Von Tieren und Menschen. Neue Theaterstücke aus Tschechien

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DIALOG

Von Tieren und Menschen

Neue TheaterstĂźcke aus Tschechien


Wenn ich in der tschechischen Dramatik (nicht nur) der letzten Jahre etwas suche, das sie über die Unterschiedlichkeit der Genres, des Stils und der Form hinweg als ein Ganzes charakterisiert, finde ich vor allem eine gewisse Groteske, ein Bemühen um die Darstellung ernster Probleme mit unernsten Mitteln. Ein Misstrauen gegenüber Pathos, großen Worten und großen Helden führt die tschechischen Autoren zu einem „unheldenhaften“ Drama, das absurde bis deformierte Elemente der Wirklichkeit verdeutlicht. Humor, Abstand, ein ironischer Blick auf die eigene Geschichte und Gegenwart waren und sind kennzeichnend für das tschechische Theater. Die Autoren geben dem Lächerlichmachen Vorrang vor dem Verurteilen, aber mit dieser Unernsthaftigkeit und Ironie gelingt es ihnen oft, schmerzhafte Stellen mit heilender Stärke zu berühren. Aus dem Vorwort von Kamila Černá

Höhe 190 mm


Von Tieren und Menschen Neue TheaterstĂźcke aus Tschechien



Von Tieren und Menschen Neue Theaterstücke aus Tschechien

Herausgegeben von Kamila Černá, Ondřej Černý und Ondřej Svoboda in Kooperation mit dem Kunst- und Theaterinstitut (Prag)


Mit freundlicher Unterstützung durch das tschechische Kulturministerium im Rahmen der 100-Jahr-Feier der Gründung der unabhängigen Tschechoslowakei und im Rahmen des Programms zur Förderung der Publikation von Übersetzungen der tschechischen Literatur im Ausland

Impressum Dialog 29 Von Tieren und Menschen Neue Theaterstücke aus Tschechien Herausgegeben von Kamila Černá, Ondřej Černý und Ondřej Svoboda in Kooperation mit dem Kunst- und Theaterinstitut (Prag) Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Reihe Dialog © Theater der Zeit, Berlin 2018 Verlag Theater der Zeit Verlagsleitung Harald Müller Winsstr. 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktionelle Mitarbeit: Michal Zahálka, Jan Jiřík Grafik: Bild1Druck, Berlin Umschlagabbildung: „Das Schwein oder Václav Havel’s Hunt for a Pig“ von Václav Havel, Uraufführung Brno 2010, Fotos: Viktor Kronbauer Umschlaggestaltung: Sibyll Wahrig Printed in Germany ISBN 978-3-95749-153-4


Inhalt

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Kamila Černá DIE WELT AUF TSCHECHISCH

Václav Havel  27  DAS SCHWEIN ODER VÁCLAV HAVEL’S HUNT FOR A PIG   Anna Saavedra   41  OLGA – HORROR IM HAUSE HAVEL   Milan Uhde  87  WUNDER IM SCHWARZEN HAUS   Petr Kolečko 139 POKERFACE   Petr Zelenka 173 VĔRA 225

Autorinnen und Autoren



DIE WELT AUF TSCHECHISCH

Eines der Stücke, das in der vorliegenden Anthologie enthalten ist, Petr Zelenkas Vĕra, wird mit zwei Zitaten eingeleitet. Das erste stammt aus der Bibel, aus dem MatthäusEvangelium, und lautet: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“, das zweite sind Worte Charles Bukowskis: „Die Welt gehört denen, die sich nicht in die Hose scheißen“. Diese zwei einander widersprechenden Aussagen könnten ebenso gut einen Überblick über die tschechische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einleiten, da sie das Dilemma darstellen, das ein jeder lösen musste, der das Land regiert und auch der, der darin gelebt hat. Unsere Auswahl tschechischer Stücke erscheint zum Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Gründung der Tschechoslowakei, im Jahr 2018 rufen wir uns aber auch andere Jahrestage in Erinnerung – das Münchner Abkommen, das im Jahr 1938 zum Untergang der Tschechoslowakei führte, den kommunistischen Putsch des Jahres 1948, nach dem die Tschechoslowakei im Ostblock und hinter dem Eisernen Vorhang verblieb, die sowjetische Besetzung im Jahr 1968 und das Entstehen der eigenständigen Tschechischen Republik vor 25 Jahren, im Jahr 1993. Nach jeder historischen Wende erstand das erwähnte Dilemma erneut. Denen, die sich nicht „in die Hose geschissen“ haben, gehörte oft nicht nur nicht die Welt, sondern sie zahlten bitter für ihre Tapferkeit. Und vielleicht zahlten die Sanftmütigen noch mehr, die während der totalitären Repressionen um ihre Selbstachtung gebracht wurden. Das alles spiegelt sich natürlich auch in der Geschichte der tschechischen Dramatik wider, nicht nur in den Schicksalen der Autoren, sondern auch in der Art, wie ihre Texte die Gegenwart reflektieren – in Zeiten der Totalität war das nur in Form einer Parabel oder einer grotesken Hyperbel möglich. Zwei der Autoren dieser Anthologie, Václav Havel und Milan Uhde, erschienen bereits in den sechziger Jahren das erste Mal auf tschechischen Bühnen, beide zählten nach 1968 zu den verbotenen Autoren, beide wurden nach 1989 zu anerkannten Politikern und beiden gelang im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends ein beachtenswertes Comeback als Dramatiker, als Uhdes Zázrak v černém domě (Wunder im schwarzen Haus) im Jahr 2007 und Havels Odcházení (Abgang) im Jahr 2008 von der Kritik zum besten tschechischen Stück des Jahres erklärt wurden. Zwischen den ersten Stücken dieser Autoren und den Texten der jüngsten Generation tschechischer Dramatiker, die in diesem Buch vertreten sind, liegen mehr als fünfzig Jahre, dennoch verbindet sie die Fähigkeit, die absurden Elemente unserer gegenwärti7


gen Gesellschaft zu durchschauen, sie mit den Mitteln der Dramatik deutlich zu machen und so indirekt die wesentlichen Züge ihrer Zeit zu benennen. Diese Geistesverwandtschaft bekräftigt nur die Tatsache, dass, wenn wir über die Entwicklung des modernen tschechischen Dramas reden wollen, es notwendig ist, ihre Anfänge und die zahlreichen Inspirationen in der Dramatik der sechziger Jahre zu suchen.

DIE SECHZIGER JAHRE Die sechziger Jahre sind ein wesentlicher Meilenstein in der tschechischen Geschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und haben eine Schlüsselrolle für das Verständnis der modernen tschechischen Literatur, des Theaters und der Dramatik. Nach den stalinistischen fünfziger Jahren gab es in der Tschechoslowakei eine politische und kulturelle Lockerung, die als eine Periode der geistigen und künstlerischen Regeneration wahrgenommen wurde. Nicht lange danach wurde sie durch die sowjetische Invasion des Jahres 1968 beendet, aber durch die nächsten zwanzig Jahre der Unfreiheit hindurch erinnerte sich die ganze Nation an diese Periode als eine Zeit großer Hoffnungen und eines lebendigen künstlerischen Aufschwungs. Sogar für die neuen Generationen, die die sechziger Jahre nicht mehr erlebt hatten, waren diese Ära und ihre Literatur, ihr Film, Theater und ihre Populär- und Rockmusik etwas beinahe Mystisches, mit dem die graue und eingeschränkte Wirklichkeit der nachfolgenden Jahre verglichen wurde. Das tschechische Theater und Drama der sechziger Jahre erlebte seine größte Blütezeit seit der Nachkriegszeit und gelangte auch zu einer breiteren internationalen Wahrnehmung, als die besten Inszenierungen des Činoherní klub (der Regisseure Smoček und Kačer), Otomar Krejčas Divadlo za branou (Theater hinter dem Tor), oder des Divadlo Na zábradlí (Theater am Geländer, Regisseur Grossman) nach Westeuropa reisen durften. In der tschechischen Theaterszene tauchten Autoren auf, deren Stücke nicht nur zu Hause Anerkennung erlangten, sondern auch im Ausland, und einige von ihnen gehören bis heute zu den weltweit meistgespielten tschechischen Dramatikern. Es sind vor allem ­Václav Havel, Josef Topol, Milan Uhde, Pavel Kohout, Ludvík Aškenazy, Ivan Klíma, ­Ladislav Smoček. Seit Beginn der sechziger Jahre können wir im tschechischen Drama zwei grundlegende Richtungen bzw. künstlerische Methoden beobachten, die auch nachfolgende Autoren maßgeblich beeinflussten und sich oftmals auch in den Werken zeitgenössischer Dramatiker widerspiegeln: Es ist einerseits das so genannte lyrische Drama, dessen Autoren eine Reflexion der Gefühle und Atmosphäre dieser Zeit mittels der dichterischen Metapher versuchten. Zu ihnen gehören vor allem František Hrubín (Srpnová neděle – Augustsonntag, Křišťálová noc – Kristallnacht), Josef Topol (Konec masopustu – Fastnachts­ 8


ende, Hodina lásky – Die Stunde der Liebe, Kočka na kolejích – Die Katze auf dem Gleis) und Ludvík Aškenazy (Host – Der Gast). Die zweite Richtung des dramatischen Schaffens war ein eigenständiger Typ des absurden Dramas, genauer gesagt ein Modelldrama mit Elementen der absurden Dramatik, die die grotesken bzw. paradoxen Momente der Gegenwart verdeutlichen. Diesen Typ des Dramas schrieben Milan Uhde (Výběrčí – Gasmann, Král-Vávra – König Vavra), Ladislav Smoček (Piknik – Picknick, Bludiště – Irrgarten, Podivné odpoledne doktora Zvonka Burkeho – Der merkwürdige Nachmittag des Doktor Zvonek Burke) und Milan Kundera (Majitelé klíčů – Die Eigentümer des Schlüssels, Ptákovina – Unsinnigkeit), aber sein prononciertester Vertreter war Václav Havel. Seine Dramen nach dem Grundriss des Modelldramas enthüllten die konkreten Mechanismen des Funktionierens des totalitären sozialistischen Systems und wurden als ein Infragestellen seiner Reformierbarkeit verstanden, die in der Tschechoslowakei damals angestrebt wurde. Das zentrale Thema in Havels erfolgreichstem Stück aus den sechziger Jahren, Zahradní slavnosti (Das Gartenfest), ist das Verhältnis des Menschen zum System, die Frage nach der Anpassungsfähigkeit des Einzelnen und der Erhalt der eigenen Identität. Hugo Pludek, der junge Held des Stücks, hat durch sein völliges Anpassungsvermögen schnellen Erfolg auf dem Karriereweg, bezahlt es aber mit dem Verlust der eigenen Identität und der vollkommenen Entmenschlichung. Einen ähnlichen Charakter hat auch Havels Stück Vyrozumění (Die Benachrichtigung) aus dem Jahr 1965. Es handelt von bürokratischen Mechanismen in einem nicht näher festgelegten Amt, wo die künstliche Amtssprache „Ptydepe“ durch die neue, genauso unverständliche Sprache „Chorukor“ ersetzt wird. Am eigentlichen Wesen des bürokratischen Systems aber ändert sich überhaupt nichts – es bleibt irrational, absurd und schränkt die Freiheit des Einzelnen ein. Diese Stücke wurden als eine sehr scharfe Reflexion der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit des kommunistischen Regimes wahrgenommen.

DIE NORMALISIERUNG Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die sowjetischen Truppen im August 1968 begann die Ära der sogenannten „Normalisierung“. In der Welt des Theaters bedeutete das, dass die kompetentesten kreativen Köpfe aus politischen Gründen aus den Führungspositionen entfernt und durch politischen Kader oft ohne Talent und Fachkompetenz ersetzt wurden. Einige Theater wurden geschlossen, andere verloren ihre besten Regisseure, Dramaturgen und Dramatiker. Während der Normalisierung emigrierten einige der erfolgreichsten tschechischen Dramatiker (Ludvík Aškenazy, Pavel Kohout, K ­ arel 9


Sidon, Milan Kundera), andere blieben in der Tschechoslowakei, wurden aber gänzlich um die Möglichkeit gebracht, ihre Stücke auf der Bühne zu sehen (Václav Havel, Josef Topol, Ivan Klíma), andere schrieben unter einem fremden Namen (z. B. Milan Uhde, der für das Divadlo na provázku die Texte für einige erfolgreiche Inszenierungen schrieb). Trotz aller Einschränkungen, die das Theater während der Normalisierung erlitt, erfreute es sich weiterhin großen Publikumsinteresses. Die Zuschauer nahmen mit Dankbarkeit jene Teile der Vorstellung auf, die mit den Mitteln der Allegorie und Metapher versteckte Aussagen über die Gegenwart trafen und so indirekt das Regime angriffen. Das war übrigens für das tschechische Theater lange typisch – es erlebte eine ähnliche Situation in der Zeit der habsburgischen Monarchie, wo es um eine nationale Identität kämpfte, dann in Zeiten der NS-Okkupation und auch in den fünfziger Jahren. Wieder spielte man verborgen gegen die offizielle Herrschaft an, das Erwähnen von Freiheit oder Regimekritik konnten nur verborgen erfolgen. Einen großen Einfluss vor allem auf das jüngere Publikum hatten zu dieser Zeit kleinere Theater, Studio- oder experimentelle Bühnen genannt (z. B. Divadlo na provázku, Hadivadlo, Studio Ypsilon, Divadlo na okraji oder das Činoherní studio in Ústí nad Labem und weitere), die sich oft anderer theatraler Mittel bedienten als die offiziellen Bühnen, um sich auszudrücken, auch eines anderen, nicht-psychologischen Schauspiels. Und hier wurde auch ein spezifischer Typ der Dramatik geboren – ein Autorentheater, wo ein Theaterstück, eine Dramatisierung oder ein Skript oftmals in kollektiver Zusammenarbeit des gesamten Ensembles entstand, angeführt von einem Dramatiker, Dramaturgen oder einem Regisseur. Neben dem dramatischen Schaffen des Autorentheaters, das damals eine ­markante und progressive Rolle spielte, begannen sich seit Beginn der achtziger Jahre – aber immer deutlicher vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts – Dramatiker durchzusetzen, die sich bemühten, ihre Ansichten indirekt auszusprechen, mit Mitteln der allgemein anklingenden, bildhaften Parabel. Es ging vor allem um die Stücke von Daniela Fischerová, Karel Steigerwald und Arnošt Goldflam. Fischerová nutzte mit Vorliebe traditionelle literarische Stoffe und Motive (Princezna T. – Prinzessin T., Báj – Die Sage), und auch bekannte Legenden oder Märchengeschichten, allerdings mit einer Bedeutungsänderung und manchmal einer umgekehrten Interpretation. In den Stücken wurde die „Kollaboration“ mit dem Bösen und der Macht und die Verderblichkeit des Lebenspragmatismus thematisiert, stilistisch ging es um eine Kombination einer antiillusorischen Kompositionstechnik und einer eigentümlichen Sprache voller dichterischer Metaphern. Steigerwalds Poetik liegt näher an der Linie der Modelldramatik, seine Stücke Dobové tance (Tänze der Zeit), Foxtrot, Tatarská pouť (Tatarenfest) und Neapolská choroba (Neapolitanische Krankheit) legen den Zuschauern ein grotesk stilisiertes Bild einer den Mechanismen der Heuchelei unterliegenden Gesellschaft vor. Der Autor reduziert die dramatische Sprache auf Phrasen und sprachliche Automatismen. Goldflam ist Autor 10


eigensinniger collagierter Texte (er begann mit Adaptationen, Dramatisierungen und Drehbüchern), in denen er die Methode der assoziativen Verbindung anwendet, aber auch eine psychologische Figurenzeichnung (Návrat ztraceného syna – Die Rückkehr des verlorenen Sohns), Útržky z nedokončeného románu (Abrisse eines unvollendeten Romans), Písek (Der Sand). Er verbindet Modellsituationen mit einer lyrischen und etwas gespenstischen Vision. Eine bedeutende Persönlichkeit des tschechischen Theaters Ende der achtziger Jahre (eine Generation jünger als die zuletzt genannten drei Autoren) ist Jan Antonín Pitínský, Dramatiker und Regisseur. Seine Stücke Ananas und Matka (Die Mutter) waren eine der ersten Erscheinungsformen der postmodernen Poetik im tschechischen Drama. Das erste Stück ist eine assoziative Montage der bedeutenden Themen und Motive dieser Zeit; das zweite, formal organischere, eine ironische Paraphrase des sozialen und pseudorealistischen Dramas, dessen absichtsvoll deformierte Sprache aus dem Dialekt, Slang und dem politischen Jargon schöpft. Ende der achtziger Jahre teilte sich die tschechische Dramatik immer noch in die offiziell erlaubten und die verbotenen Autoren auf (seien es die in der Tschechoslowakei verbliebenen oder die emigrierten), auch wenn in der Zeit kurz vor der Wende auch (ausnahmsweise) Werke von Autoren aus der „parallelen Zone“ (Topol, Uhde, Havel) auf die tschechischen Bühnen zu dringen begannen. Viele Theater äußerten sich dank der sowjetischen „Perestroika“ immer offener zur politischen Situation. Die Möglichkeit der unmittelbaren Reaktion, der direkte Kontakt mit dem Publikum – das alles machte aus den damaligen Theatern imaginierte, ideelle „Gemeindezentren“, was logischerweise in ihre bedeutende Rolle während der „samtenen“ Revolution im Jahr 1989 mündete, wo ein Präsident und Dramatiker an die Staatsspitze gelangte.

DIE NEUNZIGER JAHRE Die Veränderung des politischen Regimes bedeutete für das tschechische Theater paradoxerweise einen Verlust der besonderen Stellung, die es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und dann während der „samtenen“ Revolution hatte. Es hörte auf, ein politisches Forum zu sein, das auf die aktuelle Gegenwart reagierte und zum Teil auch die Rolle der freien Medien ersetzte, und musste sich mit der neuen Wirklichkeit und dem Desinteresse der Zuschauer abfinden, das eine natürliche Folge des Interesses der Menschen an allem Neuen war, das die gesellschaftlichen Veränderungen und die plötzliche Freiheit mit sich brachte. Das tschechische Theater ging unsicher in die neunziger Jahre und dies nicht nur aufgrund des Desinteresses der Zuschauer. Es begann sichtbar zu werden, dass die Nor11


malisierung das künstlerische und professionelle Niveau zerrüttet hatte. Während der vergangenen zwanzig Jahre war es de facto um seine führende Bühne gebracht worden – das Nationaltheater war unter scharfe politische Aufsicht geraten, es war zu einem großen künstlerischen Verfall gekommen, Regie hatten vor allem „bewilligte“ Regisseure geführt, und man hatte bis auf wenige Ausnahmen ein vorsichtiges Repertoire aufgeführt, das der Ära Tribut zollte. Das tschechische Theater verlor dadurch sein natürliches Zentrum, das früher die künstlerische Richtung des tschechischen Theaters und Dramas vorgegeben hatte, und das lebendige Theatergeschehen verlagerte sich in den siebziger Jahren in die schon erwähnten Studio- und experimentellen Theater. Nach 1989 konnte sich das Schauspiel des Nationaltheaters nicht wieder als ein wesentlicher Initiator für die Entstehung neuer Stücke profilieren. Die wesentlichen Ereignisse des tschechischen Schauspieltheaters und des Dramas der neunziger Jahre passierten großteils woanders als im Nationaltheater und in den großen „steinernen“ Theatern, und diese Situation änderte sich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten nicht grundlegend. Ihre Bedeutung verloren aber auch die erwähnten Studiobühnen, die fast zu sehr mit einer Theaterform verbunden waren, die im besten Sinne politisch war, basierend auf einem engen Kontakt mit und Zugehörigkeit zum Publikum, und auf Themen, die die Zuschauer aus dem Grau und der Vorsicht der Normalisierungsjahre aufrüttelten. Eine neue Ausrichtung suchten diese Theater mit großer Mühe, und keines von ihnen konnte seine künstlerische Blütezeit der siebziger bzw. achtziger Jahre übertreffen. Nach November 1989 setzte auf den tschechischen Bühnen zuerst ein Boom der Aufführungen bisher verbotener Autoren ein: Havel, Uhde, Sidon, Topol, Kohout … Gleichzeitig aber hörte der Großteil dieser Autoren aus diversen Gründen mit dem Schreiben auf, sei es, weil sie aktiv in die Politik einstiegen (Havel wurde Präsident, Uhde Kulturminister und Parlamentspräsident, Sidon Oberrabbiner des Landes), oder sich aus der Öffentlichkeit zurückzogen (Topol). Manche Dramatiker machten ohne Probleme auch nach der Revolution weiter. Das betrifft vor allem das schon erwähnte Trio Steigerwald (Hoře, hoře, strach, oprátka a jáma – Gram Gram Angst Strick und Grube, Nobel u. a.), Goldflam (Lásky den – Tag der Liebe, Sladký Theresienstadt – Süßes Theresienstadt, U Hitlerů v kuchyni – Bei Hitlers in der Küche u. a.) und Fischerová (Náhlé neštěstí – Plötzliches Unglück, Fantomima u. a.), auch wenn ihre Stücke nie mehr so erfolgreich waren wie vor der Revolution. Pitínský schrieb Anfang der neunziger Jahre Park (Der Park, 1991), eine Parabel über Demut, Schuld und Erlösung, die Geschichte eines modernen Schiffbrüchigen und Außenseiters, und Pokojíček (Das Zimmerchen, 1993), das die verformte Welt familiärer Beziehungen zeigt. Die größte Resonanz aber erhielt er mit der Regie seiner eigenen szenischen Adaptationen (Sestra úzkost – Schwester Angst, Osm a půl – Achteinhalb, Její pastorkyňa – Ihre Ziehtochter). 12


Unmittelbar nach dem Novemberumsturz fanden sich keine Autoren, die prägnant auf die neuen Themen reagiert hätten, die diese Zeit mit sich brachte. Und das, obwohl eine ganze neue, junge Generation von Autoren ins tschechische Theaterleben startete. Das hatte mehrere Gründe – einer von ihnen war der oftmals erwähnte „Verlust des Feindes“: Es gab niemanden, gegen den man hätte anschreiben können, und wenn es jemanden gab, blieb das Gefühl, dass die Demokratie noch zerbrechlich sei und auf eine gewisse Art geschont werden müsse. Die angehenden Autoren suchten ihre Themen vor allem auf dem Gebiet des Privaten, es ging ihnen eher darum, persönliche Gefühle zu benennen oder die Atmosphäre der Zeit zu erfassen, als die Wirklichkeit mit den Mitteln des Dramas, einer „realen“ Geschichte und einer klassischen dramatischen Form, zu reflektieren. Die Theater gingen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre durch eine Zuschauerkrise, und ein neues tschechisches Stück auf den Spielplan zu setzen, war hochgradig riskant. Neue Autoren und neue Stücke wurden in dieser Zeit weniger durch die Dramaturgie eines Theaters initiiert, sondern eher dank des Dramatikwettbewerbs um den Alfréd-Radok-Preis, der im Jahr 1992 aus einer Initiative der Theaterzeitschrift Svět a divadlo (Welt und Theater) und der Literatur- und Theateragentur Aura-Pont für die Alfréd-Radok-Stiftung entstand. Dies beeinflusste grundlegend die Aufmerksamkeit für neue dramatische Texte in der Tschechischen Republik und unterstützte ihre Produktion. Unter den Finalisten und Siegern dieses Wettbewerbs finden wir den Großteil der Autoren, die nach 1990 auf den Theaterbühnen debütierten. Es ist schwer, für die Siegertexte des ersten Jahrzehnts des Wettbewerbs gemeinsame Züge zu finden – eine Reihe von Autoren durchlief ihn, die sich in Alter und Poetik unterschieden und sich von unterschiedlichen Typen und Genres des zeitgenössischen Theaters und von unterschiedlichen Themen angezogen fühlten – von den mythischen und historischen über das lyrische Drama bis hin zum harten, so genannten „in-yerface“-Naturalismus. Wenn sich eine Gemeinsamkeit finden lässt, dann eine gewisse Groteske, Verzerrung bzw. Surrealität des Autorenblicks. Die Theaterkritikerin Marie Reslová charakterisiert zwei verschiedene schriftstellerische „Schulen“ des ersten Jahrzehnts des Wettbewerbs folgendermaßen: „Bis auf wenige Ausnahmen kommen diese Autoren aus den Reihen der Studenten der Prager Akademie für darstellende Kunst DAMU (Jiří Pokorný, Markéta Bláhová, Michal Lang, Zdeněk Jecelín), wo sie Studenten von Jaroslav Vostrý waren, und von der Brünner DAMU (Marek Horoščák, Luboš Balák, Roman Sikora, Pavel Trtílek), wo es sich durchweg um Teilnehmer des Ateliers für kreatives Schreiben von Prof. Bořivoj Srba handelt. Auch wenn die Stücke der genannten Autoren gut erkennbare, individuelle formale Züge und sich wiederholende Themen haben, ist es möglich, bei den Absolventen der Brünner Fakultät ein wesentliches Streben hin zur Expressivität der verwendeten sprachlichen Mittel und zu surrealen Situationen zu erkennen. Das dramatische Schaffen der DAMU-Absolventen hat keine gemeinsamen Grundzüge. Der 13


harte Naturalismus der Handlung von Pokornýs Texten (Taťka střílí góly – Papa schießt ein Tor, Odpočívej v pokoji – Ruhe in Frieden), stark beeinflusst von der Welle der so genannten ,in-yer-face‘-Dramatik, überhöht die sprachliche Stilisierung auch mit den Elementen des Surrealismus. Zdeněk Jecelín schreibt seine modernen Versionen von mythischen und literarischen Stoffen (Tristan a Izolda – Tristan und Isolde), Markéta Bláhová ‚mädchenhafte‘, psychoanalytisch-surreale dramatische Bilder (Pastička – Die Mausefalle).“1 Weitere, oben nicht genannte Autoren, die in ihren Anfängen erfolgreich den RadekWettbewerb durchschritten haben, sind u. a. Egon Tobiáš mit lyrisch-phantastischen Texten voller unerwarteter Bedeutungen und Wortspiele, Miroslav Bambušek mit seinen derben, surrealen Visionen und Versuchen um ein politisches Drama, David Drábek und sein existentialistisches Kabarett, die Schauspielerin Iva Volánková und ihre poetischpsychologischen dramatischen Studien. Auch wenn der Wettbewerb um den Alfréd-Radok-Preis in dieser Zeit in einem großen Maße das Bild des tschechischen Gegenwartsdramas prägte, gab es selbstverständlich auch Autoren, deren Stücke außerhalb dieses Wettbewerbs entstanden, oftmals in Zusammenarbeit mit einem konkreten Theater. Neben dem bereits erwähnten Dramatiker-Trio Fischerová, Goldflam und Steigerwald kehrte Milan Uhde zum Schreiben von Stücken zurück, und Pavel Kohout schreibt immer noch. Aus der älteren Autorengeneration muss auch noch Iva Peřinová erwähnt werden, Autorin für Marionettentheater, die am häufigsten mit dem Naiven Theater Liberec zusammenarbeitet und die sich in ihren Texten mit Humor zur „tschechischen Frage“ äußerte (Alina, Krásný nadhasič aneb Požár Národního divadla – Der schöne Feuerwehrhauptmann oder der Brand des Nationaltheaters u. a.) Für das Pilsener J. K. Tyl-Theater schrieb der örtliche Schauspieler Antonín Procházka seine erfolgreichen Situationskomödien, für das Theater von Dejvice schrieb Regisseur Miroslav Krobot. René Levínský begann seine absurd-realistischen Texte mit dem Königsgrätzer Ensemble Nejhodnější medvídci (Die allerbravesten Bärchen). Außerhalb des Radok-Wettbewerbs verblieb auch die begabte Dramatikerin Lenka Lagronová mit innerlichen, auf das seelische abzielenden Texten. Ein kleiner Fixstern des tschechischen Theaterlebens bleiben die Stücke Ladislav Smoljaks und Zdeěk Svěráks. Diese behaupten, dass ihre dramatischen Texte (der erste stammt aus dem Jahr 1967) das Vermächtnis des Genies Jára Cimrman seien, eines Wissenschaftlers, Erfinders, Dramatikers und Universalgelehrten. Die Stücke und auch die Figur Cimrmans erlangten über die Jahre eine derartige Popularität in Tschechien, dass, als das Tschechische Fernsehen einen ernst gemeinten Wettbewerb um den „größten“ 1 Marie Reslová: „Contemporary Czech Drama, its Generations and Soloists“, in: Let‘s Play Czechs, Praha, Divadelní ústav 2004, S. 5.

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(sprich: bedeutendsten) Tschechen aller Zeiten ausrief, bei der Zuschauerabstimmung ebendieses nichtexistierende Genie gewann.

DAS NEUE JAHRTAUSEND Die neunziger Jahre bedeuteten vor allem für die jüngere Autorengeneration ein Sichabgleichen mit den Trends der europäischen Dramatik, eine Periode des Suchens. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends aber erscheinen einige beachtenswerte neue Stücke, die an die beste Tradition der tschechischen modernen Dramatik anknüpfen und der tschechischen Dramatik den Beginn besserer Zeiten verkündeten. Der Filmregisseur und Drehbuchschreiber Petr Zelenka stellte sich mit dem Stück Příběhy obyčejného šílenství (Geschichten des alltäglichen Wahnsinns) auch als Dramatiker und erstmals als Theaterregisseur vor. Er schrieb das Stück 2001, als er vergeblich ein zeitgenössisches tschechisches Stück suchte, das er im Dejvické divadlo (Theater in Dejvice) in Prag hätte inszenieren können. Die Geschichten des alltäglichen Wahnsinns haben mit Zelenkas Filmdrehbüchern die Art gemein, durch die es dem Autor gelingt, mittels einer Kombination bizarrer Momente, entgleister Situationen und authentisch ausgestellter Figuren etwas irgendwie Wesentliches des (irren) Charakters der Zeit zu erfassen. Das Dejvické divadlo führte im Jahr 2005 auch einen weiteren erfolgreichen dramatischen Text Zelenkas auf – das Stück Teremin (Theremin), in dem der Autor die Geschichte des russischen Wissenschaftlers und Musikers Leon Theremin verarbeitete. Anhand dessen bizarrem Schicksal zeigt Zelenka nicht nur den Lebenslauf eines Erfinders, sondern auch die historischen Zusammenhänge auf, in deren Netz Theremin geriet, inklusive des stalinistischen Terrors und der persönlichen Unfreiheit inmitten des amerikanischen Traums. Ein weiterer bedeutender Dramatiker des ersten Jahrzehnts ist David Drábek. Schon an der Universität, wo er Theater- und Filmwissenschaften studierte, begründete er das moderne Kabarett Hořící žirafy (Brennende Giraffen), wo er Autor und Regisseur aller Inszenierungen war. Drábeks Texte sind durch ungezügelten Humor, ungestüme Assoziationen und durch verbale Äquilibristik gekennzeichnet. Mit Vorliebe benutzt er in seinen Stücken die charakteristischen Klischees unserer Zeit: den Kitsch, die Medienwelt, die Massen- und Kommerzkultur. Im Jahr 1995 erhielt er den Alfréd-Radok-Preis für den Text Jana z parku (Jana aus dem Park) und 2003 eine Auszeichnung für das Stück Akvabely (Die Synchronschwimmer), dessen Erzählung von drei Freunden, die ein eigenartiges Steckenpferd verbindet – bei gemeinsamen Treffen widmen sie sich dem Synchronschwimmen, dem simultanen Schwimm-„Tanz“ im Schwimmbecken. Einer von ihnen ist ein populärer TV-Moderator, der zweite ein Lehrer, der stur gegen den Konsum kämpft, der dritte träumt davon, ein Fischotter zu werden, was ihm am Schluss des Stücks auch 15


gelingt. Akvabely ist ein Stück über den Verlust falscher Sicherheiten und über die Suche nach den richtigen Werten im Leben. Anders als in vielen Stücken dieser Zeit mit ihren geradlinigen Botschaften ist Akvabely eine Parabel auf die Gegenwart mit Tiefgang und Humor. Die gesamten neunziger Jahre hindurch wartete das tschechische Theater, wann denn ein Stück erscheinen würde, in dem sich das widerspiegelt, was die Gesellschaft in der letzten Zeit durchgemacht hat. Die tschechischen Dramatiker berührten diese Themen zwar von Zeit zu Zeit, suchten sie aber meist nicht gezielt auf. Erst ab 2005 gab es Stücke, die mit neuem Blick auf die tschechische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sahen und sich zum gegenwärtigen Zustand der politischen Kultur und der Demokratie in der Tschechischen Republik äußerten. Der Dramatiker und Regisseur Miroslav Bambušek führte mit seinem Projekt Perzekuce.cz, das von Herbst 2005 bis Frühling 2006 in den Räumen einer ehemaligen Fabrik realisiert wurde, insgesamt sechs neue Texte auf. In dem Projekt ging es um das Aufdecken der Gründe, Motive und Folgen der NS-Besatzung der Tschechoslowakei und um das menschliche Leid, die sie sowohl den Deutschen als auch den Tschechen brachte, um die Vertreibung der Deutschen und um das kommunistische Regime. Am meisten geschätzt wurden zwei Texte – Miroslav Bambušeks Stücks Porta apostolorum konzentrierte sich auf die wilde Aussiedelung der Deutschen kurz nach dem Krieg, bei der es zu Massenhinrichtungen in den Orten Žatec (Saatz) und Postoloprty (Postelberg) kam. Karel Steigerwald widmete sich in seinem Stück Horáková x Gottwald dem Justizmord an der Juristin Milada Horáková, die 1949 von den Kommunisten des Hochverrats beschuldigt und 1950 in einem inszenierten Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Auch wenn der Autor mit historischen Fakten arbeitete, gab er dem Stück einen beunruhigenden Ton, der sich auf allgemeine Fragen zum Totalitären bezog und eine klar antikommunistische Einstellung hatte. Was alle Teile von Perzekuce.cz im Grunde zusammenhielt, war nicht nur der Protest gegen Willkür und Gewalt, sondern auch ein Ablehnen einfacher Lösungen und Urteile. Dank der Skandale und der Unbeholfenheit der tschechischen Politik kehrte ins tschechische Drama auch das beinahe vergessene Genre der politischen Satire zurück. Den größten Nachhall fand es in Iva Volánková-Klestilovás Trilogie Má vlast (Meine Heimat, 2006). Satirische Texte dieses Typs tauchten danach regelmäßig als Reaktion auf das aktuelle politische Geschehen auf tschechischen Bühnen auf, in letzter Zeit war z. B. Petr Micháleks Stück Ovčáček Čtveráček (Ovčáček, der Witzbold, 2016) über den unbeliebten und verlachten Pressesprecher von Präsident Zeman sehr erfolgreich. Zu den größten Ereignissen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gehörten die bereits erwähnten Uraufführungen neuer Stücke von Milan Uhde und Václav Havel. Milan Uhde, einer der herausragenden tschechischen Dramatiker der sechziger Jahre, 16


Dissident und nach der Revolution Kulturminister und Parlamentspräsident, schrieb nach längerer Pause das neue Stück Zázrak v černém domě (Wunder im schwarzen Haus), das das Theater Na zábradlí (Am Geländer) 2007 uraufführte und das laut Kritik das beste tschechische Stück des Jahres war. Von diesem Stück wird noch die Rede sein, es gehört zu den in dieser Anthologie aufgenommenen Texten. Im Jahr 2008 kehrte nach 21 Jahren Pause auch Václav Havel mit einem neuen Stück auf die tschechischen Bühnen zurück. Sein Drama Odcházení (Abgang) ist die Geschichte von Dr. Rieger, der aus der Spitzenpolitik ausscheidet. Die selbstironische Bilanz der scheidenden ersten postsozialistischen politischen Garnitur und der sarkastische Blick auf den Antritt der nachfolgenden politischen Generation werden im Text von spielerischen Andeutungen auf Tschechows Kirschgarten und Shakespeares König Lear, aber auch auf Havels eigene Werke durchdrungen. „Es ist nicht möglich, nicht an Hugo Pludek zu denken, den Held des Gartenfests, der seine Karriere mit einer totalen Verleugnung des eigenen Ichs beginnt. In seinem neuen Stück führt Havel Rieger (der ein alternder Pludek sein könnte) am Ende seiner Karriere zu einem fürchterlichen moralischen Suizid dadurch, dass dieser Held zum ‚Berater der Berater der Berater‘ der antretenden, korrumpierten Politikergeneration wird.“2 Das schrieb die führende tschechische Theaterwissenschaftlerin Jana Patočková über das Stück. Havels Odcházení bleibt ein singuläres Beispiel dafür, wie sich ein Politiker seines Formats durch die Mittel des Theaters mit dem Abgang aus der hohen Politik abfindet. Gleichzeitig mit diesen berühmtesten bzw. gut eingeführten Namen der tschechischen Dramatik beginnt im ersten Jahrzehnt die jüngste Dramatikergeneration ihr Schaffen. Im Gegensatz zu den neunziger Jahren schaut sie weniger zur Dramatik des Auslands auf, sondern bemüht sich um einen eigenen, originellen Ausdruck, und einige von ihnen setzen sich in den nächsten Jahren markanter durch. Dazu gehören Roman Sikora, Petr Kolečko, Anna Saavedra, Jaroslav Rudiš, Kateřina Rudčenková, Eva Prchalová und andere.

DAS ZWEITE JAHRZEHNT Nur sehr schwer lässt sich für die tschechische Dramatik der letzten zehn Jahre ein gemeinsamer Nenner finden. Sie wird hauptsächlich durch ihre Vielfalt der Stile, der dramatischen Zugänge, der Themen und der Ansichten geprägt. Von den Autoren der sechziger Jahre schreiben noch Milan Uhde und Pavel Kohout. Uhde arbeitet hauptsächlich mit Brünner Theatern zusammen. Im Tandem mit dem Komponisten Miloš Štědroň führte er das Stück Leoš aneb Tvá nejvěrnější (Leoš oder deine Allertreueste, 2011) über 2

Jana Patočková: „Václav Havel Leaving and Returning“, in: Czech Theatre 28 (2012), S. 8.

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Leoš Janáček auf, in dem der berühmte Komponist Resümee über sein reiches Gefühlsund Sexualleben zieht, oder die Kabarettoper zum Thema Mozart Moc Art aneb Amadeus v Brně (Amadeus in Brünn, 2014). Seine Texte entlasten, ohne sich anzubiedern, das zentrale Thema durch Humor und konfrontierten die Geschichten der berühmten Musiker erfolgreich mit dem gegenwärtigen Lebensgefühl. Die bewusste Plakativität von Kohouts Stücken Nuly (Die Nullen, 2000), Hašler…, (2013), Vítězný únor (Der siegreiche Februar, 2016) nimmt das tschechische Theater eher mit Verlegenheit auf, seine dramatischen Reflexionen der tschechischen Geschichte werden trotz des unbestreitbaren Gefühls für dramatische Situationen und der hervorragend gebauten Dialoge oft als oberflächlich wahrgenommen. Karel Steigerwald führte seine Erkundung des tschechischen Nationalverhaltens in den Stücken Má vzdálená vlast (Meine entfernte Heimat, 2012) über das Schicksal einer tschechischen Emigrantin und Cena facky aneb Gottwaldovy boty (Der Preis der Ohrfeige oder Gottwalds Schuhe, 2014) über die gewaltsame Kollektivierung des ländlichen Raums fort. Aus Petr Zelenka wurde der erfolgreichste tschechische Gegenwartsdramatiker, seine Stücke werden auch im Ausland gespielt. Ohrožené druhy (Bedrohte Arten, 2011), Dabing Street (Dubbing Street, 2012), Věra (2014, in dieser Anthologie vertreten) und Elegance molekuly (Die Eleganz der Moleküle, 2018) gehörten zu den wichtigsten Stücken der jeweiligen Spielzeit auf tschechischen Bühnen. Drábeks Stück Jedlíci čokolády (Die Schokoladenesser), ein Panoptikum bizarrer Figuren, an den charakteristischen Obsessionen unserer Zeit leidend, erhielt den Preis als bestes Stück des Jahres 2011, sein Stück Koule (Einsame Spitze – aus dem Leben einer Kugelstoßerin, 2012), über eine berühmte Kugelstoßerin der sozialistischen Ära und die Armseligkeit der heutigen Medienwelt, weckte die Begeisterung der Kritik und den Protest von Sportlern, die sich angegriffen fühlten. Von den Autoren der mittleren Generation ist der Wissenschaftler und Mathematiker René Levínský ein Solitär. Sein Stück Ještě žiju s věšákem, čepicí a plácačkou (Ich lebe noch mit Haken, Mütze und Kelle, 2000), mit dem er sich schon im vorigen Jahrzehnt vorstellte, eine groteske Komödie aus dem Leben der Eisenbahner, löst mit Verspieltheit und einem eigentümlich bitteren Humor existentielle Fragen und auch gänzlich banale, kleine Probleme. Harila (2007) ist eine parodistische Groteske, in der vier Punks aus edelmütigen Gründen beschließen, einen Gorilla zu befreien, ihn schließlich aber kommerziell zum Drehen von Pornofilmen ausbeuten. Die Entgegnungen der Punks sind übertrieben vulgär und sind – neben allen Verwicklungen – Quell von absurdem und schwarzem Humor. Levínskýs Beruf spiegelt sich in den Stücken Dotkni se vesmíru a pokračuj (Drücke 18


das Weltall und mach weiter, 2016) wider, das von einem Institut handelt, in dem es gelingt, den Mechanismus der Entstehung einer neuen Spezies und das Wesen der Evolution zu entdecken, aber auch von der Welt der Wissenschaft und Afterwissenschaft, und in Poincarého domněnka (Poincarés Mutmaßung, 2016) über einen Mann, der ein mathematisches Problem löst, das sich jahrhundertelang einer Lösung widersetzt hat. Typisch für seine Stücke sind die brillante Logik des Mathematikers, überraschende Situationen und ein spezifischer Humor. Zu den Autoren der mittleren Generation, die genauso wie Levínský hauptsächlich mit dem klassischen Dramenaufbau arbeiten, gehört Martin Františák. Ihn charakterisieren eine poetische, originelle Sprache und die balladeske Derbheit seiner ländlichen Erzählungen, verbunden mit der Region Mähren (Doma – Zu Hause, 2005, Nevěsta – Die Braut, 2010 – Karla, 2012). Eigentümliche, seelisch orientierte Texte schreibt Lenka Lagronová. Ihre erfolgreichsten Stücke (Terezka – Thereschen, 1999, Etty Hilesum, 2006, Z prachu hvězd – Aus Sternenstaub, 2011) handeln von der Suche nach innerer Balance und Glauben in einer Welt schwankender Werte. Ihre Heldinnen – Frauen, die nicht dem gängigen Maßstab entsprechen, zerbrechlich, verletzt, seltsam, vereinsamt sind – sie sind am Schluss diejenigen, auf denen die Welt ruht. Einer der originellsten tschechischen Autoren der letzten Jahre ist Miloslav Vojtíšek, der unter dem Kürzel S.d.Ch. schreibt, ein Dramatiker, Bildhauer, Komponist, Comicautor, Texter. Er ist kein Absolvent einer Kunsthochschule, verdiente seinen Lebensunterhalt jahrelang als Totengräber. Für die Stücke Zátiší ve Slovanu (Stilleben im Café Slovan, 2012) und Duchovní smrt v Benátkách (Der geistige Tod in Venedig, 2013) bekam er den Alfréd-Radok-Preis, von der Kritik sehr gelobt wurde auch sein „Gastropolitikum“ Poslední husička (Der letzte Gänsebraten, 2015) über einen Politiker mit einer Leidenschaft für das Verspeisen gebratener Gänse im Ganzen. Seine brillant geschliffenen Dialoge sind auf verschiedenen Wortspielereien aufgebaut und haben zugleich schwarzen Humor und einen ironischen Unterton. Durch die Unzahl kultureller, sprachlicher und historischer Referenzen bleiben seine Stücke trotz ihrer ungestümen Unterhaltsamkeit dennoch eher eine Angelegenheit für theatrale und literarische Feinschmecker. Einem weiteren Autor, Petr Kolečko, gelang es seinerseits, mit dem breiten Darstellungsfeld seines dramatischen Wirkens sowohl die Kritiker als auch das Publikum für sich einzunehmen. Kolečko ist einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Film- und TVDrehbuchautoren, und das merkt man seinen Theatertexten an – er hat einen Sinn für Verwicklungen, dramatische Situationen und aktuelle Themen, aus denen er sich allerdings die allerbizarrsten aussucht. Er kombiniert heterogene Milieus, in seinen Stücken treffen Gestalten aus unterschiedlichen sozialen „Blasen“ aufeinander, es durchdringen sie die Mittel der Boulevardmedien, des Skandals, der Kurzzeit-Celebritys. Der Kritiker 19


Jan Kerbr schrieb über Kolečko, dass „er eine Intuition für die Wirkungskraft anrüchiger Typen habe, ‚ein Zusammentreffen eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Operationstisch‘“3. Aus der Vielzahl seiner dramatischen Texte nennen wir zumindest das Stück Bohové hokej nehrají (Die Götter spielen nicht Hockey, 2009) und zwei Paraphrasen antiker Sagen, übertragen in die heutige Wirklichkeit, Kauza Salome (Die Causa Salome, 2010) und Kauza Médeia (Die Causa Medea, 2011). In dieser Anthologie ist das Stück Pokerface (2011) vertreten. Mit eruptiver Imagination, zynischem Auslachen der heutigen Welt und gleichzeitig mitfühlendem Verständnis für die bizarren Figürchen, die sie bevölkern, können Kolečkos Stücke das Publikum für sich gewinnen. Es stellt sich die Frage, ob der Autor im Bemühen um die effektivsten Themen und Verwicklungen nicht die Grenze zu Kommerz und Boulevard überschreitet, an der er sich auch jetzt manchmal entlang bewegt. Die bedeutendste Veränderung, die sich in den letzten zehn Jahren im Umfeld der tschechischen Dramatik ereignete, ist das Bestreben der Theater, gezielt die Entstehung neuer Stücke zu initiieren und sich an ihrer Gestaltung zu beteiligen. Dem Dramawettbewerb um den Alfréd-Radok-Preis (seit dem Jahr 2014 in Anonymer Dramawettbewerb Aura-Pont umbenannt), wo Autoren anonym fertige Texte einreichten, fehlte stets spürbar diese Einbindung in den Theaterbetrieb. Am aktivsten ist das unabhängige Prager Theater Letí, das sich ausschließlich der zeitgenössischen Dramatik widmet und alle Stücke als tschechische oder internationale Uraufführungen bringt. Unter den tschechischen Dramatikern, mit denen das Theater zusammenarbeitet, stechen am deutlichsten Roman Sikora und Anna Saavedra hervor. In Konec masochisty (Das Ende des Masochisten, 2011), dessen Held sich um möglichst viel Arbeit für möglichst wenig Lohn bemüht, kommentiert Sikora spöttisch die neoliberale Form des Kapitalismus. In seinem Stück Snídaně s Leviatanem (Frühstück mit Leviathan, 2012) sind die Vertreter der intellektuellen Elite zum Frühstück mit dem Herrscher der Welt geladen, wo sie gänzlich die Würde verlieren, ohne den Herrscher in seinen Machtbestrebungen irgendwie beeinflussen zu können. Mit dem Stück Zámek na Loiře (Schloss an der Loire) gewann Sikora im Jahr 2017 den Dramawettbewerb Talking About Borders, veranstaltet vom Staatstheater Nürnberg. Anna Saavedra stellte sich mit einer Paraphrase auf Tschechows Drei Schwestern unter dem Titel Kuřačky (Raucherinnen) vor, geschrieben für das Mährisch-Schlesische Nationaltheater; für das Theater Letí schrieb sie das Stück Olga (Horrory z Hrádečku) (Olga – Horror im Hause Havel), gewidmet der ersten Frau Václav Havels, in dem es ihr gelang, schnörkellos und mit feinem Humor die innere Stärke und Werte zu verdeutlichen, die Olga Havel auszeichneten und die sie für 3 Jan Kerbr: Krajina s akvabelami a černým domem. Pokus o vymezení české polistopadové dramatiky, Praha, Pulchra 2013, S. 100.

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andere verkörperte. Das Stück erhielt 2016 den Preis der Theaterkritik für die beste Uraufführung eines tschechischen Stücks. Auch weitere Theater führten programmatisch neue Stücke auf – das Činoherní studio in Ústí nad Labem, das Brünner HaDivadlo, das Jihočeské divadlo (Südböhmisches Theater) in České Budějovice oder das Prager Studio Hrdinů, das sich in einer seiner dramaturgischen Linien bemüht, die tschechische Nationalidentität zu erforschen (etwa mit David Zábranskýs Stück Herec a truhlář Majer mluví o stavu své domoviny – Der Schauspieler und Tischler Majer spricht über den Zustand seiner Heimat, 2016, oder Petra Hůlovás Buňka číslo – Zelle Nummer, 2017). Mit dem Ostrauer Theater Komorní scéna Aréna ist der Dramatiker Tomáš Vůjtek verbunden. Er schrieb für es unter anderem eine freie Trilogie, die sich mit kontroversen Themen der Vergangenheit befasst. Im Jahr 2012 hatte das Stück S nadějí, i bez ní (Mit und ohne Hoffnung) Premiere, das basierend auf den Erinnerungen Josefa Slánskás entstand, der Gattin Rudolf Slánskýs, eines hochgestellten Kommunisten, der einer staatsfeindlichen Verschwörung beschuldigt und 1953 hingerichtet wurde. Obwohl im Stück absurde Elemente und zynischer Humor nicht fehlen und einige Passagen sich wie in einer Kabarettgroteske abspielen, wirkt es wie ein aktuelles Memento der Totalität. Drei Jahre später wurde Vůjteks Oratorium Slyšení (Anhörung) über den Nazifunktionär und Kriegsverbrecher Adolf Eichmann aufgeführt. Die Karriere des NS-Verbrechers, der Gott allein seine Version der Ereignisse schildern will, wird hier mit den Schicksalen der Juden konfrontiert, die 1939 ins Lager Nisko nad Sanem gebracht wurden, wohin Eichmanns erste Transporte führten. Slyšení erhielt den Preis der Theaterkritik für die beste Uraufführung des Jahres 2015. Der dritte Teil mit Namen Smíření (Versöhnung, 2017) handelt von der Situation in den Grenzgebieten, aus denen vor dem Krieg die tschechischen und danach die deutschen Einwohner vertrieben wurden. Wie in den vorangegangenen Stücken vermischt sich dokumentarisches Material mit beinahe heftigen theatralen Passagen und weist auf die historischen Wirklichkeiten hin, mit denen man sich eben nicht versöhnen kann. Ein großer Teil der neuen tschechischen Texte für die Bühne entstand im letzten Jahrzehnt in Form von Drehbüchern, szenische Collagen, Literaturadaptationen oder Dramatisierungen, ausschließlich für ein konkretes Theater geschrieben, ohne den Ehrgeiz, auch auf anderen Bühnen inszeniert zu werden. Drehbücher für seine eigenen szenischen Projekte schreibt (gemeinsam mit der Schauspielerin Lucie Trmíková) der Regisseur Jan Nebeský. Ein weiterer tschechischer Regisseur, Jan Mikulášek, zielt gemeinsam mit der Dramaturgin Dora Viceníková auf die Dramatisierung und Adaptation ursprünglich nichttheatraler Texte ab, oder auf Textcollagen, die auf der Grundlage von Improvisation bei Proben entstehen und mit Textfragmenten zum vorgegebenen Thema, Zitaten und Konnotationen komplettiert werden. 21


Die Drehbücher des Regisseurs Jiří Adámek nähern sich Musiklibrettos an, er arbeitet mit einer Rhythmisierung der Sprache und mit verbaler Lautmalerei. Auch Jiří Havelka schreibt Texte für seine eigenen Inszenierungen, etwa im Theater von Dejvice, im Studio Ypsilon und im Slowakischen Nationaltheater. Den stärksten Anklang finden seine dramatischen Texte aber in Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Theater Vosto5. Die Inszenierung von Dechovka (Die Blasmusikkapelle, gemeinsam mit Karel F. Tománek, 2013) handelt von den Ereignissen im Dorf Dobronín bei Iglau, wo in den Nachkriegstagen des Jahres 1945 Sudetendeutsche massakriert wurden. Havelka siedelte die Handlung in einem Wirtshaussaal an und entwarf in drei Bildern die Zeit vor dem Krieg, direkt danach und in der Gegenwart. Die Schöpfer der Inszenierung verdeutlichten, dass sie sich nicht auf eine Suche nach Schuldigen einlassen oder Gründe analysieren wollten, sondern es ihnen um die Erinnerungen eines Orts ging, die die Zeit nicht auslöschen kann. Im Stück Společenstvo vlastníků (Eigentümerversammlung, 2017) spielt sich die Handlung auf einer Versammlung von Wohnungseigentümern eines Mehrfamilienhauses ab, die die schlimmsten Eigenschaften der Beteiligten enthüllt – sowohl in der Haltung als auch im Charakter. Es geht aber nicht nur um eine hervorragend pointierte Geschichte über Eigentümer, sondern auch um eine verzweifelt authentische Aussage über den Zustand unseres Landes, um eine genaue und harte Auskunft über die tschechische Gesellschaft. Wenn ich in der tschechischen Dramatik (nicht nur) der letzten Jahre etwas suche, das sie über die Unterschiedlichkeit der Genres, des Stils und der Form hinweg als ein Ganzes charakterisiert, finde ich vor allem eine gewisse Groteske, ein Bemühen um die Darstellung ernster Probleme mit unernsten Mitteln. Ein Misstrauen gegenüber Pathos, großen Worten und großen Helden führt die tschechischen Autoren zu einem „unheldenhaften“ Drama, das absurde bis deformierte Elemente der Wirklichkeit verdeutlicht. Humor, Abstand, ein ironischer Blick auf die eigene Geschichte und Gegenwart waren und sind kennzeichnend für das tschechische Theater. Die Autoren geben dem Lächerlichmachen Vorrang vor dem Verurteilen, aber mit dieser Unernsthaftigkeit und Ironie gelingt es ihnen oft, schmerzhafte Stellen mit heilender Stärke zu berühren.

FÜNF TSCHECHISCHE STÜCKE Diese Anthologie erscheint im Jahr, in dem die Tschechische Republik das einhundertjährige Bestehen ihrer Staatlichkeit feiert. Unsere Textauswahl nimmt darauf Bezug. Sie sollte ein Bild der tschechischen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte erstellen, mit ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, mit den Schicksalen der Menschen, die die Geschichte 22


geprägt haben, und mit dem moralischen Verfall, den man nicht auf die geschichtlichen Umstände schieben kann. Das älteste Stück, Havels Prase aneb Václav Havel‘s Hunt for a Pig (Das Schwein oder Václav Havel's Hunt for a Pig ), ist in der Anthologie eigentlich eine „Zugabe“, entstand es doch zwanzig Jahre früher als die anderen Texte. Es geht aber um einen der wenigen dramatischen Texte Havels, die noch nicht auf Deutsch erschienen sind (der Autor selbst hat diese szenische Kleinigkeit vergessen und sie nicht in seine gesam­melten Schriften aufgenommen), und soll an einen der bedeutendsten tschechischen Dramatiker und eine der größten Persönlichkeiten erinnern, die sich um den tschechischen Staat verdient gemacht hat. Havels szenischer Dialog entstand von einem Tag auf den anderen im Jahr 1987 zur Unterhaltung seiner Freunde, die in Hrádeček den Geburtstag Olga Havlovás feierten. Es scheint ein komisches Histörchen darüber zu sein, wie ein berühmter Dramatiker und Dissident ein Schwein zum Schlachtfest in Hrádeček aufzutreiben versucht, verwandelt sich dann aber in ein Gleichnis einer Welt, in der der Anstand einen von vornherein verlorenen Kampf mit der Kleinlichkeit und der Berechnung führt. Regisseur Vladimír Morávek hat Havels Text mit Passagen aus der „allernationalsten“ tschechischen Oper, Smetanas „Verkaufter Braut“ verbunden und 2010 im Theater Husa na provázku in Brünn als Groteske über das tschechische Wesen uraufgeführt. In Hrádeček, dem ländlichen Wochenendhaus der Havels, spielt auch das neueste Stück dieser Anthologie, Olga – Horror im Hause Havel. Anna Saavedra (1984) schrieb es 2016 für das Letí-Theater, die Inszenierung trägt den Untertitel Obrazy ze života Olgy Havlové – ze života, který si sama nevybrala, ale hrdě ho vzala za svůj (Bilder aus dem Leben Olga Havlovás – eines Lebens, das sie sich nicht selbst ausgesucht, aber stolz als das ihre angenommen hat). Die Autorin erschuf ein theatrales Porträt der First Lady der Dissidenten und später auch unseres Staates mit einer Methode, die auf die kennzeichnenden Grundzüge von Havels Dramatik verweist – das Wiederholen und Variieren von Motiven, Situationen und Dialogen, das Verdoppeln (bei Saavedra „Verdreifachen“) der Figuren. Die Autorin baut die Geschichte nicht chronologisch (auch wenn sie historische Fakten respektiert), und dieses Springen in der Zeit unterstreicht Olgas sympathische Unnachgiebigkeit, ihre Fähigkeit, immer sie selbst zu bleiben, egal ob sie verfolgt oder gefeiert wird, und ihren lakonischen Humor, mit dem sie die Wendungen im Leben ihres Mannes kommentiert. Das Stück hatte 2016 in der Regie von Martina Schlegelová im nicht-traditionellen Raum der verlassenen Villa Štvanice in Prag Premiere, die das LetíTheater regelmäßig bespielt. Die Villa verwandelte sich im Havels Wochenendhaus, man spielte im Innenraum und draußen, und die Inszenierung wurde zum Ereignis der Saison. Wieder bestätigte sich, dass in Tschechien das künstlerische Bild der Landesgeschichte 23


und -helden am besten aufgenommen wird, wenn es entglorifiziert präsentiert wird, mit Humor und ohne Pathos. Milan Uhde legt im Stück Zázrak v černém domě (Wunder im schwarzen Haus) eine groteske Sonde in die Beziehungen einer zerstrittenen Familie, voll von konservierten Illusionen und Leid, und lässt nach und nach die tiefen, tragischen historischen Wurzeln ihrer Probleme auftauchen. Uhdes Tragikomödie reflektiert durch die kleine Familienvergangenheit die „große“ Geschichte vom Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis in die neunziger Jahre, es durchdringen sie schicksalsschwere Motive inklusive des Holocausts. Der Autor arbeitet sehr ausgewogen mit den grotesken Momenten des tragischen Geschehens, das er den Zuschauern vorstellt. Uralte, aber immer noch lebendige Traumata sind die Folge sowohl eines persönlichen Versagens als auch durch den Druck der historischen Ereignisse, und die Familie könnte in ihrer Zusammensetzung gewissermaßen ein Miniaturmodell der tschechischen Gesellschaft sein, die immer noch die Überreste zweier totalitärer Regime in sich trägt. Die Premiere war 2007 im Prager Theater Na zábradlí in der Regie Juraj Nvotas. Petr Kolečkos Pokerface ist eine Tragikomödie über den Verlust der Illusionen der Samtenen Revolution und den Verlust der Illusionen in der heutigen Welt, über Politik und Glücksspiel, nicht nur beim Pokern. Durch die Augen dreier Generationen blickt das Stück skeptisch auf das Funktionieren des letzten Vierteljahrhunderts der Demokratie in unserem Staat, wo aus den Prä-Novemberrevolutions-Hoffnungen auf ein freies Leben vor allem die Sehnsucht nach der Freiheit des Eigentums wurde. Mit schwarzem, zynischem Humor wird hier festgestellt, dass es sich in jedem Regime auszahlt, eine Eisesmine als Maske aufzusetzen, und das Einzige, das einem kein Regime nehmen kann, das beim Pokern gewonnene Geld ist. Das Stück hatte 2013 im Letí-Theater unter der Regie von Daniel Špinar seine tschechische Premiere. In Zelenkas Věra geht es nicht mehr um die Vergangenheit, das Stück dokumentiert in einer Hyperbel die Mechanismen, durch die die Gesellschaft der Gegenwart funktioniert – mit ihren charakteristischen Zeichen und wie sie imstande sind, die menschliche Persönlichkeit zu deformieren. Das Umfeld des Showbusiness ist im Stück ein Extrakt der Oberflächlichkeit und des Zynismus der heutigen Zeit. Die Geschichte einer erfolgreichen, vollkommen gefühllosen Managerin, die sich ohne Job wiederfindet und die Welt durch andere Augen zu sehen beginnt, könnte wie ein banales Klischee wirken. Durch die Übertreibung und Vergrößerung alles Negativen und gleichzeitig dem Erhalten der menschlichen Dimension der Hauptfigur erschafft Zelenka ein Modelldrama, dessen Absurdität offensichtlich ist, das aber nichtsdestotrotz viel Reales im Charakter der heutigen Welt ergründet. Das Stück wurde 2014 im Südböhmischen Theater in České Budějovce in der Regie des Autors uraufgeführt. 24


Friedrich Dürrenmatt, der große Schriftsteller aus der kleinen Schweiz, empfahl einst in einem seiner Vorträge Dramatikern aus kleinen Staaten, so zu schreiben, dass sich „im Bild ihres kleinen Landes die Welt spiegeln soll“. Das Bild, das sich aus den fünf Stücken dieser Anthologie zusammensetzt, scheint vielleicht grotesk übertrieben, die jüngste Geschichte unserer Region, die an Absurdität von keinem Theatertext überboten werden kann, spiegelt es ganz klar wider. Kamila Černá

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Václav Havel

DAS SCHWEIN ODER VÁCLAV HAVEL’S HUNT FOR A PIG Aus dem Tschechischen von Joachim Bruss



TASS, UPI, REUTERS, ČTK

QUESTION  We have with us Mr. Václav Havel, the famous Czech playwright and one of the main figures in Charta 77, the human rights movement in Czechoslovakia. Welcome, Mr. Havel. ANTWORT  Guten Tag. Q  Mr. Havel, I have heard you were engaged in trying to help the People’s Selfhelp Library Hrobka (The Tomb) in its zabby achka (killing and eating a pig). Is this true? A  Es ist wahr. Beim Auftreiben eines Schweins war ich wirklich eine bestimmte Zeit lang engagiert. Ich betone – eine bestimmte Zeit lang. In einer bestimmten Phase. Q  When exactly did you begin, Mr. Havel? A  Ich begann, mich in dem Moment in dieser Sache zu engagieren, als ich feststellte, dass viele Schweinezüchter in der Tschechoslowakischen Republik, die der Selbstorganisierten Volksbibliothek Die Gruft ein Schwein fest versprochen hatten, im letzten Moment das Schwein absagten. Es schien mir eine Sache meiner Ehre und meines Prestiges zu sein, dass es mir gelingt, das seltsam Unstete der tschechoslowakischen Schweinehalter zu überwinden. Q  But Mr. Havel, I am interested in the exact moment. A  Es geschah am vergangenen Mittwoch, als ich das Wirtshaus in Vlčice besucht habe, um mit dem Wirt die Lieferung von Fassbier für das Schlachtfest auszuhandeln, und ich, allein mit ihm im Wirtshaus, mich entschloss, ihn auch in der Sache eines Schweins anzusprechen. Ich sagte: „Herr Wirt, nur so nebenbei, wissen Sie nicht irgendein Schwein, hätten Sie keins in Vlčice?“ Und der Wirt sagte: „Aber sicher, hier haben wir genug Schweine! Vor Kurzem hat gerade jemand versucht, ein Schwein zu verkaufen, und ist es nicht losgeworden, er wollte fünfundzwanzig Kronen für das Kilo und das wollte niemand bezahlen. Er ist umgezogen, so dass er es nicht einmal verkauft hat. Irgendein Schwein treiben wir schon auf. Zum Beispiel mein Schwiegersohn verkauft Ihnen vielleicht eins.“ Ich sagte dem Wirt: „Uns ist egal, ob es fünfundzwanzig oder etwa dreißig kosten wird, Hauptsache, es gibt ein Schwein.“ Q  Are you sure, Mr. Havel, that was a tactical thing to say? A  Ich weiß nicht, ob das taktisch klug war, aber wenn jemand eine Woche vor dem Schlachtfest damit anfängt, ein Schwein zu besorgen, muss er damit rechnen, womöglich mehr zu bezahlen, als wenn er es ein halbes Jahr im Voraus bestellt.

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Davon bin ich ausgegangen und deshalb habe ich diesen Satz, ja, wahrscheinlich ein wenig unbedacht, gesagt. What happened next? Ich verabredete mit dem Wirt, dass ihn mein Freund, damit meine ich Kešot, am Samstag besuchen und ihn fragen wird, wie die Verhandlungen über das Schwein vorangehen. Ich musste nämlich in der Zwischenzeit nach Prag fahren, ich hatte dort einige Verpflichtungen im Bereich der Verteidigung der Menschenrechte und außerdem waren die Handwerker in unserer Wohnung. How long were you in Prague? Gefahren bin ich am Donnerstag in der Annahme, dass ich am Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder Donnerstag zurückkehre … What happened in the meantime? I mean what happened in Veltchice while you were in Prague? Was in der Zwischenzeit passiert war, erfuhr ich am Montag. Von Kešot. Passiert war, dass Kešot, wie verabredet, den Wirt aufgesucht und ihn gefragt hat, wie das mit dem Schwein aussehe. Der Wirt sagte, das Schwein werde es wohl geben, es sei von seinem Schwiegersohn Láďa, es sei allerdings ein kleineres Schwein und müsse daher teurer sein, weil es sich nicht lohne, kleine Schweine zu verkaufen, und man daher mit einem Preis um die neunundzwanzig Kronen rechnen müsse. Is that all that happened? Es ist mehr passiert in der Zeit meiner Abwesenheit. So hat zum Beispiel am Sonntag ein Mann Hrádeček besucht, von dem wir später festgestellt haben, dass es Fanda Vondráček war. Der Mann, nachweislich wohl Bewohner von Vlčice, er scheint Traktorfahrer gewesen zu sein, besuchte Hrádeček, um mitzuteilen, er habe auch ein Schwein. Und dass er es uns verkaufen wird. Er verhandelte mit Kešot und Olga. How did the negotiations turn out? Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass wir das Schwein von ihm kaufen, unter der Voraussetzung, dass das nicht irgendein Betrug am Wirt ist, der uns auch schon eigentlich eins versprochen hatte (also von seinem Schwiegersohn). Dieser Fanda sagte sofort: „Ich kläre das mit dem Wirt und mit Láďa, kein Problem, ich sage ihnen das“, und alles schien mit Fanda verabredet zu sein, einschließlich solcher Einzelheiten, welche verschiedenen Geräte Fanda für das Schlachtfest mitbringt, dass er das Schwein selbst herbringt, hatte er doch einen Traktor und einen passenden Kasten oder eine Kiste für das Schwein, und es war verabredet worden, dass wir uns am Mittwoch mit Fanda im Wirtshaus treffen, wo er jeden Tag von zwei bis neun sitzt und wo wir alle Einzelheiten besprechen wollten. Did anything else happen while you were in Prague?


A  Nein. Mehr ist während meiner Abwesenheit nicht geschehen. Q  And when you left Prague? A  Aus Prag, wie ich schon gesagt habe, wusste ich von Kešot, den ich übrigens von Prag nach Hrádeček mitgenommen hatte, dass während meiner Abwesenheit das geschehen war, was geschehen war. Und darüber hinaus hatte ich noch erfahren – und das ist noch so eine Sache, die ich vorher nicht erwähnt habe –, dass Olgas Großneffe Thomas nach Hrádeček zu Besuch kam, den Olga in ihrer Verzweiflung auch um ein Schwein gebeten hatte, und ihr mitteilte, er habe ein Schwein. Und sogar ein ziemlich schweres Schwein. Allerdings – etwas weit weg. So irgendwo bei Mělník. Es würde bestimmt Probleme mit der Lieferung geben. Nichtsdestoweniger war das Schwein fest versprochen und Olga hat es genauso fest abgesagt, weil sie ja an Fandas Schwein glaubte und daran, das Schwein des Schwiegersohns des Wirtes in Reserve zu haben. Traurig und enttäuscht fuhr Thomas ab, denn er muss­te seinem Schweinehalter das Schwein absagen. Wie aus dem vorher Gesagten hervorgeht, ist es üblicher, dass die Schweinehalter den Kunden absagen. Wenn ein Kunde absagt, ist das offenbar weniger üblich, weshalb Thomas wahrscheinlich leicht frustriert war. Q  Let’s go to your return to Hradecek. What happened later? A  Passiert ist, dass wir, als wir von Prag aus durch Vlčice fuhren, uns entschlossen, den Wirt aufzusuchen. Das Wirtshaus in Vlčice ist nämlich am Montag und Dienstag geschlossen. Eigentlich hätten wir sowohl mit dem Wirt als auch mit Fanda erst am Mittwoch kommunizieren können, und das erschien uns ein wenig zu spät, und außerdem waren wir nicht sicher, ob Fandas Besuch und Aktivität in Hrádeček nicht eine Art Nebenmanöver oder Hintergehen des Wirtes war und uns selbstverständlich mehr am Wirt als an Fanda lag. Der Wirt ist eine der main figures in Vlčice und wir wollten unsere Stellung bei ihm nicht verlieren. Und darüber hinaus waren wir uns nicht ganz sicher, wie seriös Fanda denn ist. Deshalb hatten wir uns entschlossen, auf dem Weg von Prag am Montag den Wirt aufzusuchen. Das war nicht leicht. Das Wirtshaus ist, wie gesagt, am Montag geschlossen. Q Why? A  Es hat einen Ruhetag. Q  And how did you find the pub landlord? Golda bellt. Q  Excuse me, Mr. Havel, may I ask you why your dog barked? A  Das war falscher Alarm … Den Wirt fanden wir in seinem Haus in Vlčice. Er lag unter dem Auto. Er war dort nicht allein. Dort lag auch sein Schwiegersohn Láďa. Q  Excuse me … is this the same Ladya who owned the first pig?

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A  Ja, genau der, Láďa, sein Schwiegersohn, ist der Besitzer jenes ersten Schweins, das uns vom Wirt versprochen worden ist. Wir gingen zu dem Auto. Eine Weile standen wir dort, dann sagten wir Guten Tag. Irgendetwas war unter dem Auto zu hören. Einige Damen schauten aus den Fenstern und der Tür des Hauses, dann zogen sie sich wieder zurück. Nichts geschah. Kešot hielt das nicht mehr aus und begann zu reden und redete eine Weile. Seine Rede war nicht sehr verständlich. Für eine längere Zeit geschah nichts. Dann war unter dem Auto aus dem Mund des Wirts zu hören: „Moment.“ Aus dem Haus schaute seine Frau und fragte den Wirt: „Du gehst irgendwo hin?“ Der Wirt sagte: „Nein.“ Längere Zeit war es still. Schließlich kroch der Wirt unter dem Auto hervor, wandte sich uns zu und sagte: „Er kann das Schwein nicht verkaufen, es ist zu jung, das würde sich nicht auszahlen, nicht wahr, Láďa?“ Unter dem Auto tönte es: „Ja.“ Offensichtlich sprach der Wirt über das Schwein seines Schwiegersohns Láďa und sprach gleichzeitig mit seinem Schwiegersohn Láďa und machte uns klar, dass es das Schwein, das er uns versprochen hat, nicht geben wird, obwohl der Grund unseres Besuches ein anderer war, als nach dem Schwein zu fragen. Der Grund war, nach Fandas Schwein zu fragen, ob da nicht irgendein Trick gegen den Wirt dahintersteckte. Als der Wirt das sagte, waren Kešot und ich leicht überrascht, verblüfft, aber dann sagten wir das, was wir sagen wollten. Nämlich, dass Fanda in Hrádeček gewesen ist und uns ein Schwein angeboten hat, und dass es uns nicht lieb ist, wenn das irgendeine Intrige gegen den Wirt ist. Diese unsere Mitteilung klang schon irgendwie nicht mehr aktuell nach der vorhergehenden Mitteilung des Wirtes, dass Láďa nicht die Absicht hat, uns das Schwein zu verkaufen. Trotzdem haben wir so irgendwie den Zweck unseres Besuches erfüllt, wir haben es dem Wirt gesagt. Der Wirt wusste nichts über den Besuch von Fanda und zu dieser Zeit wussten wir nicht einmal, dass Fanda Fanda heißt, und durch eine Art von Abklopfen und Gespräch mit dem Wirt klärte sich Fandas Identität überhaupt erst. Es erwies sich, dass Fanda Fanda Vondráček ist, also gab es hier eine Art Bestätigung seiner Solidität, seiner Seriosität, es gab hier nicht die geringste Ernüchterung oder Enttäuschung, dass Fanda sein Schwein angeboten hat, im Gegenteil, man konnte für den Moment auch eine Art Erleichterung beobachten, dass die Absage des Schweins von Seiten Láďas eigentlich nicht so peinlich wirkt in einer Situation, in der ein Schwein von Fanda versprochen ist. Wir versicherten also dem Wirt, dass er sich nicht weiter um das Schwein kümmern muss, dass wir uns voll auf Fandas Schwein verlassen und froh sind, dass Fandas Schwein kein Betrug an Láďas Schwein ist. Und der Wirt versicherte uns bei dieser Gelegenheit, dass er uns 12 Grad Bier verkauft, weil er uns aus irgendwelchen verworrenen Gründen, wie er uns erklärte, kein 10 Grad Bier verkaufen kann. Der wirkliche Grund war klar – am 12 Grad Bier verdient er mehr als am Zehner. Er 32


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versicherte uns also, dass es Bier geben wird, machte aber völlig klar, dass es teurer sein wird als das, was wir wollten. Well. That was on Monday, wasn’t it? What happened next? Am Dienstag passierte nichts. Am I to understand that on Wednesday something happened? Am Mittwoch ist tatsächlich etwas passiert. Am Mittwoch fand eine bedeutende Wende in der ganzen Angelegenheit statt. Am Mittwoch war Kešot mit Fanda verabredet – vielleicht sollte ich an dieser Stelle ergänzen, dass Kešot für seine Verhandlungen einen Repräsentationssonderfonds erhalten hatte. Er verbrauchte ihn gänzlich, indem er mit dem Wirt, bevor dieser ihm definitiv Láďas Schwein versprach, das er später absagte, georgischen Cognac trank, der Wirt mit besonders großer Lust – aber zurück … Am Mittwoch sollte es zu einer wichtigen Verhandlung Kešots mit Fanda im Wirtshaus über die Einzelheiten der Lieferung und Überführung von Fandas Schwein zu uns kommen. Now, if I understand you right, this is a very important moment in the whole story. Please be specific. We are very interested in this part of the story! Ja, ich mach es präzise. Den ganzen Mittwoch lang – das Wirtshaus öffnet um zwei – gab es bei uns lauter Diskussionen, in welcher Zusammensetzung wir dorthin fahren. Ich versuchte, Olga zu überzeugen, dass vor allem sie dorthin fahren muss, als Hauptveranstalterin des Schlachtfests und Repräsentantin der Gruft. Sie versuchte mich zu überzeugen, dass ich fahren muss, weil ich ein famous playwright and one of the most important human rights activists in Czechoslovakia bin und meine Stimme für Fandas Ohr mehr Gewicht hat. Über wen es keinen Zweifel gab, dass er teilnehmen muss, war Kešot. – Selbstverständlich gewann der Standpunkt Olgas, so dass wir in der Kombination Kešot und ich fuhren. Die erste Phase unserer Verhandlungen mit Fanda war die Suche nach Fanda. Im Wirtshaus war er nicht und es kam dort zu einer sehr eigenartigen, nicht zu bestimmenden, ambivalenten Situation, als Kešot mit dem Wirt darüber sprach, wo er Fanda findet. Der Wirt benahm sich gemäß Kešots Referenz – Kešot fragte allein, ich wartete draußen im Auto – sehr zweideutig. Bis die Männer im Wirtshaus, die klarerweise Kešots Gespräch mit dem Wirt verfolgten, ihm zuschrien, Fanda sei in der Werkstatt. Kešot und ich fuhren also zur Werkstatt. Wieder wartete ich vor dem Staatsgut. Kešot ging zu Fuß zur Werkstatt und brachte von dort die Nachricht, dass ihm die Männer gesagt haben, Fanda sei bei den Färsen. Ich schickte Kešot zu den Färsen. Nach einer Viertelstunde kam Kešot mit der Nachricht, bei den Färsen sei Fanda nicht, er werde wohl zu Hause sein. Ich fragte Kešot, ob er wisse, wo Fanda wohnt, und Kešot sagte, die Männer hätten ihm gesagt, irgendwo dahinten. Ich schickte Kešot nach irgendwo dahinten zu Fanda. Kešot kam nach einer Viertelstunde mit der 33


Nachricht, er habe Fandas Wohnung gefunden und Fanda erwarte uns dort und wir sollten mit dem Auto dorthin fahren. Einige Male versuchten wir dorthin zu kommen; Fanda haben wir nicht gefunden. Wir parkten das Auto wieder beim Gut Vlčice und gingen zu Fuß auf die Suche nach Fanda, in der Hoffnung, dass Kešot sich besser erinnern wird, wo er vor einer Weile mit Fanda gesprochen hat, wenn er seinen eigenen Schritten zu Fuß folgt, statt mit dem Auto zu fahren. Trotzdem änderten wir mehrmals die Richtung und gingen schließlich in eine völlig andere Richtung, als Kešot uns ursprünglich gezeigt hatte, aber erstaunlicherweise kamen wir endlich bei Fandas Wohnung an. Fanda erwartete uns – und das war ein wichtiger Augenblick, weil es zu meinem ersten Treffen mit Fanda kam. Ich sah ihn zum ersten Mal im Leben; er nannte mich Venca, duzte mich und benahm sich, als ob wir alte Bekannte wären. Und Fanda redete und redete. Es kam zu einem wichtigen Gespräch. Fanda sagte: „Ihr kommt wegen dem … Brufen …“ (Stimmen aus dem Hintergrund schreien Václav Havel an: „Brutar!!!“)   … Brutar! Brutar ist eine Art Kessel, in dem Schweine gedämpft werden. Sofort führte er uns zu seinem Brutar1, zeigte ihn uns und vereinbarte, dass er ihn uns heute oder morgen bringen wird. Mit Interesse betrachteten Kešot und ich den Brutar, aber um die Wahrheit zu sagen, mich interessierte viel mehr, ob Fanda das versprochene Schwein für uns hat. Fanda sprach jedoch ständig über den Brutar und ich fragte – ich duzte ihn auch schon, als ich sah, dass er mich duzt: „Und den Brutar bringst du zusammen mit dem Schwein?“ Und er sagte: „Na klar. Den bring ich …“ Und ich sagte: „Wenn du willst, ich kann auch am Freitagmorgen, da bin ich schon aufgestanden, aber vielleicht auch am Donnerstag, wie du willst.“ Er sprach mit mir also über den Brutar. Womit ich mich langsam dem Schwein selbst näherte. Ich sagte: „Können wir deine Schweine anschauen?“ Er zeigte uns seine zwei Schweine – es waren normale Schweine – und sagte: „Die sind klein, die haben erst achtzig Kilo, so wie neugeboren,“ und ich sagte: „Unser Schwein ist also keines von denen“, und er sagte: „Nein, nein. Das ist nicht dabei.“ Und ich wollte wieder irgendwie konkret das Gespräch auf unser Schwein bringen und begann von einem anderen Ende und sagte: „Wie viel nimmst du für das Kilo?“ Und er sagte: „Na ja, ich persönlich verkaufe das für siebenundzwanzig.“ Ich sagte: „Nun, das wäre für uns ganz in Ordnung. Wie viel wiegt es?“ Er sagte: „Hundertzwanzig.“ Ich meinte: „Dann geben wir dir eine Anzahlung!“ Und er sagte: „Die gebt lieber Láďa.“ – In dem Moment erstarrte ich leicht. Ich wusste nicht gleich, wen er meint; mein erster 1  Über /b/Brutar steht weder in den Regeln der tschechischen Rechtschreibung noch im Fremdwörterbuch auch nur irgendetwas, die Redaktion entschloss sich daher für das höfliche große B.

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Gedanke war, dass dies irgendeiner seiner Brüder, Neffen, Onkel, ein Mitglied seiner Familie ist und dass er über irgendwelche Familienschweine verfügt und das Geld der unmittelbare Eigentümer dieses Schweins kassiert und so sprachen wir eine Weile irgendwie unbestimmt, tappten im Dunkeln, bis schließlich herauskam, dass er das Schwein von Láďa, dem Schwiegersohn des Wirtes, im Sinn hat. Dass er plötzlich eigentlich ein fremdes Schwein verkauft, keineswegs sein Schwein. Das Schwein, das man uns vor zwei Tagen abgesagt hatte. – In dem Augenblick haben wir beide, Kešot und ich, sehr verlegen und sehr hart, fast direkt, zu Fanda gesagt: „Aber du hast uns doch besucht und dein eigenes Schwein angeboten!“ – In dem Augenblick begann Fanda auf eigenartige Weise die Dinge zu vernebeln und fing an zu sagen, dass die „Dame“ – und er dachte dabei wahrscheinlich an Olga – „doch sein Schwein abgelehnt hat, sie hat doch gesagt, ihr habt Láďas Schwein, und dabei ist euch das Hundertvierzig-Kilo-Schwein entgangen, das der Kerl hier in Vlčice nicht verkaufen konnte, schließlich hat er es für 600 Kronen abgegeben, ist umgezogen, er konnte es nicht loswerden.“ Das war eine sehr verdächtige Geschichte, weil mir davon schon der Wirt erzählt hatte, aber als eine Geschichte, die zwei Monate zurücklag. Das war schon ein Zeichen dafür, dass Fanda die Dinge vernebelte. Er machte immer weiter damit, und wir sagten ihm ganz klar: „Láďa hat uns gesagt, sein Schwein sei klein, er könne es uns nicht verkaufen.“ Er sagte: „Wieso klein? Es hat mindestens hundertzehn Kilo, er hat es doch zwei Monate länger als ich!“ Wir sagten ihm: „Ja und! Er hat es aber abgesagt! Wir haben das akzeptiert, weil wir uns auf dein Schwein verlassen haben!“ Und er sagte: „Ich habe kein Schwein, ich habe eins mit achtzig Kilo, das ist zu klein!“ Wir sahen, dass wir Opfer eines eigenartigen Vlčicer Spiels geworden waren. Das Einzige, was uns zu dieser Zeit interessierte, war, ob wir überhaupt ein Schwein in Vlčice auftreiben oder nicht. Diese Frage stellten wir Fanda und Fanda sagte: „Ich frage den Zigeuner und komm um fünf zu euch!“ – Es ist fünf vor fünf und das bedeutet, dass frühestens in fünf Minuten, aber wahrscheinlich in einer Stunde Fanda mit dem Zigeuner kommen könnte, aber nicht müsste, um uns das Schwein des Zigeuners anzubieten, oder uns gleich zu erklären, dass das Schwein des Zigeuners klein ist … Q  Mr. Havel, I have one question. Didn’t you feel like dropping the whole thing at this point? A  Mein Eintritt in die ganze Geschichte des Schweins war erst kürzlich und mein Austritt wird bald sein. Die gesamte Periode meines Engagements in dieser Angelegenheit wird nicht mehr als einige Tage zählen, genauer gesagt, eine Woche. Ich warte darauf, ob Fanda mit dem Zigeuner kommt. Sollten sie kommen, werde ich bei der Debatte mit ihnen anwesend sein und versuchen, ihnen das Schwein herauszulei35


ern und, soweit sie eines haben, werde ich versuchen zu erreichen, dass sie es augenblicklich herbringen, ich werde es augenblicklich bezahlen, denn ich glaube nur an solche Schweine, die ich hier im Hause habe, unter Verschluss im Stall … Sollten jedoch die Gespräche versagen, werde ich besiegt von dannen ziehen und gebe die Stafette zurück an die Selbstorganisierte Volksbibliothek Die Gruft, mögen sie ihr Schwein auftreiben wie immer sie wollen. Meinen Teil des Engagements halte ich mit dieser einwöchigen Aktivität für abgeschlossen! Q  Thank you Mr. Havel for this very detailed explanation of this story and to end the interview, I have one last question: What do you think of Mr. Gorbachev? A  Leck mich am Arsch!

THE DAY AFTER Q  We visited a close collaborator of Mr. Havel, Mr. Keshot, and we asked him one question: Mr. Keshot, what do you think of the whole story? A  Ich glaube, Herr Vondráček sieht das alles durch eine rosarote Brille. Oder sah es … Es war weitaus problematischer. Weitaus schwieriger und schmerzhafter, als ich zum Beispiel gezwungen war, mit anzusehen, wie der Wirt den schönen georgischen Cognac aus meinem Repräsentationsfonds trinkt! Q  Oh, yes. That must have been terrible, especially for you! A  Sie haben nach Herrn Gorbačov gefragt. Dazu könnte ich auch etwas sagen … Q  Thanks, but no thanks! Now we’d like to have a word with Mrs. Olga Havel. Mrs. Havel! Mrs. Havlová!!! … Where are you? Something must have happened! I heard some crying … (erleichtert) Oh! Here’s Mr. Havel. Good afternoon, Mr. Havel. We wanted to speak with your wife … What happened? Where is she??? A  Mir scheint, meine Frau ist in den Wald gerannt. Ehm … Q  I heard someone crying. Was it her? A  Ja, sie weinte. Weinte, schluchzte. Aber was sehe ich denn da? Ich sehe hier ein Papier, in ihrer Schrift geschrieben, sehr fahrig … ich bin mir nicht sicher, ob ich das werde lesen können, aber ich versuche es, vielleicht ist es irgendeine Nachricht, die ihre Flucht erklärt: „Ich bin unglücklich, enttäuscht … ernüchtert … frustriert … schockiert … betrübt … verstimmt … zerrüttet … überrascht … erschrocken … erniedrigt … beleidigt … desintegriert … irritiert … konsterniert … angeekelt … mir fehlen einfach die Worte!“ Q  That’s it? A  Es scheint alles zu sein. Nein, nein! Warten Sie, hier unten irgendwo sehe ich noch drei Wörter: „Kesselfleisch! Bauchfleisch! Gastmahl!“ 36


Q  Thank you, Mr. Havel! Since we have got this splendid opportunity to speak with you, could you tell us what happened after our conversation yesterday afternoon? For our listeners: we are talking to the most important Czechoslovak dissident playwright, Mr. Václav Havel. Would you please tell us what happened? A  Ja. Ich werde versuchen zu sagen, was geschehen ist. Wenn ich mich nicht irre, habe ich zuletzt um fünf vor fünf des gestrigen Tages mit Ihnen gesprochen, das heißt am Mittwoch um fünf. Da warteten wir gespannt darauf, ob Fanda mit dem Zigeuner kommt. Q  And what happened? A  Nichts. Nichts ist passiert. Fanda und der Zigeuner kamen weder um fünf noch um sechs, um sieben, um acht, um neun, um zehn. Und dann gingen wir enttäuscht schlafen. Q  And what happened today? This morning? A  This morning sind wir aufgestanden und waren wie ausgelaugt. Wir erwarteten viele Gäste, nirgendwo ein Schwein. Unsere Würde hinderte uns daran, erneut die Gemeinde Vlčice anzusprechen. Wir wussten nicht, was tun. Wir besorgten ein paar Kleinigkeiten, kauften noch ein paar Sachen ein und begaben uns nach Hause und blickten traurig ins Leere … Q  It’s now 4.24 in the afternoon. What’s happened so far? A  Um zwölf Uhr und fünf Minuten, also wirklich, faktisch und auch im übertragenen Sinn des Wortes fünf Minuten nach zwölf, wer taucht da an unserem Tor auf? – Fanda! Und er kommt mit einem strahlenden Lächeln und der glücklichen Nachricht, dass es ein Schwein gibt! – Wir spielen das runter … Do you understand? Q  Oh yes, I do! A  … wir spielen das runter, täuschen vor, dass uns das insgesamt gleichgültig ist, bemühen uns, unsere Freude nicht zu zeigen und fragen, von wem das Schwein ist. Und Fanda sagt: „Von einer Alten aus Vlčice, es ist fest verabredet, kommt um halb zwei zum Wirtshaus, wir fahren zu ihr, verabreden das mit ihr. Das ist klar, gestern bin ich bis neun Uhr in ganz Vlčice umhergefahren, um ein Schwein aufzutreiben!“ Wir danken ihm, verabreden, dass wir um halb zwei vor dem Wirtshaus sein und die ganze Sache mit dem Lieferwagen und der Lieferung des Schweins definitiv aushandeln werden … Q  We have a feeling that the story is coming to an end. Will it be a happy end or not? A  Ich muss sagen, dass das Ergebnis ambivalent ist. Einerseits glücklich: Ein Schwein haben wir, und wenn Sie gut hinhören, hören Sie, wie es in unserer Scheune grunzt. Das ist allerdings die eine Seite des Endergebnisses und unseres Erfolgs. Die andere Seite ist ein wenig problematischer. Die betreffende Dame – es zeigte sich, dass 37


sie keine Alte ist, sondern eine jüngere Frau – ist keine unbekannte und neue Figur dieses Dramas, sondern sie ist die Tochter des Wirts, mit der Fanda das verabredet hat. Der Wirt, mit dem wir bisher nur über das Bier gesprochen hatten, tat so, als ob er davon nichts wisse. – Es zeigte sich, dass diese Dame wirklich ein Schwein hat und es uns wirklich verkauft, doch es zeigte sich auch, dass Fanda mit ihr einen astronomischen Preis für das Schwein verabredet hat, einen Preis, der alle unsere Erwartungen übertraf ebenso wie unsere schon übertriebenen Angebote, einen Preis, den ich nicht einmal aussprechen kann, einen Preis, der auch die Annahmen aller Teilnehmer des Gastmahls übertraf, einen Preis, den wir allerdings akzeptieren mussten, sofern wir überhaupt ein Schwein haben wollten. Selbstverständlich haben wir das getan. – Und wir wurden belohnt. Wir wurden nicht nur damit belohnt, dass wir ein Schwein haben, sondern auch damit, dass die ganze vorhergehende Geschichte aufgeklärt wurde: Das Dorf Vlčice hatte sich offenbar komplett gegen uns abgesprochen, hat uns erpresst, hat uns im eigenen – Schweinesaft kochen lassen, hat auf den Augenblick gewartet, wo wir völlig in die Enge getrieben waren, uns in einer Sackgasse befanden, um dann den Preis maximal in die Höhe treiben zu können. Diese List ist dem Dorf Vlčice geglückt. Q  Thank you very much, Mr. Havel, for your explanation. If you don’t mind, we have one last question. It really is the last question. What do you think about perestroika and the possibility of reform in Czechoslovakia? What do you think Husák will do? A  Z E N S I E R T ENDE

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Anna Saavedra

OLGA – HORROR IM HAUSE HAVEL Aus dem Tschechischen von Barbora Schnelle unter Mitarbeit von Lydia Nagel


Der Text entstand im Rahmen des Residenzprogramms des Zentrums für Gegenwarts­ dramatik am Theater Divadlo LETÍ und seine Entstehung wurde durch die Stiftung Nadace Český literární fond unterstützt.

PERSONEN:  OLGA MANN 1 MANN 2 MANN 3

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Die Reihenfolge der Auftritte zwischen dem Prolog und dem Epilog ist variabel. Die Männer spielen im Laufe des Stücks unterschiedliche Rollen und ziehen sich nach Bedarf einzelner Szenen um. Während das Publikum hereinkommt, steht die Schauspielerin, die Olga spielt, bereits im Kostüm am Eingang und reißt als Platzanweiserin die Eintrittskarten ab. Dann geht sie in einem gleitenden Übergang auf die Bühne, setzt sich an den Tisch und zählt die Tickets, dabei kontrolliert sie unwillkürlich das bereits sitzende Publikum.

DIE HOSE / PROLOG Innenraum der Wohnung. Die Uhr tickt. Im Vordergrund ein Esstisch. An ihm sitzt Mann 1 als VH, er raucht und baumelt mit den Beinen, man sieht seine kurzen Hosenbeine. Er lächelt. MANN 1  Ich bin, falls es einige bemerkt haben, gestern oder vorgestern, das weiß ich nicht mehr, zum Präsidenten gewählt worden – OLGA  Ich habe es bemerkt. MANN 1 Und? OLGA  Ich war eine der Letzten, die vor diesem fatalen, schrecklichen Einfall von dir kapituliert haben. MANN 1  Olga … Ich bin wohl jetzt ein Präsident. OLGA  Mach dir nicht in die Hose. MANN 1  Wird das jetzt vielleicht vom Fernsehen übertragen – OLGA  Und denk nicht, ich hab hier nur so auf der faulen Haut gelegen. Über zwei Stunden habe ich ein Interview für Le Monde gegeben. MANN 1  Das war schon gestern, oder? OLGA  Ja, gestern, und heute wieder, für die Sonntagsbeilage. (Ein Moment der Stille. Die Uhr tickt.) Ich hasse alle diese offiziellen, staatlichen – Ich mag das ruhige Leben. Václav, das hier jagt mir einen ordentlichen Schrecken ein. Weißt du, was das bedeutet? Das wird wieder ein Leben von allen Seiten abgeriegelt. Du bist doch erst seit dem siebzehnten Mai freigelassen. MANN 1  (erzählt dem Publikum eine Anekdote) … und bei dem Akt meiner Ernennung zum Präsidenten habe ich eine Militärparade abgenommen und bei der Parade 43


habe ich meinen neuen Anzug getragen, den das Bürgerforum der Firma Adam ­kostenlos für mich genäht hat, und dort gibt es erfahrene Schneider, die wissen, dass wenn man sich die Hose anzieht und sie bis zur Hüfte hochzieht, wird sie ­rutschen, die Hose natürlich, ungefähr fünf Zentimeter runter, und so messen sie die Hose so ab, dass sie nach dem Rutschen genau so lang ist, wie sie sein sollte – Die Klingel ertönt. OLGA  Wer ist das? MANN 1  Wohl jemand von Adam. Die ganze Republik bombardiert sie mit Telefonaten, was sie mir da für eine Hose genäht haben. Mann 2 tritt herein. MANN 2  Guten Tag. Ich bin gekommen, um die Hose von Adam abzuholen. Ich bin Schneider. Zeigen Sie mal. Wie ist das denn passiert? Mann 1 zieht die Hose aus. MANN 1  Als die Militärparade angefangen hat, wollte ich würdevoll daherkommen, also habe ich mir die Hose hochgezogen, aber die Hose hat mich, das Bürgerforum der Firma Adam und die ganze Nation blamiert, denn sie ist gerutscht und auch auf die richtige Länge, aber erst nach der Parade … MANN 2  Na ja. Das hätten Sie nicht … Da haben Sie wohl einen Fehler gemacht. MANN 1  Hätte … Hätte … MANN 2  Ich könnte das hier ein wenig verlängern, falls Sie sich die Hose wieder mal hochziehen sollten – Packen Sie’s mir also ein, Genoss… Frau Präsidentin. Wissen Sie, dass ich auch für die früheren Präsidenten genäht habe? OLGA  Wirklich? Für welche denn? MANN 2  Danke. Danke vielmals und ich empfehle mich. Mann 2 geht weg. Mann 1 setzt sich wieder an den Tisch. Jetzt ohne Hose. Er raucht und baumelt mit den Beinen. MANN 1  Der König hat eine viel zu kurze Hose. Was für ein Slogan! Das erinnert an ein Märchen. Das hat etwas Unheilvolles … Die Klingel ertönt. OLGA  Wer ist denn das jetzt wieder? MANN 1  Natürlich kann es letztendlich auch zur Mode werden … Mann 3 kommt herein. MANN 3  Guten Tag, ich komme von Adam und soll die Hose vom Herrn Präsidenten abholen. OLGA  Aber Sie waren doch eben da. MANN 3  Ich bin von Adam und soll die Hose, die kurze, vom Herrn Präsidenten ab­holen. OLGA  Der Schneider von Adam war schon da. MANN 3  Ich bin von Adam. 44


OLGA  Sie sind von Adam? Und wer war der da? MANN 3  Wo haben Sie die Hose? OLGA  Der erste von Adam hat sie mitgenommen. MANN 3  Ich bin von Adam. OLGA  Wir haben die Hose nicht mehr. MANN 3  Sie haben sie ihm gegeben? Einfach so? OLGA  Soll das ein Witz sein? MANN 3  Ich bin von Adam! OLGA  Das haben Sie schon gesagt. MANN 3  Soll das vielleicht ein Witz sein? OLGA  Wenn Sie von Adam sind, wer sollte dann der andere sein? MANN 1  Ein Spion! Ein Provokateur! Ein selbsternanntes Schneiderlein! OLGA  Dann laufen Sie ihm nach und nehmen Sie ihm die Hose weg! Wie soll man das auseinanderhalten? MANN 1  Und Sie haben auch Anzüge für die früheren Präsidenten genäht? MANN 3  Wie bitte? OLGA  Los, hinterher. Sie können ihn noch einholen. Er trägt die Hose in einer weißen Tasche. MANN 3  Gütiger Gott! MANN 1  Das ist ja eine schöne absurde Verwicklung! OLGA  Václav! MANN 3  Na dann gehe ich wieder, wenn Sie die Hose nicht haben. OLGA  Gehen Sie ruhig. Pardon. Auf Wiedersehen. Mann 3 geht. MANN 1  Der König hat eine viel zu kurze Hose. Etwas Unheilvolles … Das ist eine meiner lustigen Geschichten aus dem Präsidentenleben. In den paar Tagen habe ich feststellen müssen, dass es schrecklich viel Arbeit macht – das Präsidentendasein. Und ganz besonders in diesen Zeiten macht es sehr viel Mühe, man muss jeden Tag so viel Arbeit leisten, das haben einige der vorigen Präsidenten nicht mal in zehn Jahren geschafft, und das Volk, das hat Sorgen, das sorgt sich um meine Hose, und ich habe keine Zeit, mich mit solchem Blödsinn zu beschäftigen – OLGA  Václav! MANN 1 Na? OLGA  Dieses Stück handelt von mir. MANN 1  Ach so, ja? OLGA  Es heißt Olga, also geht es da um mich, nicht wahr? MANN 1  Du hast Recht. Also … soll ich weggehen? OLGA  Ich weiß nicht. 45


MANN 1  Na ich muss hier nichts mehr erzählen. Das war nur so eine lustige Geschichte aus dem Präsidentenleben, tja. OLGA  Václav … Mir kommt es nicht sehr lustig vor. MANN 1  Dann gehe ich, ich muss sowieso schon los. Zum Schluss möchte ich noch sagen … Ja. Ich bin hier nicht in der Hauptrolle, nicht wahr. Dieses Stück ist meiner Frau gewidmet. Meiner… (er dreht sich vorsichtig zu Olga) ersten … Frau. Und ich habe meine … erste … Frau sehr gern, ich schätze sie und habe mein Leben lang zu ihr gehalten, sie immer unterstützt – Oder eigentlich nicht, umgekehrt war es, sie hat mich immer unterstützt … Ich bin hier aber in einer Nebenrolle, wie Sie sehen, ja, auch das kann mal vorkommen – OLGA  Václav – MANN 1  Ich gehe schon, ich gehe, ich mach schon Schluss. Olga – und so weiter.

MONOLOG OLGA  (murmelt) Olga … In der Hauptrolle … (wendet sich an das Publikum) War das Ihre Idee? Oder Ihre? Wer führt hier überhaupt Regie? Können Sie mir das sagen? Ich werde Ihnen hier nichts vorspielen. Werde Ihnen nichts erzählen. Warum wollen Sie darüber sprechen? Warum die alten Geschichten wieder aufwärmen? Das, was er wollte, hat er schon selber geschrieben. Und gut. Was soll ich noch hinzufügen? Was erwarten Sie hier von mir? Irgendeine Show? Das Porträt einer Zeit? Das Porträt einer Heldin? (ironisch) Olga … Der beste Freund für alle Epochen, Regime und Jahreszeiten. Wie toll sie all ihre Rollen gespielt hat. Ich aber bin eine miserable Schauspielerin. Miserabel, weil ich nicht spielen kann. Lügen kann ich nicht. Hab es nicht mal versucht. Diese Schauspielkurse damals … Du bist zu authentisch, hat man mir gesagt. Aber das ist für einen Laien nicht notwendigerweise schlecht. Und für eine First Lady? Was ist die „First Lady“? Ich hasse es, wenn sich Menschen zu ernst nehmen. Euphorie ist zwar ganz schön, aber man muss wissen, dass danach der Alltag kommt, in dem es darum geht, das Alltägliche auszuhalten und nicht nur einfach irgendwo rumzuschreien und sich zu freuen.

INTERVIEW I Olga räumt auf. Mann 2 erscheint als Journalistin. Gleich danach (auch als Journalis­ tinnen) Mann 3 und Mann 1. Sie stöbern herum, stellen sich Olga in den Weg mit einer ansteigenden, leicht aggressiven Servilität. 46


MANN 2  Haben Sie noch eine Privatsphäre? OLGA  Davon kann schon seit Jahren nicht mehr die Rede sein. MANN 3  Glauben Sie an Gott? OLGA  Wie bitte? MANN 1  Was bedeutet für Sie Freiheit? MANN 2  Wahrheit? MANN 3  Liebe? OLGA  Ich spreche schrecklich ungern über persönliche Gefühle. Nehmen Sie’s mir nicht übel. MANN 2  Ihr Mann war zuerst Dramatiker, dann Dissident, jetzt Politiker. Ich denke, das war für Sie nicht einfach. Kann ich Sie fragen – MANN 3  – wann Sie am traurigsten waren und wann Sie auf der anderen Seite Glück verspürt haben? MÄNNER  Und was ist mit den Hunden? Olga schweigt ostentativ. MANN 1  Wie sehen Sie die Stellung der Frau in der Gesellschaft? Was denken Sie über Feminismus? MANN 3  Macht Ihnen etwas Sorge? Auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene? Ich frage, weil es sich fast um eine Psychose handelt, ich würde es wirklich und ernsthaft eine Besessenheit nennen – MANN 1  Die Frauen im Westen denken, dass die tschechischen Frauen nicht emanzipiert sind – MANN 3  – wie die Menschen Ihren Mann lieben, wie sie sich mit seinen Gedanken identifizieren. Aber zugleich bin ich mit schrecklichen Hassausbrüchen konfrontiert worden– MANN 1  Neulich haben Sie in einem Gespräch gesagt, dass Feminismus eine Verschwendung von Kräften sei. Können Sie das näher erläutern? MANN 2  Dramatiker, Politiker, Philosoph, Gefangener des Gewissens, Sohn eines Bauunternehmers, Chemielaborant, Bühnentechniker, Regieassistent, sogar Dramaturg! Das war doch sicher nicht einfach. MANN 3  Mähen Sie noch den Rasen? Man erzählt, dass, als Tom Stoppard zu Besuch kam, hießen Sie ihn mit einer Sense in der Hand willkommen. MANN 1  –obwohl Sie eine der Unterzeichnerinnen des Briefes zur Unterstützung von Zdena Erteltová oder der Petition für die Einstellung der Strafvollstreckung gegen Drahomíra Šinoglová waren? Können Sie das näher erläutern? Am 17. November 1988 haben Sie auch an einer Demonstration gegen den absoluten Mangel teilgenommen – MANN 3  Halten Sie etwas von Horoskopen? Haben Sie Ihren persönlichen Astrologen wie zum Beispiel Nancy Reagan? MANN 1  Den Mangel an Damenbinden. 47


OLGA  (nachdrücklich) Wie bitte? Pause. MANN 3  Und das war sicher nicht einfach! Pause. MANN 1  Das diplomatische Protokoll unseres Staates ist nicht sehr streng, aber dennoch – MANN 2  Das Gartenfest, Die Benachrichtigung, Erschwerte Möglichkeit der Konzentration, Die Gauneroper, dann – MANN 3  Hacken Sie noch Holz? Man erzählt, Sie haben Ihren Mann einmal mit der Axt in der Hand gejagt. MANN 2  Vernissage, Das Berghotel, Protest, Der Fehler, Largo Desolato, Versuchung, Sanierung, Morgen geht es los1 und noch eins – MANN 3  Welche Farbe mögen Sie? Jetzt tragen Sie ein wunderschönes Rosa, aber früher haben Sie viel Beige und Braun getragen. Das sind aber ganz andere Farben! Haben Sie Ihren persönlich Color-Stylisten wie zum Beispiel Nancy Reagan? MANN 2  Das Gartenfest, Die Benachrichtigung, Erschwerte Möglichkeit der Konzentration, Die Gauneroper, Vernissage, Das Berghotel, Protest, Der Fehler, Largo Desolato, Versuchung, Sanierung, Morgen geht es los – wieder nicht, Entschuldigung, Moment mal … MANN 3  Was essen Sie gern? Welche Wünsche haben Sie? Wie sollten sich Frauen den Männern gegenüber verhalten? MÄNNER  Und was ist mit den Hunden? MANN 1  Wie ist Ihre Einstellung zu Frauen in der Politik? MANN 3  Und was das Trinken angeht? Was trinken Sie gern außer Kaffee, den Sie wohl von morgens bis abends trinken? MANN 1  Sie scheinen sich von dem Begriff des Feminismus zu distanzieren. MANN 2  Es scheint so, dass die Mauern die letzte Instanz sind, an die sich Bürger wenden, wenn sie ihren Präsidenten ansprechen wollen – MANN 3  Es scheint so. MÄNNER  Und was ist mit den Hunden? OLGA  Mit den Hunden ist alles in Ordnung. MANN 3  (ermutigt) Können Sie uns verraten, wie Sie Ihren Ehemann kennengelernt haben? OLGA  Ich erzähle das schrecklich ungern, es klingt wie aus einem Groschenroman … 1  Alles Theaterstücke von Václav Havel, zitiert nach den deutschen Übersetzungen von Joachim Bruss. Das Stück Morgen geht es los (orig. Zítra to spustíme) ist bis jetzt nicht ins Deutsche übersetzt worden.

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MANN 1  Neulich haben Sie in einem Gespräch gesagt, dass – Frauen in der Politik mehr körperlich agieren und das praktische Leben einbeziehen. Können Sie das näher erläutern? MANN 2  (schreit fröhlich auf) AUDIENZ! Audienz! Na klar … MANN 1  Dass Frauen mehr körperlich – sind körperlich – zu viel Diplomatie schadet – selbstverständlich nicht unter allen Umständen und um jeden Preis – und Feminismus ist Verschwendung von Kräften. MANN 3  Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn des Lebens? MÄNNER  Und was ist mit den Hunden? MANN 1  Es sieht so aus und einmal haben Sie es auch gesagt – MANN 2  Sie sind im Arbeiterviertel Žižkov großgeworden. MANN 3  Selbstverständlich nicht unter allen Umständen und um jeden Preis – MANN 2  Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als Sie sechs waren. MANN 1  Es sieht so aus und einmal haben Sie es auch gesagt. MANN 3  Aber das war sicher nicht einfach! MANN 2  Seit der Zeit kümmerte sich nur noch Ihre Mutter um Sie. MANN 1  Wahrscheinlich hat sie Sie auch beeinflusst! OLGA  (resolut) Das würde ich nicht sagen, ich war ein Straßenkind. MANN 2  Es sieht so aus und einmal haben Sie es auch gesagt – MANN 1  Das war also sicher gar nicht einfach – MANN 2  – dass die Straße so grausam wie die Peitsche Gottes ist. MANN 3  Es sieht so aus und einmal haben Sie es auch gesagt – aber was haben Sie damit gemeint? MANN 2  Im Jahre 1948 waren Sie fünfzehn. Im Juni 1950 siebzehn. MÄNNER  Und es war gar nicht einfach. MANN 2  Es sieht so aus und einmal haben Sie es auch gesagt, dass, als Sie über ­Wenzelsplatz gegangen sind und aus dem Radio von dem Prozess gegen die ­Abgeordnete Milada Horáková gehört haben – MANN 1  Wahrscheinlich hat sie Sie auch beeinflusst! MANN 3  Und was ist mit dem Sinn des Lebens? MÄNNER  Und was ist mit den Hunden?

UND JUGEND, DIE TAUBENSCHWINGE … OLGA  (als Jugendliche) Du gehst durch Žižkov, im Lärm und Gestank eines der vielen nichtfeierlichen Tage, gehst, Geschrei der Rotzbengel aus deinem Häuserblock, aus allen Blöcken, in der Welt der Armenviertel, das Geklimper von Besteck, Geschrei 49


der Rabauken, Olga, unsere Königin, unsere gnädige Frau. Und aus den offenen Fenstern, aus allen Fenstern und allen Pawlatschen und Klos tönen die Radios und die Stimmen. Der Prozess gegen Milada Horáková. Der Himmel eine Stahlplatte. Der Schotter und Steine in den Hosentaschen der Schreihälse von der Straße. Der Kinder. Olga, unsere Königin. Küss die Hand, gnädige Frau. Ich hasse Kommunisten. Es bringt mich zum Lachen. Manchmal balle ich die Fäuste. Streite mit meiner Mutter. Immer bis aufs Blut. Aus Trotz sperre ich mich auf dem Klo auf der Pawlatsche ein, auch für den ganzen Tag. Sollen sie doch hämmern. Sollen sie doch auf mich schreien. Sollen sie sich ruhig einscheißen. Trotzen kann ich. Weil das zum Lachen ist. Eine Dame zu spielen und ausgerechnet in dieser beschissenen Zeit. Englischunterricht zu nehmen. Warum, Olga, warum um Gottes willen? Wirst doch nicht dorthin reisen können. Wirst es doch sowieso nicht sehen können. Englische Bücher, das ist kein Fleisch an der Theke. Und in das Café Slavia zu gehen und sich dort aufzuspielen. Aber ich gehe. Balle die Fäuste. Und Radiostimmen aus allen Pawlatschen, Küchen und Klos. Die Fleischereien sind menschenleer. Die Fleischer legten die Messer vor dem Gerichtstribunal aus. Die Genossen klatschten. Ich gehe ins Slavia. Mit den Mädels. Und nehme auch Schauspielunterricht. Na und? Die Mädels sind wohl Luder. Langsam lerne ich es. Und das Leben wird es mir noch öfter in Erinnerung rufen. Vielleicht wird er wieder da sein. Er setzt sich zu uns an den Tisch. Das brave Söhnchen und blonde Dickerchen. Er schämt sich immer noch ziemlich viel. Ich doch auch, aber vor ihm immer die Souveräne. Der „zivilistischen“ Poesie wohl auffällig ähnlich. Wie Züge, Bahnhöfe, Mauern und Unkraut. Ist das etwa der Grund, warum er mich anschaut, mit verschwitzten Händen? Ich gehe am Flussufer entlang. Und die Stimmen schwinden. Die Fleischer schließen ihre Geschäfte. Und es ist Prag. An diesem Tag. In diesem Jahr. Befreie das. Das Wenige, was du kannst, wofür du Kraft hast. Befreie das. Das Wenige, was du hast, was du bist oder sein kannst.

INTERVIEW II / GEISTERSTUNDE Mann 3 erscheint als Phantom – Frau B., Mutter von VH, in einem Morgenmantel und grauhaariger Perücke setzt sich ans Klavier und spielt etwas Klassisches. PHANTOM (präludiert, spricht dabei) Wie alt sind Sie, Fräulein Šplíchalová? Sie sind also älter? Die Beziehung zu meinem Sohn halten Sie für einen guten Scherz? Soll das ein Scherz sein, Fräulein Šplíchalová? In welchem Prager Salon lassen Sie Ihre Kleider nähen? Was ist Ihr höchster Abschluss? Welches Waschmittel verwenden Sie? Oder waschen Sie nur mit Seife? 50


Im Übrigen bin ich seine Mutter, es ist also angebracht zu fragen. Die Mutterschaft ist die heilige Pflicht der Frau, eine nie endende Aufgabe. Und diese Aufgabe endet nicht einmal mit dem Tod. Kultur. Wissen Sie, was Kultur ist, Fräulein? Eine Dame zu sein, das kann man nicht in einem Abendkurs für Etikette lernen. Das ist weder ein karierter Rock noch weiße Handschuhe oder ein bisschen Kleingeld für den Kaffee im Slavia. Kultur ist eine Lebensvision, ein Lebensstil – den erbt man, den hat man im Blut. Tischmanieren, französische Konversation, und nicht Englisch für Anfänger, obwohl in Ihrem Fall ist es eine niedliche und humorige Bemühung. Kultur, Mode, Automobilismus, Familienkunstsammlungen – wo die wohl geblieben sind. Wissen Sie, was Kinderstube heißt? Das ist keine Pawlatschentoilette, wirklich nicht. Jedes menschliche Wesen strebt natürlich nach etwas Besserem. Es ist ein, würde ich sagen, primitiver Instinkt – etwas Triebhaftes. Und unser Jahrhundert ist offensichtlich diesen Instinkten geweiht. Das Unterste zuoberst gekehrt. Von meinen Eltern blieb nichts weiter als ein paar Kleiderstücke und schöne Erinnerungen. Uns wurde alles genommen ohne jeglichen Ersatz. Bücher, Antiquitäten, Archiv, Geschirr. Immobilien. Nicht nur Leerräume inmitten von Wänden. Diese Häuser, Paläste, Terrassen, Lebensträume, kühne Visionen, aus dieser Stadt, aus diesem Land einen Hafen für das neue, moderne Leben zu machen. Als mein Vater von unserer Zwangsausweisung aus Prag erfahren hat, hat er sich so geärgert, dass er einen Schlaganfall bekommen hat und innerhalb weniger Tage gestorben ist. Mein Vater, ein Diplomat, Anhänger der Gedanken von Masaryk, Inhaber der Patente etlicher technischer Erfindungen und Autor der Abhandlung Vom Beginn und Ende der Welt. Der Schwager verurteilt, für den Versuch einer illegalen Grenzüberschreitung, zwei Jahre im Gefängnis Bory – als unser kleiner Ivan den verunstalteten Onkel Miloš hinter Gittern gesehen hat, hat er losgeweint. Mein Mann danach drei Monate im Gefängnis Pankrác, in einer Zelle mit dem Oberstleutnant Lukas, Militärattaché in Washington. Ein hervorragender Mensch und Freund, der bei dem Verhör so verprügelt wurde, dass er innerhalb von drei Tagen verstarb … All die Verschwundenen, verschwunden ohne jede Spur im Rahmen der Maßnahmen. Endgültiger Verlust von Menschlichkeit. Marasmus. Angst. Tiefer Fall. Warum erzähle ich Ihnen das alles, Fräulein? Sie sind noch ein unbeschriebenes Blatt. Und die Pawlatschentoilette ist Ihre einzige historische Konstante. Diese Ihre Affäre mit meinem Václav. Ich muss fragen, handelt es sich um einen Scherz? Oder erwarten Sie vielleicht eine Abfindung? Sind Sie ein Flittchen, Fräulein Šplíchalová? Haben Sie da nicht eine etwas zu hohe Meinung von sich? Ihre Mutter ist geschieden? Man hört, Sie verabscheuen Kommunisten. Ich bitte Sie, wie kommt das, dass ein Mensch aus Ihrer gesellschaftlichen Schicht die Kommunisten verabscheut? Man kann Ihnen eine gewisse Attraktivität nicht abstreiten. Sicher. Das Bett wärmen, das können 51


Sie wohl? Sie wissen, dass ich meine Ansichten nicht ändere. Wenn Sie Samthandschuhe wollen, sollen Sie Samthandschuhe haben. Ich hoffe nur und möchte Ihnen einen anständigen Rat geben – ein nicht verlangter Rat wird vielleicht umso wertvoller sein. Ich würde Ihnen wirklich ernsthaft raten, so fähig sind Sie hoffentlich und werden Sie auch sein – sorgen Sie dafür, dass mein Václav zumindest wirklich hochwertige Genussmittel ins Gefängnis bekommt. (Ende der Musik, in die Stille) Hochwertigen Tee. Hochwertige Zigaretten. Und Kölnisch Wasser.

HUNDEMENSCHEN / MONOLOG Auf der Bühne Mann 2 als Hund. HUND  Mein Frauchen. Wenn sie in den Keller Kartoffeln holen geht, geht sie für immer. Trauer, kaum auszuhalten. Wenn sie zurückkommt, Freude für immer. Ich hüpfe herum und wedele mit dem Schwanz. Sie ist ruhig, konzentriert. Aber das ist nicht immer so. Sie ist immer in Alarmbereitschaft. Schnüffelt. Schweigende Hundemenschen. Verschwiegene. Sie kann dich durchschauen. Schnüffelt, und deswegen weiß sie, hinter wem man bäuchlings und über Steine herkriechen soll, bis hinter den Horizont. Und wen man am besten direkt in den Arsch beißen soll. So ist es bei ihr. Bei meinem Frauchen.

SCHWANENGESÄNGE Wochenendhaus in Hrádeček2, tiefe Nacht. Nachhall von Stimmen, Knirschen des Bodens, in der Weite ein Schuss. Mann 1 als VH mit einer Kerze. MANN 1  Als man nach dem Krieg die Deutschen wegjagte und bewaffnete Abenteurer hier auf Hrádeček umsonst diese Häuser an sich gerissen haben, jagten sie auch die Familie Fischer weg. Olga glaubt, dass die rachsüchtigen Geister der Deutschen, die hier seit Generationen gelebt hatten, uns immer beobachten. Ein komischer Landstrich. Genius loci, die Aura des Ortes. Dieser Ort hat aber eine irgendwie zwiespältige Aura. Neulich war ich hier ganz allein, es war kalt und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass ich in unserem Haus den Schatten eines sich bewegenden Menschen, 2  Hrádeček (Verniedlichungsform von „Burg“), frühere deutsche Ortsbezeichnung Silberstein, ist eine Ansiedlung in der Gemeinde Vlčice im Norden von Tschechien, die durch das Wochenendhaus von Václav Havel berühmt wurde. Anm. d. Ü.

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der hier herumkriecht, sehe. Ich habe Gänsehaut bekommen, habe angefangen mich zu fürchten, obwohl ich sonst ein tapferer Mensch bin … Olga! (Ein Moment der Stille.) Aber ich habe Angst auch vor Sachen, die weniger Science Fiction sind, irgendwelche Tiere, Marder, Dachs oder so was – wenn sie mit mir plötzlich einen Dialog führen wollen, ist mir ganz unwohl … Olga! Olga! OLGA  Was ist? Ich bin hier. MANN 1  Nichts. Nichts … Schon gut. Persönlich vertrete ich die Meinung, dass, obwohl man selber tapfer ist und in seinem Leben mehr oder weniger tapfere Taten vollbringt, man nicht das Recht hat, andere, die nicht so handeln, zu verurteilen. Die menschliche Angst verurteilt man einfach nicht. Ich habe kein Recht, die zu verurteilen, die Angst haben. OLGA  Hast du Angst? MANN 1  Ich verstehe heute besser als früher, dass man leicht verbittern kann. Die Versuchung des Nichts ist mächtig. Und dagegen steht der Mensch ganz allein, schwach und schlechter bewaffnet als je zuvor in der Geschichte der Menschheit – OLGA  Du hast meine Frage nicht beantwortet. MANN 1  Und du? Hast du Angst? OLGA  Ich weiß nicht. Nein. Viel mehr kotzt mich die Ungerechtigkeit an. Ein Moment der Stille. MANN 1  Das obligatorische Thema der menschlichen Verantwortung – Aber wenn ich das, falls möglich, mit gesunden Nerven überleben will, dann für dich, für unsere Freunde – OLGA  Ich weiß … MANN 1  – und die Gemeinschaft, ich will nicht sagen Öffentlichkeit, aber einfach das Geflecht aus Beziehungen, Werten … OLGA  Hast du was gegessen? Willst du nicht essen? MANN 1  Die Versuchung des Nichts ist riesig … OLGA  Václav! MANN 1  (kommt zu sich) Was? OLGA  Nimmst du was? MANN 1  Ja … (Mann 1 isst. Olga schaut ihm zu.) Was ist? (Pause) Das letzte Abendmahl? (Ein Moment der Stille. Mann 1 isst weiter. Zum Publikum.) Weil ich kein wirklicher Mensch bin, weil ich eine Theaterfigur bin und somit über die Ereignisse, sowohl zukünftige als auch vergangene, woher und wohin man geht, Bescheid weiß, also – das letzte Abendmahl und es kommt die letzte Nacht – man könnte sagen, ich wüsste, dass ich verhaftet werde – OLGA  Und trotzdem gehst du. Würdest du gehen. Und die letzte Nacht mit ihr ver­ bringen. 53


MANN 1  Die letzte Nacht vor meiner Verhaftung. Ich wäre bei ihr. Ich werde bei ihr sein. OLGA  Na ja. MANN 1  Bist du mir böse? (Olga zuckt mit den Schultern.) Ich weiß, dass ich in den letzten Jahren viel zu viel Zeit mit dem Erledigen dieser meiner intimen Agenda verbracht habe – OLGA  „Intimen Agenda“? (Sie lacht auf.) MANN 1  Also – ich werde dir schreiben – OLGA  Und ich werde ihr dann deine elend langen Briefe vorlesen müssen. Sentimental und grausam. MANN 1  Sie wird an deiner Schulter weinen. Die arme Andulka. OLGA  Sie wird unter dein Fenster singen kommen. MANN 1  Na ja, die Liebe … OLGA  Das ist schrecklich. MANN 1 Lächerlich? OLGA  Na dann geh schon, wenn du musst. MANN 1  Du schreibst mir doch, Olga. Aber lange Briefe! Das ist ein Befehl. Nicht nur ein paar trockene Sätze. OLGA  Schreiben … immer nur schreiben … MANN 1  Ich kenne dich, dir wird es blöd vorkommen, groß über Sachen zu schreiben. Du bist mit allem viel zu schnell fertig. Aber unter den gegebenen Umständen hat das eine enorme Wichtigkeit. Für mich. Verstehst du? OLGA  Fürs Schreiben bist du hier zuständig, oder? MANN 1  Bist du sauer? OLGA  Na jetzt geh schon. Mann 1 geht. Olga bleibt allein. In ihrem Gesicht sehen wir Müdigkeit und eine fast filmreife Traurigkeit. Sie lächelt. Mann 2 kommt als Hund angelaufen und bringt Becherovka. Olga trinkt. OLGA  Sitz. (Der Hund setzt sich und gibt ihr die Pfote.) Andulka … HUND  Na ja … OLGA  Wenn es auf der Welt etwas gibt, was ich ihm verbieten könnte. HUND  Wenn es auf der Welt etwas gibt, was er sich verbieten könnte. OLGA  Ein Geflecht aus Werten, Beziehungen. Das ist schon ein ordentliches Geflecht aus Beziehungen. HUND  Aber Olga sagt nichts. Olga versteht es. Olga, die ist pflichtbewusst. OLGA  Und wird noch pflichtbewusster. HUND  Irgendwann mal. Mit der Zeit. In hundert Jahren. OLGA  Man hätte das auch anders schreiben können, diese Szene. 54


HUND  Schwanengesang des Abschieds. OLGA  Na was? Worte bringen nichts. Es wird sich schon eine finden, die das an meiner Stelle gern singen wird. Dunkel.

SOMMER Hrádeček 1968. Grelles gelbes Licht. Olga mit Sonnenbrille und Badeanzug legt die Platte mit dem Song Massachusetts von den Bee Gees auf. In der Nähe übt Mann 1 als VH in T-Shirt mit einer englischen Aufschrift Yoga. Mann 2, jetzt als Filmregisseur und Drehbuchautor PJ, ganz in schwarz, mit Sonnenbrille, wiegt sich sanft im Rhythmus der Musik und raucht mondän. MANN 2  … also schluckst du jetzt Prellies und schreibst, schreibst, mein Freund … eine sagenhafte Euphorie … und du schreibst vielleicht die ganze Nacht durch. Ehrlich, die ganze Nacht. Dämon Alkohol ist Vergangenheit und das da, Václav, ist die Zukunft … MANN 1  (lächelt) Das kenne ich, Pavel, das kennt doch jeder. So schreib ich auch. Olga macht es sich auf einer Liege bequem und liest. Mann 3 kommt, jetzt als Schau­spie­ ler JT, ein schöner Athlet in Badehose aus der damaligen Zeit, und bringt Olga einen Drink. MANN 3  Nehmen Sie einen Drink, meine süße Dame? OLGA  Was für einen? MANN 3  Aus dem Intershop? OLGA  Hm … Lauter Intershop-Drinks, aber die paar Kronen fürs Brot fehlen uns manchmal. MANN 3  Und was lesen Sie denn da? Hoffentlich nichts aus der klassischen Philosophie. Das würde mich wirklich anöden. OLGA  Und was sollte ich deiner Meinung nach lesen? MANN 3  Etwas, das sich für eine Liebeskonversation eignet. Etwas süß Verdorbenes. Wie dieser unser Sommer … Zum Wohl! MANN 1  (in Yoga-Position) Ich höre das! OLGA  Wir wissen, dass du das hörst. MANN 1  Aber es gefällt mir nicht! OLGA  Das wissen wir auch. MANN 2  Die Plakate habt ihr aus Amerika? MANN 1  (im Lotussitz) Aus Amerika. MANN 2  Erzähl noch was von diesem Amerika. 55


MANN 1  Als ich und Olga zu dieser Demo gegen den Vietnamkrieg gegangen sind, waren dort im Grunde zwei Meinungslager – MANN 2  Ich wollte eher fragen … Wie funktioniert es eigentlich in diesen HippieKommunen … ich meine mit … MANN 1  Du meinst also – mit den Mädchen? MANN 2  Ja … (Mann 1 flüstert dem Mann 2 etwas ins Ohr.) Oh mein Gott! MANN 1  Wirklich! Mit eigenen Augen! Olga legt mit einem Lächeln die gleiche Platte mit dem Song von den Bee Gees auf. MANN 3  Fahren wir baden? OLGA  In den Höllenpfuhl? MANN 3  Was? OLGA  Das ist ein Teich … MANN 3  Wer hat diesem Teich so einen komischen Namen gegeben? MANN 1  Das hier ist ein mysteriöser Landstrich. MANN 2  Ignis inferni direkt aus dem Boden des Riesengebirges hervortretend. MANN 3  Kann nicht sein. Das glaube ich nicht. Das hier ist ein Paradies auf Erden. Er zwinkert Olga zu. Olga widmet sich wieder ihrem Buch. MANN 1  Du spielst mit dem Feuer. MANN 3  Der Dubček spielt mit dem Feuer. MANN 2  Gibt es irgendwelche neuen Nachrichten? MANN 1  Bis jetzt nichts. Wir werden sehen. MANN 2  Das glaub ich nicht. MANN 3  Irgendwas wird passieren. Diese Spannung wird sich nicht bis ins Unendliche steigern lassen. MANN 2  Wollt ihr mir sagen, dass wir hier einfach nur so auf die Invasion warten? MANN 1  Glaube dem Sinn für Realität. MANN 3  Lasciate ogni speranza. Lasst alle Hoffnung fahren. Diese Aufschrift platzierte Dante über dem Eingang zur Hölle. OLGA  Wollen wir? MANN 3  In den Himmel oder in die Hölle? OLGA  (zum Publikum) Das war am neunzehnten August 1968. Die Sechziger. All die neuen Sachen – vom Film bis zu bildenden Kunst. Eine weltweite Explosion kreativer Kräfte. (Das Geräusch von Wasserplätschern mischt sich mit dem Lärm fahrender Panzerfahrzeuge. Ab und zu hört man einen Warnschuss und Fetzen von Rundfunknachrichten.) Hab das Gefühl, die heutige Welt ist eher schrecklich. Als wenn das Allerschlimmste, was in den Menschen steckt, zum Leben erweckt wird. Überall auf der Welt.

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DER ZAUN Wir sind auf Hrádeček zu Beginn der Siebziger. Auf die Bühne wälzt sich dicker Nebel aus den Riesengebirgswäldern. Olga sitzt in einem Strickpullover am Gartentisch, trinkt Kaffee und raucht. Irgendwo in der Ferne spielt Jim Čert Ziehharmonika. Drei Männer (alle drei sind VH) bringen einen Lattenzaun und bauen ihn auf. Im Unterschied zu der vorigen Szene wirken sie häuslich, schäbig. Olga beobachtet den Bau des Zauns. Sie lächelt und schüttelt den Kopf. Mann 1 bleibt stehen. MANN 1  Was ist? OLGA  Du machst das falsch. MANN 2  Ist nicht möglich. MANN 3  Wirklich? Also Moment mal. Die Männer, „wie ein Mann“, betrachten das angefangene Werk. MANN 1  Ich mache das richtig. MANN 2  Das sagt mir der Instinkt eines Projektanten. MANN 3  Also was jetzt? Soll ich weitermachen? MANN 1  Ich mach weiter. Eine Weile machen sie weiter. OLGA  Es ist schief. MANN 1  Ist es nicht. OLGA  Ist es. MANN 1  Ich habe es gemessen. MANN 3  Ich bin doch kein Dilettant. MANN 2  Ein Dissident ja, aber kein Dilettant. Da pass mal auf! OLGA  Du baust schief. Das würde sogar ein Blinder sehen. MANN 2  Olga! OLGA  Was? MANN 2  Wer ist hier der Kulissenschieber? Du oder ich? OLGA  Du. MANN 2  Also werd hier nicht frech! MANN 3  (zum Publikum) Von nun an werde ich eine hartnäckige und konsequente Polemik gegen den Mythos, der über mich in Umlauf gebracht wurde, führen – MANN 2  – also die gemeinen Lügenmärchen, die meine angeblich unpraktische Veranlagung betreffen. Der Hammer fällt ihm auf den Fuß von Mann 3. MANN 3  Autsch! OLGA  Irgendwer muss es dir ja sagen, oder? 57


Pause. MANN 3  Ich stimme für Mittagessen. MANN 1  Stimme? Spielen wir hier etwa Demokratie? MANN 2  Bei diesem Wetter blüht mein innerer Dialog auf bemerkenswerte Weise auf. MANN 1  Kein Mittagessen, Václav. Hier auf Hrádeček herrscht ein harter Feudalismus. Sich selber Herr, sich selber Knecht. Mann 1 sticht Mann 3 mit einer Holzlatte. MANN 2  Dialogisches Handeln. Da würde Professor Vyskočil3 in die Luft springen. MANN 1 Dialektik. MANN 3  Ich sehe, unsere Muskeln wachsen schon. MANN 1  Der Literat werkelt – und es tut ihm gut. MANN 3  Das ist eine richtige Kalokagathie! OLGA  So wird es bis zum Abend nicht fertig … MANN 1  Ecce homo Datschenbauer. MANN 3  Ein Bierchen wenigstens. Ich stimme für ein Bier! MANN 1  Das ist was anderes. Diesen Vorschlag werde ich nur zu gern unterstützen. Die Männer öffnen Bierflaschen und fangen an zu kontemplieren. OLGA  Das ist also dein harter Feudalismus? MÄNNER  Das ist hier schon so eine Tradition. MANN 1  Wie mein Vorgesetzter zu sagen pflegt. Und die Autoritäten aus dem Volk sollte man ehren, nicht wahr? OLGA  Na ja, tja. Da hätte ich es besser gleich selbst gemacht. Die Männer zünden sich eine Zigarette an, die sie gemeinsam rauchen. MANN 2  Und wenn wir schon beim Feudalismus sind, im Mittelalter tranken die Menschen gar kein reines Wasser, weil sie Angst hatten, dass es vergiftet sein könnte. OLGA  Und was haben sie dann getrunken? MANN 2  Die Frauen Milch und die Männer Alkohol. Olga geht weg. Die Männer stehen an den Zaun gelehnt und rauchen nonchalant. MANN 1  Hm … Schön … Frauen … Milch … MANN 3  Ich sollte ein Stück schreiben, in dem viel Bier getrunken wird. MANN 2  Sicher, Václav. Wir schreiben es. MANN 1  „Das ist hier schon so eine Tradition …“ 3  „Vyskočil“ bedeutet auf Tschechisch „er sprang hoch“, zugleich ist hier aber auch Prof. Ivan Vyskočil (*1929) gemeint, tschechischer Dramatiker, Schauspieler und Hochschulpädagoge, der eine spezifische Disziplin namens „Dialogisches Handeln“ gegründet hat. Auf dem Prinzip der Selbstgespräche in der sog. öffentlichen Einsamkeit (Stanislawski) sucht man nach Authentizität, Kreativität, Empathie und eigenen Fähigkeiten, im öffentlichen Raum zu handeln, nicht nur fürs Theater geeignet. Anm. d. Ü.

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MANN 2  Das Mittelalter ist überhaupt eine bemerkenswerte Epoche. MANN 3  Vom System her stabil und gedanklich konsistent. MANN 2  Und man hatte Angst vor Gemüse. Man hielt es sogar für sehr giftig. Aber den ersten Platz auf der Rangliste der Lebensmittelängste eines mittelalterlichen Menschen nahmen Pilze an. Olga kehrt zurück. OLGA  Du hast das falsch gebaut! Es ist schief! Schief! Das sieht sogar ein Blinder! Olga geht verärgert weg. Die Männer rauchen und trinken Bier. MANN 1  Ein Zaun – das ist sowieso ein metaphysisches Thema. MANN 2  Ein Zaun … MANN 1  Wie Zäune Menschen von der restlichen Welt trennen. Zäune, eiserne Vorhänge. MANN 3  Die Horizontale des Zauns, die Vertikale der Leiter. MANN 2  Jakobsleiter. Alttestamentarisches Modell der geistigen Transzendenz. MANN 1  Präzision – MANN 3  Das Bier ist gar nicht schlecht. MÄNNER  „Das ist hier schon so eine Tradition.“ MANN 1  Auf jeden Fall schreibe ich ein Stück, in dem viel Bier getrunken wird. MANN 3  Sicher, Václav. Wir schreiben es. Olga kommt mit einem Körbchen. OLGA  Ich gehe Pilze sammeln. Kann dich nicht mehr sehen. Sie geht weg. Ein Moment der Stille. MANN 2  Die meisten Völker haben eine schreckliche Angst vor Pilzen. MANN 1  Ähnlich wie die meisten Menschen Angst vor meiner Frau haben. Dunkel.

DER BALKON Auf dem Balkon Mann und Frau. Unter ihnen das Geräusch einer skandierenden Volksmenge. Mann und Frau winken. Das Geräusch der Volksmenge wird stärker, dann plötzlich Stille. Im Lichtkreis unten dieselbe Frau. Olga mit einem Körbchen für Pilze und in einem Wochenendhaus-Pullover. OLGA  Sitzt die Frisur gut? Irgendwie so … ikonisch, oder? Könnte man das so sagen? Die Figur, sieht sie gut aus? Sie hat eine gute Figur. Ich habe eine gute Figur. Wie sie so dasteht, oben, auf dem Balkon, mit ihm. Und die Menge skandiert. Die Menge skandiert doch immer etwas. Und hat in den ersten Tagen und Jahren ständig etwas skandiert. Hoch lebe …? Sagen Sie seinen Namen nicht. Nicht mal die Initialen, 59


bitte. (Malt mit der rechten Hand den Buchstaben V.) Nicht mal in Gebärdensprache kann ich es. (Sie verbirgt ihre linke Hand unauffällig hinter dem Rücken, lächelt.) Pardon. Darüber wollte ich nicht sprechen. Ich wollte etwas anderes sagen. Deine verlorene Herrschaft kehrt wieder zu dir zurück, mein tschechisches Volk.4 Das ist doch schön. Aber wo waren sie vorher? Wo war das Volk vorher? Da waren die Nächte auf Hrádeček. Tage und Nächte auf einer schwimmenden Insel. Alle mucksmäuschenstill. Einen dicken Strich unter die Vergangenheit ziehen? Mit Blick auf die lange Liste der Spitzel, mit denen wir an einem Tisch gesessen haben. Also was für einen dicken Strich? Diese Metaphysik des Vergebens, die kannst du mir einfach nicht erklären. Mir wird davon übel. Ich sehe dich wie aus einer großen Entfernung. Die letzten Tage, Monate und Jahre. Václav … Kann ich wenigstens als Erste mit dir anstoßen? Das Geräusch der Menge wird stärker. Das Paar auf dem Balkon winkt. Dunkel.

DER WALD Nebel. Nässe. Dämmerlicht. Dunkle Atmosphäre eines herbstlichen Waldes. Olga sammelt Pilze. Aus dem Nebel tritt Mann 3 in einem Trenchcoat auf. Olga erschrickt. MANN 3  Ihren Ausweis. OLGA  Wie bitte? MANN 3  Ihren Ausweis! OLGA  Hier? MANN 3  Weisen Sie sich bitte aus, Bürgerin! OLGA  Aber Sie kennen mich doch … Sie schauen zu uns von da drüben, von Ihrer Hütte. Sie haben es sogar schon geschafft, die auszubessern, oder? MANN 3  Sie haben mich wohl nicht verstanden, oder? OLGA  Das ist absurd, nicht wahr? Mann 2 kommt als Hund angerannt. MANN 3  Wollen Sie Probleme machen? OLGA  Probleme … Sicher das … Probleme. HUND  Soll ich ihn in den Arsch beißen? OLGA  Heute nicht.

4  Zitat aus dem berühmten Lied Modlitba (dt. Gebet) des Prager Frühlings von Marta Kubišová, das eine wichtige Rolle auch bei der Samtenen Revolution spielte. Der Text zitierte aus einer Schrift Jan Amos Komenskýs. Anm. d. Ü.

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MANN 3  Und passen Sie auf ihren Hund auf. Das letzte Mal hat er einen Genossen verletzt! OLGA  Einen Hund kann man halt nicht verarschen. MANN 3  Was haben Sie gesagt? OLGA  Nichts! HUND  Ich beiße ihn. OLGA  Bei Fuß. Das ist Pfui. Pfui ist das. MANN 3  Na! Wir sehen uns noch, Genossin. OLGA  Ignis inferni direkt aus dem Boden des Riesengebirges hervortretend. MANN 3  Was haben Sie da gesagt? OLGA  Wollen Sie noch was? MANN 3  In Ordnung. Wir werden uns bald unterhalten, Genossin. Mann 3 verschwindet in einer Rauchwolke. OLGA  Sicher werden wir uns unterhalten … Dir würde ich nicht mal den Namen meines Hundes verraten! Pause. HUND  Miststück. Er ist auf eine Rotkappe getreten. OLGA  Den Ärmsten noch einen Grog vorbeizubringen, zum Aufwärmen, da könnt ihr mich mal. (zum Hund) Wir gehen!

DIE GRUFT Olga irrt weiter durch den Wald. Es erscheint Mann 3 als Jäger – Olgas Freund AS, Hofdichter der Selbstorganisierten Volksbibliothek Die Gruft. JÄGER  Ich spaziere so durch den Wald und spüre plötzlich, dass ein Gedicht kommt, und ein gutes Gedicht nebenbei gesagt, einen Stift hatte ich dabei, aber kein Papier, so habe ich das Gedicht auf eine Birke geschrieben. Ein paar Tage später habe ich mich daran erinnert, ich ging zurück in den Wald – aber konnte die Birke nicht mehr finden! OLGA  Das ist ja was … Dich zensiert sogar schon die Natur selbst! JÄGER  (umarmt sie) Zwischen uns liegt eine tiefe Kluft, wir treffen uns heimlich in der Gruft, staatsfeindliches Grüppchen, zwei Olgas und Jarmilka, die Püppchen. Schreibt Václav? OLGA  Er schreibt. Und sitzt. JÄGER  Und wie lange muss er noch? OLGA  Drei Jahre und elf Monate. JÄGER  Olga, komm schon … Das Leben ist doch noch nicht vorbei. 61


OLGA  Und was werden wir machen? JÄGER  Ein Manifest? Eine Erklärung? OLGA  Ich dachte eher an eine Party … JÄGER  Ihr Hofpoet steht zu Ihren Diensten. Nichts Fremdes ist mir menschlich. OLGA  Ein Kostümball. JÄGER  Jägerball! OLGA  Es wird ein großer Trödelball. Am Tag des Buches, am ersten März. Das hat Stil. Und mit einer richtigen Tombola. Der erste Preis wird ein Gasofen. JÄGER  Kostümparty, das hat Klasse. Und der nette Junge vom Land, der ab und zu bei uns übernachtet, könnte dort Harmonika spielen. Und alle Ehefrauen von eingelochten Dissidenten, unsere Witwen der Nation, die sich gerade von dem grausamen Joch der Ehepflichten ausruhen, sollen diesen Ball schmücken! Wir sind auf dem Trödelball der „Gruft“ im Jahre 1981. Mann 2 erscheint als Höllenfürst und Mann 2 als Henker. HÖLLENFÜRST  Hast du den Bullen gesehen, wie der uns angestarrt hat, als er nach dem Ausweis gefragt hat? HENKER  War das eine Fresse. Auch ohne Maske. JÄGER  Was is? HENKER  Warum bist du Jäger? JÄGER  Ist das kein Jägerkostüm? HENKER  Isses nicht. HÖLLENFÜRST  Das ist ein Trödelball. JÄGER  Ich weiß nicht recht. Ich habe hier noch das Abzeichen von der polnischen Solidarność, wird das als Verkleidung anerkannt? HENKER  Als gespenstischste von allen. OLGA  Aber es steht dir, ein hübsches Jägerlein. HENKER  Und hast du Jägermeister dabei? JÄGER  Hab ich! Er stellt die Flasche auf den Tisch. HÖLLENFÜRST  Es soll dir vergeben werden. Was die Hölle einmal nimmt, das gibt sie nie wieder zurück. Zum Wohl! Wo ist der Teufel? HENKER  Ich dachte, du bist der Teufel. HÖLLENFÜRST  Ich bin der Höllenfürst, du Ignorant. Schau mal! Ich habe sogar den Huf von Stalin! Jim Čert, Jim den Teufel meinte ich. Der soll doch für uns spielen. HENKER  Also ich bin ein korrekter Ausführer der gerechtesten Volksgerechtigkeit. HÖLLENFÜRST  (johlt) Söhne beklagt sie / Rahel, Rama / die Erde ein großes / Hakeldama.

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HENKER  Gräber statt Obstgärten / mit Blumen aus Geldern / Seile für den Verrat / Flachs auf den Feldern …5 JÄGER  Und Hrádeček mit Schnee verweht ähnelt Reyneks Petrkov. Darf ich also bitten, liebe Olga? OLGA  Ich weiß nicht … JÄGER  Ich darf, ich darf, ich weiß doch, dass du gern tanzt! Hoppla! Der Höllenfürst trinkt Jägermeister direkt aus der Flasche. Olga tanzt. HÖLLENFÜRST  Die Witwe der Nation … Wie sie aufblühen wird, in ein paar Monaten. Die anderen sind auch aufgeblüht. HENKER  Im Kerzenschein ist das weibliche Gesicht am schönsten … OLGA  Was ist das für ein Lärm? JÄGER  Magor zertrümmert Teile von der Tombola, um ihre Bruchsicherheit zu überprüfen. OLGA  Tanz doch mal. JÄGER  Rechts oder links? OLGA  Rechts. JÄGER  Rechts? Und ist das nicht verdächtig? Wie werden wir das dann beim Verhör erklären? Dunkel.

BRIEF I Alle drei Männer betreten die Bühne, alle sind VH. MANN 1  Liebe Olga, die Astrologen hatten Recht. Sie sagten für dieses Jahr einen heißen Sommer und mir wieder Gefängnis voraus. Und heiß ist es, eine irgendwie permanente Sauna. Es tut mir leid, dass mein erneutes Einlochen dir wohl wieder viele Probleme bringen wird. Wie lange ich auf diesem Ausflug sein werde – ich weiß es nicht, ich mache mir keine Illusionen und denke darüber wohl besser nicht nach. Wie immer habe ich vergessen, dir zum Geburtstag zu gratulieren. Verzeih. In meinem Vergessen werde ich wohl nicht mehr besser. Dein letzter Brief hat mich sehr beunruhigt, du hast geschrieben, dass du mir keinen Kuss schickst – ich wüss­te schon warum. Ich weiß nicht warum! Dafür weiß ich, dass du mir so etwas nicht antun darfst! Gegen solche Dinge ist man hier absolut machtlos. Klipp und klar – Du musst mir einfach nette Briefe schreiben.

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Zitat aus dem Gedicht Hakeldama von Bohuslav Reynek.

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MANN 2  Meine Wünsche: Vitamine, einzeln – A, B, C, D – sicher findet sich ein Arzt, der dir hilft, sie zu beschaffen – große Mengen! Zigarren – und wenn noch Platz übrigbleibt, dann Stuyvesant-Zigaretten, parfümierte Taschentücher, Brausepulver, Käse – nach eigener Erwägung – unterschiedliche Sorten … MANN 1  Gestern habe ich versucht, auf eine bestimmte Art, die mir hier empfohlen wurde, eine telepathische Verbindung mit dir herzustellen – aber es scheint nicht geklappt zu haben. Offensichtlich habe ich dafür keine Begabung. MANN 3  Diese neue Situation wird von dir eine große Selbstständigkeit verlangen. Du solltest dir irgendeine Lebensplanung überlegen, eine neue Vision. Hier ein paar Notizen von mir zu diesem Thema: MANN 2  – sicher Edamer oder irgendeinen Scheibenkäse, eingeschweißt – damit er länger hält – MANN 3  Sei nicht sauer. Damit hilfst du niemandem, mir am wenigsten. Beschäftige dich irgendwie tatkräftig. Kümmere dich um unser Heim, das heißt vor allem um Hrádeček – MANN 2  – Dosenfisch – MANN 3  – kümmere dich ums Auto – MANN 2  – deine bisherigen Zusammenstellungen waren sehr gut, man musste sie bloß schnell aufessen – MANN 3  – Bücher, Konzerte, gesellschaftliche Kontakte, verfolgen, was so los ist – das ist ausgezeichnet – MANN 2  – und noch dazu waren sie sehr zerbrechlich – MANN 1  Fährst du allein einkaufen? Welche Arbeiten hast du schon geschafft? Was ist mit dem Zaun? Und der Heizung? Was ist mit den anderen Aufgaben von mir? MANN 2  Vielleicht kann man den Lachs in irgendeiner originellen Verpackung schi­ cken – MANN 1  Wer hat euch alles besucht? Habt ihr lustige Partys gehabt? Worüber habt ihr euch unterhalten? Welche Platten hört ihr am meisten? MANN 3  Dem Besprühen der Rattanmöbel mit neuer Farbe stimme ich zu – du musst aber weitere Sessel kaufen! MANN 1  Kommt Andulka dich manchmal besuchen? Versteht ihr euch? Mit wem triffst du dich am häufigsten und wer ist verschwunden? Hast du dich mit irgendwem gestritten? Sprecht ihr ab und zu über mich? Vermisst du mich? Wobei fehle ich dir am meisten? MANN 2  Sardellenpaste, eingeschweißte Matjes – wie du mir das einmal geschickt hast – eventuell aufgewickelte Sardellenfilets in etwas. Sardinen lieber nicht. Du wirst dir schon zu helfen wissen. MANN 1  Grüße alle Treuen und ein besonderer Gruß an Tereza und Andulka. 64


MANN 2  Kräuter, nur wenn du getrocknete hast, die frischen werden in dem Päckchen schlecht; Pastete in der Tube; dicke Wintersocken, am besten Kniestrümpfe; falls noch Platz übrigbleibt, dann weitere Delikatessen, die sich halten und nicht viel wiegen. Ich brauche keine Marmelade mehr, schick auch keine Zitronen, die sind schwer. MÄNNER  Sei ruhig – ausgeglichen – fröhlich – gesellig – fleißig – zu allen lieb – optimistisch – gepflegt – zieh dich hübsch an – sag lauter kluge Sachen – studiere aufmerksam meine Briefe – erfülle meine Aufgaben – sei mutig, aber mit Bedacht – bemitleide mich, aber nicht zu viel – verliere nicht die Hoffnung – und hab mich lieb! Pause. MANN 2  Schick keine Bonbons, es sei denn, du bekommst diese kleinen, stecknadelkopfgroßen Minzpastillen. Dunkel.

WALD II Olga allein im Wald. Sie sammelt Pilze. Aus dem Nebel erscheint Mann 3 im Trenchcoat. MANN 3  Frau Havlová – OLGA  Was wollen Sie? Warum laufen Sie mir immer hinterher? MANN 3  Ich bin auf der Arbeit. OLGA  Sicher. Auf der Arbeit. Wollen Sie meinen Ausweis sehen? MANN 3  Warum Ausweis? Ich kenne Sie doch. OLGA  Was wollen Sie also? MANN 3  Ich verstehe Sie nicht. OLGA  Was wollen Sie? (Mann 3 schweigt.) Ich gehe spazieren. Ist das etwas Staatsfeindliches? MANN 3  Ich – bin Ihr Leibwächter. OLGA  Aha … Was haben wir für ein Jahr? Ich meine heute – dieses Jahr – MANN 3  Neunzehnhundertzweiundneunzig. OLGA  Meine Güte! MANN 3  Ich verstehe … Tja … Aber ich muss auf Sie aufpassen. OLGA  Sie müssen. MANN 3  Ja, ich muss. OLGA  Na dann treten Sie mir zumindest nicht auf meine Rotkappen. Das ist hier der Wahnsinn. MANN 3  Kann ich Ihnen irgendwie – 65


OLGA  Nein! MANN 3  Entschuldigen Sie. OLGA  Still jetzt! (Mann 3 verschwindet schüchtern hinter einer Rauchwolke.) Dafür werde ich mich bei dir, Václav, recht herzlich bedanken, wenn wir uns mal wieder sehen. Wunderbar absurde Verwicklungen. Tja. Das ist die Realität.

SCHWERPUNKT Drei Männer auf der Bühne, jetzt als Frauen, in blonden Perücken. Im Hintergrund die stoische Olga. FRAU 1  Ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass – FRAU 2  Ich denke, wir sollten uns abstimmen. Einfach ganz normal, oder? FRAU 1  Das hier sollte keinesfalls, keinesfalls ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse sein. Ich habe mir geschworen, wirklich, ernsthaft, dass ich keine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen werde. Deswegen möchte ich gleich zu Beginn sagen – FRAU 2  Können wir das irgendwie chronologisch angehen? FRAU 1  Kannst du mal aufhören, mir ins Wort zu fallen? FRAU 2  Nein. FRAU 3  Ich bin hier zwar die jüngste, aber – FRAU 2  Und deswegen wirst du erst zum Schluss sprechen, Schätzchen. FRAU 3  Duzen wir uns etwa? FRAU 1  Keinesfalls duzen wir uns. FRAU 2  Aber du erst zum Schluss, Schätzchen. Ich habe Václav kennengelernt im Jahr – das weiß ich nicht mehr genau – und unsere Beziehung war von Anfang an, wie soll ich sagen, voller zärtlicher Verschwörung – FRAU 1  Na das ist ja gerade das Richtige für die Klatschpresse. Also lasst uns festlegen, dass ich zuerst sprechen werde. Im Übrigen organisiere ich dieses Symposium. FRAU 3  Symposium? Sie nennen das ein Symposium? FRAU 1  Weil ich dieses sensible Thema aus wissenschaftlicher Sicht analysieren möchte – FRAU 2  Aber – FRAU 1  (mit Nachdruck) Und nicht ausschließlich durch das Prisma einer oralhistorischen – FRAU 2  Du hattest schon immer unerträgliche Ambitionen! FRAU 1  Na und?

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FRAU 2  Ich bin eine einfache Frau. Aus Fleisch und Blut. Ich habe ihn geliebt! Ich werde es ruhig der ganzen Welt erzählen! FRAU 1  Das wird nicht nötig sein. FRAU 3  (für sich) Oral-hysterischen … FRAU 1  Mir geht es um die gesamte Konstellation aus einer psychoanalytischen Sicht, aus der Sicht der systemischen Konstellationen. FRAU 2  Ich wollte hauptsächlich über die Liebe sprechen. Über unsere Liebe. FRAU 3  Ich möchte gern daran erinnern, was er selber geschrieben hat, mein großer Lehrer – Die Phänomenologie hat mich gelehrt, ständig Sorge zu tragen, dass meine Formulierungen den Rahmen ausweisbarer Erfahrung nie überschreiten. Lieber drücke ich weniger aus, als ich fühle, als die Manifestation von etwas zu riskieren, was ich nicht fühle.6 FRAU 2  Das habe ich zwar nicht verstanden, aber wenn er das geschrieben hat, dann muss es wohl wahr sein. FRAU 3  Verstehen Sie es, wie Sie wollen. FRAU 1  Es hat keinen Sinn, sich einreden zu wollen, dass territoriale Instinkte nie im Spiel waren. FRAU 2  Wie meinst du das? FRAU 1  Du weißt, wie ich das meine. FRAU 2  Häh? FRAU 3  (zu Olga) Geht es um sie? FRAU 1  (leise) Ja. FRAU 2  Ach so … du denkst also … wie hätte es funktionieren können? In einer Dreiecksbeziehung? FRAU 1  Und dabei ist es bei weitem nicht geblieben. Zum Schluss hatten wir viel mehr einen Polyeder. Ein Polyeder, der eines Mannes von diesem Format würdig ist. Das ganze Netz, die Komplexität der Beziehungen. Hier habe ich eine Skizze dazu vorbereitet – FRAU 3  Grafiken hat er leidenschaftlich geliebt. FRAU 1  (feierlich) Havels Polyeder. Oder auch der Havlische Polyeder – oder einfach Havelpolyeder – die Geschichte wird schon ihre passende Terminologie finden. FRAU 2  Wo bin ich? Bin ich da auch? FRAU 1  Alle sind wir da. FRAU 2  Wie hast du das geschafft? FRAU 3  Ist dort auch DIE Schriftstellerin? 6  Zitiert nach der Übersetzung von Joachim Bruss in Václav Havel: Largo Desolato, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 31.

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FRAU 1  Naja, Schriftstellerin … Aber wir können sie so nennen, wenn ihr wollt. I-327. FRAU 3  Unglaublich. FRAU 1  Und jetzt bemerken wir eine Sache. Das ganze System ist perfekt gebaut durch Gleichgewicht und Zentrierung in Richtung (bedeutungsvoll) Schwerpunkt. Aha! FRAU 3  Aha! FRAU 1  Aha! Pause. FRAU 2  Ich orientiere mich darin nicht wirklich … FRAU 1  Das ist ein geniales, mehrschichtiges System der Vernetzung gesellschaftlich beträchtlich gegensätzlicher und hochexplosiver Elemente – das heißt uns – mehr oder weniger legaler Liebhaberinnen eines einzigen Mannes – zu einem perfekt funktionieren Superorganismus. Eine wirkliche Perle libidinöser Architektur, das letzte, bis jetzt unentdeckte Werk des genialen Schöpfers, Politikers und Dramatikers von internationalem Ruhm. Und ICH – habe es entdeckt. FRAU 2  Du warst immer so unerträglich ambitiös. FRAU 1  Und seine Genialität bestand darin, dass keine von uns sich zweitrangig vorkam. FRAU 3  Ich war bestimmt nicht zweitrangig. FRAU 2  Ich war keinesfalls und bestimmt niemals zweitrangig. Und jetzt etwas über unsere Liebe. FRAU 1  Nein. Jetzt etwas über den Schwerpunkt. Hier. Seht ihr? Das hier ist sie. Der unzerstörbare Kern des ganzen Systems, des ganzen Havlischen Systems. Diese mütterliche Figur – also krypto-mütterliche. Diejenige, die er praktisch nie verlassen hat, von der er sich nie scheiden ließ! Obwohl er mir zum Beispiel versprochen hat – FRAU 3  Mir hat er wiederum gar nichts versprochen. FRAU 2  Eine Scheidung? Daran hätte ich mich nie getraut zu denken … FRAU 1  Du bist einfach eine andere Generation. FRAU 2  Na ja … FRAU 1  Aber ich frage warum? Warum? Warum? Warum niemand von uns jemals – nicht mal er selbst – es geschafft hat oder vielleicht nicht wollte – den Schwerpunkt verschieben? FRAU 2  Und warum also? FRAU 1  Das weiß ich eben nicht! (Sie zündet sich eine Zigarette an.) FRAU 3  Aber Sie haben doch so ein entzückendes geometrisches Modell dafür … FRAU 2  Schau mal, ich und Olga, wir waren praktisch so was wie Freundinnen. Nach einer Zeit. Zumindest von meiner Seite aus. Weihnachten haben wir zusammen ge68


feiert. Lustig war das. Er war so glücklich. Wie ein kleines Kind. Und Olga war super, ehrlich, sie war total lieb zu mir. FRAU 1  So ist eure Generation – komisch. Die Sechziger … alle mit allen und immer alles gut … FRAU 3  (eifrig) Ich würde hier noch den verheerenden Einfluss des Theaterumfelds dazurechnen, das, wie wir alle wissen, anzüglich bis zum Gehtnichtmehr ist, nicht wahr – plus einige fragmentarische Erlebnisse aus den Hippiekommunen bei seinem Besuch in den USA, können wir uns denken, plus der Eheberater Dr. Plzák und seinesgleichen – FRAU 1  Das wird nicht zusammengerechnet! Das wird multipliziert! FRAU 3  Also der Havlische Polyeder war zu seiner Zeit wohl keine so richtig bahnbrechende Entdeckung mehr. Es gab auch andere! Erinnern wir uns zum Beispiel – na einfach die ganze perverse Macho-Bande, Mädels, Korsetts, Strumpfhalter, Strohhüte – bis zum Umfallen sang man darüber auf der Bühne der Theater der kleinen Formen, nicht wahr, und man wurde nicht mal rot – FRAU 1  Ich weiß, ich weiß das alles. (zu Olga) Aber was ist mit ihr? Warum hat sie das nicht gejuckt? Wie kann das sein? Das hält doch kein Mensch aus, so eine verrückte und hartnäckige Resistenz! Er – ich nenne mal ein Beispiel – erwartet ein Kind von einer anderen Frau, und sie, ja super, wir bekommen ein Kind. Bekommen! Also wir drei, versteht ihr? FRAU 3  Also Sie und sie zwei? FRAU 1  Gerade darüber wollte ich nicht sprechen. Das war nur ein Beispiel. (Sie zündet sich eine weitere Zigarette an.) FRAU 2  (versöhnlich) Ach ja, was soll’s … Er hat den Schwerpunkt nicht verschoben … Das ist schwer, tja, den Schwerpunkt zu verschieben … Deswegen nennt man es auch Schwerpunkt, weil es schwer ist, nicht? FRAU 3  (ironisch) Eine brillante Überlegung. FRAU 1  Ihr wart Freundinnen, ja? Mich hat sie schon für schlecht gespültes Geschirr schikaniert! Aber ich habe ein Hochschuldiplom! Wir sollten heiraten! FRAU 2  (zärtlich, versöhnlich) Na ja … Es war nicht immer alles rosig … Aber letztendlich habe ich an diese Zeit sehr schöne Erinnerungen … Tja … FRAU 3  Ich weiß nicht recht, worum es hier geht. Aber das ist meiner Meinung nach genau das, was hier die Frau mit der Zeichnung vermeiden wollte. Boulevard und sentimentale Phrasen. Er hat versprochen. Er hat enttäuscht. Was soll‘s! Da hätten Sie auch gleich DIE Schriftstellerin einladen können (Sie deutet Anführungsstriche an.) mit ihrem Geheimbuch. (Sie deutet wieder Anführungsstriche an.) Ich bin – im Unterschied zu Ihnen – gekommen, um Zeugnis über einen Mann mit einem ungewöhnlichen Geist zu geben, den Sie vielleicht nicht mal flüchtig berührt haben – 69


FRAU 2  Nicht berührt? FRAU 1  Sie meint den Geist … FRAU 3  Wissen Sie, in wie vielen seiner Stücke ich im Unterschied zu Ihnen auftrete? Zählen Sie es ruhig nach. Sündhaft junge – sündhaft intellektuelle – Bewunderin. Na! Nicht mal im Abgang hat er mich vergessen. Und das soll schon was bedeuten! Haben Sie das in Ihrem lächerlichen Diagramm berücksichtigt? Ich bin – im Unterschied zu Ihnen – eine dramatische Figur. Seine Figur! Seine Metafigur! (zum Publikum) Gibt es hier im Publikum nicht zufällig einen Theaterwissenschaftler, der mir das bezeugen kann? Oder zumindest einen Absolventen der Prager Theaterakademie, obwohl das keine nachweisbare intellektuelle Lizenz ist, nicht wahr … FRAU 2  Willst du dich jetzt hier aufspielen? Ich hätte doch deine – FRAU 3  Oma sein können? FRAU 2  Du freche Göre … Frau 2 stürzt sich auf Frau 3 und versucht, ihr die Perücke runterzuziehen. Olga kommt. OLGA  (sachlich, aber vergnügt) Nimmt jemand noch einen Kaffee? FRAU 2  (mit einem Lächeln, als wäre nichts) Ich nehme einen. OLGA  Mit Rum? FRAU 2  Danke, liebe Olga. Danke. Wie immer. OLGA  Na klar. (Olga bereitet den Kaffee zu.) Und was ist mit euch beiden? Auch einen Kaffee? Frauen 1 und 3 sind eine Weile verwirrt. FRAU 1  Für mich mit einem Tropfen Milch. OLGA  Ich weiß. FRAU 3  Ich trinke keinen Kaffee. Aber vielleicht einen Tee, wenn Sie welchen hätten – OLGA  Vielleich hätte ich welchen. (Olga bereitet weiter zu.) Was habe ich verpasst? FRAU 1  Wir haben einfach nur – (Sie versteckt ihre Zeichnung hinter dem Rücken.) OLGA  Irgendeine Untergrundbewegung? FRAU 1  Nööö … FRAU 3  Ich gehöre hier nicht mal hin, ich bin aus einem ganz anderen Stück … OLGA  Na gut. (Pause) Was ist das hier für eine Unordnung? Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass die gewaschenen Tassen auf dieser Seite abtropfen! Und im Regal mit dem Henkel nach links. So. Soll ich dir das etwa schriftlich geben? Pause. FRAU 1  Entschuldige. Entschuldige. Ich werde mir das schon … hinter die Ohren schreiben. Frau 1 rennt weinend von der Bühne. Nach einer Weile kommt sie zurück, schon als Mann 1. MANN 1  (fröhlich) Hallo Mädels! 70


FRAUEN  Halloooo! OLGA  (trocken) Servus. MANN 1  Ich möchte zum Schluss noch sagen – ja, ich werde oft gefragt, was für mich in meinem Leben Frauen waren. (Er lacht auf.) Hehe. Tja. Vielleicht eine gewisse Sicherheit unter anderem, ich konnte mich an sie anlehnen, ich konnte sie fragen, wenn ich der Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit verfiel … Und sie waren natürlich auch Quelle von Schmerz, nicht wahr … Nichts im Leben ist wohl ohne Schmerz. Dunkel.

PHÄNOMEN UNDERGROUND I Das dritte Festival der zweiten Kultur auf Hrádeček, 1978. Passionsspiele. MANN 1  (zum Publikum) Es war nicht einfach, andere davon zu überzeugen, dass jetzt der Augenblick gekommen ist, wo alle ihre Kräfte vereinen und für diejenigen Partei ergreifen sollen, die einzig und allein für ihre frei geäußerte Meinung, für den freien künstlerischen Ausdruck ihrer Lebensgefühle verfolgt werden, aber erstaunlicherweise – OLGA  Ist alles vorbereitet? MANN 1  Was? OLGA  Die Scheune. MANN 1  Ja. Fára hat ihnen dazu eine wunderschöne rustikale Installation kreiert. OLGA  Installation? MANN 1  Die Säcke! OLGA  Ach so … (ironisch) „Installation“ … MANN 1  Also, die Menschen hatten das Bedürfnis, aus der Isolation herauszutreten, und da habe ich zusammen mit Jiří Němec und anderen gespürt, dass die besondere Atmosphäre – OLGA  Und Bier? MANN 1  Vier Fässer. Die besondere Atmosphäre dieser allgemeinen Solidarität muss man irgendwie dauerhaft fixieren – OLGA  Wird das reichen? Immerhin – MANN 1  (schreit) Olga! Ich versuche hier etwas zu sagen! OLGA  (trocken) Schmollst du noch, weil ich dich im Tischtennisturnier geschlagen habe? MANN 1  Nein. OLGA  Doch, du schmollst … weil du nicht verlieren kannst. 71


MANN 1  (trotzig) Ich schmolle nicht! OLGA  Sie saufen wie ein Loch. Ich fürchte nur – MANN 1  Die Plastic People können nur noch in Scheunen spielen. Und ich als Besitzer einer Scheune und Freund der Band habe selbstverständlich die Pflicht, ihnen dieses Haus anzubieten. OLGA  Darin sind wir uns einig. Ich fürchte nur, dass das Bier nicht reichen wird. Und weißt du was? Mir sind diese Jungs viel sympathischer als irgendwelche intellektuellen Damen, die hier herumsitzen, mit abgespreiztem kleinen Finger Kaffee trinken und dann dreimal täglich duschen gehen, obwohl sie wissen, dass uns das Wasser ausgeht. MANN 1  Die hier werden sich nicht waschen. OLGA  Da habe ich keine Angst. MANN 1  (zum Publikum) Hier an der Wand können Sie die von mir eigenhändig aufgesprühte Aufschrift „Lasst Magor frei“ sehen, und sie ist hier schon eine Weile und gilt immer noch, denn Magor wird wieder und wieder eingesperrt, sobald man ihn freilässt, wird er kurz darauf wieder eingelocht, also hat es gar keinen Sinn, das wegzuwischen und wieder aufzumalen. OLGA  Hier wird die Band stehen? MANN 1  Ja. OLGA  Und auf der anderen Seite das Publikum. MANN 1  Um die hundert, hundertfünfzig Menschen. Mal sehen. Zwei Drittel Leute aus dem Underground, ein Drittel habe ich eingeladen, vor allem Dissidenten. Denn die besondere Atmosphäre der allgemeinen Solidarität – OLGA  Vier Fässer sind zu wenig. MANN 1  Ich weiß nicht recht … OLGA  Soll ich das besorgen? Ich besorge das. MANN 1  Aber die Angst, dass man uns alle einsperrt, das Konzert verhindert oder ähnliches, vermischt sich merkwürdigerweise mit dem künstlerischen Lampenfieber – Mann 1 klettert auf ein improvisiertes Podium. Zusammen mit ihm zu den Klängen der Musik Mann 2 als Mitglied von PPU7. MANN 2  Das fetzt! Das fetzt rustikal! Auf Hrádeček hocken – am Hals nur Kuhglocken! Der Polizeidrache stürzt sich auf alles, das sich nicht bückt vor seinem Rachen! Aber die Freiheit dringt aus allen Lautsprechern und durchdringt alle Herzen! Musik. Passionsspiele. Audioaufnahme. 7  Anspielung auf die berühmte tschechische Undergroundband Plastic People of the Universe. Anm. d. Ü.

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Sind Türpfosten mit Blut verschmiert ist das Kreuz ein Zeichen sind Christen mit Blut gekennzeichnet und dem vollkommenen Lamm wird man die Knochen nicht brechen große Nacht voller Schrecken voller menschlicher Angst vor dem Ende der Tod am Kreuz ist eine Hinrichtung du bist schuldig wo hast du dich herumgetrieben, na? Dunkel.

DAS THEMA Innenraum der Wohnung. Mann 1 allein, er sitzt im Sessel, eingehüllt in eine Decke, blättert in einem frischen Manuskript, Mann 2 sitzt auf dem Tisch, baumelt mit den Beinen und raucht. Beide sind VH. MANN 2  Schreiben ist immer ein Zeugnis einer gewissen konkreten Erfahrung von meinem Ich in Interaktion mit der Welt. Ich habe immer darüber geschrieben, was ich erlebe, empfinde, was mich quält oder interessiert. Und ich würde es für falsch halten, etwas anderes als Ausgangspunkt zu nehmen, als meine persönliche und wesentliche Erfahrung mit der Welt und in der Welt. MANN 1  Aber hier fühlt sich der Schriftsteller von so vielen Bürden belastet – MANN 2  Von so vielen Ansprüchen, bis es ihm zu einer Bürde wird. MANN 1  Ja, das ist eine bessere Formulierung. Danke. MANN 2  Der Gedanke, dass der Schriftsteller das Gewissen der Nation ist … Schriftsteller haben hier doch jahrelang traditionell die Rolle der Politiker, der Erwecker der Nation vertreten. In der Zeit der Totalität bekommt die Rolle eines Schriftstellers noch eine weitere, besondere Dringlichkeit – MANN 1  Na ja, sonst hätten sie uns dafür doch nicht eingesperrt … MANN 2  Dieses besondere Maß an Aufmerksamkeit und sozialer Resonanz – MANN 1  Aber ich möchte nicht die Rolle des Erweckers spielen! MANN 2  Willst du nicht? MANN 1  Ich will nur das tun, was jeder Schriftsteller tun sollte. Die Wahrheit schreiben. Ich bin kein professioneller Hoffnungslieferant! Hoffnung muss jeder in sich selbst finden.

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MANN 2  Die wirkliche Prüfung für einen Menschen ist nicht, wie er die Rolle erfüllt, die er für sich selbst ausgedacht hat, sondern wie er die Rolle erfüllt, die ihm vom Schicksal zuerkannt wurde. MANN 1  Sagte Patočka. Ich weiß. Und überhaupt, lass mich in Ruhe. MANN 2  Und was ist mit den Bekundungen von Sympathie, Solidarität, Achtung, Bewunderung? Von ganz unbekannten Menschen, die anrufen und sich bedanken dafür, was du – was wir – MANN 1  Was habe ich eigentlich getan? Habe ein paar Stücke geschrieben, ein paar Artikel, eine Weile bin ich im Gefängnis gewesen. Nicht viel, wenn man so will. Aber für viele Menschen repräsentiere ich wer weiß warum – Olga kommt herein. Sie trägt Einkaufstaschen. OLGA  Hallo. MANN 1  Wo warst du so lange? OLGA  Wir bringen den Einkauf. MANN 1  Du kannst mich nicht so lange mit mir selber allein lassen. Schon wieder rede ich mit mir selbst. OLGA  Wie steht‘s? MANN 1  Fertiggeschrieben. OLGA  Schon? MANN 1  Ja. In vier Tagen. OLGA  Aber warum? Du hast sonst immer schrecklich lange gebraucht – MANN 1  Sogar Jahre, könnte man sagen. Vielleicht irgendeine Manie oder so was … MANN 2  Genauer gesagt gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen ist dieses Stück eine Art Ventil, Flucht aus der Verzweiflung oder törichter Akt der Selbstrettung aus den Depressionen und Zweifeln, die ich nach meiner Rückkehr aus dem Gefängnis verspüre. Oder zum anderen – ist das schnelle Schreiben der Ausdruck einer zwanghaften Neurose aller Dissidenten, nämlich der Angst um das Manuskript. Bis das Manuskript nicht in Sicherheit ist, unter den Menschen verteilt, oder zumindest in den Morgenstunden bei den Nachbarn versteckt, also in der Zeit, wo die Hausdurchsuchungen beginnen – ganz zu schweigen davon, wenn das Werk nicht vollendet gewesen wäre und seine finale Fassung noch fatalere Faktoren beeinflusst hätten – dass ich sterbe, dass mir etwas passiert oder man mich wieder einsperrt – MANN 1  (nervös) Kannst du dir das durchlesen? OLGA  Na – MANN 1  Gleich? Olga setzt sich zu Mann 1, schaut in die Seiten. OLGA  Gut. MANN 1  Also das Thema – 74


OLGA  Geschichte – MANN 1  Ich meine eher die Konstellation – MANN 2  Also eine musikalische Kontemplation über die Last des Seins, breit, lang und wehmütig – MANN 1  Sagen wir mal – OLGA  Hm … Und weiter? MANN 2  Um es zusammenzufassen. Ein alternder Mann, Philosoph, in gewisser Weise ein Held, aber ich betone, in gewisser Weise – MANN 1  Auf der anderen Seite ein unmöglicher Feigling – OLGA  (traurig) Václav – MANN 1  (erhöht die Stimme) Und es ist überflüssig, ihn in eine eindeutige und simplifizierende Deutung hineinzuzwängen – denn die Gesamtbedeutung ist im Wesentlichen in dem Paradox verkeilt – unfähig mit sich selbst irgendetwas anzustellen – sich irgendwohin zu bewegen – geistig, physisch – OLGA  Lässt du mich was sagen? MANN 1  (schreit zu Mann 2) Gejagt und fast zu Tode gejagt, durch seine Rolle in der Gesellschaft, seine Verantwortung, die die Anderen permanent auf ihn übertragen – (zu Olga) dessen persönliches Leben selbstverständlich Mitleid und Ekel zugleich hervorruft – OLGA  (schaut in den Text) Ist das über mich? Über uns? Mann 3 kommt herein als Olgas Freund JK. MANN 3  Es ist gleich halb sieben, Olga. Hallo, Václav, entschuldige, ich wollte euch nicht stören. OLGA  Ja, Moment mal. MANN 3  Ich warte hier nebenan, Olga. Wenn du irgendetwas brauchen solltest – du weißt. Bis dann. MANN 1  Tschüss. Mann 3 geht. Olga liest weiter. OLGA  Mir kommt es schrecklich persönlich vor. (Pause) Bist du dir sicher, dass du auf diese Art, in dieser deinen momentanen Stimmung – MANN 2  (stolz) Und höchstwahrscheinlich habe ich mich damit in die Bredouille gebracht. Ich konnte nicht anders, denn den Auftrag, die Themen und Motive, die mich verfolgen, nicht zu zensieren, kann ich nicht nur dann respektieren, wenn es um andere geht, und ihn ignorieren, wenn es um mich selbst geht. Mit diesem Stück schade ich mir selbst. Alle Welt wird mich mit der Hauptfigur identifizieren und denken, dass ich wirklich schlecht dran bin. MANN 1  Was ich in Wirklichkeit bin. MANN 2  Aber das hindert mich nicht daran, Abstand zu haben. 75


MANN 1  Also so schlecht dran bin ich wiederum auch noch nicht. MANN 2  Na eben. Wäre ich so schlecht dran wie die Hauptfigur dieses Stücks, könnte ich darüber nicht mit ironischem Abstand schreiben. MANN 1  Das Stück ist also autobiografisch – MANN 2  Aber die Tatsache, dass ich darüber schreiben konnte, widerlegt zugleich den Verdacht, dass es autobiografisch sein könnte. Mann 1 und Mann 2 zünden sich unisono ihre Zigaretten an und machen zufriedene Gesichter. OLGA  Also zu der Konstellation – Ich will mich nicht scheiden lassen. Das habe ich dir schon gesagt. MANN 1  Und weiter? OLGA  Weiter … Na, er ist einfach da, nebenan in der Küche. Ist da. Wird da sein. Er war die ganze Zeit bei mir. (Pause) Ich habe es dir offen und ehrlich gesagt. Du hast dich mir auch anvertraut mit deinen – MANN 2  Weil man niemanden weder sehr stark beschuldigen noch sehr vehement entschuldigen kann. OLGA  Ich denke, dass du es wieder viel zu sehr analysierst. MANN 1  Ich analysiere. Was soll ich sonst machen? OLGA  Also wir gehen. MANN 1  Wohin? OLGA  Wir haben Karten fürs Kino. MANN 1  (zu Mann 2) Und ist unser Gewissen nicht oft gerade das, was wir am liebsten in den Arsch treten möchten? OLGA  Ich muss. Bis dann. Olga geht langsam weg. MANN 2  Paradox. Alle werden komisch und bedauernswert zugleich. Sie versuchen, die Dinge besser zu machen, und dabei lassen sie sie unwillkürlich noch schlechter enden.

BANKETT Olga und Mann 1 als VH ziehen sich festlich an. Sie bereiten sich auf ein offizielles Essen mit einem bedeutenden Regierungsmitglied vor. MANN 1  Wie sieht das aus? OLGA  Ziemlich gut. MANN 1  Ich fühle mich darin irgendwie nicht wohl. Ist es nicht zu eng? Wenn ich mich hinsetze – 76


OLGA  Es ist gut … MANN 1  Und jetzt du, beeil dich. OLGA  Muss ich mitgehen? MANN 1  Ja. Musst du. Es ist ein offizielles Abendessen. Überwinde bitte deine angeborene Abneigung – OLGA  Aber du weißt, was ich von ihm halte. MANN 1  Weiß ich. Ich denke das Gleiche, werde es aber nicht laut sagen. OLGA  Es ist ein arroganter – MANN 1  Es ist ein Politiker. Ich bin auch ein Politiker. Oder so was in der Art. Mich erwürgt das immer. OLGA  Wo? Zeig mal. MANN 1  Hier. Verdammt. Ich bringe auch Opfer. OLGA  Auf dem Altar deiner Entscheidung. Meine Entscheidung war es nicht, das weißt du nur allzu gut … MANN 1  Aber mitten in der feierlichen Aufführung der Oper Libuše, da bist du in der Pause geflüchtet, da hättest du dich entscheiden können, siehst du, war das peinlich, aber ich ertrage es. OLGA  Es war langweilig bis zum Gehtnichtmehr. MANN 1  Und auch wenn du denkst, dass der oder der, sagen wir mal, ein wenig – OLGA  Weißt du, was er neulich in einem Interview gesagt hat, als man ihn nach dem neuen Stiftungsgesetz gefragt hat? Dass wir es blöd machen. MANN 1  Aber das ist deine Interpretation – OLGA  Er darf sagen, dass wir unsere Arbeit blöd machen, und ich darf ihm nichts sagen? MANN 1  Wir alle müssen eine gewisse Diplomatie lernen, Taktgefühl, Kompromisse und so weiter. Auch das ist Politik. Ich war es gewöhnt zu sagen, was ich denke, und jetzt muss ich es sozusagen formalisieren. Und auch die Krawatten. Wie ich die hasse, früher habe ich sie höchstens einmal im halben Jahr getragen und jetzt trage ich sie jeden Tag. Na. OLGA  Und ob ich ihn frage. MANN 1  Machst du nicht. OLGA  Oh doch. Mach ich. MANN 1  Nein. OLGA  Doch. Wenn ich mit ihm an einem Tisch sitzen werde. MANN 1  Nein. OLGA  Warum nicht? MANN 1  So eine Taktlosigkeit erschreckt mich. Ich bin so erzogen worden. Ich bitte dich – 77


OLGA  Er ist ein Blödmann. Punkt. MANN 1  Soll ich vor dir niederknien? OLGA  Lass das mal meine Sache sein. MANN 1  Dann wenigstens erst nach der Vorspeise. Olga … Ich bitte dich … Wäre das möglich? Dunkel.

AUDIENZ / PHÄNOMEN UNDERGROUND II Ausschank. Olga, Mann 2 im Kostüm eines alten Hippies, Mann 3 als Kellnerin. MANN 2  Was ist mit dem Bier? KELLNERIN  Nicht sauer sein, heute schäumt es irgendwie. MANN 2  Ich hab schon Angst gekriegt. Nicht dass es wieder so läuft, nach dem Motto: Hast du lange Haare, bist ein Gammler und gehörst nicht zu uns. Was? Weißt du noch? Erinnerst du dich? Was? Nicht? OLGA  Keine Ahnung. Keine Zeit irgendwie. MANN 2  Verstehe. Der Posten. OLGA  Blödsinn. MANN 2  First Lady … Wer hätte das gedacht. Nimmst du ein Bier? OLGA  Nein, danke. MANN 2  Verstehe. Der Posten. OLGA  Du kannst mich mal. MANN 2  Nimm doch ein Bier. OLGA  Nein. MANN 2  Und was machst du die ganze Zeit? OLGA  Hab viel zu tun. Mit der Stiftung. Man muss in diesem Staat schrecklich viel ändern und braucht einen langen Atem, aber wenn du siehst, wie dankbar die Menschen sind, die Möglichkeit, etwas Konkretes zu machen, konkret und sichtbar zu helfen – MANN 2  Was ist mit dem Bier? KELLNERIN  Heute schäumt es irgendwie. Sie müssen warten. MANN 2  Scheiße, Mann … OLGA  Die Dankbarkeit ist einfach so riesig, dass man aus jeglicher Art von Lethargie herausgerissen wird. MANN 2  Genau so, wie du’s sagst. Ich zum Beispiel – sitze hier oft so vor mich hin – und dann kommen irgendwelche Studenten vorbei und Mensch, ich fühle mich wie ein Prophet – echt Mann, die bringen mir ihre Texte, auch junge Mädels, oder auf 78


den Festivals – als wäre ich Ginsberg – wie das Maifest fünfundsechzig – das war auch richtig schön – Weißt du noch? Erinnerst du dich? Was? Nicht? OLGA  Keine Ahnung. Keine Zeit irgendwie. MANN 2  Verstehe. Der Posten. Was ist mit dem Bier? KELLNERIN  Kommt schon. MANN 2  Scheiße, Mann … OLGA  Sei nicht so eingeschnappt. MANN 2  Also die junge Generation. Studenten, verschiedene, Mädels auch … junge … vom Gymnasium … Ich veranstalte ein Festival. Lauter ehrwürdige Beatbands. Komm vorbei. Ich geb dir einen Flyer – (Wühlt in seinem Beutel.) OLGA  Ich werde wahrscheinlich keine Zeit haben, nicht böse sein. KELLNERIN  Hier ist es. Und für Sie? OLGA  Einen kleinen Becherovka und einen Tee. MANN 2  Das hat ja gedauert. Kannst mir gleich ein neues zapfen. KELLNERIN  Bitte schön. OLGA  Danke. KELLNERIN  Und Sie müssen hier nicht ständig rumstänkern. MANN 2  Rumstänkern? Wieso rumstänkern? Was ist das für’n Wort? So schändet man unsere wunderschöne Sprache? Ich bin Dichter. Hab klassische Philologie studiert. Scheiße, Mann. OLGA  Lass dir das auf ein T-Shirt drucken. MANN 2  Siehste, ist ‘ne Idee! Aber warum sind wir hier heute – OLGA  Hat das einen Grund? Einen konkreten? MANN 2  Die Brücke. OLGA  Ich weiß nicht. Ich hab dir schon einmal gesagt, dass ich denke, dass das Blödsinn ist. MANN 2  Warum? Was soll daran schlecht sein? OLGA  Es ist absurd. Und außerdem, das sollten andere machen, denke ich, die nächste Generation, oder vielleicht erst die übernächste. Momentan ist es absurd, Brücken oder Straßen nach jemandem zu benennen – MANN 2  Das müssen nicht nur Straßen sein. Bei dir würde ich auf ein Ufer tippen. Mindestens. Und Václav? Verdammte Scheiße! Das wird … ein Bahnhof. Oder nein – hör mal – ein Flughafen! Was? Nicht? OLGA  Ich bitte dich … MANN 2  Was ist mit dem Bier? KELLNERIN  Sie müssen warten, heute schäumt es irgendwie. OLGA  Auf jeden Fall wäre es mir peinlich, in dieser Frage Lobbying zu betreiben. MANN 2  Lobbying kannst du aber. Das kannst du nicht leugnen. 79


OLGA  Für die Stiftung ja, aber das ist etwas anderes, das mach ich nicht für mich. Was sagt eigentlich Magor dazu? MANN 2  Es geht nicht ums Lobbying. Aber du bist doch die First Lady. OLGA  Ja, schon gut. Bin ich eben. KELLNERIN  Hier ist es. Und Sie? OLGA  Könnten Sie mir bitte noch mal das Gleiche bringen. Pause. MANN 2  Magor weiß es nicht. OLGA  Hätte ich mir denken können. MANN 2  Es geht darum, dass der tschechische Underground an einem Scheideweg steht – OLGA  An einem Scheideweg ist praktisch alles und praktisch immer – MANN 2  Und es ist entscheidend, welche historische Aufgabe man übernimmt, Aufgabe, Rolle, die nächsten Generationen auch, Kontinuität, Kultur, Alternative, ich mach auch das Festival – komm vorbei – ich gebe dir einen Flyer (Wühlt in seinem Beutel.) OLGA  Ich werde wahrscheinlich keine Zeit haben, nicht böse sein. MANN 2  Verstehe. Der Posten. OLGA  Mir ist immer noch nicht klar, warum du aus dem tschechischen Underground eine museale Exposition machen willst. MANN 2  Einen Dreck will ich. OLGA  Magor würde dich auslachen. MANN 2  Sein Denkmal würde auch nicht auf einem Podest stehen. Er wäre auf dem Boden, ganz normal auf der Höhe der anderen Passanten. So nach dem Motto: Wir sind gegen jedes Establishment! Und dann hab ich noch die Idee gehabt, schau mal, als Sponsor, da könnte doch die Brauerei was hinblättern. Wäre ja auch Werbung für die, verstehst du? Underground. Magors Denkmal mit einer Bierpulle. Bier. Scheiße, Mann, was ist mit dem Bier? KELLNERIN  Es schäumt! MANN 2  Das interessiert mich nicht! KELLNERIN  Sie sind heute unerträglich. OLGA  Hör schon auf. MANN 2  Aber wir blödeln doch nur rum, nicht wahr? Bin hier übrigens jeden Tag. Ich hab hier sogar mein Kissen, schau mal. Damit ich nicht am Arsch friere. Ab und zu kommen auch ein paar Studenten vorbei, Mädels auch, jung, vom Gymnasium, sie bringen mir ihre Texte, ich mache auch ein Festival – lauter ehrwürdige Beatbands – komm vorbei – ich geb dir einen Flyer (Wühlt in seinem Beutel.) KELLNERIN  Da haben Sie es. 80


MANN 2  Na endlich. Das hat ja gedauert. KELLNERIN  Und Sie? OLGA  Ich muss schon los. MANN 2  Schon? OLGA  Na ja … Bin müde … MANN 2  Verstehe. Der Posten. Aber wenn du dir das noch mal durch den Kopf gehen lassen könntest. Die Plastik – OLGA  (ironisch) Die Plastik der Plastic People. MANN 2  Na siehst du! Das ergibt doch Sinn. OLGA  ES – IST – BLÖDSINN! MANN 2  Na ja. Mach’s gut. Grüße an Václav. OLGA  Tschüss. MANN 2  Aber immerhin, auf Hrádeček, das war … Hundert, hundertfünfzig Menschen und alle umzingelt … und lauter ehrwürdige Beatbands … Weißt du noch? Was? Nicht? Das kann man doch nicht vergessen … Olga allein. OLGA  Ich will schlafen und Filip Topol wird nicht mehr für mich singen „Ich will schlafen“ nur Michal David singt immer noch dass er nonstop leben will aber ich will nicht nonstop leben (in mir ist es leer)

ABGANG Als Untermalung die Musik der Band Psí vojáci (dt. Hundesoldaten). Nach einer Weile kommen Mann 2 und Mann 3 als Hunde. HUND 1  Ein Mensch soll das machen, wozu er Kraft hat, sagte Olga Havlová. HUND 2  Und umgedreht – ein Mensch soll nicht das machen, wozu er keine Kraft hat. OLGA  Aber während der letzten paar Monate ist mir klargeworden – was alles noch zu erledigen und zu machen ist, für die Stiftung, wieder durch die Republik zu fahren, sich zu erkundigen, für wen und was ist noch möglich, für wen und was ist zu tun, solange man noch Zeit hat, solange man noch – HUND 1  Jahresplan des Ausschusses des guten Willens für 1996. Entwurf des geplanten Stiftungsgesetzes.

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HUND 2  Aus den Entwürfen der Studenten der Berufsfachschule für Schmuckgestaltung in Trutnov denjenigen auszuwählen, der als Geschenk bei der Verleihung des Olga-Havlová-Preises dienen wird. OLGA  Was noch? Mit dem Vorstandsvorsitzenden der Tschechischen Energiewerke einen Vertrag über eine Finanzspende für die Klimakuren der nordböhmischen Kinder unterschreiben. Schulminibus für Kinder mit kombinierten Lernschwächen, und der Ärztestreik – ich sympathisiere ja mit ihnen, aber man muss das umgehend verhandeln, das heißt, ein Treffen mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden der Ärzte, diesem David Rath und Václav planen – Was noch? HUND 1  auf einmal HUND 2  bist du Patient unter deinem eigenen Messer HUND 1  merkwürdig sich zu sagen HUND 2  hauptsächlich niemandem zur Last fallen nicht gesehen werden nicht schmerzen HUND 1  in den Schlaf fallen, Tage und Nächte und der Schlaf wird immer tiefer und länger, je länger, desto weniger Licht und Wachsein, also vergisst man, dass eigentlich HUND 2  Patient sein, das ist ihr noch nie passiert, das wollte sie immer vermeiden, das erträgt sie nicht, das hasst sie – HUND 1  und in deinem Abgang – HUND 2  – höchstens das Jaulen eines Hundes der sich in einer Eisenfalle gefangen hat wie in der Fabrik da warst du erst sechzehn das Eisen zerdrückt die Hand so stark dass du auf der Stelle ohnmächtig wirst und als du dann im Krankenhaus aufwachst und man dir den Verband abnimmt siehst du den Stumpf deiner eigenen Hand ohne Fingerspitzen und wirst wieder ohnmächtig – HUND 1  und der Schlaf wird immer tiefer und tiefer, länger und stärker, trübes Aufblitzen des Bewusstseins OLGA  das hier ist ein Epilog, noch etwas sagen, noch etwas – HUND 1  tiefer und stärker, tiefer, stärker –

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HUND 2  Für immer ist eine unsichere Zeitangabe. Für immer ist das absolute Jetzt. Wir, ihre Hundemenschen, auf ihrem Teppich geborene Generation, im Hundenest, auf der Decke in der Zimmerecke. Sie umarmt uns, Hundewelpen, und selbst bleibt sie leer. Als man sie nach Hause gebracht hatte, konnte sie nicht mehr aufstehen, aber wenn ich zu ihr gerannt bin und ihre Hand geleckt habe, hat sie noch zum letzten Mal den Kopf gehoben. Und ihre Hand. Sie riecht irgendwie anders. Anders als früher. Ein leicht bitterer Geschmack. Die Grenze vom Ende spürt man immer in der Handfläche. Der leicht bittere Geschmack zum Schluss. HUND 1  Ein Hundemensch weiß nicht, was zum Schluss bedeutet. HUND 2  Die Grenze vom Ende. Verschwommen. Olga am Tisch, sie legt die Perücke ab und bleibt nur mit dem Verband am Kopf sitzen. Sie gießt sich einen kleinen Becherovka ein und zündet eine Zigarette an.

BRIEF II / EPILOG OLGA  Lieber Václav, die Astrologen hatten wieder Recht. Sie sagten für dieses Jahr einen frühen Winter und mir einen Krankenhausaufenthalt voraus. Und der Winter ist in diesem Jahr wirklich früh gekommen. Und meine weitere Hospitalisierung wird dir wohl viele Probleme im Terminplan verursachen. Über meinen Aufenthalt mache ich mir keine Illusionen, wie lange ich hier sein werde, weiß ich nicht, ich denke lieber nicht darüber nach. Die Arbeit habe ich unter meinen Kollegen aus der Stiftung aufgeteilt, so wird alles, hoffe ich, weitergehen wie gehabt, auch ohne mich. Gestern Abend haben wir uns wieder verpasst. Du bist gekommen, aber ich hatte gerade die Medikamente genommen und geschlafen. Ich bin nach etwa zwei Stunden wach geworden, aber da bist du schon wieder woanders gewesen. Jetzt wird es wohl für immer so bleiben. Immer geht doch jemand ab. Jemand geht ab und ein anderer kommt. Jemand ist noch nicht abgegangen und ein anderer ist schon gekommen … Ich werfe dir das doch nicht vor. Ich weiß doch, dass du nicht allein sein kannst. Und ich habe dir ans Herz gelegt – Wie rührend, wie du es vor allen wiederholst. „Sie hat es mir ans Herz gelegt.“ Du wirst dich nie ändern … Pause. Ein Dramatiker braucht eine Schauspielerin. Ich habe das Theater auch gerngehabt. Das Theater, nicht die Schauspielerinnen. Ich war keine gute Schauspielerin. Da muss ich lachen. Schön hast du dir das ausgedacht. Aber wirklich. Und Regie

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geführt. Bei dem langen und unglaublichen Leben. Du. Wahrheit und Liebe – Ewig und immer du. Also sei ruhig – ausgeglichen – fröhlich – gesellig – fleißig – zu allen lieb – sag lauter kluge Sachen – sei mutig, aber mit Bedacht – bemitleide mich, aber nicht zu viel … Sollte das wie beim Kirschgarten enden? „Sie sind weg! Mich haben sie vergessen! Der Herr hat sicher wieder keinen Pelz angezogen und ist im Mantel losgefahren …“8 Pause. Ich hab dich doch lieb. Das wollte ich dir sagen. Dunkel. ENDE Notiz: In dem Stück wurden Ausschnitte und Paraphrasen aus folgenden Texten verwendet: Václav Havel: Briefe an Olga, Largo Desolato (und das Nachwort zum Stück); ­Bohuslav Reynek: Hakeldama; ein Gedicht von Andrej Stankovič über die Selbstorganisierte Volksbibliothek Die Gruft; Vratislav Brabenec, Pavel Zajíček: Osterpassionsspiele; Anton Pavlovič Čechov: Der Kirschgarten.

8  Zitiert und angepasst nach der deutschen Übersetzung von Vera Bischitzky aus Anton Tschechow: Der Kirschgarten. Dramen. Düsseldorf: Patmos Verlag GmbH & Co KG / Artemis & Winkler Verlag 2006, S. 521.

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Milan Uhde

WUNDER IM SCHWARZEN HAUS Komรถdie in zwei Teilen Aus dem Tschechischen von Eva Profousovรก


Der Autor dankt Zdeněk Hedbávný, der das Stück bis kurz vor seinem Tod als Dramaturg begleitet hat, für seine Hilfe bei der Arbeit am Text, des Weiteren gilt sein Dank Jolana Součková, Richard Erml und Ladislav Smoček.

PERSONEN VATER (Dr. Eduard Pompe, 80 Jahre) MUTTER (Dr. Heda Pompeová, geb. Poláková, 78 Jahre) ŠÁRKA, deren Tochter (48 Jahre) DUŠAN, der ältere Sohn der Pompes (54 Jahre) VÍŤKA, seine Frau (48 Jahre alt) IVAN, der jüngere Sohn der Pompes (50 Jahre) TAŤÁNA, seine Frau (28 Jahre) NACHBAR (Herr Křenař, 70 Jahre)

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„Bei Wundergeschichten stellt sich meistens heraus, dass der Erzähler sie lediglich vom Hörensagen kannte. Ich aber bin dabei gewesen. Es passierte auf der Treppe zur Synagoge. Eine Frau mit ihrem toten Kind auf dem Arm stürzt sich auf den Rabbiner: ‚Mach einen Wunder. Lass es weiter leben.‘ Der Wunderrabbi hebt die Augen zum Himmel und spricht Zauberformeln. Alle um ihn herum erstarren, die Spannung steigt ins Unermessliche.“ „Und das Kind? Ist es wieder lebendig geworden?“ „Nein.“ „Also war das kein Wunder.“ „Natürlich nicht. Aber ich bin dabei gewesen.“ Alte Anekdote

TEIL EINS Nachbar läuft im Blaumann und Arbeitsjacke durch den Zuschauerraum auf die Bühne zu, eine Sense über der Schulter, und pfeift eine atonale Melodie vor sich hin, wie es häufig Menschen ohne musikalisches Gehör tun. Bei der Bühne angekommen, lehnt er die Sense an die Wand und verschwindet in einer Seitentür. Sein Pfeifen wird immer leiser, der Vorhang geht auf. Bühnenbild Einfamilienhaus mit einer großen Halle, erbaut im funktionalistischen Stil der 1930er Jahre. Aus der Halle führen vier Türen: Von links aus gesehen geht die erste Tür in ein kleines Badezimmer mit Toilette (Tür 1), rechts daneben geht eine Tür ins Hausinnere (Tür 2), die nächste in den Keller und in die Werkstatt (Tür 3). Ganz rechts befindet sich die Haustür, die man von der Straße und aus dem Garten kommend betritt (Tür 4). Zwischen Tür 2 und 3 steht ein weißlackierter Einbauschrank aus Holz. Über der Bühne hängt ein streng geometrischer Leuchter. Im Vordergrund befinden sich ein Konferenztisch und drei Stühle, auch sie im funktionalistischen Stil. Der Einbauschrank wie auch alle Türen und Möbel89


stücke weisen Spuren eines etwa fünfzigjährigen Gebrauchs auf, sind abgeschrammt, schäbig. An der Decke, vor allem in den Ecken prangen Wasserflecken und künden von Regenfällen, denen das Dach nicht hat Einhalt gebieten können. DUŠAN  (schließt Tür 4 auf, steckt den Schlüssel in die Hosentasche und betritt die Halle) Keine Menschenseele. Genau so habe ich es erwartet. VÍŤKA  (folgt ihm, leise) Guten Morgen. (Legt den Zeigefinger auf die Lippen.) Sie schlafen noch. DUŠAN  (öffnet Tür 2 und ruft hinein) Im Namen des Gesetzes. VÍŤKA  Schrei nicht. DUŠAN  (schreit; Original: auf Deutsch) Aufmachen! Geheime Staatspolizei! VÍŤKA  (für sich) „Fütter den Kanarienvogel nicht mit Pastete.“ DUŠAN  Bitte? Víťka, ich wiederhole es zum hundertundzehnten Mal: Ich wusste nicht, dass die Pastete schlecht war. VÍŤKA  Doch. Du wolltest ihn nicht. Hast gesagt: Ich will keinen Vogel. Und ich weiß warum. Erstens weil er uns zugeflogen war und sich illegal bei uns aufhielt. Zweitens, weil du dich nicht um ihn kümmern wolltest. Aber vor allem wolltest du mir und den Kindern den Spaß verderben. Und ich soll dann gute Miene zum bösen Spiel machen und dich als lieben Papa verkaufen. DUŠAN  Bin ich nicht lieb? VÍŤKA  Weißt du was, Dušan? Lass uns nach Hause gehen. Du kriegst es nicht hin. DUŠAN  Ich bin lieb. Wie noch nie. VÍŤKA  Wie gerade jetzt. Schon wieder reitet dich der Familienteufel. DUŠAN  Du meinst die Gestapo? Du hast Recht. Es war peinlich. Gestapo gestrichen. VÍŤKA  Du wirst keine Show abziehen. DUŠAN  Kein bisschen. VÍŤKA  Und du denkst daran, warum sie uns eingeladen haben. DUŠAN  Wegen der Erbschaft. VÍŤKA  Sie reichen dir die Hand. Das teilen sie dir beim Frühstück mit. DUŠAN  Und ich soll tun, als wäre alles bestens. VÍŤKA  Und du entschuldigst dich dafür, was du das letzte Mal zu deinem Vater gesagt hast. Abgemacht? DUŠAN  Vor allem, weil es dein Wunsch ist. VÍŤKA  Ich dachte, es wäre dein Wunsch. Wenn nicht … DUŠAN  Mach dir keine Sorgen. Die Abmachung gilt. VÍŤKA  Und wenn Vater wieder so tut, als würde er dich nicht erkennen? Und sagt: Guten Tag, lieber Ivan. DUŠAN  Damit rechne ich. 90


VÍŤKA  Und wenn er fragt: Brauchst du etwas? DUŠAN  Dann werde ich sauer, weil das heißt: Erwarte nichts von mir. VÍŤKA  Da hast du’s. Es ist sinnlos. DUŠAN  Nein. Ich reiße mich zusammen. Ich schaffe das. NACHBAR  (klopft von außen auf die Tür 4, öffnet sie und bleibt auf der Schwelle stehen) Tag, Herr Minister. Küß die Hand, Gnä‘ Frau. Ich bin hier der Nachbar. VÍŤKA  Wir kennen uns doch. (Zupft Dušan am Ärmel, der konzentriert über etwas nachdenkt.) Dušan! DUŠAN  Natürlich, Herr Křenař. Aber ich bin nicht mehr Minister. NACHBAR  Ich weiß, Herr Minister. Aber ich kann‘s nicht mehr mit ansehen. Die Leute fragen, wie die Lage ist. DUŠAN  Schlecht, Herr Křenař. So wie wir. NACHBAR  (hört Schritte hinter Tür 3, rasch) Nichts für ungut, ich will nicht stören. (Ab durch Tür 4, die er hinter sich schließt.) VATER  (kommt durch Tür 3 herein, sieht Dušan und Víťka) Guten Morgen, lieber Ivan. Was ist los? Ist etwas passiert? VÍŤKA  Guten Morgen, Vater. Wie geht es Ihnen? VATER  (beachtet Víťka nicht, spricht zu Dušan) Brauchst du etwas? DUŠAN  Schlag neun. Pünktlich wie die Sonnenuhr. VATER  (hört: Sonne pur) Stimmt. Herrliches Wetter. Wir haben ja schließlich Ende Juni. DUŠAN  (parodiert Vater) Eine Woche nach der Sommersonnenwende. Das Licht schwindet dahin. Die Tage werden kürzer. Um St. Ann fangen die kühlen Morgen an. Der Herbst naht. VÍŤKA Dušan. VATER  (als hätte er nicht zugehört und den Zusammenhang vergessen) So, so. Hör mal, hast du vielleicht einen Schraubenschlüssel dabei? Zweiundzwanziger. Oder einen Rohrschlüssel. DUŠAN  (fährt fort mit seiner Parodie) So, so. Bald steht Weihnachten vor der Tür. VÍŤKA  Dušan, reiß dich zusammen. VATER  Das Rohrschlüsselchen hier. (Es zeigt sich, dass er die ganze Zeit einen französischen Schlüssel in der Hand hielt.) Greift nicht. Du hast nichts dabei, was? (Legt den Franzosen auf den Konferenztisch, geht auf Tür 3 zu.) Macht nichts, ich leg die Feile an. Zum Glück habe ich wenigstens die. (Verschwindet hinter Tür 3, schließt sie.) NACHBAR  (steckt den Kopf aus Tür 4, bleibt auf der Schwelle stehen) Herr Minister, das lassen Sie nicht zu, oder? Sie werden doch eingreifen! DUŠAN  Ich, Herr Křenař? Ich bin aus dem Spiel. 91


VÍŤKA  Herr Křenař redet nicht über Politik, Schatz. NACHBAR  Ihr Herr Vater ist in Form. Für seine achtzig. Aber was zu viel ist, ist zu viel. DUŠAN  Hat er schon wieder was repariert? NACHBAR  Gestern früh am Morgen. Meine Frau kommt angelaufen und ruft: Mein Gott, er ist auf dem Dach. Mit Pinsel in der Hand. Ich sag, Herr Doktor, warum sagen Sie nichts. Mein Sohn streicht’s Ihnen. Billig und mit Garantie. VÍŤKA  Wie lieb von Ihnen, Herr Křenař. NACHBAR  Hm. Der hat mich so was von zum Teufel gejagt. Ich darauf, ich würde seinen Kindern Bescheid sagen. Und er, dass er sich angeseilt hätte. Aber wenn er ausrutscht, bricht er sich das Genick. Und wir haben ihn auf dem Gewissen. (Hört Schritte hinter Tür 3, verschwindet in Tür 4, schließt sie hinter sich.) VATER  (kommt aus Tür 3, schließt die Tür. Mit einer großen Eisenfeile in der Hand nimmt er den Franzosen vom Konferenztisch und prüft ostentativ, wie gut sich die Windung ausschleifen lässt) Wie ein Schwert. Vorkriegsware. Original Solingen. (Ab durch Tür 3, schließt sie.) MUTTER  (kommt durch Tür 2, geht am Stock) Kinder! Ich hatte Angst, ihr würdet es euch anders überlegen. (Beim Sprechen umarmt sie ihren Erstgeborenen und reicht Víťka die Hand.) Wir haben uns so lange nicht gesehen. Zwei Jahre. Ich male es mir immer wieder aus. Ein Sonntag wie in guten alten Zeiten. Wir frühstücken gemeinsam und gehen auf den Medlán hinauf. Wie früher, als ihr klein wart. Bis zur Kapelle. Und alles wird wieder gut. Bloß hat sich das ein wenig verkompliziert. Er ist weg. DUŠAN  Wer? Pavel? Warum? Und wann? MUTTER  Heute Nacht. Wie ein kleiner Bub. Mit dem Kind. DUŠAN  Aber warum? Warum? MUTTER  Weil er ein Arschloch ist. Wie sein Vater. Das liegt in der Familie. DUŠAN  Pavel ist kein Arschloch. MUTTER  Willst du dich streiten? Fang bitte nicht damit an. DUŠAN  Wie hat sie’s aufgenommen? MUTTER  Šárka? Mit Fassung. Sie macht das Frühstück. Aber klar, sie hat ihn geliebt. Víťka ab durch Tür 2. MUTTER  (Víťka hinterher) Hilfst du ihr? Aber kein Wort über Pavel. Damit sie nicht dran denkt. DUŠAN  Mama, jetzt mal ehrlich: Hat es sie wieder gepackt? MUTTER  Was? Es geht ihr gut. Ich habe gesagt, Šárka, du darfst jetzt nicht zusammenbrechen. Du hast Pflichten. – Sorgen mache ich mir eher um Papa. DUŠAN  Er sieht normal aus.

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MUTTER  Aber heute Nacht – von wegen, Autoschlüssel her. Ich: Wo willst du hin. Und er: Meine Sache. Darauf ich: Schlüssel kriegst du nicht. Ich weiß, was er ihm antun würde. DUŠAN  Um Gottes willen. Wem? Pavel? MUTTER  Du sollst ihn nicht unterschätzen. Er bewundert die Deutschen, aber mit der Familie führt er sich auf wie ein Italiener. DUŠAN  Was würde er ihm antun? Ihn mit der alten Knarre erschießen? VATER  (kommt durch Tür 3, schließt sie) Päng. Der Stiel ist hin. (Hält die Feile mit ­zerbrochenem Holzstiel hoch.) Gebrochen. MUTTER  Eda, willst du uns Gesellschaft leisten? VATER  Natürlich. Ich habe noch eine andere. (Ab durch Tür 3, schließt sie.) DUŠAN  Mama, habt ihr etwa gedacht, er würde bei ihr bleiben? MUTTER  Bei Šárka? Er hat ihr das Wort gegeben. DUŠAN  Als er noch nicht wusste, was sie hat. MUTTER  Sie hat sich zu Tode gehetzt. Beim ersten Zusammenbruch fragte ich: Was kommt jetzt, Pavel? Scheidung? Und er: Die gibt es bei den Katholiken nicht. DUŠAN  Nicht einmal Katholiken halten alles aus. MUTTER  Willst du ihn etwa verteidigen? DUŠAN  Ich bin nie in seiner Situation gewesen. Habe kein Recht, über ihn zu richten. MUTTER  Papa und ich schon. VATER  (kommt durch Tür 3 herein, umklammert seine Linke, vom Zeigefinger tropft Blut auf den Boden) Reingeschnitten hat sie. Die Bestie. MUTTER  Jesus Maria, Eda. Er hat sich verstümmelt. VATER  Hat sich gelockert. Der Schraubstock. Verstehe ich nicht. Alte deutsche Wertarbeit. Die Säge ist mir direkt in den Finger gefahren. DUŠAN  (sieht sich die Wunde an) Bis auf den Knochen. MUTTER  (schreit) Und so ist es hier ständig. Warum muss er herumsägen? VATER  Hat er sich erlaubt. Der Verbrecher. MUTTER  (schreit) Du musst in die Chirurgie. VATER  Warum? Der Finger ist weg. Wenn ich ne Blutvergiftung bekommen soll, kriege ich sie so oder so. DUŠAN  (reißt Tür 2 auf und ruft) Víťka! VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, sieht, was passiert ist, und reagiert ausgesprochen ­gelassen) Ab ins Auto. Verbandskasten. Dušan läuft durch Tür 4 hinaus, schließt sie hinter sich. VATER  (setzt sich an den Konferenztisch) Wenn ich ohnmächtig werde, merkt euch eins: Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Ich sterbe zu Hause. 93


DUŠAN  (kommt durch Tür 4, zieht sie hinter sich zu, trägt einen Autoverbandskasten) Gaze? Watte? Blutung stillen? VÍŤKA  (öffnet den Verbandskasten, nimmt das Desinfektionsspray) Nicht zu viel reden. (Sprüht auf den verletzten Finger.) VATER  (das Spray brennt) Ist mir übel! MUTTER  Wie ein kleines Kind. Muss ständig spielen. ŠÁRKA  (betritt die Bühne durch Tür 2, bekommt gar nicht mit, was los ist, wendet sich ausschließlich an Dušan; Original: auf Deutsch) Hallo, du. Ich danke dir herzlich für die Gelegenheit, ein paar Probleme des Nibelungenlieds mit dir zu behandeln. Ersten: Ich hab eine Studie gelesen über die Beziehung zwischen Kriemhild und ihrem Mann. Meine Frage lautet … VÍŤKA Pflaster. ŠÁRKA  (Original: auf Deutsch) Sind die Theorien von Freud und von seinen Schülern nicht fähig, einen Text wie „Das Nibelungenlied“ glaubwürdig zu interpretieren? VÍŤKA Schere. ŠÁRKA  (zu Dušan) Kannst du vielleicht mal antworten, verdammt? DUŠAN  Kann ich nicht. ŠÁRKA  Auch nicht, wenn ich dich bitte? Für mich ist das eine Grundsatzfrage: Lassen sich ausgesprochen moderne analytische Standpunkte auf das Nibelungenlied übertragen? Ein altgermanisches Epos entspringt einem anderen Wertesystem als dem unsrigen. Tötet Kriemhild aus anderen Beweggründen als die moderne Frau? MUTTER  (zu Víťka) Was machst du da? VÍŤKA  Eine Schleife. MUTTER  (misstrauisch) Was ist das? VÍŤKA  Praktisch dasselbe wie Nähen. MUTTER  Müsste das nicht genäht werden? VÍŤKA Eben. ŠÁRKA  (zu Dušan) Ich glaube, das würde gehen. MUTTER  Eda, hast du gehört? ŠÁRKA  (zu Dušan) Redest du mit mir oder nicht? DUŠAN  (zu Šárka) Ich bin kein Germanist. Auch kein Philosoph. ŠÁRKA  (zu Dušan) Das ist ein allgemeines Problem, nichts Spezielles. Auch ein Rechtsanwalt sollte dazu eine Meinung haben. VÍŤKA So. (Beendet die Behandlung.) VATER  Kann ich damit weiterarbeiten? VÍŤKA  Auf keinen Fall, Vater. Erst wenn sich die Wunde geschlossen hat. MUTTER  Auch dann nicht. Das war der letzte Warnschuss. Das nächste Mal kommst du ins Spital. 94


VATER  Muss warten im Saal? Na ja, so’n Stündchen würde gehen. DUŠAN  (zu Mutter über Vater) Er hört immer schlechter. MUTTER  Er hört immer gleich. (Sie schreit in Vaters Richtung, damit er nicht so tun kann, als hätte er nichts gehört.) Er veräppelt uns. Aber nicht mehr lange. Ich pack seinen ganzen Kram und schmeiß alles weg. VATER  Auch den Franzosen aus Solingen? Ich warne dich. Wo willst du einen neuen hernehmen? MUTTER  Schon tausend Mal habe ich ihn gebeten: Lass uns jemanden holen und fertig. ŠÁRKA  Dušan, hörst du mir zu? Meiner Meinung nach ist bei einer Analyse jede Methode zulässig. Derridas Dekonstruktionsverfahren ist in der Hinsicht zum Beispiel sehr liberal. DUŠAN  Endlich ein vernünftiges Wort. Gott sei Dank. Ich gehe gleich zu ihm. ŠÁRKA  (zu Dušan) Zu Derrida? MUTTER  (es ist nicht klar, ob sie Dušan oder Šárka anspricht) Warte noch. ŠÁRKA  Jeder Blödsinn ist wichtiger als ich. MUTTER  Eda, gib endlich zu, dass es zu viel ist für dich. Das Haus braucht eine Generalüberholung. Das Dach hat Löcher. Der Wasserhahn tropft. Seit fünfzig Jahren rottet und rostet alles vor sich hin. Dušan regelt das. ŠÁRKA  Und wer regelt die Dinge für mich? MUTTER  (zu Vater) Du bist kein Handwerker. Also? VATER  Nur ein Idiot wirft einen deutschen Franzosen weg. ŠÁRKA  Habt ihr gehört? Wer regelt die Dinge für mich? Keiner. DUŠAN  Beruhige dich. ŠÁRKA  Worte, Worte, Worte. Das kannst du. Eine helfende Hand reichen, das allerdings nicht. Aber ich werde es lösen. Radikal. (Ab durch Tür 2, lässt sie offen.) DUŠAN  Sarah, mach keinen Quatsch. (Will zu ihr.) MUTTER  (zu Dušan) Hast du sie schon wieder Sarah genannt? Warum? VÍŤKA  (zu Mutter) Er macht den anderen gerne Freude. Aber er hört damit auf. (zu Dušan) Nicht wahr, Dušan. (zu Mutter) Und er redet mit Vater. (zu Dušan) Aber keine Pastete. Sondern ordentlich. (Folgt Šárka durch Tür 2 und schließt sie hinter sich.) DUŠAN  (steht zum ersten Mal Auge in Auge mit Vater) Vater. Vater schweigt. MUTTER  Ich bitte dich, Eda, rede mit ihm. Vater schweigt. DUŠAN Kleinvater. Vater schweigt. MUTTER  So sagte er zu dir als Dreikäsehoch. Willst du ihm nicht antworten? 95


Vater schweigt. DUŠAN  Armer klitzekleiner Vater. MUTTER  (zu Dušan) Er ist furchtbar. Mit mir hat er zum Beispiel mal ein ganzes halbes Jahr nicht geredet. (zu Vater) Eda, du hast dir gewünscht, dass ich ihn einlade. Was wolltest du damit bezwecken? Ihm zeigen, dass du immer noch böse bist? Und dass du es noch ein weiteres Jahr bleibst? DUŠAN  Zwei Jahre. MUTTER  (zu Vater) Ich verstehe nicht. Er hat dich so schön angeredet. VATER  Das stammt aus Diderot. Eine Paraphrase. So bezeichnete Jakob seinen Herrn. Despektierlich. Von oben herab. Was ist schön daran? MUTTER  (zu Dušan) Mein Gott, was für ein Sturkopf. Wie viele Nächte hab ich seinetwegen durchgeheult. In der Hoffnung, mir freundliche Worte zu erheulen: Weine nicht. Glaubst du, ich hätte sie mal bekommen? Nie. Er hat mich bestraft, für das Muhen. Ja, er hat nicht „Weinen“ oder „Heulen“ gesagt, sondern „Muhen“. Meine Mama meinte einmal zu mir: Dieser dein Mensch, Heda, der ist vielleicht kein Mensch. Wie kannst du ihn lieben? IVAN  (ruft hinter der Bühne) Im Namen des Gesetzes, Tür auf. (Betritt die Halle durch Tür 4, zieht sie hinter sich zu.) Polizei. MUTTER  Lieber Ivan, komm rein. Wo hast du deine süße Taťána gelassen? Und das Peterle? IVAN  Draußen. Sie futtern. Kennst du doch, das Ritual. Und Šárka? Geht es ihr besser? MUTTER  Sie hält sich tapfer. IVAN  Was ist das denn? (Betrachtet die Blutspuren auf dem Boden.) DUŠAN  (zu sich) Josef, sag einen Witz. IVAN  Habt ihr geschlachtet? DUŠAN  Bravo. Hab gleich gewusst, dass er sich ins Zeug legt. MUTTER  (zu Dušan) Willst du deinen Bruder nicht begrüßen? DUŠAN  Hätte ich es gewusst, wäre ich lieber zu Hause geblieben. MUTTER  Was hättest du wissen sollen? Dass er kommt? Er gehört genauso zu uns wie du. DUŠAN  Natürlich. Ich übe bloß irrealen Konditionalsatz mit Konjunktiv II. Auf Deutsch geht es so: Hätte ich es gewusst, wäre ich zu Hause geblieben. IVAN  (zu Mutter) Sag ihm, er kann mich mal. MUTTER  Was ist los mit euch? Zwanzig Jahre lang wart ihr ein Herz und eine Seele. Die Eltern veräppeln, da wart ihr Meister drin. Also benehmt euch wie Brüder. DUŠAN  Das wird kaum gehen. MUTTER  Erzähl keinen Unsinn. Und nenn ihn nicht Josef. DUŠAN  Hatte er nicht so heißen sollen? Nach Stalin? 96


MUTTER  Spar dir deine Bonmots auf für Víťka. Aber bei ihr traust du dich nicht. IVAN  Lass ihn, Mutti. Er ist ein Hornochse. DUŠAN  Trotzdem nicht so blöd, sich mit einem Spitzel zu verbrüdern. IVAN  Mutti, darf ich ihm die Fresse polieren? MUTTER  (zu Ivan) Unterstehe dich! (zu Dušan) Dušan, das verbitte ich mir. Ivan war kein Spitzel. DUŠAN  Entschuldige. Stimmt. Verglichen mit ihm hat ein Spitzel noch Charakter. VATER  (unterbricht den Konflikt zwischen den Brüdern, als wäre es ihm unangenehm) Lieber Ivan, hast du vielleicht einen Maulschlüssel? Einen Zweiundzwanziger. IVAN  (wendet sich von Dušan ab und die Spannung löst sich. Schreit, als wäre Vater taub) Wofür? VATER  Hast du nicht, stimmt‘s? IVAN  Bringe ich das nächste Mal mit. Einverstanden? VATER  Richtig, den metallenen. Oder eine Rohrzange. Nicht mal die hast du mit? IVAN  (schreit) Brauchst du sie sofort? MUTTER  Versprich ihm nichts, Ivan. So geht es nicht weiter. IVAN  Spielt er wieder Installateur? MUTTER  Sieh dir das an. Nicht mal angefangen und fast verblutet. (zu Vater) Eda, wir bleiben nicht ewig … Könnten wir nicht wenigstens die letzten Jahre wie Menschen verbringen? VATER  Deine Mutter, Ivan, war eine passable Juristin. Ansonsten hat sie von nichts eine Ahnung. MUTTER  Sie wünscht sich Küche, Badezimmer und Waschküche, wo man kochen, sich sauber machen und Wäsche waschen kann. Dieser absurde Wunsch hat sich ihr nie erfüllt und wird es auch nicht. Vom Garten rede ich gar nicht. Das Gras meterhoch. VATER  Kannst du Rasenmäher reparieren? Nein. Ich aber. Also musst du warten, bis ich dazu komme. Nur mit dem Maul kriegt man das Gras nicht kurz. IVAN  Alte Leier. DUŠAN  Ich klingele mal kurz bei den Křenařs. Soll ich? VATER  (zu Mutter) Sollte der mit der Sense das Haus betreten, solltest du mit ihm nur ein Wort gewechselt haben, wird es weitreichende Konsequenzen haben. MUTTER  Seht ihr? Habt ihr gehört? Damit lasst ihr mich allein, seit Jahren. Das ist mein Leben. IVAN  Mach kein Drama daraus. Im Telefonbuch gibt es haufenweise Installateure. Křenař passt nicht, also greif zum Telefon und fertig. VATER  Damit wir uns verstehen: Ich will keine Fremden im Haus. IVAN  Weil sie Pfuscher sind? 97


VATER  Weil sie mit Dieben unter einer Decke stecken. In spätestens einer Woche hat man uns ausgeraubt. IVAN  Vati, entschuldige, aber das ist Quatsch. DUŠAN  Quatsch ist auch, dass Křenař nicht passt. Sag ein Wort, Mama, und ich hole ihn. VATER  (lässt sich in den Stuhl fallen, fasst sich ans Herz) Was sagt er? MUTTER  (zu Dušan und Ivan) Wisst ihr was? Behaltet eure Ratschläge für euch. (Ihre Entschiedenheit ist dahin, Mitleid mit Vater überwiegt.) Eda, ist dir schlecht? VATER  (beide Hände ans Herz gepresst, mit schwacher Stimme) Geht gleich vorbei. MUTTER  (greift in die Tasche, holt ein Röhrchen mit Medikamenten, schüttelt eine Tablette raus, zu Dušan und Ivan) Herz. (zu Vater) Hier, nimm. IVAN  Was nimmt er? MUTTER Lanatosid. DUŠAN Placebo. VATER  Was sagt er? MUTTER  Dass es Linderung bringt. VATER  Lüge nicht. Er hat Placebo gesagt. Von wegen: Ich hab nichts. Ich simuliere nur. Das Herzrasen. Die systolischen Herzgeräusche. Also bin ich ein Hypochonder, ja? Danke. Vielen Dank. MUTTER  Eda, beruhige dich. (zu Dušan und Ivan) Papa hat eine Herzischämie, das ist in seinem Alter normal. Am Haus arbeiten kann er schon. Wir brauchen keine fremde Hilfe. TAŤÁNA  (steckt den Kopf durch Tür 4, etwas durch den Wind) Schatzi, komm schnell. IVAN  Ja, Schatzi. (Rennt durch Tür 4 hinaus, schließt sie.) MUTTER  Was ist denn? Geht es dem Peterle auch schlecht? DUŠAN  Nein. Der hat nur gekotzt. MUTTER  Der Ärmste. Woher weißt du das? DUŠAN  Er kotzt jedes Mal nach dem Essen. MUTTER  Dušan, von eurem Marek haben wir immer nur schön gesprochen. Wie hieß er bei uns? Der Südvogel. Dabei hat er gekrächzt wie eine Krähe. Entweder du redest auch von meinen anderen Enkelkindern schön oder du schweigst. DUŠAN  Hat er etwa nicht gekotzt? Hat er. Was ist schlimm daran, wenn ich es sage. MUTTER  Hör auf, oder ich sage Víťka Bescheid. IVAN  (kommt durch Tür 4, hält eine nasse Stoffwindel in der Hand und zwar so, dass man ihren unangenehmen Inhalt erahnen kann) Der spachtelt, als hätte er drei Tage nichts zu fressen gekriegt. (Geht durch Tür 1 ab, lässt sie offen.)

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DUŠAN  Hat er sich schon immer ans Herz gefasst, wenn er etwas durchsetzen wollte? Oder hat er eher mit der Pistole gewedelt? Die hatte er immer im Nachttisch liegen. Warum? MUTTER  Um mich zu schützen. Im Krieg. Falls man mich geholt hätte. DUŠAN  Hätte er auf die Gestapo geschossen? MUTTER  Er war mutig. Die ganze Familie redete auf ihn ein: Eduard, bleib nicht mit der Jüdin, sonst kommst du auch ins KZ. Und er stellte sich hin und sagte: Ich lasse mich nicht scheiden. – So war das. Schluss jetzt. Sonst sage ich Víťka, dass du schon wieder den Ermittler spielst. VATER  (bis jetzt mit geschlossenen Augen im Stuhl zusammengesunken, als hätte er geschlafen) Meinst du, Heda, dass wir heute noch ein Frühstück bekommen? MUTTER  (will durch Tür 2 abgehen, ruft) Šárka! IVAN  (kommt aus Tür 1, hält die ausgewrungene Windel in der Hand) Haben wir auch immer so gekotzt? MUTTER  Ich weiß es nicht mehr. IVAN  Kinder bis zwei kotzen ständig. (Ab durch Tür 4, lässt sie offen.) DUŠAN  (halb rezitierend) Sie nehmen in voller Schärfe wahr, was wir Erwachsene viel undeutlicher empfinden: dass die Welt zum Kotzen ist. MUTTER  (zu Dušan) Monster. (ruft Ivan hinterher) Habt ihr es schon mit Diät versucht? DUŠAN  Sie sind anderer Meinung. Sie stopfen ihn wieder voll. Damit er lernt, sich zu beherrschen. MUTTER  Du musstest schon immer das letzte Wort haben. (ab durch Tür 2, ruft) Šárka, was ist mit dem Frühstück? VATER  Für solche Fälle haben die Deutschen früher ein passendes Wort gehabt: unbehilflich. MUTTER  Bitte? Wer ist hier unbehilflich? VATER Lauter. (zu Dušan) Lieber Ivan, ich verstehe sie gar nicht. MUTTER  (schreit) Ich putze. Kaufe ein. Wasche Wäsche. Noch zu kochen schaff ich nicht. VATER  Eben. Unbehilflich. MUTTER  Hör auf. Sonst sage auch ich was. Und zwar vor den Kindern. VATER Unbehilflich. MUTTER  Geschieht mir recht. Seit einem halben Jahrhundert höre ich mir das an. „Unbehilflich.“ Auf Deutsch, damit es die Kinder nicht verstehen. Weißt du, wann du es das erste Mal gesagt hast? VATER Märchen. ŠÁRKA  (kommt durch Tür 2, schließt sie hinter sich) Ihr findet mich also unbehilflich. MUTTER  Šárka, Herzchen, gibst du uns zu essen? 99


ŠÁRKA  Seit zwanzig Jahren habe ich einen Ruf aus Heidelberg, dort zu promovieren. Und ich spiele hier die Köchin. Da würde selbst ein Toter durchdrehen. Unbehilflich. VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, spricht leise, sodass die anderen sie nicht hören) Kommt schon, bitte. Der Tisch ist gedeckt. MUTTER  (zu Šárka) Du hast ein Kind. Die Promotion muss warten. ŠÁRKA  Hast du gehört, Dušan? Ich muss warten. Schon wieder ich. Geht seit Jahren so. Das ist nicht zum Aushalten. Sag endlich, was ich muss. Sag’s. VÍŤKA  Ich hoffe, du lässt uns frühstücken, Dušan. DUŠAN  (hat Víťka nicht gehört, sehr sanft) Das liegt doch auf der Hand, Sarah. VÍŤKA  Hast du nicht gehört, Dušan? MUTTER  (über Dušan) Hat er schon. Aber Gift muss raus. (Sie möchte Šárka aus dem Raum locken.) Hör nicht auf ihn. Und lass dir von ihm nicht den Namen verstümmeln. ŠÁRKA  (spricht weiter mit Dušan) Ich weiß, was auf der Hand liegt. Kein Heidelberg. Klinik. DUŠAN  Du hättest längst dort sein müssen. VATER  Was sagt er? ŠÁRKA  (wirft sich auf den Boden) Nein. MUTTER  Danke, Dušan. Vielen Dank für den schönen Sonntag. VÍŤKA  (halb zu sich) „Keine Pastete für den Kanarienvogel.“ MUTTER  Und du, Víťka, soufflier ihm nicht. DUŠAN  (zu Mutter) Víťka trifft keine Schuld. Du kennst die Geschichte vom Kanarienvogel und der Pastete nicht. MUTTER  Víťka weiß, wie ich es meine. Wenn sie etwas gegen uns hat, muss sie es nicht dir aufzwingen. ŠÁRKA  (auf dem Boden liegend) Keine freiwillige Hospitalisierung. Ich unterschreibe nichts. VATER  Was sagt sie? ŠÁRKA  Wenn ihr mich einliefert, bringe ich mich um. MUTTER  Šárka, mein liebes Mädchen, beruhige dich. (Versucht Šárka vom Boden zu heben.) Hilft mir vielleicht einer? Helft mir doch! (Víťka versucht zu helfen, Šárka widersetzt sich.) IVAN  (kommt durch Tür 4) Der frisst wie ein Scheunendrescher. Ich wette, dass er das gleich wieder rausspuckt. (Bemerkt Šárka, die immer noch auf dem Boden liegt.) Šárka, Liebes, was ist los? Was haben sie dir angetan? ŠÁRKA  (über Dušan) Er ist so rücksichtslos, Ivan. So grausam. (Ivan hebt sie hoch, stützt sie.)

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IVAN  (drückt Šárka an sich, streichelt sie) Habe keine Angst, Šárka. Ich gebe dich nicht her. Weder den Ärzten noch dem Gericht. DUŠAN  Rechtskanzlei Pompe und Pompe, staatlich geprüfter Verteidiger von Witwen und Waisen. ŠÁRKA  (hört Dušans Anmerkung, faucht ihn an) Er versteht mich. Du bist ein Monster. Wer hatte die Idee, mich in die Klapse zu schicken? Wer hat mich das erste Mal dahin geschleift? Du, nur du. Und ich habe gebettelt: Lasst mich nur bisschen ausruhen, einen oder zwei Tage schlafen. Aber du immer wieder: Klapse, Klapse. Ich verstehe. Dir geht es um das Erbe. Um das Haus. Um den Haufen Ziegelsteine. Aber wer für ein paar beschissene Ziegelsteine andere Menschen vernichtet, gehört selbst in die Klapse. MUTTER  Sei still, Šárka. IVAN  (bringt Šárka zu Tür 2, macht unterwegs einen kurzen Abstecher in Tür 1, lässt die Windel dort, schließt Tür 1) Richtig. (Gibt Mutter und Vater Zeichen, dass er das nur zu Šárkas Beruhigung sagt.) Komm, du legst dich hin, nimmst eine Tablette. ŠÁRKA  (unterbricht ihn) Blödmacher nehm ich nicht. IVAN  Wir reden darüber. ŠÁRKA  Keine Chance. Das mach ich nicht. (Beide ab durch Tür 2.) Víťka folgt ihnen wortlos. VATER  Was sagt sie? MUTTER  Eda, tu nicht, als hättest du nichts gehört. VATER  (legt die Hand vors Ohr) Wer ist gestört? Ivan? MUTTER  Lässt du mich damit wieder allein, Eda? VATER  Er ist doch fit. Oder nicht? (Geht auf Tür 3 zu.) Ivan. MUTTER  Eda, das ist eine neue Situation. DUŠAN  Neu? Šárka darf nicht allein bleiben. Sonst macht sie das wieder. MUTTER  Was macht sie? Was hat sie gemacht, deiner Meinung nach? DUŠAN  Nicht der Rede wert: Hat sich die Pulsader aufgeschnitten. VATER  (kommt von Tür 3 zurück) Was sagt er? DUŠAN  (schreit) Sie wird sich die Pulsader aufschneiden, wie in Heidelberg. VATER  (geht auf Tür 3 zu) Märchen. DUŠAN  (Vater hinterher) Wer hat sie dort abgeholt – du oder ich? MUTTER  Eda, bitte, geh nicht weg. VÍŤKA  (kommt durch Tür 2 herein, bringt ein Tablett mit Frühstück – Rühreier, Tee, Kaffee, Toastbrot, Butter, Marmelade, Käse, Schinken, Würstchen, Äpfel, Orangen, Bananen, Tomaten, Gurken – und stellt alles auf den Konferenztisch) Hier ist es – und guten Appetit.

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VATER  (bemerkt Víťka, tut aber, als hätte er sie nicht gesehen, und verschwindet in Tür 3, schließt sie hinter sich) In Heidelberg. Pulsader. Alles Märchen. MUTTER  (schreit) Wo gehst du hin, Eda? VATER  (ruft durch geschlossene Tür 3) An die Arbeit. MUTTER  (verzweifelt) Du hast gesagt, wir würden gemeinsam frühstücken. Eda! VATER  (schreit aus dem Keller) Heda! TAŤÁNA  (ruft hinter geschlossener Tür 4) Ivan! (Ivan reagiert nicht, Taťána ruft lauter.) Ivan! Ivan, wo bist du? IVAN  (kommt durch Tür 2 herein, sprintet in Tür 1, holt die Windel und bewegt sich auf Tür 4 zu) Ja, Schatzi. Ich komme! MUTTER  (öffnet Tür 3, ruft) Eda, warum machst du das? Sei lieb. Du kannst das. (streng und laut) Eda, Frühstück. VATER  (aus der Tiefe des Kellers) Wessen Glück? DUŠAN  (zu Mutter) Iss du wenigstens was. MUTTER  (als nähme sie das Essen nicht wahr) Dušan, du willst uns nur Angst einjagen, oder? DUŠAN  Womit? Dass sie es wiederholt? Merkst du das nicht? Sie hat einen Rückfall. MUTTER  Spiel nicht den Doktor. DUŠAN  Futtert sie immer noch Ananas wie wild? MUTTER  Sollte sie das nicht? DUŠAN  In Heidelberg hat sie es mit dem Dosendeckel gemacht. (Deutet an, wie man sich die Pulsader aufschneidet.) VÍŤKA  Diese Pastete schlägt super ein. Aber ich warne dich, Dušan, du riskierst ne Menge. (Ab durch Tür 2.) MUTTER  (über Šárka) Sie hätte Burnout gehabt, haben die Ärzte gesagt. DUŠAN  Bevor sie das gemacht hatte. Danach haben sie gesagt: manisch-depressive Psychose. MUTTER  Im Bericht stand: Burnout. DUŠAN  Damit ich mit ihr ins Flugzeug durfte. Sonst hätten sie einen Spezialflug des Roten Kreuzes bereitstellen müssen. Den hatten sie nicht. MUTTER  Sie war bei der Prüfung durchgefallen. Deswegen war sie zusammengebrochen. DUŠAN  Umgekehrt. Sie wurde krank, deswegen ist sie durchgefallen. Dann hat sie es gemacht. Danach wurde sie wieder krank und konnte sich nicht um das Kind kümmern. Nach dem nächsten Mal hat sie ihren Job aufgegeben. Jetzt ist es zum vierten Mal und Pavel hat die Koffer gepackt. Hättet ihr zugegeben, dass sie krank ist, und sie rechtzeitig behandeln lassen, wäre er bei ihr geblieben. MUTTER  Hat er vor dir nicht angegeben? Er hat eine andere. 102


DUŠAN  Pavel? Nach seinen Erfahrungen mit Sarah guckt er doch mindestens ein Jahr lang keine Frauen an. IVAN  (kommt durch Tür 4, hält eine Stoffwindel mit unangenehmem Inhalt in der Hand) Der ist unglaublich vital. Wenn ich so kotze, fresse ich drei Tage lang nichts. Aber er lässt es sich wieder schmecken. MUTTER  Lieber Ivan, erzähl es ihm. IVAN  Dem Minister? Dem werde ich höchstens was husten. (Geht auf Tür 1 zu.) MUTTER  (zu Dušan) Er kennt sie. DUŠAN  Wen? Die Frau, mit der Pavel fremdgegangen ist? Die möchte ich gerne sehen. MUTTER  Komm zur Gerichtsverhandlung. DUŠAN  Ihr wollt vors Gericht? MUTTER  Wir werden ihm doch die kleine Markéta nicht lassen. DUŠAN  Wenn sich einer um sie gekümmert hat, dann Pavel. MUTTER  Wir werden Beweise vorlegen, dass er das nicht mehr kann. DUŠAN  Sarah erst recht nicht. MUTTER  Sie ist nicht schlimmer als andere Mütter. Und ich bitte dich zum letzten Mal: Nenn sie nicht Sarah. Ich weiß, warum du es tust, und ich verbiete es dir. DUŠAN  Einer psychisch gestörten Person ein Kind anzuvertrauen ist Mord. IVAN  (kommt durch Tür 1 zurück) Wir werden beweisen, dass er psychisch gestört ist. Und noch dazu Schürzenjäger. VATER  (steckt den Kopf durch Tür 3) Lieber Ivan, mir war, als hätte ich deine Stimme gehört. Endlich kommst du vorbei. (zu Mutter) Wie lange haben wir ihn nicht gesehen? Ein Jahr? (zu Ivan) Und wo hast du die Taťána? Wie geht es dem Peterle? IVAN  (etwas verlegen, Vaters Worte klingen leicht dement) Bestens. Perfekt. Beide lassen grüßen. VATER  Gott sei Dank. Das ist am wichtigsten. Man muss das Leben genießen. MUTTER  (zu Ivan) Er muss Quatsch machen, auch wenn die Welt untergeht. (zu Vater) Hör auf mit dem Theater. Iss was. VATER  (als hätte er erst jetzt das Tischchen mit dem Frühstück gemerkt) Ist das echt oder Fata Morgana? Wisst ihr, wie man auf Deutsch sagt, dass man Hunger wie ein Wolf hat? Ich habe einen Bärenhunger. (Ab durch Tür 2.) MUTTER  Jesus, schick mir Geduld. (schreit) Wo gehst du schon wieder hin? VATER  Das möchte ich dir nicht erklären. Nach fünfzig Jahren. MUTTER  Eine Szene vor dem Frühstück? Ich bitte dich, heute nicht. VATER  Was für eine Szene? Krankheitserreger wirken auch sonntags. Leider. (Ab durch Tür 2.) TAŤÁNA  (draußen, vor Tür 4) Ivan! IVAN  Ja, Schatzi. (Rennt durch Tür 4.) 103


DUŠAN  Mama, ist es dieselbe Freundin? MUTTER Welche? DUŠAN  Ich meine das Luder, das bei seiner Scheidung als Zeugin aufgetreten ist. MUTTER  Bei Ivans Scheidung ist kein Luder als Zeugin aufgetreten. DUŠAN  Komm schon. Ich weiß, wie viel er ihr gezahlt hat. Aber wenn ihr sie nochmals einsetzt, dann trete ich als Zeuge für Pavel auf. MUTTER  Gegen deine eigene Schwester? DUŠAN  Gegen euch. Einen weiteren Mord lasse ich nicht zu. MUTTER  Was meinst du damit? IVAN  (kommt durch Tür 4 herein, trägt eine vom Erbrochenen verunreinigte Stoffwindel in der Hand) Der kotzt wie der Geysir von Herliany. Und stopft sich voll wie ein Preuß. (Ab durch Tür 1.) MUTTER  Dušan, hörst du mich? Haben wir jemanden ermordet? VATER  (tritt ein durch Tür 2, setzt sich an den Frühstückstisch) Es sieht wunderbar aus. (ruft) Danke, Šárka. (spricht) Wie in einer Ausstellung. (Schenkt sich Kaffee ein, nimmt einen Bissen.) Leider sieht es nur so aus. (Steht auf und geht.) MUTTER  Eda, du nervst. VATER  Jedes Weib weiß, dass man Frühstück nicht kalt serviert. MUTTER  Du hast dich aber auch redlich bemüht, dass es kalt wird. VATER  Ja, verehrtes Gericht. Ich bin ein Dieb und Mörder. Ich habe die höchste Strafe verdient. MUTTER  Hast zwei Stunden geplanscht. VATER  Willst du Bazillen loswerden, musst du dich zehn Minuten einseifen. MUTTER  Du quälst die letzten Menschen, die dich NOCH lieb haben. Aber jetzt ist Schluss. Ab morgen koche ich nicht. VATER  Gott sei Dank. Ein Wunder, dass wir es noch erleben dürfen. (Ab durch Tür 3.) MUTTER  So? Na warte. Víťka. (Víťka kommt durch Tür 2.) Nicht dass du es ihm aufwärmst. Er bekommt nichts. VÍŤKA  Und Sie, Mutter? MUTTER  Danke. Mir ist der Appetit vergangen. VÍŤKA  (sammelt ruhig alles auf, was sie vorhin auf den Tisch gestellt hat. Zu Dušan, der ihr devot und ungeschickt helfen will und beinahe einen Teller fallen lässt) Kümmere dich um deins. Hast du schon mit deinem Vater gesprochen? DUŠAN  Aber sicher. VÍŤKA  Kanarienvogelhalter, lüge nicht. DUŠAN  Ich habe gesagt: Verzeih, Vater. Ich habe vor dir und vor Gott gesündigt. Er vergoss ein paar Tränen und wir fielen uns in die Arme. Laut Bibel müsste er jetzt ein fettes Kalb opfern. 104


VÍŤKA  Kurzum: Du hast ihm eine Pastete serviert. MUTTER  Was habt ihr ständig mit der Pastete?? VÍŤKA  Dušan erzählt es Ihnen. DUŠAN  Alles Märchen. MUTTER  Jesus Maria, wer ist bei Šárka? DUŠAN Josef. (Rennt in Tür 2.) MUTTER  Ivan! Dušan! Ist sie in Ordnung? DUŠAN  (ruft aus Tür 2) Sie hat sich eingeschlossen. MUTTER  Um Gottes willen, wo? DUŠAN  (ruft) Wie immer. (Hämmert gegen eine Tür im Hausinneren.) Sarah! MUTTER  Heilige Mutter Gottes, Ivan! IVAN  (kommt durch Tür 4 rein) Sie war in der Küche. Total ruhig. MUTTER  In der Küche. Inmitten der Werkzeuge. Vielen Dank auch. Jetzt ist sie im Badezimmer. Kümmer dich darum, dass wir zu ihr kommen. IVAN Sperrhaken. (zu Mutter) Hörst du mich? Habt ihr einen? Das wird schwer. MUTTER  (betet) Lieber Gott. Lieber Gott. IVAN  (zu Mutter) Bohrmaschine. Habt ihr auch nicht? VÍŤKA  Dort ist ein Sicherheitsschloss. (Stellt ruhig das restliche Geschirr und Essen auf das Tablett.) Lass Mama in Ruhe. Beten hilft. IVAN  In den Himmel. Wir wollen ins Badezimmer. VÍŤKA  Wenn du beten würdest, käme dir vielleicht eine Idee. IVAN  Was für eine? VÍŤKA  Wie du sie dazu bringst, dass sie dir aufmacht. (Mit Tablett in beiden Händen ab in Tür 2.) MUTTER  Das ist die Strafe, liebe Víťka. VÍŤKA  Haben Sie keine Angst. Sie tut sich nichts an. MUTTER  Hat sie es dir gesagt? VÍŤKA  Ihre Augen sind verstört. Aber Tod ist nicht darin. (Ab durch Tür 2.) DUŠAN  (schreit hinter der Bühne, so dass man es durch die geöffnete Tür 2 hören kann) Sarah, du blöde Kuh, hör auf mit dem Scheiß und mach auf. IVAN  (schließt Tür 2 hinter Víťka, zu Mutter) „Tod ist nicht darin.“ Kotzt sie dich auch so an? MUTTER  Solche Ausdrucksweisen bin ich nicht gewohnt, Ivan. IVAN  Gib’s doch zu: Du kannst sie nicht riechen. MUTTER  Víťka? Vor allem sie mag uns nicht. IVAN  Ich lese sie wie ein offenes Buch. Ich weiß, was die will. Die würde mit uns kurzen Prozess machen, wenn sie könnte. Wie mit Dušan. Wie war er früher? Fan-

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tastisch. Erstklassiger Richter. Und was hat sie aus ihm gemacht? Einen Fanatiker. Einen verblödeten Kämpfer gegen das blöde Regime. Statt Richter – Lagermeister. MUTTER  Und nach der Wende Minister. IVAN  Schlechter Minister. Alle haben ihn nur belächelt. Und was er als Anwalt verpasst hat, holt er nie wieder auf. MUTTER  Sie weiß, was sie will. Sie ist weise. IVAN  Ja. Ne weise Frau. Ich ahne, warum man solche früher auf dem Scheiterhaufen verbrannte. DUŠAN  (schreit drinnen im Haus) Mach auf, Sarah, oder ich schlag die Tür ein. MUTTER  (schreit ganz laut) Šárka, quäle uns nicht! VATER  (kommt durch Tür 3, bringt den zerbrochenen Schraubstock mit) Heda, jetzt im Ernst: Gib sie her. MUTTER  Mit Šárka sieht es schlecht aus, Eda. VATER  Die Autoschlüssel. (Streckt die Hand aus.) MUTTER  Du willst weg? Wohin? VATER  Sonntagsbummel. Wo fährt man wohl hin mit einem kaputten Schraubstock? MUTTER  Der ist seit zwanzig Jahren kaputt. VATER  Dvořák schweißt den zusammen. MUTTER  Wie oft hat er das schon gemacht? VATER  (streckt erneut die Hand aus) Die Schlüssel. MUTTER  Ivan, bring ihm endlich diese Hebezange oder ich drehe durch. IVAN Hebewinde? MUTTER  Hebewinde, Schraubenklemme, Hauptsache dieses Theater nimmt ein Ende. TAŤÁNA  (ruft hinter der geschlossenen Tür) Schatzi. IVAN  Ja, Schatzi. (rennt in Tür 4, ruft Mutter zu) Rohrzange. Ich hole die. (Macht die Tür zu.) VATER  Du gibst sie nicht her? Gut. (Legt sich den Schraubstock ostentativ auf die Schulter, wankt, lässt den Schraubstock fallen.) Sakrisch. Das letzte Mal war das Ding leicht wie eine Feder. Na, ich versuch’s. Zu Fuß, wenn du es unbedingt willst. MUTTER  Du irrst dich. (Nimmt die Schlüssel aus der Tasche und wirft sie Vater zu.) Was dich betrifft, da will ich gar nichts. VATER  Leibniz? … Lohnt sich immer. Aber Achtung: ein Denker. Schwere Lektüre. Wirst du nicht verstehen. (Sieht Mutter an, um ihre Reaktion abzuwarten, dann schultert er den Schraubstock und marschiert durch Tür 4 aus dem Haus, schließt sie.) DUŠAN  (tritt durch Tür 2 ein) Tür wie zu einer Festung. Solche Situationen hätten die Architekten bedenken müssen. MUTTER  Hört man was? 106


DUŠAN  (schüttelt mit dem Kopf) Ich hoffe, dass sie am Leben ist. MUTTER  (schreit auf) Šárka, du bringst mich um, weißt du das? Šárka! (zu Dušan) Und jetzt? DUŠAN  In normalen Familien ruft man den Schlüsseldienst. MUTTER  Papa fährt hin. Aber waren wir je eine normale Familie? VATER  (kommt durch Tür 4 zurück) Lieber Ivan, die Lage ist extrem. DUŠAN  Du hast auch noch ein Ekzem? Das hat uns gerade noch gefehlt! MUTTER  Dušan, rede normal mit Papa. DUŠAN  Erst wenn er mit mir normal redet. MUTTER  Du kennst ihn doch. DUŠAN Gut. (zu Vater) Was ist hier extrem? Wie immer? (ruft) Peterle, das Autochen hat Aua. Es springt nicht an. Hilf uns. VATER  Welches Peterle? DUŠAN  Unsers. Mit goldenen Händchen. Peterle! (zu „Peterle“) Komm, hab keine Angst. (zu Vater) Ein Riesenlulatsch, was? (zu „Peterle“) Sag schön Guten Tag zu ­Opilein. (Pause für „Peterles“ Reaktion. Zu Vater) Da staunst du, was? (zu „Peterle“) Und jetzt auf Deutsch: Grüß Gott. (zu Vater) Herrliche Aussprache, nicht? VATER  Er redet schon? Mit vier Monaten? DUŠAN  (zu „Peterle“) Peterle, Opilein böse. Mach „winke winke“ und ab nach Hause. MUTTER  Komödianten. Alle beide. VATER  (zu Dušan) Was sagt sie? Welche Heide? DUŠAN  Ne Heide voller Steine. Vorkriegsware. Schwarz angelaufen. Wie im Märchen. VATER  (zu Mutter) Was erzählt er? DUŠAN  Das Peterle? Dass er nicht versteht, was hier abgeht. VATER  Peterle, das ist so. (spricht zu Mutter) Manche Menschen drehen den Wasserhahn ganz fest zu. Schlagen alle Bitten und Erklärungen, warum sie das nicht tun sollten, in den Wind. Das ist fatal. Du kennst das Wort: Femme fatale. Die verhängnisvolle Frau. In vier, fünf Wochen kriegt sie die Dichtung kaputt. Will ich sie auswechseln, muss ich die Wasserzufuhr sperren. Wasserverschluss für das ganze Haus befindet sich im Keller. Zweiundzwanziger Schraube. (zu Dušan) Kluger Junge. Er versteht. DUŠAN  Alle verstehen. Vorwand für Sonntagsterror. VATER  Was sagt er? Lieber Ivan, willst du mir vielleicht helfen? VÍŤKA  (tritt aus Tür 2) Will er, Vater. Er schiebt Sie an. Los, Dušan. DUŠAN  Ist doch Blödsinn. VATER  (als hätte er ihn nicht gehört) Eine Kleinigkeit. DUŠAN  Ich mach hier doch nicht den Kasper. VÍŤKA  Schon wieder eine Pastete für den Kanarienvogel. 107


DUŠAN  Schon gut. Schon gut. Mach ich. (Ab durch Tür 4.) VATER  (ab durch Tür 4) Und ihr meint, frühstücken soll ich im Wirtshaus, ja? (Schließt die Tür hinter sich.) MUTTER  Er versöhnt sich nicht. VÍŤKA  Dušan? Nur durch Wunder. Das mit dem Wirtshaus war hoffentlich nicht ernst gemeint. MUTTER  Auf keinen Fall. Dort schwimmt alles im Fett und ist zu doll gewürzt. VÍŤKA  Dann bereite ich es vor. MUTTER  Das Frühstück? Jetzt bin ich dran. VÍŤKA  Ich mache das gerne. MUTTER  (sieht Víťka prüfend an) Warum haben wir beide uns nie unterhalten? Ich weiß noch, wie du das erste Mal zu uns gekommen bist: verliebt und glücklich. Warum hat sich das geändert? VÍŤKA  Sie haben alle gedacht, ich würde Dušan gegen die Familie aufhetzen. MUTTER  Und war das nicht so? Er liest dir jeden Wunsch von den Augen ab. VÍŤKA  Aber er liest falsch. Und das Wichtigste sieht er überhaupt nicht. (horcht) Šárka! (zu Mutter) Sie hat aufgemacht. MUTTER  Ich höre nichts. Sagt sie was? VÍŤKA  Sie weint. MUTTER  (ruft) Šárka, sei vernünftig. Du weißt, wo du landest, wenn du damit nicht sofort aufhörst! (Hinter Tür 2 klackt es im Schloss.) Was war das? VÍŤKA  (ruhig) Sie hat sich wieder eingeschlossen. MUTTER  Mein Gott. VÍŤKA  Mama, ich hole sie. Aber ich habe eine Bitte. MUTTER  Ich weiß. Dass ich den Mund halte. Víťka ab durch Tür 2, schließt sie hinter sich. MUTTER  Ach mein Gott, mein Gott. TAŤÁNA  (kommt durch Tür 4, schließt sie hinter sich) Guten Tag, Mama. Hoffentlich kann ihm dort nichts passieren. MUTTER  Dem Peterle? Mach dir keine Sorgen. Dušan und Ivan haben dort unzählige Male geschlafen. TAŤÁNA  Ausgestreckt wie Mowgli. MUTTER  Im Gartendschungel. Der elektrische Rasenmäher taugt nichts und den mit Benzinantrieb lehnt Vater ab. Karzinogene Abgase. Geht es ihm wieder gut? TAŤÁNA  Dem Peterle? Ja ja. Schläft wie ein Stein. Und ich bin wie das Märchentier: für eine Stunde wieder ein Mensch. MUTTER  Ach, liebe Taťána, ich würde auch am liebsten einschlafen und nie wieder aufwachen. 108


TAŤÁNA  Wegen Šárka? Wissen Sie, was sie hätte machen sollen? Sich jemanden anlachen. MUTTER  Oh nein. Sie ist fanatisch ehrlich. TAŤÁNA  Sie bestätigen sie darin. Ich hätte Pavel einen Tag nach der Hochzeit Hörner aufgesetzt. MUTTER  Du kennst ihn kaum. Er war anders. Er hat sie geliebt. TAŤÁNA  Woran hat man das gesehen? Brachte er ihr Blumen? Oder Süßigkeiten? MUTTER  Das stimmt. Nettigkeiten, das war nicht seins. TAŤÁNA  Wann hat er sie das letzte Mal geküsst? An Ihrer Stelle würde ich mich freuen, dass er weg ist. MUTTER  Aber sie bleibt für immer allein. TAŤÁNA  Sie muss unter Menschen. Der Richtige kommt noch. MUTTER  Mit fünfzig? Liebe Taťána, Wunder gibt es nicht. TAŤÁNA  Meine Omi hat mit dreiundsechzig zum dritten Mal geheiratet. Aus Liebe. Aber da müssten Sie die Leine locker lassen. „Wie kommt das, Šarilein, dass du um Mitternacht noch nicht zu Hause warst?“ Oder „Ist er über Nacht bei dir geblieben?“ MUTTER  Man muss an die Kleine denken. TAŤÁNA  Ein vierzehnjähriges hübsches Ding. Die freut sich doch nur, wenn sie mehr Freiheit kriegt. Und eine zufriedene Mutter hat gleich mehr Freude am Kind. DUŠAN  (kommt durch Tür 4, schließt sie hinter sich) Grüß dich, schöne Schwägerin. TAŤÁNA  Auch du, großer Schwager, sei gegrüßt. MUTTER  Ist er los? DUŠAN  Kann man so sagen. MUTTER  Ich hatte gehofft, du fährst mit. DUŠAN  Er hat mich verscheucht. MUTTER  Und du hast dich verscheuchen lassen. Sag nichts, ich kenne dich. Du kommst ihm kein Fitzelchen entgegen. DUŠAN  Jawohl, hohes Gericht. Ich bin ein Vatermörder. TAŤÁNA  (zu Dušan) Welchen Umständen habe ich die Anrede zu verdanken? DUŠAN  Dir selbst. Du siehst prächtig aus. TAŤÁNA  Wo du heute so gnädig bist – magst du mir etwas erklären? DUŠAN  Kommt darauf an. TAŤÁNA  Das weißt du doch. DUŠAN  Ein bestimmtes Kapitel aus der Pompschen Geschichte? Welches darf es sein? MUTTER  Das will ich mir nicht anhören. (Ab durch Tür 4, schließt sie hinter sich.) TAŤÁNA  Was hat dir Ivan angetan? DUŠAN  Lassen wir das. TAŤÁNA  Er hatte Angst. Hast du etwa nie Angst gehabt? 109


DUŠAN  Tausendmal. Und ohne Víťka wäre ich genauso dran wie er. TAŤÁNA  Warum reicht ihr euch dann nicht die Hand? DUŠAN  Dafür müsste er vor sich selbst zugeben, was er gemacht hat. TAŤÁNA  Was hat er gemacht? Er war für die Russen. Meine Eltern auch. Du wiederum für die Amis oder wer dich sonst bezahlt hat. Entschuldige, aber so sehe ich das. Die Amis haben gewonnen. Ist deswegen mein Vater ein Lump? Oder Ivan schlechter? DUŠAN  Er hat den eigenen Bruder bespitzelt. Das gilt sogar unter Spitzeln als perfide. TAŤÁNA  Er hatte drei Kinder. Deinetwegen hat man ihm mit Rausschmiss gedroht. Aber ein Spitzel war er nicht. DUŠAN  Als Mitglied der Partei hat er mich beim Vorsitzenden denunziert. Im Verzeichnis steht sein Name nicht, er steckte nicht mit den Bullen unter einer Decke. Trotzdem bleibt er für mich ein Spitzel. TAŤÁNA  Geschadet hat er dir nicht. Er wusste ja nichts von dir. Nur wertloses Zeug. DUŠAN  Zum Beispiel, dass mich mein Vater enterbt hat. Das haben sie gegen mich benutzt. Von wem hatten die das wohl? TAŤÁNA  Nicht von Ivan. DUŠAN  Wer hat gewusst, dass die alten Pompes ihr Testament geändert haben? Meine Schwester und mein Bruder. TAŤÁNA  Er hat auf Peterle geschworen, es keinem gesagt zu haben. DUŠAN  Es tut mir leid, Taťána. Ich verstehe, du liebst ihn. (Bemerkt Mutter in Tür 4.) Lust auf ein anderes Kapitel? Wir hatten einen Onkel, einen Partisanen, die Familie war stolz auf ihn. Er wurde erschossen. MUTTER  (lässt Tür 4 offen) Gott segne ihn. Er schläft. Wie ein Engelchen. DUŠAN  (über seinen Onkel) An diesem Haus müsste er eine Gedenktafel haben. ­Warum hat er keine? MUTTER  Dušan vermischt die Lebenden mit den Toten, um uns zu beschmutzen. (zu Taťána) Hast du gesehen? Er lächelt. Das macht ihm Spaß. DUŠAN  Statt Gedenktafel haben wir diesen Schrank hier. Einen Wunderschrank. Bei allen anderen im Haus sind seit dem Krieg die Schlösser kaputt. Die Rotarmisten haben sie aufgebrochen. Nur dieser Schrank ist in Ordnung. Das Achte Weltwunder: Der Papa hat ihn repariert. Was steckt wohl da drin? MUTTER  Ja, mein Bruder hat hier gewohnt. Eines Tages hat er sich verabschiedet und ist gegangen. VÍŤKA  (kommt durch Tür 2 mit Šárka, diese trägt eine große volle Tasche und stellt sie auf einen Stuhl) Hallo Taťána. Mutter, alles auf gutem Weg. MUTTER  Šárka! Gott sei Dank! (Schließt Šárka in die Arme.) TAŤÁNA  Hallo Schwägerin. Wie geht’s?

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ŠÁRKA  Ich dank’ Euch untertänig: wohl1. DUŠAN  Sie zitiert Klassiker. Hurrah. ŠÁRKA  (immer noch sanft, etwas unnatürlich) Ja. Ich bitte um Entschuldigung. Bei dir, Mama, und auch bei dir, Dušan. MUTTER  Dazu gibt es keinen Grund. ŠÁRKA  Doch. Ich habe mich nicht mehr im Griff gehabt. Aber wie Shakespeare sagt,   „Wenn Hamlet von sich selbst geschieden ist   und, weil er nicht er selbst, Laertes kränkt,   dann tut es Hamlet nicht. Hamlet verleugnet‘s.   Wer tut es denn? Sein Wahnsinn. Ist es so,   so ist er ja auf der gekränkten Seite:   Sein Wahnsinn ist des armen Hamlets Feind.“  (zu Dušan) Richtig? DUŠAN  Glatte Eins. ŠÁRKA  Ich habe eine Bitte: Fährst du mich hin, wenn ich es möchte? DUŠAN  Wie immer. Du sagst – wir fahren. ŠÁRKA  Weißt du was? (Nimmt ihre Tasche.) Lass uns sofort los. MUTTER  Šarilein, wollen wir nicht auf Papa warten? DUŠAN  Warum sollten wir? MUTTER  Dich habe ich nicht gefragt. Deine Meinung kenne ich. DUŠAN  Und ich wiederum die seine … (Fasst sich ans Herz, parodiert Vater.) Gut, wenn sie unbedingt will, soll sie zu den Scharlatanen hingehen, aber nur auf deine Verantwortung. VÍŤKA  Dušan, eure Mutter hat Recht. (Es klopft an Tür 4.) MUTTER Herein. NACHBAR  (kommt durch Tür 4) Entschuldigung, Frau Doktor. Herr Minister …, der Herr Doktor … MUTTER  (erschrocken) Was ist passiert? Wo ist er? NACHBAR  Unten, unterm Berg. MUTTER  Ein Unfall? Lebt er noch? NACHBAR  Der Sprit ist alle. Sie sollen ihm was bringen. Eine Flasche reicht. Auf Wiedersehen. (Ab durch Tür 4.) VÍŤKA  Dušan, Beeilung. (Läuft Nachbar hinterher.) Herr Křenař, einen Moment bitte.

1  Hamlet, Prinz von Dänemark, übersetzt von August Wilhelm Schlegel: zitiert nach (auch die Stelle unten) William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden, herausgegeben von Anselm Schlösser, Band 4, Aufbau Verlag Berlin 1975.

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MUTTER  Los, Dušan, geh zu ihm und sag: Papa, sei mir nicht mehr böse. – Du wirst sehen. Er verzeiht dir. Aber kein Wort von Šárka. Das kläre ich mit ihm. DUŠAN  Es geht schlecht aus, aber ich mach’s. (Ab durch Tür 4.) MUTTER  Wenn ich bloß wüsste, wie ich es ihm sagen soll. ŠÁRKA  (immer noch unnatürlich, halb deklamiert sie, halb spricht sie) Ganz ruhig, Mama. Ich sage es ihm: Papa, ich bin krank. Es liegt in der Familie. Dank deiner Mutter. MUTTER  Sag das bloß nicht. Von wem hast du das? Von Dušan? ŠÁRKA  Das weiß ich auch ohne ihn. Víťka meint, ich brauch mich nicht zu schämen dafür. Aber warum ist es ausgerechnet uns passiert? MUTTER  Das konnte sie dir nicht erklären? ŠÁRKA  Du magst sie nicht. MUTTER Schon. ŠÁRKA  Tust du nicht. Du beneidest sie, weil sie glücklich ist. Ich beneide sie auch. TAŤÁNA  Richtig glücklich sieht sie aber nicht aus. VÍŤKA  (kommt durch Tür 4, schließt hinter sich. In der Hand die Rohrzange, aber verdeckt) Šárka, hilfst du mir? TAŤÁNA  (als Šárka nicht reagiert) Ich bin auch geschickt. VÍŤKA  Dann komm mit. (Ab durch Tür 2.) ŠÁRKA  Warum hat sie aufgehört, uns zu besuchen? Ich erinnere mich, wie Papa schrie: Für mich existierst du nicht. Hau ab. Und Dušan: Du hast dem Henker die Stricke geseift. Und mit der Seife wäschst du dir jetzt die Hände. MUTTER  (hört Šárka nicht zu) Was hat sie da gehabt? TAŤÁNA  (hält in Tür 2 inne) Die Rohrzange. (Ab durch Tür 2.) MUTTER  Um Gottes willen, wofür denn? Wozu? (ruft) Víťka! VÍŤKA  (erscheint in Tür 2) Ja, Mutter. MUTTER  Bitte, mach es mir nicht unnötig schwer. Fass hier nichts an. VÍŤKA  (Rohrschlüssel in der Hand) Selbstverständlich. Nur für alle Fälle. Das Gewinde ist total verschlissen. Dreht jeden Augenblick durch. (Verschwindet in Tür 2.) MUTTER  Was sagt sie? Wer dreht durch? (horcht) Mein Gott. Vater tritt durch Tür 4 ein, schließt sie, sieht Šárkas Tasche und geht rasch in Tür 2. MUTTER  Eda, jetzt muss ich aber wirklich mit dir reden. VATER  (kommt zurück) Es gibt nichts zu bereden. MUTTER  Dušan hat dir einen Bären aufgebunden. VATER Dušan? (Zeigt auf Šárkas Tasche.) Hab Augen im Kopf. Du schickst sie also in die Leichenkammer? Gut. (Verschwindet hinter Tür 2.) DUŠAN  (kommt durch Tür 4 rein) Es war zu erwarten. Er war nicht zu Hause. Dvořák. Was ist, Mama? Läuft es nicht gut? 112


MUTTER  (ruft) Eda! (zu Dušan) Er verlässt uns. Zieht aus. DUŠAN  Reine Komödie. Er erpresst dich. MUTTER  Ich kenn das schon. „Ich nehme nur das Nötigste mit. Für den Rest lasse ich schicken.“ Da verging mir das Lachen. DUŠAN  Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht hast gehen lassen. MUTTER  Du verstehst gar nichts. ŠÁRKA  Warum will mich Papa nicht ins Krankenhaus gehen lassen? DUŠAN  Weil du dich als geistig Kranke scheiden lassen würdest. Das Gericht würde Markéta Pavel zusprechen und sie würde eines Tages einen Teil des Hauses erben. Kapiert? Ein Stück von diesem gottverdammten Haus würde an Pavels Familie übergehen. Und einmal vielleicht das ganze. MUTTER  Sag nicht „gottverdammt“. ŠÁRKA  (zu Dušan) Das ist eine juristische Spekulation. DUŠAN  Papa ist ja Rechtsanwalt. Ein ausgezeichneter dazu. Das hat er schon einmal demonstriert. An mir. Man hatte mich noch nicht mal eingesperrt und schon hat er veranlasst, dass – sollte man mich verhaften und mein Besitz an den Staat fallen – ich nichts von diesem verwunschenen Schloss erbe. MUTTER  Es ist nicht verwunschen. Wir leben hier seit fünfundfünfzig Jahren und zwar gut. Auch du hast hier gerne gelebt. Erst nach der Hochzeit hast du gegen das Haus Groll gefasst. Du weißt noch, wie weh es mir getan hat. Euer Marek war gerade zwei, er hat nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt. Ihr seid abwechselnd mit ihm die Straße auf und ab gelaufen. Noch nicht einmal richtig sprechen konnte er, aber er schrie schon: schwarz. Das Haus ist schwarz. DUŠAN  Stimmt ja auch. MUTTER  Er hat nur wiederholt, was ihr ihm eingeflüstert hattet. DUŠAN  Kinder spüren so etwas. Das Haus ist schwarz. ŠÁRKA  (verwirrt, als würde sie erst jetzt allmählich begreifen, worum die Rede geht) Mir ist es nie schwarz vorgekommen. Erst heute. Víťka und Taťána treten durch Tür 2 ein und bringen auf Tabletts das Frühstück, decken den Tisch. MUTTER  Víťka, er isst nicht mit. Er will einfach kein gemeinsames Frühstück. VÍŤKA  Wir gucken mal. Vater kommt durch Tür 2, lässt sie offen, hält ein Köfferchen in der Hand. ŠÁRKA  Papa, geh nicht. Geh bitte nicht weg. VATER  Ich nehme nur das Notwendigste mit. Für den Rest lasse ich schicken. (Langsam geht er auf Tür 4 zu.) MUTTER  Geh mal. Ihr könnt alle gehen. Auch ich werde nicht bleiben. Wenn ich ­wüsste, wie das geht, würde ich mich ganz davonmachen. 113


Šárka rennt zum Einbauschrank und schlägt mit voller Wucht den Kopf gegen die Schranktür. Alle starren sie an. Šárka wiederholt den Angriff. VÍŤKA  (springt zu Šárka, umarmt sie und versucht, sie an weiteren selbstmörderischen Attacken zu hindern. Šárka schlägt um sich, aber Víťka hält sie fest und redet auf sie ein wie auf ein Kind) Šárka. Das darfst du nicht. Beruhige dich. Bleib ganz ruhig. (Šárka sträubt sich immer noch, lässt sich aber allmählich beruhigen, Víťka hält sie in den Armen und streichelt sie.) MUTTER  Eda, was macht sie? VATER  Lasst sie in Ruhe. Sonst bringt ihr sie wirklich um den Verstand. Ist es das, was ihr wollt? Bitte. Bringt sie zu den Scharlatanen. Aber auf eure Verantwortung. MUTTER  Die Tablette. Sie hat vergessen, eine zu nehmen. DUŠAN  Aspirin. Tut Wunder. Gibt ihr zwei. MUTTER  Taťána, sie sind in der Küche. Weiße Dose. Gelbe Tablette. Und Wasser. Man muss sie mit viel Flüssigkeit einnehmen. Taťána rennt in Tür 2. VÍŤKA  (ruft ihr hinterher) Kein Wasser. Es gibt Tee dort. Dreh kein Wasser auf. ŠÁRKA  (weint) Ich will keine Tabletten. Ich will nichts. Ich will nicht leben. TAŤÁNA  (schreit hinter der Bühne, man hört sie durch die offene Tür) Hilfe! Überflutung! MUTTER  Taťána!! Eda! Geht doch jemand hin! (Man hört Wasser auf den Fußboden plätschern.) TAŤÁNA  (hinter der Bühne) Die Sintflut. VATER  Da haben wir’s. Sie hat das Gewinde abgerissen. DUŠAN  (wie für sich, aber so, dass die anderen ihn hören können) Endlich. Wunder im schwarzen Haus. VÍŤKA  (bedeutet Dušan, Šárka zu übernehmen) Dušan, komm her. Und keine Pastete. (Steht auf, Dušan setzt sich zu Šárka auf den Boden und Víťka eilt zu Tür 2.) DUŠAN  (hält Šárka in den Armen) Mitten in der Wüste sprudelt eine Quelle hervor. Eine Pastete kommt in der Legende nicht vor. VÍŤKA  Das wollen wir mal sehen. (Verschwindet in Tür 2.) MUTTER  Dich betrifft das nicht, Eda? VATER  Nein, ich bin nicht hier. Bin nie hier gewesen. DUŠAN  (bemerkt, dass die Schranktür gelockert wurde, und versucht sie zu öffnen) Obwohl wir keinen Karfreitag haben, tut sich der Felsen auf. VÍŤKA  (kommt aus Tür 2, lässt sie offen, geht rasch mit Rohrzange in der Hand zur Tür 3, lässt sie offen und ruft Dušan zu) Nicht herumpasteten. Sie rennt dir weg. MUTTER  (zu Vater) Wie peinlich, Eda. Geradezu lächerlich. Worauf wartest du? Geh doch. Aber komm nicht zurück. Was guckst du? Ich lasse mir nicht mehr das Leben vermiesen. Geh. 114


VATER  (bekommt es mit der Angst) Was sagt sie? Das Ding ist verrostet. Das kriegt keiner auf. DUŠAN  (widmet seine ganze Aufmerksamkeit der Schranktür, rüttelt an ihr) Sesam, öffne dich, verdammt noch mal! Šárka nutzt Dušans Ablenkung, schubst ihn zur Seite, reißt sich los, steht auf und rennt in Tür 2, knallt sie zu und dreht den Schlüssel im Schloss. DUŠAN  (bleibt verdutzt auf dem Boden sitzen) Sarah! VATER  Die hat nichts. Das kommt von der ganzen Philosophiererei. Ich habe gesagt: Studiere Jura. MUTTER  Taťána, haltet sie fest. TAŤÁNA  (schließt Tür 2 auf, betritt die Halle) Keine Chance. Sie ist stark wie ein Kerl. Irgendwo im Haus knallt eine Tür, dann noch eine, ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Erst jetzt bemerken alle, dass sie von Stille umgeben sind. Das Wasser rauscht nicht mehr. DUŠAN  (öffnet die Schranktür. Dahinter eine unverputzte Wand) Gedenktafel à la Pompe. Hier, liebe Schwägerin, war mal eine Tür. Am Kriegsanfang versteckte sich dort der unerschrockene Partisanen-Onkel. Übrigens kein Partisan, sondern Rechtsanwalt und Jude. Seine Frau ließ sich 1941 von ihm scheiden, ihm drohte das Konzentrationslager. Über die Grenze konnte man nur noch gegen Geld, das hatte er aber nicht. Er bat seine Schwester und seinen Schwager um Hilfe. Aber auch sie hatten keins. Sie hätten das Haus verkaufen müssen. Das wäre aber schade gewesen. Also begab er sich aufs Geratewohl zur Grenze. In den Tod. Das Haus lieferte ihn freiwillig aus. VATER  (steht immer noch mit dem Köfferchen in der Hand in der Tür 4) Alles Märchen. VÍŤKA  (mit Rohrzange in der Hand kommt sie durch Tür 3, macht sie zu, sieht sich um. Zu Taťána) Ist sie im Badezimmer oder in der Küche? TAŤÁNA  Im Bad. Hat zweimal abgeschlossen. VÍŤKA  (zu Dušan) Dušan. (Geht zu ihm und tut, als würde sie ihm mit der Rohrzange eine überbraten wollen.) Du ekliger, geschwätziger Bösdušan. DUŠAN  Entschuldige. Das tut mir leid. VÍŤKA  Tut es nicht. Du freust dich. (Deutet mit der linken Hand an, dass sich Dušans Nasenflügel geweitet haben.) Wie ein Hund auf der Fährte. DUŠAN  Falls du Šárka meinst, ich habe sie nicht mit Absicht laufen lassen. VÍŤKA  Selbstverständlich. Der Kanarienvogel hat sich selbst die Pastete geholt. (Tut, als möchte sie mit der Rohrzange Dušans Nase greifen.) Aber da bist du jetzt zu weit gegangen. MUTTER  Víťka, was machst du? TAŤÁNA  Du reißt ihm die Nase ab. VATER  Lieferte ihn aus. Freiwillig. Alles Märchen. 115


VÍŤKA  Er hätte verdient, dass man ihm was Größeres abreißt. (Lässt die Hand mit der Rohrzange sinken und geht in Tür 2, beim Gehen schließt sie die Schranktür, die zugemauerte Öffnung wird wieder unsichtbar. Zu Taťána) Hilfst du mir aufzuräumen? Komm. (Taťána folgt ihr, Dušan auch, Víťka dreht sich zu ihm um.) Du nicht. Dich will ich nicht. IVAN  (kommt durch Tür 4, in der Hand eine Rohrzange, zu Vater) Das Nibelungenschwert. Original Solingen. (Sieht sich um, bemerkt das Frühstück, auch die halb­ offene Schranktür.) Frühstückt ihr etwa? Und unser Ermittler? Ist die Anklage schon verlesen worden? Lasst euch nicht stören. Guten Appetit. ENDE TEIL EINS

TEIL ZWEI Ort, Personen und Zeit wie am Ende von Teil eins. VATER  Guten Morgen, lieber Ivan. Wo hast du die Taťána gelassen? Und wie geht es dem Peterle? (Greift nach der Rohrzange.) Original Solingen ist die allerdings nicht. (Legt die Rohrzange zwischen Teller und Tassen auf den Tisch.) Hast du Hunger? Aber Vorsicht – das hier empfehle ich nicht. Ist aufgewärmt. Und kalt. DUŠAN  Meine Frau serviert das Essen frisch und warm. VATER  Aufgewärmt und kalt. DUŠAN  (schreit) Frisch und warm. MUTTER  (laut, um drohende Kollision abzuwenden) Lasst das. Eda, du stehst vor einem wesentlich schwerwiegenderen Problem. VATER Sicher. (Stellt den Handkoffer ab.) Wo nehmen wir die nächsten vier Wochen das Wasser her. IVAN  (zu Vater) Warum vier? VATER  Weil wenn sie nicht die Originalbatterie von Bosch haben (spricht Bosch als Bosch aus) – und die werden sie nicht haben und eine andere will ich nicht … DUŠAN  Er geht sie auch dort kaufen, wo es die nicht gibt. VATER  … dauert es vier Wochen, bis sie aus Deutschland geliefert wird. Was sagt er? DUŠAN  Die richtige Aussprache lautet nicht „Bosch“, sondern „Bos“. VATER  Was sagt er? IVAN  (winkt ab) Er debiliert.

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DUŠAN  Wie man als gebildeter Mensch weiß, war der berühmte PhantasmagorienMaler Hieronymus Bosch (spricht es Bos aus) kein Deutscher, sondern Niederländer. VATER  (zu Dušan) Lieber Ivan, hast du vielleicht eine Zisterne? DUŠAN  Eine Wasserzisterne? Wie viele brauchst du? Zehn? VATER  Hast du? DUŠAN  Das Schlafzimmer steht voll, der Rest ist in der Küche und im Wohnzimmer. VATER  Dann bring sie her. Zur Sicherheit. Falls die Firma Bosch meine böse Vorahnung bestätigen sollte. Eine kleine Weile – ihr werdet mich nicht sehen. Eine kleine Weile – ihr werdet mich sehen. (Ab durch Tür 4.) DUŠAN  Wie immer, wenn es um etwas geht. VATER  Was sagt er? (Kommt zurück, zu Mutter) Wenn Dušan kommt, erinnere ihn daran, was Křenař für einer ist. DUŠAN Was? VATER  Mistkerl. Erpresser. Teutonenschwein. DUŠAN  Sogar Teutonenschwein. VATER  (zu Mutter) Was Šárka betrifft, da haben wir eine Abmachung. (Ab durch Tür 4.) MUTTER  (ruft ihm hinterher) Vergiss nicht das Notwendigste. Für den Rest lässt du schicken, nehme ich an. Vater will zu seinem Handkoffer, winkt dann ab und marschiert ohne Koffer durch Tür 4 aus dem Haus, lässt die Tür offen stehen. VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, sieht erschrocken und ängstlich aus, durch den Luftzug geh die Schranktür vor der Ziegelwand auf) Mama, sie antwortet nicht mehr. Sie hat sich etwas angetan. MUTTER  Gut, Víťka, hol ihn. Lauf schon. Víťka rennt durch Tür 4 hinaus, lässt sie offen stehen. IVAN  Den Nachbarn? Da wird sich Papa freuen. (Schließt die Schranktür, sie geht ­wieder auf.) Ihr Blick durchdringt jede Tür. Unsere weise Víťka – unser WoodooGuru. DUŠAN  Ein Punkt für unseren Witzbold. Josef übertrifft sich selbst. IVAN  Mutti, wenn er noch einmal „Josef“ zu mir sagt, schlag ich ihm die Zähne aus. MUTTER  Dušan, ich bitte dich inständig. DUŠAN  Was verlangt man von mir? Josef ist ein normaler Name. Auf jeden Fall ehrlicher als der ganze slawische Krampf: „Ivan“. „Dušan“. Opa Polák aus Boskovice hieß Josef. Der Josele. Leider ein Jude. IVAN  Warum verheimlicht ihr unser Judentum, Mutti? Jetzt geben sich auch solche für Juden aus, die keine Juden sind. MUTTER  Fang auch du damit an. DUŠAN  Das ist eben die Frage, ob wir Juden sind. 117


IVAN  Alle denken das. DUŠAN  Was alle denken, muss nicht immer stimmen. Beweis? Mama hat den Krieg zu Hause überlebt. IVAN  Weil Papa zu ihr gehalten hat. Sich nicht scheiden lassen. Er hat sich wie ein echter Kerl benommen. MUTTER  Wechselt das Thema, ja? DUŠAN  (zu Mutter) Ist das immer noch Tabu? Dann entschuldige bitte. DUŠAN  Nach Mutter sind wir Juden. Nach Vater nicht. Aber es gibt noch eine Version. Nach der sind wir auch nach Mutter keine Juden. Dafür gibt es Belege. IVAN  Welche? Und wo? DUŠAN  Frag nach ihnen. Aber Achtung. Ich habe es versucht. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren. Und wie ist es ausgegangen? Er hat mich rausgeschmissen. MUTTER  Ein anderer Vater hätte dich halbtot geprügelt. DUŠAN  Was habe ich gesagt? Dass er seinen Schwager vors Hinrichtungskommando geschickt hat. Stimmt das etwa nicht? Víťka kommt durch Tür 4 mit Nachbar im Schlepptau, der über die Schulter eine Ledertasche mit Werkzeug trägt. Er redet mit Víťka, die hinter ihm die Tür schließt. NACHBAR  Hundertprozentig, junge Frau. Jedes Schloss lässt sich knacken. Sagen die Diebe. Guten Morgen, Frau Doktor. Wo ist denn das gute Stück? MUTTER  Mein Mann hat dort ein deutsches eingesetzt, Herr Křenař. Damit man den Zylinder nicht aufbohren kann. NACHBAR  Deutsch oder nicht deutsch, so was kriegen wir ratzfatz auf. (Geht hinter Víťka durch Tür 2, Dušan folgt ihnen.) IVAN  Ich gebe zu Protokoll, dass ich nicht einverstanden bin. (Ab durch Tür 2, schließt sie hinter sich.) MUTTER  Gott steh uns bei. (Betet leise, im Hintergrund hört man die Bohrmaschine brummen, dann wird es still.) DUŠAN  (kommt durch Tür 2, lässt sie offen) Schluss. MUTTER  Muttergottes, wie geht es ihr? DUŠAN  Schluss mit lustig. IVAN  (kommt durch Tür 2, lässt sie offen) Was hab ich gesagt? Schloss zerfetzt – blinder Alarm. DUŠAN  Sie hat Tabletten geschluckt. Ein halbes Röhrchen. IVAN  Wollte sie schlucken. Alles nicht der Rede wert. Mutter steht auf. DUŠAN  Geh da nicht hin. Sie spuckt. IVAN  Quatsch. Sie hat nichts zu spucken. Neurotische Reaktion.

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NACHBAR  (kommt durch Tür 2 herein) Fertig, Frau Doktor. Und sollte was sein, dann brauchen Sie nur zu sagen. Ich dachte … na, ich bring die einfach vorbei. (Bemerkt Mutters Angst und geht rasch durch Tür 4.) IVAN  Was schleimt der sich ein … DUŠAN  (redet zu Mutter) Kann mir mal einer sagen, was ihr gegen ihn habt? IVAN  Vater wird seine Erfahrung gemacht haben. Mehr muss ich nicht wissen. DUŠAN  Weil er hätte helfen können und nicht geholfen hat? IVAN  Wer wem? Und wann? DUŠAN  Im Krieg. Er wollte fünfundzwanzigtausend dafür. MUTTER  (zu Dušan) Wo hast du das her? IVAN  Verstehe ich nicht. DUŠAN  Ich habe einen anonymen Brief bekommen. Sie hätten gemeinsam in der Zugbrigade gedient, Křenař und sein Vater. Den ganzen Krieg lang. Sie fuhren in die Slowakei. Für jeden Juden, den sie über die Grenze gebracht haben, haben sie fünfundzwanzigtausend im Voraus kassiert. Aber unser Partisanen-Onkel hatte das Geld nicht. Was meint ihr – hat ihm jemand was geliehen? VÍŤKA  (tritt durch Tür 2 herein, stützt Šárka, den Arm um ihre Schultern gelegt. Taťána folgt ihnen) Šárka hat sich entschieden, Mutter. Dušan, los geht’s. Wir fahren. ŠÁRKA  Schreibt nach Heidelberg. Ende der Illusionen. Doktorat Ade. MUTTER  Sag das nicht. Du schreibst denen selbst. ŠÁRKA  Warum? Das ändert nichts. Ich bin ein Krüppel. VÍŤKA  Bist du nicht. ŠÁRKA  Schwarzes Schaf der Familie. Weit und breit nur Musterschüler, Doktoren, Minister und dazwischen eine Missgeburt. Ein missratenes Nichts. TAŤÁNA  Ich hab bloß Abi. Mit Hängen und Würgen. Was bin ich dann? Ivan sagt: die schlechteste Gerichtsschreiberin im ganzen Bezirk. ŠÁRKA  Du bist eine Mutter. Und ich? Katastrophe in Person. Bitte, zwingt mich nicht. Ich schaffe das nicht. MUTTER  Wer zwingt dich wozu? ŠÁRKA  Nicht mal für mich kann ich sorgen. Geschweige denn für sie. MUTTER  Du willst Markéta nicht? Das höre ich zum ersten Mal. Gut. Du bekommst sie nicht. ŠÁRKA  Das sagst du jetzt. Aber einen Moment später sagst du etwas anderes. Ich krieg sie zugesprochen. Die werden den Richter bestechen. DUŠAN  Wer? Papa? ŠÁRKA  In erster Linie Ivan. DUŠAN  Das letzte Wort hast hoffentlich du. ŠÁRKA  Du hast gut reden. Dir können sie nichts anhaben. Ich bin auf sie angewiesen. 119


TAŤÁNA  Šárka, was sagst du da? IVAN  Wer hat dir den Stuss erzählt? ŠÁRKA  Ich weiß alles. Habe alles verstanden. IVAN  Du plapperst fremden Unsinn nach. TAŤÁNA  Wie kannst du dein eigenes Kind aufgeben. ŠÁRKA  Bitte fahrt mich dahin. Direkt dorthin, wo ich hingehöre. (Nimmt die Tasche in die Hand.) NACHBAR  (klopft an Tür 4, kommt herein) Ich hatte eine zu Hause liegen. (Hält eine verchromte Küchenbatterie hoch.) Kein Bosch. Sondern Myjava. Gebraucht. Aber hält ne Weile. Ich bau sie ein. Wenn der Herr Doktor erlaubt. VÍŤKA  Vielen Dank, Herr Křenař. Das bekommen wir schon hin. NACHBAR  Wirklich? Sind Sie Klempner? VÍŤKA  Ungelernt, aber mit Erfahrung. NACHBAR  Wie die Dame beliebt. Hier noch die Dichtung und ein bisschen Werg. Zum Schluss Vaseline drauf. (Legt die Batterie, eine Dose mit Vaseline und das Werg auf den Boden in der Nähe des Konferenztischchens.) VÍŤKA  Wird gemacht. NACHBAR  Und noch was: Alte Rohre mögen keine Druckänderungen. Wenn man das Wasser schließt – und wieder anlässt, platzen sie gerne. Nur damit Sie sich nicht erschrecken. MUTTER  Vielen Dank, Herr Křenař. NACHBAR  (zu Víťka) Und was die Sache von vorhin betrifft, junge Frau: Sie denken daran, oder? VÍŤKA  Verlassen Sie sich darauf. NACHBAR  Falls irgendwas ist: Ich bin zu Hause. Sie brauchen nur zu rufen. (Ab durch Tür 4, macht zu.) DUŠAN  Nun aber dalli. (Ab durch Tür 4, Víťka und Šárka folgen ihm.) IVAN  (zu Šárka) Du hast mich enttäuscht, Šárka. Ich dachte, du liebst dein Mädchen. ŠÁRKA  (bleibt vor Tür 4 stehen, kehrt um, Víťka folgt ihr) Tue ich das etwa nicht? IVAN  Du bist egoistisch. Willst allein sein. Aber du bist nie allein gewesen. Sobald du merkst, wie das ist, wirst du es bereuen. TAŤÁNA  (bemerkt Šárkas Reaktion auf Ivans Worte) Sei nicht zu hart zu ihr, Ivan. Bring es ihr nett bei. IVAN  Die beraten dich nicht gut, Šárka. Weder der Herr Minister noch die Heilige Víťka. Du weißt nicht mehr, wie es im Spital zugeht. Aber ich weiß es noch. Aus heiterem Himmel kriegten wir einen Anruf: Sie liegt im Koma. Der Professor bestand nur aus Latein. Eine außerordentliche Störung. Man könne sie behandeln, aber zu riskant. Also sollten wir Abschied von dir nehmen. Du lagst reglos im Bett mit einundvierzig 120


Fieber. So was kommt nicht von einer Stunde auf die andere. Die haben an dir weiß der Teufel was getestet, es dann verpennt und ein Konsilium einberufen. Vater hat sie durchschaut. Scharlatane sind das. Bleib schön zu Hause. VÍŤKA  Das ist nicht wahr, Ivan. Du erzählst nicht alles. (ruft) Dušan. TAŤÁNA  (zu Víťka) Es stimmt. IVAN  (zu Víťka) Du bist diejenige, die ihr nicht alles erzählt. Das Wichtigste hast du verschwiegen: die grauenvolle Behandlungsmethode. Die sie wieder einsetzen werden. ŠÁRKA  Was? Werden sie es wieder so machen? Nein. Das nicht. In Amerika ist das verboten. Elektroschocks. Ihr habt keine Ahnung. Man kriegt was auf die Schläfen geschmiert, Elektroden angelegt – und peng. Beim Aufwachen weiß man nicht mal, wer und wo man ist. Man hat weder schlechte noch gute Gedanken. Fühlt sich absolut leer, total verlassen. Wie ein Neugeborenes. Man schreit. Unerträgliche Beklemmung. DUŠAN  (tritt durch Tür 4 herein) Sarah, hör auf zu plappern und komm. ŠÁRKA  Warum nennst du mich Sarah? VÍŤKA  (zu Dušan) Danke, Kumpel. Pastete im passenden Moment. ŠÁRKA  Er erinnert mich daran, dass ich eine Jüdin bin. Warum? Ivan hat Recht. Ich denke darüber nach. VÍŤKA  Periodische Katatonie kann man nur mit einem Schock lösen. IVAN  Mutti, du darfst nicht erlauben, dass sie sie weiter bearbeitet. ŠÁRKA  Ich bin keine Katatonikerin. DUŠAN  Wie es im Buche steht. VÍŤKA  Dušan, Seelchen, rede nur vom Wetter. ŠÁRKA  Warum? Damit er mich nicht aufregt? Ich bin total entspannt. (Zeigt auf das Essen auf dem Tisch.) Isst jemand mit? (Alle stehen verlegen herum.) Ihr wartet auf Papa, ich verstehe. Ich kann aber nicht. Hab jetzt schon Bauchschmerzen. (Sieht sich auf dem Tisch um.) Gibt es hier kein Messer? VÍŤKA  (reicht Šárka ein Besteckmesser) Hier. ŠÁRKA  Ein scharfes. MUTTER Víťka. ŠÁRKA  Im Haus gibt es mindestens fünf. VÍŤKA  Tut mir leid. Ich habe kein einziges gefunden. ŠÁRKA  Ich verstehe. Du willst nicht, dass ich mir etwas antue. Aber das habe ich nicht vor. Ja, dass mich Pavel verlassen hat, das hat mich schon traurig gemacht. Verzeiht, falls ich euch erschreckt habe. Aber ich reiße mich zusammen und werde es überwinden. Glaubt mir bitte. Und hört auf, mich mit dem ständigen Aufpassen

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zu erniedrigen. Ich bin keine Lügnerin. Ich habe Hunger. Sei so lieb, Víťka. (Streckt die Hand aus.) IVAN  Hast du gehört, Schwägerin? TAŤÁNA  Sie hört sich doch vernünftig an. IVAN  Gibst du es ihr oder nicht? Mutti. MUTTER  Víťka, ich finde, Ivan hat Recht. VÍŤKA  Das finde ich nicht, aber wo die Messer sind, das weiß ich nicht. IVAN  Jemand hat sie versteckt. VÍŤKA  Dann soll der Jemand sie zurückbringen. Ich mag keine Versteckspiele. DUŠAN  Letztes Wort, Mama: Sarah soll nicht ins Krankenhaus? MUTTER  Papa und ich haben abgemacht, dass wir sie gegen ihren Willen nicht hinschicken. Ich sehe keinen Grund, mich darüber hinwegzusetzen. DUŠAN Gut. (Ab durch Tür 2, kommt sofort zurück mit fünf scharfen Messern in der Hand, wirft sie auf den Tisch zwischen das Essen.) Ab jetzt ist Josef für die Behandlung zuständig. IVAN  (macht einen Schritt auf Dušan zu und schickt ihn ohne Vorwarnung mit einem Kinnhaken zu Boden) Reicht‘s? Oder willst du mehr? MUTTER  Ivan, lass ihn. DUŠAN  (steht langsam auf) Ganz ruhig. Er darf wütend sein. Im Gegensatz zu euch erinnert er sich an die Geschichte. Als wir klein waren, hat uns Papa die erzählt. Josef war ein Gerichtsdiener. Sobald der Chef ihn sah, rief er: Josef, erzähl einen Witz. Josefs Witze taugten nicht viel, aber der Chef versuchte damit zu kaschieren, dass Josef blau war. Und das war der von morgens bis abends. IVAN  (leise) Du Arsch. (Will Dušan, der fast schon wieder auf den Beinen steht, einen Tritt verpassen.) TAŤÁNA  (geht dazwischen) Nein, Ivan. Sonst denkt er, dass er ins Schwarze getroffen hat. (zu Dušan) Du wolltest Ivan verpfeifen, großer Schwager, mir klarmachen, dass er gesoffen hat. Aber ich weiß das. Er hat damit aufgehört. Seit fünf Jahren ist er trocken. MUTTER  Das will ich hoffen, Ivan. Sonst bringst du dich unter die Erde. DUŠAN  Hoffen kannst du. Ich merk so was. Heute früh hat er zwei Kurze runtergekippt und als er die Rohrzange holen war, noch zwei. Jetzt bräuchte er eine dritte Ladung. VÍŤKA  (wischt Dušan Blut von der geplatzten Lippe) Pastete mit Überraschung. IVAN  Aber Taťána hat sie nicht gefressen. (zu Dušan) Hau ab. DUŠAN  Du hast mich hier nicht wegzuschicken. Víťka, wir fahren los. (Víťka reagiert nicht.) Auf Wiedersehen in schlechteren Zeiten. (Ab zur Tür 4.) MUTTER  Fahrt nicht, Dušan. Wir haben noch nicht alles gesagt. DUŠAN  (kommt zurück) Durchaus. Das ist ein todbringendes Haus. 122


VÍŤKA  Dušan, bitte, hör auf mit dem Pastetenzeug. Šárka verlässt unbemerkt, mit einem Tellerchen in der Hand, den Raum durch Tür 2. DUŠAN  (hat Víťka nicht gehört) Fünfundzwanzigtausend. Hättest du’s verkauft, hättest du zehn Mal so viel bekommen. MUTTER  Ich durfte nicht. Das Gesetz erlaubte es nicht. DUŠAN  Er hat es dir verboten. Er hat gedroht, sich scheiden zu lassen. Und du hast nachgegeben. MUTTER  Stand das auch in dem anonymen Brief? DUŠAN  Es ist immer die gleiche Geschichte. Neunzehnachtunddreißig haben euch deine Eltern gebeten, mit ihnen nach Amerika auszuwandern. Ohne euch hatten sie nicht die Traute. Ihr wäret ihre Rettung gewesen. Aber ihr wolltet nicht. Man hätte das Haus verkaufen müssen. Drei Jahre später war es die gleiche Geschichte mit deinem Bruder. (zu Taťána) Dann fünfunddreißig Jahre später die nächste Runde. Alle sind sie gekommen. Die ganze Familie. Von Josef (zeigt zu Ivan) samt Gattin angeführt. Die fühlte sich aber nicht wohl und ist weggerannt. Willst du wissen, warum sie mich besucht haben? Damit ich auf mein Erbe verzichte. Sollten mich die Kommunisten einsperren, würde mein Besitz an den Staat fallen. Auch das Drittel des Hauses, das ich eines Tages erben würde. Glaubst du immer noch, dass sie Šárka nur für ihr Bestes zu Hause halten und nur für das Beste von Markéta vors Gericht ziehen wollen? Alles Märchen. Sie wissen sehr gut, was mit Šárka los ist und wo sie hingehört. Aber es geht ums Haus. Immer nur um das Haus. Und ich Idiot komme hierher und glaube, sie hätten sich geändert. Unsinn. Bei einer Beerdigung mache ich nicht mit. Tschüss. (Ab durch Tür 4.) TAŤÁNA  (zu Ivan) Falls das stimmt, Schatzi, dann ist das irre. IVAN  Er ist irre. TAŤÁNA  Weißt du, wie es gewesen ist? MUTTER  Dušan, komm sofort zurück. DUŠAN  (kommt zurück) Víťka, du bleibst? VÍŤKA  Ein paar Stunden, vielleicht ein paar Tage. DUŠAN  Verlorene Liebesmüh. Hat sie schon Zwetajewa rezitiert? Und La Dama Del Alba? Nein? Das kommt noch – danach schneidet sie sich. Du wirst das nicht verhindern können – und genau das werden sie dir dann vorwerfen. Dich zum Mitmörder machen. Wem nicht zu raten ist, dem soll man nicht helfen. VÍŤKA  Dir ist nicht zu helfen. Fahr allein. DUŠAN  Ohne dich auf keinen Fall. VÍŤKA  Wie viele waren es? (Sucht auf dem Tisch, dann unter dem Tisch, hebt die ­Wasserbatterie auf.) MUTTER  Messer? Fünf. 123


VÍŤKA  Es liegen nur vier hier. Eins hat sie mitgenommen. (Rasch ab durch Tür 2.) MUTTER  Aber sie ist ruhig. (Ab durch Tür 2, ruft drinnen) Sie ruht sich einfach aus. DUŠAN  Sie ruht sich aus und dann bekommt ihr was geboten. (Bleibt kurz stehen, wirft einen Blick auf die Uhr und geht dann durch Tür 4 hinaus.) TAŤÁNA  Jetzt klär mich auf: Wie ist es gewesen? IVAN  Mit dem Haus? Keine Ahnung. Will es nicht wissen. Das Alte Testament sagt: Du sollst nicht die Schande deines Vaters offenbaren. TAŤÁNA  Du weißt, was ich wissen will. IVAN  Ich schwöre, ich habe nicht getrunken. TAŤÁNA  Seit heute früh bist du wahnsinnig nervös. Du hast mich sogar ans Steuer gelassen. Zum ersten Mal, seit wir zusammen sind. Warum? IVAN  Weil sie uns nicht wegen Versöhnung zusammengetrommelt haben. Es steckt was anderes dahinter. Ich ahne was. Und ertrage es nicht. TAŤÁNA  Dann bediene dich. Du bist wieder reingeschlittert, wie ich sehe. (Greift in seine Brusttasche und holt einen Flachmann raus.) Trink. Aber morgen ab zum Therapeuten. IVAN  Seit fünf Jahren ist mir das nicht passiert und es wird weitere fünf nicht ­vorkommen. TAŤÁNA  Es ist ein Rückfall. Du rufst in der Klinik an. IVAN Okay. (Trinkt und versteckt die Flasche in der Brusttasche.) Du hast mein Wort. Mach ich. VÍŤKA  (kommt aus Tür 2, geht mit Rohrzange in Tür 3) Šárka ist eingeschlafen. Fest wie nach einem Anfall. TAŤÁNA  (wartet, bis Víťka hinter Tür 3 verschwunden ist und sie geschlossen hat, dann öffnet sie Tür 4 und guckt hinaus) Er schläft. Aber er macht mir Sorgen. Wenn er krank ist? IVAN  Peterle? Quatsch. Wie krank? TAŤÁNA  Marek soll beim Essen auch Krämpfe gehabt haben. IVAN  Wieso „auch“? (Zeigt auf Tür 3.) Du hast mit ihr darüber geredet? Du hörst ihr zu? Krämpfe. Wenn einer Krämpfe hat, dann sie. VÍŤKA  (kommt aus Tür 3, Rohrzange in der Hand) Das Wasser läuft wieder. IVAN  Ich warne dich, Schwägerin. Hier spielst du definitiv nicht die erste Geige. VÍŤKA  Die Myjava einzusetzen hat Mutter erlaubt. IVAN  Wenn Vater zurückkommt, erlebt ihr euer blaues Wunder. Aber ich sag dir eins: Hetz Taťána nicht gegen mich auf. VÍŤKA  (zu Taťána) Hab ich dich aufgehetzt? TAŤÁNA  (zu Ivan) Schatzi, hör sofort auf.

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IVAN  (zu Taťána) Entschuldige, Schatzi. Aber wenn mit Peterle was ist, dann merke ich das selbst. (ruft) Wie sieht es mit dem Familienrat aus, Mutti? Wann fangen wir an? MUTTER  (kommt aus Tür 2) Nach dem Frühstück. IVAN  Bei Familienratssitzungen gibt es kein Frühstück. Also wird nicht getagt. MUTTER  Gut, ich sag es dir. Vater und ich wollen das Testament ändern. Dušan soll genauso viel erben wie ihr beiden. Unter der Bedingung, dass er Reue zeigt. IVAN  Ihr gebt mir hoffentlich Bescheid, wenn er so weit ist. MUTTER  Darauf kannst du dich verlassen. VÍŤKA  Aber Dušan will nicht erben, Mutter. Da sind wir uns einig. MUTTER  Ihr wollt keinen Anteil am Haus haben? Warum? VÍŤKA  Šárka soll es bekommen. Das ganze Haus. IVAN  Eine ausgezeichnete Idee. Und ich? VÍŤKA  Du und Dušan, ihr seid imstande, Geld zu verdienen. Aber Šárka kann von den Nibelungen nicht leben. IVAN  Ich habe auch für sie genug. MUTTER  Warte. Du zahlst für drei Kinder. Šárka bekommt im besten Fall eine Invalidenrente. VÍŤKA  Angenommen, sie wäre so drauf wie heute. Würdest du mit ihr zusammenwohnen wollen? IVAN  Darauf kannst du Gift nehmen. MUTTER  Sieh das mal realistisch, Ivan. Wenn Vater und ich nicht mehr da sind, kann sie die obere Etage vermieten. Sie kann vom Haus leben. Und es bleibt sogar etwas für eine Pflegerin übrig. IVAN  Jetzt ist es also raus. Ihr wollt mich raushaben. Schön habt ihr euch das überlegt. MUTTER  Wir haben uns nichts überlegt. VÍŤKA  Das ist uns erst heute Morgen eingefallen. IVAN  Ihr wisst, was das für mich heißt? Bis zum Tode im Plattenbau hocken. Nein. Wenn ihr mich enterbt, ziehe ich vors Gericht. MUTTER  Keiner enterbt dich. Du trittst einfach deinen Anteil an Šárka ab. IVAN  (ironisch) Freiwillig. VÍŤKA  Taťána, was sagst du dazu? TAŤÁNA  Das ist Ivans Sache. VÍŤKA  Hast du keine Meinung dazu? TAŤÁNA  Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. IVAN  Das, Schwägerin, ist unser letztes Wort. Hast du verstanden, Mutti? Aus dem Haus hört man zerberstendes Glas. MUTTER  Sie ist aufgewacht. Šárka. (Geht zur Tür 2, zu Víťka) Was war das? 125


VÍŤKA  (überholt Mutter, rennt durch Tür 2 hinaus) Sie hat ein Glas zerdeppert. TAŤÁNA  Hör mal, Schatzi. Würdest du wirklich deine Eltern verklagen? IVAN  Ich würde gewinnen. Das Recht ist auf meiner Seite. TAŤÁNA  Aber das Haus gehört ihnen. Sie können es schenken, wem sie wollen. IVAN  Das hat Víťka auch gesagt, als sie Dušan enterbt haben. Und der Idiot hat auf sie gehört. TAŤÁNA  Schrei nicht so. Es ist ein schönes Haus. Es ist am besten, wenn Šárka es bekommt. IVAN  Schatzi, entschuldige bitte, aber das ist meine Sache. TAŤÁNA  Ich verstehe, du magst es. Aber ich möchte hier nicht wohnen. Und mich magst du hoffentlich mehr. (horcht) Das Peterle. (Ab durch Tür 4.) IVAN  (folgt ihr) Wir reden noch. (Schließt hinter sich und Taťána die Tür.) ŠÁRKA  (tritt ein durch Tür 2) Glaub mir, Víťka. Mir ist nichts. VÍŤKA  Dann gibt es mir zurück. ŠÁRKA  Das Messer? Es liegt dort, wo es hingehört. VÍŤKA  Schlag es dir aus dem Kopf, Šárka. Ich erlaube es nicht. ŠÁRKA  Rein theoretisch: Wer gibt dir das Recht dazu? Es ist mein Leben. Wenn es mir bis zum Hals steht? VÍŤKA  Es ist nicht nur deins. ŠÁRKA  Wem gehört es noch? Meinen Eltern? Die werden es schon überleben. Haben schlimmere Gifte verdaut. VÍŤKA  Wärest du nicht krank, würde ich sagen, du bist eine Ignorantin und ein undankbares Balg. ŠÁRKA  Weil ich meinen Vater und meine Mutter nicht ehre? Mal ehrlich: Ehrst du sie? VÍŤKA Selbstverständlich. ŠÁRKA  Vater Pompe und Mutter Pompeová? Ich verstehe nicht. Weil es der Pfarrer gesagt hat? VÍŤKA  Gott hat ihnen sehr viel auferlegt. Davor kann ich mich nur verneigen. ŠÁRKA  Du hast gut dich verneigen, wenn es dir gut geht. Während ich jede Nacht mein Leben Revue passieren lasse. Auch das ihre. Und was sehe ich? Eine monströse Familie. Solche Leute gehören nicht geboren. Und wenn sie schon da sind, sollten sie keine Kinder haben. VÍŤKA  Darauf hast du Gott sei Dank keinen Einfluss. ŠÁRKA  Aber etwas schon. Mutti. (Mutter kommt langsam durch Tür 2 herein.) Erinnerst du dich an das alte Märchen? Komm, lies es mir vor. Weißt du welches? „Gut, dass es den Tod gibt.“ Keine Panik, wir führen nur einen philosophischen Disput. Was guckst du so? Suchst du es auch? Ich brauche es nicht. Hier ist es. (Zieht das Küchenmessen hervor und stößt es in Tür 2. Ab, macht die Tür hinter sich zu.) 126


MUTTER  Was sagst du dazu? VÍŤKA  Sie ist sehr, sehr krank. MUTTER  Oder verwöhnt. Hysterisch. Böse. Aber gesund. VÍŤKA  Ich finde, sie dissimuliert. MUTTER  Mein Gott, das hat Maman gemacht. Wenn es ihr am schlechtesten ging, behauptete sie felsenfest, es würde ihr wunderbar gehen. Wir sind immer wieder drauf reingefallen. VÍŤKA  (öffnet Tür 2, guckt hinein und horcht, dann schließt sie die Tür wieder) Sie schreibt etwas. Ihr seid eine seltsame Familie. MUTTER  Du meinst erblich belastet? Ja, meine Schwiegermutter war manisch-depressiv. Als Eda und ich geheiratet haben, hat sie sich zwei Mal aufhängen wollen. Damals war ich noch nicht „unbehilflich“. Ich habe eine Klinik gefunden. Eine ausgezeichnete Klinik. Diskret. Aber Eda wollte nichts davon hören. „Maman ist in Ordnung.“ Sie hat bei uns gewohnt. Wir haben für sie gesorgt. Sie war eine Tyrannin ohnegleichen. VÍŤKA  Dušan sagt, die Deutschen hätten sie umgebracht. MUTTER  Kurz vor dem Krieg, als ich im sechsten Monat war, da konnte ich nicht mehr. „Eda“, sagte ich, „so geht es nicht. Entweder sie oder ich.“ Er sagte: „Frau Dr. Poláková“, ja, wie früher, bevor wir geheiratet hatten, ich stand also mit dem Bauch vor ihm und er sagte: „Frau Dr. Poláková, Sie haben die Scheidung gewählt.“ Ich darauf: „Herr Dr. Pompe, ich erwarte Ihren Anwalt.“ Ich meinte es nicht ernst, er auch nicht, aber ich setzte mich durch. Maman kam in die Anstalt. Drei Jahre später stürzte dort die Gestapo hinein und spritzte alle Patienten tot. Seither hasst er mich. VÍŤKA  Ich würde sagen, er mag Sie immer noch. (Öffnet Tür 2, horcht und späht hinein, dann macht sie sie zu.) Auf eine sonderbare Art. MUTTER  Er ist ohne Mutter aufgewachsen. Wurde von Pflegemüttern erzogen. Heiraten lehnte er kategorisch ab. Dafür habe ich ihn unbedingt haben wollen. Verzweifelt. Habe mich seinetwegen taufen lassen. Er sah ein bisschen wie Harold Lloyd aus. Aber als Rechtsanwalt war er ein Star. Er hielt Vorlesungen an der Fakultät. Imponierte allen. Ich habe bei meinen Eltern alle Ersparnisse erbettelt und das Haus gebaut. Seit er ein Kind war, hatte er sich ein eigenes Haus gewünscht. Ich wollte ihm diesen Wunsch erfüllen. Mit diesem Haus habe ich ihn mir gekauft. Es gab eine große Hochzeit und es folgte eine große Strafe. Nur eins habe ich bis heute nicht akzeptiert: dass die Strafe auch Šárka traf. Ich wollte nicht sehen, dass die Krankheit erblich ist, und ich will es auch jetzt nicht sehen. Aber ganz blind bin ich nicht. Leider.

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ŠÁRKA  (steckt den Kopf aus Tür 2) Blinde Kuh, ich führe dich. Wohin? In die Wüste, wehre dich. Gegen wen. Es gibt ja der Hunde viel, davon jeder dich beißen will. Wenn sie dir zu mächtig sind, flieh vor ihnen wie der Wind. (Schließt die Tür.) MUTTER  Sie lauscht. VÍŤKA  Helfen Sie mir, sie in den Krankenwagen zu bekommen? MUTTER  Nachdem sie aus Heidelberg zurück war, hat es das gleiche Theater gegeben wie jetzt. Freiwillig wollte sie nicht. Man hat sie fesseln müssen. VÍŤKA  Mit Dušan sind wir zu dritt, das schaffen wir schon. MUTTER  Meine Liebe, ich verspreche dir alles, was du willst. Aber sobald Eda wieder da ist, sobald ich sein „Was sagt sie?“ höre, kann ich für kein Versprechen mehr garantieren. Man hört Glas zerschellen. VÍŤKA  Wenigstens wissen wir, womit sie es machen will. (Zieht das Messer aus Tür 2.) MUTTER  Ja, Víťka, ich bin „unbehilflich“. Bitte verlass uns nicht. Víťka bekreuzigt sich, verlässt den Raum durch Tür 2 und macht sie zu. VATER  (kommt durch Tür 4) Zwei Monate. So. Zweimonatige Lieferfrist. Ein Skandal. Ich frage: Das sagen Sie als Angestellter der Firma Bosch? Und sie: Wir sind ein Hypermarket. Fahren Sie nach Wien, tausend Schilling und fertig. – Dreifacher Preis für eine Batterie. Bin ich etwa ein Dieb? MUTTER  Reg dich nicht auf, Eda. Wasch dir die Hände. (Ab durch Tür 2.) VATER  (folgt ihr) Ihr habt Wasser? Hat Ivan die Zisterne gebracht? ŠÁRKA  (kommt aus Tür 2 heraus, geht auf Tür 4 zu) Hast du Marina Zwetajewa gelesen? VÍŤKA  (folgt ihr rasch aus Tür 2) Ein paar Gedichte. ŠÁRKA  Am liebsten mag ich das „Nach Jahren zu Hause“. Schwesterlein, such ab das Haus nach meinem Verbleib / Wir spielen wie früher … Hab keine Angst./ Such mich, fang mich – hab ich dich geleimt? /Bin schon dort, wo du nicht hinlangen kannst. – Schön, oder? Vater tritt durch Tür 2 ein. MUTTER  (folgt Vater durch Tür 2) Eda, das darfst du nicht. (zu Víťka) Was sagt sie? VÍŤKA  Nichts Gutes. ŠÁRKA  Sie schrieb das und hängte sich auf. MUTTER  Mein Gott. VATER  Was ich darf oder nicht, das bestimme ich. (Nimmt die Rohrzange vom Tisch.) VÍŤKA  (zu Šárka) Gib sie mir. ŠÁRKA  Was schon wieder? VÍŤKA  Du weißt schon. ŠÁRKA  Machen wir ein Pfandspiel? Gut. Das Pfand, das Pfand in meinem Kopf, was soll es tun? Beichten? Von wegen! 128


MUTTER  Was hat sie da? VÍŤKA  Eine Scherbe. (Ab durch Tür 2, macht sie zu.) MUTTER  Mein Gott. Eda, es gibt Dringlicheres. VATER  (ab durch Tür 3) Sicher. Du handelst hinter meinem Rücken. MUTTER  Ich hab’s gut gemeint. Die zwei Monate hätte sie geholfen. Als Provisorium. VATER  (kommt zurück) Nicht eine Minute. Eine Myjava wird es hier nicht geben. Das nächste dringende Problem ist ihre Herkunft. Steckt vielleicht der Herr Nachbar dahinter? Und wer hat sie eingebaut? Auch er? Mutter schüttelt den Kopf. VATER  Also wer? Wer war so dreist? MUTTER Ich. (Stellt sich vor Tür 3.) VATER  Das soll ich glauben. Lass mich durch. MUTTER  Erst wenn du versprichst, sie nicht abzubauen. VATER  Die Myjava werfe ich dem Křenář auf den Kopf. MUTTER  Und ich muss wieder das Wasser im Eimer schleppen. Wie neunzehnfünfundvierzig. Darum geht es dir. Darauf freust du dich. VATER  Dann merkst du dir das wenigstens. (Macht einen Schritt auf Mutter zu, die ihm den Zugang zur Tür 3 verstellt.) MUTTER  Du hast mir also nicht verziehen. VATER  Schreib dir das hinter die Ohren: Wasserhähne dreht man sanft zu. Sag es mir nach. MUTTER  Wir stecken beide da drin. Ich habe dir das Haus angeboten. Du hast es genommen. VATER  Zum letzten Mal frage ich, wer sie eingebaut hat. Wer wollte mich lächerlich machen? Wer hat die grenzenlose Frechheit besessen? Gut. Ich finde es heraus. MUTTER  Eda, bitte, lass sie in Ruhe. VATER  Was sagst du? MUTTER  Du hast ihr schon genug Beleidigungen an den Kopf geworfen. Du kannst sie nicht ausstehen. Mich hast du damit auch angesteckt. Seit Jahren redest du nicht mit ihr. Warum? Ich sage es dir: Víťka ist dein schlechtes Gewissen. Als Dušan ins Unglück kam, hat sie ihm beigestanden. Aber als mir das KZ drohte … VATER  Alles Märchen. MUTTER  … hast du eine Pistole auf den Tisch gelegt und einen Abschiedsbrief geschrieben. Heimlich, aber so, dass ich es entdeckte. VATER  Genuschel. Verstehe kein Wort. MUTTER  Und als ich ihn fand – was hast du vorgeschlagen? Dass wir gemeinsam sterben. Du hast die Pistole vor mich gelegt und gesagt: Sei nicht „unbehilflich“. Es ist ganz einfach. Schieß. – Du wusstest, dass ich es nicht schaffe. Du hast nicht 129


einmal an unseren Sohn gedacht. Du hast dein Köfferchen gepackt: „Ich nehme nur das Nötigste. Den Rest lasse ich holen.“ Deswegen habe ich das gemacht. Die furchtbare Sache. VATER  Sentimentaler Kitsch. Hatte ich schon zehnmal auf dem Teller. MUTTER  Nie. Über das Schreckliche habe ich nie gesprochen. VATER  Was zehnmal? Hundertmal. MUTTER  Nie. Denn hätten es die Kinder gehört, hätten sie dich nie wieder sehen wollen. Aber wenn du jetzt nicht aufhörst, wenn du Víťka ihren Besuch versaust, wenn du sie verjagst, wie du immer alle verjagt hast, die uns besucht haben … VATER  Mach keine Tragödie daraus. (Schiebt Mutter zur Seite, geht durch Tür 3 durch und lässt sie offen stehen.) Ich tue ihr nichts an. Ich bau sie nur aus. MUTTER  … dann erzähle ich das. Hörst du mich, Eda? VATER  (hinter der Bühne) Ich hör dich nicht, Heda. MUTTER  Was machst du? VATER  (hinter der Bühne) Ich arbeite. MUTTER  Du verlässt dich darauf, dass ich es nicht sage. Aber du irrst dich. Diesmal werde ich es tun. (Geht zu auf Tür 2, ruft verzweifelt) Eda! VATER  (parodiert Mutters Intonation) Heda! MUTTER  Ein böser Mensch. Böse wie der Teufel. (Ab durch Tür 2, macht sie zu.) VATER  (kommt durch Tür 3 und schließt sie) Myjava. Nachdem die Barbaren die Kirche verunreinigt hatten, musste sie neu geweiht werden. (Mit der Rohrzange in der Hand bewegt er sich auf Tür 2.) ŠÁRKA  (kommt durch Tür 2, läuft neurotisch auf und ab, als wüsste sie nicht, wohin sie gehen soll. Zu Víťka) Kannst du Spanisch? VÍŤKA  (folgt ihr durch die Tür, lässt sie nicht aus den Augen) Kein Wort. ŠÁRKA  Dušan wird dir erklären, was in der andalusischen Folklore „Dama Del Alba“ bedeutet. Sie kommt zwischen vier und fünf Uhr morgens. Erleichterung, Befreiung, Ruhe. VÍŤKA  Šárka, warte mal. Wer soll das sein? ŠÁRKA  Das möchtest du wissen, nicht? Aber das ist ein Geheimnis. Und hör auf, mich zu beschatten. Lass mich in Ruhe. (Ab durch Tür 2.) VÍŤKA  (ruft dringlich) Dušan! (Eilt Šárka durch Tür 2 hinterher.) IVAN  (kommt durch Tür 4, trägt eine vollgekotzte Stoffwindel, rennt in Tür 1, bleibt dort kurz, dann kommt er wieder raus, aber ohne die Windel) Verdammt noch mal. (schreit) Schwägerin. Hast du’s angemacht oder nicht? Hörst du? Das Wasser. VATER  (kommt durch Tür 2) Da musst du, lieber Ivan, zur Zisterne. IVAN  Ich dreh durch. Bin total vollgekotzt. MUTTER  (kommt durch Tür 2) Ich bitte dich Eda, sei vernünftig. 130


VATER  Was verlangt man von mir? MUTTER  Dass du mit dem Theater aufhörst. Wenigstens solange die Kinder hier sind. VATER  Und das Wasser anlasse? Kommt nicht in Frage. MUTTER  Für fünf Minuten. Oder zehn. TAŤÁNA  (ruft außerhalb der Bühne) Schatzi! Wir können los! IVAN  Ja, Schatzi. (zu Vater) Vater, Taťána ist deinetwegen völlig durch den Wind. Mach mal halblang. VATER  Lieber Ivan, bist du auch gegen mich? VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, hat es eilig, trägt zwei leere Eimer, ruft) Dušan! MUTTER  Wohin des Weges? VÍŤKA  Er bringt es. (ruft lauter) Dušan! MUTTER Wasser? VÍŤKA  Wir werden es brauchen. Sie haben es mir selbst angeboten. MUTTER  Wer? Die Křenařs? Dazu willst du uns, Eda, doch nicht zwingen. VATER  Was sagt sie? IVAN  Spar dir die Mühe, Schwägerin. Das hat keinen Sinn, Mutti. Nicht unseretwegen. (Dreht sich um zur Tür 4, will gehen.) TAŤÁNA  (ruft hinter der Bühne) Schatzi! Fahren wir oder nicht? IVAN  Wir waschen uns zu Hause. (ruft) Es geht los. (Ab durch Tür 4.) VÍŤKA  (horcht) Šárka! MUTTER  Du lässt sie gehen, Eda? Willst du wirklich alles kaputt machen? VATER  Wessen Glut entfachen? MUTTER  Despotischer Tyrann. Lass das Wasser an oder du kriegt was zu hören. VATER  Gut: für zehn Minuten. Aber lasst es selbst an. Könnt ihr das? Könnt ihr nicht. MUTTER  Víťka, hast du noch die Hebezange? VÍŤKA  Ein Moment, Mutter. (Horcht an Tür 2.) Šárka! (Die Stille ängstigt sie.) Dušan! (Als sie keine Antwort bekommt, rennt sie mit den Eimern in der Hand in Tür 2.) VATER  So, Heda, lüg mich das nächste Mal nicht an. Eine Rohrzange kannst du nicht mal benennen, geschweige denn benutzen. Mir war sofort klar, wer mir ins Handwerk gepfuscht hat. MUTTER  Sie ist ein Wunder, Eda. Siehst du das nicht? Auf der ganzen Welt ist sie die Einzige, die gut zu uns ist. (ruft) Víťka. Alles in Ordnung? VÍŤKA  (hinter der Bühne hinter Tür 2) Alles gut, Mutter. VATER  Von ihr war es Rücksichtlosigkeit, von dir Unwissenheit. Das Rohr ist alt und braucht gefühlvollen Umgang. Fremde dürfen es auf keinen Fall berühren. (Mit Rohrzange in der Hand ab durch Tür 3.) Nach kurzer Pause hört man Wasser auf den Boden rauschen. MUTTER  Jungfrau Maria. 131


VATER  (nach weiterer Pause rennt er aus Tür 3, pudelnass. Hinter ihm eine Flutwelle. Vater schließt rasch die Tür) Was habe ich gesagt? Sie hat es kaputt gemacht. Sie hat das Rohr so behandelt, dass es geplatzt hat. Und ich Esel geh euch noch an die Hand. Jetzt seid ihr verloren. Leider ich auch. MUTTER  Mein Gott. (zu Vater) Sieh mich nicht an, Eda. Ich wollte das nicht. Etwas in mir flüsterte mir ein: Bald gibt es ein Malheur. Ich bat sie: Víťka, fass nichts an. Aber sie ist schlimm. Sie handelt und dann erst denkt sie nach. VATER  Ein halbes Jahrhundert hat es gehalten und es wäre noch einmal so viel drin gewesen. Vorkriegsqualität. Original Solingen. Ein einziges selbstbewusstes Individuum reicht und alles ist vorbei. MUTTER  Kann man es nicht anhalten? VATER  Das Wasser? Probier’s. Wenn es dir in die Augen schießt. Unter Wahnsinnsdruck. Das schafft keiner. MUTTER  Bei den Wasserwerken anrufen? VATER  Häusliche Unfälle interessieren die nicht. MUTTER Víťka! VÍŤKA  (off) Einen Augenblick, Mutter. Fünf Minuten. MUTTER  Mein Gott, womit hast du uns gestraft. VATER  Das ist lange nicht alles. Der Rest kommt erst. Das Haus wird feucht. MUTTER  (ruft) Herr Křenař! VATER  Zerfällt vom Grund auf. Stürzt ein. Auf unsere alten Tage landen wir im Heim. NACHBAR  (kommt durch Tür 4) Herr Doktor, gestatten Sie? MUTTER  Eda, er ist ein Fachmann. VATER  (reicht ihm die Rohrzange) Meinetwegen, es ist ohnehin alles vorbei. NACHBAR  Richtig. Ist gleich fertig. (Betritt Tür 3, der Wasserstrom, der gegen die Tür prasselt, schießt ihm entgegen.) VATER  Er schafft das nicht. Wunder gibt es nicht. Der Wasserstrom versiegt, es wird ganz still. NACHBAR  (kommt durch Tür 3) Fünfundfünfzig Jahre. Das Rohr. Hat nicht unser Durchhaltevermögen. Jetzt nimmt man welche aus Kunststoff. Die halten ewig. Wie gesagt: Wenn es Interesse gibt und der Herr Doktor uns sein Vertrauen schenkt … (Gibt Vater die Rohrzange zurück.) MUTTER Eda. VATER  (nimmt die Rohrzange) Mich brauchen Sie nicht zu fragen. Vertrauen? Hab ich nicht. Hab gar nichts. Ich bin am Ende. MUTTER  Es gibt Interesse, Herr Křenař, und Vertrauen auch. NACHBAR  Ich schick meinen Sohn vorbei. (Ab durch Tür 4.) MUTTER  (ruft) Víťka. (zu den anderen) Dort ist was passiert. 132


VATER  Moment. Alle hierher. IVAN  (kommt durch Tür 4, sieht die Verwüstung) Was los? Ist ja wie bei der Titanic. VATER  Jetzt ist keine Zeit für zynische Witze. Taťána kommt durch Tür 4, hat ein anderes Kleid an. VATER  Auch nicht für Modeschau. IVAN  Entschuldige, dass sie nicht vollgekotzt kommt. VATER  Ruhe. Notiert euch: Material – Zuleitungsrohr, zwei Zoll. Nahtlos mit beidseitigem Gewinde. Sechs Meter lang. Stahl. Sagt ihm das. Oder seinem Sohn. Oder dem, den ihr bestellen wollt. Ich gebe auf. Dem bin ich nicht gewachsen. Übrigens: Heda, richte deiner wunderlich netten Schwiegertochter aus, wenn ich zu allen und somit also auch zu ihr rede, sollte auch sie anwesend sein. MUTTER  (ruft) Víťka! (zu den anderen) Etwas ist passiert. Víťka! VÍŤKA  (off) Gleich, Mutter. Nur noch ein Minütchen. VATER  Was sagt sie? Sei’s drum. Ich bin es gewohnt, dass man mich ignoriert. Seit über fünfzig Jahren versuche ich dieses Haus vor dem Untergang zu schützen. Dem habt ihr heute die Tür geöffnet. Mein Kampf ist zu Ende. Ich habe nur eine Bedingung: Er soll mir hier nicht mit der Sense herumschlendern. Ich weiß zu gut, dass der Tod naht, auch ohne ihn. Nach heute sogar noch besser. Das ist mein letztes Wort. Wer mir was sagen will, der mache sich klar, dass ich nichts höre und nichts hören will. Bin soeben gestorben. Gute Nacht. (Nimmt das abgestellte Handgepäck und verlässt den Raum durch Tür 2, knallt sie hinter sich zu. Die Schranktür, die den zugemauerten Eingang versteckt, geht definitiv auf.) VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, sehr ruhig) Es ist nur ein Kratzer. Alles wird gut. MUTTER  Herr im Himmel. (Bewegt sich auf Tür 2 zu.) VÍŤKA  Sie möchte, dass ihr sie in Ruhe lasst. Sie will keinen sprechen. MUTTER  Ivan, du fährst sie. VÍŤKA  Der Krankenwagen ist gleich da. MUTTER  (ruft) Šárka, was hast du dir gedacht! Haben wir dich denn nicht lieb genug gehabt? VÍŤKA  (zu Mutter) Psst. TAŤÁNA  (zu Ivan) Sie hätte verbluten können. Wir hätten sie beinahe umgebracht. IVAN  Du übertreibst. (Taťána reagiert gereizt.) Entschuldige. VÍŤKA  Sie hat ein paar Nachrichten hinterlassen. Ihr sollt Pavel nicht im Wege stehen, wenn er sich um Markéta kümmern will. Und als man Dušan enterbt hat, wurde sie nicht gefragt. MUTTER  Ach mein Gott, mein Gott. Das bringen wir in Ordnung. TAŤÁNA  Das machen wir. (Flüstert Ivan etwas zu.) IVAN  Später, Schatzi. Wir reden in Ruhe darüber. 133


TAŤÁNA  Entschuldigung, Schatzi. Wenn dir was an mir liegt, redest du jetzt. Nein? Also sage ich das. (an alle) Ivan ist einverstanden. IVAN  (an alle) Es ist eine gewisse Möglichkeit. (zu Taťána) Reicht das, Schatzi? TAŤÁNA  Das Haus wird Šárka bekommen, stimmt‘s, Ivan? IVAN  Sicher, Schatzi. Reg dich bloß nicht auf. NACHBAR  (kommt durch Tür 4, trägt einen Wasserkanister) Ein bisschen Wasser. Und der Krankenwagen ist da. Auftritt zwei Sanitäter mit einer Trage. VÍŤKA  Guten Tag, meine Herren. (Führt sie in Tür 2.) IVAN  Wir verabschieden uns, Mutti. Taťána fühlt sich nicht wohl. Auf Wiedersehen. (Ab durch Tür 4.) MUTTER  Ivan, Taťána. Mein Gott, was für ein Tag. TAŤÁNA  Auf Wiedersehen, Mutter. (ruft zum Abschied) Šárka. Sanitäter bringen Šárka auf einer Trage durch Tür 2, beide Handgelenke bandagiert, der rechte Ellbogen mit breitem Gummiband abgeschnürt. ŠÁRKA  (mit schwacher Stimme) Seid nicht böse. Ein nächstes Mal. MUTTER  Was sagt sie? VÍŤKA  (kommt durch Tür 2, trägt Šárkas Tasche) Sie hat eine Depression. Das wird wieder. TAŤÁNA  Auf Wiedersehen, Víťka. (Ab durch Tür 4.) MUTTER  Šárka. Ich bin „unbehilflich“. Jemand sollte mit ihr mit. VÍŤKA  Ich, Mutter. (Reicht dem Nachbarn die Rohrzange.) Vielen Dank, Herr Křenař. NACHBAR  Nicht der Rede wert. Na, jetzt passt es nicht. Aber wenn Sie mal daran denken … Sanitäter tragen Šárka durch Tür 4 aus dem Haus, Nachbar begleitet sie. VÍŤKA  Auf Wiedersehen, Mutter. Und noch was: Bis morgen wird sich euer Unkraut bei den Nachbarn ausgebreitet haben. MUTTER  Auf Wiedersehen, Víťka. Ich bete für dich. VÍŤKA  Er würde es gerne mähen. Herr Křenař. Ohne Lärm. Mit der Sense. (Geht langsam auf Tür 4 zu.) Ist das in Ordnung? MUTTER  Wo ist Dušan? Was hast du gesagt? Ja, soll er machen. Mit Gottes Hilfe. DUŠAN  (kommt durch Tür 4, begegnet dort Víťka) Víťka, kann ich helfen? Víťka geht ohne zu reagieren an ihm vorbei, macht die Tür zu. DUŠAN  (öffnet Tür 4) Víťka! (Macht Tür 4 zu, kaut.) Verdammt. Die ist ganz schön sauer. MUTTER  Du warst was essen, was? DUŠAN  Vor lauter Hunger hatte ich Bauchschmerzen. MUTTER  Das kenn ich. Aber ich durfte nicht sauer werden. Ich hatte Angst. Um mich, vor allem aber um dich. 134


Vater macht Tür 2 auf und horcht durch den Spalt. MUTTER  Hätte Eda sich von mir scheiden lassen, wärest du mit mir ins Gas gegangen. Er war vor lauter Angst ja fast unzurechnungsfähig. Dušan sieht Vater in der Türspalte und gibt Mutter Zeichen, dass sie entweder aufhören oder Rücksicht nehmen soll. MUTTER  Nein, nein, du sollst Bescheid wissen. Ich wusste, er würde sich scheiden lassen. Sein Beichtvater hat mich gewarnt. Deswegen habe ich es gemacht. Ich habe meine eigenen Eltern angeklagt. Habe im Gerichtssaal auf sie gezeigt und gesagt: Das ist nicht mein Vater, das ist nicht meine Mutter. Beide haben es bestätigt. Sie haben einen Gerichtsgutachter gekauft. Er hat festgestellt: Diese Person weist keine Merkmale der jüdischen Rasse auf. Sie haben zwei Leute gefunden, die mich für ihre uneheliche Tochter erklärt haben. Meine Eltern hätten mich von ihnen übernommen. Eine schöne Geschichte, oder? Sie haben sie sich selbst ausgedacht und bezeugt. Bis heute sehe ich sie – den Stern auf dem Mantel, die Vorladung zum Transport in der Tasche – dem Urteil lauschen. Es lautete, ich sei keine Jüdin. Willst du es immer noch sehen? Als ich es damals Eda gezeigt habe, sagte er: „Das hättest du nicht machen dürfen, Heda. Das ist eine Sünde.“ Ja, nach dem Krieg hätte ich ihn rausschmeißen sollen. Wir waren keine Familie, sondern die Hölle. Vater zieht sich hinter Tür 2 zurück, beim Schließen klappert es. MUTTER  (dreht sich um zur Tür 2, öffnet sie) Eda. (Schließt Tür 2.) Hat er mich gehört? DUŠAN  (nickt) MUTTER  Was soll’s. So ist es gewesen. Wenigstens musst du keine Anonyme mehr bemühen. (Im Hausinneren erklingt ein Schuss.) Jesus Christus. (Bricht zusammen.) DUŠAN Papa. (Rennt in Tür 2.) MUTTER  Nein, nein. Das lässt du nicht zu. Gott, steh uns bei. VATER  (kommt durch Tür 2, sieht niedergeschlagen aus.) Schrei nicht, Heda. Ich höre sowieso nichts. MUTTER  Um Gottes willen, Eda, wer hat geschossen? VATER  Der alte Pistolero. MUTTER  Ich danke dir, Herr. Das habe ich nicht gewollt, Eda. So war es nicht gemeint. VATER  Ich schon. Parabellum Kaliber sieben-Punkt-fünfundsechzig. Deutsch. Läuft wie neu. DUŠAN  (kommt durch Tür 2, leise) Er hat sich den Kragen durchschossen. MUTTER  Zum Glück hat er schlecht gezielt. VATER  Er hat gut gezielt. Aber im letzten Moment die Waffe zur Seite gerissen. Er hat es nicht geschafft. MUTTER Eda. (Umarmt Vater.) DUŠAN  Vater. Hörst du zu? 135


MUTTER  Er hört zu. Sag es ihm nett. DUŠAN  Ich war ein Idiot. Entschuldige, bitte. VATER  (dreht sich um zu Dušan) Für immer gut. (Reicht ihm die Hand.) MUTTER  Gepriesen sei der Herr. VATER  (hält immer noch Dušans Hand in seiner) Wir beide haben uns schließlich nie was angetan, oder, lieber Ivan? (Ihre Hände trennen sich, Vater ab durch Tür 2.) Und wo sind Taťána und das Peterle abgeblieben? Bring sie das nächste Mal mit. MUTTER  Eda, ich flehe dich an, fang nicht wieder damit an. (zu Dušan) Seinetwegen drehe ich eines Tages noch durch. Verstehst du ihn? Immer muss er einen Kasper machen. DUŠAN  Dir wollte ich auch sagen: Wenn du mir verzeihen kannst, verzeih mir bitte. MUTTER  Schwamm darüber. Geht zu Víťka. Knie hin und bitte um Vergebung. Vor allem – bessere dich. Sonst verlierst du sie. DUŠAN  Pass auf dich auf. Ach ja – die Hausschlüssel. (Zieht den Schlüsselbund aus der Tasche.) Vater wollte sie zurück. MUTTER  Das gilt nicht mehr. Ihr kommt doch wieder. Was, wenn wir die Klingel nicht hören? DUŠAN  (steckt die Schlüssel wieder ein, ruft) Auf Wiedersehen, Vater. (Stille, Dušan geht langsam durch Tür 4 hinaus.) MUTTER  Er muss es verdauen. Das nächste Mal redet ihr. Und dann machen wir einen Ausflug. Auf den Medlán. Bis zur Kapelle. Wie früher, als ihr klein wart. Alles fügt sich, alles wird wieder gut. (Ab durch Tür 2.) Eda, willst du endlich frühstücken? Nachbar taucht, noch bevor Mutter in der Tür verschwunden ist, vor der Bühne auf, nimmt die Sense von der Wand und schreitet mit ihr über die Schulter durch das Publikum. Das Licht bleibt am Blatt hängen. Nachbar pfeift die gleiche atonale Melodie wie zu Beginn des Stückes. Der Vorhang fällt. ENDE

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Petr Kolečko

POKERFACE Aus dem Tschechischen von Rhea Krčmářová


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I. SMRT / DER TOD 1988. Das junge Mädchen Jana und der etwa fünfzigjährige Mann František (Franta) sitzen in einem spärlich eingerichteten Raum und spielen Karten. Er hat ein weißes Hemd an, sonst nichts, er ist vielleicht an irgendwelche medizinischen Geräte angeschlossen, sie ist angezogen wie ein Hippiemädchen. František sieht schrecklich aus, er krächzt und röchelt ein wenig, hustet ein bisschen und dreht sich mit einem Aufjammern ein wenig herum, damit er die Karte ausspielen kann. JANA  Du schaust gut aus. Du hast so was wie Hoffnung in den Augen, und das ist richtig so, Papa. František sieht sie müde an. JANA  Weil du ein Recht auf Hoffnung hast. Gerade gestern haben wir uns nach der Schule über namenlose Helden und ihre historische Aufgabe unterhalten. Und wir haben uns darauf geeinigt, dass die Vergangenheit nur so ein Abdruck von etwas wesentlich Größerem ist, warte, wie hat das Marek gesagt … Ah ja, ich weiß schon, seine Tante hat ihm aus Amerika Pralinen geschickt, weißt du … mit Nüssen, und er hat gesagt, dass die historischen Ereignisse, Revolutionen und so, wie einzelne Nüsse in den Pralinen sind, aber der Nougat, die Schokolade, das ist das, was die Pralinen zu Pralinen macht, das ist das primäre Material, aus dem sie sind. Und bei der Geschichte ist so ein primäres Material das Blut der namenlosen Helden, und aus diesem Blut ist die Geschichte zusammengeknetet, weißt du, Papa … aus Blut solcher Helden wie dir … Sie versinkt in Träumereien und spielt eine Karte aus. FRANTA  Du spielst die Schelle aus? Jana, verarscht du mich? Wenn du diese Schelle ausspielst, dann bleibt dir nur der einzelne Zehner in der Hand, und weil der Karel hier vorhin ein Ass gespielt hat … (Zeigt auf einen leeren Platz, auf dem Karten aufgefächert liegen.) Also werden weder du noch Karel den Zehner spielen. JANA  Papa, warum muss der imaginäre Karel mit uns spielen? FRANTA  Weil es für lizitiertes Mariáge drei Spieler sein müssen. Und weil Karel verdammt noch mal so ein typischer Name eines Besoffenen ist, der Mariáge spielt. Dieser einzelne Zehner kann dich zwanzig Kronen kosten … und für zwanzig Kronen kaufst du 300 Gramm Presswurst und ein kleines Bier. Mädel, dieser Zehner ist ein Abendessen. 141


JANA  Hast du mir zugehört? Ich habe versucht, dir zu sagen, dass jedes Schlangestehen für Bananen, jedes dieser unerträglichen pfeifenden Geräusche, wenn eine Oma mit ihren Rentner-Hausschuhen über das Linoleum geschlurft ist, jedes Aufheulen eines Kindes, wenn das Blatt eines Plastikwindrads beim Kindertanz zur Feier des Tages der Arbeit bricht, all diese kleinen Momente im Leben unbedeutender Individuen, aus denen die unendliche Erniedrigung von uns allen zusammengesetzt ist, das alles war nicht umsonst. Das alles musste passieren, damit das Morgen besser sein kann. Papa, ich weiß, du sagst, es sei ungerecht, gerade jetzt gehen zu müssen, wo alles am Auseinanderfallen ist, aber du hast es geschafft, geschafft, dem Ganzen die Stirn zu bieten, und ich … ich beneide dich eigentlich. Du kannst zurückschauen und stolz sein. Ich habe all die schweren Entscheidungen noch vor mir … František spielt eine Karte aus, dann dreht er eine Karte aus Karels Stapel um. Jana spielt eine Karte aus. FRANTA  Also, dafür würde der Karel dir die Fresse einschlagen. Blatt? Warum, Jana? (Dreht sich zum imaginären Karel.) Karel, ich entschuldige mich bei dir für sie. JANA  Herrgott, Papa! FRANTA  (kompromisslos, ordnet trocken an) Zähl das. Zehner und Asse, das weißt du doch wohl. Und dann die Ansage. JANA  Fünfzig. FRANTA  Also hab ich mit den beiden Ansagen einen Hunderter erspielt, und da hat Karel mit der Karte ordentlich viel bekommen. Mädchen, weißt du, was das in Kronen wäre? JANA  Papa, ich … FRANTA  256 Kronen!!! JANA  Papa … FRANTA  Nein, jetzt wirst du mir zuhören. Ich hab schon die Schnauze voll von deinen Gedichten, die dir dieser Marek beigebracht hat, der das von dem Herren mit dem R-Fehler und der Zigarre gehört hat. JANA  Havel, er heißt Havel, Papa – FRANTA  Ich weiß verdammt noch mal, wie er heißt. Dieser Schnösel da wird die Revolution schon zusammenmanschen, das ist klar, aber gerade deswegen musst du einen Vorsprung haben, Mädel. Weißt du, warum Karel nicht da ist? (Zeigt auf Karel, der nicht da ist.) JANA  Papa, hör auf zu spinnen, ich will mich an diese Momente erinnern, nicht über einen imaginären Kartenspieler reden. FRANTA  Karel ist in Jugoslawien am Meer. Ach was, Jugoslawien, er ist in Italien. Er ist in Italien, weil er die Zöllner bestochen hat. Er hat die Zöllner mit dem Mariáge-Geld 142


bestochen. Für Karel gelten keine Regeln. Karel ist frei. Und weißt du, warum? Weil Karel der beste Mariáge-Spieler weit und breit ist und weil Mariáge ein Glücksspiel ist. Und ein Glücksspiel ist in jedem System die allersicherste Art, um Geld zu verdienen. Das Geld aus dem Kartenspiel nimmt dir niemand, Mädel, und ob gerade ein Gorbatschow regiert, ein Gandhi oder Hitler, ist vollkommen eins, und wenn verdammt noch mal eine neue Eiszeit kommt, werden die Menschen Pik und Herz ins Eis ritzen und werden um Feuersteine spielen. (Geht zu ihr, fasst ihre Schultern an. Ist plötzlich freundlich.) Hier geht’s nicht um Karten. Hier geht’s darum, dass ich es verdiene, dass du es gut hast. Aber nicht so, wie du es sagst, mit all deinen Idealen über die Gesellschaft. Mir geht die Gesellschaft vollkommen am Arsch vorbei, ich will, dass du glücklich bist. Vielleicht gibt es statt Mariáge bald etwas vollkommen anderes, aber hier geht es einfach darum, dass du kapierst, dass du, egal was geschieht, es an dich reißen musst. (Klopft auf die Karten.) Du musst dir deine Sechzig erspielen, damit niemand einen Hunderter dagegen hat. Du musst dir immer die Sechzig erspielen, und dann wird es gut sein. Du kannst zu Karel hier fahren. Nach Italien. (Hustet. Zeigt auf den imaginären Karel.) JANA  Herr Havel redet von einer funktionierenden Demokratie, davon, dass jeder ein Recht hat auf – wie ist noch mal dieses Wort – eine Karriere … Du stellst dir das wie den Wilden Westen vor … FRANTA  Jeder stellt sich das irgendwie vor. Aber wie es sein wird, das weiß niemand. Nicht mal dein Idol mit dem Sprachfehler. Entschuldige, aber wenn ich ihn im Fernsehen sehe – und weil ich hier liege, habe ich ihn doch recht häufig gesehen – kommt es mir vor, als würde ein Kind sprechen. Ich weiß, dass er im Knast gesessen hat, dass er so einen leidenden Gesichtsausdruck hat, aber innen drin … ein braver fünfjähriger Junge, den sie aber in den Knast gesperrt haben und der deshalb Zigarren raucht und von der schlechten Welt redet. So wie diese Kinder der Schausteller, die die Achterbahn auf dem Jahrmarkt bedienen, sie können zehnmal hintereinander mit der Zigarre im Maul fahren, ohne sich geküsst zu haben, und träumen davon, wie wohl das Leben da draußen ist, das Leben der Leute, die beim Achterbahnfahren immer gleich kotzen müssen … Ja, ein fünfjähriger Junge mit Zigarre. JANA  Papa, gestern hat Marek ihn mir vorgestellt. Wir saßen im Café, und ich … wusste nicht, was ich sagen soll, er saß da und rauchte … er war irgendwie so still. Großartig still. Ich habe nicht gewusst, was ich sagen soll, also habe ich ihm deine ganze Geschichte erzählt. Immer, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll, erzähle ich deine Geschichte. Und ich verstehe das Ganze immer mehr. Mama hat nicht kapiert, dass das, was du machst, wichtig ist. Ich schäme mich für sie, dass sie dich verlassen hat.

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FRANTA  Warhscheinlich hat es sie etwas gestört, dass ich zwei Jahre lang nicht zu Hause war. JANA  Eben. Mir ist peinlich, wie geistlos sie war. FRANTA  Ich war ganz umsonst weg, kapierst du das? Und hier bin ich auch ganz umsonst. JANA  Nein, warst du nicht. Deine Geschichte hat auch ihn gerührt … er sagte, deine Geschichte sei so eine Allegorie unsres Leidens … FRANTA  (parodiert einen R-Fehler) Ich glaube fest daran, dass die Geschichte deines alten Herren so eine Allegorie unseres Leidens ist … (Lächelt und beginnt dann zu husten.) JANA  Er … hustet auch ein bisschen, weißt du … FRANTA  Genau daran habe ich auch erkannt, dass er naiv ist. Genauso hab ich es erkannt. Am Husten zwischen den Ansprachen. Das soll irgendein Husten sein? Das ist sein Gefängnishusten? Der Husten der politischen Gefangenen ist in letzter Zeit so schwul geworden. Es ist nichts mehr, was es mal war. Ich weiß nicht, ob die Aufseher verweichlicht sind, oder … Weißt du, woran man einen echten Husten erkennt? Dass man nur an dem Husten allein das Leiden spürt. Dass du nicht mal einen Moment lang darüber nachdenkst, ob der Mensch einen Husten oder Krebs hat. Weil der Husten an und für sich so schlimm ist, dass du nur an ihn denkst, an das Geräusch. Und die Geräusche tun auch dem weh, der zuhört. So. (Beginnt zu husten.) FRANTA  Hörst du das? Das tut weh, was? JANA  Papa, hör auf. FRANTA  Das ist anders, als wenn du nur davon sprichst … ja, das ist das Hustengeräusch des wirklichen namenlosen Helden, wie dein Havel sagt … (hustet) JANA  Papa … du bist peinlich. FRANTA  (hört auf zu husten) Peinlich? JANA  Entschuldige, das habe ich nicht so gemeint. FRANTA  Nein, du hast recht, ich bin peinlich. Du solltest den Tomeš hören, der nebenan liegt. Der hat in den Fünfzigerjahren in den Uranminen gearbeitet. Verglichen mit dem bin ich echt peinlich. Der Tomeš, wenn der hustet, hat das noch so was wie ein Echo, der hustet irgendwie nach innen, und es hallt ihm im Körper nach. Als ich noch mein Zimmer verlassen konnte, habe ich ihm gesagt, dass das großartig ist. Ich sage ihm, so einen Klang, den hat niemand, mein Kumpel. Wie machst du das? Und er so, das sei deswegen, weil sie ihm schon einen Lungenflügel weggenommen haben, darum hat er in dem Brustkorb auf der einen Seite eine leere Stelle, und wenn ihm das Geräusch des Hustens in den leeren Raum fliegt, macht ihm das ein besseres Echo. JANA  Hör jetzt auf … 144


FRANTA  Ja, gegen Tomeš komme ich nicht an. Das ist ein echter namenloser Held, wie du sagst. Und ich bin nur ein Kerl, der besser Mariáge spielen wollte. Aber mein Husten ist nicht schlecht. Erzähl diesem Havel von diesem Geräusch. Und merk es dir. Weil du es nie wieder hören wirst. Du darfst es nie wieder hören. (Er ergreift eindringlich ihre Hand.) Merk es dir und weich ihm aus. Spiel Mariáge und weich diesem Geräusch aus. Das ist das letzte Mal, dass du es hörst, klar? JANA  Tu mir so was nicht an, Papa. FRANTA  Klar? (Packt ihre Hand fester.) JANA  Ja, Papa. FRANTA  Klar? (Er ist unzurechnungsfähig.) JANA  Ja. Klar, Papa. FRANTA  (lächelt. Zwinkert sie an wie ein Junge) Warte, es wird eine Matinee geben. Eine Spartakiade ist nichts im Vergleich. Schiebe mich an die Wand ran. JANA  Was? FRANTA  Mach schon. Jana schiebt ihn zur Wand. FRANTA  Heute werde ich besser als Tomeš sein. Tomeš!!! Bist du da, du armer Krepierer? Oder simulierst du deinen kleinen Schnupfen?!!! (Dreht sich zu Jana.) Gib ihm noch ein paar Tage und dann kann er nicht mehr reden. (schreit) Klopfe, wenn du da bist! Man hört ein Klopfen. FRANTA  Hör dir das mal an, du uranverseuchter Tuberkulosefall. (Hustet, hustet schrecklich.) Gut, nicht? JANA  Papa, sei nicht wahnsinnig, das reicht schon, nicht? … Papa… (František hustet weiter.) … Herrgott, Papa. Für einen Moment bringt sie ihn zum Aufhören, er dreht sich zu ihr. Eine Träne rinnt ihm hinunter. FRANTA  Das ist schon besser, was? (Klopft sich auf den Brustkorb.) Hörst du das Blubbern? Das Blubbern des schwarzen Rohöls? Es ist dort irgendwo. Ich war so nahe. Ich dachte, ich sei jetzt frei, kapierst du? (hustet) Es ist ein anderes Geräusch … (hustet) … Es ist nicht das Geräusch des sinnlosen monotonen Leidens, von dem du weißt, dass es nie aufhört, so wie es Tomeš hat, nein … das da ist vielleicht noch schlimmer, das ist der Klang eines unerfüllten Traums. Eines Traums, der in Reichweite war, der gleich neben uns geblubbert hat und wir konnten ihn berühren, konnten den Gestank dieses Traums spüren, und seinen Geschmack, und trotzdem war es nur ein Traum … (hustet) … jetzt … (Brüllt nach nebenan.) Tomeš, hörst du das? Was sagst du dazu? Hustet. Jana ist schon hysterisch. JANA  Papa, bitte, lass das. 145


FRANTA  Karel (Er zeigt zum Tisch.) Ich sehe dort den Karel. Karel wird dir alles erklären. Hustet, fällt. JANA  Papa, das reicht jetzt … Papa … Franta hustet und hustet, gibt dann ein pfeifendes Geräusch von sich. JANA  Das ist nicht witzig … František liegt am Boden, ist tot. JANA  Papa …

II. MILOVÁNÍ / DAS LIEBEN 2011. Elektronische Musik spielt. Viktor (30) schmiert die nackte Pavlína (22) mit einem Öl von merkwürdiger Farbe ein. Viktor redet lyrisch, ab und zu küsst er Pavlína. VIKTOR  Gestern hab ich einen Adler gesehen. Seltsam war das. Hier über Mitteleuropa fliegt der Adler nie. Und weißt du, was am merkwürdigsten war? Es kam mir vor, als ob der Adler weint. Pavlína dreht sich um und wundert sich. PAVLÍNA  Das hast du doch nicht sehen können, oder? Wie hoch ist er geflogen? Dreißig Meter? Außerdem denke ich nicht, dass der Steinadler heulen kann. Und hier gibt es keine Adler. Vielleicht Bussarde oder Turmfalken, aber ein Adler, sorry, echt, aber … Viktor beschwichtigt sie. VIKTOR  Psst … Es war ein Adler. (Schmiert sie weiter ein.) Ich weiß nicht, ob er wirklich geweint hat, wichtig ist, dass mir einfiel, dass er weint. Verstehst du? Er schaute auf uns hinunter, auf Mitteleuropa, auf die Menschen, und wir taten ihm leid. Er schaute auf uns hinunter, auf all die lächerlichen kleinen Ameisen im zerfallenden Ameisenhaufen, wie wir den Egoismus unserer Väter ausbaden und dafür kämpfen, dass wir überhaupt die Möglichkeit haben, selbstsüchtig sein zu können. PAVLÍNA  Ja, das stimmt genau. VIKTOR  Und dann hat der Adler gekackt. PAVLÍNA  (lächelt) Was? VIKTOR  Ja. Echt. Ich habe vielleicht nicht gesehen, ob er weint, aber das war ziemlich klar zu sehen, weißt du, das ist nicht so, wie wenn eine Taube was fallen lässt, so ein Adler … (Pavlína kichert.) Zuerst habe ich mir gesagt, wie grob das von ihm ist. Wie dieser große, freie Vogel, der erhaben ist über unsere schnöden Sorgen über die Teuerung bei Eiern und Benzin, seinen Kot auf den immer größer und größer werdenden Haufen unserer Scheißerei draufwirft und weiterfliegt. PAVLÍNA  (bewundernd) Du bist so bildhaft. 146


VIKTOR  (sieht sie herablassend an) Werde locker … (Cremt sie ein.) Aber dann habe ich begriffen, dass das kein Ausdruck der Herabwürdigung war. Der Adler wollte sagen: Schaut, auch mich überkommt es mal. Auch ich habe hier oben so meine Sorgen. Auch am Himmel ist einem manchmal schlecht. Aber dann scheiße ich und fliege leichter weiter, und ein bisschen glücklicher, und mir geht es gut. Und das könnt ihr auch … Er wollte uns ein bisschen was von sich hinunterwerfen. Eigentlich wollte er uns ein Stück seiner Welt hinunterwerfen, ein Stück seiner angenehmen Sorgen, ein Stück Hoffnung, Pavlínchen. PAVLÍNA  Als ob da Hoffnung in der Scheiße wäre? VIKTOR  Ja, im umgekehrten Sinne ja. Und so ist mir etwas eingefallen. Ich ging, um den Adlerkot aufzuheben. Es war ziemlich schwer, ihn zu finden, aber durch den Stand der Wolken habe ich mir die ungefähre Flugbahn des Kots ausrechnen können, und schließlich habe ich ihn gefunden. Ich habe ihn in eine Plastiktüte gepackt und mir überlegt, wie man dieses Symbol benutzen kann, wie man wenigstens für eine Augenblick zum Adler werden kann, alles frei sehen und von oben herab, wenn du dazu nur den Kot hast. Nun, was soll ich dir erzählen, essen wollte ich das nicht. In einen Bilderrahmen einrahmen kann man die Scheiße auch nicht wirklich. Also habe ich aus dem Kot dieses Öl gemacht. PAVLÍNA  (wird blass, sieht ihn an) Was? VIKTOR  Schmieren wir uns damit ein, und in einer Weile werden wir Adler sein, entfernen uns von diesem verblödenden Leben und lieben uns. Wie Adler … Pavlína ist sachlich. Sie setzt sich auf und schaut ihn an. PAVLÍNA  Viktor, du hast mich mit Adlerscheiße eingerieben? VIKTOR  Nein, das ist Öl aus Adlerkot. Und ich habe dir gesagt, dass das einen spirituellen Sinn hat. Denk nicht daran, dass … PAVLÍNA  Verarscht du mich? Davon bekomme ich doch Vogelgrippe oder sonst was. VIKTOR  So ein edler Adler leidet nicht an banaler Vogelgrippe. PAVLÍNA  Du bist ein völliger Trottel. Hörst du? Du bist ein Trottel! Beginnt ihn zu schlagen, er lächelt. Sie rutscht auf dem Öl aus. Er lächelt noch mehr. Sie weint. PAVLÍNA  Adlerscheiße, Jesus Christus. VIKTOR  Aber nicht doch, du weißt, dass das keine Adlerscheiße ist. PAVLÍNA  Was? VIKTOR  Hier gibt es doch keine Adler. Das war ein Scherz. Es geht hier um das Bild, na komm, das ist Massageöl … schau … Er zeigt ihr das Ölfläschchen, das er von irgendwoher hervorzieht. PAVLÍNA  Herrgott, warum machst du so was mit mir? (Schlägt ihn wieder mit den Fäusten.) 147


VIKTOR  Na komm … Zähmt sie. Küsst sie. VIKTOR  Schmier mich ein und schließ die Augen, stell dir vor, nur für eine Weile, dass wir uns eine Auszeit gönnen können in unserem Kampf für ein besseres Leben, und dass wir für eine Weile Adler sein können, und dass das Öl uns beschützt vor all dem Ekelhaften um uns. Wir schauen sie von oben an und sind selbst irgendwo völlig anders. Für eine kleine Weile. Wir können uns das erlauben, auch wenn wir Kämpfer sind. Auch Kämpfer können sich ausruhen. Auch Kämpfer verdienen einen Augenblick voll Glück. (Er dreht die Musik lauter. Sie cremt ihn ein.) Stell dir vor, dass wir Adler sind. Jana kommt herein, sie ist 42, führt einen modernen Rollkoffer mit sich, hat ein Luxus­ kostümchen und Pumps an, es steht ihr. Jana erschrickt, Viktor auch, er springt auf und bedeckt sich mit Mühe den Körper. PAVLÍNA  Mama! Solltest du nicht erst morgen kommen? VIKTOR  Guten Tag. Jana geht zu Viktor und wischt mit einem Finger Öl von seinem Körper. Schleckt ihn ab. Viktor sieht sie konsterniert an. JANA  Jesus, was ist das? Das ist scheußlich. PAVLÍNA  Mama, das ist Massageöl, das ist nichts zum Kosten. JANA  Ein Öl ist wie das andere. Ich dachte, es würde nach ihm schmecken. (Zeigt auf Viktor.) PAVLÍNA  Mama, du bist unappetitlich wie immer. Das ist mein Freund Viktor. Viktor, das ist meine Mutter Jana. VIKTOR  Freut mich. JANA  Warum kleckert ihr euch mit dem Blödsinn an? Warum fickt ihr euch nicht einfach? Die beiden schauen sie an. Pavlína entschließt sich, zu antworten. PAVLÍNA  Du wirst es vermutlich nicht kapieren, aber wir versuchen, dem Sex so einen spirituellen Sinn zu geben. Es ist der allerintimste Ausdruck unserer Emotionen, verstehst du? VIKTOR  Liebe ist das Letzte, das wir in dieser degenerierten Welt haben. Das klingt banal, aber es ist so. Sie unterscheidet uns von den Tieren, zu denen wir langsam werden. Und so bemühen wir uns, die kostbaren Momente der Liebe anzufüllen, weil ich glaube, dass wir noch keine Tiere sind und dass wir unser Schicksal abwenden können. Jana schaut ihn an, als wäre er irre. Er sieht Jana an. Fasst sie bei den Schultern. Aufrichtig.

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JANA  Pavlínchen, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mit jemandem nicht nur aus Mitgefühl gehen sollst … Nach einer gewissen Zeit wird es dich einfach zu stören beginnen, dass er ein totaler Geistesgestörter ist, kapierst du? PAVLÍNA  (tadelnd) Mama! Jana zieht aus dem Koffer ein Kleid im Asia-Stil. Für eine Weile verlässt sie ihr ironischer Tonfall. JANA  Das hab ich dir mitgebracht … (Sie gibt es ihr.) PAVLÍNA  Mami, ich … du hast Viktor beleidigt. VIKTOR  (mischt sich unsicher ein) Das ist in Ordnung. Jana interessiert es nicht, sie erforscht Pavlínas Reaktion auf das Kleidungsstück. JANA  Solche Sachen gefallen dir, nicht? PAVLÍNA  (resigniert) Danke. JANA  (wechselt das Thema. Ist energiegeladener) Ich habe Hunger. Ich habe irgend so ein exotisches Essen mitgebracht. Dann macht es euch in der Zwischenzeit irgendwie spirituell … und danach werden wir abendessen. (Geht weg.) PAVLÍNA  Ich entschuldige mich, sie hätte erst morgen kommen sollen. VIKTOR  Sie … ist so… (Er denkt nach. Jana hat bei ihm Wirkung hinterlassen.) PAVLÍNA  Eine Missgeburt, nicht wahr? Sie spürt überhaupt nichts, eine wandelnde Leiche. Lauf lieber weg, das Abendessen wird die Hölle, du wirst sehen. VIKTOR  Ich bleibe, es kann nicht so furchtbar sein. Du weißt, dass ich ohnehin mit ihr reden wollte. Pavlína nickt. VIKTOR  Sie kommt mir nicht so schrecklich vor. Jana kommt herein. JANA  Ich entschuldige mich. (Schaut sie an.) Aha, ich störe also nicht … Na ja, ich dachte mir, dass da wohl keine große Vögelei mehr draus wird. Ich habe festgestellt, dass kein Öl mehr da ist, also habe ich mir gesagt … da habe ich so einen Spachtel mitgebracht … (Gibt Viktor den Spachtel und eine Schüssel.) … dass Sie mir ein bisschen vom Öl … wenigstens fängt das einen interessanten Geschmack ein … Beide schauen sie an. PAVLÍNA  Mama, das ist nicht lustig … JANA  Was denn? Wir sind in einer Krise, oder? Da müssen wir Öl sparen. VIKTOR  Das stimmt. Wir dürfen Lebensmittel nicht verplempern. JANA  Ich verarsche euch. Ich bin doch Milionärin. Ich hab nur einfach keine Lust, in den Laden zu gehen. Sie geht weg, Viktor zögert etwas, dann nimmt er den Spachtel und beginnt, das Öl vom Körper in die Schüssel zu streichen. PAVLÍNA  Herrgott, Viktor! (Nimmt ihm den Spachtel weg und wirft ihn weg.) 149


III. OLEJ / DAS ÖL František hat das Gesicht schwarz vom Rohöl, das von ihm hinunterrinnt. FRANTA  Ja, das Öl. Als es mir das erste Mal in den Mund tropfte, wurde mir schlecht. Aber eher von der Nähe des Gestanks als davon, wie es schmeckt. Wie das auf der Zunge brennt, aber wenigstens tut das Erdöl nicht so, als wäre es etwas, was man trinken sollte. Das Bier mit dem Elefanten auf dem Etikett zum Beispiel, das man hier in ganz Afrika trinkt, tut so als ob, und dabei ist es fast genauso eklig wie diese schwarze Schweinerei. Ein paarmal hab ich mich dabei erwischt, dass ich Lust auf ein Smíchover Helles hatte. Jedes Mal, wenn ich Heimweh nach Böhmen habe, schäme ich mich. (Er überzeugt sich.) Ich habe Sehnsucht nach der Familie, nach Böhmen … jedenfalls … das Bier mit dem Elefanten trinke ich nicht, aber dem Rohöl können Sie nicht ausweichen. Wenn der Druck in der Bohrung zu sehr steigt, dann verpasst es Ihnen einfach eine Dusche. Zumindest besser, als wenn man uns mit dieser Elefantenpisse anspritzen würde. Wenn das passiert und wir eine Dusche verpasst bekommen, rast einem manchmal etwas der Kopf von den Dämpfen und davon, dass man etwas in den Mund bekommen hat. Jetzt scheint die Sonne hier wie Sau, sie drischt einem richtig auf den Schädel. Und die Schwarzen lachen dann über uns. Sie sitzen neben ihren Holzhütten, rauchen und grinsen blöd. Einer schaut mich an und sagt: Du kommst nach Nigeria, und, Alter, heiß ist es da. So eine Überraschung aber auch, nicht? Er lacht und uns brent die Fresse vom Erdöl, wir wissen überhaupt nicht mehr, was los ist, und Shell gibt uns einen halben Tag frei. Das ist die einzige Chance, dass ich irgendeinen Brief nach Hause schreiben kann. Ich bin völlig weggetreten davon, dass ich Erdöl in den Mund bekommen habe, und von der Hitze, und ein bisschen weiß ich nicht, was ich schreibe, aber ich gebe dort die Dollars von dieser ganzen Woche rein. Das ist das Einzige, das ich nie vergesse. Im Gegenteil, ich denke die ganze Zeit daran. Wenn ich einen Schluck Öl abbekomme, wenn ich zu husten beginne … die Dollars in den Umschlag. Und den Russen, Polen und Rumänen, die hier sind, geht es genauso. Shell sichert uns zu, dass unsere Familien es bekommen. Das ist vereinbart. Die Beamten zu Hause behalten natürlich etwas von dem Geld, aber Shell wird es einrichten, dass der Großteil der Dollars bis nach Hause kommt. Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Und dieses menschliche Antlitz sind die abgezweigten Dollars. Für meine kleine Janička. Ich erinnere mich an sie, und die schwarze Scheiße schmeckt mir direkt. Ich liebe den glitschigen, schmierigen Geschmack des Öls. Ich liebe ihn. Echt gut, das.

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IV. VEČEŘE / DAS ABENDESSEN 2011 – Jana mit Pavlína und Viktor beim Abendessen. Jana hält einen Brief in einer Hand, in der anderen ein Glas mit Whiskey, und liest. Im Zimmer ist auch ein kleiner Weihnachtsbaum. JANA  23. Januar 1979. Bzz bzz bzz. Es gibt hier Fliegen. Und viele Schwarze. Und Elefanten. Und auch Riesenhitze. Es ist so heiß hier, dass man nicht atmen kann … (Jana schaut vom Brief auf.) Dieser hier hat eine große geografische Bedeutung. Du erfährst hier Dinge von Afrika, die du echt nicht erwartest hättest. (Lächelt. Liest weiter.) Bzzz. Aber der Fliege macht das nichts aus. Ihr ist nicht heiß, es ist eine afrikanische Fliege. Sie hat irgendeinen afrikanischen Namen. Ich schaue sie an und stelle mir vor, dass du bei uns in Žižkov im Zimmer sitzt, und dort fliegt eine Fliege. Eine tschechische Fliege. Sie heißt Lída. Lída summt. Hörst du? Bzz. Bzzz. Das bin ich, die Lída, ich summe so … dein Väterchen … ich denke an dich … aber hier gibt es aber echt einen ganzen Haufen Schwarze, das würdest du nicht glauben … Vati. (Legt den Brief zusammen.) JANA  Unglaublich. Schade, dass sie dir heute nirgendwo Erdöl einschenken. Pavlína dreht sich zu Viktor um. PAVLÍNA  Sie liest Opas alte Briefe aus Nigeria jede Weihnachten. Aber während andere Leute mit ähnlichen Bräuchen die entschlafenen Ahnen ehren wollen, verarscht sie den Opa … Mama, es ist erst der Zweiundzwanzigste. Musst du den Viktor hier damit belasten? JANA  Am Heiligen Abend werde ich wohl nicht hier sein. Ich habe ein Weihnachtsturnier in Griechenland. PAVLÍNA  Aha. JANA  Also ist das eigentlich so ein Weihnachtsessen. VIKTOR  Es ist für mich eine Ehre, hier zu sein. Ein Weihnachtsessen mit jemandem, wie Sie es sind. Einer Sportlerin, die unser Land repräsentiert. PAVLÍNA  Im Poker? Verarscht du mich? JANA  (dreht sich zu Pavlína) Was hast du immer für ein Problem? Die Briefe? Wenn Papa bessere Briefe hinterlassen hätte, würde ich sie lesen. Ich würde die besseren lesen. Ich kann nichts dafür, dass es lustig ist. Und ich werde doch nicht deswegen aufhören, darüber zu lachen, nur weil der Autor der Witze tot ist. Das wäre so, als würdest du ins Theater gehen, um dir Molière anzuschauen, und würdest nicht lachen, weil Molière tot ist. PAVLÍNA  Er war nur wegen dir in Afrika auf den Ölplattformen. JANA  Na ja, nur dass die Herren Beamten uns seine berühmten Dollars am Ende zur Gänze aus den Kuverts genommen haben. Und Shell hat auf uns geschissen. Und 151


als Mama ihm geschrieben hat, wo die Scheine denn seien, ist der Brief irgendwie verloren gegangen, und so hat der Papa auch nie gelesen, dass die Mama mit unserem Kommunistennachbarn herumhurt und dass sie den Papa verlässt, das stand nämlich in der zweiten Hälfte des Briefes. PAVLÍNA  Aber das ist doch noch schöner daran, Mama. Fast zwei Jahre lang hat er nicht gewusst, dass ihr das Geld nicht bekommt, und dann nicht, dass die Oma ihm was gehustet hat, und trotzdem hat er dort weitergemacht. VIKTOR  Ja. Mir gefällt an der Geschichte auch diese Don-Quijote'sche Ebene des Kampfs mit den Windmühlen. Leider ist heutzutage so ein Kampf das einzige, das uns geblieben ist. Jana widmet ihm einen weiteren Blick im Sinne von: „Was ist das für ein Depp, um Himmels willen?“ JANA  Herrgott, du bist ein Fall für die Anstalt … (Sie zieht weitere Briefe hervor.) Aber der da, der ist echt zum Totlachen. Da muss er gleich einen ganzen Kübel Rohöl getrunken haben. Hört zu. 25. Februar 1980 … Pavlína reißt ihr den Brief aus der Hand. PAVLÍNA  Mama, Herrgott, es reicht. Jana widmet ihr einen verächtlichen Blick. JANA  Na, ja. Aber da es ja das Weihnachtsessen ist, müssen wir doch etwas Feierliches machen. Was macht man in den funktionalen Familien denn so an Feiertagen? (Denkt nach.) Ich weiß schon, der Mensch verkürzt sich die Wartezeit auf das Christkind mit Fernsehen. PAVLÍNA  Hier kommt das Christkind aber nie her, Mama. Es kommt zu guten Leuten. JANA  Ich muss dir ein Geheimnis erzählen, ich denke, du bist schon groß genug. Es gibt kein Christkind. Die Geschenke sind immer nur von mir. Viktor lächelt. Jana auch. Pavlína sieht ihn kritisch an. Jana stellt den Fernseher an. Ein Moderator erscheint, man sieht Aufnahmen von der Prager Burg. STIMME (Moderator)  Vom Tod Václav Havels schreibt der Großteil der Weltmedien. Die NY Times schreibt vom Tod des Kämpfers um die Wahrheit, Le Parisien wiederum schreibt von Havel als vom Symbol der Demokratie in Europa … Musik spielt, die Stimme des Moderators verändert sich. STIMME 2 (Moderator)   Zum morgigen Begräbnis im St. Veitsdom plant auch der ­ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten Bill Clinton zu kommen. Jana schaltet den Fernseher aus. JANA  Unglaublich. Viktor schüttelt teilnahmsvoll den Kopf. VIKTOR  Ich kapiere es bis jetzt noch nicht. Ich habe immer das Gefühl, als wäre es nicht wahr. 152


JANA  Ja, aber es ist wahr. Sie versauen uns tatsächlich das ganze weihnachtliche Fernsehprogramm mit dem Begräbnis. Viktor sieht Jana entsetzt an. Pavlína haut auf den Tisch. PAVLÍNA  Herrgott, Mama!!! Er ist doch erst vor vier Tagen gestorben. Und sie versuchen, ihn noch vor Weihnachten zu beerdigen, damit Leute wie du ihre Ruhe haben. JANA  Aber ich sage dir doch, dass ich am Heiligen Abend in Griechenland bin, und so feiere ich Weihnachten heute. Viele Leute feiern heute, also wie kommen sie dazu, dass man ihnen ein Begräbnis dazu zeigt. Ich will bei irgendeinem rührseligen Märchen heulen, verdammt noch mal. Pavlína ohrfeigt sie. Jana schüttelt darüber den Kopf. PAVLÍNA  Rührselige Märchen? Du? Du bist doch immer auf der Seite der Hexen und der Drachen. (Sie ist hysterisch.) Aber nein, du denkst dir gar nicht das, was du sagst. Du sagst das einfach nur so. Weil es attraktiver ist, jemand so Großen zu beleidigen, wie es Havel war. Du lachst ihn aus, weil du dieser Emotionskrüppel sein willst. Aber du schaffst es nicht. Und das tut echt weh, gell? (Dreht sich zu Viktor.) Sie war unter den Schülern und Studenten, die die Demonstrationen in der Národní Třída vorbereitet haben, weißt du? Sie hat Havel sogar gekannt. Und vielleicht hat sie sogar mit ihm geschlafen, bei irgendeinem Besäufnis in irgendeinem Gasthaus. VIKTOR  (mit aufrichtiger Bewunderung) Echt? JANA  Schwer zu sagen. Damals im Gasthaus sind die Sicherungen rausgedreht worden. Ich war mit sieben Kerlen dort und es war arschdunkel. Es war wild. Ein Körper hier, ein Körper dort. Auf einmal habe ich gespürt, dass … Sieben Burschen, da ist die Wahrscheinlichkeit 14,3 Prozent, dass es gerade Havel war, der … Das ist sogar weniger wahrscheinlich, als dass ein River aus einem Flush besteht. Lächelt. Pavlína schaut Viktor an. PAVLÍNA  Kapierst du das? VIKTOR  Ich kapiere, dass die Revolutionsatmosphäre und ein gewisser Leichtsinn … Pavlína unterbricht ihn. Es reizt sie schon wieder. PAVLÍNA  Leichtsinn? Ich habe bei sieben Kerlen eine Wahrscheinlichkeit von 14,3 Prozent, dass das mein Vater ist, Viktor. VIKTOR  Aha … JANA  Dann flippe hier nicht aus, du bist mit 14,3-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Tochter von Václav Havel … sei froh … PAVLÍNA  Mama, wie kannst du darüber lachen? Der Typ ist vor vier Tagen gestorben, und ich weiß nicht, ob er mein Papa ist. Ich weiß nicht, ob ich weinen soll. Ich würde um ihn weinen, auch wenn er nicht mein Vater wäre, weil ich Herrn Havel immer geschätzt habe, aber es würde mir vorkommen, als wäre das eine Pose, nicht wahr, Viktor? 153


VIKTOR  Für mich war Herr Havel ein ziemlicher Idealist und mitverantwortlich für die gegenwärtige Krise. Wenn auch unfreiwillig. Seinem Tod aber sollte man sachlich gegenübertreten. PAVLÍNA  Siehst du, Mama? Sachlich. Ja, Viktor hat recht. Aber was, wenn er mein Papa war, und wenn ich jetzt anlässlich seines Todes meinen Standpunkt verlasse, damit ich weine. JANA  Dann versuch zu 14,3 Prozent zu weinen. Mit einem Siebentel jedes Auges. Pavlína schaut sie an. Sie ist den Tränen nahe. PAVLÍNA  Du bist eine Missgeburt, Mama. Hörst du? Mir ist zum Kotzen wegen dir. JANA  Warte … Will ihr nachrufen, aber dann lässt sie es bleiben. Pavlína ist weg, Jana trinkt, dann lächelt sie. JANA  Zu Weihnachten sind die Leute überempfindlich, du kennst das … VIKTOR  Der Tod von Herrn Havel hat sie mitgenommen, aber ich denke, er ist im richtigen Moment gestorben, wissen Sie? Ich habe ihn auch geschätzt, aber er konnte nicht ahnen, wie man mit seiner Ideologie umgehen wird. Ich denke, dass er dadurch, dass er gegangen ist, uns allen gezeigt hat, dass es an der Zeit ist, neu zu denken. Auf seine Art mit den neuen Problemen fertigzuwerden. JANA  Mir geht das völlig am Arsch vorbei, iss lieber, ich bitte dich. Dein Essen wird kalt. VIKTOR  Es ist Tartar … JANA  (lächelt) Es ist Basashi. VIKTOR  Aha, Basashi. ah, darum ist da Ingwer drin. Es ist japanisch. JANA  (lächelt) Jeder Teilnehmer des Turniers hat das bekommen. VIKTOR  Es ist ausgezeichnet. JANA  Ich bin froh, dass es dir schmeckt, mein Junge. Streichelt ihn, lächelt. Viktor isst weiter, lächelt. Pavlína kommt herein. Trägt Janas Kleidung. Hält an, als sie sieht, wie ihre Mutter Viktor streichelt. PAVLÍNA  Mama, du streichest meinen Freund … Jana steht auf und betrachtet das Asia-Kleid an Pavlína. Streichelt sie. JANA  Ich bin froh, dass es dir steht. Auch die Größe habe ich gut erwischt, nicht? Sie schauen einander eine Weile an. Viktor beobachtet das. PAVLÍNA  (nach einer Weile) Viktor, komm, wir gehen irgendwohin raus. Ich würde gerne die Zeit außerhalb dieses Hauses verbringen, bis Mama einschläft, damit ich nicht noch ein Wort von ihr höre. VIKTOR  Wir unterhalten uns. Warte noch ein bisschen. PAVLÍNA  Viktor!

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VIKTOR  Pavlínchen, du weißt doch, dass ich mit deiner Mutter schon lange reden wollte. Pavlína gibt auf. Setzt sich und schenkt sich Wein ein. Feindselig schaut sie ihre Mutter an. PAVLÍNA  Herrgott. VIKTOR  (redet weiter mit Jana) Ich würde nur gerne die Gelegenheit nutzen, Ihnen zu sagen, dass ich einen Twitter-Account habe. „Ich will mein Leben“, dem zurzeit schon 500 000 Tschechen folgen. PAVLÍNA  Viktor beschäftigt sich mit etwas Wirklichem, Mama. JANA  Du verkündest Weisheiten über Twitter? Für wie viel verkaufst du die Werbung dort? VIKTOR  Nein, ich verkaufe dort keine Werbung. „Ich will mein Leben“ ist eine politische, ökonomische und in ihren Grundzügen auch philosophische Variante der Zukunftslösungen für junge Menschen in Zeiten der Wirtschaftskrise. JANA  Wenn sie lernen, gut Poker zu spielen, wird die Krise sie nicht berühren. PAVLÍNA  Aber nicht jeder kann Poker spielen, Mama. JANA  Er kann. Aber niemand kann es so gut spielen. Ich bin nämlich Millionärin, während andere nichts zu fressen haben. Isst genießerisch ihr rohes Fleisch. Sie schauen sie an. Jana schüttelt den Kopf. JANA  Ein Scherz, ja? VIKTOR  Die grundlegende öknomische Prämisse von „Ich will mein Leben“ liegt vor allem in der flächendeckenden und konkreten staatlichen Unterstützung von Studenten aus Fachgebieten mit einer realen Berechtigung. Weiter wollen wir, also würde ich wollen, im breitestmöglichen Ausmaß die Gebiete der staatlich dotierten Elevenposition zu institutionalisieren, damit die Arbeitgeber sehen können, dass fähige junge Leute produktiv sein können, bevor sie Angestellte werden, und es erleichtert, ihnen einen regulären Arbeitsplatz zu geben. Anders gesagt … wir wollen, dass ein fähiger junger Mensch, der erfolgreich sein will, auch die Chance hat, erfolgreich zu sein. JANA  Na Mahlzeit, du bist ein richtiger Prediger. Warte … wo ist hier irgendein Filzstift? (Beginnt, in der Schublade zu kramen. Zieht einen Filzstift heraus.) Warte … (Malt ihm ein Hitlerbärtchen an.) … Und jetzt versuch es noch mal. PAVLÍNA  Mama … JANA  Vielleicht wirst du wie Eva Braun. VIKTOR  (steht aufrecht. Befeuchtet eine Serviette mit Spucke und wischt sich das Bärtchen ab) Ihnen kann das lächerlich vorkommen, aber ich glaube, dass Sie selbst spüren, dass das, was ich sage, Sinn ergibt … Ich will sagen … Wir müssen unsere Gedanken legislativ unterstützen … wir werden wohl in die Politik gehen müssen, und … (Schämt sich.) 155


PAVLÍNA  Viktors Initiative würde Geld brauchen, Mama. JANA  (lächelt) Ach so. Und wegen dem hast du all den Blödsinn sagen müssen? Ich gebe dir für den Anfang zwei Millionen Euro und werde für dich stimmen, aber du wirst dir neue Klamotten kaufen, du siehst aus wie ein völliger Schlappschwanz. VIKTOR  Aber … zwei Millionen sind eine große Summe … ich dachte, dass … JANA  Ganz ruhig. Die Leute folgen dir auf Twitter, also willst du, das da was rausspringt. Ihr kommt ins Parlament, staatliche Aufträge, Bestechung, ich versteh das … Zweig dir ruhig was davon ab, klar, ich verstehe das … VIKTOR  (beleidigt) Nein, Sie kapieren das nicht, kapieren das nicht, weil sie zu Pokerturnieren fahren und völlig den Kontakt mit der Realität verloren haben. Und das ist genau das, worum es mir geht. Die Jungen sehen heutzutage zu Leuten auf, wie Sie es sind. Zu Leuten, die von einem Tag auf den anderen zu Stars werden, weil sie Poker spielen oder beim Casting für einen Pornofilm Erfolg haben, weil sie irgendeine Anomalie haben oder ein soziales Netzwerk gründen. JANA  Warte, du willst mich doch nicht mit einem Kerl vergleichen, der zwei Schwänze hat? VIKTOR  Es geht nicht um die Zahl der Glieder. Es geht darum, dass die Jungen heute zu diesen Leuten aufschauen und sagen, dass das Glück einmal auch ihnen lacht. Sie warten auf ein Wunder und in der Zwischenzeit sind sie versöhnt damit, dass sie irgendwelchen Berufen nachgehen. Sie glauben nicht mehr an eine normale Karriere und einen Aufstieg im Leben. Sie glauben nicht, dass, wenn sie sich in irgendeinem Handwerk und auch als Menschen vervollkommnen, das Leben sie belohnt. Aber ich gebe ihnen diesen Glauben zurück. JANA  Nein, nein, du bist kein kleiner Adolf, du bist eher so Robin Hood, gepaart mit Winnie the Pooh. (Lacht ihn aus.) VIKTOR  Ja, lachen Sie mich aus, aber es ist so. Ich will, dass die jungen Leute wieder daran glauben, dass die Arbeit eine Belohnung darstellt. Dass Gerechtigkeit ­existiert. JANA  (entzückt) Der Witz, mein Junge, ist gerade der, dass sie nicht existiert. (Streichelt ihn.) Und übermorgen, wenn du das Läuten hörst, werden es nicht die Schlittenglöckchen von Santa Claus' Rentieren sein, es werden nur die Wärter aus der Anstalt sein, aus der du ausgerissen bist, die kommen, um dich zu holen. Lächelt und streichelt ihn. Er weicht ihr aus. VIKTOR  Nein. So sind sie nicht. Sie wissen, dass es anders sein soll. Auch wenn Sie Poker spielen, irgendwo tief versteckt in Ihrer Seele spüren Sie, dass Sie nur Glück hatten und viele Menschen leiden. Und dass ein Bedarf da ist, mit der Welt etwas zu machen. Darum werden Sie mir das Geld geben.

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JANA  Wenn ich dir doch sage, dass ich es dir gebe. Es ist doch Weihnachten, nicht? Und du gehst mit meiner Tochter. Es wird ihr eine Freude machen, wenn ich dir das Geld gebe. Aber erzähl mir nicht solchen Blödsinn. Du willst etwas für dich abzweigen und das verstehe ich. VIKTOR  Nein, das will ich wirklich nicht. Um mich geht es überhaupt nicht. Es geht um das Vertrauen meiner Generation in diese Welt. JANA  (sieht Pavlína an. Ernster) Du glaubst ihm das Geschwätz? PAVLÍNA  Mama … JANA  Jesus. Du bist dumm. Von wem hast du das? Also diesen Havel kannst du von der Liste streichen. VIKTOR  Frau Jana, ich will keine Partei wegen meines persönlichen Gewinns gründen. Ich will reformieren. Ich will für meine Generation kämpfen. JANA  Das denkst du dir. In Wirklichkeit willst du so einen Schlitten, wie du ihn bei mir vor dem Haus siehst. VIKTOR  Autos interessieren mich nicht. JANA  Dann willst du dir verdammt noch mal eben eine Luxusausgabe irgend so eines linken Autors kaufen. Solschenizyn in Leder gebunden auf Kyrillisch, oder was weiß ich. Kumpel, du kannst auf Twitter quasseln, was du willst, aber irgendwo drinnen sind dir ohnehin alle scheißegal und du willst dich gut fühlen. Willst es gut haben. Das ist natürlich bei Menschen, und dass du dir ein Cordsakko anziehst und dir ein Taschenbuch von Marx in die Tasche steckst, ändert nichts daran. PAVLÍNA  Mama. Du bist wieder unappetitlich. JANA  Magst du Pferde? VIKTOR  Selbstverständlich mag ich Pferde. Sie erinnern mich durch ihre Edle, dass es, obwohl die Menschheit nichts taugt, immer noch etwas um uns herum gibt, zu dem man aufschauen kann. Um das es sich zu kämpfen lohnt. Man kann sagen, dass in Pferden noch Edelmut ist, in Pferden ist Gott. JANA  Siehst du, und trotzdem schmecken sie dir. Viktor und Pavlína schauen sie an. VIKTOR  Was? JANA  Basashi. (Zeigt auf das Fleisch.) Vervollständige deine Bildung, Bürschchen. VIKTOR  Aber das ist widerlich. Rohes Pferd essen? Aber nicht doch … Pavlína steckt sich den Finger in den Hals und übergibt sich. Jana fährt an Viktor gewandt fort. JANA  Es hat dir geschmeckt. Du willst nur, dass es ekelhaft ist. Aber es schmeckt dir einfach. Du kannst nichts dagegen machen. Und wenn ich dir die Kohle für die Partei gebe, wird es das Gleiche sein. Du kannst von der Partei reden, davon, wie du für

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deine Generation kämpfst, aber in Wirklichkeit willst du in Autos fahren, großbusige Schnitten bumsen und rohes Pferd essen, und dagegen kannst du nichts machen. Pavlína ist mit dem Erbrechen fertig. Sie schaut Jana an. Mit Verachtung. PAVLÍNA  Mama, ich gehe weg. Ich werde über Weihnachten bei Viktor sein, ja? Du solltest in Therapie gehen. JANA  (reißt verständnislos die Hände hoch) Was, spinnst du? Ich gebe deinem Kasper zwei Millionen Euro, nur deshalb, weil du mit ihm gehst. Hier hast du einen Christbaum. Andere fressen irgendeinen beschissenen Karpfen, und du hast Pferdefleisch. Was willst du denn bitte noch? Wer hat denn solche Weihnachten, jetzt, wo Krise ist? PAVLÍNA  Verpiss dich. VIKTOR  (sieht Jana an) Von Ihnen werde ich nie wieder auch nur einen Cent wollen. Ich dachte, dass all Ihre Reden … dass Sie nicht so böse sein können. Ich dachte, dass Sie, wenn ich Ihnen erkläre, worum es mir geht, sich vielleicht an meinem Projekt beteiligen wollen, damit Ihr verkehrtes Leben irgendeinen wirklichen Sinn bekommt. Ich will Sie nie wieder sehen, und all ihr unappetitliches Geld würde ich nie anrühren … Rohes Pferd essen? Schaut sie mit weit aufgerissenen Augen an. Jana antwortet sachlich. JANA  Eigentlich eher Fohlen. VIKTOR  Was? JANA  Dieses Basashi ist vom Fohlen, es ist noch etwas besser als vom Pferd. PAVLÍNA  (sieht Jana an) Mutti, du tust mir leid. Geht weg. Viktor bleibt eine Weile dort, sieht Jana an. Sie lächelt ihn an. JANA  Du hättest das Geld trotzdem gerne, du Macker, was? Das Ganze ist ein Schwindel, nicht wahr? Viktor sieht sie an. Pavlína ruft ihn von der Tür aus. PAVLÍNA  Viktor, wir gehen. Sie gehen weg. Jana bleibt alleine auf der Bühne. Nimmt sich ein Stück Pferdefleisch, isst. Trinkt es mit Wein hinunter. JANA  Na ja, Karel, alter Arsch. Frohe Weihnachten und so …

V. LÁSKA / DIE LIEBE 1988 – František liegt tot auf der Erde, die junge Jana rüttelt an ihm. JANA  Papa … verdammt … (Mit Mühe zieht sie ihn aufs Bett.) Papa… (Fühlt seinen Puls. Studiert die Instrumente.) Du bist … oh, Jesus … (Tritt erschrocken weg.) Schon? Ich will sagen … ich dachte, dass du noch eine Weile durchhältst … entschuldige … ich habe das nicht so gemeint … du bist ein Held. Herrje. (Schaut ihn 158


an.) Ich weine schon, Papa, keine Angst … Weine … (Versucht mit einer Grimasse Weinen hervorzurufen.) … Entschuldige, ich kann nicht weinen, aber ich bin wirklich traurig. (Versucht es wieder. Ein altes Telefon läutet.) Scheiße. (Geht, um abzuheben.) Schwester … nein, nein, lassen sie uns noch … es ist alles in Ordnung … Ja, klar blinkt das grün. Vielen Dank, dass Sie uns lassen. Es ist wichtig für mich … (Legt auf. Ist unglücklich, aber eher nervös als trauernd. Entschuldigend.) Verdammt, verzeih, Papa. Ich … wollte nicht, dass sie sieht, dass ich nicht weine. Was würde sie von mir denken. Dass ich irgendeine Missgeburt bin. Das ist selbstsüchtig, Papa, nicht? Du bist doch der Tote. Also … das klingt blöd, aber … Verzeih es mir. Aber ich habe noch nie die Leiche meines Vaters gesehen … das ist wohl klar, dass ja … ich … habe dich gerne … auch wenn du so lange in Afrika warst. Ich hab dich echt gern … Ich bin nur gerade … die weibliche Psyche ist kompliziert, weißt du … ich bin traurig … echt … aber ich bin … (Überwindet sich und sagt es ihm.) … schrecklich verliebt. Ich wollte es dir sagen, aber ich sagte mir, dass es dich nicht interessieren wird … ich … es tut mir fürchterlich leid, dass mir Mariáge keinen Spaß gemacht hat. Aber ich verstehe halt immer noch nicht, warum man einem weiteren Spieler wie dem Karel zuspielen soll. Und warum das Unten weniger Wert ist als der Zehner. Und auch diese farbigen, kitschigen Bilder gefallen mir nicht, ich habe die Rommékarten lieber, die sind irgendwie genügsamer und symbolisieren das Glücksspiel mehr. Und warum spielt man nur um eine Krone, kapierst du? Ich mag das Glücksspiel nicht, mich interessiert die Politik, die Gesellschaft und so, aber wenn ich um Geld spielen würde, also schon so richtig, nicht wahr … nein … verzeih, ich weiß nicht, was ich quatsche. Du liegst da tot und ich … ich bin noch jung. Und verliebt. In ihn, na … es ist Havel, Papa, es ist größer als wir und ich … nächste Woche gehen wir ins Wirtshaus … mit ihm und noch sechs so wichtigen Chartisten … seine Frau wird nicht dort sein … eigentlich wird keine Frau dort sein, nur ich … deine Geschichte hat ihm gefallen … wie du in Afrika warst und gesagt hast, dass das etwas Wirkliches ist und dass man dann noch stolzer ist auf das, was man macht, dank dir, dank Leuten wie dir … und das ist … ich bin so aufgeregt, verstehst du? Dank deiner Geschichte hat mich Havel auf ein Bier eingeladen … Danke … (Umarmt ihn.) … Er hat mich auch eingeladen, weil ich eine aufgeschlossene Denkweise habe, weißt du … er hat es so gesagt … ich … ich kann nicht daran denken, dass du … ich würde normalerweise weinen, echt … (Bricht ab.) Bald kommt die Schwester … verzeih, dass ich niemals Mariáge spielen werde, das ist kein Spiel für mich … ich plappere zu viel, nicht? Richtigerweise sollte ich still sein. Wenn du gestorben bist, und … Scheiße, ich bin blöd … ich habe vor dir Scheiße gesagt … dabei bist du gerade gestorben und jetzt schon wieder … Scheiße … schon wieder … was bin ich doch für eine Fotze … (Hält sich den Mund zu.) Entschuldige … (Läuft weg.) 159


VI. POHŘEB / DIE BEERDIGUNG 2011 – Jana trinkt Kaffee und schaut vor sich hin. Eine Glocke läutet. JANA  Karel, das ist doch wohl nicht möglich, wir haben Besuch. Geht die Tür öffnen, es ist Viktor. VIKTOR  Guten Tag. JANA  Ahoj. (Sie gehen hinein.) Magst du einen Weihnachts-Absinth? VIKTOR  Weihnachts-Absinth? JANA  Na, wenn du zu Weihnachten Absinth hast, dann ist es ein Weihnachts-Absinth. Es kommt mir immer vor, dass das Wort weihnachtlich so ziemlich alles rechtfertigt, was nach ihm kommt. Absinth zu trinken ist eine normale Schweinerei, aber Weihnachts-Absinth … (Lächelt, zündet Absinth an, gibt einen Löffel Zucker dazu, schenkt ein.) Du bist vielleicht ein Arsch, aber dadurch, dass du zu Weihnachten gekommen bist, bist du ein Weihnachtsarsch. Und das ist nicht mehr so schlimm. VIKTOR  Aber Weihnachten ist erst morgen. JANA  Dann bist du einfach nur ein Arsch. Und wir trinken den Absinth einfach so. Gibt ihm ein Glas. VIKTOR  Wissen Sie … Sie schaltet den Fernseher ein. STIMME  In die Basilika von St. Veit tritt die ehemalige Außenministerin der USA Madeleine Albrightová ein, die eine sehr enge Freundin Václav Havels war. Und nach ihr die Familie des Expräsidenten und seine Gattin Dagmar. JANA  (lächelt) Ja, Mädchen, der Sieg nimmt alles. VIKTOR  Tut es Ihnen leid, dass sie Sie nicht eingeladen haben? Jana dreht sich zu ihm um. Dreht den Fernseher leise. Lächelt. JANA  Und jetzt glaubst du, dass ich sage, ja, es tut mir leid, und du umarmst mich und sagst mir, dass alles gut wird, mein kleines Mädchen, nicht? VIKTOR  Nein, ich … JANA  Ja, er hat mir gefallen. Aber als die damals im Gasthaus die Sicherungen rausgedreht haben, war er wohl gerade pissen. Ich war hackedicht, ich erinnere mich nicht an viel, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass er gerade pissen war. Ich weiß das nicht zu hundert Prozent, aber das habe ich Pavlína nicht gesagt, damit sie sich denken konnte, dass es irgendeine Wahrscheinlichkeit gibt. Aber ich glaube, dass es der scheußliche Irre mit dem Selbstverlag war, der gegenübersaß. Er stank nach billigem Tabak und ich habe gelacht und in die Dunkelheit gerufen, dass die Wahrheit und Liebe die Lügen und den Hass besiegen werden. VIKTOR  Das ist ein starkes Schlagwort. Aber heute würde das etwas pathetisch wirken. Mein „Ich will mein Leben“ kommt mir nüchterner vor, bescheidener und roher. 160


JANA  Das Geld ist in den Plastiktüten. (Zeigt auf Tüten in der Ecke.) VIKTOR  Ich … habe darüber nachgedacht und mir gesagt, dass ich vielleicht doch … JANA  (trinkt Absinth) Mir ist das wirklich scheißegal, wozu du das Geld brauchst. Du gehst mit meiner Tochter, es ist Weihnachten, nimm es dir. Ich werde das morgen in Griechenland gewinnen. An einem Tag. VIKTOR  Pavlína wäre es lieber, Sie würden mir das Geld deswegen geben, weil sie an mein Programm glauben. Es würde sie mehr freuen, als wenn Sie es mir nur ihretwegen geben. JANA  (schenkt Absinth ein) Mein lieber Goldjunge, weißt du, wie man beim Pokern Geld bekommt? VIKTOR  (trinkt. Lächelt ruhig) Wie? Beglücken Sie mich mit einer weiteren unbarmherzigen Wahrheit. JANA  (versteht das nicht ganz, redet) Die Casinos sponsern die großen Wettbewerbe. Die Casinos leben vom Geld der Spieler und die Gambler sind Leute, die genauso denken, wie du über deine Freunde erzählt hast. Sie warten auf den Gewinn wie auf ein Geschenk des Himmels. Sie glauben nicht daran, dass Gerechtigkeit existiert, dass sie, wenn sie arbeiten würden, ein schönes Leben hätten. Und die Krise, Freundchen, erschafft einen Haufen dieser Leute. Morgen in Athen haben wir ein Turnier um fast den höchsten Einsatz. Der höchste Einsatz im Land mit der größten Scheiße. Und weißt du, warum? Die Leute dort haben schon völlig den Glauben verloren, also schmeißen sie das Geld in Spielautomaten wie noch nie. Also wird deine Robin-Hood-Partei also deshalb finanziert, weil es eine Krise gibt. Dank der Krise bin ich statt reich unappetitlich reich. Und du kannst dir dank des Geldes auch etwas von der Krise abzwacken. Ohne die könnte eine solche Partei gar nicht entstehen. VIKTOR  Ich weiß. Er schaut sie an. Sie schaut ihn an. JANA  Na siehst du. So blöd bist du doch nicht. Aber mir geht es jetzt wirklich am Arsch vorbei, wie viel du dir davon abzweigst. Sei nur gut zu Pavlína. Trag deine Plastiktüten fort und sei lieb zu Pavlína. (Trinkt. Er lächelt sie an.) Was glotzt du? Viktor packt sie und fängt an, sie zu küssen und anzufassen, sie schiebt ihn weg und gibt ihm eine Ohrfeige. JANA  Hat man dir ins Hirn geschissen oder was? Bist du irgend so ein gerontophiles Schwein oder was? Denkst du, dass ich danach das Gefühl hätte, dass ich was bezahlt hätte? Ich habe dir gesagt, dass du die Taschen wegtragen sollst. VIKTOR  (fasst sie an) Du zitterst. Und ich habe gespürt, dass sich deine Brustwarzen versteift haben.

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JANA  (genervt und mitfühlend) Herrgott. Und das zu Weihnachten. Bursche, morgen bekommst du vom Christkind nur Kohle. VIKTOR  Du hast gesagt, dass es das Christkind nicht gibt. Und jetzt haben sich deine Brustwarzen aufgerichtet, weil es Dinge gibt, die dich interessieren. Wie du mich gestern gestreichelt hast, als ich das Fohlen gegessen habe, ich habe es gespürt. Ich habe gespürt, dass ich dir gefalle. Das du noch etwas spürst. Dass du noch lebst. Um am besten gefällt dir, was ich über die Politik sage, über die Zukunft und so. Ich bin wie er, nicht wahr? (Zeigt auf den Fernseher.) Du bist verschlossen seit dieser Zeit, als er es dir nicht gegeben hat. Du hast ihn geliebt, und er wollte dich nicht. Du wolltest ein anderes Leben. Und seit dieser Zeit fürchtest du, dass du dich verbrennst. Du wehrst dich auch, Pavlína zu lieben. Du tust lieber so, als würdest du sie dir kaufen. Aber als sie dieses Kleid von dir genommen hat, habe ich gesehen, wie deine Augen geleuchtet haben. Du willst ihr einfach eine Freude machen. (Greift wieder nach ihr.) Aber jetzt hast du ein Problem. Ich gefalle dir. Du hast es wohl schon lange nicht mehr mit jemandem gemacht. Das hier wird Pavlína wohl keine Freude machen. Wie hat das dieser Havel gesagt? (Parodiert Havels R-Fehler.) Ich glaube fest daran, dass Wahrheit und Liebe über Lügen und Hass triumphieren werden. (Spricht wieder normal.) Das gefällt dir. Aber du kannst das Pavlína nicht antun, nicht wahr? Mit mir zu schlafen? Begrapscht sie weiter. Sie schüttelt ihn wieder ab. JANA  Hör mal, ich kapiere zwar nicht, was du an mir so reizvoll findest. Aber wenn du so geil bist, dann gebe ich mir das. Für eine Million Euro. Wenn du es mit mir treibst, bleibt eine Tasche da. Umsonst gebe ich dir echt nichts, sorry. VIKTOR  Klar, so machst du das, damit es so aussieht, als wäre dir alles egal. Aber wenn wir miteinander schlafen werden, wird es dir anzusehen sein. Ich werde sehen, wie du die Liebe erlebst, ich werde sehen, wie du es genießt und wie du dir gleichzeitig vorwirfst, dass du mit dem Jungen deiner Tochter schläfst. Es wird dir gefallen, umso mehr, dass du es dir immer vorsagen wirst: Wenn mich mein Mädchen sieht … es wird stark sein, viele Gefühle, von denen du behauptest, dass du sie nicht hast, und alles wird rauskommen. Und ich werde sehen, wie schwach und winzig du bist, ohne deine ironischen Reden. JANA  Du bist ein Depp, das ist nicht möglich. Du solltest in Therapie gehen, Viktor. Ich werde das filmen und als Kuriosum auf YouTube stellen. Ein junger Mann zahlt eine Million Euro für Sex mit einer zwanzig Jahre älteren Frau. Er begrapscht sie. VIKTOR  Aber … du bebst ja geradezu … Stellt die Übertragung von Havels Begräbnis laut. Jana zieht sich aus. Schaut den Fernseher an. 162


STIMME   Der Prager Erzbischof Dominik Duka wird bald die Begräbnisrede halten. JANA  Ja, für eine Million kannst du die Geräuschkulisse haben, die du willst. Sie schlafen miteinander, mit dem Gesicht zueinander. Man hört die Übertragung von Havels Begräbnis. VIKTOR  Es gefällt dir. Und nicht nur wie einfaches Bumsen. Es gefällt dir, weil es schön ist. JANA  Du hast mir eine Million Euro gegeben. Es ist Liebe für eine Million Euro. Du bist ein armer Kerl. VIKTOR  Es gefällt dir und du schämst dich dafür. Du genießt es. Aber was, wenn deine Tochter kommt? Verlierst du das Letzte, was du hast? JANA  Ich wundere mich kein bisschen, dass du für Sex zahlen musst. Früher haben die Kerle zwar mehr gestunken, aber wenigstens konnten sie ficken. VIKTOR  Ich habe Pavlína gesagt, dass sie kommen soll. JANA  Was? Hält still. Jemand kommt die Treppe rauf. VIKTOR  Ja, da ist sie. Gerade richtig. JANA  Du Vollidiot. Sie will sich losreißen, aber er hält sie fest. VIKTOR  Es ist dir doch egal, ob sie uns erwischt … Du leidest doch sowieso nur an ihr, hast sie dir ganz zufällig gemacht und was jetzt, was machen mit ihr? In Wirklichkeit liebst du sie doch nicht. Oder doch? (Sie will sich von ihm losreißen.) Ich habe bezahlt … JANA  Nein … behalt das Geld. (Reißt sich los. Ist fast nackt, versucht, sich anzuziehen.) VIKTOR  Also liegt dir doch an etwas. Das ist gut, Jana. Jana schafft es nicht, sich anzuziehen. Pavlína kommt herein. PAVLÍNA  Mama … Viktor … Jana zögert, dann beherrscht sie sich. JANA  Nicht nur, dass er ein Depp ist, ficken kann er auch nicht, ich kapier nicht, warum du mit ihm zusammen bist. Viktor lächelt. PAVLÍNA  Viktor … VIKTOR  Ich musste herausfinden, ob sie noch etwas spüren kann. Schau, sie ist ganz rot. Sie schämt sich. Genauso, wie sie sich für das schämt, was sie ist. Jana schaut Pavlína an. Erholt sich. Setzt ein Pokerface auf. JANA  Wie ist es möglich, dass du mir so ein Arschloch nach Hause bringst, dass mit mir schlafen will? PAVLÍNA  Was? Mama, machst du Witze?

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VIKTOR  Sie blufft nur. Sie hat dich gern. Echt. Und jetzt schämt sie sich dafür, was sie gemacht hat, siehst du? Sieh dir ihr Pokerface an. Sie hat dich gern, Pavlína. Verzeih, aber das musste ich ausprobieren. PAVLÍNA  Was? Ausprobieren? JANA  Kommt dir das Ganze nicht etwas blöd vor gegenüber jemandem, der dir Geld geben will? Weißt du was, ich scheiße darauf, ich gebe dir gar nichts. Viktor zieht eine Pistole hervor. Pavlína schreit auf. VIKTOR  Aber genau das wirst du tun. Du wirst mir alles geben. Zielt auf Pavlína. PAVLÍNA  Viktor … VIKTOR  Verzeih mir, aber ich musste ihren Schwachpunkt finden. Ich sagte … Jana beruhigt sich. JANA  Von wem bist du so blöd, Herrgott? Du bringst uns einen Burschen ins Haus, der uns ausrauben will. PAVLÍNA  (hysterisch) Mama, er zielt mit einer Pistole auf mich, und du beschimpft mich noch. JANA  Soll ich dich jetzt loben oder was? VIKTOR  Pavlína, niemandem geschieht etwas. Und du kapierst selber, dass ich deine Mutter ausnehmen musste. Na, ist das nicht schön? (zu Jana) Du hast es selber so schön gesagt. Leute wie du sind die Parasiten der Krise. Dein Geld ist schmutzig, und ich werde es dir jetzt wegnehmen. So wie dieser Robin Hood. JANA  Robin Hood war aber im Gegensatz zu dir kein solcher Schlappschwanz. VIKTOR  Ich weiß, dass du das alles hier irgendwo in Goldbarren hast, weil du den Banken nicht traust. JANA  (schaut Pavlína an) Das hast du ihm auch gesagt? Herrgott … (Lacht und schüttelt den Kopf.) VIKTOR  Ich bin dein prize money der letzten paar Jahre durchgegangen und … PAVLÍNA  Viktor … VIKTOR  (dreht sich abrupt zu Pavlína um) Du bleib, wo du bist. (Setzt ruhiger fort.) Alles zusammen wird das um die 50 Millionen Euro ausmachen. Davon kann man sich schon eine ordentliche Kampagne kaufen. Wir kommen in die Regierung, und mit Leuten wie dir ist Schluss. Keine Verehrung von Mark Zuckerberg mehr, von zweischwänzigen Pornodarstellern und Leuten wie dir. Zumindest hier bei uns werden die Leute wieder daran glauben, dass es sich lohnt, von Montag bis Freitag zur Arbeit zu gehen. Dass es sich lohnt, zu leben. Und wer weiß, vielleicht bemerkt man das auch anderswo in Europa. Es wird nötig sein, viele radikale Maßnahmen zu setzen, aber die Gerechtigkeit wird zurückkehren.

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JANA  Kannst du die Fresse halten? (Zeigt auf Pavlína.) Sie ist so blöd, dass sie dir das glaubt, dass du das für irgendeine Partei willst. PAVLÍNA  (schluchzt) Mama … JANA  (zu Viktor) Ich gebe dir das Geld, nur um dein Geschwätz nicht mehr hören zu müssen. Den Schlüssel zum Tresor habe ich hier in der Schublade. VIKTOR  (lächelt) Gut. Jana greift in die Schublade, zieht eine Pistole heraus, zielt auf Viktor, der wird unsicher. Pavlína schreit auf. Viktor zielt auf Pavlína, Jana auf Viktor. JANA  Und jetzt glotzt du blöd. Das ist eure ganze Generation. Immer nur Geschwätz, und dann, wenn ihr es verschissen habt, dann glotzt ihr. Sie stehen. Pause. VIKTOR  Wenn du abdrückst, drücke ich auch ab. Das ist eine Pattsituation. JANA  So ein Scheiß, welche Pattsituation denn? Sie geht mir am Arsch vorbei. Warum habe ich wohl mit dir geschlafen? Es war mir einfach nur zu blöd, dass sie mich dabei erwischt, das ist alles. VIKTOR  (genervt) Versuch das nicht bei mir. Ich habe klar gesehen, dass dir etwas an ihr liegt. JANA  Aber da ging es um den dämlichen Fick, das war mir echt zu blöd. Aber jetzt geht es um all mein Geld. Riskierst du es? Glaubts du, sie ist mir 50 Millionen Euro wert? Pavlína weint. VIKTOR  Du bist errötet, du warst geil, aber du bist errötet, ich habe dir in die Augen geschaut, und da war ein: mach es nicht, mach es nicht wegen Pavlína. Du bläffst, Jana. JANA  Erstens heißt es bluffen, nicht bläffen. Und zweitens, ich lebe davon, zu bluffen. Und ich denke, dass eher du bluffst. VIKTOR  (zittert) Du weißt genau, dass mich nur die Partei interessiert. Sie nicht. Für eine Chance auf eine Wende würde ich alles tun. Ich würde abdrücken. JANA  Ich weiß, dass du von der Partei quasselst. Vielleicht wolltest du das ganz am Anfang auch. Aber du hast das Geld hier gespürt und darauf geschissen, und jetzt bist du in dieser Scheiße hier. Ob du Pavlína gern hast, weiß ich nicht. Ich weiß es auch nicht, weil das, was hier passiert, nur beweist, dass sie vollkommen dämlich ist. PAVLÍNA  Mama!!! (Heult.) JANA  Warum hast du ihm die Goldbarren nicht gleich selbst gegeben, du Kuh? (Setzt ruhig zu Viktor fort.) Ich glaube, dass du nur bluffst, weil dir die Eier fehlen, um sie zu töten. Du hast keine Eier für gar nichts. Du hast das Geld gerochen, dir ist klar geworden, dass du dein Leben verändern kannst und vielleicht so leben kannst 165


wie ich. Aber ich hab, verdammt noch mal, Eier, im Gegensatz zu dir. Wie hast du dir überhaupt denken können, dass du mit mir irgendwelche Spielchen spielen kannst? VIKTOR  Ich … JANA  Leg das hin, Freundchen. Das ist echt ein schlechtes All In. Du hast gerade mal ein Paar in der Hand, und du hast keinen Schimmer, was ich in der Hand habe. Du riskierst nichts, aber ich kann um fünfzig Millionen kommen. Das macht mich echt wahnsinnig. VIKTOR  Das wirst du nicht machen, ich erschieße sie. JANA  Viktor, Liebster, ich weiß, dass du das nicht tust … weißt du, warum? VIKTOR  Weil du Poker spielst, verdammt noch mal. Das hast du schon gesagt. Er ist hysterisch. Jana lächelt. JANA  Nein, du Macker, nicht wegen Poker. Ich sehe nämlich, dass du dich eingepisst hast. VIKTOR  Was? (Sieht auf seine Hose, erschrickt.) JANA  Wenn ich mich aufmache, um mir mit einer Knarre fünfzig Millionen zu holen, dann zieh ich mir, verdammt noch mal, mindestens zwei Unterhosen an, das kann dir jeder Räuber sagen. Hau ab. (Viktor schaut sie an.) Renn oder ich knall dich echt ab. (Viktor haut ab. Jana setzt sich hin und schneuzt sich.) Und das soll die Blüte deiner Generation sein, Pavlína. So ein Weichei. So kommen wir nie aus der Scheiße raus. (Geht zu Pavlína. Die weint. Heftig. Hockt.) Na komm, es wird alles gut. (Will sie umarmen.) PAVLÍNA  Lass mich! Hörst du? JANA  Hör mal, wenn dich stört, was ich gesagt habe, als er die Pistole auf dich gehalten hat. Ich habe echt nur geblufft. PAVLÍNA  Was? Aber wie soll ich das verdammt noch mal erkennen? Und wie konntest du nur … mit Viktor … JANA  Ich wollte ein bisschen Spaß haben. Dafür entschuldige ich mich bei dir. Und auch, dass ich ihm vorgespielt habe, dass es mich stört, dass du uns erwischt hast. Da habe ich auch ein bisschen geblufft. PAVLÍNA  Was? JANA  (ruhig) Schau her. Ich wusste die ganze Zeit, dass er nur quasselt. Er hat ein typisches Spiel gespielt, wie es ein Amateur spielt, der ein anständiges Blatt in die Hand bekommt, sagen wir ein Full House. Mit seiner Lösung der Krise hat er sich eine gute Sache ausgedacht, das war sein Full House, und dann kam er, um um zwei Millionen zu spielen, das ist schon ganz gut, wenngleich nur ein Almosen. Wahrscheinlich hat er selber nicht gewusst, ob er sich was davon abzweigt oder es echt in die Partei steckt, das ist egal. Ich wollte nicht mit ihm spielen, er hätte 166


dir dann irgendwann mal was gehustet, und das wäre ein kleiner Verlust gewesen … Den vergisst du beim nächsten Spiel. Aber er hat Geld gerochen, und wollte für sein Full House 50 Millionen. Er hat sich ganz angepisst deswegen. Und das war nicht akzeptabel für mich. Spiele mit so hohem Einsatz verliere ich nicht. Also habe ich ihm in die Karten geschaut – ich meine, dass ich ein bisschen mit ihm gevögelt habe und so, sorry – und dann, als mir klar war, wie er tickt, hab ich ihn überblufft, das war dann schon leicht. PAVLÍNA  Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst. JANA  Heute wollte er keine Partei mehr gründen. Er war genauso armselig wie jeder andere auch. Er wollte uns nur das Geld nehmen. Ich muss sagen, dass der Havel wenigstens an etwas geglaubt hat. (Sie öffnet die Arme. Fröhlich.) Jedenfalls hab ich uns gerettet, gib deiner Mama ein Küsschen. PAVLÍNA  (sieht sie an) Mama, verarscht du mich? Du hast mit meinem Freund geschlafen, und als er die Knarre auf mich gerichtet hat, hast du ihm gesagt, er soll mich ruhig abknallen, und das entschuldigst du damit … JANA  Ich hab geblufft. Na. Wir haben es hinter uns. Alles ist wieder gut. PAVLÍNA  (weint) Nein, es ist nicht wieder alles gut, Mama. Es ist wirklich nichts wieder gut. JANA  Ich habe dich gern. Als ich diese Sachen sagte, habe ich nur geblufft. Pavlína, kapierst du das? PAVLÍNA  Und weißt du das sicher? JANA  Ja. PAVLÍNA  Ja? Jana sieht sie an. Weiß nicht, was sie sagen soll. Pavlína schüttelt den Kopf. PAVLÍNA  Du weißt es nicht. Du spürst nichts, Mama. Sonst hättest du hier nicht machen können, was du gemacht hast. Du bluffst, weil du nichts fühlst. Weil du die beste Pokerspielerin der Welt bist. Weil dir alle die Sachen um herum dich zusagen. Die erste Klasse in Flugzeug sagt dir zu, voller unappetitlicher Unternehmer, Popstars von zweifelhafter Qualität und Diebe. Es gefällt dir, dass ein paar Schweine alles haben und die anderen nichts. Die Ungerechtigkeit gefällt dir. Wenn du feststellst, dass jemand wie Viktor eine Sau ist, freust du dich. Weil du auch eine Sau bist, Mama, eine kaltblütige Sau. Mir tut das leid, weil du meine Mama bist. Aber du bist eine kaltblütige Sau. Und diese verhurte Welt gefällt dir. Es ist dein Heimspielplatz. Die bist in dieser verhurten Welt wie ein Fisch im Wasser, weil du nichts fühlst. Aber wie ist das möglich, Mama? Wie? Jana sieht sie an. Dann sieht sie den Fernseher an. Dominik Duka beendet gerade seine Rede über den Tod von Václav Havel.

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VII. POROD / DIE GEBURT 1990. Die junge Jana liegt mit dickem Bauch in der Geburtsstation. Im Fernsehen läuft die Inaugurationsrede Václav Havels. JANA  Herrgott, ist das ein Geschwätz. (Steht auf.) Ich gehe wie ein Pinguin, der sich einen Wolf gerieben hat, verdammt. (Legt sich hin. Spricht mit dem Havel im Fernsehen.) Na, bist du aber klug. Und was für eine schicke Lederjacke du hast … aber ich sehe im Liegen nur die obere Hälfte des Bildschirms, weißt du? Warum? Wahrscheinlich, weil ich nicht über den Bauch drübersehe, den du mir gemacht hast, verdammt … schade, dass deine Visage immer in der oberen Hälfte ist … also kann ich ihr nicht ausweichen … ich weiß, dass du jetzt der Präsident bist und wichtige Dinge zu tun hast … (Irgendetwas im Fernsehen regt sie auf.) Welche Wahrheit und Liebe, du Vollidiot? Verpiss dich mit deiner Wahrheit und Liebe. Ich liege hier mit einen Bauch wie eine Kuh, weil du mich gefickt hast, und es tut weh wie Sau, also erkläre mir nichts von der Wahrheit und der Liebe … (Stöhnt vor Schmerz.) Mir geht deine Revolution vollkommen am Arsch vorbei … ich will nur, dass meine Fruchtblase platzt … (Wieder regt sie etwas im Fernsehen auf.) Ach so, dir ist ein Traum in Erfüllung gegangen? … Na, mir aber auch. Duu weißt nicht zufällig, was ich mit diesem Balg da machen soll? Unter den Kommunisten hätte mir der Zuschuss gereicht, aber jetzt … Warum zum Teufel hab ich es nicht wegmachen lassen? Angeblich ist es richtig, ein Kind in diese neue Welt zu bringen … Verdammt … Hauptsache, du hast eine schöne Aussicht von der Burg. Von wegen, ich soll das niemandem sagen. (Beginnt, den Fernseher anzubrüllen.) Warum hätte ich es jemandem sagen sollen? Da wäre ich ja eine komplette Vollidiotin! (Setzt sich mit Mühe auf und schaltet den Fernseher aus.) Du Kretin! Au! (Fasst sich an den Bauch. Atmet aus. Klopft sich auf den Bauch.) Da siehst du es, der Papa ist schon Präsident, aber auf der Burg da pfeift man ein bisschen auf uns … Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten die Sicherungen in dem Gasthaus nicht wieder reingeschraubt und ich wüsste nicht, wer dein Vater ist … Neue Welt, angeblich … Aber offensichtlich werden auch in der neuen Welt Schwänze regieren … (Pause) … Aber das geht mir am Arsch vorbei, am schlimmsten ist, dass du spürst, dass ich dich nicht will … Ich fühle schon wieder, dass ich anders fühle, als ich sollte … wie als der Papa gestorben ist … Als er gestorben ist, war ich wenig traurig, habe versucht, zu weinen, aber es ging nicht … Und jetzt sollte ich glücklich sein, und stattdessen bete ich, dass ich es schon hinter mir habe, und bin angefressen, dass ich nur den halben Fernseher sehe … Wenn mich der Papa sehen würde … Herrgott … auch die Schule hab ich wegen dem Vašek nicht fertiggemacht … Papa … verzeih mir … (Sie steht auf. Es tut ihr weh.) Verdammt noch mal. Und die Schwestern glotzen 168


deinen Papa im Fernsehen an, anstatt mir zu helfen … Das wird keine bessere Zeit, das sage ich dir … (Taumelt zum Bücherregal.) Na egal, also wenn nicht fernsehen … … also, was haben wir da … Dichter im Selbstverlag … die heutige Zeitung mit dem Foto deines Vaters, also nicht mal irrtümlich … und ein Buch auf Englisch … das ist doch nicht möglich … Es ist nach der Revolution, und darum sollen wir hier im Osteuropa wohl englische Bücher lesen. (Nimmt das Buch heraus. Es ist ein Buch über Poker.) Poker, ah … (Sieht nach oben.) Das wird hoffentlich besser als Mariáge, Papa … (Geht und legt sich mit den Buch hin.) Verdammt, zappel nicht so herum, weißt du, wie es mir jetzt weh tut … (Liest.)

VIII. VÁNOCE / WEIHNACHTEN 2011 Jana sitzt, raucht und trinkt. JANA  Also, frohes Fest und so, Karel … Warte, ich lese dir was vor … wenn schon Heiligabend ist … (Holt einen Brief hervor, liest.) 24.12.1980. Heute ist Heiligabend, und darum haben sie mir freigegeben, auch wenn ich kein Erdöl verschluckt habe … Ich entschuldige mich, wenn ich in den vorigen Briefen irgendeinen Blödsinn geschrieben habe. Ich dachte, wenn deine Dollars dabei sind, wird das nichts machen. Heute schreibe ich nur dir. Vor einer Woche habe ich deine Mutter erreicht, ich weiß jetzt alles, ich hoffe, sie lässt dich das lesen. Ich hatte keine Zeit zu weinen, weil ich die ganze Woche auf der Bohrung war, Zeit habe ich erst jetzt … Auf einmal weiß ich nicht, warum ich hier bin … Ich huste schon ein Monat … wahrscheinlich wegen der Dämpfe … Bevor ich erfahren habe, dass ihr das Geld nicht bekommt, war ich stolz. Jedem habe ich erzählt, dass ich für euch huste. Aber jetzt? … Heute habe ich das erste Mal nach langer Zeit frei, und es ist schrecklich … Ein Slowake war hier, ob wir nicht Mariáge spielen … Wir haben einen Dritten gebraucht, damit wir das Lizitierte spielen können, also haben wir Karel erschaffen, einen imaginären Mitspieler … Wir spielen für ihn, mit offenen Karten … und weißt du was, Karel gewinnt immer … der ausgedachte Spieler … Er hat so viele Dollars gewonnen, dass er sich davon kaufen könnte, was er wollte … Mir nützen die Dollars nichts, ich gelange nie mehr nach Hause … Der Slowake auch nicht, aber Karel, Karel wird es guthaben, weil es Karel egal ist, was um ihn geschieht, Schwarze, Kommunisten, alles ist Karel egal, er spielt Mariáge und gewinnt … Einmal werde ich dir den Karel vorstellen, Jana. Dein Papa. (Jana legt den Brief weg.) Da siehst du es, Karel … Pavlína kommt herein. PAVLÍNA  Du bist nicht nach Griechenland gefahren? Jana schüttelt mit dem Kopf. 169


JANA  Ich hatte keine Lust, hinzufahren. Es ist Heiliger Abend. Pavlína nickt. Nimmt den Brief, liest ihn. Nickt mit dem Kopf. Sie schauen vor sich hin. PAVLÍNA  Ich schalte den Fernseher ein. JANA  Nein, ich habe vom Begräbnis die Schnauze voll. PAVLÍNA  Nein, warte, das Trauern ist beendet. Heute sind Märchen. JANA  Ja? PAVLÍNA  (nickt) Ja. (Dreht den Fernseher auf. Es läuft Die Stolze Prinzessin. Sie schauen eine Weile gemeinsam.) Eine Schulfreundin hat mich angerufen. Dass sie angeblich ihren Vater aus einer großen Firma entlassen haben, die pleite gegangen ist. Sie haben in diesem Jahr kein Weihnachten. (Jana nickt.) Ob wir ihnen nicht was borgen könnten. (Jana schaut sie an.) Aber du kennst das, wenn du einem was borgst, dann wollen alle. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht geht. „Du weißt doch, was für eine Sau meine Mutter ist“, habe ich ihr gesagt. (Sie lächeln sich an. Schauen gemeinsam fern.) Ich will, dass du mir das Spielen beibringst. JANA  Was? PAVLÍNA  Bring mir Poker bei. JANA  Aber für Texas Hold ‘em müssen wir mindestens zu dritt sein. PAVLÍNA  Kein Problem, oder? Nickt in Richtung Brief. Jana schaut, und dann nickt sie. Lächelt, zieht die Karten aus der Schublade. JANA  Also schau. Jeder bekommt zwei Karten. Ich gebe. Karel ist ein sogenannter Small Blind, was heißt, dass er beginnt und einen Vierteldollar setzen muss … Du bist ein Big Blind, du musst einen halben Dollar setzen, ich gehe mit oder werfe die Karten weg … Ja, ich fürchte mich nicht, also gleiche ich es aus. Karel hat einen Scheiß in der Hand, er verwirft. (Legt Karels Karten weg. Sieht in Janas Karten.) Zeig her. Du hast auch einen Scheiß in der Hand, einen Achter und einen Dreier, aber du bist kein solcher Feigling wie Karel, also kannst du Eier haben und ihn ausgleichen … Die Musik des Weihnachtsmärchen spielt, wird immer lauter, bis man Jana nicht mehr hört, die mit Pavlína und Karel Texas Hold'em spielt. ENDE

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Petr Zelenka

Vฤ RA Aus dem Tschechischen von Eva Profousovรก


PERSONEN VĚRA ihr VATER BRUDER EHEMANN SCHWÄGERIN SEKRETÄRIN PAUL, Manager BEATA, Managerin BOB, Schauspieler NICHTE Bára FOTOGRAF MAGDA, Schauspielerin PFLEGERIN POLIZIST THERAPEUT MANN (Nachbar) BARMANN FRAU (auf dem Friedhof)

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Gegenwart

1. PATHOLOGIE. VĚRA UND DER POLIZIST   Vĕra reicht dem Polizisten eine Mappe. VĚRA  Das war ihre Mappe. Die dürfen Sie behalten. Polizist blättert die Mappe durch, sie besteht aus ein paar Fotos und Informationen bezüglich Körpermaßen, Gewicht, besonderen Fertigkeiten, bisherigen Rollen. POLIZIST  Sie haben die Verstorbene vertreten seit …? VĚRA  Zweitausendundvier. POLIZIST  Was heißt das konkret? VĚRA  Ich habe ihr Arbeit vermittelt – in der Werbung, im Fernsehen. Aber ich hatte keine Exklusivitätsrechte. POLIZIST  Was bedeutet das? VĚRA  Sie durfte auch woanders arbeiten, war nicht an mich gebunden. POLIZIST  In welchem Umfang hat Frau Mullerová im letzten Jahr für Sie gearbeitet? VĚRA  Kaum. Wahrscheinlich gar nicht. Sie verkaufte sich nicht gut. Da müsste ich nachschauen. POLIZIST  Wir haben Sie hierher bestellt, weil der letzte Anruf vom Handy der Verstorbenen an Ihre Nummer ging. VĚRA  Tut mir leid, das weiß ich nicht mehr. POLIZIST  Die Verstorbene hat Sie im letzten Monat ungefähr zweihundert Mal angerufen. (Geht davon aus, dass seine Bemerkung Vĕra zum Nachdenken bringt, aber sie reagiert nicht.) Sie haben kein einziges Mal abgenommen. VĚRA  Hm. POLIZIST  Überrascht Sie das? VĚRA  Ich kann nicht mit jedem schwatzen. POLIZIST  War Frau Mullerová depressiv? Panisch veranlagt? VĚRA  Hm … laufend. POLIZIST  Wollen Sie sagen, dass Schauspieler laufend depressiv sind? VĚRA  Ja. POLIZIST  Schauspieler, die Sie vertreten, oder alle Schauspieler? 175


VĚRA  Wissen Sie, in dieser Branche muss jeder auf sich selbst aufpassen. Ich bin keine Nanny. Und wenn sich einer umbringt, nur damit ich ans Telefon gehe, dann ist da etwas falsch gelaufen, oder? Mir tut das selbstverständlich leid, aber das Leben geht weiter. Auf ihre Stelle warten zehn andere. Polizist sieht sie an. POLIZIST  Wir gehen nun zur Identifikation der Verstorbenen über. Geht zu einem Tisch, auf dem ein mit Laken zugedeckter Leichnam liegt. Vĕras Telefon klingelt, sie nimmt ab. VĚRA  Magda, Schatz, warte einen Moment, ja? Das Taxi wartet schon. Ja. Polizist lüpft das Tuch. Vĕra sieht hin. VĚRA  Ja, das ist sie. MUSIK. Polizist ab.

2. WOHNUNG VON VĚRAS VATER. GEBURTSTAG. TAG Bei der Feier anwesend: Vater, Bruder und dessen Frau Blanka. Während des Telefongesprächs entsteht um Vĕra ein neues Bühnenbild. Bruder und Schwägerin treten ein. Sie nehmen das Laken vom Tisch ab, auf dem die tote Schauspielerin lag, und enthüllen so eine feierlich gedeckte Tafel. Als wichtige Requisite eine Schachtel mit Kleenextüchern. VĚRA  (in den Hörer) … Ja. Er hat ein Minischwein dabei. Ein Schweinchen. Keine Ahnung, was für eine Rasse. Oder doch, Moment mal. Ein chinesisches Minischwein. So wie George Clooney. Ist halt modern. Hunde sind out, Schweine sind in. – Damit habe ich nicht Sie gemeint. – Nein, die kommt nicht mit. Offensichtlich reist er lieber mit dem Schwein als mit seiner Gattin durch die Gegend. – Alex, so heißt er – keine Ahnung, wie das Tier heißt! – Das Web ist voll mit Schweinefotos … nein, das habe ich nicht. Ich will mal schauen, ob ich eins finde. Ja. Bis dann. Legt auf. Wählt sofort eine andere Nummer. VĚRA  (in den Hörer) Lucie, haben wir ein Foto von Alex’ Schwein? Das Hotel will es haben. – Keine Ahnung. Vielleicht haben sie Angst, dass es ihnen die Vorhänge wegfrisst. … Danke, das wäre nett. Während sie telefoniert, begrüßt sie die Gäste. Schwägerin gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Vĕra gestikuliert, das Telefonat sei langweilig, sie könne aber nicht auflegen. Schwägerin deutet Verständnis an. Vĕras Bruder tritt ein. Schüttelt ob ihres Telefonierens den Kopf. Endlich legt Vĕra das Telefon weg. 176


VĚRA  So. Jetzt bin ich für euch da. Entschuldigt bitte. BRUDER  Seit wann arbeitest du im Schlachthof? Ich dachte, du vertrittst Menschen. VĚRA  Ein VIP-Kunde aus England will sein Minischwein mit im Hotel haben … Ihr habt das bestimmt schon mitbekommen … wir sind mit Global Casting fusioniert und ich kümmere mich auch um deren Leute. SCHWÄGERIN   Findest du das gut? VĚRA  Verdammt GUT. BRUDER  Bist du deswegen eine Stunde zu spät? SCHWÄGERIN   Lass das. VĚRA  Er hat Recht. Ich bin furchtbar. Aber ich hab immerhin das Programm besorgt. BRUDER  Meinst du die Zwerge? SCHWÄGERIN   Waren das auch Leute aus deiner Agentur? VĚRA  Sie hatten gerade nichts zu tun, also habe ich sie zu euch geschickt. Haben sie sich in der Luft gedreht? SCHWÄGERIN   Haben sie. War super schön. BRUDER  Einer hat ständig gefurzt. SCHWÄGERIN   Sie waren doch süß. BRUDER  Wir alle haben es gehört, aber getan, als wäre nichts passiert. Aber du als ihre Managerin solltest ihnen schon sagen, dass sie nicht furzen sollen. Letztendlich sind das erwachsene Leute, auch wenn sie nur hundertzehn Zentimeter groß sind. VĚRA  Bruderherz, lass mich doch in Frieden, heute ist mein großer Tag. BRUDER  Heute ist VATERS großer Tag. Vater kommt, Vĕra fällt ihm um den Hals. VĚRA  Papa! Seit seinem Schlaganfall muss Vater immer weinen, wenn ihn Rührung überkommt. VATER  VĚRA! Wie schön, dich zu sehen! (weint) VĚRA  Alles gut? Wie geht’s dir? VATER  Alles gut. Nur das Heulen nervt. VĚRA  Wir sind das schon gewohnt. Uns würde es fehlen. (Ihr Telefon klingelt. Sie wirft einen Blick auf das Display, dann auf ihren Bruder, und macht es aus. Zu ihrem Bruder) Okay, ausgemacht. Zufrieden? Ist mir dadurch wahrscheinlich ne Menge Geld durch die Lappen gegangen, aber egal. Ihr seid mir wichtig. So, Papa, wo sind wir stehengeblieben? Dass uns dein Heulen fehlen würde, stimmt. VATER  Und bei dir was Neues? VĚRA  Wir sind mit Global Casting fusioniert und haben somit den EU-Markt betreten. Unsere Zentrale ist jetzt in London, ich bin die Direktorin der tschechischen Zweigstelle und besitze sogar ein paar von deren Aktien … weil DIESE AGENTUR WIRD AN DER BÖRSE GEHANDELT, das ist das nächste unglaubliche Ding. 177


VATER  Macht dir das Spaß? VĚRA  Darauf kannst du Gift nehmen. SCHWÄGERIN   Vater, soll ich den Hocker in die Badewanne stellen? BRUDER  Ich mach das. Bruder und Vater ab. VĚRA  (setzt sich hin) Uff, was bin ich geschafft. Blanka, Schatz, macht es dir was aus, wenn ich mich hinsetze? Wie geht es Bára? SCHWÄGERIN   Ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen. Keine Ahnung, ob das was bringt. Und ob ich mir wünschen soll, dass es was bringt. VĚRA  Sie ist dreiundzwanzig, hat noch das ganze Leben vor sich. SCHWÄGERIN   Ich habe Jura studiert und danach gleich gearbeitet. Die gehen zu Vorstellungsgesprächen. VĚRA  Arbeit zu finden ist echt harte Arbeit. … Sie soll mal bei mir vorbeikommen (Sie merkt, Schwägerin möchte ein Witzchen machen.) – nein, nur auf einen SCHNACK. SCHWÄGERIN   Sie fängt nächste Woche in der Nationalgalerie an. VĚRA  Als Kuratorin? Nicht schlecht in dem Alter. SCHWÄGERIN   Als Putzfrau. Vater und Bruder kommen zurück. VATER  Was habe ich gerade gehört? Bára soll putzen? SCHWÄGERIN   Nur vorübergehend, bis sie etwas findet. BRUDER  Wir müssen los. Bleib tapfer, Papa. Ich schaue am Mittwoch wieder rein. VATER  Fahrt vorsichtig. Jeder zehnte Autofahrer ist ein Vollidiot. Die beiden verabschieden sich und ab. Vĕra bleibt mit Vater allein. VĚRA  Alles Gute, Papa. Sie schenkt ihm eine Paul-Gibson-Gitarre im Wert von etwa 25.000 Kronen. VATER  (weint) Wie schön. (Hört auf zu weinen.) Die ist viel zu schade für mich. Seit fünfzehn Jahren habe ich keine Gitarre mehr angefasst. VĚRA  Vielleicht fängst du wieder an. VATER  Du gibst zu viel Geld aus. VĚRA  Ich kann es mir leisten. Vater holt eine Schachtel Zigaretten. Bietet Vĕra eine an. VATER  Bediene dich. VĚRA  Ich habe aufgehört. (Vater blickt sie verwundert an.) Firmenpolitik. In England wird nicht geraucht. Vater zuckt mit den Schultern und steckt die Schachtel wieder ein. VATER  Wir sehen uns zu selten. Bist du glücklich? VĚRA  Aber Papa!

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VATER  Was ist? Habe ich etwas Unanständiges gesagt? Ich wollte nur wissen, wie es dir geht. VĚRA  Wie es mir geht? Alles fühlt sich gerade so gut an. Ich habe tausend Pläne, mit dem Job, mit der Wohnung – ich will die Wohnung umbauen, weißt du – VATER  Und Pavel? VĚRA  Den krieg ich wohl nicht mehr umgebaut. VATER  Er hat mir zum Geburtstag gratuliert. Am Telefon klang seine Stimme traurig. VĚRA  Das ist sein Image. Außen traurig, innen glücklich. VATER  Ich verstehe, dass du keine Zeit hast, mich zu besuchen. VĚRA  Ich komme doch immer, wenn ich für dich eine neue Pflegerin einstellen muss. Was ZIEMLICH HÄUFIG vorkommt … du hast sie nicht wieder rausgeschmissen, oder? VATER  … Sie ist gegangen. VĚRA  Gegangen worden oder von alleine? VATER  Von alleine. VĚRA  Lüg doch nicht, Papa. VATER  Ich brauche keine Pflegehilfe. VĚRA  Aber natürlich brauchst du eine! Du musst deine Übungen machen. Aber das kriegen wir hin. Wir kriegen alles hin, Papa. Die Welt ist wunderschön. VATER  (weint) Wirklich? (Hört auf zu weinen.) Versprich es mir. VĚRA  Versprochen. (Umarmt ihn.)

3. CASTINGAGENTUR. PAUL UND BEATA. TAG Vĕra telefoniert mit einer Musicaldarstellerin, die sie vertritt. Während des Telefongesprächs wird die Bühne umgebaut. Vĕra kommandiert mit Gesten ihre Sekretärin hin und her. VĚRA   Paulinchen! – Ja, es ist PRIMA ausgegangen. AUSGEZEICHNET. – Glaub doch deiner Agentin. – Surikate. – Surikate! – Diese kleinen Tierchen aus Afrika, die sich ständig auf die Hinterbeine stellen. Erdmännchen. – Nein, sie sind total süß, zum fressen süß, alle lieben sie. – Ein Erdmännchen ist besser als ein Affe! Um Welten besser! – Liebes, im Dschungelbuch gibt es keine Menschen. – Mowgli, ja. Aber den spielt schon der Střihavka. – Du wirst hinreißend sein. Ja. Das garantiere ich dir. Entschuldigung, ich muss Schluss machen. Tschüss. Ja, Tschüssing. (Legt auf.) SEKRETÄRIN  Die Leute aus London sind da … dürfen sie reinkommen? Hinter ihr lugen die Vertreter der Mutterfirma rein, Paul und Beata. Für Vĕra sind sie wichtig. Sie will von ihnen gemocht werden und schleimt sich ein. 179


VĚRA  Ob diese beiden netten Menschen reindürfen? Was für eine Frage. Sie sind hier ZU HAUSE. Kommt rein! PAUL  Wir haben Respekt vor deinem Territorium. VĚRA  Einen Cappuccino? Mit einer Prise Zimt, stimmt‘s, Beata? BEATA  Ja. VĚRA  Und ein alkoholfreies Bierchen für Paul. PAUL  Perfekt. Vĕra gibt ihrer Sekretärin ein Zeichen, Sekretärin ab. VĚRA  Entschuldigt, ich musste ein Gespräch zu Ende führen. Eine Klientin. PAUL  Kein Stress. Wir wollen ja niemanden auf dem Gewissen haben. Ha ha! (zu sich) Nein, das war morbid. VĚRA  Dein Kostüm, Beata, wow. Ein Volltreffer. BEATA   Gut, oder? VĚRA  Du weißt es und ich weiß es. Schön euch zu sehen. Wirklich. Also: Was kann ich für euch tun? Eine kleine Pause. BEATA  Wir brauchen nichts. Wir wollten dir nur Hallo sagen. Wir sind für ein paar Tage nach Prag gekommen. PAUL  Wir haben gehört, was passiert ist. Mit dieser Schauspielerin, die … VĚRA  Ah … das meinst du, ja … PAUL  Wie hieß die denn? VĚRA  (denkt nach) Weiß ich gerade nicht. PAUL  Du weißt es nicht? VĚRA  Ist mir entfallen. Ist schon vier Wochen her. BEATA  Es muss ein Schock gewesen sein. VĚRA  So ’ne Identifizierung auf der Pathologie ist kein SAHNESCHLECKEN. PAUL  Unglaublich, was diese Branche einem alles abverlangt, oder? Das ist keine Arbeit für jedermann. VĚRA  Stimmt. Aber weißt du was? Ich liebe jede einzelne Sekunde. ICH LIEBE ES, mit Menschen zu arbeiten. PAUL  Solange sie leben. (ha ha ha, alle lachen übertrieben über Pauls Witz, zu sich) Ha, der war gut. (Hört auf zu lachen.) Du bist auch gut darin. VĚRA  (bescheiden) Na ja … PAUL  Darüber wissen wir was, denn wir haben dich ausgesucht und wir glauben an dich. Also wenn du mal was brauchst, sag ruhig Tante Beata und Onkel Paul Bescheid. Etwas angespannte Stimmung.

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BEATA  Im nächsten Monat fängt die Vodafone-Kampagne an. Sie wollen alle Leute aus dieser Republik sehen. Das wird ziemlich anspruchsvoll. VĚRA  Ich bin bereit. Sekretärin bringt Cappuccino und ein alkoholfreies Bier. PAUL/BEATA  Danke / Danke, Schätzchen. PAUL  Und wenn Onkel Paul mal was von dir braucht, dann wirst du ihn nicht zum Teufel schicken, hab ich Recht? VĚRA  Genau. PAUL  Prima. VĚRA  Nun? Soll ich raten? PAUL  Am nächsten Mittwoch kommt Thomas Minx nach Prag, ja, der englische Schauspieler, und wir möchten, dass er sich während der drei Tage, wo er hier dreht, richtig wohl fühlt. (Pause. Vĕra einverstanden.) Und wir dachten, man sollte jemanden engagieren, der ihm zur Verfügung steht. Er wüsste das zu SCHÄTZEN. (Pause) Vielleicht würde er mit der Frau ins Kino gehen, vielleicht irgendwohin anders. Sie sollte auf alle Eventualitäten gefasst sein. Du kannst sie als Komparse abrechnen. VĚRA  Paul … PAUL  Ja? VĚRA  Es tut mir leid, aber das mache ich nicht. PAUL  Was machst du nicht? VĚRA  Du willst von mir, dass ich ihm eine Frau fürs Bett besorge? PAUL  Habe ich etwas von Bett gesagt, Beata? BEATA  Hat Paul etwas von Bett gesagt? VĚRA  Soll sie mit ihm ins Bett gehen? PAUL  Du musst es nicht selber machen. Gib den Auftrag raus. Such dir jemanden. VĚRA  Hab keinen. PAUL  Zu wenig Leute? Stell ein. Arbeit gibt es genug. VĚRA  Das hier ist eine Castingagentur und kein Bordell. PAUL  Du machst es also nicht? VĚRA  Tut mir leid. PAUL  Dein letztes Wort? VĚRA  Ja. Die Situation sieht ziemlich ernst aus, aber Paul fängt plötzlich an, laut zu lachen. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, springt auf und tigert durch den Raum. PAUL  Ha ha ha! (zu Beata) Hab ich’s nicht gesagt? (zu Beata) Beata, hab ich’s gesagt oder nicht? BEATA  Er hat es gesagt.

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PAUL  Ich hab gesagt: Old School VĚRA. Tadellos solide. Sie schießt uns zum Mond. Sie ist eine Zynikerin, aber mit Vorsätzen. Sie respektiert die Regeln. Sie will eine Castingagentur haben und kein Bordell. Und damit wird sie uns aus der Tür komplimentieren. Vĕra ist leicht verwirrt. VĚRA  Sollte das ein Test sein? PAUL  Natürlich WAR das ein Test. Wobei du nicht denken sollst, es gäbe eine Notwendigkeit, dich zu testen. Wir haben absolutes Vertrauen zu dir. Oder, Beata? BEATA   Wir haben Vertrauen. PAUL  Und du hast hoffentlich auch Vertrauen zu uns. VĚRA   Klar. PAUL  Perfekt. (zu Beata) VĚRA vertraut uns, wir vertrauen VĚRA. Weil – VĚRA – und jetzt wird’s ernst: Du sollst für Minx wirklich eine Frau engagieren. Beide ab. Dunkel.

4. VĚRA STELLT EINE NEUE PFLEGEKRAFT FÜR IHREN VATER EIN Vĕras Telefon klingelt. Sie nimmt ab. VĚRA  Ja … – Ach, du bist das? (Enttäuschung, sie hätte nicht rangehen sollen.) – Rufst du mich in zehn Minuten an, ich bin gerade aus der Badewanne raus … – Ich nehm schon ab … – Ich GEH ANS TELEFON! … – JETZT zum Beispiel. – Wenn du nichts weiter auf dem Herzen hast, dann … – Nein, momentan nicht … – Tote Saison, keine Drehs. – Ja, Stalingrad. Aber dort machen wir nur Background. – Weil dein Typ nicht mehr gefragt ist. (Während des Gesprächs Auftritt Pflegerin Marie (40). Vĕra gibt ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie zu warten hat.) … Solange du wie ne Tonne durch die Gegend rollst, gibt es keine Aufträge! – Du würdest in jedem Schützengraben stecken bleiben! – Für deine Gefühle bin ich nicht zuständig. – Können wir das Gespräch beenden? – Ist doch sinnlos. – Für so was habe ich keine Zeit! Ich kümmere mich um Menschen mit ECHTEM TALENT … Ja, im Gegensatz zu dir. Ja. TSCHÜSS! (Vĕra bemerkt Marie. Wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. zu Marie) Toll, dass Sie hier vorbeikommen konnten, heute stehen bei mir noch zwei weitere Veranstaltungen an. (Es fällt ihr etwas ein.) Nehmen Sie hier Platz. Stört es Sie, wenn ich mich dabei umziehe? (Wartet Maries Antwort nicht ab.) Wasser? Saft? Kaffee ist alle. PFLEGERIN  Gar nichts, vielen Dank. Während des Gesprächs zieht sich Vĕra hinter einem Paravent um. VĚRA  (hinter dem Paravent) Haben Sie Erfahrung mit dieser Art von Arbeit? 182


PFLEGERIN  Ja. VĚRA  Wo haben Sie vorher gearbeitet? PFLEGERIN  Im Motol-Krankenhaus, Lungenabteilung. VĚRA   Sie haben Abitur. PFLEGERIN  Fachabitur, ja. Gesundheitsschule. VĚRA  Wie alt sind Sie? PFLEGERIN  Vierzig. VĚRA  Gibt es etwas, was Sie nicht machen? PFLEGERIN  Nein. Ich habe auch keine Probleme mit Dauerliegern. VĚRA  Was ist ein „Dauerlieger“? PFLEGERIN  Ein Patient, der das Bett selbst nicht mehr verlassen kann. VĚRA  Ekelt Sie das nicht an, alten Männern Windeln wechseln? PFLEGERIN  Einer muss es machen. Vĕra tritt von hinter dem Paravent hervor. VĚRA  Darf ich offen sein? Mich quält mein Gewissen, eigentlich müsste ich meinen Vater selbst pflegen. Aber einerseits habe ich keine Zeit … und anderseits will ich auch nicht bei ihm sein, weil ich es muss, sondern ich will ihn besuchen, weil ich es WILL. Verstehen Sie? (Pflegerin scheint sie nicht ganz zu verstehen.) Also wüsste ich gerne, was Sie können, was ich nicht kann. Was Sie als Profi ausmacht. PFLEGERIN  Ich kann gut massieren. VĚRA   Das ist ein Argument. Noch was? PFLEGERIN  Kann schwere Kerle aus der Badewanne heben. VĚRA   Gut. Engagiert. (Steht auf.) Mein Vater kommt sonst alleine klar. Er muss nur seine linke Körperhälfte trainieren. Und noch ein kleiner Hinweis: Wenn er glücklich ist, heult er. Das kommt von dem Schlaganfall. Ist was rein Mechanisches, hat nichts mit Emotionen zu tun. Das nur zu Ihrer Information. PFLEGERIN  Damit werde ich schon fertig.

5. BEI VĚRA ZU HAUSE. VĚRA UND IHR MANN Vĕras Mann ist ein Rollstuhlfahrer, aber ein Optimist. Von einem Unfall (als Bergsteiger aus einer Felswand gestürzt) hat er eine Rückenmarksverletzung davongetragen und es ist offen, ob er jemals wieder wird laufen können. Vĕra verabreicht ihm täglich eine Spritze in die Gesäßmuskulatur, Kortikoide oder etwas Ähnliches. Vĕra sucht nach einer guten Verpackungsidee für Bestechungsgeld für den behandelnden Arzt. Sie hat die Scheine zusammengerollt und nun stopft sie das Röllchen in verschiedene Gefäße: verzierter Tubus, leere Flasche o. Ä. 183


VĚRA  Einmal habe ich von einer Freundin, einer Ärztin, eine Schachtel Pralinen zum Namenstag geschenkt bekommen, die sie offensichtlich von jemand anders bekommen hatte, denn es lag ein fetter Batzen Geld drin … Mir ist es schnuppe, dass sie käuflich sind, aber sie sollen um Gottes willen das Geld wenigstens FINDEN. EHEMANN  Du gibst Ärzten Geld? VĚRA  Das ist kein Schmiergeld. Sondern Zulage. Sie sind arm, wir sind reich. Ich habe der Weltarmut Krieg erklärt. Und irgendwo muss ich anfangen. EHEMANN  Für wen ist das? VĚRA  Was denkst du? EHEMANN  Stopp. Du sollst meinem Arzt kein Geld zustecken. (Vĕras Blick verrät, dass sie es wohl schon lange tut.) Behandelt er mich dann besser? VĚRA  Er ERINNERT sich an dich. EHEMANN  Ärzte sind nicht so, wie du denkst. VĚRA  Achtung! Ich LIEBE Ärzte! Kein böses Wort über die Helden im weißen Kittel! (Bereitet die Spritze vor.) Hose runter. EHEMANN  Ich kann es auch alleine. VĚRA  Willst du mir meine einzige Freude nehmen? Meine Kollegin wollte nicht glauben, dass ich es dir in unserem Alter noch täglich besorge. Habe natürlich nicht gesagt, dass wir Vitamin B spritzen. Mach mir das nicht kaputt. Verabreicht ihm die Spritze, sehr fachmännisch. EHEMANN  Wenn ich dich über andere Menschen oder über uns reden höre – das klingt manchmal ganz schön ironisch. Bist du eigentlich glücklich? VĚRA  Jetzt redest du wie mein Vater. EHEMANN  Diese ganze Super-Fusion … du wurdest gezwungen, deine Firma zu verkaufen. Was ist daran so toll? VĚRA  Es ist eine riesige Chance. EHEMANN  Um Nutten zu mieten? VĚRA  Keiner hat ahnen können, dass der Engländer schwul ist. Und dass es die Boulevardpresse so breittreten wird. EHEMANN  Natürlich hat man es ahnen können! Die wollten dich nur testen, da bin ich mir sicher. VĚRA  Gut, dann haben sie mich getestet. Noch was? EHEMANN  Wie weit bist du bereit zu gehen für deine Arbeit? VĚRA  Das fragst du mich? EHEMANN  Das fragen sie dich. VĚRA  (Pause) Wenn du es wirklich wissen willst: WEIT. EHEMANN  Vielleicht wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, um innezuhalten. VĚRA  Um was zu machen? 184


EHEMANN  Hineinzuhorchen. VĚRA  Meinst du mich oder dich? EHEMANN  Uns beide. VĚRA  Okay, ich horche. (Stille. Ziemlich lang, aber Vĕra hält es nicht aus.) Meintest du Sex? Geht’s um Sex? EHEMANN  Wieso? VĚRA  Seit zwei Jahren haben wir nicht miteinander geschlafen. Falls das ein Problem ist, dann – dann lass uns eine Lösung finden. (Sie deutet an, sie wäre bereit sofort mit ihm ins Bett zu steigen. Er reagiert verschreckt.) Nicht? Ich will mich nicht aufdrängeln – aber – ich dachte halt … Was? Nicht? Ist das meine Schuld? EHEMANN  Keiner hat Schuld. VĚRA  (bekommt eine Idee) Vielleicht würde es mit einer anderen besser klappen. EHEMANN  Mit einem von deinen Mietgirls? VĚRA  Manno, WAS WEISS ICH. EHEMANN  War das dein Ernst? VĚRA  Sie sind Profis. Sie wissen, wie man es einem Mann … Ist was? Hab ich was Falsches gesagt? Weil, ich SAGE STÄNDIG WAS FALSCHES. Du hockst hier in deinem Sesselchen und guckst aus der Wäsche so wie du IMMER AUS DER WÄSCHE GUCKST … SO, genau SO, und ich darf dann immer nur RATEN! Aber dazu habe ich KEINE ZEIT! Ja, ich hätte sie, wenn alle tun würden, was sie tun sollen. Aber das läuft nicht. In diesem Jahr habe ich schon die fünfte Sekretärin. Diese Weiber können nicht mal ne EXCEL-TABELLE ausfüllen! Die Suche nach einer Pflegerin für meinen Vater hat VIER WOCHEN gedauert. Am Ende habe ich aus lauter Verzweiflung ein Pummelchen genommen, die anderen waren komplett unbrauchbar. Das alles kostet VIEL ZEIT. Also sei bitte so nett und verrate mir, was los ist. EHEMANN  Nichts ist los. VĚRA  Wo ist das Problem? EHEMANN  Es gibt keins. VĚRA  Ich frage dich, was dir fehlt. EHEMANN  Die Ehe ist kein Auto, das man bei Bedarf in die Werkstatt bringt. VĚRA  Doch. Die Ehe ist die Werkstatt. EHEMANN  Denkst du? VĚRA  Stimmt das etwa nicht? Was ist denn die Ehe? (Lange Pause, Ehemann schweigt.) Na? Schon wieder nichts? LICHT AUS. MUSIK.

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6. WOHNUNG VON BOB. TAG Das Telefon klingelt. Seitlich auf der Bühne liegt ein zusammengerollter Teppich. Vĕra läuft auf der Bühne hin und her und telefoniert. VĚRA  (zur Produktionsassistentin) Nein. Bei ihm zu Hause. – Ist er nicht. – Ich habe den Schlüssel. – Die Arztpraxis hat er um elf verlassen. Er soll mit Taxi zum Dreh gefahren sein. – Das weiß ich inzwischen auch, dass das nicht stimmt. Nein, das ist nicht sein Stil. – Sich in einem Schrank einsperren, das eher. – Nein, im Schrank ist er nicht. – Ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Vĕra legt auf. Das Telefon klingelt wieder. VĚRA  Hallo Jiří. Sorry, bin im Stress. – Einer unserer Klienten ist zusammengebrochen. – Ein Schauspieler. – Ja, es ist ernst, nein, ist es nicht. Keine Ahnung, wie ernst das ist. Du kennst doch Schauspieler. Ich ruf an, wenn ich mehr weiß. Sie legt auf. Es fällt ihr ein, Bobs Nummer zu wählen. Man hört ein leises Klingeln. Sie folgt ihm – bis zu dem zusammengerollten Teppich. VĚRA  (redet in die Teppichrolle) Bob? Bist du da? In dem Teppich? Ich bin’s, VĚRA, deine Agentin! (Aus dem Teppich ertönt ein Murmeln.) Bob, verdammt noch mal, was soll das Ganze? BOB  (aus dem Teppich) Ich bin zusammengebrochen. VĚRA  Und warum bist du im Teppich? BOB  Hier habe ich mein Leben im Griff. (Andere Variante: Bob ist nicht zu verstehen und Vĕra spricht ihm die Sätze nach.) VĚRA  Dass du dort dein Leben im Griff hast? Das stimmt vielleicht, aber solltest du nicht lieber zum Set? Etwa dreißig Mann warten dort auf dich, seit über zwei Stunden. Ich will dich NICHT STRESSEN, aber … Bob, ich roll dich vorsichtig raus, ja? (Vĕra entrollt den Teppich.) Weil du immerhin die Hauptrolle spielst und wenn du nicht ruckizucki hinmarschierst, dann werden die den ganzen Drehtag stornieren müssen und das kostet eine richtige Stange Geld und dafür wird einer blechen müssen und es könnte leicht passieren, dass du das bist. (Der völlig zerstörte Bob purzelt aus dem Teppich heraus.) Hallöchen, Bob, alles gut? BOB  Bin total am Ende! VĚRA  Geht uns allen so, Darling. BOB  Ich hatte einen Zusammenbruch. VĚRA  Vielleicht solltest du weniger trinken? BOB  Ich meine das ernst. VĚRA  Ich auch. Komm her, setz dich und erzähl mir in Ruhe, wo das Problem liegt. (Schiebt ihm einen Stuhl hin.) Bob, was ist los? 186


BOB  Ich hatte einen Zusammenbruch. VĚRA  Das hast du schon erwähnt. BOB  Die Knebelverträge bringen mich um. VĚRA  Du hast die besten Verträge in diesem Land. BOB  ZU VIELE. Ich kann nicht vormittags für ein Musical proben, abends Theater spielen und tagsüber noch zwei bescheuerte Serien auf einmal drehen! VĚRA  Natürlich kannst du das! Man will dich. Das ist der Preis, den man dafür zahlt. Du surfst oben auf der Welle. Es läuft. BOB  Läuft nicht. Ich hatte einen Zusammenbruch. VĚRA  Ein echter Kollaps sieht anders aus, das kannst du mir glauben. BOB  Warum bist du so hart zu mir? VĚRA  Weil du so weich zu dir bist. Hör zu, ich organisiere dein Privatleben für dich. Ich zahle deine Rechnungen, mach deine Steuer … alles. Hab dich mit Marta zusammengebracht. BOB  Marta hat mich verlassen! VĚRA  Was dachtest du? Sei froh, dass sie so lange geblieben ist. BOB  Halt, halt! VĚRA  Marta ist eine ganz tolle Frau – aber du bist lästig wie ein Haar in der Pospalte, Bob! Sie ist eine Heilige, dass sie es so lange ausgehalten hat. BOB  Du meintest, ich bin ganz toll. VĚRA  Schon. Aber mit dir zusammenzuleben ist nicht gerade leicht, oder? BOB  Warum? VĚRA  Darüber reden wir später, ja? Jetzt bringe ich dich zum Dreh. BOB  (trotzig) Du sollst mir sagen, warum ich kein guter Partner bin! VĚRA  Weil du nichts abkannst! Weil du beim kleinsten Anzeichen eines eventuellen Problemchens wegrennst oder was zerdepperst oder dich wie ne Seidenraupe in einen Teppich verkriechst. Bob fängt an zu weinen. Vĕra merkt, dass Bob Nähe braucht. Sie drückt ihn an sich. BOB  (schluchzt) Warum drehe ich nicht in England? VĚRA  KEINER dreht in England. BOB  Unsere Zentrale ist doch in London. VĚRA  Ich habe es dir schon x-mal erklärt. Die Produkte fließen von ihnen zu uns. Nicht umgekehrt. SIE machen die Witze. Unsere Aufgabe ist, sie witzig zu finden. Egal wie gut die sind. BOB  Vielleicht bist du keine so gute Agentin, wie du tust. VĚRA  Kein Problem. Such dir ne andere. Bob holt eine Pille aus seiner Jackentasche und wirft sie geübt rein. BOB  Die Pillen funktionieren nicht mehr. 187


VĚRA  Weil du zu viele nimmst. Du solltest sie absetzen. BOB  Ich brauche stärkere. VĚRA  Das SIND die stärkeren. BOB  Und Xanax? VĚRA  Verschreibungspflichtig. BOB  David Koller nimmt es. Für ein ganzes Album hat der nicht mal eine Woche gebraucht. VĚRA  Xanax kriegst du nicht, Bob. Bei dem darf man wirklich nicht trinken. BOB  Ich bin trocken. VĚRA  Ich bitte dich. BOB  Indianerehrenwort. VĚRA  Ich will versuchen, mit Marta zu reden, ja? Aber du reißt dich jetzt zusammen und wir fahren zum Dreh, ja? (Bob zieht sich langsam an, sie hilft ihm.) Noch was. Die Idee hatte ich schon lange: Du brauchst eine Assistentin. Ein junges Ding, das deine Termine organisiert, mit dir Texte lernt, dir zu Hand geht. Was meinst du? BOB  Ja. So jemand brauche ich ganz dringend. VĚRA  Prima. Dann mach mal deinen Hosenstall zu, du Moviestar, und ich rufe uns ein Taxi. (Gibt ihm ein Klaps auf den Hintern.) BOB  Aber VĚRA, unterschätz die Pillen nicht! Bob ab. Vĕra lässt sich müde auf den Stuhl fallen.

7. CASTINGSTUDIO. VĚRA UND IHRE NICHTE BÁRA Vĕra im Castingstudio. Sie telefoniert. VĚRA   Echtes TALENT rieche ich 500 Meter gegen den Wind, das weißt du doch – und ich sag dir, diese Sendung braucht eine MODERATORIN, keinen Mann, sondern eine Frau. Eine Frau mit Lebenserfahrung, die aber trotzdem immer noch prima aussieht. – Die gibt es. – Ich sag dir einen Namen, und du versprichst mir, nicht über ihn nachzudenken, nein nein, sondern ihn irgendwo im Hinterstübchen mitschwingen zu lassen. – Keine Idee, was sonst noch in deinem Hinterstübchen mitschwingt – doch, ich ahne es schon. … Wenn wir uns auf ein Gläschen treffen, bist du sauer, dass es wieder nur beim Wein geblieben ist. (Auftritt Nichte. Vĕra gestikuliert, sie soll sich irgendwo hinsetzen.) – Natürlich handelt es sich um meine Klientin, aber der Vorschlag ist absolut uneigennützig. Hör auf zu lachen. –Das wirst du verstehen, wenn ich dir ihren Namen sage. – Magda Gruberová. – Lass es mitschwingen. Schwingt’s mit? … Ich auch. Tschüss. (Legt auf.) Uuuh. Das war der Programmdirektor des Tschechischen Fernsehens. Was kann ich dir anbieten? 188


NICHTE  Wasser. VĚRA  Trink ein Cognac mit mir. Zur Entspannung. (Wartet nicht auf Báras Antwort und schenkt ihr ein. Scherzhaft) Du bist doch volljährig, oder? NICHTE  Ich glaube schon. (bemerkt, dass sich Vĕra an der Hand verletzt hat, wohl am Flaschenverschluss.) Du blutest. Brauchst du Septonex? VĚRA  Das wäre mein Tod. Ich habe eine Jod-Allergie. Und immer ein eigenes Desinfektionsmittel dabei. (Nimmt ein Fläschchen aus der Handtasche, träufelt ein paar Tropfen auf einen Wattebausch und drückt ihn auf die Wunde.) Wie läuft’s im … da wo du jetzt bist? In der Nationalgalerie? NICHTE  Hab mich rausschmeißen lassen. VĚRA  Oha. Wie macht man das? NICHTE  Installationen sauberschrubben. VĚRA  Was? NICHTE  In der Abteilung, wo ich geputzt habe, gab es lauter Schrott. Wie diese Metallreifen von Beuys und so. Kennst du? VĚRA  Die der Direktor Knížák gekauft hat, ja. NICHTE  Genau. So was stellen die dort aus. Und dann noch ein Kunstwerk von Kippenberger. Eigentlich nur ein Fleck auf dem Fußboden. Mehr nicht. Der Fußboden war auch von ihm, das schon, aber ein Fußboden halt, nix Besonderes. Das Ganze hieß „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“. (Vĕra lacht.) Nein. Das ist kein Witz. Eines Tages hat es mir gereicht und ich habe den Fleck einfach weggeputzt. (Vĕra findet es fantastisch.) Mit dem Schrubber. VĚRA  Hat man es rausgefunden? NICHTE  Sie wollten, dass ich es ersetze. „Junge Frau, das ist ein Kunstwerk! Eine Leihgabe aus Deutschland!“ Also stellte ich mich total blöd. „Es tut mir leid, aber der Fußboden war wirklich dreckig. Ich will doch meine Stelle nicht wegen einem schmutzigen Fußboden verlieren.“ Die haben mir nichts beweisen können. VĚRA  Also bist du frei. NICHTE  Wie ein Vogel. VĚRA  Was hast du vor? NICHTE  Jobinterviews. VĚRA  Weiß dein Vater, dass du hier bist? NICHTE  Du und er, ihr seid euch nicht richtig grün, was? VĚRA  Was für ein Gesicht würde er machen, wenn du ihm sagtest, dass du für mich arbeitest? NICHTE  (leicht aufgeregt) Ist es ein Jobangebot? VĚRA  Keine Ahnung. Hättest du Lust? NICHTE  Ich weiß nicht mal, was du machst. 189


VĚRA  Zu neunzig Prozent Komparsenvermittlung. Fußgänger auf der Straße. Mütter mit Kinderwagen. Darin sind wir richtig gut. Wir haben eine Datenbank mit etwa fünfhundert Menschen, und die kommen alle immer wieder zum Einsatz. NICHTE  Und Werbung? VĚRA  Die auch. NICHTE  Hab gehört, die von der Werbung sind die größten Deppen. VĚRA  Genau umgekehrt, die von der Werbung sind meine Lieblingskunden. Absolut ENTSCHEIDUNGSRESISTENT. Es dauert Wochen, bis die sich für einen Schauspieler entschieden haben. Und wir rechnen pro Stunde ab. NICHTE  Ich verstehe. VĚRA  Es ist auch nicht unsere Aufgabe, für den Klienten Entscheidungen zu treffen! Andersherum wird der Schuh daraus. Wir bestärken ihn in seiner UNENTSCHLOSSENHEIT. Wir sagen nicht, dass seine Unfähigkeit, binnen zwei Monaten einen Darsteller für eine Zehn-Sekunden-Werbung für irgendwelche beschissene Kekse auszuwählen, auf seine DEMENZ und den totalen PERSÖNLICHKEITSZERFALL hinweist, sondern dass wir darin seine PRÄZENDENZLOSE PROFESSIONALITÄT bestätigt sehen. (Vĕras Telefon klingelt. Sie checkt das Display und klickt das Gespräch weg.) Regel Nummer eins. Wir SUCHEN keine Talente. Die verschieben wir bloß dorthin, wo sie besser sichtbar sind. Kultur wird in Amerika hergestellt und wir verkaufen sie. Das ist unsere Aufgabe. Wir sind Dienstleister. (Vĕras Telefon klingelt wieder. Sie nimmt ab und bellt:) Jetzt nicht. NICHTE  Willst du das nicht erledigen? Ich habe Zeit. VĚRA  Ich will nicht ANS TELEFON GEHEN. Ich will mit dir reden. NICHTE  Vielleicht ist es wichtig. VĚRA  (drohend) DU BIST WICHTIG. NICHTE  Danke. VĚRA  Brauchst dich nicht zu bedanken. Ich hab noch nichts für dich gemacht. Aber du könntest es weit bringen. NICHTE  Mein Papa sieht das anders. VĚRA  Dein Vater ist ein Hohlkopf. Aber das erzählst du ihm lieber nicht. Ich finde, dass du eine ganz tolle junge Frau bist und dass du es im Leben ganz schön weit bringen wirst. Aber du darfst keine Zeit verlieren, Bára! (Das Telefon klingelt. Vĕra macht es aus.) Aufgabe beim Vorstellungsgespräch: Wie sagst du einer Schauspielerin, dass du sie nicht mehr vertreten willst? NICHTE  Ruf ich sie an? VĚRA  Du NIMMST NICHT AB. Sie kapiert es irgendwann. Du sparst Zeit. Redest nur mit Menschen, die dich weiterbringen. Die anderen ignorierst du. Ist das zynisch? Alle wichtigen Menschen machen das so. Mach das auch so. Hast du einen Freund? 190


NICHTE  Schon. VĚRA  Wie alt ist er? NICHTE  Neunundzwanzig. VĚRA  Ist es ernst? NICHTE  Vielleicht stehe ich auf etwas Ältere. VĚRA  Kennst du Bob Semilský? NICHTE  Den Schauspieler? VĚRA  Was hältst du von einem Job als seine persönliche Assistentin? NICHTE  (begeistert) Unglaublich! VĚRA  Er hat zwar letzte Woche die Dreharbeiten geschwänzt, was mich schlappe zweihunderttausend gekostet hat, aber sonst ist es die reine FREUDE, MIT IHM ZU ARBEITEN: Er braucht jemanden, der mit ihm seine Texte büffelt. Was meinst du? NICHTE  Dein Ernst? VĚRA  Mein Ernst. Nichte kann sich vor Freude kaum fassen. NICHTE  Wann soll ich zu einem Vorstellungsgespräch kommen? VĚRA  Hast du gerade hinter dir. Nichte ab. MUSIK.

8. VATERS WOHNUNG: VATER MÖCHTE MIT DER PFLEGERIN ZUSAMMENZIEHEN Vĕra betritt die Wohnung. VĚRA  Papa, nicht erschrecken, ich bin’s! Bist du auf dem Klo? (Guckt um die Ecke.) Hast du das Bett umgestellt? Auftritt Vater. Er freut sich, sie zu sehen. Sie umarmen sich. VATER  (weint) VĚRA! VĚRA   Papa! Wie geht es dir? (Vater sagt nichts, sie wirft einen Blick auf seine Füße.) Neue Pantoffeln? VATER  Die hat mir Marie geschenkt. VĚRA  Die neue Pflegerin? Wie kommt ihr miteinander aus? VATER  Wunderbar. (weint) VĚRA  Das höre ich gerne. (Sie zeigt ihm auf dem iPad, was sie demnächst für ihn anschaffen will.) Ich habe die Badewannensitze gefunden. Damit könntest du allein baden. Ist entweder in Chrom oder in Messing lieferbar. VATER  Ich brauch keinen Badewannensitz.

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VĚRA  Doch, das tust du. Komm her. Guck dir das doch an. Ich muss dann gleich weiter. Vater holt eine Ausgabe von Blesk. VATER  VĚRA, darf ich dich was fragen? VĚRA  Du liest Blesk? VATER  Wenn dort über meine Tochter geschrieben wird! VĚRA  Du darfst nicht alles glauben. VATER  Ist das wahr, dass du für Schauspieler Bettbegleitung organisierst? VĚRA  Steht das drin? VATER  Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr euch getrennt habt, Pavel und du? VĚRA  Hast du das auch im Blesk gelesen? VATER  Ich will wissen, was du machst. VĚRA  Wir haben uns nicht getrennt. Er ist ins Wochenendhaus gezogen. Vorübergehend. Hör mal, Papa, das ist nicht meine Schuld. Ich habe mir Mühe gegeben. VATER  Du wolltest ihm eine Prostituierte kaufen. VĚRA  Mein Gott! Wer hat dir das erzählt? Mein Bruder? VATER  Stimmt das? VĚRA  Es ist KOMPLIZIERTER. VATER  Es tut mir leid, wenn ich dich so – innerlich ausgedörrt – sehe. VĚRA  Ich bin nicht AUSGEDÖRRT. Ich bin eine erfolgreiche Frau mittleren Alters. VATER  Jeder braucht jemanden. VĚRA  Ich habe dich. VATER  Du hast deine Arbeit. VĚRA  Was ist daran so schlimm? VATER  Keiner von diesen Menschen hilft dir, wenn du ganz unten bist. VĚRA  Sie helfen mir, nach oben zu kommen … Bei dir ist es anders. Als kleiner Junge hast du den Krieg erlebt. Seitdem hortest du Lebensmittel, für den Notfall. Aber am Samstag nehme ich dich mit zu einem Ausflug, was sagst du dazu? (off – aus dem Badezimmer) … Hast du neue Handtücher? VATER  VĚRA, komm her. Ich muss dir was sagen. Vĕra kniet sich zu ihm hin. VĚRA  Es geht um die neue Pflegerin, stimmt? Du hast sie rausgeschmissen? VATER  Nein. VĚRA  Also was ist mit der? VATER  Wir haben beschlossen, dass sie nächste Woche (weint) bei mir einzieht. VĚRA  Hat sich dein Zustand verschlimmert? VATER  Die Mama ist seit sieben Jahren tot. VĚRA  (kapiert endlich) Warte … du meinst … 192


Vĕra ist schockiert, lässt sich aber nichts anmerken. Sie tut, als würde sie sich freuen und als wäre alles in bester Ordnung. Denn Vater ist wirklich glücklich. VĚRA  Die Frau ist jünger als ich. VATER  Ab einem bestimmten Alter spielt das Alter keine Rolle. VĚRA  Du hast dich VERLIEBT? VATER  (fängt an zu weinen) Ich bin so glücklich. VĚRA  Das ist gut. (Weiß nicht, was sie sagen soll, was selten der Fall ist.) Ich gönne dir das. Echt. Eigentlich ist das wunderschön. VATER  (weint) Nicht wahr? VĚRA  Papa! (Weint auch, allerdings eher vor Kummer.) MUSIK.

9. AGENTUR. FOTOSESSION MIT MAGDA. MODERATIONSANGEBOT Szene mit Fotoshooting von Magda (40) im Studio. Auch der Fotograf (35) ist da, und Nichte, die sich um die Maske kümmert. Fotograf gibt Magda Anweisungen. FOTOGRAF  Perfekt – bleib so! Noch ein bisschen! Und jetzt lächeln – Nein, ich will nicht deine Zähne sehen – Jetzt mach mal, als würdest du nachdenken – das Kinn locker lassen – Vĕra kommt mit einer Sektflasche, gießt ein. VĚRA  Tatarata! (Reicht Magda ein Gläschen.) Auf dich, Magda! MAGDA  Ich habe nicht Geburtstag, VĚRA. VĚRA  Ein bisschen schon. MAGDA  Oh nein. VĚRA  Jetzt kann man schon darüber sprechen, meine Liebe. MAGDA  Du weißt doch, dass ich es nicht will. VĚRA  Magda, Liebes, du hast etwas Unglaubliches geschafft. Wir möchten uns mit dir freuen. Erzähl es ihnen. (zu Nichte und Fotograf) Unsere Magda ist krank – sehr krank gewesen – ja genau, das Wort, was wir uns alle scheuen auszusprechen – aber es sieht so aus, es steht zu 99 Prozent fest – dass sie ihren Kampf gewonnen hat … und gerade eine neue Lebensetappe anfängt. Vĕra ist gerührt und weint, schließt Magda in die Arme, sie umarmen sich. Alle sind gerührt, gratulieren. NICHTE  Frau Magda, das ist ein Ding! FOTOGRAF  Ich hatte keine Ahnung. Herzlichen Glückwunsch! VĚRA  Und weil aller guten Dinge zwei sind, habe ich Magda eine ganz tolle Nachricht zu überbringen, direkt aus dem Rachen des Vulkans, also aus der Programmleitung 193


des Tschechischen Fernsehens … Man hat dich als Moderatorin für eine neue Talkshow ausgewählt, die demnächst startet. MAGDA  Was für eine Talkshow? VĚRA  DEINE TALKSHOW. In Bezug auf die Auswahl der Gäste hast du freie Hand und SOLANGE die Einschaltquoten hoch bleiben, wird dir keiner reinreden. MAGDA  Über eine so grundsätzliche Entscheidung möchte ich mich beraten. VĚRA  Nimm es mir bitte nicht übel, aber deinen Mann kann ich als Beratungsinstanz nicht ernst nehmen. Er ist schon ein wenig … (Tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.) MAGDA  Ich meinte mit Gott. VĚRA  Mit welchem? MAGDA  Wie viele gibt es wohl, VĚRA? VĚRA  (schockiert) Ah so. Den Gott meinst du. ABER WARUM? MAGDA  Die Begleittherapien haben bei mir eine ganz grundsätzliche Veränderung herbeigeführt. Ich habe meine Prioritäten umgestellt. Es war ein echter Durchbruch. VĚRA  Durchbruch. MAGDA  Ja, ein Durchbruch. VĚRA  Du glaubst also an Gott. MAGDA  Ja. VĚRA  Die Pilotfolge wird nämlich schon nächste Woche gedreht, also solltest du ihm bei dem Beratungsgespräch schon sagen, dass es pressiert. Obwohl ER müsste das auch wissen, weil ER hat die Talkshow ja geschaffen. MAGDA  Věra, darf ich dich um etwas bitten? Mach bitte darüber keine Witze. Mein Leben hat einen neuen Sinn bekommen und ich will ihm nachgehen. VĚRA  Das machst du am besten, wenn du die Talkshow moderierst. MAGDA  (denkt nach) Und worum geht es in der Talkshow? VĚRA  Darum, was dir passiert ist. MAGDA  Um Vergebung? VĚRA  Um Krebs. MAGDA  Du tickst nicht richtig! VĚRA  Magda, ich kann es immer noch nicht fassen, du bist am Leben! Ist dir das klar? Das ist UNGLAUBLICH! Du LEBST! Und bist auf dem besten Weg, eine nationale Berühmtheit zu werden. NOCH BIST DU ES NICHT. Aber den kleinen Zwischenschritt kannst du jetzt machen. Oder willst du zurück in deinen Kaff, nach Příbram, wo du vor zehn Jahren als „Gnädige Frau, hier ist ein Brief für Sie“ angefangen und nebenbei im Theaterklub gekellnert hast? Gott hat dich gesund gemacht, aber jetzt wartet er, dass du aus seinem Geschenk was machst. 194


MAGDA  Ich wünschte, du hättest dasselbe erlebt wie ich. VĚRA  Richtig. Du musst deine Geschichte teilen. MAGDA  Mit wem? VĚRA  Mit den Zuschauern und mit den Lesern. MAGDA  Mit welchen Lesern? VĚRA  Die Boulevardpresse erfüllt eine wichtige Funktion, Liebes. Und sie ist sehr wählerisch. Nicht jeder hat das Glück. MAGDA  Dass er vom Krebs geheilt wird? VĚRA  Dass er ihn bekommt. MAGDA  Věra! VĚRA  Magda, ich habe mir weder deine Krankheit noch die Boulevardpresse oder die Talkshows ausgedacht. Aber wenn es das alles schon gibt, warum es nicht miteinander verknüpfen? Sonst bekommen wir die notwendigen Einschaltquoten nicht. MAGDA  Du meinst, ich soll darüber mit der Boulevardpresse sprechen? VĚRA  Ich will sagen, dass in diesem Business so ein Krebs eine Möglichkeit darstellen kann, weiterzukommen. Zuerst hast du mit deinem Talent gekämpft, dann mit einer tückischen Krankheit. In beiden Fällen hast du gesiegt. Du bist eine Kämpferin. Deine Geschichte ist die Geschichte einer Siegerin. MAGDA  Was heißt das, ich habe mit meinem Talent gekämpft? VĚRA  Als deinen ersten Gast müsstest du natürlich deinen Onkologen einladen. MAGDA  Was wolltest du über mein Talent sagen? VĚRA  Kreativ haben wir es total im Griff. MAGDA  Ach Věra. Ich habe mir geschworen, sollte ich jemals wieder gesund werden, will ich nur das tun, wo ich hundertprozentig dahinterstehen kann. VĚRA  Also nein? MAGDA  Nein. VĚRA  Haut ab. Nichte und Fotograf ab. VĚRA  Hast du mir gerade den Laufpass gegeben? MAGDA  Ich kann so etwas nicht moderieren, es tut mir leid. VĚRA  Aber sicher KANNST du das! Weißt du, wie viel Mühe es mich gekostet hat? Für diese Stelle STEHT MAN SCHLANGE. MAGDA  Ich möchte nicht, dass sich meine Kinder für mich schämen müssen. VĚRA  Bei diesem Job fangen sie an, dich wieder zu schätzen. MAGDA  Ich will nur das tun, was ich kann. VĚRA  Aber du kannst doch GAR NICHTS! MAGDA  Ich meine als Schauspielerin.

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VĚRA  (nimmt Magdas Gesicht zwischen die Hände) Magda, Schatz – sieh mich an – Magda, du KANNST NICHT spielen. MAGDA  (schockiert) Ist das deine Meinung? Na – es gibt Leute, die das anders sehen. VĚRA  Magda, meine Liebe, fange dein schönes neues Leben nicht mit einer Lüge an. Als Theaterschauspielerin bist du abgeschrieben. Du bist geborene MODERATORIN. Das ist dein heiliger Gral. Folge ihm. Magda ab. Vĕra begreift, dass sie sich Ärger eingehandelt hat. MUSIK oder ein TUSCH. DUNKELHEIT.

10. VĚRA UND BRUDER. STUDIO ODER SEINE WOHNUNG Bruder vollkommen aufgelöst. VĚRA  Setz dich und sag es noch einmal. (Bruder will sich nicht setzen.) BRUDER  Wie oft willst du das noch hören? Das Arschloch hat versucht, sie zu vergewaltigen. VĚRA  Moment mal. Was genau ist passiert? BRUDER  So hat es Bára gesagt. VĚRA  Das muss noch nichts heißen. BRUDER  Wie? VĚRA  Da sind Emotionen drin. Alles ist noch zu frisch. BRUDER  Natürlich sind Emotionen drin, wenn dich einer versucht hat, zu verge­ waltigen. VĚRA  Hör zu, Bob ist kein Gewalttäter. Er ist ein Psychopath, das schon, außerdem noch ein Hypochonder, aber bis jetzt ist er über keinen hergefallen. BRUDER  Diesbezüglich glaube ich meiner Tochter. VĚRA  Was ist also deiner Meinung nach passiert? BRUDER  Er führte sie zum Essen aus, dann ins Kino, stopfte sie unterwegs mit irgendwelchen Aufputschmitteln voll, irgendwelche Pillen, keine Ahnung welche … danach steuerte er noch eine Bar an, obwohl sie nach Hause wollte … zum Schluss machte sie sich selbst auf den Weg, aber er wollte sie unbedingt begleiten … und stürzte sich im Taxi auf sie … VĚRA  Im Taxi? BRUDER  Im Taxi. VĚRA  Ist das alles? BRUDER  Reicht dir das nicht? Er füllte sie mit Drogen ab und versuchte sie zu vergewaltigen!

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VĚRA  Aleš, die beiden sind ein Paar! (Das schockiert Bruder noch mehr als die Nachricht über die Vergewaltigung.) Ich meine, sie waren es. Selbstverständlich haben sie auch miteinander geschlafen, das ist doch nur natürlich. (Bruder macht ein sehr verwundertes Gesicht.) Soll ich dich in meine Datenbank aufnehmen? (Schnappt sich ihr Handy und schießt ein Foto von ihm.) BRUDER  Warum hast du nichts gesagt? Bára hat einen Freund. VĚRA  Und Bob hat einen Porsche. Allerdings ist Bob jetzt zu seiner Frau zurück – wovon ich ihm abgeraten habe. Bára wurde wütend und rief die Frau an – wovon ich ihr auch abgeraten habe – und erzählte ihr alles. Die Frau kickte ihn raus – kein Wunder – also wollte er zu unserer Bára zurück – was ich ihm ganz eindeutig NICHT EMPFOHLEN habe – und die fing plötzlich an zu zicken. So sieht deine ganze berühmte Vergewaltigung also aus. BRUDER  Woher weißt du das alles? VĚRA  Es ist mein Job. BRUDER  Du vermittelst Schauspielern junge Frauen ins Bett? VĚRA  Ich versuche, sie zu schützen, wenn sie ihnen von alleine ins Bett hopsen. BRUDER  Du redest von meiner Tochter! VĚRA  Mach doch aus ihr keine Unschuld vom Lande. Weißt du, mit wie viel Jahren sie ihren ersten Freund hatte? BRUDER  Ich will das nicht wissen. VĚRA  Mit vierzehn. Weißt du, mit wie vielen Männern sie schon geschlafen hatte? BRUDER  VĚRA, ich weiß, dass du sie nur deswegen eingestellt hast, um mich zu ärgern. Und das ist dir perfekt gelungen: Ich bin SAUER. VĚRA  Findest du das nicht ein bisschen egozentrisch? Die Welt dreht sich nicht nur um dich. BRUDER  Hast du Bára gezwungen, Aktphotos zu machen? VĚRA  Ich habe nur gesagt, sollte sie mal INTERESSE daran haben, könnte ich es VERMITTELN. BRUDER  Daran habe ich keine Zweifel. Aber hättest du nicht so etwas mit uns besprechen müssen? VĚRA  Was hättest du vorgeschlagen? Bei euch im Labor Gläser spülen? BRUDER  So habe ICH angefangen. VĚRA  Und guck dir an, wo du gelandet bist. Du lebst im letzten Jahrhundert. Die Welt ist anders geworden. BRUDER  Nicht so sehr, wie du uns einreden willst. Weiber, die vor lauter Arbeit vergessen haben, sich ein Kind machen zu lassen, sind Gott sei Dank immer noch in der Minderheit. VĚRA  Das war jetzt böse. 197


BRUDER  Du magst das doch so, oder? VĚRA  Okay. Dann hör mal gut zu: Zum Glück ist Bára nicht nach dir geraten. Sie hat von dir weder Figur noch Charakter geerbt, sie DENKT nicht einmal WIE DU. Das ist ihr großes Glück. Also egal, ob sie nun deine Tochter ist oder nicht, mach ihr nicht alles kaputt. Bruder pfeffert ihr eine. Stille. Keiner weiß weiter. BRUDER  Ich habe mir einen Anwalt genommen. Ich werde gegen deinen Bob Anzeige erstatten. VĚRA  Wie du magst. Ich leihe ihm meinen aus. MUSIK. LICHTWECHSEL.

11. VĚRA BIETET PFLEGERIN GELD AN. STUDIO Vĕra im Studio. Auftritt Pflegerin. Vĕra zeigt ihr lediglich, wo sie Platz nehmen soll. VĚRA  Sie ahnen, warum ich Sie sprechen wollte. PFLEGERIN  Wegen Ihres Herrn Papa. VĚRA  Zum Trinken biete ich Ihnen nichts an, wir sind schnell fertig. (Beide nehmen Platz.) Keine Ahnung, was er Ihnen erzählt hat. Aber so reich, wie Sie vielleicht denken, ist er nicht. Das ganze Geld für seine Patente hat der Staat eingeheimst. PFLEGERIN  Geld spielt hier keine Rolle. VĚRA  Nein? Sondern? Finden Sie seine Tränen sexy? Oder macht Sie seine Bettperformance an? PFLEGERIN  Seien Sie nicht ordinär. VĚRA  Sie zwingen mich dazu. PFLEGERIN  Wir sind uns begegnet als zwei Menschen, die die gleichen Werte teilen. VĚRA  (zieht einen Flunsch) Hören Sie zu: Ich habe ÄSTHETISCHE EINWÄNDE gegen Ihre Beziehung zu meinem Vater. Ich möchte nicht, dass er sich mit siebzig zum Narren macht. PFLEGERIN  Ein liebender Mensch ist nicht unbedingt ein Narr. VĚRA  Kommt darauf an, in wen er sich verliebt. PFLEGERIN  Wie bitte?? VĚRA  Ich habe sie als Pflegerin eingestellt und nicht als Escort. PFLEGERIN  Meine Beziehung zu Ihrem Vater ist meine Privatsache. VĚRA  Ich meine die Beziehung zwischen UNS BEIDEN. PFLEGERIN  Sie wollen mir kündigen. VĚRA  Bereits geschehen. (Vĕra wartet. Pflegerin versteht nicht ganz, worauf.) Also wie viel? 198


PFLEGERIN  Bitte? VĚRA  Wie viel möchten Sie dafür, dass Sie meinen Vater nie wieder sehen? PFLEGERIN  Meinen Sie das ernst? Finden Sie nicht, dass er traurig sein wird? VĚRA  Ja. Kurz. Er überlebt das schon. PFLEGERIN  Sie haben mich wohl missverstanden. Ich mag Ihren Herr Papa sehr gern. VĚRA  Nein, ICH mag MEINEN VATER sehr gern! Und ich möchte nicht, dass sein Leben so zu Ende geht. Sie sind dreißig Jahre jünger und fett! Sie kennen ihn seit einem Monat und schon ziehen Sie bei ihm ein! PFLEGERIN  Ihr Herr Papa ist sehr einsam. VĚRA  Was geht SIE das an? Wir sind ALLE einsam. Aber das ist noch lange kein Grund, mit jemandem wie Ihnen zu leben! PFLEGERIN  Sie verstehen wohl nicht, was „Liebe“ heißt. VĚRA  Doch, sehr gut. Das heißt, es wird teuer. PFLEGERIN  Ich möchte nicht eine Tochter wie Sie haben. VĚRA  Keine Angst. Werden Sie auch nicht! (Blättert Scheine auf den Tisch.) Zählen Sie mit. Legt immer neue Scheine dazu. DUNKEL. MUSIK.

12. LETZTE SZENE MIT VATER Vater sitzt vor dem Fernseher (Sendung über Krebs, das Publikum bekommt vermutlich kaum etwas von der Sendung mit) Neben dem Fernseher steht die Gitarre, er wird wohl versucht haben, zu spielen. VĚRA  Papa! Hallo! VATER  Hallo! VĚRA  Bleib sitzen. Guck mal. (Holt Papiere aus der Tasche, Untersuchungsergebnisse, Anamnesen.) Ich war auf der Neurologie. Manche Werte sind ein bisschen erhöht, Kalium vor allem, liegt wohl an nervlicher Überbelastung, hat der Arzt gesagt … Dafür hat er dir was verschrieben. Sonst alles prima. VATER  Na dann. VĚRA  Was hältst du davon, wenn ich regelmäßig zu dir komme? Montags, mittwochs, freitags. Wir machen gemeinsam Gymnastik. Wie findest du das? Vater steht auf. Holt sich etwas zum Trinken. Das Gehen fällt ihm schwer. VATER  Du musst dir diese neue Sendung angucken. VĚRA  Gut? VATER  Beschämend. Ich spiele mit dem Gedanken, den Fernseher abzumelden. VĚRA  Die Leute mögen das. 199


VATER  WELCHE Leute? VĚRA  Die ZUSCHAUER. VATER  Du kennst die Sendung? VĚRA  Papa, die habe ich mir ausgedacht! VATER  Herzlichen Glückwunsch. VĚRA  Hat ganz tolle Einschaltquoten. VATER  Was heißt das? VĚRA  Dass es von vielen Menschen geguckt wird. VATER  Ich weiß, was „Einschaltquote“ heißt. Aber was bringt das? Die Frau hat früher so schöne Nebenrollen gespielt. Jetzt hast du sie kaputt gemacht. VĚRA  Ich habe aus ihr einen Star gemacht. VATER  Das sagst du. VĚRA  Ich sag dir was. Sie ist weg von mir. Sie fand die Sendung unethisch und hat die Agentur verlassen, um dann genau das zu machen, was ich vorgeschlagen hatte. Nur braucht sie mir jetzt keine Provision zu zahlen. Was wiederum ich unethisch finde. Vater bringt seinen ganzen Mut auf. VATER  Hast du Marie Geld angeboten, damit sie mich nie wiedersieht? VĚRA  SIE HAT ES GENOMMEN! VATER  Die Frau hat ein schweres Leben gehabt. Ist dir klar, wie erniedrigt sie sich gefühlt haben muss. VĚRA  Erniedrigend war es für uns beide. Und mich hat es außerdem einhunderttausend gekostet. VATER  Du hast ihr einhunderttausend bezahlt? Wie kannst du so mit Menschen umgehen? VĚRA  Sie kommt schon darüber hinweg, keine Angst. VATER  Aber ich NICHT! Haben wir dich so erzogen? Ist alles käuflich? VĚRA  Papa, sie war nur an DEINEM GELD interessiert! VATER  Warum erzählst du es mir? Ich brauche deine Offenheit nicht. VĚRA  Aber ich möchte dich anders in ERINNERUNG BEHALTEN. Du bist nicht einsam. Du hast mich, du hast meinen Bruder. Du brauchst keine verschwitzte Pummeltussi, die nach verbranntem Öl stinkt. VATER  Du hast für alle nur Verachtung übrig. Alle sind nur Nieten für dich. Früher warst du anders. Als Kind wolltest du Taucher werden. Wie Jacques Cousteau. Fische beobachten … VĚRA  Da habe ich auch noch an den Storch geglaubt. VATER  Du hast dich für alles interessiert. Mit großen, neugierigen Augen die Welt betrachtet. 200


VĚRA  Meine Augen sind immer noch gleich. VATER  Du hast kaum gesprochen, dir dafür aber alles gemerkt. Jetzt TELEFONIERST du nur noch. VĚRA  Weil es sonst nicht mehr läuft. VATER  Und so läuft es? Du hast deine Familie verlassen. VĚRA  Pavel wollte sich scheiden lassen. VATER  Du hast die Scheidung eingereicht. VĚRA  Einer MUSS es tun. VATER  MUSS eben NICHT. Menschen können jahrelang nebeneinanderleben. Und haben sich nur halb lieb, oder vielleicht auch gar nicht. Das passiert häufig. Aber sie gehen nicht auseinander. Das ist kein Kompromiss. Das ist einfach so. VĚRA  Habt ihr beide so gelebt, du und Mama? VATER  Es war ein gutes Leben. Egal, was du darüber denkst. Wir hatten nicht dein Talent, alles ständig zu ORGANISIEREN. VĚRA  Willst du sagen, dass ihr euch nicht mal zur Trennung aufgerafft habt? Papa, du hast dein Leben ruiniert. Du hast dich in dein kommunistisches Forschungsinstitut vergraben wie ein Käfer in den Mist. Du hast nicht mal die Traute gehabt, zu emigrieren, als dir alle dazu geraten haben. Ich werfe dir nichts vor, aber verlange von mir bitte keine Bescheidenheit, ja? Ich suche krampfhaft nach etwas, wofür ich dich schätzen könnte, aber … du machst es mir wirklich nicht leicht. VATER  So siehst du mich? VĚRA  Nein. Entschuldige. VATER  Es ist gut, dass du das gesagt hast. Wir führen ein Gespräch. Das ist selten. VĚRA  Ich wollte nicht laut werden. VATER  Ich sage dir noch eins. Ich möchte nicht, dass du meine Beerdigung organisierst. VĚRA  Das ist Erpressung! VATER  Hast du verstanden? VĚRA  Du liegst noch nicht im Sterben. (Vĕra steht auf.) Ich muss los. Am Dienstag komme ich wieder. Kuss? Vĕra kommt zu ihm, will sich versöhnen, aber statt sie zu verabschieden, fährt Vater fort. VATER  Alle schimpfen auf die Politiker. Aber die sind nicht an allem schuld. VĚRA  Wie bist du jetzt auf Politik gekommen? VATER  Sie machen Fehler, weil sie dumm sind, aber du bist klug. Du hättest etwas Gutes machen können. Stattdessen versuchst du, aus allem nur Gewinn zu schlagen. Menschen wie du haben unser Land dahin gebracht, wo es jetzt ist. Das sage ich dir als dein Vater, der dich liebt. MUSIK. LICHTWECHSEL 201


13. ASCHESTREUWIESE. VĚRA UND IHR BRUDER Vĕra und ihr Bruder stehen am Rand der Aschestreuwiese. BRUDER  Wollen wir? Vĕra zögert. VĚRA  Lass uns warten, bis sich der Wind legt. BRUDER  Es ist windstill. Aber sie warten. Ein seltener Augenblick, in dem keiner etwas sagt. VĚRA  Es war eine schöne Abschiedsfeier. Er hätte seine Freude dran gehabt. BRUDER  Bestimmt. VĚRA  Meinst du, dass er zugeguckt hat? BRUDER  Ich glaube, er hat im Himmel etwas Besseres vor, als die eigene Beerdigung zu beobachten … Er spielt Gitarre … VĚRA  (lange Pause) Wir haben die letzten drei Monate nicht miteinander geredet. Wir sind im Bösen auseinander. BRUDER  Wegen der Pflegerin? VĚRA  Auch. BRUDER  Er ist aber nicht mit ihr zusammengeblieben. VĚRA   Ich habe ihm die letzte Freude im Leben versaut. BRUDER  Sag so etwas nicht. Er hat dich sehr gemocht. Bruder holt die Urne aus der Tasche. VĚRA  Hat dich das Bestattungsinstitut angerufen? BRUDER  Nein. VĚRA  Wenn sie es tun, dann schick sie zu mir. BRUDER  Ist doch klar, so haben wir es auch abgemacht. VĚRA  Wir haben eine Auseinandersetzung wegen des Blumenarrangements. BRUDER  Die Kränze waren perfekt. Alle fanden sie schön. VĚRA  Die Zahl der Rosen stimmte nicht. Aber egal. BRUDER  Sollten sie einen Fehler gemacht haben, dann wollen wir ihnen verzeihen, oder? VĚRA  Klar. (Sie ist ganz offensichtlich nicht bereit, etwas zu verzeihen.) BRUDER  Um Gottes willen, VĚRA, es war die Beerdigung von unserem Vater! Kannst du nicht ein einziges Mal im Leben großzügig sein? VĚRA  Was ist großzügig daran, fremde Menschen an der eigenen Trauer verdienen zu lassen? BRUDER  Wegen fünf Rosen? VĚRA  Es waren sechsundvierzig Rosen statt dreiundachtzig! Das ist doch kein Versehen, oder? 202


BRUDER  Du hast die Rosen in den Kränzen gezählt? VĚRA  JA. BRUDER  Wann? VĚRA  Was wann? BRUDER  Wann hast du sie gezählt? VĚRA  Keine Ahnung. Während der Abschiedsfeier. Was ist? Du denkst, ich habe Papa weniger lieb, nur weil ich die Rosen auf seinem Sarg gezählt habe? Ich bin einfach gut im Multitasking. Kann weinen und zählen gleichzeitig. BRUDER  Du hast nicht geweint. VĚRA  Woher willst du das wissen? Hast du mich beobachtet? Wir sind schon eine tolle Familie. Ich zähle die Rosen auf dem Sarg und mein Bruder beobachtet, ob ich ausreichend weine. BRUDER  Du weißt, dass das nicht stimmt. VĚRA  Ich habe versucht zu weinen! Aber es ging nicht. Keine Kapazität. Reicht es dir als Erklärung? (Beruhigt sich wieder.) Okay. Ich pfeife auf die Rosen. Ich zahle die Differenz. (Zeigt auf die Urne.) Komm. Mach sie auf. BRUDER  Jetzt nicht. Nicht in dieser Stimmung. Ein anderes Mal. Wenn du willst, mach es selbst. Ich will anders von meinem Vater Abschied nehmen. Bruder ab. Vĕra bleibt allein mit der Urne zurück. MUSIK. LICHT AUS.

14. VĚRA WIRD GEFEUERT Vĕra kommt ins Castingstudio. VĚRA  (zu Sekretärin) Schätzchen, mach mir einen Kaffee! Ich bin total alle. Haben sich die Vodafone-Leute gemeldet? Auftritt Sekretärin. SEKRETÄRIN  Guten Morgen, Věra. Sie haben Besuch. VĚRA  Aha. Erst jetzt bemerkt sie Paul und Beata, die auf sie warten. Paul sitzt an Vĕras Tisch. PAUL  Wir haben es uns in der Zwischenzeit bequem gemacht. Wie zu Hause, nicht wahr? VĚRA  Hatten wir heute einen Termin? BEATA  Nein. Wir sind bloß in der Gegend gewesen. VĚRA  (gibt jedem einen Kuss auf die Wange) Prima. Heute harmoniert ihr beide unglaublich gut. Wie zwei Küken. Ist das Gucci? Ein herrlicher Schnitt, Beata. BEATA  Findest du? 203


VĚRA  Du weißt es und ich weiß es. Was kann ich für euch tun? (zu Beata) Einen Cappuccino – hast du schon, wie ich sehe … PAUL  Vielleicht nehmen wir kurz Platz. VĚRA  Ja, natürlich. Hier zum Beispiel. Setzen wir uns. Vĕra findet einen Stuhl und setzt sich. Unangenehme Stille. VĚRA  Nun sitzen wir … Ist etwas los? … Schlechte Nachrichten? Fangen wir doch mit ihnen an, damit wir uns später umso mehr über die guten freuen. PAUL  Keine schlechten Nachrichten, auf keinen Fall. VĚRA  Das höre ich gern. Auch bei uns läuft alles wie geschmiert. (Auftritt Sekretärin, will etwas sagen; Vĕra bellt sie an) Jetzt nicht! (Lächelt sofort Paul und Beata wieder an. Vĕras Telefon klingelt. Sie macht es nervös aus. Für sich, über den Anrufer) Du kannst mich auch mal. (zu Paul und Beata) So. Entschuldigung. Schon aus. PAUL  Neulich haben wir beide, Beata und ich, über dich gesprochen, und ich habe gesagt, VĚRA bräuchte eine kleine Verschnaufpause. BEATA  Das hat er gesagt. VĚRA  Ich bin okay. PAUL  Etwas Entspannung und Zeit zum Nachdenken. VĚRA  Worüber? BEATA  Wir haben uns gefragt, ob dir diese Position guttut. PAUL  Ob du diese Arbeit wirklich gerne machst. VĚRA  Welche Arbeit? PAUL  Die hier. VĚRA  Die Arbeit, die ich seit dreißig Jahren mache und in der ich so gut bin? Ja, diese Arbeit MACHE ICH GERNE. Warum? PAUL  Věra, du bist total angespannt, komm runter. VĚRA  Entschuldigung. BEATA   In letzter Zeit häufen sich Konflikte zwischen dir und anderen Menschen. VĚRA  Wen meint ihr? BEATA  Bob Semilský hat dich angezeigt. VĚRA  Bob ist ein Psychopath. Das weiß jeder. BEATA  Magda Gruberová. VĚRA  Was ist mit der? PAUL  Du hast ihr gesagt, dass sie nicht spielen kann. VĚRA  Einer hat es ihr sagen MÜSSEN. BEATA  Sie hat unsere Agentur verlassen, weil sie deine Arbeitsweise nicht ethisch fand. VĚRA  Um anschließend GENAU das zu machen, was ich ihr empfohlen habe! BEATA  Aber sie ist gegangen! 204


VĚRA  Weil sie eine dumme Kuh ist, die einen zynischen Handel mit ihren Eierstocktumoren betreibt. PAUL  Věra, hörst du dir manchmal zu, wie du redest? Man beschwert sich darüber. VĚRA  Wer ist man? PAUL  Gibst du unseren Klienten wirklich Beruhigungsmittel? Ich fasse das nicht. VĚRA  Ohne die Pillen wischen sich die meisten nicht mal den Arsch ab. BEATA  Redest du so von unseren Klienten? VĚRA  Die kommen depressiv zu mir, weil sie KEINE ARBEIT haben, und wenn ich ihnen eine Arbeit besorgt habe, was häufig an ein echtes WUNDER grenzt, dann jammern sie, weil sie ZU VIEL ZU TUN haben. Wie viel Arbeit hätten die denn gern? Anderthalb Serien pro Jahr? Aber ich liebe sie alle, ich würde mein Leben für sie geben. (Auftritt Sekretärin. Vĕra bellt sie an) Verpiss dich, und zwar sofort! (Sekretärin ab. Paul und Beata schütteln den Kopf.) Ich stecke gerade in einer schwierigen Phase. Mein Vater ist gestorben … ich lebe in Scheidung … aber ICH HABE ALLES IM GRIFF! PAUL  Věra … VĚRA  Wollt ihr mich feuern? Dazu seid ihr nicht berechtigt. PAUL  Theoretisch schon. VĚRA  Ich bin die Direktorin dieser Zweigstelle! PAUL  Und wir vertreten die BESITZER, aber das ist nicht der Punkt. BEATA  Das ist nicht der Punkt. Überlege dir einfach, ob für dich vielleicht eine andere Position besser wäre … Die Direktorenstelle ist im Moment unhaltbar. VĚRA  Unhaltbar? BEATA  Unhaltbar! VĚRA  Wovon redest du, verdammt noch mal? BEATA, ich habe diese Firma gegründet. Aus dem Boden gestampft habe ich sie. Als ich den Leuten noch die beknackten weißen Nummernschilder an die Brust klebte, da habt ihr beide noch in die Windel geschissen. Aber das habe ich hinter mir. BEATA  Du machst einen Patzer nach dem anderen. Wir können dich nicht weiter de­ cken! Dein Verhalten schädigt den guten Ruf unserer Firma, so sieht es die Zentrale. VĚRA  Ihr seid gekommen, um mich rauszukicken? Warum? Was habe ich verbrochen? PAUL  Du benimmst dich immer noch, als würde dir hier alles gehören. Aber ES IST NICHT MEHR DEINE FIRMA. BEATA  Wir haben zugeben müssen, dass es deine Idee war. VĚRA  Welche? BEATA  Thomas Minx. Paul wollte für dich die Kastanien aus dem Feuer holen, aber … VĚRA  Beata …! PAUL  Ich habe gesagt, so ist unsere Věra halt, sie handelt impulsiv, sie hat einfach das Mädchen ENGAGIERT … 205


BEATA  Aber als dir dann die Klienten wegliefen … VĚRA  Beata, Paul, ihr seid so mies. Wisst ihr das? Paul und Beata sind fertig mit ihr. Sie stehen auf. PAUL  Das war’s eigentlich. Wir sind sogar ohne unnötige Emotionen ausgekommen. Das ist prima. VĚRA  Wenigstens in einer Sache sollte Klarheit zwischen uns herrschen. (Pause, Paul und Beata sehen sie an.) Ihr seid Arschlöcher. PAUL  Du hast es sportlich genommen, das weiß ich zu schätzen. VĚRA  Zynische Schweine. PAUL  Ich hatte Angst, du würdest uns deinen Kaffee ins Gesicht schütten. VĚRA  Karrieregeile Idioten. PAUL  Deswegen habe ich auch heute ein älteres Jackett angezogen. (Lacht über seinen eigenen Scherz.) Hätte ich mir sparen können. Du trägst es mit Würde. VĚRA  Und ich sage euch noch eins. Das hier ist das Ende der Agentur. Ihr beide seid nicht clever genug, um diese Arbeit zu schaffen. Oder um jemanden dafür einzustellen. Das Ganze wird in Arsch gehen und ihr auch, ihr Armleuchter. Vĕra geht zum Tisch und nimmt ihren Laptop. BEATA  Věra, wenn du den Tisch räumst, wären wir gerne dabei. Der Inhalt deines Schreibtisches und der Computer sind Firmeneigentum. MUSIK. PAUSE

15. AMTSGERICHT, FLUR. VĚRA UND EHEMANN MUSIK. Vĕra schminkt sich quasi unter Feldbedingungen auf dem Flur. Benutzt Mundspray, um den Geruch von Alkohol loszuwerden. (Vielleicht trinkt sie noch einen Schluck und bekleckert sich dabei.) Immer wieder fällt ihr etwas aus der Hand. Sie hat viel Zeug dabei und sucht immer wieder, ob auch alles da ist. Auftritt Ehemann. Er läuft mit Krücken und sieht gut aus. VĚRA  Pavel! EHEMANN  Věra! VĚRA  Ich dachte, du kommst mit dem Fahrstuhl. EHEMANN  Ich habe die Treppe genommen. Training. VĚRA  Ist das toll. EHEMANN  Ich war mir sicher, wir sehen uns unten an der Bar und kippen gemeinsam einen runter. Habe mir also einen im Alleingang genehmigt.

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VĚRA  Ich trinke nicht. (Er sieht sie ungläubig an.) Guck, ich habe alles unterschrieben. (Zieht blätterweise Papiere aus der Tasche, ganz chaotisch, manches landet auf dem Fußboden.) Entschuldige. Ich wollte es vorher gemacht haben, aber irgendwie komme ich kaum hinterher. EHEMANN  Hast du viel zu tun? VĚRA  Seit ich ausgezogen bin, finde ich nichts mehr. Anfangs konnte ich nicht einschlafen. Also habe ich etwas dagegen genommen. Seitdem fällt mir ständig alles aus der Hand. Also nehme ich Tropfen, nach denen ich nicht schlafen kann. Aber das wird schon. EHEMANN  Du kannst in der Wohnung bleiben, das habe ich dir doch gesagt. VĚRA  Nein, es ist schon richtig, sie zu verkaufen, und ich will es auch. Ich brauche das Geld, ich habe GROSSE PLÄNE. EHEMANN  Das freut mich. VĚRA  Weil, Achtung: Ich habe eine ganz tolle Modedesignerin aufgetan. Und wir planen eine Modenschau im Tagebau. Westböhmen. Stell dir die Models auf einem Förderband vor. Dieses Ding beim Schaufelradbagger, auf dem sonst Kohle transportiert wird. Wir müssen den Abbau für zwei Stunden stoppen. Das kostet das meiste Geld. Es wird ein richtiger Event. Natürlich muss man Journalisten und sonstige Modeexperten hinkarren. Aber ich kenn immer noch genug WICHTIGE LEUTE. Du bist eingeladen. EHEMANN  Danke. VĚRA  Und du? Toll, dass du laufen kannst. EHEMANN  Alena bringt mich einmal die Woche zu einem Heiler. VĚRA  Was für eine Alena? Eine Pflegerin? EHEMANN  Nein, Alena. VĚRA  Deine Ex? Du bist zu deiner ersten Frau zurück? (Stimme aus dem Off ruft sie herein.) Und die zehn Jahre mit mir, was waren die denn? Ein Intermezzo? EHEMANN  Wir wurden aufgerufen. VĚRA  Eine Art Einschub, ja? Ich bin der Einschub in eurem Leben, ja? Oder was war das denn? EHEMANN  Ein Irrtum. VĚRA  (denkt nach) Okay, dann wollen wir den beheben. Beide ab. MUSIK.

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16. FOTOSTUDIO. VĚRA UND FOTOGRAF Fotograf betritt wankend und spärlich gekleidet die Bühne, es geht ihm nicht gut. Es ist derselbe Fotograf, der in der ersten Hälfte Magda fotografiert hat. Auftritt Vĕra VĚRA  Kopfschmerzen? Ich hab was mit. FOTOGRAF  Ist nicht schlimm. VĚRA  Du hättest nicht so viele Schnäpse ausgeben sollen. FOTOGRAF  Die hast du ausgegeben. VĚRA  Echt? Woher hatte ich das Geld? FOTOGRAF  Von mir geliehen. VĚRA  Wie viel schulde ich dir? FOTOGRAF  Schon okay. VĚRA  Komm! So schlecht geht es mir noch nicht. Mit so was fangen wir gar nicht an. (Sucht im Portemonnaie. Wankt, kippt fast um.) Scheiße. (Findet nur einen 5o-Kronen-Schein.) Du kriegst es bei nächster Gelegenheit zurück, ja? Wir sehen uns doch nicht zum letzten Mal, oder? (Fotograf ab für ein Kopfschmerzmittel.) Es läuft doch gut mit uns beiden, oder? Ich meine auch arbeitstechnisch. Brauchst du eine Assistentin? Die dir die Daten archiviert. Den Ständer poliert … ich meine den Lampenständer. Und so weiter. FOTOGRAF  (kommt zurück) Ich habe eine Assistentin. VĚRA  Dann besorg dir noch eine. FOTOGRAF  Ich will nach Tibet, die Yaks fotografieren. Er zieht sich an, seine Kleidungsstücke liegen überall auf dem Boden verstreut. Vĕra zieht sich auch an, hinter einem Paravent. VĚRA  Weißt du noch, wie du mal Aktfotos von mir machen wolltest? Ist nicht so lange her. FOTOGRAF  Damals hast du mich zum Teufel geschickt. VĚRA  Ich war „jung und dumm“. FOTOGRAF  Ich fand deinen Stolz cool. VĚRA  Nach der Scheidung, Pavel war schon gegangen und ich bin noch kurz mit der Anwältin stehen geblieben, trat ich auf die Straße. Die Sonne schien, es war ein herrlicher Tag, und von Abermillionen möglichen Gedanken schoss mir durch den Kopf: Jetzt kannst du dich endlich nackt fotografieren lassen. FOTOGRAF  Das mit dir und Pavel, das tut mir echt leid. VĚRA  (kommt in einem sexy Kostüm hinter dem Paravent hervor) Was sagst du jetzt? Erst jetzt begreift Fotograf, worum es Vĕra geht. FOTOGRAF  Es war dein Ernst? VĚRA  Ich habe immer noch einen schönen Körper. Hab mich nicht verändert. 208


FOTOGRAF  Die Welt hat sich geändert. Alte Frauen sind nicht in. VĚRA  Hm, das war nicht richtig nett gerade. FOTOGRAF  Wir haben immer offen geredet. VĚRA  Ich kann mich nicht erinnern, dass wir geredet hätten. Für mich warst du bloß eine Kamera auf Beinen. Ne Kamera mit Schwanz. FOTOGRAF  Dann eben nicht. Höchste Zeit für Vĕra zu gehen. VĚRA  Warum bist du also mit einer ALTEN FRAU ins Bett? FOTOGRAF  Wahrheit? VĚRA  Nein. Nicht die Wahrheit. Sag etwas Schönes. FOTOGRAF  Du hast mir leid getan. VĚRA  Du bist ein Idiot … Kannst du mir zwanzigtausend leihen? Ich hab bei einer Aktion ne Menge Geld verloren. FOTOGRAF  Ich weiß, im Tagebau. War wohl ein ziemliches Fiasko. VĚRA  Kein FIASKO. Es hat einfach nur ne Stange Geld gekostet. Und ich muss Miete zahlen. FOTOGRAF  Věra, ich habe eine Freundin. VĚRA  Du Depp, das war kein Vorwand, damit wir uns öfters sehen. Ich brauche die Knete. FOTOGRAF  Bist du deswegen mit mir ins Bett? VĚRA  Ich bin am Arsch. Würde mit jedem pennen, um mein Selbstbewusstsein aufzupeppen. Tut mir leid, dass es nicht geklappt hat, aber das werde ich schon überleben. Leihst du mir was? FOTOGRAF  Nein. VĚRA  Dann hau doch endlich ab, du Wahrheitsanbeter. Wirft sein Jackett nach ihm. FOTOGRAF  Das ist meine Wohnung. Vĕra ist überrascht. MUSIK. LICHTWECHSEL.

17. VĚRAS ALTE ARBEITSSTELLE: PAUL, BEATA UND MAGDA Vĕra in ihrem alten Büro. Übertrieben geschminkt. Sekretärin kommt. VĚRA  Was ist los, Schätzchen. Ich hocke seit anderthalb Stunden hier. Und meinen Kaffee haben Sie auch vergessen. SEKRETÄRIN  Frau Blairová kann Sie heute wirklich nicht empfangen. VĚRA  Meinen Sie unsere Beata? Wenn sie zu tun hat, kann ich warten. Aber ein kleiner Cappuccino, mit einer Prise Zimt, der wäre bei der Warterei prima. 209


SEKRETÄRIN  (wartet, dass Vĕra endlich geht) Tut mir sehr leid.  VĚRA  Was genau tut Ihnen leid? SEKRETÄRIN  Bitte? VĚRA  Sie haben gesagt, dass es Ihnen leid tut. Ich frage, was tut Ihnen leid? SEKRETÄRIN  Ich … weiß nicht, was Sie meinen. VĚRA  Hat man dir gesagt, du sollst mich loswerden? Nur zu, aber bitte mit CHARME! Sag mir etwas, was ich noch nie gehört habe. Ich warte! Meinerzeit war ich E ­ XPERTIN darin, Leute loszuwerden. An deiner Stelle würde ich hier nicht so stehen. Auftritt Beata VĚRA  (zu Beata über Sekretärin) Sie kriegt es nicht hin, mich rauszuschmeißen. Also bin ich hier, Schätzchen. Aber DU FREUST DICH, mich wiederzusehen, das weiß ich doch, Beata! BEATA  VĚRA, hör mal … VĚRA  Du siehst schon wieder unglaublich gut aus! Wie machst du das? Du wirst von Tag zu Tag jünger. Ist das Chanel? BEATA  VĚRA, ich kann dich nicht empfangen. VĚRA  Ich wollte euch meine Dienste anbieten. Nach kurzem Nachdenken wurde mir klar, dass ich für euch arbeiten will. Ich kann Texte kopieren oder mich ums Archiv kümmern, Kaffee kochen … Na? BEATA  VĚRA … VĚRA  JA, ich bin eine Zeitlang neben der Spur gewesen. Hab ein paar echt harte Dinge hinter mir, aber jetzt bin ich wieder da und möchte neu anfangen. Ich GEHÖRE hierher. (Beata gibt Sekretärin Zeichen, sie solle jemanden anrufen.) Was fuchtelst du mit den Händen, Beata? BEATA  Für Personalfragen ist bei uns der Paul zuständig. VĚRA  Und für die Verdauungsfragen? BEATA  Wie bitte? VĚRA  Okay, dann rede ich mit Paul darüber. BEATA  Paul ist in der Mittagspause. VĚRA  Ich warte auf ihn. BEATA   Hier kannst du nicht warten! Paul und hinter ihm Magda, beide im freundschaftlichen Gespräch vertieft, kommen aus dem Büro. Vĕra haben sie hier nicht erwartet. Beata gestikuliert ihnen etwas zu. VĚRA  Na sieh mal einer an! Die alte Clique ist wieder zusammen! PAUL  Magda ist wieder bei uns. VĚRA  Glückwunsch. Wie hast du das geschafft? PAUL  Wir haben die Lizenz für Magdas Sendung besorgt. VĚRA  Für die, die ich mir ausgedacht habe? 210


PAUL  Das Patent für das Format liegt bei den Engländern, es war nicht ganz einfach, die Lizenz zu bekommen. VĚRA  (zu Magda) Die Sendung ist ein ORIGINAL. Krebs kann man sich nicht patentieren lassen. Haben die dir das nicht gesagt? PAUL  Věra, hör mal … VĚRA!! DU SOLLTEST GEHEN! VĚRA  Okay, es geht mich nichts an. Ich sag keinen Mucks mehr. (dreht sich zu Magda um) Aber Magda, Schätzchen, du brauchst eine Assistentin. MAGDA  Danke. Ich habe schon eine. VĚRA  Schmeiß sie raus. Nimm mich. Ich bin besser. PAUL  Věra, verpiss dich! VĚRA  Verdammt, Magda, sag doch was! MAGDA  Ich will nicht mit dir reden. VĚRA  Was hab ich verbrochen? Erzähl es mir und ich mach es wieder gut. MAGDA  Ich weiß, was du über mich zu Paul gesagt hast. VĚRA  Und zwar? MAGDA  (Pause) Dass ich einen zynischen Handel mit Krebs und meinen Eierstöcken betreibe. VĚRA  Pfui, Paul! PAUL  Das hast du gesagt! VĚRA  Das hab ich! Und zwar als LOB! Du bist ne perfekte Geschäftsfrau, Magda. Wir zwei würden ein tolles Team abgeben. MAGDA  VĚRA, in dir steckt eine Riesenportion Bosheit. Aber ich habe einen langen Weg hinter mir und finde, uns beide verbindet nichts mehr. Magda will gehen, Vĕra verstellt ihr den Weg. VĚRA  Magda, darf ich unter vier Augen mit dir sprechen? Bitte. (Paul will sie zur Seite schieben.) FASS MICH NICHT AN, Paul! Ich spreche mit Magda! (zu Magda) Bei mir ist etwas schiefgelaufen, eine Veranstaltung, aber darüber will ich nicht reden. MAGDA  Věra, lässt du mich bitte vorbei? VĚRA  (wird sauer) Magda, verdammt noch mal! Ich habe dir das Leben gerettet. Kannst du mir nicht mal ZWEI MINUTEN schenken? MAGDA  Mein Leben habe ich Gott zu verdanken. VĚRA  Nein, Gott hat auf dich geschissen! Gerettet hat dich MEIN ONKOLOGE. Es hat mich zwanzigtausend gekostet. Ich hätte mir ein neues iPad kaufen können, stattdessen habe ich das Geld in einen Umschlag gesteckt und dir das Leben gerettet. Ich werfe dir nichts vor, aber erzähl mir verdammt noch mal nie wieder, dass UNS BEIDE NICHTS VERBINDET! Vĕra ab. MUSIK. DUNKEL. 211


18. MÖBELLAGER Vĕra streitet sich am Telefon mit dem Telefonservice. VĚRA  Gut, mag sein, dass ich die Rechnung nicht bezahlt habe, aber DIESE NUMMER gehört MIR. – Ich habe nicht vor, sie zu kündigen! Im Gegenteil, ich will sie benutzen! – Natürlich werde ich bezahlen. Nachdem sie meine Nummer entsperrt haben!! – Weil ich mit Telefonieren GELD VERDIENE. Wenn Sie mir nicht erlauben, mein Telefon zu benutzen, habe ich kein Geld, um die Rechnung zu bezahlen! – Dann verkaufe ich Ihnen die Nummer. Sie ist wertvoll! – Weil wenn Sie von dieser Nummer jemanden anrufen, der in diesem Land was zu bedeuten hat, dann NIMMT ER AB. Weil er denkt, dass ICH ihn ANRUFE! – Hallo! (Die andere Seite hat aufgelegt. Vĕra bemerkt einen älteren Mann, der sie offensichtlich sprechen will. Sie legt das Handy weg.) Typisch Serviceheinis. Kann nicht wahr sein. MANN  Sie gestatten, ich bin der Hausmeister. Vertreter aller anständigen Menschen in diesem Haus. Ich komme wegen Ihrer Anzeige. VĚRA  Ach die. (Sieht sich um.) Ich verkaufe Möbel und sonst so Kram … hab aufgeräumt und gedacht, darüber könnte sich noch jemand freuen. Mann begutachtet die Möbel. MANN  Da hängen Pfandsiegel drauf. VĚRA  Ja, der Kuckuck hat sich ein paar Dinge reserviert. Die können Sie außer Acht lassen. MANN  (bemerkt die Gitarre, die Vĕra einst Vater zum Geburtstag geschenkt hat) Was ist mit der? VĚRA  Les Paul. MANN  Hübsch. VĚRA  Nicht zu verkaufen. MANN  Ich gebe Ihnen zweitausend dafür. VĚRA  Sie hat fünfundzwanzig gekostet. MANN  Wahnsinn. VĚRA  Es ist ein Original. Ich habe sie meinem Vater zu seinem Siebzigsten gekauft, seinem letzten Geburtstag. Daher WEISS ICH NOCH, wie teuer sie war. Sie ist wirklich nicht zu verkaufen. Mann zieht drei Tausender hervor. Bares Geld zieht Vĕra an. Aber sie widersteht. Als Mann noch einen Tausender drauflegt, ist ihr Widerstand gebrochen. VĚRA  (nimmt das Geld) Sentiment tut nicht gut, stimmt? (Blick gen Himmel) Entschuldige, Papa. (zu Mann) Spielen Sie Gitarre? Kaum, oder? Mann schickt sich an zu gehen, bleibt aber noch kurz stehen. MANN  Noch eins: Das hier ist ein Lagerraum. 212


VĚRA  Ja? MANN  Sie lagern hier Möbel. Das ist in Ordnung. (Pause) Aber es ist kein Wohnraum. VĚRA  Bitte? MANN  Hier ist es nicht erlaubt zu wohnen. VĚRA  Ich wohne hier nicht. MANN  Man hat sie gesehen. Abends. Mir ist es egal, aber im Haus wird geredet. Die Mieter wollen sich beschweren. VĚRA  Worüber? MANN  Letzte Woche hat jemand den Fahrstuhl verunreinigt. VĚRA  Wie? MANN  Wie ich gesagt habe. VĚRA  … Sie meinen, jemand hat reingepinkelt? MANN  Das auch. VĚRA  (erst jetzt geht ihr Licht auf) Und was habe ich damit zu tun?! Wohin würde ich wohl mit dem beschissenen Fahrstuhl hinfahren? Aufs Dach, um mich umzubringen? MANN  Die Mieter sind der Meinung, es gäbe da einen Zusammenhang. VĚRA  Dass ich in den Fahrstuhl gekackt hab?!! Das soll wohl ein WITZ sein! MANN  Wir sind hier keine Sozialeinrichtung. VĚRA  WEIL ICH HIER NICHT WOHNE! MANN  Das behaupten Sie. VĚRA  Okay, vielleicht übernachte ich manchmal hier, aber aufs Klo gehe ich irgendwohin ANDERS! Reicht das?! (Mann lacht.) Mein Gott, das ist unterirdisch. Was muss man alles ertragen? Würden Sie mir Ihr Telefon leihen? MANN  Warum? VĚRA  WEIL ICH TELEFONIEREN MÖCHTE! MANN  Haben Sie keins? VĚRA  Nein, hab ich nicht. (Mann gibt ihr sein Telefon nicht.) Wissen Sie was, ich habe es mir anders überlegt. Ich verkaufe die Gitarre nicht. MANN  Ich habe sie schon bezahlt. Vĕra gibt ihm die viertausend, die er bezahlt hat. VĚRA  Hier, bitteschön. MANN  Es ist eine original Les Paul. Die verkaufe ich nicht so billig. VĚRA  Ich träume wohl. Wie viel? MANN  Zehntausend. TUSCH. Mann ab. HINTERGRUNDMUSIK. VĚRA  (ins Publikum) Da bin ich echt sauer geworden. Wie kann man von mir denken, dass ich so was Ekelhaftes machen würde? … Das hat mich dermaßen auf die 213


Palme gebracht, dass ich mir den blöden Fahrstuhl unbedingt angucken musste. Nichts Besonderes. Ganz normaler Fahrstuhl. Bin hochgefahren, in den elften, dann wieder runter. Nichts Besonderes. Wieder hoch. Und dann hab ich auf einmal gemusst. Denen ZUM TROTZ. Bloß hatten die Säcke inzwischen in einer Ecke die Kamera installiert. Und den Film ins Netz gestellt. Von einem Tag auf den anderen bin ich zur „Königin der Fäkalunterwelt“ geworden. Dazu wird wohl die kleine Panne beigetragen haben –in dem Moment, als ich die Hose hochzog, habe ich das Gleichgewicht verloren und bin ausgerutscht und hab mich ein bisschen darin gewälzt. MUSIKUNTERMALUNG WIRD STÄRKER. LICHTWECHSEL.

19. KARAOKE-BAR. BARMANN Vĕra nimmt das Mikro und singt „Vera Lynn“ von Pink Floyd. Der Text wird vielleicht im Hintergrund an die Wand gebeamt. VĚRA  Does anybody here remember Vera Lynn Remember how she said that We would meet again Some sunny day Vera! Vera! What has become of you Does anybody else in here Feel the way I do? Das Lied ist zu Ende, man hört spärlichen Applaus. Vĕra geht zur Bar. Als Untermalung ertönt eine andere Musik. Barmann ist sehr jung. VĚRA  Einen Wodka. BARMANN  (bereitet den Drink vor, zwinkert Vĕra zu) Wir kennen uns, oder? VĚRA  Bin jeden Freitag hier. BARMANN  So meinte ich das nicht. VĚRA  Soll das eine Anmache sein? BARMANN  Keine Panik … Ich muss Sie irgendwo gesehen haben. VĚRA  Hast du mal als Komparse gearbeitet? (Barmann schüttelt den Kopf.) Ich hatte eine ziemlich bekannte Agentur … Wir haben haufenweise Menschen engagiert … Ich kann mir nicht jeden merken. Sorry. Kennst du Bob Semilský? BARMANN  Klaro. VĚRA  Den hatte ich auch unter Vertrag. 214


Das beeindruckt Barmann nicht. Womöglich glaubt er ihr auch nicht. BARMANN  (endlich fällt der Groschen) Sie sind doch die aus dem Fahrstuhl? VĚRA  Nein. BARMANN  Elevatorshit auf youTube. Das sind Sie, oder? VĚRA  Nein. BARMANN  Aber sicher sind Sie das. Krass. Das ist ein Ding! Sorry, dass ich Sie nicht früher erkannt hab. VĚRA  Nicht so schlimm. BARMANN  Sie sind jetzt fast ne Celebrity. VĚRA  Ach komm. BARMANN  Zwei Millionen Aufrufe! VĚRA  So viele? BARMANN  Krasser Abgang, Mann, steil wie ne Rakete! VĚRA  Eigentlich wäre ich gerne auf eine andere Weise berühmt geworden, aber man muss es nehmen wie es kommt, nicht? BARMANN  Was steckt dahinter? Ein politisches Statement? Mittlerweile ist es richtig Kult. VĚRA  Echt? BARMANN  Alle machen Sie nach. Einen sauberen Aufzug zu finden ist mittlerweile Kunst. Also wüsste ich gerne den Grund. VĚRA  Na – den kann ich dir erzählen. BARMANN  Und signieren Sie hier die Theke? VĚRA  Wenn du die Getränke übernimmst. BARMANN  Sie sind mein Gast. Barmann reicht Vĕra einen dicken schwarzen Filzstift und zeigt ihr, wo sie signieren soll. Sie bückt sich, versucht genau hinzugucken, dann knicken ihr die Beine weg und sie rutscht auf den Boden. MUSIK. Barmann ab.

20. PSYCHIATRIE. KUNSTTHERAPIE Vĕras Hände und Kleidung sind mit Ton verschmiert. Vĕra hat während der Therapie eine wunderschöne Tasse gemacht. Diese steht nun auf dem Tisch zwischen ihr und ihrem Therapeuten. THERAPEUT  Wie würden Sie Ihre Entwicklung der letzten vier Wochen beschreiben, seit Sie bei uns sind? VĚRA  Ich bin ruhiger geworden, glaube ich. 215


THERAPEUT  Noch etwas? VĚRA  Ich übe mich in Empathie. Höre den anderen zu. Freue mich über Kleinigkeiten. THERAPEUT  Das hört sich nach Fortschritt an. Sie haben außerdem eine wunderschöne Tasse gemacht. Freuen Sie sich darüber? VĚRA  (defätistisch) Ja. THERAPEUT  Wirklich? VĚRA  Nein. THERAPEUT  Warum nicht? VĚRA  Die Tasse ist hässlich. Und krumm. Ich habe schlappe DREIZEHN STUNDEN daran gearbeitet und irre viel Ton und Strom verplempert. Als Keramikherstellerin habe ich bestimmt keinen Vogel abgeschossen. THERAPEUT  Es geht aber nicht darum, „einen Vogel abzuschießen“. VĚRA  Ich weiß. Ich gebe mir wirklich Mühe. THERAPEUT  Es geht darum, sich zu freuen über das, was man gerade macht. VĚRA  Ich habe mich über jeden guten Auftrag gefreut. Über die Besetzung von einem interessanten Film. Über jede interessante Persönlichkeit, die ich UNTER VERTRAG genommen habe. THERAPEUT  Das sind Verhaltensmuster aus ihrer Vergangenheit, die nicht mehr funktionieren. VĚRA  Aber warum? THERAPEUT  Das weiß ich nicht. VĚRA  Würden wir das herausfinden, müsste ich beim Anblick einer krummen Tasse keinen Luftsprung machen. THERAPEUT  Möchten Sie die Tasse kaputt schlagen? VĚRA  Ich möchte sie verkaufen. THERAPEUT  Warum sollte sie jemand kaufen? VĚRA  Weil sie ein Original ist. Mein einziges und LETZTES Produkt Ihrer peinlichen „Freude durch Töpfern“-Therapie, die Sie nur deswegen in Gang gesetzt haben, um für dieses Irrenhaus EU-Fördermittel einzuheimsen! THERAPEUT  Ihre wichtigste Aufgabe ist im Moment, negative Emotionen loszuwerden. VĚRA  Und Ihre wiederum, Fördergelder abzuschöpfen, oder? Vermutlich würde ich diesen Laden viel besser schmeißen, als es jetzt der Fall ist, aber etwas flüstert mir ein, dass man sich nicht darauf einlassen würde. THERAPEUT  Věra, Sie sind nicht als Direktorin zu uns gekommen, sondern weil sie die einfachsten sozialen und hygienischen Gewohnheiten nicht mehr einhalten konnten. Sie brauchen eine Resozialisierung.

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VĚRA  Das ist die eine Lösung. Die andere wäre eine Bewerbung auf den Posten der Direktorin. THERAPEUT  Woher wissen Sie von der Ausschreibung? VĚRA  Sie steht im Netz. Wollen Sie meine Meinung hören? Egal wer die Stelle kriegt, Sie fliegen raus. Ihre Therapien sind nicht gerade erfolgreich. THERAPEUT  Wie kommen Sie darauf? VĚRA  Sehen Sie mich an. THERAPEUT  (gefangen in Vĕras Argumentationsschlinge) Auch bei Ihnen ließen sich gewisse Verbesserungen feststellen. VĚRA  Hand aufs Herz. Bei mir ist es zu keiner Verbesserung gekommen. Sollte man Sie deswegen feuern, täte es mir echt leid. In Ihrem Alter ist es nicht gerade leicht, eine neue Stelle zu finden, aber das Leben ist kein Wunschkonzert. THERAPEUT  Wollen Sie damit eine Parallelität unserer Schicksale andeuten? VĚRA  Im Gegenteil. Meine hiesige Position ist sicher, aber unter Ihnen wackelt der Stuhl. (Steht auf, reicht ihm die Tasse.) Diese Tasse ist für Sie. Wenn man Sie feuert, können Sie sie zerdeppern. Therapeut ab. DUNKEL.

21. RESTAURANT / BAR, WO VĚRA GESCHIRR SPÜLT. SCHWÄGERIN Bar im Untergeschoss, Tisch und zwei Stühle. Licht aus einem kleinen Fenster irgendwo oben unter der Decke. Rauchwolken vom Vorabend. Vĕra sitzt auf dem Stuhl. Schwägerin kommt, braucht eine Weile, bis sie sich orientiert hat. SCHWÄGERIN   Entschuldige, ich habe es nicht finden können. Sie wollte Vĕra distanziert begrüßen, aber Vĕra wirft sich ihr um den Hals und will sich lange nicht lösen. VĚRA  Blanka! Danke, dass du dir die Zeit genommen hast. SCHWÄGERIN   Ich habe ein ANDERES ETABLISSEMENT erwartet. Warum treffen wir uns in so einem LOCH? VĚRA  Es ist ruhig hier. Tagsüber kommt keiner. SCHWÄGERIN   Das wundert mich nicht. Es stinkt hier wie im Affenkäfig. VĚRA  Daran gewöhnt man sich. SCHWÄGERIN   Kommst du oft hierher? VĚRA  Ich helfe hier aus, vorübergehend. SCHWÄGERIN   Als MANAGERIN?

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VĚRA  Es tut gut, unter Menschen zu sein. (Blick der Schwägerin) Ist was? Zu Hause habe ich umsonst Geschirr gespült, jetzt kriege ich sogar Geld dafür. Das nennt man Fortschritt, oder? Schwägerin macht das etwas nervös. SCHWÄGERIN   Worum geht es? VĚRA  Ich mach gerade Casting für eine Anwalt-Serie … Habe ich erzählt, dass ich eine Anzeige am Hals habe? Wegen dem Hund? Nein? SCHWÄGERIN   Keine Ahnung. VĚRA  Man behauptet, ich hätte ihn verloren und müsste ihn bezahlen, dabei hat der sich ganz normal verlaufen, das werden wir spielend beweisen. SCHWÄGERIN   Du hattest einen Hund? VĚRA  Nein. Ich bin mit ihm Gassi gegangen. SCHWÄGERIN   Gassi gegangen? VĚRA  Reiche Leute lassen einfach andere Leute mit ihrem Liebling Gassi gehen. Gegen Geld. Du hast zehn Hunde auf zehn Leinen und gehst los. Sie schleifen dich hinter sich her wie einen Schlitten. Das Biest war absolut nicht zu KUTSCHIEREN. Außerdem verstehe ich nicht, warum sie ihn nicht versichert hatten, wenn er so teuer war. SCHWÄGERIN   Věra, ist es dein Ernst? VĚRA  Bitte? SCHWÄGERIN   Du bist längere Zeit in der Psychiatrie gewesen, habe ich gehört. VĚRA  Stimmt. Weil dort ständig die Therapeuten gewechselt haben. Nur während meiner Zeit sind es drei gewesen. SCHWÄGERIN   Du sollst auch jemanden gebissen haben. VĚRA  Das kam vom Hunger. Ich brauche regelmäßig etwas zu essen, sonst werde ich nervös. Aber egal. (Schwägerin holt einen Schokoriegel aus ihrer Handtasche und bietet ihn Vĕra an. Dabei bemerkt Vĕra ihre Geldbörse.) Also habe ich gedacht, dass du mich vertreten könntest, denn ich schätze dich als Rechtsanwältin sehr. Außerdem fände ich schön, wenn es in der Familie bleiben würde. Weil eine FAMILIE SOLL ZUSAMMENHALTEN, oder? Wie geht es eigentlich Bruderherz? SCHWÄGERIN   Aleš weiß nicht, dass ich hier bin. Und ich wäre dir dankbar, wenn es auch unter uns bliebe. VĚRA  Du triffst mich HEIMLICH? SCHWÄGERIN   Du weißt doch, dass Bára von zu Hause ausgezogen ist. VĚRA  Wo ist der Zusammenhang? SCHWÄGERIN   Aleš denkt, hättest du sie damals nicht in deiner Agentur eingestellt, wäre es vielleicht anders gelaufen … Das ist seine Meinung. VĚRA  In ihrem Alter ist es doch NORMAL, von zu Hause auszuziehen. 218


SCHWÄGERIN   Aber solche Fotos machen zu lassen ist so normal auch nicht, oder? VĚRA  Wenn du willst, rede ich mit ihr. SCHWÄGERIN   Das wollen wir GANZ BESTIMMT NICHT, VĚRA. Du sollst auf keinen Fall mit Bára sprechen. Eigentlich wüssten wir es zu schätzen, wenn du unsere Familie möglichst wenig kontaktieren würdest. Am besten gar nicht. VĚRA  Ich habe nachgedacht. Und ich bin der Meinung, dass mir eine zweite Chance zusteht. Ich habe mich falsch verhalten, richtig. Aber damit ist Schluss. Sanftmütig bin ich und werde das Erdreich besitzen! So steht es in der Bibel. (scherzt) Zumindest diese Bar. SCHWÄGERIN   (lacht nicht) Es tut mir leid. VĚRA  Also wirst du mich nicht vertreten. SCHWÄGERIN   Wir brechen den Kontakt ab, VĚRA. Das ist Aleš’ Entscheidung und ich respektiere sie. (Sieht sich um.) Wo sind hier die Toiletten? (Vĕra zeigt in eine Richtung.) Keine angenehme Vorstellung hinzugehen. VĚRA  Sie werden täglich von mir geputzt. Du kannst dort vom Boden essen. Schwägerin geht auf die Toilette. Vĕra klaut ihr Geld aus der Geldbörse, fischt alle Scheine heraus. Legt die Börse zurück in die Tasche und stellt diese zurück auf den Tisch. Schwägerin kommt zurück. SCHWÄGERIN   So. Was bin ich schuldig? VĚRA  (großspurig) Toilettenbenutzung ist bei uns gratis. Schwägerin nimmt ihre Handtasche und will gehen, dann überkommt sie plötzlich Mitleid. SCHWÄGERIN   Brauchst du Geld? (Greift in die Handtasche.) VĚRA  Nein, danke. Ich würde es nie zurückzahlen können. SCHWÄGERIN   Du gibst es mir, wenn du kannst. Schwägerin greift in die Handtasche, Vĕra hält sie zurück. VĚRA  Ich habe meinen Stolz. Ich brauche deine Almosen nicht. SCHWÄGERIN   Věra … Sie ringen um die Geldbörse, Schwägerin ahnt etwas. Reißt sie Vĕra aus der Hand und stellt fest, dass sie wirklich leer ist. VĚRA  (kippt den Tisch um) Na los! Mach schon! Ruf die Polizei! Schnell! Aber vorher schneide ich mir den Hals durch! Mit dem Messer da! Und das wirst du nicht vertuschen können! Aleš wird alles erfahren! Unsere heimlichen Zusammenkünfte! Scheidung wird folgen! Tochter Nutte, Schwägerin Selbstmörderin. Was für eine SCHANDE. Aus der Geldbörse purzelt Kleingeld heraus. Nachdem Schwägerin gegangen ist, klaubt Vĕra die Münzen vom Boden auf. VERDUNKELN. MUSIK. LICHT- UND BÜHNENBILDWECHSEL. 219


22. ASCHESTREUWIESE Vĕra schläft auf der Aschestreuwiese. Sie ist mit einem Mantel zugedeckt. Eine junge Frau im Arbeitsoverall und hohen Arbeitsstiefeln kommt zu ihr. FRAU  Alles in Ordnung bei Ihnen? VĚRA  Ja. Ich muss eingeschlafen sein. FRAU  Sind Sie okay? VĚRA  Sicher. Ich bin … das ist doch der richtige Ort für das hier? (Holt die Urne hervor.) FRAU  Die Aschestreuwiese. Ja. (Sie zeigt mir der Hand um sich.) Direkt hier. VĚRA  Ich sollte hier nicht so liegen, nicht wahr? Entschuldigen Sie. (Rückt zur Seite.) Ich bin mit meinem Vater gekommen. Ich wollte es schon lange machen, hatte aber viel zu tun. Sie bleibt auf dem Boden sitzen. Frau beobachtet sie. FRAU  Sie sind seit drei Tagen hier. VĚRA  Wie die Zeit rast. FRAU  Es ist kalt. Ich habe Ihnen meinen Mantel dagelassen. VĚRA  Danke … Bin gleich weg. Ich habe mir nur ein paar Dinge durch den Kopf gehen lassen wollen. FRAU  Das Tor wird um acht geschlossen. Sie sollten nicht über Nacht bleiben. VĚRA  Werde ich auch nicht. (Gibt Frau den Mantel zurück.) Ich bring’s nur zu Ende … Arbeiten Sie hier? FRAU  Praktikum. VĚRA  Oha. (Sie bekommt eine Idee.) Ich habe mich am Ellbogen geratscht. Haben Sie vielleicht Jod da? FRAU  Im Umkleideraum hängt ein Arzneikasten. Soll ich nachsehen? Frau bleibt stehen. Sieht Vĕra an. VĚRA  Entschuldigen Sie, dass ich es sage, aber Sie sehen intelligent aus. Warum machen Sie ein Praktikum auf einem Friedhof? FRAU  (lacht) Es läuft halt nicht immer alles so, wie man es gerne möchte VĚRA  Sie haben tolle Beine. Sie könnten modeln. Gehen Sie ein paar Schritte. FRAU  Da bin ich mir nicht so sicher. VĚRA  Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Ich finde Sie klasse. FRAU  Danke. VĚRA  Oder im Film spielen. Sie haben ein gutes Gesicht. FRAU  Das hat sich in unserer Familie nicht richtig bewährt. VĚRA  Warum? (Es wird ihr bewusst, dass sie zu viele Fragen stellt.) Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht löchern. 220


FRAU  Mama war Schauspielerin. VĚRA  Aha! Die Mama war Schauspielerin. Kenne ich sie? Wo hat sie gespielt? FRAU  Das ist es eben. Sie hat kaum gespielt. VĚRA  Und wo ist sie jetzt? FRAU  (zeigt auf die Wiese) Hier. (Vĕra schüttelt den Kopf. Es ist nicht klar, ob sie die Zusammenhänge auch wirklich verstanden hat.) Ich hole das Jod. VĚRA  Das wäre total nett. Frau ab. Vĕra nimmt die Urne. VĚRA  Na siehst du, Papa. Du wirst mit einer Schauspielerin zusammen sein. Keine so schlechte Gesellschaft, oder? Die anderen Leute sind bestimmt auch ganz fein. Also ich verstreu dich hier und du bist nicht mehr sauer auf mich und verzeihst mir, ja? Wir sollten den heutigen Tag gemeinsam genießen. Ansonsten ist alles erledigt. Nichts mehr zu ORGANISIEREN. Und ja, deine Gitarre habe ich zurückgekauft, also ist auch das erledigt. Erben wird sie – mein Bruder, natürlich, Bruderherz bekommt sie. Der wird Augen machen! Frau kommt zurück mit der Jodtinktur. FRAU  Zeigen Sie mir die Stelle? VĚRA  Hier. (Krempelt den Ärmel hoch, sie blutet tatsächlich am Ellenbogen.) FRAU  Es ist nicht tief. VĚRA  Ist da Jod drin? FRAU  Steht so drauf. VĚRA  Dann wird es funktionieren. (Idee) Könnten Sie mir ihr Telefon leihen? (Frau reicht Vĕra ihr mobiles Telefon.) Jesus, ist das schön. Vĕra hält es nur am Ohr. Hört zu. Auf ihrem Gesicht taucht ein glückliches Lächeln. Eine Weile bleibt sie so. VĚRA  Vielen Dank. (Reicht Frau das Telefon.) Sie haben mir viel geholfen. Vĕra drückt den Wattebausch mit Jodtinktur auf den Ellbogen. MUSIKAKZENT, MUSIK. LICHTWECHSEL. Bühnenbild ändert sich, im Hintergrund taucht ein OP-Tisch auf mit Ärzten, die sich über einen Menschen beugen. Vĕra sieht ihnen zu. VĚRA  Wen retten die da? FRAU  Sie. Sie haben eine Jodallergie. VĚRA  Stimmt. Vĕra und Frau ab mitten durch die Bühne. Ärzte ab.

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23. KRANKENHAUS. VĚRA WIRD VON BOB BESUCHT Auftritt Bob mit Blumenstrauß in der Hand. BOB  VĚRA! (Auftritt Vĕra im Rollstuhl.) Ich suche eine Agentin von mir. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist? VĚRA  Wie hast du mich gefunden? BOB  Na, so schwer war es auch nicht. Ich dachte, an deinem Bett wird man Schlange stehen. Hab schon überlegt, ob ich mir einen TERMIN HOLEN soll. VĚRA  Alles voll, aber dich quetsch ich noch so rein. BOB  Du siehst – furchtbar aus. Wie geht es dir? VĚRA  So lala. BOB  Aber ansonsten gut, oder? VĚRA  Nicht richtig. BOB  Man erzählt, du hättest Probleme gehabt. VĚRA  Ich war im TUNNEL! BOB  Aha. VĚRA  Aber DU siehst gut aus. Was gibt es Neues? BOB  Ich habe die Agentur verlassen. VĚRA  Mannomann! BOB  Ich habe mich in der Zentrale blamiert, in London. (Vĕra zieht die Augenbrauen hoch.) Tante Beata und Onkel Paul schickten mich hin, weil ich eine so gute Figur gemacht hab in unserem Abklatsch von dieser britischen Serie. Ich habe insgesamt zweiunddreißig Einstellungsgespräche absolviert. Als hätte ich gerade die Theaterakademie verlassen. Zum Schluss wurde ich von Mark empfangen, dem Generaldirektor. Ich habe ziemlich herumgestottert. Du kennst mein Englisch. Habe mich für mein idiotisches Radebrechen entschuldigt. VĚRA   Ist bei mir ähnlich. BOB  Darauf er, sein Jugoslawisch wäre auch nicht das Beste. Also hab ich gelacht und gesagt, gestern auf der Straße hätte ich ein Schild gesehen, auf dem COFFEE TO GO stand, und gedacht, es würde Kaffee Togo heißen, das afrikanische Land, verstehst du. VĚRA   (lacht) Und er? BOB  Gab mir zu verstehen, dass in Bezug auf Witze er den Hut aufhat. Genau wie du gesagt hast. Witze werden in Amerika und England gemacht. Und wir sind dafür da, um über sie zu lachen. Dabei fand ich meinen Witz besser als den seinen. Irgendwie war mir das ganz schön sauer aufgestoßen. … Danach verlief unsere Unterhaltung nicht mehr so herzlich. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Ich muss ihn beleidigt haben. Danach bin ich wohl auf den Tisch gesprungen und steppte los. Wie in der Sendung „Sag es mit Step“. Zum Schluss hat man mich rausgeschmissen. 222


Vĕra lacht (zum ersten Mal nach langer Zeit). VĚRA  Bob, ich liebe dich. BOB  Du hast nie über englische Witze gelacht. Du hast deinen eigenen HUMOR gehabt und DER FEHLT mir! VĚRA  Ich bin am Ende, Bob. BOB  Unsinn. VĚRA  Richtig im Arsch. BOB  Ich sag dir eins: In dieser stinkenden Kloake war dein Zynismus die reine Erfrischung. VĚRA  Ich pflege Demut im Umgang mit meinen Mitmenschen. Versuche positiv zu denken und mich über jede Kleinigkeit zu freuen. Ich kriege das nicht hin. Es ist das Ende. BOB  Ich biete dir einen Job an. VĚRA    Ich kann dich nicht vertreten. Ich habe einen Eintrag im Strafregister. BOB  Du wirst meine Assistentin für Sonderaufgaben. VĚRA  Bob! (Pause, ernster Blickwechsel.) BOB  Ich weiß, dass ich dich angezeigt habe. Aber das war die Idee von meiner Anwältin. Ich habe sie rausgeschmissen. Alle habe ich rausgeschmissen. Ich vertrete mich selbst. Auch die Buchhaltung mache ich selbst. Es ist nicht so schwer. Aber ich musste aufhören zu saufen. Seit einem halben Jahr bin ich trocken. Also sind meine grauen Zellen wieder fit. Und ich musste dir Recht geben. WIR HABEN KEINE ZEIT MEHR, UM ÜBER FREMDE WITZE ZU LACHEN. Willst du für mich arbeiten? VĚRA  Was würde das heißen? BOB  In letzter Zeit mache ich ein bisschen in Koks. Ich brauche jemanden, der sich darum kümmert und dem ich vertrauen kann. VĚRA  In Drogen kenn ich mich nicht aus. BOB  Mit Drogen zu dealen ist nicht schwer. Im Prinzip sorgst du nur für Nachschub. VĚRA  Mir liegen auch andere Angebote vor. BOB  Zum Beispiel? VĚRA  In die Anstalt zurückzukehren. Die Therapie fortzusetzen. Ehrlich gesagt, SO SCHLECHT IST ES DORT NICHT. Ich kann auch in einer kleinen, sympathischen Bar Geschirr spülen, gratis Wohnen inklusive. Also denke ich darüber nach. Lach nicht. Das sind SERIÖSE Angebote. BOB  Du kannst dich auch umbringen, oder? VĚRA  Das habe ich schon versucht. Da bin ich nicht besonders gut. BOB  Das will ich hoffen. VĚRA  War es dein Ernst mit dem Koks? BOB  Total. 223


VĚRA  Ich würde für dich gerne als Detoxberaterin arbeiten … Aber nicht ohne ein klassisches Einstellungsgespräch. BOB  Wie denn sonst? VĚRA  Wenn ich es versemmelt habe, stellst du mich nicht ein. BOB  Natürlich. VĚRA  (strahlt) Ist das nicht herrlich, verschiedene MÖGLICHKEITEN zu haben? Bob, alles liegt noch vor mir. Ich werde noch viele neue Menschen kennenlernen. Ich freue mich auf jeden einzelnen. Weißt du, was ich an diesem Beruf am meisten liebe? Nie wiederholt sich etwas. Alles ist immer anders. BOB  Was für ein Beruf? VĚRA  Hm … gute Frage. Vĕra greift an die Räder ihres Rollstuhls. VĚRA  Lass uns eine rauchen. BOB  Du rauchst? VĚRA  Habe wieder angefangen. Bob schiebt sie. Beide ab. MUSIK. Auf der Leinwand erscheinen Fotos aus Vĕras Leben, aus ihrer Jugend, ihrer Kindheit. Danach DUNKEL.

ENDE

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AUTORINNEN UND AUTOREN


Foto Viktor Kronbauer

VÀCLAV HAVEL

VÁCLAV HAVEL (1936–2011) wuchs in einer bekannten Prager Familie von Intellektuellen und Unternehmern auf, die eng verbunden war mit dem tschechischen politischen und kulturellen Geschehen der zwanziger bis vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Jahr 1948 ergriffen die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei und Havel durfte als Kind einer „bourgeoisen“ Familie nach dem Pflichtschulabschluss nicht weiter studieren. Nach der Rückkehr vom zweijährigen Wehrdienst arbeitete er als Bühnentechniker, zuerst im ABC-Theater und ab dem Jahr 1960 im Divadlo Na zábradlí (Theater am Geländer). In den Jahren 1962 bis 1966 absolvierte er ein Fernstudium der Dramaturgie an der Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste und beendete sein Studium mit einem Kommentar zum Stück Eduard, der später zur Grundlage des ­Stückes Ztížená možnost soustředění (Erschwerte Möglichkeit der Konzentration) wurde. Seit seinen Zwanzigern publizierte Havel Artikel und Studien in verschiedenen literarischen und theaterbezogenen Zeitschriften. Im Theater am Geländer wurden seine ersten Theatertexte aufgeführt, unter denen Zahradní slavnost (Das Gartenfest, 1963) einen elementaren Platz einnahm. Diese Inszenierung wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Erneuerungstendenzen der Gesellschaft der sechziger Jahre. Das dritte große Stück von Havel aus den sechziger Jahren war Vyrozumění (Die Benachrichtigung, 1965), das den Machtkampf in einem Amt schildert, wo auf Beschluss des übergeordneten Organs die Kunstsprache ptydepe eingeführt wird. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings infolge der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts trat Havel gegen die politische Unterdrückung auf, die bezeichnend 226


für die Jahre der kommunistischen Normalisierung war. Der Höhepunkt seines Wirkens war die Veröffentlichung der Charta 77 im Januar 1977, die der Bewegung des protes­ tierenden Teils der tschechoslowakischen Bevölkerung sowohl ihren Namen als auch ihre Charakteristik gab. Václav Havel war einer der Begründer dieser Initiative und einer ihrer ersten drei Sprecher. Im April 1979 wurde er Mitbegründer des Komitees für die Verteidigung zu unrecht Verfolgter. Für seinen zivilen Widerstand wurde er insgesamt dreimal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und verbrachte fünf Jahre im Gefängnis. Während der gesamten Ära der Normalisierung waren seine Stücke an den offiziellen Bühnen verboten, die geheime Premiere seiner Žebrácká opera (Bettleroper) im Jahr 1975 führte zu einer Verfolgung der Beteiligten. Viele seiner berühmten Theaterstücke, wie Audience (Audienz, 1975), Vernisáž, (Vernissage, 1975), Largo Desolato, 1984, Pokoušení (Versuchung, 1985), oder Asanace (Sanierung, 1987), sah er oftmals erst nach Jahren uraufgeführt – in der Tschechoslowakei wurden sie im samizdat-­Eigenverlag als Audioaufnahmen verbreitet (auch mit schauspielerischer Beteiligung des Autors). In Buchform publiziert und offiziell aufgeführt wurden sie nur im Ausland. Sein Stück Das Schwein entstand 1987 und wurde erst im Jahre 2010 in Brünn uraufgeführt. Von Anfang an war Havel eine der führenden Persönlichkeiten des Samtenen Revolution des Jahres 1989. Am 29. Dezember 1989 wurde er als Kandidat des Bürgerforums zum tschechoslowakischen Präsidenten gewählt. Nach dem Zerfall des Tschechoslowakei 1993 wurde er Präsident der eigenständigen Tschechischen Republik, der er zwei Amtsperioden lang bis Februar 2003 blieb. Als Mitgründer der Stiftung Václav und Dagmar Havel VIZE 97 unterstützte er eine Reihe von humanitären Gesundheits- und Bildungsprojekten. Im Jahr 2007 wurde sein Stück Odcházení (Abgang) uraufgeführt, das erste und einzige, das er nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt schrieb. Havel selbst bereitete anschließend die filmische Adaptation vor, die 2011 Premiere hatte. Im Dezember desselben Jahres starb Havel im Alter von 75 Jahren in seinem Wochenendhaus im ostböhmischen Hrádeček.

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ANNA SAAVEDRA, geboren 1984, ist Dramatikerin und Dramaturgin. Sie studierte Theaterdramaturgie an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brno. Von 2011 bis 2015 wirkte sie als Dramaturgin des Brünner Theaters HaDivadlo. Sie ist die Autorin der Stücke Dům u sedmi švábů (Das Haus bei den sieben Schwaben, 2010), Česká měna (Tschechische Währung, 2011), Tajná zpráva z planety matek (Mamma ­Guerilla) (Geheimbericht vom Planet der Mütter, 2012), Kuřačky a spasitelky (Raucher­ innen und Erlöserinnen, 2011), Olga (Horrory z Hrádečku) (Olga – Horror im Hause Havel, 2016). Als Drehbuchautorin nahm sie an Projekten sozial ausgerichteter Theater teil. Ihre Stücke und Dramatisierungen wurden am Mährisch-Schlesischen Nationaltheater, Theater HaDivadlo, Theater Letí, Theater Feste, Slowakischen Nationaltheater, Schlesi­ schen Theater Opava und anderen Bühnen aufgeführt. Als Autorin arbeitet sie auch mit dem Tschechischen Rundfunk zusammen. Für das Stück Kuřačky a spasitelky erhielt sie 2011 den ersten Preis des Evald-Schorm-Wettbewerbs, das Stück Dům u sedmi švábů erzielte beim gleichen Wettbewerb 2010 den dritten Platz. 2013 wurde ihre Erzählung Ley lines vom Internationalen Literaturwettbewerb Narraton V4 tournée ausgezeichnet. Die Inszenierung Tajná zpráva z planety matek wurde 2014 beim Berliner Festival Ein Stück: Tschechien aufgeführt und im gleichen Jahr als szenische Lesung an der Portland State University (USA) präsentiert. 2017 erhielt sie für Olga den Preis der Theaterkritik in der Kategorie „Beste Tschechische Uraufführung“ 2016. Anna Saavedras Stücke wurden ins Englische und Deutsche übersetzt.

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Foto Viktor Kronbauer

MILAN UHDE, geboren 1936, ist Dramatiker und Schriftsteller. Seit den sechziger Jahren wirkte er als Redakteur des bedeutenden Brünner Monatshefts für Literatur, Kunst und Kritik Host do domu und gleichzeitig als Pädagoge an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brno. Anfang der siebziger Jahre wurde er nach öffentlicher Kritik am Nachfolgeregime von 1968 auf die Liste der verbotenen Autoren gesetzt und sein Werk durfte bis 1989 nicht veröffentlicht werden. Seine Bücher erschienen als ­samisdat (Selbstverlag osteuropäischer Dissidenten) oder im Ausland. Uhde unterschrieb als einer der Ersten die Charta 77 und gehörte zu den aktiven Vertretern der tschechischen und slowakischen Dissidenten (Redakteur der samisdat-Publikation Lidové Noviny, Herausgeber der revue Most usw.) In den neunziger Jahren begann er, sich der Politik zu widmen – er wurde Kulturminister, Abgeordneter und Präsident der Abgeordnetenkammer des tschechischen Parlaments. 1998 beendete er seine politi­ sche Tätigkeit und widmet sich seitdem ausschließlich der Literatur und dem Theater. Uhde debütierte als Lyriker, widmete sich aber früh der Prosa-, Theater- und Rundfunkarbeit. Die erste Periode seines dramatischen Schaffens charakterisieren die politische Satire und von der absurden Dramatik beeinflusste Stücke (Výběrčí –Gasmann oder Der Kassierer, 1968, Svědkové – Die Zeugen, 1965, Ten, který přichází – Der, der kommt, 1967). Bedeutende Resonanz fanden auch seine Stücke, die aktualisierte Paraphrasen älterer Vorlagen waren – Král-Vávra (König Vávra,1965), basierend auf Motiven des Gedichts von K. H. Borovsky, oder das theatrale Apokryph der antiken Antigone, Děvka z města Théby (Die Hure von Theben, 1967). In den siebziger und achtziger Jahren 229


entstanden vor allem Dramatisierungen, die unter einem Pseudonym auf die Theaterbühnen gelangten – vor allem Balada pro banditu (Ballade für einen Banditen), die das Theater Divadlo na provázku in Brno 1978 als Schauspiel mit Gesang (und der Musik des Komponisten Miloš Štědron) aufführte. Uhde setzte auch in dieser Zeit seine Auseinandersetzung mit der Absurdität der Alltagsrealität der totalitären Tschechoslowakei und anderen politischen Themen fort – wie im Rundfunkmonolog Modrý anděl (Ein blauer Engel, 1979), der die Dissidentenverfolgung dokumentiert, oder in der Lebenslaufparodie Karl Marx‘, Zvěstování aneb Bedřichu jsi anděl (Die Verkündigung oder Friedrich, du bist ein Engel, 1986). In den letzen Jahren hat sein Stück Zázrak v černém domě (Wunder im schwarzen Haus, 2002) große Anerkennung seitens der Kritik erlangt. Als Autor von Musicallibretti arbeitet er gemeinsam mit Miloš Štědron seit vielen Jahren mit dem Städtischen Theater Brno zusammen, einer bedeutenden Musikbühne (z. B. Divá Bára – Die wilde Bára, 2012). Milan Uhdes Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt.

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Foto privat

PETR KOLEČKO, geboren 1984, ist Dramatiker und Drehbuchautor. Er ist Absolvent des Studiengangs Filmdramaturgie und Regie an der Theaterfakultät der Prager Akademie für darstellende Künste. Von 2010 bis 2011 wirkte er als Dramaturg am Stadttheater Kladno, zwischen 2011 und 2015 als künstlerischer Leiter und Chefdramaturg des Prager Theaters A studio Rubín. In Zusammenarbeit mit führenden Regisseuren wie Daniel Špinar, Jan Frič und Tomáš Svoboda führte er eine Reihe seiner Stücke auf, unter anderem Kauza Salome (Die Causa Salome, 2009), Kauza Médeia (Die Causa Medea, 2010) und Poslední papež (Der letzte Papst, 2013). Er machte bereits als Student der Prager Theaterakademie auf sich aufmerksam, so erhielt er für den Text Láska, vole (Liebe, Alter, 2007, DISK) den ersten Preis des Evald-Schorm-Wettbewerbs für Dramatik 2007. Gemeinsam mit Tomáš Svoboda schrieb er das Hockey-„Singspiel“ Jaromír Jágr, Kladeňák (Jaromír Jágr, Ein Mann aus Kladno, 2009) und vor allem das erfolgreiche und von der Kritik gefeierte alternative Musical Pornohvězdy (Pornostars, Roxy/NoD, 2010). Weiter führten u. a. das KlicperaTheater in Hradec Králové, die Neue Szene des Prager Nationaltheaters, das Petr BezručTheater in Ostrava und das Astorka Korzo-Theater in Bratislava Kolečkos Stücke auf. Petr Kolečko arbeitet als Drehbuchautor mit dem Tschechischen Rundfunk und tschechischen TV-Sendern zusammen, für die er z. B. die erfolgreichen Serien Čtvrtá hvězda (Der vierte Stern, Česká televize, 2014) oder Okresní přebor (Der Bezirkswettbewerb, TV Nova, 2010) schrieb. Pokerface entstand 2012 und hatte im selben Jahr Premiere im Theater GUnaGU in Bratislava. Die Theaterstücke von Petr Kolečko wurden ins Englische, Deutsche, Polnische, Rumänische, Slowakische, Slowenische und Spanische übersetzt. 231


Foto Viktor Kronbauer

PETR ZELENKA, geboren 1967, ist Film- und Theaterregisseur, Dramatiker und Drehbuchautor. Er studierte Filmdramaturgie und Drehbuch an der Film- und TV-Fakultät der Prager Akademie für darstellende Künste. 1997 bekam er für den Episodenfilm Knoflíkáři (Die Knöpfler) den Böhmischen Löwen für das beste Drehbuch, die beste Regie und den besten Film des Jahres. Für die Filme Rok ďábla (Das Jahr des Teufels, 2003) und Příběhy obyčejného šílenství (Geschichten des alltäglichen Wahnsinns, 2005) erhielt er den Hauptpreis der internationalen Festivals in Moskau und Karlsbad. 2008 hatte sein Film Karamazovi (Die Karamazows) Premiere, den die tschechische Film­akademie ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film schickte. 2015 stieß seine Filmkomödie Ztraceni v Mnichově (Verloren in München), die in der Form eines Films im Film die Ereignisse rund um das Münchner Abkommen thematisiert, auf großen Anklang bei Publikum und Kritik. Als Dramatiker und Theaterregisseur debütierte Zelenka mit dem Stück Příběhy obyčejného šílenství (Schrottengel – Geschichten des alltäglichen Wahnsinns, 2001). Das Stück erhielt den prestigeträchtigen Preis der Alfréd-Radok-Stiftung für das beste Stück des Jahres, wurde 2005 von Zelenka verfilmt und gilt als moderner Klassiker unter den tschechischen Dramen. Příběhy obyčejného šílenství wurde in viele Sprachen übersetzt und u. a. in Belgien, Frankreich, Polen, Ungarn, Argentinien und Uruguay inszeniert. Zu seinen weiteren erfolgreichen Stücken zählen Teremin (Theremin, 2006), Očištění (Die Entsorgung, 2007), geschrieben für das alte Nationaltheater in 232


Krakau, Ohrožené druhy (Bedrohte Arten, 2011), uraufgeführt an der Neuen Szene des Prager Nationalthaters oder Elegance molekuly (Die Eleganz der Moleküle, 2018). Věra (ursprünglich Job Interviews) ist im Jahre 2014 entstanden und wurde im selben Jahr im Südböhmischen Theater in České Budějovice uraufgeführt. Als Regisseur arbeitet Petr Zelenka mit tschechischen und internationalen Theatern zusammen. Seine Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt.

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Rechtenachweis Václav Havel Das Schwein oder Václav Havel’s Hunt for a Pig Originaltitel: Prase aneb Václav Havels's Hunt for a Pig Aus dem Tschechischen von Joachim Bruss Aufführungsrechte: Dilia Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung bei Theater der Zeit GmbH Anna Saavedra OLGA – Horror im Hause Havel Originaltitel: Olga aneb Horrory z Hrádečku Aufführungsrechte: Dilia Aus dem Tschechischen von Barbora Schnelle unter Mitarbeit von Lydia Nagel Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung bei Theater der Zeit GmbH Milan Uhde Wunder im schwarzen Haus Originaltitel: Zázrak v černém domĕ Aufführungsrechte: Aura-Pont s.r.o., Prag Aus dem Tschechischen von Eva Profousová Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung bei Theater der Zeit GmbH Petr Kolečko Pokerface Originaltitel: Poker Face Aus dem Tschechischen von Rhea Krčmářová Aufführungsrechte: Aura-Pont s.r.o., Prag Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung bei Theater der Zeit GmbH Petr Zelenka Vĕra Originaltitel: Job Interviews Aus dem Tschechischen von Eva Profousová Aufführungsrechte: Aura-Pont s.r.o., Prag Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung bei Theater der Zeit GmbH

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DIALOG – Zeitgenössische Dramatik aus aller Welt DIALOG 26

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Personen Neue Theaterstücke aus Polen

Mittendrin Neue Theaterstücke aus China

Eisbilder Neue Theaterstücke aus Finnland

Falk Richter SMALL TOWN BOY und andere Stücke

Machtspiele Neue Theaterstücke aus Rumänien

Michael Peschke Von Hauptbahnhof bis Kalaschnikow

Lutz Hübner und Sarah Nemitz Theaterstücke

Zwischen Orient und Okzident Theaterstücke aus Georgien

Christian Martin Vogtländische Trilogie und andere Stücke

Fritz Kater 5 morgen 5 stücke

www.theaterderzeit.de

Falk Richter ICH BIN EUROPA


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Volker Ludwig Linie 1 und Linie 2 – Der Alptraum

Plattform II+III Gegenwartstheater

Fritz Kater Ejakulat aus Stacheldraht

Stadt der Zukunft Kurzdramen

Neue Theaterstücke aus Katalonien

Dimitris Dimitriadis „Lethe“ und andere Texte

König Jònsan Drei Theaterstücke aus Korea

Lutz Hübner Frau Müller muss weg und andere Stücke

Voices from Undergroundzero Neue Theaterstücke aus New York City

Lutz Hübner Vier Theaterstücke

Roter Reis Vier Theatertexte aus der Schweiz

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

Young Europe Europäische Dramatik für junges Publikum



Václav Havels kürzlich wiederentdecktes Stück „Das Schwein“ ist die skurrile Geschichte seines Versuchs, ein Schwein für ein Festmahl zu bekommen – die Parabel einer Welt, in der Anstand und Höflichkeit vergeblich gegen Engstirnigkeit und Egoismus ankämpfen. „Olga“ von Anna Saavedra ist das berührende Porträt der Dissidentin und späteren First Lady Olga Havlová, der wichtigsten Vertrauten von Václav Havel, einer Frau von außergewöhnlicher innerer Stärke, Mut und Unabhängigkeit. In „Wunder im schwarzen Haus“ blickt Milan Uhde mit einem düsterkomischen Blick auf eine zerstrittene Familie, ihre Illusionen und Missverständnisse, und führt uns zu den historischen Wurzeln all ihrer Probleme zurück. „Pokerface“ von Petr Koleč ko ist eine Tragikomödie über die „Samtene Revolution“, über verlorene Illusionen, Politik und das Spiel um Geld, nicht nur beim Pokern. Petr Zelenkas „Vĕra“ ist die alternde Besitzerin einer Casting-Agentur, die erst ihre Familie und dann noch ihren Job verliert.


Václav Havel DAS SCHWEIN ODER VÁCLAV HAVEL’S HUNT FOR A PIG Anna Saavedra OLGA – HORROR IM HAUSE HAVEL Milan Uhde WUNDER IM SCHWARZEN HAUS Petr Kolečko POKERFACE Petr Zelenka VĔRA

ISBN 978-3-95749-153-4

www.theaterderzeit.de


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