Christian Grashof – Kam, sah und stolperte. Gespräche mit Hans-Dieter Schütt

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CH R I STIAN G RAS HOF

KAM, SAH UND STOLPE RTE Gespräche mit Hans-Dieter Schütt


Ein Spiel wie Schilf: Das Zarte ist das Zähe. So betreibt Christian Grashof seine Kunst. Als träfen sich in einer einzigen Seele Clown und Tragöde: das Geringe im Zerrkampf zwischen der unerwarteten Energie eines David und naheliegender Demütigung, zwischen listig-kecker Rebellion und gewieftem Strampeln. Grashof gehörte über vier Jahrzehnte zu den prägenden Darstellern des Deutschen Theaters Berlin. Er war gleichsam das Gesicht der aufsehenerregenden Ära des Regisseurs Alexander Lang, er brillierte in Aufführungen von Friedo Solter, Thomas Langhoff, später Dimiter Gotscheff und Jürgen Gosch. In Gesprächen mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt erzählt er sein Leben – vom Arbeiterkind im sächsischen Löbau zu einem Unverwechselbaren deutscher Schauspielkunst.


Christian Grashof: Kam, sah und stolperte –  Gespräche mit Hans-Dieter Schütt



Christian Grashof Kam, sah und stolperte Gespräche mit Hans-Dieter Schßtt


Impressum

Christian Grashof Kam, sah und stolperte Gespräche mit Hans-Dieter Schütt

© 2018 by Theater der Zeit

Wir danken dem Deutschen Theater Berlin für die freundliche Unterstützung dieser Publikation.

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Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer Layout und Gestaltung: Agnes Wartner, kepler Covergestaltung: Kerstin Bigalke Coverfoto: Arno Declair Druck: Multiprint GmbH Printed in the EU

ISBN 978-3-95749-162-6 (print) ISBN 978-3-95749-188-6 (ePUB) ISBN 978-3-95749-189-3 (ePDF)

S. 2: Zeichnung: Harald Kretzschmar


Inhalt

Seite 8

Lehrers Tränen und das „Turntheater“

Vor-Worte: Alexander Lang, Friedo Solter

Seite 19

Sinn des Sockels ist die Fallhöhe

Von Hans-Dieter Schütt

Seite 63

Ich nehm doch kein Gift! Was soll denn das!

Gespräch mit Christian Grashof

Seite 113

Die Unverschämtheit der Anspielungen

Stimmen: Klaus Völker, Thomas Martin, Steffi Kühnert

Seite 125 Nicht

das Boxen, sondern Shakespeares Balkon

Gespräch mit Christian Grashof

Seite 157 Und

der Abend dauert zehn Minuten länger

Stimmen: Jutta Wachowiak, Dagmar Manzel,

Michael Gwisdek, Frank Lehmann, Dieter Montag,

Christoph Hein, Horst Hiemer, Christine Schorn

Seite 169 Geht

Seite 215 Ein

überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Gespräch mit Christian Grashof

Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

Stimmen: Lutz Friedel, Gunnar Decker

Seite 225 Irgendwann

raus aus so einem Kreis

Gespräch mit Christian Grashof

Seite 275 Das

Heu hing raus, er war der alte Meister.

Stimmen: Volker Pfüller, Bernd Wilms,

Jürgen Flimm, Ulrich Khuon, Marcel Kohler

Seite 295 Meine

Mutter und die Kleeblätter

Gespräch mit Christian Grashof

Seite 317 Nachsatz

Von Hans-Dieter Schütt

Seite 320 Anhang

Rollenverzeichnis Bildnachweis

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Er singt noch. Jetzt im Herbst. Wie kommt es, dass seine Lieder fröhlicher geworden sind? Johannes Bobrowski, „Levins Mühle“

Ich war am anderen Ende der Brücke, die Kamera war aufgebaut, der Regisseur sagte, ich möge schnell, in einem Schwenk, die Brücke überqueren. Er sagte, gar nicht ironisch oder böse, sondern ganz lieb: „Du kannst mir doch mit Sicherheit sagen, warum du die Brücke überqueren sollst?“ Und ich sagte zu ihm: „Nein, ich überquere einfach die Brücke. Du schaust mir zu, und wenn ich hier bin, weiß ich’s, vielleicht.“ Orson Welles

Wang: Was willst du. Wir leben. Ah Q: Ich hatte noch so viel vor. Ich wollte … Wang: Wir sind noch nicht am Ende. Ah Q: Ich möchte Ihnen etwas sagen. Ein überwältigendes Gefühl mitteilen. Einen Satz, der alles sagt. Fast alles. Wang: Gib nicht auf. Christoph Hein, „Die wahre Geschichte des Ah Q“

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LEHRERS TRÄNEN UND DAS „TURNTHEATER“ VOR- WORTE: ALEXANDER LANG FRIEDO SOLTER

Ein Chamäleon wechselt die Perücke Dialektik nannte man das damals „Wir haben das Beste uns’rer Zeit gesehen“ Rinnstein und plebejischer Zug Ein Schrei in die verkommene Landschaft Goyas Hund, neulich im Traum

Alexander Lang, Christian Grashof in „Die Kipper“, Deutsches Theater 1973



Lehrers Tränen und das „Turntheater“

Alexander Lang Wir haben herzlichst darüber gelacht …

Es ist lange her, fast ein halbes Jahrhundert, als ich Christian Grashof auf meinen Schultern über die Bühne des Deutschen Theaters trug. Das Stück hieß „Die Kipper“ und war von Volker Braun. Es ist ebenso untergegangen wie das gesamte Zeitalter, in dem es damals spielte. Es war das Zeitalter zwischen einer verordneten Utopie und einer real existierenden Bürokratie. Dieses „Dazwischen“ war ein ganz einmaliges Spannungsfeld, und in diesem spielte Chris  –  in Georg Büchners „Dantons Tod“ – den Danton und den Robespierre gleichzeitig. Es war eine unerhörte Glanzleistung schauspielerischer Verwandlung – mit den einfachsten und zugleich subtilsten Ausdrucksmitteln. Chris schwebte wie eine filmische Überblendung von Figur zu Figur, beide gleichzeitig einander ähnlich und doch weit voneinander entfernt. Dabei unablässig auf der Spur, zwischen Lebensgier und Rationalismus hin und her jagend. Ein Chamäleon, das, seine Perücke wechselnd, sämtliche Revolutionstheorien in den Orkus stieß, in der Erkenntnis, dass der geringste Schmerz die Welt in Frage stellt. Nie hat solches ein anderer Schauspieler wiederholt oder wiederholen können. Revolution zu machen, ist eine Sache, diese hernach zu verwalten, ist eine ganz andere. Diesen inneren Widerspruch auf einer Bühne sichtbar zu machen, in einem System, das glaubte, seine Verwaltung sei bereits die Verwirklichung der Utopie  –  war schlichtweg subversiv. Chris war der subversivste Schauspieler, den ich erlebte, mit dem ich engstens zusammenarbeiten konnte und 10


Vor-Worte

durfte. Ein Tänzer über den Abgründen politischer Vorgaben und angestrebter Normierungen. Seine Grazie, seine scheinbare kindliche Naivität, die er mit höchster Kunstfertigkeit, punktgenau und mit intelligentester Raffinesse einsetzte  –  um sein Publikum zum Lachen als auch zum Nachdenken zu bringen über die Zustände im Lande. Das Tolle war: Die Zuschauer, verführt von diesem Bühnenzauber, konnten darin, da sie hellwach dem Spiel folgten, ihre ganz persönliche Situation aufschlüsseln und fühlten sich mit ihren gesellschaftlichen Nöten nicht allein gelassen. Manchmal genügte eine ungewohnte Wortbetonung in einem Satz, die die normale Satzaussage in ihr Gegenteil verwandelte und die Zuschauer jubeln ließ  –  weil sie unmittelbar erlebten, wie mit einem Wort die staatliche Deutungshoheit ausgehebelt wurde. Kaum konnten sie glauben, dass solches Geschehen auf einer staatlich bezahlten Bühne vonstattenging. Aber was hätte dieser Staat machen sollen? Hätte er ein Stück über die Französische Revolution, geschrieben von einem revolutionären deutschen Dichter, verbieten können? Ja, das hätte er gekonnt! Aber der Ansehensverlust wäre schlimmer gewesen, als eine betörende Aufführung zu erdulden. So wurde aus einer ganz bewusst eingesetzten theatralischen Ästhetik eine subversive Unterwanderung. Ästhetik als Widerstand, so lautete die Kurzformel. Die Bühne wurde zum Austragungsort des „Spiels“ zwischen Kunst und Macht. Die Mächtigen  –  Gefangene ihrer verkündeten Ideologie  –  mussten die Anwendung ebendieser Ideologie gegen sich selbst ertragen. Die verordnete Dialektik war halt ein zweischneidiges Schwert …

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Lehrers Tränen und das „Turntheater“

In dieser klammheimlichen Auseinandersetzung war die Kunst immer vom Absturz bedroht. Man wusste nie, ob, wann und wie die Macht zurückschlagen würde. Blöde war die Macht nicht. Sie hatte dazugelernt und nutzte auch uns als Aushängeschild ihrer Toleranz. Chris, um diese Zusammenhänge wissend, spiegelte mit seinem Spiel die Hintergründe gleich hintergründig mit. Die Folie des Büchner-Stückes wurde sein Trampolin für den Überschlag in die damalige Gegenwart. Wie liebte ihn sein Publikum für diese geradezu politische Artistik. Natürlich wusste Chris um die Subversivität eines Charlie Chaplin oder Buster Keaton. Wenn er in Ernst Tollers Stück „Der entfesselte Wotan“ in der Rolle des Wotan seine Blicke aus großen Augen „ehrlichverlogen“ über die Schulter warf, war das zum Lachen komisch, aber auch zum Gruseln traurig. Sprang er doch, spielend, auf seine ganz eigene Weise chaplinesk, mitten in unser kollektives Bewusstsein von der Bösartigkeit des kleinstbürgerlichen Terrorismus, der unsere Vergangenheit unauslöschbar geprägt hat. Die expressive, ja expressionistische Spielweise im „Wotan“ brachte uns an unserem Hause den Vorwurf eines „Marionetten- und Turntheaters“ ein – was durchaus politisch denunzierend gemeint war. Ein Schauspielerkollege mit stalinistischer Prägung glaubte mit diesem absurden Vorwurf sein neo-klassizistisches Bühnendasein verteidigen zu müssen. Vergeblich. Stalin und Stanislawski waren längst tot, und Bertolt Brecht galt uns als Beweis und Impuls für andere Arten von Theater. Chris eilte von Darstellung zu Darstellung. Schauspieler hießen auch Darsteller. Ein untergegangener Begriff. Etwas auf der Bühne „darzustellen“, war einmal selbstverständlich. Der Beruf heißt ja auch Schauspieler, also: 12


Vor-Worte

zur „Schau“ spielen, und das bedeutet viel Arbeit. Eine dichterische Figur zum Leben zu erwecken, sie glaubhaft darzustellen, ist ein handwerklicher Beruf, bei aller Berufung, die dazugehört. Sich selbst „ausstellen“ als „Selbstdarsteller“ und an der Rampe privatistisch entlangnuschelnd, in angeblicher Authentizität, das kann jeder Laiendarsteller. Wozu dann den Beruf eines Schauspielers erlernen? Chris hat diesen Beruf erlernt – und erarbeitete sich seine Figuren. Nicht verbissen oder sich einengend, sondern meistens heiter, sich öffnend, mit größter Hingabe, im wahrsten Sinne: „sich freispielend“, und er genoss diese erarbeitete Freiheit. Der Zuschauer bekam von ihm etwas zum Anschauen, zum Hinschauen, zum Staunen, zum Lachen, zum Bewundern, aber auch zum Ablehnen, wenn es denn jemandem nicht gefiel, wie er spielte. Unbeteiligt blieb niemand. Alles im Spiel ist erlaubt, nur nicht: zu langweilen! Permanente Spannung war angesagt. Meist arbeiteten wir an unspielbar geltenden oder verachteten Stücken des „klassischen“ Erbes. Da es laut offizieller Ideologie das klassische Erbe zu erhalten galt, konnte man auch unbekannt gewordene Dramen dieses Erbes neu entdecken. Wir waren sehr verblüfft über den Sprengstoff, der in diesen Stücken verborgen war. „Herzog Theodor von Gothland“ von Christian Dietrich Grabbe war ein solcher Sprengstoff. Kolossal, gewaltig und gewalttätig – und mit einer unglaublichen, wahnsinnigen Sprache. Ein einziger Aufschrei gegen das dumpfe Kleinbürgertum seiner Zeit. Kleinstbürgertum umgab auch uns, wieder oder immer noch. Also her mit dieser Grabbe’schen Sprachwaffe! Chris spielte diesen Herzog von Gothland, und wie er ihn spielte! 13


Lehrers Tränen und das „Turntheater“

Abgrundtieftragisch in seiner Machtverzweiflung. Immer auf dem Seil seiner Einsamkeit, wissend um die Absturzgefahr aus kalter Höhe. Die Krönung war, wie er ganz bewusst seinen Absturz herbeispielte. Dazu benötigte er keinen Tropfen Kunstblut, mit dem man sich heute eimerweise überschüttet. Chris’ „Blut“ auf der Bühne war Grabbes Text, den er so blutig sprach, dass sein Gothland dann, im Blutrausch, den Gegenspieler Berdoa erschlug. Aus dessen besiegtem Körper zog er, leibhaftig, die Gedärme heraus, mit dem konzentrierten Ernst eines traurigen Anatomen. Seufzend ob dieser Arbeit, wissend um seinen eigenen baldigen Tod. „Totentanz“ von August Strindberg wurde dann zu einer Art Endspiel dieser Theaterzeit. Wenige Jahre später verschwand das ganze Land, mitsamt seinem  –  für das Theater durchaus produktiven  –  Spannungsfeld. Chris spielte den Edgar, Kapitän der Festungsartillerie in Strindbergs „Dramödie“. Er spielte mit all seiner körperlichen Perfektion, seiner subtilen Sprachbehandlung – jedes Wort, jede Tonfärbung als Geschoss verwendend, dabei abrupt von wehleidigem Gejammer in den brutalsten Befehlston wechselnd. Mein Gott, wie er die Brüche spielte! Weiß heute noch jemand, was „Brüche“ sind? Chris konnte in diesen Edgar all seine Grazilität, seinen doppelbödigen Humor, seinen ganz eigenen Charme, sein hellwaches Wissen um die Dinge der Zeit, seinen hintergründigen Witz mit größtem Genuss einsetzen. Er brachte sein ganzes Können derart zum Schwingen, dass man glaubte, diesen Edgar abheben zu sehen von den Brettern der Bühne, wie ein Vogel, der einer Chimäre zwischen Geier und Kolibri glich.

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Vor-Worte

Die Bühne als Kunstraum behauptend, die Welt in diesem besonderen Raum interpretierend  –  mit Christians durchbohrendem Blick. Das war’s. Theater ist eine vergängliche Kunst, und bestenfalls bleiben Mythen  –  von außergewöhnlichen Theaterepochen. Wir hatten das Glück, in einer solchen gelebt, sie mit erschaffend, darin gearbeitet zu haben. Wir wussten damals überhaupt nicht, wie gut wir wirklich waren. Wenn wir uns heute treffen, lachen wir uns scheckig über den Wahnsinn der gegenwärtigen Zeit. All diese Scheiße haben wir längst und vorab auf der Bühne durchdekliniert. Und fühlen uns eins mit Shakespeare, der im „König Lear“ den Gloster sagen lässt: „Wir haben das Beste uns’rer Zeit gesehen …“ Chris und ich spielten einmal in einer Aufführung von „Lear“ die verfeindeten Brüder Edmund und Edgar. Chris spielte Glosters legitimen Sohn Edgar und ich den Bastard Edmund. Am Schluss des Stückes mussten wir in einem Zweikampf mit riesigen Schwertern, sogenannten „Beidhändern“, aufeinander einschlagen, bis zu meinem notwendigen Bühnentode. Das war sehr komisch, und wir haben herzlichst darüber gelacht. Juni 2018

Alexander Lang, 1941 geboren in Erfurt, war von 1969 bis 1986 Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Danach arbeitete er an den Münchner Kammerspielen, wurde Schauspieldirektor am Thalia Theater Hamburg, Oberspielleiter des Berliner Schiller Theaters und Co-Intendant der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin. Ab 1993 Regiearbeiten u. a. in Paris, wieder am DT, am Maxim Gorki Theater.

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Lehrers Tränen und das „Turntheater“

Friedo Solter Sperling, der in Pfützen badet

1. Sommer 1967 – Probe mit Christian Grashof, Schauspielschule Schöneweide. Monolog aus Rolf Schneiders Stück „Prozess Richard Waverly“–- der Bericht des Piloten über seinen Abwurf der Atombombe auf Hiroshima 1945. Weltpolitisches Umfeld besprochen. Erste Probe. Mich stört ein Wasserstau in meinen Augen. Der Dozent F. S. fragt sich, während er den Studenten Christian Grashof anhört und betrachtet: Was ist denn das? Mein Guru Brecht über Wirkung von Schauspielkunst: Nur keine Tränen! Der Dozent: Ja, ja – Chris, ich würde sagen, beginn noch mal und mach‘s ganz leicht. Doch wieder so ein „ feuchter Druck“ in der Augengegend, den Dozenten störend – das darf doch nicht sein (meint mein Guru Br.). Ergriffenheit, Erschütterung. Nur durch Verstehen oder auch durch emotionales Entdecken? 2. Lieber Chris, ein paar abendliche Gedanken, die immer Gefahren der Sentimentalität in sich bergen. Du weißt, wie ich die Besonderheiten und Eigenarten, Eigenwilligkeiten deiner Persönlichkeit schätze, und du weißt auch, welche Kraft dir abverlangt wird, dich zu benennen. Du bist du – keine Plattitüde, sondern Auftrag für dich und für die (zu denen ich mich zähle), die meinen: Da kommen „neue Töne“ in die Theaterlandschaft. In K-M-Stadt (ich meine in der Schauspielschule zuvor lag es ähnlich), „schriest“ du auf, will sagen: Da sagte einer – hier bin ich! Schön und wichtig, oder: Welch Realismus. 16


Vor-Worte

Weil immer deine Genesis mitschwang und heute noch mitschwingt. Verleugne sie nie! (In einer Probenphase hatte ich plötzlich Angst: Der will wohl einen sogenannten positiven Helden spielen, sich ohne Vergangenheit zeigen, Schönlingen Konkurrenz machen.) Deine Genesis ( so stellt sie sich mir dar): Das ist Rinnstein, nicht richtig genährt, zu wenig Liebe gehabt (im richtigen Moment); Sperling, der sich in der Pfütze badet und durchaus Fröhlichkeiten dabei hat. Deine Genesis, das ist: alles erworben, erarbeitet, und das ist radikale Forderung: Wir sind alle mit gleichen Rechten geboren, und keiner soll Vorrechte haben. Eine Forderung, von dir als Erscheinung formuliert, ohne dass du diese Forderung aussprichst. Du bist die Forderung (so etwas gibt es eben) – da du auftrittst. Rinnstein und der plebejische Zug, das ist jener Vorteil unseres Stammes, den du a priori mitbringst (ein Punkt, um den wir kämpfen müssen auch in späteren Rollen). Über deine Gefühlskraft, dein Pfund, müssen wir nicht reden, das ist dein Schrei in die verkommene Theaterlandschaft, dein Schrei gegen die Lüge. Du weißt aber auch: Ein Schrei muss gehört werden, soll er gesellschaftlich Wirkung hervorbringen und nicht in der Probebühne bleiben. Deshalb freue ich mich über einen groß wahrnehmbaren Schritt, den du gemacht hast. Ich benenne ihn: methodisches Gerüst, das zum prägnanten Spielpunkt führt, Rationalität in der Emotionalität, schauspielerische Ruhe zum Bruch und genauer Einsatz der jeweils neuen Haltung, kristallklares Vorführen von Verhaltensweisen. Du hast die Sache in der Hand. Eines Tages werden wir sagen, der spielt wie Grashof. Du weißt, Mittelmaß guckt sich immer was ab, kopiert. Es ist traurig, aber fürs Original auch ein Kompliment. (Brief, geschrieben nach der Premiere „Torquato Tasso“, Oktober 1975)

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Lehrers Tränen und das „Turntheater“

3. Philemon und Baucis (große Rolle, kleine Rolle). Ja, sie sind‘s, die alten Linden ... Zwei Paar Augen starren ins Publikum. Wie nur Blicke Vergangenheit und Zukunft – aus einem gemeinsam gelebten Leben – ins Publikum liefern können. Dach weg, Wohnung weg, Haus weg. Die Enteignung des Besitzes. Fröhliche Zukunft? Zwei Schauspieler, Gudrun Ritter und Chris Grashof, bringen das Publikum in Schrecken. Großes Ereignis macht Wirkung auf kleine Leute – die großen Schauspieler sind‘s. Kleine Rolle? Große Rolle. (Proben-Erinnerung an eine nicht stattgefundene Aufführung: „Faust II“, 1983)

4. Ach, da fällt mir noch ein, Chris: Neulich, vielleicht war’s im Traum, bat mich Francisco de Goya, zu ihm zu kommen, um mir ein Modell von seinem Hund („ein im Sand begrabener Hund“, im Prado hängt er) anzusehen. Der Hund, du kennst ihn ja, der nicht weiß, ob er aus dem Sandhaufen raus soll und immer wieder versucht, sich gegen den rutschenden Sand zu stemmen, irgendwie Halt zu kriegen – Luft, Luft, Luft –, und da sage ich: Goya, den kenn ich, das ist Chris Grashof, der kämpft mit seinem Hin und Her gegen das Hin und Her. Er kämpft mit seinem Talent gegen seine Einfälle für seine Einfälle. Das ist er. Er kämpft. Mai 2018 Friedo Solter, 1932 geboren in Reppen, war von 1959 bis 2001 Schauspieler und Regisseur am Deutschen Theater Berlin, von 1984 bis 1991 künstlerischer Leiter (Intendant: Dieter Mann). Er war Professor an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, wo er auch das Institut für Schauspielregie mitbegründete.

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SINN DES SOCKELS IST DIE FALLHÖHE VON HANS- DIETER SCHÜTT

Donald Duck aus Löbau Da war er endlich, der Eklat Ach, Kostja, ich wünsch dir Glück Das Licht begrüßt die Finsternis „Ich bin keine Marktfrau aus Mahlsdorf“ Der feine Gestus unterer Bezirke


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Als Loman in „Tod eines Handlungsreisenden“, Deutsches Theater 2003


Hans-Dieter Schütt

1. Die Hand auf dem Foto, sie ist der Verräter. Der Mann will sich in die Gelöstheit strecken, ins Triumphale. Frohe Botschaft, so strahlt der Kopf! Aber eben: diese rechte Hand. Ein unübersehbarer Ansatz: Sie ist alles andere als ein Triumph. Wahrheit krallt. Kleiner Mann, so groß? Nein, eine Täuschung. Wo sich der Mensch  –  obwohl er sich reckt  –  derart verkrampft, dort grinst ein Tod. Der des Gemüts oder der Nerven oder jener der Hoffnung. Es gibt viele kleine Tode, die in einem Körper Platz haben und sich heimtückisch Leben nennen. Diesen vielen kleinen Toden kann man entgehen. Aber es gibt ja noch den einen, den großen Tod … Christian Grashof spielt am Deutschen Theater Berlin den Willy Loman in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“, 2003. Ein unbesieglicher Stoff gleichsam für alle großen Schauspieler, in deren Aura das Prototypische des so genannten kleinen Rüh-Mannes lebt. Dieses knäbische Ungeschick und dieses traurige Talent, nicht wahrgenommen zu werden. Loman, in all seiner inneren Verwüstung, ist auch entsetzlich komisch. Der dauerreisende Vertreter, müde, abgeschlafft, erfolglos. Aber zunächst nicht müde genug, um nicht trotzdem weiter von seiner Bestimmung für diesen Scheißjob zu träumen. Nicht abgeschlafft genug, um nicht trotzdem weiter seine zwei Söhne mit Aufstiegsrezepten zu tyrannisieren. Nicht erfolglos genug, um sich nicht trotzdem weiter vor seiner eigenen Frau seelisch zu verbergen. Wo andere sich sehr selbstverständlich ins soziale Fitnessprogramm einloggen, muss der kleine Loman sich hineinlügen. Bis zum Selbstmord jagt er einer Ideologie des Heim-insReichsein nach. American Weh of Life. Loman steckt in quetschender Zimmer-Enge auf dunkler Bühne, wo aller Form nach zwar Familie stattfindet, aber jeder allein ist und auch er sich selber ein Fremdwesen bleibt. Ein Steg führt nach hinten. Anderes Ufer? Dazwischen Jordan, 21


Sinn des Sockels ist die Fallhöhe

Lethe? Fluchtweg jedenfalls, der nicht offen steht. Ausgang, der keiner ist. Auf der Bühne, als drohender Hintergrund und Begleitmenge für Grashofs Loman: ein Chor sehr junger Leute. Genormte Selbstbewusste, starr grinsende Totengesichter des Erfolgs, kopfzuckende Roboter der neoliberalen Wellness, hetzende Puppen der gängigen Power-Formeln, Krawatten-Klone des Individualismus. Regisseur Dimiter Gotscheff zeigt somit nicht nur das Getriebensein Lomans, er zeigt vor allem, dass dieser Typ Mensch als bedauernswertes Produkt der Gesellschaft stets auch deren verlässlich stabilisierender Faktor bleibt. Margit Bendokat als Linda Loman – sie und Grashof gleichsam als Letztverbliebene einer Schauspiel-Ära des Deutschen Theaters. Großartig, wie die Bendokat Einfalt spielt – Zeichen eines Schicksals, darin die Emanzipation nicht mal mehr seufzen darf. Die Hände auf dem Schoß, übereinandergelegt. Heben sie sich, in Erregung, so lösen sie sich doch nicht. Elende Geschaltetheit des Menschen: Alle Regung nur noch Apparaturreflex, der selbst tiefste Depressionen wegen des Selbstschutzes manieristisch werden lässt. Aufwühlend, wie die Bendokat dann plötzlich doch, aus einem letztglühenden Kern der Liebe heraus, ihren Mann gegen die hassenden Söhne verteidigt. Wie sich eine heiße Herzsprache auf Wegen zur Zunge in eine kalte Lava gegen die eigenen Jungen verwandelt  – und wie sie dann das Wort vom Vater, der doch, bitteschön!, auch ein Mensch sei, wahrhaft herunterdonnert. Hart: wie Grashofs Loman motorisch, verzweifelt unecht die Sorge seiner Frau weglacht; wie er  –  Achtung: Zärtlichkeit!  – seinen Kopf so kurz und so schnell auf die Schulter Lindas legt, dass er sofort glaubhaft widerrufen 22


Hans-Dieter Schütt

könnte, es je getan zu haben; wie er sich vor seinen Söhnen in die böse gebieterische Mannhaftigkeit strafft; wie er aufbricht, um bei seinem Chef endlich einen geruhsameren Posten zu erwirken – aber schon ein Kratzen der Knie beim Aufstehen verrät, dass er nichts, gar nichts wagen würde. Der Schauspieler als plusternd trotziges Männlein, von dem man später nur noch den zu großen Hut und das dünne Hälschen bemerken wird. Die LomanSeele floh längst. Und dann jener berühmte schnelle Grashof-Gang, die Arme nach hinten, den Kopf nach vorn gereckt. Der Panto-Mime. Ein Mann will durch die Wand. Ach, auch das eine Luftnummer. Die Wand steht. Das Letzte ist der leise Traum vom Gemüsebeet. Dann ein Donnerschlag. Dunkel. Diese Welt da: endlich ausgelöscht. Ausgelöscht freilich nur im Spiel. 2. Ein Jahr zuvor am Deutschen Theater, 2002: „Doktor Caligari“. Filmische Ikone des Expressionismus. Waghalsige Verzerrung aller irdischen Form. Rechtwinkliges schief, Rundliches spitz. Und inmitten des Schrägen, Geknickten: jene dämonische Geschichte von Caligari und seinem Somnambulen Cesare  –  einer Jahrmarkts-Attraktion, die Zukunft weissagt und nachts das Messer zieht. Dies alles auf Geheiß des Schaustellers  –  der Direktor einer Irrenanstalt ist. Und am Ende weiß niemand, was an der Geschichte grausame Wahrheit, was nur irre Fantasie eines Insassen war … Es inszenierte Robert Wilson, texanischer Schausteller. Tiefe, das ist bei diesem Spiel-Architekten das Dekorative. Das Dunkel der Psyche, das taucht er in Licht, grün, blau, gelb, rot – alle Schattierungen, alle Schönheiten. Ein Spektral-Fetischist. Seine Bühnen-Bilder: Stoffbahnen öffnen, schließen sich, so kommt es zu den wesentlichen Zuspitzungen auf der Szene. Pfeile, Vierecke, Dreiecke wechseln, die Aussparungen tanzen geradezu Ballett 23


Sinn des Sockels ist die Fallhöhe

nach Regie der Beleuchtung. Die Schauspieler? Wortlosigkeiten, mit einem unsichtbaren Schlüssel im Kreuz aufgezogen. Stummfilmtheater, als wolle Wilson gegen die Allgewalt der feurigen Zeitgeist-Zungen anspielen. Und zwar in Zeitlupe  –  zur Live-Musik von Michael Galasso im Orchestergraben. Die mal plärrt, mal sehr hübsch schlagert. Ufa-Stil, der „Cabaret“ werden will. Regelmäßig Donnergrollen zur abrupten Bewegung der Figuren; Raunen aus dem Off: „Cesare!!!“ Das Personal erscheint, als arbeite eine Zauberhand. Christian Grashofs Caligari in einem Lichtviereck rechts, weit oben. Die Augen gleichsam größer als der gesamte Kopf. Beklemmend. So führt Wilson in die Erzählung ein. Dann friert er sie ein. Nach jeder Szenenmalerei ein Black. Kindertheater auf teurem Niveau. Das von der Kälte des Weltalls in uns erzählt. Ekstasen einer Bindungslosigkeit, bei der eine Schattenwesen-Welt wie an unsichtbaren Drahtseilen hopst, tänzelt, stolpert. Den Schwerpunkt setzt eine Kraft von draußen, von oben, von fern. „Die Befreiung der Toten findet in Zeitlupe statt“, schrieb Heiner Müller über Wilson. Und Wilson sagt über Grashof: „Er ist Erfüllung meiner Phantasie vom Schauspieler: wunderbarstes Element eines Traums zu sein, der darum bittet, nicht gedeutet zu werden.“ Es gibt in dieser Inszenierung eine merkwürdige Beziehung zwischen der Sterilität der Abläufe und einer plötzlicher Verausgabung in einem lautlosen Schrei, einem Augenaufreißen, einer Handdrehung. Wilson zelebriert die Preisgabe alles Organischen, und damit gibt er einzelnen Theaterelementen, einzelnen Körperteilen ihre Würde zurück, die sie im Naturalismus verloren. SchnitterAkribie, die auf der Bühne einem gestreckten Bein die gleiche Bedeutung zumisst wie einer beleuchteten Schläfe.

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Hans-Dieter Schütt

Inzwischen ist der Texaner längst auch zum Somnambulen seiner eigenen Laufstege und Schein-Werfereien geworden. Den Schauspielern des Deutschen Theaters immerhin ist in dieser Aufführung anzumerken, dass sie weitgehend unbelastet sind von Wilson-Permanenz. Hier wirkt wohl noch der Umstand, dass die Arbeit des USAmerikaners, ein einziges Mal genossen, eine wie immer geartete Bereicherung darstellt. Vielleicht ist es ja trotz aller Einwände nach wie vor ein Ereignis, in unserer Welt der Wohltemperiertheiten einem Menschen mit konturenstarker Manie zu begegnen. So lebt die „Caligari“Inszenierung mitunter durch Unsicherheiten, die die Glätte behindern. Bernd Stempel, Regine Zimmermann: Es kostet Mühe, nicht plötzlich lebendig zu werden. Grashof gelingt es, aus dem Panzer der Stummheit, eines schweren Mantels und einer weißen Maske heraus mit Augen, Mund und Händen Bedrohung zu senden, Verbrechensgier zu offenbaren, Bosheitskräfte auszustrahlen. Es ist, als leuchteten gestisch-clowneske Assoziationen aus der frühen starken Zeit des Regisseurs Alexander Lang herüber. Und in diesem Caligari des gebogenen Körpers lauert jene gespenstische Macht der Manipulation, die den Stummfilm einst, im Hinblick auf die faschistische Massen-Hypnose, als ein Werk der Vorahnung adelte. Einmal, da Grashof ein Podest besteigt, in nahezu lasziver Verzückung, wird ein Rauschen hörbar: heillos undefinierbar und doch heilvoll klingend. Als wüchse einem Dr. Goebbels ein Sportpalast zu; ach, eine Sekunde nur, die einen bösen Gedanken herbeizurufen wagt. Grashof setzt in die Zeichen-Formen-Farben-Kunstwelt des Robert Wilson etwas, das dort so schwer hineinzusenken ist: ein Herz – das man warm fühlt, auch wenn es ein kaltes bleibt.

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Loman, Caligari: zwei Rollen aus der schauspielerischen Spätzeit des Christian Grashof. Spricht man vom Deutschen Theater Berlin, so gehört dieser Schauspieler zu jenen, die ein Geschichtsmaß vorgeben. Ein Gewordener, der inzwischen ein starkes, beeindruckendes Geltungskonto vorweisen kann. Aber freilich: Der Wesenskern von Theater, die Flüchtigkeit, sorgt gnadenlos dafür, dass erbrachte Leistungen den jeweils Nachkommenden kaum noch präsent sind. Daher unbedingt dieses Buch: Erinnerung, Beschreibungsversuche. Von Vergangenheit, die noch einmal in Gegenwart übergehen möge. Gedächtnis als schönste Rücklagenbildung  –  für ärmere Zeiten, die immer sind. Christian Grashof steht für eine Epoche, steht für Erfahrung, darin die Behauptungskraft der Jahresringe ruht, aber auch rumort. Kraft, die Geschichten erzählt. Vom 1943 geborenen Arbeiterkind aus Löbau, vom DDR-Theater. Von Jugend, die aus Karl-Marx-Stadt, jenem Talentetheater Gerhard Meyers, herandrängte an den Olymp DT, wo zunächst das quälende Warten auf hohem Niveau bestanden werden musste. In Karl-Marx-Stadt hatte er Rainer Kerndls „Alois Fingerlein“ gespielt, wurde gleichsam hineingeworfen in Schatrow, Gorki, Horváth, Kleist, Schiller, Shakespeare. Arbeitete bei den Regisseuren Wolfram Krempel, Alexander Stillmark, Klaus Erforth. „Der macht seinen Weg“, hat der Dramatiker Alfred Matusche beizeiten gesagt. 3. Deutsches Theater Berlin in der Schumannstraße, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße. Eine magische Platzlandschaft. Bescheidene wie anmutige Klassizität. Kein Raum mit imperialer oder monumentaler Gebärde, sondern bürgerliche Stätte, ganz im Sinne der Aufklärung, schlicht die Fassaden, zart die Farben, einladend die beiden Eingänge, ins große Haus und in die Kammer26


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spiele. Schwellenangst kommt hier  –  jedenfalls für Besucher  –  nicht auf. Das Haus ist auf Sand und Sumpf gebaut wie ganz Berlin  –  nur Pfahlbauten können einen sicheren Stand geben. Märkische Endmoräne. Wer hier baut, muss die Pfähle tief ins Erdreich schlagen, bis eine feste Steinschicht erreicht wird. Das Deutsche Theater war zu DDR-Zeiten wahrlich nicht nur sozialistisches Staatstheater, es war königlich gutes Theater. Wer heute an jenes DT der vierzig zentral gelenkten Jahre denkt, erinnert sich mit Recht (und Wehmut, natürlich!, und Verklärung, ja, warum denn nicht!) an Zeiten, da in der Schumannstraße 13 a die Wurzellosigkeit ein unbekanntes und Schauspieler ein majestätisches Wort war. Vor allem gab es die romantische Produktionsweise, jene schöne Kehrseite der behäbigen Planwirtschaft: Zärtlichkeit, Ruhe. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Damals lebte das Theater (gut!) davon, dass das Sagen der Wahrheit immer ein wenig abenteuerlich war; heute scheint das Theater manchmal mehr als nur ein bisschen daran zu sterben, dass die Wahrheiten einander aufheben. Damals kam die Wahrheit im klassisch kostbaren oder betont unauffälligen Gewand der List, heute aber ist sie nackt, denn sie muss mit allen teilen, und „nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, sagt Martin Walser. Pluralismus mutet an wie Wert und Watte zugleich. Weiche Mitte besitzt mitunter etwas hochgradig Unbefriedigendes. Zumeist waren Aufführungen am Deutschen Theater bestürmende Schauspielerfeste. Christian Grashof sagt: „Arbeit als ein großes Begegnungsglück!, so habe ich das erlebt, so habe ich das gelebt.“ Ein Wort wie das von Ekkehard Schall über das Berliner Ensemble: „Ich war dabei, was will ich mehr!“ Die Großen des DT: der spinöse, nervvibrierende Düren; die preußisch präzise Keller; der 27


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asketisch verschlossene Hentsch; der erdige Böwe; die mütterliche Grube-Deister; der dünnhäutig komische Ludwig; der schneidige, kantige Mann; die noch im Verkrähten so damenhafte Macheiner; der sonderbar verträumte Baur; die skurril melancholische Schorn; der heiter brummige Franke; der scharfumrissene Grosse; die irrlichternde Ritter; der intelligent ironische Piontek, der geistglühende Kaltnadelspieler Mühe. Jeder Name ruft das Bedauern darüber wach, wen alles man unerwähnt lassen muss. Es gab eine anrührende Vertrautheit zwischen Bühne und Publikum, gewachsen über die Jahre; im anderen Teil Deutschlands vielleicht nur mit Peter Steins Westberliner Schaubühne oder Dieter Dorns Münchner Kammerspielen vergleichbar. Edle Gegenden. Aber stärker als dort wirkte hier, am Deutschen Theater, die Spannung zwischen einer Hochkultur der Repräsentation und einer intelligenten Unterwanderung offizieller Denkdoktrinen. In den besten Aufführungen, an denen Grashof mitwirkte, spielten sozialistisches Weltbild und träumerische Weltoffenheit klug und kühn eine Doppelrolle. Die Kunstabsicht verschmolz sehr oft mit den Erwartungen von Menschen, die während der Aufführungen nicht nur lauter Einzelne waren, sondern ein Publikum bildeten  –  aus Liebe zur Aura, aus gemeinsamer Lust, eine Grenzenlosigkeit zu diskutieren, die man nicht kannte, aber doch verstehen und erfühlen wollte. Jedes Billett fürs Hohe Haus war ein Reisepass in Gegenwelten. Theater letztlich als offenste Form einer geschlossenen Gesellschaft. Eine Verschworenheit, die sich am Ende, in jener nicht mehr zu heilenden Agonie der DDR, zum direkten politischen Impuls aufschwang (Schauspieler dieser Bühne gehörten zu den wesentlichen Initiatoren der legendären Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz). Ein intellektueller, emotionaler Aufschwung  –  um dann 28


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schnell, mit dem Zusammenbruch des Staates, zu ermatten und sich schließlich zu erledigen. Freilich: Immer erst später weiß man, dass alles Beglückende bloß existiert, weil der Schein unser Bewusstsein nicht minder stark bestimmt als jenes Sein, das doch meist weniger Beglückendes parat hat. Mit anderen Worten und gegen die eigene wohlige Erinnerung gerichtet: Auch das Deutsche Theater, sagt Christian Grashof, „war selbst zu besten Zeiten des Gemeinsinns keine Insel der Glückseligen“. Hier müsse man „boxen oder untergehen“, hatte der wuchtige Kurt Böwe zum schmächtigen Grashof gesagt. Im Deutschen Theater gipfelten die künstlerischen Karrieren jenes kleinen Landes, das sich nach Brechts Worten den Mühen der Ebenen hingegeben hatte: Das DT war hohe Ebene, und hohe Ebenen sind klein. Also Drängelei, und einen Schritt weiter kam nur noch – die Mauer. Wer am „Deutschen“ angekommen war, blieb. Der Höhepunkt war also zugleich Endpunkt. Das DT war demnach auch ein einsames Haus, am Ende der DDR besonders spürbar damit geschlagen, sich einzig an sich selber messen zu müssen. Wie lange schafft man es, so wach zu bleiben, dass man diese Isolation der eigenen Größe auch als großen Verlust fühlt? Vielleicht hat die Zeit dem Theater zur rechten Zeit geholfen, indem sie die DDR abschaffte. Jetzt war man im wahren Sinn des Wortes heraus-gefordert: Von außen kamen neue Forderungen. Mit obligater Nebenwirkung: Was vorbei ist, wird irgendwann schöner, als es je sein konnte. Diese Trauer darf nicht auf sich beruhen lassen, wer noch bereit sein möchte für Zukunft. 4. Den runden Kopf nach vorn gereckt – wo ist die Wand, gegen die geschwind zu rennen ist? Das Kreuz durchgebogen  –  wo ist der Sturm, unter dem man hier hindurchrauschen kann? Die Arme fliegen wie im Ski29


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flug nach hinten  –  wann endlich wachsen die Flügel? Manchmal hat Grashofs Darstellung etwas von der grandios menschentiefen Minder-Wertigkeit eines Donald Duck. Und Disneys Duck ist immer in Druck, ist immer wichtigtuerisch, aus Nöten im Lebenskampf, ist immer in Angst, der Hals sei nicht lang genug, um über Wasser zu bleiben. Grashof ist ein Schauspieler der hoch kontrollierten Künstlichkeit. Er möchte, dass das Verschwommene exakt aussieht. Dafür gibt es zwei Lebenswege: den Rechner und den Clown. Grashof rechnet mit allen Möglichkeiten, die im Clown liegen. Er kann springen, weil man ihn tritt  –  so kommt man in Schwung. Seine Gestalten sind mitunter an den Grenzstein gefesselt, der das Reich des selbstbewusst ungebundenen vom Reich des verformbaren Menschen trennt. Als träfen sich in einer einzigen Seele Chaplins tänzelnder Charlot  –  Grashof wird in diesem Buch darüber reden  –  und Brechts schlingernder Galy Gay. Das Kleine, das Geringe im Zerrkampf zwischen der unerwarteten Energie eines David und naheliegender Demütigung, zwischen listig-kecker Rebellion und wadenbeißerischer Ergebenheit in irgend ein Räderwerk. Schaut man Grashof zu, muss sich die Identifikation immer der Gefahr bewusst sein, von giftig kichernder Boshaftigkeit düpiert zu werden; aber alle Distanz, die das Clowneske hervorruft, wird irgendwann auch an jenen Punkt kommen, da sie unvorsichtig wird und willig hinüberschmilzt in ein wärmendes Mitfühlen. 1975, da ist er fünf Jahre am Deutschen Theater, führt Grashof seine Tasso-Auffassung vor. Geist und Macht stehen zur Rede. Der Schauspieler nähert sich zurückhaltend. Er gibt sich beherrscht. Er weiß, verletzlich kann man sich geben, aber doch bitte unter einer sich wehrenden, spröden Hülle. Wie Wolfgang Langhoff am DT einst Lessings Minna in Neuland aufbrechen ließ, wie Wolfgang Heinz und Adolf Dresen Goethes „Faust“ neu 30


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erfanden, wie Friedo Solter den Nathan so ganz anders entdeckte, so trat nun, wieder bei Solter, Grashofs Tasso überraschend neu an und auf. Er ist, als zentraler Blickfang, das Gegenteil klassizistischer, arkadischer Erhabenheit. Grashof ist ohnehin keine Gestalt für Denkmalsockel, die ein Dichter sich selbst unter die wandelnden Feinfüße setzt. Und er gibt hier nicht den abgehobenen Poeten, sondern den jungen, gierigen Aufsteiger, verstrahlt von Versagensängsten. Fast fragte man sich angesichts dessen, woher die Unsterblichkeit der Goethe-Gestalt überhaupt resultiere. Aber Grashof offenbart sehr wohl, unaufhaltsam zum Ende hin, den lehrenden Sinn aller Sockel: Er liegt in der Fallhöhe. Tassos Emigrantenschicksal, von Ferrara weg, wird nicht als obligate Verzweiflungs-Raserei hingeworfen, nein, Grashofs Tasso wird sehr, sehr still – er steht da wie ein Geborstener, und in die aufgebrochene Seele scheint er hineinzuschauen, so tief und erschrocken, wie kein Mensch bislang in sich selbst hineinzublicken vermochte. Glühendes Verglimmen hin zum glaubhaftesten Satz dieser Erscheinung: „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ Als sei dies Dichters einziger Auftrag: Wenn du das Herz eines Menschen erreichen willst, musst du es brechen. Zuerst natürlich das eigene – in einer Welt, die Schlimmeres tut: Sie bricht jedes Versprechen. Da war er endlich, nach lang sich ziehender Anfangszeitrechnung, jener künstlerische Eklat, der den jungen, großenteils noch unbemerkten Fremden, aus Chemnitz gekommen, urplötzlich zum Ereignis erhebt, das in dieses hochkarätige Ensemble wie ein Blitz einschlägt. Das Hohe so unerwartet irdisch, das Edle so aufreizend elend, das Geschwungene so eckig. Das Wunderbare bei Goethe zahlt Grashof bar: mit Wunden, die seine ganz eigene Art allem Abgeklärten zufügt  –  um es ins Leben zu bringen. 31


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Jetzt war Grashof gewissermaßen ein Mittelpunkt am Deutschen Theater geworden. Und das bleibt so. Wird sofort bekräftigt. Mitten auf der Bühne ein Kreidekreis, vielleicht zweieinhalb Meter Durchmesser. Der Spielort  –  eine Gefängniszelle. Umgeben rundum von Bänken fürs Publikum. Brüske Kargheit: Athol Fugards Stück „Die Insel“, gespielt von Christian Grashof und Alexander Lang, Regie: Klaus Erforth und Alexander Stillmark. Schicksale unter der Apartheid Südafrikas. Grashofs Häftling John: forcierte Drahtigkeit und zugleich Schübe von Erschöpfung  –  nur geistiges Gespanntbleiben erhält ihn gegen das bohrend Tumbe seines Mithäftlings Winston. Selbsterhaltungsbalance in ständiger Sprenggefahr. Jetzt ist Tempo angesagt. 1977 jener Aufstand der Schauspieler, der wesentlich mitwirkt an der Schaffung des Regisseurs Alexander Lang – gemeinsam mit Roman Kaminski und eben Christian Grashof erarbeitet Lang eine der atemberaubendsten Interpretationen Heiner Müllers: „Philoktet“. Grashof als Odysseus: klein, bleich und gefährlich zieht er im hochgeschlossenen, schmutzig-grauen Trenchcoat die Fäden einer unerbittlichen Konfrontation. Mit rhetorischer Beflissenheit und lügnerischer Eiseskälte. Lang als Philoktet: ein Wesen, trotz schwerer Verletzung mit der Wendigkeit eines geschmeidigen Waldtieres, aber auch mit der seelischen Starrheit eines geschichtlich tief Enttäuschten. Schmerzlaute wie grässlich grelle Vogelschreie: Zehn Jahre lang war Philoktet Gefährte nur von Geiervögeln. Lang gibt mit staunenswerter Energie und Klarsichtigkeit, teils sogar mit sarkastischer Schärfe, jenen Prozess wieder, den Philoktet beim erneuten Treffen mit Odysseus durchlebt: Misstrauen, ein überraschender Hauch von Vertrauen plötzlich, dann doch wieder Hass und stärker werdender Hass, schließlich rasender Zynismus bis ins Sterben hinein. Der Zorn auf Odysseus macht ihn menschlich, 32


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die Wut auf alles Leben macht ihn selber unmenschlich. Zwischen diesen beiden: Neoptolemos, des Odysseus Helfer, gespielt von Roman Kaminski. Mit der federnden Leichtigkeit fast eines Cowboys betritt er Lemnos, jung und tatgierig, mit der Ehrlichkeit des Naiven, der an Griechenland und an Odysseus glaubt. Die Insel verlassen wird er als gebrochener Mann, der die politische Lüge gelernt hat. Groß die Szene, da er den unbändig tobenden Philoktet tötet und ihn zärtlich aus seinen Armen auf den Boden gleiten lässt. Überhaupt: Alexander Lang. Als Schauspieler führte er die Schlaksigkeit in den Adelsstand. War auf der Bühne in der Schumannstraße von Schiller zu Volker Braun gesprungen, also vom Ferdinand zum Kipper Paul Bauch: vom Kopf, der an tödlich niedrige ständische Himmel stieß, zum Arbeiterutopisten, der sich ein Büchergebirge unter die Füße wuchtet, um dem sternigen Weltall näher zu sein. Ich fand immer, wenn ich Lang spielen sah: Es klafft zwischen dem Spieler und dem Gespielten ein strichdünner Spalt; durch den sah man, wie ein großer, trauriger Junge in einem überbunten Kinderzimmer sitzt. Böse und listig gestimmt, dies alles zu versenken. Das war die Theaterwelt des Alexander Lang, der seinen Figuren die unverkennbare thüringische Dialekteinfärbung mitgab  –  so dass sich alles Hohe, das sie sagen wollten, mit allem Niederen, das sie erleben mussten, zu einer seltsam müde-rebellischen Melancholie kurzschloss. Er beherrschte die clowneske Verschrobenheit und das Spiel der scheinbar falsch verschraubten Glieder. Versunkener Ernst, ungelenke Würde, still erhobene und erhabene Distanz. Als Regisseur dann ein Fortsetzer seiner selbst: Toller, Grabbe, Gryphius, Strindberg  –  und Christian Grashof im Zentrum dieser klug-artifiziellen Regie, deren Bilder 33


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aus choreografischen Überzeichnungen erwachsen. Unvergesslich das Arena-Spiel in Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“  –  Grashof, der Pächter Callas, als Vorform eines schmiegsam-schmierigen Arturo Ui; die Verhärtung gegen alles Vernünftige in der Gestalt eines faszinierend gefährlichen Verbiegungskünstlers. Höhepunkt aber einer Theatergeschichte schreibenden Gemeinsamkeit: 1981 Langs „Dantons Tod“, Grashof als Danton und Robespierre zugleich. In der französischen Zeitschrift „Révolution“ schreibt Jacques Poulet im Januar 1983: „Was da spielt, mit dem überragenden Christian Grashof an der Spitze, das ist ein Volk der guten Kinder, sie lieben zu spielen, und sie finden diesen wundersamen und grotesken Stil des Spiels nur allzu natürlich. Ein volkstümlicher Geist, verfeinert durch Raffinement, das sich inspirieren ließ von Meyerhold, oftmals wohl geübt an der Handschrift Adamovs und der von Peter Weiss. Ein Stil, der sich nie lächerlich macht, aber der die rote plebejische Mütze als die vernünftigste Narrenmütze zur ernsten Lage der Dinge trägt (…). Alexander Lang macht reinen Tisch mit den Interpretationen von rechts und von links, sie, die Büchner allemal Gewalt antun. Sein genialer Streich heißt Grashof, begleitet von Roman Kaminski, der auf der gleichen schizoiden Schaukel balanciert, zwischen Camille Desmoulins und Saint-Just: Der Gleiche tötet den Gleichen. Wird das je enden? Man kann die Idee von Aragon, unsere Zeit sei die Zeit der doppelten Männer, der politischen Janusgesichter, die noch die unterschiedlichsten Zwecke unter die ewig gleichen Mittel zwingt  –  man kann diese Idee nicht besser bedienen als mit dem zerrissenen Bewusstsein, das Danton zu Robespierre und Robespierre zu Danton macht. Gibt es noch größere Sackgassen der Dialektik, uns bezeichnenderweise offenbart von Freunden aus der Deutschen Demokratischen Republik? 34


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Das Ende zeigt eine ,Vive le roi!‘ schreiende Lucile Desmoulins, die auf den Stufen zur Guillotine ihre Vernunft verlor. Zwei Sansculotten tragen sie in einem langsamen Walzer, bedrohlich und zart, in eine dunkle Ferne  –  Farbe unbekannt. Die blutroten Tücher der Bühne öffnen sich, das Licht begrüßt die Finsternis. Die Finsternis übrigens mag heißen, wie sie will, das Licht, das über dem Europa der Schauspieler aufging, heißt Christian Grashof.“ Alexander Lang und jener ästhetische Kosmos, der im Spiel des Christian Grashof Körper und also Kontur gefunden hatte: Traten die Gestalten auf, so wuselten sie durch Gefangenschaften im Reich ihrer Angst. Bilderbögen aus lauter Daseins-Bruchstücken. Zeitloser Raum, raumlose Zeit, irgendwo zwischen Kafka und Kleinem Prinzen. Der Grashof-Kosmos. Eine Spielweise, die provoziert und logischerweise Geister scheidet. „Theater heute“ spricht von einem „kalt gestichelten Komödianten“. Bei „Rückkehr in die Wüste“ von Bernard-Marie Koltès, 1988 am Thalia Theater Hamburg, vergleicht Benjamin Henrichs in der „Zeit“ die Inszenierung Alexander Langs mit der von Patrice Chéreau in Paris. Die Hauptgestalt, einen Fabrikherren, ein Raubtier in der Maske des Bürgers, spielt in der französischen Hauptstadt Michel Piccoli, in Hamburg Christian Grashof: „Zwei der berühmtesten europäischen Schauspieler führen uns das Ungeheuer vor (…). Grashof zerlegt seine Figur in eine Kette glanzvoller Soloauftritte. Er windet und er krümmt sich, er deklamiert und grimassiert, er lässt die Glieder zappeln und die Augen rollen, als spiele das Stück nicht 1960, sondern in einem verwesten Rokoko. Grashof ist ein wunderbarer Automat und eine furchtbare Nervensäge. Weil er eine Bestie der Bourgeoisie zu einer grotesken Marionette vertanzt.“

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Man konnte mit jeder Szene jeder Inszenierung Alexander Langs beweisen, dass dieser Regisseur am geschichtsgeilen Menschen verzweifelt. Und doch stimmt auch das Gegenteil: Die Körpersprache speziell Grashofs entstammt einer geradezu unschuldigen Kindheitsphase der Menschheit, sie ist in ihren besten Momenten gleichsam vormoralisch, sie kaspert – und wenn die Grausamkeit schon keine Hoffnung zu lehren vermag, so lehrt sie doch ein Lachen über die Lächerlichen. Lang misstraute einem Realismus, der das Theater als Welterklärungsmodell vernutzt. Und Grashof ist stets, wie es Peter Zadek beschrieb: „Ein wirklicher Schauspieler kommt auf die Bühne, er sagt etwas, und plötzlich denkt man, gleich kommen irgendwelche Ärzte und schleppen ihn ins Irrenhaus. Das muss man fühlen bei einem ehrlichen Schauspieler, der aber zugleich auch immer was brutal Verhemmtes hat.“ Als kraftvoller Harlekin hat Alexander Lang am Traditionstempel DT die Ästhetik der Ausmalung, der psychologischen Tiefgründe aus den Kulissen getrieben. Just bei traditionellen Stoffen ist er mit grotesker Schärfe gegen die deutsche Pathosallergie zu Felde gezogen. Seine Eigenart, für die Grashof ein Protagonist wurde, schuf am Deutschen Theater eine Ensemble-Insel. Lang hat ein sehr eigenes Kraftfeld aufgebaut, fast hermetisch, er faszinierte mit Ausschließlichkeitsansprüchen. Man konnte zusehen, wie er sich an Feinden im eigenen Hause geradezu aufrichtete, sich mit gleißenden Bildern skepsisschwarz abschottete. Es festigte sich mehr und mehr der Eindruck, da habe sich einer so trotzig wie verloren eingepuppt. Er sah sich wohl umzingelt von Biederkeit  –  und ging Mitte der achtziger Jahre in den Westen. Weltoffenheit? Am offensten allüberall sind die Fallen, denn: Sie wollen zuschnappen. Langs Fallen hießen: Intendanzen am falschen Ort, Hoffnung zu falscher Zeit (Hamburg, Westberlin). Irgendwann wurde seine großartige, grenz36


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sprengende Kunst immer trauriger. Verschlüsselter Leerlauf. Alexander Lang, der vereinsamte Extremist. Die Zeit, die ihn als Novum pries, hat ihn später verraten. Er ist der Seiltänzer zwischen Horizonten, dem aufgegeben war, in stocksteifer Norm-Zelle zu überwintern. Aber er bleibt einer der starken deutschen Regisseure, er ist dann ein aufbauender Lenker für Berliner Schauspielstudenten geworden – gibt es größere Zuversicht ins Theater? 5. Hatte Alexander Lang im Schauspieler Grashof einen Pantomimen der physiognomischen Ironien und der psychischen Paradoxien zur Vollendung getrieben, so hat später Thomas Langhoff just im komischen Zentrum dieses Darstellers, hat in dessen zwanghaften Gemütern das Liebenswerte, das Traute, das Verletzliche hervorgekehrt. Und lag in Grashofs Spiel früher vielleicht so etwas wie eine strenge Achtsamkeit, dass bloß nichts in Hingerissenheit untergehe, so geht nunmehr vieles in berührender Hingerissenheit auf. Nach Wendezeit-Gastspielen an Jürgen Flimms Thalia Theater Hamburg, am Westberliner Schiller Theater und an den Münchner Kammerspielen arbeitet der Schauspieler ab 1992 wieder am DT. Prägt wesentlich die Zeit des Intendanten Langhoff. Da, diese helle Kopfkugel. Ein Kindskopf. Könnte also aussehen wie eine schöne, junge Möglichkeit. Aber immer wieder fahren die Hände herauf, wodkazitternde, nervöse Wegwischer von Grazie; die rubbeln, reiben, rupfen an diesem Kopf, und das helle Kugelige ist plötzlich nur noch eine alternde Glatze, und die Hände können sich gerade noch zurückhalten, gegen diesen verfluchten Schädel da loszuschlagen. Der nur diese eine Wahrheit denkt: sinnlos! Christian Grashof als Onkel Wanja in Tschechows gleichnamigem Stück. Ein zerbrechlicher Brodler, eine clowneske Rumorseele. Übers Sprachgrummeln 37


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und über die Körperexplosion hat diesmal ein Gott die Decke der Gefasstheit geworfen. Aber noch in aller Gefasstheit kann die Welt klirren. Und das Klirren ist wie ein sehr trauriges Kichern. „Onkel Wanja“ am Deutschen Theater. Im März 1995 die Premiere, Regie: Thomas Langhoff. Im März 2000 dann eine Neuinszenierung Langhoffs. Pieter Heins erste Bühne hatte die Unüberwindbarkeit eines Wohnzimmers enthüllt, nunmehr ist der Raum eine weit offene Fläche, die hinten mit harter Kante ins Schwarze fällt. Die Welt wieder eine Scheibe; nur die Menschen drehen sich um sich selbst. Sitzen, Warten, Gehen, Weinen  –  landläufige Dramatik sähe anders aus. Immerhin, Wanja schlägt mit Tüchern auf Korbsessel ein. Seine Mutter  –  Inge Keller  –  trippelt zum Stuhl, um weiter ihre Vereisung zu betreiben. Meist sitzt sie hinten, an jener Kante zur Ewigkeit, nur ein einziges Mal ganz vorn an der Rampe. Erschüttert bis ins Mark, als sei sie unbeabsichtigt ins Leben zurückgekehrt, und das Leben ist in diesem Moment Sohn Wanja, der verzweifelt, aber nur sekundenlang die Schulter der Mutter sucht  –  diese Schulter ist eher ein eisiges Treppengeländer, auf dem Frost liegt. Nein, die Schulter kann tatsächlich zucken! Auch wenn dies Zucken nur ein mühevoll unterdrückter Gedanke ist, den die Keller spielt: eine einzige Sekunde Leben! Kein Wohllaut, keine Wohlform. Aber dann, wenn es in dieser Seele namens Wanja explodiert, besser noch: wenn sie sich ganz leise freilegt, wenn der Mann mal keine Angst vor seiner Unsicherheit hat, entsteht um diesen Weichteilmenschen herum eine Sphäre betörend tiefer, trauriger, heiterer Würde; dann hat Grashof Töne, die kein anderer auszusenden vermag, findet er körperlich 38


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überaus zarte Ausdrucksformen. Dann fliegt dieser Schauspieler in gefährlichster Höhe: dem berühmten winzigen Schwebezentimeter überm Bühnenboden. Jetzt plötzlich liegen Grashofs Hände fast ruhig am Kopf, dann vorm Gesicht. Wanjas Weinen sieht man trotzdem. 6. Von 1991 bis 2001 war Thomas Langhoff Intendant des Deutschen Theaters. Zehn Jahre Nach-DDR. Und ein Neustart, den Christian Grashof „spannend, zermürbend“ nennen wird. Warum, das erzählt ein Gespräch, das ich 2007 mit Thomas Langhoff führte. HANS-DIETER SCHÜTT: Thomas Langhoff, der Publizist Gustav Seibt bezeichnet Sie als „sozusagen aus dem Exil heimgekehrten, legitimen Erbe dieses Theaterkönigreichs Deutsches Theater, um dort mit Liebe zu regieren“, wo schon Ihr Vater „herrschte“. THOMAS LANGHOFF: Für die Intendanz hatte ich mir drei Gründe zurechtgelegt. Macht des Schicksals. Ende der Wanderjahre. Lust auf etwas Neues. Zitat Thomas Langhoff: „Das Interessante, als ich die Intendanz des Deutschen Theaters übernahm, war ein geschichtlicher Moment, der sich nicht oft wiederholt, eine Zwischenzeit, zwischen dem alten ,sozialistischen‘ System, das sich erledigt hatte, und einem anderen gesellschaftlichen System.“ Sie waren also gewissermaßen Krisenmanager. Aber wer hält eine Krise schon für normal, wenn er selber drin steckt? Das stimmt. Ich wollte verändern, aber niemandem wehtun, auch mir nicht. Seltsamerweise hinterlässt ausgerechnet diese Methode lauter verletzte Leute. Vielleicht ist sie falsch? Eine andere Methode wäre mit mir nicht möglich gewesen, und das wussten alle, die später so couragiert ent39


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täuscht über diese Zeit redeten. Ich hatte jahrelang keine sehr enge Bindung ans Haus. Höchstens zu einzelnen Menschen, vor allem zu Schauspielern, mit denen ich, seit ich Regisseur war, seit 1980, auch anderswo gearbeitet hatte. Dass das ein wunderbares Haus ist, war mir aber klar. Wo immer der Gedanke einer Schauspieler-„Sozietät“ lebte, war es ein Gedanke ans Deutsche Theater. Für die Ost-Zeit traf zu, was Grashof mal sagte: „Ich bin nicht in der DDR geblieben, sondern am Deutschen Theater.“ Und Klaus Piontek: „Irgendwie nistet ein positiver Bazillus in diesen Bühnenbrettern.“ Sie haben im Laufe Ihrer Intendanz gemutmaßt: „In die Seelen von Schauspielern kann ich nicht hineinsehen – vielleicht hoffen sie insgeheim, dass sich gerade dann nichts ändert, wenn ich bleibe.“ Sind Sie enttäuscht worden? Wir haben einiges richtig gemacht und einiges falsch. Für die Zeit gab es kein Rezept. Die Ängste waren größer als die Lüste auf den frechen Wechsel in den Westen. Man darf diese Grundfurcht nicht vergessen, die damals herrschte: dass nämlich das Modell Ensembletheater und Repertoiretheater flöten gehen könnte. Es waren doch ganz neue kaufmännische Grundätze im Anmarsch. Wie war für Sie der Anfang an nunmehr „Ihrem“ Deutschen Theater? Ich hatte es zu Beginn schwer, überhaupt Begegnungen herzustellen. Regisseure aus dem Westen haben, von mir eingeladen, hier gearbeitet, und sie waren nicht sofort erfolgreich. Auch, weil diese gewisse Selbstherrlichkeit wirkte, die Selbstherrlichkeit eines von der eigenen Bedeutung überzeugten Ensembles. Das habe ich unterschätzt. Kollegen aus dem Westen erfuhren so noch nach Ablauf der DDR, was verfestigter, verinnerlichter Zentralismus ist. Auch nach eigenen ersten Arbeiten 40


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fürchtete ich, die Arroganz dieses Hauses würde es mir sehr schwer machen, und ich wusste nicht, ob ich mir das unter allen Umständen antun müsse. Wenn ich mir aus jener Zeit etwas zugutehalte, dann ist es der Versuch, gegen diese Atmosphäre ein paar junge Schauspieler zu etablieren, sie in vordere Positionen zu bringen. Etwa Ulrike Krumbiegel, Petra Hartung, Götz Schubert und andere. Vor allem ein erfahrener Mann wie Christian Grashof war wichtig, selbst wenn er nur irgendwo dabeisaß. Er hatte hier geglänzt wie kaum ein anderer, und Chris kann eine gespannte Atmosphäre im Frieden halten. Aber: Er elektrisiert auch, man muss darauf gefasst sein, dass er plötzlich aufspringt und geladen loslegt. Am liebsten raffiniert vertrackt, wie ein listiger Schwejk, mit gespielter oder echter Begriffsstutzigkeit, ich weiß das nicht. Er schwingt Widerhaken wie ein Junge sein Lasso. Duck dich, bevor die Schlinge surrt. Grashof war ja einer zwischen den Fronten Solter und Lang, und er genoss die Mitte zwischen beiden, und diese Mitte, das war ich. 7. Langhoffs Abschiedsinszenierung 2001: „König Lear“. In der Titelrolle: Christian Grashof. Mochte mancher von einer Fehlbesetzung gesprochen haben – aber gerade weil Grashofs Lear die Altersweisheit und die autoritäre Ener-gie fehlten, gewannen dessen Einsichten ins wahre Menschenmaß, seine Fantasien des Kreatürlichen und seine Fähigkeiten zur sozialen Erschütterung eine so inständige Klarheit, eine so ergreifende Zwangsläufigkeit und eine so schreiende Tonlosigkeit, wie man sie vorher selten gesehen hat. Grashof sah seinen Lear nicht als entschlossenen Sucher nach sich selbst, nein, eine Falltür klafft auf. Ein Mensch fällt nach familiärer, königlicher Zerstörung nicht schnurstracks und eindeutig ins eigene Selbst; Grashof gibt in seinem Spiel fortwährend zu, dass die Richtung dieses 41


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Falls undeutlich bleibt. Keiner von uns findet ja das eigene Selbst, einfach so, nein, man stürzt – in ein inneres Unding, in die subjektive Galaxie. Daher Langhoffs, Grashofs wahrhaftige Behauptung: Wer könnte sagen, wohin genau das führt? Der Mensch ist kein Wesen, das sich von Natur aus selber sucht; er stößt immer unvorbereitet auf die Blöße des eigenen Ichs. Von diesem Moment an ist man nur noch Gegenstand einer einzigen, blöden, quälenden, manchmal tödlichen Frage: Warum trifft die Wahrheit mich? Auf Proben zu diesem „Lear“ darf ich den Schauspieler beobachten. 28. April 2001. Ich bin, sagt Grashof am Morgen, ein Hochstapler, kein abgesicherter Berufsausüber  –  als müsse er sich gegen einen falschen Verdacht zur Wehr setzen. Dieser Schauspieler ist kein Bedeutsamkeitshuber, der uns weismachen will, er erfinde beim Darstellen den Dichter; nein, er kommt, wenn er spielt, vom Parkplatz und aus der Garderobe, nicht aus Shakespeares Seele höchstpersönlich. Hat so eine Haltung Folgen fürs Spiel? Grashof sagt, er müsse sich seine Größe allabendlich erst erobern. „Noch immer.“ Man muss wirklich Lebenszeit und -kraft dafür hergeben. Und der Dichter und selbst klügste Interpreten am Regiepult retten einen nicht, um für jeden Satz einen konkreten Spielanlass zu finden. Er spricht das Wort vom Regiepult wie ein Flehen nach Ruhe aus, denn Thomas Langhoff läuft und läuft durch die Probebühne, hin und her, vor zu den Spielern, wieder zurück. Alles in Bewegung, alles aber auch nervös und nagend. 3. Mai 2001. Es gibt Schauspieler, die arbeiten zielstrebig auf das hin, was fixiert werden kann. Der Probenprozess erhält von daher beizeiten eine bestimmte Rhythmisierung. Er lässt sich in Etappen einteilen. Was zur Verzahnung gebracht werden soll, rastet irgendwann ein. Bei Grashof kann der ungeübte Probenzuschauer mit der 42


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Zeit in Furcht geraten: Man spürt einen tief aufgewühlten Untergrund, es arbeitet und brennt in diesem Körper, aber es scheint, als sperre sich der Schauspieler bis zum letztmöglichen Punkt dem Geständnis, ein Resultat gefunden zu haben. Das Ende einer Probe bringt meistens keine Lösung, sondern baut neue Schwierigkeiten auf, die morgen in ganz andere Richtungen führen können. Grashof arbeitet mal listig, mal ängstlich, mal provozierend, mal ratlos am Beweis, dass die Begriffe Probe und Problem sehr natürliche Verwandte sind. So „schwimmt“ die Rolle ins Offene, auch dann, wenn schon der Hafen auftaucht, die Premiere. Nein, kein rettendes Ufer. „Ich fühle mich als Lear ein bisschen wie im Märchen, das quält mich, weil es vielleicht zu wenig, also falsch ist. Wir sind in den Endproben, und ich habe immer noch nicht begriffen, warum dieser König sein Land verteilt und seine liebste Tochter verstößt.“ 4. Mai 2001. Grashof, probierend, ist lange Zeit Beobachter, dann schließlich Kuppler. Denn es müssen, bevor Kunst möglich wird, Disziplin und Spontaneität, Beherrschtheit und Ursprünglichkeit, diese einander logischerweise Ausschließenden, zuerst einmal Hochzeit machen. Auf eine Weise, die dem Verstand letztlich fremd bleibt. Reproduktion mag die Erscheinungsform der Schauspielerei sein, ihr Wesen ist: Wiederholung, und beides ist keinesfalls miteinander identisch. Wiederholung, etwa bei Grashof, bei Proben, bei Vorstellungen, ist etwas, das darauf zielt, sich selber das nächste Mal noch näher zu kommen, das Notwendige noch schärfer zu fassen. Es ist der Aufenthalt an möglicher Absturzstelle, und es gibt Proben, die sind wie Vorschauen auf künftige Vorstellungen, da rettet sich auch Grashof wie jeder Mensch in die rudernde Virtuosität dessen, was er gelernt hat. Um Abgründen zu entgehen, um beim Publikum zu bleiben.

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6. Mai 2001. Während der Arbeit am Shakespeare wird Grashof immer dann heftig, wenn er fürchtet, in eine Theatralik verstrickt zu werden, die nicht die seine ist. Sei es die obligate Schlechtwetter-Pantomime im Sturm, sei es die Blumenkrone des Lear auf der Heide, mit der er aussehen würde wie eine „Marktfrau aus Mahlsdorf“. Grashof auf Thomas Langhoffs Einwand, er solle sich nicht aufregen über das umstrittene Requisit: „Nicht aufregen? Genau dieses Abschleifen im Lauf des Lebens habe ich schon auf der Schauspielschule gefürchtet: Irgendwann kriege ich einen blöden Strohkranz aufgesetzt, und das Schlimmste daran wird die Bemerkung sein, ich solle mich nicht aufregen!“ 11. Mai 2001. Wieder mal Krach. Aber wenn Grashof sich aufregt, geschieht es kalkuliert. Theaterkrach als Konzentrationsübung. Anlass kann ein junger Kollege sein, der nicht genügend darum kämpft, auf der Szene präsent zu sein; die Zugluft auf der Probebühne, mit der man sich fast eine Lungenentzündung „reinfrisst“; Bauarbeiten, die nicht in die Probenzeit gehören; Nachlässigkeiten der Technik, die sich woanders kein Intendant gefallen lassen würde. Plötzlich wird der Schauspieler auch zum redefreudigen Hintergrundregisseur, der Selbstdarsteller neben sich feinfühlig zügelt und dirigiert, und der, wie ein Kind gestikulierend, produktiven, befreienden Spieleifer verbreitet. Wenn sein Satz kommt: „Ich kann nicht mehr!“, kommt er aus mühsam akzeptierter Überzeugung des Kopfes von den Einwänden des Körpers. Und alle, die noch „können“, stecken in der Prüfung: Was heißt Verausgabung? Über die Premiere, ein paar Tage später, schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ C. Bernd Sucher: „Glücklich nahm der scheidende Hausherr seine Schauspieler an die Hand. Glücklich, jünger als in den Monaten zuvor, freute 44


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er sich über den höflichen Applaus. Dieser ,Lear‘ ist gewiss nicht Thomas Langhoffs beste Inszenierung. Aber vielleicht seine wichtigste. Ein selbstbewusster Aufbruch. Ein stolzes Bekenntnis zu zehn Jahren fruchtbarer Arbeit. Und eine (Ost-)Berliner Erklärung zu 63 Jahren gelebter Anständigkeit.“ 8. Intendantenwechsel begleiten das Leben jedes Schauspielers. Auf Thomas Langhoff folgt Bernd Wilms. Er bleibt bis 2008 am Hause. Aber angedacht als Schlusspunkt seiner Intendanz am Deutschen Theater war ein früherer Zeitpunkt, denn: Der damalige Kultursenator Thomas Flierl (PDS) bekennt Ende 2004 Wechselstimmung  – Schriftsteller Christoph Hein wird ihm als Intendaten vorgeschlagen. Es kommt zu ungeahnter Aufregung. Die Öffentlichkeit betreibt sofort ihre Arbeit: Indiskretionen, Missverständnisse, Aufwallungen. Im Januar 2005 findet eine denkwürdige Pressekonferenz in der Berliner Kulturverwaltung statt. „Lügen … diffamieren … denunzieren … abgestraft … vergiftet … feindselig.“ Das sind Worte, die Christoph Hein an jenem Januarmorgen sagt. Sie stehen, wie kleine Sprengladungen verteilt, in einer Presseerklärung, die er vorliest. Zündwörter. Aber der Schriftsteller spricht gleichsam ohne Lunte, ohne Streichhölzer. Er huscht über diese Wörter hinweg, er haspelt fast, als wolle er sie beiläufig ausspucken. Kein Sprachschatz für einen gebildeten, höflichen Menschen. Der Schriftsteller sitzt, aber er steht neben sich. Erledigt die Sache. Alles an ihm drängt jetzt zur Knappheit. Er ist in etwas hineingeraten, wo er nicht hingehört. Er wird es „geistiges Klima“ nennen und es so aussprechen, dass ein gefühltes Gegenteil deutlich wird. Die wahrlich nicht feinen Worte, die Hein da wählte  –  sie sind auf ihn selber gemünzt. Pressezitate. Und deshalb gibt es im Arbeitszimmer von Senator Flierl diese Presse45


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konferenz. Denn: Hein will nicht mehr, bevor er überhaupt wollen darf. Es ist der Rücktritt weit vorm Antritt. Christoph Hein wird nicht Intendant des Deutschen Theaters. Er führt als Grund jene Kampagne an, die ein Teil der Medien bundesweit losgetreten hatte, nachdem im Sommer seine Nominierung bekannt geworden war: Ein ostdeutscher Schriftsteller? So wenig theatererfahren? Flierls Wunschkandidat für die Revitalisierung eines ostdeutschen Nationaltheaters? Hein warf damals zurück, das sei „Apartheid“, er sei hier wohl „der Neger“, der sich zu weit vorwage. Streitkultur auf typisch hauptstädtischem Niveau. Er, Hein, habe viele Gespräche mit „Künstlern aus dem In- und Ausland“ geführt, habe darauf gehofft, dass die Hysterie sich lege. Aber viele der Regisseure und Schauspieler seiner (nicht) kommenden Ägide seien nun besorgt, „dass ihre eigene Arbeit unter der angekündigten massiven Verurteilung meiner Arbeit leiden könnte, dass sie denunziert werden, weil ich  –  wie angekündigt  –  abgestraft werden soll … Eine Arbeit, die erst in zwei Jahren sichtbar beginnen kann, soll unter allen Umständen vernichtet werden.“ Hein gefällt mir an diesem Morgen. Er hat’s hinter sich. Fortan ist der Schriftsteller wieder Schriftsteller. Er hat seinen Kopf erhoben: Er taugt nicht zum Futter. Die Namen derer, mit denen er schon Zukunft beredet hatte, gibt er nicht preis. Die Betreffenden werden früh genug selber Interviews geben. In Heins Schweigen klingt etwas mit vom explosivsten deutschen Wort, dem „Ehrenwort“. Das haben andere vor ihm auch gegeben, hier aber klingt’s wahrhaft nach Ehre. Denn der Schriftsteller ist kein Politiker, er wollte es ja erst ein wenig werden. Ein Journalist fragt, wer konkret so böse über Hein geschrieben habe. Vernichtung, zum Beispiel, sei ja ein furchtbarer Vorwurf. Hein fragt nur zurück, ob der Frager nicht gelesen hätte, was „da so alles stand“, er wieder46


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hole aber jetzt nichts von dem, das sei ihm „widerlich“. In einer der großen Zeitungen des Landes war er als „vorhersehbare Katastrophe“ bezeichnet worden. Für denjenigen, den so was meint, ist die Entfernung zwischen Vernichtung und Katastrophe nicht sehr groß. Nun würde Christoph Hein also künftig, zu Premieren, wieder „nur“ der einsame, melancholische, geübt schüchterne Theaterwiedergänger sein, wie man ihn kennt. Er wird, gerade auch in der Öffentlichkeit, wieder Dichters Eigenheit präsentieren: Man kann sich nicht vervollkommnen, ohne sich in einem gewissen Grade abzusondern. „Ich habe den großen Fehler gemacht, nicht auf mich zu hören.“ Sagt der Schriftsteller, und es lächelt da vorn jetzt der Zyniker, der in jedem noch so vorsichtigen, listigscheuen Menschen wohnt. Hein erzählt, dass seine Frau Intendantin eines TV-Senders der neuen Bundesländer werden sollte. Sie erfüllte alle Bedingungen – Frau, unter fünfzig, Ost-Biografie. Berufen wurde aber  –  ein Mann, über fünfzig, aus dem Westen. „Es wurde wieder Normalität hergestellt, habe ich damals gesagt; ich hätte es nicht vergessen dürfen.“ Berlin bleibt schwierig. Hier scheint besonders zuzutreffen, dass es dem Menschen nicht genug ist, glücklich zu sein. Nein, es muss noch hinzukommen, dass die anderen es nicht sind. Und alle arbeiten fröhlich daran, auf ihre Weise. Der Vorfall um Hein, lang her, verdient noch heute Beachtung, weil er ein Kontinuum Berliner Kulturpolitik erzählt. Über ein Dutzend Jahre später wird Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf ganz andere Weise daran erinnern, dass die Hauptstadt  –  da können Mauern fallen, wie sie wollen und sollen – offenbar nichts lieber ist als eine Frontstadt. Einst stand zum 47


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Beispiel die Volksbühne wie ein steinerner Koloss, der jedem, der sich näherte, einen Weltübertritt signalisierte. Sie war das Tor zur Brodelküche eines geheimnisvoll hinterhöfischen Berliner Ostens. Wurde nach dem Ende der DDR zur letzten Tankstelle des schmuddeligen Trotzes gegen das Neubaugebiet jener modernen Schickeria, die in Prenzlauer Berg kokett und verliebt am Schmutz der Altzeit schnüffelt  –  um es unaufhaltsam schön – also totzusanieren. Weil Castorfs unglücklicher Nachfolger Chris Dercon genau in dieses Bild passte, konnte er zur Projektionsgestalt für Hass und Abwehr werden. Und die Volksbühne zur Kampfzone, in der sich berechtigter Protest gegen eine feindliche Übernahme mit selbstgerechtem Proletkult und kulturlosem Elitebashing mischt. Christian Grashof, mit wortführend in der Akademie-Sektion Darstellende Kunst, beteiligt sich an den kulturpolitischen Debatten, geht zu den zeitweiligen Besetzern der Volksbühne, die Ereignisse treiben ihn um. So, wie ihn der Fall Hein umtrieb. Das vorzeitige Ende von dessen Berufung – geschuldet einer Mischung aus kaltem Rufmord, wichtigtuerischen Unkenrufen und möglicherweise falscher Ausrufungstaktik der unmittelbar Beteiligten  –  bietet 2005 wochenlang Anlass für Diskussion. Lediglich Harald Jähner ( „Berliner Zeitung“) verweist damals beziehungsvoll auf „das Markenzeichen Ost auf dem Dach der Volksbühne“ und auf „anhaltende Unterschiede in ästhetischen Interessen und künstlerischen Idealen“ von Ost und West – diese Unterschiede anzuerkennen, habe „nichts mit Ostalgie zu tun, sondern mit dem Wunsch nach gegenseitiger Anregung und Bereicherung sowie nach einem authentischen Prozess des Zusammenwachsens“. Daher sei die Kandidatur Heins, eines „Intellektuellen mit Sinn für Differenz und Repräsentation, als Autor in Ost wie West erfolgreich, sehr mutig, aber einleuchtend“. 48


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Diese Angelegenheit erfährt hier auch deshalb eine ausführliche Notiz, weil sich plötzlich  –  Christian Grashof als Intendant bewirbt. Auf der Bühne kratzt der Schauspieler mit markanten Übertreibungsstrichen ins Tableau der Feinzeichnungen hinein, er japst nicht unbedingt nach Balance  –  aber er verliert gern auch außerhalb des Theaters die Contenance. Wenn’s ihm nötig scheint. Nun, da Christoph Hein medial zerlegt und in die Kapitulation gezwungen wurde, springt er selber in den Ring. Ein Interview vom Januar 2005. HANS-DIETER SCHÜTT: Christian Grashof, mit welcher Gemütsverfassung üben Sie derzeit Ihren Beruf aus? CHRISTIAN GRASHOF: Ach, so erregt wie immer. Erregung worüber? Bei mir ist es prinzipiell so, dass Erregung nicht nur vom Innenleben des Theaters bestimmt wird, sondern auch von dem, was um mich herum geschieht. Der Zustand der Welt, der soziale Zustand in Deutschland? Ja, dem kann ich mich nicht entziehen. Es bewegt, und das ist ein sehr milder Ausdruck. Es wird für viele Menschen immer schwerer, durchzukommen. Und da kann Theaterspiel noch wirklich etwas bewirken? Ich glaube schon. Sicher, es gibt immer mal wieder Zeiten, da weiß man nicht so recht, wie man es machen soll. Aber ich sah nie Grund, zu resignieren. Sie haben auf einer Schauspielerversammlung Ihre Bewerbung als Intendant nach Bernd Wilms bekannt gegeben. Hätten Sie es gern gesehen, wenn es Christoph Hein gemacht hätte? Sehr gern. 49


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Es heißt, er sei zwar Dramatiker, aber unerfahren im Theater. Drehen wir’s doch mal um: Václav Havel in Prag war Dramatiker, der wurde sogar Staatschef. Hein war erschüttert von der West-Vorverurteilung. Es gibt diesen Konflikt. Wahrscheinlich will ihn niemand, aber er ist da. Womit hat er zu tun? Ich sehe das viel größer, viel erheblicher. Die Konflikte, die auf dieses Land, die auf Europa zukommen, die kommen aus dem Osten. Es ist keine bloße Konfrontation der Mentalitäten, es bahnt sich ein Sinnkonflikt an, der auch zu tun hat mit dem Ende des alten, behäbigen Westeuropa. Dieser Konflikt ist noch in einem Stadium, in dem man ihn hier und da als innerdeutsches Unverträglichkeitsproblem missverstehen darf. Aber wir sollten uns nicht täuschen. Wir werden uns noch die Augen reiben. Intendant zu werden  –  ein lang gehegter Wunsch? Ach was! Wunsch würde ich nun wahrlich nicht sagen. Aber ich habe schon ein paar Mal erlebt, auf welche merkwürdige Weise Intendanten gegangen und gekommen sind, und immer gab es Leute in meiner Umgebung, die mich fragten, warum ich dazu nichts sage. Und so ist es mir jetzt auch gegangen. Das Ensemble steht hinter Ihnen? Das ist ganz und gar meine eigene Entscheidung. Aber es gibt Fürsprecher. Aus verschiedenen Bereichen höre ich ermutigende Stimmen. Sag doch was!, heißt es. Also sag ich was, und das ist jetzt zu einer Bewerbung geworden.

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Ist es so, dass das Deutsche Theater, wie kürzlich Alexander Lang sagte, administrativ verwaltet werde und wieder zurückfinden müsse zum Künstlertheater? Das weiß ich nicht. Man kann das eine sicher nie von dem anderen trennen. Ich glaube, Theater hat nur eine Chance, wenn es von allen eine volle Identifikation mit dem Haus gibt. Ein Vorwurf an den derzeitigen Intendanten Bernd Wilms? Überhaupt nicht. Die Zeit ist doch schneller als jede Person. Es geht ja auch nicht darum, ihn abzulösen, sondern ihm nachzufolgen. Es wäre besser, man ließe alles Martialische in den gegenseitigen Einschätzungen raus. Keiner weiß es doch wirklich besser, und keiner hat das Recht, boshaft zu sein und Konflikte künstlich zu schüren. Glauben Sie, ein Mann der Integration zu sein? Ja, man darf schon davon ausgehen, dass ich mir das zutraue  –  Leute zusammenzuführen zu sorgfältiger Arbeit und zu sorgfältigem Umgang miteinander. Bernd Wilms sagt, das gute, alte DT wird es nie wieder geben. Das stimmt sicher, die geistigen und materiellen Mittel sind ganz anders verteilt als vor vielen, vielen Jahren. Aber es muss auch künftig Kräfte geben, die für dieses Haus einstehen und es nicht nur als Durchgangsstation betrachten. Sondern? Es geht um den Ort, den man wie eine Werkstatt, ja: wahrhaftig lebt. Man hat so einen Ort nicht nur, der hat einen auch. In beidem liegt die Kraft.

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Eine Kritik auch am gegenwärtigen Zustand des Deutschen Theaters? Wilms hat das, was ich beschrieben habe, auch gewollt. Und will es. Und er hat es sicher als Unglück empfunden, das mit den festen Regisseuren nicht beizeiten in die gewünschte Stabilität bringen zu können. Wie reagierte der Senator auf Sie? Er hat sich bereit erklärt, mit mir zu reden, und nun bin ich gespannt. Dieter Mann, bis zur deutschen Zeitenwende Intendant, hat gesagt, er würde dieses Amt heutzutage auf keinen Fall ausüben. Er wolle nicht mit dem Taschenrechner zum Kulturpolitiker gehen. Verstehe ich. Und Sie? Ich würde jemand anderen hinschicken. Der hat Sie auch noch nicht gewarnt, der Dieter Mann? Nein. Vor zig Jahren spielten wir gemeinsam in „Unterwegs“, ich war in diesem Stationenstück einer, der hieß Kostja. Und jetzt hat Dieter nur gesagt: „Ach, Kostja, ich wünsch dir Kraft.“ Nachsatz: Intendant nach Bernd Wilms wird 2008 Ulrich Khuon.

9. Tschechows „Onkel Wanja“, 2008 am Deutschen Theater, wieder mal. Ein sich wiederholender Klassiker am Hause  –  diesmal in der Regie von Jürgen Gosch. Ein Theater-Ereignis. Der strahlend blaue Himmel, von dem im Stück die Rede geht, ist die hellbraune Decke eines großen, bühnenfüllenden Kastens. Wie eine Spielkiste. 52


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Die zum Publikum hin offen bleibt. Erstaunlicherweise. Denn Abgeschlossenheit, Unentrinnbarkeit ist das Grundprinzip dieser Welt. Wer von den Schauspielern hinausgeht, kann dies nicht  –  er kann sich nur an eine der Seitenwände stellen, bis er wieder dran ist mit Auftritt und Spiel. Die Gefühlsregung der jeweils letzten Szene entscheidet darüber, wie man diese Zwischen- und Abwartestellung einnimmt: aktiv apathisch, mit dem Gesicht zur Wand, oder einfach nur neutralisiert, den gerade Agierenden zuschauend. An der Hinterwand eine lange Sitzbank. Wer da sitzt, starrt in ein Nichts  –  das sich als Publikum verkleidet hat. In der ersten Zuschauerreihe stehen Kisten mit Requisiten und Kostümen  –  aus dem Requisitenkasten werden Schellen und zwei KokosnussSchalen geholt, und schon entfernen sich – akustisch –  Pferdeschlitten. Der immer wieder variierte Ritus in Goschs Inszenierungen: Theater als offener Vollzug, wie das Leben  –  Anstalt bleibt Anstalt, auch Freiheit ist eine Zelle, die Kunstausübung ebenso. Der Wanja des Ulrich Matthes gähnt sich in seinen Auftritt hinein wie jemand, dem jeder neue Tag als Endlosschleife vorkommt. Er schlurft, sehr schmuddelig in dunkelblauem Anzug mit Sommerhut; er ist unrasiert, und dies wahrscheinlich seit Jahren, aber selbst der Bart scheint beim Wachsen eingeschlafen oder eingetrocknet oder eingefroren zu sein. Unter dieser Gesichtshaut ist kalte Wüste. Blut kommt in diesem Körper wohl nur noch in Oasen vor, die man kaum fände, am wenigsten in der Herzgegend. Wanja frisst aufreizend lange Zeit Gurken, spricht dabei, aber jede zynische Feststellung wurde doch schon unzählige Male durchgekaut. Aller Atem ist ihm eine Schaufel, die Ewigkeit zu Ewigkeit häuft. Erst am Leben ersticken, dann Gurken fressen. So hat alles seine Reihenfolge.

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Nur in der Konfrontation mit dem Professor Serebrjakow überkommt diesen Wanja noch einmal ein entnervtvulkanisches Brüllen, das ihn sprengt, aber dann umgehend wieder zurückwirft in die Hilflosigkeit eines nackten Kleinkindes, das nach der Mutter winselt. Christian Grashof versetzt den gocklig verstiegenen Professor in Hochfeiern der Hysterie: nach den Brüsten seiner jungen Frau Elena wie nach Rettungsringen schnappend; sich zwischen Stock und steifem Bein verheddernd, als wüchsen ihm tausend störrische Glieder. Constanze Beckers Elena: Ihr schwarzes Kleid hat rote Blüten, jeden Moment wartet man darauf, dass sie vertrocknet abfallen. Sie hat nichts Mondänes, ist keine Dame, ihre maulige, interessenschwache, strähnige, müde sich schleppende, gründlich verweinte Schönheit erzählt davon, dass die Durchschnittlichkeit eines Menschen kein Hindernis für maßloses Leiden ist. Dieser beeindruckende dreieinhalbstündige Abend ist wie eine Zugfahrt, auf halber Strecke wurden die Passagiere ausgesetzt, nun hocken sie im Niemandsland, auf einem Abstellgleis, und in jedem Kopf krebst die Wahrheit: Es ist bereits das Ziel. An der Spielkistenwand hängt plötzlich eine winzige Afrika-Landkarte. Goschs Tschechow leuchtet nicht warm, er dämmert bedrückend fahl. Es wird in Pausen hineingestarrt oder hineingestürzt, als seien diese Pausen zuschnappende Fuchseisen. Lauter Glücksabstürze, von denen niemand mehr weiß, wann sie begannen, und niemand ahnt, wo sie enden. Unglückliche, die Leid antun, und Fiese, die einem leidtun. Was diese Menschen füreinander, miteinander sein wollen, geht nur noch im aggressiven Katzenjammer zusammen, der seine traurigen Witze mit ihnen treibt. Man nennt das wohl: immerwährende Gegenwart.

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10. 2013. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ –  Stephan Kimmig inszeniert eine Theaterfassung, die Eugen Ruge nach seinem gleichnamigen Erfolgsroman schrieb. Ein Familienpanorama. Großeltern, Eltern, Kinder; das Jahrhundert umfassend: Exil in Mexiko, Lager bei Stalin, Aufstieg in der DDR, Ausreise in den Westen. Ruge kennt das Milieu, das er erzählt. SED-Funktionärsadel, Intelligenzja, das lädt zunächst zur Komik ein, weniger zur Trauer  –  darüber, wie unglücklich die Generationen an Verständigungsbrücken basteln. War da nicht auch Ehrlichkeit am Aufbaubeginn, gab es nicht Weltgründe für Härte? Ja, deutet die Inszenierung leise an, dann aber wird ihr Ton fester: Diese trumpfende Borniertheit! Dieser Wankelmut zwischen Karriere und Aufrichtigkeit! Dieser Internationalismus, der nur noch aus Parolen kam! Wilhelm etwa, der Parteigreis: spreizt sich bis zuletzt hanebüchen stolz, wenn er das Lied von der Partei singt, die immer recht hat. Sein verächtlicher Wortschwall mäht alle „Tschows“ nieder, Chruschtschow wie Gorbatschow. Das katastrophal endende Werkeln an einem Ausziehtisch gerät ihm zum lächerlichen Dominanzbeweis, und er, der mit seiner Nähe zu Karl Liebknecht prahlt, hockt am Ende hilflos unter der Geschenketafel seines Geburtstages und weiß nicht mehr, was in seinem Leben wahr und was nur Legendenbildung für Pioniernachmittage war. Christian Grashof pumpt diesen Wichtigkeitswicht berserkerisch auf, dann aber: Blitzsekunden der gefühlten Hohlheit. Auf die Tierzeichnung, die ihm der Enkel schenkt, blickt dieses Genossen-Gespenst mit einem Staunen, das auch Erschrecken ist: darüber, dass es unbegreiflicherweise Wahrnehmungen außerhalb des Klassenkampfes gibt. Das Staunen hält ein paar Sekunden länger als das Entsetzen  –  das darf man hier fast 55


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schon Hoffnung nennen. Bei einem Stalinkommunisten, der seiner Frau mit Worten ins Gesicht schießt: Die Sowjets hätten schon gewusst, warum sie „deine Söhne, solche wie die“ ins Lager gesperrt hätten. Wilhelms Frau: Gabriele Heinz. Sie zeigt beeindruckend die Euphorie frühen DDR-Glücks, zeichnet schwungvoll die Emanzipationskraft der einflussreichen Literaturkritikerin nach, spielt den unmerklichen Wechsel ins eitle kulturpolitische Machtgebaren, und sie kommt erschüttert zur eisigen Ruhe eines Hasses, der dem eigenen Mann gilt. Ein atmosphärischer Nebel, der sich mit Blei, Gift, Galle anreichert, sich auf alles und alle legt. Als ließe der Himmel feinste Grabplattenkiesel regnen. Versteinerung. DDR? Man möchte vielleicht in den Erschöpfungsraum hineinrufen: He, so war das alles nicht! Was war nicht so?, riefe die Aufführung gewiss zurück. Was, bitte, war so nicht? Keine Machtanmaßung der Gründer, „geheiligt“ durch Weihen einer klassenkämpferischen Biografie? Keine Erziehung, die den Opportunismus als Parteilichkeit schönsprühte und die Feigheit zur höheren Einsicht erhob? Wilhelm kalkt, seine Frau stiert, stumpft. Das Spiel von Grashof und Heinz teilt uns mit, dass einem diese Leute auch leidtun können. Man hat etwas getan und nennt’s: „mein Bestes“ – was niemals stimmt. Man hat sich und anderen viel angetan, man hat sich eine Menge antun lassen, man hat viel Leben einfach nur  –  vertan. Abnehmendes Licht endet im Dunkel. Christa Wolf hielt 1984 die Totenrede auf Franz Fühmann und erinnerte an dessen Satz: „Die Sonne ist das, was keiner begräbt.“

11. 2014. Wer in den kleinen Strudel des abfließenden Wassers einer Badewanne schaut, der hat die Weltbewegung erfasst. Den Sog, dem alles Leben folgt und alle Ge56


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schichte. Das Trichterloch auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin erzählt ebenfalls davon. Wirkt auch wie ein Krater, der schluckt und gleichermaßen spuckt. Mittelpunkt von Mark Lammerts schräg ansteigendem SpielRaum für „Warten auf Godot“, nach dem Tod von Dimiter Gotscheff inszeniert von seinem Regiemitarbeiter Ivan Panteleev. Fern und ungeheuer oben blakt, blinkt, blendet das Licht einer Straßenlaterne. Oder die Laterne eines Lagers. Befreiung hat Geburtsstätten, besitzt Wurzeln, die nicht abzuschütteln sind. Samuel Finzi und Wolfram Koch als Wladimir und Estragon  –  und schon erübrigt sich der kritische Verweis auf die ausgeleierte Weltkarriere von Samuel Becketts Klassiker. Der das wurde wegen einer Wahrheit, die so witzig (geblieben!) ist, wie sie elend bleibt: Wir Strebenden, Suchenden sind letztlich nur eine ungewöhnliche Ameisenart im Universum und für die Balance des Kosmos weniger wichtig als die wirklichen Ameisen für die Ökologie des Waldes. Wie Koch und Finzi versuchen, einen Mantel zu tauschen, wie sie sich gegenseitig ins Denken stoßen wie in eine Fallgrube, wie Finzi reden und reden will und Koch nicht zuhören mag  –  das ist herzfüllende, pantomimisch aufgeladene Komik angesichts einer Aussichtsleere, die wie ein Tumor in uns wächst. Tumor ist, wenn man trotzdem lacht. Christian Grashof und Andreas Döhler spielen Pozzo und Lucky, das Herr-und-Knecht-Duo. Grashof als Feinpinkel, Döhler blaffend. Jener Krieg Oben gegen Unten, der ganze dichterische, theoretische Lebenswerke füllt  –  hier ist er ein kurzes Clownsspiel, das all die nicht totzukriegenden Klassenkampfzausel aus Geschichte und Gegenwart und deren Parolenpomp ad absurdum führt, irgendwie so, wie man Asche von einer Zigarrenspitze schnippt. Luckys berühmten Hut gibt es nicht, und doch 57


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ist er da: ein unsichtbarer Tennisball für Finzi und Koch. Ping Pong. „Man kann auch an Knochen nagen, die gar nicht da sind“, sagt Grashof im Gespräch, „man kann mit allem spielen, das nicht existiert.“ Mit allem, das gemeinsam das Nichts bildet. „Und schon“, sagt Grashof, „ist das Nichts bevölkert.“ Und ist von einer Lächerlichkeit, darin unsere Heimatlosigkeit als Trauer strahlen kann. Utopia? Wir sind gestartet und wissen es nicht. Wir sind gestrandet und begreifen auch dies nicht. Man kommt nicht los, man kommt nicht an, man kommt nicht klar. Gott? Wer die Macht hat, bringt seine Götter mit, wer sie verliert, lässt die Götter so fallen wie die Menschen. Nunmehr wieder auf einen Gott zu warten, der vor allem eines tut: auf nichts und niemanden zu reagieren  –  das gibt immerhin ein fantastisches Gefühl von Freiheit. Und das Tuch, das die Bühne bedeckte, verschwindet Stück um Stück im Bodentrichter. Wie das Wasser in der Badewanne. Dass man da nicht nur an Loriot, sondern auch an Beckett denken kann, ist ein Sieg zeitenübergreifender Weltwahrnehmung – die Zukunft hat.

12. Es sind nicht nur die großen, schürfenden Inszenierungen, die herangezogen werden müssen, um diesen Schauspieler Grashof zu erzählen. „Sonny Boys“, das Erfolgsstück des US-Amerikaners Neil Simon  –  Martin Duncan hat es im Bühnenbild von Jon Morell 2005 am Deutschen Theater Berlin inszeniert. „Nicht so erheblich, der Abend“, sagt Grashof im Gespräch. Doch, beharre ich. Alles Komödiantentum ist erheblich. Die Leute haben doch gelacht  –  den Witz richtig zu platzieren, gehört zum Schwierigsten, ihn nicht sterben zu lassen zum Notwendigsten, ihn zur Wirkung 58


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zu bringen zum Schönsten, wessen der Schauspieler fähig ist. Chaplin! „Ja“, sagt Grashof, „das frühe Vorbild.“ Alles, was mit dem Buchstaben K anfängt, ist komisch. Kasachstan ist komisch, Afghanistan nicht. So doziert Willie. Komiker. Nein: gewesener Komiker. Kein bisschen unsterblich. Er heißt mit Nachnamen nämlich nicht Chaplin, sondern Clark. Vor Jahrzehnten war er, gemeinsam mit Partner Al Lewis, eine Legende. Zwei mit gigantischen Lacherfolgen  –  bis sie im Hass auseinandergingen. Clark behauptet von Lewis, er benutze mit Vorliebe Wörter, die mit t anfangen, um ihn anzuspucken, und zugleich bohre er ihm den Zeigefinger fortwährend so in die Brust, dass er „ein schwarzes Loch zwischen den Rippen“ habe. Für einen TV-Rückblick sollen sie, elf Jahre nach ihrer Trennung, noch einmal ihren berühmten Doktor-Sketch spielen. Es wird ein Vorfall mit gezückten Messern und Herzanfall. Christian Grashof und Jörg Gudzuhn. Grashof ist Clark: ein nervöser Louis-de-Funès-Verschnitt, der mit schlappender Zunge, fahrplanlos herumjagenden Gesichtszügen und giftigem Geist durch sein heruntergekommenes New Yorker Hotelzimmer schlurft, missmutig TV-Serien glotzt, sich im Stromkabel verfitzt, an der einfachen Mechanik der Türschlösser verzweifelt und so tut, als käme er nicht nach – mit der Erfüllung von eingebildeten Rollenangeboten. Immer mit der Plusterlust eines längst gerupften Pfaus. Jörg Gudzuhn kommt zur angesetzten Probe in Clarks Wohnung ganz aus der Strenge des Timing-Spezialisten, ein gescheitelter älterer Herr inzwischen –  er war es, der vor Jahren das Duo abrupt sprengte; frühe Einsicht in den wohl schwersten Lernstoff in der Schule des Lebens: langsam zu begreifen, dass man 59


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vergessen wird, und zwar bei lebendigem Leibe. Zwei, die aneinander verblutet sind. Grashofs Clark feiert noch immer eine Auferstehung, die nie kommt; Gudzuhns Lewis verarbeitet bereits einen Tod, der näher und näher kommt. Choleriker gegen Melancholiker. Der eine spielt noch immer die Theaterkomödie, wo der andere bereits die Lebenstragödie angenommen hat. Humor macht sich lächerlich, wenn er sein Verfallsdatum überspielt. „Ja“, sagt Grashof, „das ist genau das Thema: das Verfallsdatum von Leben. Wenn man nicht merkt, dass man doch längst vorbei ist. Wenn man alle Fantasie aufbringen muss, um sich einzubilden, Gestern ginge nie vorüber.“ Der Komiker ist ein Mensch, der, wie alle Menschen, leidet. Aber er verrät das Leiden ans Lachen. Mit weicher Bananenschale gegen den harten Kern dessen, was ist. Dem Tragiker steht für das, was er ausdrücken will, viel Zeit zur Verfügung  –  dem Komiker dagegen bleibt für Wirkung nur die Sekunde. Wenn er die verfehlt, hat er schon alles verfehlt. Alles steht oder fällt mit den Pointen, die sitzen müssen. Pointen werden im Sprint geboren, wo dagegen sich der Tragiker, wie beim Marathon, seinen Rhythmus mählich baut. Deshalb, weil sie so pfeilschnell auf den Punkt kommen müssen, gelten Komiker nicht selten als böse, als gnadenlose Pedanten, als freudlos knüppelnde Bühnenarbeiter. Er habe in den über dreißig gemeinsamen Jahren nie Spaß an den Pointen gehabt, wirft Lewis seinem Partner Clark vor. Der entgegnet: Wenn er Spaß hätte haben wollen, hätte er sich eine Eintrittskarte gekauft. Mehr Wahrheit passt nicht in einen so kurzen Dialog. Das ist es, das Elend jeder Kunstausübung. Die schönsten freien Gedanken entstehen in den Gefängnissen, in die man sich selber sperrt. Der Ausweis des wahren Sportlers ist 60


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nicht der gesunde, sondern der kaputte Körper. Die Geschichte des Horizonts wird von denen geschrieben, die am Zaun erkranken. Einer Aufgabe gerecht wird nur der, der dafür alles aufgibt. Den Einsamsten fragen, was Liebe ist. Kunstgewinn geht nur über Naturverlust. Irgendwann tun die Augen weh. Ach, nur die Schminke ist verschmiert, wird der Komiker trotzig versichern. Weil er nicht sehen will, dass es Tränen sein könnten. Man gehe die Rollen dieses Schauspielers Grashof durch und wird all das Beschriebene finden. Wahn und Wurschtigkeit des Komödiantenlebens. Am Schluss stellen Lewis und Clark fest, dass sie in unverbrüchlicher Feindschaft demnächst im selben Seniorenheim für Schauspieler landen werden. Über neu ansetzenden Streitigkeiten um Nichtigkeiten geht langsam das Licht aus. Die zwei da oben entkommen der Komödie nicht, an die sie gefesselt sind: Als letztes Requisit wird eben stets die Maske gerettet, die wir für unser Gesicht halten. Grausam. Grotesk. Aber eben auch: Gesetz. Das ist im Leben des Schauspielers der Anfangs-Impuls: Mageres Eigenleben stärkt die Lust auf Nachahmung. Aus Nachahmen wird dann Schöpfung. Da haben wir sie, die Mixtur aus Affe und Gott. Die Gaukler, die Komiker als Inbild des wahrhaft idealen Menschen. Irgendwann steht’s unsichtbar über jeder Tür: Viel Raum ist vielleicht nicht mehr zu gewinnen. „Spiel-Raum gibt es immer“, sagt Grashof beim Gespräch, „Kunst schützt nicht nur Leben vor, sie schützt auch vor Leben. Vor allem, wenn es weniger wird.“ Wir machen eine kleine Pause und reden weiter.

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ICH NEHM DOCH KEIN GIFT! WAS SOLL DENN DAS! GESPRÄCH

Schatzgräberglück mit einer Mohrrübe Mutter zückt mitfühlend das Schiller-Buch Wozu braucht der Bäcker ein Auto? Der kleine große Traum roch nach Odol Plötzlich ein Zettel auf dem Tisch Die Textilingenieure waren zu langsam


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Vorhang auf! Als Hofmarschall im Märchen


Gespräch

CHRISTIAN GRASHOF: Um es gleich zu sagen: Man soll Schauspieler nicht nach Geheimnissen fragen. HANS-DIETER SCHÜTT: Dann sollen sie auch keine Bücher von sich erzählen. Hm. Gut, lassen wir die Geheimnisse. Nein, doch nicht! Vielleicht gehören auch Vorbilder zu den Geheimnissen. In zahlreichen Kritiken über Ihre Arbeit findet man den Begriff des „Chaplinesken“. Sagt man so, schreibt man so. Auch in Ihren eigenen Aussagen als junger Schauspieler taucht der Name auf. Na ja, wer nennt den nicht. Ein Typus, immer unterwegs, immer nervös. Dieses Zartsein. Und diese Kraft im Zartsein. Das Spiel ist so unverschämt direkt, dann wieder so verschlüsselt. Der Typ weckt Mitleid. Mit seiner Ärmlichkeit überrumpelt der alle. Das trifft. Das Zarte macht den Herkules aus. Hinter so einem Zarten kann sich keiner verstecken. Ganze Völker verstecken sich hinter Großen. Aber so klein, wie der Chaplin ist, da passt niemand dahinter. Kein Marlon Brando, kein Gary Cooper, kein Belmondo. Mir gefiel Chaplins Vorsicht. Vorsicht meint? Er beharrte auf der Stimmigkeit weniger, aber sehr konzentriert ausgesuchter Gesten. Er war sehr vorsichtig, um Himmelswillen nicht zu viel zu machen. Das kopiert jeder gern, aber darauf zu kommen, das bleibt das Geniale.

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Ich nehm doch kein Gift! Was soll denn das!

„Ich mache leider nichts wie mein Ideal“, haben Sie vor Jahren geschrieben. Vor sehr vielen Jahren. Seine Art blieb mir aber immer vertraut. Nicht: kam, sah und siegte, sondern: kam, sah und  –  stolperte. Chaplin ist für mich so was wie ein Signal gewesen, schon beizeiten: Chris, es gibt da eine Schranke, die überspringst du nicht, die ist ein Schlagbaum, für den hast du keinen Pass, dahinter beginnt eine andere Welt. Die erreichst du nicht. Da muss doch ein „Aber …“ kommen! Kommt auch! Denn ich steh zwar vor dieser Schranke  –  aber nicht wie jemand, der vor sich selber fliehen will, von sich selber weg, also: Ich leide nicht am Ideal. Es bedrückt mich nicht. Sondern? Es gibt mir den Anstoß für den ganz anderen Ermessensraum – nämlich den, den ich für mich selber finden muss. Weil nur ich ihn finden kann. Weißt du, wann du auf gutem Weg bist, zu dir zu kommen? Wann? Wenn’s rundum raunt: Mensch, komm endlich zu dir. Sie sagten, nicht am Ideal gelitten zu haben. Ein Ideal ist was Fremdes, man darf nicht versuchen, das herunterzuzerren aufs eigene Niveau und also etwas in sich reinzuschlingen, das einen sprengen würde. Ich glaube, ich hatte Glück in dem, was ich beizeiten über mich dachte und wie ich mich einschätzte. Ich dachte immer, in aller Bewegtheit doch die Ruhe behalten zu müssen, ich selber zu sein. Freiheitsfreude ist immer auch: Kraft, eine Begrenztheit zu akzeptieren. 66


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Nicht nur einfach so, sondern diese Begrenztheit sogar freudig zu akzeptieren. Chaplins Figurentyp. Charlot. Ja, dieser kleine, schmächtige Mann. In den viel zu weiten Hosen, in deren Taschen so viele Tragödien Platz haben. In diesen zu großen Schuhen, in denen er gut über sich selbst stolpern kann. Ich sag ja: kam, sah und  –  stolperte. In dieser viel zu großen Welt, in der du automatisch einsam wirst. Charlot schafft grandiose Bewegungen, aber mit wenig Drehung, alles ist genau, wirkt aber nicht gezirkelt. Er läuft, als würde er gleich umfallen vor Angst und Schrecken. Aber seine Einsamkeit hat auch ihren Stolz: He, ich bin Außenseiter, wer ist mehr?! Und dann tänzelt er rum, mit einem Jäckchen, das eng ansitzt, darunter eine Weste; die Krawatte hochgeknöpft, den Knoten groß geschlungen; auf dem Kopf eine Melone, auch die ist zu klein, und in der rechten Hand ein Bambusstöckchen. Der Dandy als Vagabund, der Vagabund als Dandy. Und von beidem auch gleich noch die Parodie. Ja, er ist auch die Inkarnation des beliebigen Mannes von der sogenannten Straße: Die Melone soll ihm Würde verschaffen, der Schnauzbart demonstriert seine Eitelkeit; der ganze Aufzug, das Stöckchen und seine Manieren behaupten eine Eleganz, die ist doch glatt gelogen. Manchmal hat mich dieser Typ an meinen Vater erinnert. Wieso? Ich sag’s lachend und liebevoll: Mein Vater war ein Filou, ein Hochstapler und Faulenzer. Mutter sagte etwas herablassend, und es klang immer, als wolle sie vor ihm warnen: „Graf Koks! Ein Luftikus!“ Er selber behauptete, sein Vater sei Goldschmied gewesen, der war aber „nur“ Graveur. „Wenn ich das gewusst hätte …“, knurrte meine 67


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Mutter. Er kämmte sich die Haare mit Zuckerwasser, eine stundenlange Arbeit am Mittelscheitel, er steckte sich zwei Zigarren oder drei, vier Zigaretten ins Täschchen am Revers – es war der alte Anzug seines Vaters – und lachte. Wenn er rauchte, und er rauchte mit der Pose des souverän aufgereckten Zigarrenbesitzers, also des Rauchers und Genießers aus höchster Position, dann fragte er möglichst laut: „Parlez-vous français?“ Mehr Französisch konnte er nicht. Aber er tat, als sei er selber Franzose, ich sag ja: Hochstapler! Übergangslos, um es drastisch zu sagen, wurde aus dem Scheißefahrer der Bonvivant. Da gab es keine Nahtstelle, zack, ging der eine in den anderen über. „Guten Tag, gnädige Frau!“ – solcherart Grüße verteilte er im Vorübergehen, in Löbaus Straßen. Eines Tages, ich war schon am Deutschen Theater, kam ich mit einem Lada angefahren  –  der Schauspieler-Sohn mit eigenem Auto! Es gibt einen kleinen Acht-MillimeterFilm, der erzählt den ganzen Mann. Wie Vater mit geschwellter Brust in den Wagen einsteigt, vorher das Haar gestriegelt – und er ist nicht einfach eingestiegen, nein, er ist erst ein wenig die Straße auf und ab gelaufen, lauernd, wer sieht das Ereignis, wer ist Zeuge dieses Auftritts; ah, dort läuft jemand und dort schaut jemand aus dem Fenster, Zuschauer also garantiert – jetzt erst darf eingestiegen werden. Hollywood in Löbau, und es gibt nur einen einzigen Hauptdarsteller! Aber klar, dass es ein Lustspiel war, dieser Hollywoodfilm – mein Vater kam nämlich nicht ganz so geschmeidig auf den Beifahrersitz, wie er sich das vorstellte. Es war eine recht ungelenke Turnübung. Mein Vater glich diesen etwas komischen Eindruck aus, indem er unterwegs, als wir nun endlich fuhren, aus dem Auto grüßte wie Ulbricht oder Honecker. Herr Grashof wie auf Spalierfahrt in der Staatskarosse. Als ich in der Schule meine erste Vier in einer Mathematikarbeit erhielt, fürchtete ich das strafende Schweigen meiner Mutter. Mir war die Zensur unange68


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nehm. Also ging ich frühmorgens – Mutter war schon auf Arbeit  –  zu meinem Vater und bat ihn, er möge unterschreiben. Ich nutzte sein Wesen aus. Denn was tat er? Er straffte sich, griff zum Stift, ließ sich die Stelle zeigen, wo er zu signieren hatte, und holte mit einem Schwung aus, als unterzeichne er einen Staatsvertrag. Der Akt der Unterschrift war ihm wichtig, nicht das, was er da unterschrieb. Ich war gerettet. Er war in solchen Momenten ein Zurechtgemachter, er spielte, wo es nur ging, jenes Theaterstück, das er sich als sein richtiges Leben vorstellte. Parlez-vous français! Im Sonntagsstaat ging’s hinaus in die Löbauer Öffentlichkeit. Zwei erwähnenswerte Straßen gab es in Löbau, die innere und die äußere Bautzener, da promenierten sonntags die Männer, so ab fünfzehn Uhr. Ich glaube, dort stolzierte auch ich eine kleine Weile entlang, als Abiturient. Habe ich da richtig gehört: Scheißefahrer? Angestellt bei der Stadt. Hilfsarbeiter. Fuhr die Fäkalien weg. Die sanitären Bedingungen waren nach dem Krieg nicht die besten. Ich war zwölf Jahre alt, und ich gebe zu, ich schämte mich. Meine Mutter schämte sich auch. Vater hatte als Junge eine Tischlerlehre begonnen, der Krieg haute dazwischen, er hat nie wieder in eine Ausbildung oder gar in einen richtigen Beruf hineingefunden. Später hatte er eine andere Arbeit, auf einem Schrottplatz. Blieb aber angestellt bei der Stadt. Blieb Hilfsarbeiter – aber weiterhin: „Parlez-vous français?“ Wenn man das mit Abstand erzählt, klingt’s lustig, aber es kann einem auch leidtun. Wie da ein Mensch versuchte, sich aus seiner Lage zu lügen. Machen wir doch irgendwie alle. So entstand mein Beruf.

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Womit wir wieder bei Charlot sind. Er möchte vor der Welt bestehen, er will sie düpieren und sich zugleich selbst bemitleiden. Das Selbstmitleid macht ihn schöpferisch. Damit hat er Millionen Menschen zum Lachen gebracht. Nach dem Gesetz des Bruders Beckett: bis zum Äußersten gehen, dann wird Lachen entstehen. Und ein gut versteckter Gott oder Godot rettet das Leben in die Späße. Charlot ist auch der Unglückliche, der Ungeschickte, der, obgleich unschuldig, alles Übel auf sich zieht. Er will glücklich sein und überlebt deshalb alle Katastrophen. Aber er liebt seine Katastrophen, auch wenn er dabei unglücklich ist. Dieser Schnorrer, der um Barmherzigkeit bittet, als sei sie sein Recht! Das Komische entsteht, weil Charlot mit der Feindseligkeit der Menschen konfrontiert wird. Diese Feindseligkeit weckt in ihm  –  Feindseligkeit. Das ist Realismus. Leider. In ihm steckt also auch die Bösartigkeit der Schwachen. Ich denke da durchaus an Figuren, die ich gespielt habe. Die Schwachen sind oft am wenigsten gut, sie können es sich nicht leisten. Am Schluss des Filmes „Modern Times“ sehen wir ein Paar von hinten, schon wird es eingekreist vom Schwarz der sich schließenden Kameralinse: die Wunderschöne mit luftigem Kleid und elegantem Hut. Daneben er, der Watschel, und so arg kleiner als sie. Da feiert die Unwahrscheinlichkeit einen Triumph, von der wir im Leben so vergeblich fantasieren: Wer von uns Mickrigen, Kleinen findet schon seinen Traumpartner! Da denk ich auch wieder an meine Eltern.

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Beschreiben Sie bitte Ihr Elternhaus. Haus ist gut. Wir wohnten in Löbau zunächst in einem ehemaligen Kasernenblock der Wehrmacht, auf der einen Seite nun die Russen, auf der anderen wir Flüchtlinge. Könnte man auch sagen: Vertriebene? Das sagte meine Mutter nie! Sie war ein böhmisches Dienstmädchen. Beim Besitzer einer Schmuck- und Glasmanufaktur in Gablonz. Wo ich geboren wurde. Ihre Herrschaften hat sie sehr verehrt, sie hat die soziale Rangfolge verinnerlicht, sie sah ihren Platz darin und füllte ihn aus. Folgsam, aber mehr noch: ehrsam. Nicht unterwürfig. Es gibt eine Redlichkeit der Unterordnung, die hat durchaus mit Charakter zu tun. Wo wir auch waren, wohin wir auch fuhren und wohin wir auch gingen  –  am Ende sagte meine Mutter immer: „Daheim war’s am schönsten, daheim isses am schönsten.“ Daheim, das war Gablonz. Und die – Herrschaften. Unbedingt. Sie schickten uns nach dem Krieg Pakete. Sie hatten in Kaufbeuren gleich wieder eine Fabrik bekommen. Die Westpakete waren mit Kupferdraht zugewickelt. Drin war Pudding, Mehl, später Kaffee und Schokolade. Meine Mutter hörte im Grunde nicht auf, ihren Herrschaften zu dienen. Seelisch. Gegen dieses Gefühl in ihr kam keine Staatsgrenze an, kein zeitlicher Abstand. Die Wohnung war klein? Ja. Die Hakenkreuze nur mäßig ausgebeizt aus den Stühlen. Die Helle nur kümmerlich. Ich bin zunächst nicht mit Kleiderschrank aufgewachsen, sondern mit Spind. In der Lampe war ein Stecker fürs Radio angebracht. Der große Wohntraum damals: ein neuer Nierentisch mit neuen Sesseln. Wir schliefen auf Eisenbetten. Für die Matratzen mussten wir uns Stroh besorgen, das wir in Leinensäcke stopften. Zum Alltag in dieser Wohnlage gehörten Ratten, 71


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Mäuse, Wanzen und Läuse. Zum Glück betrieb unsere Mutter eine manische Fürsorge. Wir durften des Öfteren nicht ins Schlafzimmer: Sie desinfizierte. Es roch dann wie in einer Räucherkammer. Als wichtigen Einschnitt empfand ich, als wir aus der Kaserne endlich in eine Wohnung in der Stadt zogen. Mutter forderte uns auf, die Nachbarn „schön“ zu grüßen. Das war Erziehung zur Höflichkeit, aber auch Vorsichtsmaßnahme: Sie wusste, wir Flüchtlinge wurden nicht gerade geliebt. Im Haus wohnten allerdings auch, wie Mutter sagte, „Asoziale“. Die hatten fünf Kinder, die fand ich gut. Wurde bei Ihnen daheim gelesen? Meine Eltern konnten kaum lesen und schreiben. Es wirkte daher kurios, dass ausgerechnet wir einen Schreibtisch hatten. Ein völlig fehlgeleitetes Möbel, es wurde nie benutzt. ich weiß nicht, wie es in diese Wohnung kam. Auch eine Schiller- und Goethebüste hatte sich seltsamerweise zu uns verirrt. In der Zittauer Straße lebte ein Verwandter meines Vaters, er besaß eine kleine private Bücherei, sie war ausgebombt worden, und gebundene Werke der Klassiker und Romantiker fanden so ebenfalls den Weg in unsere Behausung. Beeindruckende Fremdkörper, die natürlich was hermachten, obwohl Löschwasser die Seiten arg getränkt und gewellt hatte. Unvergessen das Gefühl des Stolzes beim Anblick der Klassik – ich hab davorgesessen und fand das toll. Dass wir auch Bücher hatten! Schon Anwesenheit von Büchern ist Arbeit an der Würde. Ein beinah groteskes Ritual ist mir in Erinnerung geblieben: Meine Mutter greift zu irgendeinem dieser Bücher, schlägt es auf, starrt hinein und bleibt sehr lange so unbewegt sitzen. Und dann der Schlüsselsatz, als läge eine ausführliche, spannende Lektüre hinter ihr: „Du, Junge, der Schiller, also der hatte ooch keen einfaches Lähm.“ Und wenn ich bei solchen Sätzen, die sie gern sagte, 72


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etwas arrogant lächelte, kam als Antwort: „Ja ja, lach du mal, nüscht weeßt de, aber ich hab’s geläsen, steht da drinne“, und sie pochte zur Bekräftigung aufs Buch. Mich amüsierte das, aber in solcher Reaktion lag auch etwas Berührendes  –  die Szene vermittelte den Eindruck, als gehöre Schiller zur Familie, und meine Mutter wisse also sehr genau, worüber sie redete. Überhaupt kommentierte sie die Weltgeschichte und die Weltpolitik oft mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Erzähl mir nüscht!“ Wir lesen und finden Literatur dann bewegend, wenn wir uns fragen können: Woher weiß der Dichter das von mir? Genau so reagierte meine Mutter. Sie brachte ihr eigenes Lebensleid in Kontakt zum großen Dichter. Als sei das ein Trost, als knüpfe das ein Stück Solidarität über die Zeiten hinweg. Mir bleibt das auf Dauer im Ohr: „Du, der Schiller, du, der hatte ooch keen einfaches Lähm.“ Die Pausen an der richtigen Stelle, das unterstreichende Kopfnicken auch. Als sei Schiller ganz nah, als ginge von dieser Nähe die Wahrheit aller Wahrheiten aus: Wir müssen zusammenhalten! Und vielleicht kam von der Schiller-„Lektüre“ ihr unbedingter Ehrgeiz, ihren beiden Söhnen nach Kräften das bessere Leben zu ermöglichen. Meine Mutter hatte nichts, aber als ich studierte, musste ich zum Beispiel nicht  –  wie manche meiner Kommilitonen damals und wie manche „meiner“ Studenten an der Schauspielschule heute  –  kellnern. Meine Mutter bezahlte mir das Zimmer in Berlin. Besseres Leben, das hieß: was Höheres? Ja. Mein Vater aber fand das schlichtweg blöd, er wollte, dass wir möglichst schnell arbeiten, Geld verdienen. Er hatte was dagegen, dass wir Söhne auf die Oberschule gingen. Was denn, womöglich Arzt oder Richter oder so73


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was werden? Was soll der Unsinn? Wäre meine Mutter wie mein Vater gewesen, wir wären fröhlich verkommen. Er hat mal Kinderbücher ins Feuer des Kachelofens gepfeffert. Er war betrunken. Ich glaube, ich habe deshalb einen Holzscheit nach ihm geworfen. Er warf zurück  –  der Mutter eine Tasse an den Kopf. Als er die Buchseiten ins Feuer warf, knurrte er: „Lesen verdirbt!“ Das fand ich empörend. Der Vater einer meiner besten Freunde war Klavierlehrer, zuhause stand ein Flügel, ich fühlte mich regelrecht geweiht, wenn ich den Raum betrat. Ich hätte es nicht mit Worten ausdrücken können, aber da war ein frühes Empfinden: Es gibt bei allem, was es gibt, noch eine Welt woanders. Schiller. In einem Interview haben Sie Ihre Quälereien beschrieben, die Sie im Deutschunterricht mit diesem Dichter hatten. Wir mussten einen Aufsatz schreiben, über „Kabale und Liebe“. Ich hatte das Stück überhaupt nicht verstanden. Da ist jemand, der liebt ’ne Frau. Dieser Ferdinand ist aus dem Adel. Adel … Adel … schon mal was, was ich nicht weiß. Schon bin ich weg. Die Liebenden können nicht zueinander kommen wegen der „Schranken der Klassengesellschaft“. Schranken? Bahnschranken. RotWeiß. Aha, die rot-weißen Schranken der Klassengesellschaft. Und dann Limonade. Und überhaupt: Liebe? Ich hab auch eine Freundin, mit ihr gehe ich ins Kino und will sie vielleicht mal küssen. Da rede ich aber mit keinem drüber. Aha, die da im Stück, die machen das aber. Na gut. Und warum Gift in die Limonade, wenn man sich liebt? Ermorden? Ich habe noch kein Gefühl, was Tod ist. Ich nehm doch kein Gift! Was soll denn das? Also, das kapier ich nicht. Ich muss mit Worten hantieren, die nicht meine sind, ich habe nicht das passende Empfinden zu diesen Worten und soll zu allem Überfluss noch einen Aufsatz schreiben. Soll mich mit Problemen rumschlagen, 74


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die mich überhaupt nicht interessieren. So ging mir das in der Schule. Herr Grashof, Sie haben vorhin die Russen erwähnt, die zu Ihrer Kindheit gehörten. Es lag ein militärischer Zug über der Gegend. Auch kann ich mich an rumänische Flüchtlinge erinnern, es waren wohl Sinti und Roma, aber wir hatten keinerlei Probleme mit Nähe und Berührung. Diese Probleme gab es eher im Verhältnis zu den Deutschen, dafür sorgte wahrscheinlich die Aura dieser Ex-Nazi-Kaserne, die Ahnung also, wer hier mal untergebracht war. Und die Russen? Die waren nur selten zu sehen. Als sei ihnen bewusst Zurückhaltung auferlegt worden. Wir Jungen gingen hin und bettelten. Wir bekamen Brot, leicht angeschimmelt, diesen Geschmack habe ich nie vergessen. Aber mit Russenhass kann ich nicht dienen. Mit Russenangst auch nicht. Nee. Schnell kriegte ich mit: Die Russen sind nicht ins Land gekommen, weil sie als Kommunisten eben naturgemäß Landräuber sind, sondern weil es einen Krieg gegeben hat, den die Deutschen vom Zaun brachen. Ich ahnte, dass die Russen aus gutem, also bösem Grund eine grobe, eine ruppige Besatzungsmacht waren. Sie haben uns auf die Beine geholfen, obwohl sie die Straßenbahnschienen als Reparationszahlung mitnahmen. Gibt es Erinnerungen an den 17. Juni 1953? Panzer, Krawalle – da ist was los in Görlitz!, sagte meine Mutter am 17. Juni. Sie ahnte, dass sie auf der besseren Seite stand. Das war dieses Grundgefühl, das einen lange nicht verließ. Man muss doch bloß die Theaterszene betrachten: Brigitte Soubeyran, Peter Hacks, Reiner Brede75


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meyer, Heinar Kipphardt, Brecht – das waren laute Ehrenwerte, die den Westen verlassen hatten, die sich von der Rekultivierung des Nazigeistes abwandten und in diesen Aufbau-Osten kamen. Es gab Gründe, für die DDR zu sein. Auch wenn zur Wahrheit dieser neuen proletarischen Kultur gehörte, dass gewissermaßen aus guten bürgerlichen Stühlen auch Schemel zum Melken der Kühe gefertigt wurden. Das Proletkult-Elend. Ja, aber Milch wurde eben auch gebraucht. „Ich wuchs unter Brüdern auf“, schrieb Volker Braun. Er meinte eine Gestimmtheit der sozialen Bruderschaft, die war als Vorstellung zu spüren, mochte sie letztlich auch nur eine behauptete gewesen sein. „Unsere Erzieherin – die Gesellschaft, streng sorgend. Wir sollten nicht verkommen wie die Fähnleinführer.“ Manche Kinder hatten von daheim die Auflage bekommen, in der Schule nicht über ihre Väter zu reden, weil die noch vor kurzem Offiziere oder anderweitig nazinah waren. Mein Bruder und ich redeten auch nicht über unseren Vater, aber nur deshalb, weil der im Krieg gar nichts gewesen war, nur Gefreiter. Ich empfand diese völlige Abwesenheit von Ruhm und Meriten als Belastung, als Peinlichkeit. Zunächst. Mein Freund Dieter besaß ein Pfeifenkästchen, darin lagen noch die Naziorden seines Vaters, und manchmal behängte sich Dieter heimlich mit dem Blech. Nichts davon besaß mein Vater. Eines Tages wollte ich wissen, ob er im Krieg jemanden erschossen habe. Er druckste rum, weil er offenbar niemanden getötet hatte, aber jetzt spürte er doch, dass sein Sohn einen Helden wollte und dass dieser Sohn offenbar so blöd war, das Töten für Heldentum zu halten. Zum Glück änderte sich meine Haltung. Als ich mich langsam für die Welt zu interessieren begann, wollte ich natürlich nicht 76


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mehr, dass mein Vater Nazi gewesen ist. Im Krieg hatte ihn beizeiten eine Knieverletzung ereilt, er kam ins Lazarett. Die Lehre, die er daraus zog: sich überall, wo es nur ging, zu drücken. Erzählte er gern vom Krieg? Manchmal erzählte er, vor allem von Frankreich: Die Franzosen seien wunderbar gewesen, sie grüßten, und das Essen schmeckte. Er reflektierte nicht, es klang eher, als seien die Eroberungen eine touristische Weltreise gewesen. Selbstkritische Fragen danach, wie die Franzosen ihn als Besatzer fanden, überkamen ihn zu keiner Sekunde. So sprach er auch von den Leuten in der Ukraine: überaus freundlich und derart entgegenkommend, dass sie sogar den Bürgersteig verließen, wenn ihnen Deutsche begegneten. Als ich so etwa zwölf war, ging mein Vater mit mir durch Löbau, er zeigte auf Häuser: „Da, das gehörte Juden. Geldleute, Geschäftsleute  –  die waren damals schnell weg! Dort drüben auch: weg!“ Es lag nichts betont Nachdenkliches, Bitteres in diesen Hinweisen, eher war da ein Anhauch von Vorwurf. Im Nachhinein jedenfalls kommt es mir so vor. Sie sagten: „… als ich mich für die Welt zu interessieren begann …“ – gibt es für dieses erwachende, vielleicht sogar prägende Interesse denn Bilder, Erinnerungen? In einem meiner Schulbücher sah ich ein Foto, das ich nie vergessen habe: An einem spanischen Meeresstrand stand ein Lkw, der kippte eine ganze Ladung Tomaten ins Meer. Ja, es gibt Bilder, die nimmst du auf, die sind real, aber daneben läuft im Bewusstsein schon eine andere Spur, die sagt dir: Das darf doch wohl nicht wahr sein! Dieses Foto hat mich schockiert, es ließ sich so überhaupt nicht in Einklang bringen mit dem, was ich über Hunger und Lebensmittel wusste. Auf einer weiteren Seite sah ich Zeichnungen von zukünftigen Maschinen, 77


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die den arbeitenden Menschen ablösen. Wir lachten in der Schule. Jetzt lacht niemand mehr. Bald kämpfen Gewerkschaften wahrscheinlich darum, überspitzt gesagt, der Digitalisierung ein paar letzte menschliche Arbeitsplätze abzuluchsen. Was bedeutete bei Ihnen zuhause, als Sie Kind waren, der Sonntag? Wenn es sonntags früh zur Messe ging, stellte ich mich schlafend, und meine Mutter ließ mich im Bett. Eine funktionierende Verabredung – ich genoss das Privileg des Jüngeren, mein Bruder dagegen musste raus und in die Kirche. Aber die Kommunion ließ ich natürlich über mich ergehen. Sie wurden religiös erzogen? Ja, katholisch, aber ich wurde nie bestraft. Wie schnell Sie das zusammendenken: katholisch und Strafe. Ich erinnere mich, dass auch wir im Haushalt so ein gewelltes Waschbrett besaßen, es gab Kinder, die mussten sich auf so einem Waschbrett niederlassen, mit nackten Knien, und beten. Oder auf Erbsen, die extra ausgestreut wurden. Aber nochmal zum Sonntag. Der Sonntag, das bedeutete im Sommer: weiße Kniestrümpfe und Spaziergang. Neidisch war ich auf die Lederschuhe meines Bruders, ich bekam erst später welche. Es gab einen Wanderweg hin zu einem Berg vor der Stadt, dort stand ein Aussichtsturm. Hochsteigen, runtersehen. Sonntag, das hieß: Training des gezügelten, anständigen Benehmens an der Seite der Eltern. Wir haben im Wald Beerenblätter gesammelt, die wurden auf dem kleinen Balkon getrocknet, das ergab den Tee für die kalten Monate. In der Apotheke lieferten wir Kinder Lindenblüten ab, dafür gab es fünfzig Pfennig. 78


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Waren Sie ein sogenanntes Schlüsselkind? Wenn ich zur Schule ging, frühmorgens, war Mutter bereits auf Arbeit. Sie fuhr mit dem Bus zum Betrieb in Ebersbach. Wir wachten auf und waren allein. Wir wohnten schräg gegenüber der Schule, daher war ich früh der Erste auf dem Hof, im Klassenzimmer. Und weil wir uns selber versorgen mussten, bestand sie wohl am Wochenende auf dem Ritual der drei Gänge: Vorsuppe, Hauptgericht, Nachtisch. Das war böhmische Tradition. Als Nachtisch gab es oft Pflaumenklöße oder Buchteln, diese süßen gefüllten oder ungefüllten Hefebrötchen. Ja, Mutter konnte gut backen und kochen. In der Woche also kaum Üppigkeit. Als mein Vater aus der Gefangenschaft gekommen war, hängte Mutter ein Schloss vor den Schrank, damit er uns nicht alles wegaß. Ich kenne noch Brennnesselsuppe, mit Sauerampfer. Auf dem Feld haben wir Ähren gelesen und die Körner anschließend in der Kaffeemühle zerkleinert. Sonnabends gingen wir Kinder immer klauen, Lebensmittel oder Brennmaterial. Löbau war auch Bauerngegend. Meine Mutter hasste die Bauern: Denen konnte man nicht trauen, die überwachten jede Apfelallee, die an ihr Grundstück grenzte. Wir haben auch Kartoffeln gelesen, aber die Bauern erlaubten nur, dass wir nach der „zweiten Egge“ aufs Feld gehen. Dann, wenn fast alles geerntet war und nur noch die kleinen Knollen herumlagen. Meine Mutter fand das demütigend, aber was sollte sie tun? Der Bauernhass war ihr seelischer Ausgleich. Ihre Großeltern? Großeltern habe ich nie kennengelernt.

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Und andere Verwandtschaft? Mein Vater hatte zwei Brüder, sie wohnten in der Nähe, aber es gab keinen merkenswerten Kontakt. Auch zur Schwester meines Vaters nicht, von der es hieß, sie habe „ein Ding am Kopp“. Über sie wurde nicht gesprochen, immerhin, sie war Zimmermädchen im Berliner Hotel Adlon. Keiner wusste, wie sie in die Hauptstadt gekommen war. Und keiner hat’s rausgekriegt? Bei uns in der Familie wurde nie was richtig und ehrlich rausgekriegt, schon gar nicht in der Familie des Vaters. Wohl auch, weil sich meine Mutter überhaupt nicht für diese Familie interessierte, sie wollte mit dieser „Mischpoke“ nichts zu tun haben. Vater behauptete, er komme aus einer SPD-Familie. War wohl auch geflunkert. Mutters Verwandte lebten weit weg, sie waren mit den geliebten hohen Herrschaften aus Gablonz nach Bayern geschliddert. Vertreter Ihrer Generation betonen oft, aufgrund der Lebensbedingungen im Nachkrieg sei man schneller erwachsen geworden. Man war auf besondere Weise wach. Es gab zu meiner Kinderzeit noch keine Aschetonnen. Vor den Häusern standen bunkerähnliche Behälter, drei Meter lang, mit einer breiten Klappe, da kippte man die Asche hinein. Diese Kästen waren mein Spielthron, mein Kletterberg. Eines Tages sah ich vor einem dieser Dinger unten am Boden eine Mohrrübe liegen. Sie lag nicht einfach da, nein, sie blinkte, sie leuchtete. Sofort bin ich runtergesprungen und habe diese Rübe unauffällig, aber doch aufgeregt und schnell in der Nähe vergraben. Der Fund der Mohrrübe und die Art, wie ich sie barg, machten mich im Handumdrehen und für Sekunden zu einem Erwachsenen: Ich hatte die Zeichen der Zeit verstanden, 80


Christian Grashof, um 1970: „Warum denn nicht den Romeo?“

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Die Eltern: Leben in LÜbau, Kerze und Kunst: Kirchgänger


Angehender Schauspieler

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Gern rückt Grashof die Unwägbarkeiten von Leuten in den Vordergrund, die von Vielem berührt werden, ohne es zu erfassen. Leute, die sich in einem psychischen, geistigen und politischen Schwebezustand befinden, die wie auf einem Geisterschiff über die bewegten Meere der Wirklichkeit fahren. Christoph Funke, „Der Morgen“

Erste Hauptrolle: „Die seltsame Reise des Alois Fingerlein“ Karl-Marx-Stadt 1968 (mit Steffie Spira)

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Mit Jutta Wachowiak in „Kasimir und Karoline“, Karl-Marx-Stadt 1968


Mit Jutta Wachowiak in „Kabale und Liebe“, Karl-Marx-Stadt 1969

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Mit Jutta Hoffmann im Fernsehfilm „Die Zeit der Einsamkeit“, 1984 Rechts und folgende Doppelseite: Mit Ijonka Iliewa im Fernsehfilm „Levins Mühle“, 1980





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Mit Regisseur Ulrich Thein (l.) und Kurt Böwe bei Dreharbeiten zum Fernsehfilm „Broddi“, 1975


Mit Dieter Franke (l.), Fred Düren, Rolf Ludwig, Tommy Sommer bei Dreharbeiten zu „Levins Mühle“, 1980 unten: Fußballmannschaft des DT, u.a. mit Eberhard Esche (stehend 2. v. l.), Volkmar Kleinert (stehend 3. v. l.), Christian Grashof (stehend 7. v. l.), Dieter Franke (kniend, 2. v. r.)

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Gespräche mit Gerhard Bienert: „Eine Legende. Berlinisch begabt für ganz lakonische Welterklärungen“ (Ch. Grashof)

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Christian Grashof, Gemälde von Lutz Friedel, Öl auf Hartfaser, 1983


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ich war aus dem Spiel des Kindes heraus mit einem Mal wesentlich geworden. Ich war ein Schatzgräber plötzlich. Der Nachkrieg. Hunger? Hunger ist ja nicht, dass du nichts zu essen hast, Hunger ist erst, wenn du wirklich nicht weißt, wann du das nächste Mal etwas zu essen bekommst. Geblieben aus der frühen Kinderzeit ist mir eine Art Kaufzwang, der noch viel, viel später immer wieder zu mittleren SpaghettiBergen im Hause Grashof führte. Übrigens versuchten wir eine Zeitlang, hinter unserer Kasernen-Wohnung Tomaten zu ziehen. Andere Mieter auch. Aber die Plantage gelang nicht. Sofort brachen Streitigkeiten aus: Wie viel Raum darf jeder beanspruchen? Wer bestimmt über die Sonnenplätze? Die Kämpfe um die Aufteilung der Welt beginnen vor der eigenen Haustür. Sind Sie der DDR  –  in sozialer Hinsicht  –  dankbar? Wenn es die DDR nicht gegeben hätte  –  ich weiß nicht, wie es meine Mutter geschafft hätte. Aber dankbar bin ich zuallererst nicht dem Staat, sondern meiner Mutter. Sie tat alles, damit Armut für uns Jungs nicht zum Hauptgefühl wurde. Ich bin in keinem Meckerhaushalt groß geworden. Es gab daheim kein Staatsschimpfen. Mutter straffte sich und uns: nicht meckern, sondern machen! Nimm die Rolle an, die dir das Leben zuteilt  –  nimm sie an, indem du was draus machst! Mutter tat was, Vater dagegen genügte sich in Angst. Angst, dass die anderen uns unterbuttern. Mutter übrigens war auch im Elternbeirat, sie hat sich gekümmert, wo sie nur konnte. Wie man so schön sagt: Sie hatte keine Zeit, aber die nahm sie sich. Ihre Arbeit war es, fürs Durchkommen zu sorgen. Aber sie verfiel in dieser schweren Arbeit nie in Grobheit. Sie war vorsichtig, aber Leuten gegenüber offen. Obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass man sich, um durchzukommen, oft genug gegen Leute wehren muss. Sie sah am Leben 97


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vorwiegend die Notwendigkeiten, weniger die Möglichkeiten. In der Nachbarschaft wohnte ein Bäcker  –  wozu brauchte der plötzlich ein Auto? Nur weil der Zahnarzt nebenan ein Auto hat? Wir hatten keine Fahne und hängten also zum 1. Mai nichts aus dem Fenster  –  beim Bäcker hingen gleich zwei Fahnen, eine DDR-Fahne und eine rote, die hatte in der Mitte einen hellen Fleck, da, wo früher das Hakenkreuz draufgenäht war. Das Berliner Gefängnistheater „aufBruch“ inszenierte vor Jahren den „Schwejk“ von Hašek, darin ein Text, basierend auf einem Auszug aus einem Roman von Reinhard Jirgl: „Es ist in Sachsen. In der Nacht schleichen bedächtig und stumm Menschen in Reihen entlang der Dorfstraße zum Gutshof. Jeder trägt Bündel und Kartons. Es ist Kriegsende. Der Gutshof ist leer. Der Besitzer im Westen. Die Leute ziehen zur Jauchegrube, zielsicher. Jeder tritt einzeln an den Grubenrand heran. Und eiligst werfen die Mitgelaufenen, die Mitläufer also, braune Hemden, Militärjacken, Orden, Urkunden, kurze Hosen der Hitlerjugend, Fahnentücher, Armbinden mit Hakenkreuzen und schwarze Uniformen in die Jauche. Die Stoffe versinken in der Scheiße. Diese Grube ist die erste Befreiung noch vor den anstürmenden Russen, die Jauche ist das Weihwasser zur Unschuld. Wie lange kleidet die Unschuld die Menschen?“ Oder, mit Blick auf den Bäcker: Welche Fahne bewegt morgen der Wind? Und wann muss das nächste Mal gewechselt, versenkt, abgenäht werden? Damit man nicht beschuldigt werden kann, falsch gelebt zu haben. Der Mutter waren Sie also dankbar. Sich selber irgendwann auch? Leistungskraft ist nicht übertragbar. Weiß ich nicht so genau, man bekommt doch Impulse! Schwimmen und kämpfen musste ich, ja. Es ist wertvoll, das erfahren zu haben. Der Staat gab mir Möglichkeiten, 98


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und ich fand es anständig, etwas zurückzugeben. Ich war immer dafür, dass es mir gut geht, aber ich habe auch immer gewusst, dass das nicht selbstverständlich ist. Thomas Langhoff sagte mal auf einer Probe: „Leute, denkt daran: Was wir auf der Bühne machen, muss sich auch verkaufen!“ Da entgegnete ihm Jürgen Holtz: „Ich habe als Schauspieler nichts zu verkaufen, ich habe nur was zu verschenken.“ Gut gebrüllt, Jürgen. Etwas zurückgeben ja, aber nicht zurückzahlen, und schon gar nicht in die Partei eintreten. Sie wurden nie bedrängt? Bedrängt nie, aufgefordert schon. Einmal meinte der Parteisekretär des Deutschen Theaters wohl irrtümlicherweise, an mir eine positive Regung, einen Impuls bemerkt zu haben – inständig riet er mir, bloß nicht Mitglied zu werden. Das wäre nicht gut für mich. Später, nach dem Ende der DDR, ging der Mann in die Versicherungsbranche. Vielleicht eine versteckte Logik. Die obligaten achtzehn Monate bei der Armee absolvierten Sie auch nicht. Als wir in Abiturnähe kamen, gingen in der Klasse Formulare um: die freiwillige Verpflichtung zum Wehrdienst. Nee, Armee kam für mich nicht in Frage. Wo mein Vater mal während des Krieges war, da wollte ich nicht hin. Nicht in Schlamm und Dreck und nicht unter irgendeinen Drill, der mir ans Rückgrat wollte. Mein Freund und ich verweigerten die Unterschrift unter die Anträge. Wir wurden angezählt, gescholten, es fielen lehrerseits ein paar scharfe Worte, aber mehr geschah nicht. Wir erfuhren später, dass irgendjemand für uns beide die Formulare unterschrieben hatte, nur damit die Statistik nicht befleckt und die geforderte Zahl der Einwilligungen gewährleistet wurde. Es gab diese gefälschten Unterschrif99


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ten, aber man ließ uns in Ruhe. Als wir’s herausgefunden hatten, kam lediglich die Bitte: Tragt es nicht weiter! Na ja, die handelsübliche doppelte Moral. Sie mochten Ihre Lehrer nicht? So pauschal ist die Feststellung falsch. Aber einige Lehrer gab es, von denen  –  für mein Empfinden  –  ganz stark der Geruch ausging, dass sie Nazis waren. In Leuten, die offen gegen die DDR waren, vermutete ich sowieso automatisch Nazis. Die Schule in Löbau hätte ich nicht danach untersuchen wollen, unter welchem neuen Anzug ein alter Nazi steckte. Es gibt Leute, die beherrschen den Brustton, mit dem man einschüchternd eine Überzeugung vertreten kann, die man gar nicht hat. Ja, das Unangenehme, Gefährliche an einem Menschen ist der Brustton. Bei aller sozialen Zuwendung, die unsereins erfuhr: In manchen Tonlagen, in manchen Blicken, in manchen Bemerkungen lag der Vorwurf, ich sei ein Arbeiterkind. Andererseits sollte ich, weil ich Arbeiterkind war, ständig mit allem einverstanden sein. Da sind wir wieder bei der Dankbarkeit. Er war nervend, dieser ständige Eifer des Staates, seine Bürger zu Dankbarkeit anzuhalten: Man war umhegt und umsorgt, und das Bewusstsein sollte knien. Dankbarkeit! Man braucht bloß an Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ zu denken: Hatte der gerühmte Cäsar nicht wenigstens einen Koch bei sich? Dankbarkeit! Meine Mutter schuftete täglich, sie war eine schwer Arbeitende und eines Tages dann sogar Brigadeleiterin, und sie verstand nicht, wofür und wem sie dankbar sein solle. Ja, was denn noch?, sagte sie erschöpft. Aber wissen Sie, warum ich vorhin selber die Partei angesprochen habe? Es hat weniger mit mir als mit meiner Mutter zu tun. Stellen Sie sich vor: Wir Jungs …

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Gespräch

Ihr älterer Bruder und Sie. … ja, wir konnten sie eines Tages tatsächlich bewegen, in die Partei zu gehen, um sie näher an das Gefühl heranzubringen, sie gehöre zu den Maßgeblichen. Für mich wäre das  –  auf mein späteres Leben bezogen  –  nichts gewesen, für meine Mutter war es gut. Aus der katholischen Kirche in die SED. Kein Religionswechsel, nur eine sehr praktische Abwägung, wo die Sorge für ihre Jungs den besten Boden hat. Denn sie tat und gab alles für uns. Sie opferte sich auf. Mein Bruder und ich meinten, mit der Mitgliedschaft in der Partei habe sie einen Rückhalt in der Hand, eine Garantie, dass uns nichts passiert. Eine Art Versicherung, ich sage das ganz unzynisch. Sie glaubte uns. Sie merkte: Junge Pioniere, die sollen was werden, dahinter steckt ein Erziehungsziel, dem sie durchaus vertrauen wollte. Der Pfarrer mokierte sich, aber das perlte an ihr ab. Sie war fleißig, aber keine Aktivistin. Sie ist redlich mitgeschlurft. Wenn sie sich über manches Blöde in der SED keine Gedanken machte, so hieß das immer auch: Sie machte sich nicht die falschen Gedanken –  und genau das kann ja auch von Vorteil sein. Sie war anerkannt im Betrieb. Arbeiter bekamen in der DDR schnell mit, ob auch der Direktor sie achtete oder nicht. Benno Besson hat in einem Interview gesagt: „Ich hatte in der Volksbühne in Berlin aus ethischen Gründen die Pflicht und den Willen, einer Putzfrau anders zu begegnen als im bürgerlichen Theater.“ Einander zu achten, das glich einem gemeinsamen Auftrag im Betrieb. So jedenfalls war mein Sozialgefühl damals, und mit dem Gefühl ging meine Mutter arbeiten. Sie spürte im Staat etwas, das ihre Mütterlichkeit ansprach: Die wollen, dass es für meine Jungs vorwärts geht. Wie gesagt, ich war nie Kommunist, war nie in der SED, aber auch für mich lag, trotz aller Egoismen und Ängste und Engstirnigkeiten, ein Hauch von Gemeindesinn über allem. 101


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Der Ansatz des Systems war auch kollektiv, nicht nur ausschließlich kollektivistisch. Hatten Ihre Eltern ein Problem damit, dass Deutschland den Krieg verloren hatte? Nein, aber im Grunde hatten sie auch kein Problem damit, dass Deutsche ihn angefangen hatten. Meine Mutter war Deutsche, aber sie wollte unbedingt auch etwas Tschechisches im Stammbaum haben. Nur deutsch? Nee, das missfiel ihr. Eines Tages entdeckte sie, dass in einer Widmung, die Großvater irgendwo hineingeschrieben hatte, „Grasshof“ stand. Doppeltes „s“? Nein, um Gottes willen, das wollte sie nicht, das klang ja wie SS. Sie atmete auf, als sie Urkunden fand, die den Namen Grashof bestätigten. Die Soldatenzeit des Vaters, das Heimatverlustgefühl Ihrer Mutter, die Lehrer  –  überall Gegenwart, die Vergangenheit ausbrütet. Das Thema beschäftigt Sie. Es ist mir ja auch regelmäßig begegnet. Sehr weiter Sprung nach vorn: Am Schiller Theater, nach dem Ende der DDR, spielte ich mit Bernhard Minetti. Er der Erdgeist, ich Faust, Hilmar Thate Mephisto. Minetti und ich hatten eine gemeinsame Garderobe. Ich hörte ihm zu, er lobte mich, er konnte wunderbar auch die Überschwänglichkeit spielen, einen anderen für größer als sich selbst zu halten. Er war unverschämt generös, sich kleiner zu machen  –  es wirkte allerdings wie eine listige Aufforderung an den anderen, das sofort zu korrigieren und das Lob an ihn zurückzugeben. Und so spielte er also auch, ich sei der wahre Große. Ein beeindruckender Kollege. In Versammlungen des Ensembles meldete er sich meist gegen Ende zu Wort und fasste die akut besprochenen Probleme – in seiner unnachahmlich ziehenden, vokalzerrenden Stimme – gern in dem Satz zusammen: „Ich schaue immer nach vorn, nur immer nach vorn, nicht zurück.“ Worauf im Saal zu hören war: „Ja, das wissen wir, 102


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Bernhard, dafür bist du ja bekannt, das ist ja deine Spezialität.“ Er musste mit solchen Anspielungen rechnen, er ertrug sie, er vergaß sie von Versammlung zu Versammlung. Die Vergangenheit im Dritten Reich. Klaus Völker in seiner Minetti-Bildbiografie: „Bernhard Minetti war viel zu intelligent und vorsichtig, um sich so wie Gründgens mit den Nazis einzulassen, aber er machte viel mehr Kompromisse, als er sich eingestehen wollte; Mut und Risiko gab es für ihn eben nur im Spiel auf der Bühne.“ Es sei im Nachhinein, so Völker, Minettis Glück gewesen, dass er in seinen Rollen „Negativität, Anarchisches, Zersetzendes, Intrigantes, Mürrisches, Lebensekel ausstrahlte, dass er also beim breiten Publikum kein unbedingt beliebter Schauspieler war. Hätten ihn die Nazis hofiert, wie sie Gründgens oder Krauß oder Jannings hofierten, wäre er durchaus noch zu mehr Nazitum verführbar gewesen.“ Kollegen berichteten von einem DT-Gastspiel in Frankfurt am Main, da begrüßte einer der DDR-Schauspieler den Bernhard Minetti in der Kantine: „Guten Tag, Obersturmbannführer!“ Nicht sehr fein. Aber ähnliche Reaktionen gab es am Deutschen Theater auch. Friedo Solter probierte mit dem jungen Dieter Mann, das kostete Zeit, ein älterer Schauspieler langweilte sich, er drängelte, er mokierte sich über den begriffsstutzigen Dieter Mann. Das bemerkte Schauspieler Herwart Grosse, der unten im Saal saß, er schnarrte scharf hinauf zur Bühne: „Hör mal, dieser junge Kollege hat dir gegenüber zwei Vorteile: Erstens ist er talentierter, und zweitens lief er nie mit braunen Stiefeln über diese Bühne.“ Peinliche Stille. Manchmal öffnet sich der Riss durch eine Gesellschaft an unerwarteter Stelle.

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Friedo Solter. Ich denke daran, was er von der großen Elisabeth Bergner erzählte, als sie Ehrenmitglied des Deutschen Theaters wurde, 1985. Man sei im Intendantenzimmer von Dieter Mann auch über den Schauspieler Hans Otto ins Gespräch gekommen, der sich für seinen Nazi-Hass ermorden ließ  –  da habe die Bergner, die mit ihm auf der Bühne stand, unbegreiflicherweise gesagt: „Mein Gott, das hat er doch nicht nötig gehabt.“ Solter sagte, ihm sei der Atem weggeblieben – ein Schlaglicht auf die Frage, die die Welt immer wieder teilt: Was hat der Mensch nötig, um sich treu zu bleiben? Da will ich noch einen anderen Namen nennen: Will Quadflieg. Der die sorgenvollen Beschwörungen der Regisseure bei schwierigen Proben gern augenzwinkernd, heiter mit dem Satz abblockte: „Ja ja, lass mal, da schmieren wir dir schon hin!“ Quadflieg hat nie über das geschwiegen, was war und was er in der Nazizeit mitgetragen hat. Am Thalia Theater in Hamburg habe ich 1989 mit ihm auf der Bühne gestanden, in „Besucher“ von Botho Strauß. Regie führte Wilfried Minks, ein beeindruckender linker Analytiker. Ich spielte einen aus dem Osten, und Quadflieg war gewissermaßen eine ganz authentische Besetzung für einen Großschauspieler, der im Krieg „von Goebbels persönlich u. k. gestellt“ worden war. Minks war übrigens ein Mensch, dem ich gern wiederbegegnet wäre. Er sprach so weich, wie man in Böhmen sprach. Seine Stimme erinnerte mich an meine Mutter. Schriftsteller Ralph Giordano nannte Quadflieg einen der Wenigen, „der den Bann der Verdrängung sprengte und sich zu schmerzhafter Wahrhaftigkeit durchrang  –  auch gegen sich selbst, gegen die eigenen Verhaltensweisen in früherer Zeit, gegen das ,große Kapitel des Mitläufertums‘, wie er es nannte und dabei die Spitze gegen sich selbst richtete: ,Ich war auch einer!‘ Ich habe Quadflieg für diese Worte geliebt, es war wie ein Befreiungsschlag. 104


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Endlich Erlösung durch Wahrheit, wie sie allen anderen, die es nicht taten, doch ebenfalls möglich gewesen wäre. Einzig Victor de Kowa war zuvor schon den Weg Quadfliegs gegangen: die gleiche Eigenkritik an früherem Verhalten.“ Und Giordano erinnert an Rilke, der 1923, nach dem Ersten Weltkrieg, über Deutschland schrieb, was dann auch die frühe Bundesrepublik ausmachte: ein Land, „nur auf Rettung bedacht, in einem raschen, gewinnsüchtigen Sinne, es wollte leisten und hoch- und davonkommen“. Ja, die da drüben im Westen! Um jetzt auf Löbau zurückzukommen: Wir Jungs schrieben böse Briefe an die Geschwister der Mutter, die mit den Herrschaften nach Kaufbeuren gezogen waren: Ihr lebt bei den Kriegsverbrechern! Es klang ein wenig wie: Ihr seid selber welche! Wir dagegen seien Kämpfer für den Frieden. Eine antifaschistische Minderheit hatte in der DDR, historisch sehr wohl gerechtfertigt, die Macht übernommen, aber sie blieb doch Minderheit. Weil sie aber Tribun der Mehrheit sein wollte, erklärte sie die gesamte Bevölkerung für antifaschistisch. Drüben wurden die alten Eliten übernommen, das behinderte die gesellschaftliche Aufarbeitung, bei uns wurde alles grundsätzlich zum antifaschistischen Erbe erklärt, das behinderte ebenfalls die Aufarbeitung, und zwar die individuelle. Ich hab’s ja erzählt: Mein Vater und sein Besatzerlob gegenüber den Franzosen, und dann die Schule … Ihr Verdacht, was manche Lehrer früher wahrscheinlich mal waren. Ja. Und niemand fragte nach. Schon gar nicht forsch. Forsch fragen, das kann falsch sein. Aber falsch fragen ist besser als gar nicht mehr fragen. Gar nicht mehr fragen, das wird neue Schuld. 105


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Publizist Günter Gaus sprach von der „Gnade der späten Geburt“. Er meinte die Gnade, 1929 geboren worden zu sein: vom Krieg berührt, aber nicht mitten in dessen Grausamkeit hineingerissen. Gnade deshalb, so Gaus, „weil ich nicht für mich die Hand ins Feuer hätte legen wollen, ob ich  –  wenn ich an der Rampe in Auschwitz gestanden hätte, beim Selektieren  –  den Mut gehabt hätte zu sagen: Das tue ich nicht, macht mit mir, was ihr wollt, ich beteilige mich nicht an diesem Verbrechen.“ Das ist der Aufruf des negativen Möglichkeitssinns, der in jedem Menschen lauert. Ja, etwas Vergangenes sehen und sich klar werden: Nichts befreit aus persönlicher Haftung – nicht im Sinne von Verantwortlichkeit, man ist ja später geboren, aber sehr wohl im Sinne von Zuständigkeit fürs Kommende. Immer bin ich auch Kain, der den anderen nicht erträgt. Ich bin Absolom, der Vatermörder. Ich bin das blöde Volk. Ich bin Petrus, der Treue schwört und dann als Erster Jesus verleugnet, einen Moment depressiv wird, dann sofort wieder obenauf ist, erneut in der Rechthaberpose. Ich bin froh, dass ich das alles nicht durchleben muss. Und alles durchlebe ich doch  –  in meiner Seele. Oder auf dem Theater. Sei niemand zu gewiss, wenn über Anfechtbarkeit geredet wird. Du weißt nicht wirklich, wozu du fähig wärest, wenn sich die Verhältnisse nur um ein entscheidendes Bisschen in Richtung Druck und Fanatismus ändern würden. Wenn ich alt genug und mein Freund bei der SS gewesen wäre  –  wäre ich vielleicht nicht auch in diese schneidige Uniform gestiegen? Vor Jahren gab es eine Porträtgalerie des Malers Lutz Friedel: „Ich! Meine Selbstporträts zwischen 1635 und 2003“. Er in vielen Geschichtsgestalten, als Märtyrer, aber auch als Hitler. Lutz Friedel? Den kenn ich gut. 106


Gespräch

Deshalb erwähne ich ihn jetzt. Er hat Sie gemalt, als Sie „Dantons Tod“ probierten. Er war bei Proben dabei, ja. Genau das Thema, worüber wir jetzt reden, hat ihn bei seinen provozierenden Selbstporträts bewegt: „Offen ist eine Gesellschaft nur, wenn sie den Rückblick als Blick in eine offene Wunde begreift.“ Du bist verführbar fürs Grässlichste. So, wie man fürs Gütigste verführbar bleibt. Sei nur keiner zu gewiss, wenn über Anfechtbarkeit geredet wird. Herr Grashof, wurde Ihre Mutter geliebt? Von ihrem Mann? Vater ging fremd. Sie wusste es. Sie schüttelte den Kopf –  und schwieg. Manchmal beauftragte sie mich mit Beobachtung: Ich solle mal ins Wirtshaus gehen, ins „Gambrinus“, und nachsehen. Ich ging, sah ihn mit Männern, mit Trinkkumpanen, er bestellte mir eine grüne Limonade, ich trank aus, er schickte mich wieder heim. Meiner Mutter erstattete ich mageren Bericht, sie schüttelte erneut den Kopf. Wohl mehr über mich und meine mangelhaften Späh-Talente als über ihren Mann. Aber glaubte sie denn wirklich, er würde die Kneipe als Bühne für seine Eskapaden benutzen? Meine Mutter nahm an, sie hätte bei ganz anderen Männern Chancen. In meiner Kindheit klingelten des Öfteren Produkt-Vertreter an der Wohnungstür. Wenn ich das erzähle, kommt mir natürlich „mein“ Willy Loman in den Sinn. „Tod eines Handlungsreisenden“, 2003 am Deutschen Theater. Ja. Meine Mutter beschwor in Abständen einen OdolMann, der bei uns geklingelt und seine Parfüme und Wässerchen angeboten hatte. Der muss sie beeindruckt haben, er schien das Inbild des Mannes zu sein, mit dem sie gern durchbrennen würde. Manchmal glühte sie ge107


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radezu vor Ehrlichkeit: Ja, so ein Mann, das wär’s! Und bevor mein Bruder und ich fragen konnten, weswegen sie das große Abenteuer denn unterließ, sagte sie: „Wegen euch!“ Die Liebeserklärung an uns war zugleich Erweckung unseres schlechten Gewissens: Wir Söhne verhinderten gewissermaßen das Glück unserer Mutter. Sie meinte das nicht so, aber Kinder sind ja ganz schnell bereit, eine Schuld auf sich zu nehmen, die sie gar nicht haben. Also: Zärtlichkeit zwischen meinen Eltern habe ich nie gesehen, nie gespürt. Da war auf einen Zweck hin geheiratet worden. Der viel mit den Zwängen der Zeit zu tun hatte, mit einer Not und Eile, die auf Hilfsgemeinschaften hinauslief? Ja. Die Zeit hat es nicht gut gemeint mit ihnen. Es fehlten wohl die Kraft und die Mittel für wirklich freie Entscheidungen. Leben war Trotz gegen die Verhältnisse, nicht Lust, sich in ihnen auszuleben, auszubilden  –  so waren die Verhältnisse nicht. Wenn ich an meine Eltern denke, denke ich Trauer: Was Menschen so abgefordert werden kann, ohne dass sie die Chance haben, Weichen selber umzulegen, für die ganz andere Richtung, die so ein kleines, so ein elend und gnadenlos befristetes Leben nehmen könnte. Mein Vater ist in dieser Ehe, wenn man so sagen darf, mitgelaufen. Eigentlich ein lustiger Mensch. Durch ihn kam ich zum Interesse an Fußball, am Wochenende nahm er mich mit auf den Sportplatz, kaufte mir eine Rolle Sportkeks und hoffte, ich würde mich nun zufrieden trollen  –  aber ich blieb zwischen den Erwachsenen, schaute zu. Sprach Ihrer Mutter über die Ehe? Nie. Nicht über ihre Ehe, nicht über die Verwandten, nicht über ihr innerstes Empfinden. Auch später nicht oder dann nur in knappen Andeutungen, die darauf verwiesen, es bitte dabei zu belassen und nicht nachzufragen. 108


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Sie konnte furchtbar und entschieden schweigen. Wenn ich bei irgendeinem Streich erwischt worden war oder etwas anderes Ungehöriges getan hatte, rief sie mich zu sich, und ich wusste, jetzt würde sie gefühlte zwei Stunden lang schweigen. Das kam mir manchmal schlimmer als eine Ohrfeige vor, es war die in die Länge gezogene Folter, nicht erlöst zu werden. Und jetzt kommt’s! Eine siebzigjährige Frau, ein Leben lang an Regel, Maß und Sitte gewöhnt, schreibt eines Tages einen Zettel, darauf steht nur: „Bin weg, komme nicht wieder.“ Sie legt den Zettel in die Mitte des Küchentisches, an dem sie ihn schrieb  –  und geht. Und kommt wirklich nicht wieder. So hat meine Mutter Löbau verlassen, ist nach Berlin gezogen, ließ meinen verdatterten Vater zurück und sich wenig später von ihm scheiden. Dass meine Mutter sich zu vorgerückter Lebensstunde noch zu sowas durchrang, sagt ja sehr viel. Es war die Zeit, so um 1970 herum, da ich von Karl-Marx-Stadt ans Deutsche Theater kam. Mutter wohnte die ersten sechs, sieben Wochen in der Warschauer Straße. Diese Wochen vergingen, ehe ich davon erfuhr. Sie wollte mich nicht beunruhigen, da ich ja ebenfalls gerade einen großen biografischen Einschnitt erlebte. Und Ihr Vater? Begriff nichts, nahm alles hin. Meiner Mutter besorgte ich in Berlin eine Wohnung, später einen Heimplatz. Gearbeitet hat sie in der Nationalgalerie, auch im Märkischen Museum  –  beim Einlassdienst. Ihr Verhältnis zu den Malern glich dem zu Schiller: Du, der hatte ooch keen einfaches Lähm! Die Maler! Witzigerweise hatte meine Mutter mir früher immer beim Zeichenunterricht geholfen. Wenn wir als Hausaufgabe Bäume malen sollten, griff sie für mich zu Stift und Pinsel.

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Hat Ihr Vater versucht, Kontakt aufzunehmen? Er schrieb eine Zeitlang Briefe. Meine Mutter antwortete nicht. Bei der Scheidung ging’s dann tatsächlich ums Eingemachte: Wer bekommt die zwei, drei Gläser Honig? „Die gehören mir!“  –  „Nein, mir!“ Das war nicht schön, aber es war auch komisch. Wenn ich meinen Vater besuchte, zeigte er sofort in alle Ecken: „Is’ alles nicht einfach, Junge, das sag ich dir. Aber hier, guck hin, alles sauber, überall Ordnung. Kannste dir ansehen, wirst nichts finden!“ Das war sein Begrüßungsstandard – zu dem aber unbedingt auch dies gehörte: „Willste was essen? Haste was mitgebracht?“ Oft machte er den Vorschlag, spazieren zu gehen: Er wollte mich, den Schauspieler, den Leuten vorzeigen. Gablonz, Löbau, dann Berlin. Ist Ihre Mutter nochmal sowas wie heimisch geworden? Wurde sie ja nirgends, war sie nie. Aber sie wollte immer wegziehen, nach Görlitz oder Bautzen oder Dresden. Löbau? „Wir sind nicht von hier“, sagte sie. Wie gesagt, Vater war anders  –  Weltmännlein mit Zigarre und uraltem Anzug, aber das ein für alle Mal in Löbau. Der kannte jeden Winkel der Stadt. Das genügte ihm: Alle Welt ist Provinz, und die Provinz ist die ganze Welt. Meine Mutter ist mit dem schon erwähnten Gedanken gestorben, mit dem sie so lange gelebt hat: „Hier isses nich so schön wie daheim.“ Mit dem Gedanken bin auch ich großgeworden, ich habe irgendwann nicht mehr nach Heimat oder so etwas gefragt. Meine Mutter hatte ein Zuhause, das sie verlor, ich hatte nie wirklich eines. Aber Sie litten an Fremdheiten nicht wirklich, oder? Ich ging auf Leute zu. Blieb aber vorsichtig.

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Gespräch

Dass Ihr Bruder auch Schauspieler wurde  –  ein Ergebnis gemeinsamer Berufsberatung? Nein. Ich dachte nur immer: seltsam, er also auch. Es gab nie Gespräche über Schauspielerei. Eigentlich wollte er Völkerkunde studieren, das klappte aber nicht, es wurde für dieses Studium politisch wohl mächtig gesiebt. Also studierte er Medizin, in Bukarest, bis zum Physikum, dann hörte er aus heiterem Himmel auf, ließ sich aber von meiner Mutter wieder aufmuntern. Diese kleine Frau aus Löbau! Mit ihrer Bakelit-Handtasche fuhr sie tatsächlich nach Berlin ins zuständige Ministerium und schaffte es, dass Max erneut immatrikuliert wurde. Aber Arzt ist er trotzdem nicht geworden. Er brach wieder ab, diesmal endgültig, arbeitete im Kombinat Schwarze Pumpe, ging auf die Schauspielschule, an der auch ich studierte, siedelte später in den Westen über. Warum Schwarze Pumpe? Das Kombinat in Sachsen war damals in der DDR sowas wie der Goldgräber-Ort, dort konntest du arbeitend verschwinden, dort sammelten sich die, die Geld verdienen wollten, ohne allzu sehr unter Staatskontrolle geraten zu müssen. Man musste schuften, blieb aber unbehelligt  –  das war ersehnter Teil des Lohns. Die Standardfrage: Wollten Sie von früh an Schauspieler werden? Ich gehörte zur ersten Generation, die neben dem Abitur eine Berufsausbildung erhielt. Logischerweise führte das in unserer Gegend in die Textilindustrie. Hätte man mich gefragt, ob ich Textilingenieur werden wolle, wäre ich Textilingenieur geworden. Manchmal entscheidet im Leben, wer zuerst welche Frage stellt. Zufall, was sonst. Bei einem Rezitations-Wettbewerb in Dresden fragte mich der Juror Karl Rüdiger, Intendant des Theaters der Jungen Generation in Dresden, ob ich Schauspieler wer111


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den wolle. Ich bejahte. Er war mit seiner Frage den Textilingenieuren zuvorgekommen, und so führte mein Weg ins Theater. Ich war auf naive Weise offen oder auf neugierige Weise gleichgültig oder auf lockere Weise unentschlossen. Ich weiß es nicht, ich war jedenfalls nicht festgelegt und gab dem Theater total ahnungslos mein JaWort. Rüdiger ging nach Frankfurt an der Oder, ich blieb in Kontakt mit ihm, er meinte, ich solle Theaterluft schnuppern, indem ich erst mal „Kulissenschieber“ werde. Ich wurde es, in Frankfurt. Mir gefiel die Arbeit, und es hätte durchaus geschehen können, dass ich es bis heute geblieben wäre. Das Theater in Frankfurt gibt es längst nicht mehr. Gar nicht so lange her, da stand ich vor diesem leeren Haus, das vor sich hin wittert. Da drin, dachte ich, fand ein kleiner Teil deines Lebens statt. Jetzt gehört es längst dem Staub, dem Schimmel, allem, was die Natur und die Zeit an Überwucherungstechniken aufbieten können. Vor solchen verlassenen Stätten und Orten stehe ich immer sehr still. Da kratzt dich die eigene Vergänglichkeit an.

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DIE UNVERSCHÄMTHEIT DER ANSPIELUNGEN

STIMMEN

Klaus Völker Thomas Martin Steffi Kühnert


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Als Torquato Tasso, Deutsches Theater 1975


Stimmen

Klaus Völker Das Feine und das Fiese

Für Adolf Dresen, Hans Brosch, Volker Pfüller, Alexander Lang, Christian Grashof, Katja Paryla, Dieter Montag zum Beispiel, die in den Jahren 1970 bis 1986 ihr Abenteuer „Theater“ oft gemeinsam suchten, war die Basis ihrer Leidenschaft vor allem: Interpretationslust – um den Spielvorgaben von Dramatikern zu überzeugender Gegenwärtigkeit zu verhelfen, die Texte zu szenischem Leben zu erwecken. Ihre Theaterarbeit waren Versuche, Zusammenhänge mit der eigenen Lebenswirklichkeit und mit der ihrer Zuschauer auszutesten. Christian Grashofs Berliner Debüt am Deutschen Theater war kein Senkrechtstart, sondern ein „Moment-Auftritt“ in der elegisch spielerischen, poetisch verrückt-entrückten Inszenierung des Malers Horst Sagert von Lorcas „Doña Rosita bleibt ledig“. Grashof war der „Jüngling“, der im letzten Akt der Tragödie unschuldig herumgeistert und in der zur alten Jungfer verblühten Rosita Erinnerungen wachruft an ihren Verlobten, der nach Mexiko gereist ist, aber nie zurückkehrt, um sein verbindlich gegebenes Heiratsversprechen einzulösen. Die bürgerlichen Moralvorstellungen zwangen die Braut zu Keuschheit und Alleinsein, was Sagert in bedrückenden, fantastisch bedrängenden Bildern verdeutlichte. Der eher zartbesaitete Darsteller des Jünglings war dann ein ruppiger, meist lächelnder Fiesling in Manfred Wekwerths Inszenierung von „Leben und Tod König Richard des Dritten“, Grashof und Dieter Franke spielten hier ein plebejisch gewitztes Mörderpaar.

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Die Unverschämtheit der Anspielungen

Adolf Dresen hatte freilich in dem einerseits also sanft-beherzten, andererseits doch zum zupackenden Mörder tauglichen Schauspieler Grashof auch die richtige Besetzung für den Beaumarchais in seiner „Clavigo“-Inszenierung gefunden. Alexander Lang sollte den Clavigo spielen, der aber dann von Dieter Mann verkörpert wurde. 1976 kam es schließlich zum lange ins Auge gefassten Zusammenspiel von Lang und Grashof in der eindrucksvollen Inszenierung von Klaus Erforth und Alexander Stillmark des in einer Gefängniszelle auf der südafrikanischen KZ-Insel Robben Island spielenden Stücks „Die Insel“ von Athol Fugard. Eine Aufführung des Deutschen Theaters im „bat“ war das vorweggenommene Satyrspiel zu Langs genialer Inszenierung von Büchners Schauspiel „Dantons Tod“ – die ein kühner Versuch war, dieses Stück auf der Kopfbühne des Autors spielen zu lassen. Fast in jeder Spielzeit gab es nun am Deutschen Theater miteinander in Verbindung gebrachte Stücke und tolle Inszenierungen von Alexander Lang, ausgestattet von Volker Pfüller, in denen Grashof markant besetzt war. Dann inszenierte Alexander Lang an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater und am Schiller Theater in Berlin. Auch Grashof spielte am Thalia Theater und war ein leidenschaftlich aufbrausender und dann schnell sich duckender, kleinlaut verliebter Fernando in Thomas Langhoffs Münchner „Stella“-Inszenierung mit Cornelia Froboess als Cäcilie und Sibylle Canonica als Stella. Nach der Wende, als Thomas Langhoff Intendant des Deutschen Theaters wurde, arbeiteten Lang und Grashof wieder am Deutschen Theater, konnten ihre alten Erfolge und Arbeitsweise aber nicht mehr revitalisieren.

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Stimmen

Christian Grashof gehört noch immer zu den herausragenden Darstellern des Deutschen Theaters. Er versteht es, sein Publikum zu erobern. Wenn ihm der Regisseur für die Rolle kein sicheres Gerüst zu bauen versteht und nur an der Wirkung seiner Einfälle interessiert ist, rettet sich Grashof gern in die Persiflage, laut Kortner „die Pestilenz in der Kellnersprache des Rampendienstes“. Aber in empfindsam und genau gearbeiteten Ensemble-Inszenierungen wie Jürgen Goschs „Onkel Wanja“ machte er seinem (Be)Ruf alle Ehre. Vor allem sein Willy Loman in Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ war ein Glanzstück psychologisch fein ausgeloteter Charakterisierungskunst, herzergreifend, aber nie einfühlend sentimental, sondern geschuldet einem sozialen Gestus. Klaus Völker, 1938 in Frankfurt am Main geboren, ist Theaterhistoriker und Publizist. Er arbeitete als Dramaturg in Zürich, Basel, Bremen, am Berliner Schiller Theater. Von 1993 bis 2005 war er Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Er schrieb zahlreiche Bücher, so über Bernhard Minetti, Bertolt Brecht, Boris Vian, Elisabeth Bergner, Hans Lietzau, Fritz Kortner.

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Die Unverschämtheit der Anspielungen

Thomas Martin Der König in der Hocke

Wenn es um Christian Grashof geht, kann ich nur einen ganz kleinen Abschnitt beschreiben, eine Epoche. Die Epoche Grashof. Er ist einer von denen, die – wie man später, wenn alles vorbei ist, sagen wird – eine Epoche prägten. Dass in der Geschichte des Theaters die Epoche nur ein Augenblick ist, macht nichts aus. Es sind Momente, die unser Leben verändern. „Die Situationen sind die Mütter des Menschen“, meint Brechts Fatzer, als er an einem Mittwochnachmittag den Weltkrieg beendet. „Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht“, meint Büchners Dantondarsteller Georg, meint RobespierreDantonGrashof, als er für zwei knappe Stunden auf die Bühne tänzelt, die nicht nur meine Welt erschüttert haben. Grashof eröffnete mit „Dantons Tod“ eine Spielweise, die meine Sicht auf jede folgende Darstellungsart lange bestimmt hat. Schon rein physisch, physiognomisch war die Erscheinung dieses Schauspielers speziell: zerbrechlich, fast schon zerbrochen von Gestalt, hohe Stirn, kantiger Schädel, Kindsgesicht, zerschlagene Nase, Bewegungsabläufe, in denen Spastik und Spielastik, Präzisionsgestik und Appell an die Massen mühelos wechselten, ein jugendlich nasal singendes bis psychopathologisch röhrendes Organ, das jeder gestischen und mimischen Facette eine stimmliche addieren konnte, mit Goethe: ein vulkanisches Talent. Grashof erschien auf der Bühne wie aus dem Gelenk geschüttelt. Einer der Spielmänner, wie sie in Gestalt von Schall, dann Grashof, Hübchen, Mühe, Wuttke erschienen. Sie sind an sich nicht komisch, sie transportieren Komik übersetzt. Es sind Schauspieler, die immer 118


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zugleich neben sich stehen; der Typ, der da spielt, liefert sich mit. Das muss an sich keine Qualität bedeuten, aber es ist eine Herausforderung. DantonRobespierre: Der fließende Rollen- und Perspektivwechsel in einer Figur schien Grashofs extrem gestischer Spielweise nicht nur zu entsprechen, er entsprang ihr unmittelbar. Ein Jahrhundert an Spielweisen wurde hier aufgeführt, zitiert, wieder abgeschafft und vorgeführt auf dem schmalen Grat des Manierismus, der am schmalsten war in der Höhenluft des Deutschen Theaters in der Schumannstraße, Ost-Berlin. Das war im Sommer 1981, ich ging noch zur Schule, und es war die Zeit, in der von den Texten auf der Bühne mehr über die Lage des Landes zu erfahren war, als aus den Nachrichten, die Zeit, in der man Programmhefte intensiver als Zeitungen nach Wahrheiten durchforstete. Ein Vers von Hölderlin, ein Kafkatext, ein Titel von Peter Weiss waren als Konterbande zu lesen. Ich erinnere mich an „Philoktet“, 1979, Heiner Müller nach Sophokles, ein Schulklassenbesuch im Deutschen Theater (mein erster, seit ich dort Bessons „Drache“ gesehen hatte, auch so ein Schock fürs Leben, ein Kinderschock), der Eiserne Vorhang ächzte nach oben und blieb nach anderthalb Metern Höhe stehen. Eine Lichtwalze brach in den dünn besiedelten Zuschauerraum, nach und nach waren heruntergefahrene Scheinwerfer und Kronleuchter zu ahnen, eine Bühne voller Löcher, offene Versenkungen, ein (1) Stuhl. „Das ist der Platz, Lemnos …“ Irgendwas war da kaputt, und Lemnos war es nicht. Grashof schlenderte als Odysseus unbestimmt durch diese Leerlandschaft, und soweit ich mich erinnere, hockte er auffallend oft. Vielleicht ein Knieproblem, vielleicht Regieeinfall. Zwischen Roman Kaminski, Neoptolemos, und Alexander Lang, Philoktet, die tobsüchtig über die Ab119


Die Unverschämtheit der Anspielungen

gründe rasten, war Grashof ein zynischer, auf den Fersen wippender Schmalprinz in Schwarz, von dem aber durchgehend das viel schlimmere Gewitter zu erwarten war. Etwas kündigte sich an. Dann erschien Grashof als „Entfesselter Wotan“, Ernst Toller, den sah ich Anfang der achtziger Jahre in einem Kinofoyer, weil das sagenhafte Deutsche Theater anlässlich seiner hundert Jahre renoviert und wiedereröffnet werden sollte mit dem größten „Faust“, den es bis dahin gegeben haben sollte. Faust kam nie, dafür kam Grashof. Kam der Pächter, Pächter Callas aus Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ auf die neu genagelte Bühne des Deutschen Theaters. Kam Christian Grashof in Alexander Langs Inszenierung, in Volker Pfüllers Ausstattung und Kostümen, in denen als erstes wirkliche Mode auf der Bühne erschien. Es war eine dieser Konstellationen, für die Glücksfall ein zu geringes Wort ist, denn zuerst war es Arbeit. Und war nicht weniger als ein grundlegend neues Theater, verpönt, umstritten und umjubelt, missverstanden und bestaunt. Woran ich mich erinnere: das Fragmentarische, die permanente Brechung, die Verschiebung der Realitäten ineinander, der fiese Witz, die Accessoires aus der Gegenwart, der Müll, der Müll und die Tänze, die Unverschämtheit der Anspielungen, die über alles, was im Kunstschutzraum Theater im Osten so angespielt werden konnte, hinausgingen für den Achtzehnjährigen, der ich damals war. Callas, der Pächter: Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, krass die hochpolitische Bedeutung, die das Ausschütten eines blauen Plastemüllsacks hatte, aus dem leere Bierdosen auf die Bühne schepperten. Ein subversiver Akt. In der DDR, so hieß abgekürzt das Land, in dem das alles stattfand, gab es keine Müllsäcke aus Plastik, schon gar keine blauen, es gab keine Bierdosen, 120


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kein Plastebesteck und überhaupt wenig Verpackung, abgesehen von der ideologischen. Dann wurde noch ein mannsgroßer Sony-Recorder auf Grashofs Schultern gewuchtet, und er tanzte damit und mit einem Vorderlader und überlangem Bajonett, mit dem er zuvor einen Schauspieler abgestochen hatte wie ein Schwein, aber choreografisch vollendet, weil es sich um den Klassenfeind handelte … und dann tanzte er, Callas Grashof, unter Drogen zu den zerrenden Klängen von „Also sprach Zarathustra“ in die Nacht hinter der Bühne. Bei Christian Grashof habe ich zum ersten Mal das Handwerk und die Kunst in Transzendenz auf der Bühne gesehen: Brüche in die Bühnenbiografie der Figuren einzuziehen, Dimensionen zu öffnen, wenn er, der der Schauspieler ist, dir unvermittelt zeigt, dass er es ist, ein Mensch von Graden, Glück, Entsetzen und Verletzungen, der das tut. Mit Brecht gesagt und seiner Utopie von Epischem Theater: „Ich bin gespannt, ob es mir gelungen ist, dem Epischen Geschwindigkeit zu verleihen – man muss ja nicht glauben, dass es grundsätzlich gemächlich sein muss.“ Christian Grashof ist einer von denen, denen es gelungen ist. Die Geschwindigkeit ist eine gedankliche; daran gearbeitet zu haben, ich würde sagen, das ist die Königsdisziplin. Viel gespielt, lange gehockt, eine Epoche geprägt, und jetzt quält ihn sein Knie. Kein schlechter Stand. Thomas Martin, 1963 in Berlin geboren, ist Dramatiker, Lyriker, Publizist und Regisseur. Von 2010 bis 2017 war er Hausautor und Künstlerischer Produktionsleiter der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

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Die Unverschämtheit der Anspielungen

Steffi Kühnert Mehr als eine Tasse Tee

Seit Anfang der achtziger Jahre ist Christian Grashof in meinem Leben präsent. Als ich mein Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin begann, war das die Theater-Hoch-Zeit des Regisseurs Alexander Lang und seiner Mitstreiter am Deutschen Theater Berlin. Wir als Schauspielstudierende hatten das große Glück, gerade in dieser Zeit in Berlin zu sein und am DT jede heiß ersehnte Premiere erleben zu dürfen. Was zur damaligen Zeit das Maß aller Dinge in der DDR-Theaterlandschaft und darüber hinaus war, es hat uns enorm geprägt. Wir hatten einen Fanblock gegründet und etliche Aufführungen zigmal gesehen. Sowohl die Mädchen als auch die Jungs unseres Studienjahres waren verliebt in diesen energetischen, charismatischen Schauspieler Grashof. Seine Kunst bedeutete für uns eine Revolution auf der Bühne. Wir hatten uns stets Plätze in den vordersten Reihen organisiert, was uns finanziell ruinierte. Aber dieser Preis war uns nicht zu hoch: Wir wollten ihn sehen, aus nächster Nähe, wollten, lernbegierig, hinter das Geheimnis seiner Faszination kommen. Die Haare schüttelnd, immer voller Energie, nie nachlassend, stundenlang am Stück, hat er seinen Figuren eine unnachahmliche Kontur gegeben, mit Haltung, klug, kraftvoll, zart, erotisch. Wir sahen ihn, träumten davon, einmal mit ihm auf der Bühne stehen zu dürfen – und sei es, um ihm im Vorbeigehen einen Tee zu servieren. Und dann kam der Moment. Nach vielen Jahren in der damaligen DDR-Provinz wurde ich erst ans Schiller Theater, danach ans Deutsche Theater Berlin engagiert. Voller Ehr122


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furcht und Demut stand ich da. Und dann kam er! Mein Idol! Christian Grashof! Was soll ich sagen? Es war gar nicht so schlimm! Mir gegenüber ein Kollege, ein Mensch, die Haare mittlerweile etwas schütter (entschuldige, Chris!) – heute hat er einen rasierten (SEHR SCHÖNEN!!) Kopf. Er hat mich damals in Empfang genommen, wie man so sagt: auf Augenhöhe, hat sofort kommuniziert, sehr witzig und entspannt. Ich glaube, er wusste nicht um meine zittrigen Knie. Er hat mir schnell meine Angst genommen, das war schön, und mir meine Entkrampfung leicht gemacht, für mich eine Erlösung. Und wir haben zusammen auf einer Bühne gespielt, und ich durfte mehr, als ihm ein Getränk reichen. Ein erfüllter Traum! Später unsere Begegnung an der Schauspielschule. Als ich feste Professorin wurde, hatte er bereits viele Szenenstudien erfolgreich hingelegt. Wir haben uns stets auseinandergesetzt über die Qualität unserer Arbeiten mit den Studierenden, über Sinn und Ziel der Ausbildung. Bei allen Zwischentönen und Varianten – unsere gemeinsamen Nenner waren und sind: Konkretheit, Leidenschaft, Wahrhaftigkeit und Humor. Er fordert von seinen Schülern das, was er stets selber hatte und hat: Einsatzkraft und Hingabe. Da macht er uns allen noch immer was vor. Er sitzt da unten, am Fuße der Probebühne … sitzt? Stimmt ja gar nicht, er wuselt rum, hat Hummeln und könnte platzen. Das gefällt mir! Er hat Energie für all die jungen Leute da oben. Wenn die vor Erschöpfung zum ersten Mal gähnen, da geht seine Maschine erst richtig an. Er lässt nicht locker, es ist eine Freude! Ich hoffe, mir meine Leidenschaften auch so lange zu bewahren. Er ist für mich Lehrer und Vorbild, das mittlerweile seit fast vierzig Jahren. Ich freue mich immer sehr, ihm zu be123


Die Unverschämtheit der Anspielungen

gegnen, sofort haben wir uns was zu sagen, die Münder stehen nicht still, und sei es der aktuellste Theaterklatsch. Mit ihm geht alles. Er hat mir die aufregendsten Theatererlebnisse beschert, von denen ich zehre. Bilder, Geschichten, die ihre Konturen bis heute nicht verloren haben, die stark in mein Gedächtnis eingebrannt sind. Danke! Steffi Kühnert, 1963 geboren in Berlin, spielte an Theatern in Weimar, Salzburg, Wien, Bochum, Zürich. Als Filmschauspielerin wurde sie vor allem in Arbeiten von Andreas Dresen bekannt. Sie ist Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.

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NICHT DAS BOXEN, SONDERN SHAKESPEARES BALKON GESPRÄCH

Mörder spielen oder Henker? Beide! Gefesselt an das Unerfüllbare Psychologie? Das ist Charité, nicht Theater Rechne mit Kindern in den Büschen! Alfred Matusche riet zur Elefantenjagd Erst das Thema, dann der Handstand



Gespräch

HANS-DIETER SCHÜTT: Nochmal genauer zu Ihren frühen Spiel-Gedanken und Spiel-Gelegenheiten. Über sich selbst haben Sie geschrieben: „Löbau ist klein. Aber dort bin ich Schauspieler geworden. Von der Schulbank weg. Im Protest gegen die Schulbank.“ Also doch: der beizeiten erwachende Spiel-Wunsch. CHRISTIAN GRASHOF: Ja, aber zunächst überhaupt nicht mit dem Gedanken an eine berufliche Perspektive. Einen Lehrer gab es, der hat mit uns Kindern Theaterstücke eingeübt. Ich war das Eichhörnchen. Ich musste am Gestell der Schultafel hochklettern und war dabei viel zu laut. Der Lehrer gab mir sogar eine Ohrfeige – ein klarer Missbrauchsfall von Regietheater. Dann spielten wir Andersens Märchen „Die wilden Schwäne“. Ich war der Hofmarschall. In einem richtigen Große-Leute-Kostüm mit Spitzenjabot und Perücke. Ein Maskenbildner hat sich mit mir abgegeben – ich fand das wundervoll. Das war nicht lästig und nicht so langweilig wie die Haareschneide-Prozedur beim Friseur. Ich wäre bei dem Maskenbildner, hätte man mir’s erlaubt, stundenlang auf dem Stuhl sitzen geblieben und hätte mich anmalen lassen. Schule hieß ja sonst nur: brav sein, stillsitzen. Vom Katheder, von oben herab also, regierte der Lehrer. Streng, mit der Forderung nach Fleiß wurde ein Pensum abgefragt. Aber wenn wir Theater spielten, war der Lehrer mitten zwischen uns, ohne Katheder. Indem er etwas anwies, spielte er doch mit uns. Ich konnte plötzlich machen, was ich wollte, ich konnte reden und erfinden, wonach mir der Sinn stand. Im Unterricht war das verboten – jetzt wurde ich dafür gelobt. Dazu die Unsicherheit, die seltsamerweise etwas Schönes hatte: Schaff ich’s oder schaff ich’s nicht. Treibende Unsicherheit, nicht lähmende Angst. Theater damals wie noch heute? Absolut. Schauspiel ist eine Betätigung, die ich hoffent-

„Trotz aller Masken: Bleib bei dir selbst!“ (Christian Grashof)

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Nicht das Boxen, sondern Shakespeares Balkon

lich immer so veranlagen kann, dass man es im Moment für gelebtes Leben hält. Theater muss ein völlig angstfreier Raum sein. Weil man als Schauspieler gelegentlich etwas ausprobiert, das so ausschaut wie etwas, das weit über das Gebotene hinausgeht? Es soll darüber hinausgehen! Theater bestärkt die Gewissheit von einer im Grunde verkehrten und versehrten Realwelt, in der es aber Orte gibt, wo die Verbote – im wahren Sinn des Wortes: verantwortungslos – übertreten werden. Also: Zum Theater zu gehen, geschah bei mir aus dem Impuls, überhaupt nie mehr in Hauptsache fleißig sein zu müssen, sondern nur spielen zu dürfen. Sie entwickelten offenbar überhaupt kein gutes Verhältnis zur Oberschule. Meine soziale Stellung machte mich klamm. Sozialer Status hat auch mit Schwingungen zu tun, die nicht messbar sind. Ich bewegte mich wie ein Eingeschränkter. Ich weiß, das war zum Teil ungerecht, denn das öffentliche politische Bewusstsein stärkte einen Jungen wie mich, ich gehörte zu den Geförderten. Alles begriffen, und trotzdem: Ich empfand mich als einen, der aus Nöten kam – und dem man das ansah. Ein bisschen bin ich durchgeflutscht wie ein Asozialer, der einfach nur besser wittern konnte als andere. Die Oberschule verließ ich, wie man ein Gefängnis verlässt: kein Blick zurück! Als wir das Abitur in der Tasche hatten, gehörte ich zu denen, die das Eingangsschloss der Schule vergipsten, mit einer Tortenspritze. Wirklich schön – das Zeug hielt wie Beton. Das Abitur ist für mich Erinnerung daran, dass den neuen Anzug ich bekam, nicht der Vater, schon gar nicht die Mutter ein Kleid. Gingen Sie ins Kino? Na klar, die Russenfilme, grundsätzlich aus der ersten Kino128


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reihe genossen, weil man dem Geschehen da ganz nahe war – und man auch besser gehört wurde, wenn man die Guten, sprich die Roten, mit lautem Gebrüll anfeuerte. Später, im Alter der hinteren Kinoplätze, die man am liebsten mit Mädchen teilte – da drehte mir der Grigori des „Stillen Don“ das Herz um. Wie hieß Ihre erste Freundin? Antje. Theaterbesuche gab’s auch? Es war in der 10. oder 11. Klasse: In der Turnhalle gastierten die Görlitzer mit „Emilia Galotti“ und hinterließen die vage Erinnerung an ein Bühnenbild mit schön geschwungenem Bogen, unter dem einer herumstand, weiß Gott wer, weiß Gott warum. Auch war ich mal in Zittau in der „Zauberflöte“. Ich glaube, Nachbarn haben mich mitgenommen. Wie sehen Sie sich auf alten Klassenfotos? Man zweifelt ein wenig daran, dass man mal der auf solchen Foto war. Auf solchen Fotos sind Ihre Haare mal kurz, mal sehr lang. Das ist der Wechsel des Zeitgeistes – und die Opposition dagegen. In der Oberschule gab es Ermahnungen, weil ich mir das Haar kurzgeschoren hatte – das war meine Art der Brecht-Ehrung. Aber mit diesem Dichter zu kommen, war damals keine Empfehlung. Und als ich die Haare später lang trug, gab es auch wieder Ermahnungen. Ich muss ja zugeben: Nie sah ich wirklich schön aus. Ich störte Harmonien. Ich tat halbstark, und gleich hieß es, ich wolle die DDR kippen.

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Nicht das Boxen, sondern Shakespeares Balkon

Sie sprachen von der Lust am Spielen. Als es dann an den Beruf ging, war dem erneut eine Schule vorgeschaltet. Ja, die Berliner Schauspielschule war aber die erste Schule, die mir gefiel. Allerdings hat sie mir auch gefallen müssen. Denn sie war, da haben Sie recht, der notwendige Durchweg zum richtigen Theater. Das begriff ich schnell. Vor diesem Durchweg, der mir wie ein Nadelöhr vorkam, stauten sich viele junge Leute. Ich sah sie und sah also Größere. Ich bin eher klein, das ist ein Manko für einen Schauspieler; ich sah auch, dass die meisten selbstgewisser waren als ich, die kamen eben nicht aus Löbau in Sachsen. Im Ohr hatte ich eine Prognose, die man mir mitgegeben hatte, ich weiß gar nicht mehr, wer. Aber dieses Wort klang nach, mal schrill, mal dunkel, mal hämisch, mal traurig: „Er wird das nicht durchhalten, er ist zu zart.“ Im anderen Ohr aber auch bald das aufmunternde Urteil: „Es ist erstaunlich, was Sie können – und dass Sie das alles so locker machen!“ Beide Einschätzungen kämpften miteinander. Die Aufmunterung siegte. Ich wurde fleißig. Meine Lehrer in der Grundschule hätten mich nicht wiedererkannt. Der Stoff an der Schauspielschule war für mich Hänfling wirklich eine Breitseite. Ich nahm die Hürden, jede Stunde, jede Aufgabe. Dabei zeigte sich, dass es ganz nützlich ist: dieses bockige, aber biegsame Festgezurrtsein des eher Kleingewachsenen. Diese Festigkeit, die keiner vermutet. Der Grashalm ist am zähesten, wenn der Wind zaust. Blödes Wortspiel jetzt: Ich wurde Grashof, indem ich typisch Grashalm war. Was störte mich Wind! Womit ich gegen die raum- und besitzergreifende Selbstsicherheit irgendwelcher Einsfünfundachtzig-Kommilitonen ganz gut ankam. Zumal ich inzwischen diese felsenfeste Gewissheit in mir spürte, wirklich und wahrhaftig und zweifelsfrei zum Theater zu wollen. Ich kannte plötzlich keinen an130


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deren Punkt mehr, der mich am Leben interessierte. Das war so unerbittlich in mir drin, wie es jetzt klingt. Wie klingt es denn? Unangemessen und übertrieben. Aufgedreht und hochfahrend. Aus Löbau nach Berlin: Stadt- oder Weltenwechsel? Überwältigt von Berlin war ich nicht. Mich nervte, dass man den Ausweis schon zeigen musste, nur wenn man auf dem Bahnhof, etwa Friedrichstraße, mal einen Kaffee trank und also nicht unbedingt wie ein Reisender aussah. Mein erstes Zimmer, das war in einem Einfamilienhaus in Friedrichshagen, darin wohnte die Vermieterin mit ihrer Tochter. Später bekam ich ein Zimmer in Schöneweide, das war nicht weit von der Schauspielschule. Ich kann mich noch an den Blick aus dem Fenster erinnern, es erbot die Aussicht aufs durchdringende Grau eines Hinterhofes. Ich bin viel ins Theater gegangen oder ins Kino „Camera“, Nähe Friedrichstraße. Dort liefen, wie man heute sagen würde, Studiofilme. Natürlich waren wir Studenten auch öfters in der „Stumpfen Ecke“ zu finden, in Schöneweide, unweit der Schule. Vor der Schule hatte es jene schon erwähnte Zeit als Bühnenarbeiter in Frankfurt an der Oder gegeben. Ja, wie gesagt: Meine Familienherkunft war nicht so, dass ich die Eltern lange mit beruflicher Unentschlossenheit hätte plagen und verängstigen dürfen. Auch deshalb bin ich mit achtzehn Bühnenarbeiter geworden. Zog vom Süden in den Nordosten. Kam mir vor wie auf einer Schicksalsprobe. Das Leben am Theater fand ich aufregend. Auch das Kulissenschieben, das Schleppen der Praktikabel. Ich kleiner Kerl! Das tapfere Schneiderlein.

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Weit weg von zu Hause … Das erste selbstständige Wohnen. Ohne familiär verhängte Polizeisperrstunden. Herrlich jetzt, mit den Kollegen nächtelang am Kantinentisch zu hocken. Ich hörte gern zu, wenn Geschichten kreisten. Sie kreisten für mein Training: Hör und sieh dem Leben zu, wenn du später mal spielen willst, was es für Abgründe und Möglichkeiten hat. Nachdem Sie sich an der Schauspielschule beworben hatten, kam das Vorsprechen dort. Können Sie sich noch an Ihre Ankunft in Berlin erinnern? Vage. Als ich zum Vorsprechen fuhr, hatte ich nur eine graue Handtasche, darin die paar Utensilien für eine Übernachtung, am Ostbahnhof an. Ich wusste nicht, wie ich zur Schauspielschule komme, aber ebenso wenig, wo ich übernachten könnte. Ein Gepäckträger kam, ein Mann mit roter Mütze, den fragte ich, und der fuhr mich tatsächlich zu einem kleinen Hotel, ich glaube, in der Friedrichstraße, und er setzte mich auch in die S-Bahn Richtung Schöneweide, wo die Schauspielschule lag. Natürlich wollte er bezahlt werden; ich gab ihm, wenn ich mich recht erinnere, zehn Mark. Was sprachen Sie vor? Doch bestimmt – trotz lädierter Nase – einen jugendlichen Helden. Na hören Sie mal, ich war doch auch trotz der Nase – jung! Aber vorgesprochen hab ich tatsächlich was Ungewöhnliches – den Faust, und zwar den ganz Alten, seinen Monolog am Anfang des Stückes. Eine Dozentin kam hinterher zu mir und fragte, wie ich denn auf diesen Greis gekommen wäre. Wahrheitsgetreu antwortete ich, dies sei die einzige längere, zusammenhängende Stelle eines Stückes gewesen, die ich gefunden hätte. Die Dame mit dem etwas militärischen, festen Grundton sagte: Pass mal auf, Junge, du bist begabt, aber was du da geboten hast, 132


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war furchtbar! Sie gab mir Tipps für jüngere, also mir gemäße Gestalten und lud mich erneut ein. Ich glaube, ich sprach dann, beim zweiten Mal, aus dem „Wilhelm Tell“ vor, aus „Das elfte Gebot“, einem ungarischen Stück, das damals in der DDR rauf und runter inszeniert wurde, und aus Hauptmanns „Und Pippa tanzt!“. Und wurde angenommen. Na, siehste!, sagte die militärisch anmutende Dame. Über die Statur haben Sie schon gesprochen. Besaßen Sie ein gutes Gefühl für Ihre Stimme? Nein. Dass man Stimme braucht, wusste ich gar nicht. Die Bewegung war’s, die mich reizte und trieb. Können Sie singen? Nein, bitte keine Gesangsrollen. Meine Mutter hat gern gesungen, so gern wie falsch. Wenn ich in der Not war, singen zu müssen, halfen nur Kraft und Gewalt. Das hilft natürlich überhaupt nicht. Gab es bei Figuren, die Sie fortan einstudierten, bestimmte Vorlieben? Am liebsten habe ich an der Schauspielschule Bösewichter gegeben. Mörder. Einmal habe ich sogar den Mörder gespielt – und den Henker gleich mit. Diese Dopplung wurde aber als nicht unterrichtsgerecht betrachtet und verworfen. Vielleicht saß der Schauspieldozent später im Theater, als ich Danton und Robespierre spielte. Im Etüdenspiel habe ich wenigstens meinen Partner noch heimlich überreden können, meine Idee vom Spiel des Henkers – gegen mich, den Mörder – zu übernehmen. An ein Szenenstudium erinnere ich mich besonders, Friedrich Wolfs „Die Matrosen von Cattaro“. Ich spielte einen der Offiziere. Sein Mantel hatte Druckknöpfe. Ich erfand für mich einen Mechanismus: die Druckknöpfe fortwährend auf- und zuknöpfen. Stumm, 133


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nervös. Ein Mann unter jenem Druck der meuternden Matrosen, den er an die Knöpfe weitergibt. In meiner Erinnerung ist das die erste, spontan entstan-dene schauspielerische Leistung, die mir unterkam. Ein winziger Moment, der mir aber ein wichtiger Lehrer war. An der Schauspielschule stieß ich übrigens auf Wachtangow, auf Meyerhold. Sehr viel später lernte ich Leute kennen, die beeindruckten mich durch die Mitteilung, sie hätten bei Lee Strasberg in New York absolviert. Method Acting und so. Irgendwie schien mit, die da drüben im Westen haben nichts weiter getan, als die genannten Russen drittklassig zu imitieren. Vielleicht, ohne diese Großen zu kennen, vielleicht aber auch so schamlos, nicht mal deren Namen als Quelle ihrer eigenen Inspirationen zu nennen. Um einen klischierten Begriff zu verwenden: Sie sind kein Identifikationsspieler. Ich weiß nicht wirklich, was das ist. Ich komme über Gedanken, über Fantasie zu den Gefühlen. Ich versuche, das Extreme einer Situation, das Extreme einer Gestalt rauszukriegen. Und dann krieg ich Lust, das nachzuspielen. Ich bin’s und bin’s natürlich überhaupt nicht. Man weiß doch nicht mal, wie man gehen soll. Auf der Bühne diese Leute, das sind eigentlich nur Menschen, die vor lauter Hemmungen Faxen machen. Der eine lacht blöde: Na, ihr da unten im Saal? Der andere erzählt Witze. Alles in Scham und Angst. Ich versuch’s, auch lustig zu packen. Aber auch in Scham und Angst. Dann sage ich mir: Na, geh mal, schwupp, einfach über die Bühne. Und schon stolpere ich. Chaplin! Aber tatsächlich, wie Sie eben formulierten, in Scham? Ja, man muss Scham haben als Schauspieler. Wenn das Schamgefühl fehlt oder zertrümmert wird, hört’s auf. Bist du erledigt. 134


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Das sagen ausgerechnet Sie, mit Ihrer teils sehr extensiven Spielweise? Natürlich war da immer Schamgefühl dabei, wenn ich mir die Brust aufriss. Aber je genauer ich mit dem Kopf dahinterkam, umso freier wurde ich. Weil ich wusste: Das ist jetzt nicht mehr nur einfach eine körperliche Enthemmung, sondern ich bin ganz Herr der Sache. Na ja, nie ganz. Ich weiß, dass es für Sie einen allergischen Begriff gibt: Menschendarstellung. Psychologie, da denke ich an die Charité, nicht ans Theater. Wir erfinden auf der Bühne Situationen und versuchen, einen Rettungsweg zu finden. Es geht ums konkrete Handeln. In jeder neuen Situation. Wenn es von einer Figur heißt, die hat den und den Charakter, dann habe ich das Gefühl, da wird gekleistert, dass es die Fugen und Kerben und Kanten unkenntlich macht. Ja, das Wort Psychologie oder Menschendarstellung, das mag ich im Zusammenhang mit dem, was ich auf der Bühne tue, überhaupt nicht. Unser Tag, unsere Existenz, das setzt sich doch auch alles aus zahllosen Tat- oder Zöger-Partikeln zusammen, in denen wir sehr uneinheitlich reagieren. Wenn Sie eine Rolle erarbeiten, schwebt Ihnen kein Wunschbild vor? Nein. Ich baue mir im Vorfeld keinen fest umrissenen Charakter, den ich dann spielend „auszufüllen“ versuche. Die ganze, die fertige Figur – das ist was, das einzig und allein den Zuschauer angeht, es ist das, was er sich während der Aufführung zusammenbaut. Jeder guckt anders, jeder denkt anders, jeder fühlt anders. Die Figur ergibt sich – für den Zuschauer, und für jeden Zuschauer anders. Mich als Schauspieler interessiert das Ganze nicht, nicht das Runde. Ich spiele Haltungen, ich halte mich an Nahtstellen oder Bruchstellen auf und wechsle 135


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zu neuen Nahtstellen oder zu neuen Bruchstellen. Jede Haltung ist eine Möglichkeit, aber es ist in jeder Situation immer auch eine andere Haltung möglich. Der Mensch stellt sich auf Situationen ein und übt sich so in einer Technik, die andere immer wieder überrascht. Immer kann der Mensch anders handeln, als er handelt? Wäre das nicht so, wie sollte man dann an widerspruchsvolle Entwicklung, an die Geheimnisse, an die Unberechenbarkeit von Lebensprozessen glauben? Mut und Feigheit, Sehkraft und Blindheit, Güte und Gewalttätigkeit, Liebe und Hass, Kraft und Ohnmacht – das bildet Klumpen, die von Situation zu Situation zu anderer Rezeptur geknetet sein können. Ich summiere Möglichkeiten, wie man sich in ausgedachten Lagen verhält. Mich bewegt die Wahrhaftigkeit von Teilen, die zusammenzusetzen sind. Ich wiederhole mich: Mich interessieren am Theater nicht Menschen, mich interessieren Probleme. Erst das Thema, dann der Handstand. Das, was ich sehe, soll etwas sein, über das ich nach der Vorstellung unbedingt noch nachdenken und sprechen will. Theater ist für mich Mittel zum Zweck. Seele? Auch damit tat ich mich auf der Bühne immer schwer. Schauspielkunst veräußert. Ausdruck muss ablesbar sein, sonst ist er nicht existent. Beim Spiel gilt einzig das Denken, das zu einem Ausdruck findet. Es ist Denken, aber es ist eben ein anderes Denken als das der stillen Vorarbeit. Alexander Lang sprach gern von der „Spielfähigkeit“ des Gehirns. Das gefiel mir. Theaterspiel als etwas, bei dem man die Gedanken sehen kann. Kein Psychogemauschel also. So, wie ein Schauspieler ja auch nicht ist, sondern, wie Brecht sagte, bei den Proben „gebaut“ wird.

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Eines Tages dann: Der Absolvent Grashof „betritt“ den Beruf – in Karl-Marx-Stadt. Fühlten Sie sich wohl? Sagen wir so: Aus Berlin kommend, fiel es mir in dem Sachsen von Karl-Marx-Stadt sehr schwer. Sie sind selber Sachse. Aber nicht aus dem Sachsen von Karl-Marx-Stadt. Es gibt das Sachsen von Dresden, das Sachsen von Leipzig und das Sachsen von Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Das sind jeweils andere Welten. Der Schritt von der Schauspielschule ans Theater – war das Freiheit oder Druck? Beides. Auf der Rückseite von Szenenfotos – es handelt sich um Aufführungen in Karl-Marx-Stadt – habe ich Eintragungen mit Bleistift gesehen, Ihre Notizen zu Haltungen, Probenstadien. In der ersten Zeit am Theater habe ich sogar Buch geführt, minutiöse Notierungen über meine Rollen, die Proben. Arbeitsbücher, nur für mich. Diese Notizbücher füllten viele Kisten, fast jede Hand- oder Fußbewegung wurde registriert, in ihren Veränderungen und Korrekturen protokolliert. Ich kannte auf Punkt und Komma, handschriftlich erfasst, das strategische Gerüst jeder Figur. Ich wusste von jeder Geste, wo sie sitzt, wie sie sitzt, wie sie entstand. Datum, jeweilige Szene, alles genau festgehalten. Lauter Fragen: ob ich bei der nächsten Probe nicht noch etwas schneller auf die Bühne kommen sollte, ob ich nicht besser schon während einer ersten Körperdrehung mit dem Text beginnen müsste. Warum? Angst? Angst war es nicht. Wovor Angst?

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Das Gefundene zu vergessen, es nicht noch einmal herstellen zu können. Nein, der Punkt war, dass ich der Form eine Selbstverständlichkeit geben wollte, die mit all dem zusammenhängt, was ich mitbringe. Wie ich spielen könnte, wie ich mir diese Unverwechselbarkeit erwerben könnte, das entdeckte ich natürlich erst allmählich. Ich nahm auf, ich verschlang, ich studierte, ich stopfte mich voll. Und zwischen all dem kam langsam die Frage hoch: Auf welche Art kann ich eine Figur schaffen, die nur mir ganz allein entspricht? Wie nehm ich alles so auf, dass es mich nicht verschließt, sondern öffnet? Was ist das, eine Figur auf dem Theater? Nur das, was der Text sagt? Was ist man im jeweiligen Spiel einer Szene? Treibender, Getriebener, Zuhörender, Weghörender, Mitspieler, das Mitspiel verweigernd? Das musst du für dich entscheiden. Das Notieren betreiben Sie schon lange nicht mehr. Ja, das musste irgendwann aufhören! Ein Schwimmer kann nicht immer an der Leine hängen. Er muss irgendwann raus ins offene Wasser. Aber diese Freiheit kann man am Theater nur erleben, wenn ein Umfeld dich ermuntert, wenn es dich hineinstößt ins Wasser, und alle anderen springen auch mit. Und man springt, weil man die Horizonte liebt, die Überfahrt, die Ferne … Wo es einen neuen festen Boden gibt, unbekannt bisher und deshalb reizvoll? Wie sich regelmäßig herausstellen wird: überhaupt nicht fest, dieser neue Boden. Ich begann deshalb, mehr und mehr zu improvisieren. Ich sagte vorher nicht, was ich in der Szene sagen oder wie ich spielen würde, ich legte es darauf an, die anderen zu überraschen. Dahinter der Grundsatz: Ich will morgen nicht unbedingt anderes proben als heute, aber ich will morgen besser sein als heute – und so wird logischerweise vieles anders. 138


Gespräch

Irgendwann kommt die Routine. Rettung oder Gefahr? Beides. Auf jeden Fall kann ich von mir sagen: Ich liefere, auch bei laufenden Vorstellungen, niemals nur ab. Dieser Wille, das zu vermeiden, ist mir nicht verloren gegangen. Ich weiß allerdings, dass es schwer ist, in einer laufenden Aufführung so auszubrechen, dass es Wert für alle, für die gesamte Inszenierung hat. Zurück zu den Proben: Es muss etwas entstehen, das man vorher nicht wusste? Wär natürlich schön, wenn das auch für die morgige Probe zuträfe. Unausweichlich: Was gefunden wurde, wird mehr und mehr festgezurrt. Ich hasse das Wort vom Festzurren – obwohl wir in Richtung Premiere tatsächlich immer stärker in Nähe zu diesem Festzurren arbeiten. Es geht also darum, Verabredungen für die Szene treffen, ohne sich in ihnen gefangen zu fühlen. Der unerreichbare Traum. Ist doch vielleicht die schönste Freiheit: gefesselt zu bleiben an den unerfüllbaren Traum. Verabredungen dürfen nicht zur Gedankenlosigkeit gegenüber dem Thema führen, das uns auf die Bühne treibt. Verabredungen sind eine wichtige Technik, sie sind doch aber nicht die Übereinkunft: Jetzt haben wir besiegelt, was zu denken, was zu fragen sei. Ich war nie ein Verlässlicher, wenn vorher zu viel besprochen wurde. Da bin ich nur immer schweigsamer geworden. Beobachten, reagieren – erst im Spiel entsteht, worüber zu reden wäre. Wenn mir einer sagt: Aber gestern bist du doch von da gekommen, wieso kommst du heute von dort …, da schwillt mir schon der Kamm. Frag nicht, was war, frag, was ist! Im Spiel entdecken, was man machen kann. Nicht unbedingt anders, 139


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aber möglicherweise doch anders. Jede Probe müsste mit Entschiedenheit enden: So spielen wir’s! Und morgen die neue Entschiedenheit: es anders zu spielen? Entschiedenheit ist eine Eintagsfliege. Proben sind Einladungen zum Stolpern. Stolpern ist ehrlich, wir sind keine Tänzer. Klaus Erforth fragte mich mal während der Arbeit an der „Insel“, am DT, wie ich das mache: eine bestimmte Intensität von gestern auf die Probe von heute zu übertragen. Wie bitte? Ich hatte doch einfach nur eine Schubkarre bewegt, von hier nach da. Im Moment, da er das gefragt hat, muss ihm bewusst geworden sein, dass ich der Letzte bin, der das beantworten kann. Und der das gar nicht beantworten darf! Es gibt das Geheimnis, das den Beruf begründet … … und seinen Zauber zerstört, wenn wir an den Schleiern reißen. Den Einsamsten frag, was Liebe ist – aber ach, frag ihn lieber nicht. Den Klaus Erforth hab ich also gar nicht begriffen, als er das fragte. Gelobt sei meine Dummheit. Sie kann ein wichtiger Selbstschutz sein, wenn die Analytiker anrücken. Verzeihung, wie haben Sie’s denn nun gemacht? Ich versuchte es elementar: Es geht bei „Die Insel“ um zwei Männer, die im Knast sind, und nicht darum, wie zwei das virtuos spielen. Da sind wir wieder bei meinem Spiel-Grund: auf der Bühne ein Grashof sein, von dem man aber annehmen könnte, genau so steht er im Stück. Ich schiebe also eine Schubkarre, aber ich spiele nicht, dass ich eine Schubkarre schiebe und was mich das an Kraft kostet. Ich bin zwar auf einer Bühne, ja, aber ich schiebe eine Schubkarre. Nicht spielen, sondern tun! Tun!, und nicht nur so tun als ob. Begriffen? Nee? Dann ist ja alles in Ordnung. 140


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Ich merk schon: Wir reden über das Gold des Schauspielers. Goldstaub höchstens. Ach, nicht mal das. Staub ist der König der Welt: Er setzt sich auf alles. Genau! Wir Gaukler sind nur Strass. Und zur Probe gehe ich als Unwissendster der Welt. Das Geheimnis besteht darin: Du musst den Zufall, der sich nicht herbeibefehlen lässt, doch irgendwie herbeiprovozieren. Und zwar so, dass dir eine tragfähige Idee kommt. Eine Idee, nicht nur lauter Einfälle. Und dann ist da am Theater noch der heilsame Umstand der Gemeinsamkeit, deren Grundprinzip immer auf der Lust und Bereitschaft besteht, sich Klügere ins Boot zu holen. Ihr erster Intendant in Karl-Marx-Stadt war Gerhard Meyer. Er war ein sehr verlässlicher Mensch. Einer mit Grundruhe. Er fing auf. Er blieb noch in Konflikten ein Unverkrampfter. Er ging durchs Theater und hinterließ Helle. In irgendeiner Sommerzeit fanden Olympische Spiele oder eine Fußball-WM statt, ich weiß nicht mehr genau, was und wann. Meyer fuhr mit seiner Frau, der Schauspielerin Anni Stöger, in die Ferien, ich blieb in KarlMarx-Stadt, er gab mir die Schlüssel zu seinem Haus, und ich konnte fernsehen. Er führte auch Regie. Während mancher Probe fragten wir Schauspieler uns etwas besorgt: Sollen wir denn alles allein machen? Meyer praktizierte eine Regie der Beobachtung. Er war gewiss kein inszenatorisches Genie, das wusste er, aber daraus entwickelte er eine kulturvolle Zurückhaltung, die er sehr akzentuiert zum Ausdruck brachte.

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Nicht das Boxen, sondern Shakespeares Balkon

Eckten Sie an? Im Theater? Ach, das ist eine Charakter- oder Naturellfrage – mit sowas soll man sich nicht großtun. Für den „Homburg“ in Karl-Marx-Stadt schrieb der Dichter Alfred Matusche einen langen Monolog, um den Kurfürsten, diesen Vertreter des Feudalen, kräftig bloßzustellen. Diese Aktualisierung ging mir zu weit. Nee, so konnte man mit Kleist nicht umgehen, die sozialistisch-realistische Überschreibung missfiel mir, und ich fühlte mich peinlich berührt, an so etwas beteiligt zu werden. Also habe ich mich gewehrt und hörte danach aus dem Mund eines maßgeblichen und sehr guten Dramaturgen, so einen wie mich müsse man umgehend entlassen. Gerhard Meyer hörte sich wie immer alles an – und glich aus. Was heißt das? Ausgleichen heißt im Grunde: erst mal erlauben, dass alle alles offen auf die Spitze treiben, jeder auf seine eigene Spitze, und dann sich alles wieder beruhigen lassen. Streit, aber ohne Gerichtsurteil. Mich wunderte allerdings, dass ausgerechnet Alfred Matusche so eine KleistKorrektur versuchte. Der doch sonst nicht eine einzige Zeile aus ideologischer Sicht schrieb, sondern unbeirrt seiner eigenen Weltsicht folgte. Alfred war Ihr altersweiser Freund? Ja, knorrig, sperrig. Er paffte einen grässlichen Tabak, der verpestete alle Räume. Er sagte immer, er habe kein Geld, aber er brauche auch keines. Er trug seinen Lodenmantel in allen Jahreszeiten, er war Dichter und Einsiedler. Von einem Gastspiel hatte ich ihm ein Päckchen Westtabak mitgebracht. Er fummelte daran herum, öffnete es lieblos, wie notgedrungen, ich glaube, er roch nicht mal daran, er schob’s mir wieder rüber und knurrte: „Pack weg, den Mist.“

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Abseits konjunktureller Überlegungen behielten Matusches Stücke ein unantastbares Eigenleben, sie sind unspektakulär, aber verdammt stur in ihrer Lebensfülle. Er glitt nie in diese DDR-typische Schizophrenie: unter Verweis aufs Ideal bereit zu sein, zu viele Wahrheiten über die bittere Realität mitzuschlucken. Den Alfred hat der Staat nie interessiert, wenn es um seine Dichtung ging. In seinen Stücken hatte nur das Leben was zu suchen, nicht irgendeine Obrigkeitsräson. Es ist dieser konsequente Blick von unten, der Matusches Stücke so menschlich, auch so poetisch macht. Sie neigen, wenn man das so paradox über Dramatik sagen darf – zum Schweigen. Wie er selber. Wir saßen im Café, er sagte eine halbe Stunde nichts, und es war gut so, und wir hatten einander verstanden. Er schmauchte seine Pfeife, sah mich an und fragte: Mensch, Junge, Karl-Marx-Stadt – was willst du ausgerechnet hier? Er meinte mich, aber auch sich, er meinte den Menschen, der leider darauf ausgerichtet und zugerichtet ist, sich einzurichten. Alfred war ein Unbehauster, er hat erst spät, auf Betreiben von Gerhard Meyer, eine Neubauwohnung bekommen. Bekommen und angenommen, das war nicht selbstverständlich. Die Freude währte kurz, er erschrak dort, wo der angeblich neue Mensch eingezogen war, über die alte Blockwartmentalität. Die alte Neubaufrage: Dünner werden die Wände – auch die von Mensch zu Mensch? Und eines Tages dann sagte Alfred zu mir: Junge, raus musst du. Scheiß Schauspiel. Weißte was? Elefanten musst du jagen, musst leben wir Hemingway. Eine Vorstellung, wie sie der Dichter Arthur Rimbaud verwirklichte: Er wurde Waffenhändler in Afrika. Aus Sehnsucht nach dem wirklich merkwürdigen Leben. Toll: zum 143


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Verräter werden an den Erwartungen, die man landläufig an bürgerliches Dasein stellt. Alfred gehörte zu den Menschen, die fragen: Was bin ich mir und was bin ich den anderen, wer braucht einen wie mich, der selber so wenig Antworten weiß? Es sind wenige, die so ernsthaft fragen. Rimbaud sagte sich, was soll ich Flügel spielen, wo die Pflastersteine so schön in der Hand liegen? Die einfachen, subproletarischen Formen der Aggressivität. Dieses Denken hat etwas von diesem Schweben zwischen den Optionen: bei sich zu bleiben und doch abzuheben ins Anarchische. Wie Jim Morrison, der Flottengeneralssohn: unfähig, in Vietnam dabei zu sein, auf der Gegenseite – also sang er, ging unter Drogen kaputt, aber auf der Wohlstandsseite. Sehnsüchtiges, aber etabliertes Sterben – ohne jemals Klarheit zu bekommen … Das ist das Irritierende – das uns was angeht. Wir haben was dagegen, dass andere festlegen, wer wir selber zu sein haben. … und so schwiegen wir wieder gemeinsam, Alfred und ich. Wenn wir mal nicht schwiegen, also redeten, dann hofften wir zumindest auf Missverständnisse, die sind belebend. (lacht) Er hatte zum Beispiel das Stück „Der Regenwettermann“ geschrieben, ich sagte, Mann, Alfred, das ist ja ein Oratorium, ich wollte damit kritisch einwenden: Na ja, sehr dramatisch ist das Ding nicht. Alfred aber sagte mürrisch beglückt: Genau!, er fühlte sich von mir verstanden. Wie gesagt: Missverständnisse beleben. Gab es in Karl-Marx-Stadt Versuche der Staatssicherheit, Sie anzuwerben? Ja, einer kam, der lud mich in ein Haus, in ein Zimmer unterm Dach, und er wusste augenscheinlich viel über mich. Schon immer missfielen mir Leute, die mehr über 144


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mich wissen, als ich ihnen erzählt habe. Dieser Mann, der vom Charisma her wie eine Einladung wirkte, ganz durch ihn hindurchzugucken, der wollte mich auf Schweigen verpflichten. Das konnte und wollte ich ihm schon mal überhaupt nicht garantieren. Ich war dreiundzwanzig, ich war unsicher und spürte sofort, der Kerl ist nicht fein. Gleich nach dem Treffen ging ich zu Gerhard Meyer, ich war aufgeregt, aber meine Unsicherheit war weg, als ich dem Intendanten spontan und klar gesagt hatte, ich wolle mit denen nichts zu tun haben. Plötzlich fühlte ich mich befreit. Ein Stau hatte sich gelöst. Meyer blieb ruhig, er zeigte keine Regung, er bat mich, in drei Tagen wiederzukommen. Nach diesen drei Tagen sagte er nur: Die Sache ist erledigt. Er machte den Eindruck, als stünde er in dieser Sache überhaupt nicht unter Druck. Aber natürlich stand ein Mensch in solch einer Funktion und bei diesem Thema unter gehörigem Druck. Er ließ aber nicht zu, dass das auf andere ausstrahlte. Auch an Prag 1968 erinnere ich mich, im Theater ging ein Pamphlet herum, das den Einmarsch der Sowjets als Rettung des Sozialismus pries. Ich unterschrieb das nicht. Ein Kollege vom Musiktheater meinte, mit mir könne man fortan nicht mehr zusammenarbeiten. Wieder ließ Meyer die Wellen schwappen – und dann wartete er, bis sie abebbten. Ganz schnell kam einer von der Bezirksleitung der Partei, der schüttelte den Kopf über mich, wollte mich ideologisch aufrüsten und meinte also, ich solle nicht so überrascht und schockiert tun: Ob ich denn nicht gemerkt hätte, dass schon lange nichts mehr über die Tschechoslowakei in den Zeitungen stünde, das hätte mich doch aufklären müssen. Der Genosse war aufrichtiger, als er wollte: Aha, das Fehlen von Information als sehr spezielle Form der Aufklärung! Ich sei wohl, sagte er, blind gewesen für die Indizien der Entwicklung in Prag? Für den Hinweis bedankte ich mich. Denn nun, so antwortete ich ihm, fiele es mir wie Schuppen von 145


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den Augen: Seit Zeiten hätte ich nichts mehr über Kuba gelesen – stünden also auch in Havanna große politische, gar militärische Unannehmlichkeiten bevor? Herr Grashof, wurden Sie eigentlich oft gefragt, ob sie früher Boxer gewesen seien? Wegen meiner Kämpferstatur? (lacht) Ich gestehe, ich meine jetzt was anderes. Sie spielen auf meine Nase an? Geboxt habe ich nie – was meine Nase betrifft, das war der Eifer eines Bühnenumbaus in Frankfurt an der Oder. Ich ging aber nicht gleich zum Arzt. Später erst, und der Arzt sagte: Die Nase, die können wir richten – aber wenn Sie keine Probleme mit dem Atmen haben, dann können wir das auch so lassen, wie es ist. Ich ließ es, wie es ist. So verfehlt man leichtfertig den Weg zum männlichen Schönheitsideal. Mancher meinte wohl, ich sei am Theater für die Trinker und Asozialen zuständig. Sie spielten aber in Karl-Marx-Stadt den Homburg und den Ferdinand. Die Journalistin Rosemarie Rehahn von der „Wochenpost“ schrieb im August 1981: „Gut, dass einer weit mehr Energie aufbringen, weit mehr Glück – und Talent haben muss, wenn da ein gewisser Fehlbetrag auf der Dezimalwaage und im Publikumsgeschmack auszugleichen ist; Grashof ist nichts für schnelle Gucker – und nichts fürs wohltemperierte Gemüt. Er ist kein James Dean. In seinem Falle gab’s entweder totale Ablehnung oder volles Dafür.“ Ich wusste, dass niemand mich auf der Bühne sieht und dabei an James Dean denkt. Wäre auch Blödsinn! An Christian Grashof sollten sie denken!

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Gelingendes Leben beginnt auch dort, wo man sich nicht in die falschen Träume verrennt? Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Unsere Sehnsüchte lassen sich nicht wie ein Haustier behandeln, man kann sie nicht an die Leine legen. Träume führen ein Eigenleben und springen über alle Zäune, die die Vernunft warnend aufrichtet. James Dean! Schon wenn in der Klasse Fußball- oder andere Mannschaften aufgeteilt wurden, war ich regelmäßig der Vorletzte. Immerhin nicht der Letzte. Wahrscheinlich doch, ich hab’s verdrängt. (lacht) Das machte mir allerdings nichts aus, ich hatte Freunde, zwei Köpfe größer als ich. Ich wusste auch, dass andere Jungs größere Chancen bei Mädchen hatten. Erst bei Mädchen, dann bei Frauen. Aber ich wollte immer meinen Frieden mit meiner Ausstattung machen und dachte, Mann, auch aus mir lässt sich was machen. Der Eigensinn muss doch kein Adonis sein und, wie gesagt, kein James Dean. Außerdem: Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gesicht eines Schauspielers, auch dessen Körper, erst dann das Gesicht und der Körper eines Schauspielers werden, wenn er spielt. Wenn du U-Bahn fährst, hörst du die Stimme aus dem Lautsprecher: Bitte beachten Sie den Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante! Das ist übertragbar: Bitte beachten Sie den Höhenunterschied zwischen Zuschauerraum und Bühne! Der macht’s. Der erst macht aus Biedergesichtern und Durchschnittskörpern das, was man dann im höchsten und seltensten Falle als Aura bezeichnet. Zitat Christian Grashof: „Beizeiten wusste ich, dass ich eher den Franz als den Karl Moor spielen würde.“ Ich hatte zu Beginn ein Selbstwertgefühl, das den Romeo 147


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glatt abgelehnt hätte, und zwar nicht scheu, sondern selbstbewusst: Ich weiß doch, wo meine Früchte wachsen. Aber zum Beispiel bei Jürgen Gosch, viel, viel später, hätte ich auch die Julia gespielt. Bei Alex auch. Alexander Lang. Ja. Wo Vertrauen ist, da kannst du ganz gelöst auch das spielen, von dem du weißt, dass du es eigentlich nicht spielen kannst. Und wenn ich das jetzt auch noch sagen darf: Wenn ich mir heute meine Jugend- und schauspielerischen Anfängerfotos betrachte, dann frage ich mich längst: Wieso eigentlich war so unzweifelhaft ausgemacht, dass so ein Typ wie ich nicht den Romeo spielen „darf“? Die Nase. Wie ist es denn konkret passiert? Ausgerechnet eine Aufführung von „Romeo und Julia“ sorgte dafür, dass ich für alle Zeiten, nach den landläufigen Männlichkeitsvorstellungen, über die wir eben sprachen, für den Romeo ausfiel. Denn nach einer Vorstellung des Shakespeare-Stücks wurde auch der weltberühmte Balkon abgebaut, und eine Eisentraverse krachte runter. Es war nicht die Nachtigall, nicht die Lerche, und trotzdem hörte ich alle Vöglein singen. Blut über Blut, richtig theatralisch, nur eben leider echt. Aber das war ja nicht der einzige Schlag auf die Nase. Unweit des sowjetischen Hauses der Offiziere, in der Nähe des Theaters, gab es eine Kneipe. Nach einem Abend dort traten wir ins Freie, da bekam ich unvermittelt – und grundlos! – einen Schlag ins Gesicht. Ich fiel um. Wieder viel Blut. Ich erkannte nur eines: Das war ein Russe! Nach Tagen sagte einer aus dem Theater: Los, komm, wir gehen ins Haus der Offiziere, wir beschweren uns. Dort gab es einen öffentlichen Trakt, in dem zum Beispiel sowjetische Filme gezeigt wurden. Wir kommen da hin, da hängt draußen so eine Fotogalerie der Vorbildlichen, der Bes148


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ten, der aktuellen regionalen Helden der Sowjetunion sozusagen. Mein Begleiter schaut hoch, betrachtet sich die Porträts und brüllt plötzlich: Da, der da, der war’s! Mein Schläger aus der Kneipe – ein Held, ein ausgestelltes Vorbild! Wir wollten rein, sagten sehr deutlich, was wir wollten – und wurden sofort des Hauses verwiesen. Sind Ihre Eltern ins Theater gegangen, um Sie zu sehen? Sie sahen mich in „Kabale und Liebe“ in Karl-Marx-Stadt. Vater applaudierte und sah wohl mehr die Leute als mich. Meine Mutter seufzte besorgt: „Junge, du hast ja mächtig geschwitzt! Du, sag doch deinem Direktor, das nächste Mal soll das ein anderer machen, denn du schaffst das nicht, du machst dich ja fertig. Ich seh das doch!“ Ging sie auch später in Berlin, wegen Ihnen, ins Theater? Ja, sie sah Vorstellungen von mir. Sie spürte: Das ist das Höhere, und das mochte sie. Am Ende ihres Lebens war sie allerdings sehr durcheinander. Sie rief mich an, ich solle dringend kommen, bei ihr würde eingebrochen. Sie zeigte auf den Beweis: die Spuren im Mehl, das sie im Treppenhaus gestreut hatte. Mutter, konnte ich nur sagen, das sind deine eigenen Fußspuren, die gehen nach draußen. Sie winkte ab: ich also auch – ein Verräter. Sind Ihre Eltern alt geworden? Mein Vater starb mit 82, meine Mutter mit 76 Jahren. Den politischen Zeitenwechsel hat Ihr Vater erlebt? Ja. Und sein Wertungssystem entwickelte er, logisch, aus seinen Erfahrungen. Mein Haarschnitt, sagte er nach dem Ende der DDR, kostet jetzt dreizehn Westmark, früher bezahlte ich eine Ostmark fünfundsiebzig – aber sehe ich denn besser aus? Nee? Na also, was soll der Unsinn? Er war für neue Erfahrungen nicht mehr zu gewinnen. Das, was wir nunmehr schlechthin die Freiheit 149


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nannten, ging an ihm relativ spurlos vorüber. Er wäre wohl auch früher kaum glücklich geworden im Westen. Das Sozialgefüge der DDR hat ihn gehalten, er war ein Mensch ohne wirkliche Grundhärte. Seine gesamte Haltung zum Westen: Was soll der Unsinn. Er wusste natürlich alles über die Amerikaner: alles Halunken. In Beschimpfungen war er ganz groß und ganz schnell. Wenn wir politisch in Streit kamen, ich ihm widersprach, dann zeigte er mit Entschiedenheit auf den Fernsehapparat und sagte: „Ach so, du bist klüger als die im Fernsehen?!“ Fernsehen war für ihn das Offizielle, war die Obrigkeit. Einmal hatten wir auf dem Grundstück in der Uckermark, das ich gemeinsam mit dem Zeichner Manfred Bofinger und dem Bühnenbildner Volker Pfüller hatte, eine Ärztin zu Gast. Auch Vater war zu Besuch gekommen. Er saß beim Essen neben Frau Doktor und fragte sie tatsächlich: „Ich bin nur Arbeiter und sitze jetzt neben Ihnen – geht das für Sie als Ärztin überhaupt?“ Keiner wusste, was er sagen sollte. Vater neigte zu lauernder Selbstbehauptung an falschester Stelle. Er fuhr grundsätzlich nicht mit dem Zug. Also brachte ich ihn mit dem Auto in die Uckermark. Auch ich hatte Probleme mit dem Auspuff: angerosteter Vorschalldämpfer, wie bei vielen Autobesitzern in der DDR, Vorschalldämpfer waren ein Luxus – eines Tages, in einer Waldgegend bei Nisky, fuhr ich den Wagen an die Seite, holte das bewährte Hilfsmaterial heraus: Stanniolpapier. Bevor ich das Rohr umwickeln konnte, musste es auskühlen. Wartezeit. Die Hände auf dem Rücken, stolzierte mein Vater in den Wald. Nach anderthalb Stunden rief ich ihn. Er kam und schüttelte in tiefem Unverständnis den Kopf: Mann, Junge, das hat ja gedauert – das nächste Mal fahre ich mit dem Zug! Eine banale, nebensächliche Begebenheit, aber sie erzählt den Mann: Da mühst du dich ab, holst ihn, und er baut sich mit Pose vor dir auf und macht aus unbegründeter Unzufriedenheit den geliebten Auftritt als Graf Koks. 150


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In der schon erwähnten Zeitschrift „Wochenpost“ hieß es über Ihre Karl-Marx-Städter Zeit: „Wenn man Jutta Wachowiak hört, die Luise jener Aufführung, in der Grashof den Ferdinand gab, so war es ihr Bühnenpartner, bei dem sie, die damals Zaghafte, Verhemmte, an sich Zweifelnde urplötzlich begriff, was Schauspielen bedeutet, dass das mit Selbstverständnis, mit Selbstbekenntnis zu tun hat, um ihre Worte zu gebrauchen. Hingerissen sei sie gewesen, was der sich alles traute. Dann habe sie tief Luft geholt – und sich auch alles getraut, ein für alle Mal. Ahnte nicht, dass der draufgängerische Kollege, der ihr so treffend Entwicklungshilfe leistete, dass dieser Bekenner im Schauspielerischen das Seine selber mit doppelter Kraft hatte schaffen müssen.“ Das ist das Wichtigste am Schauspielstudium und darüber hinaus: das Eigene finden und verteidigen. Noch im fremdesten Typ: Ich, nur ich! Die Lebens-Spielregel. Die Spiel-Lebensregel. Aber krieg das mal raus, das Eigene! Krieg das mal raus, doppelt gemeint: Find es erst mal und dann stülp’s raus, mach ihm einen Weg frei. Klingt vielleicht furchtbar verschroben und gefinkelt. Is’ aber so. Wenn Alex sagte, Chris, du kommst auf die Bühne und stehst, zack, und fängst mit dem Text an – dann ging das bei mir nicht. Ich habe eine manische Angst vor Fremdsteuerung. Es ist doch ganz einfach: Man hat etwas, das der andere nicht hat. Rudi Penka, der Direktor der Schauspielschule, und Friedo Solter weckten in mir die Lust, genau das in mir zu suchen, was mich von allen anderen Menschen unterscheidet. Friedo wusste um meine Unzulänglichkeit und ließ ihr Raum. Er nagelte mich nicht fest an ihr. So hemmte sie mich nicht. Paradox formuliert, als grundsätzliche Lebenshaltung: Meine Stärke ist das Wissen darum, was ich nicht kann. So wächst die Energie, mich auf das zu konzentrieren, was ich kann. Ich war nie der Schnells151


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te, nie der Stärkste, nie der Schönste. Na und? Penka war übrigens der erste Kommunist, der mich mit seinem Beispiel überzeugte. Er war ein Mensch, der mit seinem Leben, mit seiner ganzen Art beglaubigte, was er repräsentierte. Er war in der Hitlerzeit Mitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe, vom Kriegsgericht verurteilt, dann Zwangsrekrutierung in einer Strafkompanie. Sie haben im Leben viel gespielt, viel erreicht – welches bleibt das wichtigste Warnschild, das vorm Theater aufgestellt ist? Nie in eine Arbeit hineingehen, als hätte man schon Erfolg gehabt. Ein Satz von Friedo Solter. Das bedeutet? Nichts Altbekanntes in sich abrufen, nicht automatisch Regie- oder Dramaturgieansichten bedienen. Wir haben’s schon angedeutet: Der Schauspieler muss sich beim Spiel, beim Probieren in unerwarteten Situationen fühlen und dann auf der Bühne – erschüttert, verunsichert, hilflos – einfach erzählen, wie man auf Ungewohntes reagieren kann. Für welchen Zweck? Dass die Zuschauer später darüber reden. Und dass sie noch später sagen: Wir haben übers Theater geredet, aber das Leben gemeint. Der Schauspieler soll ein Wahrspieler sein, sagt Peter Handke im Stück „Das Spiel vom Fragen“. Und: „Mein Blick hinauf in einen Baumwipfel sollte gesehen werden von den Augen der anderen.“ Ja, so spielen, dass auch die Zuschauer wie Schauspieler nach Hause gehen, als Durchlässige. Wie geht das? 152


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Indem wir sie auf der Bühne von Durchlässigkeit überzeugen.

Filmregisseur Billy Wilder meinte, im Publikum sei jeder Einzelne vielleicht ein „Idiot“ – aber Publikum in seiner Gesamtheit sei ein Genie. Das ist der witzig-kluge Verweis auf die Relativität und den gleichzeitigen Reichtum der Urteilsbildung. Wenn Sie Billy Wilder anführen, führe ich Benno Besson an: Er hielt das Publikum für einen Feind. Oh! Sein Rat an Schauspieler: Verbrüdert euch nicht mit Unbekannten. Das ist nicht böse gemeint, es heißt einfach nur, dass einzig aus Widerspruch eine besondere Form der Achtung, des Respekts erwächst. Ihr Beruf ist Reproduktion. Das stimmt, unbedingt. Ja, wir Bühnenmenschen sind erst mal „nur“ Handwerker. Nicht Künstler. Aber das ist doch höchst ehrenwert! Das zu begreifen und zu berücksichtigen und es verantwortungsbewusst zu leben, ist eine hohe Kunst – weit vor der höchsten Kunst, die auf der Bühne entstehen kann. Entsteht sie oft? Kunst? Nee. Der Engel, der den Raum durchquert, ist scheu und schnell. Kunst ist wie Glück. Du kannst nie sagen: Das ist es jetzt! Du kannst höchstens ahnen: Das eben könnte es gewesen sein. Zack, schon vorbei. So, wie man als Mensch im Grunde nicht leben und gleichzeitig was drüber wissen kann, so erfährt man das möglicherweise Zauberhafte auf der Bühne nur immer als Nachhall. Und es kommt nicht sehr oft vor in deinem lebenslangen Spiel. Der große Rest ist deshalb nicht Schrott. Also: Liebe dein Handwerk, lebe dein Handwerk, und hüte dich vor dem Irrtum, du machtest jeden Abend Kunst. 153


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Ist es ein Problem, allabendlich reproduzierend zu sein – und gleichzeitig Spannung zu fühlen, zu halten? Vielleicht ist es ein bisschen wie mit dem Autofahren. Man hat es gelernt, man kann es, man beherrscht die Reflexe. Und trotzdem ist es gut, den Weg vor dir genau zu beobachten – obwohl du ihn tausendmal gefahren bist. Es könnten Kinder aus den Büschen springen. Aus sozialen Gründen ist es gut, aufzupassen. Aus sozialen Gründen ist es auch auf der Bühne gut, aufzupassen und genau zu gucken, obwohl du den Text im Schlaf kannst. Rechne immer mit Kindern in den Büschen. Im Straßenverkehr ist das tödlich, auf der Bühne ist es das Leben. Rechne mit allem, was die Ordnung stören will. Die Unordnung hat Heere von kleinen Teufeln. Sei wach für sie. Sie wollen mit dir spielen. Sei vorsichtig und offen zugleich. Sei dir selber ein Störfall, damit du besser wirst. Besser, nicht sicherer. Verschwinde in einem fremden Text, aber so, dass man dich erkennt; aber sei um Himmelswillen nicht auf eine Weise kenntlich, die womöglich den Text zum Verschwinden bringt. Wirklich: ganz einfach. Nicht wahr? Sag ich doch. Ganz einfach – und doch ein Kanzel-Ton. Als Kind wollte ich Pfarrer werden, ich habe gern Predigten nachgespielt. Gleichzeitig war es mir unbehaglich, Gedichte vorzutragen: wegen der feierlichen Stimmung und aus Scheu vor den Klassenkameraden … Aber Moment: Ich und Kanzel-Ton? Wirklich? Mit Kanzel-Ton meine ich: Sie warnen gern vor den Fallgruben des Berufs. Meinen Studenten habe ich immer gesagt: den Pförtner grüßen und wissen, dass man ein Nichts ist – wenn ihr diese zwei Dinge beherrscht, kommt ihr mit einer großen 154


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eleganten Kurve durch den Beruf. Mit großem Aufwand kann man als Schauspieler, für sich selber, große Wirkung schaffen. Geltung nicht. Irgendwann weiß man, wie man’s für sich selber macht – aber das heißt nicht, dass man auch weiß, wie man’s überhaupt macht. Besser – das ist die Steigerung von gut. Aber weißt du denn, ob’s tatsächlich gut ist? Im allerhöchsten Falle sind wir talentiert für die jeweilige zweitbeste Lösung. Jedenfalls für mich sag ich das so. Mit Tendenz wahrscheinlich zur dritt- oder viertbesten Lösung. Mit anderen Worten: Mach dir nichts vor, du musst wissen, dass das Publikum sehr vieles will, aber wahrscheinlich nicht unbedingt dich. Die Lebenszeit in diesem Beruf wird wunderbar sein, wenn schon der junge Schauspieler eines verinnerlicht: Für den Sinn des Satzes „Sein oder Nichtsein …“ sind wir allesamt zu schlicht ausgestattet. Keiner von uns hat diesen Satz erfunden und „Hamlet“ geschrieben. Der Beruf fordert Anmaßung, sonst könnte man keine Bühne betreten. Aber gleichzeitig ist Demut angesagt, denn die Sache, die du betreibst, ist sehr gefährlich: Es gibt keinen zweiten Beruf, in dem du mit offener Blödheit derart populär werden kannst, wirklich: keinen zweiten. Vielleicht ist der sogenannte Herr im Himmel genial, Schauspieler sind es nicht. Künstlergeraune jedenfalls kann ich nicht leiden. Ich sehe das Ganze lieber etwas ironischer: Brot kann schimmeln – was kannst du? Ich kenne einen Schauspieler, der konnte nicht anders, als bei einem Gastspiel des Deutschen Theaters in Venedig unbedingt mit „Sinn und Form“ unterm Arm über den Markusplatz zu gehen. Ich habe mal bewundernd zu ihm gesagt, er sei der einzige Schauspieler, der alle Philosophen kenne, aber er sei auch der einzige, bei dem dieses Wissen völlig sinnlos sei.

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Sie übertreiben Ihren Groll. Na klar übertreibe ich. Aber mir fällt da eine Szene im Berliner Ensemble ein. Dort fanden, als ich noch studierte, Seminare statt, an denen auch Schauspielstudenten teilnehmen durften. Regisseure wie Manfred Wekwerth oder Joachim Tenschert diskutierten mit Assistenten und Schauspielern. Für mich war das BE der Olymp auch der theoretischen Arbeit. Also hin und die Ohren spitzen! Einmal ging es dort um den zentralen Begriff der „Haltung“. Man wälzte Brecht und Klassik undsoweiter. Plötzlich steht ein Schauspieler auf und sagt kopfschüttelnd, er wisse gar nicht, wozu er hier geladen sei, denn was der Begriff bedeute, liege doch klar auf der Hand, was gäbe es da zu reden und zu raunen. Kürzlich war ihm ein Reifen am Auto geplatzt, hilflos habe er am Straßenrand gestanden und vergeblich um Beistand gewunken: „Keiner hielt an, jeder ist vorbeigefahren – na sagt mal: Is das ’ne Haltung?! Noch Fragen?“ Peinliches Schweigen. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören. Das Berliner Ensemble, für mich das Zentrum von produktivem Denken, und dann dieser hanebüchene Blödsinn. Was lehrt’s? Mit Dummheit muss man vor allem dort rechnen, wohin man die Füße mit besonderer Ehrfurcht setzt. Sind Sie schon mal verzweifelt am Beruf? Am Beruf nicht, aber an Rollen. In solchen Situationen muss man halt sehen, wie man anständig und ehrbar durchkommt. Meistens ist das möglich. Wären Sie angesichts der Erkenntnis, nur mittelmäßig zu sein, vom Theater weggegangen? Kann ich nicht beantworten. Ich wurde nie vom Gefühl übermannt oder überrannt, mittelmäßig zu sein.

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UND DER ABEND DAUERT ZEHN MINUTEN LÄNGER STIMMEN

Jutta Wachowiak Dagmar Manzel Michael Gwisdek Frank Lehmann Dieter Montag Christoph Hein Horst Hiemer Christine Schorn


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Die wahre Geschichte des Ah Q“, Deutsches Theater 1983. Ensemble v. l.: Roman Kaminski, Dieter Montag, Autor Christoph Hein, Gudrun Ritter, Christian Grashof, Friedo Solter


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Jutta Wachowiak Endlich angstfrei!

1968 zog ich von Potsdam in den Süden – der DDR. Gerhard Meyer, langjähriger Intendant in Potsdam, war ein Jahr zuvor an die Städtischen Bühnen Karl-Marx-Stadt gewechselt und hatte mir das Gleiche angeboten – falls ich den Schritt wagen wolle. Jederzeit! Denn die ersten fünf Jahre meines Schauspielerinnendaseins waren vollgepackt mit offenen Fragen, und sie waren extrem arm an Antworten. Und nun traf ich auf Christian. Er hatte seine erste Spielzeit in Karl-Marx-Stadt hinter sich. War sehr geschätzt, und alle hofften – und gingen fest davon aus –, dass er fürs Ensemble eine große Bereicherung sei. Erste Probe „Kasimir und Karoline“. Er: Merkel Franz, Ich: dem Merkel Franz seine Erna. Er schmiss die Arme und sich selber in die Bresche, dass mir sofort bewusst wurde, was mir in den letzten Jahren gefehlt hatte: so eine absolut ungebremste Verausgabungsbereitschaft, so ein Vertrauen zu sich und zu den Kollegen. Das war es, was ich bislang vermisste. Und nicht nur das! Er dosierte seine Vorschläge überhaupt nicht. Waren sie dumm oder ungenau oder gar nicht zu brauchen – egal. Er machte sie, und sie waren immer toll, sie waren rücksichtslos. Aber wegen der Wahrheit, die sie enthielten, waren sie – selbst wenn eines der genannten Adjektive zutraf – immer förderlich für die nächsten Schritte auf der Suche nach der möglichst besten Lösung. Und das ist dann so geblieben. „Kabale und Liebe“. Unglaublich anstrengende Proben. Aber für mich eine so erhellende Zeit. Eine Zeit, die mich glauben ließ, dass ich doch nicht so ganz falsch bin in dem Beruf. Und dass 159


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dann, wenn es einem gelingt, angstfrei auf die Probe zu kommen, dieser Beruf tatsächlich so schön sein kann, wie ich ihn mir erträumt hatte. An all diesen Erfahrungen hat Chris eine Aktie. Hab ich nie vergessen. Jutta Wachowiak, 1940 in Berlin geboren, spielte von 1970 bis 2005 am Deutschen Theater. Danach Arbeit in Essen, Bochum, am Berliner Ensemble. Zu ihren größten DEFA-Filmerfolgen wurde „Die Verlobte“ von Günther Rücker und Günter Reisch.

Dagmar Manzel Das Spiel mit dem Moment

Als junge Schauspielabsolventin sah ich Chris Grashof als Danton und Robespierre in „Dantons Tod“. Ich war begeistert und gleichzeitig verunsichert. Diese Spielweise war neu für mich! Scheinbar bei klarem Verstand und mit großem Formbewusstsein, so durchlässig und anrührend. Ich war fasziniert von ihm. Als ich dann selber ans Deutsche Theater kam, hatte ich das große Glück, in einer Vorstellung von „Dantons Tod“ als Simons Weib einzuspringen. Da stand ich auf einmal mit Chris Grashof, Dietrich Körner und Kurt Böwe auf der Bühne – in dieser legendären Inszenierung. Viele Jahre lang durfte ich mit Chris in Thomas Langhoffs „Onkel Wanja“ und „Die Möwe“ spielen. Seine Spielweise ist einzigartig, weil sie in gewisser Fassung und doch immer anarchisch geblieben ist. Nie konnte man ihn festlegen, nie hat er etwas nur wiederholt, er spielt mit dem Moment auf der Bühne, mit dem Zuschauer, mit den Kolle160


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gen, er hadert mit seiner Rolle, liebt sie und geht also ganz in ihr auf. Man musste immer auf der Hut sein. Seine warmen, freundlichen Augen, sein scharfer Verstand und sein feinsinniger Humor haben es mir stets, wenn wir gemeinsam arbeiteten, leicht gemacht. Ich glaube, ich habe durch ihn das Wesentliche begriffen, das, was diesem Beruf den wahren Sinn gibt, ihn lebenswert macht: dass die Kunst ein unbewusster Akt ist. Dagmar Manzel, 1958 in Berlin geboren, gehörte von 1981 bis 2001 zum Ensemble des Deutschen Theaters. Als Sängerin prägte sie in den letzten Jahren auch Inszenierungen an der Komischen Oper Berlin. In der ARD ist sie „Tatort“-Kommissarin.

Michael Gwisdek Freunde statt der Malediven

Er ist einer der ganz Wenigen, über die ich nichts Negatives sagen kann. Wir kennen uns seit der Schauspielschule und hatten später eine gemeinsame Zeit am Theater in Karl-Marx-Stadt. Dort waren er und Jutta Wachowiak für uns Nachrücker die Heroes. Von Chris habe ich nicht nur künstlerisch gelernt, sondern auch ein paar Leitsätze übernommen, die gelten für mich bis ans Ende meiner Tage. Eher Leitinstinkte, vor allem dieser: Alles so zu prüfen, wie man Essen und Trinken darauf prüft, ob es einem bekommt. Wir leben in einer aufgeklärten Welt, aber es ist nicht leichter geworden, das zu sagen, was man denkt. Grashof hebt den Kopf, ruckartig, und sagt: Trotzdem! Inzwischen führen wir unsere Leben zwar auf unterschiedlichen Inseln, dazwischen Wasser, mit dem 161


Und der Abend dauert zehn Minuten länger

alle kochen, wir sehen uns nur noch selten, aber wenn es mir mal ganz dreckig ginge, dann würde ich mich an ihn wenden. Und er wäre garantiert hundertprozentig für mich da. Wie ich für ihn. Als ich „Das Mambospiel“ drehte, das mich nicht nur meine Ehe mit Corinna Harfouch kostete, war ich in einer derart miesen Verfassung und sah auch so aus, dass alle möglichen Leute sagten, so kannst du nicht arbeiten, erhol dich erst mal drei Wochen auf den Malediven. Aber das ging ja nicht, und so musste ich mich mit Freunden umgeben, die mich verstanden und auffingen. Chris war dabei, in einer winzigen Rolle. Weil ich mich noch immer für einen hoffnungsvollen Jungfilmer halte, glaube ich fest, dass ich eines Tages mal was Großes mit dem Grashof mache. Denn unsere Freundschaft hält bis zum Tode. Amen. Michael Gwisdek, 1942 in Berlin geboren, spielte am Deutschen Theater und an der Volksbühne. 1990 lief seine erste Regiearbeit, „Treffen in Travers“, beim Filmfestival in Cannes. Für eine Hauptrolle in „Nachtgestalten“ von Andreas Dresen erhielt er 1999 einen Silbernen Bären der Berlinale.

Frank Lehmann Lagerfeuer und Katzen

Der Schauspieler von uns beiden bist du, ich bin kein Mann vieler Worte, sondern eher jemand, der mit Taten glänzt und dann möglichst Taten handwerklicher Art. Aber wenn ich meine Bekanntschaft mit Christian Grashof mal Revue passieren lasse: Kennengelernt haben 162


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wir uns 1978 am DT. Mein Vater Dieter Lehmann, der damals Theaterobermeister war, hat uns miteinander bekannt gemacht. Das ist jetzt sage und schreibe vierzig Jahre her. Ich schätze dich als ehrlichen und aufrichtigen Menschen, in meinen Augen bist du einer jener Schauspieler der alten Schule, mit dem Wissen, dass es kein Geschehen auf der Bühne ohne das Geschehen hinter der Bühne gibt. Es geht mir jetzt nicht darum, dass ich deine schauspielerischen Leistungen bewerte, das steht mir auch nicht zu – trotzdem möchte ich die Aufführung „Die Insel“ von Athol Fugard erwähnen, die du gemeinsam mit Alexander Lang bestritten hast. Für mich war diese schauspielerische Leistung sehr ergreifend, sie ist mir bis heute in Erinnerung. Im Spielzeitheft von 2003/ 2004 gibt es ein gemeinsames Foto von uns beiden. Es hat mich sehr gefreut, dass du mich gebeten hast, mit dir gemeinsam diese Aufnahme zu machen. Das eine oder andere Mal haben wir, meine Frau und ich, euer Haus und eure Katzen gehütet. Die Lagerfeuer danach mit euch und den Kindern, das war sehr schön und sehr lustig, da du immer sehr amüsante Anekdoten erzählen kannst. Außerhalb des DT hat sich zwischen deiner und meiner Familie etwas Freundschaftliches entwickelt. Auch wenn es keinen regelmäßigen Kontakt gibt, gehen wir nie auseinander, ohne uns zu vergewissern, dass es allen gut geht. Danke dafür. Frank Lehmann, 1958 geboren in Berlin, ist seit 1975 am Deutschen Theater, zunächst Bühnentischler, seit 1989 Bühnenhandwerker.

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Und der Abend dauert zehn Minuten länger

Dieter Montag … musste er mich töten

Bei der „Wahren Geschichte des Ah Q“ habe ich zum ersten Mal mit Christian Grashof gespielt, und seither mag ich ihn auf besondere Weise. Nicht nur, weil wir viel Spaß auf und hinter der Bühne hatten. Zum Beispiel beim „Herzog von Gothland“, da musste er mich töten, und ich hab mir allerhand Zeugs und Strippen unters Chemisett gesteckt, das durfte er dann rausfummeln. Vor allem aber bewundere ich Grashof wegen seiner Ehrlichkeit und seines kämpferischen Naturells. Egal, wer da vor ihm sitzt, wie immer der Intendant gerade heißt: Er sagt ihm, wie’s ist, und geigt ihm die Meinung. Geigt (manchmal), als nähme er am liebsten den Geigenkasten. Genau genommen ist Chris der einzige richtige Freund, den ich je am Theater hatte. Dieter Montag, 1949 in Helbra geboren, spielte an der Volksbühne, dem Deutschen Theater, am Berliner Ensemble und am Schiller Theater.

Christoph Hein Binse? Beglückung

Christian Grashof gehört zu der Schauspieler-Gilde, die das Deutsche Theater über Jahrzehnte geprägt haben, nachfolgend oder zusammen mit Inge Keller, Fred Düren, Dieter Franke, Dagmar Manzel, Dieter Mann und vielen anderen Schauspielern, den besten des Landes. 164


Stimmen

Ich hatte das große Theaterglück, dass Lang mit Grashof und Dieter Montag meine „Wahre Geschichte des Ah Q“ am Deutschen Theater inszenierte. Ein Stück, das wiederholt an den drohenden Verboten vor und nach der Uraufführung vorbeischrammte, war es doch eine böse und bissige Analyse der Zeit, was den Herrschenden nicht verborgen blieb. Mit Nonchalance, mit Witz und Arroganz spielte Grashof den eingebildeten Anarchisten Krätzebart Wang. Mit Überpointierung und lachhaften Vergröberungen bemühte er sich, in seinem Dorf und seinem Land Tabula rasa zu machen. In Grashofs Spiel wurde das sarkastische Abbild der Gesellschaft zur boshaften Clownerie. Mit den Jahren potenzierten sich seine Mittel und Möglichkeiten. Witz und Humor hatten und haben einen knurrigen und kauzigen Grundton; mit seinem markanten Schädel geht er gegen die Welt vor; seine Augen blitzen voll Ironie und Lebensfreude. Das machte und macht ihn auch in seinen vielen, kaum überschaubaren Kinound Fernsehfilmen unverwechselbar. Grashof – ein Charakter seltener Art. Ein Erzkomödiant, ein Falstaff, ein Nimmersatt und Gargantua der Bühne. Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf, ist einer der prägenden deutschen Schriftsteller. Romane u. a. „Horns Ende“, „Das Napoleon-Spiel“, „Willenbrock“, „Landnahme“, „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, „Glückskind mit Vater“, „Trutz“. Theaterstücke u. a.: „Die Ritter der Tafelrunde“, „Randow“.

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Und der Abend dauert zehn Minuten länger

Horst Hiemer Mellefonts Tod (Christian Grashof)

Der ist so blass, so bleich, der ist doch tot, schon lang. Der hat doch nichts, was er auch wirklich hätte, nicht Frau, nicht Kind, auch nicht sich selbst. Das Leben hat er erst vor seinem Tod, da er (und wie!) noch einmal zu sich kommt und zu ihr geht von dieser Welt.

Für C.G., „Philoktet“ Der Labernde der Stinker an diesem Seil Der Sohn des Idols die Hoffnung des Landes der reißt und hängt dran Der windige, bemäntelnde der verhüllende aber zieht an dem Seil das ihn doch selber hält und lenkt die zwei nach seinem Sinn zu Zwecken, die nicht er bestimmt Horst Hiemer, 1933 in Ratibor geboren, spielte von 1960 bis 2001 am Deutschen Theater. 2012 veröffentlichte er „Theaterleben. Geschichten und Erfahrungen“ in „Sinn und Form“.

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Stimmen

Christine Schorn So sehr drinnen wie draußen

Chris Grashof ist für mich der klassische Schauspieler schlechthin, weil er eine hinreißende Mischung darstellt aus zartverklärtem Romantiker und knallharter Ulknudel. Sein oberstes Prinzip lautet: Verteidigung des Dichters und Verteidigung seiner Figur. Das geht bis zur inneren Zerreißprobe. Deshalb ist er während der Proben nicht wirklich frei – für anderes. Er ist besetzt. Er sucht bis zuletzt nach jener anderen Figur, die auch ihn mehr und mehr besetzt. Er will sie sein – und will sie sehen. Drinnen sein und Draußenblick haben. Dieses leicht Perverse macht unseren Beruf so schmerzhaft und so schön. Weil er ein bohrender, peinigender, stachliger und närrischer Zweifler ist, fürchtet er immer, nicht das Optimum zu erreichen. Er sucht und sucht, und deshalb kann eine Vorstellung mit ihm schon mal ganze zehn Minuten länger dauern. Chris ist ein absolut vertrauenswürdiger Mensch, denn er bleibt – auch auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen – stur bei seiner Wahrheit. Christine Schorn, 1944 in Prag geboren, studierte an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin, spielte schon als Studentin (mit Dieter Mann in „Unterwegs“ von Viktor Rosow) am Deutschen Theater, war dort vier Jahrzehnte engagiert.

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GEHT ÜBERHAUPT NICHT! ALSO WIRD’S VERSUCHT. GESPRÄCH

Böwes Seufzer an der Friedrichstraße Einstand für den vermeintlichen Schlosser Beim Monolog tippt Düren auf die Uhr Ein Indianerhäuptling führt Regie Dicker Schal und schäbiger Trenchcoat Schönheit ist kein Bild, sondern Arbeit


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Mit Roman Kaminski (l.) und Alexander Lang in „Philoktet“, Deutsches Theater 1977


Gespräch

HANS-DIETER SCHÜTT: Ihre erste Rolle am Deutschen Theater war 1970 der junge Leutnant in Lorcas „Doña Rosita bleibt ledig“. CHRISTIAN GRASHOF: Ich hatte nur einen MomentAuftritt im letzten Akt. Ein blutarmer Kerl, von Horst Sagerts Regie auch noch sanft denunziert. Himmelblau angezogen. Sagert führte Regie mit Siegfried Höchst. Die blaue Farbe Ihres Leutnants war wie ein leichter Hohn – in der dunklen Sinnlichkeit dieser überbordenden süßen Schwermut, die über der Szene lag. Horst Sagert überfiel alle Menschen, alle Räume mit Fantasie. Er überfiel mit Vogelfedern und Blütenblättern und Stoffresten. Welten wie von Dalí. Und wenn die Blumenblätter nicht genau dort herabregnen durften, wo er es für das Natürlichste hielt, oder wenn sie nicht von einem Wind bewegt wurden, der exakt die Geschwindigkeit hatte, die er sich vorstellte, dann konnte es passieren, dass Sagert so leise, wie er in Inszenierungen hineingekommen war, wieder verschwand. Leise, aber entschieden. Wirklich und wahrhaftig ein Kunst-Handwerker oder KunsthandWerker. Nicht berechenbar. Baute und bastelte und schuf Welten, dass es nur so blühte, aber der Betrieb kam dabei auch mächtig in Krisen. Wenn ein Zweiglein auf dem Bühnenboden an falscher Stelle lag, musste man bei ihm mit Abbruch der Vorstellung rechnen, mit selbstzerstörerischen Ausbrüchen. Von Horst Sagert stammt der schöne Satz: „Der Irrtum hat immer recht.“ Bei ihm fällt mir ein kleines Erlebnis ein, das aber sehr genau eine bestimmte Atmosphäre in der DDR erzählt. An der Hannoverschen Straße fuhr ein Bus, die Haltestelle lag unweit der logischerweise streng bewachten und observierten Ständigen Vertretung der BRD in Berlin. Eines 171


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

späten, sehr späten Abends kamen wir da vorbei, wir waren zu dritt, mit dabei Horst Sagert. Wir standen da, warteten auf den Bus und sahen an einer Litfaßsäule einen Mann liegen. Total betrunken. Es war kalt, wir redeten inständig, selber beträchtlich angeheitert, auf den Zusammengesunkenen ein, malten ihm seinen baldigen Erfrierungstod aus, rüttelten ihn. Nichts half, nichts bewog ihn, sich zu bewegen. Aber so einfach liegenlassen, das ging auch nicht. Wirklich, eine hilflose Person. Was tun, gleich käme der wahrscheinlich letzte Bus dieser Nacht. Da beugte sich Sagert über den Unglücklichen und fragte ihn einfach nur, ganz schnörkellos, aber gut verständlich: „Sag mal, wie stehst du eigentlich zur Mauer?“ Schlagartig schnellte der Mann hoch, schüttelte sich etwas und war mir nichts, dir nichts verschwunden, als hätte er nie hier im Straßendreck gelegen. Sagerts politische Gretchenfrage hatte haargenau nach den landläufig bekannten, auffällig unauffälligen Männern geklungen, die hier, in der Nähe der BRD-Vertretung, Tag und Nacht ihren ungeliebten Dienst versahen und herumpatroullierten – unserem Manne, der da orientierungslos und knallbenebelt am kalten Boden lag, ging also noch im Suff blitzartig auf, wem er da womöglich in die Fänge gehen würde. Schwupps, war er hellwach, stocknüchtern – und weg. Politpsychologisch hatte Sagert eine geradezu geniale Idee gehabt. Die Dramaturgin Ilse Galfert über Ihre Anfangszeit am DT: „Es braucht manchmal lange Zeit, dass es einen plötzlich, unerwartet ins Ensemble reinbefördert. Grashofs verschlossene Art hat wenig geleistet damals an Liebeswerben um den Zutritt. In Überbrückung dessen hat man wiederum nichts von irgendwelcher Filmtätigkeit gehört, nichts von Synchron-Arbeit oder Nächten in Hörspielstudios. Grashof hat gewartet und zugehört.“ Diese Anfangszeit in Berlin glich einer Geduldsprüfung. Aber man will ja als junger Schauspieler überhaupt nicht 172


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geduldig sein, man will auf die Bühne – und auffallen. Und wenn’s zunächst ausbleibt? Es war so, wie Ilse Galfert das beschrieben hat. Ich habe nicht gebarmt, ich habe nicht resigniert. Sondern? Ich habe mich umgesehen und die Konkurrenz beobachtet – diese fest Integrierten, unter denen ich ein wenig ungelenk umherging. Ich war der Neue, Fremde, umfangen von Erfolgsmenschen. Ja, ich war nur der Vorgemerkte auf einer Warteliste. Nachträglich muss ich sagen, mich leitete eine lebensrettende Distanz: Kommt Zeit, kommt zwar nicht Rat, aber irgendwann komme – ich. Muss ich jetzt unbedingt wiederholen: Distanz, nicht Arroganz! Wo sollte Letztere herkommen? Trotzdem: Das sagt sich so einfach. Natürlich waren da auch Druck und Unruhe. Aber Warten heißt eben nicht automatisch: abwarten. Die ihm eingegebene Motorik des Schauspielers, die lässt sich nicht stoppen, so ohne weiteres. Ja, dein Körper lebt, er verlangt etwas, und ich bewohnte nun also eine gewisse Zeit eine Abseits-Ecke im Ensemble. Aber ich richtete mich in dieser Ecke nicht ein, ich bezog sie mit einer Art aggressivem Übermut: Ha, die sollen mich erst mal ranlassen, dann …! Es war wie ein langes Atemschöpfen vor dem Start – an den ich immer geglaubt habe. Wobei ich vorausschicken muss: Als ich am Deutschen Theater anfing, war ich naturgemäß verblüfft, erstaunt, verwundert, benommen und in bestimmten Momenten, wenn ich nachts im Bett lag, schlichtweg fassungslos, dass ich mit so einer großartigen Kollegenschaft zusammensein durfte. Ich hatte als Student Wolfgang Langhoffs „Iphigenie“ gesehen und mir 173


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

überhaupt nicht vorstellen können, wie ich mit diesen großen Leuten je würde auf einer Bühne stehen können. Ich sah Keller, Grosse, Langhoff, dann auch all die anderen – man träumt sich als junger Kerl an das Deutsche oder das BE, und gleichzeitig hat man Angst davor … Da fällt mir Zeitz ein. Zeitz? Es gibt diese schöne Anekdote vom Schauspieler, der in Stendal engagiert ist und sich woanders bewirbt, unter anderen auch am Theater in Zeitz. Der Intendant lädt ihn ein, spricht mit ihm, studiert die Unterlagen und sagt: „Aha, Sie sind in Stendal engagiert.“ Nicken. Der Intendant blickt konsterniert auf, als liege hier ein Extremfall der Selbstüberschätzung vor. „Stendal, soso. Und von da wollen Sie gleich nach Zeitz?“ Na, jedenfalls sah ich Inge Keller und hielt es für unmöglich, je mit ihr zu spielen. Kann doch sein, man muss sie mal anfassen? Undenkbar! Ulrich Mühe schrieb: „Man traf sich am Deutschen Theater nicht in irgendeiner Mitte, sondern ganz oben; da muss Präsenz zeigen, wer nicht fallen will.“ Ja, man wurde überhaupt nicht freundlich aufgenommen. Man tat mir zwar nichts, aber so ein höfliches Geduldetwerden, das ist schon überaus genug an Abkühlung. Ich spürte: Gefragt ist manchmal nicht Talent, sondern Durchstehvermögen. Das brachte ich zum Glück, wir haben darüber gesprochen, als Familienerbe mit. Das soziale Erbe? Ja. Wie andere aus anderen Familien vielleicht ihren fein ausgebildeten Kunstverstand oder ähnliche exquisite Gottesgaben einbrachten, so brachte ich am Deutschen Theater die Steherqualität ein. Wieder hat mir da Friedo Solter geholfen – er war der Lehrer, der mir Kraft für Ausdauer gegeben hat. Er riet, nie nervös zu werden, er sagte: „Der 174


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Schauspieler muss warten können.“ Nun erfuhr ich, wie wichtig diese Ausdauer ist. Diese Kraft bleibt wichtig fürs ganze Leben. Aber man muss sich natürlich davor hüten, so eine soziale Grundgegebenheit jetzt, im sehr fernen Nachhinein, in die pure Schönheit hineinzuformulieren. Wieso? Weil es auch bitter ist, wenn du da stehst wie angepflockt. Kommst nicht vorwärts. Kommst nicht auf das Tempo, das du dir vorgestellt hast. Trotz Friedo stimmt doch auch, dass Dichtung hundert Jahre warten kann, der Schauspieler aber nicht. Wenn du den Schauspieler lange liegen lässt, fault er wie ein Apfel. Und wenn du dann noch frech angegangen wirst … Frech angegangen? Wir sprachen über „Doña Rosita bleibt ledig“. Inge Keller spielt die Mutter. Stellprobe. Frau Keller sitzt drapiert weit vorn auf einem Sofa. Wir beide hatten vor dieser Szene noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Ich betrete von hinten die Bühne. Plötzlich höre ich die Stimme, wie ein Messer: „Sagert, sagen Sie mal, seit wann werden denn an diesem Theater Schlosser und nicht Schauspieler engagiert?“ Peng. Sagert schwieg. Siegfried Höchst kam sofort auf die Bühne gesprungen. Der Eklat blieb aus. Aber er hatte in der Luft gelegen. Ich weiß nicht mehr, was mir in diesem Moment die Ruhe gab und woher ich die Lust nahm, weiter an der Probe teilzunehmen. Der Empfang durch die Diva, das muss man schon sagen, der hatte unverschämtes Format, er bot Klartext. Mit Kurt Böwe stand ich in der Friedrichstraße, er sagte seufzend: „Du kommst aus Karl-Marx-Stadt, ich komme aus Halle – weißt du, Chris, dass uns hier niemand will und niemand braucht?“ Horst Drinda probierte den Amphitryon, ich den Merkur. Drinda wurde immer intensiver in seinem Ehrgeiz, ganz selbstverständlich auch für mich die Einfälle zu 175


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

erfinden. Die Überheblichkeit ging bis zu dem Vorschlag, er trete nach vorn und ich solle die gesamte Szene über ganz hinten bleiben. Als ich das tolle Arrangement ignorierte, stürmte er vor an die Rampe, um sich gegen diesen Bruch einer doch nie getroffenen Vereinbarung den Regie-Beistand zu holen. Ich rief laut: „Friedo, sag ihm bitte, dass ich selbstverständlich nicht da hinten bleiben werde. Sag es ihm aber so, dass er an kein Missverständnis glaubt.“ Ruhe im Karton! Ich nenne einen weiteren Namen: Eberhard Esche. Wenn man mit Esche in einem Ensemble war, dann war es besser, von ihm gemocht zu werden. Wenn nicht, dann war das bitter, und er hat es auch ausgekostet. Friedo Solter machte mit ihm den „Wallenstein“, Alexander Lang und ich und einige andere besaßen die Frechheit, im oberen Foyer des Deutschen Theaters „Der entfesselte Wotan“ von Ernst Toller zu probieren. Das ging in den heiligen Hallen eigentlich überhaupt nicht. Aber Lang und ich, wir hatten nicht solch eine Ehrfurcht, wir hatten inzwischen auch nicht mehr so große Angst vor diesem Haus. Einige taten, als beschmutzten wir die Treppen eines Doms. Ich hätte fast gesagt, die Treppe da, die wurde für Göring gebaut, wenn ihr schon ein sauberes Haus haben wollt, dann reißt erst mal die Treppe ein! Auch Esche war naturgemäß nicht unser Freund, und viele andere waren es ebenfalls nicht. Es ging trotzdem, wir lernten, einander zu akzeptieren. Ich sag: durch Leben und alles Mögliche. Ich glaube, er war am Ende ein glücklicher Schauspieler, weil er nicht mehr mitspielte. Er meinte wohl, den Beruf als etwas durchschaut zu haben, über dem er stand. Er hatte zum Schreiben gefunden und setzte gegen die Existenz als „Kaschperkopp“ eine andere Existenz. Die des Stolzes. Und ein bisschen Verachtung gegen die Welt war auch dabei. Verachtung lässt sich nur ertragen, 176


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wenn man sie unter der Fahne des Ideals betreibt. Er schwenkte die Fahne noch in Windstillen: Wolfgang Langhoff, hellste Aufklärung, dann noch Besson und Hacks – und mehr war da für ihn nicht. Na ja. Ihn mochte kein Intendant, er mochte fast keinen Intendanten. Er mochte, ihn mochten sehr wenige Schauspieler. Die ihn mochten, mochten ihn sehr, und auch Intendanten konnten sich an ihn gewöhnen. Er hatte am Ende, mit seinen großen Solo-Abenden, Heine, Goethe, seinen wahren majestätischen Platz auf der Bühne gefunden: den Platz, wo er allein sein und das tun konnte, was er wollte. Zu einem Ihrer Geburtstage hat er einen Text geschrieben: „Der Schauspieler muss sein ganzes Leben der Erringung von Fertigkeiten widmen. Gut ist er, wenn ihn jede neue Fertigkeit doch immer auch neue Unfertigkeiten erkennen lässt. Dieser Niedergang ist des Schauspielers Karriere. Chris Grashof hat es in dieser Hinsicht weit gebracht. Er spielt, aber sich nie auf. Goethe sagt: Der ist der glücklichste Mensch, der sein fortlaufendes Leben mit dem Anfang in Verbindung setzen kann. Grashof ist einer, bei dem sich Goethe den Beweis geholt hat. Und noch etwas: Ein Theaterschauspieler trägt jeden Abend im buchstäblichen Sinn seine Haut zu Markte. Deshalb sieht er sich gezwungen, tagsüber seine Haut zu pflegen. Diese Pflege lässt ihm wenig Zeit für andere Häute. Das will sagen, soziales Engagement ist bei Schauspielern eher eine theoretische Erscheinung. Grashof überrascht durch das Gegenteil.“ Ich war berührt. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gebraucht mit ihm und er mit mir – ich sage wieder: Durch Leben und alles Mögliche hatten wir am Ende, na, sowas wie eine Telefonfreundschaft. Ich war froh darüber. In einem speziellen Punkt war Eberhard Esche ehrenwert hartnäckig: Er rief immer und überall dazu auf, den 177


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Schauspieler Dieter Franke zu rühmen. Der Beliebteste im Ensemble. Er war Darsteller von Menschen, die aus ihrer Freiheit urplötzlich in die Falle gerieten, Entscheidungen treffen zu müssen. Sie brachten Franke zum Schwitzen: Kreon, Butler, Kleists Kurfürst und Adam, Trullesand. Und zwischen den Schweißtropfen stand in schönster Geheimschrift, die aber alle lesen konnten, etwas vom ersten Kinderglauben ans Glück der Komödianten: Man kann sein, was man nicht ist. Dieter hatte etwas unglaublich Offenes, Vermittelndes, Einladendes, er hatte – Seele. Er konnte nachts nicht schlafen und las Nietzsche, bis früh um neun. Dann ging er zur Probe, vielleicht mit kurzem Umweg über die Kantine, aber wenn er etwas erzählte, dann höchstens, was er zum Frühstück getrunken, nicht, dass er Nietzsche gelesen hat. Es war nicht gut, ihm vor zwölf Uhr am Tag zu begegnen, dann aber war der Alkoholrest weg, und er spielte auf den Proben wie ein König. Er sagte gern den Satz: Die Partei, die Partei, die hat immer recht – und alle erschraken. Denn alle dachten, er meine die SED. Aber er meinte eine ganz andere Partei. Für diese Partei fand er treffliche Losungen: „Heute wird nochmal gesumpft, morgen dann der Wendepumpft“ oder „Wir Gaukler sind ein seltsames Volk: heute hier, morgen dort und übermorgen schon wieder besoffen“. Rolf Ludwig war auch drin, Kurt Böwe auch, Klaus Piontek auch, Thomas Langhoff auch. Diese Partei musste nie eine Wende fürchten, weil sie für jedes Volk da war. Diese Partei nahm nur Könner auf. Die Partei, die immer recht hat – es gibt sie noch heute. Es ist unübertreffliche – Partei der Schelme. Dieter Franke starb 1982, erst 48 Jahre alt. Und wir starrten mit angekratztem Gewissen ins offene Grab. 178


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Zu einer Zeit, da auch Sie zu den Granden des Hauses zählten. Kann man den Torquato Tasso, den Sie 1975 bei Friedo Solter spielten, als Durchbruch am Deutschen Theater bezeichnen? Durchbruch … Großes Wort. Vielleicht sagten sich einige, guck an, was die Mücke doch für Fett hat. Und Inge Keller erkannte wohl, dass man einen Schauspieler, keinen Schlosser engagiert hatte. Wobei ich jeden Schlosser gegen sie verteidigt hätte. Sie waren ein Zögling von Solter. Zögling … Nein … Aber wie gesagt: Friedo gab mir die Gewissheit, dass es gut ist, wie ich bin. Nicht, dass alles gut ist, was ich tue, aber dass es gut ist, dass ich bei mir selber bin, auch dort, wo es quer- oder gar schiefläuft. Ich komme aus den niedrigen Schichten und bin da rausgehopst. Ich bekam mit: Nicht irgendwas muss sich lohnen, ich selber muss mich lohnen. Dann kann ich auch kämpfen oder streiten. Ich bin weg vom Nierentisch, von dem ich Ihnen erzählt habe, aber Wurzeln habe ich nie gekappt. Warum betonen Sie das jetzt? Weil wir Theaterleute jeden Morgen, zur Probe, in eine Welt hineingehen, von der andere nur träumen können. Das kann dazu verleiten, sich überhaupt von einer anderen Welt zu fühlen. Ich beschäftige mich in meinem Beruf mit Mördern, mit gewaltigen Liebschaften, mit fürchterlichen Schlachten. Ich bin der liebe Gott im Kleinen, der alles noch einmal selbst und neu macht. Aber ich bin das in Wahrheit natürlich überhaupt nicht. Man kann nicht Gott sein in einer Welt, die man selber nicht geschaffen hat. Aber gern tun wir so.

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Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Auch wir Zuschauer tun so. Im Theater verwandeln wir uns für kurze Zeit. Wenn die Vorstellung beginnt, sind alle Zuschauer gute Menschen, im Zustand der Unschuld. Nach 23 Uhr ist alles vorbei. Ihr habt die Kneipe, wir die Kantine. Dort und dort wird Utopia ertränkt. Von Glas zu Glas langsame Rückkehr in den Alltag. Trotzdem versuchen wir’s am anderen Tag wieder. Das kann zur Folge haben, dass wir Schauspieler glauben, ein moralisches Empfinden zu haben, das wir unbedingt verbreiten müssen. Dabei versagen wir doch schon bei der täglichen Arbeit an diesem Empfinden. Wie meinen Sie das? Hinter den Bühnen werden mehr Schamgrenzen überschritten als auf der Bühne. Immer wieder haben Sie Friedo Solters Einfluss betont. Er hat auch Dagmar Manzel, Alexander Lang, Ulrich Mühe fürs Deutsche Theater entdeckt. Von den Sechsen, die per DEFA-Märchenfilm durch die Welt kamen, waren Sie der Musikant, und ausgerechnet Solter, dieser Füllige, Stämmige, war der irrwitzige Schnell-Läufer. Ja ja, mein Lieber, schließ nie vom Äußeren auf die wahren Fähigkeiten des Menschen. In einer Gesprächsreihe von Gregor Gysi am Deutschen Theater beschwor Friedo als Warnzeichen, was er als Kind so oft spielen musste: den Hampelmann. Den man einfach per Schnüre in Bewegung setzt. „Nee, nicht mit mir.“ Als er Majakowskis „Schwitzbad“ mit Dieter Franke auf die Bühne brachte, 1977, fand in der Pause ein fiktives Interview mit dem Dichter statt, eine Tonbandaufnahme zu Fotos von Majakowski, projiziert auf den Vorhang. Kurz vor der Premiere hieß es: Das Interview raus oder die Auf180


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führung findet nicht statt. Solter sagte, gut, dann trete ich vor den Vorhang und teile mit, an diesem Haus sei es verboten, Texte aus dem Verlag Volk und Welt vorzulesen. Aus den laufenden Vorstellungen sickerte dann das Gerücht, Solters Arbeit hetze gegen Parteifunktionäre. Eines Tages sagte Politbüromitglied Kurt Hager, seine Kinder seien begeistert von der Aufführung. Solter dröhnte daraufhin so laut wie ironisch: „Seht ihr, von guter Kulturpolitik kann man dann reden, wenn ein Funktionär verständige Kinder hat.“ Zu mir sagte Friedo an der Schauspielschule: „Geh für zwei Jahre nach KarlMarx-Stadt, ich seh mir an, was du machst, ich vergesse dich nicht.“ Er vergaß wirklich niemanden. Es gibt einen Brief Solters an Sie, kurz vor der Premiere von „Tasso“. Für mich ist die Vorstellung nach den hervorragenden Durchläufen eigentlich gelaufen. Alles was kommt, kann nur besser oder schlechter sein. Ist’s mal schlechter, wissen wir: Wir haben’s aber besser, will sagen: Wir wissen, Tasso ist für unsere Tage erobert, Tasso ist ein Zeitstück. Da ist kein mechanischer Soziologismus, da ist kein schönfärberisches Zurechtbiegen, da ist kein äußeres Faxentheater. Aktualität ist aus historisch determinierter GoetheEpoche-Problematik gewachsen. Wir wissen, dass Tasso in unseren Tag eingreift – habe aber noch eine dringende Bitte: Der 1. Akt müsste, meine ich, von dir noch mehr das Heute treffen oder benennen oder meinen. Wie machen wir’s? Überleg dir’s, ich würde als Anregung folgende Punkte sagen: Erstens bedenke, Du musst in Gegenwart von Mehreren deinem Mäzen dein Produkt übergeben! Zweitens: Diese Anwesenheit der „höfischen Öffentlichkeit“ und der „Intim-Freundin“ lässt dich noch besonders deine Bescheidenheit gegenüber dem Herzog spielen, obwohl die Ehrlichkeit – du bist mein Genius – bleiben muss. Drittens: Die Abwertung der Vergangenheit könnte noch realer, direkter betrieben werden – 181


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was war ich denn? Ein Gelegenheits-Dichter! Jetzt erst, durch euch, komm ich an die Epoche-Problematik heran. Immer die Gegner sind doch auch die Impulsgeber. Und viertens: Bitte, nehmt mir den Lorbeer vom Kopf, sonst werd ich verrückt! Weniger verzweifeltes Ringen, Chris, mehr Forderung aus Lebensangst, Produktionsangst, Angst vor Arbeitsimpotenz, nein, nein, es geht nicht mit diesem Kranz – nehmt ihn hinweg, das ist zwar einfach formuliert, aber es steckt Sein oder Nichtsein drin. Du musst noch genauer spielen: Ein Fakt, der immerzu in mir bohrt, muss geklärt werden, ich möchte nicht Spielball eurer Laune sein, ich meine es bitter ernst. Es gibt kein Zurück, nur verzehrende Enttäuschung. Vielen Dank für die schöne Arbeit. Friedo, am 2. Oktober 1975. Tasso: Am Anfang ist der Lorbeer … Für Tasso ist das ein Dornenkranz! Er schreibt ein Buch, ein Gedicht. Keiner der Leute, für die er es geschrieben hat, versucht nachzuvollziehen, was es für den Künstler bedeutet, sein Werk, sich selbst aus der Hand zu geben. Der Fürst, Leonore, selbst die Prinzessin, sie nehmen das Werk gefühllos hin, sie beachten es gar nicht, sie krönen den Dichter leichtfertig mit dem Lorbeer, der dem Künstler doch das Höchste ist, nach dem zu streben sei. Der Fürst braucht bloß einen Verherrlicher, mehr nicht. In der kulturpolitischen Wochenzeitung „Sonntag“ steht im September 1975: „Tasso zu würdigen und ihn zu erniedrigen, das ist hier eins. Es interessiert nicht, ob der Dichter wirklich gut ist. Die Tatsache allein, dass er dem Fürsten öffentlich nützt – das genügt, Tasso den Lorbeer zu geben. Das ist katastrophal für Tasso. Wie sich diese Leute an der Macht die Kunst leisten, so messen sie auch den Künstler einzig und allein daran, was er ihnen öffentlich einbringt. Er ist Dekoration. Das ist die Tragik des 182


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Künstlers. Immer wieder wird in solchen politischen Strukturen die Feigheit der Menschen gefördert, die Doppelzüngigkeit und Janusköpfigkeit.“ Übrigens: Als ich in der Premiere vom „Tasso“ zum zweiten Monolog ansetzte, da hat sich Fred Düren als Herzog von Ferrara mir zugewandt, mit dem Rücken zum Publikum – und was macht Fred? Er tippt frech auf sein Handgelenk, dorthin, wo die Armbanduhr sitzt. Ich erschrak und dachte, mir bleibt die Luft weg. Bei jedem anderen wäre ich glatt umgefallen, beim großen Düren – der als junger Schauspieler mit wehendem roten Kunstledermantel durch Ludwigslust gefaucht war – nahm ich das als kleinen, stillen Hinweis, den richtigen Rhythmus zu finden und zu halten. Klaus Piontek hatte in der Generalprobe gesessen, kam in der Pause leise in die Garderobe und sagte einfach nur zu Dieter Mann, der den Staatssekretär Antonio spielte: „Ist das schön!“ – und verschwand wieder, so leise, wie er gekommen war. Mann schreibt das in seiner Autobiografie: „Klaus Piontek meinte uns alle, Chris, Fred, Gudrun, alle. Die ,Tasso‘-Inszenierung wurde immer eleganter und selbstverständlicher, dabei blieb sie ganz unsensationell. Sie war nicht das, was man landläufig einen Erfolg, einen Publikumsrenner nennt. Ich glaube, das war das Stück, egal, wo man es aufführte, nie. Aber wir konnten es uns leisten, diesen Goethe so lange im Spielplan zu lassen, weil andere Vorstellungen sehr gut besucht und die Bilanzen also ausgeglichen waren. Wir mussten nie unterm Damoklesschwert drohender Absetzung spielen.“ Arbeit in Glücksgefühlen. In einem autobiografischen Text, in einem Schauspielerbuch, haben Sie geschrieben, Sie seien ab einem bestimmten Punkt nicht mehr „welterwerberisch“ gewesen. 183


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Was bedeutet das? Welterwerberisch … Ein Wort von Ilse Galfert. Na ja, irgendwann habe ich nicht mehr die ganzen Sachen mitgelesen, die Dramaturgen lesen und der Regisseur. Ich bin ein Schauspieler geworden, der darauf achtet, von nichts zu viel zu wissen. Natürlich hörte ich mir gern, besonders bei Alexander Lang, die sehr klugen, so theatervitalen Konzeptionserfindungen an, das schon. „Theatervital“, auch noch nie gehört. Von mir wurde gesagt, dass ich beim Probieren lange spröde bleibe. Und dass ich mit meiner Figur sehr verspätet „komme“. Nun muss ich allerdings sagen, spät hin, spät her, ich bin noch nie zu spät gekommen mit meiner Arbeit, und Regisseure, die mich gut kannten und die mich wollten, wie ich bin, und nicht: wie sie wollten, dass ich sei – also diese Regisseure haben mich nie gedrängt, mich nun endlich in das schon prägnant werdende, sich präzisierende szenische Bild einzufügen. Haben die nicht gemacht. Die standen nicht mit der Trillerpfeife an der Bahnsteigkante, obwohl die Abfahrtszeit längst angesagt war und sich der Zug gleich in Bewegung setzen würde. Die sahen mich und wussten: Der steigt schon rechtzeitig ein. Nee, das Bild ist völlig falsch: Der Zug war ja auch ich! Da war nichts mit Trillerpfeife, und die Regisseure wussten: Regie ist keine Bahnhofsuhr. Gern habe ich vom Parkett aus dem Entstehenden zugeguckt, eine ganze Weile sogar, ehe ich mich gewissermaßen selber einflog. Wie sehr brauchen Sie äußerliche Anstöße für Findungen auf der Bühne? Ich bin bereit für alles. Manchmal helfen die simpelsten Sachen. Zu Zeiten der „Danton“-Proben war es kalt. Mein Hals ist empfindlich, und Krankmeldungen wollte ich weder für diese Proben noch für abendliche Vorstellungen 184


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riskieren. Also habe ich mir einen langen Wollschal umgeschlungen. In betonter, großzügig lässiger Attitüde um den Hals geworfen, hat er mir geholfen, die elegante, auch posenhafte Intellektualität des Danton hinzukriegen. Sozusagen das Ästhetische in diesem Danton. Und: Indem ich den Wollschal dann mal enger um den Hals wickelte, kam die angestrengte, messianisch befeuerte Knappheit des Robespierre zustande. Zutreffender: Sie ist vom Schal befördert worden. Der funktionierte ein bisschen wie die Balancierstange auf dem dünnen Seil ganz oben über der Welt, die unten kein Netz hat. Der Zufall, der zur Fügung wurde. Inszenierungs-Mitarbeiter haben mir erzählt, wie erstaunt sie waren, welche obskuren Ausgangspunkte ich fand, um mir einen Weg zur Figur zu bahnen. Der Schauspieler ist mit seinen Wahrnehmungen, mit seinem Herumspitzeln in den Details der Wirklichkeit ein Ausbeuter. Beim Odysseus in „Philoktet“ war es der abgewirtschaftete Trenchcoat, den ich für die Proben nahm – und dann auch in den Vorstellungen anbehielt. Den Kragen hochgeschlagen. Die Hände tief hineingebohrt in die Taschen. Ich ließ sie da eigentlich nie raus. Dazu der harte Text. Lauter Diktionen. Lauter Forderungen. Eines passte zum anderen. Irgendwann sah es so aus, als sei der Trenchcoat schon die halbe Rolle. Und das war der Punkt, wo mir das Ganze plötzlich langweilig wurde. Und so hab ich, als Odysseus seinen Zweikampf mit Philoktet hat, den Mantel ausgezogen. Odysseus als Hänfling, der sich aber sehr gewichtig aufpustet. Dabei sollte ihm irgendwann kein Kleidungsstück mehr aufhelfen dürfen, er sollte weitgehend als Hänfling erkannt 185


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sein, er musste entblättert werden. Dachte ich. Aber: Kein Mensch entblättert sich gern selbst. Deshalb haben wir dem Odysseus den Mantel schleunigst wieder angezogen. Ich ließ mich überzeugen. Er blieb somit der Hänfling, der sich auf ein großes geistiges Format zu bringen versucht. Das habe ich mit dem Mantel zu transportieren versucht. Er gab der Haltung etwas Strenges, Gebundenes. Was bedeutete „Philoktet“ schauspielerisch für Sie? Vielleicht war es eine wesentliche Arbeit, um in mir beizeiten einen gewissen Überdruck zu zähmen. Auch in der Stimme. Odysseus behält fast durchgehend einen leisen, wie gestochen artikulierten Ton. Noch im größten Ausbruch. Das habe ich erst durchlitten, dann aber sehr befreit erlebt. Odysseus als politischer Kidnapper, der das Menschenopfer Philoktet in das Moloch-Maul des Trojanischen Krieges zerren will – ohne dafür eine Hand zu rühren. Die steckten, wie gesagt, in den Manteltaschen. Ich stand da wie ein in sich selbst eingerammter Kriegsbeamter. Hat sich Heiner Müller in die Proben eingemischt? Heiner hat sich nie und nirgends eingemischt. Er huschte durch alles und alle hindurch – und hatte alles und alle begriffen, erkannt, erfahren. Er war ein sehr zuvorkommender Mensch. Er drängte sich nicht auf. Dazu fehlten ihm die Gewissheiten. Er durchschaute die Welt, aber ohne Wahrheitsdrang. Heiner empfand ein großes Einverständnis mit den Konflikten. Er kam zwei- oder dreimal auf Proben, schaute sich das an, schaute sehr genau auch uns an, aber er blieb sehr vorsichtig. Kam still und ging still. Bei Heiner Müller denke ich an Freundlichkeit, Herzlichkeit, die Hilfsbereitschaft nicht zu vergessen. Die Freundlichkeit war nur Maske, sie war Selbstschutz, lese ich des Öfteren über ihn; ich weiß nicht. Sicher hat 186


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er das selber auch gesagt, denn er hätte es nicht ertragen, so pur als liebenswürdiger Kerl dazustehen. Aber er war liebenswürdig. Nicht zynisch? Zynismus hieß doch nur die Maske – die ihm andere aufsetzten. Es war die Maske vor einer weiteren Maske und so weiter. Ich denke, er hatte keinen Feind. Vor ihm waren alle gleich. Seine Eitelkeit war so gewaltig, dass sie nicht mehr belastete. Seine Zurücknahme war auch Unsicherheit. Er war sehr seriös und sehr unseriös. Er hat dafür gesorgt, dass alles über ihn Gesagte richtig oder falsch sein kann. Das musst du erst mal schaffen. „Philoktet“ hatte zwei renommierte Regisseure, Klaus Erforth und Alexander Stillmark. Das Duo legte die Arbeit nieder. Der Abbruch war nicht Folge eines persönlichen Problems zwischen uns Schauspielern und der Regie. Ein Arbeitsproblem lag vor. Zum einen war vieles zu plakativ angedacht. Wir sollten zum Beispiel mit der FDJ-Fahne reinkommen. Heiner Müller, Griechenland – und FDJFahne. Nee, sagte ich da sofort, nee, sowas geht mit mir nicht. Und während der Proben ging alle Aktivität von uns Spielern aus. Auch dann, als es mitten in der Arbeit Neuüberlegungen gab, fürs Bühnenbild, für eine Umbesetzung, fürs Konzeptionelle. Regie hatte nur darin bestanden, im Nachhinein alles zu erklären oder abzunicken, was wir ohnehin angeboten und ausprobiert hatten; sie war kommentierender Nachtrab, also pure Zeitverzögerung. Wir machten Vorschläge, zeigten sie und warteten auf Bestätigung. Das führte irgendwann zur Trennung. Als wir allein weiterarbeiteten, wurde durch knappe, direkte und schnelle Verständigung ein Höchstmaß an Produktivität erreicht.

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Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Auch Schauspieler Dietrich Körner schied aus. Ich machte daraufhin den Vorschlag, Roman Kaminski zu besetzen. Er war noch Student. Er war der Fremde, und deshalb wurde er zum entscheidenden Partner – weil er nun für Spannung zwischen Alex und mir, den zwei „Vorbelasteten“, sorgte. Wir hatten noch drei Wochen Zeit bis zur Premiere, und vielleicht war Roman für Alex dann auch der Impulsgeber in Richtung Regie. Denn da trat ein Dritter herein, und plötzlich ging das Theater los: Es änderte sich alles, auch das Verhältnis zwischen Alex und mir. Diskussion, Unsicherheit, schönstes Chaos. Wir waren darauf angewiesen, dass einer die Fäden in die Hand nimmt, und es stand außer Zweifel, dass das Lang sein würde. Der wusste, wo man hingehen und wie man auftreten muss, wenn es um Planung und Organisation geht. Außerdem: Wenn man in einem Stück den Protagonisten spielt, fährt man zusätzliche Energien auf. Alex hatte schon öfter die Tendenz gehabt, sich teilweise selbst zu inszenieren, und nun, in neuem Kontext, musste er mit sich selber neue Erfahrungen sammeln. Wir haben die Bühne gewissermaßen durch drei geteilt. Roman Kaminski hatte sich aus einer total anderen Art heraus gegen zwei durchzusetzen – und entwickelte natürlich ein provokantes Selbstbewusstsein. Das brachte eine große prüfende Kraft ins Spiel. Ich weiß: Dietrich Körner war Ihnen sehr nah. Wenn er auf die Bühne kam, kamen Füße, ein Bauch und ein Kopf auf die Bühne. Kraft! Dieser Körper griff zu, er zeigte sich, aber ganz ohne diese angelernten Zuckungen, wenn’s komisch sein sollte, und ganz ohne diese zusammengeklauten Ekstasen, wenn das Gefühl explodieren sollte. Ich wäre neben Dietrich am liebsten immer ganz still geblieben, um zu hören, dass aus diesem Körper ein Ächzen und Knarren kam. Ja, Dietrich hat mich lange Zeit wie einen Sohn behandelt, also wie jemanden, den 188


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er beschützen möchte. Bei Wolfgang Heinz, „Hamlet“, hatte ich mit einem weiteren Schauspielstudenten einen Statistenauftritt, Heinz unterbrach die Probe und polterte in unsere Richtung los: Worin der Unterschied zwischen einer Wand und einem Schauspieler bestehe – „die Wand steht, ein Schauspieler kann gehen“. Mann, wir waren Studenten, und Heinz examinierte uns ziemlich ungehörig. So ein Auftritt kann ja auf eine Weise geprobt und immer wieder geprobt werden, dass du am Ende nicht mehr weißt, wie man geht. Dietrich Körner agierte zwischen Heinz und uns wie ein liebevoller Verteidiger vor Gericht. Diese eher winzige Begebenheit habe ich nie vergessen. Bühnenbildner bei „Philoktet“ war Wasja Götze. Den erwähne ich, weil ich jüngst einen wunderbaren Briefwechsel las – zwischen Götze und dem damals ausgereisten Dichter Kurt Bartsch. Wasja Götze bleibt trotz allem Unbill in der DDR und versucht, sich beim Blick aufs „kleine Mauschelland“ noch immer „ein paar rosa Augen zu bewahren“. Da kann man lesend spüren, wie ein Mensch fast erschrickt, wenn er „Anflüge von Hoffnung oder gar Optimismus“ bekommt. Götze, provinzwach, ist begeistert von einem Dorfkonsum, in dem es tatsächlich „richtiges trinkbares Bier“ gibt, er nennt die Sachsen „loyal bis zur Selbstaufgabe“, fährt winternachts Ski durch Halle. Und 1988, es ist Glasnost-Zeit, schreibt er über seine Wahrnehmungen in der Bevölkerung: „Laut und unverblümt wird gegen den Sozialismus räsoniert … peinlich wird diese Haltung, wenn sie mit braunen Rudimenten durchsetzt ist, was so selten nicht vorkommt.“ Da muss ich an Ihre Bemerkung aus der Kindheit denken: Sie hätten nicht nachforschen wollen, wer von den „neuen“ Lehrern bis vor kurzem noch Nazi war. Wasja war ein leidenschaftlicher Fahrradfan, er besaß Rennräder und geriet bei der jährlichen Friedensfahrt ge189


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

radezu aus dem Häuschen. Im Sommer ist er mit einem Freund losgezogen, über die Dörfer, durchs Unstruttal. Die beiden wurden von Weinbauern eingeladen und traten als fahrende Sänger auf. Von Behörden natürlich argwöhnisch beobachtet, das Ganze besaß etwas von Untergrundkultur und missliebiger Botschaft, heimtückisch verkleidet in scheinbar harmlosen, launigen Liedern zur Laute. Er war der einzige Künstler der Stadt Halle, der die Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung unterschrieb, 1976. Sie haben es ja erwähnt: Er lehnte eine Ausreise in den Westen ab, er sagte, er sei Sachse und gehöre nach Sachsen. Und er erlebte seine Malerei als Verbotsgegenstand – er diente so als zynisches Beispiel, wie ein Staat dafür sorgt, dass ein eigenwilliger Könner möglichst resonanzlos bleibt. Wasja wohnte in Halle in einem Haus, das unglaublich schmal war, eingequetscht geradezu von den Nachbarhäusern. Man ging hinein und war im Grunde schon wieder draußen. Aber dafür war es drei Stockwerke hoch. Wasja war Maler, aber er lebte von anderen Arbeiten, auch fürs Theater – er verkaufte keines seiner Bilder. Er weigerte sich, er gab sie nicht weg. Von Tagen in Weihnachtsnähe habe ich diese Szene vor Augen: Wasja hat das Wohnzimmer ausgeräumt und sitzt zwischen seinen Möbeln auf dem kalten, verschneiten Gehweg. Nur so, aus Spaß, aus Freude an der Schneeluft. Wissen Sie, dass Sie vorkommen in diesem Buch, das ich erwähnte? Wasja Götze nennt Sie den „hauptesten Hauptdarsteller des DT“, und Kurt Bartsch weiß Bemerkenswertes von Ihren West-Aufenthalten zu berichten. Hier: „Neulich waren wir mit Chris Grashof in einer Kneipe. Da ging die Tür auf, und Frau Domröse kam herein. Dann ging noch einmal die Tür auf, Herr und Frau Brasch 190


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kamen herein. Dann trat Herr Müller, fein angezogen, mit neuer Freundin ein (Schauspielerin 23 Jahre). Dann bestellten wir alle Wodka und Wein und tranken und lachten (Brasch hat 60 Witze erzählt) bis morgens 4 Uhr. Dann traten wir auf die Straße und merkten, dass wir im Westen waren … Chris erzählte uns von einer Geburtstagsfeier bei Heiner Müller, bei der (neben 120 Pissmiezen und -knaben) auch ,Makko‘ Marquardt anwesend war. Da einer der Knaben seine Hand wiederholt auf Dorits Knie legte, griff Makko in vorgerückter Stunde zum Fleischermesser und stürzte sich auf den Unhold. Erst durch das Dazwischenwerfen der Genossen Müller, Montag und Gwisdek konnte Makkos erster Mord verhindert werden. Über zwanzig Minuten währte der Kampf. Dann musste Fritz sich übergeben. Kaum war er vom Klo zurück, griff er erneut zum Messer.“ O Gott, aufhören! … Ach, Wasja … Er war sehr, sehr enttäuscht, als Alex und ich den Kunstpreis der DDR erhielten, für „Die Insel“ am Deutschen Theater. Wir, nicht Wasja, der Bühnenbildner. Als es uns bewusst wurde, konnten wir nichts mehr dran drehen. Bis heute verstehe ich nicht, wie uns das passieren konnte. Das war mehr als ein Fauxpas. Wasja war aus so vielen selbstgewählten Gründen vom Erfolg abgeschnitten, er lebte konsequent seine Eigenheit – und nun, da er, aus Halle kommend, Teil eines anerkannten künstlerischen Ereignisses in Berlin wurde, blieb er wieder draußen. Alex und ich, wir haben uns geschämt. Herr Grashof, dachten Sie Jahre später, beim Danton, beim Robespierre, wieder an die besorgt-düstere Prognose aus Jugendjahren? „Er wird das nicht durchhalten, er ist zu zart!“ Wieso? Man konnte das doch schaffen. Von der Freude, von der Absicht her. Vertrauen schafft Kräfte. Angst vor großen Rollen habe ich nie gehabt. Nicht, dass ich rein191


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gesprungen wäre, als käme es auf die großen Spritzer rundum an. Nein, nein, ohne Angst zwar, aber doch mit Vorsicht. Beschreiben Sie bitte, wie Sie mit Alexander Lang arbeiteten, er mit Ihnen. Die Hauptstrecke der gemeinsamen Arbeit hat darin bestanden, dass er mich in Ruhe, dass er mich zufriedenließ. Zufrieden? Merkwürdiges Wort in dem Zusammenhang. Ergänzung: Alex ließ mich zufrieden – denn er konnte ja auf meine Unzufriedenheit bauen. Man sagt, Geld arbeitet – Unzufriedenheit auch. Meine jedenfalls tut das. Er glaubte an Sie. Er glaube nicht an mich, er glaubte mir. Vertrauen schafft eine Atmosphäre, bei der sich sofort das Bewusstsein davon verschiebt, was man vermeintlich kann und was nicht. Wo Vertrauen herrscht, nein, nicht herrscht, Vertrauen kann so wenig herrschen, wie Frieden herrschen kann, also wo Vertrauen da ist und bleiben darf – da lässt du dich fallen und denkst an Höhenflug, und alles ist gut, auch wenn du auf die Gusche fällst. Alex war aus dem Stand einfallsreich. Der jeweilige Dichter, den er inszenierte, wurde für alle Beteiligten, ja: zur großen Liebe, zur einzigen großen Liebe im Weltenrund. Und weil Alex Schauspieler ist, entdeckte und liebte er erst den Dichter, aber gleich darauf entdeckte und liebte er die Schauspieler. Er kann auf einflüsternde Weise Spiellaune in die Szene sprühen, träufeln. Auch bei Spielern, die gewissermaßen nur ihr Naturell zur Verfügung stellen – und darin gut sind. Und plötzlich entwickelt auch diese etwas festgelegte Kollegenschaft: Variationslust. Alex ist kein Regisseur, der draußen sitzt und beobachtet. Nein, der war – wie übrigens auch Besson – ganz selbstvergessen und tief drin, im Thema, in der Probe, gewisserma192


Christian Grashof: Robespierre, Deutsches Theater 1981, Zeichnung von Volker PfĂźller

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Plakate von Volker Pfüller: „Der entfesselte Wotan“, Deutsches Theater 1979 unten: „Totentanz“, Deutsches Theater 1986


Als Wotan (mit Günter Sonnenberg) in „Der entfesselte Wotan“ unten: Als Edgar (mit Katja Paryla) in „Totentanz“

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Als Torquato Tasso (mit Gudrun Ritter), Deutsches Theater 1975 unten: Als Wang (mit Dieter Montag) in „Die Geschichte des Ah Q“, Deutsches Theater 1983


Das Stück eines Südafrikaners über zwei Insassen auf einer Gefängnisinsel. Die beiden erstaunlichen Darsteller zeigen einen schier atembenehmenden Kraftakt. Die fürchterliche Sache wird, wie fürchterliche Sachen ja immer auch sein können, heftig komisch. Der Kraftakt ist sozusagen ein sanfter. Grashof wie ein intelligenter Boxer aus der Leichtgewichtsklasse, Lang weicher, sensibler, phlegmatischer auch, leidenswilliger. Beide gehen ungemein packend, sowohl akkurat als auch wendig an ihr Geschäft. Friedrich Luft, RIAS Berlin, 1976

Mit Alexander Lang in „Die Insel“, Deutsches Theater 1976

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Als Robespierre: Hohepriester der Revolution links: Als Danton: Dandy der Revolution

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Er ist lebenslänglich mein Danton. Ich: seine Julie. Eine außergewöhnliche Partnerschaft. Nähe durch Abstand. Wenige Worte, die wir wechselten. Grashof ist ein Schauspieler mit einem großen Ernst. Er macht es sich und den Leuten nicht leicht. Er kommt von einer Grenze zu uns her. Das macht neugierig. Auch will er Grenzen sprengen. Da wird‘s gefährlich. Obacht, Christian, denke ich dann, den Bogen nicht überspannen. Gib dich her, gib dich hin, aber nimm auch zurück. Inge Keller (1923 – 2017) 200

Als Danton, mit Inge Keller


Als Callas in „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, Deutsches Theater 1983 unten: Als Herzog Theodor von Gothland, Deutsches Theater 1984

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Thomas Martin Totentanz II Ausgenagt von der Anständigkeit Ist die Hölle. Zerfressen hat die Insel Die Möbel und die Menschen. Die Kanone Ist ein Feuerwerk und man verwechselt Menschen und Soda. Kein Boot kommt Vom Nordpol und kein Boot zurück. Die kleinen Teufel wechseln Sich aus. Gegen die Regeln Stirbt man nicht. Obwohl Sie nicht wissen, was sie tun Schwatzen sie sich selber tot. Die Kinder kämpfen nicht Aber besser. Und Halsweh Vom Schrei nach der Wahrheit. (aus „24 Assoziationen zu Inszenierungen von Alexander Lang“, 1988)

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Als Edgar in „Totentanz“ (mit Katja Paryla), Deutsches Theater 1986

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Als Mephisto (mit Hilmar Thate) in „Faust I“, Schiller Theater 1990 unten: Als Toinette in „Der eingebildete Kranke“, Schiller Theater 1991 mit Dinah Helal und Walter Schmidinger


Mit Alexander Lang: als Luka in „Nachtasyl“, Berliner Ensemble 2010

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Mit Bernd Stempel (M.) und Alexander Khuon in „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Deutsches Theater 2013


Als Caligari in „Doktor Caligari“, Deutsches Theater, 2002

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Christian Grashof: Danton, Deutsches Theater 1983 Zeichnung von Volker PfĂźller


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ßen in allen, die da gemeinsam arbeiteten. Probe klingt ja nicht zufällig wie: Problem. Alex ist ein tanzender Regisseur, er ist gelenkig, er ist der Indianerhäuptling. Am besten wurde immer alles, wenn für die Anlage einer Szene die Ansage kam: „Ich weiß, es geht überhaupt nicht, aber ich will es nur mal sehen, macht mal.“ Er konnte diesen Satz derart resigniert und vorauseilend enttäuscht sagen, dass man gar nicht anders konnte, also zu denken: Es wird gehen, Alex, es wird! Stimme, Ausdruck, Körper – das hat Vorrang vor den großen Dekors und den Requisiten. Ja, das ist immer das Primat, und was an Geist- und Gesellschaftsmaterial zu bewältigen, zu offenbaren ist, das muss möglichst als eine rein schauspielerische Metapher herstellbar sein. Langs Theater ist pures Komödiantentum. Dabei hatte ich trotzdem das Gefühl, er hat einen Horror vor Unordnung. Also: Dieses tolle Toben hatte seine Basis in penibelster Planung und Fixierung. Und beim Probieren die Angst aller auf sich zu nehmen, ja, das ist Regie auch. Alex hat das auf geradezu wilde und auch ganz sanfte Art getan. Klar: Was seine Einfälle betraf, war das wie bei jedem: Es entscheidet nicht nur immer Geist, sondern manchmal auch Geschmack. Alex zum Beispiel gefielen plötzlich Laserstrahlen. Er war fasziniert von dieser Farb- und Signalmöglichkeit. Er hatte sie im Friedrichstadtpalast gesehen, also ließ er das notwendige technische Gerät herankarren. Wir waren die Ersten, die das auf einer Schauspielbühne in der DDR praktizierten. Das prägte die „Gothland“-Inszenierung – ich aber mochte Laser nicht. Wenn mich die Strahlen trafen, sagte ich immer: „Das tut mir weh.“ Mir tat gar nichts weh, aber die Simulation trug dazu bei, das Zeugs wenigstens zu minimieren und später wieder abzuschaffen. Dramaturgin Ilse Galfert schrieb: „Alles kann auch ganz 209


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

leise sein, fast wie eine Flüsterprobe. Ich erinnere mich an die Erarbeitung der beiden großen Robespierre-Redetexte mit Christian Grashof. Lang und Grashof haben Antennen zueinander, von deren Empfangs- und Sendekraft der Außenstehende längst nicht mehr alles mitempfängt. Das, was sich mitteilt aber, ist fabelhaft. Lang, dicht bei Grashof stehend, probiert auch, spricht fast unhörbar, suggestiv, die Texte Satz für Satz mit. Es kam mir vor, als wenn der gute Freund auf finstrem Weg mit der Laterne nebenhergeht: … jetzt links entlang, jetzt Schwenk nach rechts. Vorsicht, die Baumwurzel … stoß dich nicht!“ Na ja, ein Problem gab es: Was fängt ein Regisseur, der seine Leute liebend gern „anfasst“, knetet, modelt, durchformt, der das alles macht, um alles in ihnen und um sie rum wie einen Hefeteig hochzubringen – was fängt der wohl an mit einem wie mir, der sich alldem entzieht? Bei jeder Probe neu. Was macht er mit einem wie mir? Der also buchstäblich beiseite steht, zuhört, guckt, guckt, zuhört, immer noch beiseite steht. Und dort am liebsten auch bleibt. Meine Einsamkeitswege, ich brauch die. Und Alex, in Bruch mit seinen sonstigen Methoden, ließ mich. Er stellte sich meiner Art. Und so bildete sich eine spezielle Praxis heraus: Manches nicht so machen, wie er sagt, aber doch sehr genau hinhören, was er sagt. Aber ich ging ihn nicht frontal an, ich argumentierte um seine Empfindlichkeit herum. Es existieren aus jener Zeit noch Probennotate der Dramaturgie. Zum Beispiel: „Auf jede Regulierung und Modifizierung Langs für Grashofs jetzt vehement aufeinanderfolgende Angebote kommt des Schauspielers konsequentes Gegenwort: Warum? Der Regisseur, der sonst nicht gern erklärt, hat sich plötzlich zu erklären. Und auf jeden Spiellösungsvorschlag, mit dem Lang auf Grashofs hellwache, quicke Spiellaune eingeht, packt der nun seiner210


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seits einen Vorschlag, der meist von ganz woanders herkommt. Da spürt man den Ehrgeiz: Ich hab meinen eigenen Kopf! Und der Kopf trifft den gemeinsam angepeilten Zielpunkt, wie sich bald herausstellt, und gleich sind beide mit sich selber ganz zufrieden. Diesem Schauspieler muss man sein Eigenleben lassen, als Regisseur muss man ihn hauptsächlich schonen und behüten.“ Wobei die Schonung nicht darin besteht, einem die Umwege zu ersparen, sondern sie zuzulassen. Noch mehr: Sie nicht nur zuzulassen, sondern viel Zeit und viel Raum dafür einzuplanen. Es war das Seltsame unserer Freundschaft, dass wir beim Probieren weite Strecken hatten, da man einander – so sah es für Fremde aus – gar nicht brauchte und nur „formal“ miteinander umging. Nur so, wie es die Struktur der Probe und die Abläufe und die Suche nach einem Arrangement notwendigerweise verlangten. Irgendwann aber, da gab es dann dieses ganz Festliche einer gemeinsamen, fast explosiven, erfinderischen Nähe, von der später niemand wusste, wie sie zustande kam und was ihr unmittelbar vorausging. Ich hatte bei Alex das absolute Gefühl, beim Probieren ehrlich zu mir selbst sein zu können. Also traute ich mich auch, Alex zur Seite zu nehmen und – etwa beim „Danton“ – zu sagen: Also hör zu, ich spiele mit Inge Keller zusammen, aber ich probiere nicht mit ihr – wir gehen gleich rein in die gemeinsamen Szenen und spielen die durch, du schaust dir das an und sagst hinterher was dazu. Ich wusste, Inge Keller würde bei jedem Auftritt sein, sie würde nicht erst werden – da konnten wir auch gleich loslegen. Ich gebe zu, ich wollte mich Inge Keller nicht auf eine Weise aussetzen, die mich hemmen, beengen würde. Alex war einverstanden, er bat uns beide, sofort loszuspielen, und siehe da, es war gut so.

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Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Das ging reibungslos? Alex hat Inge Keller das Verfahren erklärt, sie stutzte, Alex redete weiter, sie ließ es geschehen. Sein Charme siegte. Ich muss sagen, Alex hatte eine unnachahmliche Art gegenüber Frauen. Nur Heiner Müller konnte das noch, sonst keiner. Wie wurde Inge Keller denn überhaupt aufgenommen in diesem bislang für sie ungewohnten Alexander-LangKreis? Mit respektvoller Herzlichkeit, ohne irgendwelche Zeremonien. Ein Spieltruppenempfang, und Keller hat sich wohlgefühlt, sie war fröhlich, unternehmungslustig, nie verharscht. Für ihre Julie hat ihr Alex viel Raum gegeben. Sie stand, hellgewandet, meistens in einem Freiraum auf der Bühne, gewissermaßen weitläufig isoliert. Bei der Transparenz des Bühnenbildes war jedes Neigen des Kopfes, jeder Armausschwung, jeder gleitende Schritt eine Kostbarkeit, na klar. Das Leisesein, gesetzt gegen meine Raserei, gegen meine Danton-Kraft, die der Selbstzerstörung entgegentobte, das war schon was! Eine Selbstfeier ganz im Dienst der Aufführung. Schönheit nicht als Bild, sondern als Spielaufgabe, als Arbeit. Es gab eine „Kulturmagazin“-Sendung des DDR-Fernsehens, vergleichbar mit der heutigen „Kulturzeit“ von 3sat, die von „Danton“-Proben berichtete. Ilse Galfert beschreibt, was sie im Film sieht: „Im Grunde ein rein technischer Vorgang. Grashof-Danton (langmähnig die Haare) fliegt von einem Riesentext gleichsam von der Bühne ab, direkt in den Zublick der Kamera hinein, und er hat da schon in der Jähheit des Übergangs – nichts von Maske, nichts von anderer Schminke – das stillernste RobespierreGesicht. Zwei geschäftige Garderoben-Kräfte um ihn rum, Robespierre-Umhang umgelegt, Puder-Perücke aufgestülpt, Nickelbrille auf die Nase, zwei, drei Sekunden alles. Während212


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dessen wohl eine wie blitzzuckende Reaktion ihn durchläuft, die aus dem Danton-Körper den Robespierre-Körper, ja: macht. Und ohne in geringstes Sichverzögern zu fallen, nicht einmal ein Verhalten im Schritt, hinaus und hinein in den nächsten großen Text. Was doch ein Schauspieler nur aus sich heraus ist und sein kann.“ Im „Sonntag“ schrieb Anne Braun: „Im Nachhinein könnte ich schwören, dass sich in der Szene, als sich Danton und Robespierre begegnen, zwei Schauspieler gegenübergestanden haben, aber nicht, wer von den beiden nicht Grashof gewesen ist.“ Wie kam es denn zur Doppelbesetzung von Danton und Robespierre? Das ist schnell erzählt. Bühnenbildner Volker Pfüller hatte vorgeschlagen, Puppen mit einzubeziehen. Zunächst probte ich also mit zwei Puppen, die Danton und Robespierre darstellten, und an die ich wechselweise meine Rede richtete, als Danton oder Robespierre. Ausprobiert wurden kleine, große Puppen und es sollte deutlich herausgearbeitete Übergänge zwischen den Szenen geben. Das wurde nichts, es war zu befürchten, die Anteilnahme des Publikums für Danton und Robespierre nicht richtig steuern zu können. Der Einfall funktionierte mit meinem Körper nicht. Die Puppen bestimmten zu sehr den Vorgang, ich fühlte mich festgelegt und gefesselt, ich konnte nichts mehr erfinden. Deshalb mussten die Puppen weg. Mit ihnen hatte ich mich aber weich gemacht, und ich konnte, nun ohne sie, mit ganz neuer Geschmeidigkeit proben. Und in dem ganzen Hin und Her sagte ich dann, na ja, im Grunde geht das doch ruckzuck: halbe Drehung, und ich bin der jeweils andere. Ich bat Alex ziemlich harsch, hoch auf den Rang zu gehen, verschwinde mal, blaffte ich, denn ich fürchtete seine Unruhe, seine Energie – ich musste, um das Neue auszuprobieren, gewissermaßen allein sein. Alex’ Größe bestand darin, dass er sich tatsächlich sofort zurückzog, und vor allem: dass er mit dem Vorschlag, der einschneidend für die gesamte 213


Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Arbeit sein würde, sehr schnell einverstanden war. Wie gesagt: ruckzuck, ich sagte noch, weeßte, Alex, die Leute kriegen das doch schnell mit, wer gerade wer ist. Und so war’s ja auch. Gegen Ende der „Danton“-Proben notierte die Dramaturgie: „Grashof will nicht mehr denken, Grashof will nicht mehr reden, Grashof will nicht mehr belästigt werden von seiner Lage, in diesem Stück zu spielen.“ Danton, das war vier Monate wie Kloster. Nur immer Investition, nur immer Input. Da kommt der Punkt, da muss es puff machen.

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EIN SPLITTERN. UND FÃœGT SICH DOCH ZUSAMMEN. STIMMEN

Lutz Friedel Gunnar Decker


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Christian Grashof als BĂźchners Danton, Ă–l auf Hartfaser 1983 Kunstarchiv Beeskow


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Lutz Friedel Keller? Dachboden!

Es war 1983, im Frühjahr. Leipziger Freunde waren angereist und schleppten mich mit ins Theater, ins Deutsche Theater: „Dantons Tod“. Ja, wahrlich: Sie schleppten mich, ich hatte eigentlich kein Interesse, nicht am Theater, an diesem Abend jedenfalls nicht, und auch das Stück lockte mich nicht sonderlich. Da saß ich nun. Jedoch das Unerwartete passierte: Vom Moment an, da der Vorhang sich öffnete, war die Welt eine andere. Nach drei Stunden stand ich dann wieder auf der Straße, fassungslos über das, was ich eben gesehen, erlebt hatte. Ich hatte nichts verstanden, nichts begriffen – nur Bilder! Mit offenem Mund und wahrhaft glotzend muss ich wohl die ganze Zeit das Spektakel auf der Bühne verfolgt haben. Da war eine Bombe losgegangen, die war ganz speziell für mich, und sie hatte gezündet. In der nächsten Vorstellung saß ich wieder im Theater, in der darauffolgenden, auch in der übernächsten, sieben oder acht Mal habe ich die Inszenierung gesehen. Eine Sternstunde! Dass ich später den Mut aufbrachte, den Star des Abends, Christian Grashof, zu bitten, mir Modell zu sitzen, scheint mir noch heute unwirklich, geradezu verrückt. Auch, dass Grashof mir gleich zusagte. Es entstand eine Reihe Porträts, das verwegenste, bestimmt nicht das Beste, zeigt den guillotinierten Kopf Dantons, mit den porträtähnlichen Zügen des Schauspielers. Meine Verehrung für Christian Grashof, den Danton und Robespierre, ging zu jener Zeit so weit, dass ich einen unausweichlichen Entschluss fasste: ihm eines der Porträts zu schenken. Es musste aber eine immense Menge Alkohol im Spiel gewesen sein, die mich eine 217


Ein Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

Nachts befähigte, das noch ölfeuchte Bild mit dem abgehackten Kopf Grashofs von meiner Atelierwand zu nehmen und es vom Prenzlauer Berg rüber zum Friedrichshain zu schleppen. Mein Zustand war schuld, dass ich die vierte Etage, die er mit seiner damaligen Frau Brigitte Soubeyran bewohnte, akustisch nur sehr auffällig, also keinesfalls lautlos erreichte. Man war oben gewarnt – niemand öffnete, als ich endlich vor der Türe stand. Mein Geschenk kam mir plötzlich makaber, anmaßend vor, und Grashofs Fassungslosigkeit angesichts meines „Überfalls“ hätte ich gerne erlebt. Ich habe es ihm später auf zivilerem Wege überreicht. Eines der Bilder wurde zusammen mit meinen Porträts von Kurt Böwe und Simone von Zglinicki vom Magistrat Ostberlins angekauft. Sie verschwanden dort leider sofort, eine logische Folge meines Umzugs 1984 in Richtung Kreuzberg. Ausgestellt wurden die Bilder nie. Grashof ärgerte das, er wurde beim Magistrat, Abteilung Kultur, vorstellig, er sagte, er wolle „mal sein Porträt wiedersehen“. Chancenlos. Auch bei einem nochmaligen Versuch hatte er kein Glück, sein Argument: „Ehe das bei Ihnen nur im Keller steht, könnten Sie es mir doch verkaufen.“ Mit erhobenem Zeigefinger klärte ihn eine Dame auf: „Herr Grashof, bei uns kommen solche Bilder nicht in den Keller, wir haben dafür einen Dachboden.“

Aus Tagebüchern von Lutz Friedel: 4./5. April 1983. Wieder bis Mitternacht! Na ja, seit Tagen eben nur noch Grashof. Morgen Nachmittag erste Sitzung, es wird ’ne schwere Geburt. Aber ich weiß, dass es mal wieder eine wichtige Sache und eine gute wird. Hab ganz klare Vorstellung von dem Kopf, aber wenn ich dran male oder zeichne, verselbständigt sich alles. Abwarten. 218


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5. April 1983. So, nun war G. da! Bin unwahrscheinlich befangen gewesen, aber nicht wegen Respekt vor der „Größe“, einfach so. Es ist immer so mit Menschen, die mir wichtig sind. Es war in nichts eine Enttäuschung, alle Erwartungen, die ich an die Begegnung hatte, wurden erfüllt. Was ich in den drei Stunden allerdings gemacht habe, war so lala. Aber das ist nichts Neues. Danach zwei Zeichnungen, welche vielleicht gar nicht so schlecht sind. 29. Juni 1983. Gestern Grashof-Abnahme, war entsetzt von dem Desinteresse der Abnehmer (Magistrat Berlin, Abteilung Kultur) und natürlich traurig, ist aber schnell vergangen. Ich weiß, wo ich lebe. 4. November 1983. Das Atelier ist voll, die drei großen Seebilder und der neue Grashof stehen da. Das BrechtZentrum will anlässlich einer Diskussion mit Alexander Lang Grashof-Porträts ausstellen. Ist gar nicht schlecht, so erfährt man, dass es die Bilder gibt. Lutz Friedel, Maler, geboren 1948 in Leipzig, war Meisterschüler bei Bernhard Heisig, verließ 1984 die DDR. Heute lebt er als Maler und Bildhauer im Havelland.

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Ein Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

Gunnar Decker Dandy der Revolution trifft deren Hohepriester Christian Grashof in „Dantons Tod“

Die Pausen sind die Kunst. Sprechen kann jeder, aber Pausen in der richtigen Länge, das nicht. Zu kurze Pausen zeugen von Gedankenlosigkeit, zu lange sind prätentiös. Der richtige Abstand zwischen den gesprochenen Worten bestimmt den Ausdruck – den hörbar gemachten Gedanken. Christian Grashof kann sprechend Nähe und Distanz in ein Maß bringen, in dem Pathos ebenso aufscheint wie dessen Brechung. Der aufwallenden Hitze begegnet der kühle Kopf – mitunter in einem einzigen Wort. Aber das Sprechen allein ist es noch nicht: Man muss den Gedanken auch zeigen, ihm ein Bild finden. Alexander Langs Inszenierung spielt im Jahrmarkts-Guckkastenbühnenbild von Volker Pfüller – zu den leitmotivischen Elektro-Klängen von Keith Jarrett, die Vergeblichkeiten reproduzieren. So liegt ein Hauch von Melancholie über der forciert künstlichen Szenerie, kontert die hochfliegenden Worte, die vieles versprechen, aber – wenigstens anfangs - nicht mit der Auslöschung des Sprechers selbst rechnen. Das Revolutionsthema ist in den 1980er Jahren sehr ferngerückt, da die offizielle DDR den herrschenden geistigen Stillstand mit quasiwestlichen Konsumträumen übertüncht und die Rebellion Einzelner nun eher in der romantischen Rückzugsgeste ins Private liegt. Man ist allenthalben sehr gleichgültig. Kein Thema, das in die Zukunft weist. Dabei galten der SED-Ideologie die Jakobiner als die ersten Bolschewiken, die, weit ihrer Zeit voraus, konsequent die Ideen reinhielten und mittels 220


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permanenter Revolution dem reaktionären Gestern wie dem opportunistischen Heute mit Terror ins Gesicht schlagen. Nun hatte die späte DDR in ihrem Alltag nicht mehr allzu viel mit dem militanten Erbe der französischen Revolution im Sinn, was für ihre gewachsenen zivilen Maßstäbe sprach, aber mit der Militanz schien ihr zugleich auch jeder radikale Gedanke abhanden gekommen zu sein. Ich hatte im September 1985 an der Berliner Humboldt Universität begonnen, Philosophie zu studieren, eine Studienrichtung, die da noch unmissverständlich „Marxistischleninistische Philosophie“ hieß, was nicht nur eine Richtung vorgeben sollte, sondern bereits eine Antwort – und zwar eine endgültige – behauptete. Man muss sich den Zeitcharakter jener Jahre vergegenwärtigen: In „Sinn und Form“, dem Forum der intellektuellen Elite, stritt man nicht nur darüber, ob Nietzsche-Texte denkenden Menschen in der DDR zugemutet werden sollten, sondern auch darüber, ob man Ernst Bloch nun einen marxistischen Philosophen nennen durfte oder nicht. Und das vor dem Hintergrund jener in Moskau vom neuen Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow ausgerufenen Politik von „Glasnost“ („Offenheit“) und „Perestroika“ („Umbau“). Nietzsche ebenso wie Bloch blieben offiziell stigmatisiert – wenn auch in der Inkonsequenz eines sich auflösenden Staatswesens, in dem verschiedene Interessengruppen gegenander intrigierten, mit Momenten zensorischer Unachtsamkeit, in denen dann doch Bücher beider Autoren erschienen. An den Beginn dieser Zeit fällt Alexander Langs BüchnerLesart am Deutschen Theater. Während der Lehrbetrieb, gerade was das Thema Revolutionstheorie anging, einen großen Bogen um derart unerquickliche Themen zog (man wollte weder den alten Stalinismus vertreten, noch sich 221


Ein Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

revisionistischer Umtriebe bezichtigen lassen), steuerte Alexander Lang ohne Umwege darauf zu. Was ich damals sah: Christian Grashof zu Beginn vor den noch geschlossenen Vorhang tretend, kaum verständlich murmelnd, er müsse noch einige Worte sagen. Und er sagt sie mit Büchner: „Die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zur Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden und es ist mir auch nicht übelzunehmen, wenn mein Drama ebenso wenig dazu geeignet ist.“ Grashof, in weißem Anzug, spricht – mit langen Pausen – in gezügelter Leidenschaft. Fünf Minuten dauert der Vorspruch, den Grashof, Zettel in der Hand, wie ein Abgesandter der Bürger der Stadt, in aller zögerlichen Entschlossenheit zelebriert. Wie die verbotene Flugschrift einer Partisanenbewegung, die der Geschichte das falsch tönenden Pathos austreibt und dafür ein eigenes, echtes einsetzt. Dieses lebt dann vom Schmerz, der jenes unpathetische Pathos ausmacht, das nicht lügt (es lebt vom Schrei!) – und kühlt alles, auf kalkulierte Weise, wieder bis zur Emotionslosigkeit herunter. Wir sehen Grashof doppelt: Danton im weißen Anzug, mit offenen dunklen Haaren und Händen in den Hosentaschen: der Dandy der Revolution, vom Naturell her ein lässiger Lustmensch mit starken Leidenschaften, der mit der Versuchung zum Fanatismus kämpft – und unterliegt. Aber Grashof ist auch Robespierre, ebenfalls im weißen Anzug, doch mit gepuderter Perücke und intellektualistischer Nickelbrille, zudem liegt ein schwarzer Schal um seinen Hals wie ein Blutreif. Robespierre spricht oft so leise, dass man ihn nicht versteht, dann wieder schreit es auf schrille Weise aus ihm heraus: ein entlaufener Priester, dem die Revolution ein metaphysisches Obdach gegeben hat – den „Kult des höchsten Wesens“.

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Wollte man heute Alexander Langs Theater in einem Satz erklären, dann vielleicht so: Man schaut ein Denkstück, man denkt ein Schaustück. Der Abend besteht aus dreißig Bildern, kurzen grell überzeichneten Schlaglichtern. Eine Zirkusnummer zu jener Musik von Keith Jarrett, die Roman Kaminski – gleichzeitig der Deputierte des Nationalkonvents Camille Desmoulins und Mitglied des Wohlfahrtsausschusses St. Just – auf dem Klavier improvisiert. Wir sehen Paare und Passanten. Aller Anspruch auf Größe verwandelt sich dabei ins Groteske. Das Prinzip Doppelrolle zieht sich durch. Jeder scheint auch sein Gegenteil. Christian Grashof ist Robespierre, der „Unbestechliche“, mit seinem Tugendterror. Er taucht seine Impotenz in das Blut derer, die weniger reduzierte Menschen sind als er. Den scharfen Abstraktionsgeist zu zeigen, dem es an Leib mangelt, genügt die erwähnte Nickelbrille. Aber wie ähnlich er Danton dennoch sieht! Auch diesen verkörpert Grashof. So vereint der weiße Anzug den Dandy der Revolution mit deren Hohepriester. Weiß, das ist hier nicht die Farbe der Unbefleckten, sondern die des Todes. Eine schnelle Wendung nach links oder rechts, und schon wird aus Danton Robespierre und umgekehrt. Danton, das elegante Triebtier, erscheint als das Alter Ego des prätentiösen Robespierre. Danton erträgt den Dauerbetrieb der Köpfmaschine irgendwann nicht mehr, ihm schlägt das Gewissen. Robespierre schickt auch ihn auf die Guillotine – aber nur, um ihm bald nachzufolgen auf diesen Altar der Revolution. Furioser Höhepunkt der Inszenierung ist der Dialog zwischen Robespierre und Danton über die Frage der Gewalt. Grashof kämpft mit Grashof. In dieser Szene, die wie der wirre Ausbruch eines Schizophrenen wirkt, 223


Ein Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

sehen wir die zwei Ikonen der französischen Revolution vorm Verlöschen noch einmal grell aufflackern. Sie können nur noch pausenlos vor sich hin sprechen, sie hören nichts mehr. Selbst das Volk ist reduziert auf Zweierbeziehungen. Kurt Böwe und Dietrich Körner sind zwei Kolosse von Komödianten, die das Volk zeigen, das bei jeder Hinrichtung genauso jubelt, wie es dem jetzt zu Köpfenden tags zuvor noch bei dessen Rede zujubelte. Das Volk, ein hämisches Ungeheuer, auf dessen Vernunft man besser nicht zählt. Oder zeigt sich gerade hier der Kern aller Vernunft, Überlebensinstinkt zu sein? Langs Zugang zur Geschichte ist dem Schauspieler Grashof wohl allzeit nahe geblieben. Dieser skeptische Blick von unten, der den großen Worten nicht mehr glaubt, war stets auch seiner! Was er auf der Bühne spielen wollte, das waren die Brüche, die Wunden, die die Geschichte dem Einzelnen schlägt. „Das splittert, und gleichzeitig fügt es sich auch zusammen.“ Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Zeitschrift „Theater der Zeit“. Der promovierte Philosoph veröffentlichte das Buch „Der kurze Sommer der DDR“ sowie Biographien u.a. über Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Franz Fühmann und Gottfried Benn.

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IRGENDWANN RAUS AUS SO EINEM KREIS GESPRÄCH

Gegen Tasso: Jubel bis unters Dach Schon eine Perücke kann Verrat sein Der wahre Transitraum ist der Kopf Lauter das Ganze, leiser das Ganze Broddi im Berg und Levin am Fluss Statt Helsingör nur Pasewalk


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Als Faust, Schiller Theater Berlin 1990


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HANS-DIETER SCHÜTT: Der Danton. Wie sagten Sie? „Puff!“ Das war 1981. Bewegte Zeiten, jedenfalls auf der Bühne – auch 1983 wurde für das Deutsche Theater ein denkwürdiges Jahr. Nach umfassender und aufwändiger Rekonstruktion sollte es mit „Faust II“ wiedereröffnet werden, Regie: Friedo Solter. Aber die Inszenierung wurde nicht fertig, das ehrgeizige Projekt fraß alle künstlerischen Energien, vereinnahmte sämtliche technische Bestände – es scheiterte schließlich an allseitigem Übermaß und allseitiger Überforderung. Intendant Rolf Rohmer hatte angesichts der avisierten Ehrengäste, angeführt von Erich Honecker, nicht gewagt, den festgesetzten feierlichen Termin zu verschieben. Weiterarbeit an der „Faust“Inszenierung hätte zudem zur Folge gehabt, das Theater nach der protokollarisch hoch angesetzten Eröffnung noch einmal zu schließen, nämlich für die noch ausstehenden Proben. Also wurde stattdessen, zum Weihetermin, Repertoire gespielt: „Torquato Tasso“. CHRISTIAN GRASHOF: Gleichzeitig probten wir mit Alex Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, das sollte die zweite Eröffnungspremiere sein, aber da wurden die Proben ebenfalls verlängert – Alex war ja der Darsteller des Faust –, und fürs Fernsehen sollte zudem Heinrich Manns „Traurige Geschichte von Friedrich dem Großen“ aufgezeichnet werden, auch eine Inszenierung von Lang. Das war alles zu viel. Alex stieg aus dem „Faust“ aus. Es knirschte gewaltig, an allen Ecken und Enden des Hauses. Vielleicht hatte der Regisseur in Lang inzwischen größeren Ehrgeiz entwickelt als der Schauspieler, und er hoffte, seine Inszenierung der „Rundköpfe und Spitzköpfe“ würde die feierliche Wiedereröffnung des Hauses bestreiten? Jedenfalls gab es wegen der Beendigung der „Faust“-Arbeit einen Protest an die Parteileitung, unterschrieben von Dieter Mann … Er sollte den Mephisto spielen. 227


Irgendwann raus aus so einem Kreis

… Otto Mellies und dem Dramaturgen Hans Nadolny. Sie bezeichneten den Leitungsbeschluss als „kulturpolitisch verhängnisvoll für das Profil des Deutschen Theaters“. Die Zeitung „Neues Deutschland“ veröffentlichte eine Meldung, in der freilich nichts von Absetzung stand, sondern nur: Die Aufführung sei „ausgesetzt“. Dieter Mann wurde nach diesem Eklat Intendant. Jahre später, 1988, hat Kulturminister Hoffmann der Zeitschrift „Theater heute“ ein Interview gegeben, es ging auch um jene Zeit und um Alexander Lang. Der habe gefordert, dass nicht nur dreißig oder fünfzig Prozent des Spielplans im Deutschen Theater aus seinen Inszenierungen bestehen sollten, sondern siebzig Prozent. Der Minister: „Er wollte stellvertretender Intendant werden mit einer gewissen Ausschließlichkeit seiner Handschrift. Aber da haben weder der Intendant Dieter Mann noch ich mitgemacht.“ Ach, wissen Sie: Alex stand damals für eine ganz neue Art, Theater zu betreiben, ein Ensemble zu mobilisieren, Ästhetik und Weltsicht feurig und blitzgescheit zu verbinden. Das war eine Leidenschaft, die im Zusammenhang mit dem Erfolg, der sich einstellte, wie ein Orkan durch die gewachsenen Strukturen fegte. Das nährt Sehnsüchte. Da will man alles, nur keine Mäßigung. Akzeptiert keine Grenzen und keine Einschränkung? Damit konnte letztlich niemand umgehen. Es war falsch von Friedo, den Faust mit Alex zu machen. Sie sprachen vom „Orkan, der durch die Strukturen fegte“. Alex wurde geschätzt, ja geliebt. Er konnte Leute enorm an sich binden, sie begeistern. Mit Kraken-Armen umfing er uns, aber er erdrückte nicht. Das Lodern ging bis hinein in die Werkstätten, bis in die Büros. Thomas Martin, der spätere Schriftsteller und Castorf-Dramaturg, war damals Bühnentechniker, er schrieb sogar Gedichte über die Pro228


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benarbeit. Auch andere Leute aus den Gewerken schrieben plötzlich Gedichte. Die Atmosphäre steckte an. Alex war der Schamane, er war die Energiequelle, das Lager-Feuer, aber immer auch der Kohlenschlepper. Für nichts war er sich als Regisseur zu schade. Ihm sah man jederzeit an, ob er verwundet war. Wenn er wie wild in der Kantine herumsprang, wussten alle, dass er ein Problem hat. Er spielte nicht. Er hatte kein Talent zur Attitüde. Er war lustig, lieb und freundlich – was er natürlich überhaupt nicht war. Er rief noch nachts um zwei an, komm, wir müssen reden. Nicht unbedingt die Zeit, schwierige Dinge zu besprechen. Das ist manchmal egal, selbst wenn es mitten in der Nacht die ungünstigste Zeit ist, um denkend wirklich etwas Sinnvolles zu finden. In einem gemeinsamen Arbeitsprozess ist alles wichtig, was Schwingungen aussenden und an der Atmosphäre weben kann. Auch Ulrich Thein, mit dem ich „Broddi“ drehte, war so einer, der noch nachts das Gespräch, den Austausch suchte. Alex jedenfalls hat sich wie kein anderer geöffnet, er war manchmal geradezu überwältigend in seiner …. ja, wie soll ich sagen … Vereinnahmungsliebe … Schönes Wort. Aber das hatte seinen Preis. Von Langs Ferdinand in Erforths und Stillmarks „Kabale und Liebe“ hieß es, er trüge sein zuckendes Herz in der Hand. Das mit dem zuckenden Herzen stimmt. Da wird man tückisch wach für Attacken von außen – Alex hat sich immer verraten gefühlt oder sich zumindest in der Nähe eines Verrats empfunden. Aber die Welt um ihn herum war auch leider so, dass man ihn sehr gut verstehen konnte. 229


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Gerhard Wolfram war der Intendant, der Alex und uns Sicherheit gab. Der hat ausgehalten und dagegengehalten. Für Außenstehende blieb er stets ein Mensch, der sich nichts anmerken ließ. Wo er nachgab, wirkte er nicht flattrig, wo er dagegenhielt, prunkte er nicht mit seinem Mut. Er versenkte alle Gefühle. Er lebte seine Einsamkeit in vollem Bewusstsein. Wolframs zehn Jahre DT waren die Phase einer klug und schlau erkämpften Produktivität; Alexander Lang wurde Regisseur, das Duo Erforth/Stillmark setzte seine starken Zeichen; die Depression des Ensembles nach der nahezu zerstörerischen Perten-Regentschaft wurde überwunden. Kurt Böwe sagte: „Die Regel war die Bevormundung, die Gängelei. So wurde geleitet, so sollte auch Wolfram leiten, das wurde immer wieder von ihm verlangt. Sein Widerstand dagegen wurde als seine Schwäche charakterisiert, als ,Sozialdemokratismus‘. Und so wurde er an einem schmerzlichen Punkt, vor Eröffnung des Hauses zum hundertjährigen Bestehen, aus seinem Amte vertrieben. Dieser Akt wurde natürlich von hauseigenen Kollaborateuren aus höchst edlen, also sehr persönlichen Beweggründen befördert.“ Uns stützte der internationale Erfolg, und zum Glück konnte man uns nicht so mir nichts, dir nichts vor die Parteileitung zerren: Alex und ich waren nicht in der Partei. Aber mitunter war es schon beängstigend, wie wir beäugt wurden. Mit Unmut wurde „oben“ registriert, von wem wir Blumen bekamen – von westdeutschen Diplomaten, von Leuten wie Günter Gaus oder Korrespondenten wie Peter Merseburger. Es gab sogar Bestrebungen, uns zu kündigen. Ich hab übrigens auch später genau hingeguckt, zu wem ich geladen wurde, wenn es zu Auswertungen außerhalb der inszenierenden Truppe kam.

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Solche Situationen gab es? Ja. Ich machte die Tür zum Intendanten auf, da saßen – nicht unüblich – Leute, die mir unbekannt waren. Ganz klar: Bezirksleitung der SED oder ähnliche Preisklasse. Ich sah mich kurz um, sagte nur, „Ich kenne leider zu viele Leute nicht, die hier im Raum sitzen“, und bin gegangen. Das Deutsche Theater war also irgendwann in nahezu unversöhnliche Lager aufgefächert. Statt mehrerer Linien plötzlich Risse. Und wie gesagt: Ausgerechnet zwei „Rädelsführer“, Alex und Friedo, sollten das bislang gewaltigste Vorhaben gemeinsam stemmen? Hätte Alex mich beim „Faust“ gefragt, ich hätte ihm einen Vogel gezeigt. Er hat mich nicht gefragt, er hat sich – was ich nie begriffen habe – eingelassen. Es begann ein blödes, zerstörerisches Spiel mit wirklicher und simulierter Demütigung. Es gibt Spiele, die werden von allen verloren, weil alle gewinnen wollen und jeder ein anderes Spiel spielt. Sie erwähnten „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, ebenfalls eine der großen Lang-Inszenierungen. Es gab erneut keine Konzeptionsbesprechung vor Beginn der Proben, es war eine Spielfassung des Stücks entwickelt worden, dann wurde ausprobiert, immer mit dem Blick darauf, eine Spielsituation ins Extrem zu treiben. Alles wieder hin zu dem Satz: „So etwas kann man doch nicht machen!“ – um es zu machen. Es ging darum, jeden Umweg zur Hauptstraße zu erklären und auf dieser Straße zu tanzen – noch eine Umdrehung und noch eine. In der Müdigkeit, die nicht zu vermeiden ist, würde dann schon aussortiert werden.

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Keine Konzeptionsbesprechung – kam Ihnen das entgegen? Unbedingt. Denn es war ja andererseits eine Zeit, da man ständig szenische Vorgänge notierte. Am Berliner Ensemble trieb man das ja ins Extrem. Überall stapelten sich sozusagen die Modellbücher. Noch einmal Horst Sagert: Er sprach von einer „Modellkaserne“. Mich störte und blockierte sowas. Zu viel Vorspiel führt aufs Reißbrett, nicht auf die Bühne. Nicht: wie könnte es sein in der Szene, sondern es geschehen lassen, mal sehen, was passiert. Klingt ein bisschen chaotisch. Ist aber das Gegenteil davon, es ist höchste Konzentration auf das Wesentliche. Da gibt es diese Anekdote, die Klaus Piontek erzählt hat, mal war es eine über Norbert Christian, mal eine über Fred Düren. Bei Wolfgang Langhoff probiert der Schauspieler einen langen Monolog, Langhoff unterbricht und hebt zu einem ebenso langen Monolog über Stück und Situation aus, und der Schauspieler sagt: „Gut, Chef, also lauter das Ganze.“ Langhoff schüttelt den Kopf, wiederholt seinen Monolog über Stück und Situation, und der Schauspieler atmet auf, wie einer, der endlich alles verstanden hat: „Klar, Chef, also leiser das Ganze.“ Bei Manfred Wekwerths „Richard III.“ spielte ich mit Dieter Franke die Mörder der Königskinder. Bei den Proben fiel Franke mal aus, Rolf Hoppe … Der eine Zeitlang am Hause engagiert war. … er übernahm alternativ. Es ging in der Szene um das schlichte An- und Ausziehen einer Jacke, Wekwerth entwickelte aus dieser Winzigkeit eine Konzeptionsblase, aus der Hoppe nicht mehr herausfand. Er wusste, überschüttet von einem Theorieschwall, irgendwann nicht 232


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mehr, wie man in einen Ärmel hineinfährt und wie man wieder herauskommt. Wekwerth schüttelte verzweifelt den Kopf, er verstand die Probleme Hoppes nicht. In seiner Not, sich nicht verständlich machen zu können, fragte er mich, wieso das bei mir so reibungslos funktioniere. Ich eröffnete ihm die schlichte Wahrheit: „Ach, wissen Sie, ich höre irgendwann einfach nicht mehr hin, was Sie sagen.“ Keine Konzeptionsbesprechungen, schön und gut. Wobei in den Proben aber doch trotzdem Papier beschrieben wurde. Natürlich, in Auswertung der Proben. Aber die Analyse war meist so, wie soll ich sagen, unauffällig, gelöst mit dem Spiel verbunden, dass der Kopf auch immer das Empfinden hatte: Denken ist Spiel. Hier zum Beispiel ein Probennotat zu den „Rundköpfen und Spitzköpfen“. Die Markierungen eines Rechtsdrucks: „Die Verhältnisse werden brutaler, unsicher, unberechenbar – wer wird das nächste Opfer? Die kleine Stadt, eine Welt für sich – und doch die große Welt. Hier kennt man einander, jeder wurstelt sich durch. Jeder macht sich klein, ordnet sich ein. In der Hoffnung auf Ordnung steckt die Sehnsucht nach Unauffälligkeit, Unkenntlichkeit. Keiner wehrt sich, man leistet sich kaum eine emotionale Reaktion. Die Leute tauchen in der Gruppe unter – die Gemeinschaft verleiht Sicherheit, die Chance, ein Gesicht zu wahren, das man mehr und mehr verliert. Aus der Abgestumpftheit, die eine Vorsichtsmaßnahme ist, keimt Aggressivität. Sie ist latent und nicht berechenbar.“ Das sind, wenn man’s jetzt hört, entsetzlich stimmige Beschreibungen unserer Gegenwart. Erschreckend. Du musst eben, um zu wirken, nicht nur einen Nerv der Zeit treffen, dieser Nerv muss auch dich durchqueren, und er darf in dir kein Ende haben. Alex traf mit seinem Theater – 233


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eine bestimmte, aufregende Weile lang – genau diesen Punkt. Es kam plötzlich das Entscheidende zusammen: Sinn und Form, der Druck der Verhältnisse und das Wort von Dichtern, die diesen Druck genau trafen. Dann ging er in den Westen. Alles war dort anders. Die Leute saßen weniger angespannt in ihren Theatersesseln. Das ist der Lauf der Dinge. Alles hat seine Zeit. Große Trauer, ja. Aber nichts ist aufzuhalten. Zur Wirkung von Kunst gehört immer auch, diese Wirkung nicht zu überschätzen. Klar. Es ist ja ganz schön, spielend zwei oder dreieinhalb Stunden lang eine hohe Spannung zu erleben. Bei „Dantons Tod“ etwa. Natürlich weiß man in einem zentral organisierten Staat wie der DDR, was gemeint sein kann, wenn ich da zum Beispiel als Robespierre sage: „Wir haben nur wenige Köpfe zu treffen und das Vaterland ist gerettet.“ Es gibt so viele kluge Gedanken über Büchner, über Danton, aber ich selber hab ja nur gespielt, und ich meine das nicht kokett. Tausende Worte, Erklärungen, Deutungen, Thesen, Verweise – du selber aber bist nie ein Leuchtfeuer, du bist ein Glühwürmchen. Aber beim „Danton“ gab es für mich doch eine tiefe Erschütterung, die bis heute nicht abgeklungen ist. Sie lag in einem einzigen Wort, das mir als Wahrheit ins Fleisch ging: Revolution ist – Blut. Das fühlte ich plötzlich, damit musste ich umgehen. Bei dieser Arbeit traf mich die große Ohnmacht des Menschen. Dieses Nichtheilwerdenkönnen der Welt und der Seelen. Diese einschneidende Wahrheit: Der Mensch ist seinen Idealen nicht gewachsen. Dieses Immer weiter, immer weiter! der Geschichte – und dahinein der Schrei eines Einzelnen: Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Der Schrei des Einzelnen: ein Menschheitsbrüllen. Ich spürte damals körperlich, wie überall die Guillotinen klappern. Plötzlich verstand ich, was ich bis dahin nie so richtig verstanden hatte: die har234


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sche, entschiedene Zurückhaltung Goethes gegenüber der Revolution. Ja, dieser Gedanke an Blut bewegt mich bis heute. Aber Sie haben recht: Man durfte sich auch nicht darin täuschen, dass man der Hofnarr war, das wusste ich. Das ist ja wie beim „Tasso“, und deshalb war die Notlösung, Solters Inszenierung zur feierlichen Eröffnung zu spielen, im Grunde, wenn auch unfreiwillig, eine äußerst programmische Entscheidung: Da leistet sich der Hof einen eigenen Poeten, und dann wird dieser Poet unbotmäßig, er gerät mit den Oberen in einen heftigen Konflikt. Schließlich verlässt die Kunst das Land, jenes kleine Duodezfürstentum, das der Herzog von Ferrara beherrscht. Das war damals auch nicht so weit weg von uns heute. Immer wieder gibt es Freie, die den Begriff dieser Freiheit so weit und scharf und kritisch fassen, dass es den Regierenden nicht passt. Die Laufzeit der „Tasso“-Inszenierung fiel in die Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung. Die Fronten zwischen Politik und Kultur hatten sich verhärtet. Mein Tasso gerät ja unter den kalten Pragmatismus des Staatssekretärs Antonio … Den Dieter Mann spielte, mit einem grandiosen Körperüberzug aus Frost und Herablassung. Und bei der DT-Eröffnung 1983 kam es zu einem Erlebnis, das mich schockierte. Bei dieser Premiere mit Protokoll merkte ich in einem Maße, wie ich das auf einer Bühne nie wieder erlebte: Die Funktionäre im Publikum setzten diesen Staatssekretär Antonio fort. Denn wie der mich behandelte und runterputzte, das löste im Saal eine Welle der Sympathie und des Einverständnisses aus. Die Kaltwelle ging von Antonio nach unten und kam wieder hoch zu mir, als wolle sie mich wegfegen: unfassbar! Schenkelklopfen, zustimmende Geräusche für den Politiker, aber abwertendes Gelächter, wenn Tasso was sagte. Alle Reak235


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tionen gingen gegen mich: Guckt ihn euch an, das Künstler-Arschloch! Ich hatte das Gefühl: Gegen mich gibt es einen Jubel bis unters Dach. Dieser Antonio aber gefiel denen, der gab das Beispiel, wie man mit verqueren, versponnenen Geistern umgehen muss. Der Staatssekretär ließ sich nicht betören von dieser Innerlichkeit, die nur stört und aufhält und weich macht. Ich stand da, spielte und dachte: Von nun an wird mich wahrscheinlich nichts mehr wundern; was ich erlebe, ist staatlicher Klartext, was Kunst in diesem System zu tun und gefälligst zu lassen hat. So offen hatte sich die Funktionärskaste im Theater selten zu erkennen gegeben. Insofern besaß die Eröffnungspremiere, die aus den erwähnten Gründen keine wirkliche Premiere und eher eine Notlösung war, einen hohen Offenbarungswert. Ich war geplättet, wir alle waren geplättet. Sie haben 1988 die Hauptrolle in Volker Brauns „Transit Europa“ gespielt, Regie wieder Friedo Solter. Ein Stoff nach Anna Seghers: Deutsche Exilanten in Marseille, im drohenden Anmarsch der Faschisten das zerrende, zehrende Warten auf die Schiffspapiere nach Übersee. Was ist Heimat? Ein Land, eine Weltanschauung, eine Utopie, eine private Beziehung? Eine zutiefst unglückliche Arbeit war das. Die Inszenierung wollte Leben, das aber nicht Leben werden durfte. Nach zwei Vorstellungen war Schluss, Volker selbst war es, der sozusagen die Schläuche zog. Er hatte zwar die Aufführung gesehen, aber sein Stück nicht. Er saß im Theater wie in einer totalen Fremde. Sowas gibt’s. Es hatte in diesem Falle mit der konkreten Situation zu tun: die Plakat-Proteste im Januar bei der Liebknecht-LuxemburgDemonstration, die Verhaftungen danach. Und dahinein der Stoff von Anna Seghers: Ausreisesehnsucht, Pass-Probleme, Fluchtwünsche.

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Das alles kam zur Sprache? Eben nicht. Wir verkrampften und verkopften. Das Ganze leider nicht erwähnenswert. Aber es gibt eine Wortmeldung von Ihnen, in einer internen Diskussion damals zum Stück, sie ist mitgeschnitten worden.

Christian Grashof Leb über deine Verhältnisse! Seidel liegt geschlagen da, vorn an der Rampe, die haben alle Koffer in der Hand, und hinter ihm sitzt die Wirtin, die sagt nichts, nur später sagt sie was, nämlich zur Polizei: Gehn Sie mal da vor an die Rampe, da ist irgendwas los. Du begreifst plötzlich: Die Wirtin war es, die ihn angeschmiert hat, den Seidel. Wenn sie aufsteht, sieht man einen langen Schatten, und dann setzt sie sich wieder hin und trinkt weiter. Und der Seidel liegt da vorn, getroffen von den Schlägen, also der Welt, und da kommen zwei Männer, wollen ihn wegschleppen. Den Mann, an dem sich alles reibt, der die Geschichte ist, die hier erzählt werden soll, den wollen die jetzt wegtragen, und Seidel sagt: Nein, ich darf hier nicht weg, wo soll ich denn überhaupt hin? Und es gibt ein Gezerre, und Seidel ist nicht wegzukriegen, der bleibt auf der Bühne, die ja immer nur ein Ausschnitt ist, aber zugleich ist sie ein immer offener Raum. Transitraum. Auftritt, Abtritt. Zwischenland. Durchgangsraum. Oft zieht es auf Bühnen, ein windiger Ort, ich muss deshalb immer einen Schal dabeihaben. Den D-Zug gibt es – und den Durchzug. Der kann manchmal wahnsinnig schnell und unbarmherzig sein, und es kostet dich den Hals, die Stimme, die Atemwege.

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Nicht weggehen von der Bühne, ja, das ist das Ding, um das es geht. Wir haben alle unsere Bühnen, auf denen sich die Vorhänge heben und senken, und manchmal weißt du nicht, was besser ist. Aber letztlich ist es das, was ich als Schauspieler lebe: Ich gehe nicht weg von dieser Bühne. Mich kriegt hier keiner weg. Am Ende kriegen sie dich natürlich trotzdem weg, die Verhältnisse, die Strukturen – denn: Die Leute gehen nach der Vorstellung nach Hause, und schon bricht der Boden ein, den du dir eben noch mit deinen Mitspielern gezimmert hast. Der Vorhang fällt, und das ist die große Schweinerei am Theater, jeden Abend, es ist die große Ungerechtigkeit: dass die Leute jetzt alle nach Hause gehen können, ganz unbehelligt, ganz folgenlos womöglich. Wo du doch wüten wolltest in ihrem Kopf, in ihrem Herzen, wo es also knirschen müsste überall und nichts zu Ende gespielt ist, und das Spiel in einen Ernst übergehen müsste, der alle umhaut … Es haut nur dich selber um, und deshalb musst du in die Kantine und dich beruhigen. Irgendwann geht Seidel doch weg, nein, weg geht er nicht, aber er bewegt sich, er geht nur einen Meter weit, legt sich weiter hinten auf den Bühnenboden, als kauere er sich in eine Mulde. Und der Doktor fragt ihn: Wo waren Sie denn die ganze Zeit, wo haben Sie sich denn versteckt, und bei wem haben Sie sich versteckt? Neugier auf Namen, um sie weiterzumelden. Anscheißerei. Und Seidel sagt: Mir ist schlecht, weil ich kein Mensch mehr bin. Kein Mensch ist, wer keinen Pass hat und keine Aussicht auf ein Schlupfloch. Oder wer nicht begreift, was Transit ist. Transit ist ein Wort für Leid geworden, für den Riss von Halteseilen. Aber eigentlich – das sage ich jetzt für mich und für heute, für mich im Heute – ist Transit doch was ganz anderes. Transit ist eine Möglichkeit, und die Dummheit der Welt beginnt dort, wo Transit nicht erlaubt wird. Und im Persönlichen ist dumm, wer 238


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sich nicht auf Transit begeben will. Nicht mit den Beinen zuerst, sondern mit dem Kopf. Transit als Verhaltensangebot gilt allzeit, es ist die pure Zeitlosigkeit, die musst du dir in den Kopf holen. Sonst bleibst du stehen und machst dir aus dem Stillstand, der eine Not ist, lauter Tugenden. Na ja, nun muss man schon zugeben, dass die Bewegung mit den Beinen nicht ganz unwichtig ist, wenn sie zum staatlichen Verbot wird. Ich lass mir nicht einreden, dass Reisen nicht hilft, um einzuschätzen, ob es in Birmingham oder Melbourne genauso schön oder blöd ist wie in Friedrichshain oder Köpenick. Reisen hilft da sehr wohl. Aber wie gesagt, das Hauptproblem ist der Kopf. Da drin muss Transit geschehen. Denn es ist doch furchtbar: Ich existiere unter allzu wirklichen Bedingungen, die Tatsachen wollen mich zerquetschen. Deshalb: Du musst über deine Verhältnisse leben, also nicht drüber hinwegsehen, über die Verhältnisse, aber dich doch über sie stellen, sie vom Transitstandpunkt aus betrachten, nicht im Block und in Blöcken denken. Auch als Schauspieler muss ich über mein momentanes Verhältnis zur Zeit drüberspielen. Oder es unterlaufen. Das ist auch Bewegung. Ich bin mir selber Transit – was dazu führt, dass ich über mich selber keine gültige Antwort geben kann. Denn es ist alles nicht wirklich zu fassen. Ich muss das Abwesende herbeidenken und mich davon überfordern lassen. Der Doktor im Stück sagt: „Arbeiten und mich heraushalten.“ Nein!, sag ich, nicht heraushalten! Aber ich sag es so entschieden, dass mir gleich schon wieder Zweifel kommen. Der Doktor sagt: „Ich kann nicht einmal einem ganzen Menschen helfen, wie denn der ganzen Menschheit?“ Nein!, sag ich dagegen, unter der Menschheit machen wir’s nicht. Sag ich so, und seh mich zu den Worten des Doktors doch nicken. Der Doktor sagt: „Leben ohne die Gemeinheit der Macht – wenn nicht das Letzte, so will 239


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ich das Nächste tun.“ Nein!, sag ich dagegen, Macht ist nicht automatisch etwas Gemeines, und wenn das Letzte ‚das Höhere ist, dann kann es mehr bedeuten als nur das Nächste. Sag es, und schüttle schon wieder den Kopf über mich. Das ist wie Fieber, du schreckst dauernd hoch, weil dich ein Traum erhitzt, von dem du nicht weißt, was er in dir auslöst. Ich finde auch diesen Text, wie vorhin das Probennotat „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, aufregend akut! Ich weiß gar nicht mehr den unmittelbaren Anlass dieser Rede. Ja, es war in der Kantine. Wer hat die mitgeschnitten? Es war fast sowas wie eine Wutrede. Ja. Aber wir haben das auf der Bühne nicht gepackt: ein Gleichnis zu spielen und doch konkret zu bleiben; konkret zu sein und doch drüber hinaus zu denken. Christian Grashof, Ihr Spiel ist eines, dem nichts zufliegt – weil es ein Druckstellen-Spiel ist. Darstellung, die nicht gefällig sein will und die daher nicht besitzend sein kann. Eine Kunst des verzweiflungsgefährdeten Menschen, nicht die einer sieghaften Macht. Wie ist Ihnen der Film entgegengekommen, wie haben Sie selber diese Begegnung mit dem anderen Medium gesucht? Ich? Gesucht? Gar nicht. Bei der DEFA habe ich Dinge abgelehnt, darüber haben andere den Kopf geschüttelt. Wem gaben Sie denn eine Absage? Frank Beyer, Gerhard Klein. Heiner Carow auch? Ich glaube ja. Ich blieb spröde, unwillig – speziell, was größere Rollen betraf. Wirklich seltsam. Das ist der Blick von heute, weil Film und Fernsehen für die Laufbahn von Schauspielern längst dominant gewor240


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den sind. Aber ich hielt mediale Popularität nie für einen wirklich lohnenden Lebenszweck. Ich war doch am besten Theater des Landes engagiert und hatte dort zu tun, was wollte ich mehr! Wenn Filmrollen angefragt wurden, war ich entweder zu sehr im Spielplan gefordert oder meine Vorsicht vor diesem Betrieb DEFA überwog. Vorsicht, also Misstrauen? Aber wieso denn? Ausgerechnet bei den genannten Regisseuren? Ja, ist schwer zu erklären. Nochmal: Ich band den Wert meines Eigensinns so sehr ans Theater, dass ich außerhalb dessen nur eine Verkaufsmesse witterte, der ich mich entziehen wollte. Ich hatte Angst, vielleicht auf ein Fließband zu kommen: Man schaltet’s an, und der Typ Grashof schnurrt los. Marke DDR: Belmondo für Arme – nee. Charakter oder völlige Fehleinschätzung? Ich neige zu Charakter. (lacht) In Beyers „Aufenthalt“ sollte ich spielen. Die Verfilmung des Romans von Hermann Kant. Sylvester Groth hat die Rolle dann bekommen. Ich hätte mir die Haare abschneiden lassen müssen, als deutscher Kriegsgefangener. Es war die Zeit, da ich den Danton spielte. Einen kahlen Kopp? Nein, auf gar keinen Fall. Die DEFA beruhigte mich: Natürlich würde ich für die Vorstellungen am Theater eine perfekte Perücke bekommen, die war sogar schon angefertigt worden, sie sah toll aus und passte ausgezeichnet. Sagten die, ich fand alles blöd. Ich lehnte ab; die Perücke kam mir wie ein Verrat vor. Haben Sie das später bereut? „Der Aufenthalt“, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, wurde ein großartiger, ein sehr wahrhaftiger Film. Bereut? Nein. Bedauert, ja. Trotzdem war meine Entscheidung richtig. Sie war in jenem Moment nicht anders möglich für mich. Und wie gesagt: Mit der DEFA hatte ich 241


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Probleme. An vielen Filmen der DDR erfühlte ich am deutlichsten, was ich an diesem Staat nicht mochte. Dieses vereinnahmende Wir, dieser Erziehungsdrang, diese Richtlinienkultur. Das Theater war davon nicht ausgenommen. Natürlich nicht, aber dort, wo ich arbeitete, lagen die Dinge eben doch ein bisschen anders. Der Film war viel offener als andere Künste pure Propaganda. Zweimal hat man mir angeboten, im Kino den Hitler zu spielen. Das wollte ich ebenfalls nicht. So wie ich auch keinen „Polizeiruf“-Kommissar annahm. Ich wollte nicht die Staatsmacht verkörpern, die den Leuten nachstellt. Für mich stand fest: In der DDR spiele ich keinen Polizisten! Hatte solche Verweigerung Folgen? In der DDR erfuhr ich nie Berufsverbot, nicht mal in Ansätzen. Dafür gab es keine Anlässe – ich war nie politische Opposition. An der Schauspielschule hatte ich sogar die Funktion eines FDJ-Sekretärs – ohne überhaupt in der FDJ zu sein. Woran man sieht, dass es immer beides gab: Linie und Laxheit. Und trotzdem: Sag bei einer Sache „Nein!“, wie ich bei bestimmten Filmen – und du spürst natürlich die Folgen. Gefühlte Folgen jedenfalls. Wobei es nun aber doch Filme gab, die eindeutig Ihr Profil trugen, etwa Benito Wogatzkis „Broddi“,1975, Regie: Ulrich Thein. Dieser TV-Mehrteiler mag inzwischen ein Patina-Produkt sein, mit einem ideologischen Pathos, das just in sozialistischer Ökonomie ein dramatisch-tragischkämpferisches Konfliktfeld zu finden meinte – aber Sie im Passgang des ungelenken NVA-Soldaten, im proletarisch naiven Gestus eines sozialistischen Simplizissimus, dazu die grandiose Mitspielergarde Kurt Böwe, Jenny Gröllmann, Klaus Manchen, Günter Junghans, Horst Hiemer, Jürgen Reuter! Der Film besitzt von daher noch im242


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mer einen anrührenden, erinnerungswürdigen Charme. Broddi, der Entwässerer im Tagebau. Er wünscht sich Geborgenheit fürs Leben aller Leute, das macht ihn so seltsam unschuldig, so weltfremd – und so herausfordernd. Ja, da spielte eine wunderbare Truppe. Kurios aber wieder mal, was im Gedächtnis bleibt. Wir drehten auch in Armenien. Irgendwo auf einem sowjetischen Flugplatz waren plötzlich zu viele Passagiere im Flugzeug. Vier mehr, als auf der Passagierliste standen. Chaos, Lautstärke, alles kurz vor der Prügelei. Das Beharren derer, die für Regeln und Sicherheit zuständig waren, stand gegen das Beharren derer, die mitfliegen wollten – obwohl sie Überzählige waren. Wir betrachteten das mit Neugier, aber natürlich war uns klar, dass die vier unerlaubten Passagiere nach ungeschriebenem russischem Geselligkeitsgesetz an Bord blieben. Irgendwie rutschte man zusammen. Diese so gänzlich unwichtige Kleinigkeit erzählt ebenso die Sowjetunion wie die dortige Gastfreundschaft, diese regelmäßig reich gedeckten Tische in den ärmsten Gegenden. Und der wirblige Fred Delmare, der auch mitspielte, erzählte mit einer einzigen Pose die ganze DDR. Irgendwas an seinem Gepäck war nicht in Ordnung, der russische Zollbeamte stand eisern, ließ alle Beteuerungen, schließlich Beschimpfungen Delmares an sich abprallen, da griff unser Fred, so weit, weit weg von Berlin, aufgeplustert zur entscheidenden Waffe: Er drohte, noch am selben Tag aus der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft auszutreten. Na, das bewegte den Beamten vielleicht! Aber in Delmares Reaktion lag die ganze Komik unserer ideologischen Ausrichtung, wir redeten uns gern alles groß und weltbedeutend und weltwirksam, und so konnte man schnell glauben, im fern gelegenen Osten dieser Welt sei die DSF ein ernstzunehmendes Argument.

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Die Dramaturgin Erika Richter schrieb, Regisseur Ulrich Thein habe der Landschaft einen bedrängenden Eigenwert gegeben. „Weite, sehr ausdrucksvolle Totalen der Braunkohlenlandschaft erinnern an Urgebilde, in denen die Menschen mit ihren Grubenlampen klein wie Ameisen herumkriechen. Natur wie ein lebendiger Leib, der verschorft ist von Wunden und der zur Bewahrungsprüfung für den Menschen wird.“ Und unten im Berg fallen archaische Worte – die Frühstückspause der Bergmänner etwa wird mit dem Satz eingeleitet: „Die Zeit ist ran, lasst uns vom Brot beißen.“ Kritiken sagten, in Ihnen sei ein „glänzender Schauspieler gefunden worden, der das Abrupte, Besessene und Fröhlich-Friedfertige, das Ungebärdige, Spontane und Naiv-Gutmütige Broddis in einem Bogen zusammenfasst“. Ihr Spiel betone die „gute, klare, aufrichtige Seele dieses Menschen“, etwas, das im Laufe des Films mehr und mehr Kontur gewinnt. Hemmung wird souveräne Haltung – ohne dass die Grundwerte einer liebenswerten Scheu verloren gehen. Das registrierte sogar der Westen. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ notiert im August 1977: „,Broddi‘ ist ein ungemein sympathischer Film, voller Witz, Gefühl und Intellekt. Vergleicht man die schauspielerischen Leitungen, allen voran Christian Grashof und Jenny Gröllmann, mit den Verkrampfungen in Hollywood und anderswo, so kann dieser Film der Kategorie ,lebensnah‘ zu neuem Ansehen verhelfen.“ Ich war teilweise verblüfft, wie selbstbewusst der Film auf große Gefühle setzte. Wieder war es am Anfang so, dass ich die Rolle eigentlich schon abgelehnt hatte. Ich wollte an keiner Überrumpelungsdramaturgie teilnehmen, an keiner sozialistischen Schönfärberei. Aber Uli Thein hat mich mitgerissen, er war so ein Volksstück-Regisseur, der an den guten Menschen glaubte, ja, so kann man das sagen. Er wollte verständlich sein. Er hat mich 244


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ausgesucht, weil er einen nicht traditionellen Anziehungspunkt für seine Philosophie wollte. Unangenehm war nur Autor Benito Wogatzki. Der nahm mich auffällig oft zur Seite, um mich zu agitieren. Der pumpte mich mit Leiterartikelprosa voll, damit ich „seinen“ Broddi auch ja richtig interpretiere. Zum Glück passte Uli Thein auf und bremste ihn. Uli merkte, wie es in mir hochstieg. Sie mochten ihn? Thein? Ja. Manchmal triffst du im Kino auf wirklich offene Gesichter. Die verbinden, was gar nicht zueinander passt. Die haben eine Freundlichkeit, die kommt von ganz woandersher, und gleichzeitig sind die faltig wie ein Arbeitstag. Uli war so einer. Immer der Junge, der sich sehnte, und zugleich ein stiefelnder Prolet. Er war bei DEFA und im Fernsehen meist der gute, kräftige Kerl. Er wusste, wo ich herkam, er wusste, was ich für einer bin. So kurz kann man das sagen. Er war im Urteil erbarmungslos ehrlich, und er konnte gottvoll Klavier spielen. Christine, gespielt von Jenny Gröllmann, ist auf dem Nachhauseweg mit Broddi, und sie sagt plötzlich: „Du bist schön.“ Broddi und Grashof sind natürlich überhaupt nicht schön! Den unbehausten Waisen Broddi nennen sie alle „Affenkopp“. Aber schön ist seine Lebendigkeit, seine Glückssehnsucht, seine Gefühlsfähigkeit. Es gibt einen Vorspruch zum Film: „Es war einmal ein Soldat, der hieß Jochen Brodalla. Er war der uneheliche Sohn jener spindeldürren Küchenhilfe Brunhilde Brodalla aus Sernow, die nur für eine einzige Nacht einen Mann fand und 1951 verstarb. Hinterlassen hatte sie dem Sohn nichts weiter als das Leben und ihre breitge245


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drückte Nase. Als Jochen Brodalla nach vielen Jahren der Heimerziehung und einer Unzahl besonderer Vorkommnisse ins Freie trat, besaß er immer noch nicht mehr …“ Redakteure im Sender, so steckte es mir Uli Thein, rümpften die Nase über mich. Grashof? Nicht makellos, nicht kräftig, nicht sportlich, nicht anziehend und nicht attraktiv genug. Sie verbanden den positiven Helden im Fernsehen mit einem Bild, das eher von Dr. Schlüter als von mir bedient wurde. Dr. Schlüter, einst ein Adlershofer Serienheld, gespielt von Otto Mellies, Ihrem Kollegen am Deutschen Theater. Ja. „Broddi“ ist ein Film darüber, wie ein Mensch glücklicher, selbstbewusster wird und wie das in Spannung zur Welt geschieht. Dann spielten Sie in „Levins Mühle“. Regisseur Horst Seemann konnte wunderbar schwärmen, von der Welt und besonders auch von sich, es war rührend. Er hat mich gefangen mit Johannes Bobrowski. Diesen Dichter verstand ich. Bobrowski, das sind Geschichten vom europäischen Osten, die in der DDR großenteils ausgeklammert waren. Hier, solche Sätze: „Es ist doch da etwas gewesen, das hat es bisher noch nicht gegeben. Nicht dieses alte Hier-Polen-hier-Deutsche oder Hier-Christen-hier-Unchristen, etwas ganz anderes, wir haben es doch gesehen, was reden wir da noch. Das ist dagewesen, also geht es nicht mehr fort.“ Es spielten übrigens Sinti und Roma mit, die lebten im Park am Märkischen Museum in Berlin, keiner von uns wusste so richtig davon; sie wurden mit Bussen zum Drehort gefahren und dann verschwanden sie wieder, als seien sie nie dagewesen. Aber seltsam: Wir fragten auch nicht. In „Levins Mühle“ erschütterten Sie – neben Erwin Geschonneck, Käthe Reichel, Eberhard Esche, Rolf Lud246


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wig, Katja Paryla – als Lieblicher und Leidender, wie einer nur lieblich und leidend sein kann. In diesem Film gab es überraschend heftige, geradezu inbrünstige Liebesszenen mit der schönen „Zigeuner-Marie“. Ja, mit dieser Heftigkeit oder Inbrunst wird – genau durchdacht! – die Geschichte dieses jungen Juden erzählt, der fremd und stumm unter Deutschen, Polen, Zigeunern lebt, wissend aus jahrhundertealten Erfahrungen seines Volkes, dass ihm nichts glücken wird. Er hat einzig diese Liebe, in der er zum Ausdruck kommen kann. Die Liebesvereinigung ist Ausbruch aus der Einsamkeit, aus der Stummheit, das ist total und elementar. Das habe ich zu spielen versucht. Extrem, sagen Sie? Inbrünstig? Ja, warum nicht. Nach „Levins Mühle“ drehte Seemann „Hotel Polan und seine Gäste“. Da sollte ich wieder mitspielen. Hab ich aber abgelehnt. Wie gesagt: Ich spürte mehr und mehr, dass meine Wirkung – und ohne Wirkung geht Schauspiel nicht – eher auf die Bühne passte als vor eine Kamera. Zumindest im Zusammenhang mit den Rollen, die ich angeboten bekam. Wie gesagt: auch gute Rollen. Ausnahmen gab es natürlich: Ein Fernsehregisseur, der sich sehr für unsere Arbeit am DT interessierte, war Peter Vogel. Alex spielte bei ihm in „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ die Titelrolle, ich spielte in „Zeit der Einsamkeit“ und „Die erste Reihe“. Filme nach antifaschistischen Stoffen von Stephan Hermlin, die Drehbücher schrieb Eberhard Görner. In „Zeit der Einsamkeit“ war Jutta Hoffmann meine Filmpartnerin. Sie gehört zu den Spielerinnen, die sehr wichtig für mich waren. Die Frauen, die ich meine, werfen irgendwie ein Licht auf ihre Rollen, das aus dem Leben kommt, ohne dass die Figuren mit so einem direkten, 247


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trüben Alltagsschimmer überzogen werden. Frauen, die ein Leben haben, nicht bloß immer hochtrabende Vorstellungen davon. Frauen, denen die große Leere nichts anhaben kann. Oder die kein Getue drum machen. Die sagen, ihnen fehle ja nichts, und alle glauben es. Aber natürlich fehlt auch ihnen viel. Tapferen Frauen geht das so. Also mit Frauen konnte ich meistens sofort auf gleicher Wellenlänge spielen. Man spielt miteinander und redet nicht viel drüber: Jutta Wachowiak, Gudrun Ritter, Christine Schorn. Und eben auch Jutta Hoffmann. Über Theater haben Sie gesagt, und eben haben Sie’s wiederholt: spielen – nicht reden. Energie sparen – um sie im richtigen Moment voll auszugeben. Welches Verhältnis haben Sie zu Probeaufnahmen?I Ich mochte diese Trockenübungen nie. Als ob du reitest, aber weit und breit ist kein Pferd. Als Peter von Gunten 1989 „Pestalozzis Berg“ drehte, ich spielte den Ministeriumsmenschen Zschokke, da war ich fasziniert von Gian Maria Volonté. Ein internationaler Star. Der lehnte Proben grundsätzlich ab. Der kam an den Drehort, alle warteten, aha, jetzt ist er da, also Kamera an, er spielte – und weg war er. Und kam erst wieder, wenn seine nächste Szene fällig war. Seine Positionen und Gänge undsoweiter wurden bei den Proben gedoubelt. Bei den Probeaufnahmen zu „Mephisto“ erzählte mir István Szabó, in deutscher Sprache, aus seinem Leben, die Kamera lief und lief. Ein bisschen wunderte ich mich. Irgendwann brach er ab. Was denn, das war’s? Er bemerkte meine Verwunderung. „Dass Sie hopsen können, weiß ich, das muss ich nicht testen. Ich wollte nur sehen, wie Sie zuhören.“ Er wollte mich auch in „Oberst Redl“ besetzen. Sprach mit Babelsberg, die lehnten das ab, mit der Begründung, ich sei Angestellter der DEFA, vielbeschäftigt und daher nicht abkömmlich. Das erfuhr ich aber erst später – nie war ich bei der DEFA angestellt, das war also eine Lüge, 248


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eine Unverschämtheit, die mein Misstrauen in diesen Betrieb nur vergrößerte. Herr Grashof, Sie haben zu DDR-Zeiten nicht, wie andere Kollegen des Deutschen Theaters, an anderen Berliner Theatern gespielt, nicht am Berliner Ensemble, nicht an der Volksbühne. An der Volksbühne wollte Benno Besson mit mir den „Hamlet“ inszenieren – genau da kam der NVA-Einberufungsbefehl. Ich musste für mehrere Wochen in die Kaserne, und zwar nach Pasewalk. Halbe Strecke zwischen Berlin und Ostsee. Im Nachhinein war ich wütend über mich: Warum hatte ich mich nicht dagegengestemmt? Hätten die mich wirklich, bei Verweigerung, aus dem DT gezerrt? Doch wohl kaum. Statt Helsingör und Wittenberg nun Pasewalk. Das war Ende der siebziger Jahre. Mit meiner Reisetasche betrat ich dort eine Art Wartesaal. Anna Viebrocks Räume für Marthaler-Inszenierungen gab es damals noch nicht, aber genauso sah alles aus: viel Sprelacart, ein trotziger, geradezu öde prunkender Stillstand, jeder Farbton, jede Wand eine Ausladung. Als bereite sich eine Kulturhaushülle auf ihren Abriss vor. Als feiere der Schlaf der Welt sein wichtigstes Merkmal: die Traumlosigkeit. Kurz: ein Albtraum. Ich stand da im Mantel – und wurde in einer Torschlusspanik in den Fahneneid verwickelt, der normalerweise eine Sache von Reih und Glied auf dem Kasernenhof ist; ich aber wurde als verirrter Vereinzelter behandelt, als fürchte man, ich werde gleich Reißaus nehmen und der Armee gehe damit unwiderruflich eine dienstbare Seele verloren. Der Fahneneid war denen das Wichtigste, egal, unter welchen Umständen. Die Situation hatte etwas Absurdes. Ich stand also da in meinem Mantel, wirkte offenbar wirklich wie jemand auf der Durchreise. Der Offizier musterte mich, bat, ich solle 249


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wenigstens die Hand aus der Manteltasche nehmen und ihm nachsprechen – „das könn’ Sie doch, das kriegen Sie doch hin oder?“ Ich nickte, denn ich ahnte, ich musste ihn jetzt beruhigen, offenkundig zweifelte er an meiner Fähigkeit, einen fremden Text ad hoc nachzubeten. Also, die eine Hand aus der Tasche, die andere an die Fahne. Die meisten dort waren doch jünger, oder? Mit sechsunddreißig war ich der Älteste in der Kaserne. Sofort konnte ich mit diesen Leuten umgehen, die da mit mir eingezogen worden waren. Da waren zum Beispiel ein Ingenieur und ein Zweiter Offizier vom Urlauberschiff „Völkerfreundschaft“ und ein Berufsschullehrer. Zwischen ihnen durfte ich mich regelrecht beschützt fühlen. Einer war geradezu einschüchternd groß und kräftig. Bei der Zimmerkontrolle durch niedere Offizierschargen knallte uns ein grausames Deutsch entgegen: „Was issen mit Ihnen Ihre Sachen los?“ Als ich einmal meine Schrankordnung vorzeigen musste, riss sie der Unteroffizier aus den Schrankfächern, sie fielen auf den Boden. Da traten zwei aus unserem Zimmer auf den verdutzten Mann zu, packten ihn links und rechts, stellten ihn in eine Ecke und befahlen ihm, meine Sachen aufzuräumen und sie ordentlich zurück in den Schrank zu legen. Als er’s getan hatte und kleinlaut hinausging, wurde ihm noch scharfen Tons nahegelegt, am besten nicht wiederzukommen, und wenn es sich nicht vermeiden ließe, auf jeden Fall vorher anzuklopfen. Wir fürchteten zwei, drei Tage Arrest, aber es kam keine Reaktion. Was mussten Sie überhaupt tun während Ihres Lehrgangs? Ich war bei den Pionieren gelandet. Wir gruben tiefe Schächte, simulierten das Entschärfen von Atomminen. Es war die Zeit der Abrüstung, und uns gegenüber sprach man ständig von „Gegenschlag“, also alles, was wir da trainierten, strahlte nicht Verteidigung aus, sondern An250


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griff, Attacke im ganz großen Rahmen. Entsprechende kritische Fragen dazu wurden abgeblockt. Der Zweite Offizier vom Urlauberschiff wurde wegen fehlenden Tempos vom exerzierenden Offizier angebrüllt, er lief ungerührt weiter langsam. Ich tat es ihm nach – ich war ein im Windschatten Behüteter. Einer der Vorgesetzten war ein gelernter Kriminalkommissar, er wohnte außerhalb der Kaserne und nahm mich manchmal mit: als Putzknecht. Ich war der Schauspieler, der Narr – von den einen auserkoren zum Piesacken, den anderen aber ein dankbares „Schutzobjekt“. Den Vorgesetzten sagte ich zu deren Verblüffung gleich zu Beginn: Damit Sie’s wissen, ich brauche keinen Urlaub, keine freien Tage zu Weihnachten – ich bin jetzt hier und bleibe hier, das ist Lebenszeit, die ich abhake, diese Zeit gibt es für mich gar nicht, also: Ich bin nicht erpressbar, indem mir Urlaubssperren angedroht werden. Die Mäuler schnappten, als gehörten sie Fischen. Der Offizierssatz, der mich am meisten traf, der mir wie eine Strafankündigung entgegenschlug und der das System unfreiwillig makaber offenlegte, war dieser: „Wir machen aus Ihnen einen DDR-Bürger.“ Das war wie die Androhung von Folter. Das war die Einweisung ins Prokrustesbett: Rein mit dir, und was herausragt, das sägen wir ab – da kannst du schreien, wie du willst! Dann plötzlich stellte sich heraus, dass der leitende Arzt in seiner Studentenzeit ein Statist am Deutschen Theater gewesen war. Das rettete mich hinüber in den Küchendienst. War gut gemeint. Aber restliche Erbsensuppe en masse aus der Gulaschkanone klauben und kratzen – das ist Arbeit tief im Beton. So, wie Sie das alles beschreiben, standen Sie immer, wenn’s unangenehm wurde, kurz vorm Schwejk. Trotzdem die Frage: Dachten Sie je daran, die DDR zu verlassen? Abhauen? Nee, kam nicht wirklich in Betracht. Gleichzei251


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tig wuchs das Empfinden: Hier kann ich nicht bleiben! Komisch, oder? Ein einziges Mal gab es ein ernsthaftes Wanken. In Florenz gastierten wir mit „Philoktet“, Alex und ich saßen auf dem Fensterbrett unseres Hotels, wir knabberten Hasch-Kekse, schauten in den italienischen Himmel, sahen uns immer wieder an, schwiegen, knabberten, guckten wieder in den Himmel. Wie heißt es so schön: Eine Frage stand im Raum. Nee, die stand nicht, die drückte und drückte: Bleiben wir hier? Ja, dachten wir – und blieben natürlich nicht. Vielleicht war das Schönste, diese Frage endlich mal nicht nur rhetorisch aufwerfen zu müssen. Vielleicht war das Spannendste an der Situation, sich der Alternative wirklich bewusst zu sein, sie so nah zu fühlen. Jetzt ein entschiedener Schritt, und das Leben läuft anders. Ihr Bruder ging in den Westen. Ja. Und mich lud eines Tages Jürgen Flimm ans Thalia ein. Mir kam das sehr gelegen. Nicht dass man mich mit dem Westen groß hätte verblüffen können, aber ich hatte am DT das Gefühl einer ausgereizten Zeit. Ich wollte also nicht für ewig weggehen aus Berlin, aber weggehen können. Mir imponierte das: Transit inmitten der zwei Deutschländer. Ein Moment, den ich nie vergessen werde: Ich sitze in einer „Pan Am“ und fliege tatsächlich über die Elbe. Aber ich wusste doch: Freiheit ist nicht nur, Freiheit lauert auch. Sie lauert dir auf, um an dir zu verdienen. Schon als Student habe ich mich für Dorn, Peymann, Heyme, Stein interessiert, aber mich interessierte doch nicht der angeblich goldene Westen, sondern nur ein weiteres Stück Welt. Nie hatte ich das Gefühl, in Duisburg oder Darmstadt sei das Leben besser. Anders ja, besser nicht. Man sagt „besser“ und weiß dabei gar nicht, was gut ist. Wie reagierte die Leitung des Deutschen Theaters, als 252


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Sie in den späten Achtzigern nach Hamburg gingen? Man versuchte mir einzureden, ich verriete das Deutsche Theater und sogar mehr als nur das Theater. Das war ja in der DDR der Trick der Drohungen: immer gleich die ganz große Dimension, immer gleich die ganz große Kanone, immer gleich die Frage, ob du für den Frieden bist oder nicht. So, dann fällt die Mauer, und ich sag zu Flimm: „Jürgen, ich muss wieder zurück.“ Ich fühlte, dass das Spannende der Zeit jetzt nicht in Hamburg, sondern im Osten lag. Flimm nahm mir das übel. Warum gingen Sie zurück? Aus den gleichen Gründen, deretwegen ich nicht endgültig weggegangen war. Ich war nicht bereit, Idioten in der DDR meinen Platz zu überlassen. Ich dachte, Mensch, vielleicht kann man die Leute in diesem System doch irgendwie verändern, und zwar ohne jede Angsteinflößung. Meine Mutter sagte manchmal beschwörend, Junge, es wird Krieg geben. Sie rechnete den kalten Krieg immer hoch in den heißen. Ich dachte, Mann!, so eine Gesellschaft kann doch nicht immer nur Erzieherin sein. Denn wer nur immer erzieht, der verströmt keine Liebe mehr, das ist die Gefahr jeder Erziehung. Ich dachte, das muss doch möglich sein: Leben – und nicht nur Schule; Widersprüche – und nicht bloß Glaube; Gemeinsamkeit – und nicht bloß Kollektiv. Für diesen Gedanken gingen Menschen in die SED. Wie meine Mutter, ja. Von den Söhnen angestachelt. Für meine Mutter war es richtig, aber es blieb prinzipiell der falsche Ort, wie sich am Ende herausstellte. Ich war am besseren Ort, am Deutschen Theater. Nicht die DDR hat mich gehalten, nicht dieses ganze Theater, sondern, wie gesagt – unser Theater. Und weil wir von den West253


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deutschen sprachen: Ich habe dort großartige Leute getroffen, aber ich wollte sie trotzdem nicht gegen die Leute austauschen, mit denen ich im Osten zusammenlebte. Und die ich nicht missen wollte. Wahrscheinlich, weil sie so sehr Provinz waren wie ich selber. Provinz, ein Stolzwort? Stolz … nein, das wäre völlig daneben. Aber Provinz ist der Kern der Welt. Was knarzt und quietscht und bockt und riecht und ruckelt … Und stolpert. … das ist Provinz. Weltläufigkeit und Weltoffenheit ist doch nicht das freie Gegenteil davon, sondern das schöne Begreifen: Wir sind alle so. Oder? Ich habe Leute von drüben als Lebensfreunde gehabt, die dachten doch keinen Pups anders als ich. Brigitte Soubeyran zum Beispiel … Sie haben viele Jahre mit der Regisseurin zusammengelebt. Ja, Brigitte … Und ihre Söhne! … Manuel, Schauspieler und heute Intendant der Neuen Bühne Senftenberg, und Jonas, der Puppenspieler, der Autonome, der Wohnmobile, der sein eigener Bauer und Bäcker ist, immer auf sehr neugieriger, liebevoller Menschensuche … Brigitte leitete lange ein Pantomimen-Ensemble, auch in Paris, dann kam sie in die DDR, ging zunächst an die Oper zu Walter Felsenstein und Joachim Herz, dann war sie lange Jahre Mitarbeiterin von Benno Besson, ging als Regisseurin an die Volksbühne. Sie kam rüber, weil sie raus aus dem Nazidunst und hier aufleben wollte. Ich empfand das als große Leistung, so einen entschiedenen Strich zu ziehen. Sie hatte in ihrer eigenen Familie erlebt, wie sich Entnazifizierung vollzog: mit einer Kiste guten Weines – erledigt der Fall. Was mich an Brigitte und auch anderen Linken aus der Bundesrepublik faszinierte, war die 254


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Lebensart. Sie kämpften, sie wurden von Sorge getrieben, aber diese Haltung kam aus tiefstem wie höchstem Genuss am Leben. Nicht die Sorge ist das Bestimmende, sondern die Lust. Deshalb: Kritik, Veränderung, Aufbegehren. Brigitte wollte hier im Osten nicht pflichtgemäß etwas ab-leben, sie wollte auf-leben, sie war nicht links gegen das Großbürgerliche in ihr, sie war links und bürgerlich; das in Einheit kennenzulernen, hat mich fasziniert. Bei Benno Besson zum Beispiel konntest du von nichts wissen, aber er hat es dir als Weltbürger erklärt, und er hat dich auf eine Art klüger gemacht, die dir nicht das Selbstbewusstsein beschädigte und dich nicht demütigte. Das ging bis hin zu Käsesorten und Rotwein und blauer Sahne. Um offen zu werden für Fragen, musst du im Leben also schon ein paar Leute kennenlernen, die so sind, wie Benno war. Der im Übrigen uns Jungen offener begegnete als den Schauspielern der mittleren Generation. In denen sah er die ehemaligen Hitlerjungen. Ost und West … Mir fällt da eine Anekdote ein, die der SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski in einem Buch erzählte. Nach den Sitzungen auf einem Parteitag saßen honorige Sozialdemokraten plaudernd in einem Restaurant, und zufällig war auch die Potsdamer Sozialministerin Regine Hildebrandt in diesen Kreis geraten. Man habe zwei Stunden wohl nur über Wein geredet, „da wunderte ich mich schwer, dass unsere Brandenburgerin so still, fast ergeben dasaß, und wie ich sie so sah, ein wenig hilflos, ein wenig ungeduldig, ein wenig fassungslos, da durchzuckte mich tatsächlich für Sekunden ein Gefühl von sehr unpassendem Gesprächsthema. Und am anderen Tag hat sie mir gestanden, sie hätte es fast nicht ausgehalten, da draußen donnere die Welt, und was machten wir? Wir quatschten über Weinsorten.“ Na ja, vielleicht ist das einem Menschen aus dem Osten 255


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nur deshalb fremd, weil wir nicht so viele Weinsorten kannten. Man muss sich ja nun wirklich nicht so lange über Wein unterhalten, aber man muss auch nicht unruhig dabei werden, wenn’s andere tun … Ich bin ein Mann der fremden Texte, bin es bekanntlich gern, also lese ich Ihnen jetzt einen vor – ein Auszug aus einem der Briefe, die mir damals Ilse Galfert schrieb, die wunderbare Dramaturgin, eine Theaterliebhaberin und Schauspielerbeschreiberin sondergleichen, ein wenig verschroben, seltsam herumschwebend. Ich komme drauf, weil wir gerade über die DDR reden, über das, was Menschen beieinander hält in Gesprächen und Gemeinsamkeiten. Es ist ein Brief vom Februar 1980, ich war gerade bei der Armee in Pasewalk. Ilse Galfert hielt mich auf dem Laufenden: „… Alex hat seine Schauspieler wieder mal überrascht. … Er ist bei der letzten Probe ,Sommernachtstraum‘ ruhelos als Ewiger Wanderer vor mir in der linken Parketthälfte herumspaziert, mir hat der ruhelose Regisseur als Zutat zu seiner Inszenierung Spaß gemacht!, immer hin und her, und ,die oben‘ hat er machen lassen. Nichts wurde aufgeschrieben (immer eine Irritation für die Spieler; weswegen ich mich mit meinem ominösen blauen Oktavheftchen auch immer möglichst weit nach hinten unterbringe), und es wurde nicht gewispert oder gar unterbrochen … Will noch sagen: Der Gesprächsgenuss scheint in unserer Zeit abgestorben, es gibt keine Offenheitslust, weil wir selber so wenig Berührungspunkte zu anderen Fakultäten haben, in diesem Zeitalter der Fernseh-Isolierzellen, für jedermann in jedermanns Wohnung. Seltsam aber, dass ich hier über unsere Zustände klage, und gleichzeitig erlebe, wenn wir Besuch bekommen von westdeutschen Theaterkollegen, dass sie noch ein halbes Jahr später in ihren Briefen jubeln über den Gesprächsreichtum, den sie angeblich hier bei uns erlebten, über die Intensität und Ausschließlichkeit, mit der wir angeblich Wesenskerne kauen und knacken. Während sie 256


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von sich selber sagen, ihr Leben würde sie herumschleudern wie eine Zentrifuge, in all diesen Zwängen, ,am Ball zu bleiben‘, lauter Kurz-Zeit-Produktionen durchzustemmen, ihr ,gesellschaftliches Flair‘ nicht zu vernachlässigen usw.“ Ich möchte noch mal auf die Provinz kommen. Kunst, das ist: groß aufspielen für die Geringfügigkeit, der wir nicht entrinnen. Ja. Übersetzt auf meine Sparte: Welttheater kann nur entstehen, wenn man sich zum Stadttheater bekennt. Zum konkreten Wirkungsort. Das betrifft den gesamten Betrieb. Weil wir Benno Besson erwähnten: Ein Theater, das nur an den Abenden lebte, zu den Vorstellungen, das war für ihn ein unerträglicher Zustand. Ein Kultur-Haus, das so viele Stunden am Tag in einen unnatürlichen Stillstand versetzt und leer bleibt, das peinigte ihn geradezu körperlich, ich weiß das von ihm. Er hat darunter gelitten. Er hat das an der Volksbühne nicht ändern können, die Strukturen waren und sind fest, aber es ist schon ein wichtiger Schritt, diesen Widerspruch zu fühlen, also nicht gleichgültig zu werden. Die Tage und Nächte der besetzten Volksbühne, als Chris Dercon dort eingezogen war, im Frühjahr 2018 – erinnert Sie das an diesen Widerspruch? Ja, und es bahnt sich ein Bewusstsein an, das im wahrsten Sinne des Wortes neue Öffnungs-Zeiten für Kunst und Kultur in so einer Stadt wie Berlin bedenkt. Noch weiß niemand was Genaues, na und? „Undeutlich treten neue Sterne ins Haus“, hat Brecht geschrieben. Das war die Stärke der Protestanten: Sie haben die Kirchen geöffnet, man kann hineingehen, aus der Welt draußen hinein in eine andere Welt. Adolf Dresen schrieb 2000: „Die Chance des Stadttheaters liegt allein in der Region. Stadttheater ist Lokalthe257


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ater. Aber unsere Theater rekrutieren sich nicht mehr aus der Region. Ihr Ziel ist die überregionale Presse und das Theatertreffen. Es gibt heute so etwas wie einen universalen Provinzialismus, die eingeebnete Universalität des überall Gleichen. Sie prägt die Architektur unserer Städte ebenso wie die Hotels in diesen Städten – sie passt überall, weil sie nirgends passt, sie meint anscheinend alle und betrifft niemanden. Auch die Leute auf der Straße sehen sich in Berlin, Sydney oder Boston inzwischen immer ähnlicher. Und die Regisseure und ihre Stars reisen von Großtheater zu Großtheater und prägen die Hochkultur der Austauschbarkeit.“ Weil er das irgendwann nicht mehr fand, verließ Dresen das Schauspiel und ging in die Oper. Adolf verzweifelte an dieser DDR, aber seine Gabe für den großen Blick gab ihm die Ruhe zurück. Er dachte in großen geschichtlichen Räumen, daher gab es für ihn keinen Zweifel daran, dass auch die DDR untergehen würde. Alles nur eine Frage des Zeitpunktes. In einem Essay hat er mal behauptet, Ameisen könnten sogar den Mont Blanc abtragen. Das zu begreifen, dafür fehle uns einfach nur das Entscheidende: die Geduld. Er war ein leidenschaftlicher Sterngucker. Er blickte zu den Sternen, als flöge er hin. Und von den Sternen, die mit seinem Fernrohr beobachtete, guckte er sozusagen zurück auf diese kleine, piefige Welt. Er hielt viele Dinge nicht aus und hielt zugleich Abstand. Wie war er als Regisseur? Er redete – unaufhörlich und sehr beschwörend. Und bezauberte durch Geist! Aber er spielte bei den Proben nicht vor, im Gegensatz zu Alex, der sich überall hinwarf und anstaltsreif herumsprang. Allerdings kam auch Dresen, redend, ständig auf die Bühne. Ständig! Bei der Generalprobe zu O’Caseys „Ein Pfund abheben“ in der Kammer – 258


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der Saal war voll – stoppte Dieter Franke nach einer Viertelstunde abrupt im Text und wandte sich in gespielter Verunsicherung an Ernst Kahler: „Du, sag mal, da stimmt doch was nicht – hier war doch sonst immer noch ein Dritter!?“ Mit Dresen waren zwei Fassungen des „Clavigo“ verbunden, 1971 und 1972. Sie spielten den Beaumarchais. Die erste Fassung wurde sofort wieder abgesetzt. Die blumenbunten Tapetenwände und geblümten Kostüme wurden vom Intendanten Perten als dekadent bezeichnet, als Hingabe an westliche Moden. Die zweite Fassung war dann sehr streng schwarz-weiß, beide Versionen zu zeigen, wurde abgelehnt. Achim Freyer war fassungslos und tief verzweifelt. Perten sprach vom Sieg des Spießertums über die Arbeiterklasse. Freyer verließ dann die DDR. Wir waren auf Tournee in Italien, er bat kurz vor der Rückreise einen Kollegen, seinen Koffer mit nach Rom zu nehmen, er selber, als Kunstliebhaber, wolle schnell noch einen Abstecher nach Florenz machen und käme dann nach. Der Koffer war schwer, sehr schwer. Als wir losflogen, fehlte Freyer – im Koffer befanden sich mehrere italienische Telefonbücher. Als wir zurück in Berlin waren, meldete sich Achim aus Paris. Rolf Michaelis kommentiert im Dezember 1971 in der FAZ: „In Achim Freyers wunderschönen Kabinetten ist eine exzentrische Aufführung zu sehen, die der hitzigen Künstlichkeit dieses erotischen Schachspiels nahekommt, indem sie die Distanz zu unserer Zeit betont.“ Im Februar 1972 heißt es an gleicher Stelle über die von Intendant Perten betriebene Revision: „Die auf einen Ton hoher Künstlichkeit stilisierte Aufführung, vom Premierenpublikum mit einem Protestschrei und demonstrativem Beifall aufgenommen, fand nicht die Gnade der Kulturfunktionäre der Partei … Die Kulturbürokratie 259


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muss eine Aufführung fürchten, die den Schulbuch-Konflikt von Einzelnem und Gesellschaft schicksalhaft vertieft.“ – Perten war offenkundig nicht Intendant, sondern Kommissar. Der bestellte einen nicht zwölf Uhr dreißig zu sich ins Büro, sondern zwölf Uhr sechsunddreißig. Solter, Lang, Arbeiten mit Erforth/Stillmark, Heinz, Dresen – am Deutschen Theater der DDR-Endzeit und des Übergangs in den Westen wurde Thomas Langhoff der für Sie entscheidende Regisseur. Sie gehörten zu denen, die seine Intendanz, nach der Zeit von Dieter Mann, begrüßten. Nennen Sie das kitschig oder sentimental, aber ich war Thomas Langhoff auch zugetan, weil ich auf diese Weise Verbindung aufnahm zu Wolfgang Langhoff. Oh, Metaphysik! Metaphysik, von mir aus. Man könnte auch Tuchfühlung sagen. Zeitgenossenschaft mit einem Geist, über die Zeiten hinweg. Wolfgang Langhoff: „Die Moorsoldaten“ – an so was denken zu dürfen, wenn man mit dem Sohn zusammenarbeitet … Ja, Sentimentalität. Bravo! Gut erkannt! Ich bestehe darauf! Mir ist diese Nähe, und sei sie noch so eingebildet gewesen, in den Kopf gestiegen, und sie hat den Kopf in Bewegung versetzt. Wolfgang Langhoff, der das Deutsche Theater siebzehn Jahre geleitet hat und der vom Bürger zum Kommunisten geworden war, am Vorabend zu Hitler – ich sah in der Intendanz seines Sohnes einen Kreis, der sich schloss. Ich hatte, wenn ich dem Thomas nah war, das Gefühl, ich war dem Wesen des 20. Jahrhunderts nah. Das Wesen des 20. Jahrhunderts waren die Extreme. Allgemein gedacht, ja. Konkret gefühlt, waren es für mich 260


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Menschen, die auf der wirklich richtigen Seite lebten. Und dafür was wagten. Die nicht unbehelligt davonkommen wollten. Die mit Konsequenz Entscheidungen trafen. Es ist eine einmalige Bilanz: Wolfgang Langhoff, der siebzehn Jahre Intendant war, bis 1963, und der Sohn Thomas, der von 1991 an zehn Spielzeiten verantwortet hat – beide brachten es gemeinsam auf ein Konto von siebenundzwanzig Jahren Leitung am gleichen Haus. Thomas hat es oft erzählt: Nach Absetzung der Hacks-Inszenierung „Die Sorgen und die Macht“, in den Sechzigern, hatte Wolfgang Langhoff seine Familie darauf vorbereitet, dass er möglicherweise von heute auf morgen Kulturhausleiter in Stalinstadt oder sonst wo werden würde. Ein Jahr vor seinem Tod war der Regisseur Ehrenmitglied des Deutschen Theaters geworden. In seiner Rede dankt er den Kollegen, macht eine kleine Pause, als dächte er noch einmal an die erlittene Demütigung durch die eigenen Genossen, und fährt dann fort: „… danke ich meiner Partei und meiner Regierung aus tiefstem Herzen.“ Erschütternd. In jeder Hinsicht. Wolfgang Langhoff war es übrigens, der dem ästhetischen Antipoden Brecht nach dem Zweiten Weltkrieg die erste künstlerische Heimat für dessen „Berliner Ensemble“ bot. Das war Solidarität, aber auch Überwindung, also Größe. Das war Willkommenskultur! Im reinsten Sinne des inzwischen schon ziemlich verbrauchten Wortes. Das Thomas-Langhoff-Jahrzehnt nach 1990: Was sich mit dieser Intendanz zunächst friedlich, künstlerisch ergiebig gestaltete, es geriet absehbar in die wirbligen Wetter kulturpolitischer Auskühlung und marktsüchtiger Entflechtungen. Vom beschworenen Gemeinsinn der Truppe blieb das Tempo, mit dem man diesen Sinn aufkündigte. 261


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Da mitten drin ein tapfer flatternder Intendant, der irgendwann Mühe hatte, Fronten zu überblicken und hinter der Wirklichkeit die Wahrheit zu sehen: Auch das Schongebiet Deutsches Theater war ziemlich schnell Jagdgebiet geworden. Beteiligte spüren immer zu spät, dass ihre Zeit überschritten ist. Vom Maxim Gorki Theater kommend, wurde 2001 Bernd Wilms Intendant in der Schumannstraße. Ein Amtsantritt im Meinungsgestöber, das vor allem Misstrauen aufwirbelt. Das Vereinfachungsraster meldet: Ost gegen West. Der Trutz der Tradition gebiert und kultiviert wieder mal eine seltsame Furcht vorm drohenden Trödelladen. Aber am Ende von Wilms’ Intendanz wird es heißen, er habe das DT wieder „ensemblefest und teamgeistfähig gemacht“ (Christoph Müller). In der Zeit von Bernd Wilms formte sich eine der eigenwilligsten, stärksten und wirkungsmächtigsten Ballungen von Regie-Handschriften: Barbara Frey, Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff und Michael Thalheimer. Wieder eine Ära hochklassiger Schauspieler. Wilms war ein sehr erfolgreicher Intendant, aber er wurde es, indem er bohrende Zweifel, heftige Zickigkeiten, scharfe Zerwürfnisse, mediale Zumutungen, interne Zerreißproben bewundernswürdig gelassen, nach außen hin geradezu ungerührt, aber doch immer auf der Kippe – überstand. Nicht nur überstand: meisterte. Aber begonnen hat es damit, dass ein Berliner Kulturpolitiker grob unhöflich von einer „Laubenpieperlösung“ sprach. Waren Sie damals auch schon der Ansicht, diese Bezeichnung sei „grob unhöflich“? Nein, nicht gesagt, nicht gedacht – zunächst hielt ich das ebenfalls für eine Laubenpieperlösung. Ich war über262


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zeugt, dass Thomas Langhoff in seiner Amtszeit das Richtige gemacht hatte und nun sehr rüpelig abserviert wurde: Er versöhnte, er befriedete, mit allen Kräften seiner Spielerund Charmenatur. Haben Sie mal gesehen, wie Thomas beim Premierenapplaus auf die Bühne trat? Er lächelte nicht, er siegte. Er kam aus der Kulisse, als stünde auf der Bühne, extra für ihn, eine Showtreppe. Er freute sich, er freute sich gern, und gegen diese Freude hatte kein ,Buh‘ aus dem Publikum je eine Chance. Das war sein Charakter, sein Gemüt. Auch als Intendant. Er glaubte, man könne Konflikte bezirzen. Er konnte es. Was die Konflikte ja nicht wirklich löst. Mit Abgründen flirtete er. Er war ein Impressionist. Ich weiß noch: Er zitierte und beschwor auf Proben zum „Lear“ am Deutschen Theater wochenlang Peter Brook, der immer wieder gern den Mythos Shakespeare übergroß aufbaue, um dann zu begründen, dass man ihn, spielend, nur zipfelweise „ergreifen“ könne. Der Zipfel, den Langhoff griff, glich meist den Ecken einer Tischdecke im Wohnzimmer oder einem Bettlaken im Schlafzimmer; er führte auch Shakespeare auf die Urzelle allen Glücks und Unglücks zurück, auf die Familie. Vater, Kinder, böse Onkels, blöde Tanten, debile Großväter, verfeindete Brüder. Was will man mehr, um Menschheit zu erklären; private Daten als Codes für die Kriege der Welt. Klingt immer schlüssig. Ist auch schlüssig – aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Weiß man immer hinterher. Abgründe, Frontlinien. Die einen am Deutschen Theater konnten nicht aufhören, gegen vermeintliche westliche Besatzer zu kämpfen, und andere, aus dem Westen, verströmten gewollt oder ungewollt den Eindruck, sie müssten siegen – und sei es mit einer ausgesuchten Freundlichkeit. Die aber auch nur herablassend wirkte. Thomas Langhoff holte Botho Strauß in den Spielplan, Michael 263


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Eberth in die Dramaturgie, Ignaz Kirchner ins Ensemble. So viel Euphorie von einigen: rasch in den Osten, rasch ins Abenteuer! Warum gingen einige wieder weg? Sie gingen wieder, weil sie merkten, dass es an unserem Hause genauso kompliziert zugeht wie überall. Ignaz Kirchner, ein Schauspieler, mit dem ich mich sehr gut verstand, er ging zum Beispiel wieder weg, weil ihn die Specki-Tonne in der Kantine des Deutschen Theaters störte. Das war ihm zu unästhetisch. Ach, Ignaz. Das Ende der deutschen Teilung. Und schon begann man, erneut gegeneinander auszuteilen. Man kam sich näher, und es schien, auch nur wieder auf Schussweite. Die Situation damals, jetzt mal herausgenommen von unserem Theater und hochgerechnet auf die Gesellschaft: Man hat sich am Osten vielfach freigemäkelt. Auf dem neuen Markt haben auch Dümmste aus dem Westen ihre Chance, nicht immer nur dumm zu erscheinen, blitzschnell beim Schopfe gepackt. War nicht so schlimm. Schlimm war, dass sie dachten, wir im Osten merken das nicht. Diese offen verschlossene oder verschlossen offene Höflichkeit. An der perlte alles ab. Nach dem Ende der DDR haben Sie auch am Westberliner Schiller Theater gespielt. Wie erlebten Sie das Mitgefühl, als 1993 die Schließung beschlossen wurde? Viel Solidarität gab es nicht. Castorf war da, Flimm, Schleef. Jeder war froh, dass es ihn selber nicht getroffen hatte. So ist unsere Sparte: nicht besser als die Welt, wie sie ist, und sie ist so, wie sie ist, weil alle Angst haben. Auf allen Bühnen gespielter Kampf und Opfermut für das Gute, Wahre, Schöne – hinter den Kulissen das Elend der realen Verhältnisse. Die Leitung des Schiller Theaters – Alexander Lang, Alfred Kirchner, Volkmar Clauß– hatte sich nicht gerade als Erfolgstrio offenbart. 264


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Man bemerkte im Haus ziemlich schnell, dass die drei sich wenig zu sagen hatten. Das zerrieb die Fundamente des Vertrauens, das untergrub die Atmosphäre. Die Zimmer der drei waren auf zwei Etagen verteilt. Um Nähe zu simulieren, durchbrach man die Decke und baute eine Wendeltreppe. Von da an wurde oben und unten nur geflüstert. Das sagte alles über die Stimmung. Aber das hatte nichts mit der Qualität der Inszenierungen zu tun. Die konnten mit dem Angebot der anderen Berliner Theater sehr wohl mithalten und waren überhaupt kein Grund, die Bühne zu schließen. Kürzlich las ich in einem US-Magazin eine Art Liebeserklärung von Robert Wilson an Schauspieler. Auf den ersten Blick wundert das, weil man sein Theater eher als einen Zauberzirkus der Zeichen sieht. Er nennt auch – Christian Grashof. Sie waren am Deutschen Theater sein Caligari. Das Theater arbeitet gewöhnlich mit Ursachen, um einen Effekt zu erreichen. Wilson fängt auf den Proben gleich mit dem Effekt an. Also: Dort ist ein Tisch, du hältst ein Glas in der Hand, stell es auf den Tisch – das Ganze muss unbedingt sieben Sekunden dauern. Warum? Weiß keiner. Ist aber das präzise Maß für eine Atmosphäre, die ihren eigenen Wert hat. Nicht gerade ein Mitteilungswert, aber seit wann wäre denn Mitteilung das Wichtigste an der Poesie? Es kann eine Kunst sein, Zusammenhänge aufzukündigen. Wilson ist kein Aufklärer, aber er liebt das Licht. Er betritt die Probebühne, er bringt sich im wahrsten Sinn des Wortes in den Raum ein. Kommt rein und sagt lange nichts. Er schafft sofort Ordnung mit Blicken. Keiner wagt es, diese Blicke mit seiner blöden Umhängetasche oder seinem Rucksack zu verstellen. Das hat sofort was Spirituelles. Aber nichts Sektenhaftes. Ruhe kehrt ein, Spannung. Wenn geprobt wird, ist sein Assistent der Einzige, der Geräusche machen darf. Zu hören ist nur der Bleistift 265


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auf dem Papier oder der Bleistiftspitzer. Er sagt „Geh dahin“ oder „Geh nach vorn“ oder „Tritt zurück“ – auf Englisch. Manchmal dachte ich: Meyerhold und Stanislawski in einer Methode zusammengefügt. Einmal hat er mir über zehn Minuten lang vorgespielt, ich sah zu und dachte nur immer, ziemlich aufgeregt: Verdammt, wie soll ich mir das alles merken. Diese Befürchtung behinderte natürlich, die Szene offen wahrzunehmen. Nach fünf Minuten schwirrte mir der Kopf. Am Ende wusste ich nur noch, wie er gekommen war, dass er sich etwa in der Mitte der Zeit leicht gedreht hatte, und wie er abtrat. Das wiederholte ich. „Genau so“, sagte Wilson, und alles war gut. Bei ihm geht die Idee vom Bild aus. Rätselbilder. Bilderrätsel. Sein erstes Theater war ein therapeutisches mit hirnverletzten Kindern. Einmal ist er mit knapp 500 Darstellern sieben Tage lang durch die persische Wüste gezogen. Man muss schon sagen, dass Ihnen die Regisseure des Extremen stets sehr gelegen kamen. Dimiter Gotscheff ist zu nennen, auch Jürgen Gosch. Gotscheff hatte zu Anfang der sechziger Jahre Tiermedizin studiert, von einer Freundin wurde er mitgenommen in den „Frieden“ von Benno Besson und sprach später vom „Urknall“ seines Lebens – die halbe Nacht hielt er auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters aus, bis Besson endlich herauskam. Er ließ sich nicht abwimmeln, war bei den Proben zum „Drachen“ dabei, blieb ein Besson-Treuer. Besson kam von Brecht her, war aber nicht an ihm gescheitert, wie es oft hieß, von den Neidern, sondern hatte es geschafft, dessen Theorien als sehr eigenes Material zu benutzen, das die Erlaubnis-Grenzen am Berliner En266


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semble sprengte. Seine Inszenierungen waren unglaublich schön, hatten manchmal auch etwas Äußerliches, aber sie waren sehr scharf gezeichnet. Das hat Mitko, glaube ich, gefallen, obwohl es vielleicht wirklich das Gegenteil von seiner Theaterauffassung war, eine ganz andere Ästhetik. Er hatte große Scheu vorm DT, eigentlich haben wir Schauspieler … Vor allem Margit Bendokat und Sie. … wir haben ihn aufgetaut, ja. Kennengelernt habe ich Mitko schon in den frühen Siebzigern. Ich war aus KarlMarx-Stadt nach Berlin gekommen, er lebte schon länger hier, hatte bei Ernst Schumacher an der Humboldt-Universität studiert und war Assistent an der Volksbühne. Neben ihm gab es noch ein paar andere junge Bulgaren in den Berliner Theaterkantinen. Wenn man in jenen Jahren aus einem anderen sozialistischen Land in die DDR gekommen war, konnte man schnell in Verdacht geraten. Niemand, dachten wir damals, kommt freiwillig hierher. Also lag die Frage nahe: Warum sind die eigentlich hier? Was machen die? In Mitkos Fall hatte sich das dann schnell erledigt. Sie sprachen eben von der „ganz anderen Ästhetik“ Gotscheffs. Bei Mitko ging es um eine Art inneren Vulkanausbruch der Figuren. Sie haben das in einem Text für ein Arbeitsbuch bei „Theater der Zeit“ beschrieben: Schweiß und Bauch im besten Sinne, das ist es, was Mitko treibt. Etwas muss doch da sein, etwas, das unmittelbar mit dem Körper und der Existenz zu tun hat: Danach sucht er in den Texten. Was ihn weniger interessiert, ist ein Pragmatismus im Sinne von: Wie könnte man die Szene bauen, wie müssten die Über267


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gänge aussehen und so weiter. Mitko lässt sich immer wieder davon überraschen, dass etwas Archaisches geschieht. Das ist es, was ihn von anderen Regisseuren unterscheidet. Speziell Heiners Texte sind bei Mitko sehr gut aufgehoben. Vielleicht auch, weil er kein Muttersprachler ist. Bei Heiner geht es darum, dass man die Bildhaftigkeit der Sprache trifft und nicht, wie es deutschen Regisseuren – und Schauspielern! – vielleicht zu schnell passiert, dass man den Sinn der Texte auch noch darstellen will. Dann ist man verloren. Man muss den Gedanken finden. Den dann ohne Aufputz sagen. Und Mitko weiß das. Nachdem Mitko die DDR Ende der Siebziger verlassen hatte, habe ich ihn erst 1996 wiedergesehen. Leander Haußmann inszenierte in Salzburg ,Sommernachtstraum‘ mit Almut Zilcher und mir. Dabei tauchte Mitko auf. Als er dann nach Berlin kam, ging’s ihm, glaube ich, eine Zeit lang beruflich nicht so gut. Die erste Arbeit, die er am Deutschen Theater machte, war 2003 ,Tod eines Handlungsreisenden‘. Er kannte noch viele Leute und wusste, was hier los gewesen war, und natürlich gab es einige, die meinten, früher sei alles besser gewesen. Diese Haltung hatte Mitko überhaupt nicht. Das war eine schöne Begegnung. Wir haben dann noch ,Germania‘ und ,Geschichten aus dem Wiener Wald‘ zusammen gemacht, und dabei sind wir irgendwie auseinandergeflogen, so wie zwei Leute mit Bauch auseinanderfliegen können. Was prägte denn Gotscheffs Regie? Kraft, düstere Sinnlichkeit. Alles hatte und behielt bei Mitko ein Geheimnis. Du hast bei ihm gespürt: Was immer wir machen, es muss weht tun, es muss ans Eingemachte gehen, das stets dunkler ist, als wir uns eingestehen wollen. Du hast richtig drauf gewartet, dass die Verzweiflung kam. Er konnte herrlich verzweifelt sein. Er sagte dann immer: Da ist ein Loch. Oder: Ich komm da nicht rein. 268


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Oder: Eine Sache sei extenziell – existenziell, das Wort war ihm zu zungenbrecherisch. Er hat nicht gebastelt, wenn er arbeitete. Er hat geschwiegen und gebrummt. Er konnte nicht leiden, wenn Schauspieler mit gelerntem Text zur Probe kamen. Brecht mochte das auch nicht, er wollte dabei sein, wenn Schauspieler zum ersten Mal einen Satz deuten. Mitko gehörte natürlich zu den Charismatikern, die magisch auf Adepten wirken. Das gab es ja bei Heiner Müller auch, diesen Schwarm, der sich sofort ranhängt und den ich absolut nicht ausstehen kann. Ich hab’s Mitko auch gesagt: dass ich eine Pause brauche. Er hat das nicht verstanden, ich glaub, er war ein bisschen beleidigt. Aber Sie hatten doch schon diese Kommunen-Erfahrung – durch Alexander Lang. Wenn so ein intensives Erlebnis vorliegt, wie bei mir das Erlebnis mit Alex, dann braucht man das später nicht mehr, da stellst du bei dir eine gewisse Verschlossenheit fest – als wehre sich deine Erinnerung gegen die Gefahr, beschädigt zu werden. Mitko blieb undurchdringlich. Auch die Arbeit blieb lange undurchdringlich, aber es gibt eine Unsicherheit, die schmiedet zusammen, das stimmt schon. Allerdings gehört zur Unsicherheit, dass man ihr auch mal wieder entkommen will. So war das bei mir, ich musste nach gewisser Zeit heraustreten aus dem Kreis. Ich glaube, damit habe ich Mitko enttäuscht. Oder, um es mal abgekürzt zu sagen: Ich konnte nicht mehr so lange saufen. Versunkenheit in der Arbeit, umgeben von etwas Mystischem, das entwickelt ganz automatisch Selbstdarstellungskräfte, die zwischen den Proben schnell überhandnehmen. Das ist nichts für mich, damit kann ich nicht umgehen, ich fürchte unlauteres Getue, das auf mich über-schwappt, dann gehe ich lieber. In so einer Groupie-Atmosphäre kann ich eine Zeitlang den Mund halten, ich entwickle Energie und Ausdauer, um eine Lücke für mich zu suchen und zu finden. 269


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Aber irgendwann ist Schluss, und ich kapituliere. Als Sie bei Jürgen Goschs Inszenierung „Die Möwe“ mitspielten, wussten Sie um den Gesundheitszustand des Regisseurs. Krebs. 2009 starb Gosch. Ein bedrückendes Thema. Jürgen hat, wie es um ihn stand, nicht weggedrückt. Er lebte mit seiner Krankheit, aber er schaffte es auf eine wirklich große Art, dass wir uns nicht bedrängt, bedrückt fühlten. Er zwang uns nicht zu unnatürlichen Reaktionen. Du weißt angesichts eines todkranken Menschen nie, wie du dich richtig verhältst. Wir sind für solche Situationen nicht gemacht. Das klingt jetzt makaber, aber es gibt offenbar nicht nur eine Lebenskunst, sondern auch eine Sterbenskunst: Bei Jürgens Proben geschah nichts, was uns unangenehm gewesen wäre. Er selber sorgte dafür, dass wir uns nicht gehemmt verhielten. Er lebte im Hospiz und wurde mit dem Krankenwagen zur Probe ins Theater gefahren, man trug ihn herein, er lag dann auf seinem Sofa, für das im Saal die Sessel der 8. und 9. Reihe herausgenommen wurden, und wir arbeiteten. Er nahm Fürsorge an, wenn sie darin bestand, ihm eine Flasche Wasser zu reichen. Alles andere lehnte er ab, aber in einer staunenswerten Sicherheit, er wusste, was er sich zumuten durfte, ohne dass wir den Pflegefall sahen oder irgendetwas peinlich wurde. Kurz gesagt: Die Proben wurden zu keiner beschreibenswerten Geschichte – Jürgen Gosch und der Krebs. Seinen eigenartig leisen, sanften, trockenen Zynismus behielt er bis zum Schluss, ein zerbrechlicher Mensch, der sich an den entscheidenden Punkten verbarg. Wie immer? Eigentlich ja. Er hatte etwas Magisches, er brachte Leute zusammen ohne jeden Anmerkungsapparat. Jürgen war nicht interessiert an jenen Einzelsensationen, zu denen 270


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ja jeder versierte Schauspieler fähig ist. Arabesken ließ er nicht zu. Und er gestattete sich selbst keine Zugeständnisse. Er jagte dem Erfolg nicht hinterher. Er hatte mit Lust verlernt, die Dinge zu durchschauen; er mied, was ihn eines Besseren belehrte – er war mit ganzer Kraft, ja, ein scheues Wesen. Auch er bestand darauf, wie Mitko, ein Verunsicherter zu sein. Also weise, also einsam, also traurig, also ganz bei sich selbst. Jürgen wollte noch „Die Bacchen“ inszenieren, am Berliner Ensemble. Er wollte, dass ich mitspiele. Ich fuhr ihn im Auto zu einer Bauprobe. Bei dieser Fahrt gestand ich ihm, dass mir die Kraft fehlt. Ich fürchtete, ich würde gegenüber den neuen Kollegen immer der Übersetzer sein müssen – zwischen ihrer Verunsicherung, ihren Hemmungen und meinen Erfahrungen mit Jürgen am DT. Aber ich würde nicht wirklich erklären können, wie wir miteinander umgegangen waren. Ich hätte nicht erzählen wollen und können, wie es um ihn stand. Die Absage tat mir unendlich leid – und befreite mich. Zu dieser Inszenierung ist es nicht mehr gekommen. Mit „Onkel Wanja“ und „Die Möwe“ beschwor Gosch tiefste Trauer über sinnlos vergehendes Leben und schenkte Tschechows Figuren zugleich eine einzigartig entsagende Heiterkeit. Das Eingesponnensein von Menschen in eine eigene Welt innerster Aufrichtigkeit und unausweichlicher Verstörung machte das Ergreifende, Beklemmende, Wahrhaftige dieser Aufführungen aus. Große, tiefe Theaterglücksstunden! Ein Erneuerer, oft heftig bekämpft, hatte Herzen erobert; ein oft Beschmähter, als unverständlich Geltender hatte zu einer grandiosen Überlegenheit gefunden, in der Melancholie und Zuversicht aufgehoben waren. Er wirkte eine lange Zeit artifiziell und abgekapselt. Und dann brach plötzlich etwas auf, wunderbar. Aber gestritten haben wir uns auch. Ostschauspieler seien „bekloppt“, hat Jürgen Gosch eine Zeitlang gesagt, die wollten ständig 271


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die Welt verändern. Er dagegen wolle den Kunstgenuss. Später hat er sich nicht mehr so abwertend geäußert. Vielleicht war er so barsch, weil er mit seinem eigenen Leben nicht frei umgehen konnte. Seine DDR-Erfahrungen haben ihn empfindlich gemacht. Bauch, Kopf, Kopf, Bauch, Ost, West … Ich machte mir da nie Gedanken. Denn alle spielen wie ich – nur anders. Peter Zadek beschimpfte den Osten, dort spiele man blutleeres „Kopf- und Konzepttheater“. Wäre ich bei so einer Bemerkung anwesend gewesen, ich glaube, ich hätte die Fackel angebrannt. In der Schauspielerei gibt es nichts Fundamentiertes, und das Entscheidende ist nicht die Ästhetik, das Entscheidende ist der Umgang miteinander. Zadek wollte sich mit mir unterhalten, er war an einer Arbeit mit mir interessiert, er setzte das Gespräch ausgerechnet für einen Tag an, an dem ich eine Premiere hatte. Natürlich sagte ich ab, und natürlich habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Weil wir bei Regisseuren sind: Gibt es Erfahrungen mit Claus Peymann? Einmal spielte ich bei ihm, in Ravenhills „Freedom and Democrazy I hate you“ am Berliner Ensemble. Es war erfrischend – ich habe ihn sofort erkannt. Wie: erkannt? Ich habe sofort gemerkt, wie er denkt, wie er tickt. Er ließ klar sehen, was er meint: Nun geh oder bleib da! Allerdings war ich von den Schauspielern in dieser Inszenierung nicht derjenige, mit dem er jeden Satz durchgehen wollte oder musste, mein Urteil ist also sehr flüchtig, aber es gab von Anfang an kein Getue. Auch nicht diese Bedeutsamkeitsrituale, mit denen Leute einem weismachen wollen, wie klug sie sind.

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Christian Grashof, Ihr schauspielerisches Leben am Deutschen Theater ist ein sehr ausgefülltes gewesen, ein weit wirkendes, ein Maßstäbe setzendes. 2005 gab es Turbulenzen um den möglichen Intendanten Christoph Hein. Im Vakuum, das der Konflikt hinterließ, plötzlich Ihre Bewerbung: auch das noch! Alles lange her. Eine Momentregung, die etwas über ihre eruptiven Steuerungen erzählt. Aus dem Abstand der Jahre interessiert mich trotzdem noch, ob Sie damals über Gefahren des Sympathieverlustes nachdachten, über ein Hintergrundrauschen: Was bildet der sich denn ein?! Also: Verfluchen Sie manchmal Ihre Direktheit? Diese Bewerbung damals – natürlich hat sowas Nachwirkungen, auch unangenehme, du spürst Schwingungen, da ist Gift drin. Plötzlich gibt es Leute, die auffällig oder hinterrücks damit befasst sind, sich für deine Kompetenzen zuständig zu fühlen. Mein Gott, ich hab mich doch nicht aus Selbstsucht beworben. Ich suchte nach einem praktischen, praktikablen Ausdruck für meine Empörung, ich bin ein Mensch, dem’s überkocht, wenn die Temperaturen steigen. „Schwingungen, da ist Gift drin.“ Das klingt bitter … Nein. Da kann ich mein gesamtes Leben durchgehen: Verbitterung war und ist mir fremd. Weil Verbitterung nur gegen dich selbst schlägt. Ich will doch gern leben! Mit den anderen! Immer habe ich Nähe gesucht und sie zu halten versucht. Bei einem Konflikt einen Schnitt machen und damit Erpressungssignale aussenden, das war meine Sache nie. Ich habe nie von der Qualität der Zerwürfnisse gelebt. Wenn in mir sowas wie Hass aufkam, hab ich den immer ganz schnell weggeliebt. Ich mache meiner Direktheit keinen Vorwurf. Nur weil sie manchem zu wild vorkommt, mach ich kein Haustier draus. Wissen Sie was? Ich bekenne mich zum ausgewogenen Opportunismus. Ohne diesen Schuss Anpassungsfähigkeit gäbe 273


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es doch gar kein lebbares Leben. Und keinen Frieden. Meine Mutter hatte einen Instinkt für Frieden. Ich sage, das ist ein Tätigkeitswort. Ich hatte in manchen Dingen immer Selbstbewusstsein, aber ich war mir nie sicher, ob es gesund ist und ob es lange hält. Ich hatte meinen eigenen Kopf, aber ich benutzte ihn auch, um mich nach friedenschaffenden Optionen umzusehen. Wo ich Anpassung betrieb, habe ich das Gespräch mit meinem Gewissen trotzdem nie abgebrochen, und wir beide, mein Gewissen und ich, sind nie böse verfeindet aus einer Situation herausgegangen. Opportunismus … manche könnten Feigheit dazu sagen. Da kann ich nur mit den Schultern zucken: Sieh mal an, wie unterschiedlich doch ein Mensch gesehen werden kann.

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DAS HEU HING RAUS, ER WAR DER ALTE MEISTER. STIMMEN

Volker Pfüller Bernd Wilms Jürgen Flimm Ulrich Khuon Marcel Kohler


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Probe zu „Dantons Tod“, Deutsches Theater 1981 Beschwörung kniend: Alexander Lang


Stimmen

Volker Pfüller Der „Brandschutzverantwortliche“

Christian Grashof kannte ich schon vor unserer Zusammenarbeit am Deutschen Theater. In Karl-Marx-Stadt habe ich ihn als Ferdinand in „Kabale“, als Prinzen von Homburg und als Merkl-Franz in Horváths „Kasimir und Karoline“ bewundert, aber wir haben keinen persönlichen Kontakt gefunden. Er wirkte auf mich damals spröde, sehr solitär und schwer zugänglich. Doch manchmal hilft der Zufall. In mehreren Urlaubsaufenthalten an der Ostsee, am gleichen Ort, haben wir ihn und seine damalige Lebensgefährtin Brigitte Soubeyran durch die Vermittlung unseres Freundes Manfred Bofinger, einem Kommunikationstalent, dann näher kennengelernt. 1977 kauften wir drei Familien – Bofingers, Grashofs und Pfüllers – gemeinsam einen Bauernhof in der Uckermark, wo wir viele glückliche Sommer und Wochenenden zusammen verbracht haben. Nach wunderbarer Zusammenarbeit mit Adolf Dresen 1970 und 1973 habe ich 1977 das DT auch von seiner Schattenseite kennengelernt und hatte keine Lust mehr auf Theater. Doch 1979 fragte mich Alexander Lang, ob ich mit ihm zusammenarbeiten möchte. Ich kannte Alex damals schon mehrere Jahre, aber zu einem Arbeitskontakt (außer in einer Inszenierung von Adolf Dresen, in der er die Hauptrolle spielte) war es nie gekommen. So entstand „Der entfesselte Wotan“ von Ernst Toller als eine „side show“ im Foyer des DT. Chris spielte die Titelrolle. Die Proben (ich nahm an Proben sehr häufig teil, was ich bis heute tue) waren für mich abenteuerlich und verwirrend, ich hatte ein solch rasantes Arbeiten noch nie erlebt. Alex trieb viele szenische Einfälle so extrem auf die 277


Das Heu hing raus, es war der alte Meister.

Spitze, dass ich zweimal aus einer Probe lief und dachte: O Gott, kann man so Theater machen? Ich muss gestehen, mein Vertrauen zu Alex war damals nicht sehr groß, aber zu Chris hatte ich großes Vertrauen, denn der hatte ja bereits Erfahrung mit diesem Regisseur. Im Laufe der Produktion bin ich dann völlig überzeugt worden, die Inszenierung war sehr gelungen und für eine „side show“ sehr erfolgreich. Es war wunderbar, Alex und Chris beim Arbeiten zuzusehen. Chris hat mit großer Expressivität und Explosivität gespielt, es war mitreißend, auch für mich, mit meinem bescheidenen Bühnenbildbeitrag. Ein Gastspiel in Moskau mit „Wotan“ war ein Riesenerfolg. Ich erinnere mich noch, wie nach einer Vorstellung Chris sehr herzlich von Oleg Tabakow beglückwünscht wurde. In meinem Plakat zu „Wotan“ habe ich versucht, meinem Freund Chris ein Denkmal zu setzen. 1981 kam dann unser großer Knüller „Dantons Tod“. Die Proben und Produktionsvorbereitungen liefen sehr gut, die Zusammenarbeit mit Alex war sehr freundschaftlich und harmonisch, Auseinandersetzungen waren immer sehr förderlich für die gemeinsame Arbeit. Bis auf eine Ausnahme standen alle Schauspieler hinter Alex, ja, ich glaube, sie haben ihn sehr geliebt. Mein Bühnenbild wurde vom Team und später vom Publikum sehr gut aufgenommen. Das verdanke ich hauptsächlich unserem fabelhaften Beleuchtungsmeister Hilmar Koppe, denn das Licht hatte in „Danton“ eine riesige Bedeutung. Christian Grashofs Leistung in seiner Doppelrolle Danton/Robespierre wage ich hier gar nicht zu beschreiben, das haben andere bereits fachkundig getan. Es spielten ja auch noch andere Schauspieler Doppelrollen, alle diese Verwandlungen fanden auf der Bühne hinter der Dekoration statt, denn der Weg zur Maske oder Garderobe war zu weit. Es war wie ein Ameisenhaufen, alles 278


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musste lautlos geschehen, und Chris war ein Vorbild an Konzentration. Die von mir gestalteten ausrangierten Puppenköpfe standen während der Proben in meinem Atelier auf dem Fensterbrett und haben mich, wenn ich nachts bei Mondschein mein Atelier betrat, zu meinem Danton-Plakat inspiriert. 1983 kam dann „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“. Chris spielte den Pächter Callas als großartige Clownsnummer. Wir hatten für diese Produktion viel Zeit, da das DT umgebaut wurde. Die Proben waren sehr lustvoll und locker. Alex hat sehr offen probiert. Als ich mal meine Kinder nicht im Kindergarten unterbringen konnte und mit auf die Probe nahm, hat Chris sie mit auf die Szene genommen, sie durften mitspielen. Niemand hat das übel genommen, und die Jungs mit Pappnasen und Hüten mussten Chris Requisiten hinterhertragen und waren begeistert. Chris ist sehr kinderlieb, und auf unserem Bauernhof, wo wir ja wie eine große Familie lebten, war er meistens sehr fröhlich, hat für unsere Jungs, die die Jüngsten dort waren, aus alten Bauböcken zwei wundervolle Pferde gebastelt und damit mit ihnen gespielt. Er ist mit Kindern umgegangen, als wäre er selbst eins und hat sich auch mal mit ihnen um das größte Stück Kuchen gestritten. Er war sehr privat, wir haben nie über unsere gemeinsame Arbeit gesprochen, und er wollte keine Schauspieler auf unserem Hof haben. Aber wir haben viele alberne Szenen gespielt, Bofi war der Bürgermeister und Chris der „Brandschutzverantwortliche“ in einer gefundenen Feuerwehruniform. Es gab sogar Fahnenappelle von großer Komik. Alex hat uns misstraut und glaubte an eine Komplizenschaft, an Absprachen hinter seinem Rücken. Das war nie der Fall, aber damit konnten wir ihn damals necken. „R+S“, wie wir unser Brecht-Stück als Arbeitstitel nannten, wurde sehr anders als alle sonst üblichen Brecht-In279


Das Heu hing raus, es war der alte Meister.

szenierungen. Vor allem viel düsterer, keine gleichmäßig helle Brechtbühne, da klangen die Texte schon mal ganz neu. Unsere Interpretation war sehr reich an Theatermitteln, fast zu reich. Chris spielte seine Figur mit einer Unverschämtheit, die mir manchmal den Atem verschlug. Nach Danton/Robespierre eine riesige komische Überraschung, ganz groß. Ich las gerade in einem Text, Grashof habe den Callas als klassenbewussten Pächter gespielt. Das ist absolut lachhaft, mit Pappnase und Honeckerhütchen? Er war plebejisch, aber dabei gierig und skrupellos. Der in der ersten Szene von „R+S“ fallende Satz: „Der heutige Tag, der 11. September, wird in die Geschichte eingehen“, und die Figur des Iberin, ein dreister Populist, für den wir Dietrich Körner die Haare gelb färbten und der in Trump-Posen auftrat, ohne dass wir Trump kannten – das hat heute etwas Gespenstisches. 1984 kam „Gothland“ als Doppelpack mit „Iphigenie“. Chris als Gothland hatte für die Proben einen großen, weiten Mantel bekommen. Darüber war er anfangs nicht besonders glücklich, denn der Mantel war schwer zu handhaben, man musste ihn beim Rückwärtsgehen umlaufen, um nicht auf die ausladende Schleppe zu treten. Für die Aufführung konnten wir den Mantel dann aus leichtem Material machen. Chris hat die schauspielerischen Möglichkeiten dieses Kostüms sofort erkannt und gepackt. Imposant und arrogant hat sich sein Herzog Theodor von Gothland damit auf der Bühne viel Raum verschafft. Wer die Aufführung gesehen hat, wird die Auftritte mit dem wehenden großen, grünen Mantel nie vergessen. Die Inszenierung wirkte damals sehr aufregend und modern. Alex hat immer für bildhafte Arrangements gesorgt, hatte selbst viele optische Ideen, wir haben das erste Mal in der DDR mit Laser auf der Schauspielbühne gearbeitet, es war eine Lust. 280


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Dann kam die „Trilogie der Leidenschaft“: „Medea“, „Stella“, mit der „Totentanz“-Premiere 1986 wurde dieses Projekt vervollständigt. Ich wusste damals noch nicht, dass „Totentanz“ die letzte gemeinsame Arbeit von Alex, Chris und mir sein sollte; die Wirren dieser Zeit haben uns auseinandergerissen. Chris und Alex arbeiteten noch oft zusammen, auch Alex und ich, auch Chris und ich, aber unsere Dreiergruppe gab es nicht mehr. Auch unsere Großfamilie auf dem Bauernhof hat der Wende nicht getrotzt. Aber die Freundschaft zwischen Chris und mir ist wieder zu Kräften gekommen. Wir sind familiär eng verbunden, treffen uns nicht allzu oft, aber ich freue mich jedes Mal sehr. Volker Pfüller, 1939 in Leipzig geboren, ist Grafiker, Bühnenbildner und Hochschulprofessor. Von 1997 bis 2005 leitete er die Klasse für Illustration an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Bühnenbilder schuf er für das Deutsche Theater Berlin, die Münchner Kammerspiele, die Volksbühne Berlin, das Thalia Theater Hamburg.

Jürgen Flimm Zwischen den Schranken

Das glaubt einem heute keiner mehr, wirklich finstere Zeiten! Ein bisschen her ist es schon – aber doch unvergesslich. Da zogen sie eine böse Grenze mitten durch das schöne deutsche Vaterland, an der es krachte und knallte, Kilometer langes Mahnmal für den Hund, auf dem ein Volk gekommen war.

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Das Heu hing raus, es war der alte Meister.

Das Theater, die Oper, der Tanz, das war ein ziemlich letztes gemeinsames Gebilde, das die beiden deutschen Staaten schwesterlich und brüderlich verband – ein wenig arrogant sahen die beiden jeweiligen Gebiete aufeinander herab. Aber was soll’s. Am „Deutschen“ im Osten, hieß es im Westen, sei von einem Alexander Lang eine wirklich tolle Aufführung von „Dantons Tod“ zu sehen. Also nichts wie hin, wie so oft über diese dumme Grenze mit all ihren zwergenhaften Schikanen; oft genug musste ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehen – wahrscheinlich, weil ich alle Arbeiter und Bauern um ihre Existenz bringen wollte. Dummerhaftes Obrigkeitsgedöns mit Knarren und Spiegeln – tote Winkel gab es ja genug, und nicht nur an der bösen Grenze, sondern auch immer: drinnen. Das Kasperle-Theater setzte sich dann auf der Bühne fort: ein bisschen anders, aber in der Nachfolge von Benno Besson … weiße Gesichter, rote Bäckchen und ein fröhliches Körpertheater! Einer spielte dabei ganz vorne, den ich noch nie gesehen hatte. Der spielte beide: Danton und Robespierre, ein bisschen schizo, an der steilen Rampe. Er tanzte über die Bühne, spielte in ausgeklügelten Bewegungsabläufen, warf die Hände hoch in die Luft, schürzte seine Lippen und formte die unsterblichen Sätze des jungen Dichters aus Darmstadt, dass die Luft schier zu zittern schien. Ein kräftiger, dabei so schmächtiger Bursche, mitreißend, füllte die Bühne bis zum Rande. Wie heißt denn der? Ich linste ins Programm: Grashof! Welch dramatische Begabung! Einige Zeit später verließ der wunderbare Regisseur Jürgen Gosch, der Köln und das Hamburger Thalia Theater mit wunderbaren Aufführungen wie „Ödipus“, „Menschenfeind“, „Nachtasyl“, „Sommernachtstraum“, „Godot“, beglückt hatte, Hamburg und verschrieb sich – nicht für lange Zeit – der Schaubühne in Berlin. Der Hamburger In282


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tendant F. geriet in Not. Er redete mit diesem und jenem Kandidaten für diese Position, schließlich und endlich auch mit Alexander Lang, auf dessen Premierenfeier von „Don Carlos“ in München. Der wollte und kam also ans Thalia. Und am 17. September 1988 wurde die Spielzeit mit der deutschen Erstaufführung von „Rückkehr in die Wüste“ von Bernard-Marie Koltès in der Regie von Lang eröffnet. Und eine Hauptrolle, den Adrien, spielte der Doppelkünstler aus dem „Deutschen“, wie immer überzeugend: Herr Grashof! Er war seinem Freund Alex an die Elbe gefolgt. Und er ging nun, wie viele andere Ost-Künstler auch, auf die Wanderung zwischen den beiden deutschen Ländern, schloss sogar mit unserem Thalia einen westdeutschen Vertrag ab. In ebendieser Spielzeit gab er noch den gelangweilten Ivanovic in „Platonov“ von Anton Tschechow. Alle mochten diesen Ossi: Er passte perfekt in unser illustres Ensemble mit dem unübertrefflichen Hans Christian Rudolph in der Titelpartie! Ein toller Kollege, dieser Chris! Am 18. November 1989 präsentierten wir das Stück der Stunde: Wilfried Minks inszenierte „Besucher“ von Botho Strauß. Grashof spielte, was wunder, den Besucher aus dem Osten, Maximilian Steinberg. Sein Widerpart war der ehrwürdige Will Quadflieg. Welches Paar, diese beiden großartigen Theaterkünstler! Nun war bei uns im Thalia, zumindest in meinen Produktionen, ein geübter guter Brauch, dass der Regisseur – je näher der gefürchtete Termin der Premiere kam, an dem die wochenlange Proberei das Licht der Bühne erblicken sollte – sich immer mehr zurückzog mit seinen schlauen oder naseweisen Spinnereien, und den Schauspielern das Feld überließ. Ich war ja stets voller Vertrauen, dass sich die Sache dann in die richtige Richtung schieben würde, was auch zumeist wie natürlich passierte: Jetzt sollten 283


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sie „spielen, dass das Heu raushängt“, das war die Devise. Mitten in diesem scheinbar chaotischen Gedränge und Geschiebe stand nun unser Freund Chris und staunte, was da auf einmal abging. Als ihm von unserer schwäbischen Duse Elisabeth Schwarz methodische Aufklärung zuteil wurde: „Hajo Chris, jetzt sind wir dran“, da besann er sich und packte seinen wohl zu rasch gepackten Mimenkoffer wieder aus. Premiere – und doch kein abschließendes Resultat. Alles ging immer weiter und wurde schöner. Das waren die Freiheit des Spiels und das schwerelose Leben und die fröhlichen Begegnungen. Alles auf unseren geliebten Brettern, und von allen: Applaus! Seit Jahren wollte ich, ein wahrer Büchnerianer, den „Woyzeck“ aufführen. Mein Danton war in Hamburg HansMichael Rehberg, mein Leonce und Lenz Hans Kremer. Nun hatte ich den Woyzeck endlich gefunden: Chris Grashof als der arme Hund, grundanständig und arbeitsam, so dass er noch im „Himmel donnern hülfe …“ Seine Halluzinationen, vom übermäßigen Genuss von Hülsenfrüchten hervorgerufen, zeigen seine tief empfundenen Gefühle für seinen ausweglosen Weg. Aber diese Pläne, ja mach nur einen Plan! (manchmal hat Brecht auch recht), wurden durch ein durchaus historisches Ereignis von Grund auf durcheinandergewirbelt: Die Arbeiter und Bauern hatten sich ihrer bösen Mauer entledigt, der ostdeutsche Staat ging ganz simpel, wie so manch kapitalistischer Betrieb, bankrott, pleite. Endgültige Niederlage des realen Sozialismus. Nun war Schluss auf dem Theater, mit all dem Geschwafel vom sozialen Gestus, mit den mageren Theorien der Genossen Wekwerth und Co., mit all dem Modellgetue des Dogmatikus Brecht, mit seinem weltabgewandten, ja sehr kleinen Organon – schon dieser Titel ist eine Art imperialistische Anmaßung – all das war nun vorbei, die große 284


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Kiste der Volkserziehung und verordneten Langeweile jetzt zugeklappt, mitsamt der tschilpenden Taube und ihrem vermaledeiten Ölzweig. Das Chaos war eben doch nicht aufgebraucht, die Propheten der Unordnung, der Aufsässigkeit, des Zynismus und der Dekonstruktion sollen hochleben: der West-End-Zadek und der Feldherr vom Rosa-Luxemburg-Hügel: Frank Castorf! Aber auch das pusselige Getue des westlichen Literatur- und Betroffenheitstheater gab langsam den Geist auf. Ruth Berghaus und Heiner Müller waren die Paten einer anderen Ästhetik. Ost und West rückten wieder einmal zusammen. Das Programm der Dekonstruktionen, der Befreiung von Literatur geriet zu einer raschen Bewegung. Mein Woyzeck folgte leider seinem Freund Alex. Lang eilte nach Berlin-West ans Schiller Theater, und ich stand da in Hamburg, mit Bühnenbild, Kostümen und Terminen. Doch kein Woyzeck nirgends. Der spielte den Faust. Ein berühmter Flop in Berlin-West. Auf der Berliner Unternehmung lag kein Segen, der Erfolg blieb aus; viele Querelen, Streitereien gab es zuhauf. Am Ende schloss der Senat das ruhmreiche Schiller Theater an der Bismarckstraße. Ein enormer Skandal, ein Kapitel finsterer Berliner Kulturpolitik, und nicht das letzte! Nach Jahren trafen Chris und ich uns wieder und sprachen über die verzwickten Zeitläufe, über Ost und West, über Kunst. Dann sah ich Chris endlich wieder, wie zu Beginn unserer Freundschaft, im Deutschen Theater, er spielte Pozzo in „Godot“! Wie er die beiden Wartenden an die Wand gejubelt hat, das war ganz großes Theater, und es war eine Freude, ihn – den Meister der Rasanz – sein Bretterreich mit Eile ausmessen zu sehen. Das Heu hing raus, er war der alte Meister, Solotänzer auf Spitze, ein Pirouetten-Dreher der alten Art. Ja, etwas ist ihm geblieben von dem schönen Rotbäckchen-Theater der ver285


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gangenen Zeiten. Und: Wir können immer noch trefflich miteinander disputieren, er, der Fuchtler, und ich, der Redenschwinger. Hat er eigentlich je den Woyzeck gespielt? Jürgen Flimm, 1941 in Gießen geboren, war von 1979 bis 1985 Intendant des Schauspielhauses Köln und von 1985 bis 2000 Intendant des Thalia Theaters Hamburg. Der Schauspiel- und Opernregisseur leitete die RuhrTriennale und die Salzburger Festspiele. Von 2010 bis 2018 war er Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden.

Bernd Wilms Der Wundermann Ein sehr besonderer Schauspieler, einer, der immer anders ist als die anderen, verrückt, skurril, traurig, kurios. Ein Gesicht, das immer anders ist als alle anderen, ein Dickkopf, ein Sonderling, ein Komiker, ein Melancholiker. Also kann ein Theater sich freuen, wenn es (so viele Jahre!) den Christian Grashof hat. Nie war der Kerl eine Last. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass so ein Überraschungskünstler einfach ein Profi ist, der tut, was der Probenplan verlangt – mit unerwartetem Ergebnis. Es hat hartnäckige Diskussionen gegeben, aber Streit gab es nie. Kurios. Man wundert sich. Er wollte nicht der Schwierige sein. Bernd Wilms, 1940 geboren in Solingen. Er war von 1986 bis 1991 Direktor der Otto-Falckenberg Schauspielschule in München, danach Intendant in Ulm. Ab 1994 leitete er das Berliner Maxim Gorki Theater, von 2001 bis 2008 war er Intendant des Deutschen Theaters Berlin.

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Ulrich Khuon Das verblüffende Zugleich

Im Frühjahr 2013 gibt es eine Verabredung mit Christian Grashof, ein Gespräch. Um seine Zusammenarbeit mit Dimiter Gotscheff soll es gehen, zu dessen 70. Geburtstag ein Buch geplant ist, bei Theater der Zeit. Was Chris während des Gesprächs über Mitko sagte, lässt sich an anderer Stelle nachlesen, Einzelheiten sind nicht mehr erinnerlich, das Gedächtnis. Nachhaltig im Kopf geblieben aber ist sein Gestus: abwägend und begeistert, kritisch und zugewandt, achtsam und offensiv. Jeder Gedanke eine Erinnerung und soeben entwickelt, jede Wendung durchgespielt und unvorhergesehen, jede Pointe überlegt und überraschend. Und das alles, so schien es damals und scheint es bis heute, im selben Moment. Wer das Glück hat, Christian Grashof auf diese Weise zu begegnen, oder wer ihn bei Proben erlebt, der bemerkt bald, dass er, wie könnte es anders sein, mit der Vergangenheit arbeitet: aus einem reichen Reservoir an Erfahrungen, Emotionen, Erlebnissen, Anekdoten schöpfen kann. Man bemerkt aber auch, dass das Gestern, so scheint es, keine Last für ihn ist, sondern ein Kapital, mit dem er dem Heute begegnet, neugierig im schönsten Sinne. Erfahrungshungrig. Geschichtsbewusst und gegenwartsversessen. Auch hier ein Zugleich, das ihn auszeichnet, und das sich nicht nach der einen oder anderen Seite auflösen lässt. Im Gegenteil beeindruckt es gerade dadurch, dass es mehr ist, sich nicht festlegen möchte, Zuschreibungen entkommt. Vielleicht liegt darin eines der Geheimnisse des Schauspielers Christian Grashof. Sein Pozzo in Ivan Panteleevs 287


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Inszenierung von „Warten auf Godot“ stellt Momente größter Souveränität unmittelbar neben kindhaftes Staunen, größte Zerbrechlichkeit kippt umstandslos in auftrumpfenden Gestus, in einer Staunen machenden Rasanz und Genauigkeit, die einem immer voraus ist. Bei seinen Arbeiten mit Alexander Lang, so stellt man es sich vor, wird Chris seinen Willen zur Form entwickelt haben, ohne die Existenzialität der Figuren zu verraten, und bei den Inszenierungen mit Jürgen Gosch seinen Willen zum Einfachen, Puren, ohne zu vergessen, dass auch darin eine Form liegt. Und wieder ein Zugleich, ein Mehr, das einen im Zuschauerraum nicht aus dem Wunsch zum Hinsehen entlässt. Eine der wunderbarsten Figuren, die Chris Grashof gelungen ist, war der Familienvater Simon in Judith Herzbergs „Über Leben“. Ein heiterer, lebenshungriger, gelegentlich bösartiger Egomane, dann ein wieder schwärmerisch zarter Mensch. Er will leben, überleben, auch in seinen Kindern. Wie Grashof all diese Gefühlsschwenks hinbekommt, wie er bewirkt, dass wir bei aller Zu- und Abwendung doch nicht loskommen von diesem Simon, das ist weise und hartnäckige Schauspielkunst zugleich. Zum Tode hin gelingt ihm ein Tanz, der alle die Angehörigen, die er verzaubert und gequält, umschwärmt und zurückgestoßen hat, ins Schweben bringt. Chris Grashof ist ein großer Verknüpfer und Verbinder – der Jungen mit den Alten, der unterschiedlichsten Begabungen und Talente, des Ostens mit dem Westen. Was ihn offen und neugierig hält? Sicher die eigene junge Familie. Aber auch sein Wesen. Scharfsichtig ist er. Selten verurteilend. Dabei hält er sich nicht bedeckt, sondern mischt sich ein in die Hauptstadt-Debatten. Welches Theater, welche Kunst braucht Berlin? In der Akademie der Künste erhebt er seine Stimme und sorgt für lautstarkes, vernehm288


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bares Nachdenken über das, was werden soll. Gleichzeitig ist er ein zärtlicher Erinnerungskünstler. Als wir uns am DT von so Großen verabschieden mussten wie Inge Keller … immer war es zuvorderst Chris Grashof, der in leichtem Ton und zu Herzen gehender Sprache ein genaues, liebevolles Erinnern möglich machte. Als Schauspieler hat Christian Grashof am Deutschen Theater Jahrzehnte geprägt wie nur wenige andere. Wer ihn tagsüber in der Kantine trifft, kommt kaum dazu, in Ruhe ein Wort mit ihm zu wechseln. Ständig gehen Leute vorbei, Techniker, jemand vom Licht, eine Requisiteurin, die alle von ihm begrüßt werden, mit denen allen geredet wird. Und gar nicht selten gibt es Wochen, gar Monate, da ist er dort unten täglich zu sehen, kurz, auf einen Kaffee. Nicht wegen eigener Proben, das auch, bisweilen. Sondern weil er mit Studierenden der Ernst-Busch-Hochschule arbeitet, mit ihnen probt, Szenenstudien macht. Und manchmal denkt man dann, mit ihm als Lehrer hätte ich es vielleicht doch einmal probieren wollen, das Spielen. Um ein wenig mehr zu erfahren von diesem Zugleich, von seiner Neugier, um ihr nicht nur zu begegnen, sondern sie zum Eigenen zu machen. Ulrich Khuon, 1952 geboren in Stuttgart, studierte Jura, Germanistik und Theologie. Ab 1988 Intendanzen in Konstanz und Hannover, ab 2000 Intendant des Thalia Theaters Hamburg. Er ist Intendant des Deutschen Theaters Berlin seit 2009 und Präsident des Deutschen Bühnenvereins.

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Marcel Kohler Zwei Worte nur: „schön“ und „Vorsicht“

In der Mitte des zweiten Studienjahres an einer Schauspielschule beginnt man, sich die großen Fragen zu stellen: Was mache ich eigentlich hier? Was ist das genau, die Sache, die alle Leute Theater nennen? Werde ich ein Engagement finden? Will ich das überhaupt? Bei mir war es jedenfalls so. Erste Erfahrungen sind gesammelt worden, nun saß ich da, im Garten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, rauchte zu viele Zigaretten und hinterfragte alles. Und dann kam Chris. Genauer gesagt: Herr Grashof, das „Chris“ kam erst später. Wir hatten schon gehört, dass diese Ikone des Deutschen Theaters nach langer Zeit wieder einmal mit Studenten arbeiten würde. Zwei Kommilitonen und ich waren die Auserwählten für diese Arbeit. Natürlich kannte ich ihn von der Bühne, mehrere Male hatte ich ihn in den letzten Inszenierungen von Jürgen Gosch gesehen. Als Sorin in der „Möwe“, als Alexander in „Onkel Wanja“, als einer der Geschichtenerzähler in „Idomeneus“. Plötzlich stand er da, in meinem Garten der Fragen, und gab mir die Hand. Keiner kann Hände so geben wie Chris. Er schaut einen dabei an, als kenne er einen schon lange, zumindest lange vor der Geburt. Offen ist dieser Blick, er wendet sich dem Gegenüber zu. Aber er ist auch fordernd, als wolle er sagen: Ich hab dich im Auge. Wer dann erfährt, was es bedeutet, in seinem Auge zu sein, der empfindet das nicht als Drohung, sondern als währendes Versprechen. Seine Hand drückt entschlos290


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sen, aber immer auch vorsichtig zu. Und dann kommt das Grashofsche „Grüß dich“ aus tiefstem, sonorem Bass. In Tschechows „Möwe“ gibt es eine Erzählung von einem einfachen Chorsänger, der das tiefe C eine Oktave tiefer als der große Star singen kann. Und immer, wenn ich die Geschichte höre, gefällt mir die Vorstellung, dass Tschechow beim Schreiben an Chris gedacht hat. So wie Büchner ihn im Kopf gehabt haben musste, als er sowohl Danton als auch Robespierre schrieb. Das erzählt man jedenfalls. Dieses „Grüß dich“ von Chris löst beim Gegenüber sofort etwas aus, weil man spürt: Man ist wirklich gemeint. Erst wenn man dieses Gefühl erlebt, merkt man, wie selten es ist. Und so gab mir Chris damals im Garten in Schöneweide gleich die erste Lektion, der noch so viele folgen sollten: das Gegenüber wirklich zu meinen. Nicht nur beim Hände-Schütteln, auch auf der Bühne. Es mag banal klingen, so, wie vieles Bedeutsame banal daherkommt. Aber den anderen wirklich zu meinen, wenn man sich ihm zuwendet, verändert das gesamte Dasein auf der Bühne. Die Trennung zwischen Wirklichkeit und Spiel wird aufgehoben, weil beiden mit der gleichen Ernsthaftigkeit begegnet wird. Schnitt. Wir befinden uns auf einer Probebühne der Schauspielschule, kaum größer als eine geräumige Abstellkammer. Ein Teppich auf dem Boden. Drei Sitzgelegenheiten. Mehr braucht es nicht, wenn man mit Chris auf Theaterexpedition geht. Die drei Spieler befinden sich auf der Bühne. Drei? Eigentlich stimmt das nicht. Chris ist der vierte Mitspieler im Raum. Und was für einer. Meistens will man eigentlich nur zuschauen, wie er die Momente des Stücks spielen würde. Während einer Probe mit ihm ist man eigentlich ununterbrochen am Kommunizie291


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ren, mal auf der Ebene des Stücks, dann wieder auf der Reflexionsebene, dann ist man kurz bei der Welt draußen. Und das alles kann im Sekundentakt wechseln. Kommunizieren meint hier nicht zwangsweise: etwas sagen. Chris kommt über ganze Strecken einer Probe mit nur zwei Worten aus: „Schön“ und „Vorsicht“. Aber von diesen zwei Worten beherrscht er hunderte Variationen, die man nach und nach zu verstehen beginnt. Vielleicht ist es am besten zu vergleichen mit dem Erlernen asiatischer Sprachen, in denen Stimmklang und minimale Betonungsänderung den Sinn eines Wortes völlig verändern können. So ist „schön“ nicht gleich „schön“, und „schön“ kann manchmal „schön“ bedeuten und manchmal aber auch „schön“. Jedes dieser „Schöns“ hat eine eigene Farbe und eine eigene Verweildauer auf dem Ö. Durch diese eigene Form von Sprache auf der Probe entsteht eine Atmosphäre, in der alles möglich zu sein scheint. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Alles wird Spiel, weil nichts gespielt ist. Proben heißt bei ihm nie: üben. Wenn er etwas beschreibt oder einen Gedanken zu etwas gerade Gespieltem formuliert, leitet er es meistens mit den Worten ein: „Bleibt drin!“ Chris „hasst“ Schauspieler, aber er liebt das Spiel. Erst langsam glaube ich zu begreifen, was er damit meint. Könnerschaft, schauspielerisches Getue, das Verharren in der Gefälligkeits-Komfortzone, die Behauptung, alles einfach so mir nichts, dir nichts spielen zu können – das lehnt er ab. Dies führt wiederum dazu, dass ich mit kaum einem Menschen so kritisch und gleichzeitig inhaltlich und an der Sache interessiert über die eigenen Arbeiten sprechen kann wie mit ihm. Wenn ich weiß, er sitzt in einer Vorstellung, dann steigt die Anspannung, aber auch die Vorfreude auf die Auseinandersetzung danach. Man 292


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verstehe mich nicht falsch, Chris kann vernichtend sein. So vernichtend, wie nur jemand sein kann, dem es ernst ist, dem die Dinge etwas bedeuten. Aber Chris kann auch mit wenigen, klaren Worten loben, und dann ist kurz alles gut. Als er nach meiner ersten eigenen Inszenierung als Regisseur zu den Spielern und mir in die Garderobe kam, da war kurz alles gut. Es gibt da diesen Moment in „Idomeneus“, der letzten Arbeit von Jürgen Gosch. Eine Gruppe Schauspieler sitzt vor dem Eisernen Vorhang und erzählt die Geschichte von Idomeneus, dem König von Kreta. Aber sie sind sich über den genauen Ablauf der Geschichte nicht sicher, beginnen immer neue Varianten. „So war das nicht, so ist das nicht gewesen. Es ist so gewesen …“ Und irgendwann steht Chris auf und spricht davon, dass Idomeneus seinen Sohn töten soll, als Opfer. Man kennt dieses Motiv aus der Antike. Aber wenn Chris darüber auf der Bühne spricht, erahnt man die Dimension dieses unvorstellbaren Vorgangs. Ich kann nicht erklären, was da genau passiert. Man muss es erleben. Chris sagt das, als hätten wir es noch nicht begriffen. Und während er es sagt, merken wir, dass wir es wirklich noch nicht begriffen haben. Es ist, als steige er mit dem Tod in den Ring, wissend um die Stärke dieses Gegners und seiner Übermacht, aber mit einem trotzigen Mut, sich nicht einfach geschlagen zu geben. War da eine Träne im Augenwinkel? Chris erträgt es nicht, wenn man zu leichtfertig über den Tod redet. Er kann staunend feststellen, wie hochmütig wir Menschen sein können, und dass wir den Tod fast ein ganzes Leben lang verdrängen. Wenn er solche Ge293


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danken formuliert, ist das nie moralisch. So wie auch sein Spiel nie moralisch ist und mir vielleicht gerade deshalb so viel über die Vielschichtigkeit dieses Lebens und den verdrängten Tod erzählt. Und dann bringt er uns Zuschauer im nächsten Moment wieder zum Brüllen vor Lachen. Er kann so herrlich skurril sein. Das Wort „herrlich“ kann ich übrigens nicht mehr ohne Chris denken. Das hat er in meinem Kopf gepachtet. Es ist sein erstes Wort in „Onkel Wanja“. Eigentlich redet er über die russische Landschaft während eines Spaziergangs. Doch wenn er da so steht, auf der Bühne des Deutschen Theaters, und in den vollen Zuschauerraum blickt, denke ich zwangsläufig, er meint das alles: dass wir wirklich alle gekommen sind, dass er auf dieser Bühne stehen kann, dass es diese Sache gibt, die alle Theater nennen. Und ich möchte aufstehen und ihm zurufen: „Ja, lieber Chris, ja! Herrlich!“ Aber das traue ich mich natürlich nicht … Als Chris in den Garten kam, änderte sich fast alles. Meine Fragen von damals sind zum großen Teil unbeantwortet geblieben, und das ist völlig in Ordnung. Denn Chris hat durch seine Art, die Welt und die Menschen zu betrachten, auch mich ganz anders schauen lassen. Die Fragen sind dadurch andere geworden. Marcel Kohler, 1991 in Mainz geboren, ist seit 2015 am Deutschen Theater Berlin engagiert. Er spielte auch an der Schaubühne und bei den Salzburger Festspielen. Am BAT erarbeitete er als Student die Rolle des Robespierre in Büchners „Dantons Tod“, angeleitet von Christian Grashof.

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MEINE MUTTER UND DIE KLEEBLÄTTER GESPRÄCH

Der Körper ist ein guter Lehrer O schluchzender deutscher Schauspieler Ein Talent ist ein Talent ist ein Talent Davison – die Rolle aller Rollen Lob altert schneller als jede Tapete Auf der Parkbank mit Luis Trenker


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Mit Jörg Pose (l.) und Susanne Wolff in „Über Leben“ Deutsches Theater 2011


Gespräch

HANS-DIETER SCHÜTT: Wir sind fast am Ende unserer Gespräche. Langsames Auschecken. CHRISTIAN GRASHOF: Alle Fragen gestellt, aber die ungelösten werden nicht weniger. Das macht Hoffnung. Wir könnten Leichtigkeit spielen. Karl Marx, Marcel Proust haben mit Freude Fragebögen beantwortet – viele Zeitungen haben dieses Genre kopiert, variiert. Wie wäre es mit einem Mix altbekannter Fragen? Sie leihen sich die altbekannten Fragen, ich sichere mich mit den altbekannten Antworten ab – von Marx und Proust. (lacht) Welches wäre das Ziel Ihrer Traumreise? Einmal um die ganze Welt. Mit welchen drei Begriffen charakterisieren Sie Deutschland? Fußball, Heine, Leberwurst. Der Vorhang geht hoch, das Licht an: Welches wäre das schönste Bühnenbild? Ein leerer Raum. Ich war immer der Ansicht, Bühnenbild ist das falsche Wort. Es geht um – den Raum! Das habe ich bei Besson begriffen. Welches Kunstwerk haben Sie nie verstanden? Das Lenindenkmal von Nikolai Tomski im Berliner Friedrichshain. Was trauen Sie der Menschheit nicht mehr zu? Kommunismus. Was empfinden Sie als Verrat? Untreue.

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Meine Mutter und die Kleeblätter

Wie beschreiben Sie Lebenskunst? Wenn man aus Scheiße Gold macht. Was ist ein wunder Punkt bei Ihnen? Höchstens, dass ich nicht ganz so gut Fußball spiele wie Ronaldo. Mit welchem Schauspieler vergangener Zeiten würden Sie gern auf der Bühne stehen? Chaplin. Ihr Lieblingsmaler? Picasso. Können Sie selber malen? Na klar! Ihr Lieblingsvogel? Der Storch. Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? Wandern. Welche Ihrer Vorzüge werden verkannt? Meine Fähigkeit als Rettungsschwimmer. Das war jetzt keine ironische Antwort? Nein. Ich war als Schüler Rettungsschwimmer – und ich habe auch Leben gerettet, im Naturbad bei Löbau. Traut man mir nicht zu, was? Ihre dramatischste Fehlentscheidung? Die falschen Lottozahlen. Wer wird Deutschland in zehn Jahren regieren? Wahrscheinlich wie immer: das Geld. 298


Gespräch

Welches war Ihre erste Mutprobe? Meine Fahrt nach Berlin zur Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule. Was würden Sie, hätten Sie die Macht, auch gegen die Mehrheit durchsetzen? Sockenverbot in Sandalen. Fürchten Sie sich vor den Armen dieser Welt? Nein. Teilnehmer welches historischen Ereignisses wären Sie gern gewesen? Der Entdeckung Amerikas. In welcher Zeit hätten Sie gern gelebt? Jetzt und hier. Wo würden Sie lieber leben als in Deutschland? Im warmen Süden. Zwischendurch jetzt schnell noch eine Anekdote! Nee. Doch. Eine Legende im Deutschen Theater war Gertraut Last, Lastine genannt, fast fünfunddreißig Jahre lang Herrscherin über das Künstlerische Betriebsbüro. Sie liebte von Herzen Gustaf Gründgens und Wolfgang Langhoff. Eines Tages stürzt jemand zur Tür herein: „Kennedy ist erschossen worden!“ Lastine als Organisatorin funktionierender Spielpläne sprang wie elektrisiert hoch, kramte sofort in Papieren und fragte: „Was? In welchem Stück ist der denn drin?“

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Meine Mutter und die Kleeblätter

Was ist an Ihnen ostdeutsch? Ja goworju po-russki. Was empfinden Sie angesichts der Gewissheit, dass es Sie in fünfzig Jahren nicht mehr gibt? Falsche Frage. Wovor haben Sie Angst? Vor dummen, bösen Menschen. Beatles oder Rolling Stones? Beide. Ihre Einsamkeitsbeschäftigung? Sägen. Nennen Sie drei Dinge, die Sie für Geld nicht tun. Fallschirmspringen, Bobfahren, lebende Tiere essen. Sind Sie sich selber ein Freund? Natürlich! Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben? Ich gebe nicht auf. Wären Sie gern unsterblich? Ja. Was ist Ihnen peinlich? Auch wenn ich von Berufs wegen das Gegenteil behaupte: stolpern. Christian Grashof, fehlt Ihnen ein Alterswerk? Wann fängt denn Alter an?

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Gespräch

Behaupten wir mal, Sie steckten mittendrin. Mir fehlt kein Alterswerk. Alterswerk klingt nach einem dicken Punkt, den man nochmal setzt. Ich hab meine dicken Punkte schon ein bisschen früher gesetzt. Nichts konkret Unerledigtes auf der Rollenliste? Hab keine Liste. Unerledigtes nach Faust und Lear? Nein. Aufhören möchte ich allerdings nicht. Was geblieben ist: Lust, immer weiterzuspielen. Aber bitte keine allzu großen Schrägen mehr auf der Bühne. Zipperlein? Der Kopp täuscht die freie Entscheidung vor: Ich will nicht mehr. Der Körper sagt die Wahrheit: Ich kann nicht mehr. Der Körper ist ein guter Lehrer, wie es die Niederlagen sind: Auch er bringt einem das Zögern bei. Mal schauen, was noch möglich ist. Also: kommen, sehen – und erneut stolpern. Ich spring aber nicht mehr zwei fünfzig hoch, sondern nur noch dreißig Zentimeter. Dem hängt Trauer an? Nein. Wobei doch klar ist (lacht): Auch die behaupteten zwei fünfzig waren immer eine eingebildete Höhe – die jetzigen dreißig Zentimeter allerdings sind Realität. Man weiß nie: Wie lange eigentlich schon? Aber: Spring nicht so drüber, als sei das nichts! Spring möglichst meisterlich. Und Achtung: Stolpern kannst du über einen einzigen Zentimeter Höhe. Kokettieren Sie? Nein. Ich wohne nicht an der Küste, wo ich als verkanntes Genie vom Kreidefelsen springen kann – in Berlin ist das Land flach, also auch weit. Da ist Platz für viele, das musst du wissen. Also leb!

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Wo holen Sie sich Halt? Den Halt hol ich mir bei meinen Lebensmenschen. Ich muss ihn nicht holen, sie geben ihn. Und ich sag nicht, ich hätte meine Kräfte im Leben gelassen, ich sag, ich hab sie ausprobiert. Nicht: Ich hab sie ver-braucht, ich hab sie ge-braucht. Was ist denn das Schöne am Spiel geblieben? Die Leute um mich herum. Ich bin kein Alleinunterhalter. Solo-Abende zum Beispiel haben mich nie interessiert. Ich mag am Theater die Truppe – es ist ja auch beim Fußball gut, wenn du jemanden hast, dem du den Ball zuspielen kannst. Leider gibt es Schauspieler, die musst du fortwährend besiegen, die begreifen nicht mal in einer Chorszene, dass sie einer von mehreren sind. Ausdruck erlöst, noch immer? Besser: Arbeit am Ausdruck. Es ist wie mit der Freiheit und der Gesundheit. Nicht Freiheit erlöst, sondern Befreiung, nicht Gesundheit, sondern Gesundung. In einem Film über die Volksbühne sieht man Frank Castorf am Regiepult sitzen. Ich dachte immer, er führe sehr gedanklich Regie, kopfgelenkt, irgendwie dramaturgie- und geistgesteuert, überlegen. Aber ich sah ein schwer atmendes Tier, lauernd, auf dem Sprung, angespannt bis in die letzten Muskelfasern. Obwohl er weit weg von den Akteuren saß, war er ganz nah bei ihnen, saß ihnen sozusagen am Nacken, im Nacken, ein Beben, ein Mitfiebern, hochkonzentriert. So gehen Rennrodler oder Bobfahrer unmittelbar vor dem Start noch einmal körperlich die vor ihnen liegende Bahn durch. Und dann sagte Castorf den wunderbaren Satz: „Es geht nicht um Schauspielen, es geht um Schauleben.“ Sie gehen noch gern ins Theater, auch als Zuschauer? Ja. Wenn ich ins Theater gehe, bin ich nach wie vor tie302


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risch aufgeregt, auch als Teil des Publikums. Warum? Hm. Vielleicht ist es tief eingepflanztes Heimweh, nach dem Staunen, nach so etwas wie Bestürztsein. Was das Theater von Kollegen betraf: Ich war nie arrogant, ich war immer neugierig. Der Theaterbetrieb, so heißt es landläufig, habe immer weniger ein Gefühl dafür, sorgsam mit sich selber umzugehen. Ja, Zeitmangel, Schnelligkeit, Quantität, Abwechslung, Quote, Konsumierbarkeit, Markt, Erfolg, Rechnungswesen, Marketing – das sind einige der Begriffe, die Zerstörung kennzeichnen. Alles nötig. Aber alles auch zerstörerisch. Entscheidend bleibt doch das Aufeinandertreffen von Leuten, zwischen denen es zu Berührungen kommt. Gut wird Theater, wenn man als Zuschauer spürt: Die da oben auf der Bühne waren sich sehr nahe, als sie probierten. Besser kann man nicht sagen, was ein Ensemble ist. Das habe ich in den letzten Jahren bei Stephan Kimmig stark empfunden. So ein Flanieren in Nebelfeldern, aber eben: gemeinsam. Da müssen gar nicht immer königliche Aufführungen entstehen, wichtig ist dieses Gefühl für Nebeneingänge und Nebenausgänge, ein Gefühl für die Steigerung, die in Momenten gemeinsamer Arbeit liegen kann. Das strahlt aus. Wenn Sie über Ihr Spiel reden, betonen Sie gern das Künstliche. Was ist denn dann Realismus auf dem Theater? Das ist der reale Schauspieler, der ganz real eine Situation konstruiert, die auf der Bühne real zu bewältigen ist. Jedes Kunstwerk ist ein in sich geschlossenes Universum? Es ist ein völlig autonomer, vitaler Lebenskreis. Was auf 303


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der Bühne geschieht, ist nur eine Behauptung, und die kann gar nicht selbstbewusst genug sein, denn nur innerhalb dieser Behauptung gibt es das Gesetz, die Regel, die Logik, die Notwendigkeit. Wenn du einen Stuhl brauchst, und der fällt vom Himmel, dann ist das doch in Ordnung, sofern er nicht kaputtgeht und die Splitter ins Publikum fliegen. Allergieworte während unserer Gespräche waren für Sie Psychologie und Menschendarstellung. Wie steht es mit Erschütterungsmomenten? Wenn ich spiele? Emotion muss sein, natürlich, aber sie darf nicht allgemein sein. Erschütterung ist kein EinwickelÖlpapier. Ganz schlimm ist der schluchzende Schauspieler. Schon gar der schluchzende deutsche Schauspieler. Schluchzen kann nur der russische Schauspieler, ich hab sie alle gesehen, Smoktunowski, Tabakow. Wir haben in Moskau den „Entfesselten Wotan“ gespielt, beide große Künstler haben das Gastspiel gesehen und sich nach der Vorstellung bei mir bedankt. Ich war beseelt. Wenn ich nicht wüsste, es gibt auf der Bühne die Russen, die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Bulgaren, dann müsste ich mir einbilden, Johnny Depp wäre ein guter Schauspieler. In Dresden sah ich ein Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters, Gorkis „Kleinbürger“. Die Familie sitzt am Esstisch, nebenan stirbt die Tochter. Der Vater wischt sich die Tränen ab, er bebt, er hält sich an der Tischdecke fest, die Tassen und Teller klappern, aber sie fallen nicht herunter. Später wird er seinen Schmerz ungebremst zum Fenster hinausbrüllen – aber vorher sehr achtsam die Blumentöpfe vom Fensterbrett räumen. Der Schmerz ohne jeden Anflug von Chargieren. Du siehst, wie ein Mensch außer sich gerät – und doch den Sinn für den Besitzstand nicht verliert. Das Gehirn sozusagen gespalten. Du fühlst mit, du spürst, wie es den Mann auseinanderreißt – und zugleich bleibt er: Ordnung, Selbstbeherrschung. Das ist 304


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der Typ, der leider die Gesellschaft beherrscht, sie aber auch trägt, indem er die Extreme ausgleicht. Also: Der russische Schauspieler schluchzt so, als ob seine Gestalt daran zugrunde ginge. Die Gestalt, nicht er. Abgesehen davon, dass das alles so ungemein schwer zu erklären ist … Bitten Sie mal Arjen Robben von Bayern München, er möge uns sein Durchgeschossensein auf dem Platz, seine motorische Verrücktheit erklären, der rast ja übers Spielfeld, als wäre das ein immer schneller werdendes Laufband … Nee, nicht zu erklären. Warum auch. Man darf nicht jedes Geheimnis entehren, indem man ihm auf die Spur kommen will. Sie reden sich gern in Rage über das, was so schwer zu sagen ist. Die Dichter wühlen sich ins Wort und sind unglücklich, weil sie nur immer das zweitrichtige, nie das wirklich gültige Wort finden. Was sollen da bloß wir Gaukler tun, sechzehn Niveaustufen drunter? Also schluchze, Komödiant, aber treib mich nicht zur Anerkennung: Mann, der kann’s! Von den Russen sprach ich, ich könnte auch sagen: Helene Weigel. Wegen der Erschütterungsmomente? Ja. Sie haben die Weigel gesehen? Am Berliner Ensemble, als Student. Ekkehard Schall beschrieb die Weigel, und es betrifft das Thema, das Sie eben anschnitten: „Bei der Gestaltung einer großen Rolle, sagte sie, dürfe es nie mehr als zwei Ausbrüche geben. So war es bei ihrer Courage: zwei Ausbrüche und ein stummer Schrei.“ Schauspieler, die mit Brecht zusammenarbeiteten, haben beteuert, das Wort Verfremdungseffekt während der Proben 305


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nie gehört zu haben. Die Hauptarbeit an der jeweiligen Rolle bestand darin, Schwulst abzubauen. Ausbrüche auf der Szene waren bei Brecht offenbar unbeliebt. Also ausgerechnet das, womit man als Schauspieler am ehesten Wirkung erzielt. (lacht) Gefällt mir, gefiel mir schon immer: Emotionen gilt es aufzufangen in sehr konkreten Vorgängen. Und genau darüber, über Emotionen und sogenannte Menschendarstellung, gibt es interessante Bemerkungen von Schall. Er sprach über Proben zu Brechts „Gewehren der Frau Carrar“. Die Carrar, die für den Kampf gegen Franco keine Gewehre herausgibt, weil sie ihre Söhne nicht an den Krieg verlieren will, „sie empfängt dauernd Besuch, und geprobt wurde, dass diese Besuche die Festigkeit der Carrar beschädigen. Die Weigel sollte also spielen, dass die anderen recht haben, dass die Kraft der Argumente sie langsam aufweicht und somit eine allmähliche Hinleitung zur Kampfbereitschaft möglich und logisch wurde. Der langsame Umschlag in eine neue Qualität von Haltung. Das klappte aber nicht, die Weigel wirkte nämlich weiterhin mütterlich-störrisch. Die Stimmung auf den Proben wurde zunehmend schlechter, und zum großen Krach kam es, als die Weigel eines Morgens mit einer neuen Frisur zur Probe erschien, sie trug die Haare offen, Brecht rastete aus, da mischten sich wohl künstlerische Unzufriedenheit und private Dinge. Dann wurde, ich glaube, von der Weigel selbst, der rettende Vorschlag gefunden. Sie sagte, sie werde als Frau Carrar mit jedem Besuch, der sie umstimmen will, nur noch fester ihre Ablehnung des Krieges zeigen. Alles, was gegen sie gesagt werde, mache sie nur mütterlich abweisender. Ihr Umbruch am Ende werde also geradezu unlogisch erzwungen, käme urplötzlich – und sei dadurch groß. Erst ganz zum Schluss sei es dann ein einziger Gedanke, der ihre Haltung ändere – ohne 306


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dass sie jedoch die bisherige Figur völlig aufgeben müsse. Sie wurde also nahezu ungebremst härter und härter. Krieg? Gewehre? Nicht mit mir! Außer in jenem letzten Moment, da sie schließlich Brot aus dem Ofen holte und es den nunmehr bewaffneten Kämpfern mitgab, sah man sie in der Aufführung nie gebeugt. Die Weigel ließ sich sogar ein Korsett anlegen.“ Das ist ein schöner Gedanke: Wir sind, wie wir sind, aber plötzlich überschreitet uns etwas, nur sekundenlang – und das stimmt uns radikal um. Also: Wenn man die Hoffnung in den änderungsfähigen Menschen irgendwann aufgibt – dann kann das genau die Sekunde zu früh sein, derer es noch bedurft hätte, um jemanden zu überzeugen. Weisheit, Klugheit, Vernunft – das können Blitzschläge sein, unerwartete Überfälle. Was da auf den „Carrar“-Proben geschah, sagte Schall, „wurde mir zur Schule: Einen Text nie bloß benutzen, um sich zu einer Haltung hinzuspielen, auf die es ankommt. Wenn man es nämlich so macht, bleibt ja ein Teil des Textes nur immer bloße Vorbereitung, Vorgeplänkel, Vor-Spiel, ist also Text, der selber keine Haltung benötigt. Das ist falsch.“ Find ich gut. Ja, Übergänge auszumalen, das kann ganz falsch sein. Ich habe den Azdak im „Kaukasischen Kreidekreis“ gespielt. Eine Übernahme von Klaus Löwitsch, am Deutschen Theater. Ja. Die leibliche Mutter, eine kalte Herrin, und die Ziehmutter, eine fühlende Magd, stehen im Kreidekreis und zerren am Kind. Die gerichtliche Vereinbarung: Derjenigen Frau, die das Kind aus dem Kreis zieht, wird der Junge zugesprochen. Azdak sieht die Magd natürlich als Siegerin, 307


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sie ist kräftig, vom Leben gehärtet, sie wird gewiss das Kind an sich reißen. Als sie aber unerwartet loslässt, weil sie dem Kind nicht wehtun will, wiederholt der Prolet Azdak die Probe: Klar, beim zweiten Mal wird Grusche endlich alle Kraft einsetzen, verdammt noch mal. Aber wieder lässt sie los. Wieso handelt die so?, fragt sich Azdak, und jetzt erst kommt ihm die Erleuchtung, und er gibt der Magd das Kind. Also: Er entscheidet nicht von Anfang an menschlich, gütig, nein, er ist doch selber ein Gerissener, ein Windiger – er muss von Weisheit und wahrem Gerechtigkeitsempfinden erst überrumpelt werden. Das erst ist wahrhaft menschlich. So zeigt es uns dieser Azdak – und macht sich dann auf und davon. Die paradoxe Lehre: Man versteht nicht immer sofort, was man begriffen hat. So wie man nicht unbedingt überlebt, was man überstanden hat. Oder man weiß nicht zu schätzen, was man liebt. Sind wir auf der Welt, um sie zu begreifen? Find ich sehr gut: die einfachsten Fragen zum Schluss … Der Mensch, der sich selber, der sein eigenes Leben wirklich ganz begreift – den möchte ich sehen! Wir wollen die Welt ergründen und scheitern schon dran, den Menschen neben uns richtig zu verstehen. Wir sind auf der Welt, um in ihr zu leben – unser Zusammenleben zu einem halbwegs haltbaren Frieden hin zu organisieren, das war und bleibt doch Aufgabe genug. Jede gesellschaftliche Weiterung hat Sinn, aber ich muss nicht jeder neuen Idee aufs Trittbrett springen. Ich will nicht zum falschen König Kunde gemacht werden, und von Umstürzen möchte ich auch verschont bleiben. Dichter erzählen, was Schönheit ist: wenn das Leben an gefährdeten Stellen Glück hat. Die gefährdeten Stellen bleiben. Glück nicht. Wie am Theater. 308


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Woran denken Sie denn spontan, wenn Sie an Glück denken? An meine Mutter. Sie suchte ein Leben lang vierblättrige Kleeblätter, geradezu manisch. Sowie wir zu einer Wiese kamen, zu irgendeinem grasbewachsenen Weg, ging ihr Kopf nach unten. „Mutter, sieh doch mal: dieser herrliche Himmel.“ – „Hab ich schon gesehen.“ Sie durchgraste mit ihren Blicken unentwegt den Erdboden. Es leben die Kleeblätter! Gäbe es einen Gott – was müsste er können? Wenn er alles kann, dann kann er auch das Menschlichste: ratlos sein und ab und zu hilflos mit den Schultern zucken. Leben wir in Niedergangszeiten? Bleiben wir in dieser Frage beim Theater: So mittelmäßig Theater jetzt ist, so war es immer. So mittelmäßig – aber immer auch so gut und exzellent. Und jetzt mal weg vom Theater: Wütend werde ich, wenn ich vom ergrauten Personal dieser Gegenwart den Satz höre: Ich möchte in heutiger Zeit nicht jung sein, ein Glück, dass ich alles hinter mir habe. Das womöglich noch gesagt, wenn meine Kinder dabei sind. Was ist denn das für eine Beleidigung des Lebens!? Ich finde Vieles furchtbar an der Welt, aber immer gibt es außer einem selber und außerhalb der eigenen Erfahrungen ein kräftiges Leben, das sich nicht beirren lässt, das sich freut, das sich wehrt, das sich entwickelt, dass sich lohnt und das zu lieben weiß. Man kann ja die Menschheit für unbelehrbar halten, aber im einzelnen Menschen kehrt das Vertrauen zurück. Bei mir jedenfalls. Also, ich lasse meine Kinder nicht beleidigen. Ich erleb das doch bei meinen Szenenstudien an der Schauspielschule: Man kann sehr wohl belehrt werden – von weit jüngeren Leuten. Besser als belehrt: überrascht. Werd ich immer wieder!

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Auch von den eigenen Kindern? Von denen zuallererst. Amelie, Lucie … Tja, was soll ich sagen? Was das Schönste an meinen Töchtern ist: dass sie ihre Probleme haben mit der Welt, wie sie ist. Dass sie auch wegen der Probleme Lust am Leben haben: Es hat Sinn, verändern zu wollen. Dass sie mit anderen – und zu anderen – auf die Straße gehen, wenn sie Dinge als ungerecht empfinden. Sie können sich empören! Sie denken weltlich und haben doch einen Sinn fürs Spirituelle. Es ist schön, mit ihnen zu reden. Es ist immer auch eine lohnende Prüfung für mich Zausel, ob er noch versteht, was so vor sich geht. Es gibt ja drei Phasen: Erst wird man von den Eltern erzogen, dann von der Gesellschaft und den Lebenspartnern – und dann von den eigenen Kindern. Da bin ich jetzt. (lacht) Ich hatte immer Manschetten vor allzu großer Selbstoffenbarung. Die sogenannte Selbstfindung, das kann auch elend langweilig sein. Oder nur Selbstbespiegelung. Meine Frau Grit und meine Kinder machen es mir möglich, auf schutzlose Weise über mich nachzudenken. Nehmen die Schmerzen über den Gang der Dinge zu? Schmerzen, die kann letztlich kein Mensch erfolgreich von sich abwenden. Aber ich leide nicht daran, dass der sogenannte Ruhm nicht in Marmor ritzt, sondern am Strand entlangläuft und in den Sand schreibt. Häng dir ein Lob übers Bett und es wird grau und unansehnlich wie mit den Jahren die ganze Tapete. Lob altert schneller als jede Tapete. Brigitte Soubeyran hat in einem Brief an Inge Keller Berührendes über den Tod geschrieben: „Von dem Gevatter sprechen wir ja auch gelegentlich. Er soll freundlich sein, der Gevatter, meinst Du, und wir würden ihn erkennen – aber nicht an der Sense, sondern an einem leichten Winken, und Du würdest es mich wissen lassen, wenn er 310


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Dir Zeichen gibt zum letzten Abgang, oder soll ich sagen, zu neuem Auftritt? Bei Lessing heißt es, der Tod sei der Bruder des Schlafes, sähe aus wie ein Knabe, jenem gleich, nur trage er seine Fackel nach unten, wie jener nach oben. So hätten ihn die Griechen dargestellt. Aber wir wollen zuvor noch rauchen, trinken und essen, vom roten Wein und gutem Käse. Wollen schwatzen, in Bäume gucken, Wolken zählen und den Vogelzug schauen.“ Denken Sie oft an den Tod? Nein. Der sogenannte Herr ruft mich eh, warum soll ich so tun, als hätte ich ihn schon heute gehört. Jeder Mensch hat eine natürliche Scham. Der Schauspieler beschädigt diesen Teil des seelischen Immunsystems, indem er auf die Bühne tritt. Er vergewaltigt seine Scham – es ist doch so, als springe man nachts um zwölf in einer vollen Kneipe auf einen Tisch und rufe: Hört alle mal her! Diese Stille plötzlich, diese Blicke – entsetzliche Vorstellung! Sie beschreiben einen gefährlichen Schwellenpunkt des Berufs. Es gibt diesen Sekundenbruchteil vorm ersten Schritt auf die Bühne, da kannst du von schrecklicher Wahrheit angeweht werden … … dem Bewusstsein für diese Blöße vor Hunderten Blicken. Ja, klar. Aber so plötzlich, wie der Schreck kam, geht er wieder: Hoppla, das Spiel beginnt. Und wenn der Schreck irgendwann mal, auf offener Szene, wiederkehrt? O Himmel! Na ja, dann müssen Hirn und Nervensystem eine Hochleistung der sofortigen Verdrängung vollbringen. Und natürlich muss beim Schauspieler letztlich das andere Gen gut ausgebildet sein und siegen: Das Gen, das selbstbewusst an die Rampe drängt und dafür sorgt, den eigenen Körper auch als was Kostbares zu empfinden. 311


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Worin besteht das Kostbare? Öffentlichkeit nicht nur auszuhalten, sondern selber Öffentlichkeit zu sein. Eitelkeit. Was sonst. Die Frage ist immer, beherrscht sie dich oder beherrschst du sie. Irgendwo habe ich etwas Anekdotisches gelesen, das mir gefiel und mir einleuchtete. Brecht ging wohl das erste Mal über den Hof des Berliner Ensembles, es herrschte die gewohnte Geschäftigkeit auf einem Theaterhof. Handwerker, Bühnenarbeiter undsoweiter. Niemand grüßte ihn. Das muss ihn unangenehm berührt haben. Die Konsequenz, die er daraus zog: Wem immer er auch im Haus oder eben auch auf dem Gelände des Theaters begegnete – er grüßte zuerst. Er ging in die Grüßoffensive. So wurde er zu dem freundlichen Herrn, der jedermann grüßte. So entging er dem Gefühl, sich nicht beachtet und respektiert zu fühlen. Manche wussten auch weiterhin nicht, dass da der berühmte Brecht herumlief – was sie aber wussten: Dies ist der freundliche Mann, der stets als Erster grüßte. So sorgte er auf listige Weise für Auffälligkeit und besaß einen Status der besonderen Art. Fazit: Sie verlieren nie Ihre Lust, alles Ernsthafte ins Ironiebad zu tauchen. (lacht) Wir sind Gaukler und also nicht unbedingt ernst zu nehmen. Thomas Langhoff inszenierte „Maria Stuart“ und kam in einer Charmeoffensive angerauscht: „Chris, eine große Rolle kommt auf dich zu, eine großartige Rolle!“ Hm. Er hatte einen beschwörenden Ton, als wolle er mir die Maria Stuart anbieten. „Große Rolle, Chris – zwar nur ein einziger Auftritt, aber bedeutende deutsche Schauspieler haben mit diesem Auftritt Geschichte geschrieben, ich sage nur: Erich Ponto, Hans Mahnke, der hat, stell dir vor, für diesen Auftritt zwei Stunden in 312


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seiner Garderobe sein Gesicht studiert. Mensch, Chris, überleg mal!“ Ich glaube, er flunkerte gewaltig, aber immerhin kam ich mit einer entscheidenden Frage zwischen seine Schwärmerei: Was das denn nun für eine Rolle sei. „Der Davison!“, flüsterte mir Thomas zu, als hüte er das Geheimnis der Welt, „Chris, der Davison“. Aha. Der Staatssekretär, dem Elisabeth das unterschriebene Todesurteil übergibt. „Mensch, Chris, er hat alles in der Hand, Mensch, Chris, ich sage das jetzt nur dir: Nur wegen dieser Figur mache ich das Stück!“ Es war so bezaubernd lächerlich, wie mir da ein vom Mitleid gepackter Regisseur klarmachen wollte, dass er keine Rolle für mich hat. Hinterlistig fragte ich ihn nun, warum er denn ausgerechnet mich besetzen wolle. Langhoff: „Ich muss, Chris, ich muss!“ Ja, Thomas, warum musst du denn? Und jetzt kam der Gipfel der Frechheit. Ich hatte mich ja nun – Gaukler, der man ist! – fast ergeben hineingeschmiegt ins Lob meiner vermeintlichen Einzigartigkeit noch in der beiläufigsten Rolle, da sagt Tommy doch tatsächlich, für mich niederschmetternd: „Chris, du bist der Einzige, der das spielen kann, denn es gibt keinen (keinen, Chris!), der vorm Auftritt in der Requisite nachschaut, ob das Urteil wirklich in der Jackentasche steckt. Stell dir vor, es würde vergessen werden? Auf der Bühne dann: Der Griff in die Jackentasche – ein Griff ins Leere! Die Inszenierung wäre gestorben! Gestorben, Chris! Nicht bei dir! Du bist der Zuverlässigste! Du bist der, der auf diese Weise meine Inszenierung trägt und sichert.“ Und er schwebte, tänzelte, wischte davon. War schon weg und kehrte noch einmal zurück – um mir aufgeregt und noch einmal ganz verschwörerisch zuzuflüstern: „Chris, und eines noch, du wirst das, ganz klar, in Turnschuhen spielen!“ … Eine völlig unmaßgebliche Anekdote, aber sie erzählt doch unseren unaufhörlichen Zwang zur Selbsterregung, zur geistigen Hochstapelei, zur hochtrabenden und hochtreibenden Pose bis ins Hirn hinein. 313


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Spielten Sie denn den Davison? Na und ob, denn wie sagte Langhoff: „… bedeutende deutsche Schauspieler haben mit diesem Auftritt …“ (lacht und winkt ab) Schauspieler! Herr Grashof, denken Sie bitte an Chaplin! Chaplin? Luis Trenker! Trenker? Kurt Böwe, am Landestheater Halle engagiert, sitzt vor Beginn einer Probe auf einer Parkbank. Ein Arbeiter setzt sich zu ihm, es entspinnt sich folgender Dialog: „Was bist’n?“ – „Ich? Schauspieler.“ – „Vom Stadttheater? Hamse umgebaut. War früher scheener. Was verdienste denn?“ – „Geht so.“ – „Nich ville, wa? Armes Schwein.“ Lange Pause. „Schauspieler? – „Ja.“ – „Na ja, ich weeß nich. Kennste Luis Trenker? Der Berch ruft.“ – „Kenn ich.“ – „Na, dann weeßte ja Bescheid. Das is’n Schauspieler. Also ’n richtcher.“ Arbeiterklasse und Kultur. Aber wissen Sie was? Ich kann ich mit einer fast wörtlichen Entgegnung auf Böwe dienen. Auf „meinem“ Dorf in der Uckermark, wo meine Familie und ich möglichst viele Tage verbringen, die geruhsam sein wollen, dort komme ich zum Kiosk, wo auch die aufmunternden Getränke verkauft werden, und da sagt einer zu mir: „Du bist doch Schauspieler. Hm. Aber sag mal ehrlich: nur so einer im Fernsehen oder ein richtiger?“ Na also! Ist doch schön: Irgendwann kommt der Moment, da man endlich verstanden wird. Aber seltsam bleibt es trotzdem: Ein Leben lang kommst du auf der Bühne durch einen Sperrholzrahmen, der eine Tür simuliert – hinter dieser vermeintlichen Tür steht mit Pappnase dein Kollege Karl314


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Heinz, und du tust so, als ob du ihn nicht kennst. Im Russischen ist der Maler ein Künstler, ein Chudoshnik, aber der Schauspieler ist nur Aktjor, ein Akteur. „Nur“? Natürlich: nicht ganz. Ich bildete mir in meinem Leben auf der Bühne trotz allem ein, an der Verbesserung der Welt teilzuhaben. Wissend, das ist Millimeterarbeit. Und begegnet mir dabei Schwulst, rufe ich gern Gerhard Bienert auf, er hat mit allen Berliner Größen gespielt, Horst Caspar, Gustaf Gründgens, Ernst Busch undundund. Manchmal kam „Binús“ im Deutschen Theater auf die Szene und hatte unterm Kostüm schon die Privatschuhe, weil er es nach der Vorstellung eilig hatte. Ich hab ihn mal gefragt, wie er die Umstellung vom Stumm- auf den Tonfilm erlebt hat. Immerhin: eine technische Revolution!, ein gewaltiger Zeitenwechsel!, schauspielerisch und dramaturgisch und geistig ein wahnwitziger Einschnitt! Binus hat das alles miterlebt! Er hörte sich meine Frage an, wartete ab, bis sich mein Pathos gelegt hatte, und dann sagte er fast beiläufig: „Ach weeßte, Chris, das war ganz einfach: Du musstest als Schauspieler vor der Kamera endlich nicht mehr so viel fuchteln.“ Solche lakonischen Welterklärungen gefallen mir. Der große Albert Bassermann deutete bei Proben, wenn es um schwierige, entscheidende Punkte einer Figur ging, immer nur an; er verwies auf die Premiere und sagte: „Da mache ich drei Dinger – und weiter geht es.“ Wie Quadflieg: „Da schmieren wir drüber.“ Wenn man Bassermann dann auf der Bühne sah, so Zeitzeugen, machte er offenbar seine „drei Dinger“, und alle waren fasziniert. Nie hat jemand herausbekommen, was sie waren, diese „drei Dinger“. Wenn man Größe und Geheimnis der Schauspielerei durch ein einziges 315


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Beispiel darzustellen hätte – könnte es die Geschichte dieser ominösen „drei Dinger“ sein? Warum nicht. Einmal muss man es gehabt, es empfunden haben – dann kann man auf der Bühne denken, woran man will, und die Leute werden glauben, glauben, glauben. Unser Denken und das, was wir sagen, das stimmt doch niemals pur überein. Der Schauspieler kann in der großen Liebesszene auch an einen Gulasch denken? Wenn er denn Gulasch liebend gern essen tät. Klaus Piontek hat auf den Punkt gebracht, worauf es ankommt, wenn der Schauspieler eine Bühne betritt: deutlich artikulieren, nach vorn sprechen – und nicht an die Möbel stoßen. Sie sprachen von Veränderung der Welt … Von Millimeterarbeit sprach ich. Vielleicht ist aber auch die eine Illusion. Augenwischerei. Das mag stimmen, mein Lieber. Aber solchen Vorwurf erträgt der Mensch, wenn er etwas ehrlich meint, und wenn er etwas ehrlich meint, dann wird er sich ohnehin und beizeiten in Enttäuschung üben müssen. Aber im Spiel entsteht Welt, das setzt dich doch automatisch in Beziehung zur – Welt. Wenn meine Mutter ein vierblättriges Kleeblatt gefunden hatte, veränderte das die Welt, denn: Meine Mutter war für Sekunden verändert, sie war ein bisschen glücklicher.

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NACHSATZ

Während unserer Begegnungen ist Grashof fortwährend, wie man so sagt, in Fahrt. Er bringt Alexander Lang, der eine quälend lange Zeit im Krankenhaus liegt, Zeitungen und Zuspruch. Er probiert mit Studenten eine „Antigone“-Szene und kann einzig aufgebracht, distanzlos, porenoffen davon erzählen – denn es geht, wo er sich einlässt, immer um Alles oder Nichts. Akademiesitzungen, Akademieveranstaltungen – er ficht mit hoher Energie für den unakademischen Ton. Er hat tausend Arme, um seinen Tag zu skizzieren. Er fährt die heimische Katze zum Tierarzt. Er geht ins Bürgerbüro. Er beschwert sich im Kiez über fehlende Zeitangaben auf Parkverbotsschildern. Er bittet unhöfliche Polizistinnen um deren Dienstnummern. Er geht abends in Repertoirevorstellungen des Deutschen Theaters und hat ein ziemlich sicheres Gespür dafür, wer von den mitspielenden Kollegen ihm hinterher aus dem Weg gehen wird, um auch der Wahrheit des Urteils aus dem Weg zu gehen. Er kommt zum Gespräch mit einem Basecap auf dem Kopf und sicherheitshalber einem Basecap im Rucksack – Verlustbefürchtung, umgeleitet in Vorsorge. Er wirtschaftet bei unseren Begegnungen mit Zetteln, die sich partout nicht ordnen lassen wollen. Er beschäftigt sich staunend mit Brechts Gedichtfassung vom Kommunistischen Manifest. Er hat jederzeit das so gute schlechte Gewissen, entweder diese Kollegin oder 317


Nachsatz

jenen Bekannten mal wieder zu lange nicht angerufen oder getroffen zu haben. Er ist ein gütiges und generöses, störrisches und streitfähiges Gemüt. Aufgewühlt – und da inmitten britisch trocken witzig. Die Schrecknisse der Welt nähren regelmäßig seine Not: poltern zu müssen, aber nicht wirklich etwas tun zu können. Und: Er erzählt von seiner Frau – der Schauspielerin Grit Grashof-Riemer; sie spielte am Carrousel Theater, ist künstlerische Leiterin von „Wortschatz“ – gehörte vor über zehn Jahren zu den Gründerinnen dieses ersten Berliner Lese-Theaters für Kinder. Über sein eigenes Laienspiel in der Schule wird Grashof in unseren Gesprächen sagen: „Zwei Aufregungen also in der Schulzeit: Ich, der Christian, sehe beim Spiel einen ganz anderen im Spiegel, und ein Erwachsener beschäftigt sich derart mit einem Kind. Das war Zauber, den ich erlebte. Das war unwirklich, aber es geschah.“ Es ist, als schlüge sich da ein Bogen von der eigenen frühen Erfahrung zu Konzept und Kunst seiner Frau. Und wie er so erzählt, schlägt sich jener weitere Bogen, der eine Familie lebendig hält: von den Kunstdingen, naturgemäß hereingebracht, hin zum schönem Sinn fürs Praktische. Aber wie im Privatem Christian Grashofs Anteile am ganz Praktischen und am ganz Modernen sind, bleibt irgendwie ein Geheimnis. Wohl nicht zu wenig, aber auch gewiss nicht zu viel, dieser Anteil. Man geht heiter miteinander um. Als er im „Tod eines Handlungsreisenden“ monologisiert, flüstert im Publikum eine seiner beiden Töchter der Mutter zu: „Kommt da auch noch jemand anders?“ Grashofs Kunst, die Kultur seiner Ausstrahlung, ist die des verzweiflungstrotzigen Menschen, der quirlig, aufmerksam witzig, provokant wach bleibt in seinen Lebensbehauptungen. Behauptungen in Zeiten, in denen kein Funke mehr glüht vom Aufschwung der entschei318


Hans-Dieter Schütt

denden Dinge. Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch. Bei dem, was wir wissen, fragen wir uns fortwährend, wie wir es fertigbringen, dies Dasein zu leben, ohne zu versteinern. Manchmal freilich liest man ein Buch, hört eine Musik oder geht ins Theater oder trifft auf einen wie IHN – um auf den beinah töricht anmutenden Gedanken zu kommen, das Dasein trotzdem zu lieben. Auf der Bühne aufersteht dieser dumme, schöne, rettende Gedanke am stärksten in Schauspielern, deren Spielwelten so zu beschreiben wären, wie man diesen Christian Grashof beschreiben kann. Der auch gewieft abwartend sein kann, aber sich doch immer wieder hemmungslos hingeben muss an Situationen, die oftmals nur eines versprechen: Herzschmerzen zu verursachen. Dieser Künstler ist ein Beweis, was sein Gewerbe sich im Zeitalter des Schau-Marktes noch traut, zutraut an Ungeschütztsein. Er war nie ein Quotengarant, der sich Glanzrollen wie „Solitäre“ ansteckte und damit paradierte. Er denkt in Konstellationen. Er ist stets gefeit gewesen gegen die spezifischen Gefährdungen einer kultgierigen MimenAura; dazu ist er zu bodenständig, vor allem fehlt ihm das notwendige Quantum Dummheit für diese um sich greifende Lebensart. Dieser reizbare Mensch geht morgens nach wie vor gern in einen geschlossenen Raum ohne Fenster; künstliches Licht ersetzt im Theater und auf Probebühnen die Sonne; relativ schalldichte Wände schlucken den Tag weg; als des Lebens kundig gilt hier nur, wer es spielen kann, dies Leben. „Der Dichter Volker Braun hat in einem Brief an Grashof spontan benannt, was ihm so Wunderbares an diesem Schauspieler auffällt: „... wenn deine Stimme in den erregtesten Sätzen zitternd lacht.“ Hans-Dieter Schütt 319



Rollenverzeichnis Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt (heute: Schauspielhaus Chemnitz) (Ensemblemitglied von 1967 bis 1970) 1967 Ssinzow in „Feinde“ von Maxim Gorki Regie: Gerhard Meyer Bühne und Kostüme: Ralf Winkler 1968 Alois Fingerlein in „Die seltsame Reise des Alois Fingerlein“ von Rainer Kerndl Regie: Wolfram Krempel Bühne: Ralf Winkler Kostüme: nach Entwürfen von Annemarie Rost Narr in „Ein Wintermärchen“ von William Shakespeare Regie: Gerhard Meyer Bühne und Kostüme: Ralf Winkler Merkl Franz in „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth Regie: Wolfram Krempel Bühne und Kostüme: Ralf Winkler 1969 Ferdinand in „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller. Regie: Wolfram Krempel Bühne und Kostüme: Ralf Winkler Stimme des Reporters in „Das Lied meines Weges“ von Alfred Matusche Regie: Jochen Ziller Bühne und Kostüme: Thekla Tesch Prinz Friedrich von Homburg in „Prinz Friedrich von Homburg“ von Heinrich von Kleist Regie: Gerhard Meyer Bühne und Kostüme: Ralf Winkler Swerdlow in „Bolschewiki“ von Michail Schatrow Regie: Wolfram Krempel Bühne und Kostüme: Ralf Winkler 1970 Tann in „Die Illegalen“ von Günther Weisenborn Regie: Wolfram Krempel Bühne und Kostüme: Ralf Winkler _ Deutsches Theater Berlin und Kammerspiele 1970 Jüngling in „Doña Rosita bleibt ledig“ von Federico García Lorca Regie: Siegfried Höchst, Horst Sagert Bühne und Kostüme: Horst Sagert

1971 Cherubin in „Der tolle Tag“ von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais Regie: Götz Friedrich Bühne: Reinhart Zimmermann Kostüme: Susanne Raschig Beaumarchais in „Clavigo“ von Johann Wolfgang Goethe Regie: Adolf Dresen Bühne und Kostüme: Achim Freyer (Neuinszenierung 1972) 1972 Merkur in „Amphitryon“ von Peter Hacks. Regie: Friedo Solter Bühne: Gabriele Koerbl, Heinz Wenzel Kostüme: Christine Stromberg Mörder in „Leben und Tod König Richard des Dritten“ von William Shakespeare Regie: Manfred Wekwerth Bühne: Andreas Reinhardt Kostüme: Johanna Kieling 1973 Kont in „Die Kipper“ von Volker Braun Regie: Klaus Erforth, Alexander Stillmark, Bühne und Kostüme: Hans Brosch 1974 Bruder Martin in „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand“ von Johann Wolfgang Goethe Regie: Horst Schönemann Bühne: Helga Leue Kostüme: Christine Stromberg 1975 Tasso in „Torquato Tasso“ von Johann Wolfgang Goethe Regie: Friedo Solter Bühne und Kostüme: Jochen Finke 1976 Edgar in „König Lear“ von William Shakespeare. Regie: Friedo Solter Bühne und Kostüme: Eberhard Keienburg John in „Die Insel“ von Athol Fugard Regie: Klaus Erforth, Alexander Stillmark Bühne und Kostüme: Wasja Götze 1977 Bruno in „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann Regie: Klaus Piontek Bühne und Kostüme: Volker Pfüller Optimistenko in „Das Schwitzbad“ von Wladimir Majakowski Regie: Friedo Solter Bühne und Kostüme: Václav Šrámek

Eberhard Keienburg, 1936 geboren, war von 1974 bis 2001 erster Bühnenbildner/Ausstattungsleiter am Deutschen Theater

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Rollenverzeichnis Odysseus in „Philoktet“ von Heiner Müller. Gemeinschaftsarbeit mit den Schauspielern Alexander Lang und Roman Kaminski Bühne und Kostüme: Wasja Götze 1978 Sempronius in „Horribilicribrifax“ von Andreas Gryphius Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Gero Troike Arnold in „Michael Kramer“ von Gerhart Hauptmann Regie: Wolfgang Heinz Bühne und Kostüme: Gunter Kaiser, Klaus Noeske, Elke Hersmann Mellefont in „Miss Sara Sampson“ von Gotthold Ephraim Lessing Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Hans Brosch 1979 Wotan in „Der entfesselte Wotan“ von Ernst Toller Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Volker Pfüller

1986 Erzieher in „Medea“ von Euripides Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Volker Pfüller Edgar in „Totentanz“ von August Strindberg Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Volker Pfüller 1987 Rakitin in „Ein Monat auf dem Lande“ von Iwan Turgenjew Regie: Thomas Langhoff Bühne: Pieter Hein Kostüme: Ursula Wolg 1988 Seidel in „Transit Europa“ von Volker Braun Regie: Friedo Solter Bühne: Hans-Jürgen Nikulka Kostüme: Heinz Wenzel _ Thalia Theater Hamburg

1980 Davison in „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller Regie: Thomas Langhoff Bühne: Gero Troike Kostüme: Ulrich Schreiber

1988 Adrien in „Rückkehr in die Wüste“ von Bernard-Marie Koltès Regie und Bühne: Alexander Lang Kostüme: Caroline Neven Du Mont

1981 Danton/Robespierre in „Dantons Tod“ von Georg Büchner Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Volker Pfüller

1989 Trilezki in „Platonov“ von Anton Tschechow Regie: Jürgen Flimm Bühne: Rolf Glittenberg Kostüme: Marianne Glittenberg

1982 Gundling in „Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen“ von Heinrich Mann in einer Bühnenfassung von Alexander Lang Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Gero Troike

Maximilian Steinberg in „Besucher“ von Botho Strauß Regie und Bühne: Wilfried Minks Kostüme: Margit Koppendorfer _

1983 Callas in „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ von Bertolt Brecht Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Volker Pfüller

1990 Fernando in „Stella“ von Johann Wolfgang Goethe. Regie: Thomas Langhoff, Bühne und Kostüme: Jürgen Rose _

Wang in „Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Christoph Hein Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Gero Troike 1984 Gothland in „Herzog Theodor von Gothland“ von Christian Dietrich Grabbe

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Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Gero Troike

Münchner Kammerspiele

Schiller Theater Berlin 1990 Faust in „Faust I“ von Johann Wolfgang Goethe. Regie: Alfred Kirchner Bühne: rosalie Dittchen in „Weekend im Paradies“ von Franz Arnold und Ernst Bach Regie: Günther Gerstner Bühne und Kostüme: Marcel Keller


Rollenverzeichnis 1991 Toinette in „Der eingebildete Kranke“ von Molière Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Marcel Keller, Caroline Neven Du Mont Wolke in „Nacht / Nördliche Stadt“ von Reiner Groß Regie: Alexander Lang Bühne und Kostüme: Caroline Neven Du Mont 1992 Pavel in „Böhmen am Meer“ von Volker Braun Regie: Thomas Langhoff Bühne und Kostüme: Volker Pfüller Vater in „Hase Hase“ von Coline Serreau Regie: Benno Besson Bühne und Kostüme: Ezio Toffolutti _ Deutsches Theater Berlin 1992 Gennadi in „Der Wald“ von Alexander N. Ostrowski Regie: Thomas Langhoff Bühne und Kostüme: Volker Pfüller 1993 Hummel in „Die Gespenstersonate“ von August Strindberg Regie: Friedo Solter Bühne: Hans-Jürgen Nikulka Kostüme: Christine Stromberg 1994 Gregor Neuhaus in „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß Regie: Thomas Langhoff Bühne und Kostüme: Peter Schubert Dichter in „Reigen“ von Arthur Schnitzler Regie: Jürgen Gosch Bühne und Kostüme: Donald Becker Seet in „Die Alphabeten“ von Matthias Zschokke Regie: Rolf Winkelgrund, Thomas Langhoff Bühne: Henning Schaller Kostüme: Karin Seydtle 1995 Iwan Woinizki in „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow Regie: Thomas Langhoff Bühne: Pieter Hein Kostüme: Joachim Herzog (Neuinszenierung 2000)

1996 Seichte in „Die Geschichte von Heinrich IV“ von William Shakespeare Regie: Thomas Langhoff Bühne: Pieter Hein Kostüme: Bert Neumann Wladimir in „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett Regie: Jürgen Gosch Bühne und Kostüme: Johannes Schütz _ Salzburger Festspiele 1996 Theseus/Oberon in „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare Regie: Leander Haußmann Bühne und Kostüme: Bert Neumann _ Deutsches Theater Berlin 1997 John Garga in „Im Dickicht der Städte“ von Bertolt Brecht Regie: Johanna Schall Bühne: Philipp Stölzl Kostüme: Jenny Schall Zettel in „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare Regie: Jürgen Gosch Bühne und Kostüme: Johannes Schütz Rosmer in „Rosmersholm“ von Henrik Ibsen Regie: Herbert Olschok Bühne: Olaf Altmann Kostüme: Joachim Herzog 1998 Azdak (Übernahme von Klaus Löwitsch) in „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Regie: Thomas Langhoff Bühne: Pieter Hein Kostüme: Katharina Wagner Duchotel in „Wie man Hasen jagt“ von Georges Feydeau Regie: Thomas Langhoff Bühne: Karl-Ernst Herrmann Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer 1999 Randolph Doogan in „Die Blinden von Kilcrobally“ von George O’Darkney Regie: Johanna Schall Bühne: Robin Oliver Focken Kostüme: Matthias Werner

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Rollenverzeichnis 2000 Voltaire in „Voltaire Rousseau“ von Jean-François Prévand Regie: Alexander Lang Bühne: Heinz Wenzel Kostüme: Sabine Eckert 2001 Sorin in „Die Möwe“ von Anton Tschechow Regie: Thomas Langhoff Bühne: Ulrich Belaschk Kostüme: Joachim Herzog Lear in „König Lear“ von William Shakespeare Regie: Thomas Langhoff Bühne: Karl-Ernst Herrmann Kostüme: Joachim Herzog

Bühne: Jens Kilian Kostüme: Barbara Aigner Der andere Mann in „Heiß“ von Jon Fosse. Regie: Jan Bosse Bühne: Stéphane Laimé Kostüme: Kathrin Plath 2006 Rauch in „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth Regie: Andreas Dresen Bühne: Mathias Fischer-Dieskau Kostüme: Sabine Greunig Kreon in „Medea“ von Euripides Regie: Barbara Frey Bühne: Bettina Meyer Kostüme: Gesine Völlm

2002 Ezra Mannon in „Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill Regie und Kostüme: Konstanze Lauterbach, Bühne: Peter Schubert

2007 Erzähler in „Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl“ von Thomas Brasch Regie: Peter Staatsmann Bühne: Till Exit

Narr in „Was ihr wollt“ von William Shakespeare Regie: Staffan Valdemar Holm Bühne und Kostüme: Bente Lykke Moeller

2008 Serebrjakow in „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz

Caligari in „Doktor Caligari“ (nach Motiven des Stummfilms „Das Cabinet des Dr. Caligari“) Regie und Bühne: Robert Wilson Kostüme: Jacques Reynaud 2003 Willy Loman in „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller Regie: Dimiter Gotscheff Bühne und Kostüme: Anri Koulov 2004 Ajax in „Germania. Stücke“ von Heiner Müller Regie: Dimiter Gotscheff Bühne und Kostüme: Jens Kilian Hans Weiring in „Liebelei“ von Arthur Schnitzler Regie: Tina Lanik Bühne: Magdalena Gut Kostüme: Su Siegmund 2005 Willie Clark in „Sonny Boys“ von Neil Simon Regie: Martin Duncan Bühne und Kostüme: Jon Morell Zauberkönig/Beichtvater in „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth Regie: Dimiter Gotscheff

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Sorin in „Die Möwe“ von Anton Tschechow Regie: Jürgen Gosch Bühne und Kostüme: Johannes Schütz (Koproduktion mit den Salzburger Festspielen und der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz) Samuel Parris in „Hexenjagd“ von Arthur Miller Regie und Bühne: Thomas Schulte-Michels Kostüme: Tanja Liebermann Der Alte/Lottes Mann in „Groß und Klein“ von Botho Strauß Regie: Barbara Frey Bühne: Bettina Meyer Kostüme: Gesine Völlm 2009 Der alte Professor in „Idomeneus“ von Roland Schimmelpfennig Regie: Jürgen Gosch Bühne und Kostüme: Johannes Schütz _ Berliner Ensemble 2010 Luka in „Nachtasyl“ von Maxim Gorki Regie: Thomas Langhoff Bühne: Alexander Wolf Kostüme: Ellen Hofmann


Rollenverzeichnis Homosexueller in „Freedom and Democracy I hate you“ von Mark Ravenhill Regie: Claus Peymann Bühne: Johannes Schütz Kostüme: Wiebke Naujoks, Johannes Schütz _ Deutsches Theater Berlin 2011 Simon in „Über Leben“ von Judith Herzberg Regie Stephan Kimmig Bühne: Katja Haß Kostüme: Anja Rabes 2013 Wilhelm Powileit in „In Zeiten des abnehmen den Lichts“ von Eugen Ruge Regie: Stephan Kimmig Bühne: Katja Haß Kostüme: Anja Rabes 2014 Pozzo in „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett Regie: Ivan Panteleev Bühne und Kostüme: Mark Lammert _ Salzburger Festspiele 2016 Vater in „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ von Thomas Bernhard Regie: Gerd Heinz Bühne: Martin Zehetgruber Kostüme: Jan Meier _ Film- und Fernsehrollen (Auswahl) 1972 Fiedler in „Sechse kommen durch die Welt“ Regie: Rainer Simon 1974 Spaßmacher in „Die Wahlverwandtschaften“ Regie: Siegfried Kühn 1975 Jochen Brodalla in „Broddi“ Regie: Ulrich Thein 1976 Antek in „Ein altes Modell“ Regie: Ulrich Thein

1978 Henni in „P. S.“ Regie: Roland Gräf 1980 Levin in „Levins Mühle“ Regie: Horst Seemann 1981 Cäsar von Mack in „Mephisto“ Regie: István Szabó Kaufhallenleiter in „Jadup und Boel“ Regie: Rainer Simon (Uraufführung 1988) 1983 Vater in „Insel der Schwäne“ Regie: Herrmann Zschoche Karl-Heinz in „Olle Henry“ Regie: Ulrich Weiß 1984 Rudolf Neubert in „Die Zeit der Einsamkeit“ Regie: Peter Vogel 1985 Vincent van Gogh in „Besuch bei Van Gogh“ Regie: Horst Seemann 1986 Vater in „Jan Oppen“ Regie: Karola Hattop 1987 Vernehmer in „Die erste Reihe“ Regie: Peter Vogel 1989 Zschokke in „Pestalozzis Berg“ Regie: Peter von Gunten 1993 Alwin Siebert in „Grüß Gott, Genosse“ Regie: Manfred Stelzer 1995 Lobedanz in „Der Trinker“ Regie: Tom Toelle 2002 Stiefel in „Baby“ Regie: Philipp Stölzl 2005 Maler Waldersee in „Willenbrock“ Regie: Andreas Dresen

1977 Johnny Flint in „Happy End“ Regie: Manfred Wekwerth

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Bildnachweis

Christian Brachwitz: Seite 126 erste Reihe rechts u. vierte Reihe rechts, 158, 195, 196 unten, 198, 199, 201–203, 204 oben, 226; Gisela Brandt: Seite 9, 170, 197; Barbara Braun/MuTphoto: Seite 207; Arno Declair: Umschlagfoto, 206, 296, 327; DEFA: Seite 126 zweite Reihe rechts; Martin Dettloff: Seite 126 zweite Reihe links; Deutscher Fernsehfunk: Seite 88, 92, 126 erste Reihe links u. zweite Reihe mittig; Pepita Engel: Seite 126 dritte Reihe links, 200; Dieter Jaeger: Seite 89–91, 93 oben; Gemarius de Kepper: Seite 84–87, 126 vierte Reihe mittig; Peter Leske: Seite 276; Marcus Lieberenz/www.bildbuehne.de: Seite 20, 205; Adelheid Lorenz: Seite 126 erste Reihe mittig; Helga Paris: Seite 81, 126 vierte Reihe links; privat: Seite 64, 82, 83, 93 unten; 126 dritte Reihe mittig; Willi Saeger/Deutsches Theatermuseum München: Seite 114, 196 oben; Günter Steffen: Seite 94, 95; unbekannt: Seite 126 dritte Reihe rechts, 204 unten

Trotz sorgfältiger Recherche war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber von Abbildungsrechten zu ermitteln beziehungsweise zu erreichen. Personen oder Institutionen, die möglicherweise nicht erreicht wurden und Verwertungsrechte an verwendeten Abbildungen beanspruchen, werden gebeten, sich beim Verlag zu melden.

Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur. Ödön von Horváth

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Hans-Dieter Schütt, Journalist und Autor zahlreicher

Worau

Künstlerbiografien und Interviewbücher, u. a. über

eine B

Regine Hildebrandt, Kurt Böwe, Klaus Löwitsch, Gert Voss, Frank Castorf, Thomas Langhoff, Inge Keller, Ekkehard Schall und Dieter Mann. Er ist Herausgeber

nach v Christ

von „Heiner Müller – Bilder eines Lebens“ (mit Oliver Schwarzkopf) und „Peymann von A bis Z“ und hat gemeinsam mit Ulrich H. Kasten Dokumentarfilme

Mit Be

gedreht, darunter „Die Langhoffs“ und „Der Eiserne

Gunna

Vorhang – Theater in Berlin“. Zuletzt erschien

Jürgen

„Michael Thalheimer – Porträt eines Regisseurs“.

Lutz F Micha

Christ Horst Ulrich

Marce Steffi

Alexan Frank

Dagm

Thoma

Dieter

Volker

Christ

Friedo Klaus

Jutta W

Bernd


Worauf es ankommt, wenn der Schauspieler eine Bühne betritt? Deutlich artikulieren, nach vorn sprechen – und nicht an die Möbel stoßen. Christian Grashof

Mit Beiträgen von Gunnar Decker Jürgen Flimm Lutz Friedel Michael Gwisdek Christoph Hein Horst Hiemer Ulrich Khuon Marcel Kohler Steffi Kühnert Alexander Lang Frank Lehmann Dagmar Manzel Thomas Martin Dieter Montag Volker Pfüller Christine Schorn Friedo Solter Klaus Völker Jutta Wachowiak Bernd Wilms


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