarstellerpreis Fabian Hinrichs. MUSIKFEST BERLIN 31. August bis 18. September Vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen in den USA stehen amerikanische Klassiker der Moderne im Vordergrund. Für das Eröffnungskonzert dirigiert Kent Nagano das Mahler Chamber Orchestra und Werke von Charles Ives. Zu den Höhepunkten zählen Porgy und Bess, eine Kooperation der Berliner Philharmoniker mit dem Cape Town Opera Voice of the Nation Chorus sowie die moderne Zeitoper Nixon in China von John Adams, der selbst am Dirigentenpult des BBC Symphony Orchesters steht. Zu Gast sind das London Symphony Orchestra mit Michael Tilson Thomas, St. Louis Symphony, Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam sowie das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, das Arnold Schönbergs Moses und Aaron aufführt. Weitere Ensembles sind das Pellegrini-Quartett und musikFabrik. Der Rundfunkchor widmet sich Werken von Bernstein und Ives, David Lang, Thompson, Copland u. a. Die Berliner Orchester sind u. a. mit Marek Janowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester vertreten und Werken von Henze und Rachmaninow. Solist*innen sind Pierre-Laurent Aimard, Emanuel Ax, Isabelle Faust, Nikolai Lugansky u. a. Zum Abschluss sind mit der Staatskapelle Berlin und unter dem Dirigat von Daniel Barenboim Werke von Max Bruch, Elliott Carter und Anton Bruckner zu hören. FOREIGN AFFAIRS 27. September bis 26. Oktober Nach dem Gastspielprogramm von spielzeit’europa entsteht das stärker experimentell und interdisziplinär konzipierte Festival Foreign Affairs. Erste Direktorin des neuen Festivals wird Frie Leysen. Eröffnung mit Las Multitudes von Federico León, u. a. mit 108 Berliner*innen. Performances von Romeo Castellucci und Manu Riche / Patrick Marnham. Tanzperformances von Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas, enfant von Boris Charmatz für neun Tänzer*innen und eine Gruppe Kinder, Erna Ómarsdóttir We saw monsters, Cecilie Ullerup Schmidt / Matthias Meppelink. Musik von Sedlmeir und Mary Ocher + Your Government. Theater von FC Bergman 300 el x 50 el x 30 el über das, was man nicht sieht. Talk to me von Mart Kangro. Pueden dejar lo que quieran von Fernando Rubio, Gólgota Picnic von Rodrigo García. Dean Blunt (DJ-Set), Markus Öhrn / Institutet / Nya Rampen zeigen die Uraufführung von We love Africa and Africa loves us über postkoloniale Allmachtfantasien und europäische Familienstrukturen. Koloniale Vergangenheit ist ebenfalls Thema einer begehbaren Theaterinstallation von Brett Bailey. Im großen Saal zeigen die Berliner Festspiele eine Eigenproduktion von und mit Fabian Hinrichs. Der Pianist Marino Formenti spielt drei Wochen durchgehend in einem hölzernen Pavillon aus Abrissmaterial vor dem Haus der Berliner Festspiele nach dem Entwurf von Kyohei Sakaguchis Mobile House. Aufführungsorte sind die Sophiensæle, das Ballhaus Ost und der Kleine Wasserspeicher in Prenzlauer Berg.

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GESCHICHTE

JAZZFEST BERLIN 1. bis 4. November Höhepunkte erinnern an die Ursprünge des Jazz, Gospel und Blues: Archie Shepp Quartet mit Schlagzeuger Steve McCraven, Sängerin Amina Claudine Myers und Wayne Dockery am Bass. Das Trio Das Kapital gibt ein Konzert für Hanns Eisler, Jazz-Veteran Wayne Shorter spielt mit Danilo Perez, Brian Blade und John Patitucci. Christian Lillinger erinnert im Rolf Kühn Quintett mit Julia Hülsmann an die nahezu vergessene Pianistin Jutta Hipp. Auftritte von Michel Portal, Aki Takase, Manu Katché sowie der Pianistinnen Geri Allen, Irène Schweizer und Marilyn Crispell und des Schlagzeugers Pierre Favre. Das Memorial Songs for Kommeno des Schlagzeugers Günter „Baby“ Sommer reflektiert ein Massaker deutscher Wehrmachtssoldaten in einem griechischen Dorf. Jazz und Lyrik mit Christian Brückner und Hartmut Geerken, Weltmusik mit dem Quartett LebiDerya. MARTIN-GROPIUS-BAU „Pacific Standard Time“ zeigt die Entwicklungsprozesse der agilen Kunstszene in Los Angeles von 1950 bis 1980. „ARTandPRESS“ vereint über fünfzig künstlerische Positionen, die sich mit dem Thema Zeitung als Instrument der Aufklärung und Manipulation auseinandersetzen. Fotografieausstellungen mit Werken von Diane Arbus und Dennis Hopper sowie Regina Schmekens Porträts der Deutschen Nationalmannschaft. Russische Kunst ist im Rahmen des Festivals RUSIMPORT mit der Künstler*innengruppe AES+F aus Moskau vertreten sowie mit einer unbekannteren Richtung der Avantgarde: „Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915–1935“ zeigt u. a. Fotografien von Richard Pare. Dem antiken Heiligtum von Olympia und der Geschichte der neuzeitlichen Olympiaden widmet sich die Ausstellung „Mythos Olympia – Kult und Spiele in der Antike“. RUSIMPORT 29. November bis 9. Dezember Das Russlandfestival präsentiert Theater-Gastspiele, Kino, Konzerte, Videokunst und Diskussionen. Darunter Arbeiten von Pjotr Fomenko, Dmitri Bykow, Andrej Swargizjew, Dmitri Krymow, das Ingenieurtheater AKHE aus Sankt Petersburg und die Künstler*innengruppe AES+F aus Moskau. Kuratiert von Andrea Tatjana Wigger und Thomas Oberender. Die interaktive Ausstellung „V_Museum – Platform Moscow“ von Christina Steinbrecher, Andrey Gelmiza und Anne Maier zeigt Zukunftsbilder junger Künstler*innen aus Moskau. EDITIONEN 2012 starten die Berliner Festspiele ihre Publikationsreihe „Editionen“, die künstlerische, essayistische und dokumentarische Originalbeiträge mit Bildserien zeitgenössischer Künstler*innen veröffenlicht und so mehrmals im Jahr ungewöhnliche und selten publizierte Arbeiten für ihre Leser*innen zugänglich macht. Das Design der Reihe stammt vom Schweizer Künstler und Grafikdesigner Christian Riis Ruggaber. Mit ausgewählten Texten von Hanns Zischler, Mark Z. Danielewski, Mark Greif, David Foster Wallace sowie Kunstpositionen von Christiane Baumgartner, Jorinde Voigt, Marcel van Eeden und Brigitte Waldach. 478


CHRONIK 2012–2021

2013 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR AKTUELLE MUSIK 15. bis 24. März Klanginstallationen von Charlotte Hug, Cevdet Erek und Oliver Schneller. Musiktheater von Pills or Serenades und ein multimediales Oratorium von Steve Reich und Beryl Korot. Christian Dierstein spielt Werke von Ott, Billone, Sciarrino und Ronchetti. Das Musiktheater Kassandra von Michael Jarrell kommt im Radialsystem zur Aufführung. Porträt von Gene Coleman. Diskursive Formate: „Neue Musik im türkisch-arabischen Mittelmeerraum“ und Gespräche mit Beat Furrer und Wolfgang Mitterer, Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough. Das „A“ Trio mit Mazen Kerbaj, Sharif Sehnaoui und Raed Yassin, Tarek Atoui, Ensemble Resonanz, Thomas Ankersmit / Marcelo Aguirre & Jens Brand in der Sonic Arts Lounge. Hasretim – Eine anatolische Reise mit den Dresdner Sinfonikern und dem Hezarfen Ensemble. Das Konzerthausorchester Berlin spielt Werke von Lachenmann, Guézec und Ferneyhough. THEATERTREFFEN 3. bis 20. Mai Theaterproduktionen von Herbert Fritsch, Michael Thalheimer, Luk Perceval, Sebastian Hartmann, Johan Simons, Sebastian Baumgarten und Sebastian Nübling. Zwei Regisseurinnen, beide mit Produktionen am Schauspiel Köln, sind eingeladen: Karin Henkel mit Gerhart Hauptmanns Die Ratten und Katie Mitchell mit Reise durch die Nacht von Friederike Mayröcker. Für Disabled Theater arbeitet der Choreograf Jérôme Bel mit dem Theater Hora. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Theatertreffens lädt das Festival zu einer theaterhistorischen Zeitreise als Videobustour ein, und Sandra Hüller moderiert ein Geburtstagsfest. Sie wird für ihre Darstellung in Elfriede Jelineks Die Straße. Die Stadt. Der Überfall in der Regie von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Den Theaterpreis Berlin erhält Jürgen Holtz, den Alfred-Kerr-Darstellerpreis Julia Häusermann. FOREIGN AFFAIRS 27. Juni bis 14. Juli Anne Teresa De Keersmaeker und Boris Charmatz führen gemeinsam Partita 2 auf. Angélica Liddells Performance Yo no soy bonita ist eine Anklage der Gewalt gegen Frauen. Zu sehen ist Swamp Club von Philippe Quesne. Für Kinder ab vier Jahren bietet das White Bouncy Castle von William Forsythe eine riesige Hüpfburg in der Lokhalle Schöneberg. Aufführungen von Nueva Marinaleda von Ernesto Collado und Performerin Barbara van Hoestenberghe und dem Nature Theater of Oklahoma im HAU Hebbel am Ufer. Performance-Wochenende von Ellen Blumenstein und Matthias von Hartz zum Thema Wette, Spekulation, Gewinn und Verlust: Diskursveranstaltungen und Lectures (Elena Esposito, Nikolaus Gansterer, Saskia Sassen & Richard Sennett), Performances (Barbara Matijević & Giuseppe Chico, Forced Entertainment, Johannes Paul Raether) und Installationen von Santiago Sierra und Johannes Kreidler. Außerdem feiert

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Foreign Affairs die Wiederauferstehung des Clubs Horst Krzbrg im Haus der Berliner Festspiele mit elektronischer Musik von TJ Hertz a.k.a. Objekt, Will Bankhead, Last Magpie, Christeene und John Knight. Konzerte von Emika, Gravenhurst, Heatsick, Junge Sinfonie Berlin (Orchesterkaraoke). MUSIKFEST BERLIN 30. August bis 18. September Im Zentrum stehen die osteuropäischen Komponisten Witold Lutosławski, Béla Bartók, Leoš Janác̆ek sowie Benjamin Britten in Verbindung mit Dmitri Schostakowitsch u. a. Zwanzig Orchester, Chöre, Instrumentalensembles, 25 Solist*innen von Weltrang, Dirigenten wie Mariss Jansons, Sir Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen, Daniel Barenboim, Daniele Gatti, Manfred Honeck, Alan Gilbert. Zu Gast sind Ensembles und große Orchester wie Pittsburgh Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Philharmonia Orchestra London. Des Weiteren aus Berlin u. a. Berliner Philharmoniker, Deutsches SymphonieOrchester Berlin, Staatskapelle Berlin. Weltpremiere der rekonstruierten Fassung von Les Noces von Igor Strawinsky, mit live gespielter Pianola, aufgeführt vom RIAS Kammerchor und dem Ensemble Musikfabrik. Wie in den Jahren zuvor ist das Abschlusskonzert ein Benefizkonzert, in diesem Jahr zugunsten von Human Rights Watch, mit András Schiff und Hanno Müller-Brachmann. Weitere Solist*innen u. a. Yefim Bronfman, Anne-Sophie Mutter, Carolin Widmann. JAZZFEST BERLIN 31. Oktober bis 3. November Diverse junge und etablierte Jazz-Szenen: Gnawa Jazz Voodoo mit Pharoah Sanders und Joachim Kühn, außerdem Fred Wesley, Jack DeJohnette, Ernst-Ludwig Petrowsky, John Scofield sowie Monika Roscher Bigband, Michael Wollny & Tamar Halperin mit der hr-Bigband. Genreübergreifender FreeJazz, Jazz, Jazzrock, Klezmer, Hip-Hop, Experimentelles. Eröffnung mit Christian Scotts Stretch Music. Konzerte mit Big Circle von Michael Riessler, Drehorgel-Virtuose Pierre Charial sowie Transcendence von Jaimeo Brown mit JD Allen. Außerdem Gedichte mit Christian Brückner und Christian Weidner, Sons Of Kemet und das Michal Wróblewski Trio. Verleihung Deutscher Jazzpeis 2013 an Nils Wogram. WEITERE PROGRAMME „Kulturdiskussionen 2013/14“ stellt in vier internationalen Diskussionsveranstaltungen kulturelle Produktionsprozesse vor, u. a. Aspekte der Produzent*innenförderung, partizipative Kulturformate und Finanzierungsmodelle in den Beneluxländern, Finnland, Deutschland und Großbritannien. „Netzkultur 2013/14“ ist ein Veranstaltungsformat, das in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Aspekte unserer durch die Digitalisierung veränderte Lebenswirklichkeit diskutiert, kuratiert von Nikola Richter. Die neu gegründete Veranstaltungsreihe „Ein Tag mit …“ beginnt mit einer Hommage an die Schriftstellerin und Dramatikerin Sibylle Berg.

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CHRONIK 2012–2021

MARTIN-GROPIUS-BAU Fotoausstellungen mit Werken von Margaret Bourke-White, der Serie „Michael Schmidt. Lebensmittel“ und Arbeiten der Pressefotografin Barbara Klemm aus fünf Jahrzehnten. „Auf den Spuren der Irokesen“ stellt die vielfältige irokesische Kultur vor, von ihren Ursprüngen bis hin zu ihrer heutigen Form in Kanada und den Vereinigten Staaten. Anish Kapoor produziert eine große Einzelausstellung. Für die monumentale Installation „Symphony for a Beloved Sun“ im Lichthof transportieren Förderbänder große, rotgefärbte Wachsblöcke in die Höhe, aus der sie vor einer Art roten Sonne in die Tiefe stürzen und sich zu Wachsschollen auftürmen. Die „Meret Oppenheim Retrospektive“ präsentiert das gesamte Spektrum von Oppenheims Œuvre. 2013 wäre die Künstlerin 100 Jahre alt geworden. Die Ausstellung „Antes. Malerei 1958 – 2010“ präsentiert eine Werkschau des Malers Horst Antes. Das Bauhaus ist Thema in „Kosmos Farbe. Itten – Klee“. Die Sammlung Bayer zeigt die Gruppenausstellung „Von Beckmann bis Warhol. Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts“. EDITIONEN Mit Texten von Peter Kurzeck, Botho Strauß, Phil Collins sowie Kunstpositionen von Hans Könings, Yehudit Sasportas und Strawalde.

2014 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR AKTUELLE MUSIK 2. bis 23. März Zum ersten Mal steht Berlin als globalisierter Ort innovativer Musikausübung thematisch im Mittelpunkt. Im Programm die Ensembles Berlin PianoPercussion und Scenatet. Festivalhöhepunkt ist die Oper Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson mit der Choreografie von Lucinda Childs. Musiktheater von Enno Poppe und Marcel Beyer, Musicbanda Franui, Mela Meierhans, Michael Wertmüller. Klavierrecital von Fabian Müller. Das Ensemble KNM Berlin spielt Werke von Lévy, Filonenko und Filanovsky. Konzerte von Audrey Chen und Sven-Åke Johansson, Øyvind Torvund & Splitter Orchester zu Gast im Museum für Naturkunde. „Schule machen – QuerKlang“ ist ein Format, das experimentelles Komponieren in der Schule initiiert und fördert. Ausstellungen von Susan Philipsz im Hamburger Bahnhof, Milan Knížák bei Gelbe Musik, Klangskulpturen von Benoît Maubrey und Fotografien von Kai Bienert im Haus der Berliner Festspiele. In der Sonic Arts Lounge spielen u. a. Nicolas Collins, Alvin Lucier, Arnold Dreyblatt, The Orchestra of Excited Strings, Matthew Goodheart und The Necks. THEATERTREFFEN 2. bis 18. Mai Vier Münchner Produktionen sind eingeladen: Das Residenztheater München mit Zement von Heiner Müller in der Regie von Dimiter Gotscheff und Reise ans Ende der

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Nacht in der Regie von Frank Castorf. Die Münchner Kammerspiele sind mit Alain Platels tauberbach und Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt in der Regie von Susanne Kennedy vertreten. Mit dabei ist auch Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) mit Situation Rooms. Weitere Regiearbeiten von Robert Borgmann, Herbert Fritsch und Karin Henkel, Alvis Hermanis und das Projekt Die letzten Zeugen von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann vom Burgtheater Wien. Die Regisseurin Susanne Kennedy erhält den 3sat-Preis, Johan Simons den Theaterpreis Berlin. Der Alfred-Kerr-Darstellerpreis geht an Valery Tscheplanowa. FOREIGN AFFAIRS 26. Juni bis 13. Juli Pascal Rambert inszeniert am Thalia Theater Hamburg Ende einer Liebe, das Theaterkollektiv FC Bergman zeigt Van den vos und Julien Gosselin Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen. Yan Duyvendak & Roger Bernat führen Please, Continue (Hamlet) als Gerichtsverhandlung auf und laden das Publikum zur Abstimmung ein. Das Theatre Replacement und das Neworld Theatre aus Vancouver spielen Winners & Losers. Marta Górnicka arbeitet mit Chören für Magnificat und Requimaszyna, Uraufführung von Angélica Liddells Tandy. Konzerte von Heatsick, Baby Dee, Vindicatrix, Jaakko Eino Kalevi, Juana Molina, Sapphire Slows, Ben Watt. Performances von Phantom Ghost & Cosima von Bonin, Scott King, Jeremy Deller, Zachary Oberzan, Neon Neon & National Theatre Wales. Tom Krell performt als How To Dress Well mit Brendan Fernandes. Boris Charmatz verbindet Tanz und Historie mit seinem Musée de la Danse aus Rennes auf dem Gelände des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park mit der Arbeit 20 Dancers for the XX Century. Weitere Produktionen von Charmatz: Aatt enen tionon, Levée des conflits sowie die 2002 entstandene Installation héâtre-élévision. Die Hofesh Shechter Company führt Sun auf. The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii) zeigt die autobiografische Lecture-Performance We have never been here before, Chto Delat und Ekaterina Degot Art Empowering Politics. Das Symposium „How To Dance with Art – zur Interferenz von Zeitkünsten und Kunsträumen“ öffnet den Diskurs für neue Aufführungsformate wie Performancekunst und Live Art in Museen, mit Dorothea von Hantelmann, Jörn Schafaff, Christian Falsnaes, La Ribot, Catherine Wood, Katleen Van Langendonck, Boris Charmatz, Franz Anton Cramer, Barbara Gronau und Jan Dammel. MUSIKFEST BERLIN 2. bis 22. September Im zehnten Jahr seines Bestehens widmet sich das Festival den Komponisten Robert Schumann und Johannes Brahms sowie dem Horn, das Schumann als die „Seele des Orchesters“ bezeichnete. Zeitgenössische Musik von neun Komponist*innen, darunter Jörg Widmann, Péter Eötvös sowie Georg Friedrich Haas und Wolfgang Rihm. Zur Eröffnung präsentiert Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Gustavo Dudamel Werke von Brahms. Auch in diesem Jahr gastiert eine Reihe namhafter Gastensembles aus Amsterdam, Cleveland, London, Baden-Baden, Freiburg, Bamberg, Dresden, Köln, München und Leipzig. Dirigenten von Weltrang und Solist*innen, die zu den Bedeutendsten ihres Fachs gehören, u. a. Pierre-Laurent

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Aimard, Isabelle Faust, Nicolas Hodges, Patricia Kopatchinskaja, Gidon Kremer, Alexander Melnikov und die Hornist*innen Jörg Brückner, Stefan Dohr, Marie-Luise Neunecker, Sebastian Posch und Teunis van der Zwart. JAZZFEST BERLIN 30. Oktober bis 2. November 50. Jubiläum der 1964 von Martin Luther King eröffneten „Berliner Jazztage“, Auftragswerk Tribute: MLK Berlin 64 von Elliott Sharp. Es spielen die WDR Bigband und Kurt Elling (Freedom Songs) in der Gedächtniskirche mit Jasper van’t Hof an der Orgel. An Eric Dolphy erinnern Alexander von Schlippenbach und Aki Takase sowie Silke Eberhard mit ihrer Band Potsa Lotsa. Auftritte von Jason Moran, Hardbop-Saxofonist Benny Golson, Schlagzeugerin Eva Klesse, Sarah Buechi, Johanna Borchert sowie Francesco Bearzattis Tinissima 4tet mit dem Monk’n’Roll-Programm und die New Yorker Jazz-Rebellen Mostly Other People Do The Killing. Das Programm umfasst außerdem Die Engel – Vier Kurzopern von Jochen Berg und Ulrich Gumpert sowie Free Jazz und Freestyle Rap mit Soweto Kinch. WEITERE PROGRAMME „Ein Tag für … Martin Luther King, Jr.“ anlässlich des 50. Jahrestags seines Besuchs in Berlin sowie „Ein Tag für … David Bowie“, an dem dessen musikalisches Werk beleuchtet wird. MARTIN-GROPIUS-BAU „Evidence“ ist die bis dato größte Einzelausstellung des Künstlers, Architekten und Aktivisten Ai Weiwei. Seine kritische Konzeptkunst kommentiert in Berlin u. a. das Handeln der Staatsmacht China, während er in Peking unter Hausarrest steht. Zu der von Gereon Sievernich kuratierten Reihe „Archäologie der Moderne“ gehört die Ausstellung „Hans Richter – Begegnungen. Von Dada bis Heute“ über den vielseitigen Künstler, Filmemacher und Mitbegründer der Dada-Bewegung Hans Richter. Eine multimedial inszenierte Retrospektive dokumentiert David Bowies Schaffen. Die Fotoausstellung „Wols Photograph. Der gerettete Blick“ präsentiert Wols, den Wegbereiter des Informels, und eine weitere Ausstellung Walker Evans, einen Vertreter des „dokumentarischen Stils“. Zuvor stellt ein dokumentarisches Projekt die Farbfotografie um 1914 vor. Außerdem ist der 6. Europäische Monat der Fotografie zu Gast im MartinGropius-Bau. Im Zentrum der umfangreichen Ausstellung „Die Wikinger“ steht das größte bekannte Kriegsschiff der Wikinger mit einer Länge von 37 Metern. Dem großen Provokateur der italienischen Gesellschaft Pier Paolo Pasolini ist das Porträt „Pasolini Roma“ gewidmet. EDITIONEN Mit Texten von Georg Klein, Tobias Rüther, Michelangelo Antonioni und Patrick Ness sowie Kunstpositionen von David Lynch, Mark Lammert, Esther Friedman, Vuk D. Karadžić und Clemens Krauss.

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2015 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 20. bis 29. März MaerzMusik wird unter der künstlerischen Leitung von Berno Odo Polzer als „Festival für Zeitfragen“ neu konzipiert. Damit stehen Zeiterfahrungen in der Kunst und Zeit als gesellschaftspolitische Kategorie im Mittelpunkt des Festivals. Eröffnung mit „Liquid Room“, einem Konzertformat mit mehreren Bühnen zwischen Performance und Installation des Ictus Ensembles, mit Gastauftritten von ensemble mosaik, Bruce McClure, Eva Reiter und Cédric Dambrain. Das neue Diskursformat „Thinking Together“ eröffnet mit einer Konferenz zum Thema „The Politics of Time“ und bietet eine einwöchige Plattform zum interdisziplinären Austausch über das Politische von Zeit. Konzerte von Ensemble Unidas, Ensemble KNM Berlin, Zeena Parkins, Donatienne Michel-Dansac, Davíð Brynjar Franzson sowie Chaya Czernowin und dem JACK Quartet. Performative Lesungen des Projekts Time Has Fallen Asleep in the Afternoon Sunshine von Mette Edvardsen. In der Kuppelhalle des Liquidrom ist John Cages Diary zu erleben. Erstmalig endet das Festival mit dem von Berno Odo Polzer initiierten Format „The Long Now“ im Kraftwerk Berlin, einem 30-stündigen Projekt mit Konzerten, Performances, Klanginstallationen, Filmen und elektronischen Live-Acts, u. a. von Morton Feldman, Phill Niblock, Leif Inge, Burkhard von Harder, FM Einheit, Pierluigi Billone, Mika Vainio und Actress. Das Publikum übernachtet auf Feldbetten, umgeben von wechselnden Soundscapes, Bars und Lichtkunst. THEATERTREFFEN 1. bis 17. Mai Thom Luz ist mit Atlas der abgelegenen Inseln und dem Schauspiel Hannover eingeladen. Frank Castorf zeigt Baal, das am Residenztheater München entstanden ist und nach einem Streit mit den Erb*innen seine letzte Aufführung im Rahmen des Theatertreffens erlebt. Yael Ronen ist mit ihrer Inszenierung Common Ground und dem Maxim Gorki Theater Berlin vertreten, Christian Rüping mit Das Fest und dem Schauspiel Stuttgart. Dušan David Parízek ist mit seiner Inszenierung Die lächerliche Finsternis, entstanden am Wiener Burgtheater, eingeladen. Von dort stammt ebenfalls die unverheiratete in der Regie von Robert Borgmann. Nicolas Stemann präsentiert die Arbeit Die Schutzbefohlenen, die am Thalia Theater Hamburg entstanden sind. Karin Henkel zeigt John Gabriel Borkman vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Ivan Panteleev Warten auf Godot, das als Koproduktion zwischen den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Deutschen Theater Berlin entstanden ist. Susanne Kennedy ist mit Warum läuft Herr R. Amok und den Münchner Kammerspielen vertreten. Den Theaterpreis Berlin erhält Corinna Harfouch, den Alfred-Kerr-Darstellerpreis Gala Winter. Lina Beckmann wird mit dem 3sat-Preis für ihre Darstellung als Ella in Ibsens John Gabriel Borkman am Schauspielhaus Hamburg ausgezeichnet.

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FOREIGN AFFAIRS 25. Juni bis 5. Juli Tino Sehgal realisiert parallel zu seiner Ausstellung im Martin-Gropius-Bau This Progress im Haus der Berliner Festspiele. Tim Etchells und Forced Entertainment zeigen in 36 Aufführungen Complete Works: Table Top Shakespeare – pro Stück ein*e Performer*in, ein Tisch, 40 Minuten und ein Shakespeare-Drama. Außerdem sind Georgia Sagri mit my first science fiction book, Religion und Angélica Liddell / Atra Billis Teatro mit You Are my Destiny (lo stupro di Lucrezia) zu sehen. An elf Tagen performt das Duo Holzinger/Riebeek mit Gonzo. The Making-of zwischen Bühnenshow und Filmdreh. Die Needcompany präsentiert The Time between Two Mistakes. Konzerte von SSion, Sinkane, Estrellas de Carla, Filastine & Nova, Dillon, U.S. Girls. Performances: Miguel Gutierrez mit DEEP AEROBICS, die 24-stündige Tanzaufführung Mount Olympus von Troubleyn / Jan Fabre und die Hofesh Shechter Company mit barbarians. Das Symposium „Zeitverschwendung – Zeitstrukturen in Kunst und Gesellschaft“ bringt Hans-Thies Lehmann, Tim Etchells, Jörn Schafaff, Ragnar Kjartansson u. a. zusammen. Ragnar Kjartannson zeigt außerdem die Theaterproduktion The Fall und zusammen mit The National die Installation A Lot of Sorrow. MUSIKFEST BERLIN 2. bis 20. September Thematischer Schwerpunkt-Künstler ist der Komponist Carl Nielsen. Nach acht Jahren wieder zu Gast: Die San Francisco Symphony und das Boston Symphony Orchestra sowie erstmals das Israel Philharmonic Orchestra mit Zubin Mehta, das Swedish Radio Symphony Orchestra und das Danish Royal Orchestra. Musik von Arnold Schönberg bestimmt das Programm beim Eröffnungskonzert von Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin und den Abschluss mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Festivalhöhepunkte sind die Aufführung von Schönbergs Oratorium Die Jakobsleiter durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Ingo Metzmacher und mit mehr als 200 Mitwirkenden. Unter dem Titel Tehillim findet Steve Reichs gleichnamige Psalmenvertonung mit dem Ensemble Modern und den Synergy Vocals statt. JAZZFEST BERLIN 5. bis 8. November Konzerte von Julia Kadel, Splitter Orchester mit 24 Improvisationskünstler*innen, The Keith Tippett Octet, Lumen Drones, Giovanni Guidi, Tigran Hamasyan, Plaistow und The Necks in der Gedächtniskirche mit Chris Abrahams an der Orgel. Dylan Howe zollt mit Subterraneans David Bowie Tribut. Künstler*innengespräche und eine Abschlussveranstaltung zu Methoden transkultureller Komposition im Haus der Berliner Festspiele mit Diwan der Kontinente, Louis Moholo-Moholo Quartet und Ambrose Akinmusire Quartet mit Theo Bleckmann. WEITERE PROGRAMME „Ein Tag mit …“ Theaterregisseur Tankred Dorst sowie den Autoren Ian McEwan und Karl Ove Knausgård.

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MARTIN-GROPIUS-BAU Im ersten Obergeschoss zeigen die Berliner Festspiele im Rahmen des Musikfestes Berlin Susanne Kennedys begehbare Großinstallation „Orfeo – eine Sterbeübung“ nach Monteverdi mit dem Solistenensemble Kaleidoskop. Die Ausstellung „WChUTEMAS – Ein russisches Labor der Moderne“ zeigt Architekturentwürfe von 1920 bis 1930. Die Ausstellung „Russland und Deutschland. Von der Konfrontation zur Zusammenarbeit“ findet anlässlich des 70. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs statt. Aus Anlass des 50. Jahrestags der deutsch-israelischen Beziehungen vereint die Ausstellung „Jahrhundertzeichen“ Klassiker der Moderne mit Werken von zeitgenössischen Künstler*innen aus Israel. Erstmals stehen auch Kunstwerke aus Ozeanien im Zentrum der Ausstellung „Tanz der Ahnen. Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea“. „ZERO – Die internationale Kunstbewegung der 50er- und 60er-Jahre“ stellt fünfzig Jahre nach Gründung der ZERO-Bewegung mit vierzig Künstler*innen die Ideen des absoluten Neubeginns der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Neue Impulse für die Auseinandersetzung mit dem Werk des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder setzt „Fassbinder – JETZT“. Tino Sehgals Werkschau ist im Martin-Gropius-Bau und bei Foreign Affairs im Haus der Berliner Festspiele zu erleben. Die künstlerische Entwicklung des abstrakten Malers Mondrian stellt „Piet Mondrian. Die Linie“ vor. Die Sammlung Würth zeigt auf zwei Etagen die Ausstellung „Von Hockney bis Holbein“ mit Werken aus ihrem Bestand. Erneut ist Fotografie mit Werken von Germaine Krull und Liu Xia vertreten. EDITIONEN Mit Texten von Herta Müller, Tacita Dean, Angélica Liddell, Karl Ove Knausgård und Tankred Dorst sowie Kunstpositionen von Thomas Wågström und Jens Ullrich.

2016 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 11. bis 20. März Das Festival eröffnet mit Marino Formentis Projekt time to gather, einem mehrstündigen Klavierabend ohne festes Programm, bei dem der Augenblick und das Publikum entscheiden, was gespielt wird. „Thinking Together“ unter dem Titel „Time and the Digital Universe“ versammelt internationale Gäste wie Hartmut Rosa, George Dyson, Judy Wajcman, Luciana Parisi u. a. Performances von Annie Dorsen und Iamus thematisieren Künstliche Intelligenz und algorithmische Komposition. Zwei Projekte mit u. a. Bernhard Lang, Ian Bostridge und Sophie Rois sind Schuberts Winterreise gewidmet. Chiharu Shiota kreiert mit dem Zafraan Ensemble den musikalischen Ausstellungsraum alif::split in the wall. Die öffentliche Uraufführung von Max Richters achtstündigem Werk Sleep wird im Kraftwerk Berlin für ein schlafendes Publikum realisiert. Zum Abschluss des Festivals verbindet „The Long Now“ Aufführungen von Klassikern der musikalischen Avantgarde mit Ambient Music, Noise, Tanzperfor-

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mances, Klang- und Videoinstallationen zu einer 30-stündigen Zeitblase. Wie im Jahr zuvor wird „The Long Now“ in Zusammenarbeit zwischen Berno Odo Polzer, Laurens von Oswald und Harry Glass kuratiert. THEATERTREFFEN 6. bis 22. Mai Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg ist mit zwei Inszenierungen vertreten: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk sowie Schiff der Träume nach dem Film von Federico Fellini, inszeniert von Karin Beier. Aus Berlin sind das Deutsche Theater Berlin, das Maxim Gorki Theater und die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit Inszenierungen von Daniela Löffner, Yael Ronen und Herbert Fritsch dabei. Des Weiteren sind Stefan Pucher, Simon Stone, Anna-Sophie Mahler, Hans-Werner Kroesinger und Ersan Mondtag mit Inszenierungen aus Karlsruhe, Kassel, München, Wien und Zürich eingeladen. Erstmals sind fast genauso viele Regisseurinnen wie Regisseure beim Theatertreffen vertreten. Den Theaterpreis Berlin erhalten Shermin Langhoff und Jens Hillje, der Alfred-KerrDarstellerpreis wird Marcel Kohler verliehen. Herbert Fritsch erhält den 3sat-Preis für seine Inszenierung der die mann und sein Gesamtwerk. FOREIGN AFFAIRS 5. bis 17. Juli Neben der Ausstellung von William Kentridge im Martin-Gropius-Bau ist im Rahmen einer Nachtausstellung u. a. an der Fassade des Festspielhauses eine 45 Meter lange Filmprojektion des Künstlers zu sehen. Außerdem Werke von Mary Reid Kelley, Nelisiwe Xaba, Dries Verhoeven. Mit der Sängerin Joanna Dudley entwickelt William Kentridge ein neues Format der Museumsführung und adaptiert Schuberts Liedzyklus Winterreise. Zusammen mit Philip Miller realisiert William Kentridge das Ciné-Konzert Paper Music und mit der Handspring Puppet Company und Jane Taylor Ubu and the Truth Commission. Uraufführung From the Dark von Forced Entertainment mit Material aus Who Can Sing A Song To Unfrighten Me?. Nature Theater of Oklahoma realisieren mit Germany Year 2071 Re-enactments mit aktiver Publikumsbeteiligung, u. a. Evacuation in Pyjamas. Frank Van Laecke, Alain Platel und Steven Prengels zeigen En avant, marche!, Nástio Mosquito die immersive Arbeit Respectable Thief. Zvizdal ist eine Filmperformance der Gruppe BERLIN über Einsamkeit, Überleben, Armut, Hoffnung und die Liebe zweier alter Menschen in der Nähe von Tschernobyl im Jahr 1986. Jan Lauwers und die Needcompany setzen sich in The blind poet mit einem alternativen, multikulturellen Geschichtsbild auseinander, in dem Frauen Machtpositionen innehaben. Johannes Paul Raether zeigt die parawissenschaftliche Performance Protektoramae – Forking Horizon 5.5.5.1–3. Konzerte von Islam Chipsy & EEK, Mirel Wagner, The Brother Moves On, Vessels und Jarvis Cocker mit Junges Sinfonieorchester Berlin. Das Symposium „Landscapes of Uncertainty“ wirft mit Festival-Beteiligten einen Blick auf Zustände und Landschaften der Unsicherheit.

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MUSIKFEST BERLIN 2. bis 20. September Festivalschwerpunkt ist Amerika, u. a. mit Werken von John Adams und Edgard Varèse. Vertreten sind diverse Werke von Ferruccio Busoni, gespielt von dem Piano Duo GrauSchumacher, und Kompositionen von Wolfgang Rihm, dem ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist, sowie Arbeiten von Pierre Boulez und Frank Zappa. Zur Eröffnung spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Daniel Harding Wolfgang Rihms Tutuguri. Das John Wilson Orchestra gastiert erstmals in Deutschland mit „A Celebration of the MGM Film Musicals“, das authentisch rekonstruierte Musicalhits der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre spielt. Im Gesamtprogramm sind zwanzig Orchester, Instrumental- und Vokalensembles vertreten, u. a. Ensemble Musikfabrik, Ensemble Resonanz, Szymanowski Quartet, Ensemble intercontemporain. Außerdem spielen die Berliner Orchester der Philharmonie und der Deutschen Oper, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Konzerthausorchester Berlin, die Staatskapelle Berlin. Gastspiele des Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela, des Danish String Quartet, der Münchner Philharmoniker und des Bayerischen Staatsorchesters unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Frank Peter Zimmermann als Solist. JAZZFEST BERLIN 1. bis 6. November Das Julia Hülsmann Quartett spielt in Kooperation mit Anna-Lena Schnabel. Free Jazz mit Mette Henriette Martedatter Rølvåg und Wadada Leo Smith mit dem Great Lakes Quartet. Lyrisches mit Joshua Redman und Brad Mehldau. Es spielen das Globe Unity Orchestra sowie die Pianistin Myra Melford, die Trompeterin Yazz Ahmed, der Pianist Achim Kaufmann, Angelika Niescier, Nik Bärtsch, die hr-Bigband und Jack DeJohnette. Nordic Jazz mit der Band Oddarrang und in der Rubrik „DialogAbend“ drei Improvisationskonzerte mit Mary Halvorson, Ingrid Laubrock, Aki Takase und Charlotte Greve. Buch- und Filmpräsentationen und ein großes Finale mit den Musiker*innen Julia Holter, Steve Lehman und Eve Risser. IMMERSION Mit der Programmreihe Immersion beginnt erstmals ein mehrjähriges Themenformat in der Programmgeschichte der Berliner Festspiele, das alle ihre Kunstsparten verbindet. Immersion widmet sich neuen Werkformen und Weltbildern des digitalen Zeitalters und produziert dafür aufwendige Ausstellungen, raumbasierte Aufführungen, Narrative Spaces und Virtual-Reality-Arbeiten. Der Begriff „Immersion“ wird dabei in Diskursund Kunstformaten kritisch reflektiert und auch im Feld der Politik, der Zeitgeschichte und des Klimawandels untersucht. Mit RHIZOMAT inszeniert Mona el Gammal im ehemaligen Fernmeldeamt Ostberlins auf zwei Etagen eine dystopische Zukunftswelt, in der die Geschichte einer Revolution nicht mehr von Schauspieler*innen erzählt wird, sondern vom szenischen Raum und Objekten. In Symphony of a Missing Room führen Christer Lundahl & Martina Seitl das Publikum bei ihren Touren durch den MartinGropius-Bau tatsächlich in eine andere Welt – durch undurchsichtige Schneebrillen und drahtlose Kopfhörer der sichtbaren und begreifbaren „Realität“ enthoben. Omer Fasts

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Ausstellung „Reden ist nicht immer die Lösung“ untersucht im Martin-GropiusBau filmisch das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion in den Szenografien von drei realistisch inszenierten Warteräumen und mit zwei Black Boxes. Nähe und Distanz in immersiven Zeiten verhandelt das künstlerische Diskursformat „Schule der Distanz No. 1“ mit Vorträgen, Performances und Installationen von Ed Atkins, Oliver Grau, Christiane Heibach, David Helbich, Finn Johannsen / Alexis Le-Tan / Gwen Jamois, Annika Kahrs, Doris Kolesch, Shintaro Miyazaki, Mirjam Schaub, David Weber-Krebs, Stefanie Wenner und Studierenden der Universität Hildesheim mit Eike Wittrock u. a. WEITERE PROGRAMME „Ein Tag mit …“ den Autoren Arnon Grünberg und Frank Witzel sowie Theater(er)finder Andrzej Wirth. MARTIN-GROPIUS-BAU Herausragende zeitgenössische Einzelausstellungen präsentieren die Künstler*innen Isa Genzken mit „Mach dich hübsch!“ und William Kentridge mit „NO IT IS !“. Omer Fasts Videoinstallationen „Reden ist nicht immer die Lösung“ vermischen in der Reihe Immersion Fakt und Fiktion. Die objekthaften Motive in Thomas Struths Ausstellung „Nature and Politics“ sind Ansichten des Anthropozäns, ebenso wie die historischen Fotos der Fotojournalistin Lee Miller und die Schwarz-Weiß-Bilder von Berenice Abbott und Robert Doisneau. Mensch und Kosmos sind die Themen der Ausstellung „Die Maya – Sprache der Schönheit“. Die Ausstellung „Kunst der Vorzeit“ präsentiert prähistorische Kunst. Die Ausstellung „Störungszonen“ legt einen Schwerpunkt auf das zeichnerische Werk des Wiener Aktionisten Günter Brus. „Pina Bausch und das Tanztheater“ sowie ein Nachbau der „Lichtburg“, ihres legendären Proberaums, sind im Lichthof zu sehen. Vierzig Jahre nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann durch die DDR-Staatsführung wehte außerdem ein dissidentischer Wind durch den Martin-Gropius-Bau: das vielseitige Schaffen kritischer DDR-Künstler*innen beleuchtet die Ausstellung „Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976–1989“. EDITIONEN Mit Arbeiten von John Berger, Isa Genzken, Will Alexander, C.A. Conrad, Monika Rinck, Lisa Robertson, Arnon Grünberg, Anton Henning, Taiye Selasi und Matana Roberts.

2017 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 16. bis 26. März Unter dem Thema „Decolonizing Time“ präsentiert das Festival 50 Arbeiten von über 35 Komponist*innen, darunter zahlreiche Uraufführungen. Aufführungsorte sind neben dem Haus der Berliner Festspiele Radialsystem V, Akademie der Künste, Parochialkirche, SAVVY Contemporary, silent green Kulturquartier, daadgalerie und

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Kraftwerk Berlin. Julius Eastman steht im Zentrum des Eröffnungskonzerts; Catherine Christer Hennix ist ein siebentägiges Porträt gewidmet. Weitere Abende präsentieren Arbeiten von Eva Reiter, Jennifer Walshe, Donna Haraway, Myriam Van Imschoot, Walter Smetak, Gérard Grisey, Alvin Lucier, Georg Friedrich Haas, Liza Lim, Ana Maria Rodriguez, Arthur Kampela u. a. Ausstellungen in SAVVY Contemporary und der daadgalerie sind Julius Eastman bzw. Walter Smetak gewidmet. „The Long Now“ beendet das Festival mit Konzerten, Installationen und Live-Performances von Alvin Lucier, Graindelavoix, Zinc & Copper, William Basinski, Andrea Belfi & Francesco Donadello, Kara-Lis Coverdale, Leyland Kirby, Tim Hecker, Chris Watson, Keith Fullerton Whitman u. a. THEATERTREFFEN 6. Mai bis 21. Mai Es dominieren zeitgenössische Theatertexte: Die Regisseure Ersan Mondtag, Simon Stone, Kay Voges, Milo Rau, Herbert Fritsch und Thom Luz sind mit eigenen Theaterstücken eingeladen, die nicht auf Stoffen das Dramenkanons beruhen. Aus Anlass der Isa-Genzken-Ausstellung und ihrer Serie „Schauspieler“ setzt das Festival den Schwerpunkt „Skulptur, Performance, Schauspiel“, u. a. mit Susanne Kennedy. Forced Entertainment zeigt unter der Leitung von Tim Etchells Real Magic als Koproduktion zwischen englischen, deutschen und US-amerikanischen Theatern. Claudia Bauer präsentiert Peter Richters Roman 89/90 vom Schauspiel Leipzig, Johan Simons ist mit Theodor Storms Schimmelreiter, entstanden am Thalia Theater Hamburg, eingeladen. Ulrich Rasche zeigt Schillers Die Räuber, das am Residenztheater München entstanden ist. Herbert Fritsch ist mit Pfusch und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zum siebten Mal beim Theatertreffen dabei. Das neue Format „Shifting Perspectives“ ist ein hybrides Forschungs- und Erlebnislabor an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Gesellschaftspolitik. Der Stückemarkt präsentiert neben fünf Theaterstücken ein Filmprogramm und die Konferenz „The Art of Democracy“ zum Themenkomplex Meinungsfreiheit, Populismus und Kunstfreiheit. Milo Rau erhält den 3sat-Preis für Five Easy Pieces, das die Verbrechen des belgischen Kindermörders Marc Dutroux nachstellt, gespielt von Kindern zwischen acht und dreizehn Jahren. Der Theaterpreis Berlin wird Herbert Fritsch verliehen, der Alfred-Kerr-Darstellerpreis Michael Wächter. MUSIKFEST BERLIN 31. August bis 18. September Monteverdi bestimmt das Festivalprogramm: Gespielt wird ein Zyklus aus drei Opern. Des Weiteren Werke von Salvatore Sciarrino, Wolfgang Rihm, Harrison Birtwistle, Rebecca Saunders, Mark Andre, Isang Yun u. a. Insgesamt 27 Veranstaltungen mit über 80 Werken von rund 40 Komponist*innen. Neben den in Berlin ansässigen Orchestern und Chören, dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists gastieren zahlreiche Musiker*innen aus Berlin sowie Solist*innen, Ensembles und Orchester aus der ganzen Welt. Dabei sind u. a. Isabelle Faust, Ilya Gringolts, Gil Shaham, Leonidas Kavakos, das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam mit Daniele Gatti, der Chor und das Orchester von musicAeterna aus Perm mit Teodor Currentzis, das Ensemble Musikfabrik, das SWR Symphonieorchester und SWR Vokalensemble mit Peter Rundel

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und die Filarmonica della Scala aus Mailand unter Riccardo Chailly. Eröffnung mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim und der Achten Sinfonie von Anton Bruckner. Abschluss mit einem Konzert des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles mit Musik von Hector Berlioz und Richard Wagner. JAZZFEST BERLIN 31. Oktober bis 5. November Kreative Jazzexperimente und Hip-Hop-Jazz: Auftakt mit den Bands Heroes Are Gang Leaders und Shabaka and the Ancestors, Improvisationsmusik mit Konzeptkünstler Tyshawn Sorey und Orchester. Jazz-Kunstmusik mit südindischen Einflüssen, brasilianische Songs und norwegische Stimmen, Bigbands und Kammerorchester, „BerlinLondon-Conversations 3“ mit Silke Eberhard, Sarah Tandy, Daniel Casimir und Kay Lübke. Solokonzert von Michael Wollny. Gesprächskonzert mit René Urtreger, der an Miles Davis’ Filmmusik zu Louis Malles Fahrstuhl zum Schafott mitwirkte. Ambrose Akinmusire erinnert an die Blues-Sängerin Mattie Mae Thomas. Vibrafonist Orphy Robinson und Pianist Pat Thomas treffen auf Jean-Paul Bourelly und Frank Gratkowski. Ebenfalls zu Gast sind die Sängerin Mônica Vasconcelos und der Trompeter Till Brönner. Verleihung des Albert-Mangelsdorff-Preises an die Saxofonistin Angelika Niescier, Sonntagskonzert des Organisten Kit Downes und der Vokalgruppe Trondheim Voices in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Dr. Lonnie Smith ist im Festspielhaus zu Gast, ebenso wie Ingrid und Christine Jensen. John Beasley und sein MONK’estra spielen eine Hommage an Thelonious Monk. IMMERSION Ed Atkins zeigt neun neue Werke in seiner Ausstellung „Old Food“, die er selbst als „Kammerspiel“ bezeichnet. Seinen computergenerierten Arbeiten auf großen Monitorwänden stellt er 6000 Kostüme aus dem Fundus der Deutschen Oper Berlin gegenüber. Die Ausstellung wird später in Düsseldorf, Bregenz und Venedig gezeigt. „Limits of Knowing“ ist ein Ausstellungscluster, das andere Formen des Wissens und der Kommunikation erkundet. In Zusammenarbeit mit dem Laser Interferometer GravitationalWave Observatory (LIGO), dem California Institute of Technology (Caltech) und dem Institute for Quantum Information and Matter (IQIM) werden künstlerische Arbeiten gezeigt, die ein neues Zeitverständnis erfahrbar machen, wie es durch die erstmalige Messung von Gravitationswellen im Herbst 2015 entsteht. Neben Gesprächen mit Hartmut Grote, Isabel de Sena, Kay Meseberg, Kay Voges, Stefan Kaegi, Thomas Macho u. a. können in weiteren Ausstellungsmodulen die multisensorische Rauminstallation Haptic Field (v2.0) von Chris Salter + TeZ sowie die theatrale Installation Nachlass – Pièces sans personnes von Rimini Protokoll (Kaegi / Huber) erlebt werden. Auf dem Tempelhofer Feld präsentiert das Künstler*innenduo Lundahl & Seitl ihre Arbeit Unknown Cloud on Its Way to Berlin, die App und Performance zugleich ist. In einer Munitionsfabrik am Stadtrand bauen Vegard Vinge und Ida Müller über sechs Monate am Nationaltheater Reinickendorf, ein in allen Details bespielbares und aus bildnerischen Arbeiten gefertigtes Theatergebäude. Das hier an zehn Abenden aufgeführte Werk ist insgesamt 120 Stunden lang. Der Künstler Jonathan Meese führt zusammen mit dem Komponisten und Librettisten Bernhard Lang und unter der musikalischen

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Leitung von Simone Young die Parsifal-Adaption MONDPARSIFAL BETA 9–23 (VON EINEM, DER AUSZOG DEN „WAGNERIANERN DES GRAUENS“ DAS „GEILSTGRUSELN“ ZU ERZLEHREN…) im Festspielhaus auf. RHIZOMAT VR, die Adaption von Mona el Gammals Narrative Space als 360°-Film für VR-Brillen in Kooperation mit ARTE, feiert erfolgreich seine Weltpremiere auf dem SXSW-Festival in Austin, Texas. CIRCUS Die neue Programmreihe „Circus“, kuratiert von Josa Kölbel und Johannes Hilliger, präsentiert innovative Akteur*innen und Positionen des zeitgenössischen Circus, unter anderen mit Ania Buraczynska, Rafael de Paula und ihrer Compagnie du Chaos. Die Kompanie Ockham’s Razor zeigt mit Tipping Point eine Mischung aus Artistik, Bilder- und Körpertheater. WEITERE PROGRAMME In der ersten Ausgabe der Diskussionsreihe „Reden über Veränderung“ sprechen Ali Can, Sawsan Chebli, Naika Foroutan und Hans Ulrich Obrist über nationale Identität und das „Deutschsein“. MARTIN-GROPIUS-BAU Dem Universalkünstler und Visionär des 20. Jahrhunderts Friedrich Kiesler ist eine umfangreiche Ausstellung gewidmet. Fotoausstellung von Juergen Teller „Enjoy Your Life!“ sowie Regina Schmekens politisch brisante Reihe „Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU“. „Der Luthereffekt“ erkundet 500 Jahre Protestantismus, dessen Vielfalt und Wirkungsgeschichte, aber auch die Konfliktpotenziale in der Welt. Die anschließende Ausstellung „Juden, Christen und Muslime. Im Dialog der Wissenschaften 500 – 1500“ ermöglicht einen offenen Blick auf andere Weltreligionen, ihren Umgang mit Medizin, Mathematik, Astronomie und Astrologie und ihren Einfluss auf den Menschen. Als Wiederentdeckung werden der Künstler Wenzel Hablik und seine „Expressionistische Utopien“ gefeiert. Ein Schatz – nicht nur für Literaturwissenschaftler*innen – ist die Ausstellung „Franz Kafka. Der ganze Prozess“ mit dem vollständigen Originalmanuskript von Der Prozess. EDITIONEN Mit einem Gespräch zwischen Ed Atkins und Rebecca Saunders sowie Filmstills aus der Ausstellung „Old Food“.

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2018 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 16. bis 25. März Das Thema „Time Wars“ bildet den zeitbezogenen Fokus dieser Festivalausgabe, die insgesamt mehr als 145 Künstler*innen präsentiert, darunter die Ensembles Apartment House, S.E.M., zeitkratzer, PHØNIX16, Ensemble Resonanz und Soundwalk Collective. Julius Eastman ist in Zusammenarbeit mit SAVVY Contemporary ein groß angelegtes Konzert-, Diskurs- und Ausstellungsprojekt gewidmet. Terre Thaemlitz realisiert im Martin-Gropius-Bau unter anderem die Uraufführung einer 30-stündigen Live-Performance für Klavier. Weitere wichtige Komponist*innen und Künstler*innen des Festivals sind Ashley Fure, Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis, Marc Couroux und Georges Aperghis. „Thinking Together“ bildet die Plattform für die internationale „Time Wars“-Konferenz sowie für Listening Sessions, Seminare, Workshops, Gespräche und Filmpräsentationen. Das Festivalfinale findet im Kraftwerk Berlin mit „The Long Now“ statt, zu dessen Höhepunkten das „The Long Now Special“ von The Necks und „A“ Trio ebenso zählt wie die Aufführungen von Horat˛iu Rădulescu, Morton Feldman, Lucio Capece und Tomoko Sauvage. THEATERTREFFEN 4. bis 21. Mai Aus Berlin sind Frank Castorfs Faust-Inszenierung von der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz und Didier Eribons Rückkehr nach Reims in der Regie von Thomas Ostermeier von der Schaubühne Berlin zu Gast. Vegard Vinge und Ida Müller werden von der Kritiker*innen-Jury mit Nationaltheater Reinickendorf, einer Eigenproduktion der Reihe „Immersion“, eingeladen. Die Regisseur*innen Ulrich Rasche, Christopher Rüping, Karin Henkel und Anta Helena Recke sind mit Arbeiten vertreten, die am Schauspielhaus Zürich, am Theater Basel und an den Münchner Kammerspielen entstanden sind. Antú Romero Nunes zeigt eine eigene Fassung der Odyssee, die er am Thalia Theater Hamburg erarbeitet hat. Falk Richter ist mit Elfriede Jelineks Am Königsweg vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg eingeladen. In der Regie von Jan Bosse glänzt Joachim Meyerhoff mit Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken, das am Akademietheater des Wiener Burgtheaters entstanden ist. Erstmals findet das DiskursProgramm „TT Kontext“ statt, das die künstlerischen Programmsäulen des Theatertreffens seither diskursiv begleitet. Wiebke Puls erhält den 3sat-Preis für ihre Leistung in Bertolt Brechts Trommeln in der Nacht in der Regie von Christopher Rüping an den Münchner Kammerspielen. Den Theaterpreis Berlin erhält Karin Henkel, den AlfredKerr-Darstellerpreis Benny Claessens. MUSIKFEST BERLIN 31. August bis 18. September 27 Veranstaltungen mit über 65 Werken von rund 25 Komponist*innen, aufgeführt von 22 Instrumental- und Vokalensensembles und über 30 Solist*innen an sechs Orten

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in Berlin. Kompositionen u. a. von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann und Igor Strawinsky. Zu Gast sind u. a. das Rotterdam Philharmonic Orchestra mit Yannick Nézet-Séguin, das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam mit Daniele Gatti, die Münchner Philharmoniker mit Valery Gergiev und das Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Andris Nelsons, das mit den Chören des Gewandhauses die Dritte Sinfonie von Mahler aufführt. Die Berliner Orchester sind u. a. mit der Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim dabei. Das Festivalfinale bestreitet das Orchester der Lucerne Festival Academy mit Peter Eötvös und INORI – Anbetungen für zwei Tänzerinnen und großes Orchester von Karlheinz Stockhausen. Das Ensemble Modern Orchestra präsentiert passage/paysage von Mathias Spahlinger. Außerdem kommt die restaurierte Fassung des Stummfilms J’accuse von Abel Gance mit der Musik von Philippe Schoeller und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zur Aufführung. JAZZFEST BERLIN 1. bis 4. November Der Fokus liegt auf Europa und Chicago: „Grand Opening: Haus of Jazz“, 10 Acts, 5 Bühnen, 7 Stunden Programm im Festspielhaus mit Nicole Mitchell und dem Black Earth Ensemble, Rob Mazurek in einer städteübergreifenden Auftragsarbeit mit Berliner und Chicagoer Musiker*innen unter dem Titel „Exploding Star International: Chicago-Berlin“, die Performance FutureLeaks: Umschlagplatz der Visionen und das Berliner KIM Collective. Das Programm unter der neuen Leitung von Nadin Deventer reicht von freier Improvisation und experimentellem Noise bis hin zu Solo Piano, Modern Jazz und elektroakustischen Klängen. Die Spoken-Word-Künstlerin Moor Mother spielt mit ihrer Gruppe Irreversible Entanglements und trifft auf der Bühne des Festspielhauses erstmals auf Jazzpionier Roscoe Mitchell. Jazzpianist Jason Moran präsentiert das Auftragswerk James Reese Europe & the Absence of Ruin. Die WDR Big Band tritt mit der Sängerin Jazzmeia Horn auf. Zur Musik von Makaya McCraven und Nubya Garcia wird im Prince Charles getanzt. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erklingen Klangwelten von Maria Faust und Kara-Lis Coverdale, außerdem Auftritte von Jaimie Branch, Théo Ceccaldi, WorldService Project, Mary Halvorsons Oktett, Kim Myhr und Bill Frisell. IMMERSION Mit „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er-Jahren“ kreieren Thomas Oberender, Tino Seghal und Annika Kuhlmann ein neues Format zwischen Gruppenausstellung und Aufführungskunst im Gropius Bau, das über sieben Wochen einen klassischen Ausstellungsparcours mit Installationen, Performances und Workshops verbindet. Mit Arbeiten von u. a. Cyprien Gaillard, Dominique Gonzalez-Foerster, Larry Bell, Nonny de la Peña, Lucio Fontana, Jeppe Hein, Xavier Le Roy, Doug Wheeler sowie einer Geruchsorgel von Wolfgang Georgsdorf. „The New Infinity“ nutzt die Architektur der Entgrenzung von Planetarien sowie deren hoch entwickelte Soundund Projektionstechnik gezielt für künstlerische Arbeiten zeitgenössischer Künstler*innen und präsentiert in einem Mobile Dome auf dem Mariannenplatz FulldomeProduktionen von David OReilly, Holly Herndon & Mathew Dryhurst, Fatima Al Qadiri & Transforma und ein Konzert mit William Basinski, Evelina Domnitch &

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Dmitry Gelfand. Für seine erste große Einzelausstellung in Deutschland verwandelt Philippe Parreno das gesamte Untergeschoss des Gropius Baus in einen lebenden Organismus, der durch Licht, Klänge und Bilder in Bewegung versetzt wird. Hierbei geht es weniger um das einzelne Objekt als um das choreografierte Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten: Die Verknüpfung der einzelnen Impulse verwandelt die Ausstellung in ein zeitbasiertes Gesamtkunstwerk. Brigitte und Jonathan Meese: Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit) ist die erste Virtual-RealityProduktion von Jonathan Meese, die die Entstehung eines 360°-Kunstwerks für die Betrachter*innen erlebbar macht. Die Konferenz „INTO WORLDS. Das Handwerk der Entgrenzung“ verbindet Ausstellung, Medienkunst, Performances und Lectures an einem 120 Meter langen Tisch im Lichthof des Gropius Baus mit Richard Sennett, !Mediengruppe Bitnik, David OReilly, Isabel Lewis, Claus Pias, Andreas Reckwitz, Constance Balides, Andreas Wolfsteiner, Barbara Gronau, Norman Klein u. a. CIRCUS In ihrem zweiten Jahr präsentiert die Programmreihe „Die Originale“: Workshops, Circusproduktionen, Konzerte, eine Ausstellung und Talks. Mit Meret Becker, Suzan Boogaerdt & Bianca van der Schoot, Compagnie MPTA, Julia Wissert, Jean-Michel Guy, Rostislav Novák u. a. GROPIUS BAU Im Rahmen der Reihe „Immersion“ finden zeitgleich die Ausstellungen von Philippe Parreno und „Welt ohne Außen. Immersive Räume seit den 60er-Jahren“ statt. Parrenos Gesamtkunstwerk mit Installationen, Filmen und Musik wird zur „Ausstellung des Jahres“ gewählt. „Welt Ohne Außen“ realisiert ein zeitbasiertes Ausstellungsformat mit Klassikern immersiver Werke, deren Präsentationsrythmen von Tino Sehgal choreografiert werden. Immersive Klang- und Videoinstallationen ermöglicht „ISM Hexadome“, ein technisches Format und Instrument zur Verräumlichung akustischer und visueller Arbeiten, deren Uraufführungen (u. a. von Brian Eno) die Berliner Festspiele koproduzieren. Die erste Ausstellung im Programm der neuen Direktorin Stephanie Rosenthal ist dem grenzüberschreitenden filmischen Werk Ana Mendietas gewidmet: „Covered in Time and History“. Die Funde aus 60 Jahren Archäologie in Deutschland machen in der Ausstellung „Bewegte Zeiten“ Phänomene wie Migration, Integration und technischen und geistigen Wissenstransfer in der deutschen Geschichte greifbar. „Bestandsaufnahme Gurlitt. Ein Kunsthändler im Nationalsozialismus“ präsentiert rund 200 Kunstwerke aus dem Nachlass Gurlitts und spiegelt den aktuellen Forschungsstand. Mit „Lee Bul: Crash“ zeigt die neue Direktorin ihre erste selbst kuratierte Ausstellung im Gropius Bau. Gleichzeitig schafft sie im Haus ein Künstler*innenstudio und die Position eines*r Artist in Residence. Nach dem Umbau des Buchladens eröffnet auch eine neue Gastronomie unter der Leitung von Shani Leidermann. EDITIONEN Mit drei Reden zur Zukunft des Schauspiels von Milo Rau, Fabian Hinrichs und Benny Claessens sowie Bildern von Andro Wekua.

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2019 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 22. bis 31. März Die Festivalausgabe widmet sich Geschichte und Geschichtsschreibung aus zeitpolitischer Perspektive. Im Zentrum steht dabei das von Berno Odo Polzer kuratierte Archiv-Projekt „Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV 1950s – 1990s“, das in Form einer Medieninstallation über 250 Filme aus 40 Fernseharchiven und fünf Jahrzehnten präsentiert. Das Eröffnungskonzert kombiniert Frederic Rzewskis The People United Will Never Be Defeated mit Musik von Horat˛iu Rădulescu. Erinnerung als Akt der Verantwortung ist das Leitmotiv einer Uraufführung von Elaine Mitchener. Dem Festivalthema gewidmet sind auch Jennifer Walshes und Timothy Mortons Bühnenprojekt TIME TIME TIME, George E. Lewis’ A Recital for Terry Adkins und Catalina Insignares’ und Carolina Mendonças nächtliche Lesung useless land. Das Konzerthausorchester Berlin spielt Werke von Ashley Fure, Justé Janulyté und Olga Neuwirth. In SAVVY Contemporary wird „A Utopian Stage“, eine Ausstellung zum iranischen Festival of Arts, Shiraz-Persepolis (1967–1977) gezeigt. Die 30-stündige Komposition in Raum und Zeit „The Long Now“ spannt zum Festivalabschluss im Kraftwerk Berlin einen musikalischen Bogen von der Renaissance bis in die Gegenwart mit Konzerten und elektronischen Live Acts von Frederic Rzewski, Anne-Kathryn Olsen, Stine Janvin, Mazen Kerbaj, Tonaliens, Kassel Jaeger, Eli Keszler u. a. THEATERTREFFEN 3. bis 19. Mai Das Staatsschauspiel Dresden zeigt im Festival zwei Produktionen: Ulrich Rasches Inszenierung Das große Heft nach Ágota Kristóf und Sebastian Hartmanns Inszenierung von Dostojewskis Erniedrigte und Beleidigte. Ersan Mondtag führt Regie am Schauspiel Dortmund für Das Internat, Christopher Rüping ist mit seinem 10-stündigen Theatermarathon Dionysos Stadt eingeladen, der an den Münchner Kammerspielen entstanden ist. Thom Luz ist mit Girl From the Fog Machine Factory vertreten. Simon Stone präsentiert Hotel Strindberg, eine Koproduktion von Burgtheater Wien und Theater Basel. Von She She Pop ist Oratorium am HAU Hebbel am Ufer zu sehen, von Anna Bergmann Ingmar Bergmans Persona am Deutschen Theater Berlin. Claudia Bauer ist mit Peter Lichts Tartuffe oder das Schwein der Weisen frei nach Molière, entstanden am Theater Basel, dabei. Thorsten Lensing bringt David Foster Wallaces Unendlicher Spaß an den Sophiensælen Berlin u. a. auf die Bühne. Den Theaterpreis Berlin erhält erstmals ein Kollektiv: She She Pop. Johannes Nussbaum bekommt den Alfred-Kerr-Darstellerpreis, Ersan Mondtag den 3sat-Preis. Im April 2019 kündigt Yvonne Büdenhölzer eine Frauenquote von 50 Prozent in den Regiepositionen der 10er Auswahl des Festivals ab 2020 an.

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MUSIKFEST BERLIN 31. August bis 16. September Hector Berlioz steht im Zentrum des Musikfestes Berlin. Drei Londoner Orchester sind zu Gast: Beim ersten Berliner Gastspiel des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle werden Werke von Hans Abrahamsen und Olivier Messiaen gespielt, gesungen von Barbara Hannigan. Es gastieren das BBC Symphony Orchestra und Sakari Oramo mit Werken von Olga Neuwirth, Louis Andriessen und Jean Sibelius. Außerdem zu Gast: das Orchèstre Révolutionnaire et Romantique und der Monteverdi Choir unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit Berlioz’ Benvenuto Cellini und den Solist*innen Sophia Burgos, Maurizio Muraro, Adèle Charvet u. a. – einziges Gastspiel in Deutschland. Außerdem treten die Münchner Philharmoniker und Valery Gergiev auf, das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam und Tugan Sokhiev, die Junge Deutsche Philharmonie unter der Leitung von Jonathan Nott und Les Siècles mit François-Xavier Roth. Das Finale bestreitet Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra im Rahmen seiner Farewell-Tournee und Werken von Ödön Pártos, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Hector Berlioz. Liederabend mit Georg Nigl. Auftritte der Solist*innen Isabelle Faust, Tabea Zimmermann, PierreLaurent Aimard, Alexander Melnikov, ein Nō -Theaterabend und die Weltpremiere des restaurierten Stummfilms La Roue von Abel Gance mit der Musik von Arthur Honegger und Paul Fosse. JAZZFEST BERLIN 31. Oktober bis 3. November Anthony Braxtons Sonic Genome taucht mit 60 Musiker*innen aus den USA, Australien und Berlin den Gropius Bau zur Eröffnung sechs Stunden lang in avantgardistische Klänge. Weitere Auftritte Braxtons mit ZIM Music und im Diskursprogramm eines umfassenden Braxton-Schwerpunkts. Neue Formate beim Festival umfassen u. a. zwei Late Night Labs, „melting pot“, Klanginstallationen und multimediale Konzerte des KIM Collective. Julia Reidy führt ein Auftragswerk mit dem Australian Art Orchestra auf. Der Schlagzeuger Christian Lillinger und die Vokalistinnen Cansu Tanrıkulu und Leïla Martial treten auf, Melissa Aldana spielt im A-Trane und Angel Bat Dawid mit The Brothahood in der Kassenhalle des Festspielhauses. In der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche stellt Sinikka Langeland Sauna Cathedral vor. Außerdem zu Gast: Ambrose Akinmusire, James Brandon Lewis sowie The Young Mothers. Soloprojekte mit den Pianist*innen Brian Marsella, Elliot Galvin, Eve Risser und dem Gitarristen Miles Okazaki. Joachim Kühn spielt mit Michel Portal und der hr-Bigband. Anthony Braxton und Marc Ribot bilden den Schlusspunkt des Festivals. IMMERSION Anlässlich des 30. Jubiläums der Öffnung der Mauer taucht dreizehn Jahre nach seinem Verschwinden der „Palast der Republik“ im Westen der Stadt wieder auf: Hinter den bronzefarbenen Fassadenfenstern des Hauses der Berliner Festspiele entsteht ein „Palast der Gegenerzählungen“ mit einem dreitägigen Diskursprogramm, Performances, Musik und Film – mit Bernhard Schlink, Bénédicte Savoy, Yanis Varoufakis, Pan Daijing, Trajal Harrel u. a. Für die Aufführung des Stücks Uncanny Valley von Rimini Protokoll

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(Stefan Kaegi) und dem Autor Thomas Melle wird ein animatronisches Double des Schriftstellers erstellt – ein täuschend echter Roboter, der anstelle des Autors auf der Bühne steht und die Frage aufwirft, ob eine Maschine uns ähnlich berühren kann wie ein Mensch. Mariano Pensotti / Grupo Marea bauen für ihr Theaterstück Diamante ein Dorf in den leer geräumten Saal und auf die Bühne des Festspielhauses. Mit 246 Popsongs bringen die Berliner Festspiele das 24-stündige New Yorker Kultstück A 24-Decade History of Popular Music von Taylor Mac zur europäischen Erstaufführung: Die alternative Geschichte der US-amerikanischen Kultur aus der Perspektive queerer Künstler*innen wird in Berlin durch Künstler*innen der lokalen Szene erweitert. Mit neuen Arbeiten von Agnieszka Polska, Metahaven sowie Live-Konzerten von Richard Reed Parry, Dasha Rush und Robert Lippok & Lucas Gutierrez geht die Reihe „The New Infinity“ in ihr zweites Jahr. Es folgen Einladungen u. a. in Planetarien in Nashville und Los Angeles, außerdem erscheint der Forschungsband The New Infinity. Visuelle Kunst und Musik in Planetarien. WEITERE PROGRAMME In der Diskussionsreihe „Reden über Veränderung“ sprechen Roger de Weck, Ulrike Guérot, Johann König und Maryam Zaree über die Zukunft der internationalen Gemeinschaft sowie Michael Akinlaton, Fabian Hinrichs, Christoph Magnussen und Anna Ott über die Zukunft der Arbeit. In einer Geste der Solidarität mit der dortigen Demokratiebewegung zeigt „Sundays for Hong Kong“ bemerkenswerte Dokumentar- und Spielfilme von Filmemacher*innen aus Hongkong im Kinosaal des Gropius Baus. GROPIUS BAU Der Gropius Bau, einst Kunstgewerbemuseum und Lehrinstitution, ist Ausgangspunkt für „And Berlin Will Always Need You“ und das Konzept von Handwerk in der zeitgenössischen Kunstszene Berlins. Die Erweiterung des Frauenbildes beschäftigt Vaginal Davis in der Ausstellung „Ladies on Paper“. Die Fotoausstellung „The Black Image Corporation“ von Theaster Gates erforscht das weitreichende Erbe der Archive der Johnson Publishing Company – einem Verlag, der zur Gestaltung der ästhetischen und kulturellen Sprache afroamerikanischer Identität beigetragen hat. Bani Abidis Drucke sind Bestandteil der Ausstellung „They Died Laughing“. Im „Garten der irdischen Freuden“ interpretieren Künstler*innen das Motiv des Gartens als eine Metapher für den Zustand der Welt, um die komplexen Zusammenhänge unserer Gegenwart zu erforschen. „There is no nonviolent way to look at somebody“ ist der Titel einer Einzelausstellung von Wu Tsangs Filmen und Skulpturen. Zum 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer untersucht die zeitgenössische Ausstellung „Durch Mauern gehen“ auf Teilung oder Spaltung basierende Machtstrukturen und ihre Auswirkungen auf individueller und kollektiver Ebene. EDITIONEN Mit einem Gespräch zwischen Naika Foroutan, Thomas Oberender und Thomas Krüger. Veröffentlichung von Occupy History. Gespräche im Palast der Republik fünfzehn Jahre nach seinem Verschwinden.

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2020 Von Juni 2020 bis April 2022 wird das Haus der Berliner Festspiele wegen umfassender Sanierungsmaßnahmen nur eingeschränkt bespielt. Im ersten Jahr der COVID-19Pandemie wird die Online-Plattform „Berliner Festspiele on Demand“ gegründet. Sie bietet eine digitale Bühne für die Streamings des Theatertreffens, des Musikfestes Berlin und des Jazzfestes Berlin. Außerdem werden dort die Filmreihen „Sundays for Hong Kong“ und „Ten Days of Iranian Cinema“ präsentiert, die als Zeichen der Solidarität mit den dortigen Menschenrechtsaktivist*innen aufgelegt werden. Berliner Festspiele on Demand wird unter der Leitung von Claudia Nola kontinierlich ausgebaut. MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 20. bis 31. März Aufgrund des ersten Lockdowns muss die Festivalausgabe 2020 wenige Tage vor der Eröffnung abgesagt werden. Unter dem Titel „Of Time Immemorial“ ist das Festival dem Beginn der Zeit gewidmet. Zu den eingeladenen bzw. präsentierten Künstler*innen zählen Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, Ensemble Resonanz, Ensemble KNM Berlin, Les Percussions de Strasbourg, PHACE, PHØNIX16, Quatuor Bozzini, Junge Deutsche Philharmonie, Ensemble Modern, Halim El-Dabh, Mark Andre, Pierluigi Billone, François J. Bonnet, Sylvain Cambreling, Oliver Coates, Beatriz Ferreyra, Juliet Fraser, Philip Glass, Heiner Goebbels, Gérard Grisey, Carlos Gutiérrez Quiroga, Myriam Van Imschoot, Sofia Jernberg, Marisol Jimenez, Erwan Keravec, Komposter Kollektiv, Maestra Laura Lopez-Sanchez, Nina Lykke, Camila Marambio, Yara Mekawei, Cassandra Miller, Phill Niblock, Tujiko Noriko, Emeka Ogboh, Moritz von Oswald, Younghi Pagh-Paan, Bernard Parmegiani, Emilio Pomàrico, Éliane Radigue, Horat˛iu Rădulescu, C. K. Raju, James Tenney, Christina Vantzou, Rolando Vázquez, Sunette Viljoen und Iannis Xenakis. Die bereits angereisten Musiker*innen des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos aus Bolivien verbringen mit Teilen des Solistenensembles PHØNIX16 insgesamt 84 Tage in Quarantäne in der Musikakademie Rheinsberg. Am 1. Juni können die 25 Musiker*innen ihren Rückflug nach Bolivien antreten. THEATERTREFFEN 1. bis 9. Mai Aufgrund der Pandemie findet das Theatertreffen nach sehr kurzer Vorbereitungszeit online statt und setzt damit als erstes digital erlebbares Theaterfestival den Auftakt für die Verlagerung der Theaterarbeit in den digitalen Raum. Sechs der zehn ausgewählten Produktionen sind als Mitschnitte im Netz verfügbar. Die traditionelle Abschlussdiskussion der Jury wird digital übertragen, ebenso das Gespräch „Systemcheck – Nicht Corona ist die Krise“ mit Thomas Oberender und dem Kurator Ibou Coulibaly Diop. Gemäß der im Jahr zuvor angekündigten Frauenquote stammen mindestens die Hälfte der zehn ausgesuchten Inszenierungen von Regisseurinnen: Anne Lenk ist mit Der Menschenfeind vom Deutschen Theater Berlin eingeladen, Katie Mitchell mit Anatomie

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eines Suizids vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Claudia Bauer zeigt Süßer Vogel Jugend, das am Schauspiel Leipzig entstanden ist, und Anta Helena Recke Die Kränkungen der Menschheit von den Münchner Kammerspielen u. a. Florentina Holzinger ist mit Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts vom Tanzquartier Wien u. a. eingeladen. Toshiki Okada präsentiert The Vacuum Cleaner von den Münchner Kammerspielen, Alexander Giesche Der Mensch erscheint im Holozän. Ein Visual Poem nach Max Frisch vom Schauspielhaus Zürich. Antonio Latella ist mit Eine göttliche Komödie. Dante < > Pasolini vom Residenztheater München eingeladen, Johan Simons mit Hamlet vom Schauspielhaus Bochum. Rimini Protokoll ist mit Chinchilla Arschloch, waswas nach dem Konzept von Helgard Haug vertreten. Die internationalen Programme – das Internationale Forum und der Stückemarkt – müssen aufgrund der Pandemie entfallen. Den Theaterpreis Berlin erhält Sandra Hüller, den 3sat-Preis Alexander Giesche. MUSIKFEST BERLIN 25. August bis 23. September Viele Veranstaltungen und diskursive Formate finden nicht nur vor Ort, sondern auch online statt, darunter Mitschnitte ausgewählter Konzerte in Zusammenarbeit mit der Digital Concert Hall der Berliner Phiharmoniker. Außerdem „Musik im Gespräch“ mit Porträts von Igor Levit, Rebecca Saunders, Tamara Stefanovich, Vladimir Jurowski u. a. als digitales Format sowie Essays und Porträts im Berliner Festspiele Blog. Programmhighlights sind die 32 Klaviersonaten in acht Konzerten gespielt von Igor Levit. Daniel Barenboim interpretiert Mozart mit der Staatskapelle Berlin. Es spielen das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, die Berliner Philharmoniker, das Ensemble Modern, das Ensemble Musikfabrik, das Klangforum Wien und der RIAS Kammerchor Berlin. Zur 30. Ausgabe von „Jazz at Berlin Philharmonic“ kommen die drei Pianisten David Helbock, Iiro Rantala und Michael Wollny zusammen. Die Perkussionisten Christian Dierstein und Dirk Rothbrust spielen Rebecca Saunders’ Void II und Dust II. Uraufführung von Stabat mater von Wolfgang Rihm mit den Solist*innen Tabea Zimmermann und Jörg Widmann. Weitere Uraufführungen von Georges Aperghis, Milica Djordjević und Christian Jost. JAZZFEST BERLIN 5. bis 8. November Das Festival findet online in Form von Livestreamings auf verschiedenen Plattfomen statt: Jazzfest Berlin on Demand, ARTE Concert und auf der Website des New Yorker Veranstaltungsorts Roulette. Eine transatlantische Streaming-Standleitung zwischen dem Roulette als Außenspielstätte des Festivals in Brooklyn und der Betonhalle des silent green verbinden die Jazzszenen Berlins und New Yorks. Zwölf Bands aus den beiden Metropolen treten live in einen Dialog: Anna Webber, Tomas Fujiwara, Lakecia Benjamin, Craig Taborn, Tomeka Reid, Joel Ross und ihre aktuellen Formationen auf US-amerikanischer Seite und Lina Allemano’s Ohrenschmaus, MEOW!, Y-Otis, das Jim Black Trio sowie Silke Eberhard in einer XXL-Version von Potsa Lotsa und das Duo TRAINING mit John Dieterich und der Videokünstlerin Işıl Karataş aus Berlin. Auftragswerke entstehen für Jazzfest Berlin Outer Spaces in der Kuppelhalle des silent green mit Künstler*innen aus den Sub-Szenen Berlins und Londons, u. a. mit Joel

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Grip und dem Duo Witch ’n’ Monk sowie Alexander Hawkins und dem Künstler und Rapper Siska. In Kooperation mit der ARD und Deutschlandfunk Kultur sendet die Jazzfest Berlin Radio Edition Funkhauskonzerte aus sieben deutschen Städten. IMMERSION Über 200 Künstler*innen und Expert*innen des nachhaltigen Wandels im Alltag wirken mit an „Down to Earth“ – einem Ausstellungs- und Festivalprojekt, das den Klimawandel nicht nur inhaltlich repräsentiert und thematisiert, sondern das komplette Betriebssystem des Ausstellungshauses entsprechend umstellt: In den Ausstellungsräumen wird vier Wochen lang kein Strom verwendet, für das gesamte Programm wird auf Flugreisen verzichtet, die verbrauchten Ressourcen werden offengelegt und so nachhaltig wie möglich gestaltet – Algentinte ohne Rohöl, Website ohne Bilder, kein Streaming, recycelte Materialien. Titelstiftend ist das Buch Down to Earth von Bruno Latour, der mit seiner Pariser Akademie SPEAP genauso wie die Avtonomi Akadimia aus Athen Teil des Projekts ist. Neben Aufführungen und Konzerten unplugged werden Heilrituale und öffentliche Workshops u. a. zum Bau von Tiny Houses oder zu alternativer Medizin angeboten. Die Ausstellung im Erdgeschoss des Gropius Baus zeigt zentrale Werke von Agnes Denes, Andreas Gursky, Tomás Saraceno, Kirsten Pieroth, Kader Attia, Alicja Kwade, Joulia Strauss und Tino Sehgal, der auch wesentlich das Gesamtkonzept prägt. „The New Infinity“ ist erstmals im Zeiss-Großplanetarium zu Gast. Neben der neuen Spielstätte gibt es eine neue Programmlinie, die in Zusammenarbeit mit der Stiftung Planetarium Berlin klassische Avantgardefilme der „Visual Music“ für den Kuppelraum neu adaptiert – mit Thomas Wilfreds nordlichtartigen Farbsymphonien als Auftakt. Außerdem sind Arbeiten von Jan Kounen und Joanie Lemercier sowie die Weltpremiere von Caterina Barbieris und Ruben Spinis audiovisueller Show Aurora Wounds zu erleben. GROPIUS BAU Rituale des Schenkens und Beschenktwerdens sind Inhalt von Lee Mingweis künstlerischer Praxis und Teil der Ausstellung „Lee Mingwei: 禮 Li, Geschenke und Rituale“. „Six Songs, Swirling Gracefully in the Taut Air“ versammelt Arbeiten des Fotografen Akinbode Akinbiyi. Die 11. berlin biennale für zeitgenössische Kunst ist u. a. zu Gast im Gropius Bau. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur beschäftigt Otobong Nkanga in „There’s No Such Thing as Solid Ground“. Zheng Bo untersucht im Rahmen seiner Artist Residency im Gropius Bau die Politik der Pflanzen im engen Austausch mit Wissenschaftler*innen. Die Gruppenausstellung „Masculinities: Liberation through Photography“ zeigt, auf welche Weise Männlichkeit seit den 1960er-Jahren erlebt, performativ hergestellt und sozial konstruiert wird. Die Berliner Festspiele schaffen durch Sonderförderungen des Bundes erstmals eine eigene Abteilung für die Gewährleistung eines kontinuierlichen Vermittlungsprogramms. EDITIONEN Mit einem Gespräch zwischen Klaus Wolfram, Elske Rosenfeld und Jan Wenzel sowie Fotos und Arbeiten von Elske Rosenfeld.

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2021 MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN 19. bis 28. März Erstmals findet das Festival pandemiebedingt als rein digitale Ausgabe statt und experimentiert mit den Möglichkeiten der audiovisuellen Online-Repräsentation, indem es diverse Technologien und Formate zum Einsatz bringt, von Live-Video-Streams und Online-Meeting-Plattformen über binaurale Audio-Streams bis hin zu vorproduzierten Konzertfilmen und anderen Filmformaten. Zum Einsatz kommen 360°-Kamera- und 3D-Soundtechnologie ebenso wie reguläre Kameratechnik. Im mehrteiligen Eröffnungsprojekt Environment mit PHØNIX16 und dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos spiegeln sich die Erfahrungen der Quarantäne im Frühjahr 2020. Halim El-Dabh ist ein umfangreiches Projekt in Kooperation mit SAVVY Contemporary gewidmet. Bang on a Can präsentiert eine spezielle MaerzMusik-Edition ihres OnlineMarathons. „Afro-Modernism in Contemporary Music“ lautet der Titel eines von George Lewis kuratierten Konzertprojekts mit dem Ensemble Modern. Éliane Radigue ist u. a. eine neue Filmarbeit von Eléonore Huisse und François J. Bonnet gewidmet. . Das Diskursformat „Thinking Together“ steht im Zeichen der Idee vom „Ende der Zeit“ und beschäftigt sich mit Wissensformen und Praktiken jenseits des Bannkreises der Apokalyptik. An die Stelle von „The Long Now“ tritt als Festivalabschluss TIMEPIECE, eine 27-stündige, lebendige Zeitansage, live aufgeführt von über 100 Berliner*innen auf der Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele und musikalisch begleitet von über 50 Kompositionen aus aller Welt – ein künstlerisches Denkmal in Corona-Zeiten. THEATERTREFFEN 13. bis 24. Mai Das Festival wird rein digital durchgeführt, allerdings in einem interaktiven, virtuellen Setting, das in Zusammenarbeit mit der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund entwickelt wurde und als „Berliner Festspiele Digital“ zugänglich ist. Die angestrebte Frauenquote von mindestens 50 Prozent in den Regiepositionen der 10er Auswahl wird übertroffen: Eingeladen werden Anna Gmeyners Automatenbüffet in der Regie von Barbara Frey vom Wiener Burgtheater und Friedrich Schillers Maria Stuart in der Regie von Anne Lenk vom Deutschen Theater Berlin. Leonie Böhm zeigt Medea* vom Schauspielhaus Zürich, Karin Beier ihre Inszenierung von Rainald Goetz’ Reich des Todes vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg. An der feministischen Performance NAME HER. Eine Suche nach den Frauen + sind Marie Schleef, Anne Tismer, Jule Saworski, das Ballhaus Ost, das Kosmos Theater Wien und die Münchner Kammerspiele beteiligt. Idee und Konzept für das Tanzprojekt SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP haben Lucy Wilke und Paweł Duduś in München mit Musik von Kim Twiddle entwickelt. Gob Squads Show Me A Good Time ist eine Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer, Berlin u. a. Christopher Rüpings Einfach das Ende der Welt nach Jean-Luc Lagarce ist am Schauspielhaus Zürich entstanden. Stefan Bachmann inszeniert Graf Öderland in einer Koproduktion des Theaters Basel und des Residenztheaters

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München. Sebastian Hartmann zeigt Thomas Manns Der Zauberberg am Deutschen Theater Berlin. Zwei der eingeladenen Produktionen sind als Livestream-Premieren entstanden: Der Zauberberg und die 12-Stunden-Performance Show Me A Good Time. Erneut muss das Internationale Forum entfallen, die für das Jahr 2020 eingeladenen Arbeiten des Stückemarkts werden 2021 digital präsentiert. Sandra Hüller verbindet die Entgegennahme des Theaterpreises Berlin 2020 mit ihrer stummen Pausenszene aus Hamlet (Inszenierung: Johan Simons), um an die Situation der geschlossenen Theater zu erinnern. MUSIKFEST BERLIN 28. August bis 20. September In 34 Veranstaltungen mit über 100 Werken von rund 50 Komponist*innen wird in der Philharmonie Berlin, im Konzerthaus am Gendarmenmarkt und im Großen Sendesaal des rbb Musik aus fünf Jahrhunderten aufgeführt. Igor Strawinskys 50. Todestag wird zum Anlass, das Spätwerk dieses außergewöhnlichen Komponisten zu präsentieren. Auf dem Programm stehen außerdem Werke von George Benjamin, Rebecca Saunders, Wolfgang Rihm, Clara Iannotta, Ondr̆ej Adámek und Ann Cleare, sowie die Uraufführung von Olga Neuwirths Keyframes for a Hippogriff. Eröffnet wird das Festival mit der Uraufführung von Heiner Goebbels A House of Call. My Imaginary Notebook. Neben Berliner Orchestern und Solist*innen sind u. a. das Concertgebouworkest Amsterdam, die English Baroque Soloists, das Orchestre des Champs Élysées, das Collegium Vocale Gent, das London Symphony Orchestra und Les Siècles zu Gast. In dem Partizipationsprojekt Night Shift – The Rehearsal hebt Cathy Milliken die Trennung zwischen Bühne und Publikum auf. Johannes Kalitzke bringt mit seinen Beethoven-Variationen für Orchester Max Neufelds berühmten Stummfilm Hoffmanns Erzählungen von 1923 zu neuer Wirkung. Zu sehen ist als szenisches Konzert Liberté d’action von Heiner Goebbels, das während der Corona-Lockdowns entstand.. THE NEW INFINITY 17. bis 19. September Die 10. Berlin Art Week eröffnet im Zeiss-Großplanetarium mit einer Auswahl aus dem Programm des Full-Dome-Festivals „The New Infinity“, das 2017 aus der Programmreihe „Immersion“ hervorgegangen ist. Agnieszka Polska kuratiert ein Kinoprogramm und das Festival zeigt in der Kuppel u.a. die Soundskulptur SPIN von Lucas Gutierrez & Robert Lippok, Grey Interiors von Actress & Actual Objects, eine Arbeit von Emeka Ogboh sowie Visual Musik-Filme von John Whitney und Bill Ham. Produktionen von „The New Infinity“ wurden seit 2017 in Planetarien in 16 Ländern gezeigt. THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. KUNST IM ICC 7. bis 17. Oktober Die Berliner Festspiele organisieren ein Kunstprogramm im stillgelegten Internationalen Congress Centrum Berlin (ICC). Internationale und Berliner Kunstler*innen präsentieren Musik, Film, Artistik und Performance. Mit Arbeiten von Ed Atkins, Grace Ellen Barkey / Needcompany, Arthur Jafa, Ilya Khrzhanovsky, Lawrence, Darragh McLoughlin & Andrea Salustri, Chloé Moglia, Jörg Müller, Ayaka Nakama, Tino Sehgal, Markus Selg, Joulia Strauss u. a.

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JAZZFEST BERLIN 4. bis 7. November Nachdem das digitale Programm der ersten Pandemieausgabe Querverbindungen zwischen den Jazzmetropolen Berlin und New York nachzeichnete, folgt das Festival 2021 der improvisierten Musik auf ihren global verzweigten Pfaden nach Johannesburg, Kairo und São Paulo. Es entsteht ein Programm, das die Diversität, Weltoffenheit und Experimentierfreude der lokalen Szenen ebenso zur Geltung bringt wie ihr jeweils spezifisches Verhältnis zum globalen Jazzkanon und dem reichhaltigen musikalischen Erbe ihrer Region. Vertreter*innen der kreativen New Yorker Szene sind in diesem Jahr wieder live vor Ort Seite an Seite mit europäischen Musiker*innen zu erleben, und die „Jazzfest Berlin Radio Edition“ widmet sich in Kooperation mit den Rundfunkanstalten der ARD erneut der regionalen Vielfalt des Jazz in Deutschland. Mit Negro Leo & Ava Rocha, Mariá Portugal, Maurice Louca, Nancy Mounir, Madosini, Sibusile Xaba, Susan Alcorn, Sylvie Courvoisier, Nate Wooley, Pat Thomas, Vijay Iyer, Aki Takase u. a. WEITERE PROGRAMME Anlässlich des Jubiläums 70 Jahre Berliner Festspiele konzipieren die Berliner Festspiele mit dem Gropius Bau das fünftägige Programm „Wild Times, Planetary Motions“, an dem alle Festivals teilnehmen und Installationen, Konzerte und Durational Performances aus dem jeweiligen Festivalkosmos beisteuern sollten. Die Pandemie verhindert die Durchführung im März. Stattdessen entwickeln die Berliner Festspiele die Ausstellung im Gropius Bau „Everything Is Just for a While“, die neben einer Infowand mit der Geschichte der Berliner Festspiele drei Videoinstallationen von Thilo Fischer und David von der Stein umfasst, für die über 1000 Stunden Archivmaterial gesichtet und teilweise erstmals digitalisiert und restauriert werden. Die Filme zeigen künstlerische und diskursive Positionen aus 70 Jahren. Arne Vogelgesangs „This Is Not a Game“ läuft auf Berliner Festspiele on Demand. GROPIUS BAU 140-jähriges Jubiläum des 1881 als Kunstgewerbemuseum eröffneten Gebäudes. Zu sehen ist die Retrospektive von Yayoi Kusama „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“ unter Corona-Bedingungen und die Ausstellung „Hella Jongerius: Kosmos weben“. Wie Pflanzen Politik machen, beschäftigt Zheng Bo in seiner Ausstellung „Wanwu Council 萬物社“. Umfangreiche Werkschau von Thea Djordjadze, deren Arbeiten in einen Dialog mit dem geschichtsträchtigen Gebäude treten. „The Cool and the Cold“ stellt Malerei aus den USA und der UdSSR von 1960 bis 1990 vor, mit Beständen aus der Sammlung Ludwig. „Raum malen“ lädt Besucher*innen dazu ein, Malerei nicht nur visuell, sondern auch physisch zu erfahren. Die Retrospektive von Zanele Muholi zeigt das Leben der Schwarzen LGBTQIA+-Community Südafrikas in Fotografien seit den frühen 2000er-Jahren. EDITIONEN Nr. 30 und 31 mit dem Comic Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick von Robert Crumb und Angela Rosenbergs Recherche zu Gerhart von Westerman, dem ersten Intendanten der Berliner Festspiele, und seiner Rolle im Nationalsozialismus.

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Publikationen der Berliner Festspiele


Editionen Berliner Festspiele Die Publikationsreihe der Berliner Festspiele mit Texten von u. a. Hanns Zischler, Mark Danielewski, Mark Greif, David Foster Wallace sowie Kunstpositionen von Christiane Baumgartner, Botho Strauß, Philip K. Dick, Isa Genzken, Marcel van Eeden und Brigitte Waldach 2012–2021

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Fünfzig Theatertreffen 1964–2013 Berliner Festspiele 2013, Deutsch 978-3-943881-31-8

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How to Frame On the Threshold of Performing and Visual Arts Barbara Gronau, Matthias von Hartz, Carolin Hochleichter (Hrsg.) 2016, Englisch 978-3-95679-247-2

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Occupy History Gespräche im Palast der Republik dreizehn Jahre nach seinem Verschwinden Thomas Oberender, Gabi Dolff-Bonekämper, Bénédicte Savoy, Bernhard Schlink und Gabriele Stötzer 2019, Deutsch 978-3-960987-21-5

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DAU Freiheit Berlin Herausgegeben von Phenomen Berlin Filmproduktions Edition von 100 Exemplaren 2018, Deutsch & Englisch

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The New Infinity Visuelle Kunst und Musik in Planetarien Visual Art and Music in Planetariums Herausgegeben von Thomas Oberender Mit Beiträgen von Ulrike Bergermann, Michaela French, Metahaven, Thomas Oberender & David OReilly 2019, Deutsch & Englisch 978-3-96098-664-5

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Das Theater leben von Julian Beck Herausgegeben von Thomas Oberender Mit Beiträgen von Judith Malina, Thomas Oberender und Milo Rau 2021, Deutsch 978-3-95749-343-9

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Down To Earth Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit Herausgegeben von Thomas Oberender Mit Beiträgen u. a. von Bruno Latour, Tino Sehgal, Dorothea von Hantelmann, Andreas Weber und Joulia Strauss 2021, Deutsch 978-3-95905-509-3

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MITARBEITER*INNEN 2021

BERLINER FESTSPIELE Intendanz Intendant Dr. Thomas Oberender Referentin Stefanie Renatus Assistenz Farnaz Bernhard, Nicole Wiedinger / Diana Palm, Raffaela Phannavong Dramaturgie Jeroen Versteele (Leitung), Thilo Fischer Produktionsleitung Tilman Hatje, Hélène Philippot / Undine Klose, Kirsten Wandschneider Produktionsassistenz Maxi Klingbeil, Leo Wölfel Programmkoordination „The Sun Machine Is Coming Down” Teresa Minn Praktikum Sarah Stroebele, Lea Wolf

Presse Sara Franke, Anna Lina Hinz, Patricia Hofmann, Jana von Ohlen, Trang Vu Thuy Projektmanagerin Digitalprojekte Isabell Rauscher Redaktion Andrea Berger (Leitung), Dr. Barbara Barthelmes, Julian Dittrich, Simone Graf, Anne Philipps-Krug, Paul Rabe, Vanessa Schaefer, Lucien Strauch Studentische Mitarbeit Helena Bschaden, Dilan Çapan, Amadé Victor Hölzinger, Jannina Nagel, Isabel Rojas, Benedikt Schwank

Guest Accommodation Marc Völz (Leitung), Frauke Nissen, Jennifer Plucinski

Protokoll und Partnerschaften Jeruna Tiemann

Kommunikation

Logistik

Leitung Kommunikation Claudia Nola

I-Chin Liu (Leitung), Sven Altmann

Assistenz Kommunikation Nina Kraus Grafik Christine Berkenhoff, Nafi Mirzaii Internetredaktion Frank Giesker (Leitung), Anne Müller Labor für Digitale Künste Roman Senkl (Leitung) Marketing Gerlind Fichte, Jan Heberlein, Susanne Held, Michaela Mainberger, Anna Neubauer

Juliane Schüler (Bühnenmeisterin), Petra Dorn (Beleuchtungsmeisterin), Kathrin Kausche (Beleuchtungsmeisterin) Thomas Schmidt (Beleuchtungsmeister), Martin Trümper (Tonmeister), Arne Vierck (Tonmeister), Axel Kriegel (Tonmeister), Manuel Solms (Bühnentechnik/ Maschinist), Martin Zimmermann (Bühnentechnik/ Maschinist), Mirko Neugart (Bühnentechnik/Maschinist), Pierre-Joel Becker (Bühnentechnik), Karin Hornemann (Requisite), Friedrich Schmidt (Beleuchtung/Stellwerk) Sachiko Tajima-Zimmermann (Beleuchtung), Stefan Höhne (Ton-/Videotechnik), Tilo Lips (Ton-/Videotechnik), Jörn Gross (Ton-/Videotechnik), Jürgen Kramer (Ton-/Videotechnik)

Technik Matthias Schäfer (Leitung), Maria Kusche (Technische Produktionsleitung, stellvertretende Technische Leitung), Bettina Neugart (Organisationsassistenz Technische Leitung), Carsten Meyer (Abteilungsleitung Beleuchtung), Manfred Tiesler (Abteilungsleitung Ton/ Video), Lotte Grenz (Abteilungsleitung Bühne und Maschinerie), Birte Dördelmann (Technische Produktionsleitung), Andreas von Schroeter-Kiwitt (Technische Produktionsleitung), Dutsch Adams (Bühnenmeister),

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Gebäudemanagement Stefan Juksch-Novy (Leitung), Frank Choschzick, Ihno von Hasselt, Olaf Jüngling, Georg Mikulla, Sven Reinisch


MITARBEITER*INNEN 2021 BUNDESWETTBEWERBE

JAZZFEST BERLIN

THEATERTREFFEN

Leitung Susanne Chrudina (ab März 2021), Christina Schulz (bis Februar 2021)

Künstlerische Leitung Nadin Deventer

Leitung Yvonne Büdenhölzer

Organisation Astrid Rysavy (Leitung), Christopher Hupe (Dramaturgie und Produktion), Jana Klimmek (Studentische Mitarbeit), Leo Wölfel (Assistenz)

Referentin der Leitung Anneke Wiesner

Organisationsleitung Margarita Bönning-Ofori (Tanztreffen der Jugend, Treffen junge Musik-Szene), Renate Kligge (Theatertreffen der Jugend, Treffen junger Autor*innen), Linda Sepp (Elternzeit) Organisationsassistenz Bundeswettbewerbe Daniela Gromer Bewerbungs- und Communitymanagement Anna-Maria Eigel Technik Lotte Grenz (Leitung), Jürgen Kramer, Juliane Schüler Studentische Mitarbeit Johannes Ambrosius, Anja Herrmann, Amana Idler, Maxi Klingbeil, Mascha Luttmann, Acelya Salis, Marie Speckmann Konzeption Forum Programm Ina Driemel, Martina Kessel FJS Kultur Eva Travers, Ilayda Yalcinöz Digitale Produktionsleitung Theatertreffen der Jugend Anton Rose

MAERZMUSIK – FESTIVAL FÜR ZEITFRAGEN Künstlerische Leitung Berno Odo Polzer Organisationsleitung Ilse Müller Organisation Ina Steffan Produktion Helena Boysen Mitarbeit Produktion Anna Crespo Palomar, Juliane Spence

MUSIKFEST BERLIN Künstlerische Leitung Dr. Winrich Hopp Organisation Anke Buckentin (Leitung), Juliane Spence, Ina Steffan, Ivana-Elena Wirtz

THE NEW INFINITY IMMERSION Künstlerische Leitung Thomas Oberender Programmleitung Anja Predeick Produktionsleitung Albrecht Grüß

Konzept Thomas Oberender Programmleitung Sebastian Häger Projektleitung Kathrin Müller Projektassistenz Sara Smet

Administration, Controlling Marc Pohl Programmassistenz Irena Osadtsaja Studentische Mitarbeit Merve Cowling

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Dramaturgie Anna-Katharina Müller (Leitung Stückemarkt, Vertretung Maria Nübling), Maria Nübling (Leitung Stückemarkt), Necati Öziri (Leitung Internationales Forum), Daja Vogt (Assistentin Stückemarkt / Dramaturgie) Organisation Katharina Fritzsche (Leitung), Susanne Albrecht (Administration, Controlling), Lina Erlenmaier (Assistentin Organisation), Laura Hänel (Assistentin Administration), Petra Hettich (Festivalbüro), Gesine Försterling (Assistentin Internationales Forum), Undine Klose (Mitarbeit Organisation), Anna Mariscal Lahusen (Assistentin Internationales Forum, in Elternzeit), Marlene Hänig (Mitarbeit Organisation), Janina Prossek (Festivalbüro) Praktikant*innen Mascha Luttmann, Ozi Ozar, Sophie Wolf Studentische Mitarbeit Marie Speckmann Theatertreffen-Blog Janis El-Bira (Projektleitung), Anna-Maria Domeier (Assistentin), Viktor Nübel (Gestaltung und Umsetzung) Festivaldesign Eva Veronica Born, Anne Laure Jullian de la Fuente (Assistenz)


GROPIUS BAU Direktion Direktorin Dr. Stephanie Rosenthal

Volontariat Ausstellungen Anna Viehoff Studentische Mitarbeit Anuschka Florine Gooß

Referentin Organisation Dr. Kirsten Einfeldt

Kommunikation

Kuratorische Referentin Dr. Clara Meister

Leitung Kommunikation und Marketing Kim Teys Beavers

Direktionsassistenz Susanne Goetze

Kuratorisches Team Hauptkuratorin Julienne Lorz Assistenzkuratorin Clare Molloy Assistenzkuratorin Yayoi Kusama Greta Kühnast Kuratorische Redaktion Louisa Elderton Kuratorische Assistenz Katharina Küster Kuratorisches Volontariat Christina Scheib, Leonie Schmiese Assoziierte Kurator*innen Sam Bardaouil and Till Fellrath (Art Reoriented), Natasha Ginwala, Julia Grosse Rechercheassistenz Phuong Phan Studentische Mitarbeit Sarah Crowe

Ausstellungen Leitung Ausstellungen und Produktion Simone Schmaus Projektleitung Ausstellungen Filippa Carlini, Katharina Heise, Elena Montini, Lisa Tietze, Sophie Winckler (in Elternzeit) Assistenz Ausstellungen Maximilian Carlos Vietzke

Marketing und Veranstaltungen Ellen Clemens Marketing und Vermittlung Katrin Mundorf Digitale Kommunikation und Editorial Natalie Schütze Presse und Kommunikation Anne Wriedt Redaktionsassistentin Sonja Borstner Assistenz Digitale Kommunikation Eliza Levinson Volontariat Kommunikation Nele Daut Studentische Mitarbeit Nora Diepenbrock, Luis Kürschner, Lynh Nguyen

Vermittlung Kuratorinnen für Vermittlung Julia Moritz, Jenny Sréter Projektkoordination Vermittlung Diana Mammana Koordination Outreach Sophya Kallista Frohberg Volontariat Vermittlung Lennart Salek Nejad Projektassistenz Vermittlung Şehnaz Layıkel Studentische Mitarbeit Miriam Ewering Technik Leitung Technik Bert Schülke

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Stellvertretende Leitung Technik Dan Leopold Assistenz Technik Johanna Greinert, Liubov Oleksiienko Ausstellungstechnik André Merfort Veranstaltungstechnik Felix Paul Petzold, Thomas Wittmütz Elektrotechnik Michael Wolff Haustechnik André Klose, Thorsten Seehawer

Finanzen und Partnerschaften Leitung Eva Winkeler Finanzen und Vertrieb Carlos Rodríguez Artavia Vertrieb Peter Decker Drittmittel Wiebke Koch


MITARBEITER*INNEN 2021 ZENTRALE VERWALTUNG Kaufmännische Geschäftsführung Kaufmännische Geschäftsführerin Charlotte Sieben Referent der Geschäftsführung Axel Weber Assistenz der Geschäftsführung Beate Potter Justiziarin der KBB Ellen Wierer Interner Revisor und Datenschutzbeauftragter André Kochler

Finanz- und Rechnungswesen Tobias Stephan (Leitung), Andrea Schreiber (Stellvertretende Leitung), Anna Fuczka, Angelika Gerdes, Petra Hemprich, Regina Hundt, Irma Kretzschmar, Gisela Leifermann, Katy Moritz, Deniz Özsavas, Kerstin Primus, Christine Röhricht, Bibiana Weinke

Zentrales Vergabemanagement Dr. Albrecht Drügemöller (Leitung und stellvertretende kaufmännische Geschäftsführung), Oliver Engel, Daniel Wolff

Christoph Hügelmeyer (Technischer Direktor), Harald Weißmann (Assistent), Thomas Weidemann (Assistent)

Informationstechnik Michael Schubert (Leitung), Roman Schumann (Koordination IT-Support und Technik, Stellvertretende Leitung), Alexandra Kirchhoff (IT Verwaltungsleitung), Linda Kratky (Teamleitung IT Support & Systemadministration), Dana Duderstedt (IT Organisationsassistenz), Azamat Khasanov (Full Stack Entwickler), Michael Kickmunter (Software Engineer), Luis Olivares (IT Systemadministrator BFS), Tim Pfeiffer (IT Servicemanager ERP), Susanne Reichert (IT Projektmanagement), Ronny Ueberschär (Event-IT), Alexander Uhe (IT Systemadministrator KBB) Zentrales Ticket Office Ingo Franke (Leitung), Simone Erlein (Stellvertretende Leitung), Peter Decker, Frano Ivic, Uwe Krey, Karsten Neßler, Maren Roos, Sibylle Steffen, Torsten Sommer, Alexa Stümpke

Controlling Antje Kramer (Leitung), Christiane Berlin, Jana Daubitz, Claudia Kernbach, Andrea Schubert Zentrales Personalbüro Annette Ganschow (Leitung), Uluya Turhan, Jörg Becker, Stephanie Felber, Belinda Krause, Kathleen Kriebitzsch, Peggy Laschütza, László Lencsés, Bettina Maack, Stefan Martin, Patrick Kleinschmidt (Katharina Ramsch, in Elternzeit) Zentrale Technik

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Mit Bildern von Peter Adamik, Abbas Attar, Thomas Aurin, Jan Bauer, Jörg Baumann, Wonge Bergmann, Anja Beutler, Kai Bienert, Rodrik Biersteker, Camille Blake, Mark Blower, Chris Van der Burght, Evans Chan, Piero Chiussi, Matthias Creutziger, Arno Declair, Agnes Denes, Lars Kjær Dideriksen, Enric Duch, Detlef Eden, Laura Fiorio, Ali Ghandtschi, Luca Girardini, Dave Großmann, Jörg Gruber, Christopher Hewitt, Florentina Holzinger, Ilja Höpping, Basche/Hufner, Adam Janisch, Jirka Jansch, Monika Karczmarczyk, Christophe Raynaud de Lage, Lesley Leslie-Spinks, André Løyning, Ana Mendieta, Michael Nast, Gabriela Neeb, Bettina Oberender, Thomas Oberender, Olympia Orlova, Torben Otten, Sanne Peper, Eric Gregory Powell, René Päpke, Johannes Paul Raether, Andrea Rossetti, Michael Rudolph, Julian Röder, Kyohei Sakaguchi, Regina Schmeken, Michael Schmidt, Anke Schüttler, Denis Shibanov, Jürgen Sieckmeyer, Jens Ullrich, Mathias Völzke, Daniel Waldhecker, Eike Walkenhorst, Steffi Weismann, Ulli Weiss, Ruth Wolf-Rehfeldt, André Wunstorf.

Die Bühne scheint leer zu sein, aber am Rand gibt es Bewegung und Kichern. In den Flügeln rühren sich fremde Wesen, Menschen und Nichtmenschen, die sich langsam von links und rechts zur Bühnenmitte hinbewegen. Sie sprechen mit Stimmen und Gesichtern, die ihnen nicht gehören. Sie bewegen sich mit Körpern, die Tentakel, Fühler und Schwänze haben, sie krabbeln und schweben und werden manchmal per Fernbedienung bedient. Sie alle sprechen Sprachen, die wir noch lernen müssen. Susanne Kennedy, Exorzismus


ISBN 978-3-95749-398-9


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