Georg Lukács. Texte zum Theater

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Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke sowie mit einem Beitrag von Bernd Stegemann und einer Einleitung von Dietmar Dath.

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Georg Lukács hat das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer geprägt. Zeitlebens interessierte sich der ungarische Philosoph für die Kunst des Theaters. Der Reader versammelt eine Auswahl seiner Schriften – aus den Bereichen Ästhetik, Realismus und Theatergeschichte.

GEORG LUKÁCS TEXTE ZUM THEATER

Georg Lukács (1885 –1971) war ein ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler und – neben Ernst Bloch, Max Horkheimer, Antonio Gramsci und Karl Korsch – einer der bedeutendsten Erneuerer der marxistischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu seinen wichtigsten frühen Veröffentlichungen zählen »Die Seele und die Formen«, »Die Theorie des Romans« sowie »Geschichte und Klassen­bewusstsein«. Es folgten Schriften über die russischen und französischen Realisten des 19. Jahrhunderts, über Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann sowie die Herausgabe seiner vierbändigen »Ästhetik«. Lukács engagierte sich für die ungarische Räterepublik 1919. Er beteiligte sich auch am Budapester Aufstand 1956 und war Kultusminister der Regierung Imre Nagy. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er in Budapest, aus seinem Kreis gingen u. a. Ágnes Heller und György Márkus hervor.

GEORG LUKÁCS TEXTE ZUM THEATER

ISBN 978-3-95749-362-0

9 783957 493620 >

»Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbeschäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoretisches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee.« Dietmar Dath


»Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbeschäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoretisches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee.« Dietmar Dath


Georg Lukács Texte zum Theater



Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke In Zusammenarbeit mit dem Literaturforum im Brecht-Haus

GEORG LUKÁCS TEXTE ZUM THEATER


Inhalt

Jakob Hayner und Erik Zielke Georg Lukács und das Theater

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Dietmar Dath Das Spiel der rechten und der linken Hand

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ÄSTHETIK Jakob Hayner Die Rätsel der Welt im Brennglas des Ästhetischen Georg Lukács Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik Das Problem der Öffentlichkeit Auf dem Weg zur realistischen Kunst

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KRITISCHER REALISMUS Bernd Stegemann Es geht noch immer um den Realismus Georg Lukács Es geht um den Realismus Kunst und objektive Wahrheit

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THEATERGESCHICHTE Erik Zielke Georg Lukács als Theaterhistoriker Georg Lukács Faust-Studien Die Tragödie Heinrich von Kleists Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner Gerhart Hauptmann Beileidsschreiben an Helene Weigel zum Tod Bertolt Brechts Gedenkrede gehalten bei der Trauerfeier für Bertolt Brecht am 18. August 1956 In memoriam Hanns Eisler

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203 225 257 281 293 295 297

ANHANG Editorische Notiz Textnachweise

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Georg Lukács und das Theater

»Das Traurige an der jetzigen Lage ist, dass wir, anstatt an dem außerordent­ lichen Palast des Denkens, den Lukács errichtet hat, weiterzubauen, immerfort noch damit beschäftigt und gezwungen sind, diese elende Pepsicola-Reklame aus dem Weg zu räumen. Wie Lukács müssen wir Zeit verschwenden, die Décadence zu widerlegen, anstatt den Realismus, was unsere ausschließliche Peter Hacks Aufgabe sein sollte, besser zu begründen.« Georg Lukács (1885 –1971) hat das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer geprägt. Sein frühes Werk »Die Theorie des Romans« gilt noch heute als Klassiker einer geschichtsphilosophischen Ästhetik und beein­ flusste eine gesamte Generation, mit »Geschichte und Klassenbewusstsein« verfasste er ein Schlüsselwerk des westlichen Marxismus. Zeitlebens inter­ essierte sich Lukács für das Theater als Kunstform – von seinen Anfängen als Theaterkritiker über Schriften wie »Zur Soziologie des modernen Dramas« bis zu den geistreichen Studien über einzelne Theaterautoren. Verweise auf das Theater finden sich in all seinen ästhetischen Schriften, wie auch die Auseinan­ dersetzung mit einem Theaterneuerer wie Bertolt Brecht beispielsweise in den Debatten um den Realismus in den 1930er Jahren von kaum zu unterschätzen­ der Bedeutung war. Doch spielt Lukács heute für das Theater kaum mehr eine Rolle – wie auch seine späte systematische Ästhetik kaum eine Würdigung erfahren hat. Dem vorliegenden Band liegt die Überzeugung zugrunde, dass es sich lohnt, Lukács und sein Programm eines dialektischen Materialismus für das ästhetische Denken und das Theater wiederzuentdecken. Georg Lukács’ Texte zum Theater sammeln zu wollen ist ein fast maßloses Anliegen. Wo anfangen – und wo ein Ende finden? Der vorliegende Reader unterscheidet zwischen Texten zur Ästhetik, zum Realismus und zur Theater­ geschichte. Doch schon bei der Lektüre der hier getroffenen Auswahl dürfte auffallen, dass diese Aspekte im Werk von Lukács eng zusammenhängen, aber jeweils andere Schwerpunkte gesetzt werden. Wie bei jedem anthologischen Arbeiten standen wir auch für die Erstellung des vorliegenden Buchs vor der Herausforderung, nicht nur eine Auswahl zu treffen, sondern auch – auf hof­ fentlich kluge Weise – Auslassungen vorzunehmen. Die gesammelten Texte

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stammen aus den 1930er bis 1960er Jahren, klammern also das Frühwerk aus. Auch Wesentliches musste der Beschränkung zum Opfer fallen. Anderes, das Aufnahme gefunden hat, ist nicht (nur) für das Theater und seine Anhänger geschrieben worden, sondern reicht darüber hinaus und betrifft weitere oder sämtliche Künste. Die hier abgedruckten Schriften sind eine Auswahl derjenigen Texte, von deren Gültigkeit für eine reflektierte Theaterkunst wir überzeugt sind. Die Rezeption von Lukács’ Werken ist von Brüchen und Rückschlägen gekennzeichnet. Seine intellektuelle Eigenständigkeit innerhalb der kommunis­ tischen Bewegung war für Dogmatiker im Osten teils schwer erträglich, im Westen erfreute er sich sowieso nur einer kurzen Beliebtheit. Sowohl antisemi­ tisches Ressentiment und antikommunistische Engstirnigkeit als auch bürger­ liches Vorurteil und stures Beharren auf einem maßgeschneiderten »sozialisti­ schen Realismus« machten es dem Philosophen schwer. Im heutigen Ungarn wird Lukács’ aufklärerisches Denken in der Tradition des jüdisch-europäischen Humanismus verdrängt und bekämpft. Eine Statue des Philosophen in Budapest wurde abgebaut, das Archiv mit seiner Nachlassbibliothek und den Manuskrip­ ten wurde für die Öffentlichkeit verschlossen und das Personal entlassen. Aber auch hierzulande kommt Lukács akademisch kaum noch vor, seine Schriften sind darüber hinaus kaum bekannt und teils schwer zugänglich. Anlässlich des 50. Todestags von Georg Lukács soll es also nicht nur um das Gedenken gehen, sondern auch um eine Wiederaneignung seines Denkens. Eine lebendige Aus­ einandersetzung geht in die Diskussion, sucht nach Anschlüssen und unabge­ goltener Aktualität. Wir danken dem Hauptstadtkulturfonds für die großzügige Förderung des Gesamtprojekts »Re-reading Lukács – staging theory. Georg Lukács und das Theater«. Gedankt sei außerdem dem Literaturforum im Brecht-Haus und dem Verlag Theater der Zeit für die Zusammenarbeit, dem Aisthesis Verlag und der Erbengemeinschaft von Georg Lukács für die Abdruckgenehmigung und die Unterstützung, Dietmar Dath und Bernd Stegemann für Ihre Beiträge und Anre­ gungen, allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Werkstatttage im Literatur­ forum im Brecht-Haus zum Thema »Georg Lukács und das Theater« im Juni 2021 für ihre Bereitschaft, sich mit den Schriften des ungarischen Philosophen aus­ einanderzusetzen und noch immer relevante Fragen an Kunst und Gesellschaft wieder in die Öffentlichkeit zu tragen. Und mit Thomas Brasch gesprochen: Wir danken den Verhältnissen für ihre Widersprüche.

Jakob Hayner und Erik Zielke Berlin, Mai 2021

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Dietmar Dath Das Spiel der rechten und der linken Hand Von ästhetischer Arbeit bei Georg Lukács

I. Ein unmöglicher Job Es gibt im Kapitalismus keine Gesellschaftswissenschaften. Es kann da auch keine geben, ob sie nun von Wirtschaft oder Kunst handeln sollen. Wirtschafts­ kunde ist eine Gesellschaftswissenschaft; sie redet davon, wie Gesellschaf­ ten das Nötige und Unnötige des Lebens erzeugen, wie sie es verteilen, wie sie sich reproduzieren. Ästhetik ist eine Gesellschaftswissenschaft; sie redet davon, wie Gesellschaften das Erbauliche und das Unterhaltsame der Kultur erzeugen, verteilen und reproduzieren. Das Fehlen einer Wirtschaftskunde ist für eine Gesellschaft schlimmer als das Fehlen einer Ästhetik: Leute, die nicht wissen, wie und wovon sie leben, sind noch dümmer und also für sich wie andere gefährlicher als Leute, die bloß nicht wissen, was ihnen so alles Hübsches oder Grausiges einfällt und was sie, wenn andere es ihnen zeigen, innerlich bewegt oder anderweitig anregt. Für den Imperialismus gilt, was ich über den Kapitalismus gerade gesagt habe, in bis zum Blödsinn gesteigertem Maß. Dass Kapitalismus und Impe­ rialismus keine Gesellschaftswissenschaften zulassen, heißt nicht, dass nie­ mand Kapitalismus und Imperialismus erforschen kann. Den letzteren, der jetzt herrscht, haben zum Beispiel Rosa Luxemburg (»Die Akkumulation des Kapi­ tals«, 1913), Wladimir Iljitsch Lenin (»Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, 1917) und Eugen Varga (»Die Krise der kapitalistischen Welt­ wirtschaft«, 1921) schon vor hundert Jahren in seinen Grundzügen beschrieben und erklärt. Irre ich mich also? Sind denn diese Bücher nicht im Kapitalismus und in seiner verschärften und verhärteten Mutante, dem Imperialismus, geschrie­ ben worden? Doch, aber dass und wie sie Ausnahmen von der Regel bilden, dass es in diesen Systemen keine Gesellschaftswissenschaften geben kann, versteht nur, wer den Grund der Regel selbst versteht. Der Grund, warum es im Imperialismus und im Kapitalismus keine Gesell­ schaftswissenschaften geben kann, ist logisch schlicht derselbe wie der Grund, warum es in den bestbewaffneten und brutalsten Gegenden von Mexico City,

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Chicago, Detroit oder Palermo kein von der ortsansässigen Bevölkerung betrie­ benes Institut für Bandenwissenschaften geben kann, jedenfalls keins, dessen Ergebnisse besonders wissenschaftlich sind, nämlich keine Rücksicht nehmen auf die Empfindlichkeiten der Banden. Man erforscht besser keine Leute, die das nicht wollen und ihrem Unwillen mit Gewalt Nachdruck verschaffen können. Im Kapitalismus, der historisch notwendig, in vielem fortschrittlich und sofort böse war, als er auf die Welt kam, herrschen sehr viele Banden. Im Imperialismus wiederum, der ebenfalls historisch notwendig, in leider nur noch sehr wenigen Aspekten fortschrittlich und von Geburt an verrückt war, herrschen deutlich weniger Banden, aber dafür erheblich hässlichere. Moment. Zurück. Anders. Man könnte ohne Verletzung der Logik natürlich doch ein wissenschaftlich seriöses Institut für Bandenwissenschaften in den bestbewaffneten und brutalsten Gegenden von Mexico City, Chicago, Detroit oder Palermo einrichten. Dafür bräuchte man dann allerdings einen ungeheuren, wahrscheinlich geradezu militärisch organisierten, womöglich mit Kriegswaffen gerüsteten Polizeischutz. Genau so kann man auch Gesellschaftswissenschaften im Kapitalismus und im Imperialismus treiben. Den Polizeischutz dafür gewährt, wenn das klappt, teils symbolisch (gegen Publikationsblockaden, Rufmord, Debattenverweigerung und Totschweigen), in ernsten Zeiten aber auch ganz handgreiflich, am besten eine kommunistische Partei oder, noch besser, eine kommunistische Internationale. Unterm Schirm solchen Schutzes also haben Rosa Luxemburg, Wladimir Iljitsch Lenin und Eugen Varga zutreffende Wirtschaftskunde und Imperialismusanalyse getrieben. Und unterm Schirm solchen Schutzes hat ab 1919 Georg Lukács Ästhetik getrieben (sowie manch anderes, das oft an Gesellschaftswissenschaft grenzte, zum Beispiel Philosophie). Es war seinerzeit nicht leicht und nicht lustig, sich von der KP schützen zu lassen. Leute, die sich in diesen Schutz begaben, mussten oft ihrerseits die Partei schützen, nicht selten mit schlechtem Dank dafür. Die Parteien begingen Fehler und Ärgeres; die Menschen, die auf sie angewiesen waren, mussten zwi­ schen Legalität, Illegalität, Revolution und Konterrevolution, in Krieg und Faschis­ mus überleben. Ein Vierteljahrhundert Irrsinn: Lukács gehörte der ungarischen KP an, erlebte Revolution und Konterrevolution, war in der Emigration Mitglied der österreichischen, dann der deutschen, sogar der sowjetischen KP, der KPD gehörte er bis 1945 an, dann gab’s wieder eine ungarische Partei für ihn. Dass diese transferreichen Loyalitäten seinem Denken und Wirken Resonanz und Schutz boten, ist zwar wahr, aber geruckelt hat’s, wie man an den Sprüngen in der Zugehörigkeit sieht, in diesem Schutz schon ziemlich.

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Einleitung

Denken und Wirken? Vor seiner kommunistischen Zeit und in deren Anfangszeit war Lukács ein eher impressionistischer Denker, begeistert von der zerfledderten Sorte Kulturkritik, die Alfred Kerr, eine Art in Aphorismen und Scherzen und halbfertigen Ideen plappernder Twitter-Pionier ante datum, in deutschen Zeitungen pflegte. Um ernsthafteres Grübeln bemühte sich Lukács in diesen Lehrjahren freilich auch, das lernte er dann bei Leuten wie Georg Simmel und Max Weber. Schließlich kam die Revolution nach Ungarn und Lukács lief mitten hinein. Der Oktoberumsturz in Russland war erst zwei Jahre her, seine bolschewistische Führung lernte das Schwimmen im unruhigen Wasser und diejenigen ihrer Kader, die sich in Ungarn oder weiter westlich blicken ließen, um der sozialistischen Weltrevolution auf die Beine zu helfen, mit der sie, weil sie Marx gelesen hatten, stündlich rechneten, hatten von den anstehenden Aufgaben meist ebenso wenig Ahnung wie diejenigen, die sich von ihnen Unter­ weisung versprachen. Man lernte daher voneinander und gegeneinander, im harten Gegenwind der Umstände, zu vieles war fast Zufall: Lukács etwa wurde, wie er selbst viel später vermutete, wohl nur deshalb Volkskommissar für Unter­ richtswesen in der Regierung des Kommunisten Béla Kun, weil er als Autor und Kritiker unter den Intellektuellen halbwegs bekannt war, die man für bestimmte Bereiche des einzurichtenden neuen Lebens brauchte. Die amtliche Entscheidung für den Mann mit dem bekannten Namen war demnach nicht aus theoretischen, sondern grob öffentlichkeitsorientierten, also politisch-praktischen Gründen gefallen. Kommunisten dachten damals oft unbe­ holfen, aber immer praktisch. Lenin hatte ihnen das mit und seit seiner Schrift »Was tun?« (1902) auf eine Art eingebimst, die sogar Intellektuelle verstehen konnten. Praktisches Denken bedeutet Anerkennung der Tatsache, dass Gedanken sich an und in der Welt bewähren müssen, wenn sie über den Reiz des Augen­ blickseinfalls hinaus Bestand und Geltung haben wollen. Lukács erinnert sich noch als Greis an die Bedeutung, die dieses Kriterium nicht erst in seinen poli­ tischen Bewährungsproben, sondern schon in seiner vor- und frühkritischen Zeit, ja sogar bei Ausflügen ins Schöngeistige, etwa in die Theaterwelt für ihn gehabt hat – bis ins hohe Alter lobte er etwa einen Schauspieler namens Pethes, der damals großen Eindruck auf ihn machte, habe jener doch »ein untrügliches Urteilsvermögen« fürs praktisch Szenische besessen: »Wenn er sagte, die rechte Hand müsse emporgehoben und die linke Hand dürfe nicht herabgesenkt werden, dann hatte er ganz sicher hundertprozentig recht.«1 Lukács sagt, ihm 1

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Zitiert nach Georg Lukács: Gelebtes Denken, Bielefeld 2021, S. 17.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

sei im Vergleich mit Pethes damals aufgefallen, dass ihm selbst das Sensorium für derlei abging, und er begriff, was das für seine frühe unerwiderte Liebe zur Bühne, deren Kunstkontext er sich gerade als Theatervereinsmann genähert hatte, leider bedeuten musste: »Außer der Organisation habe ich keine Tätigkeit ausgeübt. In dieser kurzen Laufbahn erlebte ich auch zwei Enttäuschungen. Zum einen wurde mir klar, dass ich kein Schriftsteller sei, und zum anderen wurde mir klar, dass ich kein Regisseur sei. Mir wurde bewusst, dass ich zwar den Zusammenhang von Idee und dramatischer Handlung sehr gut erfassen konnte, dass ich aber keinerlei Begabung in der Erkenntnis dessen besaß, dass es in gewisser Hinsicht von entscheidender Bedeutung sei, ob ein Schauspieler die rechte oder die linke Hand emporzuheben hatte.«2

II. Ein unbesiegbarer Dreizack Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbe­ schäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoreti­ sches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee. Ein Text ohne Textidee zum Beispiel, ohne etwas, das über Stoff wie Form hinausreicht und beide ineinander blendet, mag eine Reportage sein oder ein Essay, aber ein Kunstwerk kann er nicht werden. Wenn man nun das kunstgebotene Ineinander von Theorie (als kunster­ klärende Lehre: Gesellschaftstheorie eben, weil Kunst gesellschaftlich erzeugt und erlebt wird) und Praxis (Formbewusstsein, Zweck-Mittel-Reaktionen usw.) nicht präzise genug abwägt, kommt Schwachsinn heraus – wie etwa bei der stumpferen deutschsprachigen Germanistik nach 1945, teils sogar in der DDR, besonders aber nach 1968 im Westen, wenn diese Germanistik etwa bei der Befassung mit Goethe immer nur herausfand, jener sei »ein Fürstenknecht« gewesen. Schlechte Gesellschaftstheorie, schlechte Kunsttheorie: Goethe hielt es mit Provinzfürsten oder der Weltseele Napoleon nicht aus Unterwürfigkeit, sondern gegen die Stände, gegen den Adel, das Mittelalter (wie übrigens Hegel, der Vorbereiter und bis heute stille Teilhaber des Marxismus), so gleichermaßen mit der klassischen Form nicht gegen die Freiheit, sondern gegen das Chaos und das Erbrecht der Gewalt. Wer an Kunst herumdeutet, ohne über hohe Über­ sicht auf Soziales zu verfügen, wer den Klasseninhalt der ästhetischen Formen mit dem kleinen Hämmerchen oder der schmalen Sichel der Dogmatik in diese 2 Ebd.

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Einleitung

hineinzwängt oder aus ihnen herausfummeln will, haut Rundes in Eckiges oder sucht Eckiges in Rundem. Lukács wusste, dass es schon im vorkünstlerischen Alltag zwischen dem, was ist, und dem, was man gern hätte, einen Abstand gibt, einen Welt­widerstand gegen das, was wir so träumen oder denken oder fürchten oder wünschen, daher sein lebenslanges Interesse an »Ontologie«, an dem, was ist (und was bürgerliches Denken, weg vom so Seienden, gern in Ideen auflöst oder in grammatische und andere Strukturen oder ins mehr oder weniger freie, alle Strukturen überschrei­ tende Spiel von multivalenten Zeichen-für-immer-wieder-Anderes oder in ein starr als Erkenntnisschema aufs Seiende aufgepfropftes Dogma, das sich womöglich auch noch »neuer Realismus« nennt, oder in Heideggers transkategoriales »Sein« oder in sonst einen Scheiß ohne Henkel, Griff und Deckel – gemeint ist mit all dem Blödsinn immer irgendein verborgener Tausch-, Meinungs- oder Klickwert, denn das Kapital, dem bürgerliches Denken bekanntlich bis in seine höchsten akade­ mischen Höhen jede Sekunde unterworfen bleibt, will nie wissen, was die Dinge sind oder was man damit machen kann, und immer nur, was man dafür kriegt).1 Der besagte Abstand ist als Differenz zwischen Idee und Form, aber auch zwischen Überbau und Basis, nicht etwa eine platte Polarität, deren Anziehungsund Abstoßungsfelder das Kunstwerk spalten müssten, sondern im Gegenteil gerade das, was es zusammenhält. Dass es selbst nicht die Welt ist, aber von ihr handelt, macht das Kunstwerk zum Kunstwerk. Ein anderer marxistischleninistischer Denker der Künste als Lukács, Hans Heinz Holz, beschreibt diesen allgemeinen Abstand und seine Konkretionen aus Anlass von Überlegungen zur speziellen Kunstsorte Satire (der ja die meiste bürgerliche und verfallsbürgerli­ che Theaterpraxis heute angehört, soweit sie noch politisch oder kritisch auftritt, sie sagt dann ja selten mehr, als der Spott sagt: Guck mal, der Kaiser ist zwar nicht nackt, hat aber eine Nazi-Uniform an): »Die Satire ist eine Kunstform, die, wie alle Kunst, das Ernste vergnüglich inszeniert.«2 1

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ntologische Akzente schätzt und setzt Lukács auch außerhalb der Kunstreflexion aus nackter O Notwendigkeit, insofern ihn eben die revolutionäre Umgestaltung einer unerträglich geworde­ nen, naturwüchsig entstandenen Gesellschaft interessiert: Nur wenn es ein Sosein der Sach­ verhalte gibt, können a) verschiedene Subjekte Gleichartiges erkennen und arbeitsteilig bear­ beiten und b) Vorhaben scheitern oder gelingen, abhängig vom Ziel und vom erkannten oder übersehenen Sosein der Dinge, sonst gibt es für alles das kein Maß und die Menschen sind in die eigene Willkür geschmissen wie in ein Feuer, das alle ihre Zwecke fressen muss. Der Stand der Diskussion über dieses Problem und die Lösungsvorschläge, die Lukács der Welt unterbreitet hat, finden sich bei Michael J. Thompson (Hrsg.): Georg Lukács and the Possibility of Critical Social Ontology, Chicago 2020. Zitiert nach Arnold Schölzel (Hrsg.): Peter Hacks/Hans Heinz Holz – Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe. Texte. Erinnerungen. Berlin 2007, S. 17.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

Wirklich »alle Kunst«? Das ist ein großes Wort, hier vor allem scheinbar eine Spur zu graziös gesagt, denn wie »vergnüglich« ist Shakespeares »King Lear«, Picassos »Guernica« oder eine späte Beethoven-Klaviersonate? Wer daran zweifelt, dass das Wort passt, soll sich erinnern: Selbst ein Stück über Schreckliches, irgendwo auf der breiten Skala des Menschlichen, sagen wir: vom gebrochenen Einzelherzen bis zum politischen Massenmord, ist angeneh­ mer zu spielen und angenehmer im Publikum zu erleben als die Erfahrung des je eigenen Herzzerbrechens oder des Ermordetwerdens mit vielen anderen aus politischem Grund sein könnten. Das nur sagt Holz, mit historischer Ironie vor grausigem Horizont (»das Ernste«), wenn er gefasst und tongue-in-cheek »ver­ gnüglich« sagt. Der Abstand zwischen Ernstem und Vergnüglichen ist die Körper­bedingung der Kunst, ihr Raum; die Tradition nennt ihn »Schein«. Durch ihn hindurch­ schauen, ohne ihn zu übersehen, ist die theoretische Auseinandersetzung mit Kunst, nichts sonst. Georg Lukács hat dieses Hindurchschauen-ohne-Übersehen mittels dreier Grundsätze vollbracht – Kunstwerkontologie, Kunsteigengesetz­ lichkeit und Kunstanalysenmaterialismus. Im Einzelnen: 1. In der Kunstbetrachtung ist der ontologische Akzent vor jeden irgend annehm­ baren Betrachtungswinkel zu setzen. Das meint ihre Spielart der wissenschaftli­ chen Objektivität: Es soll nicht in erster Linie (nur unterstützend, vertiefend, dem Urteil mit Befunden hilfreich) um Ästhetik als eine Lehre vom Schönen oder vom Hässlichen oder vom Genuss oder vom Schrecken oder von der Furcht oder vom Mitleid im künstlerischen Spiel wie in Wahrnehmung und Empfinden des Publikums gehen, auch will sie so nicht erst- oder auch nur vorrangig die Unter­ suchung der Kunstzwecke im Verhältnis zu den Kunstmitteln leisten, wenn man als Kunstzwecke die Vermittlung von Geschichtskenntnis oder die Kritik an der Flüchtlings- oder Coronapolitik der Regierung betrachtet, und bezweckt ist auch keine Kausaltheorie zur Unterfütterung einer Korrespondenzen- und Korrelatio­ nentheorie des Kunsterfolges wie etwa eine Tiefenlehre von den Klicks oder von den Likes oder von den Retweets oder von den Einnahmen im Stream oder eine Statistik der Rate der Beteiligung unterdrückter, ausgegrenzter, eingesperrter, ausgebeuteter oder verwahrloster Menschengruppen an der Kunstpraxis. Es geht um die Werke. Das Werk ist etwas, worin Kunstzwecke, Vorlieben für gewisse Kunstmittel wie deren Tauglichkeit und endlich Qualität und Quantität der Publikumsreaktion, also allerlei subjektiv a) Gesetztes oder b) Erlebtes, sich objektivieren, nicht immer in einem Ding, manchmal auch in einem Vorgang. Aber Ding wie Vorgang lassen sich beobachten und daher unter vorläufiger, selektiver,

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Einleitung

heuristischer Einklammerung der subjektiven Zuschüsse, Mehrwerte, Voraus­ setzungen und Resultate seiner Existenz diskutieren. Diese Objektivierung hat gute und miese Seiten: Sie werden von den beiden gebräuchlichen englischen Übersetzungen für das von Lukács gern gebrauchte Wort »Verdinglichung« ausgezeichnet getroffen: a) »reification«, sowas wie »Vergegenständlichung«, ein Geflecht von Bestimmungen wird aufgefasst als eine »res«, eine Sache, der erkennende Job dabei ist dann (logische) Abgrenzung und (genealogische) Herleitung, b) »commodification«, eine Summe von Arbeit wird Ware (dieser zweite Teil wird, je weiter der Imperialismus in seine Hölle vordringt, immer chao­ tischer, aber nicht uninteressanter: Was ist die Ware bei Netflix – der Film, die Serienfolge, die Serie, das Gesamtabo? Was ist die Ware bei Spotify, der Song als »intellectual property« oder die spezielle Aufnahme, und wie unterscheidet sich diese Ware von der Vinylplatte oder der CD? Was richtet das Non-Fungible Token in dieser Ordnung an? Restituiert es einen älteren Werkbegriff? Erzwingt es einen neuen?). Lukács erzählt im Alter, er habe besagten Akzent aufs Werk schon sehr früh, bereits in seiner vormarxistischen Zeit bewusst gesetzt und dies unter anderem seinem Lehrer Max Weber mitgeteilt – er weiß noch, »dass ich zu Weber einmal gesagt habe, nach Kant sei das ästhetische Urteil das Wesen des Ästhetischen. Ich meinte, dass das ästhetische Urteil keine Priorität besitze, sondern die Priorität komme dem Sein zu. ›Es existieren Kunstwerke. Wie sind sie möglich?‹ Diese Frage stellte ich Max Weber, und sie machte ihm tiefen Eindruck.«1 2. Unbedingter Respekt vor der Eigengesetzlichkeit der Kunst ist bei der Ana­ lyse mehr noch als beim Kunstschaffen selbst verlangt. Da nämlich das, was im Kunstwerk erscheint, anders als im Kunstwerk gar nicht erscheinen könnte, also die Textidee, das Bildfindungsresultat usw., weil es also im Kunstwerk nicht vornehmlich um das geht, was sich daraus in einen Leitartikel, ein Flugblatt, einen Tweet oder Vlog herüberziehen ließe, wenn man’s angeklickt hat, darf die Kunstbetrachtung die Form des Werkes nicht als ein bloß Äußerliches des am jeweiligen Werk Wesentlichen betrachten, sondern muss sie als wesentlich erkennen und erklären. Wer zum Beispiel nicht weiß (und daher auch nicht sagen kann), wie ein Disney-Superheldenfilm dramaturgisch, inszenatorisch und trick­ technisch funktioniert oder auf welche Weise ein Rap organisiert ist (quer bei­ spielsweise zu vielen klassischen Kriterien der Verslehre), soll der Kunstwissen­ schaft keinen ideologiekritischen Stiefel davon erzählen, dass der Disney-Film 1

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Lukács: Gelebtes Denken, S. 23.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

imperialistische Propaganda treibt oder dass der Rap üble Ideologie vermittelt. Das mag nämlich beides stimmen; aber was teilt man, außer Missvergnügen am Imperialismus und Unbehagen angesichts übler Ideologie, eigentlich mit, wenn man nur dies mitteilt, und wieso bedarf es dazu der Kunstdiskussion? Der Titel »Die Eigenart des Ästhetischen« ist im Schaffen Lukács’ keine Arabeske, sondern ein todernstes Wort zur Sache. 3. Dem Materialismus sensu Marx bleibt eine Kunstbetrachtung auf der historischen Höhe ihres Gegenstands eisern treu, sonst redet sie Blech. »Materialismus« vor Marx war die löbliche gleichzeitige Zurückweisung zweier (miteinander nicht durchweg verträglicher, aber einander im Idealismus oft ergänzender) Unwahrheiten: a) dass die Begriffe und die sie bezeichnenden Dinge identisch seien, b) dass dem Begriff (manchmal als »Struktur« oder »Gottes Wille« oder »Idee« verkleidet) bei der Welterschließung der Primat vor der Eigengesetzlichkeit und Eigenbewegung der vom Begriff bezeichneten Sachen gebühre. Dieser alte (»mechanische«, »atheistische«, »französische«, »aufgeklärte«, »feuerbachsche« usw.) Materialismus sah noch nicht, was dann Marx sah: a) Die eigengesetzliche Materie ist in ständiger Bewegung und Wandlung begriffen, sie lebt in Widersprüchen (deshalb muss der Materialismus dialektisch sein, um der tatsächlichen Welt gerecht werden zu können), und b) diese Bewegung und Wandlung der Materie ist für Menschen nur in historischen Aneignungsprozessen mit- und nachzuvollziehen, das Ding an sich ist nur als in seiner Verwirklichung geschichtlich an die Entfaltung des menschlich-sozialen Stoffwechsels mit der Natur gebundenes Ding für uns überhaupt diskutierbar (deshalb muss der Materialismus historisch sein, um der tatsächlichen Welt gerecht werden zu können). Mit Marx also (man kann das wirklich nicht oft genug wiederholen): »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, dass die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. (…) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d. h. die

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Einleitung

Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage. (...) Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, ver­ gisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. (Z. B. bei Robert Owen.) Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«1 In diesem Zeichen gibt sich das dritte Gebot für die Kunstbetrachtung als ein stabilisierendes Korrektiv des ersten zu erkennen: Man setzt zwar aus den oben genannten Gründen den Akzent aufs Ding, aufs Werk, aber das ist nur der notwendige Schritt in die Analyse, nicht der hinreichende – »unter der Form des Objekts oder der Anschauung« (Marx) setzt man an, aber wenn man »nur« das tut und die »menschliche sinnliche Tätigkeit« nicht als konstitutiv für den Gegenstandsbereich auffasst, bleibt man in einer französischen, einer mecha­ nischen Kunstbetrachtung stecken. Aus dem dialektischen und historischen Materialismus folgt, weil diese Theorie die »Materie« eben als in praktischer Aneignung begriffene »Welt des Menschen« fasst, ein besonderes Verständnis einer zentralen Kategorie moderner Ästhetik, des Realismus. Die Zuschreibung »realistisch« auf ein Kunstwerk meint hier nicht, dass »unter der Form des Objekts oder der Anschauung« der Abdruck einer Welttatsa­ che verstanden wird – es geht nicht um Sachen allein, sondern um ästhetisch vermittelte Sachverhalte, um Tatbestände. Der Gegenstand des Realismus ist damit weiter gefasst als etwa »das, was man fotografieren oder anders auf­ nehmen und speichern und vervielfältigen kann«; Kunst bleibt offen für eine »unbestimmte Gegenständlichkeit«, wie Lukács das ganz im Sinn der deutschen Klassik in »Die Eigenart des Ästhetischen« fasst. Nur so kann erfüllt werden, was Lukács die »defetischisierende Mission der Kunst« nennt. Wie ist diese Prägung gemeint? Wie kann Kunst Fetische aufheben, beseitigen, überwinden? Bei Marx, auf den sich Lukács mit dieser Wortwahl abermals bezieht, ist ein Fetisch kein Ding, sondern der Irrtum, ein menschliches Verhältnis zu Menschen 1

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Marx-Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 533 ff.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

und Dingen sei eine Eigenschaft der von diesem Verhältnis hervorgebrachten und verarbeiteten Dinge. Das berühmteste Beispiel bei Marx, vieldiskutiert, oft zerredet, mitunter ärgerlich mystifiziert, ist der »Warenfetisch«. Das Wort meint nichts Kompli­ zierteres als eine (nicht nur) im Kapitalismus und Imperialismus höchst triviale Alltagstatsache: Die Leute meinen, es sei dem Laptop eigen, dass er einen Preis hat, also eine Ware ist, aber damit »fetischisieren« sie nur den Umstand, dass das Ding kapitalistisch (unter Vernutzung gekaufter Arbeitskraft) produziert und verkauft wird. Die »entfetischisierende Mission der Kunst« nun hängt laut Lukács unmittelbar mit dem »Problem der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der gestalteten Gegenständlichkeit zusammen«, das er unter Verweis auf die Auseinandersetzung mit Genauigkeit und Ungenauigkeit von Dingbeschreibun­ gen in der antiken Epik bei Lessing erörtert: »Das Zepter Agamemnons bleibt in seiner sinnlich-unmittelbaren Gegenständlichkeit weitgehend unbestimmt, dage­ gen haben wir infolge der Geschichte seines Entstehens, seiner Rolle im Leben der Gesellschaft etc. und einiger weniger Lichtstrahlen, die sein sinnliches Sein andeuten, ein für die evokative Reproduktion der Gesamtlage hinreichend deut­ liches Bild auch von seiner Objektbeschaffenheit«.2 Also: Die Epik schildert ihre griffigsten Dinge mimetisch gerade genau genug, dass eine Theaterbearbeitung, eine Statue oder ein Film mit Anregungen fürs Accessoire- und Requisitenmanagement versorgt ist. Diese Künste mögen die Mimesis noch weiter treiben, als die Literatur will und muss – die wirkliche Genauigkeit aller Künste bei der Mimesis aber liegt im Sozialen, in historischmaterialistisch-dialektisch-genealogischer Tiefe. Sie entfaltet damit den Ding­ schein in der sinnlichen Explikation der menschlich-praktischen Tätigkeit, die sich zum jeweiligen Ding vergegenständlicht hat. Wer so etwas beispielsweise im Theater weiß und nutzt, kommt in den Genuss aller Mächte der Gewerke. Hans Heinz Holz hat diese Auffassung geteilt und in einem bedeutenden Brief an den Dramatiker Peter Hacks abstrakte Kunstleistungen gegen Hacksens Vorwurf verteidigt, jene seien schlechthin »ohne Gegenstand«: »Dass alle Kunst letztlich auf Mimesis beruht, habe ich in Band I der Theorie der Bildenden Künste – in Übereinstimmung mit Ihnen – dezidiert gesagt. Jedoch besteht Wirklichkeit, zu der sich die Kunst mimetisch verhält, nicht ausschließ­ lich aus dinglich-gestalthaft wiedererkennbaren Entitäten, sondern eben auch aus abstrakten Verhältnissen (…). Das Verfahren einer Serienproduktion, die 2

Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, Berlin und Weimar 1981, S. 687.

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Einleitung

Struktur eines multinationalen Konzerns, die Gründung einer Bank statt des Einbruchs in eine Bank sind nicht einfach sinnlich abbildbare Realitäten, aber doch Realitäten. Und es ist nicht meschugge, den Grundriss eines Hauses zu zeichnen, wenn man ein Haus bauen will. Kurz: Es gibt auch eine Mimesis des Abstrakten, und im Bereich der konstruktivistischen Kunst zwischen ›rea­ listischen‹ (d. h. mimetisch begründeten) Werken und bloßen Formspielereien zu unterscheiden, scheint mir kein sinnloses Unterfangen. Ich meine also, Sie fassen Nachahmung qua dinglich-gestalthafter Abbildlichkeit zu eng.«1 Die erhellende Idee mit dem »Grundriss eines Hauses« winkt zu Lukács hinüber, hat dieser sich doch über Architektur Gedanken gemacht, die eine ontoge­ netische Voraussetzung der defetischisierenden Potenz der Kunst benennen, nämlich dass Kunst die Welt in dem Maß »entmenschlichen« muss, in dem sie Natur- und Gesellschaftsgesetzeswirken vermenschlicht, um beides für Men­ schensinne und Menschensinn darstellen zu können. Sie erbringt, wie Lukács sagt, also nicht nur defetischisierende, sondern, diesen vorgeordnet, gar »desanthropomorphisierende« Leistungen. Damit ist bei Lukács gemeint, dass sie ein Gegenmittel gegen den fatalen Umstand bereit­ stellen, dass die menschliche Sinnenzurüstung, das Sehen, Hören, Tasten etc. die Menschen leicht dazu verführen, die Welt nur an diesen Sinnesdaten entlang zu denken, nur das für Welt zu halten, was sie von ihr nehmen und kriegen. Men­ schen im Primitivstadium (als Kinder, in Horden, auf der Kulturstufe der Jäger und Sammler …) sind nicht praktisch, sondern, viel schlimmer: pragmatistisch – dass sie die Welt angeht, halten sie für einen Beweis des Aberglaubens, wir gingen umgekehrt auch die Welt an. Wir sind ihr in Wirklichkeit fürchterlich egal (»Eigengesetzlichkeit«), nur liegt das nicht auf unserer Hand, wir müssen es immer erst lernen (durch Schaden zum Beispiel). Diverse moderne und modische bürgerliche Szientismen (etwa der Posi­ tivismus oder der Neopositivismus) behaupten gern, dieses Lernen ließe sich nur in und als induktive und/oder deduktive Wissenschaft vollziehen. In Wirk­ lichkeit kennen selbst Mythen und Religionen (es geht um die Gottheiten, um das Schicksal o. ä., nicht um den Menschenwillen), erst recht aber, wenn auch subtiler, die Künste diese Lektion. Das Absehen Letzterer von der fälschlich ver­ menschlichten Wirklichkeit, ihr Hinausdenken über das »schlechte Besondere« der unter unreflektierte Zweckbestimmungen gesetzten Alltäglichkeiten hat Lukács faszinierenderweise nicht an irgendwelchen Erzeugnissen des eindeutig 1

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Schölzel (Hrsg.): Hacks/Holz, S. 78.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

Zwecken und Gebrauchswerten verschlossenen L’art pour l’art aufgezeigt, son­ dern ausgerechnet an einer im Banalbewusstsein besonders stark mit Zwecken verbundenen Kunst, eben der Baukunst – sie lebe, schrieb er, nämlich davon, die anthropomorphisierende Raumbestimmung nach zufällig-persönlichen Kri­ terien wie »vor mir, rechts von mir, über mir« mathematisch zu überwinden, ihre inneren Zusammenhänge müssten »sowohl einen erkenntnismäßigen wie einen ästhetischen Charakter haben«, denn ihre »auf desanthropomorphisie­ rende Widerspiegelung basierte Erkenntnis bestimmt die objektiv möglichen und notwendigen Proportionen etc. des erstrebten Gleichgewichts der wider­ streitenden Naturkräfte in ihrer Unterordnung unter menschliche Zwecke. Die Allgemeinheit solchen Erfassens geht zwangsläufig über die Verallgemeinerung durch die Sprache hinaus, erfordert den abstrakten Ausdruck von Geometrie und Mathematik etc.«2, und der führe »über die Unmittelbarkeit des anthropo­ morphisierenden Alltags« hinaus: Schon »die Geometrie der Fläche rechnet mit anthropomorphisierenden Bestimmungen wie rechts-links, vorn-hinten radikal ab«3, und wer da jetzt »Bühnenbild am Theater«, »Einstellung beim Film« oder »3-D-Software in der VR« denkt, hat’s verstanden. Wir können eine denkbare Arbeit der Kunst, wenn sie von Menschen gar nicht zu leisten ist, weil sie das Kunstvermögen übers Menschliche hinaustreibt (was durchaus zur Kunst gehört: Kunst zeigt ja auch, was man sonst nicht sieht etc., gerade darin ist sie Versinnlichung der Idee und der Fingerzeig aufs Ideal) nur dann den heute bei den meisten Künsten (selbst der Literatur) involvierten Maschinen übergeben, wenn wir zuvor die spezifisch künstlerische Widerspie­ gelungs-, d. h. Weltaneignungsvernunft so weit von der menschlichen Sinnesap­ paratur gelöst, sie soweit objektiviert haben, dass sie sich an diesen Maschinen als historisch vergegenständlichte Arbeit der Künste erweisen kann. Auch darin ist die Kunst neuerlich, was sie auf ihren Gipfeln ohnehin stets war (und was den Marxismus-Leninismus wie jede emanzipatorische Theorie und Praxis an ihr brennend zu interessieren hat): Vorschein der willentlichen Einhegung des Reichs der Notwendigkeit zugunsten des Reichs der Freiheit.

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Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, Berlin und Weimar 1981, S. 238. Ebd.

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Einleitung

III. Eine unerträgliche Welt In der kulturinteressierten deutschsprachigen Öffentlichkeit der Gegenwart genießt die Kunstlehre von Georg Lukács keinen guten Ruf. Es geht ihr damit wenig besser als seiner politischen Philosophie oder überhaupt dem MarxismusLeninismus. All das gilt als hüftsteif, starrsinnig, dogmatisch, unlebendig, alt, überlebt. Diese Meinung ist nicht vom Himmel gefallen. Sie wurde von Teilen der (vor allem) westdeutschen Linken in den 50er, 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hergestellt und verbreitet, seither auch ein paarmal ver­ gröbert und vereinfacht, stammt aber in ihrer gegen die Staaten des Warschauer Vertrages und deren Kultur- und Kunstpraxis sowie ihren einschlägigen Lehren gerichteten Hauptstoßrichtung aus dem Kopf eines einzigen, brillanten Intellek­ tuellen, ohne den der linksblinkende Teil des Antisozialismus und Antikommu­ nismus der alten BRD geistig nichts zu bieten gehabt hätte: Theodor W. Adorno. Alles, was an argumentativ auch nur halbwegs satisfaktionsfähigen Einwänden und Vorbehalten gegen Lukács und seine Ästhetik heute so kursiert, steht dem Muster nach in einem Aufsatz Adornos namens »Erpresste Versöhnung. Zu Georg Lukács: ›Wider den missverstandenen Realismus‹« aus dem Jahr 1958. Ich gebe den Inhalt dieser Strafpredigt hier nicht erschöpfend wieder, man kann sie in Adornos »Noten zur Literatur« leicht finden und bequem nachlesen. Aber dem Umriss und den Hauptpunkten nach soll die Abrechnung denn doch hier vorkommen, weil es mein Thema stark betrifft: Adorno wirft Lukács vor: a) dass Lukács gewisse Kunstschaffende und Philosophietreibende zwischen Beckett und Nietzsche niedriger hängt als Adorno selbst (teils vermerkt der Westphilosoph dies im Ton einer flammen­ den Empörung, die sich darüber aufregt, dass hier ein Kopf niederen Ranges solche von höherem überhaupt beurteilt, aber das ist Gestik: Adorno verbietet damit nicht, auch wenn’s so aussieht, das Urteilen über kanonische Leute als solches, er unternimmt dergleichen selbst oft genug, sachlich übrig bleibt also nur, dass in Gestalt des da Kritisierten ein angeblich Unbefugter sich solche Urteile gestattet, aber dessen Unbefugtheit wäre ja erst zu beweisen. Diesen Beweis sollen nun die anderen Vorwürfe erbringen, nämlich:) b) dass Lukács einen dialektisch-historisch-materialistischen Realismusbegriff (siehe oben, wo er als Konsequenz aus den drei Grundsätzen Werkontologie, relative Kunstau­ tonomie und Materialismus entwickelt wird) gegen stumpfe und versimpelnde Anwendungen im sogenannten »sozialistischen Realismus« in der Sphäre der Warschauer-Vertrags-Staaten in Schutz nimmt, ohne sich von diesen Staaten im Grundsatz loszusagen. Dass man nicht alle Umsetzungen einer guten Idee

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mittragen muss, weil keine Idee gut genug ist, idiotische Folgerungen aus ihr per se zu unterbinden, sollte man sich von Adorno hier nicht ausreden lassen. Der wirft Lukács aber ferner vor, c) dass dieser einige Hervorbringungen der ästhetischen Moderne nicht goutiert, die in den Gegenden, wo der sozialisti­ sche Realismus den Rang eines Staatskunstsystems innehat, von der dortigen Kulturverwaltung ebenfalls nicht goutiert, aber darüber hinaus sogar unterdrückt oder anderweitig bekämpft werden. Stilistisch und rhetorisch führt Adorno seinen Angriff von einer Position der Stärke aus: Er schreibt dichter, beweglicher, geschmeidiger als der Gegner. Wo es um die gesellschaftliche Ontologie der Kunst in antagonistischen Gesellschaf­ ten, in Klassengesellschaften geht, könnte man sagen: Es geht um Gewitter und in diesem Bilde hat Adorno mehr Blitze, während Lukács sich auf den Donner konzentriert. Adorno ist daher lebhaft, wach und zierlich, wo Lukács stumpf wirkt. Der Donner freilich stellt das am Gewitter nebst dem Regen für die Theorie leichtest Zugängliche dar; selbst die Dummen begreifen ja leicht, dass da, wo es kracht, wohl ein Zusammenstoß passiert. Wenn man dagegen nur elegante, gleißende Krakel aus Licht sieht, muss man schon einiges von Elektrizität wissen, um diese Entladungen als Epiphänomene von Kollisionen zu erkennen. Inhaltlich läuft die Schelte für den ungarischen Intellektuellen, der für Ador­ nos Geschmack nicht mutig und entschieden genug mit der von Adorno als anti­ modernistisch verabscheuten Staatskunst(lehre) des Sozialismus ins Gericht geht, weil Lukács sich diesem Sozialismus unterworfen hat, auf die härtestmög­ liche Kritik an dem hinaus, was ich oben »Polizeischutz« genannt habe: Wo hört Schutz auf, wo fängt Schutzhaft an? »Der Westen« war nach 1945 im Großen und Ganzen (sagen wir: da, wo er nicht wie in Spanien oder Chile seine Wirtschaftsweise diktatorisch durch­ drückte) in Kunstangelegenheiten liberaler und permissiver als der Moskauer Sozialismus. Man durfte in der »freien Welt« ohne Angst vor Polizeibesuchen als Malerin Bilder statt mit dem Pinsel auch mit der Sprinkleranlage produzieren. Schluss mit dem Wohlwollen von Markt und dominanter Kritik für dergleichen war natürlich, wenn so eine Malerin sich explizit sozialistisch organisierte, also etwa in die DKP eintrat. Malen, sagen, bilden, schreiben, träumen durfte man vielerlei, machen schon weniger. Wer sich nun in den Schutz einer kämpfen­ den KP oder der sozialistischen Staaten begab, hatte ideologische Engpässe zu überstehen – Lukács nahm nach 1919 an verschiedenen durchaus riskan­ ten Fraktionskämpfen teil, nicht immer auf der siegreichen Seite übrigens. Ein Anpässler und Mitläufer, wie es sie in allen politischen Massenbewegungen massenhaft gibt, ist er nicht gewesen, das zeigt einfach die politische Vita. Bleibt

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Einleitung

von Adornos Vorwurf also nur, dass Lukács es überhaupt mit der »falschen« Seite und deren Kunstauffassung hielt – die sei, so sieht das die nichtsozia­ listische bis antikommunistische Linke bis heute, »reaktionär« im Sinne von: nicht modernistisch (wahlweise: »gewesen«, man erklärt sie ja oft für abgetan, erledigt, hinüber). Holz, Hacks und Lukács, so habe ich gezeigt, drei Freunde des Moskauer (und Ost-Berliner) Sozialismus, hielten es mit der Mimesis im Sinne der Wider­ spiegelung der Welt. Adorno und die seinen aber fanden, die im ausgeführten Sinn realistische Widerspiegelung sei dem geschichtlichen Stand der Kunst­ entwicklung nicht adäquat – die soziale, die geschichtliche Welt habe sich über das, was der (oben anhand dreier Hauptgrundsätze skizzierte) marxistischleninistische Realismus abbilden und gestalten könne, einfach hinausentwickelt. Theodor W. Adorno hielt so die Menschenruinen im Theater des Samuel Beckett für historisch wahrer als die Sprechrollen des sozialistischen, ja erst recht des bürgerlich-linksliberalen Realismus. Für Letzteren nahm er etwa Rolf Hochhuth ins Visier, dem er brieflich Bescheid stieß: »Sie stellen sich immer noch vor, dass man eine faszinierende Szene aus Stalin und Truman in Potsdam machen könnte, die nur einige Nebensätze der Waffe des Genocids widmen, nachdem der Tenno die Kapitulation seit zehn Tagen angeboten hat: Beiläufig werde der überflüssige Entschluss gefasst, die Bombe über Hiroshima abzuwerfen. Ich kann mir nicht helfen: Ich fände diese Szene auf dem Theater nicht faszinierend, sondern eher das, wofür der amerikanische Slang über das Wort ›phoney‹ verfügt, das die Worte hohl oder scheinhaft nur unvollkommen übersetzen. Vor vielen Jahrzehnten, schon vor dem Ausbruch des Faschismus, hat Ortega y Gasset beobachtet, Weltgeschichte werde um ihrer eigenen Publizität willen eigentlich nur noch gespielt, und Karl Kraus erkannte in den ›Letzten Tagen der Menschheit‹ das ganze Grauen darin, dass die gespielte Geschichte das Allerrealste ist und womöglich den Menschen noch Ärgeres antut als früher die minder veranstaltete. Hitler war ein Schmierenko­ mödiant der Untaten, die er beging, und gar kein Individuum.«1 Dem Blick des Kritikers erscheint die politische Welt hier nur mehr einge­ schränkt real, scheinhaft wie früher nur die Kunst; später wird Jean Baudrillard von »Simulakren« sprechen, dann ein Film von der »Matrix«, noch ein wenig später fuhrwerkt jeder Online-Hospitant der krisengebeutelten Bürgerpresse mit 1

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Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1974, S. 594.


Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

dem Panikbegriff »fake news«. Sie meinen alle, die Wirklichkeit lüge schlimmer denn je, und Adorno meint darüber hinaus, das müsse für die Kunst doch Konse­ quenzen haben, deren Vermeidung er denen vorwirft, die am Realismuskonzept festhalten. Figuren auf dem Theater sollen nach dieser Doktrin keine auskomponierten, psychologisch schlüssigen und sozialcharakteristisch triftigen Gestalten mehr sein dürfen, weil die ausführenden Personen der Herrschaft kaputte Arschlöcher sind. Das ist sehr aufrichtig gedacht, ziemlich rührend und gut gemeint, auch nicht schlecht geschrieben – von der Dramatik Becketts sagt Adorno unter dieser Prämisse zum Beispiel lobend und treffend, sie verlasse die Position von Subjekten, die wissen, was sie tun und sagen, wie man einen »Bunker« verlässt, und: »Nach dem Zweiten Krieg ist alles, auch die auferstandene Kultur zerstört, ohne es zu wissen; die Menschheit vegetiert kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen, dem es noch die Selbstbesinnung auf die eigene Zerschlagen­ heit verschlagen hat.«2 Abgesehen vom Wortspiel (zerschlagen/verschlagen): So redet der mit allem Recht über den Gang der Zeit, über Massenmord und Massenwahn ent­ setzte bürgerliche Kulturträger. Aber der Marxismus-Leninismus erkennt den von dieser Rede vorgebrachten Appell nicht als zwingend an, Kunst solle sich kaputtmachen, weil die Welt kaputt ist. Peter Hacks nennt das kurzweg »Roman­ tik« – und donnert: »Der Satz, in welchem die ganze Wissenschaft der Romantik sich erledigt, lautet: bei schlechtem Wetter muss die Kunst schlecht sein. Kein Heu, keine Milch; es ist eine rechte Paarhuferweisheit. Das Rind steht vor der ausgeleckten Krippe und melkt nicht und hat seelenvolle Augen. Kunst, so versichert die romantische Schule, benennt das Bestehende. Das Elend, erklärt sie, malen wir auf elende Weise, und um dem schwer Begreiflichen beizukommen, verfügen wir über die gesamte erstaunliche Weite und Vielfalt des Antirealismus. Wenn wir schon nicht gut sind, sagt sie, nicht ohne Stolz, so sind wir doch ehrlich. In der Tat, das ist es, was ihr seid. Nichtswürdig, und dann noch ehrlich!«3

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Ebd., S. 285. Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Berlin 2010, S. 123.

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Einleitung

Hacks sagt es unfreundlich. Ich möchte es freundlicher sagen: Kunst taugt nicht dazu, die Welt zu verdoppeln. Sie will durch ihre der Welt abgeguckten Gegenstände hindurch zum Ideal, das sie nie erreichen wird. Sie gestaltet das Streben und Justieren und Nachbessern und Scheitern und Weiterkommen. Als doofer, einprägsamer Kalauer: Wie Marlene Dietrich von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt ist, so ist Kunst umgekehrt von Kopf bis Fuß in Einstellungen verliebt. Gegen Adorno: Das Leiden an und in der Welt ist keine Kunstkategorie, schon gar keine der Kunstmittel und Kunstverfahren, höchstens ein Kunstge­ genstand, ein Thema oder ein Stoff. Und selbst dann: Niemand leidet unterm Kunstwerk wie an einem beschissenen Arbeitsplatz, in Haft, im Krieg. Hat die moderne Musik wirklich Disharmonien, weil die moderne Welt antagonistische soziale Widersprüche hat? Dann wäre sie ein blöder Witz. Das Kunstwerk ist kein unartikulierter Schrei, höchstens dessen artikulier­ tes Bild. Es wird nicht mechanisch der schlechten Welt abgenommen, es ist gestaltet. Dass es gelungen ist, stellt, wenn es denn gelungen ist, seine wahre Kritik an der Gesellschaft dar, denn die ist bisher nicht gelungen, ja: nicht einmal bewusst von irgendwem gemacht, sondern wird naturwüchsig erlitten noch von den Mächtigsten. Das Kunstwerk ist, mit dem ontologischen Akzent, den Lukács setzt, ein Positivum; es kann sogar vom Guten und Richtigen handeln, in der imperiali­ stischen Welt handelt es aber leider und wohl unvermeidlich häufiger von Pes­ simismus, Lustgrusel, Apokalypse, Frust, Kummer, wie neunzig Prozent der Sachen, die das Feuilleton anbetet, und spachtelt höchstens noch ein bisschen Versöhnungskitsch drauf, weil die Leute sich nach Kunst ja durchaus sehnen und der Kitsch sich zu diesem Bedürfnis verhält wie der billige Süßstoff zum Zucker. Dass die Kunst hier und jetzt so (gern) ungeil ist, muss kein Makel sein. Aber ein Vorzug ist es, wieder gegen Adorno, eher nicht. Kunst sollte eine Methode sein, die Entfremdung zu beklagen? Das hat Lukács nicht im Sinn gehabt, als er in »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923) diese zentrale Marxsche Kategorie philosophisch aufzufrischen und vor dem Verblassen in politischen Tageskämpfen zu bewahren suchte. Aber das hochproblematische Buch, von dem er später abrückte, diente wohl leider genau in diesem Sinne, weil es eben Namen wie »Entfremdung« für das gebrauchte, was die Ohnmacht der Menschen in Kapitalismus und Spätkapitalismus für Zer­ störungen in ihrer Weltaneignung anrichtet, als Ideenquelle nicht nur für Adorno, sondern für viele linke Seufzer während der auf das Erscheinen des Bandes folgenden hundert Jahre. Die beste ästhetische Attacke gegen die Entfrem­ dung, desanthropomorphisierend wie entfetischisierend, ist die Brechtsche

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Dietmar Dath: Das Spiel der rechten und der linken Hand

Verfremdung als von innen (Seele) nach außen (Bühne) gekrempelte, damit aber zugleich gesteigerte und aufgehobene Entfremdung. Nur: Wie schreibt und spielt man sowas, hundert Jahre später? Sagen wir so: Eine Regie und eine Schauspielerei, also einfach: eine Spielpraxis, die sich bei intelligenter Ästhetik (von Lukács bis, warum nicht, Adorno, und drüber hinaus) schlau gemacht hat über die Wahrheitsbedingungen der versinn­ lichten Idee und des sinnfällig gemachten Ideals, weiß zwar aus dieser Theorie immer noch nicht, was sie nur praktisch herausfinden kann, nämlich, ob die Figur auf der Bühne in der jeweiligen Szene jetzt die rechte oder die linke Hand heben oder senken muss. Aber eine dergestalt unterrichtete Spielpraxis weiß, dass es für die Idee gar nichts Wichtigeres geben kann als solche konkreten Herausforderungen an ihre lebendigen Formen.

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ÄSTHETIK


Jakob Hayner Die Rätsel der Welt im Brennglas des Ästhetischen

Zeitlebens hegte Georg Lukács den Plan, eine systematische Ästhetik zu ver­ fassen. Als »vollständig gescheitert« beschrieb er einen ersten Versuch aus seinen Heidelberger Jahren. Diese Feststellung findet sich allerdings im Vor­ wort seiner 1963 veröffentlichten Schrift »Die Eigenart des Ästhetischen«, die als erster Teil seiner »Ästhetik« angelegt war. Das Scheitern blieb also nicht von Dauer, die Sache verlangte, ausgearbeitet zu werden. Lukács trug schwer daran, dass der Marxismus keine eigene Ästhetik hervorgebracht hatte. Oder anders gesagt: Das, was es gab, konnte ihn nicht zufriedenstellen. Einerseits unsystematische Bemerkungen im Werk von Marx und Engels, andererseits historische Abhandlungen, die zwar Entwicklungen in der Kunst und deren öko­ nomischen Voraussetzungen aufzeigten, aber die Frage nach dem Wesen des Ästhetischen gar nicht berührten. Und genau dazu gedachte Lukács den ent­ scheidenden Beitrag zu leisten. Lukács stand in doppelter Opposition: Gegen den bürgerlichen Idealismus einerseits und andererseits gegen den mechanischen Materialismus, wie er es nennt. Kunst ist also weder eine unveränderliche Idee am entsprechenden Ideen­ himmel, die es gelegentlich in die Niederungen des weltlichen Lebens stürzt, sie ist aber auch nicht zu reduzieren auf eine quasi vorherbestimmte Kette von determinierenden Bestimmungen. Das meint aber auch, in dieser Opposition selbst einen wirklichen Gegensatz zu sehen, der sich nur auf verkehrte Weise darstellt (Ideenhimmel gegen Produktionsniederungen). Lukács suchte eine Auf­ hebung dieses Gegensatzes und er fand sie in der Methode, die den Namen dia­ lektischer Materialismus trägt. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, lautet einer der bekanntesten Sätze dieses Denkens, nicht zu verwechseln mit der pseudo­ materialistischen Behauptung, das Sein wäre identisch mit dem Bewusstsein, also folglich könnte das richtige Bewusstsein aus dem richtigen Sein abgeleitet werden, ein Fehlschluss, der im Ästhetischen wie Politischen eigentümliche Blü­ ten treibt. Dass Lukács die Sache im Sinne eines dialektischen Materialismus anging, zog vielfach Kritik auf sich. Am bekanntesten ist Theodor W. Adornos Kritik in »Erpresste Versöhnung«, doch der Vorwurf des Revisionismus ertönte auch auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs«. Mal sei Lukács’ Ästhetik zu einseitig, mal zu wenig einseitig im Sinne des Klassenstandpunkts, mal zu nah

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an der Wissenschaft, mal zu fern im Sinne des offiziellen Marxismus-Leninismus. Man darf diese »mittlere Position« als Zeichen nehmen, dass Lukács an die grundlegenden Widersprüche der Wirklichkeit rührte. Eine Entgegensetzung von »linker Ethik« und »rechter Erkenntnistheorie« hat Lukács rückblickend schon in seiner frühen »Theorie des Romans« als zu überwindendes Problem ausgemacht und es begleitete ihn bis ins Alter – sein Spätwerk beschäftigte sich mit Ontologie und Ästhetik, eine Ethik war auch angedacht. Standpunkt und Wahrheit waren ihm nicht eins, aber das eine bedingt das andere: als parteiisches Totalitätsbewusstsein. Der Autor von »Geschichte und Klassenbewusstsein« dürfte gewusst haben, dass auch Marx und Engels Evolution und Revolution zusammenbrachten. Und er dürfte auch gewusst haben, dass Klassenkämpfe zwar auch Tagespolitik sind, aber zugleich darüber hinausgehen. Denn Lukács war Kommunist. Und im Gegensatz zu manch anderen an den Kämpfen ihrer Zeit Beteiligten denken Kommunisten über diese hinaus, sie antizipieren schon die neuen und besseren Formen des gesellschaftlichen Miteinanders, die im Handgemenge oft keine Rolle spielen und aus taktischen Erwägungen oft keine spielen können. Als Korrektiv von Taktik steht deswegen bei Lukács ein Begriff wie Wahrheit. Der ersetzt Politik nicht, sondern gibt ihr erst eine Richtung, ihren Sinn. So ist es wohl auch zu verstehen, dass Lukács in dem Vorwort zu »Die Eigenart des Ästhetischen« festhält: »Treue zur Wirklichkeit und zugleich Treue zum Marxismus.« Wirklich­ keit first!, auch im Sinne des Marxismus. Peter Hacks, der sich durchaus als einer von Lukács’ Leuten verstand, brachte es einmal treffend auf den Punkt: »Ich bin orthodoxer Marxist: Ich glaube jedes einzelne Wort von Marx, wenn es wahr ist.« Solch ein Denken hätte auch heute noch eine Zukunft. Zu einer systematischen Ästhetik kommt aber noch eine Sache hinzu: das Systematische. Das Wort System löst heutzutage eher totalitarismustheoreti­ sches Unbehagen aus, die Systemtheorie hat längst an Charme verloren und die Parole »Fight the System!« hat sich nicht nur in ihr Gegenteil verkehrt, sondern ist von der Straße in die Akademien gewandert. Doch gerade angesichts der offenkundigen Tyrannei des Unsystematischen sollte man sich davon nicht irre machen lassen. Denn systematisches Denken oder spekulatives Denken, wie es bei Hegel heißt, auf dessen Schultern der Riese Lukács zwecks besseren Überblicks steht, ist kein geschlossenes, gegen Erfahrung abgedichtetes Den­ ken – im Gegenteil. Liest man »Die Eigenart des Ästhetischen«, so fällt auf, wie groß die Scheu des Autors ist, einfache Definitionen zu geben. Hingegen untersucht Lukács immer wieder, nahezu bis zur Erschöpfung (auch der des Lesers), die vielfältigen Beziehungen, die zwischen den einzelnen Gegenständen

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Ästhetik

bestehen. Denken in Systemen heißt nach Hegel nämlich, in Relationen, in Ver­ hältnissen zu denken. Definitionen täuschen. Sie suggerieren klare Grenzen, wo die Dinge zusammenhängen. Sie suggerieren Unveränderlichkeit, wo die Dinge sich ändern, sei es, weil sich das ändert, womit sie in Bezug stehen. Lukács verwahrte sich gegen ein »Pseudosystem von abstrakten Vorschriften und mechanischen Regeln«, immer wieder umkreist er seinen Gegenstand, weil er von der Dynamik in den Begriffen selbst Kenntnis hat, weil er weiß, dass sie sich notwendig entwickeln müssen und dass dieser Notwendigkeit ein paar Gesetzmäßigkeiten innewohnen, wobei das dialektische Denken durchaus mehr als nur »wenn A, dann B« kennt – es ist nämlich Denken in Widersprüchen. Das System ist also nicht nur nicht abgeschlossen, man kann damit Entwicklung denken, ohne auf eigentümliche Dinge wie göttliche Eingebung oder bloßen Zufall zurückgreifen zu müssen. Solches systematische Denken weiß also auch, dass Neues entstehen muss. Nicht, dass man dessen konkrete Gestalt voraus­ sagen könnte, aber man kann durchaus wissen, als Antwort welcher Frage es auftauchen wird. Doch fürs Neue, das ist vielfach festgestellt worden, interes­ siert sich Lukács in seiner Ästhetik nur eingeschränkt. Er weiß, dass das die Grenze der Theorie ist – deren Erkenntnis bekanntlich wie der Flug der Eule der Minerva in der Dämmerung beginnt. Der Praxis kann man in der Theorie nichts vorwegnehmen, man kann nur den Umfang der von ihr zu lösenden Problematik skizzieren. Noch ein Vorteil des systematischen Denkens: Es weiß um seine Beschränkungen und Grenzen. Nun hat Lukács seiner historisch wie logisch angelegten »Eigenart des Ästhetischen« eine Formulierung von Karl Marx aus dessen berühmter Schrift »Das Kapital« vorangestellt. »Sie wissen es nicht, aber sie tun es«, heißt es dort. Diese Formulierung stammt aus dem ersten Band, überschrieben mit »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«. Dieser Abschnitt hat unter anderem einige Berühmtheit erlangt, weil einige der jüngeren Zurück-zu-MarxBewegungen in der Regel direkt nach diesem Abschnitt ihre Lektüre des auch darüber hinaus recht lesenswerten Buchs beendeten und der Welt erklärten, Klassenkampf und solche Dinge seien unnützer Kram aus der Vergangenheit (hätten sie doch nur bis Kapitel 8 »Der Arbeitstag« gelesen!). Marx jedenfalls geht es an dieser Stelle um eine verkehrte Gesellschaft, um einen »gegen­ ständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit«. Keine Hirn­ gespinste also, die Welt selbst ist verrückt geworden und Tische bilden aus ihrem Holzkopf Grillen, weil wir so produzieren, wie wir gedankenlos produzieren, nämlich kapitalistisch. Die menschliche Arbeit ist dem Wertgesetz unterworfen, und zwar ganz real, obwohl diese Realität nur das Produkt menschlicher Arbeit

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Jakob Hayner: Die Rätsel der Welt im Brennglas des Ästhetischen

ist. Die Welt, in der kapitalistische Produktionsweise herrscht, wird deswegen von Mystizismen und Phantasmagorien heimgesucht, die dem Aufklärer Marx ausgesprochen zuwider waren, zudem er wusste, wie diesem Spuk ein Ende zu machen wäre: durch eine vernünftigere Produktionsweise. Nun ist das in zweier­ lei Hinsicht für Lukács interessant: zum einen, weil er mit Marx den Kapitalis­ mus für eine notwendig falschen Schein erzeugende Gesellschaftsordnung hält und dem die »defetischisierende Mission der Kunst« entgegensetzt. Und zum anderen, weil die Aufgabe der Enträtselung – wissen wollen, was getan wurde – für die Arbeit als solche, aber insbesondere auch für ästhetische Artefakte von Belang ist. Denn die Kunstwerke selbst sind ein Archiv unbewussten Handelns, das sie geradezu seismografisch aufgezeichnet haben. In der Deutung der Werke vergangener Epochen sieht Lukács eine Aufgabe, hier weiß er sich mit dem historischen Materialismus als Anamnese der Genese einig. Doch auch das ist nicht zu fixieren, jedes neue Werk kann alle anderen vor ihm in einem anderen Licht erscheinen lassen. Auch hier ist es wieder, das Relational-Systematische, das immer geschichtlich Gewordenes ist – von den Höhlenmalereien bis zur modernen Kunst. Doch richtet Lukács seine begriffliche Anstrengung nicht darauf, die offensichtlichen Unterschiede zu betonen oder wie die kunstgeschichtliche Zunft das harmlose Spiel von der Datierung des Beginns der Moderne zu betreiben. Ihm geht es darum, das Ästhetische als eine soziale Verhaltensweise des Menschen aufzuzeigen, die sich entwickelt. Und zwar, wie der Mensch selbst, durch seine Arbeit. Was sich da entwickelt? Für Lukács ist es die ästhetische Widerspiegelung. Dabei ist Widerspiegelung für ihn etwas Grundsätzliches im menschlichen Weltverhältnis, das sich in Alltag, Wissenschaft und Kunst ausdrückt. Und zwar auf verschiedene und je eigene Weise. Lukács hält es hier mit Aristoteles, neben Hegel und Goethe der dritte im Bunde, auf den er sich ausdrücklich bezieht. Der antike Philosoph begriff den Menschen als nachahmendes Tier – und darin keinesfalls als beschränkt, sondern sich mit den Gegenständen des Nachgeahmten wie den Mitteln der Nachahmung entfaltend. Mimesis ist so begriffen nicht bloße Imitation, sondern das Ineinander von eigenständigem Ausdruck und Nachahmung. Ihr Index ist historisch, sie ist zwar eine Grundbestimmung des Menschen, aber als solche ebenso wandelbar wie die Arbeit, ebenfalls eine Grundbestimmung des »tool making animal«, also des sich durch seine Arbeit schaffenden Menschen. Mit Lukács würde man die Bestimmung zum »object making animal« erweitern, mit dem Hinweis, dass diese gemachten Objekte immer das ebenfalls gemachte Weltverhältnis des Menschen spiegeln. Und besser als in der Kunst lässt sich dieses in sich reflektierte Machen des Gemachten ohne weiteren Zweck kaum beobachten.

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Ästhetik

Widerspiegelungsverhältnisse ein und derselben objektiven Wirklichkeit sind für Lukács zunächst gegeben, nun kommt es darauf an, sie zu gestalten. Denn – und da gab es zwischen ihm und Zeit- als auch Streitgenossen wie Bertolt Brecht keine zwei Meinungen – kann mit Widerspiegelung in einer modernen kapitalistischen, also falschen Schein produzierenden Gesellschaft eben gerade nicht die mechanische und fotografische Wiedergabe der Oberfläche gemeint sein – das würde in die Irre führen. Man muss also den falschen Schein, die Fassade durchbrechen. Das zeigt sich bei Lukács auch in dem der Mimesis kor­ respondierenden Begriff der Katharsis. Auch hier ist sein Misstrauen gegenüber den oberflächlichen Effekten und »schnellen Heldentaten« ausgeprägt, er sieht präzise, dass die kapitalistischen Gesellschaften mit Angeboten an Pseudoka­ tharsis nicht gerade geizen. Für Lukács hat die Kunst eine immanente Moral, das macht ihm zugleich das Moralisieren mit Mitteln der Kunst madig. Mit der Kathar­ sis zielt er auf eine nachhaltige Selbstkritik des Subjekts und seiner Lebens‑ umstände, das »Durchrütteln der Subjektivität des Rezeptiven«. Überhaupt geht Lukács zwar vom Vorrang des Objekts aus, seine Ästhetik richtet sich aber im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen neoromantischen Theorien nicht an Gemeinschaften und Communities mit ihren Zugehörigkeitsproblemen, sondern an den zur Erfahrung fähigen Einzelmenschen. Dafür bemüht er selbst Rilkes berühmte Verse: »Du musst dein Leben ändern!« Diesen Impuls so zu stärken, ihm eine Form zu geben, die sich nicht in äußerlicher Abbitte oder in ritualisierten Schuld- und Schamprozeduren erschöpft, sondern die an den Grundfesten der gesellschaftlichen Ordnung rüttelt, kann man als wahrhaft ethische Dimension seiner Ästhetik begreifen. Künstlerische Produktion ist für Lukács ein Lebensbedürfnis. Sie ist dem Leben entsprungen und hat sich zugleich von ihm abgesondert, ihre Wirkung besteht in der konsequenten Durchformung ihrer Eigenart. Dass Lukács dabei auf die völlige Kommerzialisierung der Kunst im Kapitalismus nicht gerade besonders gut zu sprechen war, ergibt sich schon aus der kunstfeindlichen Ten­ denz, die solche Kommodifizierung – heute weitaus stärker noch als zu Lukács’ Zeiten – mit sich bringt. Kunst zum Mittel zu degradieren, wäre ihm sicher nicht in den Sinn gekommen, für ihn war das Ästhetische eine Form der spezialisierten sinnlichen wie geistigen Wahrnehmung, die von der Rezeption, Kontemplation und also Reflexion nicht zu trennen ist. Unmögliches von der Kunst zu verlan­ gen, missachtet und zerstört ihr besonderes Vermögen. Und das ist, was heute am deutlichsten von Lukács und seiner Ästhetik zu vergegenwärtigen ist: die Eigenart der Kunst gegen den Druck der Verhältnisse ernstzunehmen und ihr die Treue zu halten. Gedankt wird das mit den neuen Welten und Weltentwürfen,

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Jakob Hayner: Die Rätsel der Welt im Brennglas des Ästhetischen

in die sie die Betrachter hineinzieht – wer mag, nennt das nach der aktuellen Mode Immersion. Kunst arbeitet an einer jahrtausendelang lebendigen Mensch­ heitssehnsucht, die auf die klassenlose Gesellschaft verweist. Die Welt träumt von Erlösung, die Dinge selbst und mit ihnen die Menschen – wenn sie es denn zulassen. Lukács steht in dieser Hinsicht in der Tradition des bürgerlichen Humanis­ mus, dessen Ideale der Marxismus zu verwirklichen angetreten war. Schon mit seiner frühen Schrift »Die Seele und die Formen« zeigte er sich als Theoretiker der bürgerlichen Kultur; er versenkte sich so sehr in sie, dass er zugleich über sie hinauskam. Lukács war beileibe kein Verächter bürgerlichen Denkens oder bürgerlicher Kunst, erst damit war es möglich, sich der Wirklichkeit unbefan­ gener zu nähern. Ebenso wenig wäre es ihm wohl in den Sinn gekommen, aus falsch verstandener Klassensolidarität die Erkenntnisse der bürgerlichen Philo­ sophie, Logik oder Mathematik zu missachten, wo sie doch nützlich sind. »Die Erkenntnisse können an einem anderen Ort gebraucht werden, als wo sie gefun­ den wurden«, schrieb Brecht einmal. Lukács sah aber auch die Grenzen der bürgerlichen Welt – unter anderem deshalb nahm er Partei für die proletarische Revolution und den Sozialismus, um die Früchte des bürgerlichen Fortschritts zu ernten: Reichtum, Wissenschaft, Individualität. Und er sah auch, dass sich – bei Ausbleiben der sozialen Revolution – diese Fortschritte durch den Zerfall der Voraussetzungen in ihr Gegenteil verkehren würden, in romantische Vernebe­ lung der Wirklichkeit, Faschismus und weitere Grässlichkeiten. »Die Zerstörung der Vernunft«, so der Titel eines wichtigen geschichtsphilosophischen Werks von ihm, kennt keine Ausnahme fürs Ästhetische. Das Nachzeichnen des Ver­ falls hielt Lukács für einen notwendigen und unerlässlichen Teil der Aufklärung über das gesellschaftliche Schicksal der Menschheit und ihrer Produkte. Wenn Lukács also von Dekadenz spricht, dann ist das nur so wertend gemeint, wie es der Niedergang eines Gemeinwesens nun einmal ist – für all jene, die dar­ aus keinen Profit schlagen können und sich damit nicht abfinden wollen. Dass Lukács das »gute Alte« gegen Brechts »schlechtes Neue« verteidigt hätte, stimmt so nicht. Es ist ein und derselbe Widerspruch: Es muss anders werden, es muss besser werden, doch die Verhältnisse, sie sind (noch) nicht so. In Zeiten kapitalistischer Selbstzerstörung fällt dem Revolutionär auch die Rolle des Bewahrers zu. Wie sehr Lukács sich nahezu blind im Kanon der bürgerlichen Kultur bewegte und deren Widersprüche und Risse aufzeigte, zeigt auch so manche inzwischen eher schrullig wirkende Formulierung. So hallen in der Wortschöp­ fung vom »Mensch ganz« noch Schillers berühmte Verse nach, der Mensch sei

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Ästhetik

»nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Lukács greift diese paradoxe Formulierung, nur da ganz zu sein, wo man sich beschränkt, auf und setzt sie dem ganzen Men­ schen des Alltags entgegen. Die »Aufnahmeorgane« des ganzen Menschen des Alltags sind der zu erfassenden Welt unterlegen. Die Sinne des »Mensch ganz« hingegen werden bewusst auf eine Sache gerichtet, wodurch eine gesteigerte Intensität erfahrbar wird. Die Welt wird intensiver, besser, genauer und anders wahrgenommen, wenn man sich beschränkt. Unterschiede sind nach Lukács Vorzüge, Unterschiedslosigkeit ist hingegen borniert. Gelingende Kommunika­ tion durch Komplexitätsreduktion, so würden das heute vermutlich die an der Systemtheorie Geschulten ausdrücken. Dem korrespondiert das homogene Medium. Hier nimmt Lukács die Metapher der Widerspiegelung geradezu wört­ lich, die gereinigte, verfeinerte und begradigte Oberfläche gibt die besseren Bil­ der – und nicht nur ein Bündel ununterscheidbarer Lichtreflexe. Es ist nebenher die deutlichste Absage an jeden Primitivismus in der Kunst. Jede Kunstform ist da mitgemeint, auch der Tanz, der durch den Rhythmus zu einer eigenen Intensi­ tät führt, wird von Lukács im Sinne seines prinzipiellen Pluralismus in der ästhe­ tischen Sphäre erwähnt (der keineswegs hindert, zwischen misslungenen und gelungenen Widerspiegelungen im jeweiligen Medium zu unterscheiden). Auch hier gilt es, die Eigenarten des jeweiligen homogenen Mediums, der Musik, der Malerei, der Dichtung und so weiter bis zu ihren Verästelungen in die einzelnen Genres, zu beachten. Die Gesetze des Ästhetischen zu erweitern und zu über­ treten kann für Lukács sinnvoll nur dort geschehen, wo man sie auch kennt. Das bringt ihn in deutliche Opposition zur bloß effekthascherischen Provokation mit künstlerischen Mitteln. Überhaupt finden sich bei Lukács immer wieder polemi­ sche Bemerkungen von größter Klarheit und Trefflichkeit. So habe die Trennung von Literatur und Theater im Kapitalismus einerseits ein rein literarisches Drama ohne weitere dramatische Form, andererseits »zur wesenlosen Unterhaltung der herrschenden Klasse« eine »gehaltlose, leere theatralische Pseudokunst« entstehen lassen. Das lässt sich problemlos zur heutigen Trennung von Text­ flächenproduktion und Performances im Theaterbetrieb in Bezug bringen. Oder auch der allseits beliebte, wenn auch selten besonders ertragreiche »Einbruch rhetorisch-publizistischer Tendenzen in die Kunst«. Hier äußert sich kein Anti­ modernismus, sondern die unerfreute Feststellung, dass gerade neueste Ent­ wicklungen in der Kunst hinter den Maßstäben der Moderne zurückbleiben. Neben Theodor W. Adornos »Ästhetischer Theorie«, veröffentlicht 1970 als Fragment nach dem plötzlichen Tod ihres Autors im Jahr zuvor, ist »Die Eigenart des Ästhetischen« einer der letzten großen Versuche, zusammenhängend über die Kunst im Horizont einer universalen Befreiung nachzudenken, mit einem

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Bein noch der Höhe der bürgerlichen Kultur verhaftet, von der kaum mehr als Ruinen übergeblieben sind, mit dem anderen auf dem Sprung in unbekanntere Gefilde, die es noch immer zu erreichen gilt. »Die Eigenart des Ästhetischen« ist das umfassende Vorhaben, die Vielgestaltigkeit der Kunst hinsichtlich ihrer historischen wie logischen Beziehungen auf Begriffe zu bringen, die ein in sich bewegliches System bilden. In das Umfeld von Lukács’ systematischer Ästhetik gehören auch seine Begriffsstudie »Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik«, die zunächst ein Teil der »Ästhetik« sein sollte, und »Der historische Roman«, eine von ihm so bezeichnete Vorarbeit. Diese Schriften demonstrieren zugleich Lukács’ Streben nach einer Befreiung der Kunst, sowohl von kapita­ listischer Indienstnahme als auch von religiöser Bevormundung. Diese Freiheit war für ihn jedoch gebunden an eine Funktion, die das Ästhetische im sozialen Miteinander der Menschen hat. Weder befürwortete Lukács die »absolute Frei­ heit« der Kunst, noch hielt er sie für möglich. »Der Befreiungskampf der Kunst ist also – welthistorisch betrachtet – ein Ringen darum, dass der soziale Auftrag der Gesellschaft an sie jene glückliche Mitte zwischen allgemeiner Bestimmt­ heit des Gehalts und freier Beweglichkeit in der Formgebung erhalte«, heißt es in »Die Eigenart des Ästhetischen«. Selbstverständlich war für Lukács, dass solch ein sozialer Auftrag unter den herrschen Verhältnissen nicht zu erwarten ist, also gegen ihn und seine Prinzipien zu erfechten wäre. Wer die Eigenart des Ästhetischen schätzt, kann den Kapitalismus nicht lieben.

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Georg Lukács

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Goethes Entdeckung bei der Herausarbeitung der Kategorie des Besonderen in der Ästhetik ist scheinbar nur geringfügig: das Stehenbleiben, das Sich­ fixieren, das Gestaltwerden der Bewegung, in welcher der Künstler die objek­ tive Wirklichkeit widerspiegelt, beim Besonderen, und nicht – wie in der wissenschaftlichen Erkenntnis je nach ihren konkreten Zielen – beim Allge­ meinen oder beim Einzelnen. Die mit der Alltagspraxis verbundene Erkennt­ nis fixiert sich wo immer, je nach ihrer konkreten praktischen Aufgabe. Wis­ senschaftliche Erkenntnis beziehungsweise künstlerisches Schaffen (sowie ästhetische Rezeption der Wirklichkeit, z. B. in bestimmten Erlebnissen des Naturschönen) differenzieren sich im Laufe der langen geschichtlichen Ent­ wicklung der Menschheit bei den Extremen oder in der Mitte. Ohne einen solchen Prozess hätte sich die eigentliche Spezialisierung dieser Gebiete, ihre Überlegenheit der unmittelbaren Praxis des Alltagslebens gegenüber, aus der sie beide allmählich herausgewachsen sind, nie bewerkstelligt. Das Herausarbeiten der Eigenart dieser Tätigkeitsfelder der Menschen müsste nun notwendig irreführende Ergebnisse zustande bringen, wenn man nicht daran festhalten würde, dass in allen drei Fällen dieselbe objek­ tive Wirklichkeit widergespiegelt wird, und zwar dieselbe nicht nur inhalt­ lich, sondern auch in ihren Formen, in ihren Kategorien. Natürlich führt die lange und erfolgreich durchgesetzte Spezialisierung dazu, dass besonders differenzierte – natürliche und künstlich geschaffene – Aufnahmeorgane sich herausbilden, die Dinge, Formen, Zusammenhänge usw. wahrnehmen, welche für die unmittelbare Praxis des Alltagslebens unerreichbar wären. Wir denken dabei nicht nur an all die Instrumente des Erkennens, die mit der Entwicklung der ökonomischen Produktion, der Technik und der Natur­ wissenschaften entstanden sind, sondern auch an die Höherentwicklung der natürlichen Aufnahmeorgane des Menschen infolge der immer differenzier­ teren Ansprüche der Arbeit usw., infolge der befruchtenden Wechselbezie­ hungen zwischen den die Menschen fördernden Ergebnissen von Wissen­ schaft und Kunst, von Arbeit und Alltagspraxis. Die Differenzierung, die die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung hervorbringt, isoliert also nicht die einzelnen Verhaltensweisen voneinander; im Gegenteil: je stärker 37


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die Spezialisierung ist, desto stärker kann, wenn die gesellschaftliche Struktur nicht störend eingreift, wie z. B. in der kapitalistischen Arbeitsteilung, die fruchtbare Wechselbeziehung, die sich gegenseitig fördernde Wirkung dieser Verhaltensweisen aufeinander sein. Der materialistische Bruch mit der idealistischen Philosophie kommt gerade in diesem Festhalten an der Priorität der gemeinsamen objektiven Wirklichkeit zur Geltung. Der subjektive Idealismus lässt stets aus den soge­ nannten Aprioritäten des jeweiligen Verhaltens zur Wirklichkeit ganz eigene, untereinander unvergleichliche »Welten« entstehen; so besonders prägnant bei Simmel. Die dialektische Auffassung innerhalb des Materialismus besteht also einerseits im Geltendmachen dieser inhaltlichen wie formellen Einheit der widergespiegelten Welt, andererseits jedoch betont diese Auffassung den nicht mechanischen, nicht photographiehaften Charakter der Widerspiege­ lung, die Aktivität, die dem Subjekt in der Form von gesellschaftlich beding­ ten, von der Entwicklung der Produktivkräfte hervorgebrachten, durch Änderungen der Produktionsverhältnisse modifizierten Fragestellungen und Problemen im konkreten Ausbau der Welt der Widerspiegelung zukommt. Erst in diesem Zusammenhang kann die Eigenart der ästhetischen Wider­ spiegelung richtig erfasst werden. Es handelt sich bei der Gemeinsamkeit von Inhalt und Form auch um die der Kategorien Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit. Und zwar nicht nur in ihrer Zusammengehörigkeit, nicht nur in ihrer Reihenfolge, sondern – ganz allgemein gesprochen – auch darin, dass diese Kategorien objektiv in einer ständigen dialektischen Wechselbeziehung zueinander stehen, ständig ineinander umschlagen; subjektiv darin, dass die ununterbrochene Bewegung im Prozess der Widerspiegelung der Wirk­ lichkeit von einem Extrem zum anderen führt. Innerhalb dieser letzteren Bewegung gelangt nun die Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung zum Ausdruck. Während nämlich beim theoretischen Erkennen diese Bewegung in beiden Richtungen wirklich von einem Extrem zum anderen geht und die Mitte, die Besonderheit, in beiden Fällen eine Vermittlungsrolle spielt, wird in der künstlerischen Widerspiegelung die Mitte wörtlich zur Mitte, zum Sammelpunkt, wo die Bewegungen sich zentrieren. Es gibt dabei also sowohl eine Bewegung von der Besonderheit zur Allgemeinheit (und zurück), wie von der Besonderheit zur Einzelheit (und ebenfalls zurück), wobei in beiden Fällen die Bewegung zur Besonderheit die abschließende ist. Die ästheti­ sche Widerspiegelung will, ebenso wie die erkenntnismäßige, die Totalität der Wirklichkeit in ihrem entfalteten inhaltlichen und formellen Reichtum erfassen, aufdecken und mit ihren spezifischen Mitteln reproduzieren. Indem 38


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sie nun in der eben skizzierten Weise den subjektiven Gang entschieden ver­ ändert, bringt sie im Spiegelbild der Welt qualitative Veränderungen hervor. Die Besonderheit erhält eine nunmehr unaufhebbare Fixierung: auf ihr baut sich die Formenwelt der Kunstwerke auf. Das gegenseitige Umschlagen und Ineinanderübergehen der Kategorien ändert sich: sowohl Einzelheit als auch Allgemeinheit erscheinen stets als in der Besonderheit aufgehoben. Hier muss freilich wieder eine Einschränkung bezüglich der Einheitlich­ keit aller Widerspiegelungsarten betont werden: die Tendenz, die wir bei der Analyse der Erkenntnis hervorgehoben haben, dass nämlich der Prozess die Grenzen der Allgemeinheit und auch der Einzelheit immer weiter treibt, ist auch in der ästhetischen Widerspiegelung wirksam. Es gäbe keine Geschichte der Künste, wenn mit der Veränderung des Lebens nicht ein Weiterhinaus-­ Schieben der Grenzen der erkannten Welt, ein Weiterentwickeln der Ins­ trumente, die sie erkennbar machen, auch in der Kunst stattfinden würde. Während jedoch in der erkenntnismäßigen Widerspiegelung hier eine kon­ tinuierliche und immer wieder fortsetzbare Entwicklung einsetzt, fixiert das Aufheben der Allgemeinheit und Einzelheit in die Besonderheit (letzten Endes ohne Reziprozität, obwohl im Vorbereitungsprozess der Gestaltung dies selbstverständlich möglich und notwendig ist) die jeweilige Stufe der Menschheitsentwicklung für das menschliche Bewusstsein. Eine Höher­ entwicklung ist selbstredend an sich möglich und notwendig. Jedoch eine wirkliche künstlerische Gestaltung, die optimal herausgearbeitete, gestaltete Besonderheit einer Entwicklungsetappe bewahrt ihre – künstlerische – Gel­ tung, auch wenn ihre sämtlichen Aufbauelemente in der Formgebung und Technik der Kunst evolutionär längst überholt sind. Der Prozess der Annä­ herung erhält hier eine spezifische Betonung: die höhere Etappe muss nicht immer unmittelbar die vorangegangene fortsetzen, wie dies der Regel nach in der Wissenschaft der Fall ist, sondern fängt – bei Ausnutzung aller in den Werken, in den Schaffensprozessen akkumulierten Erfahrungen – in einem bestimmten Sinne jedesmal von vorne an. Diese Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit wird von der philosophischen Reaktion dazu benutzt, die Kunst irrationalistisch zu mystifizieren. Unsere Betrach­ tungen zeigen, dass jede spezifische Eigenart der Produktion und der Exis­ tenz der Kunst aus dem Widerspiegelungsprozess völlig rational – freilich dialektisch rational – abgeleitet werden kann. Was nun die Aufhebung der beiden Extreme der Allgemeinheit und der Einzelheit in die Besonderheit betrifft, so zeigt die richtig aufgefasste Theorie der Widerspiegelung wieder, wie grundlegend falsch alle irrationalistischen, 39


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vernunftfeindlichen Theorien der Kunst sind. Vor allem bedeutet dieses Auf­ heben nie ein Verschwinden, sondern stets auch ein Aufbewahren. Dies muss vor allem hinsichtlich der Rolle, die die Allgemeinheit in der ästhetischen Widerspiegelung spielt, besonders unterstrichen werden. Jede bedeutende Kunst setzt sich mit allen großen Problemen ihrer Epoche intensiv ausei­ nander; erst in Perioden der Dekadenz entsteht ein Ausweichen vor diesen Fragen, das sich teils als Fehlen der wirklichen Allgemeinheit in den Werken, teils als das nackte Aussprechen künstlerisch unaufgehobener – inhaltlich falscher und verzerrter – Allgemeinheiten äußert. Freilich – und das führt über den Rahmen unserer jetzigen Betrach­ tungen hinaus –: dieses Aufheben der Allgemeinheit in die künstlerische Besonderheit hat, je nach Periode, Genre, Künstlerindividualität, die aller­ verschiedensten Formen. Es kann lyrisch die Form der pathetischen subjek­ tiven Erlebtheit erhalten, kann andererseits, wie im Drama, objektivierend in Gestalten und Situationen vollständig aufgesogen sein usw. Sicher ist bloß, dass die tiefste Quelle einer solchen künstlerischen Verallgemeine­ rung letzten Endes die objektive Verallgemeinerung des Lebens selbst, der konkreten Lebenserscheinungen ist. Natürlich spielt bei vielen bedeuten­ den Künstlern die Hilfe, die sie von seiten der Wissenschaft und Philoso­ phie erhalten, eine wichtige Rolle. Sie ist aber nur dann wirklich fruchtbar, wenn sie nicht als fertige, als fertig zu verwendende Theorie erscheint, son­ dern als ein Instrument, die Phänomene des Lebens tiefer, reicher, vielsei­ tiger zu erfassen. Dobroljubow, dem wohl niemand vorwerfen kann, dass er die Autonomie der Kunst überschätze, sagt darüber: »Die Wahrhei­ ten, die die Philosophen nur in der Theorie vorausahnten, vermochten die genialen Schriftsteller im Leben zu erfassen und in der Auswirkung dar­ zustellen. Als vollkommenste Vertreter der höchsten Stufe des menschli­ chen Bewußtseins in einer bestimmten Epoche überblickten und schilder­ ten sie uns von dieser Höhe aus das Leben der Menschen und der Natur … Übrigens geht das gewöhnlich nicht so vor sich, daß der Literat dem Philo­ sophen die Ideen entlehnt und sie dann in seinen Werken durchführt. Nein, beide handeln selbständig, beide gehen von demselben Urquell, dem wirkli­ chen Leben aus, nur nehmen sie die Sache in verschiedener Weise in Angriff.«1 Das bedeutet, dass die hohe Kunst an Ideengehalt sehr wohl das progressivste, das am entschiedensten in die Zukunft weisende Niveau erreichen kann, ohne etwas von ihrer künstlerischen Eigenart und Selbständigkeit einzubüßen. 1 Dobroljubow: Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 617/18.

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Die Beziehung der Besonderheit zur Einzelheit ist ein ewiger Prozess der Aufhebung, in gewissem Sinne mit noch stärkerer Betonung des Moments der Aufbewahrung. Engels streift diese Frage in seiner brieflichen Kritik an Minna Kautsky: »Jeder ist ein Typus, aber auch zugleich ein bestimmter Einzel­ mensch, ein ›Dieser‹, wie der alte Hegel sich ausdrückt, und so muß es sein.«2 Die Notwendigkeit dieser Forderung, die Einzelheit im Besonderen aufhe­ bend aufzubewahren, ist eigentlich in unseren obigen Erörterungen bereits enthalten: soll irgendeine Erscheinung, welche auch immer, als Erscheinung das ihr zugrunde liegende Wesen unmittelbar ausdrücken, so ist dies ohne Bewahrung der Einzelheit unmöglich. Es erscheint uns aber trotzdem als unerlässlich, den aufgehobenen Charakter dieser Einzelheiten etwas näher zu beleuchten. Denn es ist fraglos, dass sowohl die ständig wechselnden als auch die durchgehenden Züge der Einzelheit einerseits in ihrer Unmittelbar­ keit gleichwertig sind, andererseits jedoch zu den ihnen zugrunde liegenden Vermittlungen, wodurch jede Einzelheit zur Besonderheit und Allgemein­ heit in Beziehung steht, sich außerordentlich verschieden verhalten. Soll das Einzelne also in seiner Wahrheit zum Ausdruck kommen, so müssen diese oft sehr verzweigten Vermittlungen zu ihrem Recht gelangen, nach ihrem inneren Gewicht zur Geltung kommen. Eine solche Strukturverschiebung innerhalb der Einzelheit bedeutet aber zugleich ihre Aufhebung, ihr Erheben ins Beson­ dere (Bestimmte, Typische). Je größer die Menschen- und Weltkenntnis des Künstlers ist, je mehr solcher Vermittlungen er entdeckt und, wenn nötig, bis zur äußersten Allgemeinheit verfolgt, desto energischer ist diese Aufhebung. Je größer seine Gestaltungskraft ist, desto sinnfälliger wird er die aufgedeck­ ten Vermittlungen in eine neue Unmittelbarkeit zurückführen, sie in diese organisch zentrieren: aus der Einzelheit ein Besonderes formen. Auch hier zeigt die Entwicklung der Kunst, dass die in diesen Zusam­ menhängen erforderte richtige Dialektik historisch sehr verschiedenartig zur Geltung kommt. Schon Aristoteles stellt eine Entwicklung von den Jamben­ dichtern zur Komödie fest, die sich darin äußert, dass nicht mehr einzelne Menschen, sondern typische Eigenschaften zum Gegenstand der Satire wer­ den. Dieser Begriff der Einzelheit – unter der aristotelischen Terminologie der »Namensgebung«, der Individualitäten aus Mythos, Sage, Geschichte usw. – spielt noch in der »Hamburgischen Dramaturgie« eine große Rolle. Es kommt dabei ästhetisch selbstredend nicht auf die Bezeichnung an: es ist eine 2 Engels an Minna Kautsky, 26. 11. 1885, Lifschitz: Marx und Engels über Literatur und Kunst, Berlin 1948, S. 102.

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satirische Gestaltung eines bestimmten Individuums mit allen Zügen seiner Einzelheit durchaus möglich, bei welcher Gestaltung doch die Aufhebung der Einzelheit ins Besondere (Typische) vollbracht wird, und die typische Bezeichnung garantiert an sich selbst keineswegs eine wirkliche Aufhebung in die Besonderheit. Entscheidend ist auch hier die Bewegung im Gehalt des Einzelnen, ob nämlich jene Bestimmungen, die es durch objektive Wechsel­ beziehungen mit der Welt, mit der Gesellschaft verbinden, bei Bewahrung dieses Vermittlungscharakters in die neue Besonderheit zurückgenommen, in sie aufgehoben werden. Wieder sind es die Zeiten der Dekadenz, in denen diese reichere Determiniertheit der Individualität verlorengeht. Theorie und Praxis der Dekadenz betonen freilich immer die Einzelheit, die als Einzig­ artigkeit, Unwiederholbarkeit, Unauflösbarkeit usw. fetischisiert wird. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch darum, dass die Organe der Widerspie­ gelung der Wirklichkeit nach Gorkis Worten ihres »sozialen Amalgams« ver­ lustig geworden sind und darum die bloß unmittelbare Einzelheit überbe­ tonen, weil die betreffenden Künstler die Fähigkeit verloren haben, darüber hinauszugreifen und zu wahrer Konkretheit zu gelangen. Guy de Maupassant erzählt sehr interessant, wie Flaubert ihn zum Schrift­­ steller erzogen hat. Der Meister sagte unter anderem: »Es kommt darauf an, das, was man ausdrücken will, lange genug, genügend aufmerksam zu betrachten, um einen Aspekt zu entdecken, den noch niemand gesehen und ausgesprochen hat … Um eine Flamme, um einen Baum in einer Ebene zu beschreiben, müssen wir diese Flamme, diesen Baum so lange beobachten, bis sie für uns keiner anderen Flamme, keinem anderen Baum mehr gleichen … Man muß, mit einem Wort, aufzeigen, worin ein Fiakerpferd den fünfzig andern, die ihm vorangehen oder folgen, nicht gleicht.«1 Diese Betrachtun­ gen sind in doppelter Hinsicht interessant. Erstens zeigen sie, dass selbst bei bedeutenden und denkenden Künstlern die Theorie oft weit hinter der Praxis zurückbleibt. Hätte Flaubert wirklich so geschrieben, hätte Maupas­ sant nur das von ihm gelernt, so wären beide längst vergessene Naturalisten. Abgesehen davon, sind aber – zweitens – diese Betrachtungen interessant, weil sie zeigen, in welche Sackgasse die Ästhetik durch das Überbetonen der Einzelheit geführt wird. Denn es ist klar, dass Flaubert von der Origi­ nalität des Schriftstellers gerade fordert, die unmittelbare Einzelheit isoliert unter die Lupe zu nehmen. Ihre Verbindung und Wechselwirkung mit der Umwelt (Gesellschaft und Natur) sollen verschwinden, damit das spezifisch 1

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G. de Maupassant: Études sur le roman, Œuvres complets, Paris 1935, X, S. 281/82.


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Bezeichnende an der isolierten Einzelheit gewonnen werden kann. Dies ist einerseits eine Sisyphusarbeit, weil beim Erreichen des Zieles jedes künst­ lerische Interesse vernichtet wäre. Ein Baum oder ein Droschkengaul (und auch ein Mensch) wird nur in seinen Wechselwirkungen mit seiner Umge­ bung des Interesses wert. Die artistische Leistung hebt sich jedoch in der Literatur andererseits von selbst auf; Hegel hat darin durchaus recht, dass das einfachste Wort bereits eine Verallgemeinerung in bezug auf den ein­ zelnen Gegenstand in sich birgt: es subsumiert ihn wenigstens unter eine Vorstellung, stellt Beziehungen her usw. Der energische Vorstoß Flauberts in Richtung der Einzelheit zeigt also – im Gegensatz zu seinen Intentionen –, dass die Kunst die Einzelheit freilich niemals entbehren kann, dass sie um ihr Erfassen ununterbrochen ringen muss, dass sie sie aber nur in der Form des Aufgehobenseins ins Besondere wirklich ihr eigen nennen darf. Was nun die Besonderheit selbst betrifft, so müssen wir daran denken, dass die beiden Extreme (Allgemeinheit und Einzelheit) immer weiter hin­ ausschiebbare Punkte, aber in einem bestimmten Augenblick doch Punkte sind, während das Besondere als Mitte mehr eine Zwischenstrecke, ein Spiel­ raum, ein Feld ist. Das muss sich in der ästhetischen Widerspiegelung, wo die Mitte sich als Mittelpunkt der Bewegung fixiert, radikal ändern. Damit scheint jedoch für die Theorie der ästhetischen Widerspiegelung eine unlös­ bare Schwierigkeit aufzutauchen: nämlich die Stelle dieses Mittelpunktes genau zu bestimmen. Das erscheint, wenn wir an die Struktur der theoreti­ schen Widerspiegelung denken, von vorneherein als eine unlösbare Aufgabe, denn jede Wahl muss – vom Standpunkt der ästhetischen Widerspiegelung im allgemeinen aus gesehen – als willkürlich erscheinen; es ist kein allgemein­ gültiges Kriterium denkbar, das hier eine Entscheidung zuließe. Diese Schwierigkeit musste deshalb energisch hervorgehoben werden, damit die Trennung zwischen theoretischer und ästhetischer Widerspiegelung klar ins Licht gesetzt werde. Tatsächlich gibt es kein theoretisches Kriterium, und das künstlerische umfasst (abstrakt angesehen) den ganzen Spielraum des Besonderen; das Fixieren des Mittelpunkts kann, allgemein gesprochen, innerhalb dieses Spielraums an sich wo auch immer stattfinden. Es sieht nun vielleicht so aus, als ob dadurch die Schwierigkeit nur umgangen, ja ins Irra­ tionalistische und Willkürliche verschoben, keineswegs jedoch befriedigend gelöst wäre. Und tatsächlich: im Umkreis unserer jetzigen Betrachtungen, die nichts als eine gewissermaßen erkenntnistheoretische Analyse der ästhetischen Widerspiegelung zu geben beanspruchen, kann kein konkretes Kriterium auf­ gefunden werden. Damit wird aber weder eine Irrationalität noch eine Willkür 43


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gefordert, und die Notwendigkeit dieser rein abstrakten Bestimmung, gepaart mit einer vorläufig vollständigen Urteilsenthaltung im Konkreten, muss ihr Recht und ihre Fruchtbarkeit für die Ästhetik noch eigens beweisen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass nur die dialektische Wider­ spiegelungslehre die Objektivität des ästhetischen Widerscheins der Wirk­ lichkeit begründen kann, ohne ein hierarchisches Verhältnis der Unterord­ nung dem Theoretischen gegenüber zu statuieren, also ohne aus der Kunst ein unvollkommenes Wissen, ein Vorbereitungsstadium der Erkenntnis zu machen. Die soeben aufgetauchte scheinbare Schwierigkeit, einen orga­ nisierenden Mittelpunkt im Besonderen für die Bewegung der Widerspie­ gelung der Wirklichkeit annehmen zu müssen, ohne diesen bestimmen zu können, ist die erkenntnistheoretische Begründung für die Vielfältig­ keit der ästhetisch gestaltbaren Welt, für die Vielfältigkeit der Künste, der Genres, der Stile usw. Die Erkenntnistheorie der Ästhetik muss sich aber damit begnügen, die eigene Kompetenz, hier ein jeweilig konkretes Krite­ rium zu finden, abzulehnen. Sie stellt freilich damit gleichzeitig fest, dass bei der generell aufgestellten Relativität des Besonderen, sowohl in bezug auf das Allgemeine wie auf das Einzelne, diese Relativität an sich von jedem Punkt aus zur Geltung kommen kann; das heißt: das Feld der Besonderheit ober- beziehungsweise unterhalb des gewählten Mittelpunktes kann, von dort aus gesehen, widerspruchslos ins Allgemeine, beziehungsweise ins Einzelne umschlagen oder, besser gesagt, den Weg zur Allgemeinheit bzw. zur Einzelheit ausmachen. Es wäre schlechter als oberflächlich, hier bloß formelle Kombinations­ möglichkeiten zu erblicken. Obwohl wir jetzt die Frage notwendigerweise in erkenntnistheoretischer Abstraktheit behandeln, muss es klar sein, dass ihr wirklicher Inhalt die Stellung des Kunstwerks zur Wirklichkeit ist, die Art, die Breite, Tiefe usw., mit welcher ein Kunstwerk eine Wirklichkeit sui generis zur Anschauung bringt. Gerade jene, die die Kunstwerke nicht formalistisch, sondern vom Standpunkt des Lebens betrachten, müssen einsehen: eben hier, in der Wahl des Mittelpunkts im Feld der Besonderheit, entscheiden sich die wichtigsten Fragen des Ideengehalts wie der wirklichen Gestaltung. Dass also aus dem allgemeinsten, abstraktesten Prinzip der Widerspiegelungslehre unmittelbar keinerlei ästhetische Prinzipien deduzierbar sind, ist nur vom Standpunkt eines Dogmatismus, der strikte und formal ableitbare Regeln vorschreiben will, ein Nachteil. Die historische Tatsache der Vielfältigkeit der Künste oder innerhalb einer Kunst der Stile usw. erhält gerade dadurch – und vor allem dadurch – eine erkenntnistheoretische Begründung. 44


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Es liegt naturgemäß außerhalb des Rahmens dieser Betrachtungen, die eben angedeutete Vielfältigkeit auch nur skizzenhaft systematisieren zu wol­ len. Das ist die Aufgabe der konkreteren Teile der Ästhetik des Systems der Künste, der ästhetischen Analyse der Stile usw. Hier sind nur einige – bei­ spielhaft illustrierende – Andeutungen möglich, die den rein prinzipiellen Zusammenhang beleuchten sollen. Man denke an den Unterschied von Drama einerseits und Epik (insbesondere in ihren modernen romanhaften Formen) andererseits. Es ist ohne weiteres evident, dass das Drama seine Gestalten und Situationen weit allgemeiner fasst als die Epik; dass Züge der Einzelheit in ihm weitaus spärlicher, weitaus weniger detailliert auftreten; jedes individuelle Detail hat im Drama einen symbolisch-symptomatischen Akzent, den es in der Epik nur in weitaus geringerem Ausmaße besitzen kann und darf. Und es ist ebenfalls evident, dass es sich dabei keineswegs um irgendwelche »Mängel« eines dieser Genres handelt. Natürlich gab es immer wieder Dogmatiker, die solche Anschauungen vertraten. Bei näherer Betrachtung zeigt es sich jedoch, dass in solchen Fällen entweder naturalis­ tische Ansprüche an das Drama oder formalistische an die Erzählungskunst gestellt wurden; dass dabei nicht eine ästhetische Ergründung oder Vertie­ fung des Wesens von Dramatik oder Epik stattfand, sondern Tendenzen zur Erstarrung oder Auflösung ihrer spezifischen Formen wirksam wurden. Das bedeutet, kurz gefasst, dass das Drama generell die Tendenz hat, jenen Mittel­ punkt der Kristallisation im Besondern näher zur Allgemeinheit zu bestim­ men, während ein solcher Mittelpunkt für die Epik mehr in die Richtung der Einzelheit verschoben scheint. Einen ähnlichen Unterschied kann man ebenfalls zwischen klassischer Novelle und Roman feststellen, indem jene ihr Wirklichkeitsbild mit einer gewissen Ähnlichkeit zum Drama in der Richtung der größeren Verallgemeinerung zu konzentrieren pflegt. Selbstredend ist die hier angedeutete Differenzierung noch außerordent­ lich abstrakt. Sie zeigt höchstens eine tendenzielle Bewegungsrichtung inner­ halb des Spielraums der Besonderheit an, ohne jedoch bereits ein Kriterium für die Stelle des Mittelpunkts angeben zu können. Und in der Tat, wenn wir etwa das Drama Shakespeares mit dem Racines, die griechische Tragödie mit dem modernen bürgerlichen Drama vergleichen, finden wir – innerhalb der von der Genretheorie festgestellten allgemeinen Differenz der Bewegungsrichtungen – ebenfalls divergierende Tendenzen: Racine schiebt seinen Zentralisierungs­ punkt viel näher zum Allgemeinen als Shakespeare, das moderne bürgerliche Drama rückt ihn dagegen energisch der Einzelheit zu. Jedoch auch mit die­ ser Feststellung befinden wir uns noch in einer zu stark generalisierenden 45


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Entfernung von der wirklichen Konkretheit der Kunstwerke. Denn die obi­ gen Feststellungen sind auch nur – gesellschaftlich-geschichtlich bedingte – Tendenzen; derselbe Schriftsteller im selben Genre kann diesen Mittelpunkt – nunmehr nicht nur innerhalb des Spielraums im Allgemeinen, sondern auch innerhalb von allgemeinhistorischen Tendenzen und innerhalb seiner indi­ viduellen Eigenart in der Handhabung eines Genres – in seinen einzelnen Werken verschieden bestimmen; es genügt, wenn man etwa Goethes »Iphi­ genie« mit seiner »Natürlichen Tochter« – um so grelle Kontraste wie den »Götz von Berlichingen« gar nicht erst anzuführen – vergleicht. Wir haben also eine Reihe: allgemeine Gesetzlichkeit der Ästhetik überhaupt, konkret besondere Gesetze des Genres, historische Differenzierung in der Entwick­ lung des Genres, individuelle Gestaltung der einzelnen Kunstwerke, vor uns, und erst auf der letzten Stufe kann die konkrete Bestimmung des Mittelpunkts erfolgen. Damit ist aber kein individualisierender Relativismus statuiert. Denn die von uns aufgestellte, keineswegs vollständige, nur die prinzipiellen Etap­ pen aufzeigende Reihe ist wirklich eine Reihe, indem sie die immer genauer und konkreter wirksamen Bestimmungen anzeigt, die erst im individuellen Kunstwerk ihren wirklichen Abschluss finden können, soll die Ästhetik nicht in ein Pseudosystem von abstrakten Vorschriften und mechanischen Regeln entarten. Sie ist aber eine wirkliche Reihe auch in der Hinsicht, dass in ihr dieselben Dominanten wirksam sind, nicht um sich im Gegensatz zu den vorhergehenden abstrakteren, sondern um sich in ihrer Konkretisierung im individuellen Kunstwerk wirklich zu erfüllen. Hier ist eine alte Vexierfrage der Ästhetik aufgeworfen: die – scheinbare – Unvereinbarkeit dessen, dass jedes wirkliche Kunstwerk etwas Einzigartiges, Unvergleichliches, Individu­ elles ist und zugleich nur in Erfüllung seiner inneren Gesetzlichkeit, die ein Moment der allgemeinen ästhetischen Gesetzlichkeit ist, zum echten Kunst­ werk werden kann. Obwohl die Frage eine sehr alte ist, erhielt sie erst bei Kant jene Fassung, die für die spätere bürgerliche Kunsttheorie bedeutsam wurde. Kant führt aus: »Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als mög­ lich vorgestellt wird. Der Begriff der schönen Kunst gestattet aber nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgendeiner Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrund habe, mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zugrunde lege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regeln ausdenken, nach der sie ihr Produkt zustande brin­ gen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch Bestimmung 46


Georg Lukács: Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik

der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. h. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.«1 Man muss hier das berechtigte Moment in Kants Fragestellung von der irrationalisierenden Tendenz, die bei ihm auch hier infolge seines Schwankens zwischen metaphysischem und dialektischem Denken entsteht, unterscheiden. Das Irrationalisieren ist in seiner uns bereits bekannten Lehre, dass die Urteile über Schönheit außerhalb der Welt des Begriffes stünden, enthalten. Wenn er also die Natur »der Kunst die Regel geben« lässt, was nur die Folge der Auffassung der Kunst als Werk des Genies ist, löst er die metaphysisch unlösbare Frage durch eine ins Irrationale schil­ lernde Scheinantwort auf. Weiter ist auch die moderne bürgerliche Ästhetik nie gekommen; man denke an Croce oder Simmel. Trotz alledem ist in der Fragestellung Kants bezüglich des Verhältnis­ ses von ästhetischer Gesetzlichkeit und einzelnem Kunstwerk ein wirk­ liches Problem verborgen. Freilich versperrt sich Kant auch dadurch den Weg zu einer vernünftigen Lösung, dass er die ästhetische Gesetzlichkeit als »Regel« bestimmt, worin nicht nur sein metaphysisches Denken zum Aus­ druck kommt, sondern auch eine gewisse kunsttheoretische Befangenheit in den höfisch-feudalen Lehren des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Problem der Erfüllung der ästhetischen Gesetze durch die Kunstwerke bleibt dennoch ein reales Problem, weil jede solche Erfüllung, wenn sie wirklich eine ist, nur dadurch erreicht werden kann, dass das Gesetz in seiner Erfüllung neu­ geboren, erweitert, konkretisiert wird; eine einfache »Anwendung« ästheti­ scher Gesetze auf die Kunst würde das Zerstören des ästhetischen Wesens der Werke bedeuten. Über diese Frage selbst können wir nur in anderen Zusam­ menhängen, auf einer konkreteren Stufe unserer ästhetischen Erkenntnisse sprechen. Immerhin bezeichnet der soeben angedeutete Weg den methodo­ logischen Zugang zur Lösung. Auch hier gilt – gegen jeden Irrationalismus, der methodologisch stets ein abstraktes Gesetz mit der »Einzigartigkeit« des Individuellen unvermittelt kontrastiert – das Wort von Marx, das er gerade in bezug auf die Erkenntnis der Kunstentwicklung aussprach: »Die Schwierig­ keit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt.«2 Der Ausdruck »Spezifizieren« ist hier gerade in seinem Gegensatz zur Allgemeinheit sehr wichtig. Er zeigt an, dass die von uns angedeutete Konkretisierung nicht vom abstrakt All­ gemeinen (Regel) zum rein und darum unbestimmbar Einzelnen (Genie) 1 2

Kant: Kritik der Urteilskraft, § 46. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 30.

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gehen darf, dass wir vielmehr die ständige Konkretisierung der Besonder­ heit mit möglichst vielen konkreten Vermittlungen uns als Ziel zu setzen haben. Der historische Materialismus gibt auch für die theoretisch-ästheti­ sche Betrachtungsweise eine solche Methode, auf deren Grundlage, in deren Anwendung diese Probleme behandelt werden können und müssen. So kompliziert diese Probleme auf den ersten Anblick auch erscheinen mögen, es liegt ihnen doch eine vereinfachende Abstraktion zugrunde, die ebenfalls ins Konkrete hinübergeleitet werden muss, wenn wir die Bedeutung der Besonderheit als zentrale, sozusagen als »Gebietskategorie« der Ästhetik richtig verstehen wollen. Es war zum Verständnis des entscheidenden Unter­ schiedes zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Widerspiegelung not­ wendig, zu betonen, dass das Besondere, das in jener als vermittelndes »Feld« figuriert, in dieser zum organisierenden Mittelpunkt werden muss. Dieser Gegensatz beleuchtet tatsächlich auch in seiner ersten, schroff abstrakten Formulierung den fundamentalen Unterschied. Er ist jedoch für die Ästhe­ tik eine nur vorläufige, zum wahren Verständnis nur überleitende, also eine vorbereitende Abstraktion, um die Besonderheit als organisierenden Mittel­ punkt richtig zu fassen. Genauer betrachtet, handelt es sich jedoch weniger um einen Punkt im strikten Sinne als vielmehr um den Mittelpunkt eines Bewegungsspielraums. Damit werden unsere früheren Betrachtungen nicht in ihrem Kern modifi­ ziert, denn nach wie vor bleibt es dabei, dass die Gestaltungsart eines Werkes davon abhängt, wo dieser Mittelpunkt im Verhältnis zu Allgemeinheit und Einzelheit gewählt wird. Die konkretisierende Modifikation, die jetzt ein­ geführt wird, besteht bloß darin, dass das die künstlerische Eigenart bestim­ mende Wählen eines solchen Zentrums zugleich eine Bewegung um dieses Zentrum herum im Bereich des Besonderen beinhaltet. Diese Feststellung spricht nun eine allgemein bekannte und anerkannte ästhetische Tatsache aus, nämlich die, dass Stil, Ton, Stimmung usw. eines Werkes im künstleri­ schen Sinne durchaus einheitlich bleiben können, auch wenn innerhalb dieser Einheit ein gewaltiges Auf und Ab herrscht, wenn bestimmte Momente des Werkes mehr als andere sich der Allgemeinheit, andere wieder sich mehr der Einzelheit annähern, allerdings unter der Bedingung, dass diese Bewegungen sich innerhalb derselben Sphäre der Besonderheit vollziehen, dass sie alle ideell und formell streng aufeinander bezogen sind. Um naheliegende Missverständnisse zu vermeiden, sei hier betont, dass mit dieser unserer Bestimmung keineswegs die Systeme der Bewegungen innerhalb eines Kunstwerks erschöpfend charakterisiert werden sollen. Im 48


Georg Lukács: Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik

Gegenteil. Wir sprechen hier ausschließlich von den Bewegungen innerhalb der Besonderheit, und zwar sowohl in der Richtung auf die Allgemeinheit, wie in der auf die Einzelheit hin. Die sehr wichtige Bewegung der Leiden­ schaften etwa in einem Dichtwerk, ihr oft tumultuarisches Auf und Ab gehört ebensowenig in den Kreis unserer jetzigen Betrachtungen wie die – damit eng zusammenhängenden – Spannungen der Bewegtheit bei Michelangelo. Sol­ che können sich durchaus auf demselben Niveau der Besonderheit befinden, sie müssen es freilich nicht. Man braucht nicht allzu weit zu suchen, um diese abstrakten Feststellun­ gen durch die Praxis der Kunst bestätigt zu finden. Es wäre aber oberflächlich, wenn wir den hier bestimmten, mehr oder weniger großen Spielraum der Bewegung einfach damit identifizieren würden, dass eine größere Nähe des Mittelpunkts zur Allgemeinheit einen kleineren, eine geringere Annäherung, eine Neigung zur Einzelheit dagegen einen größeren Spielraum zur Folge hätte. Natürlich gibt es auch solche Fälle. Man denke nur an den erwähnten Gegensatz von Racine und Shakespeare. Aber Dante, dessen Nähe zur All­ gemeinheit niemand bestreiten wird, hat gestaltend einen der größten Bewe­ gungsspielräume der Weltliteratur umfasst, während ein sehr großer Teil der modernen realistischen Romane, die zumeist eher in der Richtung der Einzel­ heit als der Allgemeinheit ihren Mittelpunkt suchen, mit einem verhältnis­ mäßig weit geringeren Spielraum arbeitet. (Selbstredend gibt es auch hier wichtige Ausnahmen, wie Balzac und Dickens.) Dasselbe Bild erhalten wir, wenn wir auf der einen Seite an Tizian oder Breughel, auf der anderen an die Impressionisten denken. Auch hier wäre also ein jedes Schematisieren ebenso gefährlich und unzulässig wie in unseren früheren Analysen, wo der jetzt konkretisierte Mittelpunkt noch – mit einer vorbereitenden Abstraktion – als organisierende Mitte, als Punkt gefasst wurde. Die wesentliche, konkreti­ sierende gedankliche Annäherung an das Wesen der Kunst besteht darin, dass die künstlerische Organisation einer »Welt« nunmehr dynamisch als System von Bewegungen, als System ihrer Spannungen und Kontraste gefasst wird. Wie dieses Aufeinanderbezogensein der bewegten Elemente und Momente vor sich geht, ist natürlich auch hier gesellschaftlich-geschichtlich, genremä­ ßig und persönlich-künstlerisch bedingt. Die Theorie der Widerspiegelung kann und soll hier – um keinem Dogmatismus zu verfallen – nur die allerall­ gemeinste Struktur feststellen. Dazu ist natürlich zu bemerken, dass jeder dieser Spielräume, jedes die­ ser Bewegungsfelder in der ideell-künstlerischen Einheit des betreffenden Kunstwerks streng begründet sein muss. Ein noch so starkes Ausschwingen 49


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nach oben oder unten hat, wenn es sich um ein wirkliches Kunstwerk handelt, nichts mit einer offen ins Allgemeine strebenden Rhetorik oder mit einem naturalistischen Versinken ins Einzelne zu tun. Wenn etwa Dickens in einigen seiner Romane das gesellschaftliche »Oben« mit satirischen Verallgemeine­ rungen, das »Unten« mit liebevollem Eingehen auf kleine Details des Alltags­ lebens charakterisiert, wenn in einzelnen großen Kompositionen Tizians sich Einzelheiten finden, die – isoliert betrachtet – genremäßig wirken würden usw., so handelt es sich hier stets um eine weltanschaulich begründete weite Spanne der gestalteten Welt, deren Unterschiede und Gegensätze ideell und künstlerisch streng aufeinander bezogen sind, die gerade in solchen Kont­ rastwirkungen einander gegenseitig verstärken, die also den Inhalt der Werk­ einheit ausweiten, niemals aber diese durch Aufhebung ihrer spezifischen Besonderheit ins Allgemeine oder Einzelne gefährden. Dieser Spielraum kann, wie wir gesehen haben, größer oder kleiner sein. Eine gewisse Spanne ist aber auch in den am allerstrengsten auf einen Ton gestimmten Werken zu finden. Darum nannten wir unsere frühere PunktBestimmung eine vorbereitende, einführende Abstraktion. Denn auch in diesem Fall bilden die Formen der Widerspiegelung die höchsten Verallge­ meinerungen des widergespiegelten Inhalts. Auch wenn die Besonderheit eine andere Rolle im Kategoriensystem der ästhetischen Widerspiegelung spielt als in der wissenschaftlichen, so bewahrt sie dabei doch jenen ihren spezifischen Charakter, den wir in der Behandlung der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit festgestellt haben, nämlich: ein »Feld« der Vermittlung zwischen Allgemeinem und Einzelnem zu sein. Ihre Bedeutung und ihre Funktion hat sich, der Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung entsprechend, geändert, ihre wesentliche Stelle, ihre Struktur ist jedoch die gleiche geblieben. Auch darin äußert sich von einer neuen Seite die Grundtat­ sache der Widerspiegelungslehre, dass nämlich die wissenschaftliche und die ästhetische Reproduktion der Wirklichkeit Reproduktionen derselben objek­ tiven Wirklichkeit sind, dass demzufolge – bei allen notwendigen Modifikatio­ nen – die grundlegenden Strukturen einander irgendwie entsprechen müssen. Zu diesem Fragenkomplex gehört auch das Festhalten daran, dass einer­ seits die objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit alle drei Kate­ gorien (Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit) objektiv in sich enthält, dass also das Hinausgehen der Widerspiegelung über die unmittelbare Ein­ zelheit kein Verlassen der Objektivität, keine »Denkökonomie«, kein »souve­ ränes Schaffen« des erkennenden oder künstlerischen Ich ist, dass aber ande­ rerseits die Kategorien der Verallgemeinerung (also auch die Besonderheit) 50


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keine selbständige Gestalt in der Wirklichkeit selbst besitzen, sondern dieser vielmehr als notwendig wiederkehrende Bestimmungen innewohnen, dass also ihr Isolieren, ihr Aufbauschen zu Gestalten mit angeblich auf sich selbst beruhender Existenz eine – idealistische – Verfälschung des Wesens und der Struktur der objektiven Wirklichkeit ist. Dies hat schon Aristoteles in seiner Polemik gegen die Platonische Ideenlehre klar gesehen. Es fragt sich also: besteht bei unserer Auffassung von der zentralen Bedeutung der Besonderheit im System der ästhetischen Kategorien nicht die Gefahr, einer Abart des platonischen Idealismus zu verfallen? Wir glauben: gerade das Entgegengesetzte ist der Fall. Indessen kann eine kurze Beleuch­ tung dieses möglichen Missverständnisses dazu dienen, den spezifischen Charakter der ästhetischen Widerspiegelung deutlicher zu erhellen. Vor allem ist die selbständige Gestalt, in welcher die Besonderheit in der Kunst erscheint, kein Gedanke, der mit dem Anspruch auftritt, zugleich Gedanke (Idee) und echteste objektive Wirklichkeit zu sein, wie es in der Ideenlehre Platons, im mittelalterlichen Begriffsrealismus, beim »Weltgeist« Hegels der Fall ist. Die »selbständige Gestalt« der Besonderheit, das Kunstwerk, ist, im Gegenteil, erstens etwas vom Menschen Geschaffenes, das niemals den Anspruch erhebt, in dem Sinne, wie die objektive Realität wirklich ist, eine Wirklichkeit zu haben; zweitens steht uns das Kunstwerk allerdings als eine »Wirklichkeit« gegenüber, d. h. unsere Gedanken, Wünsche usw. vermögen an seinem Dasein und Sosein nichts zu ändern, wir müssen es hinnehmen, wie es ist, wir können es nur – subjektiv – bejahen oder ablehnen. Drittens jedoch ist die »Wirklichkeit« des Kunstwerks eine sinnliche; die Aufhebung der unmittelbaren Einzelheit in der künstlerischen Widerspiegelung ist – im Gegensatz zur wissenschaftlichen – immer zugleich eine Aufbewahrung, und zwar im wörtlichsten Sinne; die Besonderheit erhält der Einzelheit gegenüber ebensowenig eine selbständige Gestalt wie das Allgemeine in der objektiven Wirklichkeit selbst, sie ist in allen Erscheinungsformen der unmittelbaren Einzelheit manifest vorhanden, ist aber von diesen niemals abtrennbar. Das hat – viertens – zur Folge, dass die Erhebung jeder Einzelheit auf das Niveau des Besonderen nur durch eine Steigerung ihrer unmittelbaren Sinnfälligkeit erfolgen kann; nur dadurch kann das manifeste Innewohnen des Besonderen in jeder Einzelheit, sowie in ihrer Totalität, in ihrem System, im Werk sich verwirklichen, und nur so kann das Werk als Ganzes gerade die Besonderheit einer gestalteten »Welt« verkörpern und erlebbar machen. Die selbständige Gestalt des Werks ist also eine Widerspiegelung von wesentlichen Zusam­ menhängen und Erscheinungsformen der Wirklichkeit selbst. Das Werk kann 51


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gerade darum – und nur darum – als selbständige Gestalt vor uns stehen, weil es in dieser Hinsicht die Struktur der objektiven Wirklichkeit getreu wider­ spiegelt. Darin äußert sich ein diametraler Gegensatz zur Platonischen Ideen­ lehre, und Platon selbst war in seiner Ablehnung der Produkte der Kunst weitaus folgerichtiger als jene späteren Denker, wie Plotin oder Schelling, die Wahrheitsgehalt und Formsystem des Kunstwerks aus der Ideenwelt ableiten wollten. Die Wahrheit der künstlerischen Form kommt gerade in dieser ihrer antiplatonischen Tendenz am plastischsten zum Ausdruck. Hat der dialektische Materialismus die allerallgemeinste strukturelle Eigenschaft für die Theorie der Widerspiegelung auf dem Gebiet der Ästhe­ tik festgestellt, so kommt es darauf an, mit den Mitteln des historischen Materialismus den geschichtlichen Ablauf, die gesellschaftliche Bestimmt­ heit der Kunst konkret zu ergründen. Hier bestimmt nun dieselbe, aber sich ständig konkretisierende Methode vor allem die Notwendigkeit der Genres, deren Formen Fixierungen ganz allgemeiner und darum in ihren Hauptzü­ gen ständig wiederkehrender Beziehungen der Menschen zur Gesellschaft und, durch diese vermittelt, zur Natur ausdrücken. Sie unterliegen im Laufe der Geschichte großen Veränderungen, deren gesellschaftliche Ursachen und ästhetische Erscheinungsweisen festzustellen wieder die Aufgabe des histo­ rischen Materialismus ist. Wird die Frage so gestellt, so ist es klar, dass die individuelle Erforschung der einzelnen Kunstwerke nur die konkrete Weiter­ führung derselben Methode ist; dass die allgemeine (genremäßige und evo­ lutionäre) Forschung in keinem Gegensatz zur Analyse der einzelnen Werke steht, wie dies in der bürgerlichen Ästhetik so oft der Fall ist. Natürlich ist mit der Feststellung des im einzelnen Kunstwerk eingenommenen Mittel­ punktes, besser gesagt: des um ihn entstehenden Spielraums von aufeinander bezogenen Bewegungen innerhalb der Sphäre der Besonderheit, die ästheti­ sche Analyse keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil: sie setzt eigentlich erst hier ein. Das Aufzeigen der sich hier ergebenden Aufgaben und Prinzipien kann natürlich in diesem Zusammenhang nicht erfolgen. Wir können nur ganz kurz darauf hinweisen, dass es die Aufgabe der Ästhetik ist, in jedem konkreten Fall konkret zu untersuchen, ob die vom Künstler vollzogene Wahl des Mittelpunkts im Besonderen dem Ideengehalt, dem Stoff, dem Thema usw. des Werkes entspricht, ob vom Standpunkt ihres adäquaten Ausdrucks nicht zu hoch oder zu niedrig gegriffen worden ist. Mit dieser inhaltlichen Frage steht die Formfrage, die Beziehung zu den Gesetzen des betreffenden Genres in engstem Zusammenhang, wobei auch eine noch so kursorische Aufzäh­ lung der Hauptaufgaben nicht unerwähnt lassen darf, dass es sich nicht um 52


Georg Lukács: Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik

einen einfachen Vergleich »zeitloser« Gesetze, bezogen auf einzelne Kunst­ werke, handelt (wie in der dogmatischen Ästhetik), sondern um solche Fra­ gen, ob etwa das betreffende Kunstwerk eine berechtigte Erweiterung dieser Gesetze vollzogen hat usw. Und endlich muss noch am einzelnen Kunstwerk als solchem untersucht werden, wie die Auswahl des Mittelpunkts im ausge­ führten weiteren Sinne die ästhetische Verlebendigung der Komposition, der Gestalten, der Details usw. bestimmt und beeinflusst, wie die Konsequenz der Durchführung (eventuell ein scheinbares Abweichen von dieser Konse­ quenz) die ästhetische Einheit und Lebendigkeit fördert oder hemmt. Mit alledem haben wir uns von unserer eigentlichen Frage, die an sich nur die dialektisch-materialistische Untersuchung der spezifischen Züge der ästhetischen Widerspiegelung umfasst, etwas entfernt. Wir mussten aber die sich hier ergebenden Probleme wenigstens aufzählen, damit sichtbar werde, dass der scheinbar unbestimmbar gelassene Punkt und der ihn umgebende Spielraum in der Sphäre der Besonderheit kein Loch in der dialektisch-mate­ rialistischen Widerspiegelungstheorie ist, sondern, im Gegenteil, gerade der Anknüpfungspunkt für eine konkrete, aber eben undogmatische Analyse der Verzweigungen der Kunstpraxis in ihrer historischen Entfaltung bis zur ganz konkreten Ergründung des Gelingens oder Missratens eines einzelnen Werkes. Ohne ein solches Ineinandergreifen der dialektisch-materialistischen und historisch-materialistischen Methode sind so komplexe Fragen wie die der Ästhetik unlösbar. Unsere Betrachtungen mussten deshalb wenigstens das grobe Schema dieser Zusammenhänge andeuten. Dazu ist noch zu bemerken, dass wir hier die dialektisch-materialistische Untersuchung der ästhetischen Widerspiegelung erstens nur von einer, freilich höchst wichti­ gen, Seite beleuchtet, aber nicht den Versuch unternommen haben, sie zu erschöpfen, was die Aufgabe eines Systems der Ästhetik also auch vom Stand­ punkt des historischen Materialismus sein wird; dass wir zweitens auch in der Frage der Besonderheit als Kategorie der ästhetischen Widerspiegelung bisher nur das Problem aufgezeigt haben. Denn seine Konkretisierung auch auf dem Gebiet des dialektischen Materialismus muss weit über das von uns bisher Ausgeführte hinausgehen, muss nicht nur die Kategorien der ästhetischen Widerspiegelung aufdecken, sondern auch, von hier ausgehend, die allge­ meine Struktur der Kunstwerke und die Haupttypen des konkreten ästheti­ schen Verhaltens erhellen. Das ist die Aufgabe von weiteren Untersuchungen. 1967

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Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

Die Wirkung des Werks geht den entgegengesetzten Weg. Es ist natürlich auch hier unmöglich, das sehr komplizierte Bild der Rezeptivität analytisch zu zergliedern und seine verschiedenen Abstufungen, Niveauunterschiede etc. vom schlichten Aufnehmen des Werks bis zu den höheren Graden der ästhetischen Bewusstheit typologisch aufzuzeigen; auch dies gehört zum Aufgabenkreis des zweiten Teiles. Diese notgedrungen vorausgeschickten Bemerkungen müssen sich also auf die Wirkung des Werks im unmittelbars­ ten Sinne beschränken; nur um eventuelle Missverständnisse zu verhüten, sei schon hier, später zu Sagendes vorwegnehmend, festgestellt, dass die in der Rezeptivität entstehende ästhetische Bewusstheit auch einen begrifflichen Charakter hat: unmittelbar ein Reflektieren über Gründe und Voraussetzun­ gen der Notwendigkeit des ästhetischen Erlebnisses. Wesensart, Entwicklung etc. dieser Reflexionen können jedenfalls erst später dargelegt werden; soviel kann man aber schon jetzt über sie aussagen, dass in ihnen unmöglich die Identität selbst von Form und Inhalt im Werk ästhetisch reproduziert wer­ den kann, auch nicht der Weg zu ihr, wie er als Aufgabe des schöpferischen Prozesses erscheint, sondern bloß eine gedankliche, begriffliche Klärung des Verhältnisses von Form und Inhalt. Wenn also auf diesem Niveau von der Identität des Inhalts mit der Form die Rede ist, so ist ihre genuine Identität im Werk hier nur das Objekt der Reflexion; die reale Verwirklichung kann nur im gestalteten Werk selbst erfolgen. (Kritik als Kunst ist ein modernes Vorurteil.) In den folgenden Betrachtungen wird also nur von der schlicht unmittelbaren Wirkung des Werks die Rede sein. Alle Entwicklungen, die daraus folgen, alle Komplikationen, die sich dabei ergeben, müssen einer späteren Analyse überlassen werden. Mit dieser Einschränkung kann nunmehr wiederholt werden, dass die Wirkung des Werks den entgegengesetzten Weg geht wie der Schaffenspro­ zess: Dieser führt die ästhetisch gereinigten und ästhetisch homogen gemach­ ten Lebensinhalte zur Formvollendung, zur Identität von Inhalt und Form, zur Aufgipfelung des Inhalts in die konkrete Form des Werks; jene leitet mit Hilfe des das Formsystem unterbauenden und ermöglichenden homogenen Mediums den Rezeptiven in die Welt des Werks: die Form schlägt hier in 55


Ästhetik

Inhalt um. Will man diese einfachste und unmittelbarste Beziehung der Rezeptivität gedanklich richtig erfassen, so muss ihre doppelte Bestimmtheit festgehalten werden: einerseits der rein oder vorwiegend inhaltliche Cha­ rakter des Erlebnisses. Ob Dichtung oder Malerei, Architektur oder Musik: der Rezeptive wird in eine ihm neue und doch alsbald vertraute Welt ein­ geführt. Wenn dieses Vertrautwerden mit der Welt des Werks nicht zustande kommt, entsteht keine echt ästhetische Wirkung; das bloße Gefesseltsein, um Musils Ausdruck zu wiederholen, schafft eine überwiegend gedankliche Beziehung zum Inhalt – allerdings auch hier hauptsächlich zum Inhalt – und eine Bewunderung für die technische Vollendung; diese wird nur dann ästhe­ tisch, wenn sie aus dem Evoziertwerden des Inhalts bewusst herauswächst. An diesen vom Werk hervorgerufenen Erlebnissen einer neuen Welt kann man ästhetisch nicht vorbeigehen, und deren Hauptinhalt ist: die Aneignung eines bestimmten Inhalts. Andererseits kann dieses Erlebnis nur dann ästhe­ tisch werden, wenn es von den Formen des Kunstwerks evoziert wird. Die bloße Mitteilung eines wenn auch noch so stark gefühlsbeladenen Inhalts ohne eine solche vermittelnd-evozierende Rolle der Form bleibt ein Inhalt des Lebens, der natürlich, wie dort, Emotionen, Gedanken etc. erwecken kann, jedoch ohne die für das Ästhetische spezifische Gedoppeltheit: Diese ist ein Herausgehobensein aus dem Leben des Alltags, jedoch ohne dadurch den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren zu haben; das, was wir die Welt­ haftigkeit der Kunstwerke genannt haben, besteht gerade in einem solchen Konfrontieren des Rezeptiven mit dem Wesen der Wirklichkeit selbst, das eben deshalb unmöglich das unmittelbare Leben selbst sein kann, sondern »bloß« seine künstlerische Widerspiegelung. Wie im Schaffensprozess der Inhalt immer formgesättigter wird, bis er die Identität von Form und Inhalt als Werkstruktur verwirklicht, so ist jener Inhalt, jene »Welt«, die das Objekt des schlicht rezeptiven Erlebnisses bildet, von vornherein und bis in alle seine Poren hinein das Produkt jener besonderen Form, die den jeweiligen konkre­ ten Inhalt des Werks geprägt hat. Die Formbestimmtheit des dem Wesen nach inhaltlichen, »naiv«rezeptiven Erlebnisses erklärt sich aus jener Beschaffenheit der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, die bereits früher dargelegt wurde: aus der Eigenart des jeder Kunstart, jedem Kunstwerk zugrunde liegenden homoge­ nen Mediums und aus der damit unzertrennlich verbundenen, die Erlebnisse leitenden Funktion der künstlerischen Formung. Die verschiedenen homo­ genen Medien mögen nicht nur nach Kunstarten, sondern auch nach Persön­ lichkeiten der Künstler, sogar nach den Werkindividualitäten, geschaffen von 56


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demselben Künstler, noch so verschieden sein, sie haben doch den gemein­ samen Zug, dass sie den Rezeptiven in die besondere »Welt« des jeweiligen Werks versetzen – man denke an Formelemente wie Intonation, Exposition etc. – und ihn gerade durch ihre Homogenität, durch ihr Angelegtsein auf ein planvolles Leiten der evozierten Erlebnisse darin festhalten. Das Versagen der Formung kann vernünftigerweise nur so verstanden werden, dass es dem Künstler nicht gelungen ist, seinem Werk die von ihm beabsichtigte weltum­ fassende Homogenität und darum die diesem immanent-inhärierende Macht des Leitens zu verleihen. Ob dies die Künstler selbst oder die Kenner, Kritiker etc. von der künstlerischen Absicht, von der Einheitlichkeit des Kunstwollens etc. aus formulieren, ist gleichgültig, da der objektive Sinn solcher Aussagen stets das Misslingen der Intention auf eine solche inhaltserfüllte Homogenität ist; und diese wäre, wie in anderen Zusammenhängen bereits nachgewiesen wurde, eine bedeutungslose Spielerei, wenn ihr keine derartige eine homo­ gene »Welt« aufbauende Tendenz innewohnen würde. Cézanne war sicher ein um den unmittelbaren Erfolg wenig bekümmerter Künstler. Dennoch zeigt es sich auch bei ihm sehr deutlich, dass sein immer wiederholter Begriff des »Realisierens« gerade das von uns Angezeigte meint. Wir zitieren einige Bemerkungen aus seinem Gespräch mit dem Museumsdirektor Osthaus: »›Die Hauptsache bei einem Bild‹, sagte er, ›ist, das Räumliche zu treffen. Daran erkennt man das Talent eines Malers.‹ Als er das sagte, folgten seine Finger den Begrenzungslinien der verschiedenen Pläne auf seinen Gemälden. Er zeigte genau, wo es ihm gelungen war, Tiefe zu suggerieren, und wo die Lösung noch nicht gefunden war. Hier sei die Farbe Farbe geblieben, ohne Ausdruck für das Räumliche zu werden.«1 Schon dass Cézanne das Gestalten eines konkreten Raums als Zentralabsicht seiner Landschaften bezeichnet, zeigt, wie wenig hier von einem rein artistischen Bestreben die Rede sein kann; der Ausspruch, dass »die Farbe Farbe geblieben« sei, ist ein deutli­ cher Beweis gegen ein angebliches Vorherrschen derartiger Velleitäten. Wie umfassend und geistig diese Tendenz zur »Realisierung« gemeint ist, ist aus seinem Urteil über Courbet im selben Gespräch deutlich wahrnehmbar. Aus anderen Äußerungen ist klar ersichtlich, wie sehr er dessen Realisierungs­ kraft bewundert. Auch in diesem Gespräch sagt er über ihn: »Er schätzte in ihm das unbeschränkte Talent, für das es keine Schwierigkeiten gibt. ›Groß wie Michelangelo‹, sagte er, aber mit der Einschränkung – ›es fehlt ihm die

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Hans Graber, Paul Cezanne. Nach eigenen und fremden Zeugnissen. Basel, 1942, S. 267 f.

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höhere Geistigkeit.‹«1 Für den rein malerisch denkenden Cézanne kann Geistigkeit in diesem Zusammenhang nichts anderes bedeuten als einen Hinweis auf die Universalität im Gegenstand-Schaffen der Formen. Die leitende Funktion des homogenen Mediums konzentriert also das rezeptive Erleben nicht nur auf ein qualitativ bestimmtes Gebiet der Erlebbarkeit der Welt (hier auf reine Visualität), sondern auch innerhalb ihres Bereichs auf bestimmte Momente ihrer konkreten Erlebbarkeit (hier auf den Raum, ausgedrückt durch Farbgebung). Und durch all das soll eine »Welt«, ein konkret qualitatives Abbild der Universalität in der Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit abgebildet werden, das alle Fähigkeiten des Menschen in seiner intensiven Unendlichkeit vereinigt und konzentriert (hier als Problem der Geistigkeit, die Cézanne offenbar bei Courbet – ob mit Recht oder Unrecht, ist hier nebensächlich – deshalb vermisst, weil er sie selbst für die eigenen Werke erstrebt). Wenn man nun diese Lage vom Standpunkt des rezeptiven Erlebnisses betrachtet, so kommt man auf das bereits behandelte Problem der Verwandlung des ganzen Menschen in einen »Menschen ganz« (auf die Universalität eines homogenen Mediums gerichtet) zurück. Der menschliche Gehalt dieser Umwandlung lässt sich so aussprechen, dass der Mensch sich von dem unmittelbaren und vermittelten Kontext des Lebens – wie wir sogleich sehen werden: relativ – entfernt, sich von ihm loslöst, um sich der Betrachtung eines konkreten Lebensaspektes, der die Welt als eine intensive Totalität ihrer – von einer gewissen Warte sich ergebenden – entscheidenden Bestimmungen abbildet, temporär ausschließlich zuzuwenden. Der Unterschied zu der entsprechenden Verhaltensweise des Schaffensprozesses ergibt sich aus der Sache selbst: In dieser ist das aktive Prinzip das herrschende; die Rezeptivität der Welt gegenüber ist zwar ein ununterbrochen wirksames, objektiv völlig unentbehrliches Moment dieser Verhaltensweise; das Moment der Aktivität, der allmählichen Verwandlung von Lebensinhalt in die Inhalt-Form-Identität des Werks muss dabei doch das übergreifende sein und bleiben. In der unmittelbar dem vollendeten Werk gegenübergestellten Rezeption überwiegt ebenso naturgemäß das Moment der Hinnahme, ja dieses Verhalten ist unmittelbar und zunächst ausschließlich rezeptiv, aufnehmend. Wenn dabei etwa die Phantasie aktiv wird, ergänzend, interpretierend auftritt, so hebt dies die Grundhaltung des Aufnehmens nicht auf, ja, gerade in dieser Helferrolle jeder seelischen Aktivität kommt der Primat der Kontemplation 1

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Ebenda, S. 268.


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ganz rein zum Ausdruck. Wie schon früher gezeigt, ist eine solche Suspension der aktiven Tendenzen im Menschen, des Willens zum effektiven Eingreifen in die konkreten Gegebenheiten der Umwelt, auch im Alltagsdenken ein oft unentbehrliches Vermittlungsstadium zwischen der Zielsetzung selbst und ihrer konkreten Realisierung; dass die wissenschaftliche Forschung dieses Verhalten als Moment ebenfalls nicht missen kann, versteht sich von selbst. Die ästhetische Rezeptivität unterscheidet sich qualitativ von beiden. Von der ersten vor allem darin, dass gerade das selbstgesteckte, konkret bestimmte Ziel als Motiv zur Suspension der Aktivität fehlt. Weiter darin, dass die Suspension der konkreten Aktivitäten im Leben aus den angegebenen Gründen die Intention auf Aktivität nicht aufhebt; sie ist nichts weiter als ein »reculer pour mieux sauter«, so dass das Subjekt, der ganze Mensch, vor, nach und während dieser Suspension unverändert dasselbe bleibt. (Auf den Unterschied zur Lage in der wissenschaftlichen Widerspiegelung brauchen wir nicht näher einzugehen; er ist durch den Gegensatz der desanthropo­ morphisierenden zu den anthropomorphisierenden Tendenzen bestimmt.) Indem für die ästhetische Rezeptivität die Suspension von Aktivität und Zielsetzung zugleich bewusst vorübergehend und absolut ist, entsteht die Notwendigkeit der Umwandlung des ganzen Menschen in den »Menschen ganz«. Die leitend-evozierende Macht des homogenen Mediums bricht in das Seelenleben des Rezeptiven ein, unterjocht seine gewohnte Art, die Welt zu betrachten, zwingt ihm vor allem eine neue »Welt« auf, erfüllt ihn mit neuen oder neu gesehenen Inhalten, und gerade dadurch wird er dazu veranlasst, diese »Welt« mit erneuerten, mit verjüngten Sinnesorganen und Denkwei­ sen in sich aufzunehmen. Die Verwandlung des ganzen Menschen in den »Menschen ganz« bewirkt also hier eine inhaltliche wie formale, tatsächliche wie potentielle Erweiterung und Bereicherung seiner Psyche. Neue Inhalte strömen auf ihn ein, die seinen Schatz an Erlebnissen vergrößern. Indem er durch das homogene Medium des Werks angeleitet wird, sie aufzunehmen, das inhaltlich Neue an ihnen sich anzueignen, entwickelt sich damit simultan seine Wahrnehmungsfähigkeit, neue Gegenstandsformen, Beziehungen etc. als solche zu erkennen und zu genießen. Eine solche Auffassung des rezeptiven Verhaltens enthält an sich wenig Neues. Wollen wir es aber wirklich richtig verstehen und bewer­ ten, so müssen wir es – was in der modernen Ästhetik selten geschieht – im Zusammenhang des ganzen menschlichen Lebens ins Auge fassen. Man verkennt es nämlich, wenn man, wie dies häufig geschieht, bei der Wirkung des Werks den Rezeptiven als eine seelische Tabula rasa ansieht, als eine 59


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noch unbenutzte Grammophonplatte, der die Wirkung Beliebiges aufprägen könnte. Andererseits ist es ebenso mangelhaft und führt Verwirrung herbei, wenn man die ästhetische Wirkung mit ihrer eigenen Unmittelbarkeit einfach gleichsetzt, ohne daran zu denken, wie sie im Rezeptiven nach ihrem Aufhö­ ren nachklingt und nachwirkt. Wir glauben: ohne dieses Vorher und Nachher des eigentlichen ästhetischen Eindrucks kann man sein eigenes Wesen nicht vollständig und darum den Tatsachen entsprechend beschreiben. Vor allem sei betont: Nie ist ein Rezeptiver dem Kunstwerk gegenüber ein weißes Blatt, worauf beliebige Chiffren aufgezeichnet würden. Er kommt vielmehr, selbst als Kind, aus dem Leben: mit Eindrücken, Erlebnissen, Gedanken und Erfah­ rungen mehr oder weniger beladen, die in ihm infolge der Einwirkung der Zeit, der Natur, der Klasse usw. mehr oder weniger fest geworden sind, unter Umständen freilich sich in einem individuellen oder sozialen Krisenzustand des Übergangs befinden können. Es war unseres Erachtens richtig, früher den Ausdruck zu gebrauchen, dass das homogene Medium einen Einbruch in das Seelenleben des jeweilig zum Rezeptiven gewordenen ganzen Men­ schen vollziehen muss, will es aus ihm einen wirklichen ästhetisch Rezeptiven machen, einen Menschen, der unter Suspension seiner sonstigen konkreten Bestrebungen sich ganz der Wirkung des Werks hingibt. Die so entstehen­ den Konflikte sind derart vielfältig sowohl im persönlichen Sinn wie inner­ halb des direkt gesellschaftlichen, klassenmäßig bestimmten Bereichs, dass wir hier unmöglich auch nur auf den Versuch einer vorläufigen Typisierung eingehen könnten. Nur soviel sei bemerkt, dass eine absolute soziale Ein­ schränkung der Wirkungsmöglichkeiten der Kunstwerke, etwa derart, dass ein auf proletarischer Klassengrundlage entstandenes Werk im Bürgertum überhaupt nicht wirken könnte und umgekehrt, flach und abwegig ist; viele Beispiele (Beaumarchais’ »Figaro«, in der Gegenwart Werke Gorkis, der Potemkin-Film, Brecht etc.) zeugen lebhaft dagegen. Aber es wäre auch eine unzulässige Vereinfachung, wenn wir annehmen würden, in solchen persön­ lich-sozial bedingten Widerständen der rezeptiven Hingabe drücke sich ein­ fach eine antikünstlerische Tendenz aus; es ist im Gegenteil durchaus mög­ lich, dass gerade ein lebhafter, ja leidenschaftlicher Kunstsinn, das Vorgefühl seines unfehlbaren Wirksamwerdens in Konflikt mit den Lebensaufgaben des ganzen Menschen der Wirklichkeit gerät. Gorki beschreibt in seinen Erinne­ rungen an Lenin höchst anschaulich einen solchen Konflikt. Er erzählt, dass Lenin in einer Gesellschaft Beethoven-Sonaten gehört hat und sich wie folgt äußerte: »›Ich kenne nichts Schöneres als die ›Appassionata‹ und könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik! Ich 60


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denke immer, mit vielleicht naivem, kindlichem Stolz: dass Menschen sol­ che Wunder schaffen können!‹ [–] Dann kniff er die Augen zu, lächelte und setzte unfroh hinzu: [–] ›Aber allzuoft kann ich Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven, man möchte liebe Dummheiten reden und Menschen den Kopf streicheln, die in schmutziger Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln – die Hand wird einem sonst abgebissen. Schlagen muss man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, – obwohl wir im Ideal gegen jede Verge­ waltigung der Menschen sind. Hm, hm, – unser Amt ist höllisch schwer.‹«1 Dieser Fall, der nur durch die höchste Intensität beider Pole, durch die klare Bewusstheit über den Konflikt ein Grenzfall ist, gibt ein klares Bild darüber, welche Widerstände die Umwandlung des ganzen Menschen in den »Men­ schen ganz« zuweilen zu überwinden hat, freilich zugleich auch darüber, dass die echte Kunst über eine – prinzipiell – unwiderstehliche Macht ver­ fügt, die Menschen zur Rezeptivität zu zwingen, sie sich als ihr zugewandte Menschen ganz zu unterwerfen. (Selbstverständlich tauchen ähnlich geartete Kollisionen auch im Schaffensprozess auf. Da diese sich aber nicht auf das als vollendet wirkende Werk beziehen – soweit der Künstler selbst solchen gegenübersteht, ist er wesentlich, wenn auch mit nicht unwichtigen Abwand­ lungen ein Rezeptiver –, sondern auf ein sich in statu nascendi befindliches gerichtet sind, da hier der künstlerischen Aktivität eine entscheidende Rolle zukommt etc., müssen wir ihre Behandlung dem zweiten Teil überlassen.) Nicht minder wichtig und nicht weniger theoretisch vernachlässigt ist die Beziehung der ästhetischen Rezeptivität zum Nachher der Wirkung. Die Suspension der konkreten Aktivität, der konkreten Zielsetzungen des ganzen Menschen unterscheidet sich im Ästhetischen vom Alltag vor allem dadurch, dass in diesem gerade das auf höherem Niveau fortgesetzt, gerade jenes Ziel konkret erstrebt wird, um dessentwillen die Suspension erfolgte, während die Rückkehr aus der ästhetischen Suspension ins Leben eine Rück­ kehr zu jenen Aktivitäten ist, deren Kontinuität durch das künstlerische Erlebnis unterbrochen wurde. Dieses selbst steht in den seltensten Fällen in einer unmittelbaren Beziehung zu ihnen, und auch dann ist der Zusammen­ hang, vom ästhetischen Charakter des Erlebnisses aus gesehen, meistens ein zufälliger oder zumindest ein mehr oder weniger vermittelter. Diese vom Leben isoliert scheinende Wesensart der künstlerischen Erlebnisse führt in 1

orki, Erinnerungen an Zeitgenossen, S. 245 f. [Vgl. auch: Lenin, Über Kultur und Kunst. G Berlin 1960, S. 632.]

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vielen idealistischen Ästhetiken dazu, sie vollständig oder so gut wie voll­ ständig vom normalen Dasein der Menschen abzugrenzen; am prägnan­ testen erscheint diese Tendenz in Kants Lehre von der »Interesselosigkeit« des ästhetischen Verhaltens, die wir in anderen Zusammenhängen bereits gestreift haben. Daraus scheint eine wesentliche Abgerissenheit des Ästhe­ tischen vom aktiven Leben zu folgen, die jedoch nur dann auch nur abstrakt konstruierbar ist, wenn man das konkrete Nachher der ästhetischen Wirkung völlig verkennt. Lebendige und progressive Richtungen in der Ästhetik wie die der Antike, der Aufklärung, der revolutionären Demokraten in Russland etc. haben stets die große gesellschaftliche Rolle der Kunst in den Vorder­ grund gestellt, die nicht nur durch eine jahrtausendlange Praxis erwiesen, sondern auch theoretisch aus dem Wesen der Kunst überzeugend ableitbar ist, vorausgesetzt, dass die Beziehung zwischen dem ästhetischen Erlebnis und seinem Nachher im Leben unbefangen und hinreichend erklärt wird. Die antike Ästhetik hat dieses Problem sehr klar gesehen, als sie in allen Kunst­ fragen öffentliche Angelegenheiten, Fragen der Sozialpädagogik erblickt hat. Ihr gegenüber stellt – mit wenigen Ausnahmen – die moderne Ästhetik einen Rückschritt vor: teils indem diese Weise der künstlerischen Wirkung völlig, sogar prinzipiell vernachlässigt und die Rezeption der Kunst dem Wesen nach auf ein Atelierkennertum reduziert wird, teils indem man einen sol­ chen gesellschaftlichen Einfluss in ihr zwar anerkennt, diesen jedoch in einer allzu direkten, allzu konkret-inhaltlichen Weise darstellt, ungefähr so, als ob die Kunst dazu da wäre, die Durchführung bestimmter, konkret gesellschaft­ licher Aufgaben unmittelbar zu erleichtern. Beiden falschen Extremen gegenüber nimmt die antike Ästhetik (und ihre wenigen würdigen Nachfolger in der Neuzeit) eine Position ein, die der wirklichen gesellschaftlichen Rolle der Kunst weitgehend gerecht wird. Sie anerkennt die den Menschen stark beeinflussende, ja ihn unter Umständen sogar transformierende Macht der ästhetischen Erlebnisse; insofern lehnt sie im voraus jede solche Theorie ab, die das Ästhetische vom gesellschaft­ lichen Leben zu isolieren beabsichtigt. Die antike Ästhetik sieht jedoch diese gesellschaftliche Funktion nicht als eine Dienstleistung für diese oder jene konkret-aktuelle Zielsetzung an, sondern erblickt ihre Bedeutung darin, dass eine bestimmte Ausübung bestimmter Künste zu den formenden Kräften des menschlichen und dadurch des gesellschaftlichen Lebens gehört; dass die Kunst geeignet ist, die Menschen in jener Richtung zu beeinflussen, die für die Ausbildung bestimmter Menschentypen fördernd oder hemmend wirkt. Aristoteles unterscheidet daher die bloß sinnlichen Genuss bringende 62


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

Wirkung der Musik von ihrer damit freilich tief verbundenen sittlichen, wodurch sie »auch den Charakter und die Seele beeinflusse«. Diese sittliche Wirkung, das Hervorrufen sittlicher Gefühle in der Seele durch die Begeiste­ rung, betrachtet er als das zentrale Problem: »Die Begeisterung aber ist ein Affekt der Seele als Trägerin des ethischen Lebens. Auch erzeugt schon die bloße mimische Darstellung ohne Rhythmen und Gesänge in aller Herzen ein gleichstimmiges Gefühl. Da es aber der Musik eigen ist, uns zu ergöt­ zen, wie der Tugend, sich recht zu freuen, zu lieben und zu hassen, so muss man offenbar bei ihrem Betriebe nichts so sehr lernen und sich angewöhnen als das richtige sittliche Gefühl und die Freude an tugendhaften Sitten und edeln Taten. Die Rhythmen und Melodien kommen als Abbilder dem wahren Wesen des Zornes und der Sanftmut, sowie des Mutes und der Mäßigkeit wie ihrer Gegenteile, nebst der eigentümlichen Natur der anderen ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe. Das zeigt die Erfahrung. Wir hören solche Weisen, und unser Gemüt wird umgestimmt. Nun ist aber von der angenommenen Gewohnheit, sich über das Ähnliche zu betrüben oder zu erfreuen, nicht weit bis zu dem gleichen Verhalten gegenüber der Wirklich­ keit.«1 (Dasselbe stellt er in den dann folgenden Betrachtungen für die bil­ dende Kunst fest, und dass er in bezug auf die Literatur ebenso denkt, ist allzu bekannt, als dass es hier näher belegt werden müsste. Die gesellschaftliche Wirkung, die deshalb die antike Philosophie von der Kunst erwartet, lässt sich vielleicht am besten in den von uns bereits angeführten Worten Lessings zusammenfassen, der nicht nur diese Grundtendenz zeitgemäß zu erneuern bestrebt war, sondern sich überall von den Erfahrungen der Antike, haupt­ sächlich von der Katharsistheorie des Aristoteles, leiten ließ. Die fundamen­ tale gesellschaftliche Zielsetzung formuliert nun Lessing als »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten«2. Lessing sagt dies in einer Polemik gegen falsche Auslegungen der Katharsislehre von Aristoteles. Es ist eine allgemeine Sitte in der ästhetischen Literatur, diese, so wie sie tat­ sächlich bei Aristoteles niedergelegt ist, ausschließlich auf die Tragödie, auf die Affekte von Furcht und Mitleid anzuwenden. Wir glauben dagegen, dass der Begriff der Katharsis viel ausgedehnter ist. Wie bei allen wichtigen Kate­ gorien der Ästhetik ist diese primär nicht aus der Kunst ins Leben, sondern aus dem Leben in die Kunst gekommen. Weil die Katharsis ein ständiges und bedeutsames Moment des gesellschaftlichen Lebens war und ist, muss ihre 1 2

Arist. polit. VIII, 5 (übers. von Rolfes. Aristoteles, Politik, S. 285 f.) Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück; Rilla 6, S. 399.

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Widerspiegelung nicht nur ein immer wieder neu aufgenommenes Motiv der künstlerischen Gestaltung werden, sondern sie erscheint sogar unter den formenden Kräften der ästhetischen Abbildung der Wirklichkeit. In meinem Essay über Makarenko habe ich diese Wechselbeziehung zwischen Lebens­ tatsache, Abbildung und bewusster Anwendung auf das Leben in bezug auf seine Pädagogik ausführlich geschildert.1 Ich habe dort auch zu zeigen ver­ sucht, dass das Phänomen der Katharsis zwar schon im Leben selbst eine gewisse Affinität zum Tragischen zeigt und sich darum ästhetisch am präg­ nantesten dort objektiviert, dass es aber inhaltlich einen weiteren Umkreis als nur dieses umfasst. Wenn wir nun vor die Frage gestellt sind, ob diese Feststellung eine noch weitere Verallgemeinerung zulässt, müssen wir an unsere früheren Darlegungen über den defetischisierenden Charakter des Ästhetischen erinnern und im Zusammenhang damit auch an dessen posi­ tiven Inhalt: Jede Kunst, jede künstlerische Wirkung enthält ein Evozieren des menschlichen Lebenskerns – worin für jeden Rezeptiven die Goethesche Frage aufgeworfen wird, ob er selbst Kern oder Schale sei – und zugleich, untrennbar damit vereinigt, eine Kritik des Lebens (der Gesellschaft, der von ihr geschaffenen Beziehungen zur Natur). Da nun, wie gezeigt wurde, das rezeptive Erlebnis unmittelbar ein inhaltliches sein muss, offenbart es die­ sen Problemkomplex als zentralen Gehalt jener »Welt«, die das Kunstwerk in ihm zur Evidenz erweckt. Da jedes Kunstwerk dem Rezeptiven sich als einzigartige Werkindividualität offenbart, als einzigartiger konkreter Inhalt, tritt dieser Problemkomplex nur in den seltensten Fällen direkt hervor. Er ist jedoch in unsichtbarer Weise allgegenwärtig. Die Art, wie die ästhetische Form ihren Inhalt bearbeitet, ihn im und durch das homogene Medium wirk­ sam werden lässt, zeigt diesen allgemeinsten Gehalt aller echten Kunstwerke an und schafft in der die Erlebnisse des Rezeptiven leitenden Kraft der For­ men eine Intention, die auf dieses Zentrum gerichtet ist. Die Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den »Menschen ganz« des jeweiligen Rezeptiven eines konkreten Kunstwerks strebt gerade in die Richtung einer solchen aufs äußerste individualisierten und zugleich allerallgemeinsten Katharsis. Das Recht, den Begriff der Katharsis in diesem Ausmaße zu verallgemei­ nern, entstand also nicht einfach aus der Beschaffenheit des Kunstwerks für sich betrachtet. Dieses konzentriert in seiner Form-Inhalt-Identität zwei 1

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ukács, Der russische Realismus in der Weltliteratur, S 423 ff.; jetzt: Werke. Bd. 5: Probleme L des Realismus II.


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

wichtige Beziehungskomplexe: den seiner selbst zur objektiven Wirklichkeit als Totalität, dem es seine Entstehung verdankt, und den einer Wirkungsmög­ lichkeit auf die Seele des Rezeptiven. Je tiefere und umfassendere Inhalte die künstlerische Form zur Identität mit sich selbst bringt, desto weiter gezogen und tiefer ausholend sind diese Beziehungskreise. Dass die Fähigkeit dazu mit der Kritik des Lebens aufs engste zusammenhängt, bedarf wohl keiner ausführlichen Erörterung. Höchstens müsste begründet werden, warum wir von einer Kritik des Lebens statt von einer Kritik der Gesellschaft sprechen, obwohl beide Ausdrücke beinahe gleichbedeutend sind, obwohl evidenter­ weise die jeweilige konkrete Erscheinungsform des Lebens – und die Kunst gestaltet gerade diese Konkretheit und Besonderheit – ihr reales Fundament in dem jeweiligen geschichtlichen Stand der Gesellschaft hat. Der Ersatz des Wortes Gesellschaft durch das [Wort] Leben will an dieser Verbundenheit und ihrem Wohlbegründetsein nicht rütteln. Es soll damit unsere Aufmerk­ samkeit bloß darauf gerichtet werden, dass das, was im Kunstwerk unmittel­ bar erscheint, es in der Form des Lebens tut; die gesellschaftliche Bedingtheit etwa einer Landschaft oder eines Liebesgefühls, einer Melodie oder einer Kuppel kann in sehr vielen Fällen nur durch oft weit vermittelte und kom­ plizierte Analysen aufgedeckt werden, während ihre künstlerische Wirkung ohne bewusst gedanklich wahrnehmbare, aber doch sehr real fundierende Vermittlung der gesellschaftlichen Bestimmungen vor sich geht. Darum kann mit dem Ausdruck Leben die Universalität der Inhalte, die die Kunst evo­ ziert, verständlicher – und nunmehr keine Missverständnisse erweckend – umschrieben werden. Dazu kommt noch, dass die Kunst, wie wiederholt auseinandergesetzt wurde, als primären Akt des Setzens bereits die Stellung­ nahme, also auch die Kritik ihres Inhalts, des Lebens in sich fasst. Die diesem Akt innewohnende Bejahung oder Verneinung bestimmter Seiten, Formen, Erscheinungsweisen etc. des Lebens kann also eine aufrüttelnde Wirkung ausüben, auch wenn das soziale Fundament weder für den Schaffenden noch für den Rezeptiven bewusst wird; aber infolge des objektiv gesellschaftli­ chen Charakters seiner Substantialität strahlt diese Wirkung notwendig ins Gesellschaftliche ein. Um Wirkungen dieser Art noch besser zu verstehen, müssen wir an eine weitere wichtige, uns bereits vielfach bekannte Wesensart der ästhetischen Sphäre erinnern: an ihren prinzipiellen Pluralismus. Wir haben diese Frage bis jetzt von der Seite der Entstehungs- und Wirkungsbedingungen der Kunst aus betrachtet. Jetzt tritt dabei ihre gesellschaftliche, ihre menschheit­ liche Funktion im gesamten Dasein der Menschen in den Vordergrund. Die 65


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ursprüngliche, aber eben darum äußerst beschränkte Einheit des Menschen, seine unmittelbare Existenz als ganzer Mensch muss durch die Entwick­ lung der Zivilisation – freilich nur relativ – mehr oder weniger untergraben werden. Ohne die romantische Kritik an der Zerstückelung des Menschen, an seiner Parzellierung in verschiedene Spezialitäten anzunehmen: es ist nicht zu leugnen, dass in manchen entwickelten Gesellschaften, vor allem in der kapitalistischen, Tendenzen in solchen Richtungen effektiv werden. Wenn wir uns so ausführlich mit der entfetischisierenden Mission der Kunst auseinandergesetzt haben, so haben wir bereits gezeigt, dass ihr in diesem Prozess die Rolle eines Regulators, eines Arztes gewisser Krankheiten des Fortschritts zukommt. Der normale Zustand, die Gesundheit der Menschen ist die Möglichkeit ihrer allseitigen Entfaltung, die einzelne Perioden der Ent­ wicklung wenigstens für einen Teil der herrschenden Klassen realisiert haben und die die revolutionär-demokratischen und sozialistischen Richtungen für die ganze Menschheit fordern und dem Prinzip nach auch zu verwirklichen imstande sind. Vom Standpunkt des Individuums ist nun diese Allseitigkeit in der Entfaltung aller Fähigkeiten, aller möglichen lebendigen Beziehungen zum Leben ein Ideal; darin ist sowohl das Erstrebenswerte wie der Zustand eines bloßen Erstrebens gleicherweise mit gemeint. Jedes Kunstwerk, jede Kunstart wendet sich, wie wir wissen, an den »Menschen ganz«, worin bereits klar die Lage sichtbar wird, dass die Einheit und Ganzheit, die sich hier verwirklichen, obwohl sie so echt und intensiv Einheit und Ganzheit sind wie sonst nie und nirgends im Leben, doch nur einen Aspekt des all­ seitigen Menschen aktuell werden zu lassen fähig sind. In der Pluralität der Kunstarten und der Werkindividualitäten objektiviert sich die wahre Einheit und Ganzheit des allseitigen Menschen: Ihre Existenz und ihre potentiell immer vorhandene Wirksamkeit zeigen, dass dieses Ideal zwar noch nir­ gends vollständig verwirklicht wurde, jedoch nichts Transzendentes (auch kein transzendentales Sollen) in sich enthält, vielmehr die Widerspiegelung der realen Existenz, der realen Entwicklung der Menschheit ist. Die Plura­ lität der Kunstarten und Werkindividualitäten drückt einerseits die innere Vollendung der einzelnen derartigen Beziehungen zur Wirklichkeit aus, ihre intensive Unendlichkeit und damit ihr Gerichtetsein auf die Totalität des Menschen, eben in der Form des »Menschen ganz«, andererseits und zugleich die Tatsache, dass der Mensch jeweils nur eine solche Beziehung ver­ wirklichen kann, dass die allgemeine Art ihrer Verwirklichung außerordent­ lich vielfältig, die konkrete dagegen einfach unendlich ist. Sosehr also jedes Kunstwerk als Realisation des Ideals vollendet ist, sosehr in seiner Rezeption 66


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eine restlose Erfüllung möglich wird – womit der Begriff des Ideals aufgeho­ ben scheint –, so sehr ist die faktische Realisation des allseitigen Menschen in der Fülle solcher Akte vollständig nie erreichbar; insofern muss für den Menschen seine eigene Allseitigkeit in gewissem Sinne doch ein Ideal, kon­ kreter: das Ziel eines unendlichen Annäherungsprozesses bleiben. Formal folgt aus dem eben geschilderten Pluralismus der ästhetischen Sphäre, dass die Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den »Men­ schen ganz« der Rezeption einer Werkindividualität jedesmal, wenn es sich um die echte Aufnahme eines echten Kunstwerks handelt, einen Annähe­ rungsschritt in der Richtung auf die Allseitigkeit des Menschen bedeutet. Es ist aber klar, dass dieser Prozess von der formalen Seite niemals ausrei­ chend charakterisiert werden kann. Wollen wir ihm von seinem Gehalt aus näher kommen, so ist vor allem das Zusammenfallen von Kritik des Lebens in den Kunstwerken mit dem Goetheschen Dilemma von Kern oder Schale ins Auge zu fassen. Wie überall ist auch hier das Verhältnis beider nicht primär ästhetisch. Die Kunst bringt bloß eine im Leben vorhandene, in ihr jedoch ins Qualitative umschlagende Intensivierung hervor. Die dieser Lage zugrunde liegende gesellschaftliche, philosophische oder anthropologische Tatsache wirkt nur für jene modernen Richtungen überraschend, die das Wesen des Menschen in einem absoluten, einsamen Auf-sich-Gestelltsein erblicken. Wird dagegen, wie dies hier immer geschehen ist, der Mensch seinem menschlichen Wesen nach als gesellschaftlich aufgefasst, so leuchtet es ohne weiteres ein, dass das Goethesche Dilemma vom persönlichen Sein als Kern oder Schale aufs allerengste mit seiner sozialen Lebensführung, mit dem Vorhandensein einer Kritik des Lebens in ihr, mit Richtung und Kraft die­ ser Kritik verbunden ist. Diese Frage stellt das Leben selbst ununterbrochen, man könnte sagen, in jedem Augenblick des Handelns oder der Reflexion darüber vor oder nach der Aktion. Der wesentliche Inhalt der hier entste­ henden Wechselwirkungen lässt sich am besten vorerst darin zusammen­ fassen, dass eine Kernhaftigkeit des Individuums nur aus subjektiv echten Beziehungen zur Wirklichkeit entstehen kann; sind diese verlogen, so muss sich der Mensch selbst auch als Persönlichkeit zu einer bloßen Summe von Schalen erniedrigen. Die moderne Literatur hat sachlich unzählige Male sol­ che Degradierungen geschildert; Ibsens »Peer Gynt gibt in einer Szene des umfassenden Rückblicks auf sein ganzes Leben eine unbeabsichtigte und vielleicht darum um so überzeugendere Bestätigung des Goetheschen Sat­ zes. Unmittelbar, aber nur unmittelbar ist diese subjektiv-ehrliche Attitüde schlechthin entscheidend, an sich völlig unabhängig davon, wie das subjektiv 67


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richtig gemeinte Verhältnis zur Welt objektiv beschaffen ist: man denke an die »Kernhaftigkeit« der Gestalt Don Quijotes. Näher betrachtet, zeigt sich freilich, dass die objektive Richtigkeit der Beziehung zur Außenwelt, die Richtigkeit der Kritik des Lebens ein unmöglich ausschaltbares Motiv bleibt. Natürlich fällt bei Don Quijote im Gegensatz zu Peer Gynt die subjektive Ehrlichkeit gewichtig in die Waagschale; wenn jedoch seine Kritik des Lebens nicht auch ein großes Ausmaß objektiver Wahrheit enthielte, müsste auch sein Kern sich auf ein Aufeinandergeschichtetsein von Schalen reduzieren. Weiter: alle diese subjektiven Faktoren – und nicht nur die Gesinnung – kön­ nen zwar den Kern überhaupt retten, er ist jedoch in diesem Fall weit davon entfernt, Ansatzpunkt, Triebkraft zu einer Annäherung an den allseitigen Menschen zu werden; er ist weit mehr ein Kerker, der Don Quijote in eine unwahre, von ihm selbst fetischisierte Welt einsperrt. Wir konnten hier auf diesen Problemkomplex nur mit Hilfe einiger Bei­ spiele etwas Licht werfen; seine Rolle im Leben ist viel breiter, verzweigter und umfassender, als dass er in einer Ästhetik systematisch behandelt werden könnte; er ist ja weit mehr ethischen als ästhetischen Charakters. Es musste darauf nur hingewiesen werden, um den Lebensgrund, aus dem die gesell­ schaftlichen Forderungen an die Kunst entsteigen, den Lebensfluss, in den sie münden, wenigstens in gröbsten Umrissen anzudeuten. Zu einer so begrenz­ ten Konkretisierung seien noch einige ergänzende Bemerkungen gestattet. Wie im ethischen Verhalten ein sehr kompliziertes Verhältnis herrscht, so auch in der intellektuellen und kulturellen Entwickeltheit des Menschen. Goethe nimmt auch hier – im Gegensatz zum heute vielfach herrschenden irrationalistischen Aristokratismus – einen weit vorgeschobenen demo­ kratischen Standpunkt ein. Er sagt: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkei­ ten bewegt.«1 Diese Feststellung ist vor allem deshalb nicht missverstehbar, weil sie von Goethe stammt, weil sie deshalb keine Tendenz enthalten kann, primitive Zustände romantisch zu idealisieren oder sie gar entwickelteren polemisch-kritisch als Vorbilder gegenüberzustellen. Goethe will hier nur auf diese Möglichkeit als Möglichkeit hinweisen, ohne deshalb die Notwendigkeit, über diese Stufe hinauszugehen, je in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil, für ihn ist gerade jene Mission der Kunst am wichtigsten, die auf hochentwickel­ ten Kulturstufen zu der von ihm geforderten Kernhaftigkeit des Menschen führt, die die Lebenstendenzen dazu bewusstmacht, stärkt und fördert, die 1

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Goethe, Maximen und Reflexionen; JA 4, S. 226; Hoyer 474.


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befähigt ist, die entgegengesetzten zu hemmen, ja zu unterdrücken. Dafür ist bei ihm immer wieder das richtige Verhältnis zur Außenwelt entscheidend, und für seine eigenen Entwicklungsbedingungen formuliert er die hier auf­ tauchenden ästhetisch-ethischen Postulate sehr oft im Zusammenhang mit der Methodologie der Naturforschung, deren nahe Beziehung zur Ästhetik wir bei ihm bereits behandelt haben. So im Gedicht »Epirrhema«, das the­ matisch dem von uns angeführten »Ultimatum« recht nahe steht: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis. Der Gedanke der Identität von Innen und Außen ist unseren Darlegungen lange vertraut. Und die Folgerung, dass jenes Verhältnis zur Welt, das den Menschen dazu verhilft, in ihrer Persönlichkeit einen wahren Kern auszubil­ den, eben mit ihren derartigen Betrachtungen aufs engste zusammenhängt, wird jetzt niemanden mehr überraschen; noch weniger die Feststellung, dass diese Art, die Welt anzusehen, aufs Ästhetische intendiert, dass das Kunst­ werk gerade jene Widerspiegelung der Welt darbietet, in der allein diese Tendenz zur konkreten Vollendung gedeihen kann. Goethe selbst spricht jene Bezogenheit auf den Menschen, jenes Zentrieren der Objektwelt auf ihn wiederholt in einer über das Ästhetische hinausgehenden, freilich gerade darin, aber nur darin philosophisch nicht immer stichhaltigen Weise aus. So z. B.: »Wir wissen von keiner Welt, als im Bezug auf den Menschen; wir wol­ len keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.«2 Die bloße Feststel­ lung dieser anthropomorphisierenden Betrachtungsweise – wichtig für die Kunst, mehr als problematisch für die Beziehung zur Welt, zur Natur, für die Widerspiegelung ihres wahren Ansichseins – findet Goethe mit Recht als nicht ausreichend. Er sagt: »Die bildende Kunst ist auf das Sichtbare angewie­ sen, auf die äußere Erscheinung des Natürlichen.«3 Er erkennt aber sogleich, dass im Begriff des Natürlichen nicht nur etwas visuell Objektives, sondern zugleich etwas Menschliches, und zwar etwas Sittliches, d. h. gesellschaftlich 2 3

JA 35, S. 320; Hoyer 1097. JA 35, S. 303; Hoyer 59.

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Moralisches enthalten ist. Wenn wir nun an die Auffassung der Sittlichkeit in dieser Periode – von der Kritik der Kantschen subjektivistischen Ethik bei Goethe und Schiller etwa in der Entstehungszeit des »Wilhelm Meister« bis zur Vollendung dieser Tendenz in der Gegenüberstellung von Moralität und Sittlichkeit in Hegels »Rechtsphilosophie« – denken, so sehen wir klar, dass hier die gesellschaftlich aktive Tätigkeit des Menschen gemeint ist. Darum gewinnt die den eben angeführten Aphorismus ergänzende Bemerkung Goe­ thes, dass jeder Gegenstand der Kunst nach seiner Geeignetheit zu beurteilen ist, »ein sittlicher Ausdruck des Natürlichen« zu sein, ein besonderes Gewicht. Goethe hat damit das philosophische Fundament unserer Verallgemei­ nerung der Katharsis für die Kunst überhaupt und speziell für die bildende Kunst niedergelegt. Wenn nämlich die visuelle Beziehung des Menschen zu den Naturgegenständen, zu ihrem Ensemble eine sittliche ist – wir erinnern erneut an das, was wir über die Widerspiegelung des Stoffwechsels der Gesell­ schaft mit der Natur ausgeführt haben –, so bricht in die Wirkung, die ihr künstlerisches Abbild hervorruft, auch eine mit Fug als sittlich charakteri­ sierbare Erschütterung ein. Unmittelbar mischt sich der Ergriffenheit des Rezeptiven über das Neue, das die jeweilige Werkindividualität in ihm auslöst, ein negativ begleitendes Gefühl bei: ein Bedauern, ja eine Art Scham darüber, etwas, das sich so »natürlich« in der Gestaltung darbietet, in der Wirklichkeit, im eigenen Leben nie wahrgenommen zu haben. Dass in dieser Kontrastie­ rung und Erschütterung eine vorhergehende fetischisierende Betrachtung der Welt, ihre Zerstörung durch ihr entfetischisiertes Bild im Kunstwerk und die Selbstkritik der Subjektivität enthalten sind, braucht, glauben wir, nicht mehr ausführlich auseinandergesetzt zu werden. Rilke gibt einmal die dichterische Beschreibung eines archaischen Apollo-Torsos. Das Gedicht kulminiert – ganz im Sinne unserer vorangegangenen Darlegungen – in dem Appell der Statue an den Betrachter: »Du mußt dein Leben ändern.« Die Bereicherung und Vertiefung, die jedes echte Werk der bildenden Kunst wachruft, wodurch – dies beiläufig gesagt – der Kunstsinn der Menschen erweckt und entwickelt wird, ist ohne einen solchen Vergleich, und mag er nur ein kaum bewusstes Begleitgefühl sein, mag seine emotionelle Betontheit stärker oder schwä­ cher wirken, kaum vorstellbar. (Hier zeigt sich erneut, dass das rezeptive Kunsterlebnis ohne ein In-Betracht-Ziehen des Vorher nicht begriffen werden kann.) Der Vorwurf an das Vorher, die Beförderung für das Nachher – und mögen beide in der Unmittelbarkeit des Erlebnisses selbst fast ausgelöscht erscheinen – bilden einen wesentlichen Inhalt dessen, was wir früher als die verallgemeinertste Form der Katharsis bezeichnet haben: ein derartiges 70


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Durchrütteln der Subjektivität des Rezeptiven, dass seine im Leben sich betä­ tigenden Leidenschaften neue Inhalte, eine neue Richtung erhalten, dass sie, derart gereinigt, zu einer seelischen Grundlage von »tugendhaften Fertig­ keiten« werden. Ohne jetzt über die konkreten Thesen von Aristoteles über Furcht und Mitleid als Inhalte der tragischen Katharsis diskutieren zu wollen, sei hier nur bemerkt, dass einerseits den Inhalt der Tragödie die zugespitztesten Bezie­ hungen des Menschen zu seiner Umwelt bilden, dass die darin sich offenba­ rende äußerste Widersprüchlichkeit seiner Existenz mit einer diesem Inhalt entsprechenden Vehemenz und Intensität auf sein Selbstbewusstsein ein­ wirkt und dementsprechend die klassische Form der Katharsis hervorbringt. Es ist deshalb gar nicht überraschend, dass zuerst diese Theorie eingehend gedanklich zerlegt und ausgelegt wurde, dass ihrer Wucht gegenüber alle anderen Äußerungsweisen mehr oder weniger in den Hintergrund gedrängt wurden. Wenn wir jedoch an die von uns angeführten sozialpädagogischen Bemerkungen von Aristoteles über die Musik denken – und man kann vom Standpunkt des methodologischen Herantretens an diese Frage bei allen sons­ tigen Differenzen ruhig die von Platon als ähnlich intentioniert auffassen –, so sehen wir, dass auch hier, wenn auch mit anderen Inhalten, mit verschiede­ ner Tiefe, Intensität etc., auf die Entwicklung anderer »tugendhafter Fertig­ keiten« gerichtete kathartische Wirkungen gemeint sind; dasselbe bezieht sich nach deutlichen Hinweisen der antiken Ästhetik auch auf die bildenden Künste. Andererseits darf man bei der Analyse der Tragödie auch daran nicht vorbeigehen, dass ihr Inhalt und ihre spezifische Formung gerade auf die Einheit von Außen und Innen gegründet sind. Indem die tragische Leiden­ schaft als unwiderstehliche Macht aus der Seele hervorbricht, wird sie vom Standpunkt des normal-alltäglichen Bewusstseins ihr gegenüber zu etwas »Äußerem«, während zugleich das Schicksal, das aus der Umwelt sich zusam­ menbraut, sich im Laufe der tragischen Verwicklung zu einer eigenen Not­ wendigkeit der betroffenen Person, zu ihrem eigenen Schicksal entwickelt. Entsteht keine derart intime Affinität zwischen Held und Geschick, so muss auch die tiefste tragische Erschütterung fehlen; das Tragische wird wie oft im Laufe der Geschichte ins sinnlos Fürchterliche verzerrt oder zur alltägli­ chen Rührseligkeit verflacht. Und es ist klar, dass die ästhetische – und davon unzertrennlich die ethische und soziale – Bedeutung der Tragödie gerade hier liegt, in jener Wahrheit des Lebens, die die Kunst gereinigt und gesteigert widerspiegelt. Daraus folgt, dass die Echtheit der Individualität sich erst in der Erprobung durch das Äußerste erweisen kann, dass die Frage, ob sie Kern 71


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oder Schale sei, nur hier eine letzthin angemessene Antwort erhalten kann. Darum bringt die Tragödie die prägnanteste, die eigentliche Form der Kathar­ sis hervor. Da jedoch die Auflösung des Dilemmas von Außen und Innen als Lebensproblem überall auftaucht – und überall im engsten Zusammenhang mit der Kernhaftigkeit der Person –, da infolge der pluralistischen Struktur der ästhetischen Sphäre auf jeden Fragetypus des Lebens ein Antworttypus der Kunst mit gesellschaftlicher Notwendigkeit entstand und immer wieder neu entsteht, glauben wir, dass unser Verallgemeinern des Katharsisbegrif­ fes keine Konstruktion ist, sondern das Wesen des Ästhetischen von einer bestimmten Seite auszusprechen hilft. Bei einer solchen, wie wir glauben, voll berechtigten Ausdehnung des Katharsiserlebnisses auf die wahrhaft tiefen Wirkungen einer jeden echten Kunst müssen sogleich einschränkende Vorbehalte gemacht werden, damit keine undialektische Verallgemeinerung der ästhetisch-ethischen Konkret­ heit dieses Begriffs seine Schärfe und Bestimmtheit vernichte oder zumin­ dest abstumpfe. Zuallererst muss davon ausgegangen werden, dass jede ästhetische Katharsis eine bewusst hervorgebrachte konzentrierende Wider­ spiegelung von Erschütterungen ist, deren Original immer im Leben selbst aufgefunden werden kann, hier freilich spontan aus dem Verlauf von Aktio­ nen und Begebenheiten herauswachsend. Es ist darum notwendig, festzu­ stellen, dass die von der Kunst hervorgerufene kathartische Krise im Rezep­ tiven die wesentlichsten Züge solcher Lebenskonstellationen widerspiegelt. Im Leben handelt es sich dabei immer um ein ethisches Problem, das deshalb auch den Gehaltskern des ästhetischen Erlebnisses ausmachen muss. Nun ist es klar, dass in der Regelung des menschlichen Lebens durch die Ethik die kathartische Wendung nur einen spezifischen Grenzfall im System der möglichen ethischen Entscheidungen bildet; es sind daneben – um nur eine Hauptfrage hervorzuheben – völlig emotionslose Beschlüsse möglich, die ebensolche, ja in vielen Fällen stärkere, dauerhaftere, standhaftere ethische Einstellungen hervorrufen als die kathartischen Erschütterungen. Es gehört ja zum Wesen des Ethischen, dass darin gerade das konsequente Durchhal­ ten hierarchisch höher steht als jeder noch so leidenschaftliche, noch so aufrichtige und tiefempfundene Enthusiasmus. Mit Recht besteht also in der Ethik ein permanentes kritisches Misstrauen diesem gegenüber, den Dostojewski mit der Bezeichnung »schnelle Heldentat« treffend formuliert hat. Ein solches ethisches Misstrauen drückt auch die Dichtung wiederholt aus, es genügt, an die großartige Beschreibung zu erinnern, die Tolstoi den Figuren von Karenin und Wronski widmet, die an Annas Krankenbett eine 72


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

tief empfundene echte Katharsis erlebten, aufrichtig überzeugt waren, die Grundlagen ihrer Lebensführung umwälzen zu können, dann aber allmäh­ lich, unwiderstehlich vom Strom ihres seelischen Alltags in ihre alten Exis­ tenzformen zurückgeschwemmt werden. Ist also schon im sittlichen Leben der Menschen der ethische Verdacht den kathartisch ausgelösten »schnellen Heldentaten« gegenüber durchaus gerechtfertigt, obwohl selbstredend gar nicht so selten aus solchen Krisen wirkliche ethische Neugeburten folgen, so ist diese Zweideutigkeit in den künstlerischen Abbildungen der Wirklich­ keit noch augenfälliger. Wir werden in späteren Darlegungen ausführlich darauf eingehen, dass der Mensch im Leben sich notwendig auf bestimmte einzelne Handlungen, Entschlüsse etc. richtet, während in seiner Einstel­ lung zum Kunstwerk gerade diese Gebundenheit der Erlebnisse an solche konkreten Erscheinungen der Wirklichkeit zeitweilig suspendiert wird, so dass er sich mit seiner Gesamtpersönlichkeit dem jeweiligen ästhetischen Eindruck hingibt und die ethischen Folgen dieser Wirkungen sich erst im Nachher der Rezeptivität zeigen können, weshalb sie auch noch mehrdeuti­ ger, mehrschichtiger sein müssen als die Einwirkungen, die das praktische Leben selbst auslöst. Diese Mehrdeutigkeit erfährt noch dadurch eine weitere Steigerung, dass die Katharsis auch – wiederum in vielfacher Hinsicht – eine negative sein kann. Wir sprechen gar nicht davon, dass ihre Wirkung zuweilen beabsich­ tigterweise eine das Böse enthüllende, eine abschreckende ist, wie vor allem in den großen Komödien. Gogol hat im »Revisor« diese negativ katharti­ sche Wirkung des Lachens, des Auslachens gestaltet, als der Polizeimeister inmitten seiner Entlarvung durch die abgewickelte Handlung sich mit den Worten »Was lacht ihr? Ihr lacht über euch selber!« an die Zuschauer wen­ det. Aber darüber hinaus kann die kathartische Wirkung – unabhängig nicht nur von der Absicht des Autors, sondern auch vom Gehalt des Werks – eine ethisch problematische, ja negative Richtung einschlagen. Es ist noch ein relativ einfacher Fall, wenn die Rezeptivität sich an bestimmte unmittelbare Erscheinungsformen klammert und an der Totalität des Beabsichtigten und Verwirklichten vorbeigeht. Das kann gerade bei heftig, bei durchschlagend wirkenden Werken häufig vorkommen und die Katharsis auf abweichende, moralisch bedenkliche Wege führen. Goethe hat diese Tendenz sehr bald nach dem Erscheinen seines »Werther« bemerkt; sein kleines Gedicht, das die Grundlage der Popularität des Werks mit leichter Hand skizziert, endet mit den Worten, die der geliebte und vielfach nachgeahmte Held an seine Leser richtet: »Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.« 73


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Das Umschlagen der kathartischen Wirkung kann aber auch bis zur reinen moralischen Negativität gesteigert werden. Es ist im Rahmen dieser Betrachtungen nicht möglich, die so entstehenden Probleme bis in ihre sehr komplizierten realen Verzweigungen zu verfolgen, denn dazu müssten die hier ausschlaggebenden ethischen Kategorien eingehend bestimmt und zuei­ nander ins richtige Verhältnis gebracht werden. Hier können wir bloß zwei wichtige Umstände und auch diese nur äußerst kursorisch hervorheben. Ers­ tens die Historizität und damit die historische Relativität und Widersprüch­ lichkeit in der konkreten Erscheinungsweise solcher Kategorien; so äußert sich sehr oft das gesellschaftlich-geschichtlich Neue und Fortschrittliche als Bruch mit den herrschenden ethischen Anschauungen und darum als Böses, was noch dadurch ergänzt wird, dass das Neue und Fortschrittliche selbst in sehr widerspruchsvollen Formen zum Ausdruck gelangen und sogar vom menschheitlichen Standpunkt tief widerspruchsvoll sein kann. Das ist primär natürlich eine Frage des Lebens selbst. Man denke etwa an die Gestalt Napo­ leons und an den Einfluss seiner Persönlichkeit auf so verschiedene Gestalten wie Rastignac, Julien Sorel oder Raskolnikow (diese seien hier als Typen kon­ kreter und realer gesellschaftlicher Lagen genommen). Es ist ohne weiteres evident, dass die kathartische Wirkung, die von der Widerspiegelung ihrer Schicksale ausgeht, sehr leicht ins moralisch Zwiespältige, ja rein Negative umschlagen kann; man denke an die Spiegelung der Raskolnikow-Tragödie beim späteren sozialrevolutionären Schriftsteller Sawinkow-Ropschin. Die Möglichkeit solcher Wirkungen wird – zweitens – noch dadurch fundiert und verstärkt, dass das moralisch Verwerfliche keineswegs immer ein »kreatür­ liches« Versagen der Menschen der Majestät der moralischen Normen gegen­ über sein muss, sondern sich bis zu einem Setzen böser Maximen steigern kann. In solchen Fällen handelt es sich nicht um ein Zurückschrecken der Menschen vor den Geboten der Moral, nicht um ihr Herabsinken in ein Chaos des bloß Unmittelbaren, Gewohnten, Instinktiven etc., vielmehr im Gegen­ teil um ein Sich-Erheben über dieses Niveau, um eine – formal – ähnliche Selbstbearbeitung der eigenen Partikularität, um ein Sich-selbst-Steigern des Menschen, wie es im moralischen Handeln zu erringen ist. Der Inhalt der Maxime, nicht ihre Kraft des Menschenmodelns unterscheidet hier zwi­ schen gut und böse. Da nun die ästhetische Katharsis unmittelbar vor allem eine Erhöhung des Menschen über seine eigene Alltäglichkeit hervorbringt, ist eine Wendung zu einem derartigen Verhalten prinzipiell keineswegs aus­ geschlossen, und die früher angedeutete historische Dialektik und Wider­ sprüchlichkeit erleichtert in manchen Fällen seine Realisierung. 74


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

So einleuchtend also – im welthistorischen Sinn – die Lessingsche Aus­ legung der Katharsislehre von Aristoteles auch sein mag, eine Analyse der Praxis kann in ihren Auswirkungen sehr leicht Zweifel und Bedenken in bezug auf ihre ethische Eindeutigkeit auslösen. Der alte Goethe hat solche in seiner späten »Nachlese zu Aristoteles’ Poetik« ausgedrückt: »Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen inneren Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehen, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das, was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen, unbestimmten Zustande ent­ gegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen.«1 Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf Goethes Interpretation der ganzen Katharsisauffassung einzugehen, insbe­ sondere nicht auf seine äußerst problematische These, dass die Katharsis sich nicht als Wirkung des Werks im Rezeptiven abspielt, sondern als Versöhnung den Abschluss, die Krönung des Werks selbst bildet. Der oben zitierte Zweifel in bezug auf die Möglichkeit von kathartisch-ethischen Wirkungen verknüpft sich auf diese Weise mit dem Zweifel am moralischen Einfluss der Kunst überhaupt. Die innere Abgeschlossenheit des Kunstwerks, seine alles umfas­ sende, in sich abgerundete Totalität beinhaltet also hier ein Zerreißen der notwendigen Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik, ihre Beschränkung auf eine »Zufälligkeit«, wobei der wesentliche Akzent auf eine »Milderung der Sitten« gelegt wird, die ebenfalls in »Weichlichkeit« ausarten kann. Wir enthalten uns einer Polemik vor allem deshalb, weil die hier ausgesprochene Auffassung im System der Gesamtanschauungen Goethes – auch des alten Goethe – in dieser Zugespitztheit einen episodischen Charakter hat; nur die Verteidigung der Abgeschlossenheit des Werks, die Abwehr unmittelbar moralisierender Einwirkungen fügt sich organisch in dieses System ein. Goethes Bedenken gegen eine direkt und eindeutig moralische Wirkung der Katharsis sind um so gewichtiger, als sie auch im Laufe der späteren Ent­ wicklung in verschiedenen Formen immer wieder auftauchen. Seine Betrach­ tungen sind vor allem auf die Tragödie gerichtet, sie haben aber schon bei ihm eine Bezogenheit auf alle Künste, vor allem auf die Musik. Bei dieser – sowie bei den bildenden Künsten, wenn auch in anderen Formen – steigert sich nämlich die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit im geistigen und morali­ schen Sinn weit über die von uns für die Literatur geschilderte hinaus. Tho­ mas Mann gibt – vom »Tristan« bis zum »Faustus« – eine sehr eingehende 1

Goethe, Nachlese zu Aristoteles’ Poetik; JA 38, S. 81.

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Darstellung dieser Problematik, aber auch der viel mildere und geistig weni­ ger scharfe Hermann Hesse greift z. B. in seinem »Steppenwolf« die Frag­ würdigkeit der ethischen Wirkung der Musik auf. Sein Held verbindet diese Reflexionen mit einem Nachdenken über die deutsche Entwicklung und sagt in einem leidenschaftlich selbstkritischen Monolog: »Wir Geistigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos, dem Wort Gehor­ sam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt. Statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen, hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft frondiert und mit der Musik geliebäugelt. Und in der Musik, in wunderbaren seligen Tongebilden, in wunderbaren holden Gefühlen und Stimmungen, welche nie zur Verwirk­ lichung gedrängt wurden, hat der deutsche Geist sich ausgeschwelgt und die Mehrzahl seiner tatsächlichen Aufgaben versäumt.«1 Hier ist das Umschlagen ins Entgegengesetzte deutlich sichtbar. Man mag an der Darstellung Richard Wagners in Heinrich Manns »Untertan« vorbeigehen, da hier zugleich eine Kritik an Wagners Kunst selbst zumindest mit gemeint ist, aber man denke an den schönen Sowjetfilm über das Leben des Partisanenführers Tschapajew, in welchem ein grausamer, blutrünstiger weißer General auftritt, der in seinen Mußestunden begeistert und gar nicht schlecht Beethoven spielt, um diese Vieldeutigkeit klar vor Augen zu behalten. Wenn man alle diese Bedenken nebeneinanderstellt, so scheint das Wesen der Katharsis selbst in der Tragödie – von der Musik gar nicht zu reden – einer Selbstauflösung entgegenzugehen. Besonders scharf ist dieser Gegen­ satz, wenn man sich abermals auf die höchst eindeutige Stellungnahme der antiken Ästhetik bei Platon und Aristoteles besinnt. Dabei ist diese bereits eine Auflösungserscheinung der Polis, in deren Blütezeit die Verbindung von Ästhetik und Ethik sicherlich noch viel geradliniger und unabdingbarer war. (Platons Ablehnung der Kunst ist ja selbst ein Produkt dieser Auflösungs­ krise der Polis.) Indessen scheint uns, dass dieser Gegensatz doch kein aus­ schließender ist. Die enge Verbindung von Staatsbürgertum und Ethik (und damit von Ästhetik und Ethik) in der Blütezeit der Polis war eine einmalige Konstellation in der Weltgeschichte. Das Gewicht des individuellen Privat­ lebens, das bereits in der Stoa und bei Epikur deutlich fühlbar wird, kommt im Laufe der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung immer stärker zur Geltung und macht die Verbundenheit zwischen Einzelpersönlichkeit 1

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Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Frankfurt am Main 1961, S. 152 f.


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

und Menschengattung mit allen sie verbindenden Vermittlungen immer komplizierter, ohne sie freilich aufzuheben, im Gegenteil, um sie immer stärker mit neuen Inhalten zu bereichern. Die fast antike Stellungnahme Les­ sings gehört bereits zur Periode der »heroischen Illusionen« über eine wie­ derzuerweckende Polis, die in der großen Französischen Revolution ihren Kulminationspunkt erreicht. Das Zerstieben dieser Illusionen schafft jenen Zustand von Gesellschaft, Individuum und Ideologie (im weitesten Sinne genommen), der die von uns analysierten verwickelten und vieldeutigen Phänomene hervorbringt. Damit ist aber die Verbindung zwischen ästheti­ scher Katharsis und ethischem Verhalten bloß komplizierter geworden, hat jedoch keineswegs aufgehört zu existieren. Ein Verzicht auf sie wäre einer auf jedwede hohe Kunst. Ein solcher kommt natürlich in unseren Tagen häufig vor und ist eine der Kräfte, die die echte Kunst zu einer gefälligen oder fesselnden Belletristik erniedrigen. Bei einem großen Künstler-Moralisten wie Brecht ist das Festhalten am Kern der Katharsis, bei tiefem Misstrauen gegenüber jeder bloß emotionalen Wirksamkeit der Kunst, deutlich sichtbar. Der Verfremdungseffekt, dessen ästhetische Problematik an anderen Stellen dieses Werks zur Sprache kommt, will die bloß unmittelbare, erlebnishafte Katharsis ausschalten, um Raum zu schaffen für eine, die durch eine ver­ nunftmäßige Erschütterung des ganzen Menschen des Alltags ihn zu einer wirklichen Umkehr zwingt. Bei aller polaren Gegensätzlichkeit zu Rilke ist also dessen »Du mußt dein Leben ändern« auch das Axiom für das künst­ lerische Wollen Brechts. Obwohl wir also überzeugt sind, dass die von uns vollzogene Verallgemei­ nerung des Katharsisbegriffs berechtigt ist, müssen wir noch einen Vorbehalt hinzufügen, um auch den ästhetischen Charakter unserer Argumentation ins richtige Licht zu rücken. Genuin ästhetisch gehen bei allen Rezeptionen echter Kunstwerke dem Wesen nach ähnliche Erschütterungen vor sich. Sie sind jedoch zugleich voneinander qualitativ verschieden. Nicht nur in dem Sinn, dass, wie selbstverständlich, jedes Kunstwerk andersgeartete Emotio­ nen auslöst, dass diese sogar bei den verschiedenen Rezeptiven desselben Werks divergieren müssen, sondern auch auf einer allgemeineren Ebene: Die verschiedenen Künste und Kunstarten evozieren prinzipiell Verschie­ denartiges, so dass die unendliche Variabilität der einzelnen Emotionen sich in einem pluralistisch gegliederten Universum abspielt. Man mag manches an Beethoven, Rembrandt oder Michelangelo mit vollem Recht tragisch nen­ nen, wenn man sie aber innerhalb ihrer allgemeinsten, letzthinnigen Ein­ heit mit Sophokles oder Shakespeare vergleicht, so zeigt sich zugleich ihre 77


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ebenso tiefgreifende, spezifische, qualitative Andersartigkeit. Trotz dieser Vorbehalte meinen wir, dass das Hervorheben auch des allen Gemeinsamen berechtigt war. Denn erst die Spannung dieser Pole, ihre simultane Existenz und Wirksamkeit ergeben den echten ästhetischen Gehalt. Im Vergleich zur Aufhebung der Unmittelbarkeit in der wissenschaft­ lichen Widerspiegelung musste die Unmittelbarkeit der ästhetischen betont werden, jedoch im Verhältnis zur Unmittelbarkeit im Alltagsleben ist die ästhetische ebenfalls eine aufgehobene; dass dieses Aufheben im Herstellen einer neuen, sonst nirgends auffindbaren Unmittelbarkeit besteht, macht eben die Besonderheit des ästhetischen Setzens aus. In der Unmittelbarkeit des Alltagslebens ist das Wesen, das Allgemeine zwar latent überall vorhan­ den, muss aber – gerade mit Hilfe ihrer Aufhebung – aus der Verborgen­ heit ausgegraben werden. In der Unmittelbarkeit des Kunstwerks ist das Wesen, die Allgemeinheit zugleich verborgen und offenkundig. So entsteht im Kunstwerk eine »Welt«, die einerseits in ihrer Erscheinungsform von der existierenden (und von der wissenschaftlich erkannten) Wirklichkeit qualitativ, prinzipiell verschieden ist, die aber andererseits deren wesent­ liche Struktur, ihren kategoriellen Aufbau beibehält; sie vollzieht an ihr nur eine solche Umgruppierung, einen solchen Funktionswandel, dass sie der menschlichen Aufnahmefähigkeit, den menschlichen Erlebnisbedürfnissen angemessen wird. Auch dieses Problem ist bereits wiederholt gestreift wor­ den; nicht nur, wo ausdrücklich von einer solchen Angemessenheit die Rede war und deren hedonistisch-unmittelbare Aufhebung abgelehnt wurde, son­ dern auch dort, wo im Anschluss an Goethe die Natürlichkeit dieser »Welt« zur Sprache kam. Beide Umschreibungen beziehen sich auf dasselbe: auf die hier angedeutete Spannung von Unmittelbarkeit und Sinnbeladenheit; auf das Innewerden des Wesens in der Erscheinung; auf eine immanente Voll­ endung und gediegene Komplettheit der künstlerischen Welt, die in dieser Hinsicht – aber ausschließlich in dieser – über die dem Menschen gegebene objektive Wirklichkeit hinausgeht, die gerade durch ein solches Überschrei­ ten ihrer gewohnten Grenzen ihre Diesseitigkeit, die alleinige Realität ihrer Existenz bestätigt. Gottfried Keller gibt, wie wir gesehen haben, eine gute Beschreibung der Welt Shakespeares, die diese Lage prägnant ins Licht stellt. Kellers Stellungnahme ist für uns auch insofern bedeutsam, als er der richtigen Beschreibung des Tatbestandes auch die einer unrichtigen Stel­ lungnahme hinzufügt und damit ungewollt die gute Kritik einer falschen Auffassung der Wirklichkeit der ästhetischen Widerspiegelung gibt. Wir meinen die sogenannte Illusionstheorie. Kellers Pankraz sagt nämlich: »Weil 78


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nun alles übrige so trefflich, wahr und ganz erschien und ich es für die eigent­ liche und richtige Welt hielt, so verließ ich mich … ganz auf ihn …« Pankraz verwandelt so die Shakespearesche treue Widerspiegelung der Wirklichkeit in eine Illusion, ähnlich wie Don Quijote die Ritterromane, und erleidet viel­ fach ein ähnliches Schicksal. Damit ist bereits eine Kritik der Illusionstheorie gegeben. Die große Entstehungszeit der modernen Philosophie war sehr hart in der Beurteilung der Illusionen; man nannte sie einfach Irrtümer, Träume, Verfehlen der Ziele und Methoden der Erkenntnis der Welt; in dieser Hinsicht herrschte zwischen Bacon, Descartes und Spinoza volle Übereinstimmung. Wenn damit auch die praktischen Folgen der Illusionen vielfach übersehen wurden, so haben die großen Revolutionen des 17.–19. Jahrhunderts wichtige Erfahrungen gebracht, vor allem über den Unterschied von welthistorisch fortschrittlichen und subjektiv bleibenden leeren Illusionen; Marx hat diese Lehre der Revolutionen am prägnantesten bearbeitet. Erst als auch diese Periode vorbei war, als die Illusionen bereits zu bloß tatenlosen Träumereien wurden, als die Donquichotterie sich in ein Oblomowtum verwandelte, ver­ suchte man das Geheimnis der ästhetisch widergespiegelten Welt in einer – »bewussten« – Illusion zu finden. Unsere bisherigen Darlegungen zeigen ohne weitere Polemik die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts. Wir erwähnten hier diese Theorie überhaupt nur deshalb, weil sie als Kontrast das von uns aufgezeigte Verhältnis von Wirklichkeit und ästhetischer Widerspiegelung beleuchtet. Die Illusion ist erstens rein subjektiven Charakters, zweitens will sie von dieser Subjektivität aus die objektive Wirklichkeit korrigieren, besser gesagt, ihr eine aus subjektiven Träumen gewobene »bessere« Wirklichkeit gegenüberstellen. Die modernen subjektivistischen Erkenntnistheorien hel­ fen ebenfalls in der Ausbildung solcher Konzeptionen. Das ändert nichts an ihrer Haltlosigkeit. Dass die ästhetischen Gebilde als Widerspiegelungen der Wirklichkeit die Subjektivität nicht ausschalten wollen und können, schafft die mit Hilfe ihrer Vermittlung entstehende spezifische Objektivität nicht aus der Welt; dass sich der Schaffende wie der Rezeptive des Widerspiegelungs­ charakters der ästhetischen Akte und Gebilde bewusst sind, hat mit dem Wesen der Illusion nichts gemein. Freilich nicht in dem Sinne, dass diese Akte ohne Beziehung zur gesellschaftlichen Aktivität vollziehbar wären. Über die hier entstehenden Probleme werden wir alsbald bei Behandlung des Nachher der ästhetischen Rezeptivität ausführlicher sprechen. Jetzt aber kann schon gesagt werden, dass die ästhetische Widerspiegelung ihrem Wesen nach nicht die unmittelbare Basis der gesellschaftlichen Aktivität werden kann wie die Illusion, deren Wesen gerade darin besteht, dass sie – fälschlicherweise – 79


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mit einem wahren und praktisch verwertbaren Abbild der Wirklichkeit ver­ wechselt wird. Die sogenannte bewusste Illusion erniedrigt die Kunst auf das Niveau eines Tagtraums, entfernt aus der Reihe ihrer Wirkungsmöglich­ keiten gerade jene, deren prägnanteste Form eben die von uns geschilderte Katharsis ist: nämlich die Wirkung, die der Zusammenstoß der ästhetisch gespiegelten objektiven Wirklichkeit mit der bloßen Subjektivität des All­ tags auslöst. Diese Allgemeingeltung der Katharsis und die Ablehnung jeder Illusions­ theorie weisen von verschiedenen Seiten auf dasselbe Grundphänomen des Ästhetischen hin: auf die Simultaneität einer restlos vollendeten Diesseitig­ keit in seinen Gebilden mit ihrem Übertreffen der unmittelbar-alltäglichen Wirklichkeit an Intensität, an sinnfälliger Unendlichkeit der wesentlichen Bestimmungen, an Konvergenz bis zur engsten Berührung von Erscheinung und Wesen, an absoluter Identität von Inhalt und Form. Diese Gedoppeltheit und Einheit von, abstrakt angesehen, divergierenden, ja entgegengesetzten Tendenzen spricht sich im Erlebnis der Katharsis aus, deren Eintreffen und Erfüllung deshalb ebenfalls eine vereinte Gedoppeltheit aufweist: Sie ist ein entscheidendes Kriterium der künstlerischen Vollendung des jeweiligen Werks und zugleich das bestimmende Prinzip für die wichtige soziale Funk­ tion der Kunst, für die Beschaffenheit des Nachher ihrer Wirkungen, ihrer Ausbreitung ins Leben, der Rückkehr des ganzen Menschen ins Leben, nach­ dem er als »Mensch ganz« sich der Wirkung eines Kunstwerks hingegeben und die kathartische Erschütterung erlebt hat. Beide Fragen gehören dem Wesen nach den Problemkomplexen des zweiten Teils an; hier können wir nur einige dieser unerlässlichen Prinzipien kurz streifen. Es wurde bis jetzt wiederholt auf die Priorität des Inhalts der Form gegenüber hingewiesen. Auch wenn wir nun bloß auf das Prinzipiellste eingehen, wird sich in großen Linien erneut zeigen, dass diese Priorität des Inhalts die Bedeutung der For­ men keineswegs herabsetzt, im Gegenteil noch schärfer hervorhebt, als ein einseitiger Formalismus dazu imstande wäre. Denn erst von hier aus kann man ihre spezifischen Funktionen richtig würdigen, ihre wirklichen Meister von bloßen Virtuosen klar unterscheiden. Diese spezifischen Funktionen der Formen konzentrieren sich darauf, einen für die Menschheit bedeutsamen Inhalt allgemein erlebbar zu machen. Die Wege der echtgeborenen großen Künstler trennen sich nun vor allem darin von denen der geringeren, dass jene in dem sich ihnen darbietenden Lebensstoff diesen gediegenen Gehalt, seine Affinität zu bestimmten Formen – und wenn nötig, zu ihrer konkre­ ten Erneuerung – mit unfehlbarer Sicherheit erkennen und verwirklichen, 80


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während die geringeren hier mehr oder weniger haltlos herumirren und in der Begegnung mit einem wahrhaft gediegenen Gehalt vielfach dem Zufall ausgeliefert sind. Findet nun ein solches Zusammentreffen von Gehalt und Form nicht statt – wir sprechen hier von wirklichen Künstlern –, so entsteht das, was man in der Literatur ganz richtig als bloße Belletristik zu bezeichnen pflegt; ähnliche Erscheinungen sind natürlich in den bildenden Künsten und in der Musik ebenfalls zu beobachten. Diese Belletristik kann rein formal – in Stil, Aufbau, Psychologie etc. – auf achtenswerter Höhe stehen, sie wird aber in ihren Dauerwirkungen nie über ein bloßes Fesseln oder Unterhalten, even­ tuell über ein unerfülltes Spannen hinausgehen; sie wirkt oft angenehm, weil sie im Rezeptiven bereits vorhandene Erfahrungen bestätigt oder eventuell durch stoffliche Neuheit diese quantitativ erweitert, bringt jedoch nie jene wahrhafte Ausweitung und Vertiefung des menschlichen Gesichtskreises, die wir eben im Erlebnis der Katharsis beobachten konnten. Wenn man an die Gesamtheit der Werke von wirklich hervorragenden Schriftstellern wie Theodor Fontane, Joseph Conrad oder Sinclair Lewis denkt, so kann man im Gegensatz zu ihren Meisterwerken in einem Teil ihrer Produktion sehr deutlich dieses Herabsinken der hohen Kunst zu bloßer Belletristik beob­ achten; mit diesem minderen Teil ihrer Produktion streifen sie jene großen Massen der Schriftwerke, deren Bereich bis zum völlig hohlen Amüsement hinunterreicht. Der klare Blick über diese Sphäre wird immer wieder durch Zeittendenzen getrübt. Unter dem Einfluss gegenwärtiger Ereignisse kann unter Umständen eine sie gut oder geschickt wiedergebende Belletristik mit­ unter sogar tiefe Erschütterungen auslösen. Erst die historische Entwicklung zeigt, manchmal sogar ziemlich rasch, dass es sich doch nur um Belletris­ tik gehandelt hat. Solche Wirkungen können mitunter sogar künstlerisch wertlose Produkte hervorbringen, wenn sie einem überaus gewichtigen sozialen Auftrag entgegenkommen. Man denke etwa an die Entstehungs­ zeit des bürgerlichen Dramas und dabei an Lillos »The London Merchant«. Gerade hier ist die Bedeutung der gediegenen Identität von Form und Inhalt klar sichtbar: Erst ein mit dem Schicksal der Menschheit irgendwie innig verknüpfter Gehalt kann eine wirklich tiefgreifende Formung auslösen, da ja, wie wir wissen, die künstlerische Form stets die Form eines bestimm­ ten Inhalts ist, während, wenn diese Beziehung fehlt, auch die virtuoseste Formbehandlung, die getreueste Erfüllung des sozialen Auftrags nicht zu dieser Identität führt und bloß eine vorübergehende, rasch veraltende stoff­ liche Wirkung auszulösen imstande ist. Wir wiederholen: das Phänomen 81


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der Belletristik ist keineswegs ein nur literarisches, sondern ein Gemeingut aller Künste.1 Ein weiterer Typus dieser Art ist das, was wir Kitsch zu nen­ nen gewohnt sind. Während aber das als Belletristik bezeichnete Phänomen ein mehr oder weniger immer vorkommendes ist, obwohl es in verschie­ denen sozialen Formationen sehr verschiedene Erscheinungsweisen haben kann, ist der Kitsch die Spezialität späterer Entwicklungsstufen und ist in langwährenden Perioden so gut wie vollständig unbekannt; in den letzten beiden Jahrhunderten tritt er besonders penetrant hervor. Er ist darum offenkundig und allgemein anerkannt eine gesellschaftlich-geschichtliche Erscheinung und gehört deshalb in den historisch-materialistischen Teil der Ästhetik. Hier sollen nur jene seiner Aspekte behandelt werden, die mit unserer gegenwärtigen Frage in enger Beziehung stehen. Seine unmittel­ bare und entschiedene gesellschaftliche Determiniertheit sei nur eingangs erwähnt, vor allem deshalb, weil auch jene Kreise, die die gesellschaftliche Bedingtheit der Kunst abzulehnen pflegen, hier gerade auf diese Verur­ sachung rekurrieren. So gibt Hermann Broch eine richtige Einleitung zur sozialen Analyse des Kitsches: »Denn Kitsch könnte weder entstehen noch bestehen, wenn es nicht den Kitsch-Menschen gäbe, der den Kitsch liebt, ihn als Kunstproduzent erzeugen will und als Kunstkonsument bereit ist, ihn zu kaufen und sogar gut zu bezahlen. Kunst ist, wird sie im weitesten Sinne genommen, immer Abbild des jeweiligen Menschen, und wenn der Kitsch Lüge ist – als welche er oft und mit Recht bezeichnet wird –, so fällt der Vorwurf auf den Menschen zurück, der solche Lügen- und Verschöne­ rungsspiegel braucht, um sich darin zu erkennen und mit gewissermaßen ehrlichem Vergnügen sich zu seinen Lügen zu bekennen.«2 Das, was Broch »Kitsch-Mensch« nennt, hat, wie er richtig sieht, die Lüge zum Fundament: eine zumeist wenig bewusste, verlogene, auf Illusionen beruhende Vorstel­ lung über die Beziehung des Menschen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, über die Stellung zu seiner Klasse, zu seinem Schicksal in ihr und demzu­ folge über die Beschaffenheit und über das angemessene Geschick der eige­ nen Persönlichkeit. (Hier erscheint mit handgreiflicher Evidenz, dass die Bewusstheit über den Widerspiegelungscharakter der ästhetischen Gebilde nichts mit Illusionen gemein hat.) Im Fall des Kitsches handelt es sich also darum, dass das Herantreten an die Widerspiegelung der Wirklichkeit und 1 2

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Alban Berg hat in bezug auf die Musik auf dieses Phänomen deutlich hingewiesen. Vgl. seinen Aufsatz: Verbindliche Antwort auf eine unverbindliche Rundfrage. In: Musiker über Musik, S. 210–212. Hermann Broch, Dichten und Erkennen. Essays. Bd. 1, Zürich 1955, S. 295.


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an deren Formung – einerlei, wieweit subjektiv bewusst – auf der Grund­ lage einer objektiv verlogenen »Weltanschauung« geschieht, so dass die Intention des Schaffens nicht darauf gerichtet ist, durch wahrheitsgetreue Wiedergabe der Welt zum Wesen des Menschen zurückzufinden, sondern im Gegenteil darauf, diese so zurechtzurücken, ihre Inhalte, Proportionen so zu verbiegen und zu verzerren, dass sie den sachlich unberechtigten Wünschen und Illusionen entspreche, sie illustriere. Die ästhetische Eigenart der Form, dass sie nur die besondere Form eines besonderen Inhalts ist, erprobt sich schlagend in solchen negativen Konstellationen: Sie wird ebenfalls verlogen und verzerrt; ganz unabhängig davon, wieviel technisches Können, for­ malistische Invention etc. im Subjekt des Produzenten aufgespeichert und auf die Produktion verschwendet wird. Die unendlich konkrete Variabilität des Kitsches, ob er etwa ordinär oder raffiniert, »gesund« oder dekadent, formal gut oder schlecht, begabt oder unbegabt hergestellt ist, welche klas­ senmäßige Basis seine Verlogenheit hat, kann hier nicht einmal angedeutet werden. Sie braucht es auch nicht, denn es ist klar, dass von unserem Stand­ punkt der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit zwischen einer als Renaissance- oder Barockpalais maskierten Mietskaserne und den Romanen einer Courths-Mahler oder einem Film, in welchem der Millionärssohn die Stenotypistin heiratet, prinzipiell gar kein Unterschied besteht. Der dritte Typ des Abweichens vom ästhetischen Prinzip, mit dem wir uns hier kurz zu befassen haben, begleitet die Entwicklung der Kunst von ihren Anfängen bis zu unseren Tagen. Dabei interessiert uns hier nur der Ein­ bruch rhetorisch-publizistischer Tendenzen in die Kunst; dass Rhetorik und Publizistik sehr häufig die Hilfe einzelner ästhetischer Mittel in Anspruch nehmen, gehört zu jenen sozialen Ausstrahlungen der Kunst überhaupt, die uns hier nicht zu beschäftigen brauchen. Wir haben in anderen Zusammen­ hängen die antike Auffassung von Rhetorik und Geschichtsschreibung als Kunst erwähnt; wir haben auch gesehen, dass Aristoteles sogar im pseudo­ ästhetischen Element der Rhetorik wichtige ästhetische Kategorien entdeckt hat. In der Blütezeit der Antike hat diese Klassifizierung auch kein Eindrin­ gen kunstfremder Tendenzen ins Gebiet des Ästhetischen herbeigeführt. Das blieb der Neuzeit vorbehalten. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass etwa die ersten Utopisten gewisse äußerliche Eigenschaften der erzählenden For­ men literarisch gebraucht haben; man muss nur die »Utopia« von Morus neben den »Gulliver« stellen, um zu sehen, wie in diesem die – positiv und negativ – utopischen Beschreibungen nur einen Stoff für seine dichterischsatirische, ästhetische Welt ergeben, während bei jener das Erzählerische 83


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nur eine technisch-publizistisch geeignete Einkleidung für die verständli­ che und populäre, publizistisch-wissenschaftliche Mitteilung von Erkennt­ nissen ist. Natürlich sind – ebenso wie in der Antike, angefangen bei den »Persern« von Aischylos und den Komödien von Aristophanes – auch spontan immer wieder Werke entstanden, die unmittelbar in die Klassen­ kämpfe ihrer Tage eingreifen wollten; es genügt, an Milton oder Bunyan zu erinnern. Natürlich ist aus diesen und verwandten Gründen das rheto­ rische Element oft sehr stark in die Kunst eingedrungen. Und zwar nicht wie bei Shakespeare, wo das Rhetorische etwa bei Brutus und Antonius zum bloßen Mittel des Charakterisierens wird, sondern es bildet selbst bei bedeutenden Dichtern wie Schiller oder Victor Hugo geradezu das homo­ gene Medium ihrer Gestaltungsweise oder wenigstens eine ihrer wichtigen Komponenten, ohne deshalb den ästhetischen Charakter ihrer Werke auf­ zuheben; wo dies doch geschieht, liegt der Grund darin, dass das Rhetori­ sche das homogene Medium sprengt und als solches zur eigenen Wirkung gelangt. Damit ist das Moment des Übergangs bereits bezeichnet. Vom 19. Jahrhundert an gibt es in immer größerer Anzahl Werke, deren ästhe­ tisches Niveau bestenfalls jenes erreicht, das wir früher als Belletristik bezeichnet haben, und die die fehlende künstlerische Substanz durch ein unorganisches Einfügen direkt wirkender rhetorischer oder publizistischer Elemente ersetzen. Im 20. Jahrhundert erwuchs daraus sogar eine eigene – Montage genannte – »schöpferische Methode«. Wenn wir nun das einheit­ liche Prinzip solcher Bestrebungen vom Standpunkt der Ästhetik suchen, so stoßen wir darauf, dass hier überall die spezifisch ästhetische Widerspiege­ lungsart beiseite geschoben oder bestenfalls zum Hilfsmittel erniedrigt wird, dass das homogene Medium aufhört, die dargestellte »Welt« zusammen­ zuhalten, zu vereinheitlichen, die Erlebnisse der Rezeptivität zu leiten (zur Zeit des Aufkommens der Montage wird dieser Mangel als neues ästhetisches Prinzip ausgesprochen), dass demzufolge die Wirkung nicht an den ästhe­ tisch gerichteten Rezeptiven, an den »Menschen ganz« appelliert und in ihm ästhetische Erlebnisse zu evozieren versucht, sondern einfach auf den im praktischen Alltagsleben stehenden ganzen Menschen orientiert ist, um ihn direkt zu einer unmittelbar-­praktischen Stellungnahme für oder gegen eine aktuelle Erscheinung des Lebens zu veranlassen. Mit dieser Gegenüberstellung befinden wir uns bereits mitten in der Pro­ blematik des Nachher der ästhetischen Wirkung. Um jedoch hier nicht zu einem voreiligen Entscheiden zu gelangen, muss einleitend bemerkt werden, dass das bisher Gesagte und nunmehr zu Sagende sich ausschließlich auf 84


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

die Werke bezieht, die subjektiven Aussagen der Autoren und ihrer Kritiker aber außerhalb unserer Betrachtungen bleiben. Es kann nämlich gesche­ hen, dass entweder die von uns beschriebene Überwucherung des Künst­ lerischen durch Rhetorik und Publizistik vom Bewusstsein begleitet wird, eine neue echte ästhetische Ära einzuleiten, oder die ganze bisherige Ästhe­ tik theoretisch beiseite geschoben wird, dabei jedoch – der neuen Theorie zum Trotz – ästhetisch bedeutende Kunstwerke entstehen (man denke an die reife Produktion von Bertolt Brecht). Uns werden also im folgenden nur die Werke selbst beschäftigen. Die Analyse dieser drei Typen zeigt uns, dass man den Begriff der Katharsis, der Erschütterung des Rezeptiven durch das Werk, durch das Neue – das das bisher wahrgenommene Sein Erweiternde und Vertiefende –, nicht konkret genug fassen kann. Wenn nämlich wie bei der Belletristik der Gehalt flach wird oder wie beim Kitsch das zum Aus­ druck kommende Gefühl ein falsches, ja ein verlogenes ist, kann der rezeptive Eindruck höchstens in formalen Äußerlichkeiten dem genuin Ästhetischen ähneln. Komplizierter ist der Fall bei dem zuletzt behandelten Typus. Hier kann nämlich die dem Werk zugrunde liegende Gefühlswelt eine echte und aufrichtige sein wie auch das dargebotene Wirklichkeitsbild ein wahrheits­ getreues, ohne dass eine ästhetische Wirkung – vorherbestimmt durch Gehalt und Struktur des Werkes – eintreten würde. Um diesem Phänomen näherzu­ kommen, betrachten wir vorerst extreme Beispiele. Der seinerzeit bekannte französische Dramatiker Brieux hat für den gesellschaftlichen Tagesgebrauch aktuelle und nützliche Themen aufgegriffen, so die Missbräuche in der Ammenwirtschaft, den schädlichen Einfluss der Syphilis auf die Ehe. Wie­ weit eine derartige Produktion in praktischer Hinsicht einen wesentlichen Nutzen gebracht hat, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Die Erlebnisse, die sie erzielt, sind jedenfalls dem Wesen nach nicht ästhetisch. Jede Lebenstat­ sache, die hier zu erfahren wäre, jeder Ausblick auf bisher vernachlässigte Tatsachen ist auf anderen Wegen weitaus besser: klarer, exakter, übersicht­ licher, umfassender, zugleich allgemeiner und an Einzelheiten belegter, zu erzielen. Nicht umsonst bauen derartige Vertreter der Montage statistische, aktenmäßig bewiesene Einzeltatsachen etc. in ihre Werke ein. Wo das dichte­ risch Überzeugende fehlt, sollen gesammelte Fakten dafür einspringen. Der einzige Vorteil, den die literarische Form haben kann, ist, dass sie etwa infolge der theatralischen Effekte eine Zuhörerschaft erzwingen mag, die für eine einfache Publizistik nicht zu erreichen wäre. Das sind aber extreme Fälle, aus denen nur Pedanten des Akademismus eine Ablehnung der Tagesfragen für die Kunst abzuleiten versuchen können. 85


Ästhetik

Nehmen wir zur besseren Beleuchtung das andere Extrem: Man denke an Gedichte von Petőfi, Majakowski oder Éluard, an Bilder und Blätter von Goya und Daumier, und man sieht sogleich, dass das unmittelbare Eingreifen in die aktuellsten Kämpfe zum Träger einer hohen Kunst werden kann. Und man darf dabei die Rolle des auslösenden Anlasses nicht unterschätzen, ihn keineswegs als bloßen Anlass auffassen, der irgend etwas von ihm ästhetisch Loslösbares in die Welt gesetzt hätte. Solche Werke sind – gerade im ästheti­ schen Sinne – untrennbar mit jenen »Forderungen des Tages« verwachsen, die sie ins Leben rufen. Eben weil sie diesen Augenblick der Geschichte in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zugleich mit seiner typischen, gesell­ schaftlichen und menschlichen Bedeutung ergreifen und gestalten, können sie eine sofortige Wirkung von sonst unvorstellbarer Wucht und Intensi­ tät erlangen, jedoch eine, die mit dem Vorbeigehen, mit dem Verblassen, ja In-Vergessenheit-Geraten des fruchtbringenden Augenblicks nichts von ihrer schlagkräftigen Intensität verlieren muss. Die Gedoppeltheit in der Genesis, im gestalteten Sein sowie in der Wir­ kung und Nachwirkung spricht das ästhetische Prinzip im Gegensatz zu jeder Publizistik in äußerlichem Kunstgewand aus. Diese bleibt einerseits an der Partikularität von vereinzelten oder abstrakt verbundenen Tatsachen kle­ ben, andererseits springt sie von dort direkt zu Allgemeinheiten, die an sich richtige oder falsche, tiefe oder flache Abstraktionen sein mögen, keinesfalls aber auf das Menschsein des Menschen bezogen sind. Der Unterschied liegt also, wie schon wiederholt gesagt, nicht darin, dass eine solche Darstellung, Gruppierung, Verallgemeinerung von Tatsachen keine Emotionen auslösen könnte. Unter Umständen sind dazu die abstraktesten, rein wissenschaftli­ chen Theorien fähig, ohne die Sphäre der Kunst auch von weitem zu streifen; man denke an die Weltkrise, die die Kopernikanische Theorie ausgelöst hat, die ihre Märtyrer und Henker hatte, an die Wirkung des »Contrat Social« in der Französischen Revolution, an die des Marxismus in der Arbeiterbe­ wegung und bei ihren Feinden. Noch weniger wird man leugnen können, dass die Tatsachen des Lebens auch unabhängig von einer publizistischen Bearbeitung, sogar bei einer sehr schlechten, ganz vehemente Gefühlsaus­ brüche verursachen können: Es ist also nicht von Emotion überhaupt, nicht von ihrem Gegensatz zur bloß verstandesmäßigen Apperzeption die Rede, sondern von der Beziehung der besonderen ästhetischen Emotion zu bei­ den. Diese kann natürlich auch bei Einbau und Benutzung publizistischer Ausdrucksmittel in ein ästhetisches Gefüge entstehen; wir haben uns früher in bezug auf Rhetorik auf Schiller und Victor Hugo berufen, es möge hier 86


Georg Lukács: Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

genügen, dass wir die Romane Tschernyschewskis erwähnen.1 Entscheidend sind also auch die angewendeten darstellerischen Mittel nicht; die Zugehö­ rigkeit zur Ästhetik entscheidet sich vielmehr danach, wie umfassend und intensiv die Bezugnahme des Werks auf das Menschsein des Menschen ist. Tschernyschewskis Roman unterscheidet sich von den übrigen publizisti­ schen Romanen und Dramen gerade darin, dass in ihm die Unhaltbarkeit und Unmenschlichkeit der zaristischen Reaktion und der in ihr herrschenden Sitten sowie die Gegenbewegung der Revolutionäre sich in individuel­ len Menschentypen verkörpern, dass deren zutiefst persönlich bestimmte Schicksale das Pro und Contra in sich konzentrieren. Ebenso steht es, wenn man eine pamphletistische Zeichnung Daumiers mit einer noch so fort­ schrittlich gesinnten rein publizistischen Karikatur vergleicht: hier eine par­ tikulare, oft sogar bloß verzerrt-photographische Verneinung, dort spricht sich in der künstlerischen Linienführung und Komposition die Verachtung einer ganzen Epoche in der menschlichen und gesellschaftlichen Unwürdig­ keit ihrer typischen Gestaltung aus. 1963

1

gl. dazu meine Studie über den Roman »Was tun?«, wo ich auch auf andere, ähnliche V Erscheinungen in der Weltliteratur hingewiesen habe: Der russische Realismus in der Welt­ literatur, S. 125 ff.; jetzt in. Werke. Bd. 5.

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Das Problem der Öffentlichkeit

Es scheint, dass wir wieder bei einem formalen, bei einem kompositionel­ len Problem angelangt sind, aber die wirkliche Form ist auch hier nur eine künstlerisch verallgemeinerte Widerspiegelung von gesetzmäßig wieder­ kehrenden Lebenstatsachen. Inhaltlich gesehen bedeutet die von uns bis jetzt herausgearbeitete Differenz: die Öffentlichkeit im Drama. Ihrem his­ torischen Ursprung nach ist freilich auch die Epik eine öffentliche Kunst gewesen. Dies ist sicher einer der Gründe, weshalb der formale Abstand zwischen antikem Epos und Drama geringer war als der zwischen Roman und Drama (trotz der größeren gegenseitigen Wirkung aufeinander). Aber diese Öffentlichkeit des altgriechischen Epos ist nicht mehr als die des ganzen Lebens in einer primitiven Gesellschaft. Und diese Öffentlich­ keit musste notwendigerweise mit der Höherentwicklung der Gesellschaft verschwinden. Wenn wir an der Bestimmung des Epos als »Totalität der Objekte« festhalten – und gerade die Homerischen Epen bilden die Grund­ lage und die beste praktische Bestätigung der Richtigkeit dieser Bestim­ mung –, so ist es klar, dass eine solche Welt in ihrem vollen Umfange nur auf einer sehr primitiven Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung ihre Öffentlichkeit beibehalten kann. Man denke an die historischen Ausführun­ gen von Engels über den öffentlichen Charakter z. B. des Haushalts in einer primitiven Gesellschaft und an die notwendige Privatisierung aller mit der Lebenserhaltung zusammenhängenden Tatsachen und Verrichtungen auf einer bereits ein wenig höheren Stufe der Entwicklung. Und man vergesse dabei nicht, welche Rolle gerade die Öffentlichkeit dieser Lebensäußerun­ gen in den Homerischen Epen spielt. Die dramatischen Momente des Lebens sind aber als solche, als selb­ ständige erhöhte Teile des Lebensprozesses in jeder Gesellschaft notwendig öffentlich. Auch diese Trennung darf nicht pedantisch aufgefasst werden und insbesondere niemals zu einer Klassifizierung der Lebenstatsachen in öffent­ liche und nichtöffentliche, in dramatische und epische führen. Fast jede Tat­ sache des Lebens kann unter bestimmten Bedingungen eine Erscheinungs­ weise erreichen, durch die sie einen öffentlichen Charakter erhält, sie hat eine Seite, die die Öffentlichkeit unmittelbar angeht, die zu ihrer Darstellung eine 89


Ästhetik

Öffentlichkeit erfordert. Gerade hier sehen wir das Umschlagen von Quanti­ tät und Qualität in einer sehr klaren Weise. Der dramatische Konflikt unter­ scheidet sich nicht seinem sozialen Inhalt nach von den übrigen Ereignissen des gesamten Lebens, sondern nur nach Art und Grad in der Zuspitzung der Widersprüche; welche Zuspitzung dann selbstverständlich eine neue, eigen­ artige Qualität hervorbringt. Diese Einheit von Einheit und Verschiedenheit ist für die unmittelbare Wirkung des Dramas unerlässlich. Der dramatische Konflikt muss für die Zuschauer unmittelbar, ohne besondere Erklärung erlebbar werden, sonst könnte er nicht wirken. Er muss also mit den normalen Konflikten des All­ tagslebens eine große inhaltliche Gemeinschaft besitzen. Er muss zugleich eine neue und eigenartige Qualität repräsentieren, um dann auf dieser gemeinsamen Lebensgrundlage die breite und tiefe Wirkung des echten Dramas auf die öffentlich versammelte Masse ausüben zu können. Gerade die von uns früher hervorgehobenen Beispiele von welthistorisch bedeu­ tenden bürgerlichen Dramen wie »Der Richter von Zalamea«, »Kabale und Liebe« usw. zeigen am deutlichsten diesen Umschlag. Sie zeigen, dass gerade diese Zuspitzung den an sich alltäglichen Fall vehement vor das Forum der Öffentlichkeit reißt. Das ist aber ein Prozess, der wiederum im Leben selbst mit großer Häufigkeit vorkommt. Das Drama als Dichtung der Öffentlichkeit setzt also eine solche Thematik und Bearbeitung voraus, die dieser Höhe der Verallgemeinerung und Intensivierung in jeder Hinsicht entspricht. Die Öffentlichkeit des Dramas hat einen doppelten Charakter. Dies hat bereits Puschkin mit größter Klarheit ausgesprochen. Er sagt erstens über den Inhalt des Dramas: »Welches Element entfaltet sich in der Tragödie? Was ist ihr Ziel? Der Mensch und das Volk. Das Schicksal des Menschen, das Schicksal des Volkes.« Und im engen Zusammenhang mit dieser Bestimmung spricht Puschkin über die öffentliche Entstehung und die öffentliche Wirkung des Dramas: »Das Drama ist auf einem öffentlichen Platz entstanden, es war eine Volksbelustigung. Das Volk fordert wie die Kinder Unterhaltung, Handlung, das Drama scheint ihm ein außerordentliches, wahrhaftes Ereignis zu sein. Das Volk fordert starke Eindrücke, für es sind auch die Hinrichtungen ein Spektakel. Die Tragödie ließ vor allem fürchterliche Verbrechen, übernatür­ liche Leiden, sogar physische (z. B. Philoktet, Ödipus, Lear) erscheinen, aber die Gewohnheit stumpft die Eindrücke ab, die Einbildungskraft gewöhnt sich an die Folterungen und Hinrichtungen und betrachtet sie dann mit Gleich­ gültigkeit; dagegen ist die Schilderung der Leidenschaften und der Ergüsse der menschlichen Seele immer neu für das Volk, immer interessant, groß und 90


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

belehrend. Das Drama wandte sich der Beherrschung der Leidenschaften und der menschlichen Seele zu.« Puschkin trifft mit der Verknüpfung dieser beiden Seiten der Öffentlichkeit des Dramas dessen Wesen in einer tiefen und umfassenden Weise. Das Drama behandelt menschliche Schicksale, ja es gibt keine andere Gattung der Literatur, die sich so ausschließlich auf Menschenschicksale konzentrieren würde, und zwar auf solche, die sich aus den wechselseitigen kampfvollen Beziehungen der Menschen zueinander ergeben und sich mit einer betonten Ausschließlichkeit nur aus diesen ergeben. Aber eben deshalb sind es eigenartig erfasste und dar­ gestellte Menschenschicksale. Solche, die unmittelbar allgemeine Schicksale, Schicksale ganzer Völker, ganzer Klassen, ja sogar ganzer Epochen zum Aus­ druck bringen. Diese unzertrennbare Verknüpftheit von unmittelbarer Massen­ wirkung und hoher Verallgemeinerung der Bedeutsamkeit des Gehalts an den Menschen formuliert Goethe sehr präzis in den Worten: »Genau aber genom­ men, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist, eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet.« Wir haben gesehen, wie eng diese Frage der Öffentlichkeit des Inhalts mit der Formfrage des Dramas, mit der notwendigen Öffentlichkeit der Auf­ führung zusammenhängt. Das Wesen der dramatischen Wirkung ist sofortige, unmittelbare Wirkung auf eine Menge. (Diese soziale Voraussetzung der dra­ matischen Form wird durch die kapitalistische Entwicklung zerstört und zer­ setzt. Es entsteht einerseits ein mehr oder weniger »rein literarisches Drama«, in welchem diese notwendigen Kennzeichen der dramatischen Form feh­ len oder nur sehr abgeschwächt vorhanden sind. Andererseits entsteht eine gehaltlose, leere theatralische Pseudokunst, die die aus dem ursprünglichen dramatischen Prinzip entstammenden Spannungsmomente mit formalisti­ scher Geschicklichkeit zu einer wesenlosen Unterhaltung der herrschenden Klasse verwertet. Damit kehrt in einem bestimmten Sinne die von Puschkin angedeutete Anfangsperiode des Theaters wieder. Was jedoch damals eine primitive Roheit gewesen ist, aus der sich mit der Zeit ein Calderon oder Shakespeare herausentwickeln konnte, wird jetzt zur hohlen und raffinierten Brutalität zwecks Amüsements eines dekadenten Publikums.) Die wirkli­ che unmittelbare Bezogenheit der dramatischen Form auf die unmittelbare Massenwirkung hat sehr tiefgehende Folgen für ihre ganze Struktur, für die Organisation des ganzen dramatischen Gehalts, in scharfem Gegensatz zu den Formforderungen einer jeden großen Epik, der dieser unmittelbare Zusammenhang mit der Masse, diese Notwendigkeit der sofortigen Wirkung auf die Masse fehlt. 91


Ästhetik

Zum Abschluss seiner langen mündlichen wie brieflichen Auseinander­ setzung mit Schiller über die gemeinsamen und trennenden Kennzeichen von epischer und dramatischer Form fasst Goethe seine Anschauungen in einer kurzen grundlegenden Abhandlung zusammen. Goethe geht hier von einem ganz allgemeinen Begriff des Epischen und des Dramatischen aus. Dement­ sprechend berücksichtigt er theoretisch die Eigenart der modernen Epik, den Verlust der Öffentlichkeit des Vortrags nicht. Aber auch in der sehr verallge­ meinerten Darstellung, in welcher Goethe die epische Dichtung durch den Rhapsoden vortragen lässt, kommt ein außergewöhnlich wichtiger Unter­ schied der beiden Gattungen mit großer Klarheit zum Vorschein. Goethe sagt: »Ihr großer wesentlicher Unterschied beruht … darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt.« Es ist klar, dass diese beiden Arten der Beziehung zum gestalteten Stoff mit der Öffentlichkeit des Vortrags aufs engste zusammenhängen. Die Gegen­ wärtigkeit beinhaltet schon an und für sich eine unmittelbare Beziehung zum Aufnehmenden. Um Zeuge eines als gegenwärtig dargestellten und aufge­ fassten Ereignisses zu sein, muss man bei diesem persönlich anwesend sein. Während die Kenntnisnahme einer vollkommen vergangenen Begebenheit keineswegs notwendig an die körperliche Unmittelbarkeit der Mitteilung und, im Zusammenhang damit, an die Öffentlichkeit gebunden ist. Wir sehen also, dass, obwohl Goethe, von der klassischen Tradition ausgehend, den epischen Vortrag noch als öffentlichen konstruiert, der zufällige, nicht auf Sein und Verderb mit der Form verknüpfte Charakter der Öffentlichkeit in der Epik auch aus seinen Darlegungen klar hervortritt. Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich weitere wichtige Unter­ schiede zwischen epischer und dramatischer Form. Wir heben nur einige der allerwichtigsten hervor. Die Notwendigkeit der unmittelbaren Wirkung des Dramas, die Notwendigkeit, dass jede Phase der Handlung, der Entfal­ tung der Charaktere sofort, gleichzeitig mit dem Geschehen verstanden und erlebt werde, dass im Drama keine Zeit zum Nachdenken für den Zuschauer, zum Stillstehen, zum Rückgreifen auf Vergangenes usw. ist, schafft eine grö­ ßere Strenge der Form sowohl für den Schaffenden wie für den Rezeptiven. Schiller fasst in seiner Antwort auf Goethes Aufsatz diesen Unterschied klar zusammen: »Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stillezustehen.« Im wei­ teren hebt Schiller die größere Freiheit des Lesers der Epik im Vergleich zum Zuschauer des Dramas hervor. 92


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

Mit diesem Unterschied hängt der bestimmte und beschränkte Umfang des Dramas im Gegensatz zur fast schrankenlosen Ausdehnung und Varia­ bilität der Epik zusammen. Da nun das Drama in diesem Rahmen den Ein­ druck einer Totalität erwecken muss, so folgt daraus, dass alle Züge, die an den Personen und an der Handlung hervortreten, nicht nur sofort verständ­ lich, deutlich und wirksam sein müssen, sondern auch zugleich konzentriert bedeutsam. Das Drama kann die verschiedenen, freilich auch in der Epik sachlich miteinander verbundenen Elemente und Motive nicht getrennt, mit einer bestimmten künstlerischen Arbeitsteilung behandeln. Für den Roman­ schriftsteller ist es gestattet, Szenen, Erzählungen usw. einzuschalten, die die Handlung nicht unmittelbar vorwärts führen, sondern z. B. Vergangenes erzählen und damit etwas Gegenwärtiges oder Kommendes verständlich machen. Im richtigen Drama muss die Handlung mit jeder Replik vorwärts gehen. Auch die Erzählung von Vergangenem muss eine handlungsmäßig vorwärtstreibende Funktion haben. Jede Replik eines richtigen Dramas kon­ zentriert deshalb in sich immer eine ganze Reihe von Funktionen. Durch diese Art der dramatischen Gestaltung wird der Mensch hier viel energischer in den Mittelpunkt gerückt als in der Epik, und zwar in erster Linie als gesellschaftlich-moralisches Wesen. Das Drama gestaltet seine Men­ schen und Handlungen ausschließlich durch den Dialog; nur was im Dialog lebendig gestaltet ist, kommt für das Drama künstlerisch in Betracht. Dagegen spielen in der epischen Poesie das physische Wesen der Menschen, die sie umgebende Natur, die ihre Umwelt bildenden Dinge usw. eine außerordent­ liche Rolle; der Mensch wird in der Wechselwirkung dieses Gesamtkomplexes dargestellt, seine gesellschaftlich-moralischen Züge bilden nur einen, freilich ausschlaggebend wichtigen, Teil dieses Ganzen. Darum herrscht im Drama eine viel geistigere Atmosphäre als in der Epik. Das bedeutet nicht eine idea­ listische Stilisierung der Menschen und ihrer Beziehungen, sondern bloß so viel, dass nicht direkt gesellschaftlich-moralische Züge des Menschen selbst nur als Voraussetzungen und Veranlassungen zu gesellschaftlich-moralischen Kollisionen vorkommen können und die Welt der umgebenden Natur, der die Umwelt der Menschen bildenden Objektswelt gar, nur in der sparsamsten Andeutung als Hintergrund oder als vermittelndes Instrument figurieren darf. (Die Verkennung der inneren Gesetze des Dramas hat in der neuesten Zeit den raffinierten, wüsten und leeren Regiekomplex von epischen Ersatzmitteln für die fehlende Dramatik am Theater hervorgebracht.) Alle diese Momente der dramatischen Konzentration zeigen sich in größ­ ter Sinnfälligkeit darin, dass die Zeit der real dargestellten dramatischen 93


Ästhetik

Ereignisse mit der Zeit der Darstellung zusammenfallen muss, während in der Epik eine lange Zeitspanne mit einigen Worten erledigt werden darf und mitunter umgekehrt der epische Dichter zur breiten Erzählung einer ganz kurzen Begebenheit berechtigt ist. Die berühmte Forderung nach der »Ein­ heit der Zeit« hat, glaube ich, hierin ihre realen Wurzeln. Freilich waren die Begründungen dieser Forderung zumeist falsch und gekünstelt, aber auch viele ihrer Gegner sind an dem eigentlichen Problem vorübergegan­ gen. Manzoni, der die »Einheiten« der tragédie classique im Namen eines zu schaffenden wirklichen historischen Dramas bekämpfte, hat auch, sehr richtig, seinen Kampf darauf konzentriert, für den Dramatiker das Recht zu erstreiten, zwischen seine real dargestellten Szenen eine beliebige Zwischen­ zeit einschalten zu dürfen. Alle diese Unterschiede zwischen Drama und Epik erscheinen konzent­ riert in dem von uns früher zitierten Ausspruch Goethes über den symboli­ schen Charakter der dramatischen Gestalten, über die Einheit von sinnlicher Unmittelbarkeit und typischer Bedeutsamkeit eines jeden Darstellungsmo­ ments im Drama. Die Einheit dieser beiden Momente ist selbstverständ­ lich auch in der Epik vorhanden, nur ist sie dort viel lockerer. Im Drama muss diese Einheit ständig verwirklicht und in jeder Phase sofort wirksam sein, während es für die Epik genügt, wenn diese Einheit sich als Tendenz im Laufe der Gesamthandlung allmählich durchsetzt. Auch hier können wir deutlich die formalen Konsequenzen des öffentlichen Charakters des Dramas wahrnehmen. Hier sind indessen zwei Missverständnisse zu beseitigen. Wir haben im Zusammenhang mit dem Problem der Öffentlichkeit das der unmittelbaren und sofortigen Wirkung des Dramas behandelt. Aber ist diese Unmittelbar­ keit nicht das Wesenszeichen einer jeden Kunst? Selbstverständlich ist sie das. Belinskij hat mit Recht gerade die Notwendigkeit der unmittelbaren Gestal­ tung und der unmittelbaren Wirkung in den Mittelpunkt seiner Theorie der Kunst gestellt. Aber die von uns hier hervorgehobene Unmittelbarkeit des Öffentlichen im Drama ist etwas Besonderes, etwas nur für das Drama Cha­ rakteristisches innerhalb der allgemeinen Unmittelbarkeit der ganzen Litera­ tur. Diese speziellen Züge der Unmittelbarkeit des Öffentlichen am Drama treten im Laufe der historischen Entwicklung immer schärfer und betonter im Zusammenhang damit hervor, dass mit der Entwicklung der gesellschaft­ lichen Arbeitsteilung und der Komplizierung der gesellschaftlichen Bezie­ hungen in den Klassengesellschaften eine Trennung des Öffentlichen und des Privaten sich im Leben selbst als Trennung vollzieht. Die Literatur als 94


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

Widerspiegelung des Lebens kann nicht umhin, diesen Prozess abzubilden. Doch geschieht dies nicht nur inhaltlich, indem die menschlichen Probleme, die dieser Entwicklung entstammen, von der Literatur gestaltet werden: auch die literarischen Formen, als verallgemeinerte Formen der Widerspiegelung der ständigen und wiederkehrenden, in der Entwicklung sich verstärkenden Züge des Lebens können von diesem Prozess nicht unberührt bleiben. Dabei gehen aber Drama und Epik vollständig entgegengesetzte Wege. Die Epik, als Widerspiegelung der extensiven Totalität des Lebens, der »Tota­ lität der Objekte«, muss sich diesem Prozess anpassen. Der Roman als »bür­ gerliche Epopöe« entsteht gerade als Produkt der künstlerischen Konsequenz, mit der aus der Veränderung des Lebens alle Folgerungen auch in formaler Hinsicht gezogen werden. (Der künstlerisch zwiespältige Charakter des soge­ nannten »Kunstepos« hat unter anderem seine Gründe gerade darin, dass bestimmte Formelemente des alten Epos beibehalten worden sind in einer Zeit, in der die diesem entsprechende Wirklichkeit im Leben selbst bereits abgestorben war, dass sie auf einen Lebensstoff angewandt wurden, dem sie fremd und darum formalistisch gegenüberstanden, weil diese Elemente den spezifischen Widerspiegelungen einer bereits vergangenen Entwicklungs­ periode der Menschheit angehörten.) Ganz anders das Drama. Die dramatische Form steht und fällt mit dieser ihr allein spezifischen unmittelbaren Öffentlichkeit. Sie muss also entweder aus dem Leben verschwinden oder versuchen, unter ungünstigen Bedin­ gungen, mit einem ungünstigen Stoff kämpfend, gewissermaßen gegen den Strom schwimmend, die noch vorhandenen Momente der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Lebens in ihrer Weise zur Gestaltung zu bringen. Diese Probleme sind besonders um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit besonderer Schärfe hervorgetreten und stehen im engsten Zusammenhang mit den damaligen Bestrebungen zur Schaffung eines großen historischen Dramas. Die bedeutenden Dramatiker dieser Periode haben beide Seiten des vor ihnen stehenden Dilemmas stark erlebt: sowohl die Ungünstigkeit des Lebens ihrer Gegenwart – die als Lebensgefühl auch auf die Gestaltung der historischen Stoffe einwirkt – wie die Notwendigkeiten der dramatischen Form. Die Diskussionen um das scheinbar rein formale Prinzip der Möglichkeit der Anwendung des antiken Chores im modernen Drama zeigen die gesell­ schaftlichen Motive, die für diese Formgebung entscheidend geworden sind, vielleicht am plastischsten. In seinem Vorwort zu der Tragödie »Die Braut von Messina« spricht Schiller mit großer Klarheit über dieses Problem. Er sagt über den Gebrauch des Chors in der antiken Tragödie: »Sie fand ihn in der 95


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Natur und brauchte ihn, weil sie ihn fand. Die Handlungen und die Schicksale der Helden und Könige sind schon an sich selbst öffentlich und waren es in der einfachen Urzeit noch mehr.« Ganz anders ist nach Schiller die Lage für den modernen Dichter. Das Leben in der heutigen Gesellschaft ist abstrakt und privat geworden. »Der Dichter muß die Paläste wieder auftun, er muss die Gerichte unter freien Himmel hinausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wiederherstellen …« Zu eben diesem Zweck hatte Schiller in der »Braut von Messina« den Chor eingeführt. Es kommt uns hier nicht darauf an, die allgemein bekannte Tatsache zu wiederholen, dass diese Anwendung des Chors bei Schiller zu einem künst­ lichen Formexperiment, zu seinem schwächsten Drama geführt hat. Es kommt uns hier auf das allgemeine Problem an. Und Schiller hat sehr richtig empfunden, dass die Anwesenheit des Chors in der griechischen Tragödie einerseits aus den gesellschaftlich-historischen Bedingungen des griechischen Lebens naturwüchsig entsprungen ist, dass aber andererseits – und dies ist die wesentliche Frage für den modernen Dramatiker – in einem wirklichen Drama alle Ereignisse so gestaltet sein müssen, alle Lebensäußerungen auf eine solche Höhe erhoben werden müssen, dass sie die Anwesenheit des Chors vertragen. Sobald die weggezogene vierte Wand der Bühne nur die durchsichtig gewordene Decke aus dem »Diable boiteux« von Lesage geworden ist, hat das Drama aufgehört, wirklich dramatisch zu sein. Der Zuschauer des Dramas ist nicht zufällig anwesend bei irgendeiner zufälligen privaten Begebenheit des Lebens, er belauscht nicht durch ein vergrößertes Schlüsselloch das Privatleben seiner Mitmenschen, sondern das, was ihm dargeboten wird, muss seinem innersten Gehalt, seiner wesentlichen Form nach ein öffent­ liches Ereignis sein. Die schwere Arbeit der modernen Dramatiker besteht gerade darin, solche Stoffe im Leben zu finden und diese Stoffe einer solchen innerlich dramatischen Umarbeitung zu unterwerfen, dass sie durchgehend und in diesem Sinn die Öffentlichkeit vertragen. Und hier muss der neue Dramatiker nicht nur gegen den Stoff des Lebens in der modernen Gesell­ schaft im äußerlichen Sinn ankämpfen, sondern zugleich gegen sein eigenes Lebensgefühl, das aus dem Boden dieser Gesellschaft entsprossen ist. Für dieses Lebensgefühl ist außerordentlich charakteristisch, was Grillparzer über den Chor gesagt hat: »Allbekannte Nachteile des Chors. Seine fortwäh­ rende Gegenwart ist in bezug auf Geheimnisse meist lästig. Der Chor gab den Dramen der Alten einen Charakter der Öffentlichkeit. Ja! vielleicht um so 96


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

schlimmer. Ich meinesteils würde eine Anstalt nicht lieben, die mich zwänge, alle Empfindungen und Situationen, die nicht den Charakter der Öffentlich­ keit vertragen, aufzugeben.« Grillparzer spricht hier lange vor der Entstehung des sogenannten Kam­ merspiels dessen gefühlsmäßige Grundlage aus. Er tut dies mit der Offenheit und Aufrichtigkeit eines bedeutenden Dichters. Er bemerkt aber nicht – und seine späteren, viel kleineren Nachfolger bemerken es noch weniger –, dass gerade das Vorherrschendwerden dieses Lebensgefühls aus dem Drama ein künstliches Produkt, einen Gegenstand fruchtloser formalistischer Experi­ mente macht, dass gerade diese Entwicklung den lebendigen Kontakt zwi­ schen Drama und Volk zerrissen hat. Es kam uns hier nicht auf das Problem des Chors selbst an, sondern auf die Probleme, die hinter dem Aufwerfen dieser Frage stecken. Die Experi­ mente mit dem Chor selbst sind nicht nur bei Schiller, sondern auch bei Man­ zoni sehr problematisch. Aber dieses Problem deckt die Schwierigkeiten der Gestaltung der Öffentlichkeit des Lebens im modernen Drama auf. Die gro­ ßen Dramatiker der Neuzeit von Shakespeare bis Puschkin haben die Lösung des Problems in der Richtung der Einführung der Volksszenen gesucht, und ohne Frage liegt hier die natürliche und gesunde Lösung. Freilich besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen antikem Chor und moderner Volksszene. Wir können hier unmöglich dieses Problem in seiner notwendigen Breite ana­ lysieren. Es sei nur auf ein hier wesentliches Moment hingewiesen: der antike Chor ist immer anwesend, die Volksszenen sind nur einzelne Momente des Dramas, und die wichtigsten Szenen zwischen den Protagonisten spielen sich oft ohne diesen Zeugen ab. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass diese Szenen nun ohne Beziehung auf das im Drama anwesende Volk wären. Schon bei Shakespeare ist sehr oft eine sehr lebendige Beziehung dieser Art vorhanden. Man denke bloß daran, wie in die Szenen zwischen Brutus und Portia oder zwischen Brutus und Cassius die Stimmungen des Volkes lebendig hineinspielen. Die neue Welle des historischen Dramas hat diese Beziehungen noch intimer gemacht. Schiller stellt zwar Wallensteins Lager nur als Prolog vor seine Tragödie, der inneren Dramatik nach ist aber dieses Vorspiel doch mehr als nur ein Prolog. Und im Drama der Zeit nach Walter Scott haben sich diese Beziehungen noch verstärkt. Wieder sei, als auf ein sehr bezeichnen­ des Beispiel, auf die innere Wechselwirkung zwischen den Volksszenen in Büchners »Dantons Tod« und den Szenen aus Dantons »Privatleben« hin­ gewiesen. Diese Szenenreihen bilden gewissermaßen eine Reihe von Repliken, die in der einen aufgeworfenen Frage wird in der anderen beantwortet usf. 97


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Wir kommen nun auf den zweiten Komplex der möglichen Missverständ­ nisse über die spezifische Unmittelbarkeit des Dramas zu sprechen. Wie wir wissen, ist diese Unmittelbarkeit die der Öffentlichkeit. Und es scheint nun nahezuliegen, dass jene Seiten des modernen Lebens (und der Geschichte), die ihrem Stoff nach notwendig und unmittelbar öffentlich sind, die geeig­ netsten Stoffe für das Drama ergeben: nämlich das politische Leben als sol­ ches. Die unmittelbare Geeignetheit des politischen Lebens für das Drama ist aber in dieser Fassung ein Vorurteil. Wir haben gesehen, dass das kampflose Hinnehmen der Tendenzen zur Privatisierung vieler und wichtiger individu­ eller und gesellschaftlicher Lebensäußerungen des Menschen zur Selbstauf­ hebung des Dramas im »Kammerspiel« führt. Aber diese »Privatisierung« ist nur die eine Seite eines Prozesses, dessen – von ihr untrennbare – andere Seite sich in dem Immer-Abstrakter-Werden, in der scheinbar immer größe­ ren Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit des politischen Lebens äußert. Wenn also der dramatische Dichter diese Trennung, die von Marx gezeigte scheinbare Trennung von citoyen und bourgeois, nicht durchbricht, wenn er nicht an der Politik die gesellschaftlichen Grundlagen durch eine Gestal­ tung lebendiger menschlicher Schicksale – individueller Schicksale, die die typischen, die repräsentativen Züge dieser Zusammenhänge in ihrem indivi­ duellen Sosein zusammenfassen – aufzeigt, so bleibt der politische Stoff für das Drama unfruchtbar. Es entstehen im 17. Jahrhundert die hohl-pathetische »Haupt- und Staatsaktion«, im 19. Jahrhundert das leere und deklamatori­ sche »Tendenzdrama« usw. Auch über dieses Thema hat sich Schiller in lehrreicher Weise geäußert. Zur Zeit seiner Arbeit am »Wallenstein« schreibt er an Körner: »Der Stoff ist … im höchsten Grade ungeschmeidig für einen solchen Zweck … es ist im Grunde eine Staatsaktion und hat in Rücksicht auf den poetischen Gebrauch alle Unarten an sich, die eine politische Handlung nur haben kann, ein unsichtbares abstraktes Objekt, kleine und viele Mittel, zerstreute Handlun­ gen, einen furchtsamen Schritt, eine (für den Vorteil des Poeten) viel zu kalte und trockene Zweckmäßigkeit, ohne doch diese bis zur Vollendung und dadurch zu einer poetischen Größe zu treiben; denn am Ende mißlingt der Entwurf doch nur durch Ungeschicklichkeit. Die Base, worauf Wallenstein seine Unternehmung gründet, ist die Armee, mithin für mich eine unend­ liche Fläche, die ich nicht vors Auge und nur mit unsäglicher Kunst vor die Phantasie bringen kann. Ich kann also das Objekt, worauf er ruht, nicht zei­ gen, und ebensowenig das, wodurch er fällt; das ist ebenfalls die Stimmung der Armee, der Hof, der Kaiser.« 98


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

Diese Analyse scheint uns außerordentlich lehrreich zu sein. Sie zeigt vor allem, dass gerade der politische Stoff für den Dichter unmittelbar in einer unendlichen und zerstreuten Fülle gegeben ist, einer Fülle, die sich eigent­ lich nur mit den Mitteln der Epik gestalten lässt. Die dramatische Stilisierung besteht hier darin, jene ganz wenigen Momente herauszugreifen, in denen der innere Zusammenhang des Politischen mit seiner gesellschaftlichen Basis und mit den menschlichen Leidenschaften, die diese zum Ausdruck bringen, unmittelbar und sinnfällig konzentriert erscheinen kann (es sei hier wieder an das »Kettenglied« erinnert), und zwar so erscheinen kann, dass diese Konzentration die Fülle der widerstrebenden gesellschaftlichen Tendenzen, welche die politische Kollision hervorrufen, doch nicht reduziert. Eine »Sti­ lisierung« in diesem Sinne, also eine Beschneidung oder Verkümmerung der »Totalität der Bewegungen« würde den Stoff inhaltlich verzerren, die dramatische Kollision verflachen. Es ist aber hier nicht eine einfache Aus­ wahl einiger Momente notwendig, sondern die Konzentrierung der unend­ lichen und zerstreuten Fülle der Momente auf jene, die wirklich sämtliche Momente, sämtliche treibenden Kräfte der politisch-historischen Kollision repräsentieren. Besonders interessant und lehrreich sind diejenigen Bemerkungen Schil­ lers, in denen er über die dichterisch zu überwindende »trockene Zweckmä­ ßigkeit« und über die Wege zu ihrer Überwindung spricht. Er weist theore­ tisch ganz richtig darauf hin, dass hier nur das konsequente Zuendegehen eine Überwindung bringen kann. Was so viel bedeutet, dass in dem extremen und konzentrierten Fall des Repräsentanten einer solchen Kollision gerade die gesellschaftlich-menschlichen Grundlagen dieser »trockenen Zweckmä­ ßigkeit« zum Vorschein kommen müssen und gerade das Zuendegehen die­ ses Weges, das Aufdecken ihrer spezifischen Bestimmungen die dichterisch ungünstigen Qualitäten des Stoffes aufheben soll. Gerade Schillers Praxis zeigt, wie wenig »menschliche Zutaten« bei der Bewältigung eines solchen Stoffes nützen. Sie bleiben Zutaten und Einlagen, und die »Trockenheit« der politischen Zusammenhänge bleibt trotzdem unaufgehoben. Auf der ande­ ren Seite wird im Drama nur das, was sich in sinnlicher Unmittelbarkeit ins Menschliche umsetzt, lebendig. Der inhaltlich völlig richtig aufgefasste poli­ tische Konflikt, die geschichtsphilosophisch am raffiniertesten ausgeklügelte historische Kollision bleiben ohne diese unmittelbare Umsetzung tot. Und es ist vom Standpunkt der Zerstörung der dramatischen Form fast einerlei, ob diese Unlebendigkeit der bloß gedanklichen Produktion politisch-histo­ rischer Zusammenhänge agitatorisch oder mystisch zum Ausdruck gelangt. 99


Ästhetik

Auch in diesen Fällen bewegt sich die neueste Entwicklung des Dramas auf der Linie eines Hinundherschwankens zwischen falschen Extremen. Shakespeare hat am gewaltigsten gezeigt, wie große historische Kollisio­ nen ins Menschliche umgesetzt und dadurch von dramatischem Leben erfüllt werden können. Es ist nicht uninteressant, in diesem Zusammenhang den Vorwurf zu erwähnen, den Hegel gegen den »Macbeth« erhoben hat. Hegel findet, dass die Quelle Shakespeares einen Rechtstitel Macbeths für die Krone Schottlands erwähnt, und er bedauert, dass Shakespeare dieses Motiv fallen­ gelassen hat. Uns scheint, dass für jenes Problem der Auflösung der feudalen Gesellschaft, ihrer notwendig entstehenden Selbstzerfleischung dieses Motiv ganz überflüssig ist. Shakespeare hat in seinem Zyklus der Königsdramen unzählige Beispiele dafür gegeben, wie solche Rechtstitel ganz willkürlich im Klassenkampf zwischen Königtum und Feudalismus benutzt werden. In der konkreten Darstellung dieser englischen Kämpfe hat er diesen Motiven die ihnen zukommende episodische Rolle zugewiesen. In »Macbeth« sollte dagegen die menschliche Quintessenz eines solchen Aufstiegs und Sturzes konzentriert gestaltet werden. Shakespeare zeigt hier die menschlichen Züge, die gerade auf diesem gesellschaftlich-historischen Boden notwendig ent­ stehen, mit wunderbarer Treue und Prägnanz. Er hat aber vollständig recht, wenn er diese – gesellschaftlich-historisch bedingte – menschliche Essenz gestaltet und seine Linienführung nicht mit kleinlichen Motiven belastet. Das Befolgen der Anregung von Hegel hätte zu einem Drama vom Typus Hebbels und nicht zu dem Shakespeares geführt. Dabei hat Hegel im allgemeinen die historisch-inhaltlichen und drama­ tisch formalen Notwendigkeiten des Dramas klarer erkannt als die meisten Theoretiker. Er warnt wiederholt davor, bei der Charakterisierung der dra­ matischen Gestalten ins Extrem des Aufgehens der Gestalt in den Inhalt der abstrakten historischen Mächte einerseits oder in bloß privat-menschliche Psychologie andererseits zu verfallen. Wenn er von den dramatischen Gestal­ ten »Pathos« verlangt und dieses Pathos von der Leidenschaft abzugrenzen versucht, so befindet er sich auf dem richtigen Wege zur Charakteristik des Spezifischen der handelnden Menschen des Dramas. Er nennt das Pathos »eine in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts, einen wesentlichen Gehalt der Vernünftigkeit« und beruft sich auf die »heilige Geschwisterliebe« der Antigone, beruft sich darauf, dass Orest seine Mutter nicht in einer heftigen Gemütsbewegung tötet, sondern dass »das Pathos, das ihn zur Tat antreibt, wohl erwogen und ganz besonnen« ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Helden der Tragödie leidenschaftslose Menschen sein sollen. Auch 100


Georg Lukács: Das Problem der Öffentlichkeit

Antigone und Orest haben ihre Leidenschaften. Die Betonung des Pathos bedeutet hier, dass das Entscheidende das unmittelbare Zusammenfallen des großen historischen Gehalts der konkreten und großen historischen Auf­ gabe mit der besonderen Persönlichkeit, mit der besonderen Leidenschaft des dramatischen Helden ist. In diesem Sinne muss der Held eines historischen Dramas ein »weltgeschichtliches Individuum« sein. Aber gerade diese Art seines Pathos, die weder abstrakt-allgemeine noch individuell-pathologische Eigenart dieser Leidenschaft macht es erst möglich, dass die Konzentration der Persönlichkeit auf das Pathos einen unmittelbaren Widerhall in den Mas­ sen findet; die konkrete Allgemeinheit, Vernünftigkeit und Unmittelbarkeit seines Gehalts bringt hervor, dass der Held in jedem Menschen der Masse verwandte Seiten unmittelbar und menschlich in Bewegung setzen kann. 1955

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Auf dem Weg zur realistischen Kunst

Die künstlerische Schöpfung gehört als eine Art der Widerspiegelung der Außenwelt im menschlichen Bewusstsein der allgemeinen Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus an. Allerdings ist sie, infolge der Eigentüm­ lichkeit der künstlerischen Schöpfung, ein eigentümlicher besonderer Teil, in welchem oft von den anderen Gebieten scharf unterschiedene Gesetzmäßig­ keiten zur Geltung kommen. Wenn wir nun einige der wichtigsten Momente dieser Lage zu klären wünschen, dann taucht sofort die Frage auf: Was ist jene Wirklichkeit, deren treues Spiegelbild die literarische Gestaltung sein muss? Hier ist vor allem die negative Seite der Antwort wichtig: Diese Wirklichkeit besteht nicht bloß aus der unmittelbar empfundenen Oberfläche der Außenwelt, nicht bloß aus den zufälligen, momentanen eventualen Erscheinungen. Gleichzeitig damit, dass die marxistische Ästhetik den Realismus in den Mittelpunkt der Kunsttheorie stellt, bekämpft sie aufs schärfste jedweden Naturalismus, jede Richtung, die sich mit der photographischen Wiedergabe der unmittelbar wahrnehmbaren Oberfläche der Außenwelt begnügt. In dieser Frage sagt die marxistische Ästhetik wiederum nichts radikal Neues aus, sondern hebt lediglich all das, was seit jeher im Mittelpunkt der Theorie und der Praxis der alten großen Künstler stand, auf die höchste Stufe der Bewusstheit und vollkommenen Klarheit. Die Ästhetik des Marxismus bekämpft aber gleichzeitig ebenso scharf ein anderes falsches Extrem der Entwicklung, jene Auffassung nämlich, die aus der Einsicht, dass das Kopieren der Wirklichkeit zu verwerfen ist, dass die künstlerischen Formen unabhängig sind von dieser oberflächlichen Wirk­ lichkeit, zu dem Extrem gelangt – in Theorie und Praxis der Kunst – den künstlerischen Formen eine absolute Unabhängigkeit zuzuschreiben, die Vollkommenheit der Formen beziehungsweise ihrer Vervollkommnung als Selbstzweck anzusehen und damit von der Wirklichkeit selbst zu abs­ trahieren, sich als von der Wirklichkeit unabhängig zu gebärden, sich das Recht anzumaßen, diese radikal umzugestalten und zu stilisieren. Dies ist ein Kampf, in dem der Marxismus die Ansicht der wirklichen Größen der Weltliteratur darüber, was richtige Kunst ist, fortsetzt und weiterentfaltet: 103


Ästhetik

jene Ansicht, wonach die Aufgabe der Kunst die treue und wahre Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit ist; die Kunst ist geradesoweit entfernt von dem photographischen Kopieren wie von der – letzten Endes – leeren Spielerei mit abstrakten Formen. Die wirkliche Kunst tendiert auf Tiefe und Umfassung. Sie ist bestrebt, das Leben in seiner allumfassenden Totalität zu ergreifen. Das heißt, sie erforscht, so weit wie möglich in die Tiefe dringend, jene wesentlichen Momente, die hinter den Erscheinungen verborgen sind, aber sie stellt sie nicht abstrakt, von den Erscheinungen abstrahierend, sie ihnen gegenüberstellend dar, sondern gestaltet gerade jenen lebendigen dialektischen Prozess, in dem das Wesen in Erscheinung umschlägt, sich in der Erscheinung offenbart, sowie jene Seite desselben Prozesses, in welchem die Erscheinung in ihrer Bewegtheit ihr eige­ nes Wesen aufdeckt. Andererseits bergen diese einzelnen Momente nicht nur in sich eine dialektische Bewegung, ein Ineinander-Überschlagen, sondern stehen auch in einer ununterbrochenen Wechselwirkung miteinander, sie sind die Momente eines ununterbrochenen Prozesses. Die echte Kunst stellt also immer ein Ganzes des menschlichen Lebens dar, es in seiner Bewegung, Entwicklung, Entfaltung gestaltend. Da dieserart die dialektische Auffassung das Allgemeine, Besondere und Einzelne in eine bewegte Einheit zusammenfasst, ist es klar, dass sich die Eigenart dieser Auffassung auch in den spezifischen künstlerischen Erschei­ nungsformen manifestieren muss. Denn im Gegensatz zu der Wissenschaft, die diese Bewegung in ihre abstrakten Elemente auflöst und bestrebt ist, die Gesetzmäßigkeit der Wechselwirkung dieser Elemente gedanklich zu erfassen, bringt die Kunst diese Bewegung als Bewegung in ihrer lebendigen Einheit zu sinnlicher Anschauung. Eine der wichtigsten Kategorien dieser künstlerischen Synthese ist der Typus. Es ist daher kein Zufall, dass Marx und Engels bei der Bestimmung des echten Realismus in erster Linie auf diesen Begriff zurückgreifen. Engels schreibt: »Realismus bedeutet, mei­ nes Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« Engels weist aber auch darauf hin, dass man diese Typenhaftigkeit durchaus nicht der Einmaligkeit der Erschei­ nungen gegenüberstellen, dass man keine abstrakte Verallgemeinerung aus ihr machen darf: »… jeder ist ein Typus, aber auch zugleich ein bestimmter Einzelmensch, ein ›Dieser‹, wie der alte Hegel sich ausdrückt, und so muß es sein.« Der Typus ist also, nach Marx und Engels, nicht der abstrakte Typus der klassischen Tragödie, nicht die Gestalt der Schillerschen idealisierenden 104


Georg Lukács: Auf dem Weg zur realistischen Kunst

Verallgemeinerung, aber noch weniger das, wozu ihn die Zolasche und nach-Zolasche Literatur und Literaturtheorie gemacht haben: der Durchschnitt. Der Typus wird dadurch charakterisiert, dass in ihm alle hervorste­ chenden Züge jener dynamischen Einheit, in welcher die echte Literatur das Leben widerspiegelt, in ihrer widersprüchlichen Einheit zusammenlaufen, dass sich in ihm diese Widersprüche, die wichtigsten gesellschaftlichen, mora­ lischen und seelischen Widersprüche einer Zeit, zu einer lebendigen Einheit verflechten. Die Darstellung des Durchschnitts führt dagegen notwendiger­ weise dazu, dass diese Widersprüche, die immer die Spiegelung der großen Probleme irgendeines Zeitalters sind, in der Seele und dem Schicksal eines Durchschnittsmenschen abgestumpft, geschwächt erscheinen und dadurch gerade ihre wesentlichen Züge verlieren. In der Darstellung des Typus, in der typischen Kunst, vereinen sich das Konkrete und das Gesetzmäßige, das Blei­ bend-Menschliche und das geschichtlich Bestimmte, das Individuelle und das Gesellschaftlich-Allgemeine. In der typischen Gestaltung, in der Aufdeckung von typischen Charakteren und typischen Situationen, bekommen daher die wichtigsten Richtungen der gesellschaftlichen Entwicklung ihren adäquaten künstlerischen Ausdruck … Die marxistische Ästhetik, die den realistischen Charakter einer mit den naturalistischen Details gezeichneten Welt leugnet, wenn in ihrer Dar­ stellung die wesentlichen bewegenden Kräfte nicht zum Ausdruck kommen, hält es für selbstverständlich, dass die phantastischen Novellen von Hoffmann und Balzac Gipfelpunkte der realistischen Literatur repräsentieren, weil in ihnen, gerade mit Hilfe der phantastischen Darstellung, diese wesentlichen Momente zur Geltung kommen. Die marxistische Realismusauffassung ist der Realismus des künstlerisch versinnbildlichten Wesens. Dies ist die dialek­ tische Anwendung der Widerspiegelungstheorie auf dem Gebiet der Ästhetik. Und es ist kein Zufall, dass es gerade der Begriff des Typus ist, der diese Eigen­ tümlichkeit der marxistischen Ästhetik so klar zutage fördert. Der Typus gibt einerseits die künstlerische, eigentümliche, sonst auf keinem anderen Gebiet existierende Lösung der Dialektik von Wesen und Erscheinung, andererseits weist er gleichzeitig auf jenen gesellschaftlich-historischen Prozess zurück, dessen treue Spiegelung die beste realistische Kunst ist. Diese marxistische Bestimmung des Realismus führt jene Linie weiter, die große Meister des Realismus, wie Fielding, für ihre künstlerische Praxis beanspruchten; sie nannten sich Historiker des bürgerlichen Lebens, Historiker des Privatlebens. Aber Marx geht hinsichtlich der Beziehung der großen realistischen Kunst zur geschichtlichen Wirklichkeit noch weiter und schätzt ihre Resultate noch 105


Ästhetik

höher ein als die großen Realisten selbst. Marx äußert sich in einem Gespräch mit seinem Schwiegersohn, dem hervorragenden französischen sozialisti­ schen Schriftsteller Paul Lafargue, folgendermaßen über diese Rolle Balzacs: »Balzac war nicht nur der Historiker der Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch der prophetische Schöpfer von Gestalten, die unter Louis Philippe sich noch im embryonalen Zustand befanden und erst nach seinem Tode, unter Napoleon III., sich vollständig entwickelten …« Was ist Tendenz? In einem oberflächlichen Sinn irgendeine politische, gesellschaftliche Bestrebung des Künstlers, die er mit seinem Kunstwerk beweisen, propagieren, illustrieren will. Es ist interessant und charakteris­ tisch, dass Marx und Engels überall da, wo von einer derartigen Kunst die Rede ist, sich ironisch über derartige Machwerke äußern. Mit einer beson­ ders scharfen Ironie dort, wo der Schriftsteller, um die Wahrheit irgendeines Satzes oder die Berechtigung einer Bestrebung zu beweisen, der objektiven Wirklichkeit Gewalt antut, sie verzerrt (siehe besonders Marxens kritische Bemerkungen über Sue). Aber Marx verwahrt sich auch bei großen Künstlern gegen die Tendenz, ihre ganzen Werke oder einzelne Gestalten für den unmit­ telbaren und direkten Ausdruck ihrer eigenen Ansichten zu benützen und damit den Gestalten ihre echte Wirklichkeit, ihre Fähigkeiten – den inneren und organischen Gesetzen der Dialektik ihres eigenen Seins folgend – bis zum letzten auszuleben, zu entziehen. Dies rügte Marx bei der Tragödie Lassalles: »Du hättest dann auch in viel höherem Grad grade die modernsten Ideen in ihrer reinsten Form sprechen lassen können, während jetzt in der Tat, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt. Du hättest dann von selbst mehr shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutendsten Fehler anrechne.« Ein solches Verwerfen der Tendenzliteratur bedeutet aber bei weitem nicht, dass die echte Literatur keine Tendenz hätte. Vor allem: die objektive Wirklichkeit selbst ist kein richtungsloses Kunterbunt von Bewegungen, sondern ein Entwicklungsprozess, der selbst mehr oder minder tiefgehende Tendenzen hat, der – vor allem – seine eigene grundlegende Tendenz hat. Das Verkennen dieser Tatsache, die unrichtige Stellungnahme zu ihr, rich­ ten immer bei jeder künstlerischen Schöpfung großen Schaden an (siehe Marxens Kritik über die Lassallesche Tragödie.) Hier ist bereits die Stellungnahme des Künstlers zu den verschiedenen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung und besonders zu den Grund­ tendenzen dieses Prozesses gegeben. Dementsprechend bestimmt Engels 106


Georg Lukács: Auf dem Weg zur realistischen Kunst

folgendermaßen seinen Standpunkt in bezug auf die sich in der Kunst offen­ barende Tendenz: »Ich bin keineswegs Gegner der Tendenzpoesie als solcher. Der Vater der Tragödie, Aeschylos, und der Vater der Komödie, Aristophanes, waren beide starke Tendenzpoeten, nicht minder Dante und Cervantes, und es ist das Beste an Schillers ›Kabale und Liebe‹, daß sie das erste deutsche politische Tendenzdrama ist. Die modernen Russen und Norweger, die aus­ gezeichnete Romane liefern, sind alle Tendenzdichter. Aber ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung selbst hervorspringen, ohne daß ausdrücklich darauf hingewiesen wird, und der Dichter ist nicht genö­ tigt, die geschichtliche zukünftige Lösung der geschichtlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser in die Hand zu geben.« Engels führt hier außer­ ordentlich klar aus, dass die Tendenz sich nur dann mit der Kunst verträgt respektive ihr nur dann hilft, die größten Schöpfungen hervorzubringen, wenn sie organisch aus dem künstlerischen Wesen des Werkes, der künst­ lerischen Darstellung, das heißt – unseren früheren Erörterungen gemäß – aus der Wirklichkeit selbst, deren dialektische Spiegelung sie ist, heraus­ wächst. Was sind nun jene grundlegenden Tendenzen, zu denen der lite­ rarische Schöpfer, wenn er ein echter Künstler sein will, Stellung nehmen muss? Es sind die großen Fragen des menschlichen Fortschritts. An ihnen kann kein großer Schriftsteller gleichgültig vorbeigehen; ohne leidenschaftliche Stellungnahme zu ihnen gibt es kein richtiges Typenschaffen, gibt es keinen tiefen Realismus. Ohne eine solche Stellungnahme wird ein Schriftsteller nie das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden können. Denn von der Totalität der gesellschaftlichen Entwicklung aus gesehen ist die Möglich­ keit der richtigen Unterscheidung einem Schriftsteller verschlossen, der sich nicht für den Fortschritt begeistert, der die Reaktion nicht hasst, der nicht das Gute liebt und das Böse verwirft. Hier taucht aber wieder der Schein eines tiefgehenden Widerspruchs auf. Es scheint aus diesem Gedankengang zu folgen, dass jeder große Schriftsteller philosophisch, gesellschaftlich, politisch eine progressive Weltanschauung haben müsse, dass – um den Scheinwiderspruch scharf zu formulieren – jeder große Schriftsteller politisch und gesellschaftlich links eingestellt sein müsse. Doch nicht wenige große Realisten der Literaturgeschichte, gerade die Lieb­ lingsautoren von Marx und Engels, sind ein Beweis für das Gegenteil. Weder Shakespeare noch Goethe, noch Walter Scott, noch Balzac standen politisch auf der linken Seite. Marx und Engels wichen nicht nur dieser Frage nicht aus, sie unterwarfen sie vielmehr einer geistreichen und tiefen Analyse. Engels beschäftigt sich 107


Ästhetik

in einem berühmten, an Miss Margaret Harkness gerichteten Brief ausführ­ lich mit diesem Problem: mit der Frage, dass Balzac zwar als Politiker, als Royalist, als Legitimist ein großer Verehrer der verfallenden Aristokratie war, dass jedoch in seinen Werken – letzten Endes – gerade das Gegenteil dieser Anschauung zum Ausdruck kommt: »Gewiß, Balzac war politisch Legitimist; sein großes Werk ist ein ständiges Klagelied über den unvermeidlichen Verfall der guten Gesellschaft; alle seine Sympathien sind bei der Klasse, die zum Untergang verurteilt ist. Aber trotz all dem ist seine Satire niemals schärfer, seine Ironie niemals bitterer, als wenn er gerade die Männer und Frauen in Bewegung setzt, mit denen er zutiefst sympathisiert – die Adeligen.« Und ganz im Gegensatz hierzu stellt er seine politischen Feinde, die republika­ nischen Aufständischen, als die einzigen echten Helden seiner Zeit dar. Die letzten Konsequenzen dieses Widerspruchs fasst Engels so zusammen: »Daß Balzac so gezwungen wurde, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile zu handeln, daß er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adeligen sah und sie als Menschen schildert, die kein besseres Schicksal verdienen; und daß er die wirklichen Menschen der Zukunft dort sah, wo sie in der damaligen Zeit allein zu finden waren – das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus und als einen der großartigsten Züge des alten Balzac.« Ist hier etwa ein Wunder geschehen? Hat sich hier irgendeine geheim­ nisvolle, mit Begriffen nicht messbare »irrationale« künstlerische Genialität geoffenbart, die den verzerrenden Kerker der politischen Begriffe durch­ brach? Nein. Was hier die Analyse von Engels beweist, ist seinem Wesen nach ein einfacher und klarer Tatbestand, dessen wirkliche Bedeutung jedoch Engels und Marx als erste entdeckt und analysiert haben, Vor allem ist hier von der unbestechlichen, von jeder Eitelkeit freien ästhetischen Ehrlichkeit der wirklich großen Schriftsteller und Künstler die Rede. Für sie steht die Wirklichkeit, so wie sie ist, an deren Wesen die Schriftsteller auf Grund von mühevollen und tiefgehenden Forschungen herangekommen sind, höher als ihre liebsten, gehätscheltsten, innigsten persönlichen Wünsche. Die Ehrlichkeit des großen Künstlers besteht eben darin, dass er eine Gestalt, sobald deren Entfaltung jene Auffassungen und Illusionen, denen zuliebe sie sich in seiner Phantasie geformt hatte, widerlegt, sich dann frei bis zu ihren letzten Konse­ quenzen entfalten lässt und sich nicht im mindesten darum kümmert, dass hier seine tiefsten Überzeugungen in der Luft zerflattern, weil sie der echten und tiefen Dialektik der Wirklichkeit widersprechen. Diese Ehrlichkeit kön­ nen wir bei Cervantes, Balzac, Tolstoi sehen und studieren … 108


Georg Lukács: Auf dem Weg zur realistischen Kunst

Der Triumph des Realismus bedeutet in dieser marxistischen Fassung einen vollkommenen Bruch mit jener vulgären Auffassung von Literatur und Kunst, die aus den politischen Anschauungen des Schriftstellers, aus der soge­ nannten Klassenpsychologie, den Wert des dichterischen Werkes mechanisch ableitet. Die hier bezeichnete Methode des Marxismus ist überaus geeignet zur Erklärung komplizierter literarischer Erscheinungen. Doch nur dann, wenn sie konkret, in wirklich geschichtlichem Geist, mit echter ästhetischer und gesellschaftlicher Einsicht gehandhabt wird. Wer hier ein für jede litera­ rische Erscheinung anwendbares Schema zu finden wähnt, deutet die Klassi­ ker des Marxismus geradeso falsch, wie dies die Vulgärmarxisten alten Typs getan hatten. Damit also in bezug auf diese Methode kein Missverständnis übrigbleibe: der Triumph des Realismus bedeutet nach Engels weder, dass für den Marxismus die offen verkündete Weltanschauung der Schriftstel­ ler gleichgültig sei, noch, dass jede Schöpfung jedes Schriftstellers, sobald sie von der offen verkündeten Weltanschauung abweicht, dem Triumph des Realismus bedeute. Der Sieg des Realismus tritt nur dann ein, wenn die ganz großen realistischen Künstler in einer tiefen und ernsten, wenn auch nicht bewusst erkannten Beziehung zu einer progressiven Strömung der Mensch­ heitsentwicklung stehen … Der sozialistische Humanismus ermöglicht der marxistischen Ästhetik die Vereinigung von geschichtlicher und rein künstlerischer Erkenntnis, das stete Zusammenlaufen in einen Mittelpunkt von geschichtlicher und ästhe­ tischer Würdigung. So löst die marxistische Ästhetik gerade jene Frage, mit der die Vorfahren, wenn sie wirklich groß waren, am erbittertsten gerungen haben und die von kleineren eben deshalb beiseite geschoben wurden: die Einheit der Unvergänglichkeit des ästhetischen Werts des Kunstwerks mit dem Geschichtsprozess, von der die Kunstwerke gerade in ihrer Vollkommen­ heit, gerade in ihrem ästhetischen Wert unabtrennbar sind. 1953

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KRITISCHER REALISMUS 111


Bernd Stegemann Es geht noch immer um den Realismus

Georg Lukács’ nachgetragener Beitrag zur großen Realismusdebatte, die in den 1930er Jahren von der Sowjetunion angestoßen wurde, versammelt seine Kerngedanken zu einer realistischen Kunst in kapitalistischen Zeiten. Für heutige Leser ist der Gang durch »Es geht um den Realismus« ein ungewohnter Weg, da er mit allen eingeübten Denkweisen bricht. Die von Lukács beschriebenen Illusionstechniken, mit denen das Kapital seine Interessen verschleiert und zur hegemonialen Erzählung umformt, sind inzwischen so widerspruchslos gültig, dass jeder Versuch von Kritik an der glatten Oberfläche der Gegenwart abglei­ tet. Der Text ist ein Dokument des sozialistischen Denkens, das sich noch auf Augenhöhe mit den Brutalismen des Kapitalismus befand. Fast hundert Jahre später reibt man sich verwundert die Augen, wie entwi­ ckelt die Kritik kapitalistischer Kunst einst war und wie fern uns dieses Selbstbe­ wusstsein gerückt ist. Die Einwände könnten darum heute umso wahrer sein, je unverständlicher sie erscheinen mögen. Die Lektüre des Textes ist darum nicht nur eine Einübung in die Kritik der Verhältnisse, sondern auch eine Provokation des zeitgenössischen Geschmacks. Was Lukács als Realismus beschreibt und fordert, ist das kategorische Gegenteil von allem, was die Gegenwartskunst produziert und was von der Kunstkritik als wertvoll gelobt wird. Gehen wir für einen Moment zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück, die nicht nur diesen Text, sondern alle Schriften des frühen Lukács ausmachen. Als materialistischer Denker beschreibt er die Folgen, die eine kapitalgetriebene Geldwirtschaft für die sozialen Verhältnisse und das Bewusst­ sein des Menschen haben. Die Reduktion der Lebensfülle auf den Preis, der auf einem Markt gefunden wird, ist eine Abstraktion, die ihre Gewalt gerade darin hat, dass sie alles zur handhabbaren Ware macht. Die menschliche Arbeit, seine Gefühle und seine Gedanken werden zu Sachen, die verkauft werden. Der gesamte Mensch, der sich und seine Arbeitskraft verkaufen muss, wird zur Sache, die ihren Wert als Ware erhält. In der Folge werden alle menschlichen Beziehungen untereinander, aber auch sein Verhältnis zur Natur, zum eigenen Denken und schließlich zur Kunst verdinglicht. Das Kunsterleben steht quer zu dieser Verwertung, denn es ist ähnlich der religiösen Erfahrung ein Ereignis, das

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die alltäglichen Bahnen verlässt. Das ästhetische Empfinden stellt die Gewiss­ heiten der sinnlichen Eindrücke infrage und kann so das Subjekt und seine Welt in eine Unruhe versetzen. Doch der Zwang der Warenwirtschaft, aus jedem Ereignis ein Objekt des Handels zu machen, will auch diesen ästhetischen Aus­ nahmezustand verfestigen und ihn als künstlerisches Ding zum Bestandteil der Warenwelt machen. Aus dem Gemälde wird die Tapete, aus der Musik die abendliche Entspannung und aus der Romanlektüre eine Phantasiereise, die den Alltag besser ertragen lässt. Die »Staubwolken der Oberflächen« sind das treffende Bild, das Marx für das Phänomen einer Realität gefunden hat, die sich selbst unsichtbar macht, in dem sie zu viel von sich preisgibt. Die Vielfalt in der Oberfläche erzählt nichts mehr über die Verhältnisse, die herrschen. So wie die Fotografie der KruppWerke nichts über die entmenschlichende Arbeitswelt und die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse offenbart, so hat die Warenform des Lebens dazu geführt, dass gerade der erste Blick in der sinnlichen Anschauung nichts mehr offenbart. Die Oberfläche wird zur perfekten Tarnung der dahinterliegenden Widersprüche. Wer also auf das vermeintlich Offensichtliche verweist, der ist entweder naiv oder er will Sand in die Augen streuen. Die Oberfläche ist das Gegenteil der konkreten Realität. Sie ist eine äußere Form, die sowohl zur Tar­ nung hergestellt ist, als auch von jedem Einzelnen geglaubt wird, weil sein Alltag in der Entfremdung es ihn so gelehrt hat. Der Realismus ist, und das ist der bis heute gültige Kerngedanke, gerade kein Abbild der Oberfläche. Realismus fällt nicht auf die Lüge des Offensicht­ lichen herein, sondern er durchstößt sie, um die Verhältnisse hinter dem Schein offenzulegen. Ein realistisches Bild der Krupp-Werke wäre nicht die Fotografie, sondern etwa die Aktien und ihre Eigentümer, die Stechuhr und die Lohnzettel. Es wären die Gespräche, die nicht geführt werden dürfen, die Sorgen, die ver­ heimlicht werden müssen, und die ignoranten Reden derjenigen, die niemals einen Blick in diese Welt geworfen haben. Ein realistisches Bild wären, um das Brechtsche Beispiel fortzuschreiben, die Zeitungsberichte im Wirtschaftsteil, die von den Arbeitenden in der Pause gelesen werden, und ihr Kopfschütteln darüber. Und vollständiger würde dieses Bild noch dadurch, dass auch der Wirt­ schaftsredakteur in seiner Abhängigkeit von den Anzeigenkunden sichtbar wird, und die Eigentümer auftreten, die ihre Aktien kaufen oder verkaufen, je nachdem wie sie den Artikel bewerten. In jedem unmittelbaren Bild besteht die Lüge also darin, dass zu wenige Akteure zu sehen sind. Der Realismus steht vor der unendlich schweren Arbeit, die Vielfalt der Abhängigkeiten abzubilden und dennoch zu einem neuen Bild zu

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Kritischer Realismus

finden, welches das Gesamt der Komplexität greifbar macht. Das dicke Sach­ buch ist keine realistische Kunst, wenngleich es vielleicht sehr viele Bestand­ teile herausarbeiten kann, mit denen die Realität besser verstanden werden kann. Die Aufgabe des realistischen Künstlers ist um einiges anspruchsvoller. Er braucht die Oberfläche als Material seiner Kunst und darf zugleich nicht ihre Lüge glauben. Er muss hinter die Fassade schauen und ist doch kein Journalist, dem der Blick hinter die Kulisse die ganze Wahrheit bedeutet. Die dialektische Spannung der realistischen Kunst besteht darin, dass sie mit der sinnlichen Anschauung spielt, ohne ihr zu verfallen. Und dass sie den analytischen Blick braucht, ohne ihn selbst zum Thema zu machen oder als einzige Wahrheit zu glauben. Realistische Kunst stellt den höchsten Schwierigkeitsgrad in der Ästhe­ tik dar. Diese Beurteilung steht konträr zur Geschichte, die die Kunst in der Moderne genommen hat. Die technischen Erfindungen der Fotografie und des Kinos haben den Anteil der illusionistischen Künste als überflüssige Kunstfertig­ keiten erscheinen lassen. Ein Foto fängt das Bild der Welt um so viel genauer und einfacher ein, als es je ein Maler vermöchte. Doch genau diese Verwechslung von Illusionskunst mit realistischer Kunst ist der Fehler, den Lukács beheben möchte. Die realistische Darstellung glaubt gerade nicht dem äußeren Anschein. Um diese Fassade zu durchbrechen, braucht der realistische Künstler nicht nur eine hohe technische Fertigkeit, sondern ein ebenso entwickeltes politisches Bewusstsein. Nur wer die Verhältnisse hinter den Verhältnissen erkennen kann, so wie es beispielsweise Brecht versucht hat, dessen Darstellungen können die Darstellung der Realität zum Sprechen bringen. Lukács unterscheidet sich vom Brechtschen Ansatz aber nicht nur durch seine geschmackliche Präferenz für die bürgerlichen Virtuosen des realistischen Romans wie etwa Honoré de Balzac oder Thomas Mann, sondern vor allem durch seine politische Skepsis. Er sieht den Menschen immer als Produzenten seiner Geschichte und als Produkt der Menschheitsgeschichte. Der Mensch steht nicht neben seiner Zeit, sondern er ist ihr Schöpfer und ihr Geschöpf. Dieser auf Hegel zurückgehende dialektische Blick auf alles menschliche Dasein weitet die Anforderungen an eine realistische Kunst noch einmal beträchtlich. Die gesellschaftlichen Verhältnisse positionieren die einzelnen Menschen so, dass der Blick auf das Gesamt der Zusammenhänge so gut wie unmöglich wird. Was unter dem Begriff der Entfremdung beschrieben wird, ist der Einfluss der Macht auf die jeweilige menschliche Möglichkeit, sich selbst und seine Umwelt überhaupt wahrnehmen zu können. Wer einer entfremdeten Arbeit nachgeht, dessen Bewusstsein ist in vielfältiger Weise blockiert, sich selbst

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Bernd Stegemann: Es geht noch immer um den Realismus

und seine Lebensverhältnisse begreifen zu können. Die entfremdete Arbeit erschöpft den Geist, sie entfernt von den eigenen Bedürfnissen und macht die Mitmenschen zu Konkurrenten. Entfremdung produziert ein kollektives Funktio­ nieren und eine individuelle Ohnmacht, daran etwas ändern zu können. Die Geschichte der Entfremdung zeigt, wie ihre Macht über das einzelne Bewusstsein im gleichen Maße zunimmt, wie die Macht des Kapitals die gesell­ schaftliche Macht auf sich vereinigt. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Lukács diesen Zusammenhang deutlich erkennen. Auf der einen Seite lagen seine Hoffnungen in einer Projektion auf die Klasse der Proletarier, die auf­ grund ihrer kollektiven Erfahrung der entwürdigenden Arbeit einen klaren Blick auf die Zusammenhänge haben sollten. Und auf der anderen Seite erkannte er die Notwendigkeit einer avantgardistischen Partei, die den Massen vorangeht, um sie aus der Unmündigkeit zu befreien. Seine Entwicklung vom Revolutions­ theoretiker eines sich selbst ermächtigenden Proletariats, wie es auch Rosa Luxemburg propagierte, zum Anhänger einer leninistisch-bolschewistischen Par­ tei, die dem Volk als Avantgarde vorangeht, ist sicherlich auch den Machtverhält­ nissen des Stalinismus geschuldet. Doch zugleich ist sie ein Bild für die Hoffnun­ gen und die Ohnmachtserfahrungen proletarischer Kämpfe im 20. Jahrhundert. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass auch die ästhetischen Programme sich diesen zwei Traditionen verpflichtet fühlen. Entsteht die realistische Kunst aus dem Volk, indem es selbst seinen Nöten in der Entfremdung eine künstleri­ sche Übersetzung gibt? Oder braucht es eine künstlerische Avantgarde, die den durch Entfremdung verengten Horizont aufsprengt? In diesem Spannungsver­ hältnis neigt Lukács der Könnerschaft des Berufskünstlers zu und unterscheidet sich dabei wiederum von Brecht, der mit der Lehrstücktheorie die Kunst der Nicht-Künstler fördern wollte. Kunst ist für Lukács nicht nur Dokument eines fal­ schen Lebens, sondern auch Verwandlung in den ästhetischen Schein. Zugleich entlässt er diesen Schein aber nicht in die abstrakte Freiheit der bürgerlichen Kunst, sondern stellt ihn in den Dienst des realistischen Bildes, das mehr zeigt als nur die Oberfläche der Realität. Wie komplex seine Anforderungen an den realistischen Künstler sind, zeigt sich in der Gegenwart daran, dass sie in aktuellen ästhetischen Diskursen keine Rolle mehr spielen. Das Bewusstsein der Zeitgenossen findet nicht mehr zu der produktiven Differenz, die es braucht, um die eigene Zeit auf ihre Widersprüche und uneingelösten Versprechen hin zu untersuchen. Die ästhetischen Diskurse der Postmoderne sind in ihren unterschiedlichen Facetten alle affirmativ zur herr­ schenden Macht. Sie wiederholen den Schein, den die Waren und die als Waren sich anpreisenden Menschen alltäglich produzieren müssen. Die postmoderne

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Kritischer Realismus

Ästhetik gründet sich in der unernsten Übertreibung, die den gesellschaftlichen Sound der Spätmoderne im Wohlstand auszeichnet. Von allem zu viel und nichts ist genug. Diese Gleichzeitigkeit durchzieht das ganze Leben. Die postmoderne Reaktion darauf ist die Ironie des Achselzuckens. Sie wiederholt damit die resi­ gnative Erschöpfung und ringt ihr mit dem stählernen Griff des ironischen Zitats den letzten Tropfen Leben ab. Der Abgrund, den die Entfremdung ständig vertieft, um den Einfluss des kri­ tischen Bewusstseins auf die Hegemonie zu verhindern, ist im 21. Jahrhundert so tief in jedem Einzelnen aufgerissen, dass nur noch der fasziniert erschrockene Blick vom Ufer aus möglich scheint. Das Ich in der Entfremdung inszeniert seine eigene Ohnmacht und lässt sich dabei zuschauen. Der subjektive Realismus ist der Status quo der zeitgenössischen Kunst. Den Unterschied zu dem gesell­ schaftlichen Realismus, um den Lukács, aber auch Brecht und viele andere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerungen haben, neu zu vermessen, könnte ein erster Schritt aus der Egozentrik spätmoderner Selbstverzauberungen sein. Die Forderungen eines realistischen Kunstwerks sind für heutige Künstler so schwer verständlich, weil sie eine Reflexion des eigenen Standpunkts in den Verhältnissen voraussetzen. Nur wer die Widersprüche als konkreten Ausdruck der Klassenverhältnisse begreifen lernt, der kann sein eigenes Denken dieser Widersprüche entwickeln, sodass er sich selbst als Teil einer Dreiecksbeziehung sieht. Es gibt nicht nur die Antagonisten des Widerspruchs, sondern auch die Position desjenigen, der diesen Widerspruch beobachtet. Welche Auswirkungen die eigene Position hat, ist leicht zu sehen, wenn man sich die Situation der Arbeitenden in einer Fabrik vorstellt. Schaut man aus der Position des Fabrik­ besitzers darauf, so sieht man anderes, als wenn man Arbeitsuchender ist oder ein Arbeiter. Die Wahrheit des Widerspruchs entsteht erst aus der Zusammen­ schau der eigenen Position in Beziehung auf den beobachteten Widerspruch. Die Herausforderung dieser reflektierten Beobachterposition besteht darin, dass sie zugleich ihr eigenes Gewordensein bedenken muss. Sie schaut nicht aus der Abstraktion des bürgerlichen Künstlergenies auf die Welt, sondern begreift sich selbst als Produkt eines Lebens, das geprägt ist von den Bedin­ gungen seiner Zeit und seiner Stellung in der Welt. Das notwendig falsche Bewusstsein, wie die Ideologie genannt wird, ist darum immer schon Teil der Weltwahrnehmung. In ihr wiederholt sich der Widerspruch der Realität, nur dass er sich hier in die ungleich schwerer darzustellende Form gebracht hat, zwi­ schen dem Denkbaren, dem Denknotwendigen und dem Nicht-Denkbaren zu unterscheiden. Die Ideologie manifestiert sich in dem Unterschied zwischen den Gedanken, die dem Bewusstsein möglich sind, und dem, was in der Praxis

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Bernd Stegemann: Es geht noch immer um den Realismus

konkret lebbar und darum auch veränderbar ist. Der Unterschied zwischen einer realistischen Kunst und einem politischen Programm liegt also auch darin, dass die Kunst nicht nur mit den Differenzen des Denkbaren und Möglichen arbeitet, sondern vor allem mit den Grenzen des sinnlich Vorstellbaren. Auch die Phanta­ sie ist von den konkreten Lebensverhältnissen geprägt. Eine realistische Ästhe­ tik unterscheidet sich also nicht nur in der ideologischen Selbstbefragung von der bürgerlichen Kunst, sondern auch in der Anerkennung, dass die individuelle Freiheit des Künstlers eine Folge vielfältiger Herrschaftsverhältnisse ist. In einer solchen Ästhetik wird zum ersten Mal beschreibbar, dass die große Zustimmung, die die Kunst als von jeder Bindung losgelöster Ausdruck des Genies erfährt, der wahre Ausdruck der Klassengesellschaft ist. Wenn hingegen alle ihre soziale Position erleiden, ohne sie ausreichend zu reflektieren, dann ist die abstrakte Negation jeder Bindung ein willkommener Beweis dafür, dass es keine hierarchischen Verhältnisse gibt. Der abstrakte Expressionismus der 1950er Jahre konnte seinen Siegeszug durch den kapitalis­ tischen Teil der Welt nicht nur antreten, weil er von der Macht der CIA unterstützt wurde, sondern er traf auch auf die bürgerliche Sehnsucht, dass der Ausdruck frei und unkonkret zugleich sein möge. Der Urschrei enthemmter Lebendigkeit wurde zum erlösenden Ausweg. Eine Kunst, die eine Freiheit vortäuscht, die fol­ genlos für jede Realität ist, wird zum kategorischen Gegenteil einer realistischen Kunst. Dass der sozialistische Realismus, wie die Sowjetunion ihn propagierte, auf einem anderen ebenso undialektischen Holzweg unterwegs war, machte die kapitalistische Enthemmung im Museum erfolgreicher, als es der Qualität ihrer Werke angemessen gewesen wäre. Die realistische Kunst hat sich von diesem verlorenen Wettbewerb nie­ mals wieder erholt. Seitdem klebt das Stigma der betulichen und parteilichen Politkunst an ihr. Wollte man das Nachdenken neu beginnen, so läge der Aus­ gangspunkt in einer doppelten Neubestimmung: Die Position des Künstlers als Zeitgenossen wird ebenso bedacht, wie die ästhetischen Mittel in Beziehung auf Moden, Diskurse und technologische Voraussetzungen befragt werden. Beide Fragen dienen nicht nur der Sichtbarmachung der versteckten Widersprüche, sondern geben auch einen Rechenschaftsbericht über das Mögliche und das Unmögliche in einer konkreten historischen Situation. Die Freiheit der realisti­ schen Kunst findet nicht nur im ästhetischen Ereignis, sondern auch in den realen Verhältnissen ihre Form. Damit unterscheidet sie sich in doppelter Hinsicht von der abstrakten Kunst. Die Grenzen der realistischen Kunst sind die Grenzen des konkret Vorstellbaren in der jeweiligen Gegenwart. Das ist ihr Mangel und das kann eine Qualität sein, die gerade dadurch, dass sie überzeugend darlegt und

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Kritischer Realismus

damit fühlbar macht, wie eng und tödlich die Sackgassen der gesellschaftlichen Entwicklung sind, ein widerständiges Handeln provoziert. Das Gegenteil zu dieser dialektischen Kunst ist heute nicht nur die formale Abstraktion, sondern vor allem der kapitalistische Realismus, wie er von Mark Fisher beschrieben wurde. Hier wird die verkommene Welt als verkommene Welt wiederholt. Eine solche Darstellung bestätigt die resignative Einstellung und macht aus ihr das folgenlose Lustgruseln eines Konsums kulturindustrieller Güter. Die Welt ist schlecht, aber sich in dieser schlichten Einsicht bestätigt zu finden, fühlt sich gut an. So betoniert der kapitalistische Realismus, gerade weil er eine kritische Pose gegenüber dem Ganzen einnimmt, die schlechte Gegenwart. Seine Darstellung ist eben kein Realismus, sondern die ausge­ schmückte Illustration einer folgenlos resignativen Haltung zur Welt. Sie steigert die Erschöpfung, weil sie das zuschauende Gemüt in künstliche Aufregung ver­ setzt. Das abstrakte Entsetzen führt weder zur aristotelischen Katharsis der Seele, noch versetzt es den Betrachter in ein konkretes Verhältnis der Kritik. Der kapitalistische Realismus verengt nicht nur das Denken und Fühlen der Realität in der aufgepeitschten Resignation, sondern es ist dadurch die erfolg­ reichste Warenform ästhetischer Ereignisse, die der Kulturindustrie gigantische Gewinne beschert. Da in der Gegenwart Realismus ausschließlich als eine solche Form der Unterhaltung konsumiert wird, ist der Begriff vollständig von seiner dialektischen Bedeutung entleert. Ein jedes Nachdenken, das sich auf den mühevollen Weg begeben will, den Lukács vorzeichnet, müsste an genau dieser Stelle beginnen. Wie könnte der Ausweg aus der Resignation in der Dauerregung der »Staub­ wolken der Oberfläche« aussehen?

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Kolumnentitel

Georg Lukács

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Zu ihrer Zeit hat die revolutionäre Bourgeoisie einen heftigen Kampf für die Sache ihrer Klasse geführt, mit allen Mitteln, auch mit dem der schönen Literatur. Was hat die Reste der Ritterschaft zum allgemeinen Gelächter gemacht? Cervantes’ »Don Quichotte«. Der »Don Quichotte« war die stärkste Waffe in den Händen der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen den Feudalismus, gegen die Aristokratie. Das revolutionäre Proletariat braucht wenigstens einen einzigen kleinen Cervantes (Heiterkeit), der ihm eine ebensolche Waffe geben könnte. (Heiterkeit, Beifall.) G. Dimitroff, Rede an dem antifaschistischen Abend im Moskauer Haus der Schriftsteller Die Expressionismusdebatte im »Wort« bietet für den verspäteten Teilneh­ mer eine gewisse Schwierigkeit; viele haben den Expressionismus leiden­ schaftlich verteidigt. In dem Augenblick aber, als man konkret sagen sollte, wer nun der vorbildliche expressionistische Schriftsteller sein sollte, ja, wer überhaupt verdient, Expressionist genannt zu werden, gehen die Meinungen so schroff auseinander, dass es keinen einzigen nicht umstrittenen Namen gibt. Man fragt sich sogar – gerade beim Lesen der leidenschaftlichen Ver­ teidigungsreden – zuweilen, ob es denn überhaupt Expressionisten gab. Da wir hier nicht über die Bewertung einzelner Schriftsteller, sondern um Prinzipien in der Entwicklung der Literatur streiten werden, ist die Entschei­ dung dieser Frage für uns nicht allzu wichtig. Für die Literaturgeschichte gibt es zweifellos einen Expressionismus als Richtung, mit seinen Dichtern und Kritikern. Ich werde mich in den folgenden Bemerkungen auf die prinzipiel­ len Probleme beschränken.

I Zuerst eine kleine Vorfrage: handelt es sich hier um den Gegensatz von moder­ ner Literatur und Klassik (oder gar Klassizismus), was einzelne Schriftsteller besonders dann hervorheben, wenn sie meine kritische Tätigkeit zum Gegen­ stand ihrer Angriffe machen? Ich glaube, diese Fragestellung ist von Grund 121


Kritischer Realismus

aus unrichtig. Dahinter steckt eine Gleichstellung der Kunst der Gegenwart mit der Entwicklung bestimmter literarischer Richtungen, die von dem sich auflösenden Naturalismus und Impressionismus über den Expressionismus zum Surrealismus führt. Wenn solche Autoren über moderne Kunst sprechen, so erscheinen als Vertreter der modernen Kunst ausschließlich Vertreter der obengenannten Entwicklungslinie. Wir wollen vorerst kein Werturteil fällen. Wir fragen nur: stimmt diese Theorie als Grundlage zur Geschichte der Literatur unserer Zeit? Jedenfalls gibt es auch eine andere Auffassung. Die Entwicklung der Lite­ ratur ist – besonders im Kapitalismus, besonders zur Zeit seiner Krise – unge­ mein kompliziert. Grob und vereinfacht ausgesprochen kann man aber doch innerhalb der Literatur unserer Zeit drei große Kreise unterscheiden, die sich natürlich in der Entwicklung einzelner Schriftsteller oft überschneiden: Erstens die teils offen antirealistische, teils pseudorealistische Literatur der Verteidigung und Apologetik des bestehenden Systems, über die wir hier nicht sprechen werden. Zweitens die Literatur der sogenannten Avantgarde (über wirkliche Avantgarde später) vom Naturalismus bis zum Surrealismus. Was ist ihre Grundtendenz? Hier können wir, vorwegnehmend, nur soviel sagen: die Haupttendenz ist eine immer stärkere Entfernung vom Realismus, eine immer energischere Liquidierung des Realismus. Drittens die Literatur der bedeutenden Realisten dieser Periode. Diese Schriftsteller sind in den meisten Fällen literarisch auf sich gestellt; sie schwimmen gegen den Strom der Literaturentwicklung, und zwar gegen den Strom beider obengenannten Gruppen der Literatur. Zur vorläufigen Bezeichnung dieses zeitgenössischen Realismus genügt es, wenn ich die Namen Gorki, Thomas und Heinrich Mann, Romain Rolland nenne. In den Diskussionsartikeln, die leidenschaftlich die Rechte der modernen Kunst gegen die Anmaßung der angeblichen Klassizisten verteidigen, werden diese Gipfelgestalten unserer heutigen Literatur nicht einmal erwähnt. Sie existie­ ren für die »avantgardistische« Geschichtsschreibung und Beurteilung der heutigen Literatur nicht. Im interessanten, gedanken- und materialreichen Buch Ernst Blochs, »Erbschaft dieser Zeit«, wird, wenn mich mein Gedächt­ nis nicht täuscht, der Name Thomas Mann bloß einmal genannt; der Verfasser spricht über seine (und Wassermanns) »soignierte Bürgerlichkeit«, womit für Ernst Bloch dieses Problem erledigt ist. Durch solche Auffassungen wird die ganze Debatte auf den Kopf gestellt. Es ist höchste Zeit, sie wieder auf die Füße zu stellen und das Beste der 122


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

heutigen Literatur gegen seine verständnislosen Verächter zu verteidigen. Der Streit geht also nicht um Klassik kontra Moderne, sondern um die Frage, welche Schriftsteller, welche literarischen Richtungen den Fortschritt in der heutigen Literatur vertreten. Es geht um den Realismus.

II Es wird mir insbesondere von Ernst Bloch vorgeworfen, dass ich mich in mei­ nem alten Aufsatz über den Expressionismus allzuviel mit den Theoretikern dieser Richtung beschäftige. Er wird mir vielleicht verzeihen, wenn ich diesen »Fehler« auch diesmal wiederhole und seine kritischen Bemerkungen über die moderne Literatur zum Gegenstand einer Untersuchung mache. Denn ich glaube nicht, dass die theoretischen Formulierungen von künstlerischen Tendenzen unwichtig sind – auch wenn sie theoretisch Unrichtiges aussagen. Gerade in solchen Fällen sprechen sie sonst sorgsam verdeckte »Geheim­ nisse« der Richtung aus. Und da Bloch ein Theoretiker ganz anderen Kalibers ist, als Picard und Pinthus zu ihrer Zeit gewesen sind, ist es verständlich, dass ich seine Theorien etwas eingehender behandle. Bloch richtet seinen Angriff gegen meine Auffassung der »Totalität«. (Ich lasse die Frage beiseite, wieweit er meine Auffassung richtig auslegt. Es handelt sich nicht um die Frage, ob ich recht habe oder ob Bloch mich rich­ tig versteht, sondern um die Sache.) Er sieht das feindliche Prinzip in dem »unzerfallenen objektiven Realismus, der der Klassik eignet«. Ich setze, nach Bloch, »überall eine geschlossen zusammenhängende Wirklichkeit voraus … Ob das Realität ist, steht zur Frage; wenn sie es ist, dann sind allerdings die expressionistischen Zerbrechungs- und Interpolationsversuche, ebenso die neueren Intermittierungs- und Montageversuche leeres Spiel.« Bloch sieht nun in dieser zusammenhängenden Wirklichkeit nur ein Über­ bleibsel der Systeme des klassischen Idealismus in meinem Denken und stellt seine eigene Auffassung folgendermaßen dar: »Vielleicht ist eine echte Wirk­ lichkeit auch Unterbrechung. Weil Lukács einen objektivistisch-geschlossenen Realitätsbegriff hat, darum wendet er sich bei Gelegenheit des Expressionismus gegen jeden künstlerischen Versuch, ein Weltbild zu zerfällen (auch wenn das Weltbild das des Kapitalismus ist). Darum sieht er in einer Kunst, die Zerset­ zungen des Oberflächenzusammenhanges auswertet und Neues in den Hohl­ räumen zu entdecken versucht, selbst nur subjektivistische Zersetzung; darum setzt er das Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleich.« 123


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Hier liegt eine geschlossene, bis aufs Weltanschauliche zurückgehende theoretische Begründung der modernen Kunstentwicklung vor. Bloch hat vollständig recht: bei einer grundlegenden theoretischen Aussprache über diese Fragen »müßten alle Probleme der dialektisch-materialistischen Abbildlehre zur Sprache kommen«. Dazu ist hier der Ort nicht, obwohl ich persönlich eine solche Diskussion außerordentlich begrüßen würde. Für unser jetzt zu behandelndes Problem geht es um eine viel einfachere Frage. Nämlich um die, ob der »geschlossene Zusammenhang«, die »Totalität« des kapitalistischen Systems, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Einheit von Wirtschaft und Ideologie objektiv, unabhängig vom Bewusstsein, in der Wirklichkeit ein Ganzes bildet. Unter Marxisten – und Bloch hat sich in seinem letzten Buch energisch zum Marxismus bekannt – dürfte darüber kein Streit sein. Marx sagt: »Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes.« Wir müssen hier das Wort »jeder« unterstreichen, denn Bloch bestreitet gerade in bezug auf den Kapitalismus unserer Zeit diese »Totalität«. Der Gegensatz zwischen uns scheint also zwar unmittelbar, formell, kein philo­ sophischer zu sein, sondern ein Gegensatz in der wirtschaftlich-gesellschaft­ lichen Auffassung des Kapitalismus selbst; da jedoch die Philosophie eine gedankliche Spiegelung der Wirklichkeit ist, folgen daraus auch philoso­ phisch wichtige Gegensätze. Selbstverständlich ist der zitierte Satz von Marx historisch zu verste­ hen, das heißt: die Totalität der Ökonomie ist selbst etwas historisch Wan­ delbares. Aber diese Wandlungen bestehen wesentlich in der Ausbreitung und Verstärkung des objektiven Zusammenhanges zwischen allen einzel­ nen ökonomischen Erscheinungen, also darin, dass die »Totalität« immer übergreifender und inhalterfüllter wird. Besteht doch nach Marx die ent­ scheidende historisch fortschrittliche Rolle des Kapitalismus gerade darin, den Weltmarkt auszubilden, wodurch die ganze Weltwirtschaft zu einem objektiv zusammenhängenden Ganzen wird. Die primitiven Wirtschaften erzeugen eine geschlossen aussehende Oberfläche; man denke etwa an ein urkommunistisches Dorf oder auch an eine frühmittelalterliche Stadt. Diese »Geschlossenheit« beruht aber gerade darauf, dass ein solches Wirtschafts­ gebiet mit sehr wenigen Fäden an seine Umgebung, an die Gesamtentwick­ lung der menschlichen Gesellschaft geknüpft ist. Im Kapitalismus dagegen verselbständigen sich die Momente, die Teile der Wirtschaft in einer bis dahin noch nicht vorhandenen Weise (man denke nur an die Verselbständigung des Handels, des Geldes im Kapitalismus, die sich sogar bis zur Möglichkeit von 124


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Geldkrisen, die aus der Geldzirkulation entspringen, steigerte). Die Ober­ fläche des Kapitalismus sieht infolge der objektiven Struktur dieses Wirt­ schaftssystems »zerrissen« aus. Sie besteht aus sich objektiv notwendig ver­ selbständigenden Momenten. Das muss sich natürlich im Bewusstsein der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, also auch im Bewusstsein der Dichter und Denker, spiegeln. Die Verselbständigung der Teilmomente ist mithin eine objektive Tat­ sache der kapitalistischen Wirtschaft. Sie bildet jedoch nur einen Teil, ein Moment des Gesamtvorganges. Und die Einheit, die Totalität, der objektive Zusammenhang aller Teile trotz der objektiv vorhandenen und notwendigen Verselbständigung äußert sich am prägnantesten gerade in der Krise. Marx analysiert den dialektischen Zusammenhang dieser notwendigen Verselb­ ständigung der Momente: »Da sie nun doch zusammengehören, so kann die Verselbständigung der zusammengehörigen Momente nur gewaltsam erscheinen, als zerstörender Prozeß. Es ist gerade die Krise, worin ihre Ein­ heit sich betätigt, die Einheit des Unterschiedenen. Die Selbständigkeit, die die zueinander gehörigen und sich ergänzenden Momente gegeneinander annehmen, wird gewaltsam vernichtet. Die Krise manifestiert also die Einheit der gegeneinander verselbständigten Momente.« Das sind die grundlegenden objektiven Momente der »Totalität« des gesellschaftlichen Zusammenhanges im Kapitalismus. Und jeder Marxist weiß, dass die grundlegenden ökonomischen Kategorien des Kapitalismus sich in den Köpfen der Menschen unmittelbar stets verkehrt spiegeln. Das heißt in unserem Fall soviel, dass die in der Unmittelbarkeit des kapitalis­ tischen Lebens befangenen Menschen zur Zeit des sogenannten normalen Funktionierens des Kapitalismus (Etappe der verselbständigten Momente) eine Einheit erleben und denken, zur Zeit der Krise (Herstellung der Einheit der verselbständigten Momente) jedoch die Zerrissenheit als Erlebnis ansehen. Infolge der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems verfestigt sich die­ ses letztere Erlebnis für längere Zeiten in sehr breiten Kreisen derer, die sich zu den Erscheinungen des Kapitalismus bloß unmittelbar erlebend verhalten.

III Was hat das alles mit Literatur zu tun? Nach einer expressionistischen oder surrealistischen Theorie, die die Beziehung der Literatur zur objektiven Wirklichkeit leugnet, gar nichts; für 125


Kritischer Realismus

eine marxistische Theorie der Literatur sehr viel. Wenn die Literatur tatsäch­ lich eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist, und sich nicht darauf zu beschränken, das wie­ derzugeben, was unmittelbar erscheint. Strebt der Schriftsteller nach einer Erfassung und Darstellung der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist, das heißt, ist er wirklich ein Realist, so spielt das Problem der objektiven Totalität der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle – ganz einerlei, wie sie vom Schriftstel­ ler gedanklich formuliert wird. Lenin hat die praktische Bedeutung der Tota­ litätskategorie wiederholt energisch in den Vordergrund gestellt: »Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammen­ hänge und ›Vermittlungen‹ erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, aber die Forderung der Allseitigkeit wird uns vor Fehlern und Erstarrung bewahren.« (Von mir hervorgehoben. G. L.) Die literarische Praxis jedes wirklichen Realisten zeigt die Wichtigkeit des objektiven gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und die zu seiner Bewältigung notwendige »Forderung der Allseitigkeit«. Die Tiefe der Gestal­ tung, die Breite und die Dauer der Wirksamkeit eines realistischen Schrift­ stellers hängt weitgehend davon ab, wie weit er – gestalterisch – darüber im klaren ist, was eine von ihm dargestellte Erscheinung wirklich vorstellt. Diese Auffassung von der Beziehung des bedeutenden Schriftstellers zur Wirklich­ keit schließt keineswegs – wie Bloch meint – die Erkenntnis aus, dass die Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit »Zersetzungen« zeigt und sich entsprechend im Bewusstsein der Menschen spiegelt. Wie wenig ich dieses Moment der Wirklichkeitsauffassung außer acht gelassen habe, zeigt das Motto meines alten Aufsatzes über den Expressionismus. Das als Motto gesetzte Zitat aus Lenin beginnt wie folgt: »… Das Unwesentliche, Scheinbare, an der Oberfläche Befindliche verschwindet öfter, hält nicht so ›dicht‹, sitzt nicht so ›fest‹ wie das ›Wesen‹.« Es kommt aber nicht nur auf die Anerkennung der Existenz dieses Moments des Gesamtzusammenhangs an, sondern auch – und heute vor allem – darauf, dieses Moment als Moment des Gesamtzusammenhanges zu erkennen und es nicht gedanklich und gefühlsmäßig zur alleinigen Wirklich­ keit aufzubauschen. Es geht also um die Erkenntnis der richtigen dialektischen Einheit von Erscheinung und Wesen, das heißt um eine künstlerisch gestaltete, nacherlebbare Darstellung der »Oberfläche«, die gestaltend, ohne von außen hinzugetragenen Kommentar, den Zusammenhang von Wesen und Erschei­ nung in dem dargestellten Lebensausschnitt aufzeigt. Wir unterstreichen 126


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den gestalteten Charakter des Zusammenhangs zwischen Wesen und Erscheinung, denn wir halten die bei politisch linksstehenden Surrealisten sehr beliebte »Einmontierung« von Thesen in Wirklichkeitsfetzen, die mit ihnen innerlich nichts zu tun haben, im Gegensatz zu Bloch, nicht für eine künstlerische Lösung dieses Problems. Man vergleiche einmal die »soignierte Bürgerlichkeit« Thomas Manns mit dem Surrealismus von Joyce. Im Bewusstsein der Helden beider sind jene Zerrissenheit, Diskontinuität, jene Unterbrechungen und »Hohlräume« gestaltet, die Bloch sehr richtig als bezeichnend für den Bewusstseinszu­ stand vieler Menschen in der imperialistischen Periode empfindet. Blochs Fehler liegt nur darin, dass er diesen Bewusstseinszustand unmittelbar und vorbehaltlos mit der Wirklichkeit selbst, das in diesem Bewusstsein vorhan­ dene Bild in seiner ganzen Verzerrtheit mit der Sache selbst identifiziert, statt durch Vergleich des Bildes mit der Wirklichkeit das Wesen, die Ursachen, die Vermittlungen des verzerrten Bildes konkret aufzudecken. Auf diese Weise macht Bloch theoretisch dasselbe, was die Expressionisten und Surrealisten künstlerisch machen. Sehen wir nun die Darstellungsweise von Joyce an. Damit dessen Bild in den Augen des Lesers nicht durch mein ablehnendes Verhalten in eine falsche Beleuchtung gerate, führe ich an, was Bloch selbst über ihn sagt: »… ein Mund ohne Ich ist hier mitten im fließenden Trieb, ja, darunter, trinkt ihn, lallt ihn, packt ihn aus. Völlig folgt die Sprache diesem Zerfall nach, sie ist nicht fertig und schon gebildet, gar genormt, son­ dern offen und verwirrt. Was sonst in Zeiten der Ermüdung, in Pausen des Gesprächs oder bei träumerischen, auch fahrigen Menschen spricht, sich ver­ spricht, wortspielt: hier ist es außer Rand und Band. Die Worte sind arbeits­ los geworden, aus ihrem Sinnverhältnis entlassen, bald geht die Sprache wie ein zerschnittener Wurm, bald schießt sie zusammen wie bewegtes Trickbild, bald hängt sie wie Schnürboden in die Handlung hinein.« Das ist die Beschreibung, nun die endgültige Bewertung: »Eine taube Nuß und der unerhörteste Ausverkauf zugleich; eine Beliebigkeit aus lauter zerknüllten Zetteln, Affengeschwätz, Aalknäueln, Fragmenten aus Nichts, und der Versuch zugleich, Scholastik im Chaos zu gründen; … Hoch-, Breit-, Tief-, Querstapelei aus verlorener Heimat; ohne Wege, mit lauter Wegen, ohne Ziele, mit lauter Zielen. Montage vermag jetzt viel, leicht beieinan­ der wohnten früher nur die Gedanken, jetzt auch die Sachen, wenigstens im Überschwemmungsgebiet, im phantastischen Urwald der Leere.« Wir mussten dieses lange Zitat anführen, weil die surrealistische Montage in Blochs historischer Einschätzung des Expressionismus eine sehr wichtige, 127


Kritischer Realismus

ja entscheidende Rolle spielt. An einer früheren Stelle seines Buches unter­ scheidet auch er, wie alle Verteidiger des Expressionismus, zwischen dessen oberflächlichen und echten Vertretern. Und die Bestrebungen des echten Expressionismus leben nach Bloch weiter. Er sagt: »Aber auch heute noch ist kein großes Talent ohne expressionistische Herkunft, mindestens ohne deren höchstgesprenkelte, höchstgewittrige Nachwirkung. Den letzten ›Expressio­ nismus‹ stellten die sogenannten Surrealisten; eine kleine Gruppe nur, aber wieder ist Avantgarde bei ihnen und: Surrealismus ist erst recht – Montage … sie ist die Beschreibung des Durcheinanders der Erlebniswirklichkeit mit ein­ gestürzten Sphären und Zäsuren.« Hier erkennt der Leser deutlich, was der Verteidiger des Expressionismus Bloch als die Linie der Literaturentwicklung unserer Zeit ansieht, wie bewusst er alle bedeutenden Realisten der Periode aus der Literatur geradezu ausschließt. Thomas Mann verzeihe mir, dass ich ihn in diesem Zusammenhang als Gegenbeispiel heranziehe. Man stelle sich Tonio Kröger oder Christian Buddenbrook oder die Hauptgestalten des »Zau­ berberg« vor. Man stelle sich weiter vor, sie wären, wie Bloch fordert, rein aus ihrem Bewusstsein und nicht im Gegensatz zu einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit gestaltet. Es ist klar, dass sie in ihrem Bewusstsein, so wie es unmittelbar ist, so wie ihr Denken sich vollzieht, in einer Weise vor uns stehen würden, die an »Zerrissenheit der Oberfläche« derjenigen von Joyce nichts nachgeben würde; man würde in ihr ebenso viele »Hohlräume« finden wie bei Joyce. Man sage nicht, dass diese Werke vor jener Krise entstanden sind – die objektive Krise etwa in Christian Buddenbrook führt zu einer tieferen Zerrissenheit der Seele als bei den Helden von Joyce. Und der »Zauberberg« ist mit dem Expressionismus gleichzeitig. Wenn also Thomas Mann bei den unmittelbar genommenen, photographierten und dann zusammenmontier­ ten Gedanken- und Erlebnisfetzen dieser Menschen stehengeblieben wäre, so hätte er leicht ein ebenso »künstlerisch fortschrittliches« Gemälde geschaffen, wie es der von Bloch bewunderte Joyce tut. Warum bleibt Thomas Mann bei so modernen Themen künstlerisch doch »altmodisch«, »herkömmlich«, gibt sich nicht »avantgardistisch«? Eben weil er ein wirklicher Realist ist, was in diesem Fall zuallererst so viel bedeutet, dass er – als gestaltender Künstler – genau weiß, wer Christian Buddenbrook, wer Tonio Kröger, wer Hans Castorp, Settembrini oder Naphta ist. Er braucht es nicht im Sinne einer abstrakt-wissenschaftlichen sozialen Analyse zu wissen: hier mag er sich irren, so wie vor ihm auch Balzac, Dickens oder L. Tolstoi geirrt haben – er weiß es aber im Sinne des schaffenden Realisten; er weiß, wie Denken und Empfinden aus dem gesellschaftlichen Sein herauswachsen, wie 128


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Erlebnisse und Empfindungen Teile eines Gesamtkomplexes der Wirklichkeit sind. Dabei zeigt er als Realist, wohin dieser Teil im Gesamtkomplex des Lebens gehört, woher er aus dem gesellschaftlichen Leben kommt, wohin er geht usw. Wenn also Thomas Mann etwa Tonio Kröger nicht nur als einen »ver­ irrten Bürger« bezeichnet, sondern gestaltend zeigt, wie und warum er ein »verirrter Bürger« ist, trotz seines unmittelbaren Gegensatzes zum Bürgertum, trotz seiner Heimatlosigkeit im bürgerlichen Leben, trotz seiner Ausgeschlossenheit aus dem Leben der Bürger, ja gerade darum – so hat er sich nicht nur gestalterisch, sondern auch im Verständnis für die Entwicklung der Gesellschaft turmhoch über jene »Ultraradikalen« erho­ ben, die sich einbilden, dass ihre antibürgerlichen Stimmungen, ihre – oft bloß ästhetische – Ablehnung des kleinbürgerlichen Muffs, ihre Verach­ tung der Plüschmöbel oder der Pseudorenaissance in der Architektur sie bereits objektiv zu unversöhnlichen Feinden der bürgerlichen Gesellschaft gemacht haben.

IV Die einander rasch ablösenden modernen literarischen Richtungen der impe­ rialistischen Periode vom Naturalismus bis zum Surrealismus gleichen einan­ der darin, dass sie die Wirklichkeit so nehmen, wie sie dem Schriftsteller und seinen Gestalten unmittelbar erscheint. Diese unmittelbare Erscheinungs­ form wechselt im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Und zwar sowohl objektiv wie subjektiv, je nachdem wie die von uns bereits geschilderten objektiven Erscheinungsformen der kapitalistischen Wirklichkeit wechseln, und je nachdem, wie Klassenumschichtung und Klassenkampf verschiedene Spiegelungen dieser Oberfläche hervorbringen. Dieser Wechsel bedingt vor allem das rasche Sich-Ablösen und das erbitterte Sich-Bekämpfen der ver­ schiedenen Richtungen. Aber sie bleiben alle, gedanklich wie gefühlsmäßig, bei dieser ihrer Unmittelbarkeit stehen, graben nicht nach dem Wesen, das heißt nach dem wirklichen Zusammenhang ihrer Erlebnisse mit dem wirklichen Leben der Gesellschaft, nach den verborgenen Ursachen, die diese Erlebnisse objek­ tiv hervorbringen, nach jenen Vermittlungen, die diese Erlebnisse mit der objektiven Wirklichkeit der Gesellschaft verbinden. Sie schaffen im Gegen­ teil – mehr oder weniger bewusst – gerade aus dieser Unmittelbarkeit heraus spontan ihren künstlerischen Stil. 129


Kritischer Realismus

Der Gegensatz aller modernen Richtungen zu den in dieser Zeit spär­ lich vorhandenen Überlieferungen der alten Literatur und Literaturtheorie gipfelt zugleich in einem leidenschaftlichen Protest gegen die Anmaßung einer Kritik, die ihnen angeblich verbietet, so zu schreiben, »wie ihnen der Schnabel gewachsen ist«. Die Vertreter dieser verschiedenen Richtungen übersehen dabei, dass die wirkliche Freiheit, die Freiheit von den reaktionä­ ren Vorurteilen der imperialistischen Periode (und zwar nicht nur auf künst­ lerischem Gebiet) auf dem Boden der Spontaneität, des Befangenbleibens in der Unmittelbarkeit, niemals erreicht werden kann. Denn die spontane Entwicklung des imperialistischen Kapitalismus produziert und reprodu­ ziert ununterbrochen gerade diese reaktionären Vorurteile auf immer höhe­ rer Stufe (gar nicht zu sprechen davon, dass die imperialistische Bourgeoisie diesen Reproduktionsvorgang bewusst fördert). Und es gehört eine harte Arbeit, ein Verlassen und Überwinden der Unmittelbarkeit, ein Wägen und Messen aller subjektiven Erlebnisse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit – sowohl des Inhalts wie der Form dieser Erlebnisse –, ein tieferes Erforschen der Wirklichkeit dazu, um die reaktionären Beeinflussungen der imperialis­ tischen Umwelt in den eigenen Erlebnissen zu entdecken und kritisch über sie hinauszugehen. Diese harte Arbeit haben die bedeutenden Realisten unserer Zeit künst­ lerisch, weltanschaulich und politisch ununterbrochen getan und tun sie heute noch. Man vergegenwärtige sich nur die Entwicklung Romain Rollands, Thomas und Heinrich Manns. So verschieden diese Entwicklungen in jeder Hinsicht voneinander sind – dieser Zug ist ihnen allen gemeinsam. Wenn wir das Stehenbleiben auf dem Niveau der Unmittelbarkeit bei den verschiedenen modernen Richtungen feststellen, so wollen wir damit die künstlerische Arbeit, die die ernsten Schriftsteller vom Naturalismus bis zum Surrealismus geleistet haben, nicht leugnen. Sie haben ja aus ihren Erleb­ nissen einen Stil, eine folgerecht durchgeführte, oft artistisch reizvolle und interessante Ausdrucksweise geschaffen. Aber diese ganze Arbeit erhebt sich, wenn man ihre Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Auge fasst, weder weltanschaulich noch künstlerisch über das Niveau der Unmittelbarkeit. Und darum ist der künstlerische Ausdruck, der hier entsteht, abstrakt, eingleisig. (Es ist dabei vollständig gleichgültig, ob eine die betreffende Richtung begleitende ästhetische Theorie für oder gegen die »Abstraktion« in der Kunst ist. Seit dem Expressionismus wird übrigens die Abstraktion immer stärker auch theoretisch betont.) Es gibt vielleicht Leser, die jetzt mei­ nen, dass in unseren Darlegungen ein Widerspruch vorliege: es scheint, als 130


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

ob Unmittelbarkeit und Abstraktion einander vollständig ausschließen. Es ist aber eine der größten gedanklichen Errungenschaften der dialektischen Methode – schon bei Hegel – dass sie die innere Zusammengehörigkeit von Unmittelbarkeit und Abstraktion aufgedeckt und nachgewiesen hat, dass auf dem Boden der Unmittelbarkeit nur ein abstraktes Denken zustande kommen kann. Marx hat auch hier die Hegelsche Philosophie auf die Füße gestellt und in der Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge wiederholt konkret nach­ gewiesen, wie diese Zusammengehörigkeit von Unmittelbarkeit und Abs­ traktion in der Spiegelung ökonomischer Tatsachen zum Ausdruck kommt. Wir müssen uns hier auf die ganz kurze, hinweisartige Beleuchtung eines solchen Beispiels beschränken. Marx zeigt, dass die Zusammenhänge des Geldumlaufs und seines Agenten, des Geldhandelskapitals, die äußerste Abstraktion des kapitalistischen Gesamtvorganges, das Auslöschen aller Vermittlungen darstellen. Nimmt man sie so, wie sie erscheinen, in schein­ barer Unabhängigkeit vom Gesamtvorgang, so erhalten sie die Gestalt einer rein gedankenlosen, vollständig fetischisierten Abstraktion: »Geld hecken­ des Geld«. Aber gerade darum fühlen sich die Vulgärökonomen, die an der Unmittelbarkeit der Erscheinungsoberfläche des Kapitalismus stehenbleiben, gerade in der Welt dieser fetischisierten Abstraktion in ihrer Unmittelbarkeit bestätigt, sie fühlen sich hier so wohl wie der Fisch im Wasser und protes­ tieren leidenschaftlich gegen die »Anmaßung« der marxistischen Kritik, die von den Ökonomen eine Berücksichtigung des gesellschaftlichen Gesamt­ vorgangs der Reproduktion fordert. Ihr »Tiefsinn besteht hier wie immer nur darin, die Staubwolken der Oberfläche zu sehn und dies Staubige anmaßlich als etwas Geheimnisvolles und Bedeutendes auszusprechen«, wie Marx über Adam Müller sagt. Aus solchen Erwägungen heraus habe ich in meinem alten Aufsatz den Expressionismus als ein »Wegabstrahieren von der Wirklichkeit« gekennzeichnet. Selbstverständlich: ohne Abstraktion keine Kunst – wie könnte sonst das Typische entstehen? Aber das Abstrahieren hat – wie jede Bewegung – eine Richtung, und auf diese kommt es hier an. Jeder bedeutende Realist bearbeitet – auch mit den Mitteln der Abstraktion – seinen Erlebnisstoff, um zu den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit, um zu den tie­ fer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittelbar nicht wahrnehmba­ ren Zusammenhängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gelangen. Da diese Zusammenhänge nicht unmittelbar an der Oberfläche liegen, da diese Gesetzmäßigkeiten sich verschlungen, ungleichmäßig, bloß tendenzartig 131


Kritischer Realismus

durchsetzen, entsteht für den bedeutenden Realisten eine ungeheure, eine doppelte künstlerische wie weltanschauliche Arbeit: nämlich erstens das gedankliche Aufdecken und künstlerische Gestalten dieser Zusammenhänge; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge – die Aufhebung der Abstrak­ tion. Es entsteht durch diese doppelte Arbeit eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, eine gestaltete Oberfläche des Lebens, die, obwohl sie in jedem Moment das Wesen klar durchscheinen lässt (was in der Unmittelbar­ keit des Lebens selbst nicht der Fall ist) doch als Unmittelbarkeit, als Ober­ fläche des Lebens erscheint. Und zwar als die ganze Oberfläche des Lebens in allen ihren wesentlichen Bestimmungen – nicht nur ein subjektiv wahr­ genommenes und abstrahierend übersteigertes und isoliertes Moment aus dem Komplex dieses Gesamtzusammenhangs. Das ist die künstlerische Einheit von Wesen und Erscheinung. Je vielfäl­ tiger, reicher, verschlungener, »schlauer« (Lenin) sie ist, je stärker sie den lebendigen Widerspruch des Lebens, die lebendige Einheit des Widerspruchs von Reichtum und Einheit der gesellschaftlichen Bestimmungen fasst, desto größer und tiefer wird der Realismus. Was bedeutet im Gegensatz dazu das »Wegabstrahieren von der Wirk­ lichkeit«? Die undurchsichtige, zerrissen gespiegelte, chaotisch erscheinende, unverstandene, nur unmittelbar erlebte Oberfläche wird bei mehr oder weni­ ger bewusster Ausschaltung und Ignorierung der objektiven Vermittlungen ohne gedankliche Erhebung über dieses Niveau als solche fixiert. In der Wirklichkeit gibt es nirgends einen Stillstand. Die gedankliche und künst­ lerische Arbeit muss sich entweder zu der Wirklichkeit hin oder von ihr weg bewegen. Diese letzte Bewegung entstand bereits – scheinbar paradox – im Naturalismus; Milieutheorie, zur Mythologie fetischisierte Vererbung eine Ausdrucksform, die die Äußerlichkeiten des unmittelbaren Lebens abstrakt fixierte, und anderes verhinderten bereits hier einen künstlerischen Durch­ bruch zur lebendigen Dialektik von Erscheinung und Wesen, oder genauer ausgedrückt: das Fehlen eines solchen Durchbruchs bei den naturalistischen Schriftstellern hat diese Ausdrucksweise hervorgebracht. Beides steht in lebendiger Wechselwirkung. Darum mussten die photographisch und phonographisch so treu abge­ bildeten Lebensoberflächen des Naturalismus doch tot bleiben, ohne innere Bewegung, zustandhaft. Darum glichen die äußerlich so verschiedenen natu­ ralistischen Dramen und Romane einander bis zur Verwechselbarkeit. (In diesem Zusammenhang müsste man eine der größten Kunsttragödien unserer 132


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Zeit behandeln: die Gründe, warum Gerhart Hauptmann nach seinen blen­ denden Anfängen doch kein großer Realist wurde. Dazu ist hier kein Raum. Wir beschränken uns hier auf den Hinweis, dass für den Dichter der »Weber« und des »Biberpelz« der Naturalismus eine Hemmung und keine Förderung war; dass die Überwindung des Naturalismus sich bei ihm ohne Hinausgehen über seine weltanschaulichen Grundlagen vollzog). Die künstlerischen Schranken der naturalistischen Ausdrucksweise wurden rasch erkannt. Aber sie wurden nie von Grund aus kritisiert. Der einen abstrakten Unmittelbarkeit wurde immer wieder eine andersgeartete, scheinbar entgegengesetzte, aber ebenso abstrakte Unmittelbarkeit gegen­ übergestellt. Es ist für die Kunsttheorie und Kunstpraxis dieser ganzen Ent­ wicklung bezeichnend, dass die Vergangenheit sich dem Wesen nach stets auf die unmittelbar vorangegangene Richtung beschränkt: der Impressionismus etwa auf den Naturalismus. Damit bleiben Theorie wie Praxis in diesem ganz äußerlichen, ganz abstrakten Gegensatz befangen. Diese Betrachtungsweise reicht noch in unsere Debatte hinein. Rudolf Leonhard leitet die historische Notwendigkeit des Expressionismus ebenfalls auf diese Weise ab: »Denn die­ ser Gegensatz zum unerträglich, unmöglich gewordenen Impressionismus ist der eine Grund des Expressionismus«, sagt er und führt diese Anschauung klar durch, ohne aber auf die anderen Gründe näher einzugehen. Scheinbar steht der Expressionismus in einem ganz schroffen, ganz ausschließenden Gegensatz zu den früher aufgetretenen literarischen Richtungen. Er betont ja als Mittelpunkt seiner Gestaltungsweise gerade das Herausheben des Wesens; das nennt Leonhard den »unnihilistischen« Zug im Expressionismus. Aber dieses Wesen ist nicht das objektive Wesen der Wirklichkeit, des Gesamtprozesses. Dieses Wesen ist gerade das rein Subjektive. Ich will mich hier nicht auf die verpönten alten Theoretiker des Expressionismus berufen. Wenn Ernst Bloch den eigentlichen und uneigentlichen Expressionismus voneinander unterscheidet, betont er gerade das subjektive Moment: »Der Expressionismus im Original war vielmehr Bildsprengung, war aufgerissene Oberfläche auch vom Original her, nämlich vom Subjekt, das gewalttätig auf­ riß und verschränkte.« Gerade diese Bestimmung des Wesens macht es notwendig, dass es bewusst, stilisierend, abstrahierend vom Zusammenhang, von den Ver­ mittlungen abgetrennt, isoliert für sich genommen wurde. Der folgerechte Expressionismus leugnet jede Beziehung zur Wirklichkeit, sagt allen Inhal­ ten der Wirklichkeit einen subjektivistischen Krieg an. Ich will mich hier in die Diskussion, ob und wie weit Gottfried Benn als typischer Expressionist 133


Kritischer Realismus

aufgefasst werden darf, nicht einmischen; ich finde aber, dass jenes Lebens­ gefühl, das Bloch in seinen Darlegungen über Expressionismus und Surrealis­ mus so bilderreich und eindringlich beschreibt, in Benns Buch »Kunst und Macht« am schroffsten, am aufrichtigsten und plastischsten zum Ausdruck gekommen ist: »… Es gab in Europa zwischen 1910 und 1925 überhaupt kaum einen anderen als den antinaturalistischen Stil. Es gab ja auch keine Wirklich­ keit, höchstens noch ihre Fratzen. Wirklichkeit, das war ein kapitalistischer Begriff … Der Geist hatte keine Wirklichkeit.« Klar und entschieden finden wir diesen Tatbestand und seine Konse­ quenzen bei Heinrich Vogeler formuliert. Aus der richtigen Erkenntnis der expressionistischen Abstraktion kommt er zu der richtigen Folgerung: »Er (nämlich der Expressionismus. G. L.) war der Totentanz der bürgerlichen Kunst … Das ›Wesen der Dinge‹ glaubte der Expressionismus zu geben, doch er gab die Verwesung.« Als notwendige Folge einer wirklichkeitsfremden oder gar feindlichen Einstellung entsteht in steigendem Maße in der »avantgardistischen« Kunst eine immer größere Inhaltsarmut, die sich im Laufe der Entwick­ lung zu einer grundsätzlichen Inhaltslosigkeit, ja Inhaltsfeindlichkeit stei­ gert. Wieder hat Gottfried Benn diesen Zusammenhang am klarsten ausge­ sprochen: »… auch der Begriff des Inhalts selbst ist fragwürdig geworden. Inhalte – was soll das noch, das ist ja alles ausgelaugt, ausgelaufen, Staffage – Bequemlichkeiten des Herzens, Versteifungen des Gefühls, kleine Herde lügenverfallener Substanzen – Lebenslügen, Gestaltloses …« Diese Beschreibung kommt – wie der Leser selbst beurteilen kann – der Blochschen Beschreibung der Welt des Expressionismus und des Surrealis­ mus recht nahe. Freilich ziehen Benn und Bloch aus diesen Feststellungen ganz entgegengesetzte Konsequenzen. Bloch sieht an einzelnen Stellen seines Buches ziemlich klar die Problematik der heutigen Kunst, die sich aus der von ihm beschriebenen Einstellung zur Welt ergibt: »So kommen wichtige Dichter in den Stoffen nicht mehr unmittelbar unter, sondern sie zerbrechen. Die herrschende Welt verbreitet ihnen keinen darstellbaren Schein mehr, der auszufabeln wäre, sondern nur Leere, mischbaren Bruch darin.« Bloch untersucht darauf den Weg in der revolutionären Periode der Bour­ geoisie bis zu Goethe und fährt nun folgendermaßen fort: »… auf Goethe aber folgte, statt des weiteren Erziehungsromans, der französische der Des­ illusion; und heute gar in der perfekten Nicht-Welt, Gegen-Welt oder auch Trümmer-Welt des großbürgerlichen Hohlraums ist ›Versöhnung‹ konkreten Dichtern weder eine Gefahr noch möglich. Kein anderes Verhalten hier als 134


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

ein dialektisches (?! G. L.); entweder als Material für dialektische Montage oder als ihr Experiment. Selbst die Welt des Odysseus wurde beim musischen Joyce zur Wandelgalerie des alles zersprengenden, allzersprungenen Heute im kleinsten Kreis- und Querlauf. Ein Querlauf, weil den Menschen etwas fehlt, nämlich die Hauptsache …« Wir wollen hier mit Bloch nicht um Kleinigkeiten streiten, also weder um den rein individuellen Gebrauch des Wortes Dialektik, noch um die falsche Konstruktion, die den Desillusionsroman unmittelbar an Goethe anschließen lässt. (Meine frühere »Theorie des Romans« ist an diesem historischen Irr­ tum Blochs mitschuldig.) Es kommt hier auf Wichtigeres an. Nämlich darauf, dass Bloch – freilich mit verkehrten Vorzeichen der Bewertung – den Gedan­ ken ausspricht, dass Fabel und Komposition der Literaturwerke von der Beziehung des Menschen zur objektiven Wirklichkeit abhängig ist. Soweit ist alles richtig. Indem aber Bloch das historische Recht des Expressionismus und Surrealismus nachweisen will, untersucht er nicht mehr die objektiven Beziehungen zwischen Gesellschaft und handelnden Menschen unserer Zeit, die, wie der »Jean Christophe« zeigt, sogar einen Erziehungsroman zulassen, sondern er konstruiert sich aus dem isoliert genommenen Bewusstseinszu­ stand einer bestimmten Intellektuellenschicht den objektiven Zustand der heutigen Welt zurecht, die ihm dann ganz folgerichtig – und leider der Auf­ fassung Benns verwandt – als »Nicht-Welt« erscheint. Für Dichter, die so zur Wirklichkeit stehen, ist selbstverständlich keine Handlung, kein Auf­ bau, kein Inhalt, keine Komposition im »herkömmlichen Sinne« möglich. Für Menschen, die die Welt so erleben, sind tatsächlich Expressionismus und Surrealismus die einzig möglichen Ausdrucksweisen ihres Weltgefühls. Diese philosophische Rechtfertigung des Expressionismus und Surrealismus krankt »nur« daran, dass Bloch, statt an die Wirklichkeit zu appellieren, ein­ fach und unkritisch die expressionistische und surrealistische Attitüde zur Wirklichkeit in eine farbenreiche Begriffssprache umsetzt. Trotz dieses scharfen Gegensatzes in allen Bewertungen halte ich die Fest­ stellung bestimmter Tatsachen bei Bloch für richtig und wertvoll. Er ist näm­ lich im Aufzeigen der notwendigen Entwicklung, die über den Expressionis­ mus zum Surrealismus führt, der folgerichtigste aller »Avantgardisten«. Er hat auch in dieser Hinsicht das Verdienst, die Montage als notwendige künst­ lerische Ausdrucksform dieser Entwicklungsstufe erkannt zu haben. (Sein Verdienst wird noch dadurch gesteigert, dass er die Montage nicht nur in der gegenwärtigen Kunst des »Avantgardismus«, sondern auch in der bürger­ lichen Philosophie unserer Zeit mit großem Scharfsinn nachweist.) 135


Kritischer Realismus

Aber gerade dadurch tritt die antirealistische Eingleisigkeit dieser ganzen Entwicklung bei ihm klarer hervor als bei anderen Theoretikern dieser Rich­ tung. Diese Eingleisigkeit ist – und darüber spricht Bloch nicht – bereits im Naturalismus vorhanden. Die künstlerische »Verfeinerung«, die der Impres­ sionismus gegenüber dem Naturalismus bringt, »reinigt« die Kunst noch mehr von den komplizierten Vermittlungen, von den verschlungenen Wegen der objektiven Wirklichkeit, der objektiven Dialektik von Sein und Bewusst­ sein in den gestalteten Menschen und Fabeln. Der Symbolismus ist bereits klar und bewusst eingleisig, denn die Heterogeneität der sinnlichen Hülle des Symbols und des Symbolgehalts geht bereits auf dem schmalen, einspurigen Weg der subjektiven Assoziation ihrer symbolhaften Verbindung. Die Montage bedeutet den Gipfelpunkt dieser Entwicklung, und darum begrüßen wir die Entschiedenheit, mit der Bloch sie künstlerisch und philo­ sophisch in den Mittelpunkt des »avantgardistischen« Dichtens und Denkens stellt. Wo die Montage in ihrer Originalform, als Photomontage, frappant und mitunter agitatorisch stark wirken kann, stammt ihre Wirkung gerade daher, dass sie sachlich ganz verschiedenartige, vereinzelte und aus dem Zusammen­ hang gerissene Stücke der Wirklichkeit überraschend zusammenstellt. Die gute Photomontage hat die Wirkung eines guten Witzes. In dem Augenblick aber, in dem diese – beim einzelnen Witz berechtigte und wirksame – eingleisige Verbindung mit dem Anspruch auf Gestaltung der Wirklichkeit (auch wenn diese als das Unwirkliche gefasst wird), des Zusammenhanges (auch wenn er als Zusammenhanglosigkeit formuliert wird), der Totalität (auch wenn sie als Chaos erlebt wurde) auftritt, muss der Enderfolg eine tiefe Monotonie sein. Die Einzelheiten mögen in den buntesten Farben erglänzen, das Ganze ergibt ein trostloses Grau in Grau, so wie die Pfütze schmutziges Wasser bleibt, auch wenn ihre Bestandteile die verschiedenartigsten Farben aufweisen. Diese Monotonie ist die notwendige Folge des Aufgebens der objektiven Wirklichkeitswiderspiegelung, des künstlerischen Ringens um die Gestal­ tung der reich verschlungenen Vielheit und Einheit der Vermittlungen und ihrer Aufhebung in den Gestalten. Denn dieses Weltgefühl lässt keine Kom­ position, kein Krescendo und Dekrescendo, keinen Aufbau von innen, aus der wirklichen Natur des gestalteten Lebensstoffes zu. Wenn nun diese künstlerischen Bestrebungen dekadent genannt wer­ den, so entsteht oft ein Schrei der Entrüstung über die »schulmeisterliche Anmaßung von eklektischen Akademikern«. Es sei mir deshalb gestattet, mich auf einen Fachmann in Angelegenheit der Dekadenz zu berufen, den meine Opponenten auch in anderen Fragen als hohe Autorität schätzen, auf 136


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Friedrich Nietzsche. »Womit kennzeichnet sich jede literarische décadence?« fragt er. Und antwortet: »Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der décadence: jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens … Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höheren Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr; es ist zusammengesetzt, berechnet, künstlich, ein Artefact.« Diese Charakteristik Nietzsches ist eine ebenso gute Beschreibung der künstlerischen Bestrebungen solcher Richtun­ gen wie der von Bloch oder Benn. Natürlich sind diese Grundsätze niemals, selbst bei Joyce nicht, hundert­ prozentig durchgeführt. Denn ein hundertprozentiges Chaos existiert nur im Kopfe der Irren, ebenso wie schon Schopenhauer richtig gesagt hat, dass man einen hundertprozentigen Solipsismus nur im Irrenhaus finden kann. Da aber das Chaos die weltanschauliche Grundlage der avantgardistischen Kunst bildet, müssen alle zusammenhaltenden Prinzipien aus einem stoff­ fremden Material stammen: daher die montierten Kommentare, daher der Simultanismus usw. Alles dies kann nur Surrogat sein, alles dies bedeutet nur die Steigerung der Eingleisigkeit dieser Kunst.

V Dass alle diese Richtungen entstanden sind, ist aus der Ökonomie, aus der gesellschaftlichen Struktur, aus den Klassenkämpfen der imperialistischen Periode verständlich. Darum hat Rudolf Leonhard vollständig recht, wenn er im Expressionismus eine notwendige historische Erscheinung erblickt. Er hat aber nur zur Hälfte recht, wenn er in Anwendung des berühmten Hegel­ schen Satzes so fortfährt: »Der Expressionismus war; also war er einmal, war er damals vernünftig.« So einfach ist die »Vernunft der Geschichte« selbst bei Hegel nicht, obwohl dessen Idealismus in den Vernunftbegriff zuweilen eine Apologie des Seienden hineinträgt; und so einfach ist die »Vernünftig­ keit« (die historische Notwendigkeit) für den Marxismus erst recht nicht. Die Anerkennung der historischen Notwendigkeit im Marxismus ist weder eine 137


Kritischer Realismus

Rechtfertigung des Bestehenden (auch nicht zur Zeit seines Bestehens) noch der Ausdruck einer fatalistischen Notwendigkeit in der Geschichte. Wir kön­ nen das am besten wieder an einem ökonomischen Beispiel veranschaulichen. Ohne Frage war die ursprüngliche Akkumulation, die Trennung der kleinen Produzenten von ihren Produktionsmitteln, die Schaffung des Proletariats mit allen unmenschlichen Greueln eine historische Notwendigkeit. Trotzdem wird es keinem Marxisten einfallen, die englische Bourgeoisie dieser Zeit als – Hegelsche Trägerin der Vernunft zu verherrlichen. Und noch weniger wird es einem Marxisten einfallen, hierin die fatalistische Notwendigkeit einer Entwicklung über den Kapitalismus zum Sozialismus zu erblicken. Marx hat wiederholt dagegen protestiert, dass man sogar für das Russland seiner Zeit den Weg über die ursprüngliche Akkumulation zum Kapitalismus fatalistisch als den einzig möglichen betrachtete; und heute, unter den Bedingungen des verwirklichten Sozialismus in der Sowjetunion, ist die Vorstellung, dass die primitiven Länder über ursprüngliche Akkumulation zum Kapitalismus und erst über diesen zum Sozialismus kommen können, geradezu ein Programm der Gegenrevolution. Wenn wir also mit Leonhard die historische Notwen­ digkeit der Entstehung des Expressionismus bejahen, so bedeutet das keines­ wegs die Anerkennung seiner künstlerischen Richtigkeit, die Anerkennung, dass er ein notwendiger Baustein für die Kunst der Zukunft sei. Darum können wir uns nicht mit Leonhard einverstanden erklären, wenn er im Expressionismus »die Festsetzung des Menschen und die Här­ tung der Dinge zur Ermöglichung des neuen Realismus« erblickt. Hier hat Bloch gegenüber Leonhard vollständig recht, wenn er im Surrealismus, in der Herrschaft der Montage die notwendige und folgerechte Fortsetzung des Expressionismus sieht. Aus der historischen Bewertung des Expressionismus, die in meinem alten Aufsatz bereits klar ausgesprochen wurde, formuliert nun Bloch fol­ gende Anklage gegen mich: »Avantgarde innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft gibt es dann nicht, antizipierende Bewegungen im Überbau soll­ ten nicht wahr sein.« Diese Anschuldigung stammt daher, dass Bloch den Weg der heutigen Kunst ausschließlich in jenem sieht, der zum Surrealismus und zur Montage führt. Wird die Avantgarderolle dieser Richtungen bestritten, so wird nach Bloch die Möglichkeit einer jeden ideologischen Vorwegnahme der gesell­ schaftlichen Entwicklung zwangsläufig in Frage gestellt. Das stimmt aber nicht. Der Marxismus hat stets die vorwegnehmende Funktion der Ideologie anerkannt. Wenn wir auf dem Gebiet der Literatur 138


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

bleiben wollen, so sei daran erinnert, was Paul Lafargue über die Bewertung Balzacs durch Marx sagt: »Balzac war nicht nur der Historiker der Gesell­ schaft seiner Zeit, sondern auch der Schöpfer prophetischer Gestalten, die unter Louis Philippe sich noch im embryonalen Zustande befanden und erst nach seinem Tode, unter Napoleon III., sich vollständig entwickelten.« Gilt aber diese Marxsche Auffassung auch für unsere Gegenwart? Selbst­ verständlich gilt sie. Nur finden wir solche »prophetischen Gestalten« aus­ schließlich bei den bedeutenden Realisten. In den Romanen, Novellen und Dramen Maxim Gorkis gibt es solche Gestalten in Fülle. Wer die letzten Ereig­ nisse in der Sowjetunion aufmerksam und mit ungetrübtem Blick verfolgte, wird sehen, dass Gorki in seinem Karamora, seinem Klim Samgin, Dostigajew u. a. eine Reihe von Typen, die uns ihr wirkliches Wesen erst jetzt vollständig enthüllt haben, »prophetisch« im Sinne von Marx vorweggenommen hat. Wir können ähnliche Beispiele auch in der deutschen Literatur finden. Man denke an die früheren Romane Heinrich Manns, etwa an den »Untertan«, an den »Professor Unrat« und an noch andere mehr – wer wollte leugnen, dass hier eine Reihe von widerwärtigen und kleinlich-bestialischen Zügen der deutschen Bourgeoisie und des demagogisch irregeführten Kleinbürgertums, die sich erst unter dem Faschismus vollständig entfaltet haben, »prophetisch« vorwegneh­ mend gestaltet wurden? Und man sehe sich von diesem Standpunkt die Gestalt seines Henri IV. an. Sie ist eine wirklich lebenswahre, historisch echte Figur; gleichzeitig ist sie aber eine Vorwegnahme jener humanistischen Züge, die bei den Kämpfern der antifaschistischen Front erst im Laufe der Entwicklung, erst im Vorgang der Besiegung des Faschismus entfaltet hervortreten konnten. Nehmen wir ein Gegenbeispiel, ebenfalls aus unserer Zeit. Der ideologi­ sche Kampf gegen den Krieg war ein Hauptthema der besten Expressionisten. Was ist aber aus dieser Dichtung als Vorwegnahme des die ganze gesittete Welt bedrohenden neuen imperialistischen Krieges vorhanden? Ich glaube, niemand wird bestreiten, dass diese Dichtungen heute vollständig veraltet und auf die Gegenwart absolut unanwendbar sind. (Dagegen hat der Realist Arnold Zweig in seinem »Sergeant Grischa«, in seiner »Erziehung vor Ver­ dun« den Zusammenhang von Krieg und Hinterland, die soziale und indivi­ duelle Fortsetzung und Steigerung der »normalen« kapitalistischen Bestiali­ tät im Kriege so gestaltet, dass er dadurch eine ganze Reihe der wesentlichen Momente des neuen Krieges vorwegnahm.) In alledem liegt nichts Geheimnisvolles oder Paradoxes – es ist gerade das Wesen jedes echten und bedeutenden Realismus. Da ein solcher Realismus von Don Quichotte über den Oblomow bis zu den Realisten unserer Tage auf das 139


Kritischer Realismus

Schaffen von Typen ausgeht, muss er in den Menschen, in den Beziehungen der Menschen zueinander, in den Situationen, in denen die Menschen handeln, solche dauernden Züge suchen, die als objektive Entwicklungstendenzen der Gesellschaft, ja der ganzen Menschheitsentwicklung, durch lange Perioden hindurch wirksam sind. Solche Schriftsteller bilden eine wirkliche ideologi­ sche Avantgarde, denn sie gestalten die lebendigen, aber unmittelbar noch ver­ borgenen Tendenzen der objektiven Wirklichkeit so tief und so wahr, dass ihre Gestaltung von der späteren Wirklichkeitsentwicklung bestätigt wird, und zwar nicht bloß im Sinne der einfachen Übereinstimmung einer gelungenen Photographie mit dem Original, sondern gerade als Ausdruck einer vielfälti­ gen und reichen Erfassung der Wirklichkeit, als Widerspiegelung ihrer unter der Oberfläche verborgenen Strömungen, die erst in einer späteren Entwick­ lungsstufe voll entfaltet und für alle wahrnehmbar in Erscheinung treten. Im großen Realismus wird also eine nicht unmittelbar evidente, aber objektiv desto wichtigere dauerhafte Tendenz der Wirklichkeit gestaltet, nämlich der Mensch in seinen vielfältigen Beziehungen zur Wirklichkeit, und zwar gerade das Dauernde in dieser reichen Vielfältigkeit. Und es wird darüber hinaus eine Entwicklungstendenz erkannt und gestaltet, die zur Zeit ihrer Gestal­ tung erst im Keim existierte und noch nicht alle ihre objektiven und subjekti­ ven Bestimmungen gesellschaftlich und menschlich entfalten konnte. Solche unterirdischen Strömungen zu erfassen und zu gestalten ist die große histori­ sche Sendung der wirklichen Avantgarde in der Literatur. Ob ein Schriftsteller wirklich zur Avantgarde gehört, kann nur die Entwicklung selbst bezeugen, indem sie erweist, dass er wichtige Eigenschaften, Entwicklungsrichtungen, soziale Funktionen von Menschentypen richtig erkannt und dauernd wirksam gestaltet hat. Es bedarf nach den bisherigen Ausführungen hoffentlich keiner erneuten Argumentation, dass eine solche wirkliche Avantgarde der Literatur nur die bedeutenden Realisten bilden können. Es kommt also nicht auf das noch so aufrichtige subjektive Erlebnis an, sich als Avantgardist zu fühlen und bestrebt zu sein, an der Spitze der Kunst­ entwicklung zu marschieren, auch nicht auf die erstmalige Erfindung noch so blendender technischer Neuerungen – sondern es kommt auf den sozialen und menschlichen Inhalt des Avantgardismus an, auf die Breite, Tiefe und Wahrheit dessen, was »prophetisch« vorweggenommen wird. Kurz: nicht das Leugnen der Möglichkeit einer vorwegnehmenden Bewe­ gung im Überbau ist hier der Streitpunkt, sondern die Fragen sind: wer hat die Entwicklung vorweggenommen? Worin hat er sie vorweggenommen? Was hat er vorweggenommen? 140


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Wir haben eben an einigen Beispielen, die leicht vermehrt werden könn­ ten, gezeigt, was die bedeutenden Realisten unserer Zeit künstlerisch, Typen schaffend, vorweggenommen haben. Wenn wir nun die Gegenfrage stellen, was der Expressionismus vorweggenommen habe, so können wir – auch von Bloch – nur die Antwort erhalten: den Surrealismus – also eine andere literari­ sche Richtung, deren grundsätzliche Unfähigkeit, gesellschaftliche Entwick­ lungen in der Menschengestaltung vorwegzunehmen, aus der Charakteristik, die ihre größten Verehrer gegeben haben, klar hervorging. Mit dem Schaffen »prophetischer Gestalten«, mit einer wirklichen Vorwegnahme späterer Ent­ wicklungen hat der »Avantgardismus« nichts zu tun, hat er nie etwas zu tun gehabt. Wenn also auf diese Weise das Kriterium des Avantgardismus in der Lite­ ratur geklärt ist, so sind auch die konkreten Fragen unschwer zu beantworten. Wer ist nun Avantgardist in unserer Literatur? »Prophetische« Gestalter vom Typus Gorkis oder der verstorbene Hermann Bahr, der vom Naturalismus bis zum Surrealismus vor jeder neuen Mode als Tambourmajor einherstolzierte, um jede Richtung, ein Jahr bevor sie aus der Mode kam, zu »überwinden«? Herr Bahr ist selbstverständlich eine Karikatur, und es liegt mir ganz fern, die überzeugten Verteidiger des Expressionismus mit ihm gleichzustellen. Er ist aber die Karikatur von etwas Wirklichem: nämlich vom formalistischen, inhaltlosen, vom großen Strom der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung abgerissenen Avantgardismus. Es ist eine alte Wahrheit des Marxismus, dass man jede menschliche Tätigkeit danach zu beurteilen hat, was sie objektiv im Gesamtzusammenhang darstellt, und nicht danach, was das handelnde Subjekt selbst über seine eigene Tätigkeit meint. Es ist also einerseits nicht notwendig, in jeder Hinsicht bewusst »Avantgardist« sein zu wollen (man denke nur an den Royalisten Balzac), anderseits kann selbst der glühendste Wille, die glühendste Überzeugung, die Kunst zu revolutionieren, etwas »radikal Neues« geschaffen zu haben, wenn es beim bloßen Willen, bei der bloßen Überzeugung bleibt, keinen Schriftsteller zum Vorwegnehmer künf­ tiger Entwicklungstendenzen machen.

VI Man kann diese alte Wahrheit auch sehr volkstümlich ausdrücken: der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Jeder von uns kommt zuweilen, wenn er seine eigene Entwicklung ernst nimmt und sie deshalb rücksichtslos 141


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und objektiv kritisiert, zur Erkenntnis dieser alten Wahrheit. Ich will in ihrer Anwendung bei mir selbst anfangen. Winter 1914 bis 1915: subjektiv ein leiden­ schaftlicher Protest gegen den Krieg, gegen seine Sinnlosigkeit und Unmensch­ lichkeit, gegen seine Vernichtung von Kultur und Gesittung. Eine verzweifelt pessimistische Gesamtstimmung. Beurteilung der kapitalistischen Gegenwart als Fichtes »Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit«. Das subjektive Wollen ist also ein vorwärtsstrebender Protest. Das objektive Ergebnis: »Die Theorie des Romans« – ein in jeder Hinsicht reaktionäres Werk voll von idealistischer Mystik, falsch in allen seinen Einschätzungen der historischen Entwicklung. 1922: aufgeregte, von Revolutionsungeduld erfüllte Stimmung. Noch höre ich die Kugeln des roten Krieges gegen die Imperialisten um mich pfeifen, noch zittert die Erregung der Illegalität in Ungarn in mir; mit keiner Faser meines Wesens will ich zugeben, dass die erste große revolutionäre Welle vorüber ist, dass der entschlossene revolutionäre Wille der kommunistischen Avantgarde nicht imstande ist, den Kapitalismus zu stürzen. Also subjektive Grundlage: revolutionäre Ungeduld. Objektives Ergebnis: »Geschichte und Klassenbe­ wußtsein« – reaktionär wegen seines Idealismus, wegen seiner mangelhaften Auffassung der Widerspiegelungstheorie, wegen seines Leugnens der Dialek­ tik in der Natur. Selbstverständlich bin ich nicht der einzige in dieser Periode, dem das passiert ist. Es ist im Gegenteil ein massenhaftes Geschehen. Und jene Auffassung in meinem alten Expressionismusaufsatz, der so viele Diskus­ sionsteilnehmer in Opposition gebracht hat, nämlich die enge Verknüpfung des Expressionismus mit der USP-Ideologie, beruht in ihrem Wesen gerade auf der obengenannten alten Wahrheit. In unserer Debatte über Expressionismus werden Revolutionen (Expres­ sionismus) und Noske einander – gut expressionistisch – gegenübergestellt. Hätte aber in der Wirklichkeit Noske ohne die USP, ohne ihr Schwanken und Zaudern, das die Machtergreifung der Räte verhinderte, die Organi­ sation und Bewaffnung der Reaktion und anderes duldete, siegen können? Die USP war eben der organisierte Ausdruck dafür, dass selbst die gefühls­ mäßig radikalen Massen der deutschen Arbeiter ideologisch noch nicht für die Revolution gerüstet waren. Die langsame Lösung des Spartakusbundes von der USP, seine ungenügende, grundsätzliche Kritik an ihr, drücken eine wichtige Seite jener Schwäche und Rückständigkeit des subjektiven Faktors der deutschen Revolution aus, die Lenin von Anfang an am Spartakusbund so scharf kritisiert hat. Natürlich ist diese ganze Lage nicht einfach; auch in meinem alten Auf­ satz habe ich scharf zwischen Führern und Massen in der USP unterschieden. 142


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Die Massen waren instinktiv revolutionär. Sie waren auch objektiv revolutio­ när, indem sie in den Kriegsbetrieben streikten, indem sie die Front zersetz­ ten, indem ihr revolutionärer Enthusiasmus zum Januarstreik führte; aber bei alledem waren sie unklar und schwankend, sie ließen sich von der Dem­ agogie ihrer Führer fangen. Die Führer waren zum Teil (Kautsky, Bernstein, Hilferding) bewusst gegenrevolutionär, wirkten objektiv, in Arbeitsteilung mit der alten SPD-Führung, zur (von ihr selbst zugegebenen) Rettung der bourgeoisen Herrschaft. Die subjektiv ehrlich revolutionär gesinnten Führer aber waren in der Krisenzeit unfähig, dieser Sabotage der Revolution einen wirksamen Widerstand entgegenzustellen; sie gerieten trotz ihrer subjekti­ ven Ehrlichkeit, trotz ihres Widerstrebens ins Schlepptau der rechten Führer, bis endlich ihr Widerstand zu einem Bruch, zur Zerreißung der USP und damit zu ihrem Untergang reifte. Wirklich revolutionär waren in der USP die Bestrebungen, die nach Halle zur Auflösung der USP, zur Aufhebung der USP-Ideologie gedrängt haben. Und die Expressionisten? Sie sind Ideologen. Sie stehen zwischen Füh­ rern und Massen. Subjektiv zumeist mit ehrlichen, wenn auch zumeist unrei­ fen, unklaren und verworrenen Überzeugungen. Zugleich aber tief erfüllt nicht nur von jenen Schwankungen, denen auch die unreifen, revolutionären Massen unterworfen waren, sondern auch von allen möglichen reaktionären Vorurteilen der Epoche, die sie für die verschiedenartigsten antirevolutionä­ ren Parolen (abstrakter Pazifismus, Ideologie der Gewaltlosigkeit, abstrakte Kritik des Bürgertums, anarchistische Schrullen usw.) mehr als zugänglich gemacht haben. Und als Ideologen fixieren sie nun diesen bestimmten ideo­ logischen Übergangszustand gedanklich wie künstlerisch; und zwar – vom revolutionären Standpunkt gesehen – einen in mancher Hinsicht viel rück­ ständigeren ideologischen Übergangszustand, als es jener war, in dem sich die schwankenden USP-Massen befanden. Aber die revolutionäre Bedeutung eines solchen ideologischen Übergangszustandes besteht gerade darin, dass er sich im Fließen befindet, dass er vorwärtsdrängt, dass er sich nicht fixiert. Die expressionistische gedankliche wie künstlerische Fixierung dieser Über­ gangsideologie verhinderte für die Expressionisten selbst und für jene, die unter ihrem ideologischen Einfluss standen, das Weiterschreiten in revo­ lutionärer Richtung. Diese schädliche Wirkung, die jede Systematisierung von schwankenden Übergangsideologien hat, erhält eine besonders reaktio­ näre Note im Expressionismus. Erstens durch die hochtrabende Prätension des Führertums, der Verkündigung in der Form von ewigen Wahrheiten, die ein Wesenszeichen des Expressionismus in den Revolutionsjahren war. 143


Kritischer Realismus

Zweitens infolge der besonderen antirealistischen Tendenz im Expressionis­ mus, durch die eine Kontrolle und Überwindung der falschen Tendenzen durch eine künstlerisch tief erfasste Wirklichkeit verhindert wurde. Indem der Expressionismus, wie wir gesehen haben, am Standpunkt der Unmittel­ barkeit festhält, diesem künstlerisch und weltanschaulich eine Scheintiefe, eine Scheinvollendung verleihen will, steigert er alle Gefahren, die mit der Fixierung einer solchen Übergangsideologie notwendig zusammenhängen. Soweit also der Expressionismus wirklich einen ideologischen Einfluss gehabt hat, hat er den revolutionären Klärungsprozess der von ihm Beein­ flussten mehr gehindert als gefördert. Auch diese seine Wirkung läuft in glei­ cher Linie mit der USP-Ideologie; nicht zufällig zerbrechen beide an derselben Wirklichkeit. Es ist eine expressionistische Vereinfachung der Wirklichkeits­ zusammenhänge, wenn gesagt wird, dass Noskes Sieg den Expressionismus zerschlug. Der Expressionismus ging einerseits zugrunde mit dem Ende der ersten Welle der Revolution, an deren Ergebnislosigkeit die USP-Ideologie stark mitschuldig ist; anderseits geht er an der Klärung des revolutionären Bewusstseins der Massen zugrunde, die über die revolutionären Phrasen der unreifen Anfangszeit immer energischer hinauszugehen beginnen. Man vergesse nicht, dass nicht nur die Niederlage der ersten revolutionären Welle in Deutschland den Expressionismus entthront hat, sondern auch die wirkliche Konsolidierung des Sieges der proletarischen Revolution in der Sow­ jetunion. Je fester die Herrschaft des Proletariats wurde, je umfassender und tiefer der Sozialismus die Wirtschaft der Sowjetunion durchdrang, je breiter und tiefer die Massen der Werktätigen von der Kulturrevolution erfasst wurden, desto stärker und hoffnungsloser wurde die »avantgardistische« Kunst in der Sowjetunion vom immer bewusster werdenden Realismus zurückgedrängt. Die Niederlage des Expressionismus ist also letzten Endes das Ergebnis der Reife der revolutionären Massen. Gerade der Entwicklungsweg solcher Dichter wie Majakowski, oder bei uns Becher, zeigt, dass hier der wahre Grund zum Sterben für den Expressionismus zu suchen und zu finden ist.

VII Ist unsere Diskussion eine rein literarische? Ich glaube, nein. Ich glaube, der Kampf zwischen literarischen Richtungen und ihrer theoretischen Begrün­ dung würde nicht so breite Wellen schlagen, kein so großes Interesse hervor­ rufen, wenn die letzten Folgen dieser Diskussion nicht für eine politische 144


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Frage, die uns alle angeht, die uns alle im gleichen Maß bewegt, als wichtig empfunden würde: für die Volksfront. Bernhard Ziegler warf in einer sehr zugespitzten Form die Frage der Volkstümlichkeit in die Diskussion. Man spürt überall die Erregung, die diese Fragestellung verursacht, und dieses starke Interesse ist unbedingt etwas Positives. Bloch will nun am Expressionismus auch die Volkstümlichkeit ret­ ten. Er sagt: »Der Expressionismus hatte auch gar keinen volksfremden Hoch­ mut, wieder im Gegenteil: der ›Blaue Reiter‹ bildete Murnauer Glasbilder ab, er öffnete zuerst den Blick auf diese rührende und unheimliche Bauernkunst, auf Kinder- und Gefangenenzeichnungen, auf die erschütternden Doku­ mente der Geisteskranken, auf die Kunst der Primitiven.« Durch eine solche Auffassung von Volkstümlichkeit wird aber alles ver­ wirrt. Volkstümlichkeit ist keine ideologisch wahllose, artistische, feinschme­ ckerische Aufnahme »primitiver« Erzeugnisse. Wirkliche Volkstümlichkeit hat mit alledem nichts zu tun. Sonst wäre ja jeder Protz, der Glasmalerei oder Negerplastik sammelt, jeder Snob, der im Wahnsinn eine Befreiung der Menschen von den Fesseln des mechanischen Verstandes feiert, auch ein Vor­ kämpfer der Volkstümlichkeit. Es ist freilich heute nicht leicht, zu einer richtigen Vorstellung vom Volks­ tümlichen zu gelangen. Denn die an sich ökonomisch fortschrittliche Zerset­ zung der alten Lebensformen des Volkslebens durch den Kapitalismus schafft im Volke selbst eine Unsicherheit der Weltanschauung, der Kulturbestrebun­ gen, des Geschmacks, des moralischen Urteils – schafft Möglichkeiten der demagogischen Vergiftung. Und ein einfaches und wahlloses Heranziehen alter Erzeugnisse der Volksproduktion ist keineswegs unter allen Umständen, in allen Zusammenhängen fortschrittlich und ein Appell an die lebendigen, trotz aller Hemmungen vorwärtstreibenden Instinkte des Volkes. Aus densel­ ben Gründen ist auch die weite Verbreitung eines Literaturerzeugnisses oder einer literarischen Richtung an sich noch kein Zeichen der Volkstümlich­ keit. Sowohl rückständig Traditionelles (wie etwa die »Heimatkunst«) wie schlecht Modernes (Kriminalroman) haben eine Massenverbreitung erlangt, ohne in irgendeiner Hinsicht wirklich volkstümlich zu sein. Bei allen diesen Vorbehalten ist es aber doch nicht ganz unwesentlich, was aus der wirklichen Literatur unserer Zeit und wie weit es in die Massen gedrungen ist. Welcher Schriftsteller aus der ganzen »Avantgarde« der letz­ ten Jahrzehnte kann aber in dieser Hinsicht mit Gorki, mit Anatole France, Romain Rolland oder Thomas Mann verglichen werden? Die Millionenauflage eines künstlerisch so hochstehenden und kompromisslosen Buches wie die 145


Kritischer Realismus

»Buddenbrooks« muss uns allen zu denken geben. Das Aufrollen des ganzen Problemkomplexes der Volkstümlichkeit ist hier ein »zu weites Feld«, wie der alte Briest bei Fontane zu sagen pflegt. Wir werden uns auf zwei Momente beschränken, ohne den Anspruch zu erheben, auch diese irgendwie erschöp­ fend zu behandeln. Erstens die Beziehung zum Erbe. In jeder lebendigen Beziehung zum Volksleben bedeutet das Erbe den bewegten Prozess des Fortschritts, ein wirkliches Mitnehmen, Aufheben, Aufbewahren, Höherentwickeln der lebendigen, schöpferischen Kräfte in den Überlieferungen der Leiden und Freuden des Volkes, den Überlieferungen der Revolutionen. Eine lebendige Beziehung zum Erbe zu besitzen, bedeutet, ein Sohn seines Volkes sein, getragen sein vom Strom der Entwicklung seines Volkes. So ist Maxim Gorki ein Sohn des russischen, Romain Rolland des französischen, Thomas Mann des deutschen Volkes. Inhalt und Ton ihrer Schriften – bei aller individuellen Originalität, bei allem Abstand von einem künstlichen, artistischen, samm­ lerischen, geschmäcklerischen Primitivismus – stammen aus dem Leben, aus der Geschichte ihres Volkes, sind ein organisches Produkt der Entwicklung ihres Volkes. Darum ist bei aller künstlerischen Höhe in ihren Schriften ein Ton angeschlagen, der in den breitesten Massen des Volkes nachklingen kann und auch nachklingt. Im schroffen Gegensatz dazu steht der »Avantgardismus« in seiner Hal­ tung zum Erbe; er verhält sich zur Geschichte seines Volkes wie zu einem großen Ramschverkauf. Blättert man in den Schriften von Bloch, so wird von Erbe und Erben nur in Ausdrücken gesprochen wie »Brauchbare Erbstücke«, »plündern« usw. Bloch ist ein viel zu bewusster Denker und Stilist, als dass diese Worte zufällige Entgleisungen seiner Feder sein könnten; sie drücken vielmehr ein allgemeines Verhalten zum Erbe aus. Das Erbe ist für ihn eine tote Masse, in der man beliebig herumwühlen, aus der man beliebige, augen­ blicklich brauchbare Stücke herausreißen und die man nach augenblickli­ chem Bedürfnis beliebig zusammenmontieren kann. Diese Gesinnung hat Hanns Eisler in einem mit Bloch zusammen geschriebenen Artikel prägnant ausgedrückt. Er war – mit Recht – begeistert über die »Don Carlos«-Demons­ tration in Berlin. Statt aber darüber nachzudenken, was Schiller wirklich war, was seine wirkliche Größe, wo seine Schranken gewesen sind, was er für das deutsche Volk bedeutet hat und heute noch bedeutet, welchen Schutt der reaktionären Vorurteile, zusammengetragen durch die Ideologen der Reak­ tion, man wegschaffen muss, um die volkstümlich-fortschrittliche Wirkung Schillers zu einer Waffe der Volksfront, der Befreiung des deutschen Volkes 146


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

zu machen, statt dessen stellt er in bezug auf das Erbe für die Schriftsteller der Emigration folgendes Aktionsprogramm auf: »Worin besteht aber unsere Aufgabe außerhalb Deutschlands? Es ist klar, daß wir einzig helfen müssen, klassisches Material, das für solchen Kampf geeignet ist, auszusondern und zu präparieren.« (Hervorhebungen von mir. G. L.) Eisler schlägt also vor, die Klassiker zu einem antifaschistischen »Büch­ mann« zu zerpflücken und dann die »geeigneten Stücke« zusammenzustel­ len. Fremder, hochmütiger, ablehnender kann man sich zu der ruhmvollen literarischen Vergangenheit des deutschen Volkes nicht verhalten. Das Leben des Volkes ist aber objektiv etwas Kontinuierliches. Eine Lehre wie die der »Avantgardisten«, die in den Revolutionen nur Risse, nur Katast­ rophen sieht, die alles Vergangene vernichten, jeden Zusammenhang mit der großen und ruhmreichen Vergangenheit zerreißen will, ist die Lehre Cuviers und nicht die von Marx und Lenin. Sie ist ein anarchistisches Gegenstück zur Evolutionslehre des Reformismus. Dieser sieht nur eine Kontinuität, jene sehen nur Risse, Abgründe und Katastrophen. Die Geschichte ist aber die lebendige dialektische Einheit von Kontinuität und Diskontinuität, von Evo­ lution und Revolution. Es kommt also hier, wie überall, auf den richtig erkannten Inhalt an. Lenin sagt über die marxistische Auffassung des Erbes: »Der Marxismus erlangte seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürger­ lichen Zeitalters durchaus nicht ablehnte, sondern, im Gegenteil, sich alles Wertvolle der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur aneignete und verarbeitete.« Es kommt also alles darauf an, klar zu erkennen, wo das wirklich Wert­ volle zu suchen ist. Ist die Frage des Erbes richtig, das heißt in engem Zusammenhang mit dem Volksleben und seinen fortschrittlichen Bestrebungen gestellt, so leitet sie organisch zu unserm zweiten Problemkomplex hinüber, zur Frage des Rea­ lismus. Die modernen Auffassungen der Volkskunst haben, stark beeinflusst von den »avantgardistischen« Kunsttheorien, den urwüchsigen Realismus in der künstlerischen Betätigung des Volkes in den Hintergrund des Interesses gedrängt. Auch in dieser Frage ist es uns hier nicht möglich, das Problem in seiner ganzen Breite aufzurollen; wir müssen uns darauf beschränken, auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen. Wir sprechen hier über Literatur zu Schriftstellern. Und wir müssen daran erinnern, dass infolge des tragischen Ablaufs der deutschen Geschichte 147


Kritischer Realismus

die volkstümlich-realistische Richtung in unserer Literatur lange nicht so mächtig gewesen ist wie in England, Frankreich oder Russland. Gerade das muss uns aber anspornen, unsere intensivste Aufmerksamkeit auf die vor­ handene volkstümlich-realistische Literatur der deutschen Vergangenheit zu richten, ihre lebenfördernden produktiven Überlieferungen aufrechtzu­ erhalten. Und wenn wir uns in diese Richtung orientieren, so sehen wir, dass trotz aller »deutschen Misere« diese volkstümlich-realistische Literatur so gewaltige Meisterwerke hervorgebracht hat, wie etwa den »Simplizissimus« von Grimmelshausen. Es mag den Eislern überlassen werden, den Monta­ gewert der zerschlagenen Stücke dieses Meisterwerkes abzuschätzen – für das lebendige deutsche Schrifttum wird es als ein lebendiges und aktuelles Ganzes in seiner Größe (und mit seinen Grenzen) weiterleben. Denn nur dann, wenn man die Meisterwerke des Realismus aus der Vergangenheit und Gegenwart als Ganzes betrachtet, aus ihnen lernt, für ihre Verbreitung sorgt, ihr richtiges Verständnis fördert, kommt der aktuelle, kulturelle und politische Wert der großen realistischen Gestaltung zum Ausdruck: ihre unerschöpfliche Vielseitigkeit im Gegensatz zur – im besten Falle witzi­ gen – Eingleisigkeit des »Avantgardismus«. Zu Cervantes und Shakespeare, zu Balzac und Tolstoi, zu Grimmelshausen und Gottfried Keller, zu Gorki, zu Thomas und Heinrich Mann hat der Leser aus den breiten Massen des Volkes von den verschiedensten Seiten seiner eigenen Lebenserfahrung her Zugang. Die breite und dauernde Wirkung des großen Realismus beruht ja gerade darauf, dass die Möglichkeit dieses Zugangs – man könnte sagen – durch unendlich viele Türen gegeben ist. Der Reichtum der Gestaltung, die tiefe und richtige Auffassung dauernder, typischer Erscheinungsweisen des menschlichen Lebens bringt die große fortschrittliche Wirkung dieser Meis­ terwerke hervor; ihre Leser klären im Prozess des Aneignens ihre eigenen Erlebnisse und Lebenserfahrungen, erweitern ihren menschlichen und sozia­ len Horizont und werden durch einen lebendigen Humanismus dazu vor­ bereitet, die politischen Losungen der Volksfront in sich aufzunehmen und deren politischen Humanismus zu begreifen; durch das vom realistischen Kunstwerk vermittelte Verständnis der fortschrittlichen und demokratischen Entwicklungsepochen der Menschheit wird für die revolutionäre Demokra­ tie neuen Typs, den die Volksfront vertritt, in der Seele der breiten Massen ein fruchtbarer Boden bereitet. Je tiefer die antifaschistische Kampfliteratur in diesem Boden verwurzelt ist, desto tiefer begründete Typen der Vorbild­ lichkeit und des Hassenswerten wird sie schaffen – desto stärker wird ihre Resonanz im Volke sein. 148


Georg Lukács: Es geht um den Realismus

Zu Joyce oder zu anderen Vertretern der »avantgardistischen« Litera­ tur führt nur eine ganz enge Pforte; man muss einen bestimmten »Kniff heraushaben«, um überhaupt zu verstehen, was dort gespielt wird. Und während bei dem großen Realismus der leichtere Zugang auch eine reiche menschliche Ausbeute ergibt, können die breiten Massen des Volkes aus der »avantgardistischen« Literatur nichts lernen. Gerade weil in dieser Literatur die Wirklichkeit, das Leben fehlt, zwingt sie (politisch gesprochen: sektiere­ risch) ihren Lesern eine enge und subjektivistische Auffassung vom Leben auf, während der Realismus durch seine gestaltete Fülle Antwort auf die vom Leser selbst gestellten Fragen gibt – Antworten des Lebens auf Fragen, die das Leben selbst gestellt hat! Das schwer erkämpfbare Verständnis für die Kunst der »Avantgarde« gibt dagegen so subjektivistische, verzerrte und entstellte Stimmungsnachklänge der Wirklichkeit, die der Mann aus dem Volke niemals in die Sprache seiner eigenen Lebenserfahrungen zurückübersetzen kann. Die lebendige Beziehung zum Volksleben, die fortschrittliche Weiter­ entwicklung der eigenen Lebenserfahrungen der Massen – das ist ja gerade die große soziale Sendung der Literatur. Es ist kein Zufall, dass der junge Thomas Mann, als er die Problematik und Lebensabgerissenheit der west­ europäischen Literatur in seinen Werken herb kritisierte und durch eine tiefe gestalterische Kritik auf die richtige Stelle im Literaturzusammenhang gestellt hat, die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts eine »hei­ lige« nannte. Gemeint war hier gerade diese lebenerweckende, volkstümliche Fortschrittlichkeit. Volksfront bedeutet: Kampf um wirkliche Volkstümlichkeit, vielseitige Verbundenheit mit dem ganzen, historisch gewordenen, historisch eigenartig gewordenen Leben des eigenen Volkes, bedeutet Richtlinien und Losungen zu finden, die aus diesem Volksleben die fortschrittlichen Tendenzen zu neuem, politisch wirksamem Leben erwecken. Dieses lebendige Verständnis für die historische Eigenart des Volkslebens schließt natürlich eine Kritik an der eige­ nen Geschichte nicht aus – im Gegenteil: eine solche Kritik ist die notwendige Folge einer wirklichen Kenntnis der eigenen Geschichte, eines wirklichen Verständnisses des eigenen Volkslebens! Denn die fortschrittlich-demokrati­ schen Bestrebungen konnten sich bei keinem Volk vollendet und reibungslos durchsetzen, insbesondere nicht in der Geschichte des deutschen Volkes. Die Kritik muss aber von dem richtigen und tiefen Verständnis der wirklichen Geschichte ausgehen. Und da die stärksten Hemmungen des Fortschritts und der Demokratie (sowohl auf politischem wie auf kulturellem Gebiet) gerade die imperialistische Periode mit sich brachte, ist eine scharfe Kritik 149


Kritischer Realismus

der politischen, kulturellen und künstlerischen Verfallserscheinungen dieser Periode ein notwendiger Bestandteil des Durchbruchs zur wirklichen Volks­ tümlichkeit. Zu den wesentlichen Verfallserscheinungen auf dem Gebiet der Kunst gehört der – bewusste oder unbewusste – Kampf gegen den Realismus und die dadurch entstandene Verarmung und Isolierung von Literatur und Kunst. Wir haben in unseren Betrachtungen gesehen, dass dieser Verfallsprozess keineswegs fatalistisch hinzunehmen ist, dass sich überall lebendige Kräfte geregt haben und auch heute regen, Kräfte, die diesen Verfall nicht nur politisch und theoretisch, sondern auch mit dem Mittel der künstlerischen Gestaltung bekämpfen. Unsere Aufgabe ist es, uns auf diese positiven Kräfte des wirklichen, tiefen und bedeutenden Realismus zu orientieren. Die Emigration, die Kämpfe der Volksfront in Deutschland und in ande­ ren Ländern haben diese fruchtbaren Bestrebungen notwendig verstärkt. Es könnte genügen, wenn wir uns hier auf Heinrich und Thomas Mann berufen, die, von verschiedenen Ausgangspunkten kommend, weltanschaulich und literarisch gerade in diesen Jahren noch höher gewachsen sind als früher. Es handelt sich aber hier um eine breite Strömung in der antifaschistischen Lite­ ratur. Es sind gerade die bedeutendsten und talentiertesten Schriftsteller, die diesen Weg beschritten haben oder zu beschreiten beginnen. Doch soll mit dieser Feststellung nicht behauptet werden, dass der Kampf gegen die antirealistischen Überlieferungen der imperialistischen Periode bereits abgeschlossen ist. Unsere Diskussion beweist im Gegenteil, dass diese Überlieferungen noch starke Wurzeln bei wichtigen, politisch fortschrittlich gesinnten, treuen Anhängern der Volksfront haben. Eben deshalb war eine solche kameradschaftlich-rücksichtslose Diskussion von großer Bedeutung. Denn nicht nur die Massen, sondern auch die Ideologen (die Schriftsteller und Kritiker) lernen durch eigene Erfahrungen im Klassenkampf. Es wäre ein großer Fehler, jene lebendige und wachsende Tendenz zum Realismus nicht zu sehen, die, gerade infolge der Erfahrungen des Kampfes in der Volksfront, auch jene Schriftsteller ergreift, die vor der Emigration zu diesen Fragen noch ganz anders standen. Den innigen, vielseitigen, vielseitig vermittelten Zusammenhang zwi­ schen Volksfront, Volkstümlichkeit der Literatur und wirklichem Realismus nachzuweisen, war die Aufgabe dieser Betrachtungen. 1938

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Kunst und objektive Wahrheit

I Die Objektivität der Wahrheit in der Erkenntnistheorie des Marxismus-Leninismus Die Grundlage einer jeden richtigen Erkenntnis der Wirklichkeit, gleich­ viel, ob es sich um Natur oder Gesellschaft handle, ist die Anerkennung der Objektivität der Außenwelt, d. h. ihrer Existenz unabhängig vom mensch­ lichen Bewusstsein. Jede Auffassung der Außenwelt ist nichts anderes als eine Widerspiegelung der unabhängig vom Bewusstsein existierenden Welt durch das menschliche Bewusstsein. Diese grundlegende Tatsache der Beziehung des Bewusstseins zum Sein gilt selbstverständlich auch für die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die Theorie der Widerspiegelung ist die gemeinsame Grundlage für sämtliche Formen der theoretischen und praktischen Bewältigung der Wirklich­ keit durch das menschliche Bewusstsein. Sie ist also die Grundlage auch für die Theorie der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, wobei es die Aufgabe der späteren Erörterungen sein wird, das Spezifische der künst­ lerischen Widerspiegelung innerhalb des Rahmens der allgemeinen Theorie der Widerspiegelung auszuarbeiten. Die richtige, umfassende Theorie der Widerspiegelung ist erst im dialek­ tischen Materialismus, in den Werken von Marx, Engels, Lenin und Stalin entstanden. Für das bürgerliche Bewusstsein ist eine richtige Theorie der Objektivität, der Widerspiegelung der unabhängig vom Bewusstsein exis­ tierenden Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein, eine materialistisch-­ dialektische Theorie der Widerspiegelung unmöglich. Selbstverständlich gibt es in der Praxis der bürgerlichen Wissenschaft und Kunst zahllose Fälle der richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit und auch in der Theorie nicht wenige Vorstöße in der Richtung einer richtigen Fragestellung oder Lösung. Sobald jedoch die Frage ins Erkenntnistheoretische erhoben wird, bleibt jeder bürgerliche Denker entweder im mechanischen Materialismus stecken oder sinkt in den philosophischen Idealismus hinab. Lenin hat diese Schranke des bürgerlichen Denkens in beiden Richtungen mit unübertrefflicher Klarheit charakterisiert und kritisiert. Er sagt über den mechanischen Materialismus, 151


Kritischer Realismus

dass »dessen Hauptübel in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die Bil­ dertheorie, auf den Prozeß und auf die Entwicklung der Erkenntnis anzu­ wenden«. Und er charakterisiert anschließend den philosophischen Idea­ lismus folgendermaßen: »Umgekehrt ist vom Standpunkt des dialektischen Materialismus der philosophische Idealismus eine einseitige, übertriebene, überschwengliche … Entwicklung (Aufblähung, Aufschwellung) eines der Züge, einer der Seiten, einer der Grenzsteine der Erkenntnis zu dem von der Materie, von der Natur losgelösten vergötterten Absoluten … Gradlinigkeit und Einseitigkeit, Hölzernheit und Verknöcherung, Subjektivismus und subjek­ tive Blindheit, voilà, die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus.« Diese doppelseitige Unzulänglichkeit der bürgerlichen Erkenntnistheorie äußert sich auf sämtlichen Gebieten und in sämtlichen Problemen der Wider­ spiegelung der Wirklichkeit durch das menschliche Bewusstsein. Wir kön­ nen hier indessen weder das ganze Gebiet der Erkenntnistheorie noch die Geschichte der menschlichen Erkenntnis behandeln. Wir müssen uns darauf beschränken, nur einige wichtige Momente aus der Erkenntnistheorie des Marxismus-Leninismus hervorzuheben, die für das Problem der Objektivität der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit besonders wichtig sind. Das erste wichtige Problem, das uns hier zu beschäftigen hat, ist das der unmittelbaren Spiegelbilder der Außenwelt. Jede Erkenntnis beruht auf ihnen; sie sind das Fundament, der Ausgangspunkt einer jeden Erkennt­ nis. Aber sie sind eben nur der Ausgangspunkt der Erkenntnis und machen nicht die Gesamtheit des Erkenntnisprozesses aus. Marx äußert sich über diese Frage mit nicht misszuverstehender Klarheit. Er sagt: »Alle Wissen­ schaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.« Und Lenin, der diese Frage in seinen Konspekten zu Hegels Logik eingehend analysiert hat, formuliert die Frage ebenso: »Die Wahrheit liegt nicht am Anfang, sondern am Ende, richtiger in der Fortsetzung. Die Wahrheit ist nicht der anfängliche Eindruck«; und er illustriert diesen Gedanken ganz im Sinne der Ausführungen von Marx durch ein Beispiel aus der politischen Ökonomie »Der Wert ist eine Kategorie, die des Stoffes der Sinnlichkeit entbehrt, aber sie ist wahrer als das Gesetz von Nachfrage und Angebot.« Und von diesem Ausgangspunkt geht Lenin weiter zur Bestimmung der Funktion der abstrakten Kategorien, der Begriffe, der Gesetze usw. in der Totalität der menschlichen Erkenntnis der Wirklichkeit, zu der Bestimmung ihrer Stelle in der ausgeführten Theorie der Widerspie­ gelung, der objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit. »So wie die einfache Wertform, der einzelne Akt des Tausches einer gegebenen Ware mit einer 152


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

anderen schon in unentwickelter Form alle hauptsächlichen Widersprüche des Kapitalismus in sich einschließt – so bedeutet schon die einfachste Verallgemeinerung, die erste und einfachste Bildung der Begriffe (Urteile, Schlüsse usw.), die immer mehr fortschreitende Erkenntnis des tiefen objektiven Weltzusammenhanges durch den Menschen.« Auf dieser Grundlage kann er zusammenfassend sagen: »Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, getreuer, vollständiger wider. Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis – das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität.« Indem nun Lenin die Stelle der verschiedenen Abstraktionen in der Erkenntnistheorie analysiert, hebt er ihre dialektische Doppelseitigkeit mit der größten Schärfe hervor. Er sagt: »Die Bedeutung des Allgemeinen ist widersprechend: es ist tot, es ist unrein, unvollständig usw., aber es ist auch nur eine Stufe zur Erkenntnis des Konkreten, denn wir erkennen das Konkrete nie vollständig. Die unendliche Summe der allgemeinen Begriffe, Gesetze usw. ergibt das Konkrete in seiner Vollständigkeit.« Diese Doppelseitigkeit beleuchtet erst die richtige Dialektik von Erscheinung und Wesen. Lenin sagt: »Die Erscheinung ist reicher als das Gesetz.« Und er führt anschließend an eine Bestimmung Hegels diesen Gedanken so aus: »Das ist eine ausgezeichnet materialistische und merkwürdig treffende (mit dem Worte ruhige) Bestim­ mung. Das Gesetz nimmt das Ruhige – und darum ist das Gesetz, jedes Gesetz, eng, unvollständig, annähernd.« Durch diese tiefe Einsicht in die Unvollständigkeit der gedanklichen Reproduktion der Wirklichkeit, sowohl in der unmittelbaren Widerspiege­ lung der Erscheinungen wie in den Begriffen und Gesetzen (wenn sie einseitig, undialektisch, nicht im unendlichen Prozess ihrer dialektischen Wechselwir­ kung betrachtet werden), gelangt Lenin zu einer materialistischen Aufhe­ bung sämtlicher falschen Fragestellungen der bürgerlichen Erkenntnistheo­ rie. Denn jede bürgerliche Erkenntnistheorie hat einseitig die Priorität nur einer Auffassungsart der Wirklichkeit, nur eines Organs ihrer bewusstseins­ mäßigen Reproduktion betont. Lenin stellt ihr dialektisches Zusammenwir­ ken im Prozess der Erkenntnis konkret dar. »Ist die Vorstellung der Realität näher als das Denken? Sowohl ja als nein. Die Vorstellung kann die Bewegung nicht in ihrer Ganzheit erfassen, z. B. erfasst sie die Bewegung mit einer Schnelligkeit von dreihunderttausend Kilometern in der Sekunde nicht, aber das Denken erfasst sie und soll sie erfassen. Das der Vorstellung entnommene 153


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Denken widerspiegelt ebenfalls die Realität.« Damit wird die idealistische Unterschätzung der »niederen« Erkenntniskräfte dialektisch überwunden. Gerade durch die streng materialistische Richtung seiner Erkenntnistheo­ rie, durch das unerschütterliche Festhalten am Prinzip der Objektivität kann Lenin den richtigen dialektischen Zusammenhang der menschlichen Per­ zeptionsweisen der Wirklichkeit in ihrer lebendigen Bewegung erfassen. So spricht er über die Rolle der Phantasie in der menschlichen Erkenntnis: »Das Herangehen des Verstandes (des Menschen) an das einzelne Ding, die Anfertigung eines Abdruckes (eines Begriffes) von ihm, ist kein einfacher, unmittelbarer, spiegelartig toter, sondern ein komplizierter, zwiespältiger, zickzackartiger Akt, der die Möglichkeit in sich schließt, daß die Phantasie dem Leben entschwebt … Denn auch in der einfachsten Verallgemeinerung der elementarsten allgemeinen Idee (der Tisch überhaupt) steckt ein gewisses Stückchen Phantasie (vice versa: es ist Unsinn, die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leugnen).« Die Unvollkommenheit, die Verknöcherung, die Erstarrung einer jeden einseitigen Auffassung der Wirklichkeit kann nur durch die Dialektik über­ wunden werden. Nur durch richtige und bewusste Anwendung der Dialek­ tik können wir dazu gelangen, diese Unvollkommenheiten im unendlichen Prozess der Erkenntnis zu überwinden und unser Denken der bewegten und lebendigen Unendlichkeit der objektiven Wirklichkeit anzunähern. Lenin sagt: »Wir können uns die Bewegung nicht vorstellen, wir können sie nicht ausdrücken, ausmessen, abbilden, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, zu zerstückeln, ohne das Lebendige zu töten. Die Abbildung der Bewegung durch das Denken ist immer eine Ver­ gröberung, eine Ertötung, und zwar nicht nur durch das Denken, sondern auch durch die Empfindung, und nicht nur der Bewegung, sondern auch jedweden Begriffes. Und darin liegt das Wesen der Dialektik. Gerade dieses Wesen wird auch durch die Formel ausgedrückt: Einheit, Identität der Gegensätze.« Die Verbundenheit der materialistischen Dialektik mit der Praxis, ihr Ent­ springen aus der Praxis, ihre Kontrolle durch die Praxis, ihre führende Rolle in der Praxis beruhen auf dieser tiefen Auffassung des dialektischen Wesens der objektiven Wirklichkeit und der Dialektik ihrer Widerspiegelung im menschlichen Bewusstsein. Lenins Theorie der umwälzenden Praxis beruht gerade auf der Anerkennung der Tatsache, dass die Wirklichkeit immer rei­ cher und vielfältiger ist als die beste und vollständigste Theorie, die über sie gebildet werden kann. Zugleich aber auf dem Bewusstsein, dass es mit Hilfe der lebendigen Dialektik stets möglich ist, von der Wirklichkeit zu lernen, 154


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ihre wesentlichen neuen Bestimmungen gedanklich zu erfassen und in Praxis umzusetzen. »Die Geschichte«, sagt Lenin, »insbesondere die Geschichte der Revolution war stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, leben­ diger, schlauer, als die besten Parteien, die klassenbewussteste Vorhut der fortgeschrittensten Klassen sich vorstellen.« Die ungeheure Elastizität der Taktik Lenins, seine Fähigkeit, sich außerordentlich rasch den plötzlichen Wendungen der Geschichte anzupassen und aus ihnen das erreichbare Maxi­ mum herauszuholen, beruht gerade auf dieser tiefen Erfassung der objekti­ ven Dialektik. Dieser Zusammenhang zwischen strengem Objektivismus der Erkennt­ nistheorie1 und innigster Verbundenheit mit der Praxis ist eines der wesent­ lichen Momente der materialistischen Dialektik des Marxismus-Leninismus. Die Objektivität der Außenwelt ist keine tote, erstarrte, die menschliche Praxis fatalistisch bestimmende Objektivität, sondern steht – gerade in ihrer Unabhängigkeit vom menschlichen Bewusstsein – in der innigsten, unlösba­ ren Wechselwirkung mit der menschlichen Praxis. Lenin hat schon in früher Jugend eine jede starr fatalistische, unkonkrete, undialektische Auffassung der Objektivität als falsch und als zur Apologie führend abgelehnt. Im Kampf gegen den Subjektivismus Michailowskis kritisiert er zugleich den starren und apologetischen »Objektivismus« Struwes. Er fasst den Objektivismus des dialektischen Materialismus richtig und tief als Objektivismus der Praxis, der Parteilichkeit auf. Der Materialismus schließt, sagt Lenin, seine Einwände gegen Struwe zusammenfassend, »sozusagen das Element der Partei in sich ein, indem er sich verpflichtet, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen auf den Standpunkt einer gewissen gesellschaftlichen Gruppe zu treten«.

II Die Theorie der Widerspiegelung in der bürgerlichen Ästhetik Diese widerspruchsvolle Grundlage der menschlichen Auffassung der Außenwelt, dieser immanente Widerspruch in der Struktur der Widerspie­ gelung der Außenwelt durch das menschliche Bewusstsein zeigt sich in sämt­ lichen theoretischen Auffassungen über die künstlerische Reproduktion der Wirklichkeit. Wenn wir die Geschichte der Ästhetik auf der Grundlage des 1

bjektivismus hier nicht im Sinne einer Prätention auf unparteiisches Geltenlassen aller O Standpunkte, sondern im Sinne der Überzeugung von der strengen Objektivität der Natur und Gesellschaft und ihrer Gesetze. – G. L.

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Marxismus-Leninismus durcharbeiten, so finden wir überall das einseitige Hervortreten der von Lenin so tief analysierten beiden Tendenzen: einerseits die Unfähigkeit des mechanischen Materialismus, »die Dialektik auf die Bil­ dertheorie … anzuwenden«, und andererseits den Grundirrtum des urwüch­ sigen Idealismus: »das Allgemeine (der Begriff, die Idee) ist ein besonderes Wesen«. Selbstverständlich zeigen sich diese beiden Tendenzen auch in der Geschichte der Ästhetik selten in vollständiger Reinheit. Der mechanische Materialismus, dessen Stärke darin besteht, dass er an dem Gedanken der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit festhält und ihn in der Ästhetik lebendig erhält, schlägt infolge seiner notwendigen Unfähigkeit, die Pro­ bleme der Bewegung, der Geschichte usw. zu begreifen, in Idealismus um, wie dies Engels bereits überzeugend dargelegt hat. Und es finden sich in der Geschichte der Ästhetik ebenso wie in der allgemeinen Erkenntnistheorie großangelegte Versuche objektiver Idealisten (Aristoteles, Hegel), die Unvoll­ kommenheit, die Einseitigkeit und Verknöcherung des Idealismus dialek­ tisch zu überwinden. Freilich, da diese Versuche auf idealistischer Grundlage vollzogen werden, können sie zwar im einzelnen bedeutende und treffende Formulierungen der Objektivität bringen, die Systeme im ganzen müssen aber der Einseitigkeit des Idealismus verfallen. Wir können in diesem Zusammenhang die gegensätzlichen und einseiti­ gen, unvollkommenen Anschauungen des mechanischen Materialismus und des Idealismus nur an je einem prägnanten Beispiel illustrieren. Wir wählen als solche Beispiele Werke von Klassikern, weil bei diesen alle Anschauun­ gen mit einer undiplomatischen, schroffen und aufrichtigen Offenheit aus­ gesprochen werden, im Gegensatz zu den eklektischen und apologetischen Halbheiten und Unaufrichtigkeiten der Ästhetiker der Niedergangsperiode der bürgerlichen Ideologie. Diderot, ein Hauptvertreter der mechanischen Theorie der unmittelbaren Nachahmung der Natur, spricht in seinem Roman »Les bijoux indiscrets« diese Theorie in der schroffsten Form aus. Seine Heldin, die hier zugleich das Sprachrohr seiner Anschauungen ist, äußert die folgende Kritik am französischen Klassizismus: »Aber ich weiß, nur Wahrheit gefällt und rührt. Weiter weiß ich, die Vollkommenheit eines Schauspiels besteht in so genauer Nachahmung einer Handlung, daß der Zuschauer in ununterbrochener Täu­ schung selbst bei der Handlung gegenwärtig zu sein sich einbildet.« Und um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass hier die Täuschung, die vollständige, photographische Nachahmung der Wirklich­ keit meint, lässt Diderot seine Heldin den Fall fingieren, dass man einem 156


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Menschen den Inhalt einer Tragödie als eine wirkliche Hofintrige erzählt und dieser Mensch dann ins Theater geht, um die Weiterentwicklung dieses realen Vorgangs zu belauschen: »Ich führe ihn in seine mit Gitterwerk versehene Theaterloge, von wo aus er die Bühne erblickt, die er für den Palast des Sul­ tans hält. Glauben Sie, der Mensch werde, wenn ich ein noch so ernsthaftes Gesicht dazu mache, sich auch nur einen Augenblick täuschen lassen? Im Gegenteil.« Damit ist für Diderot das ästhetische Vernichtungsurteil über dieses Drama ausgesprochen. Es ist klar, dass auf Grund einer solchen Theo­ rie, die den äußersten Grad der Objektivität der Kunst erkämpfen möchte, kein einziges wirkliches Problem der spezifisch künstlerischen Objektivität gelöst werden kann. (Dass Diderot in seiner Theorie wie insbesondere in sei­ ner künstlerischen Praxis eine ganze Reihe von Problemen richtig stellt und löst, gehört nicht hierher, da er sie ausnahmslos dadurch lösen kann, dass er dieser seiner starren Theorie untreu wird.) Als entgegengesetztes Extrem können wir die Ästhetik Schillers betrach­ ten. In seinem sehr interessanten Vorwort zu seiner »Braut von Messina« gibt Schiller eine treffende Kritik der Unzulänglichkeit der ästhetischen Nachah­ mungstheorie. Er stellt der Kunst die richtige Aufgabe, »sich nicht bloß mit dem Schein der Wahrheit zu begnügen«, sondern »auf der Wahrheit selbst« ihr Gebäude aufzurichten. Aber als echter Idealist hält Schiller die Wahr­ heit nicht für eine tiefere und vollständigere Widerspiegelung der objekti­ ven Wirklichkeit, als es der Schein ist, sondern isoliert die Wahrheit von der materiellen Wirklichkeit, macht aus ihr ein selbständiges Wesen, stellt die Wahrheit der Wirklichkeit starr und ausschließlich gegenüber. Er sagt: »Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt.« Darum ist das Produkt der künstlerischen Phantasie in Schillers Augen »wahrer als alle Wirklichkeit und reeller als alle Erfahrung«. Diese idealistische Auf­ blähung und Verknöcherung des gesetzmäßigen, über die Unmittelbarkeit hinausgehenden Momentes zerstört alle richtigen und tiefen Beobachtungen Schillers. Er meint – der Tendenz nach – etwas Richtiges, wenn er sagt, »daß der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet«, aber er übertreibt seine richtige Vorstellung schon in der For­ mulierung dadurch, dass er nur das unmittelbar Gegebene als wirklich auf­ fasst und in der Wahrheit ein übernatürliches Prinzip, nicht eine tiefere und umfassendere Widerspiegelung derselben objektiven Wirklichkeit erblickt, also dadurch, dass er beide idealistisch starr einander ausschließend gegen­ überstellt. Er gelangt also von richtigen Beobachtungen zu falschen Folge­ rungen, und gerade durch das Prinzip, mit dessen Hilfe er die Objektivität 157


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der Kunst tiefer als der mechanische Materialismus begründen will, hebt er jede Objektivität der Kunst auf. In der modernen Weiterentwicklung der Ästhetik können wir dieselben beiden Extreme wiederfinden: einerseits das Klebenbleiben an der unmittel­ baren Wirklichkeit, andererseits das Isolieren jener Momente, die über die Unmittelbarkeit hinausführen, von der materiellen Wirklichkeit. Aber infolge der allgemeinen Wendung der Ideologie der niedergehenden Bourgeoisie zu einem heuchlerischen und verlogenen Idealismus erleiden beide Prinzipien bedeutsame Veränderungen. Die Theorie der unmittel­baren Reproduktion der Wirklichkeit verliert immer mehr ihren mechanisch-­materialistischen Charakter, ihren Charakter als Theorie der Widerspiegelung der Außenwelt. Die Unmittelbarkeit wird immer stärker subjektiviert, immer stärker als eine selbständige und autonome Funktion des Subjekts aufgefasst (als Ein­ druck, Stimmung usw., die gedanklich von der sie hervorrufenden objekti­ ven Wirklichkeit losgelöst werden). Selbstverständlich verbleibt die Praxis der hervorragenden Realisten auch dieser Periode auf dem Standpunkt der künstlerischen Abbildung der Wirklichkeit. Jedoch zumeist nicht mehr mit der Kühnheit und (relativen) Folgerichtigkeit der Realisten der Aufstiegs­ periode der Bourgeoisie. Und in ihren Theorien nimmt die eklektische Ver­ mischung eines falschen Objektivismus mit einem falschen Subjektivis­ mus einen immer größeren Raum ein. Sie isolieren die Objektivität von der menschlichen Praxis, nehmen ihr jede Bewegung und Lebendigkeit und stel­ len sie dann starr, fatalistisch, romantisch der ebenso isolierten Subjektivität gegenüber. Zolas berühmte Definition der Kunst: »un coin de la nature vu à travers un tempérament« ist ein Musterbeispiel dieses Eklektizismus. Ein Stück Natur soll mechanisch, also falsch objektivistisch wiedergegeben und dann dadurch poetisch werden, dass es im Lichte einer bloß betrachtenden, von der Praxis, von der praktischen Wechselwirkung isolierten Subjektivität erscheint. Die Subjektivität des Künstlers ist nicht mehr, wie bei den alten Realisten, Mittel zur möglichst vollständigen Widerspiegelung der Bewegung einer Gesamtheit, sondern eine von außen angefügte Zutat zur mechanischen Reproduktion eines zufällig herausgebrochenen Stückes. Die konsequente Subjektivierung der unmittelbaren Reproduktion der Wirklichkeit vollzieht sich praktisch in der Entwicklung des Naturalismus und erhält die verschiedensten theoretischen Ausdrücke. Die bekannteste und einflussreichste dieser Theorien ist die sogenannte »Einfühlungstheo­ rie«. In ihr wird bereits eine jede Abbildung der vom Bewusstsein unabhän­ gigen Wirklichkeit geleugnet. Der bekannteste moderne Vertreter dieser 158


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Theorie, Lipps, sagt z. B.: »Die Form eines Objekts ist immer das Geformt­ sein durch mich, durch meine innere Tätigkeit.« Und dementsprechend fol­ gert er: »Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß.« Das Wesen der Kunst besteht demnach in einem Hineintragen der menschlichen Gedanken, Gefühle usw. in die als unerkennbar gedachte Außenwelt. Diese Theorie spie­ gelt treu die ständig wachsende Subjektivierung der künstlerischen Praxis wider, die sich im Übergang vom Naturalismus zum Impressionismus usw., in der wachsenden Subjektivierung der Thematik und der schöpferischen Methode, in der zunehmenden Abwendung der Kunst von den großen Pro­ blemen der Gesellschaft äußert. So zeigt die Theorie des Realismus der imperialistischen Periode eine sich steigernde Auflösung und Zersetzung der weltanschaulichen Voraus­ setzungen des Realismus. Und es ist klar, dass die offen antirealistischen Reak­ tionen gegen diesen Realismus auch theoretisch die idealistisch subjektiven Momente in einer viel extremeren Weise auf die Spitze treiben als der frühere Idealismus. Dieser extreme Charakter der idealistischen Verknöcherung wird noch dadurch gesteigert, dass der Idealismus der imperialistischen Periode ein Idealismus des imperialistischen Parasitentums ist. Während die großen Vertreter des klassischen Idealismus eine wirkliche gedankliche Bewältigung der großen Probleme ihrer Zeit suchten, wenn sie diese auch infolge ihres Idealismus verzerrt auf den Kopf gestellt formulierten, ist dieser neue Idealis­ mus eine Ideologie der Reaktion, der Flucht vor den großen Problemen der Epoche, eine Tendenz zum Wegabstrahieren der Wirklichkeit. Der bekannte und sehr einflussreiche Ästhetiker Worringer, der Begründer der sogenann­ ten »Abstraktionstheorie«, leitet das Bedürfnis der Abstraktion aus »geis­ tiger Raumscheu«, aus »ungeheurem Ruhebedürfnis« der Menschen ab. Er lehnt dementsprechend auch den modernen Realismus als zu sehr abbildend, als der Wirklichkeit zu nahe, ab. Er gründet seine Theorie auf ein »absolutes Kunstwollen«, worunter er eine »latente innere Forderung« versteht, »die gänzlich unabhängig von dem Objekte … für sich besteht und sich als Wille zur Form gebärdet«. Dass diese Theorie die modische Prätention, die höchste Objektivität der Kunst zu begründen, erhebt, ist sehr bezeichnend für die Theorien der imperialistischen Periode, die nie offen auftreten, sondern ihre Tendenzen stets in einer Maskierung darbieten. Lenin entlarvt in seiner Cha­ rakteristik des »Kampfes« der Machisten gegen den Idealismus vollständig dieses Manöver des Idealismus der imperialistischen Periode. Die Theorie der Abstraktion, die später zur theoretischen Grundlage des Expressionis­ mus geworden ist, ist ein Gipfelpunkt der subjektivistischen Entleerung der 159


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Ästhetik, sie ist eine Theorie der subjektivistischen Verknöcherung und des subjektivistischen Verfalls der künstlerischen Formen in der Periode des ver­ faulenden Kapitalismus.

III Die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit Die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit geht von denselben Gegensätzen aus wie jede andere Widerspiegelung der Wirklichkeit. Ihr Spe­ zifikum besteht darin, dass sie für ihre Auflösung einen anderen Weg sucht als die wissenschaftliche. Diesen spezifischen Charakter der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit können wir am besten so charakterisie­ ren, dass wir von dem erreichten Ziel gedanklich ausgehen, um von dort aus die Voraussetzungen seines Erreichens zu beleuchten. Dieses Ziel ist in jeder großen Kunst: ein Bild der Wirklichkeit zu geben, in welchem der Gegensatz von Erscheinung und Wesen, von Einzelfall und Gesetz, von Unmittelbarkeit und Begriff usw. so aufgelöst wird, dass beide im unmittelbaren Eindruck des Kunstwerks zur spontanen Einheit zusammenfallen, dass sie für den Rezeptiven eine unzertrennbare Einheit bilden. Das Allgemeine erscheint als Eigenschaft des Einzelnen und des Besonderen, das Wesen wird sichtbar und erlebbar in der Erscheinung, das Gesetz zeigt sich als spezifisch bewegende Ursache des speziell dargestellten Einzelfalles. Engels drückt diese Wesensart der künstlerischen Gestaltung sehr klar aus, wenn er über die Charakteris­ tik der Figuren im Roman sagt: »Jeder ist ein Typus, aber auch zugleich ein bestimmter Einzelmensch, ein ›Dieser‹, wie der alte Hegel sich ausdrückt, und so muß es sein.« Daraus folgt, dass jedes Kunstwerk einen geschlossenen, in sich abge­ rundeten, in sich vollendeten Zusammenhang bieten muss, und zwar einen solchen Zusammenhang, dessen Bewegung und Struktur unmittelbar evident sind. Die Notwendigkeit dieser unmittelbaren Evidenz zeigt sich am deut­ lichsten gerade in der Literatur. Die wirklichen und tiefsten Zusammenhänge etwa eines Romans oder eines Dramas können sich erst am Schluss enthüllen. Es gehört zum Wesen ihres Aufbaus und ihrer Wirkung, dass erst der Schluss die wirkliche und vollständige Aufklärung über den Anfang gibt. Und den­ noch wäre ihre Komposition vollständig verfehlt und wirkungslos, wenn der Weg, der zu diesem krönenden Ende führt, nicht auf jeder Etappe eine unmittelbare Evidenz hätte. Die wesentlichen Bestimmungen jener Welt, die ein literarisches Kunstwerk darstellt, enthüllen sich also in einer kunstvollen 160


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Aufeinanderfolge und Steigerung. Aber diese Steigerung muss sich inner­ halb der von Anfang an unmittelbar daseienden unzertrennbaren Einheit von Erscheinung und Wesen vollziehen, sie muss bei steigender Konkretisierung beider Momente deren Einheit immer inniger und evidenter machen. Diese abgeschlossene Unmittelbarkeit des Kunstwerks hat zur Folge, dass jedes Kunstwerk sämtliche Voraussetzungen der Personen, Situationen, Geschehnisse usw., die in ihm vorkommen, selbstgestaltend entwickeln muss. Die Einheit von Erscheinung und Wesen kann nur dann zum unmit­ telbaren Erlebnis werden, wenn der Rezeptive jedes wesentliche Moment des Wachstums oder der Veränderung mit allen wesentlich bestimmenden Ursachen zusammen unmittelbar erlebt, wenn ihm niemals fertige Resultate dargeboten werden, sondern er dazu angeleitet wird, den Prozess, der zu diesen Resultaten führt, unmittelbar mitzuerleben. Der urwüchsige Mate­ rialismus der ganz großen Künstler (unbeschadet ihrer oft halb oder gänzlich idealistischen Weltanschauung) kommt gerade darin zum Ausdruck, dass sie stets jene seinsmäßigen Voraussetzungen und Bedingungen klar gestalten, aus denen heraus das Bewusstsein ihrer dargestellten Personen entsteht und sich fortentwickelt. Jedes bedeutende Kunstwerk schafft auf diese Weise eine »eigene Welt«. Personen, Situationen, Handlungsführung usw. haben eine besondere, mit keinem anderen Kunstwerk gemeinsame, von der Alltagswirklichkeit durch­ aus verschiedene Qualität. Je größer der Künstler ist, je stärker seine Gestal­ tungskraft alle Momente des Kunstwerks durchdringt, desto prägnanter tritt in allen Einzelheiten diese »eigene Welt« des Kunstwerks hervor. Balzac sagt über seine »Comédie humaine«: »Mein Werk hat seine Geographie, wie es seine Genealogie und seine Familien hat, seine Orte und seine Dinge, seine Personen und seine Tatsachen; wie es auch seine Heraldik besitzt, seine Ade­ ligen und seine Bürger, seine Handwerker und seine Bauern, seine Politiker und seine Dandys und sein Heer, kurz seine Welt.« Hebt eine solche Bestimmung der Eigenart des Kunstwerks nicht dessen Charakter als Widerspiegelung der Wirklichkeit auf? Keineswegs! Sie hebt nur die Spezialität, die Eigenart der künstlerischen Widerspiegelung der Wirk­ lichkeit scharf hervor. Die scheinbare Abgeschlossenheit des Kunstwerks, seine scheinbare Unvergleichbarkeit mit der Wirklichkeit beruht gerade auf der Grundlage der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Denn diese Unvergleichbarkeit ist eben nur ein Schein, wenn auch ein notwendi­ ger, zum Wesen der Kunst gehörender Schein. Die Wirkung der Kunst, das vollständige Aufgehen des Rezeptiven in der Wirkung des Kunstwerks, sein 161


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vollständiges Eingehen auf die Eigenart der »eigenen Welt« des Kunstwerks beruht gerade darauf, dass das Kunstwerk eine dem Wesen nach getreuere, vollständigere, lebendigere, bewegtere Widerspiegelung der Wirklichkeit bie­ tet, als der Rezeptive sie sonst besitzt, dass es ihn also auf Grund seiner eigenen Erfahrungen, auf Grund der Sammlung und Abstraktion seiner bisherigen Reproduktion der Wirklichkeit, über die Grenzen dieser Erfahrungen hinaus­ führt – in der Richtung eines konkreteren Einblicks in die Wirklichkeit. Es ist also nur ein Schein, als ob das Kunstwerk selbst nicht eine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit wäre, als ob auch der Rezeptive die »eigene Welt« des Kunstwerks nicht als eine Widerspiegelung der Wirklichkeit auffassen und sie nicht mit seinen eigenen Erfahrungen vergleichen würde. Er tut dies viel­ mehr ununterbrochen, und die Wirkung des Kunstwerks hört augenblicklich auf, wenn dem Rezeptiven hier ein Widerspruch bewusst wird, wenn er das Kunstwerk als unrichtige Widerspiegelung der Wirklichkeit empfindet. Aber dieser Schein ist trotzdem ein notwendiger. Denn nicht eine isolierte Ein­ zelerfahrung wird mit einem isolierten Einzelzug des Kunstwerks bewusst verglichen, sondern der Rezeptive gibt sich auf der Grundlage seiner gesam­ melten Gesamterfahrung der Gesamtwirkung des Kunstwerks hin. Und der Vergleich zwischen beiden Widerspiegelungen der Wirklichkeit bleibt unbe­ wusst, solange der Rezeptive vom Kunstwerk mitgerissen ist, d. h. solange seine Erfahrungen über die Wirklichkeit durch die Gestaltung des Kunstwerks erweitert und vertieft werden. Darum steht Balzac in keinem Widerspruch zu seinen früher zitierten Ausführungen über seine »eigene Welt«, wenn er sagt: »Um fruchtbar zu werden, braucht man nur zu studieren. Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär.« Die Geschlossenheit des Kunstwerks ist also die Widerspiegelung des Lebensprozesses in seiner Bewegung und in seinem konkreten bewegten Zusammenhang. Dieses Ziel stellt sich selbstverständlich auch die Wissen­ schaft. Sie erreicht die dialektische Konkretheit, indem sie immer tiefer zu den Gesetzen der Bewegung vordringt. Engels sagt: »Das allgemeine Gesetz des Formwechsels ist viel konkreter als jedes einzelne ›konkrete‹ Beispiel davon.« Diese Bewegung der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklich­ keit ist eine unendliche. Das heißt: in jeder richtigen wissenschaftlichen Erkenntnis wird die objektive Wirklichkeit richtig widergespiegelt; insofern ist diese Erkenntnis eine absolute. Da aber die Wirklichkeit selbst stets reicher, mannigfaltiger ist als jedes Gesetz, liegt es im Wesen der Erkenntnis, dass sie immer weitergebildet, vertieft, bereichert werden muss, dass das Abso­ lute stets in der Form des Relativen, des nur annäherungsweise Richtigen, 162


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erscheint. Auch die künstlerische Konkretheit ist eine Einheit des Absoluten und des Relativen. Aber eine Einheit, über die im Rahmen des Kunstwerks nicht hinausgegangen werden kann. Die objektive Weiterentwicklung des Geschichtsprozesses, die Weiterentwicklung unserer Erkenntnis über diesen Prozess hebt den künstlerischen Wert, die Geltung und die Wirkung der gro­ ßen Kunstwerke, die ihre Epoche richtig und tief gestalten, nicht auf. Dazu kommt als zweiter wichtiger Unterschied zwischen wissenschaft­ licher und künstlerischer Widerspiegelung der Wirklichkeit, dass die ein­ zelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse (Gesetz usw.) nicht voneinander unabhängig bestehen, sondern ein zusammenhängendes System bilden. Und dieser Zusammenhang ist desto enger, je entwickelter die Wissenschaft wird. Jedes Kunstwerk muss aber für sich selbst stehen. Natürlich gibt es eine Entwicklung der Kunst; natürlich hat diese Entwicklung einen objekti­ ven Zusammenhang und ist mit allen ihren Gesetzen erkennbar. Aber dieser objektive Zusammenhang der Kunstentwicklung, als eines Teiles der allge­ meinen gesellschaftlichen Entwicklung, hebt die Tatsache nicht auf, dass das Kunstwerk erst dadurch zum Kunstwerk wird, dass es diese Geschlossenheit, diese Fähigkeit, für sich allein zu wirken, besitzt. Das Kunstwerk muss also alle wesentlichen, objektiven Bestimmungen, die das von ihm gestaltete Stück Leben objektiv determinieren, in richtigem und richtig proportioniertem Zusammenhang widerspiegeln. Es muss sie so widerspiegeln, dass dieses Stück Leben in sich und aus sich heraus ver­ ständlich, nacherlebbar werde, dass es als eine Totalität des Lebens erscheine. Dies bedeutet nicht, dass jedes Kunstwerk sich zum Ziel setzen muss, die objektive, extensive Totalität des Lebens widerzuspiegeln. Im Gegenteil: die extensive Totalität der Wirklichkeit geht notwendig über den möglichen Rah­ men einer jeden künstlerischen Gestaltung hinaus; sie kann nur vom unend­ lichen Prozess der Gesamtwissenschaft in ständig wachsender Annäherung gedanklich reproduziert werden. Die Totalität des Kunstwerks ist vielmehr eine intensive: der abgerundete und in sich abgeschlossene Zusammenhang jener Bestimmungen, die – objektiv – für das gestaltete Stück Leben von ausschlaggebender Bedeutung sind, die seine Existenz und seine Bewegung, seine spezifische Qualität und seine Stellung im ganzen des Lebensprozesses determinieren. In diesem Sinne ist das kleinste Lied ebenso eine intensive Totalität wie das mächtigste Epos. Über Quantität, Qualität, Proportion usw. der zutage tretenden Bestimmungen entscheidet der objektive Charakter des gestalteten Stückes Leben in Wechselwirkung mit den spezifischen Gesetzen des für seine Gestaltung angemessenen Genres. 163


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Die Geschlossenheit bedeutet also erstens, dass das Ziel des Kunstwerks darin besteht, jene »Schlauheit«, jenen Reichtum, jene Unerschöpflich­ keit des Lebens, von der wir früher Lenin sprechen hörten, darzustellen, in bewegter Widerspiegelung lebendig zu machen. Einerlei, ob das Kunst­ werk die Absicht hat, das Ganze der Gesellschaft zu gestalten oder nur einen künstlich isolierten Einzelfall, jedesmal wird es bestrebt sein, die intensive Unendlichkeit seines Gegenstandes zu gestalten. Das heißt: es wird bestrebt sein, alle wesentlichen Bestimmungen, die in der objektiven Wirklichkeit den Grund eines solchen Falles oder Komplexes von Fällen objektiv bilden, in seine Darstellung gestaltend einzubeziehen. Und die gestaltende Einbezie­ hung bedeutet, dass alle diese Bestimmungen als persönliche Eigenschaften der handelnden Personen, als spezifische Qualitäten der dargestellten Situ­ ationen usw., also in der sinnlich unmittelbaren Einheit des Einzelnen und Allgemeinen erscheinen. Zu einem solchen Erleben der Wirklichkeit sind die wenigsten Menschen fähig. Sie gelangen zu der Erkenntnis der allge­ meinen Bestimmungen des Lebens nur durch Verlassen der Unmittelbarkeit, nur durch Abstraktion, nur durch abstrahierende Vergleichung der Erfah­ rungen. (Selbstverständlich ist dabei auch der Künstler selbst keine starre Ausnahme. Seine Arbeit besteht vielmehr darin, seine auch auf normalem Weg erlangten Erfahrungen zu der künstlerischen Form, zu der gestalteten Einheit von Unmittelbarkeit und Gesetz, zu erheben.) Indem der Künstler Einzelmenschen und Einzelsituationen gestaltet, erweckt er den Schein des Lebens. Indem er sie zu exemplarischen Menschen, Situationen (Einheit des Individuellen und Typischen) gestaltet, indem er einen möglichst großen Reichtum der objektiven Bestimmungen des Lebens als Einzelzüge individu­ eller Menschen und Situationen unmittelbar erlebbar macht, entsteht seine »eigene Welt«, die gerade darum die Widerspiegelung des Lebens in seiner bewegten Gesamtheit, des Lebens als Prozess und Totalität ist, weil sie in ihrer Gesamtheit und in ihren Details die gewöhnliche Widerspiegelung der Lebensvorgänge durch den Menschen steigert und überbietet. Diese Gestaltung der »Schlauheit« des Lebens, seines die gewöhnliche Erfahrung überbietenden Reichtums ist aber nur eine Seite der spezifischen Form der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Würde im Kunstwerk nur der überströmende Reichtum neuer Züge gestaltet sein, nur jener Momente, die als Neues, als »Schlauheit« über die gewohnten Abstrak­ tionen, über die normale Erfahrung des Lebens hinausgehen, so würde das Kunstwerk den Rezeptiven ebenso verwirren, statt ihn mitzureißen, wie das Auftreten solcher Momente im Leben selbst den Menschen im allgemeinen 164


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verwirrt und ratlos macht. Es ist also notwendig, dass in diesem Reichtum, in dieser »Schlauheit« zugleich die neue Gesetzmäßigkeit, die die alten Abs­ traktionen aufhebt oder modifiziert, zutage trete. Auch dies ist eine Wider­ spiegelung der objektiven Wirklichkeit. Denn die neue Gesetzmäßigkeit wird ja nie in das Leben hineingetragen, sondern aus den neuen Erscheinungen des Lebens durch Nachdenken, durch Vergleich usw. herausgeholt. Aber im Leben selbst handelt es sich dabei immer um zwei Akte: man wird von den neuen Tatsachen überrascht, ja zuweilen überwältigt, und dann erst braucht man sie mit Hilfe der auf sie angewandten dialektischen Methode gedanklich aufzuarbeiten. Diese beiden Akte fallen im Kunstwerk zusammen. Nicht im Sinne einer mechanischen Einheit (denn damit wäre die Neuheit der Einzel­ erscheinungen wieder aufgehoben), sondern im Sinne eines Prozesses derart, dass in jenen neuen Erscheinungen, in denen die »Schlauheit« des Lebens in Erscheinung tritt, bereits von Anfang an ihre Gesetzlichkeit durchschimmert und im Laufe der kunstvoll gesteigerten Entwicklung immer deutlicher und klarer in den Vordergrund tritt. Diese Darbietung eines Lebens, das zugleich reicher und stärker geglie­ dert und geordnet ist, als es die Lebenserfahrungen des Menschen im allge­ meinen sind, hängt aufs allerengste mit der aktiven gesellschaftlichen Funk­ tion, der propagandistischen Wirkung der echten Kunstwerke zusammen. Die Künstler sind vor allem deshalb »Ingenieur der Seele« (Stalin), weil sie imstande sind, das Leben in dieser Einheit und Bewegtheit darzustellen. Denn eine solche Darstellung kann unmöglich die tote und falsche Objekti­ vität einer »parteilosen« Abbildung ohne Stellungnahme, ohne Richtung, ohne Aufruf zur Aktivität sein. Wir wissen aber bereits durch Lenin, dass diese Parteinahme nicht vom Subjekt willkürlich in die Außenwelt hinein­ getragen wird, sondern eine der Wirklichkeit selbst innewohnende treibende Kraft ist, die durch die richtige, dialektische Widerspiegelung der Wirklich­ keit bewusst gemacht und in die Praxis eingeführt wird. Diese Parteilichkeit der Objektivität muss sich deshalb im Kunstwerk gesteigert wiederfinden. Gesteigert im Sinne der Klarheit und Deutlichkeit; denn das Material des Kunstwerks wird ja vom Künstler bewusst auf dieses Ziel hin, im Sinne die­ ser Parteilichkeit gruppiert und geordnet. Gesteigert aber auch im Sinne der Objektivität; denn die Gestaltung eines echten Kunstwerks geht eben darauf hinaus, diese Parteilichkeit als Eigenschaft der dargestellten Materie selbst zu gestalten, als treibende Kraft, die ihr innewohnt, aus ihr organisch heraus­ wächst. Wenn Engels klar und entschieden für die Tendenz in der Literatur Stellung nimmt, so meint er stets – wie nach ihm Lenin – diese Parteilichkeit 165


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der Objektivität und lehnt jede subjektiv hineingetragene, subjektiv »anmon­ tierte« Tendenz aufs entschiedenste ab: »Aber ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung selbst hervorspringen, ohne daß ausdrück­ lich darauf hingewiesen wird.« Auf diese Dialektik der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit weisen alle ästhetischen Theorien hin, die sich mit dem Problem des ästheti­ schen Scheins beschäftigen. Die Paradoxie der Wirkung des Kunstwerks liegt darin, dass wir uns dem Kunstwerk als einer vor uns hingestellten Wirklich­ keit hingeben, es als Wirklichkeit akzeptieren, in uns aufnehmen, obwohl wir stets genau wissen, dass es keine Wirklichkeit, sondern bloß eine besondere Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist. Lenin sagt richtig: »Die Kunst fordert nicht die Anerkennung ihrer Werke als Wirklichkeit.« Die künstlerisch erzeugte Illusion, der ästhetische Schein beruht also einerseits auf der von uns analysierten Abgeschlossenheit des Kunstwerkes, darauf, dass das Kunst­ werk in seiner Gesamtheit den Gesamtprozess des Lebens widerspiegelt und nicht in den Einzelheiten Widerspiegelungen von Einzelerscheinungen des Lebens darbietet, die in ihrer Einzelheit mit dem Leben, mit ihrem wirklichen Vorbild verglichen werden könnten. Die Unvergleichbarkeit in dieser Hin­ sicht ist die Voraussetzung der künstlerischen Illusion, die von jedem solchen Vergleich sofort zerrissen wird. Andererseits und untrennbar hiervon ist diese Geschlossenheit des Kunstwerks, die Entstehung des ästhetischen Scheins nur möglich, wenn das Kunstwerk den objektiven Gesamtprozess des Lebens objektiv richtig widerspiegelt. Diese objektive Dialektik der künstlerischen Widerspiegelung der Wirk­ lichkeit ist für die bürgerlichen Theorien gedanklich nicht erfassbar, und sie müssen deshalb stets vollständig oder in bestimmten Punkten ihrer Darle­ gungen dem Subjektivismus verfallen. Der philosophische Idealismus muss, wie wir gesehen haben, den Charakterzug der Abgeschlossenheit des Kunst­ werks, sein Übertreffen der gewöhnlichen Wirklichkeit von der materiellen, objektiven Wirklichkeit isolieren, er muss die Abgeschlossenheit, die Form­ vollendung des Kunstwerks der Widerspiegelungstheorie gegenüberstellen. Wenn der objektive Idealismus trotzdem die Objektivität der Kunst gedanklich retten und begründen will, so muss er unvermeidlich in Mystizismus verfallen. Es ist keineswegs zufällig, dass die platonische Theorie der Kunst, der Kunst als Widerspiegelung der »Ideen«, eine so große historische Wirksamkeit bis zu Schelling und Schopenhauer erhielt. Denn selbst mechanische Materialisten, wenn sie infolge der notwendigen Unzulänglichkeit des mechanischen Mate­ rialismus in der Auffassung der Phänomene der Gesellschaft dem Idealismus 166


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verfallen, pflegen aus der mechanisch-photographischen Abbildungstheorie unvermittelt zu einem Platonismus, einer Theorie der künstlerischen Nach­ ahmung von »Ideen« überzugehen. (Dies ist sehr deutlich bei Shaftesbury, zuweilen auch bei Diderot sichtbar.) Aber dieser mystische Objektivismus schlägt stets und unvermeidlich in einen Subjektivismus um. Je mehr die Momente der Abgeschlossenheit des Kunstwerks und des aktiven Charak­ ters der künstlerischen Bearbeitung und Umformung der Wirklichkeit der Widerspiegelungstheorie gegenübergestellt und nicht aus ihr dialektisch abgeleitet werden, desto mehr isoliert sich das Prinzip der Form, der Schön­ heit, des Künstlerischen vom Leben; desto mehr wird es zu einem unerklär­ baren, subjektiv mystischen Prinzip. Die platonischen »Ideen«, die im Idea­ lismus der aufsteigenden Periode der Bourgeoisie zuweilen aufgeblähte und aufgebauschte, von der gesellschaftlichen Wirklichkeit künstlich isolierte Widerspiegelungen entscheidender gesellschaftlicher Probleme waren, also trotz ihrer idealistischen Verzerrung doch inhaltserfüllt und nicht ohne jede inhaltliche Richtigkeit, verlieren mit dem Niedergang der Klasse immer stär­ ker jede Inhaltlichkeit. Die gesellschaftliche Isolierung des subjektiv aufrich­ tigen Künstlers in einer niedergehenden Klasse spiegelt sich in dieser mys­ tisch-subjektivistischen, jeden Zusammenhang mit dem Leben leugnenden Aufblähung des Formprinzips wider. Die ursprüngliche Verzweiflung, die echte Künstler über diese Lage empfinden, verwandelt sich immer mehr in die parasitäre Resignation und Selbstzufriedenheit des l’art pour l’art und seiner Kunsttheorie. Baudelaire besingt die Schönheit noch in einer verzweifelten, subjektiv-mystischen Form: »Je trône dans l’azure comme un sphinx incom­ pris.« Im späteren l’art pour l’art der imperialistischen Periode entwickelt sich dieser Subjektivismus zur Theorie einer hochmütigen, parasitischen Abtren­ nung der Kunst vom Leben, zur Leugnung einer jeden Objektivität der Kunst, zur Verherrlichung der »Souveränität« des schöpferischen Individuums, zur Theorie der Gleichgültigkeit des Inhalts und der Willkür der Form. Wir haben bereits gesehen, dass die Tendenz des mechanischen Mate­ rialismus eine entgegengesetzte ist. Indem er bei der mechanischen Nach­ ahmung des unmittelbar wahrgenommenen Lebens in seinen unmittelbar wahrgenommenen Einzelheiten klebenbleibt, muss er die Eigenart der künst­ lerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit leugnen, sonst verfällt er dem Idealismus mit allen seinen Verzerrungen und Subjektivierungstendenzen. Die falsche Objektivierungstendenz des mechanischen Materialismus, der mechanisch unmittelbaren Abbildung der unmittelbaren Erscheinungswelt schlägt darum notwendig in idealistischen Subjektivismus um, weil er die 167


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Objektivität der tieferliegenden, unmittelbar sinnlich nicht wahrnehmbaren Gesetze und Zusammenhänge nicht anerkennt, weil er in ihnen keine Wider­ spiegelungen der objektiven Wirklichkeit, sondern bloß technische Hilfsmit­ tel zur übersichtlichen Gruppierung der Einzelzüge der unmittelbaren Wahr­ nehmung sieht. Diese Schwäche der unmittelbaren Nachahmung des Lebens mit dessen Einzelzügen muss sich noch steigern, muss noch stärker in einen inhaltsleeren subjektiven Idealismus umschlagen, je mehr die allgemeine ideologische Entwicklung der Bourgeoisie die philosophisch-materialisti­ schen Grundlagen dieser Art der künstlerischen Abbildung der Wirklichkeit in einen antagonistischen Idealismus verwandelt (Einfühlungstheorie). Die Objektivität der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit beruht auf der richtigen Widerspiegelung des Gesamtzusammenhanges. Die künstlerische Richtigkeit eines Details hat also nichts damit zu tun, ob ihr als Einzelheit jemals in der Wirklichkeit eine solche Einzelheit entsprochen hat. Die Einzelheit im Kunstwerk ist eine richtige Widerspiegelung des Lebens, wenn sie ein notwendiges Moment der richtigen Widerspiegelung des Gesamtprozesses der objektiven Wirklichkeit ist, einerlei, ob sie vom Künst­ ler im Leben beobachtet oder mit künstlerischer Phantasie aus unmittelba­ ren oder nicht unmittelbaren Lebenserfahrungen heraus geschaffen wurde. Dagegen ist die künstlerische Wahrheit eines dem Leben photographisch entsprechenden Details rein zufällig, willkürlich, subjektiv. Wenn nämlich die Einzelheit nicht aus dem Zusammenhang heraus unmittelbar als not­ wendiges Moment evident wird, so ist sie als Moment des Kunstwerks zufällig, ihre Auswahl als Einzelheit willkürlich und subjektiv. Es ist also durchaus möglich, dass ein Werk aus lauter photographisch wahren Widerspiegelungen der Außenwelt »zusammenmontiert« wird und das Ganze trotzdem eine unrichtige, eine subjektiv willkürliche Widerspiegelung der Wirklichkeit ist. Denn das Nebeneinanderstellen von tausend Zufällen kann niemals aus sich heraus eine Notwendigkeit ergeben. Um das Zufällige mit der Notwendigkeit in einen richtigen Zusammenhang zu bringen, muss die Notwendigkeit in der Zufälligkeit selbst, also in den Details selbst bereits innerlich wirksam sein. Das Detail muss als Detail von vornherein so ausgewählt und gestaltet werden, dass in ihm dieser Zusammenhang mit dem Ganzen innerlich wirksam sei. Diese Auswahl und Anordnung der Details beruht allein auf der künstlerisch objektiven Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die Isolierung der Details vom Gesamtzusammenhang, ihre Auswahl unter dem Gesichtspunkt, dass sie einem Lebensdetail photographisch entsprechen, geht gerade an dem tiefe­ ren Problem der objektiven Notwendigkeit achtlos vorbei, ja verleugnet deren 168


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Existenz. Der so schaffende Künstler wählt und organisiert sein Material also nicht aus der objektiven Notwendigkeit der Sache selbst heraus, sondern von einem subjektiven Gesichtspunkt aus, der im Werk als objektive Willkür der Auswahl und Anordnung sichtbar wird. Dieses Ignorieren der tieferen objektiven Notwendigkeit in der Wider­ spiegelung der Wirklichkeit kommt auch im Aktivismus der so schaffenden Kunst als Aufhebung der Objektivität zur Geltung. Wir haben bereits bei Lenin und Engels sehen können, wie die Parteilichkeit auch im Kunstwerk ein Bestandteil der objektiven Wirklichkeit und ihrer künstlerisch richtigen, objektiven Widerspiegelung ist. Die Tendenz des Kunstwerks spricht aus dem objektiven Zusammenhang der gestalteten Welt des Kunstwerks heraus; es ist die Sprache des Kunstwerks, also – durch die künstlerische Widerspiege­ lung der Wirklichkeit vermittelt – die Sprache der Wirklichkeit selbst, nicht die subjektive Meinung des Verfassers, die als subjektiver Kommentar, als subjektive Schlussfolgerung nackt und offen zum Vorschein kommt. Die Auf­ fassung der Kunst als unmittelbarer Propaganda, eine Auffassung, die in der neueren Kunst besonders Upton Sinclair vertritt, geht also an den tieferen, objektiven Propagandamöglichkeiten der Kunst, am Leninschen Sinn des Begriffs Parteilichkeit gerade achtlos vorbei und setzt an dessen Stelle eine rein subjektivistische Propaganda, die nicht aus der Logik der gestalteten Tatsachen selbst organisch herauswächst, sondern eine bloße subjektive Mei­ nungsäußerung des Verfassers bleibt.

IV Die Objektivität der künstlerischen Form Beide Tendenzen der Subjektivierung, die wir soeben analysiert haben, zer­ reißen die dialektische Einheit von Form und Inhalt der Kunst. Es kommt dabei im Prinzip nicht entscheidend darauf an, ob nun die Form oder aber der Inhalt aus dem Zusammenhang der dialektischen Einheit herausgerissen und zur Selbständigkeit aufgebläht wird. In beiden Fällen geht die Konzeption der Objektivität der Form verloren. In beiden Fällen wird nämlich die Gesetzmäßigkeiten sowohl der Natur als des Menschen ausdrücken, ebenso verhält es sich auch mit den Formen der Kunst. Es kommt nur darauf an, sich klarzumachen, was dieser höchste Grad der Abstraktion in der Kunst zu bedeuten hat. Der Abstraktionsprozess, der Prozess der Verallgemeinerung, den die künstlerischen Formen vollziehen, ist eine seit langem bekannte Tatsache. 169


Kritischer Realismus

Schon Aristoteles hat Dichtung und Geschichtsschreibung von diesem Standpunkt aus einander gegenübergestellt, wobei für den heutigen Leser zu berücksichtigen ist, dass Aristoteles unter Geschichtsschreibung eine chronikartige Erzählung von Einzeltatsachen in der Art Herodots versteht. Aristoteles sagt: »Geschichtsschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß letzterer in Versen, ersterer in Prosa schreibt … Der Unter­ schied liegt vielmehr darin, daß der eine wirklich Geschehenes berichtet, der andere solches, was geschehen kann. Darum ist auch die Poesie philosophi­ scher als die Geschichtsschreibung. Denn die Poesie hat zum Gegenstand das Allgemeine, die Geschichtsschreibung berichtet das Einzelne.« Es ist ohne weiteres klar ersichtlich, was Aristoteles damit meint, dass die Dichtung das Allgemeine ausdrücke und daher philosophischer sei als die Geschichts­ schreibung. Er meint, dass die Dichtung in ihren Charakteren, Situationen und Handlungen nicht bloß einzelne Charaktere, Situationen und Hand­ lungen nachahmt, sondern in ihnen zugleich das Gesetzmäßige, das Allge­ meine, das Typische zum Ausdruck bringt. Engels spricht in vollem Einklang damit von der Aufgabe des Realismus, »typische Charaktere unter typischen Umständen« zu gestalten. Die Schwierigkeit, die in der gedanklichen Erfas­ sung dessen besteht, was die Praxis der großen Kunst seit jeher geleistet hat, ist eine doppelte: erstens muss der Fehler vermieden werden, dass man das Typische, das Allgemeine, das Gesetzmäßige dem Einzelnen gegenüberstellt, dass man die unzertrennbare Einheit des Einzelnen und Allgemeinen, die in der Praxis aller großen Dichter von Homer bis Gorki wirksam ist, gedanklich zerreißt. Zweitens muss verstanden werden, dass diese Einheit des Einzelnen und des Allgemeinen, des Individuellen und des Typischen nicht eine Eigen­ schaft des isoliert betrachteten Inhalts der Literatur ist, zu deren Ausdruck die künstlerische Form nur ein »technisches Hilfsmittel« wäre, sondern ein Produkt jener Wechselwirkung von Form und Inhalt, deren abstrakte Defi­ nition wir eben von Hegel gehört haben. Die erste Frage kann nur vom Standpunkt der marxistischen Erfassung des Konkreten aus beantwortet werden. Wir haben gesehen, dass sowohl der mechanische Materialismus wie der Idealismus – jeder auf seine Weise, im Laufe der geschichtlichen Entwicklung in verschiedenen Formen – die unmittelbare Widerspiegelung der Außenwelt, diese Grundlage einer jeden Erkenntnis der Wirklichkeit, und das Allgemeine, das Typische usw. einan­ der starr gegenüberstellen. Infolge dieser Gegenüberstellung erscheint das Typische als Produkt einer bloß gedanklichen subjektiven Operation, als eine bloß gedankliche, abstrahierende, also letzten Endes bloß subjektive Zutat zu 170


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

der unmittelbar erscheinenden Welt und nicht als Bestandteil der objektiven Wirklichkeit selbst. Aus einer solchen Gegenüberstellung ist es unmöglich, zu der gedanklichen Erfassung der Einheit des Individuellen und Typischen im Kunstwerk zu gelangen. Entweder wird ein falscher Begriff des Konkreten oder ein ebenso falscher der Abstraktion in den Mittelpunkt der Ästhetik gestellt, oder höchstens ein eklektisches Sowohl-als-auch verkündet. Marx bestimmt das Konkrete außerordentlich klar. »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannig­ faltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauungen und Vorstellung ist.« Und wir haben eingangs kurz gezeigt, wie Lenin den dialektischen Weg zu der gedanklichen Widerspiegelung des Konkreten in der marxistischen Erkenntnistheorie bestimmt. Die Aufgabe der Kunst ist die Wiederherstellung des Konkreten – im angegebenen Marxschen Sinne – in einer unmittelbaren sinnlichen Evidenz. Das heißt, es müssen im Konkreten selbst jene Bestimmungen aufgedeckt und sinnfällig gemacht werden, deren Einheit eben das Konkrete zum Konkreten macht. Nun steht aber in der Wirklichkeit selbst jede Erscheinung in einem extensiv unendlichen Zusammenhang mit allen anderen gleichzeitigen und vorangegangenen Erscheinungen. Das Kunstwerk gibt – inhaltlich angese­ hen – stets nur einen größeren oder kleineren Ausschnitt aus der Wirklich­ keit. Die künstlerische Formung hat indessen zur Aufgabe, zu bewirken, dass dieser Ausschnitt nicht als herausgerissener Ausschnitt aus einer Gesamtheit wirke, so dass zu seiner Verständigung und Wirkung der Zusammenhang mit seiner räumlich-zeitlichen Umgebung notwendig wäre, sondern im Gegen­ teil, dass er den Charakter eines abgeschlossenen Ganzen erhalte, das keiner Ergänzung von außen bedarf. Wenn nun die gedankliche Bearbeitung der Wirklichkeit durch den Künstler, die der Entstehung des Kunstwerkes voran­ geht, sich im Prinzip nicht von einer anderen gedanklichen Bearbeitung der Wirklichkeit unterscheidet, so um so mehr ihr Resultat: das Kunstwerk selbst. Da das Kunstwerk als abgeschlossenes Ganzes zu wirken hat, da in ihm unmittelbar sinnlich die Konkretheit der objektiven Wirklichkeit wieder­ hergestellt werden muss, müssen in ihm alle jene Bestimmungen in ihrem Zusammenhang und in ihrer Einheit dargestellt werden, die objektiv das Konkrete zum Konkreten machen. In der Wirklichkeit selbst treten diese Bestimmungen quantitativ wie qualitativ außerordentlich verschieden und zerstreut auf. Die Konkretheit eines Phänomens hängt ja gerade von diesem 171


Kritischer Realismus

extensiv unendlichen Gesamtzusammenhang ab. In dem Kunstwerk muss aber ein Ausschnitt, ein Ereignis, ein Mensch oder gar ein Moment seines Lebens einen solchen Zusammenhang in seiner Konkretheit, also in der Ein­ heit aller in ihm wesentlichen Bestimmungen, darstellen. Diese Bestimmun­ gen müssen also erstens im Kunstwerk vollständig vorhanden sein, zweitens müssen sie in ihrer reinsten, klarsten, typischsten Form erscheinen, drittens muss das proportionelle Verhältnis der verschiedenen Bestimmungen jener objektiven Parteilichkeit entsprechen, von dem das Kunstwerk beseelt ist. Viertens aber dürfen alle diese Bestimmungen, die, wie wir eben gesehen haben, in einer reineren, tieferen, abstrakteren Fassung vorhanden sind als in einem beliebigen Einzelfall des Lebens, keinen abstrakten Gegensatz zu der unmittelbar sinnlichen Erscheinungswelt bilden, sondern sie müssen im Gegenteil als konkrete, unmittelbare, sinnliche Eigenschaften der einzelnen Menschen, Situationen usw. erscheinen. Jener künstlerische Prozess also, der der gedanklichen Widerspiegelung der Wirklichkeit mit Hilfe von Abstrak­ tionen usw. entspricht, der künstlerisch eine »Überladung« des Einzelfalles mit quantitativ und qualitativ auf die Spitze getriebenen typischen Zügen mit sich zu bringen scheint, muss eine Steigerung der Konkretheit zur Folge haben. Der Prozess der künstlerischen Formung, der Weg der Verallgemei­ nerung, muss also, so paradox das auch klingen mag, dem Leben gegenüber eine Steigerung an Konkretheit mit sich führen. Wenn wir nun von diesem Punkt aus zu unserer zweiten Frage, zur Rolle der Form bei dieser Konkret­ heit kommen, so wird dem Leser das oben gegebene Hegelsche Zitat vom Umschlagen des Inhalts in Form und der Form in Inhalt vielleicht nicht mehr so abstrakt vorkommen wie früher. Man denke an unsere früher gegebenen Bestimmungen des Kunstwerks, die wir ausnahmslos aus der allgemeinsten Fassung der künstlerischen Form, aus der Abgeschlossenheit des Kunstwerks abgeleitet haben: einerseits an die intensive Unendlichkeit, an die schein­ bare Unerschöpflichkeit des Kunstwerks, an die »Schlauheit« seiner Führung, mit der es an das Leben in seinen intensivsten Erscheinungsformen erinnert, andererseits daran, dass es in dieser Unerschöpflichkeit und lebensähnlichen »Schlauheit« zugleich die Gesetze dieses Lebens gerade in ihrer Neuheit, in ihrer Unerschöpflichkeit, in ihrer »Schlauheit« enthüllt. Alle diese Bestim­ mungen scheinen rein inhaltliche Bestimmungen zu sein. Sie sind es auch. Sie sind aber zugleich – und sogar primär – Bestimmungen, die vermittels der künstlerischen Form hervortreten, sichtbar werden. Sie sind Resultat des Umschlagens des Inhalts in Form und haben zum Resultat ein Umschlagen der Form in Inhalt. 172


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Versuchen wir diesen sehr wichtigen künstlerischen Tatbestand an eini­ gen Beispielen klarzumachen. Man nehme ein einfaches, fast könnte man sagen rein quantitatives Beispiel. Was immer man gegen Gerhart Hauptmanns »Weber« als Drama einwenden könnte, es steht fest, dass es hier gelungen ist, in uns stets die Illusion zu erwecken, dass wir es nicht mit einigen einzelnen Menschen, sondern mit der grauen und unübersichtlich großen Masse der schlesischen Weber zu tun haben. Die Gestaltung der Masse als Masse ist gerade das große künstlerische Gelingen dieses Dramas. Wenn wir aber nun darüber nachdenken, mit welcher Anzahl von Menschen Hauptmann diese Masse tatsächlich gestaltet hat, so kommen wir zu dem sehr überraschenden Resultat, dass es sich um die Gestaltung von kaum mehr als 10 bis 12 Webern handelt, eine Zahl also, die von sehr vielen Dramen überboten wird, ohne dass in ihnen eine massenhafte Wirkung auch nur beabsichtigt wäre. Die Wir­ kung der Masse entsteht also daraus, dass die gestalteten wenigen Menschen so ausgewählt, so charakterisiert, in solche Lagen versetzt, in ein solches Verhältnis zueinander gestellt usw. sind, dass aus diesen Beziehungen, aus diesen formellen Proportionalitäten der ästhetische Schein einer Masse ent­ steht. Wie wenig dieser ästhetische Schein von der Quantität der handelnden Personen abhängt, zeigt am klarsten desselben Dichters Bauernkrieg-Drama »Florian Geyer«, wo Hauptmann eine unvergleichlich größere Zahl von Men­ schen gestaltet und diese zum Teil als Einzelmenschen sogar sehr gut gestal­ tet, wo aber trotzdem nur stellenweise der Eindruck einer wirklichen Masse entsteht, weil es eben Hauptmann nicht gelungen ist, jene Beziehung der Menschen zueinander zu gestalten, die ihr Zusammensein als Masse erlebbar macht, die der Masse, der künstlerisch gestalteten Masse eine eigene künst­ lerische Physiognomie, eine eigene Wirkungsqualität gibt. Noch klarer tritt diese Bedeutung der Form in komplizierteren Fällen hervor. Ich nehme als Beispiel die Gestaltung des Typischen in Balzacs »Père Goriot«. Balzac gestaltete hier die Widersprüche der bürgerlichen Gesell­ schaft, die notwendigen inneren Gegensätze, die sich in jeder beliebigen Ins­ titution der bürgerlichen Gesellschaft zeigen, die verschiedenen Formen des bewussten und unbewussten Sichaufbäumens der Menschen gegen diese ihre Lebensformen, die sie knechten und verkrüppeln, von deren Grundlage sie sich jedoch nicht losreißen können. Jede einzelne Erscheinungsform dieser Widersprüche in einem Menschen oder in einer Situation wird von Balzac mit einer grausamen Folgerichtigkeit auf die Spitze getrieben. Es erscheinen Menschen, bei denen je ein solcher Zug der Verlorenheit, der Revolte, des Bewältigenwollens, der Verkommenheit stets im äußersten Extrem erscheint: 173


Kritischer Realismus

Goriot und seine Töchter, Rastignac, Vautrin, die Vicomtesse de Beauséant, Maxime de Trailles. Und die Ereignisse, in denen diese Charaktere sich exponieren, ergeben eine – isoliert inhaltlich angesehen – äußerst unwahr­ scheinliche Häufung von an sich schon wenig wahrscheinlichen Explosionen. Man bedenke, was alles im Laufe der Handlung zusammenfällt: die endgültige Familientragödie Goriots, die Liebestragödie der Beauséant, die Entlarvung Vautrins, die von Vautrin arrangierte Tragödie im Hause Taillefer usw. Und dennoch, ja besser gesagt: gerade darum wirkt dieser Roman als ein erschüt­ ternd wahres und typisches Gemälde der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vor­ aussetzung dieser Wirkung ist selbstverständlich, dass die typischen Züge, die Balzac hervorhebt, wirklich typische Züge der Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft sind. Dies ist jedoch nur die Voraussetzung, wenn auch freilich die notwendige Voraussetzung dieser Wirkung und nicht die unmittelbare Wirkung selbst. Die Auflösung der Wirkung geschieht vielmehr gerade durch die Komposition, gerade durch die Beziehung der extremen Fälle aufeinander, durch welche Beziehung diese exzentrische Extremität der Fälle gegenseitig aufgehoben wird. Man versuche gedanklich eine dieser Katastrophen aus dem Gesamtkomplex der Komposition herauszulösen, und man erhält eine phantastisch-romantische, unwahrscheinliche Novelle. Aber in dieser durch Balzacs Komposition hervorgebrachten Beziehung der extre­ men Fälle aufeinander tritt gerade infolge der Extremität der Fälle, der Extre­ mität der Gestaltung bis in die Sprache hinein der gemeinsame gesellschaft­ liche Hintergrund hervor. Dass Vautrin und Goriot in gleicher Weise Opfer der kapitalistischen Gesellschaft und Rebellen gegen deren Konsequenzen sind, dass die Grundlage der Handlungen von Vautrin und der Vicomtesse de Beauséant auf einer ähnlichen halbrichtigen Erfassung der Gesellschaft und ihrer Widersprüche beruht, dass vornehmer Salon und Zuchthaus sich nur quantitativ und zufällig voneinander unterscheiden und tiefe gemeinsame Züge an sich tragen, dass bürgerliche Moral und offenes Verbrechen unmerk­ lich ineinander übergehen usw. usw., kann gerade nur mit Hilfe dieser extrem auf die Spitze getriebenen unwahrscheinlichen Fälle gestaltet werden. Ja noch mehr: durch die Häufung von extremen Fällen und auf der Grundlage der richtigen Widerspiegelung jener gesellschaftlichen Widersprüche, die ihnen gerade in ihrer Extremität zugrunde liegen, entsteht eine Atmosphäre, in der das Extreme und Unwahrscheinliche sich selbst aufhebt, in der aus den Fällen und durch sie die gesellschaftliche Wahrheit der kapitalistischen Gesellschaft in einer sonst unmöglich wahrnehmbaren und erlebbaren Krassheit und Voll­ ständigkeit zutage tritt. 174


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Wir sehen, wie der ganze Inhalt des Kunstwerks zur Form werden muss, damit seine wahre Inhaltlichkeit zur künstlerischen Wirkung gelange. Die Form ist nichts anderes als die höchste Abstraktion, die höchste Art der Kondensierung des Inhalts, des Auf-die-Spitze-Treibens seiner Bestimmun­ gen, als die Herstellung der richtigen Proportionen zwischen den einzelnen Bestimmungen, der Hierarchie der Wichtigkeit zwischen den einzelnen Widersprüchen des Lebens, die das Kunstwerk widerspiegelt. Man müsste natürlich diesen Charakter der Form auch an einzelnen Formkategorien der Kunst studieren, nicht bloß an den allgemeinen der Komposition, wie wir dies bis jetzt getan haben. Wir können hier, da unsere Aufgabe nur die allgemeine Bestimmung der Form und seiner Objektivität ist, unmöglich auf die einzelnen Formkategorien eingehen. Wir greifen auch hier nur ein Beispiel heraus, das Beispiel der Handlung, der Fabel, die seit Aristoteles im Mittelpunkt der Formlehre der Literatur steht. Es ist eine formelle Forderung an Epik und Dramatik, dass ihr Aufbau auf einer Fabel basiert sei. Ist aber diese Forderung wirklich nur eine formelle, eine vom Inhalt abstrahierende? Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir diese formelle Forderung gerade in ihrer formellen Abstraktheit analysieren, so kommen wir zu der Konsequenz, dass nur durch die Handlung die Dialek­ tik von menschlichem Sein und Bewusstsein ausgedrückt werden kann, dass nur, indem der Mensch handelt, der Gegensatz zwischen dem, was er objektiv ist, und dem, was er zu sein sich einbildet, nacherlebbar gestaltet zum Aus­ druck kommen kann. Überall sonst wäre der Dichter entweder gezwungen, die Gestalten so zu nehmen, wie sie über sich selbst denken, sie also aus der bornierten Perspektive ihrer Subjektivität darzustellen, oder er müsste den Gegensatz zwischen Einbildung und Sein nur behaupten, könnte ihn also nicht sinnlich nacherlebbar machen. Die Forderung, die künstlerische Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Form einer Fabel zu gestalten, ist also nicht von Ästhetikern ausgeklügelt worden, sondern ist aus der – urwüchsig materialistischen, urwüchsig dialektischen – Praxis der großen Dichter (unbeschadet ihrer oft idealistischen Weltanschauung) ent­ sprungen und ist von der Ästhetik formuliert und als formelles Postulat auf­ gestellt worden, ohne dass die geforderte Form als allgemeinste, abstrakteste Widerspiegelung einer grundlegenden Tatsache der objektiven Wirklichkeit erkannt worden wäre. Es wird die Aufgabe einer marxistischen Ästhetik sein, diesen Widerspiegelungscharakter der formellen Momente der Kunst kon­ kret aufzudecken. Hier konnten wir nur auf das Problem selbst hinweisen, das freilich auch im Falle der Fabel viel komplizierter ist, als wir es in dieser 175


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kurzen Darstellung darlegen konnten. (Man denke z. B. auch an die Bedeu­ tung der Fabel als eines Mittels zur Gestaltung des Prozesses.) Diese Dialektik von Inhalt und Form, dieses ihr wechselseitiges Umschla­ gen ineinander kann selbstverständlich an allen Punkten der Entstehung des Aufbaus und der Wirkung des Kunstwerks verfolgt werden. Wir weisen wieder nur auf einige wichtige Punkte hin. Wenn wir z. B. das Problem der Thematik nehmen, so haben wir es auf den ersten Anblick mit einem inhaltlichen Prob­ lem zu tun. Untersuchen wir aber die Frage der Thematik nur etwas näher, so sehen wir, dass ihre Breite und Tiefe unmittelbar in die entscheidenden Form­ probleme umschlägt. Ja, man kann im Laufe der Untersuchung der Geschichte einzelner Formen sehr klar sehen, wie das Auftreten und die Eroberung einer neuen Thematik eine Form von wesentlichen neuen inneren Formgesetzen, von der Komposition bis zur Sprache, hervorbringt. (Man denke an den Kampf um das bürgerliche Drama im 18. Jahrhundert und an die Entstehung eines ganz neuen Typus des Dramas bei Diderot, Lessing und dem jungen Schiller.) Noch auffallender ist dieses Umschlagen von Inhalt in Form und umge­ kehrt in der Wirkung der Kunstwerke insbesondere dann, wenn wir diese Wirkung über lange Strecken der Geschichte verfolgen. Es zeigt sich dort, dass gerade jene Werke, in denen dieses gegenseitige Ineinanderumschlagen von Inhalt und Form am ausgebildetsten ist, deren Durchformung also den höchsten Grad der Vollendung erreicht hat, am meisten »naturhaft« wirken (man denke an Homer, Cervantes, Shakespeare usw.). Diese »Kunstlosigkeit« der größten Kunstwerke verdeutlicht nicht bloß dieses Problem des gegen­ seitigen Umschlagens ineinander von Inhalt und Form, sondern zugleich auch die Bedeutung dieses Umschlagens: die Begründung der Objektivität des Kunstwerks. Je »kunstloser« ein Kunstwerk ist, je mehr es bloß als Leben, als Natur wirkt, desto klarer kommt in ihm zum Vorschein, dass es eben die konzentrierte Widerspiegelung seiner Periode ist, dass die Form in ihm nur die Funktion hat, diese Objektivität, diese Widerspiegelung des Lebens in der größten Konkretheit und Klarheit der es bewegenden Widersprüche zum Ausdruck zu bringen. Dagegen wird jede Form, die dem Rezeptiven als Form zu Bewusstsein kommt, eben weil sie eine bestimmte Selbständigkeit dem Inhalt gegenüber bewahrt und nicht vollständig in den Inhalt umschlägt, notwendig als Ausdruck einer Subjektivität des Dichters und nicht ganz als Widerspiegelung der Sache selbst wirken (Corneille und Racine im Vergleich zu den griechischen Tragikern oder Shakespeare). Dass die selbständig her­ vortretende Inhaltlichkeit einen eben solchen subjektivistischen Charakter hat wie ihr formeller Gegenpol, haben wir bereits gesehen. 176


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Den bedeutenden Ästhetikern früherer Perioden ist dieses Wechselver­ hältnis von Form und Inhalt selbstverständlich nicht entgangen. Schiller hat z. B. die eine Seite dieser Dialektik klar erkannt und scharf formuliert, wenn er die Aufgabe der Kunst darin erblickt, dass die Form den Stoff vertilge. Aber damit hat er eine idealistisch einseitige, eine subjektivistische Formulierung des Problems gegeben. Denn das bloße Übergehen des Inhalts in Form muss ohne den dialektischen Gegenschlag notwendig zu einer aufgebauschten Selbständigkeit der Form, zu ihrer Subjektivierung führen, wie dies nicht nur die Theorie, sondern auch die dichterische Praxis Schillers nicht selten zeigt. Es wäre wiederum die Aufgabe einer marxistischen Ästhetik, die Objek­ tivität der Form als Moment des künstlerischen Schaffensprozesses konkret aufzuzeigen. Die Aufzeichnungen der großen Künstler der Vergangenheit bieten uns in dieser Hinsicht ein fast unerschöpfliches Material, an dessen Bearbeitung wir bis jetzt überhaupt nicht herangetreten sind. Die bürgerliche Ästhetik konnte mit diesem Material sehr wenig anfangen, da sie dort, wo sie die Objektivität der Formen anerkannte, diese Objektivität nur in mys­ tischer Weise fassen konnte und damit aus der Objektivität der Form eine sterile Form-Mystik machen musste. Es wird die Aufgabe einer marxistischen Ästhetik sein, auf dem Wege der Erkenntnis des Widerspiegelungscharakters der Formen aufzuzeigen, wie sich diese Objektivität im Prozess des künst­ lerischen Schaffens als Objektivität durchsetzt, als Wahrheit, die unabhängig vom Bewusstsein des Künstlers ist. Diese objektive Unabhängigkeit vom Bewusstsein des Künstlers fängt bereits bei der Thematik an. In jedem Thema stecken bestimmte künstleri­ sche Möglichkeiten. Selbstverständlich steht es dem Künstler »frei«, eine die­ ser Möglichkeiten zu wählen oder das Thema zum Sprungbrett eines anders gearteten künstlerischen Ausdrucks zu machen. In diesem Fall muss jedoch ein Widerspruch zwischen dem Gehalt des Themas und der künstlerischen Bearbeitung entstehen, der durch keine noch so kunstvolle Behandlung aus der Welt geschafft werden kann. (Man denke an Maxim Gorkis treffende Kritik an Leonid Andrejews »Finsternis«.) Diese Objektivität geht aber über den Zusammenhang des Gehalts, der Thematik und der künstlerischen For­ mung hinaus. Wenn wir eine marxistische Theorie der Genres haben werden, so werden sehen können, dass ein jedes Genre seine bestimmten objektiven Gesetze der Gestaltung hat, die kein Künstler, bei Strafe der Zerstörung seines Werks, unberücksichtigt lassen kann. Wenn z. B. Zola in seinem Roman »L’œuvre« die novellistische Grundstruktur des Aufbaus aus Balzacs meisterhafter 177


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Novelle »Le chef d’œuvre inconnu« übernahm und seine Darstellung trotzdem zu einem Roman ausweitete, so zeigt sein Scheitern dabei ganz klar, mit welch tiefer künstlerischer Bewusstheit Balzac zur Darstellung die­ ser Künstlertragödie die Form der Novelle gewählt hat. Die novellistische Gestaltung bei Balzac ergibt sich aus der Wesensart des Themas und des Stoffes selbst. Die Tragödie des modernen Künstlers, die tra­ gische Unmöglichkeit, mit den spezifischen Ausdrucksmitteln der modernen Kunst, die nur Widerspiegelungen des spezifischen Charakters des modernen Lebens und der aus ihm entstehenden Weltanschauung sind, ein klassisches Kunstwerk zu schaffen, drängt Balzac auf den engsten Raum zusammen. Er gestaltet bloß den Zusammenbruch eines solchen Künstlers und kontrastiert ihn nur mit zwei anderen wichtigen, weniger konsequenten und darum nicht tragischen Künstlertypen. Damit konzentriert er alles auf dieses eine hier entscheidende Problem, das in der knappen, aber bewegten Handlung, in der Selbstauflösung des Schaffens der Zentralfigur durch Selbstmord und in der Zerstörung ihres Werkes adäquat zum Ausdruck kommt. Eine nicht novellis­ tische, eine romanhafte Behandlung dieses Themas müsste einen ganz ande­ ren Stoff, eine ganz anders geartete Handlung wählen. Denn sie müsste den ganzen notwendigen Entstehungsprozess all dieser künstlerischen Probleme aus dem gesellschaftlichen Sein des modernen Lebens in breiter Vollständig­ keit aufrollen und gestalten (so wie es Balzac selbst für die moderne Bezie­ hung von Literatur und Journalismus in »Les illusions perdues« getan hat). Dazu müsste sie aber über den für solche Zwecke zu engen und schmalen Katastrophencharakter des Novellenstoffes hinausgehen, müsste also auch einen Stoff finden, der geeignet ist, diese Breite und Mannigfaltigkeit der hier zu gestaltenden Bestimmungen adäquat in lebendige Handlung umzusetzen. Diese Umsetzung fehlt bei Zola. Freilich hat er noch eine Reihe von anderen Motiven in seine Darstellung hineingebracht, um dem novellistischen Thema die Breite der Romanform geben zu können. Aber diese neuen Motive (Kampf des Künstlers mit der Gesellschaft, Gegensatz des echten und streberhaften Künstlers usw.) entstammen nicht aus der inneren Dialektik des ursprüng­ lichen, novellistischen Themas und bleiben deshalb auch in der Ausführung einander äußerlich, sie fügen sich nicht zu dem breiten, vielfältigen Zusam­ menhang zusammen, der die Grundlage der Gestaltung eines Romans bildet. Dieselbe Unabhängigkeit vom Bewusstsein des Künstlers zeigen die ein­ mal entworfenen Gestalten und Fabeln der Dichtungen. Obwohl sie im Kopfe des Dichters entstanden sind, haben sie ihre eigene Dialektik, die der Dichter nachzeichnen und zu Ende führen muss, wenn er nicht sein Werk zerstören 178


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will. Engels hat dieses objektive Eigenleben der Gestalten Balzacs und das ihrer Schicksale sehr tief aufgezeigt, indem er nachwies, dass die Dialektik der gestalteten Welt Balzacs ihn als Dichter zu anderen Konsequenzen geführt hat, wie es jene waren, die die Grundlage seiner bewussten Weltanschauung bildeten. Das entgegengesetzte Beispiel lässt sich an stark subjektivistischen Dichtern wie z. B. Schiller oder Dostojewski zeigen. Im Kampfe zwischen der Weltanschauung des Dichters und der inneren Dialektik seiner einmal entworfenen Gestalten siegt sehr oft die Subjektivität des Dichters und zer­ stört das, was er selbst sehr groß entworfen hat. So verzerrt z. B. Schiller aus kantisch-moralischen Gründen den großen, von ihm selbst entworfenen objektiven Gegensatz zwischen Elisabeth und Maria Stuart (den Kampf von Reformation und Gegenreformation), so kommt Dostojewski, wie Gorki einmal treffend bemerkt hat, dazu, seine eigenen Gestalten zu verleumden. Diese objektive Dialektik der Form ist aber gerade wegen ihrer Objektivi­ tät eine historische. Die idealistische Aufblähung der Form zeigt sich gerade darin am deutlichsten, dass sie aus den Formen nicht bloß mystisch selb­ ständige, sondern auch »ewige« Wesenheiten macht. Diese idealistische Ent­ historisierung der Form muss dieser jede Konkretheit, jede Dialektik nehmen. Die Form wird zu einem starren Modell, zu einem steifen Schulbeispiel, das in leblos mechanischer Weise nachgeahmt werden soll. Die bedeutenden Ästhetiker der klassischen Periode sind aber auch sehr oft über diese undia­ lektische Auffassung der Form hinausgegangen. Lessing z. B. hat mit großer Klarheit die tiefen Wahrheiten der Poetik von Aristoteles als das Aussprechen bestimmter Gesetze der Tragödie erkannt. Er hat aber zugleich klar gesehen, dass es auf das lebendige Wesen, auf die immer neue, immer modifizier­ tere Anwendung dieser Gesetze und nicht auf deren mechanische Befolgung ankommt. Er stellt also in einer lebendigen und konsequenten Weise dar, dass Shakespeare, der sich in keiner Äußerlichkeit an Aristoteles hält, der viel­ leicht Aristoteles gar nicht gekannt hat, das Wesentliche dieser Gesetze, nach Lessings Auffassung der tiefsten Gesetze des Dramas, stets in neuer Weise erfüllt, während die sklavenhaft dogmatischen Schüler der Worte Aristoteles’, die französischen Klassizisten, gerade an den wesentlichen Problemen, an dem lebendigen Erbe Aristoteles’ achtlos vorbeigehen. Aber eine richtige historisch-dialektische, historisch-systematische For­ mulierung der Objektivität der Form, ihre konkrete Anwendung auf die sich ständig wandelnde historische Wirklichkeit ist nur durch die materialistische Dialektik möglich geworden. Marx hat in der Fragment gebliebenen Ein­ leitung zu seinem Werk »Zur Kritik der politischen Ökonomie« die beiden 179


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großen Probleme, die sich aus der historischen Dialektik der Objektivität der Form ergeben, am Falle des Epos tief und klar bestimmt. Er zeigt erstens, dass eine jede künstlerische Form in ihrer Entstehung und in ihrem Wachstum an bestimmte gesellschaftliche und durch die Gesellschaft hervorgebrachte weltanschauliche Voraussetzungen gebunden ist, dass nur aus diesen Voraus­ setzungen heraus jene Thematik, jene Formelemente entstehen können, die eine bestimmte Form zur höchsten Blüte bringen (Mythologie als Grund­ lage des Epos). Auch dieser Analyse der historischen, der gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung der künstlerischen Formen liegt bei Marx die Konzeption der Objektivität der künstlerischen Formen zugrunde. Seine scharfe Betonung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung, der Tat­ sache, »daß bestimmte Blütezeiten derselben (der Kunst) keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft … stehen«, zeigt, dass er in diesen Blütezeiten (die Griechen, Shakespeare) objektive Gipfel der Kunstentwicklung erblickt, dass er den künstlerischen Wert als objektiv Erkennbares, objektiv Bestimmbares betrachtet hat. Eine jede Verwandlung dieser tiefen und dialektischen Theorie von Marx in eine relativistische, vul­ gäre Soziologie bedeutet also die Herabzerrung des Marxismus in den Sumpf der bürgerlichen Ideologie. Noch klarer kommt die dialektische Objektivität in Marx’ zweiter Fra­ gestellung bezüglich der Kunstentwicklung zum Ausdruck. Und es ist sehr bezeichnend für das primitive Anfangsstadium unserer marxistischen Ästhe­ tik, für unser Zurückbleiben hinter der allgemeinen Entwicklung der mar­ xistischen Theorie, dass diese zweite Fragestellung unter den marxistischen Ästhetikern sich einer sehr geringen Popularität erfreut hat und vor dem Erscheinen der Arbeit Stalins über Fragen der Sprachwissenschaft so gut wie niemals konkret angewandt wurde. Marx sagt: »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesell­ schaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.« Hier ist das Problem der Objektivität der künstlerischen Form mit großer Klarheit ausgesprochen. Hat sich Marx in der ersten Frage mit der künstlerischen Form im Zustand der Entstehung, in statu nascendi beschäftigt, so wirft er hier die Frage des geformten Kunst­ werks, die Frage der objektiven Gültigkeit des geformten Kunstwerks, der künstlerischen Form auf, und zwar in einer Weise, die die Erforschung dieser Objektivität zur Aufgabe macht, aber an der Objektivität selbst – selbstver­ ständlich im Rahmen einer konkreten historischen Dialektik – keinen Zweifel 180


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lässt. Das Manuskript von Marx bricht leider mitten in seinen tiefen Dar­ legungen ab. Aber die erhaltenen Erörterungen von Marx zeigen ganz klar, dass er auch hier die Formen der griechischen Kunst aus den spezifischen Inhalten des griechischen Lebens entspringen lässt, dass für ihn die Form aus dem gesellschaftlich-geschichtlichen Inhalt entspringt und die Aufgabe hat, diesen Inhalt auf die Höhe einer künstlerisch gestalteten Objektivität zu erheben. Die marxistische Ästhetik kann nur von diesem Begriff der dialektischen Objektivität der künstlerischen Form in ihrer historischen Konkretheit aus­ gehen. Das besagt: sie muss jeden Versuch von sich weisen, die künstlerischen Formen entweder soziologisch zu relativieren, die Dialektik in Sophistik zu verwandeln und den Unterschied zwischen Blütezeit und Verfall, den objek­ tiven Unterschied zwischen hoher Kunst und Pfuschertum zu verwischen, also der künstlerischen Form ihren Objektivitätscharakter zu nehmen. Sie muss aber ebenso entschieden jeden Versuch abweisen, den künstlerischen Formen eine abstrakte formalistische Scheinobjektivität zu verleihen, indem unabhängig vom geschichtlichen Prozess, aus rein formellen Momenten her­ aus, die Kunstform, der Unterschied der formalen Gestaltungen, abstrakt konstruiert wird. Diese Konkretisierung des Objektivitätsprinzips in der künstlerischen Form kann die marxistische Ästhetik nur im ständigen Kampf gegen die heute herrschenden bürgerlichen Strömungen der Ästhetik und deren Ein­ wirkung auf unsere Ästhetiker vollziehen. Gleichzeitig mit der dialektischen und kritischen Bearbeitung des großen Erbes, das uns die Blütezeit der Geschichte der künstlerischen Theorie und Praxis gibt, muss ein unnach­ sichtiger Kampf gegen die heute herrschenden Subjektivierungstendenzen der Kunst in der bürgerlichen Ästhetik geführt werden. Es ist im Resultat einerlei, ob die Form subjektivistisch geleugnet und zum bloßen Ausdruck der sogenannten großen Persönlichkeit gemacht (Schule Stefan Georges), ob sie mystisch-objektivistisch überspannt und zur selbständigen Wesenheit aufgebauscht (Neoklassizismus), oder ob sie mechanistisch-objektivistisch geleugnet und herabgesetzt wird (Theorie der Montage). Alle diese Tenden­ zen laufen letzten Endes darauf hinaus, Form und Inhalt voneinander zu trennen, sie in einen starren Gegensatz zueinander zu bringen und damit die dialektische Grundlage der Objektivität der Form zu zerstören. Wir müssen in diesen Tendenzen denselben imperialistisch-parasitären Charakter erken­ nen und entlarven, den die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie in der Philosophie des imperialistischen Zeitalters schon längst entdeckt und 181


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entlarvt hat. (In dieser Beziehung ist die Konkretisierung der marxistischen Ästhetik hinter der allgemeinen Entwicklung des Marxismus zurückgeblie­ ben.) Es muss gezeigt werden, dass hinter dem Zerfall der künstlerischen Form in der Niedergangsperiode der Bourgeoisie, hinter den ästhetischen Theorien dieser Periode, die diesen subjektivistischen Zerfall oder die eben­ falls subjektivistische Verknöcherung der Formen glorifizieren, derselbe Verfaulungsprozess der Bourgeoisie in der Periode des Monopolkapitalismus zum Ausdruck kommt wie auf anderen ideologischen Gebieten. Es hieße, die tiefe Theorie von Marx über die ungleichmäßige Entwicklung der Kunst zu einer relativistischen Karikatur verzerren, wenn man mit ihrer Hilfe diesen Zerfall zum Wachstum einer neuen Form umdichten würde. Ein besonders wichtiges, weil besonders verbreitetes und irreführendes Erbstück dieser Subjektivierungstendenzen der Kunst ist die heute modische Verwechslung von Form mit Technik. Eine technologische Auffassung des Denkens ist in der neueren Zeit auch in der bürgerlichen Logik herrschend geworden, eine Theorie der Logik als eines formalistischen Instruments. Die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie hat aber alle solche Tendenzen als idealistisch-agnostizistisch erkannt und entlarvt. Die Identifizierung von Technik und Form, die Auffassung der Ästhetik als bloßer Technologie der Kunst, steht erkenntnistheoretisch auf genau demselben Niveau und ist der Ausdruck ebensolcher subjektivistisch-agnostizistischer Weltanschauungs­ tendenzen. Die Tatsache, dass die Kunst eine technische Seite hat, dass diese Technik erlernt werden muss (freilich nur vom wirklichen Künstler erlernt werden kann), hat mit dieser Frage, mit der angeblichen Identität von Tech­ nik und Form nichts zu tun. Auch das richtige Denken bedarf einer Schu­ lung, einer erlernbaren, einer bemeisterbaren Technik; aber daraus kann nur subjektivistisch-agnostizistisch der technizistische Hilfsmittelcharakter der Kategorien des Denkens gefolgert werden. Jeder Künstler bedarf einer hoch­ ausgebildeten künstlerischen Technik, um das ihm vorschwebende Spiegel­ bild der Welt in einer künstlerisch überzeugenden Weise zur Darstellung zu bringen. Das Erlernen und die Meisterung einer solchen Technik sind außer­ ordentlich wichtige Aufgaben. Um aber hier keine Verwirrungen aufkommen zu lassen, ist es unumgäng­ lich notwendig, die Stellung der Technik in der Ästhetik dialektisch-materia­ listisch richtig zu bestimmen. Auch hier hat Lenin in seinen Bemerkungen über die Dialektik des Zweckes und der subjektiv zweckmäßigen Tätigkeit des Menschen eine vollständig klare Antwort gegeben und mit der Feststellung des objektiven Zusammenhanges zugleich die aus diesem Zusammenhangt 182


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entstehenden subjektivistischen Illusionen entlarvt. Er schreibt: »In Wirk­ lichkeit werden die menschlichen Zwecke durch die objektive Welt erzeugt und setzen sie voraus – finden sie als das Gegebene, Vorhandene vor. Aber dem Menschen scheint es, daß seine Zwecke von außerhalb der Welt stammen, von der Welt unabhängig sind.« Die technizistischen Theorien der Identi­ fizierung von Technik und Form gehen ausnahmslos von diesem subjekti­ vistisch verselbständigten Schein aus, d. h. sie sehen nicht den dialektischen Zusammenhang von Wirklichkeit, Inhalt, Form und Technik, sehen nicht, wie Wesenart und Wirksamkeit der Technik notwendig von diesen objek­ tiven Faktoren bestimmt sind, sehen nicht, dass die Technik ein Mittel ist, die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit durch das gegenseitige Umschlagen ineinander von Inhalt und Form zum Ausdruck zu bringen; dass aber die Technik nur ein Mittel hierzu ist und nur aus diesem Zusammen­ hang, aus ihrer Abhängigkeit von diesem Zusammenhang richtig verstanden werden kann. Wenn man die Technik so, in der richtigen Abhängigkeit vom objektiven Problem des Inhalts und der Form bestimmt, ist ihr notwendig subjektiver Charakter ein notwendiges Moment des dialektischen Gesamt­ zusammenhangs der Ästhetik. Erst wenn die Technik verselbständigt wird, erst wenn sie in dieser Ver­ selbständigung an die Stelle der objektiven Form tritt, entsteht die Gefahr der Subjektivierung der Probleme der Ästhetik, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens löst sich die isoliert aufgefasste Technik von den objektiven Problemen der Kunst ab, erscheint als selbständiges, von der Subjektivität des Künstlers frei dirigiertes Instrument, mit dem man an ein beliebiges Material herantre­ ten und aus ihm Beliebiges formen kann. Die Verselbständigung der Technik kann sehr leicht in eine Ideologie des subjektivistischen Formvirtuosentums, des Kultus der äußerlichen »Formvollendung«, des Ästhetizismus ausarten. Zweitens und im engsten Zusammenhang damit verdeckt das Übertreiben der Relevanz der rein technischen Probleme der Darstellung die tieferge­ lagerten, unmittelbar schwerer wahrnehmbaren Probleme der eigentlichen künstlerischen Formung. Diese Verdeckung ist in der bürgerlichen Ideologie parallel mit dem Zerfall und der Verknöcherung der künstlerischen Formen, parallel mit dem Verlorengehen des Sinnes für die eigentlichen Probleme der künstlerischen Form entstanden. Die alten großen Ästhetiker haben stets die entscheidenden Formprobleme in den Vordergrund gestellt und damit die richtige Hierarchie innerhalb der Ästhetik bewahrt. Schon Aristoteles sagt, dass der Dichter seine Stärke mehr in der Handlung als in den Versen zeigen muss. Und es ist sehr interessant, zu sehen, dass die verächtliche Abneigung 183


Kritischer Realismus

von Marx und Engels gegen die »kleinen Klugscheißereien« (Engels) der zeitgenössischen inhaltsleeren Formvirtuosen, der hohlen »Meister der Tech­ nik« so weit ging, dass sie sogar die schlechten Verse von Lassalles »Sickin­ gen« mit Nachsicht behandelten, weil Lassalle in dieser Tragödie einen – frei­ lich verfehlten und von ihnen als verfehlt verurteilten – Versuch gewagt hatte, bis zu den wirklichen, tiefen Inhalts- und Formproblemen des Dramas vorzu­ stoßen. Diesen Versuch lobte derselbe Marx, der, wie sein Verkehr mit Heine zeigt, nicht nur in die wesentlichen Probleme der Kunst, sondern auch in die technischen Details der künstlerischen Technik so tief eingedrungen war, dass er imstande war, Heine konkrete technische Ratschläge zur Verbesserung seiner Gedichte zu geben.

V Die Aktualität der Objektivitätsfrage für unsere Literatur und Literaturtheorie Marx hat in der Kritik des Gothaer Programms bereits im Jahre 1875 die grundlegenden Züge der ersten Periode des Sozialismus theoretisch darge­ legt. Lenin und Stalin haben auf der Grundlage der Erfahrungen der Diktatur des Proletariats und des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion diese theoretische Voraussicht von Marx konkretisiert und weitergebildet. In seiner Rede auf dem XVII. Parteitag der KPdSU gibt Stalin über die für uns hier wesentliche Frage folgende Charakteristik: »Kann man aber sagen, daß wir bereits alle Überreste des Kapitalismus in der Wirtschaft überwunden haben? Nein, das kann man nicht sagen. Noch viel weniger kann man sagen, daß wir die Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen überwunden haben. Das kann man nicht nur deshalb nicht sagen, weil das Bewußtsein der Menschen in seiner Entwicklung hinter ihrer wirtschaftlichen Lage zurück­ bleibt, sondern auch deshalb nicht, weil immer noch eine kapitalistische Ein­ kreisung besteht, die sich bemüht, die Überbleibsel des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewusstsein der Menschen der Sowjetunion zu beleben und zu unterstützen, und der gegenüber wir Bolschewiki immer das Pulver trocken halten müssen.« Der Kampf um die Frage der Objektivität der Kunst ist ein Teil dieses Kampfes gegen die kapitalistischen Überreste im Bewusstsein der Menschen, ist ein Kampf gegen die ideologische Einkreisung des Aufbaus des Sozialismus durch den verfaulenden Monopol-Kapitalismus. Diese Einkreisung ist auf den spezifisch ideologischen Gebieten von einer besonderen Gefährlichkeit. 184


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Maxim Gorki hat in seinem Schlusswort auf einem Plenum des Schriftsteller­ verbandes der Sowjetunion sehr richtig auf das Zurückbleiben der Intelligenz hinter dem ungeheuren Sprung der Werktätigen, insbesondere der Bauern, hingewiesen. Er sagte: »Daß der Mensch des 17. Jahrhunderts, der russische Bauer aus seinem Elendsanteil hinausgesprungen ist, das ist eine Tatsache. Und der intellektuelle Teil der Bevölkerung ist aus seinem Elendsanteil noch nicht hinausgesprungen.« Dieses Zurückbleiben ist auf dem Gebiet der Lite­ ratur besonders auffällig. Und dies ist kein Zufall. Die notwendige Freiheit der Bewegung, die notwendige Freiheit in der Wahl der schöpferischen Metho­ den usw., kombiniert mit der theoretischen Zurückgebliebenheit eines Teils der Marxisten in den speziellen Fragen von Literatur und Kunst, bringt eine verhältnismäßig theoretische Wehrlosigkeit gegen das Eindringen bürgerli­ cher Ideologien hervor. Der Mangel an einer marxistisch tief fundierten und den Zerfall der bürgerlichen Kunst konkret und überzeugend beleuchten­ den Literaturtheorie und -kritik gibt den Modeströmungen der Literatur und Literaturtheorie des verfaulenden Imperialismus bei uns noch immer einen allzu breiten Spielraum. Die Kritik Lenins, die er seinerzeit im Gespräch mit Clara Zetkin über diese Kapitulation vor den Moden der kapitalistischen Welt geäußert hat, hat auch heute noch nicht ihre Aktualität verloren. »Warum das Neue als Gott anbeten«, sagt Lenin, »dem man gehorchen soll, nur weil es ›das Neue‹ ist? Das ist Unsinn, nichts als Unsinn. Übrigens ist auch viel konventionelle Kunstheuchelei dabei im Spiele und Respekt vor der Kunst­ mode im Westen. Selbstverständlich unbewußt. Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet, zu beweisen, daß wir auf der Höhe der zeit­ genössischen Kultur stehen. Ich habe den Mut, mich als Barbar zu zeigen.« Selbstverständlich hat sich die Lage, seit Lenin diese Worte sprach, geän­ dert. Es sind neue literarische Moden im Westen entstanden, und man soll es nicht leugnen, die Kritiklosigkeit ihnen gegenüber hat etwas abgenommen. Aber es wäre eine große Übertreibung, zu sagen, dass sie vollständig auf­ gehört hätte. Freilich, wenn wir diese Frage – jetzt allerdings nur in bezug auf das von uns aufgeworfene Problem der Objektivität bzw. Subjektivität der Kunst – betrachten, dürfen wir auch nicht übersehen, dass die objek­ tive Entwicklung des sozialistischen Aufbaus, die Hunderte von Millionen erfassende Kulturrevolution, mit einem Wort: der siegreiche Vormarsch des sozialistischen Aufbaus, sehr vieles auch in der ideologischen und literari­ schen Lage modifiziert hat. Aber alle diese Modifikationen können nichts daran ändern, dass jede subjektive Auffassung der Kunst, jedes Leugnen oder jede mechanistische Missdeutung ihres Widerspiegelungscharakters zu den 185


Kritischer Realismus

ideologischen Überresten des Kapitalismus gehört. Wir bestreiten also nicht, dass in der literarischen Praxis und in der Theorie sehr viele Fälle vorkommen, wo Schriftsteller solche Tendenzen mit dem besten Willen und in der ehr­ lichsten Überzeugung, am Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten, aufneh­ men, bearbeiten und weiterbilden. Aber der beste Wille und die ehrlichste Überzeugung können die Falschheit der Methode, ihre Ungeeignetheit zum Ausdruck des Neuen nicht ändern, sie können nichts daran ändern, dass Sub­ jektivismus oder Mechanismus keine Hilfsmittel, sondern Hindernisse für den Ausdruck jenes ungeheuer Neuen und Originellen sind, das sich täglich und stündlich in der Sowjetwirklichkeit abspielt. Wenn wir indessen die subjektivistische Auffassung der Kunst als bürger­ liches Überbleibsel bekämpfen, so sind wir uns darüber im klaren, dass es sich hier um sehr verschiedene Tendenzen handelt, die keineswegs über einen Kamm geschoren werden dürfen. Wir finden in Überwindung begriffene bürgerliche ideologische Formen, die von dem in sie eindringenden neuen sozialistischen Inhalt gesprengt werden, ohne dass die Menschen, die sich dieser Formen bedienen, ein Bewusstsein darüber hätten, wie eklektisch bei ihnen Form und Inhalt auseinanderklaffen und einander gegenseitig behin­ dern. Wir haben Beispiele von Kapitulationen oder wenigstens von Kon­ zessionen gegenüber den intellektuellen Moden des Westens, die ebenfalls einen Eklektizismus hervorbringen, wenn sie nicht sogar den neuen Inhalt verfälschen, ihn auf ein niedrigeres Niveau herabzerren. Und wir haben es endlich – und dies ist ein sehr wichtiger Punkt, der immer wieder betont werden muss – auch mit feindlichen Ideologien zu tun, mit verschiedenen Abarten des Menschewismus, Trotzkismus usw., die diese Unklarheit, diese Verworrenheit unserer Praxis, diese mangelnde Festigkeit und Konkretheit unserer Literaturtheorie dazu ausnützen, um an dieser Front ideologische Stützpunkte für sich zu finden. Wir wiederholen, es wäre falsch, alle diese Tendenzen gleichmacherisch zu behandeln. Die Unterschiede dürfen nicht übersehen werden, aber diese Differenzierung darf nicht dazu führen, dass wir auch nur für einen Augenblick vergessen, dass Idealismus und Subjektivismus feindliche Ideologien sind, die unnachsichtig bekämpft werden müssen. Die Differenzierung kann und muss sich auf die Formen der Bekämpfung beziehen, auf die Frage, ob wir einen Vernichtungskampf gegen solche Ideo­ logien führen oder durch den ideologischen Kampf die ehrlich Irrenden über­ zeugen und auf den richtigen Weg führen wollen. Die Erkenntnis des historischen Wachstums, der gesellschaftlichen Wurzeln, ja der historischen Notwendigkeit falscher Tendenzen kann an 186


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung nichts ändern. Jeder, der unsere Ana­ lyse der subjektivistischen Tendenzen in der Ästhetik der niedergehenden Bourgeoisie aufmerksam gelesen hat, wird gesehen haben, dass diese Ten­ denzen keineswegs an der Grenze der Sowjetunion haltgemacht haben. Ihr Eindringen in unsere Ideologie kann auch nicht bloß die Folge der kapitalis­ tischen Einkreisung sein, sondern muss zugleich Wurzeln in den objektiven und subjektiven Faktoren unserer eigenen Entwicklung (vor allem in den letzteren) haben. Diese noch nicht vollständig liquidierten bürgerlich-ideo­ logischen Überreste treten zumeist nicht als solche, nicht selbständig auf, sondern sind in der mannigfaltigsten und kompliziertesten Weise mit ent­ stehenden neuen Entwicklungstendenzen vermischt. Die eine Tendenz ist die vulgarisierende Simplifizierung der Marx-Leninschen Parteilichkeit der Kunst, die Verwandlung der Tendenz, die nach Engels aus der objektiv künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit organisch herauswachsen soll, in eine an die photographische Reproduktion von Tageserscheinungen »anmontierte« Parole. Es handelt sich also um eine Ideologie der mecha­ nistischen »Vulgarisation« des mechanistischen Objektivismus, der infolge seiner, uns bereits bekannten, notwendigen Schranken unvermeidlich in Subjektivismus umschlagen muss. So entstanden und bestehen eine Reihe von Theorien und schöpferischen Methoden, die zur Erfassung und zur künstlerischen Wiedergabe unserer komplizierten, neuen, originellen, täg­ lich uns Neues und Überraschendes bietenden Wirklichkeit ungeeignet sind. Die an und für sich aus richtigem Instinkt entstandene Abneigung gegen die Bürgerlichkeit bestimmter Kunstformen und ihrer Theorien schlägt auf diesem Boden sehr oft in einen Kampf gegen die wirkliche künstlerische Form, gegen die dialektische Widerspiegelung der Wirklichkeit in allem Reichtum ihrer Bestimmungen durch die spezifischen Formen der Kunst um. Die an und für sich berechtigte Abneigung gegen den faulen Formalis­ mus der bürgerlichen l’art pour l’art schlägt sehr oft um in einen Kampf gegen das Spezifische der künstlerischen Formung überhaupt. Es entsteht sehr oft die Tendenz, die Kunst auf das Niveau einer unmittelbaren Tagesagitation herabzudrücken. Die Entwicklung der sozialistischen Wirklichkeit, die wachsende Unzu­ friedenheit der zu einem kulturellen Leben erwachten und erzogenen Mil­ lionenmassen mit einer Literatur, die hinter der Größe des von ihnen selbst gelebten Lebens offensichtlich zurückbleibt, musste notwendig Rückschläge hervorrufen. Ein derartiger Rückschlag ist an sich richtig und gesund. Er ist die notwendige Folge einer bestimmten Entwicklungsetappe des sozialistischen 187


Kritischer Realismus

Aufbaus. Aber die ideologischen Überreste des Kapitalismus in unserem Bewusstsein verursachen, dass dieser Rückschlag sich zuweilen in falschen, verzerrten und gefährlichen Formen äußert. Statt einer großen Kunst, einer Kunst, die die Größe der Zeit objektiv und darum adäquat widerspiegelt und gestaltet, wird eine »Kunst überhaupt« gefordert. Die berechtigte und sehr aktuelle Forderung, den künstlerischen Charakter der Formen zu studieren, die künstlerischen Formen auf ein qualitativ höheres Niveau zu erheben, an die Stelle der Monotonie den Reichtum und die Vielfältigkeit der Formen zu stellen, wird dadurch entstellt und verzerrt, dass das Formproblem subjek­ tiviert und »technisiert« wird, dass durch manche Theoretiker und Künstler die Formfrage von der Frage des Inhalts, von der Frage der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit durch Inhalt und Form des Kunstwerks isoliert und subjektivistisch-ästhetizistisch selbständig gemacht wird. Die berech­ tigte Forderung, dass die Kunst nicht vollständig in der bloßen unmittelbaren Tagesagitation aufgehe, dass sie alle großen Probleme der ganzen Epoche in ihrer ganzen Größe gestalte, schlägt zuweilen in eine Abwendung der Kunst von den Tagesfragen um. Einerlei, was bei dergleichen Tendenzen beabsich­ tigt ist, es entsteht in diesem neuen Ästhetizismus eine ähnliche Verzerrung der Probleme der Epoche, wie bei der Verwechslung der Wohlhabenheit der Kolchosbauern mit der alten und falschen Parole: »Bereichert Euch« (näm­ lich euch Kulaken) – einer Parole, die Stalin in seiner Rede auf dem XVII. Parteitag entlarvt hat. In beiden dieser Tendenzen sind subjektivistische Überreste aus der kapi­ talistischen Entwicklung deutlich sichtbar, und es ist einerlei, ob sich dieser Subjektivismus unmittelbar oder in der Form des Umschlagens des mecha­ nistischen Objektivismus in Subjektivismus äußert. Jeder ist sich darüber im klaren, dass unsere Literatur trotz einigen sehr bedeutenden Leistungen hinter der Größe unserer Epoche zurückbleibt. Man muss bloß die Berichte und Protokolle über den Unions-Kongress der Kolchosbauern lesen und sie mit dem guten Durchschnitt unserer Literatur vergleichen: wo findet man eine solche Fülle interessanter, heroischer Figuren, hinreißender, den ganzen Gang der Entwicklung zum Sozialismus hell beleuchtender Schicksale? Und jeder weiß, dass unsere Literaturtheorie und -kritik nicht imstande ist, die Literatur zu einem Einholen, ja Überholen der Wirklichkeit zu leiten. Einer der Gründe liegt ideologisch gerade in der Frage der Objektivität. Solange wir nicht wissen, wie wir an diese Probleme herangehen müssen, solange wir nur in Nebenfragen Geschicklichkeit und Wissen erwerben, jedoch an dem Hauptproblem achtlos vorbeigehen, können wir nur zufällig und spontan 188


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

durch das urwüchsige Talent einiger bedeutender Schriftsteller wirkliche Schritte vorwärts tun. Wir sprechen in den letzten Jahren sehr viel über das Problem des Erbes, zumeist aber ohne dabei auf die zentrale Frage zu sprechen zu kommen. Und diese Zentralfrage ist, dass die großen Schriftsteller der vergangenen Epochen, die Shakespeare und Cervantes, die Balzac und Tolstoi, ihre Epochen künstle­ risch adäquat, lebendig und vollständig widergespiegelt haben. Die Frage des Erbes besteht darin, unseren Schriftstellern eine lebendige Anschauung der Grundprobleme dieser adäquaten Gestaltung einer Epoche zu geben. Denn dies ist von den großen Schriftstellern der vergangenen Epochen zu lernen, und nicht irgendwelche technisch-formalen Äußerlichkeiten. Niemand kann und niemand soll heute so schreiben, wie Shakespeare oder Balzac geschrie­ ben haben. Es kommt darauf an, hinter das Geheimnis ihrer grundlegenden schöpferischen Methode zu kommen. Und dieses Geheimnis ist eben die Objektivität, die bewegte und lebendige Widerspiegelung der Epoche in dem bewegten Zusammenhang ihrer wesentlichsten Züge, die Einheit von Inhalt und Form, die Objektivität der Form als konzentriertester Widerspiegelung der allgemeinsten Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit. In seinen Thesen gegen den Proletkult sagt Lenin: »Der Marxismus erlangte seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürger­ lichen Zeitalters durchaus nicht ablehnte, sondern im Gegenteil, sich alles Wertvolle der mehr als 2000jährigen Entwicklung des menschlichen Den­ kens und der menschlichen Kultur aneignete und es verarbeitete.« (Hervor­ hebung von mir. G. L.) Wir haben das zweimal wiederholte Wort von Lenin darum hervorgehoben, weil aus ihm unzweideutig klar hervortritt erstens, dass wir nur das Wertvolle der bisherigen Kunstentwicklung als unser Erbe zu betrachten haben, zweitens aber, dass es nach Lenins Anschauung objektive Kriterien dafür gibt und geben muss, was dieses Wertvolle ist und weshalb es dieses Wertvolle ist. Unser theoretisches Zurückbleiben äußert sich darin, dass wir diese Frage kaum aufgeworfen und noch keinen wirklichen Schritt zu ihrer Lösung getan haben. Und auch dieses Problem ist das Problem der Objektivität. Man unterschätze nicht die praktische Bedeutung dieser Fragen. Ich greife nur zwei Beispiele heraus, um ihre praktische Bedeutung zu illustrieren. Beide Male handelt es sich um die beliebte Verwechslung von künstlerischer Form mit Technik, deren subjektivistischen Charakter wir bereits aufgezeigt haben. Man denke erstens an die Einschätzung der bürgerlichen Literatur 189


Kritischer Realismus

der Gegenwart. Niemand wird leugnen, dass die bedeutenden Schriftsteller des bürgerlichen Westens »Meister der Technik« sind. Wenn wir aber nicht gleichzeitig sehen, dass diese Meisterschaft oft auf einem sehr weit fortge­ schrittenen Zerfall oder einer Verknöcherung der schriftstellerischen Formen beruht, so wird unsere Bewertung theoretisch falsch und praktisch gefährlich sein. Denn der junge Sowjet-Schriftsteller, dem es selbstverständlich noch an Technik fehlt, wird sich in sehr vielen Fällen lernbegierig an das Vorbild dieser Meister wenden und von ihnen meistens für ihn Unbrauchbares lernen können. Denn diese Technik ist zumeist aufs innigste mit dem Verfall der Formen, mit dem Einschrumpfen und Dürftigwerden des Inhalts, mit dem bewussten oder unbewussten Ausweichen der Schriftsteller des Westens vor den großen Problemen ihrer Epoche, mit der subjektivistischen Ablehnung der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, mit der Isolierung des kapitalistischen Schriftstellers vom Leben der Gesellschaft usw. verknüpft. Diese Technik wird der junge Sowjet-Schriftsteller entweder überhaupt nicht anwenden können, oder er wird mit ihr Elemente jener Ideologie, die sie hervorgebracht hat, ebenfalls übernehmen. Das gesellschaftliche Sein der Schriftsteller ist es, welches bedingt, dass er auch bei uns nicht vor dieser Gefahr gefeit ist; es besteht die Möglichkeit für den Schriftsteller, zu einem vom Leben der Gesellschaft losgelösten Literaten zu entarten. Zweitens aber – und im engsten Zusammenhang mit dieser subjektivisti­ schen Verwechslung von Technik und Form – kann die daraus entspringende Überschätzung der gegenwärtigen Literatur, der mangelnde Kontakt zu den großen klassischen Vorbildern sehr viele urwüchsige Begabungen verderben. Maxim Gorki hob sehr richtig den ungeheuren Sprung der Bauernschaft aus dem halben Mittelalter in den Sozialismus hervor. Wenn wir aber über diese Frage als Schriftsteller nachdenken, so ist es klar, dass das vorkapitalistische Entwicklungsstadium in breiten Massen eine urwüchsige Begabung, eine urwüchsige Neigung zum wirklichen Erzählen, zur wirklichen, wesentli­ chen liedhaften Lyrik lebendig erhalten musste. Wenn nun diese Massen sich sprunghaft ins sozialistische Sein erheben, wenn sie sich parallel damit zu Menschen der sozialistischen Gesellschaft entwickeln, so käme es für uns dar­ auf an, diese urwüchsigen Begabungen gesund zu erhalten und sie bewusst in der Richtung einer großen sozialistischen Kunst weiterzuentwickeln. Dazu müsste man aber in ihnen ihre urwüchsige Begabung, ihre urwüchsige Neigung zu den wirklichen Formen, ihren urwüchsigen Materialismus und ihre urwüchsige Dialektik in der künstlerischen Praxis lebendig erhalten, nur bewusst machen und weiterbilden. Das ästhetizistische Hinlenken der 190


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Aufmerksamkeit solcher aus der Masse emporsteigenden Schriftsteller auf die Technik führt in erster Linie dazu, ihren urwüchsigen Formsinn zu ver­ schütten. Nur dadurch, dass wir ihnen marxistisch klar verständlich machen können, was Erzählen, was Singen usw. seinem objektiven Wesen nach ist, können wir sie wirklich fördern, ihre Aufmerksamkeit auf die wirklich wich­ tigen, wirklich fruchtbaren Fragen lenken. Und nur dadurch können wir bei ihnen eine wirklich fruchtbare Aneignung des Erbes hervorbringen. Denn wer mit der Anweisung, eine heute brauchbare, unmittelbar anwendbare schriftstellerische Technik zu erwerben, an die Lektüre von Homer, Shake­ speare oder sogar Balzac herantritt, wird notwendig enttäuscht werden müssen und kann sehr leicht aus dieser Enttäuschung heraus, aus dem nahe­ liegenden, aber falschen Gefühl, mehr unmittelbar technisch Brauchbares bei den modernen Schriftstellern zu finden, im Sumpf der imperialistischen Formzersetzung landen. Maxim Gorki hat in seinem bereits zitierten Schlusswort über das Zurückbleiben unserer Thematik hinter der Wirklichkeit gesprochen. Er sprach davon, dass Frau, Kind und insbesondere der Klassenfeind sowie die wechselnden Formen des Kampfes mit ihm in unserer Literatur unzureichend geschildert werden, dieser Vorwurf bleibt aber nicht bei der Thematik stehen. Denn wir haben in früheren Analysen ausführlich dargestellt, wie eng The­ matik und Formgebung miteinander zusammenhängen, in wie enger Wech­ selwirkung sie zueinander stehen. Das Ausweichen vor dem Reichtum, vor der Vielfältigkeit, Kompliziertheit, Widersprüchlichkeit, »Schlauheit« der Thematik lässt einerseits die Formen erstarren oder verfallen (wie wir dies im kapitalistischen Westen in krasser Klarheit sehen können); andererseits muss der Schriftsteller, dessen Formgebung nicht die notwendige objektive Umfassendheit besitzt, gewissermaßen aus schriftstellerischem Selbsterhal­ tungstrieb vor der Umfassendheit der Thematik ausweichen, eine Thematik wählen, der seine Formgebung angemessen ist, vor dem Reichtum der Wirk­ lichkeit – bewusst oder unbewusst – resigniert zurückweichen. Der revo­ lutionäre Objektivismus der Kunsttheorie des Marxismus-Leninismus, die dialektisch-materialistische Theorie der Widerspiegelung der Wirklichkeit durch Inhalt und Form eröffnen uns erst die Möglichkeit einer Kunst, die nicht hinter der großen Epoche zurückbleibt, einer Kunst, die gerade infolge der Objektivität ihres Inhalts und ihrer Form imstande ist, den großen Prozess der Umwandlung des Menschen in bewegter Lebendigkeit zu gestalten; an Stelle der trockenen und schematischen Photographie einzelner, aus dem Zusammenhang herausgerissener, fertiger und totgemachter Resultate. 191


Kritischer Realismus

Der sozialistische Realismus stellt sich als Grundaufgabe die Gestal­ tung des Entstehens und des Wachstums des neuen Menschen. Und gerade dadurch und nur dadurch, dass er diesen Entstehungsprozess mit allen seinen Schwierigkeiten, in seiner ganzen »Schlauheit« gestaltet, erreicht er seine aktivierende Wirkung. Fertige Vorbilder nützen den kämpfenden und ringenden Menschen relativ wenig. Eine wirkliche Hilfe, eine wirkliche Förderung bietet ihnen das Erlebnis, wie diese vorbildlichen Helden aus zurückgebliebenen Bauern, aus verkommenen Besprisorni usw. zu diesen vorbildlichen Helden geworden sind; aber nur, wenn dieser Prozess wirklich umfassend, wirklich lebendig, wirklich in allen seinen wichtigen objekti­ ven Bestimmungen, mit der richtigen objektiven Verteilung von Licht und Schatten, gestaltet wird. Nur indem die Schriftsteller die Gesetze dieser Ent­ wicklungen erkennen, nur indem sie mit richtiger schriftstellerischer Abs­ traktionskraft jene objektiven Formen entdecken, die diese Prozesse adäquat widerspiegeln, können sie zu wirklichen Erziehern der Millionenmassen, zu wirklichen »Ingenieuren der Seele« werden. Die Formen, die sie als kon­ zentrierteste und abstrakteste Widerspiegelung unserer Wirklichkeit ent­ decken werden, unterscheiden sich sehr wesentlich von den alten Formen. Die Aneignung des Erbes soll ja gerade dazu dienen, das herauszuarbeiten, was uns von den großen Schriftstellern der bisherigen Menschheitsentwick­ lung unterscheidet. Wir können von ihnen die Methode ihrer wesentlichen Fragestellungen erlernen und diese entsprechend abgewandelt auf unsere Epoche anwenden. Wir können z. B. lernen, dass die Dialektik der Fabel die Dialektik von Sein und Bewusstsein ist. Während aber diese Dialektik in der kapitalistischen Periode vorwiegend die Dialektik der Entlarvung gewesen ist, das Aufzeigen dessen, dass das Bewusstsein eine Selbsttäu­ schung oder einen Selbstbetrug über das Sein beinhaltet hat, handelt es sich bei uns vorwiegend um das entgegengesetzte Problem: unsere Entwicklung zeigt, welche ungeahnten Möglichkeiten von intellektuellen und morali­ schen Qualitäten in den bisher unterdrückten, von der Kultur ferngehalte­ nen Massen schlummern, wie die politische Herrschaft der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei diese Fähigkeiten durch die aktive Teilnahme der Massen am Sturz des Kapitalismus und am Aufbau des Sozialismus erweckt und in ungeahnte Höhen erhoben hat. Die Fabel des sozialistischen Realismus wird also vorwiegend diese Dialektik in einer neuen Form bringen, in der Form des dialektischen Einholens des stürmisch vorwärtsschreitenden gesellschaftlichen Seins durch das mensch­ liche Bewusstsein. 192


Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit

Unsere Epoche ist größer als irgendeine subjektive Vorstellung, als irgend­ ein subjektives Gefühl über sie. Wir müssen also jeden bürgerlichen Subjekti­ vismus ideologisch überwinden, um schöpferisch nicht hinter dieser Größe zurückzubleiben. Und die marxistische Theorie der Kunst muss, wenn sie nicht im Schlepptau der gesellschaftlichen Bewegung bleiben will, die ersten wegweisenden Schritte in der theoretischen Überwindung des bürgerlichen Subjektivismus jeder Schattierung tun. 1954

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THEATERGESCHICHTE

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Erik Zielke Georg Lukács als Theaterhistoriker

»Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker« – so lautet der Titel eines Buches von Georg Lukács von 1948. Schon der oberflächliche Blick auf diese eher randständige Publikation im umfangreichen Gesamtwerk von Lukács gibt eine Ahnung davon, wie eine Literatur- und damit auch eine Theatergeschichte des ungarischen Philosophen angelegt sein könnte. Dass Marx und Engels als Bezugspunkte auftreten, überrascht kaum. Sie sind die Stützen seiner gesam­ ten Philosophie. Die Geschichte von Literatur und Theater lassen sich genauso wenig von der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen, trennen wie irgendeine andere Form der Geschichtsschreibung. Liest man die Kapitelüberschrift »Tra­ gödie und Tragikomödie des Künstlertums im Kapitalismus« aus dem Buch, wird schnell klar, dass Lukács nicht den Versuch unternimmt, die Entwicklung literarischer Strömungen, den Weg von einem Kunstwerk zu einem folgenden oder bloße rezeptionsgeschichtliche Fährten nachzuzeichnen. Er interessiert sich für die Bedingungen, unter denen Dramatik entstehen kann, und er zeigt, wie gesellschaftliche Realität in Literatur ihr Abbild gefunden hat. Nirgends geht es um einen mikroskopischen, rein hermeneutisch-interpretatorischen Ansatz, der auch nicht seinem Horizont entsprechen würde. Lukács’ Theatergeschichte ist voraussetzungsreich – aber nicht in dem Sinne, dass sie unzugänglich wäre. Zur Voraussetzung hat sie seine Ästhetik. Eine Theatergeschichte ohne eine ihr zugrunde liegende Ästhetik liefe Gefahr, ihren Gegenstand aus dem Fokus zu verlieren. Zum Verständnis der theater­ geschichtlichen Einzeldarstellungen hilft des Weiteren die Auseinandersetzung mit Lukács’ Realismusbegriff. Mit seinen Überlegungen zu einem künstlerischen Realismus formuliert er einerseits ein Ideal und verweist andererseits auf die literarischen Traditionslinien, etwa zum bürgerlichen Realismus, die bereits als eigene literaturgeschichtliche Darstellungen gelten können. Nur als ein Teil innerhalb seines gesamten literaturgeschichtlichen Werks sind Lukács’ theaterhistorische Darlegungen zu verstehen. Damit stehen sie in krassem Gegensatz zu einer zeitgenössischen Theaterwissenschaft, die in ihrem Abgrenzungsdogma zu den Philologien und in ihrer nun schon Jahrzehnte währenden Feier des performative turn vergisst, dass es seit zweieinhalbtau­ send Jahren die Dramenliteratur ist, die die Grundlage der szenischen Künste in

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Europa bildet. Lukács schreibt seinen Teil der Theatergeschichte als Geschichte der Literatur des Theaters. Das Schaffen von Lukács zerfällt recht deutlich in zwei Teile: in sein rei­ fes Werk, das einer Erneuerung des Marxismus verpflichtet ist, und in seine frühen Schriften, die noch in der Tradition des deutschen Idealismus stehen. Hat Lukács sich zwar in aller Deutlichkeit von Letzteren distanziert, sollte man den frühen Aufsatz »Zur Theorie der Literaturgeschichte« von 1910 zur Hand nehmen, wenn man sich Klarheit verschaffen will, was man von einer Theaterund Literaturgeschichtsschreibung aus Lukács’ Feder erwarten kann. Es sind insbesondere zwei Gedanken, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie auch für sein Wirken ab Mitte der 1920er Jahre noch Gültigkeit besitzen. »Literaturgeschichte hat zu den Erscheinungen und deren Wirkungen (histo­ rischen, ökonomischen usw.) – durch die ganze Konstruktion des inneren und äußeren Lebens des Menschen bedingt – dasselbe Verhältnis wie alle anderen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen. Reine Literaturge­ schichte, das ist eine nicht ausführbare, nicht in Praxis umzusetzende Abstrak­ tion«, heißt es in dem Text. Nichts liegt Lukács ferner, als eine Geschichte der Literatur zu verfassen, ohne auch die Gesellschaft zu untersuchen, in der sie entstanden ist. Weiter ist zu lesen: »Eine nicht gewertete, eine vom Werten unabhängige Literatur existiert nicht, ist unvorstellbar.« Lukács ist kein Chronist, der literari­ sche Werke wie historische Ereignisse niederschreibt. Er setzt sie zueinander in Beziehung, beschreibt ihre Entwicklung und macht sie in ihrem Kontext erst plausibel. Ästhetisches Urteil und Kunstwerk bedingen einander. Die Gesamt­ schau der Wertungen, das Nebeneinander der literaturhistorischen Einzeldarstel­ lungen erzeugt eine eigentliche Literaturgeschichte. (Philisterhaft ist es, heute in Lukács’ Wertungen Fehler nachweisen zu wollen wie etwa diejenigen, die glauben, Franz Kafka gegen Lukács verteidigen zu müssen, als wäre das nötig.) Wie nun aber hat Georg Lukács sich den Ruf eines unnachgiebigen Polemi­ kers eingehandelt? Sein ganzes publizistisches Schaffen war kein Selbstzweck, sondern der Autor verfolgte zielsicher bestimmte Wirkungsabsichten. Dass ein beträchtlicher Teil seines Werks auch unabhängig davon und darüber hinaus ein Schlüssel zum Kunstverständnis geworden ist, steht nicht im Widerspruch zu diesem Umstand, sondern ist lediglich ein Kennzeichen gedanklicher Tiefe. Um gewisse argumentative und sprachliche Schärfen und den kämpferischen Charakter einiger Texte zu verstehen, ist der Blick auf ihre Wirkungsabsichten, auf die jeweiligen Kontexte, in denen sie erschienen sind, ergiebig. Deutlich wird

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Theatergeschichte

das etwa, wenn man die Abhandlungen der Klassiker der deutschen Literatur, die Lukács in den 1930er Jahren abgefasst hat, betrachtet. Diese Texte sind eng mit ihrem zeithistorischen Hintergrund, also dem brutalen deutschen Faschis­ mus, verknüpft. Lukács’ »Faust-Studien« sind die profunde Gegenstimme zur nationalsozialistischen Klassikeraneignung. Sein Aufsatz über Georg Büchner ist eine Korrektur eines zur Unkenntlichkeit verzerrten Bildes des Vormärz-Autors durch die Nazis, die sich – mag es auch absurd erscheinen – selbst dieses wider­ ständigen Geistes annahmen und ihn zu vereinnahmen suchten. Ihm unterläuft allerdings nicht der Fehler einer weitaus primitiver gelagerten sozialistischen Literaturwissenschaft, die noch in den entlegensten Ecken der klassischen Lite­ ratur bereits die übernächsten Entwicklungssprünge der Menschheit vorwegge­ nommen sehen wollte. Seine Lektüre ist durch Exaktheit gekennzeichnet und so sieht er in Goethes »Faust. Der Tragödie zweiter Teil« zwar die Widersprüche des Kapitalismus sichtbar gemacht, aber in Goethe doch nicht den Überwinder des Kapitalismus. Er erkennt in Büchner den Stimmengeber der sozial Unter­ drückten, ohne sein revolutionäres Pathos als hinreichenden Ersatz für eine umfassende Gesellschaftsanalyse zu nehmen. Lukács trifft damit kein ober­ lehrerhaftes Negativurteil über diese Werke – im Gegenteil –, aber er verliert den historischen Hintergrund ihrer Entstehung nicht aus den Augen und kann so auch klarsichtig zeigen, wo sie tatsächlich über ihre Zeit hinaus wirken und wo sie die Zukunft in literarischen Ahnungen greifbar machen. Anders gelagert ist der Fall bei Heinrich von Kleist, mit dem Lukács hart ins Gericht geht. Im Gegensatz zu Goethe und Büchner muss Kleist nicht erst zum Vordenker der Nazis umgedeutet werden, sondern in seinen Texten ist bereits ein starkes reaktionäres Moment angelegt. Lukács benennt klar die Niederschläge des militanten Preußentums in seinem Werk, wobei selbst bei solchen scharfen Abrechnungen der Mut zur Differenzierung nicht verloren geht. Das Talent Kleists wird also genauso wenig geleugnet wie die wenigen heraus­ stechenden Arbeiten, die nicht Zeugnis von der Kleistschen Rückschrittlichkeit geben, sondern sogar mit Einschränkungen einer humanistischen Literatur zuzurechnen sind. Heiner Müllers oft zitiertes Diktum »Der Text ist klüger als sein Autor« droht, in seiner Allgemeinheit zu einer Banalität zu werden. Lukács besitzt das ana­ lytische Handwerkszeug, um genau vorzuführen, wo Texte an der mangelnden Einsicht ihrer Autoren scheitern müssen, wo ein gesellschaftlicher Entwicklungs­ stand noch eine fortschrittliche Literatur verhindert und wo – welch glücklicher Fall! – kluge Texte entstehen, manchmal der individuellen Konstitution des Autors oder der gesellschaftlichen Verfasstheit zum Trotz. (Es ist fast überflüssig

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Erik Zielke: Georg Lukács als Theaterhistoriker

zu erwähnen, dass eine Vielzahl von Theatertexten, unabhängig von ihren Auto­ ren, alles andere als klug ist.) Lukács’ Konzentration auf das klassische literarische Erbe erfolgt parallel zu einer anderen mit schweren Geschützen ausgefochtenen Auseinandersetzung, ohne die beide publizistischen Komplexe unverständlich bleiben. Unter den anti­ faschistischen Schriftstellern entbrennt in den 1930er Jahren, vorrangig in der literarischen Exilzeitschrift »Das Wort« ausgetragen, ein Streit um den Expres­ sionismus. Als zentraler Akteur in dieser Debatte ergreift Lukács Partei für eine realistische Literatur und verurteilt die sogenannte Avantgarde. Der sozialis­ tisch-realistischen Literatur, die ihre Wurzeln im bürgerlichen Realismus nicht leugnet, sondern sie zu vervollkommnen sucht, gibt er den Vorzug gegenüber einer subjektivistischen Wortkunst, die auf die Widersprüche der Gegenwart nur mit Formspielen und Nabelschau zu reagieren weiß. In dieser Frage – auch angesichts der Zeitumstände – scheinen Kompromisse nicht möglich und die Debatte wird erbittert geführt. (Schon dieser Umstand zeigt die Bedeutung, die der Kunst – nicht nur von Lukács – beigemessen wurde.) Lukács’ oben ange­ führte Untersuchungen zu den Vorläufern der realistischen Literatur – Johann Wolfgang von Goethe und Georg Büchner – sind entsprechend auch die Ver­ teidigung einer Traditionslinie, deren Folge in seine Zeit reicht und in die er eine wirkungsvolle antifaschistische Literatur verortet wissen will. Damit also zum schwierigen Verhältnis zwischen Bertolt Brecht und Georg Lukács. Schwieriges Verhältnis? Es ist vor allem ein komplexes Verhältnis. Befragt man die einschlägigen Referenzen der Brecht-Forschung, wird eine Ein­ deutigkeit in der Beziehung zwischen dem herausragenden Theoretiker und dem herausragenden Theaterpraktiker des 20. Jahrhunderts behauptet, wofür es keine hinreichende Grundlage gibt. Die Rede geht von Lukács als einem »Geg­ ner seines [d. i. Brechts] Theaters« (Ernst Schumacher) und als Wiederkäuer von »geistig arme[n] Leitlinien«, die »in Moskau produziert wurden« (Stephen Parker). Parker macht in seiner jüngst erschienenen Brecht-Biografie Lukács zu einem blutleeren Prediger des real existierenden sozialistisch-realistischen Romans, was dessen differenzierte Betrachtungen und hohen Ansprüche an die Gegenwartsliteratur seiner Zeit ausblendet, die vor der Kunstproduktion in den sozialistischen Staaten gerade nicht Halt machten, sondern sie im Kern trafen. Von den Einlassungen im Feuilleton ganz zu schweigen, dem Lukács schon mal als »Kunstpapst des Stalinismus« (Hellmuth Karasek) erschien. Zu einer weniger schematischen Einsicht gelangt Werner Mittenzwei, der sich wohl wie kein anderer mit Brecht und den verschiedenen Realismuskontroversen

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Theatergeschichte

auseinandergesetzt hat. Aber auch er macht bei Brecht und Lukács zwei gegen­ läufige Denkentwicklungen aus, die sich allerdings an denselben Problemlagen abarbeiten. Kurz vor seinem Tod gibt Lukács in seinen unter dem Titel »Gelebtes Den­ ken« veröffentlichten Erinnerungen zu Protokoll: »Ich hielt Brecht damals in Berlin [vor dem Exil, E. Z.] für sektiererisch, und zweifellos besitzen Brechts erste Stücke, seine Lehrstücke, einen sehr starken sektiererischen Charakter. Folglich habe ich der Brechtschen Richtung gegenüber eine gewisse kritische Haltung eingenommen, die sich dann sehr zugespitzt hat.« Es fällt nicht schwer zu glauben, dass Lukács mit dem Lehrstück nichts anzufangen wusste. Ob er die noch unter starkem Einfluss des Expressionismus stehenden Bühnenwerke von »Baal« bis »Im Dickicht der Städte« – also die tatsächlich ersten Stücke Brechts – hier bewusst nicht einmal erwähnt, bleibt offen. Lukács räumt ein, dass die Haltungen der zwei Exilanten während der Expressionismusdebatte in der Sowjetunion in den 1930er Jahren durchaus konträr waren. »Es steht außer Zweifel, dass Brecht eher mit den Expressionisten sympathisiert hat als mit mir«, heißt es bei ihm. Dann fährt Lukács – fast im anekdotischen Plauderton – über eine Moskauer Begegnung mit Brecht fort: In einem Kaffeehaus habe dieser zu verstehen gegeben, dass eine Menge Leute ihn gegen Lukács aufhetzen wollten, und äußerte die Vermutung, dass es sich umgekehrt sicher genauso verhalte. Dem Beschluss, diesen Bestrebungen nicht nachzugeben, habe die Verabre­ dung zu einem Treffen nach Kriegsende und ein freundschaftlicher Abschied gefolgt. Dass dergleichen möglich war, zeigt, auf welchem Niveau Richtungs­ streits in der Literatur unter den damaligen Voraussetzungen ausgetragen wur­ den und dass Vorurteile und Kleingeistigkeit dabei keinen Raum hatten – ein gänzlich anderer Eindruck, als sich aus einigen aus der Rückschau verfassten Dokumentationen ergeben will. Dass umfassende Darlegungen von Lukács zum Brechtschen Spätwerk feh­ len, leistet der noch immer kolportierten schemenhaften Behauptung von einer ewigwährenden Feindschaft Vorschub. Diese Fehlstelle in seinen Beiträgen zu einer Theatergeschichte erklärt Lukács selbstkritisch: »Aber ich habe mir ein literarisches Versäumnis zuschulden kommen lassen, was darauf zurückzuführen ist, dass mich die ungarischen Angelegenheiten zu stark in Anspruch genommen haben: Nachdem mir die große Bedeutung Brechts letzter Periode klar geworden war, habe ich darüber keinen Artikel geschrieben. Hätte ich das getan, wäre es heute sehr deutlich, welche Meinung ich von die­ ser Periode Brechts hatte. Tatsache ist, dass ich in jener Zeit bei jedem meiner

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Erik Zielke: Georg Lukács als Theaterhistoriker

Berlinbesuche Brecht aufgesucht habe und dass wir oft zusammen waren. Ich teilte ihm meine Meinung mit, wir diskutierten auch darüber. Und man kann sagen, es entwickelte sich zwischen uns ein ausgesprochen gutes Verhältnis, was auch dadurch illustriert wird, dass ich auf Bitten von Brechts Frau zu jenen gehörte, die unmittelbar nach seinem Tod über ihn in Berlin gesprochen haben.« An dieser Stelle wird – wie auch andernorts – ein versöhnlicher Lukács hör­ bar, dem offensichtlich an der Feststellung gelegen ist, dass sein Verhältnis zu dem großen Theaterneuerer Brecht keineswegs von Verachtung gezeichnet war. Unangemessen wäre es sicher, die Trennlinie zwischen den entschiedenen Posi­ tionen in der Expressionismusdebatte – die auch bei erneuter Lektüre drängende Fragen an die Künste der Gegenwart aufwerfen – einfach zu verwischen. Auch Lukács’ späte Klassifizierung Brechts als großer Aristoteliker gehört schon fast in den Bereich der Verklärung. Dabei wäre es vor allem wichtig, die tatsächlichen Gemeinsamkeiten im Denken beider hervorzuheben: Das reale Potenzial der Kunst muss erkannt und genutzt werden sowie mit ihren Mitteln gesellschaft­ liche Realität offengelegt werden. In einem Würdigungstext für Hanns Eisler schreibt Lukács mit Blick auf die Moskauer Zeit von falscher Gegnerschaft und falschen Fronten, was kein Abrücken von zuvor eingenommenen Positionen bedeutet. Vielmehr ergibt sich dieses Bild aus der verspäteten Erkenntnis, dass er sowie Eisler und Brecht »den Tunnel von zwei Seiten anbohren und unweigerlich uns in der Mitte treffen würden«. Wer ein aufrichtiges Interesse an der Theatergeschichtsschreibung des 20. Jahrhundert hat, darf den Blick in den Tunnel nicht scheuen. Hier warten die Impulse – weit über eine bloß akademische Beschäftigung hinausgehend – für eine relevante Theaterkunst der Zukunft.

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Kolumnentitel

Georg Lukács

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Faust-Studien

Puschkin nennt den »Faust« eine Ilias des modernen Lebens. Das ist aus­ gezeichnet gesagt, es bedarf zur richtigen Konkretisierung nur der Unter­ streichung des Wortes »modern«. Denn im Leben der Gegenwart ist es nicht mehr wie in der Antike möglich, alle Bestimmungen des Gedankens und der dichterischen Gestaltung unmittelbar vom Menschen aus zu entwickeln. Gedankliche Tiefe, Totalität der gesellschaftlich-menschlichen Kategorien und künstlerische Vollkommenheit sind hier nicht mit naiver Selbstverständ­ lichkeit vereinigt, sie ringen vielmehr heftig miteinander. Aus der Goethe­ schen Vereinigung dieser widerstrebenden Tendenzen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges Gebilde entstanden. Goethe selbst nennt es eine »inkommensurable Produktion«. Gestaltet wird das Schicksal eines Menschen, und doch ist der Inhalt des Gedichts das Geschick der ganzen Menschheit. Die wichtigsten philo­ sophischen Probleme einer großen Übergangsepoche werden vor uns gestellt, aber nicht bloß gedanklich, sondern unzertrennbar vereinigt mit sinnlich packenden (oder zumindest leuchtend dekorativen) Gestaltungen letzter menschlicher Beziehungen. Diese Beziehungen werden nun in steigendem Maß problematisch. Eine ungebrochene sinnlich-geistige Einheit kann nur im ersten Teil vorwalten. Gedankengehalt, Aufdeckung gesellschaftlich-ge­ schichtlicher und naturphilosophischer Zusammenhänge belasten, ja spren­ gen immer stärker die sinnliche Einheit der Formen und der Gestalten. Das ist der allgemeine Prozess der Entwicklung der Literatur im 19. Jahrhundert, der die Geschlossenheit und Schönheit der Formenwelt zerstört, sie der Unerbitt­ lichkeit des neuen großen Realismus opfert und damit das »Ende der Kunst­ periode« herbeiführt. Es ist kein Zufall, dass die Vollendung des zweiten Teils des »Faust« fast gleichzeitig mit dem Erscheinen von Balzacs »Das Chagrinleder« erfolgt: Jener Realismus, der die »Kunstperiode« ablöst, entsteht hier in noch phan­ tastisch-romantischen Formen, während dort der große Realismus der »Kunstperiode« in phantastisch-allegorischen Formen Abschied nimmt. Bei Balzac: phantastisches Prélude zum modernen Roman, worin das Real-Ge­ spenstische des kapitalistischen Lebens zum Ausdruck kommt. Bei Goethe: 203


Theatergeschichte

phantastische Schlussakkorde der letzten Periode der Formvollendung in der bürgerlichen Literatur. Balzac wie Goethe erleben gleicherweise dieses Über­ quellen des neuen Lebens, das Zerreißen der Dämme der alten Formen durch diese Sturmflut. Aber Balzac sucht die inneren Kraftlinien dieses Überquel­ lens selbst zu ergründen, um aus ihrer Erkenntnis eine neue epische Form entstehen zu lassen; Goethe unternimmt eine Stromregulierung durch alte, neugebildete Formen. Eine solche ist jedoch nicht adäquat erreichbar. So paradox es auch klingen mag: Balzacs endgültige Lösung steht den großen – modernen – Traditionen der Epik näher als der »Faust« irgendeiner überlieferten Formgebung. Schon der erste Teil wächst über den Rahmen von Epik oder Dramatik hinaus, noch viel mehr der zweite: er ist weder dramatisch noch episch, noch weniger aber eine Summe von lyrischen Stimmungsbildern, wie das spätere 19. Jahrhun­ dert sie im Anschluss gerade an »Faust« geschaffen hat (Lenau). Es ist eine »inkommensurable Produktion«.

II Das Drama der Menschengattung Das Fragment von 1790 bringt einen Dialog zwischen Faust und Mephisto­ pheles, der mit den folgenden, für die Neufassung des ganzen Werkes pro­ grammatischen Worten Fausts beginnt: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem Innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern. Hier ist die spezifische Problemstellung, durch die der »Faust« zu einem ein­ zigartigen Weltgedicht wurde, klar ausgesprochen: im Mittelpunkt steht ein Individuum, dessen Erlebnisse, dessen Schicksal und Entwicklung zugleich den Fortgang und das Geschick der ganzen Gattung darstellen sollen. Dies bedarf noch einer bestimmten Konkretisierung. Denn jede echte und tief typisch gestaltete Figur der Dichtung reicht bis an die Probleme der ganzen Menschheit. Aber sie tut es gewissermaßen nur mit einer Seite ihres Wesens, nur als Ausdruck ihrer höchsten dichterischen Entfaltung, nur 204


Georg Lukács: Faust-Studien

als horizontartige Verallgemeinerung des ganzen Werkes. Um ein wirklich gestalteter Mensch zu sein, muss jede Figur der Literatur gerade spezifisch, besonders sein, darf die Allgemeinheit nur durchschimmern lassen. Ander­ seits: jedes pedantische enzyklopädische Streben nach Abbildung der gan­ zen Welt, des ganzen Weltprozesses zerstört die poetische Lebendigkeit der Gestalten und Situationen. Das geschieht sogar bei einem so großen Dichter wie Milton, und erst recht bei Klopstock. Dante jedoch gestaltet die Ein­ heit des Prozesses, die Hierarchie oder objektiven Wirklichkeit nur in den subjektiven Stimmungen und Reflexionen der Ich-Gestalt und ihrer Führer, Vergils und Beatrices: der lebendige Reichtum, die menschliche Bewegtheit, die innere Dramatik der dargestellten Welt kommt in den vielen hunderten an Dante vorüberziehenden konkreten Einzelgestalten zum Ausdruck. Gegenüber dem Vorwurf einer Faust-Tragödie rücken – bei allen säkular bedingten Gegensätzen – »göttliche« und »menschliche Komödie« zusam­ men. Die Odyssee Fausts von der Unseligkeit zur Erlösung soll nämlich, so wie sie ist, eine Abbreviatur der Menschheitsentwicklung selbst sein, ohne dabei die Individualität, die historische und menschliche Konkretheit des Helden aufzuheben, ohne die einzelnen Etappen seines Weges zu einer gedanklich abstrakten Allgemeinheit zu verflüchtigen. Diese Konzeption hebt den »Faust« aus der Reihe der andern großen epischen und dramatischen Meisterwerke heraus und macht aus ihm eine »inkommensurable Produktion«. Aber – in scheinbar paradoxer, tatsächlich sehr natürlicher Weise – gelangen wir erst von hier zum Verständnis der ver­ borgenen Zusammenhänge seiner Komposition, können wir erst von hier aus die historischen Wurzeln der Dichtung aufdecken. Goethes »Faust« und Hegels »Phänomenologie des Geistes« gehören als die größten künstlerischen und gedanklichen Leistungen der klassischen Periode in Deutschland zusammen. (Es ist interessant zu bemerken, dass die »Phänomenologie« fast gleichzeitig, 1807, mit dem ersten Teil des »Faust« vollendet wurde.) Engels charakterisiert die für uns hier wesentlich metho­ dologische Seite von Hegels Werk als eine »Parallele der Embryologie und Paläontologie des Geistes«, als eine »Entwicklung des individuellen Bewußt­ seins durch seine verschiedenen Stufen, gefaßt als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchgemacht«. Aber Hegels »Phänomenologie« ist nur das prägnanteste, alle Tendenzen der Zeit zusammenfassende, auf das damals erreichbare höchste Niveau geho­ bene Produkt. Die Strömungen, die hierher führen, sind schon lange vorher sichtbar. Herders »Ideen« waren bereits der erste Anlauf dazu, nur musste 205


Theatergeschichte

Herder an seinem Unverständnis der dialektischen Probleme scheitern. In der idealistischen Dialektik tritt der Gedanke der im Individuum abgekürzt erscheinenden Geschichte keimhaft bereits bei Kant und Fichte auf, Schelling fasst schon den Geschichtsprozess in Natur und Gesellschaft als eine »Odys­ see des Geistes« auf, als dessen Heimkehr zu sich selbst, und er betrachtet die einzelnen Stufen, die das philosophische Denken von der Wahrnehmung bis zur adäquaten Erkenntnis der Welt durchläuft, als Epochen. Alle diese Tendenzen sind aber nur keimhaft, und ihre wirkliche Voll­ endung, ihre konsequente methodologische Durchführung erhalten sie erst in Hegels »Phänomenologie«. Hier kreuzen und durchdringen sich drei zusammenhängende Konzeptionen der Geschichte: erstens die geschicht­ liche Erhebung des einzelnen Menschen von der einfachen Wahrnehmung der Welt bis zu ihrer vollendeten philosophischen Erkenntnis; zweitens die geschichtliche Erhebung der Menschheit von ihren primitivsten Anfängen bis zur Kulturhöhe der Hegelschen Gegenwart: zur Großen Französischen Revolution, ihrer Überwindung durch Napoleon und jener modernen bür­ gerlichen Gesellschaft, die sich aus diesem Erdbeben aufrichtet. Und end­ lich, drittens, wird diese ganze geschichtliche Entwicklung als das Werk des Menschen selbst aufgefasst: der Mensch schafft sich selbst durch seine Arbeit. Marx hebt als Charakteristikum der Größe dieses Werkes besonders hervor, dass Hegel »das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift«. Dieser Prozess ist nach Marx nur dadurch möglich, dass der Mensch »wirk­ lich alle seine Gattungskräfte … herausschafft«. Damit ist auch das Problem des »Faust« philosophisch allgemein formuliert. Wie im einzelnen Menschen diese Gattungskräfte entstehen, sich entwickeln, welche Hindernisse sie über­ winden, welche Schicksale sie erleiden, wie die naturhaft und historisch-sozial gegebene Welt als von ihm unabhängige Wirklichkeit auf ihn einwirkt und wie sie zugleich das Produkt oder (im Falle der Natur) der Gegenstand seiner sich selbst schaffenden Tätigkeit ist, woher dieser Weg seinen Ausgangspunkt nimmt und wohin er führt – dies ist das Thema des »Faust«. Selbstverständlich ist das Individuum bei Goethe noch mehr als bei Hegel der unmittelbar sichtbare Träger des dargestellten Prozesses. Für Hegel ist das individuelle Bewusstsein ein verkürztes Abbild der Entwick­ lung des Geschlechts; darum verkörpern sich bei ihm die einzelnen Etappen des Entwicklungsweges in gedanklich prägnant, individuell charakterisier­ ten »Gestalten des Bewußtseins«. Soll aber das Gattungsschicksal als eine 206


Georg Lukács: Faust-Studien

Abbreviatur im Individuellen erscheinen, dann kann die gedankliche Reihe der aufeinanderfolgenden Kategorien und Etappen der verkürzt dargestellten Gattungsentwicklung nicht das objektiv logische Aufeinander und Auseinan­ der der absoluten Philosophie haben. Diese ihre Abfolge muss auseinander­ gerissen und durch eine andere, neue, durch die Entwicklung des individu­ ellen Bewusstseins bedingte ersetzt werden. Obwohl auf diese Weise für das normale logische Denken eine Willkür zu entstehen scheint, muss die neue Ordnung, die verkürzte Spiegelung des Ganzen (der Gattung) im einzelnen, die Notwendigkeit dieser verzerrt scheinenden Spiegelung in der Verkürzung, aus der eigenen Logik dieser Entwicklung erkannt werden. Das Verwirrende im Reigen der »Gestalten des Bewußtseins« in der »Phänomenologie des Geistes«, wo auf den Diderotschen Rameau der Pariser terreur folgt, um von Antigone abgelöst zu werden, klärt sich auf, wenn wir ihn von diesem Gesichtspunkt, von der Logik dieser Abbreviatur aus, betrach­ ten und in den einzelnen konkreten Etappen das streng ordnende Prinzip erkennen. So ist auch die Komposition des »Faust« aufgebaut. Goethe hat sich stets dagegen gewehrt, dass er im »Faust« irgendeine »Idee« zu verkörpern versucht habe. Derartige Aussprüche Goethes widersprechen nur scheinbar seiner Abwehr gegen reine Empiriker. Wenn beispielsweise der Historiker Luden jede philosophische Erklärung des Fragments von 1790 ablehnte und wollte, dass man sich nur an das einzelne halte, verwies Goethe dagegen auf die Bestrebungen der Philosophen, den gedanklichen Mittelpunkt seines Werkes aufzudecken. »Was aber hat dieses Bedürfnis erzeugt? Doch ohne Zweifel das Fragment selbst. Das einzelne, das Ihnen zu genügen scheint, hat andere nicht befriedigt, und doch haben sie das Büchlein nicht hinwegge­ worfen, sondern sie haben es festgehalten, oder es von neuem und abermals wieder in die Hand genommen. Es muss also etwas in dem Büchlein sein und durch das Büchlein hindurchgehen, was auf den Mittelpunkt hinweist, auf die Idee, die in allem und jedem hervortritt.« Goethe gibt hier eine deutliche Beschreibung dessen, was er als dichterische Idee anerkennt: einen unsicht­ baren Mittelpunkt, in dem sich das Zentralproblem seiner Weltauffassung konzentriert, von wo aus, ohne dass der Mittelpunkt ausdrücklich gestaltet oder gar gedanklich ausgedrückt wäre, der Zusammenhang aller Teile über­ sichtlich und verständlich wird, die gattungsmäßige Allgemeinheit erlangt, ohne die unmittelbare Sinnlichkeit der Individualisierung zu verlieren. Diese Komposition Goethes gewinnt ihre innere Wahrheit aus dem – nicht mechanischen, nicht schematischen – Zusammenfallen der Entwick­ lungsprobleme von Individuum und Gattung. Der Dichter Goethe geht vom 207


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Individuum Faust aus, und jeder Schritt, den das Werk macht, muss sich von hier aus bewahrheiten, sonst ist die Einheit der Einzelperson zerrissen. Aber der dialektische Gang innerhalb der einzelnen Entwicklungsstadien, ihre Aufeinanderfolge, die als überflüssig oder selbstverständlich übersprungenen Zwischenetappen, dieser dialektische Gang geht schon über das Individuum hinaus und trägt seine Wahrheit in der historisch-sozialen, in der anthropo­ logischen Entwicklung der Gattung selbst. Aus dieser zur künstlerisch-organischen Einheit gebrachten dialekti­ schen Zwei-Einheit von Individuum und Gattung entsteht die Phantastik der Handlungskomposition. Die Gesamthandlung bleibt zuweilen beharrend, wo das Individuum ungeduldig an den Kerkerstäben der schlechten Gegen­ wart rüttelt; sie stürmt mit Siebenmeilenstiefeln, wenn die Entwicklung der Gattung einen Sprung tut. So erleben wir auch im »Faust« eine ebenso phantastisch sprunghafte, subjektiv-objektive Zeit und Zeitabfolge wie in der »Phänomenologie«. Goethe ist sich dessen auch bewusst. Bei Heraus­ gabe des Helena-Fragments (1826) schreibt er an Wilhelm von Humboldt: »Ich habe von Zeit zu Zeit daran fortgearbeitet, aber abgeschlossen konnte das Stück nicht werden als in der Fülle der Zeiten, da es denn jetzt seine volle 3000 Jahre spielt, von Trojas Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Dies kann man also auch für eine Zeiteinheit rechnen, im höheren Sinne; die Einheit des Orts und der Handlung ist aber auch im gewöhnlichen Sinn aufs genaueste beobachtet.« Diese Phantastik hat gerade in Goethes Realismus ihre Wurzeln. Goethe übersteigert das Gattungsmäßige nie, er lässt es nie zu einem selbständi­ gen Wesen gegenüber dem Individuum erstarren, noch die Besonderheit der Einzelfiguren überdecken. Die Realität der Menschengattung betrach­ tet Goethe nüchtern und realistisch. Er sagt: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht.« Und gerade zur Zeit der Arbeit am »Faust« schreibt er an Schil­ ler, dass die Natur »deswegen unergründlich ist, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte«. Die Phantastik des Gattungsmäßigen, die auf dieser weltanschaulichen Grundlage entsteht, dient dazu, ein reales, aber von jeder naturalistischen Kleinlichkeit befreites Milieu zu schaffen, indem aus der phantastischen Situation und aus den durch sie erhobenen individuellen Charakteren sich die Erhebung der Probleme auf die Höhe und Typik des Gattungsmäßigen zwanglos ergibt. 208


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So ist der Gang der dichterischen »Phänomenologie« der menschlichen Gattung in Fausts individuellem Bewusstsein und Schicksal frei, bewegt, fern von pedantischer Logik, von pedantischer »Komplettheit«, ungebunden und romantisch schwebend, balladesk Zwischenstufen überspringend, zugleich aber von tiefer historischer und sozialer Notwendigkeit und gerade darum menschlich echt: Individualität und Gattung gleicherweise umspannend. Goethe nennt den »Faust« eine Tragödie. Er ist in Wirklichkeit mehr als das: er ist die gleichzeitige Setzung und Aufhebung des Tragischen. Das individuelle Schicksal Fausts umfasst mehr als eine Tragödie (Erdgeist, Gret­ chen, Helena, Schluss), aber für den Entwicklungsweg der Gattung ist jede von ihnen nur ein Durchgangsstadium. Diese Stellung des reifen Goethe zum Tragischen wurde oft – zuweilen sogar von ihm selbst – missverstanden. Er schreibt gelegentlich an Schiller, dass die Tragödie ein »pathologisches Interesse« voraussetze, und er sei überzeugt, dass »ihn der bloße Versuch«, Tragisches zu gestalten, »zerstören könnte«. Schiller erkennt in diesem Fall das Wesen Goethes besser als er selbst. »In allen Ihren Dichtungen«, schreibt er, »finde ich die ganze tragische Gewalt und Tiefe, wie sie zu einem voll­ kommenen Trauerspiel hinreichen würde; im Wilhelm Meister liegt, was die Empfindung betrifft, mehr als eine Tragödie.« Und er sagt zusammenfassend, wenn Goethe keine Tragödie schreiben könne, »so müßte der Grund nicht in den poetischen Erfordernissen liegen«. Jahrzehnte später, beim Abschluss des zweiten Teils, ist sich Goethe über seine Stellung zum Tragischen bereits viel klarer. Er schreibt an Zelter, dass ihm »das Unversöhnliche ganz absurd vorkomme« und dass deshalb »der rein tragische Fall ihn nicht interessiere«. Hier ist der philosophische Standort des Weltgedichts schon bewusst festgelegt. Goethe ist gleich weit entfernt von der falschen Tiefe, von dem einseitigen Pessimismus des 19. Jahrhunderts (der zuweilen die Aufschrift Pantragismus führt) wie von dem flachen Optimismus der liberalen Litera­ tur und Philosophie derselben Zeit, die die Notwendigkeit des Tragischen überhaupt leugnen oder bestenfalls subjektivieren wollte. Goethe und Hegel sehen hier gerade das Problem von Gattung und Individuum. Der Weg der Gattung ist untragisch, er führt aber durch unzählige, objektiv notwendige, individuelle Tragödien. Goethe wie Hegel besitzen die Überzeugung der Aufklärung, dass das Menschengeschlecht grenzenlos vervollkommnungsfähig ist, wenn es sich einmal aus den mittelalterlichen Fesseln befreit hat. Diese Überzeugung haben beide unzähligemal ausgesprochen. Wir erinnern nochmals an Goethes Ausspruch bei Valmy und an die Stelle, die in Hegels Philosophie die »herrliche 209


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Morgenröte« der Französischen Revolution einnimmt. Aber dieser Aufklä­ rungsglaube an den Fortschritt des Menschengeschlechts erhält bei ihnen eine wesentliche Abwandlung und Eigenart durch die historischen Ereig­ nisse, die sie durchlebt haben. Die konkreten Widersprüche der aus der Fran­ zösischen Revolution hervorgehenden kapitalistischen Gesellschaft rücken in den Mittelpunkt ihrer Weltwahrnehmung und ihres Weltdenkens. Diese Widersprüche wollen sie nun weder verschmieren oder abschwächen noch ihren dissonanten Charakter als letztes Prinzip der Geschichte anerkennen. Damit ist der denkbar höchste bürgerliche Standpunkt zum Fortschritt der Menschheit errungen, erst den sozialistischen Utopisten, wie Fourier, ist ein anderer, höherer Standpunkt zu den Widersprüchen der vorsozialistischen Zeit, insbesondere zu denen des Kapitalismus, möglich. Diese Auffassung bedingt für Goethe und Hegel die Verschiedenheit der Betrachtung von individuellem Geschick und Gattungsschicksal. Gegen­ über dem ersten sind sie beide von einer großartigen Unsentimentalität. Goethe sagt gelegentlich zu Eckermann (dies die ergänzende, andere Seite des eben zitierten Zelter-Briefs): »Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu voll­ führen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten …« Hegel drückt den gleichen Gedanken in seiner Geschichtsphilosophie so aus: »Das Besondere hat sein eigenes Interesse in der Weltgeschichte; es ist etwas Endliches und muß als solches untergehen. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Aber im Kampfe, im Untergang des Besonderen resultiert das Allgemeine.« So entsteht für Goethe wie für Hegel der unauf­ haltsame Fortschritt der Menschengattung aus einer Kette von individuellen Tragödien; die Tragödien im Mikrokosmos des Individuums sind das Offen­ barwerden des unaufhaltsamen Fortschritts im Makrokosmos der Gattung: dies ist das gemeinsame philosophische Moment im »Faust« und in der »Phänomenologie des Geistes«. Aus der dichterischen Gestaltung einer solchen Wechselwirkung zwi­ schen Individuum und Gattung entsteht die balladeske Phantastik als adäquat poetisches Ausdrucksmittel dieser widerspruchsvollen Einheit. Das wurde von den meisten Auslegern inhaltlich wie formal missverstanden, vor allem von F. Th. Vischer, der stets – kantianisch – an Übergänge und Entwicklungs­ etappen, die vom Gattungsstandpunkt über ein solches Niveau hinausgehen müssen, den Maßstab der rein individuellen Moral anlegte. So bemängelte er den Anfang des zweiten Teils, wo Ariel und die Elfen, das Moraljenseitige 210


Georg Lukács: Faust-Studien

der Natur und des naturhaften Ablaufs der Menschenentwicklung symboli­ sierend, Faust über die Gretchen-Tragödie hinweghelfen: Ob er heilig, ob er böse, Jammert sie der Unglücksmann. Vischer fehlt hier die Gestaltung der Reue bei Faust. Goethe hat sie aber im Lauf der Gretchen-Tragödie wiederholt mit großer Stärke gestaltet: in der Szene »Trüber Tag«; in Fausts Versuch, Gretchen zu retten; im Scheitern dieses Versuchs, der in dem verzweifelten Ausruf Fausts seinen Höhepunkt hat: »Oh, wär’ ich nie geboren!« Vischer übersieht ebenso, dass die Gretchen-Tragödie nur den Gipfel der tragischen Widersprüche in der Etappe des »Lebensgenusses«, der »kleinen Welt« bildet; er übersieht, dass gerade eine gattungsmäßige Entwicklungs­ notwendigkeit das Hinausgehen über diese ganze Welt erfordert. Dieses Hin­ ausgehen ist nicht nur für Gretchen, sondern auch für Faust selbst tragisch (worüber wir später ausführlich sprechen werden), für das Schicksal der Gattung jedoch ist – unbekümmert um die individuellen Tragödien – gerade ein solches Weiterschreiten notwendig. Eben in dieser Notwendigkeit steckt eine tiefere Tragödie Fausts als die der bloß individuell moralischen Reue, wie sie Goethe im Weislingen, Clavigo usw. behandelt hat. Vischers Einwand will Faust auf das Niveau Weislingens herunterzerren. Es ist also nur folgerichtig, dass die Gestaltung der »großen Welt«, des »Taten- und Schöpfungsgenusses« mit der phantastischen Szene Ariels und der Elfen einsetzt, in der dieses überindividuelle, übermoralische Erheben der Gattung über das individuelle Schicksal mit großer poetischer Deutlich­ keit ausgesprochen wird. (Es ist interessant, dass in den ersten Entwürfen Goethes noch individuell-moralische Probleme auftauchen, diese aber wäh­ rend der Arbeit entfernt werden.) Die phantastische Gestaltung des »Faust« ist aber darüber hinaus historisch. Und zwar in einem sehr weiten und freien Sinn: es ist der Historismus einer Volkssage, die selbst in ihren kühnsten empirischen Unwahrscheinlich­ keiten nie den realen Boden der Geschichte verlässt, die nur ihre wesentli­ chen Bestimmungen lyrisch, pathetisch oder satirisch vergrößert, ohne damit jemals das echte Zeitkolorit abzustreifen. Goethes dichterische Arbeit, so sehr sie sich im einzelnen von der Sage entfernt, viele ihrer überlieferten Momente ins Gegenteil verkehrt, setzt hier die Arbeit des Volkes an einer großen, sein Schicksal repräsentierenden Gestalt fort; sie verstärkt die sagenschaffende 211


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historische Volksphantasie, rettet sie hinüber in die Dichtung und verewigt sie. Denn Goethes Änderungen an der Sage sind zumeist Reinigungen von ihren orthodox-lutheranischen Verzerrungen, von den so in ihr entstande­ nen Schlacken. Deshalb sind nicht nur die realen Personen des Dramas, wie Wagner, Valentin usw., von einer tiefen historischen Echtheit, sondern auch Mephistopheles ist ein gotisches Gespenst des 16. Jahrhunderts: Im Nebelalter jung geworden, Im Wust von Rittertum und Pfäfferei … Diese historische Phantastik hat aber in der »kleinen« und in der »großen Welt« verschiedene Funktionen. Goethe hat sich zu Eckermann über diesen Stilunterschied zwischen dem ersten und zweiten Teil klar geäußert: »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leiden­ schaftlicheren Individuum hervorgegangen … Im zweiten Teil aber ist fast gar nichts Subjektives; es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leiden­ schaftslosere Welt …« Im ersten Teil haben wir – trotz der Rolle des Mephistopheles – eine ganz geschlossene, historisch echte Welt der Wirklichkeit vor uns, in die, ziemlich deutlich geschieden, das Phantastische hineinspielt, teils in besonderen, auf Phantastik angelegten Szenen (Hexenküche, Walpurgisnacht), teils infolge eines Hinüberwachsens realistischer Genrebilder ins Gespenstische (Auer­ bachs Keller). Aber die Grundlage bildet eine realistische Darstellung des deutschen 16. Jahrhunderts wie im »Götz«, nur aufgeregter, dramatischer, poetisch gehobener. Die Goethesche Objektivität der »großen Welt« verträgt einen so gearteten Realismus nicht mehr. Gestaltet werden nunmehr die wesentlichen, typischen Bestimmungen und nur diese. Der Realismus Goethes erstrebt hier eine Dar­ stellung, in der ein solches Milieu, das als gegeben und wirklich gestaltet wird, ein reales Gegenspiel zu den Handlungen des Individuums Faust ergeben kann. Darum ist hier – bei aller inhaltlichen historischen Wahrheitstreue – alles von Phantastik durchtränkt: es gibt keine Grenze mehr zwischen real und gespens­ tisch; es steht eine gespenstische Wirklichkeit vor uns. Diese Gestaltungsweise ist mit der Objektivität, mit dem Vorherrschen des Gattungsschicksals eng ver­ knüpft. Der naive Historismus des ersten Teils schlägt um in einen reflektierten Historismus, die unmittelbare Geschichte in eine erlebte Geschichtsphilosophie. Dieser Wandel bestimmt nun Aufbau, Ton und Stil. Der erste Teil ist ein balladeskes Drama, vielfach im Stil des »Sturm und Drang«, aber stets 212


Georg Lukács: Faust-Studien

etwas unmittelbar Dramatisches. Im zweiten Teil ist auch das Dramatische reflektiert. Das bedeutet keine Verwandlung ins Epische, denn der zerfal­ lende Feudalismus des 16. Jahrhunderts (der Periode des Götz) erscheint vor uns als dramatisch bewegte Gegenwart, als Komplex vor uns handeln­ der Menschen, nicht aber als Bericht über etwas Vergangenes seitens eines gegenwärtigen Erzählers. Doch die spätere Entwicklung (das Heute Goethes) durchleuchtet die dichterisch heraufbeschworene Gegenwart des 16. Jahr­ hunderts und macht sie transparent. Nicht etwa, indem soziale Kategorien oder Empfindungen der Goetheschen Gegenwart in sie hineingetragen wür­ den, sondern indem die nur vom Standort der fortgeschrittenen Geschichte aus sichtbare Auflösung des Feudalismus bereits den offenen Charakter ihrer Gespensterhaftigkeit zeigt: die unmittelbar gestaltete Gegenwart ist also die der historisch richtig gesehenen Götz-Periode. Diese wird jetzt nicht mehr vom Standpunkt der aufständischen Ritter gesehen, sondern aus einer weiten historischen Perspektive, in der auch die Lieblingshelden der Goetheschen Jugend als Auflösungserscheinungen, als Gespenster unter Gespenstern erscheinen. Die Gesamtheit der gestalteten Gegenwart offenbart so Bestim­ mungen, die an sich zwar schon damals vorhanden waren, die aber erst die spätere Geschichte für uns sichtbar und leuchtend gemacht hat. Darum ist das historische Fundament des zweiten Teils (I. und IV. Akt) ein grotesker Totentanz, in dem – wie in den alten Totentänzen – nicht bloße Individuen, sondern soziale Typen auftreten, ein Totentanz, in dem die Menschen selbst als Gespenster erscheinen, so dass Mephistopheles mit vollem Recht sagen kann: Hier braucht es, dächt’ ich, keine Zauberworte, Die Geister finden sich von selbst zum Orte. Auch die Verteilung dieses Materials auf zwei Akte ist nicht zufällig oder nur technisch bedingt. Es handelt sich vielmehr um den geschichtsphilosophi­ schen Rhythmus, um den gesellschaftlich-menschlichen Inhalt des zerfal­ lenden Mittelalters. Im ersten Akt wird diese gespenstische Welt, der Goethe dann im dritten das echte Zeitalter der Ritterlichkeit, der Entstehung der neuen Poesie, der Entdeckung der individuellen Liebe und der Menschen­ würde der Frau gegenüberstellt, ideologisch durch den Geist der Antike gesprengt. Im vierten Akt entsteht in historisch richtiger Weise als feudal privilegiertes »Intermundium« im Schoß des Feudalismus dessen wirklicher Totengräber, der Kapitalismus. 213


Theatergeschichte

Die ideologische Sprengung hat aber ebenfalls ihre realökonomische und von Goethe richtig erfasste Vorgeschichte: die Erfindung und Einführung des Papiergeldes durch Mephistopheles. (Warum hier dieser und nicht, wie bei der kapitalistischen Entwicklung der Produktivität, Faust selbst der Initia­ tor ist, darüber werden wir später ausführlich sprechen.) Die tiefe Einsieht Goethes zeigt sich darin, dass das Chaos des sich zersetzenden Feudalismus durch die Vorherrschaft des Geldes – das Papiergeld ist hier nur ein sichtbares Symbol für das Geld überhaupt – ohne Umwälzung der ökonomischen und sozialen Produktionsbedingungen nur größer werden kann; die Herrschaft des Geldes beschleunigt nur den Verfall des Feudalismus. Sogar der Kaiser muss nach dem ersten Rausch über die Wirkung des Papiergeldes feststellen: Ich merk’ es wohl, bei aller Schätze Flor: Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor. Und der vierte Akt zeigt ein weiteres höheres Stadium der Auflösung: aus dem Kampf aller gegen alle, aus den Bürgerkriegen des ausgehenden Mittelalters, entsteht jener Zustand der Erstarrung, den Deutschland nach der Niederlage des Bauernkriegs, nach dem Dreißigjährigen Krieg durchleben musste – die Macht der zu kleinen Fürsten gewordenen einstigen Vasallen bei einer bloß dekorativen Zusammenfassung der zerrissenen und ohnmächtigen Nation im Kaisertum. Inmitten dieser Auflösung leuchtet die antike Schönheit auf. Und zwar wieder zweimal: einmal gespenstisch, das zweitemal als Realität. Das Zitie­ ren der Helena hat Goethe aus der Sage übernommen, jedoch nahm er hier die geistig weitestgehende Umänderung vor. In der Sage wird Helena von Mephistopheles als teuflisches Gespenst zitiert; ihr Erscheinen und ihr Zusammenleben mit Faust bedeutet für diesen den Gipfel seiner »epikurei­ schen« Ausschweifungen. Die Helena-Episode der Sage ist also, in den uns überlieferten Fassungen, ein wichtiges Moment des Kampfes der Lutheri­ schen Reformation gegen den Geist der Renaissance. Goethe kehrt nun dieses Verhältnis vollständig um. Die Gedanken der Reformation selbst, die Bestrebungen der im damaligen Deutschland ent­ stehenden halbmystischen Naturphilosophie sind auf der Stufe des zweiten Teils längst überwunden. Helena bedeutet für Goethe wirklich die Wieder­ geburt der Antike, durch die die mittelalterliche Gespensterwelt als das, was sie ist, entlarvt wird, jene Wiedergeburt, deren allmählich aufsteigendes und erstarkendes Licht das Reich der Finsternis endgültig verscheucht. 214


Georg Lukács: Faust-Studien

Darum ist es sehr wichtig, dass – in schroffem Gegensatz zur Sage – Helena beide Male von Faust ins Leben gerufen wird. Schon das erstemal, als nur ihr Schatten beschworen werden soll, kann Mephistopheles nur Ratschläge erteilen und Faust auf die Schwierigkeit der Aufgabe aufmerksam machen: Denkst Helenen so leicht hervorzurufen Wie das Papiergespenst der Gulden? Bei der wirklichen Wiedererweckung Helenas ist Mephistopheles ein ohn­ mächtiger und unbeteiligter Zuschauer, und es wird wiederholt ironisch unterstrichen, dass er als mittelalterliches Gespenst nichts mit der Antike zu tun hat und auch nichts zu tun haben kann. Zuerst wird also Helenas Schatten beschworen, und zwar zu einer Unter­ haltung der höfisch-feudalen Gesellschaft, die Paris und Helena zu sehen wünscht. Goethe hebt mit großer Deutlichkeit den Gegensatz zwischen Faust und dessen ganzer mittelalterlicher Umgebung, Mephistopheles ein­ geschlossen, in der Beziehung zu Helena hervor. Ihr Erscheinen ist für sie alle eine gleichgültig aufgenommene Zerstreuung unter den vielen anderen höfischen Belustigungen; Paris und Helena werden vom Standpunkt der höfi­ schen Schönheitsbegriffe bekrittelt; »hübsch, wenn auch nicht eben fein« finden sie die Zuschauer. Die Wiedererweckung der Antike kann eben für den niedergehenden feudalen Absolutismus nichts wirklich Befruchtendes, kein neues Element der Wirklichkeit bedeuten. Faust dagegen sieht schon im Schatten der Helena die aufsteigende langersehnte neue Realität: Hier faß’ ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten! Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, Das Doppelreich, das große, sich bereiten! So fern sie war, wie kann sie näher sein! Ich rette sie, und sie ist doppelt mein … Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren. Der Versuch Fausts, den Schatten Helenas zu erobern, endet mit einer Katas­ trophe. Im bewusstlosen Faust lebt nur die einzige Sehnsucht: zur wirklichen Helena, zur Leben gewordenen antiken Schönheit zu gelangen. Die zweite Erscheinung Helenas soll gerade diese Realität im Gegensatz zur Schatten­ haftigkeit der ersten gestalten.

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Theatergeschichte

Goethe hat an diesen Übergängen sehr lange mit vielfach gewechsel­ ten Entwürfen gearbeitet, damit, wie er an Zelter schreibt, »Helena« als dritter Akt sich ganz ungezwungen anschlösse und, genugsam vorbereitet, nicht mehr phantasmagorisch und eingeschoben, sondern in ästhetischvernunftgemäßer Folge sich erweisen könnte«. Was ist nun dieses ästhetisch Vernunftgemäße? Goethe stellt sich die Aufgabe, zu zeigen: erstens, dass Helena, die antike Schönheit, nicht als Zauberei, als Blendwerk vorgegaukelt wird, sondern wirklich naturhaft entstanden ist, zweitens, dass sie für das Leben der Gegenwart das geistig-menschliche Fundament, den Ausgangs­ punkt für das wirklich fruchtbare Neue bildet, und endlich drittens, dass sie – aus eben den gleichen Gründen – zugleich vergangen und gegenwärtig ist. Die klassische Walpurgisnacht, die diese Bestimmungen entwickelt, ist des­ halb keine symbolisch-phantastische Episode, wie es die mittelalterliche im ersten Teil war, in der Mephistopheles den vorübergehenden Erfolg erringt, Faust durch wüste Sinnenausschweifungen von der Gretchen-Tragödie abzu­ lenken, sondern sie ist die organische, ideell-ästhetische Vorbereitung der realen Erscheinung Helenas. (Dies mit den oben angedeuteten Einschrän­ kungen verstanden.) Die klassische Walpurgisnacht drückt demgemäß die »phänomenologi­ sche« Entwicklungsgeschichte der Gattung am klarsten aus. Sie ist subjek­ tiv der Weg Fausts zu Helena, zugleich aber objektiv die Entwicklung der griechischen Schönheit aus ihren primitiven, noch bloß naturhaften, teil­ weise orientalischen Anfängen. Dies im einzelnen nachzuweisen, wäre die Aufgabe eines ausführlichen Kommentars. Goethes ursprünglicher Plan war, dass Faust in die antike Unterwelt hinabsteigt und von Proserpina die Wie­ dererweckung Helenas ins Leben als Gnade erwirkt. Später hat er diesen Plan geändert. Faust steigt zwar durch die Walpurgisnacht hinunter zu Proserpina, aber die Szene zwischen beiden wird uns nicht vorgestellt. Dafür erscheint am Schluss, aus dem organischen Spiel der Naturkräfte geboren, die sieg­ reiche Schönheit Galateas. Der Weg von den Greifen, Sphinxen, Zwergen des Anfangs bis zum Triumphzug der meergeborenen Schönheit: das ist die Erfüllung des Goetheschen Programms in dem oben zitierten Brief an Zelter. Wenn nun Helena im dritten Akt leibhaftig erscheint, ist ihre Gegenwart nicht mehr das Ergebnis einer Zauberei, sondern das Resultat jenes Natur­ prozesses, den wir in der klassischen Walpurgisnacht erlebt haben. Ist einmal die Schönheit naturhaft geboren, so ist Helenas Erscheinen kein größeres Wunder als die Geburt Galateas. Der Inhalt der Helena-Szenen ist die Geburt des Neuen, des spezifisch Modernen aus der Aneignung der Antike durch die 216


Georg Lukács: Faust-Studien

Menschheit, die sich aus dem Mittelalter befreit. Helena ist jetzt real, kein Phantom mehr – aber was für eine Realität hat sie? Schon die klassische Wal­ purgisnacht schwankt zwischen Traum und Wirklichkeit und hat eine »phä­ nomenologisch«-phantastische Zeitfolge. Sie beginnt bereits mit dem Ende der antiken Freiheit: der – nach Winckelmann und auch Goethe – Grund­ lage der griechischen Harmonie und Formvollendung. Wenn also nach dem Untergang der wirklichen Antike, lange nach der Schlacht bei Pharsalos, auf dem Schlachtfeld, wo der antike Republikanismus endgültig zugrunde ging, der Prozess der Entstehung der antiken Schönheit vor unsern Augen drama­ tisch rekapituliert wird, so schwankt dieser Vorgang notwendig zwischen Traum und Wirklichkeit und seine Akteure zwischen wirklichen Gestalten und Erinnerungsphantomen. Die Realität der Helena-Szenen ist also nur eine dünne Oberfläche der erscheinenden, der zu Gestalt gewordenen antiken Schönheit, ein Schleier, hinter dem vergangene und noch ungeborene Kräfte um die Zukunft der Menschheit streiten. Helena tritt zwar mit der Würde und Majestät einer wirklichen Königin auf, gegenwartserfüllt, der unwiderstehlichen Macht ihrer Schönheit sicher; wenn aber Mephistopheles-Phorkyas sie in einem Wortduell an die eigene Vergangenheit erinnert, an die verschiedenen, ein­ ander teilweise widersprechenden Sagen, aus denen sie zu dieser unvergleich­ lichen symbolischen Gestalt zusammengewoben wurde, wird ihr das eigene Dasein unheimlich, schemenhaft, irreal: Ich als Idol ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. Noch deutlicher kommt diese Stimmung der Irrealität am Anfang der Eupho­ rion-Szene zum Ausdruck. Die Tragik der Tendenzen Euphorions ist noch nicht zutage getreten, alles scheint noch schön und hoffnungsvoll, als Faust bereits das deutliche Gefühl einer sich notwendig auflösenden Traumwelt hat: Wäre das doch vorbei! Mich kann die Gaukelei Gar nicht erfreun. Aber diese Irrealität hat einen völlig entgegengesetzten Charakter wie die am kaiserlichen Hof. Hier eine empirische Wirklichkeit, die aus innerer 217


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Verfaultheit gespenstisch phosphoresziert – dort das ideell Höchste eines jahrhundertelangen Ringens der modernen Menschheit um Licht, Klarheit und Schönheit; das erhabenste Ideal der Wirklichkeit als wirklich gesetzt, aber nur gesetzt, nicht empirisch wirklich seiend. Und eben deshalb von der Wirklichkeit wieder aufgehoben, zerstört. Diese Zerstörung ist die Funktion der Euphorion-Szene. Über die Identität oder Nicht-Identität Euphorions mit Byron ist sehr viel geschrieben worden. Ohne Frage gab Byrons Tod bei Mis­ solunghi den Euphorion-Szenen die endgültige Kristallisationsform. Aber die bloße philologische Erklärung dieser Gestalt durch Rückbeziehung auf Byron erklärt den geschichtsphilosophischen und poetischen Gehalt der Sze­ nen nicht hinreichend. Dazu muss man im Auge behalten, wie Goethe Byron gesehen, weshalb er in ihm den Repräsentanten jener neuen Zeit erblickt hat, die über die Erneuerung der Antike hinwegschreitet und einer neuen, von neuen Tragödien erfüllten Zukunft entgegenführt. In einem Gespräch mit Eckermann sagt Goethe: »Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben.« (Es ist also jede Erklärung falsch, die hier eine Versöhnung zwischen Klassik und Romantik sucht.) Noch konkreter spricht Goethe in einem früheren Gespräch aus, wie er diese nicht antike und nicht romantische Modernität Byrons auffasst. Er formuliert Byrons »Sym­ bolum« so: »Viel Geld und keine Obrigkeit.« Er sieht also in ihm den größten Vertreter eines liberal-anarchistischen Individualismus, den ideologischen Repräsentanten des entstehenden kapitalistischen Zeitalters, das die letzte Renaissance der Antike, die Periode Goethes und Napoleons, ablöst. Goethe empfindet sehr stark, dass dieses neue Zeitalter nicht mehr das seiner eigenen dichterischen Blüte ist. Er empfindet aber ebenso deutlich, dass hier etwas Berechtigtes, Fortschrittliches, in geschichtsphilosophischem Sinn zu Bejahendes vor ihm steht. Darum verteidigt er Byron stets gegen die philiströsen Einwände Eckermanns, der bestreitet, dass Byron für die »reine Menschenbildung« gewinnbringend sei. »Da muß ich Ihnen wider­ sprechen«, sagt Goethe, »Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.« Diese Gestalt, das Symbol des heraufziehenden neuen Zeitalters, sprengt die klassische Traumwelt, ebenso wie die antike Schönheit die mittel­ alterliche Gespensterwelt gesprengt hat.

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Schon vor dem Auftreten Euphorions sagt Phorkyas-Mephistopheles: Macht euch schnell von Fabeln frei! Eurer Götter alt Gemenge, Laßt es hin, es ist vorbei. So steht in Euphorien die Ideologie der neuesten Zeit fertig da, wenn auch in einer tragisch unterliegenden Form, aber in einer Weise, dass aus einem Untergang notwendig wieder neue Aufschwünge folgen müssen, dass die untergehende Gestalt vom selben Boden, der sie hervorgebracht hat, immer wieder neu reproduziert werden muss. Darum schließt der Klagegesang des Chors über Euphorions tragischen Tod mit den Worten: Wem gelingt es? – Trübe Frage, Der das Schicksal sich vermummt, Wenn am unglückseligsten Tage Blutend alles Volk verstummt. Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt. Diese Konzeption ist tief und großartig. Ihr spezifisch Goethescher Charakter liegt darin, dass die Erneuerung der Antike mit einer gewissen Einseitig­ keit nur von der ästhetisch-sittlichen Seite genommen wird, als Gewand der letzten »heroischen Illusionen«; die Antike des revolutionären Terrors und auch die der ganz anders gearteten Napoleonischen Periode fehlt in diesem symbolisch gestalteten Goetheschen Geschichtsbild, obwohl es objektiv ohne diese historische Entwicklung unmöglich seine philosophische und poeti­ sche Höhe hätte erreichen können. Goethe ist in dieser Frage weit weniger entschieden als der späte Hegel, für den die Französische Revolution als Ver­ gangenheit, als notwendiges Kettenglied der historischen Dialektik unent­ behrlich war; in der »Phänomenologie« ist die Französische Revolution sogar das unmittelbare Fundament der Gegenwart, der anbrechenden neuen Zeit. Goethe hat den sozialen und politischen Inhalt der Französischen Revolution stets bejaht, und seine Bejahung nimmt mit dem Alter immer entschiedenere Formen an, aber den politisch-revolutionären Weg der Umwälzung lehnt er immer ab. Darin bleibt er bis an sein Lebensende Sohn der Aufklärung. Es sei aber hier nicht vergessen, dass die in ihrer Zukunftsperspektive viel 219


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entwickelteren französischen Erben der Aufklärung, die großen Utopisten, den politisch-­revolutionären Weg ebenfalls immer als ungangbar und schäd­ lich bezeichnet haben. Demnach kommt Goethes positive Stellungnahme zum Inhalt der Französischen Revolution im »Faust« nur gelegentlich und indirekt zum Ausdruck, so in der Walpurgisnacht des ersten Teiles, wo die französischen Emigranten, die verschiedenen Sorten der Ci-devants, in der verachtungsvollsten Weise verspottet werden, so gelegentlich in den Eupho­ rion-Szenen, so, wie wir später sehen werden, als Perspektive im letzten Monolog Fausts. Darum fehlt in dem Geschichtsbild des zweiten Teils das politische Han­ deln. Es ist selbstverständlich, dass Faust am kaiserlichen Hof überhaupt nicht handeln kann. Die hinterlassenen Fragmente zeigen das noch schärfer als der Text selbst. In einem Entwurf lässt Goethe seinen Faust dem Kaiser hochfliegende Pläne vortragen. Der Kaiser hört ganz verständnislos zu. Als Mephistopheles bemerkt, dass die Lage vollkommen unhaltbar wird, nimmt er die Gestalt Fausts an, schwatzt allerhand Unsinn, worauf Kaiser und Hof von der Tiefe und Großartigkeit des neuen Zauberers entzückt sind. Und gar als Faust nach dem Verschwinden der Antike ins Leben zurückkehrt, interes­ siert ihn nur der ökonomisch-technische Kampf der Unterwerfung der Natur. In den vorbereitenden Szenen zu dieser letzten Etappe fällt der mensch­ lich resignierende Ton Fausts auf. Er lehnt jeden Genuss ab: »Genießen macht gemein.« Er kümmert sich um keinen Ruhm: »Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« Goethe lässt sogar Mephistopheles die Verführungsszene Christi durch den Satan parodieren und dem Faust »die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten« anbieten, doch Faust lehnt ab und will nichts als ein Tätig­ keitsfeld für seine neuen Pläne. Auch hier sind einzelne Fragmente deutlicher als das Werk selbst; in einem kommt es sogar zum Bruch mit Mephistopheles. Diese Auffassung der gesellschaftlichen Praxis durch den alten Goethe ist in der Faustliteratur vielfach kritisiert worden, vor allem durch F. Th. Vischer, der sogar einen Plan entwirft, wie Goethe den zweiten Teil hätte schreiben müssen. Er fordert Fausts Teilnahme am Bauernkrieg, und zwar als Liberalen, der alle »Greuel« der Revolution vermeiden will; Mephisto­ pheles jedoch, mit dem Faust schon früher gebrochen hat, soll sich in die aufständische Bewegung einschleichen, sie als »Radikaler« auf die Spitze treiben, »Exzesse« verursachen, die Faust zwar nicht will, für die er aber verantwortlich ist. Die Reue darüber soll die Läuterung Fausts hervorrufen. Abgesehen von der subjektivistisch moralisierenden Enge dieser Auffassung – wir haben gesehen, dass Goethe für den zweiten Teil solche Kategorien der 220


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bloß individuellen Moral, wie Reue, von vornherein ablehnt –, kommt darin eine liberale Geschichtsphilosophie zum Ausdruck, nach der die wirklichen Vertreter des mephistophelischen Prinzips die plebejischen Revolutionäre, die Münzer und Robespierre, gewesen wären. Bei allem Unverständnis für die Bestrebungen der konsequent revolu­ tionären Demokratie steht Goethe turmhoch über einer solchen Auffassung. Verwandte Stimmungen tauchen zwar gelegentlich in dem Jugendwerk »Götz von Berlichingen« auf, haben aber dort, da es sich um das Werk eines vor­ revolutionären Aufklärers handelt, noch eine ganz andere Bedeutung. Das Vischersche Ideal ist in Klingers »Faust« verwirklicht worden, in dem die Enttäuschung, das Irrewerden eines Stürmers und Drängers an der Franzö­ sischen Revolution deutlich zum Ausdruck kam. Goethe konnte unmöglich den Weg der demokratischen Revolution suchen, aber man findet in seinen entscheidenden Werken auch niemals einen reaktionären oder liberalen Kampf gegen sie. Der geniale Ausweg, den er findet und der selbstverständ­ lich unmöglich von utopischen Elementen frei sein kann, ist eben der der Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus. Es ist charakteristisch, dass auch dieser Ausweg von Vischer missbilligt wird. Er meint, Faust dürfe durch eine praktische Tätigkeit die Versöhnung herbeiführen, »aber nur nicht durch eine prosaisch-industrielle«. Der libe­ rale Vischer, der zum Kapitalismus als Gesamterscheinung unvergleichlich positiver und unkritischer steht als Goethe, kritisiert also – kleinbürgerlichromantisch – gerade das Großartigste am Schluss des »Faust«: das Entdecken eines neuen praktischen Heroismus, eines neuen und tiefen tragischen Kon­ flikts mitten im Zentrum der kapitalistischen Prosa. Obwohl aber Vischer gerade an den dichterisch großartigsten Momenten des zweiten Teils achtlos vorübergeht, sieht er doch, trotz liberal-romanti­ scher Voreingenommenheit, wenigstens den Tatbestand selbst richtig. Der reaktionäre Romantiker der imperialistischen Periode, Friedrich Gundolf, ist so tief empört über die Abwendung Goethes von seinem jugendlichen »Titanismus«, dass er nicht einmal den Text des Schlusses richtig aufzuneh­ men imstande ist und meint, Faust trete am Schluss in einen »Staatsdienst«. Der Abschluss des zweiten Teils ist organisch aus der Gesellschaftsbe­ trachtung des alternden Goethe gewachsen. Wer dessen Aussprüche aus den letzten Jahrzehnten kennt, dem kommt dieser Schluss keineswegs über­ raschend. Goethe lehnt die unklaren Illusionen der Befreiungskriege iro­ nisch ab, meint aber später, dass die guten Chausseen und die Eisenbahn notwendig die Einheit Deutschlands herbeiführen würden; er interessiert 221


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sich leidenschaftlich für jede neue technisch-ökonomische Errungenschaft des Kapitalismus und spricht einmal den Wunsch aus, noch die Schaffung des Donau-Rhein-Kanals, des Suezkanals und des Panamakanals erleben zu können. Hierher gehört auch die im damaligen Deutschland sehr seltene, neidvoll anerkennende Stellung zu dem beginnenden Aufschwung in den Vereinigten Staaten. Aus dieser Perspektive entsteht bei Goethe die Illusion, dass die politi­ sche Revolution bei einem so ungehemmten und großartigen Aufschwung der Produktivkräfte überflüssig werden könnte. Hier ist eine der wichtigsten Einseitigkeiten und Schranken seiner Weltanschauung, die sich auch in sei­ ner Naturphilosophie, in seiner Auffassung der Dialektik, in der Überbeto­ nung der Evolution, in der Ablehnung jeder »Katastrophentheorie« spiegelt. (Die Feststellung dieser Einseitigkeit soll aber nicht verhüllen, welch gro­ ßen Schritt vorwärts die Naturphilosophie Goethes etwa gegenüber Cuvier bedeutet hat.) Und gerade diese Einseitigkeit ist bei Goethe am engsten mit seiner oft hervorgehobenen, einzigartigen Position verbunden, mit der spe­ zifischen Art, in der er eine Brücke von der Aufklärung ins 19. Jahrhundert schlägt. Aber wie immer man diese Schranke Goethes auch kritisieren mag, sicher ist, dass die dichterische »Phänomenologie des Geistes« mit der rea­ len Entwicklung der Produktivkräfte als jener Macht schließt, die aus dem phantasmagorischen Dasein des Feudalismus in die Welt der wirklichen Ent­ faltung der menschlichen Fähigkeiten, in die wirkliche Welt der mensch­ lichen Tätigkeit führt. Der teuflische Charakter der kapitalistischen Form dieses Fortschrittes wird bei Goethe, wie wir weiter sehen werden, durch nichts beschönigt; aber zugleich wird gezeigt, dass hier erst das echte Feld der menschlichen Praxis eröffnet wird. Auf die tragisch unlösbare Renais­ sancefrage des Anfangs, auf die Tragik der Erdgeist-Szene gibt erst dieser praktisch-prosaische Schluss die adäquate Antwort. Indem Goethe bei seiner Faust-Konzeption sich weniger an den Aufklärungsbegriff der Erkenntnis hält als Lessing, vielmehr stärker an die Renaissancetraditionen anknüpft, erhält er ein Sprungbrett zu der modernen, durch die Entwicklung der Indus­ trie entfalteten Einheit von Theorie und Praxis. Freilich ist hier nur die Perspektive der Antwort vorhanden. Goethes Horizont reicht über den Kapitalismus nicht hinaus. Seine tiefe denkerische und dichterische Ehrlichkeit führt deshalb zu einer Darstellung in nackten, unüberbrückbaren Gegensätzen. Demnach ist die kapitalistische Praxis zwar die Erfüllung von Fausts Lebenssehnsucht, aber zugleich und davon 222


Georg Lukács: Faust-Studien

untrennbar ein neues, maximal-aktives Tätigkeitsfeld für Mephistopheles, nachdem dieser in den antiken Szenen fast zum bloßen Zuschauer herab­ gesunken war. So erscheint die Gestalt dieser neuesten Zeit in zwiespältigen, widerspruchsvollen Formen. Einerseits haben wir die revolutionäre Jüng­ lingshaftigkeit Euphorions vor uns, anderseits Faust als hundertjährigen erblindeten Greis. Goethe empfindet, ohne hier zur begrifflichen histori­ schen Klarheit gelangen zu können, das kapitalistische Zeitalter zugleich als alt und jung, zugleich als Anfang und Ende. In allen diesen Komplexen sind die Widersprüche klar gestaltet, aber sie bleiben nicht nur unaufgelöst, sondern stehen einander so schroff dissonant gegenüber wie sonst nie bei Goethe. Die Perspektive der Lösung der tragi­ schen Widersprüche in Fausts letztem Monolog ist ausdrücklich eine bloße Zukunftsperspektive. Die hoffnungsvollen Worte Fausts stehen in schrillem Gegensatz zu der tatsächlichen Lage, in der sie gesprochen werden: Lemuren graben auf Mephistopheles’ Anweisung das Grab Fausts, während er von großen produktiven Arbeiten träumt, die die Menschheit aufwärts führen. Die christlich-himmlische Transzendenz des letzten Abschlusses folgt, wie wir noch ausführlich sehen werden, gedanklich und ästhetisch notwendig aus diesen Endresultaten der Goetheschen Geschichtsphilosophie, aus der prinzipiellen Unlösbarkeit der Widersprüche des Lebens auf jenem realen Boden, der dem Denker und Dichter Goethe bekannt ist. Alle Kritiken also, die einen bloß irdischen Schluss verlangen, sind nur scheinbar radikaler, als Goethe es war; im wesentlichen steht hinter ihnen eine flachliberale Welt­ auffassung: die Forderung, alle Widersprüche des kapitalistischen Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft selbst zur »Versöhnung« zu bringen. Goe­ thes Ansicht ist unvergleichlich tiefer: er glaubt an einen unverderblichen Kern im Menschen, in der Menschheit und ihrer Entwicklung; er glaubt an die Rettung dieses Kerns auch in (und vor allem trotz) der kapitalistischen Entwicklungsform. 1940

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Die Tragödie Heinrich von Kleists

An Kleist knüpft in Deutschland die moderne Literatur im engeren Sinne, im Sinne ihrer niedergehenden Spätentwicklung an. Kleist lebt und schafft unverstanden von seinen Zeitgenossen. Sein literarischer Ruhm beginnt verhältnismäßig spät und erreicht den Gipfelpunkt in der imperialistischen Periode. In dieser Zeit ist er, wenigstens in den literarisch gebildeten Kreisen, der populärste und der als besonders aktuell empfundene Klassiker. Vor allem das Kleistsche Drama wird im steigenden Maß zum Vorbild und verdrängt immer stärker das Schillersche. Schon Gundolf stellt Kleist als den eigent­ lichen deutschen Dramatiker dar; als einen Dichter, der originär, aus seinen ursprünglichen Instinkten Dramatiker geworden sei und nicht wie Lessing, Goethe oder Schiller auf irgendwelchen komplizierten Umwegen. Diese Bewertung führt dann der Faschismus weiter aus. Der Dramatiker Kleist wird bei den Faschisten das große gestalterische Gegenbild zum dramati­ schen Humanismus Goethes und Schillers, der germanische Dionysier unter den Dramatikern, mit dessen Hilfe die humanistische Vernunft der Dramatik Goethes und Schillers überwunden werden kann. Diese Richtung der »Aktualisierung« hat bestimmte reale Wurzeln in Kleists Persönlichkeit. Hier braucht die reaktionäre Literaturgeschichts­ schreibung weniger Verfälschungen, weniger Verdrängungen, weniger Weg­ lassungen als in den Konstruktionen, die zum Beispiel Hölderlin oder Büch­ ner zu Ahnen reaktionärer Kunstbestrebungen machen wollen. Franz Mehring hat über Kleists Persönlichkeit im wesentlichen richtig geurteilt, wenn er, eine beiläufige Bemerkung Treitschkes variierend, gesagt hat, dass Kleist »sein Lebtag ein preußischer Offizier der alten Schule geblie­ ben ist«. Dabei unterstreicht Mehring mit Recht eben das Wort »geblieben«. Er leugnet also, was verschiedene »Retter« Kleists von links her immer wieder versuchen: dass Kleist jemals in einer wirklichen Opposition zum verfaulten Preußen seiner Zeit gestanden hätte. Wir haben schon bei einer ersten Feststellung der Wesenszüge Kleists einen tiefgreifenden Widerspruch vor uns: den altpreußischen Leutnant, der zugleich Vorläufer der modernen Tragödien der monomanischen Leiden­ schaften, der heillosen, undurchbrechbaren Einsamkeit des Menschen in der 225


Theatergeschichte

kapitalistischen Gesellschaft geworden ist, der Vorläufer der modernen Tragi­ komödien der Hysterie, der erste Initiator der dionysischen Barbarisierung der Antike, der Vernichtung des aus der Antike geschöpften Humanismus. Diese Widersprüche vertiefen sich bei näherer Betrachtung seiner Per­ sönlichkeit und seines Schicksals. Kleist repräsentiert in der schroffsten Weise die romantische Opposition, mit allen ihren reaktionären Tendenzen, gegen den klassischen Humanismus der Weimarer Periode Goethes und Schillers. Und doch bleibt Kleist in der Zeit, die mittelmäßige Vertreter des roman­ tischen Denkens und Empfindens, des bornierten Patriotismus im Kampf gegen Frankreich usw. wahllos in die Höhe hob (Adam Müller, Fouque usw.), einsam und unverstanden. Obwohl er politisch eine extrem-reaktionäre Posi­ tion bezieht und sie in den »Berliner Abendblättern« (1810/11) publizistisch geschickt verficht, gerät er auch politisch in eine vollständige Isolierung. Mit seiner Familie entzweit und von ihr verachtet, von den mit ihm politisch verbündeten Romantikern (Arnim, Brentano usw.) in einer sehr lauen Weise, mit vielen Vorbehalten von oben herab gelobt, geht er am Vorabend des natio­ nalen Aufschwungs zu dem »Befreiungskriege« elend zugrunde. Kleists Tod, ein Doppelselbstmord zusammen mit einer wegen unheil­ barer Krankheit zum Tode entschlossenen Frau, steigert noch diesen exzent­ rischen Charakter seines Lebenslaufs. Um so mehr, da der Doppelselbstmord als erwünschter Ausweg aus den unlösbaren Widersprüchen des Lebens bei Kleist immer eine große Rolle gespielt hat. Es gibt aus verschiedenen Perioden seines Lebens Hinweise darauf, dass der Doppelselbstmord nur in Ermange­ lung eines willigen Partners nicht früher erfolgt ist. Und sogar im Abschieds­ brief an die vertraute Freundin seiner letzten Periode, an Marie von Kleist, spricht Kleist offen aus, dass er ihr nur deshalb untreu geworden, nur deshalb mit einer anderen Frau in den Tod gegangen ist, weil sie, Marie, seinen Vor­ schlag, zusammen zu sterben, abgeschlagen habe.

I Die trostlose Einsamkeit aller Menschen, die hoffnungslose Undurchsich­ tigkeit der Welt, alles Geschehens in der Welt: das ist die Atmosphäre der Kleistschen Tragödie im Leben und in der Literatur. Sylvester von Schroffen­ stein, eine Gestalt in Kleists erstem Drama, drückt dieses Gefühl vielleicht am plastischsten aus:

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Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

Ich bin dir wohl ein Rätsel; Nicht wahr? Nun tröste dich, Gott ist es mir. Kleist selbst sagt in einem späteren Brief ganz ähnlich: »Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist ein bloß unbegriffener!« Aus diesem Lebensgefühl heraus gewinnt der Tod eine zugleich grauenerre­ gende und lockende Gestalt, er ist für Kleist und für die Menschen, die Kleist geschaffen hat, ein stets gegenwärtiger Abgrund, der zugleich lockt und das Blut erstarren lässt. (Poe und Baudelaire haben später dieses Lebensgefühl weltliterarisch bekanntgemacht.) Die szenisch tragischen Wirkungen Kleists hängen in ihrer Mehrzahl mit der großartigen sinnfälligen Gestaltung dieses Lebensgefühls zusammen. Aus einer vernichteten oder Fragment gebliebenen Jugendtragödie Kleists ist uns nur eine Szene durch Erzählungen von Zeitge­ nossen bekanntgeworden: österreichische Ritter würfeln dort vor der Schlacht von Sempach. Scherzend schließen sie die Wette, dass der, der schwarz wirft, in der Schlacht fallen wird. Der eine wirft schwarz; allgemeines Gelächter und Scherze; der zweite ebenfalls, das Gespött wird gezwungener, und als schließlich ein jeder schwarz geworfen hat, entsteht die grausige Vorstimmung jener Schlacht, in der die Schweizer das Ritterheer vollständig aufgerieben haben. Solche Szenen finden sich aber in allen Trauerspielen Kleists. In der »Hermannsschlacht« wird der römische Feldherr Varus von den Germanen umzingelt. Als unerschrockener Römer will er seine Gegenmaßnahmen treffen. Da erscheint plötzlich im Wald eine germanische Alraune. Wir geben die stimmungshaft entscheidenden Teile dieses Gespräches wieder: varus: Wo komm ich her? alraune: Aus Nichts, Quintilius Varus! … varus: Wo geh ich hin? alraune: Ins Nichts, Quintilius Varus! … varus: Wo bin ich … alraune: Zwei Schritt vom Grab, Quintilius Varus, Hart zwischen Nichts und Nichts! Die Gestaltung der Menschen und ihrer Schicksale aus diesem radikalen Nihi­ lismus, aus dieser Spannung zwischen Todesgrauen und Todessehnsucht, aus dieser tödlichen Einsamkeit der Menschen, ihrer abgrundtiefen Trennung voneinander, macht die Dichtung Kleists in den letzten Jahrzehnten der kapi­ talistischen Welt so außerordentlich »modern«. 227


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Wie verträgt sich aber dieses dekadente Weltgefühl mit Kleists konser­ vativem Junkertum, mit der Tatsache, dass er ein altpreußischer Offizier geblieben ist? Abstrakt erscheint die Frage unlösbar, denn diese entgegengesetzten Pole scheinen einander völlig auszuschließen. Aber wie bei jeder Frage zeigt die Konkretisierung, dass die Gegensätze im Leben miteinander verbunden sind. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass sogar sehr tiefe Erschütterungen des Weltgefühls, tiefe, bis zur Verzweiflung gehende seelische Krisen die Stellung des Menschen zu seiner ererbten sozialen Basis nicht unbedingt erschüttern müssen. Ja, wenn die Krise von vornherein einen solchen Charakter annimmt, dass sie das rein individuelle Schicksal des Menschen unmittelbar mit der religiös gefärbten metaphysisch aufgebauschten Frage nach dem »Sinn der Welt« verknüpft, kann diese Krise sogar in Richtung auf die Verfestigung, die Konservierung der ursprünglichen sozialen Instinkte des Menschen wirken. So ist es auch Kleist ergangen. Das Kleistsche Grunderlebnis der Einsamkeit ist freilich an sich (von Kleist selbst nie begriffen) der Stellung des Menschen zur Gesellschaft im Kapitalismus entsprungen. Es ist sehr bezeichnend, dass die schlichtesten und plastischsten Schilderungen Kleists von der Einsamkeit aus der Zeit sei­ nes Pariser Aufenthalts stammen. Es sind die Schilderungen der Einsamkeit des Menschen in der Großstadt. »Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauch­ bar wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es wie ein Flötenton im Orkan.« Die gefühls- und gedankenmäßige Auseinandersetzung mit der Tatsa­ che dieser Einsamkeit verläuft bei Kleist sehr sprunghaft und ungleichmäßig. Sofern ihm aber etwas von den gesellschaftlichen Grundlagen seiner Gefühle bewusst wird, verstärkt dieses Bewusstsein nur seinen blinden und wütenden Hass gegen alles Neue, gegen die auch in Deutschland heraufziehende neue Welt der bürgerlichen Gesellschaft. So betrachtet er Paris, die Französische Revolution, Napoleon, Fichte, Smith, Hardenberg usw. mit Hass. Dieser Hass bleibt jedoch dumpf, triebhaft, gefühlsmäßig. Er führt niemals über Kleists ursprünglichen Horizont, über den Horizont des Altpreußentums hinaus. Ja, im Laufe der Zeit festigt dieser Hass seine bereits locker gewordenen Bindun­ gen an das junkerhaft-absolutistische alte Preußen. 228


Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

Die russische Malerin Lisaweta nennt in der tiefen und feinen Novelle Thomas Manns den dekadenten Künstler Tonio Kröger einen »verirrten Bür­ ger«. Sie will damit sagen, dass alle dekadent-verfeinerten Oppositionsten­ denzen Tonio Kröger zwar scharf vom durchschnittlichen Bürger absondern, ihn dem durchschnittlichen Bürger fremd, unheimlich, ja verbrecherisch erscheinen lassen – und ihn dennoch immer wieder, unfehlbar, ins Bürger­ tum zurückführen. Man kann mit demselben Recht Heinrich von Kleist einen »verirrten« altpreußischen Junker nennen. Dieses Verirrtsein beginnt bei Kleist sehr früh. Aus Familientradition Offizier geworden, fühlt er sich im verfaulenden friderizianischen Heer nicht am Platze. Weder Krieg noch Frieden befriedigen ihn. Er sehnt sich nach menschlicher Gemeinschaft, nach harmonischem Ausgleich seiner Instinkte mit einer Weltanschauung. Es ist selbstverständlich, dass er sich dabei in erster Linie mit der Aufklärung auseinandersetzen muss. Bestim­ mend für seine Entwicklung ist hierbei der Einfluss Rousseaus. Und es ist wieder für die »Modernität« Kleists sehr charakteristisch, dass er einer der ersten ist (jedenfalls in Deutschland), bei denen die Kulturkritik Rousseaus in eine unzweideutig reaktionäre Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt. Freilich, wie wir bereits gesehen haben, in einer spezifisch deutschen Weise. Es ist ja im allgemeinen die charakteristische Schwäche der deutschen Aufklärung, dass sie die großzügige Gesellschaftskritik der Franzosen missachtet und deren atheistische Kritik der Religion wieder in eine »Religion der Vernunft« zurückverwandelt. Auf diesem Boden entsteht der Rousseauismus Kleists, auf dem Boden einer abgeschwächten, besonders gesellschaftskritisch abgestumpften Aufklärung. Diese hatte auch in den Jun­ kerkreisen des damaligen Preußen starke Wurzeln; wir wissen zum Beispiel, dass Voltaire und Helvetius die Hauptlektüre von Kleists Lieblingsschwester Ulrike bildeten. Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, der Versuch, durch leiden­ schaftliche und wahllose Aneignung der Wissenschaft sich eine Weltanschau­ ung zu erzwingen, kommt bei Kleist durch die berühmt gewordene KantKrise zu einem jähen Abschluss. Die Lektüre Kants (oder wie Ernst Cassirer meint: Fichtes) führt einen jähen Zusammenbruch dieser Hoffnungen Kleists herbei. An diese Kant-Krise knüpfen alle reaktionären, antihumanistischen Tendenzen der faschistischen Literaturtheorie an. Werner Däubel sieht zum Beispiel, nach dem Vorbild Paul Ernsts, in Kant das große weltanschauliche Hindernis einer deutschen Tragödie. Kant hat, nach Däubels Auffassung, den Tragiker Schiller zugrunde gerichtet, und Kleists Kant-Krise repräsentiert 229


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demnach die Revolte der gesunden germanischen Instinkte gegen diesen westlich-vernunftgemäßen Fremdkörper. (Es ist sehr bedauerlich, dass zuweilen auch antifaschistische Schriftsteller auf diese reaktionäre Kons­ truktion hereingefallen sind.) Wir können hier die Kant-Frage nicht in ihrer ganzen Breite aufrollen. Nur mit einigen Worten muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Aus­ einandersetzungen Schillers mit Kant auf einer grundlegend anderen Linie bewegen als die Kleists. Schiller versucht den subjektiven Idealismus Kants in einer objektiv idealistischen Richtung zu überwinden; er wird als Theoretiker ein Vorläufer Hegels, als Dichter – bei allem Gegensatz der schöpferischen Tendenzen – ein Mitstreiter Goethes. Für Kleist spielen die großen wider­ spruchsvollen Probleme der Kantschen Philosophie überhaupt keine Rolle. Gerade dort wirkt Kant auf ihn vernichtend, wo dieser ganz unzweifelhaft eine progressive Arbeit geleistet hat, nämlich in der Zerstörung der meta­ physischen Gotteserkenntnis, auch in ihrer verdünnten deutsch-aufkläreri­ schen Form. Kleist hatte sich vor dieser Krisenperiode eine Weltanschauung zurechtkonstruiert, deren Kernpunkt eine Art Seelenwanderung gewesen ist, die Fortsetzung der menschlich-moralischen Vervollkommnung des Indi­ viduums nach dem Tode. Diese Weltanschauung ist bei der Berührung mit Kant zusammengebrochen. Über die so entstandene Leere und Ziellosigkeit klagt er in seinen Briefen an Braut und Schwester: »Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert.« Es handelt sich um die unmittelbare Beziehung des Individuums Kleist zum Universum, zum personifizierten Gott. Kleist selbst beschreibt die typi­ schen Probleme, um die es sich bei ihm handelt, stets mit größter Aufrichtig­ keit und mit großer Plastik. Sehr bald nach der Kant-Krise fährt er mit seiner Schwester nach Paris. Auf dem Wege geschieht ein Wagenunglück, dem sie glücklich entrinnen. Kleist schreibt darüber an seine Braut: »Also an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben! Und wenn es (nämlich das Leben, G. L.) geschlossen gewesen wäre, darum hätte ich gelebt? Das wäre die Absicht des Schöpfers gewesen bei diesem dunklen, rätselhaften irdischen Leben? Das hätte ich darin lernen und tun sollen und weiter nichts? … Wozu der Himmel es gefristet hat, wer kann es wissen?« Es ist aus alledem klar, dass die KantKrise bei Kleist nur einen etwas aufklärerisch abgewandelten Protestantismus (unmittelbare Beziehungen der menschlichen Seele zu Gott) erschüttert hat. 230


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Aus der Krise wächst dann eben der uns bereits bekannte radikale Nihilis­ mus hervor, die Kleistsche Mischung von Todesgrauen und Todessehnsucht. Und es ist sehr interessant zu beobachten, wie die grundlegende Struktur des Verhältnisses von Kleist zur Welt sich in allen diesen Krisen immer erneut reproduziert. Nämlich die Frage nach dem unmittelbaren, absoluten Welt­ sinn des Individuums Kleist, so wie es eben existiert. Alle Zwischenglieder, alle Vermittlungen, insbesondere die gesellschaftlichen, werden von Kleists Gefühl radikal ausgeschaltet. Das Umschlagen seiner Hoffnungen in radi­ kale Verzweiflung ändert nichts an der borniert-religiösen Grundlage seiner fundamentalen Fragestellung. Gerade diese Art der geistigen Krise hat Kleist in der neueren Zeit, in der Periode, wo das weltanschauliche Niveau des Bür­ gertums seinen tiefsten Niedergang erreicht, so populär gemacht; gerade in dieser Periode erscheinen solche subjektiv echt empfundenen, aber objektiv kindischen Krisen als etwas besonders »Tiefes«. Mit alledem haben wir bereits klarere Konturen von Kleists Weltgefühl vor uns. Wir sehen, wie er die Probleme des damaligen Humanismus zu einer monomanisch-individuellen Psychologie verengt und die so entste­ henden Scheinprobleme mit wildem Pathos und religiöser Inbrunst erlebt. Die besondere Note seiner Entwicklung nach der Kant-Krise ist nun, dass er die Vernunft, die in seinen Augen zur wesentlichen Erkenntnis, nämlich zur Erkenntnis des Weltsinnes seiner eigenen Individualität, nicht geeignet ist, mit allen Mitteln herabsetzt. Die Bekämpfung der Vernunft führt zu einer Verherrlichung des unbewussten Gefühls, des Instinktes, zur Verachtung einer jeden Bewusstheit. »Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche ist schön, und schief und verschroben alles, sobald es sich selbst begreift.« Die Pathetik dieser Gefühlsüberspannung wird bei Kleist schon darum bis ins Hysterische, bis ins Monomanische gesteigert, weil es sich nicht mehr um ein wirklich naives Gefühl, um eine wirkliche Instinktsicherheit handelt. Er glaubt seine Gefühle ständig bedroht. Er kämpft ununterbrochen gegen diese Bedrohung. Denn nur das Gefühl kann ihm nunmehr als Kompass im Leben dienen, und er spürt ununterbrochen, wenn auch noch so dumpf, dass dieses Gefühl kein zuverlässiger Führer sein kann. »Verwirre mein Gefühl nicht«, sagt Kleists Hermann, wenn eine politische Entscheidung von ihm verlangt wird. Und alle Helden Kleists leben – ebenso wie ihr Dichter – traum­ artig in sich selbst abgesperrt, ein Zustand, der es erlaubt, ihre Leidenschaf­ ten, gewissermaßen im luftleeren Raum des auf sich selbst gestellten Ichs, ins Monomanische hinein zu steigern. Aber das dumpfe Bewusstsein der Außen­ welt ist in ihnen immer vorhanden. Sie zittern ununterbrochen vor einem 231


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Aufwachen aus dem Traum und fühlen dumpf, dass ein solches Aufwachen unvermeidlich ist. Aber gerade in dieser pathetischen Monomanie und durch sie wird der »alte Adam« des preußischen Junkers in Kleist stärker konserviert. Freilich wirken seine dekadenten Züge immer unheimlicher auf die durchschnitt­ lichen Standesgenossen, sogar auf die Schwester. Dies verhindert jedoch nicht, dass diese Züge in Kleist immer starrer, verkrampfter, zäher werden: als pathetisch verherrlichte, tragisch verklärte Instinkte eines »verirrten« preußischen Junkers. In diese asoziale Gefühlswelt Kleists dringt plötzlich der Zusammenbruch Preußens in der Schlacht von Jena (1806) ein. Dieser Zusammenbruch löst in Kleist ebenso wie in den meisten seiner Zeitgenossen eine wichtige Krise aus. In der folgenden wirren Zeit der Vorbereitung zum nationalen Aufstand gegen das Napoleonische Frankreich treten die politisch und sozial reak­ tionären Instinkte Kleists mit voller Stärke hervor. Kleists Reaktion auf die Ereignisse ist eine verbissene Wut gegen alles Französische, ein blindwütiger Nationalismus. Er träumt von Attentaten gegen Napoleon. Er schreibt von einem hinreißend echten Gefühl getragene Gedichte des Aufruhrs, in denen das deutsche Volk aufgefordert wird, die Franzosen wie tolle Hunde, wie schädliche Bestien zu erschlagen. Er schreibt die »Hermannsschlacht«, sein erstes Drama, das thematisch über die Gestaltung subjektiver Leidenschaften hinausgeht; das einzige deutsche Drama dieser Zeit, in dem die nationale Befreiungssehnsucht der Deutschen – bei allen reaktionären Inhalten – in großartiger Weise gestaltet wird. Er tritt als Publizist auf und wird Redak­ teur der »Berliner Abendblätter«. In diesen kämpft er, zusammen mit allen Protagonisten der romantisch-junkerhaften Reaktion, mit Arnim, Brentano, Adam Müller usw., gegen die Reformpläne Hardenbergs. Er macht aus seiner Zeitung ein Organ der Junkerfronde gegen die Reformen Steins, Scharnhorsts und Gneisenaus. Diese Stellungnahme Kleists gegen die preußische Reformpartei, deren innere Widersprüchlichkeit und Zwiespältigkeit näher zu analysieren über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausführen würde, zeigt seine reaktionäre Tendenz ganz klar. Mögen die Pläne Scharnhorsts und Gneisenaus in ihrem Kerne noch so widerspruchsvoll, naiv und utopisch gewesen sein, die von ihnen erzwungenen sehr gemäßigten, kompromisshaften Reformen gaben doch die einzige Möglichkeit, ein preußisches Heer aufzustellen, das später imstande war, sich mit Napoleon siegreich zu messen. Die Politik Kleists und seiner Gesinnungsgenossen hätte unfehlbar zu einem neuen Jena geführt. 232


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Und doch ist diese Entwicklung, vom Standpunkt des Menschen und des Dichters Kleist gesehen, ein großer Schritt vorwärts. Zum erstenmal wird Kleist von nationalen, von allgemeinen, von gesellschaftlichen Problemen aufs tiefste bewegt. Zum erstenmal in seinem Leben wirkt er innerhalb einer Gemeinschaft. Der »Verirrte« hat heimgefunden. Das Heimfinden müsste man freilich wieder in Anführungszeichen setzen. Für die echten Junker bleibt Kleist ein verkommener Literat. Auch für seine Familie. Als Kleist nach dem Scheitern der »Abendblätter« seine Familie besucht hat, schreibt er über den Eindruck dieser Zusammenkunft an Marie von Kleist, dass er lieber zehnmal sterben, als ein solches Zusam­ mensein wieder erleben möchte. Für die Regierung, die die Junkerfronde der »Abendblätter« durch rücksichtslose Handhabung der Zensur unterdrückt hat, ist der Leutnant a. D. Kleist nichts als ein lästiger Bittsteller. Für die romantischen Mitstreiter ist er ein verbissener Eigenbrötler. Die Aussprüche Arnims und Brentanos über ihn sind sehr reserviert und gewunden; ihr Lob ist spärlich und mit so großen Vorbehalten gemischt, dass es bei der unge­ heuren dichterischen Überlegenheit Kleists über Arnim und Brentano heute geradezu komisch wirkt. Kleist hat privat und öffentlich Schiffbruch erlitten. Preußen hat sich für den russischen Feldzug mit Napoleon verbündet. Die Partei des Krieges gegen Napoleon hat eine Niederlage erlitten. Es kommt hier wirklich nicht darauf an, von den vielen Motiven, die Kleist nach diesem Zusammenbruch in den Selbstmord getrieben haben, das führende auszusuchen. Ein jedes hat genügt, um ihm sein weiteres Leben als aussichtslos erscheinen zu lassen. Kleist ist aber auf dem Gipfel seiner dichterischen Reife in den Tod gegan­ gen. Sein letztes Drama, »Der Prinz von Homburg«, ist auch insofern ein weiterer Schritt vorwärts, als hier die Leidenschaften der Personen nicht nur – wie in der »Hermannsschlacht« – einen nationalen, einen gesellschaft­ lichen Inhalt und Gegenstand haben. Im letzten Drama gestaltet Kleist zum erstenmal einen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, einen Kon­ flikt widersprechender gesellschaftlicher Mächte. Freilich kommt gerade auf diesem dramatischen Höhepunkt seiner Entwicklung sein preußisches Jun­ kertum am klarsten zum Vorschein: die objektive gesellschaftliche Macht, die er gestaltet und verherrlicht, ist das alte Preußentum.

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II Kleists Dramen, auch seine Novellen, basieren in ihrer Psychologie aus­ nahmslos auf der solipsistischen Einsamkeit der menschlichen Leidenschaf­ ten und demzufolge auf dem unaufhebbaren Misstrauen, das die Menschen seiner Dichtungen gegenseitig empfinden. Dass alle Dichtungen Kleists voller brennender, aber unerfüllbarer Sehnsucht sind, die Schranken der Einsam­ keit zu durchbrechen, das Misstrauen zu überwinden, betont diese Lage nur noch schärfer, da jene Sehnsucht bei ihm notwendig zum Scheitern verurteilt ist. Dieser psychologischen Grundlage entsprechend sind die Dramen und Novellen Kleists handlungsmäßig auf Trug, Missverständnis und Selbsttäu­ schung aufgebaut. Das Schema der Handlung ist stets die ununterbrochene Entlarvung dieser Missverständnisse, jedoch in einer sehr originellen und komplizierten Weise. Nämlich so, dass jede Entlarvung das Gewirr der Miss­ verständnisse noch undurchsichtiger macht, dass mit jedem weiteren Schritt das Dickicht der Missverständnisse immer undurchdringlicher wird und erst die Endkatastrophe – oft in einer plötzlichen unvermittelten Weise – die wahre Sachlage zutage fördert. Kleists Erstlingswerk, »Die Familie Schroffenstein«, zeigt alle diese Tendenzen bereits in einer klar ausgeprägten, künstlerisch reifen Form. Dieses Drama unterscheidet sich sehr deutlich darin von anderen Erstlingswerken, dass es künstlerisch, insbesondere dramatisch-technisch, eine außerordent­ liche Reife zeigt. Die Jugendlichkeit des Verfassers kommt nur insofern zum Ausdruck, als die spezifischen Kleistschen Probleme ganz nackt, ohne irgend­ einen menschlich-gesellschaftlichen Hintergrund, ohne den Versuch, eine reale Basis für sie zu gestalten, in Erscheinung treten. Die mittelalterliche Welt, das Rittertum, die blutige Fehde zwischen den beiden Zweigen der Familie Schroffenstein sind rein konventionell gezeichnet, sind auf das rein technisch für die Handlung Notwendige reduziert. Thematisch berührt sich dieses Drama sehr eng mit Shakespeares »Romeo und Julia«. Aber gerade diese thematische Verwandtschaft ist sehr geeig­ net, die Originalität der Kleistschen Konzeption zu beleuchten. Der Unter­ schied tritt bereits in der Handlungsführung hervor. Bei Shakespeare gibt es eine wirkliche blutige Fehde zwischen den beiden Häusern (Tybalt tötet Mercutio, Romeo Tybalt), und zwar im wirklichen Zusammenhang mit der Familienfehde. Bei Kleist ist der Mord, von dem die Handlung ihren Ausgang nimmt, kein wirkliches Resultat des Kampfes der beiden Familienzweige, sondern wird von den Beteiligten nur so aufgefasst. Die Blutrache nun, die 234


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auf Grund dieses Missverständnisses vor sich geht, produziert eine Reihe ähnlicher, nur am Ende aufgeklärter Missverständnisse. Erst am Ende sehen die übriggebliebenen Familienhäupter, dass sie sich um nichts und wieder nichts gegenseitig zugrunde gerichtet, ihre Kinder gegenseitig ausgerottet haben. Bei Shakespeare handelt es sich zudem um den tragischen Konflikt zwischen neuer, humanistischer Leidenschaft, dem Recht auf individuelle Liebe, und der mittelalterlichen Barbarei der Blutrache. Bei Kleist um die Gestaltung der »Schicksalhaftigkeit«, die aus der unentwirrbaren Reihe von Missverständnissen herauswächst. Dieser grundlegende Unterschied spiegelt sich in der Psychologie der Haupthelden, der Liebenden aus den feindlichen Familien, wider. Die Liebe zwischen Romeo und Julia ist eine alles wegschwemmende eruptive Leiden­ schaft, die für sich betrachtet ganz rein und unproblematisch ist, die aus­ schließlich infolge des gesellschaftlichen Konfliktes zur Tragödie führt. Kleist trägt das allgemeine Misstrauen selbst in der Psychologie der Liebenden hin­ ein. Sie verlangen voneinander, echt Kleistisch, absolutes Vertrauen, ihr Ver­ hältnis ist aber ununterbrochen von gegenseitigem Misstrauen umwittert. Bei Shakespeare entsteht die großartige tragische Atmosphäre: die Leidenschaft der Liebenden fegt wie ein reinigendes Gewitter über die morschen Trüm­ mer des Feudalismus hinweg; die individuelle Liebestragödie ergibt – ohne ausgesprochenen Kommentar – eine ungeheure befreiende Perspektive der Menschheitsentwicklung. Dagegen entsteht bei Kleist eine gewitterschwan­ gere, schwüle und dumpfe Atmosphäre, eine Mischung von Eruption der dumpfen leidenschaftlichen Gefühle und von selbstquälerischen, spitzen, überspitzten Reflexionen. Dieser Aufbau der Handlung bringt Kleists Erstlingswerk ganz in die Nähe der damals sehr aktuellen »Schicksalstragödien«. Die bürgerlichen Literaturhistoriker zerbrechen sich den Kopf darüber, wann und wo die »Schicksalstragödie« entstanden ist, ob man etwa Schillers »Braut von Mes­ sina« zu ihr zählen kann. Wenn man den weltanschaulichen Hintergrund der Schicksalstragödie« etwas näher betrachtet, so sieht man ganz klar die unver­ standene, fetischistische Notwendigkeit des gesellschaftlichen Geschehens im entstehenden Kapitalismus. Am Anfang der kapitalistischen Entwicklung, als die primitiv-mittelalterliche religiöse Vorstellung vom unmittelbaren Ein­ greifen eines gütigen Gott-Weltschöpfers in den Weltlauf zusammenbrach, entstand die Calvinistische Mythologie der unerkennbaren Vorbestimmtheit der menschlichen Schicksale (Prädestination), die Mythologie vom verbor­ genen Gott. In der ideologischen Krisenzeit, in der Kleist lebte, gewinnt diese 235


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mythologisierte Auffassung des unverstandenen Weltlaufs ihre ästhetische Form in der sogenannten »Schicksalstragödie«. Die scheinbar unerbittliche, über alles nur Menschliche blind hinweg­ schreitende Notwendigkeit dieses »Schicksals« enthüllt sich ästhetisch als trügerischer Schein. Hebbel schreibt sehr richtig über »Die Braut von Mes­ sina«: »Warum geschieht dies alles? Was wird mit diesem Blut abgewaschen? … Man fragt sich umsonst! Das Schicksal spielt im Stück Blindekuh mit dem Menschen.« Diese Kritik Hebbels trifft völlig das Kleistsche Drama. Es wäre aber trotzdem falsch, die verschiedenen »Schicksalsdramen« dieser Periode mechanisch nach einem Schema zu beurteilen. Für Schiller bestand das Schicksalsthema darin, wie die gesellschaftlich-geschichtliche Notwendigkeit den Menschen ohne seinen Willen, ja gegen seine Absicht in Schuld verstrickt. Deshalb kann er dieses Weltgefühl im »Wallenstein« adäquat zum Ausdruck bringen, und nur die nackte abstrakte, vom Gesell­ schaftlichen absehende Gestaltung in der »Braut von Messina« führt zu solchen absurden Konsequenzen. Diese Absurdität, die bei Schiller not­ wendig nur ein episodisches Experiment abgibt, bildet das Zentralproblem der romantischen Gestaltung des Schicksalsthemas. Bei Zacharias Werner etwa – um den bedeutendsten zu nehmen – ist diese schlechthin sinnlose und unbegreifliche Beschaffenheit des Schicksals das alleinige Thema. Alle gesell­ schaftlich-menschlichen Vermittlungen werden ausgeschaltet, die Notwen­ digkeit der kapitalistischen Gegenwart verblasst zu einer blind-fatalistisch aufgebauschten »Welt«. Absichtlich sind reine Äußerlichkeiten (bestimmte Daten, bestimmte Gegenstände) die Träger des fatal auftretenden Schicksals. Kleists Konzeption unterscheidet sich sowohl von der Schillers als auch von der der Romantiker, obwohl die gemeinsame gesellschaftliche Grundlage der Konzeption auch bestimmte gemeinsame Haus der Architektur, Hausent­ wurfsplan und weitere Ideen, nach denen du gesucht hast. ästhetische Züge hervorbringt. Denn bei Kleist ist, wie wir gesehen haben, die individuelle Psychologie der Menschen das Vermittlungsglied für die Wirksamkeit des fatalen Schicksals. Gerade durch diese Konzeption ist Kleist der Vorläufer der modernen Dramen im engeren Sinne geworden. Der Fatalismus, der etwa in den Dramen des späteren Strindberg herrscht, hat eine sehr verwandte Struk­ tur, eine sehr verwandte künstlerische Mischung von bohrender individueller Psychologie und fatalistischer Schicksalsmystik. Die grundlegenden dramatischen Probleme der Komposition von »Fami­ lie Schroffenstein« bilden das Schema auch der späteren Dramen Kleists. Überall haben wir es mit ähnlichen schicksalhaften Geheimnissen zu tun. 236


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Das heißt: mit ungeklärten Situationen, die sich infolge des gegenseitigen, unüberwindlichen Misstrauens der Menschen in Richtung auf die Verwir­ rung entwickeln und erst am tragischen Schluss plötzlich geklärt werden kön­ nen. Dadurch jedoch, dass bei Kleist zwischen dieser Handlungsführung und der Psychologie seiner Gestalten die vollständige Einheit seines Weltgefühls herrscht, dadurch also, dass Psychologie und Handlungsführung nicht nur aufeinander abgestimmt sind, sondern spontan aus derselben Gefühlsquelle stammen, entsteht etwas Organisches und Originelles. Kleists dramatische Komposition ist der diametrale Gegenpol der anti­ ken Kompositionsweise. Die klassischen sogenannten »Erkennungsszenen«, von denen Aristoteles spricht und die auch in der Shakespeareschen Drama­ tik eine große Rolle spielen, sind immer Enthüllungen eines unbekannten, aber vernünftigen Zusammenhangs. Der Weg, an dem sie Kreuzungspunkte bilden, führt aus dem Dunkel ins Helle, aus der Verwirrung in die Klarheit, wenn auch das schließliche Licht die unbarmherzige Beleuchtung des unauf­ lösbaren tragischen Widerspruchs ist. Diese Unauflösbarkeit ist aber bei den Griechen und bei Shakespeare klar als ein bedeutender Kreuzweg der histo­ rischen Entwicklung der Menschheit gestaltet. Hinter seiner unauflösbaren Widersprüchlichkeit steckt der reale Widerspruch des menschlichen Fort­ schritts. Bei Kleist führt jede »Erkennungsszene« nur tiefer in die Wirrnisse hinein. Sie mag ein Missverständnis zwischen den Menschen des Dramas beseitigen, sie schafft aber zugleich ein neues, tieferes, noch verhängnisvolle­ res Missverständnis. Die »Erkennungsszenen« enthüllen nicht die Dialektik des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, sondern nur den seelischen Abgrund, der sich zwischen den einsamen Menschen der Kleistschen Welt immer wieder und immer tiefer auftut. Im Laufe von Kleists Entwicklung werden die von ihm gestalteten Konflikte, äußerlich wie innerlich, immer bedeutsamer. Das menschliche Gewicht der handelnden Personen nimmt ständig zu, ihre Leidenschaf­ ten werden stärker, intensiver, reicher und vielfältiger gestaltet. In seinem großen »Guiscard«-Fragment versucht Kleist seiner Schicksalskonzeption einen menschlich-historisch bedeutsamen Ausdruck zu geben. Das Schicksal, das den Normannenführer Guiscard bedroht, ist: die Pest. Das Kleistsche »Geheimnis« in der Handlung des Fragments ist, dass Guiscard selbst an der Pest erkrankt, seine Erkrankung aber streng geheimgehalten wird. Kleist wollte hier seiner Schicksalskonzeption eine antike Einfachheit, Größe und Allgemeinheit geben. Er hat in den erhaltenen Einführungsszenen tatsächlich eine bei ihm sonst nie vorhandene und auch im ganzen Drama der neueren 237


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Zeit seltene Großartigkeit erreicht. Es fragt sich aber, ob das vergebliche Ringen Kleists mit diesem Thema, das schließlich zum Zusammenbruch, zu einem Selbstmordversuch des Dich­ ters, zur Vernichtung des vorhandenen Manuskripts geführt hat, nicht mit dem Wesen des Themas zusammenhängt. Auch im »Ödipus« des Sophok­ les, dem offensichtlichen Vorbild dieses Dramas, herrscht die Pest. Aber bei Sophokles ist die Pest nur stimmungs- und handlungsgemäßer Ausgangs­ punkt der Handlung, nur auslösender Anlass der wirklichen Ödipus-Tragödie, die sich auf einer ganz anderen Ebene abspielt. Bei Kleist jedoch ist die Krank­ heit der wirkliche Gegenspieler des Helden. Und da dieser »Gegner« keine gesellschaftliche Macht ist, kann er sich nicht in einem persönlichen Gegen­ spieler verkörpern, kann nicht die dramatische Handlung verdichten. Gui­ scard kämpft mit einem unsichtbaren, gespensterhaften Gegenspieler. Die grundlegende Schwäche der Kleistschen Weltanschauung – die als besondere »Tiefe« aufgefasst wurde –, nämlich das Überspringen aller gesellschaftlichen Vermittlungen, das direkte Gegenüberstellen von Menschen und Schicksal (d. h. von mythisch-fetischisierten, ins Ungesellschaftliche hinaufgerückten gesellschaftlichen Mächten), hat die dramatische Gestaltung dieser Tragö­ die unmöglich gemacht. Die tiefe Gleichgültigkeit des damaligen Kleist den gesellschaftlich-geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit gegenüber zeigt sich in seinem Selbstmordversuch, nachdem er am »Guiscard« gescheitert ist. Obwohl er schon damals Napoleon durchaus feindlich gesinnt ist, will er sich an dessen geplanter Flottenexpedition gegen England als Freiwilliger betei­ ligen und träumt von einer Verknüpfung seines Todes mit dem grandiosen Untergang der Napoleonischen Flotte. Die geschichtlichen Ereignisse bilden für Kleist nur einen inhaltlich gleichgültigen Hintergrund seines rein indi­ viduellen Schicksals. Die großen Dramen der erotischen Leidenschaft, die bei Kleist auf den Guiscard-Zusammenbruch folgen (»Amphitryon«, »Penthesilea«, »Das Käthchen von Heilbronn«), führen in der subjektivistischen Richtung weiter. Im Zentrum des Dramas steht niemals ein Konflikt der objektiven gesellschaftlich-geschichtlichen Mächte miteinander oder der Konflikt der individuellen Leidenschaft mit einer solchen objektiven Macht. Im Gegenteil, ganz bewusst und radikal wird die innere Dialektik von rein subjektiven, rein erotischen Leidenschaften ins Zentrum des Dramas gerückt. Kleist hat sich aber seit der »Familie Schroffenstein« künstlerisch wesentlich weiterentwickelt, er kann sich jetzt mit der rein konventionellen Umwelt des ersten Dramas nicht mehr begnügen. Freilich ist die mittelalterlich-ritterliche 238


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Welt in »Käthchen von Heilbronn« auch mit ziemlich konventionellen Zügen gezeichnet, aber hier geben die märchenhaft-phantastischen Elemente der Psychologie und der Handlungsführung dem Ganzen doch ein anderes, viel lebendigeres Kolorit, als es das Erstlingsdrama hatte. In den beiden ande­ ren erotischen Dramen geht Kleist einen neuen, für das deutsche Drama folgenschweren Weg. Um die ganz exzentrischen, bis ins Monomanische gesteigerten individuellen Leidenschaften wirklich plastisch darstellen zu können, schafft Kleist in diesen Dramen eine »eigene«, selbsterfundene, für die speziellen Zwecke zurechtkonstruierte gesellschaftliche Welt als Basis und Hintergrund. Insbesondere der Amazonenstaat in »Penthesilea« ist eine solche exotische Welt: nicht aus einer bestimmten Welt wächst die Leidenschaft Penthesileas heraus, wie die Leidenschaften bei Shakespeare und Goethe. Penthesileas Leidenschaft ist das Produkt der abgeschlossenen einsamen Seele des isolierten, sich isolierenden, sich selbst abkapselnden Dichters Kleist. Und ganz im Gegensatz zu den großen Dichtern der Vergan­ genheit wird nun dieser Leidenschaft eine zu ihr passende, sie »erklärende« »soziale Umwelt« angedichtet. Kleist hat in dieser Hinsicht im deutschen Drama nur einen Vorläufer, eben Schillers »Braut von Messina«, wo für die Zwecke der Schillerschen Schicksalskonzeption eine phantastische Mischung von Orient, Antike und Mittelalter zurechtkonstruiert wurde. Im späteren deutschen Drama spielt diese künstliche Form der gesellschaftlich-geschichtlichen Umwelt, diese artistische Umkehrung des Verhältnisses von Gesellschaft und Leidenschaft eine sehr große Rolle. Man denke nur an Hebbels »Gyges und sein Ring«, an Grillparzers »Libussa« usw. Die Wirkung dieser Form des dramatischen Aufbaus geht aber weit über den engeren Rahmen hinaus. Entspringt doch diese Kompositionsweise bei Kleist dem Bestreben, einen gesellschaftlichen Hintergrund für eine ganz exzentrische Leidenschaft zu schaffen. Mit der Ausbreitung der dekadenten Gefühle auf breite Schichten des Bürgertums ist diese Stilisierungsweise zum Teil wenigstens äußerlich überflüssig gewor­ den. Sie konnte dadurch ersetzt werden, dass ein wirklich vorhandenes, aus lauter dekadenten Gefühlsexzentrikern bestehendes Milieu artistisch von dem Gesamtleben der Gesellschaft isoliert, seine internen Probleme zu den großen Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Schicksal aufgebauscht wurden. Die »besondere« Welt der Gefühlsexzentrizität wird also nicht mehr vom Künstler konstruiert und stilisiert, sondern sie ist vom Kapitalismus selbst produziert worden. Aber diese »Lebensnähe« besteht nur schein­ bar. Denn solche Zirkel von Exzentrikern sind von den großen Problemen 239


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des gesellschaftlichen Lebens weit hermetischer isoliert als seinerzeit ihre künstlich geschaffenen Vorläufer. Dort handelte es sich noch um subjekti­ vistisch-verzerrte wirkliche Lebensfragen; hier verengt sich alles auf die kuriosen Spezifika von Outsidern, die vom gesellschaftlichen Leben gänzlich losgerissen sind. In diesem Sinne sind Dramen wie Wedekinds »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora« moderne, selbstverständlich kleine und sub­ alterne Urenkel dieser Periode der Kleistschen Dramatik. Aber abgesehen von dieser formal-kompositorischen Art des dramati­ schen Aufbaus bedeuten »Amphitryon« und »Penthesilea« noch in einer anderen Hinsicht eine Wendung in der Geschichte des deutschen Dramas. Ihre Thematik ist der Antike entnommen. Aber diese Dramen modernisie­ ren die Antike, enthumanisieren sie: tragen die Gefühlsanarchie einer ent­ stehenden neuen Barbarei in die Antike hinein. Kleist ist hier der Vorläufer jener Tendenzen, die theoretisch in Nietzsche, praktisch-dramatisch in der imperialistischen Periode, etwa in der »Elektra« von Hofmannsthal, ihren Gipfelpunkt erreicht haben. (Es braucht vielleicht nicht besonders betont zu werden, dass Gipfelpunkt hier hinsichtlich der Barbarisierung der Antike und nicht im ästhetischen Sinne gemeint ist; ästhetisch steht Hofmannsthal so tief unter Kleist, dass ein Vergleich dessen Andenken beleidigen würde.) Die »Penthesilea« ist auch insofern ein typisches Produkt dieser Kleist­ schen Entwicklungsphase, als Kleist hier am radikalsten und konsequentesten den rein subjektiv-monomanischen Charakter der individuellen Leidenschaft betont und unterstreicht. Penthesilea und ihre Amazonen brechen wie ein sinnloser Sturmwind mitten in den Trojanischen Krieg herein. Weder Troja­ ner noch Griechen wissen, für oder gegen wen die Amazonen kämpfen. Und innerhalb dieses berserkerhaft sinnlosen Kampfes löst Penthesilea sich von den Amazonen, Achilles sich von den Griechen. Sie spielen ihre Tragödie der Hassliebe, des Liebespaares im luftleeren Raum der Isolierung von ihrem Volk, im luftleeren Raum der Einsamkeit und gegenseitigen Missverständnisse. Das Grandios-Groteske dieses Dramas liegt darin, dass jeweils ein ganzes Heer mit seinen Schlachtwagen, Elefanten usw. die Rolle von bloßen Requisiten spielt. Die wütende Penthesilea wirft ihr Heer gegen Achilles, ähnlich wie der verzweifelte Kapitän bei Strindberg seiner Frau die Lampe nachschleudert. Diesen rein subjektiven Charakter der im Stück waltenden dramatischen Notwendigkeit hebt Kleist wiederholt energisch hervor. Penthesilea und die Amazonen sollten zum Beispiel vor den Griechen fliehen:

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meroe: Unmöglich war’s ihr, zu entfliehen? die oberpriesterin: Unmöglich, Da nichts von außen sie, kein Schicksal hält, Nichts als ihr töricht Herz – prothoe: Das ist ihr Schicksal! Da nun die beiden Protagonisten durch die Leidenschaft von ihrer Umwelt und auch voneinander isoliert, da beide vollständig in ihre Monomanie ein­ gesperrt sind, kann die Handlung wieder nur, echt Kleistisch, aus einer Kette von groben Missverständnissen bestehen. Die besiegte Penthesilea sieht sich als Siegerin im Kampfe mit Achilles, und Achilles ist bereit, auf dieser Grund­ lage die große Liebesszene mit ihr zu spielen. Als dieser Betrug entlarvt ist und Penthesilea wütend nach Rache schnaubt, glaubt der blindverliebte Achilles, dass der Zweikampf mit Penthesilea nur zum Schein sei, nur dazu diene, die Gesetze der Amazonen zu erfüllen, um ihn als nunmehr wirklich Besiegten zum glücklichen Gatten Penthesileas zu machen. Und in diesem Zweikampf fällt nun Achilles. Die aus dem Blutrausch erwachte Penthesilea begeht Selbstmord. In der Zeit seines Kampfes gegen das Napoleonische Frankreich erwacht in Kleist das patriotische Gefühl neu. Dadurch erhalten seine Dramen einen neuen objektiveren Charakter: sie gestalten bedeutsame nationale Gegen­ stände. In dieser Periode ist bei Kleist eine entschiedene Aufwärtsentwick­ lung zu beobachten. Die »Hermannsschlacht« ist zwar noch im wesent­ lichen das Drama vom alten Kleistschen Typus, aber die Leidenschaft des Haupthelden hat bereits einen objektiven nationalen Gegenstand erhalten: die Befreiung Germaniens vom Joche der Römer. Das Gewirr der Missver­ ständnisse und Täuschungen, aus dem auch hier die Handlung aufgebaut ist, erhält dadurch einen neuen Charakter: es handelt sich um die bewusste und schlaue Irreführung der Römer durch Hermann, um eine erfolgreich ange­ wandte Kette verschwörerischer Täuschungen. Darum entspringt diesen Täu­ schungen nur gelegentlich die Kleistsche tragische Enttäuschung. Sie bildet nur in der Episode Thusnelda-Ventidius den Mittelpunkt. Und es ist für die Dichtung Kleists außerordentlich bezeichnend, dass hier eine Vorahnung der Hebbel-Ibsenschen Mann-Frau-Tragödie vorhanden ist: die Empörung der Frau darüber, dass sie vom liebenden Mann als »Ding« (Hebbel) behandelt wird, und die Erscheinungsform der tragischen Enttäuschung, dass Thus­ nelda Ventidius einem ausgehungerten Bären zum Fraß hinwirft, ist echtester Kleist. Hier konzentrieren sich, gerade infolge des nationalen Hasses, in den 241


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diese Liebesepisode hineinspielt, alle Widersprüche der Kleistschen Poesie: allermodernste Gefühlsverfeinerung und Gefühlsdialektik mit äußerster, grausam-raffinierter Barbarei. »Prinz Friedrich von Homburg« ist Kleists erstes und einziges Drama mit einem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Teilnahme am nationalen Befreiungswerk spiegelt sich hier in der dramatischen Weiterentwicklung wider, wenn Kleist sich auch an diesen Kämpfen auf der reaktionärsten Seite beteiligt hat. Denn die dramatische Fragestellung des »Prinzen von Homburg«, der Konflikt, steht im engsten Zusammenhang mit den Bestrebungen der preußischen Reformer, mit dem Versuch einer inneren Erneuerung Preußens aus dem erwachten nationalen Gefühl heraus. Aber gerade hier treten die Konsequenzen von Kleists altpreußischem Junkertum dichterisch zutage. Die Erneuerung des Preußentums aus dem Gefühl heraus hat bei ihm keinen objektiv-geschichtlichen Inhalt, bleibt eine subjektiv-individualistische Empörung und wächst dann zu einer subjek­ tiv-individualistischen Bejahung und Begeisterung. Die Bestrebungen der Stein, Scharnhorst und Gneisenau trugen zweifellos jene Mischung von »Reaktion und Regeneration« in sich, die Marx als Charakteristikum aller Aufstände gegen das Napoleonische Frankreich bezeichnet. Dementspre­ chend waren ihre Pläne der Erneuerung Preußens widerspruchsvoll und uto­ pisch. Wenn aber Gneisenau in einer Denkschrift an den König von Preußen schreibt: »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«, so meint er damit etwas politisch-gesellschaftlich Konkretes: die durch Reformen erzielte echte nationale Begeisterung, das Aufhören der bisherigen Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegen das absolutistische Königtum. Kleist war, wie wir wissen, allen diesen Reformen feind. (Seine persön­ liche Sympathie für Gneisenau ändert nichts an dieser Tatsache.) Deshalb kann er als gesellschaftliche Umwelt nur das starre alte Preußen gestalten. Und zwar tritt dieses alte Preußen, das Preußen des »Großen Kurfürsten«, im Drama nicht nur als gesellschaftliche Macht auf, sondern wird am Ende des Dramas, ohne eine Veränderung erfahren zu haben, glorifiziert. Dieser Welt steht die rein individuelle, die solipsistisch in sich abgesperrte Leidenschaft des Prinzen von Homburg gegenüber. Es ist für Kleist sehr cha­ rakteristisch, dass er den militärischen Disziplinbruch seines Helden, den Hauptkonflikt des Dramas, sehr breit individuell-psychologisch motiviert, aber ihm keinerlei objektiv-prinzipiellen Inhalt gibt. Er führt uns zuerst den Prinzen in traumwandlerischem Zustand vor, dann zeigt er, wie dieser bei der Ausgabe der Schlachtbefehle überhaupt nicht zuhört und von den Plänen 242


Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

gar nicht Kenntnis nimmt. (Es ist interessant zu bemerken, dass diese Szene in der »Penthesilea« ihre Vorläufer hat, und zwar sowohl bei der Heldin als auch bei Achilles.) Der Konflikt kann sich dementsprechend ausschließlich in der Seele des Helden selbst abspielen. Er kann nach der Konzeption Kleists nur damit enden, dass der Prinz die absolute Notwendigkeit der Disziplin begreift, dass er seinen eigenen Bruch der Disziplin als Verbrechen gegen den Staat bewer­ tet, als ein Verbrechen, für das er nach eigenem Urteil den Tod verdient hat. Das unveränderte Altpreußen triumphiert also über die individualisti­ sche Gefühlsrevolte. Freilich steht Kleist doch so stark unter dem Einfluss der Zeitströmungen, dass er trotz alledem einen Ausgleich sucht. Da aber die Gefühle seines Helden keinen gesellschaftlichen Inhalt haben, kann dieser Ausgleich nur eklektisch sein. Die Braut des Prinzen drückt diesen eklektischen Charakter der Kleistschen Lösung in ihrem Gespräch mit dem Kurfürsten zur Rettung Homburgs ganz klar aus: Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen, Jedoch die lieblichen Gefühle auch. Durch eine solche Auffassung des Konflikts erhält dieses letzte und reifste Drama Kleists, trotz der glänzenden Dramatik seines szenischen Aufbaus, den inneren Charakter eines Entwicklungsromans. Sein Gegenstand ist die Erziehung des Prinzen von Homburg: aus schwärmerischer Gefühlsanarchie zum Preußentum. Die innere Dramatik des damaligen historischen Über­ gangs, die die Entstehung dieses Dramas erst ermöglicht hat, kann hier doch keinen wirklich dramatischen Ausdruck erhalten, da Kleist das Aufeinan­ derprallen der gegensätzlichen gesellschaftlichen Mächte seiner Zeit nicht begriffen hat und das, was er davon erlebte, nur in diese wesentlich epische, romanhafte Form umgießen konnte. So paradox es also auch klingen mag, wenn wir von Kleist als dem angeb­ lich einzigen wirklichen »echtgeborenen« deutschen Dramatiker sprechen: die Entwicklung des Dramatikers Kleist geht vom Novellistischen als Grund­ lage seiner früheren Dramen zum Romanhaften. Der Widerspruch zu der heute herrschenden Auffassung klärt sich für den Leser leicht auf, wenn er bedenkt, dass die heutige bürgerliche Theorie des Dramas das Wesentliche am Drama, das Aufeinanderstoßen gegensätzlicher gesellschaftlicher Mächte, großer historischer Gegensätze völlig vernachlässigt und meint, die innere Dialektik der gesteigerten individuellen Leidenschaften reiche, genügend 243


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energisch auf die Spitze getrieben, für das Drama aus, ja, sei sogar eine »tie­ fere« Form der Tragik als das »nur« Gesellschaftliche. Diese Probleme zeigen sich erst bei einem so ungewöhnlich begabten Dramatiker wie Kleist in wirklicher Klarheit. Der Mehrzahl seiner modernen Nachfolger fehlt jene gestalterische Höhe, die einen Vergleich mit den wirklich großen Dramatikern der Vergangenheit überhaupt gestatten würde. Kleist ist aber einer der großartigsten Szeniker und szenischen, sinnlich-gedanklichen Dialogkünstler der dramatischen Weltliteratur. Dialoge, die so klar, knapp und konzentriert verwickelte Lagen zwischen den Menschen zugleich blitz­ artig beleuchten und handlungsgemäß weiterführen, wie etwa die Repliken beim Auftreten Guiscards oder die bei der Ausgabe der Parolen in »Prinz Friedrich von Homburg«, findet man nur bei den größten Dramatikern. Dazu kommt die außerordentliche charakterschaffende Fähigkeit Kleists: das Große und das Liebliche, das Grauenerregende und das Komische beherrscht er gleich stark und mit den gleichen einfachen und doch nicht trivialen Mitteln der Charakterisierungskunst. Ihm fehlt, um – wie Wieland hoffte – ein neuer Shakespeare zu werden, »nur« die Klarheit des Weltbilds und »nur«, als notwendige Folge einer solchen Klarheit bei großen Dichtern, der gesunde, der vernünftige Hang zu einer normalen Auffassung der Lei­ denschaften. Aber in diesem »nur« liegt eine ganze Welt. Kleists Käthchen ist zum Beispiel ihrer Anlage nach eine der schlichtesten und lieblichsten Gestalten des deutschen Dramas; fast zu Goethes Gretchen und Klärchen hinaufreichend. Nur dadurch, dass Kleist ihrer schönen Stärke und Opfer­ fähigkeit romantisch-pathologische und nicht normal-menschliche seelische Grundlagen gibt, wird sie in der Ausführung verkümmert und verzerrt. Solche Fehlgriffe Kleists zeigen erst, wo die wirklichen Probleme der Tra­ gödie und des Dramas liegen. Die Kleistsche Auffassung der Leidenschaft führt das Drama in die Nähe der Novelle: ein sehr zugespitzter Einzelfall wird radikal in seiner Zufälligkeit vorgetragen. In der Novelle ist dies durch­ aus legitim. Denn dort soll gerade diese ungeheure Rolle des Zufälligen im menschlichen Leben sinnfällig gemacht werden. Bleibt aber das gestaltete Geschehen auf dem Niveau dieser Zufälligkeit – und Kleist übersteigert noch diesen individuell zufälligen Charakter der Psychologie und der Gescheh­ nisse –, um ohne Gestaltung seiner objektiven Notwendigkeit in die Höhe des Tragischen erhoben zu werden, so muss unvermeidlich etwas Widerspruchs­ volles, etwas Dissonantes entstehen. Das Kleistsche Drama ist also weit davon entfernt, den großen Weg des modernen Dramas zu zeigen. Dieser Weg geht von Shakespeare über die 244


Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

Versuche Goethes und Schillers zum »Boris Godunow« Puschkins, bleibt später, infolge des ideologischen Niedergangs der bürgerlichen Klasse, ohne würdige Fortsetzung. Kleists Drama ist dagegen ein irrationalistischer Nebenweg des Dramas, der, wie wir gezeigt haben, gerade deshalb für die Dramatik der Niedergangsperiode vorbildlich wird und in ihr eine verspätete Populari­ tät erhält. Denn die in sich abgekapselte individuelle Leidenschaft zerreißt die organische Verbindung zwischen dem individuellen Schicksal und der gesell­ schaftlich-historischen Notwendigkeit. Mit dem Zerreißen dieser Verbindung werden die weltanschaulichen und dichterischen Grundlagen des wirklichen dramatischen Konflikts zerstört. Die Basis des Dramas wird schmal und eng: rein individuell und privat. Bei Kleist ist dieser Widerspruch darum beson­ ders scharf, weil er im Laufe seiner Entwicklung gelernt hat, die äußeren Erscheinungsmomente der inneren Tragödien mit außergewöhnlicher Plastik in dramatischen Szenen, im dramatischen Dialog zu objektivieren. Da aber der große dramatische Konflikt fehlt, gewinnen diese Momente kein wirklich lebendiges historisches Leben. Nur in »Prinz Friedrich von Homburg« sind Ansätze, aber auch nur Ansätze zu einer solchen großen und allgemeinen, dramatisch-historischen Gestaltung einer Etappe der Menschheitsentwick­ lung. Die Kleistschen Leidenschaften sind freilich typische Leidenschaften innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre innere Dialektik spiegelt typi­ sche Konflikte der scheinbar zu »fensterlosen Monaden« gewordenen Indi­ viduen der bürgerlichen Gesellschaft wider. Aber Kleist geht dabei – ebenso wie das moderne Drama im engeren Sinne – nur psychologisch in die Tiefe, gesellschaftlich-historisch bleibt er bei der unmittelbar gegebenen Erscheinungsform dieser Konflikte stehen, gestaltet nicht jene gesellschaftlichen Mächte, die diese Psychologie und ihre Konflikte in Wirklichkeit, den Individuen freilich unbewusst, hervorbringen. Kleist ist also der erste bedeutende Dramatiker des 19. Jahrhunderts, der das Drama, diese gesellschaftliche Form der Dichtung par excellence, zu privatisieren beginnt. Darum ist er der größte Ahnherr der modernen Dramatik im enge­ ren Sinne, Vorbild für die Verzerrung und Auflösung der dramatischen Form in der Niedergangsperiode der bürgerlichen Literatur.

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III Nur zweimal ist der Dichter Kleist auf Konflikte gestoßen worden, die die von ihm gestalteten Leidenschaften in gewaltige, allgemeine Zusammenhänge einordneten, die um die individuellen Leidenschaften den großen Rahmen der Geschichtlichkeit spannten: in »Michael Kohlhaas« und in »Der zerbro­ chene Krug«. Es ist bemerkenswert und gerade für das Problem des Tragikers Kleist sehr wichtig, dass diese großen Meisterwerke keine dramatischen Tra­ gödien sind, sondern Novelle und Lustspiel. Auch in »Michael Kohlhaas« schildert Kleist eine ausschließliche, den ganzen Menschen verzehrende und ins Verderben führende Leidenschaft. Aber erstens wird uns diese Leidenschaft diesmal nicht als fertig vorhandene psychologische Gegebenheit eines merkwürdigen Individuums dargeboten, sondern sie entsteht und entwickelt sich vor unseren Augen und wird erst allmählich bis zum rasenden Pathos erhöht. Zweitens ist der Gegenstand die­ ser Leidenschaft von vornherein etwas Gesellschaftliches. Dem Rosshändler Kohlhaas sind seine Pferde von einem Junker widerrechtlich weggenommen worden. Er fordert nur das ihm zukommende Recht, und erst als alle Mittel, dieses Recht friedlich zu erlangen, gescheitert sind, wendet er sich mit erbit­ terter Wut gegen die gewalttätige und korrupte Gesellschaft des Junkertums im 16. Jahrhunderts. Die Leidenschaft des Kohlhaas ist also – gerade wegen ihrer gesellschaftlichen und nicht rein individuellen Verwurzeltheit – von vornherein vernünftig im Sinne der großen tragischen Dichtung. Das Schicksal von Kohlhaas ist durchaus ungewöhnlich und überdurch­ schnittlich, wie jedes echte tragische Schicksal. Auch die Psychologie des Kohlhaas bewegt sich auf den Höhepunkten der tragischen Spannung, nicht mehr auf durchschnittlicher Linie. Sie ist aber niemals pathologisch in dem Sinne, wie es die Leidenschaften der Penthesilea oder des Käthchen sind. Kohlhaas ist ein normaler Mensch, der an die Gesellschaft mit sehr beschei­ denen, sehr gemäßigten Forderungen herantritt. Dass ihn die Nichterfüllung dieser Forderungen und insbesondere die gewalttätige und korrupte Art, mit der die Junkergesellschaft ihn behandelt, zur Raserei der Selbsthilfe führen, ist für jeden Leser ohne weiteres einleuchtend und verständlich. Das tragische Schicksal des Kohlhaas fügt sich organisch in die Reihe der bedeutendsten Dichtungen der Neuzeit ein: in die Reihe jener Dichtungen, die die in der bürgerlichen Gesellschaft unlösbare Dialektik der Gerechtig­ keit zum Vorwurf haben, in denen die unauflösbare Widersprüchlichkeit der Legalität der Klassengesellschaft gewaltig gestaltet zum Ausdruck kommt, 246


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die für die Klassengesellschaft typische Tatsache nämlich, dass der einzelne entweder sich widerspruchslos der Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit der herrschenden Klassen zu unterwerfen hat oder dazu gedrängt wird, in den Augen der Gesellschaft, ja nach seinen eigenen moralischen Anschauungen zum Verbrecher zu werden. Diese große Tragödie schildert Kleist im Rahmen einer ausgezeichne­ ten und historisch tief richtigen Darstellung Deutschlands im 16. Jahrhun­ dert. Kleist ist als Politiker der Verbündete der reaktionärsten Romantiker gewesen! Er hat politisch die reaktionäre Geschichtsfälschung der Roman­ tik, die Verwandlung der feudalen Verhältnisse in eine harmonische Idylle zwischen Gutsbesitzer und Leibeigenen, die Idealisierung des Mittelalters mitgemacht. Die sich auflösende mittelalterliche Welt in »Michael Kohl­ haas« hat aber nichts von einer Fouquéschen, auch nichts von einer Arnim­ schen sozialen Idylle an sich. Kleist gestaltet mit rücksichtsloser Energie die verbrecherische Rohheit, die barbarisch schlaue Gaunerei der Junker dieser Zeit. Er zeigt, wie alle Behörden und Gerichte mit diesen Junkern ver­ schwägert sind und deren Verbrechen korrupt decken und unterstützen. Der Gestalter Kleist hat sogar eine Ahnung von den Grenzen des ideologischen Anführers dieser Zeit, von den Grenzen Luthers. Natürlich ist der Einfluss der Unterredung mit Luther auf Kohlhaas ausschlaggebend. Aber das ist historisch richtig. Objektiv machen die lutheranischen Junker – trotz aller Aussprüche Luthers – das, was sie wollen. Das Luthertum ist für sie nichts innerlich Bindendes. So ist hier eine bedeutende historische Erzählung entstanden; wobei noch besonders hervorgehoben werden muss, dass Kleist in dieser histori­ schen Objektivität ganz eigene Wege geht. Er hat – ebenso wie der später auf­ getretene Walter Scott – nur Goethes Jugenddramen zum Vorbild. Zu bedau­ ern ist nur, dass dieses Meisterwerk durch einige romantisch schrullenhafte Zutaten Kleists entstellt ist. Die bürgerliche Literaturgeschichte will Kohlhaas immer wieder den besessenen Helden der Kleistschen Liebesdramen angleichen. Dies ist, wie wir gesehen haben, völlig falsch. Ja, man kann im Gegenteil sagen, die gestal­ terische Größe dieser Novelle hängt sehr eng damit zusammen, dass ihr Held dem Herzen Kleists lange nicht so nahesteht wie Penthesilea oder Käthchen. Darum lebt sich die Leidenschaft des Kohlhaas nicht in szenischer Lyrik aus, sondern fügt sich ohne weiteres in den objektiven Rahmen der meisterhaft knapp erzählten Ereignisse ein. Gerade weil das Kohlhaas-Thema, das Kohl­ haas-Problem Kleist offenbar weniger unmittelbar, weniger lyrisch-tragisch 247


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ergriffen hat als die Liebestragödien seiner Helden und Heldinnen, weil es für ihn mehr objektives Geschehen als leidenschaftliches Erlebnis, mehr Geschautes als Gefühltes, mehr Widerspiegelung der Wirklichkeit als Aus­ druck seiner Innerlichkeit war, ist die meisterhafte Vollendung gelungen. Diese Diskrepanz zeigt sehr deutlich die Tragödie des Dichters Kleist. Im schroffen Gegensatz zu den größten Dichtern der Weltliteratur – zu deren Höhe seine künstlerische Gestaltungskraft zuweilen hinaufreicht – ist er den tiefsten Problemen der Wirklichkeit um so näher, je unbeteiligter seine Leidenschaften, seine innersten Erlebnisse an der Widerspiegelung gerade dieses Wirklichkeitsmomentes sind. Seine tiefsten Erlebnisse tragen ihn nicht – wie etwa Goethe oder Puschkin – dem Kern der Wirklichkeit ent­ gegen; sie führen ihn im Gegenteil desto weiter weg von diesem Kern, je tiefpersönlicher sie sind. Noch deutlicher ist dieser Zusammenhang im »Zerbrochenen Krug« sichtbar. Bei diesem Lustspiel kennen wir einiges aus der Entstehungsge­ schichte, gewisse äußere Anlässe, die Kleist zur Gestaltung geführt haben: einerseits, wie Kleist selbst erzählt, ein Kupferstich, den er in der Schweiz sah, andererseits eine Art dichterischer Wettbewerb mit einigen seiner damali­ gen Kollegen, mit unbedeutenden Schriftstellern. Ohne die Bedeutung dieser Anlässe zu überschätzen, erkennt man doch, dass das Lustspiel aus einer ganz anderen schöpferischen Stimmung entstanden ist als die gewaltsamen und qualvollen Eruptionen der lyrischen Tragödien. Auch Gundolf sieht, dass »Der zerbrochene Krug« aus der normalen Reihe der Kleistschen Schöp­ fungen herausfällt, dass er eine besondere Stellung im Lebenswerk dieses Dichters einnimmt. Da aber Gundolf gerade die hysterische Barbarei Kleists als den Ausgangspunkt des germanischen Dramas ansieht, setzt er – konse­ quenterweise – Wert und Bedeutung dieses hervorragenden Lustspiels herab. Er sieht im »Zerbrochenen Krug« ein »isoliertes Könnerwerk, erzwungen mit seinem bloßen Talent, als Probe seiner technischen Fertigkeit«; eine »stilistische Übung an einem abseitigen Gegenstand … Welches öffentliche Interesse war mit dem kuriosen Sonderfall verknüpft, daß ein schelmischer Richter sich durch allerlei Ausflüchte vor einer beschämenden Entdeckung sichern will?« Es ist klar, dass Gundolf hier alle objektiven Zusammenhänge und alle objektiven Wertungen auf den Kopf stellt. Man darf aber nicht vergessen, dass Gundolf in seiner Weise sehr konsequent vorgeht und eine Anschauung radikal zu Ende führt, die auch in unserer Literaturtheorie weit verbreitet ist. Würde man nämlich (mit Gundolf) in der Literatur nur den Ausdruck der 248


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Individualität des Dichters oder (mit der Vulgärsoziologie) nur den Ausdruck der Klassenpsychologie und nicht die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit erblicken, dann hätte Gundolf recht. Denn als Ausdruck der Persön­ lichkeit Heinrich von Kleists ist »Der zerbrochene Krug« tatsächlich nur eine Episode, nur eine Erprobung seiner künstlerischen Gestaltungskraft nach dem tragischen Zusammenbruch seines Versuchs, im »Guiscard« sein Welt­ gefühl als Tragödie größten Stils zu gestalten, und vor den großen lyrischen Eruptionen seiner erotischen Leidenschaft in »Penthesilea« und »Käthchen von Heilbronn«. Und aus der »Klassenpsychologie« des altpreußischen Jun­ kers Kleist lässt sich »Der zerbrochene Krug« überhaupt nicht erklären. Für die marxistische Literaturbetrachtung sind das gestaltete Werk und seine Beziehung zur objektiven Wirklichkeit entscheidend. Und im »Zerbro­ chenen Krug« haben wir ein großartiges Gemälde des damaligen Preußen vor uns, das – gleichviel ob aus politischen oder ästhetischen Gründen – als patriarchalisches Holland vor uns steht. Die holländischen Züge sind aber nur sekundär und artistisch dekorativ. Das Wesentliche ist auch hier, wie in »Michael Kohlhaas«, die künstlerische Zerstörung der romantischen Idylle von der »guten alten Zeit«. Die Willkür der patriarchalischen Gerichtsbar­ keit auf dem Lande, die Misshandlung der Bauern durch die Obrigkeit, das tiefe Misstrauen der Bauern allem gegenüber, was von »oben« kommt, ihr Gefühl, dass man sich vor der Behörde nur durch Bestechung und Betrug schützen kann, einerlei ob diese Bestechung durch Geld, Geschenke oder durch sexuelle Nachgiebigkeit geschieht, ergibt zusammen ein hervorra­ gendes realistisches Bild des damaligen ländlichen Preußen. Und es ist sehr interessant zu beobachten, wie hier auch die Lieblingsmotive von Kleists psy­ chologischer Gestaltung einen gesellschaftlichen Inhalt erhalten. Auch in der Heldin dieses Lustspiels spielt das Kleistsche Misstrauen eine große Rolle. Ihr Misstrauen richtet sich aber gegen die Obrigkeit, auch gegen den »guten« Revisor, der den Dorfrichter entlarvt und am Ende alles in Ordnung bringt. Es wäre sehr ungerecht, Kleist wegen dieses optimistischen Schlusses einen Vorwurf zu machen. Nur auf der Grundlage einer in diesem Optimismus zum Ausdruck kommenden Illusion konnte hier überhaupt ein Lustspiel entstehen. Kleist teilt hier die Illusionen Molières und Gogols. »Der zerbrochene Krug« ist künstlerisch Kleists vollendetestes Werk. Die allmähliche Entwirrung des der Situation zugrunde liegenden Knäuels von Missverständnissen in der Schlusspointe ist hier nicht dissonant und störend wie in den Tragödien Kleists, sondern gibt diesem Lustspiel gerade einen wundervoll aufgebauten und einheitlich gesteigerten Charakter. 249


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Es ist aber lehrreich, von dieser Vollendung aus rückblickend den Aufbau der Kleistschen Dramen ins Auge zu fassen. Wir haben bereits die novel­ listische Grundlage hervorgehoben. Wenn wir nun die Handlungsführung genauer beobachten, so werden wir in allen Dramen Kleists etwas Lustspielhaftes in Aufbau und Handlungsführung feststellen können. Man bedenke, dass Kleists pathetisch-mystisches Drama »Amphitryon« Aufbau und Hand­ lungsführung fast unverändert aus dem Lustspiel Molières übernommen hat. Die Kleistsche Veränderung besteht nur in der tragisch vertieften Psycho­ logie der Hauptgestalten, in der Steigerung ihrer erotischen Erlebnisse ins Mystische. Auch die handlungsmäßige Grundtatsache des »Käthchen von Heilbronn«, dass Käthchen nämlich in Wirklichkeit nicht die Tochter eines einfachen Handwerkers, sondern des Kaisers ist, hat etwas Lustspielhaftes. Hebbel, ein leidenschaftlicher Vorkämpfer für den Dichterruhm Kleists, in mancher Hinsicht ein Fortsetzer der dramatischen Traditionen Kleists, hat dieses Motiv leidenschaftlich getadelt und das Drama, trotz einzelner Schön­ heiten, dieses Motivs wegen verworfen. Denn er meinte mit Recht, das wirk­ liche Drama bestünde darin, dass die menschliche Kraft von Käthchens Liebe über die feudalen Vorurteile triumphiere; durch die Deklarierung Käthchens zur Kaisertochter sei das Drama als Drama vernichtet. Das ist richtig. Es ist aber klar, dass ein solches Motiv, eine Aufklärung vorhandener Wirrungen durch eine den Beteiligten unbekannte Tatsache, sehr wohl zur Grundlage eines Lustspiels dienen kann. Diese Analyse ließe sich für alle Dramen von Kleist durchführen. Wir verweisen nur auf unsere Bemerkungen über den Aufbau der »Penthesilea«. Und es ist sehr charakteristisch, dass Kleist eine ähnliche Handlung in der Novelle »Die Verlobung in San Domingo« behandelt hat. Dort bilden der Negeraufstand und die Massakrierung der Weißen den Hintergrund der Handlung. Ein Weißer flüchtet sich in das Haus eines zufällig abwesenden Negers. Eine dort lebende Mestizin verliebt sich in den Weißen, die Liebe wird, wie bei Kleist immer, mit der Dialektik der Missverständnisse und des Misstrauens am Rande des tragischen Abgrunds psychologisch großartig geschildert. Der Neger kehrt heim. Die Mestizin will ihren Geliebten retten, sie verwendet aber Mittel, die sein Misstrauen gegen sie verstärken. Des­ halb erschießt er sie, um erst an ihrer Leiche die echte Kleistsche Reue zu empfinden, als er erkennt, dass mit ihrer Hilfe die Befreiung erfolgt. Aus dieser Novelle hat Kleists sehr mittelmäßiger Zeitgenosse Theodor Körner ein Lustspiel mit »happy end« gemacht. Das Lustspiel ist schlecht, und Hebbel hat völlig recht, wenn er es voller Verachtung verwirft. Es ist aber 250


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für das uns hier interessierende Problem sehr charakteristisch, dass Körner die Handlungsführung fast unverändert aus Kleists Novelle übernehmen konnte und nur die Misstrauenspsychologie zu entfernen bzw. zu verflachen brauchte, um zu einem Lustspiel zu gelangen. Selbstverständlich ist ein in der Konzeption so konsequent wiederkeh­ render Fehler bei einem bedeutenden Dichter wie Kleist nicht zufällig. Um so weniger, als gerade seine Tendenz und seine lyrisch-ekstatischen Mittel zur Verdeckung der objektiven Gebrechlichkeit seines dramatischen Aufbaus sehr wichtig für die Entwicklung des Dramas von der Mitte des 19. Jahrhun­ derts an geworden sind. Mir scheint, dass diese Art des dramatischen Aufbaus innig mit jener Weltanschauungskrise zusammenhängt, die bei Kleist zum erstenmal in bedeutenden Dramen Gestalt erhält. Es handelt sich dabei um das Problem, dass das Tragische und das Komi­ sche für diese neueren Dichter aufhören, objektive Kategorien der Wirk­ lichkeit zu sein, dass sie immer mehr zu subjektiven Gesichtspunkten einer Erklärung der Phänomene des Lebens werden. Diese Subjektivierung und Relativierung des Tragischen, beziehungsweise des Komischen, wird den Schriftstellern erst verhältnismäßig spät bewusst. Man kann sagen, dass sie in bewusster Form erst bei Ibsen vorhanden sind und von ihm auf Strindberg und insbesondere auf Shaw weiterwirken. Kleist hält sein subjektiv tragi­ sches Gefühl noch für etwas Absolutes. Das ist aber doch nur eine fanatische Überzeugung und ändert nichts Wesentliches an der objektiven Tatsache, dass der tragische Konflikt bei ihm nicht aus den dargestellten Ereignissen, nicht aus der Freilegung ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Wurzeln ent­ steht. Der objektive Zwiespalt, der hier infolge der rein individualistischen, asozialen und ahistorischen dramatischen Fragestellung entsteht, wirkt sich im Stil der Kleistschen Dramatik überall aus. Es handelt sich hier abermals um eine grundlegende Tendenz des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen bedeutendster Vorläufer eben Kleist ist. Das immer stärkere Verlorengehen des objektiv Tragischen, parallel mit der Verstärkung eines tiefen subjektiven Erlebnisses der tragischen Wesens­ art der Persönlichkeit in der gegenwärtigen bürgerlichen Welt, bringt einen eigenartigen dramatischen Stil hervor. Kurz gefasst: es entsteht ein szenisch-­ lyrischer Ersatz für das objektiv, für das handlungsgemäß Tragische. Diese Lyrik arbeitet bei Ibsen oder Strindberg mit den Stimmungswerten von realistisch beobachteten Details des Milieus, die aber immer wieder in bezug auf diese tragische (oder tragikomische) Stimmung szenisch-lyrisch stilisiert und überbetont werden. Bei Kleist erwächst die tragische Stimmung 251


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rein aus diesem szenisch Lyrischen, aus der, man könnte sagen, musikali­ schen Wirkung dieser szenischen und lyrischen Effekte. Es ist sehr interessant und nicht ganz unwichtig, dass Nietzsche in seiner Anti-Wagner-Periode in der »Penthesilea« einen größeren Vorläufer der Wagnerschen Musikdramen erblickt hat. Die außerordentliche internationale Wirkung Wagners beruht ja gerade darauf, dass er in der konsequentesten Weise einen solchen musi­ kalisch-szenischen Ersatz für das verlorengegangene objektiv Dramatische, objektiv Tragische gefunden hat. Dass die psychologische Gestaltung der Wagnerschen Helden aufs tiefste mit der Dramatik von Kleist und Hebbel (sowie mit analogen Entwicklungstendenzen im französischen Roman und in der französischen Lyrik, mit Flaubert und Baudelaire) zusammenhängt, ist nicht zweifelhaft. Wir können hier die Problematik des Wagnerschen Musik­ dramas selbstverständlich nicht zur Diskussion stellen. Wir können nur vom Standpunkt der Entwicklung des Dramas selbst aus feststellen, dass bei Wag­ ner die künstlerisch wirksamste Form für den Ersatz des handlungsmäßig Dramatischen durch szenische Stimmungslyrik gefunden worden ist. Dass es sich dabei um eine säkulare Tendenz der dramatischen Entwicklung handelt, kann man etwa aus dem szenischen Stimmungswert der »Leitmotivtechnik« bei Ibsen und anderen klar ersehen. Bei Kleist sind selbstverständlich alle diese Probleme und Widersprüche nur erst im Keime vorhanden. Es wird aber dem Leser der bisherigen Aus­ führungen klar sein, dass die Umarbeitung der »Penthesilea« in eine Komö­ die oder Tragikomödie unvorstellbar ist, beruht nur auf ihrem hinreißend lyrischen Pathos. Dort, wo Kleist, durch die Novellenform gezwungen, diese lyrische Maschinerie nicht auffahren lässt, zeigt sich jener Relativismus schon viel klarer und tritt ganz deutlich zutage – ja, dämmert Kleist sogar selbst auf –, wenn er in »Amphitryon« die Lustspielhandlung Molières fast unver­ ändert übernimmt. Die mystische Liebeslyrik hebt die Protagonisten in der eben analysierten Weise aus der Sphäre des Komischen oder des Tragikomi­ schen heraus. Die von Molière übernommene und von Kleist noch derber und volkstümlicher gemachte Nebenhandlung unterstreicht aber diese Relativi­ tät; sie kommt in einigen Repliken des Sosias, des Dieners von Amphitryon, stellenweise klar zum Ausdruck. Merkur verkleidet sich nämlich als Sosias, Jupiter als Amphitryon, und diese Verwechslung führt in der Dienersphäre zu rein komischen, derben Effekten, während sie bei den Protagonisten eine tragische Liebesmystik ergibt. Nachdem aber Sosias von dem als Sosias erscheinenden Merkur, seiner Vorstellung nach also von sich selbst oder von seinem Doppelgänger, durchgeprügelt worden ist, sagt er: 252


Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

So ist’s. Weil es aus meinem Munde kommt, Ist’s albern Zeug, nicht wert, daß man es höre. Doch hätte sich ein Großer selbst zerwalkt, So würde man Mirakel schrein. Hier gelangt Kleist ungewollt und unbewusst bis zu einer volkstümlich-­ realistischen Selbstkritik seiner eigenen Dramen. Denn bei den »Großen« dieses Dramas wird ja tatsächlich durch Kleist selbst »Mirakel geschrien«. Und in dieser realistischen Selbstkritik gestaltet Kleist, unbewusst, die volkstümlich soziale Kritik der gesellschaftlichen Grundlagen seiner Dra­ matik: er zeigt die gefühlsmäßig und objektiv unwahre Übersteigerung und Verdrehung bei den »Großen«, die vom gesunden Volksleben losgerissen sind und ihre individuellen Probleme in monomanisch-mystischer Über­ spannung erleben. Alle Werke Kleists sind voll von solchen realistischen Durchbrüchen. Wir verweisen nur auf einige Beispiele. Wir haben gesehen, dass Kleist in der »Hermannsschlacht« die Befreiung des alten Deutschland nicht als Idylle behandelt hat. Wir fügen noch die kühne Realistik hinzu, mit der Kleist, nach seinen eigenen Worten, aus der germanischen Nationalheldin Thusnelda »eine Gans« gemacht hat. Der bedeutendste Durchbruch vollzieht sich im letzten Drama Kleists, in der berühmten und viel kritisierten Todesfurcht­ szene des »Prinzen von Homburg«. Hier, wo die Absicht Kleists einerseits die Verherrlichung des alten Preußentums, andererseits der Ausdruck der Somnambulen-Pathologie seines Helden gewesen ist, gibt er in Wirklichkeit ein erschütternd wahres und echtes Bild sowohl der Todesfurcht als auch der inneren moralischen Überwindung dieser momentanen Feigheit. Heine hat mit Recht in diesen Szenen einen bedeutenden und menschlich echten Protest gegen den konventionellen preußischen Heldenbegriff erblickt. Das, was sich in den anderen Dramen nur in vereinzelten Durchbrüchen zeigt, die große Fähigkeit Kleists zum objektiven und kritischen Realismus, die Fähigkeit, die Wirklichkeit reich und plastisch, mit rücksichtsloser Echt­ heit und Wahrhaftigkeit dichterisch widerzuspiegeln, gewinnt vollendete Gestalt in seinen Meisterwerken, in »Michael Kohlhaas« und in »Der zer­ brochene Krug«. Diese Meisterwerke bedeuten bei dem altpreußischen Jun­ ker Kleist jenen »Sieg des Realismus«, von dem Engels bei dem Royalisten Balzac gesprochen hat. Aber ein solcher »Sieg des Realismus« ist niemals ein Wunder, sondern hat seine subjektiven und objektiven Voraussetzungen. Die subjektiven 253


Theatergeschichte

Voraussetzungen sind Begabung und Ehrlichkeit des Schriftstellers, d. h. seine Fähigkeit, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Kompliziertheit zu erfas­ sen und darzustellen, und sein Mut, jene Welt zu gestalten, die er wirklich gesehen, und so, wie er sie wirklich gesehen hat. Über die Begabung Kleists brauchen wir hier nicht mehr sprechen. Nur mit einigen Worten muss noch seine rücksichtslose subjektive Ehrlichkeit unterstrichen werden. Kleist hat zwar politisch auf der Seite der extremsten Reaktionäre gefochten, seinem Charakter nach unterscheidet er sich aber sehr scharf und sehr vorteilhaft von dem abenteurerhaften Lumpengesindel, mit dem zusammen er seine Schlachten schlug. Insbesondere ist der menschlich-moralische Kontrast zwi­ schen Kleist und dem intimsten Freund seiner letzten Jahre, Adam Müller, auffallend. Adam Müller hat den reaktionären Kampf der »Abendblätter« mitgemacht. Aber einerseits hat er auf alle Fälle am Wiener Hof durch Gentz für eine Rückendeckung gesorgt, und andererseits besitzen wir von ihm eine Eingabe an den Ministerpräsidenten Hardenberg, in der er vorschlägt, ein »regierungstreues Oppositionsblatt« aufzumachen und für seine loyalen Verdienste belohnt zu werden. Er hat auch tatsächlich von Hardenberg ein ständiges Wartegeld bezogen. Kleist dagegen hat jeden Bestechungsversuch der Regierung schroff abgelehnt und ist in seinem reaktionären Kampf mate­ riell und moralisch, aber als subjektiv ehrlicher Mensch zugrunde gegangen. Diese Ehrlichkeit Kleists ist eine der wichtigen subjektiven Bedingungen für den »Sieg des Realismus« in seinen Meisterwerken und in einigen Teilen seiner ganzen Produktion. Dass der »Sieg des Realismus« nicht den Grundzug seiner ganzen poe­ tischen Produktion ausmacht, wie dies Engels bei Balzac, Lenin bei Tolstoi feststellt, bei denen Ausdrücke der reaktionär engen Klassenpsychologie nur Sonnenflecke bilden, hat seinen Grund im damaligen Deutschland. Balzac erlebte die ungeheure Kette des Wechsels von Revolution und Reaktion in der französischen Entwicklung bis 1848, Tolstoi die Entwicklungswider­ sprüche des bäuerlichen Russland von 1861 bis 1905. Diese großen revolu­ tionären Entwicklungen, diese Wendepunkte im Fortschreiten der Gesell­ schaft haben Balzac und Tolstoi zu großen Realisten gemacht. Kleist hat zwar auch eine Umwälzungsperiode erlebt, jedoch eine unter den verworrensten und miserabelsten Bedingungen, jene Umwandlung Preußens, über die Mehring geistreich gesagt hat, dass die schmachvolle Niederlage von Jena der befreiende Bastillensturm für Preußen gewesen sei. Die objektive Macht dieser Wirklichkeit war nicht eindeutig und stark genug, um die reaktionäre Borniertheit und den dekadenten Individualismus Kleists in eine objektive 254


Georg Lukács: Die Tragödie Heinrich von Kleists

Gesamtgestaltung der Wirklichkeit umzuwandeln. Seine Meisterwerke sind deshalb auch in seinem Lebenswerk nur Einzelfälle. Aber aus der Erkenntnis dieser Werke ist die wirkliche Tragödie Heinrich von Kleists zu ermessen. Seiner »Klassenpsychologie« nach ein bornierter preußischer Junker. Seinen dichterischen Absichten nach ein gewaltiger Vor­ läufer der meisten dekadenten Strömungen der späteren bürgerlichen Litera­ tur. In den wenigen Fällen, wo die Wirklichkeit gegen seine Absichten einen »Sieg des Realismus« herbeigeführt hat, einer der bedeutendsten Realisten der ganzen deutschen Literatur. Goethe, der infolge seiner gesunden Abnei­ gung gegen jede Dekadenz Kleist nicht mochte, nennt ihn einen »von der Natur schön intentionierten Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen« sei. Die unheilbare Krankheit lag im damaligen Deutschland, und es war für Kleist keine Möglichkeit vorhanden, sie wirklich zu überwinden. Er ist an der Miserabilität Deutschlands, an seinen eigenen reaktionären wie dekadenten Instinkten tragisch zugrunde gegangen. 1936

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Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner Zu seinem hundertsten Todestag am 19. Februar 1937

I Für den unbefangenen Leser Georg Büchners klingt es völlig unwahrschein­ lich, dass der Faschismus auch nur den Versuch machen könnte, Büchner für sich zu beanspruchen. (Zum Beispiel hat noch der altmodische Reaktionär Treitschke das Revolutionäre in Büchner erkannt und konsequent abgelehnt.) Und doch ist dieses Unwahrscheinliche Tatsache geworden. Ebenso wie die faschistische deutsche »Literaturgeschichte« aus dem verspäteten Jakobiner Hölderlin einen Propheten des »dritten Reiches« zu machen versucht hat, so wagt sie sich auch an Büchner heran. Die Methode dieser faschistischen Umfälschung ist im wesentlichen die­ selbe, die bei Hölderlin und anderen großen revolutionären Übergangsgestal­ ten angewandt wurde. Mit Fälschung und Interpretationskunststücken soll alles Revolutionäre aus ihrem Leben und Werk weggedeutet werden. Auch im Falle Georg Büchners haben die Faschisten Vorläufer in den Literaturwis­ senschaftlern der imperialistischen Periode, vor allem in Friedrich Gundolf. Er macht freilich aus Büchner »nur« einen verspäteten Romantiker, einen Dichter der »Stimmung«. In solche Stimmung löste Gundolf die gesamte Gesellschaftskritik Büchners auf: »Die Gesellschaftsschicht ist im ›Woyzeck‹ eine Stimmung … Hier wirkt nur die Schicksalslandschaft mit ihrem Seelen­ wesen.« Alles, was im Drama sonst Gesellschaftskritik gewesen sei, »das glüht im ›Woyzeck‹ hinab ins vormenschliche Mächtereich. Kein Deutscher, der das Arme, Böse, Trübe zeigen wollte, hat so nahe an seine Grundlage gerührt wie Büchner.« Die deutschen Faschisten gehen auf diesem Weg weiter. Gerade der revolu­ tionäre Dichter Büchner soll zum Vorläufer ihrer »Revolution« werden. Dieser Versuch wurde in den letzten Jahren in zwei größeren Abhandlungen unter­ nommen1. Beide gehen an diese Aufgabe »wissenschaftlich« heran, das heißt, sie suchen Büchner auf komplizierten Umwegen zu faschisieren. Denn zu 1

arl Viëtor: »Die Tragödie des heldischen Pessimismus« in: Dt. Vj. S., 12, 1934; Arthur Pfeif­ K fer: »Georg Büchner. Vom Wesen der Geschichte des Dämonischen und Dramatischen« 1934.

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Theatergeschichte

einem unmittelbaren Vorläufer des »Führers« kann man Büchner selbst durch Anwendung der raffiniertesten faschistischen Fälschungsmittel nicht machen. Der Ausgangspunkt beider Abhandlungen ist die angebliche Verzweiflung Büchners, seine Einordnung in die Reihe Schopenhauer-Kierkegaard-­ Dostojewskij-Nietzsche-Strindberg-Heidegger. Es klingt ganz Heidegge­ risch, wenn Viëtor die Größe Büchners darin sieht, »sich entschlossen in das Nichts zu stellen«. Ebenso sagt Pfeiffer über die Geschichtsauffassung Büchners: »Ausgeliefert an die Gewalt unfaßbar höherer Mächte, die mit letzter Unverantwortlichkeit und Grausamkeit den Menschen zum Opfer einer verwerflichen Sucht oder einer Laune machen, so steht der Mensch in der Geschichte.« Büchners Teilnahme an den Aufstandsversuchen nach der Julirevolution in Hessen ist laut Pfeiffer ein Ausdruck vorübergehender »Wirklichkeitsent­ fremdung«. Hier zeigt sich ganz klar, mit welchen Methoden der plumpen Lüge auch eine solche »verfeinerte« Faschisierung vor sich geht. Pfeiffer »beweist« diese Behauptung nämlich damit, dass der Student Büchner sich vom Treiben der Burschenschaftler an der Universität Gießen fernhält. Zum Glück hat sich Büchner in einem Brief an seine Familie darüber völlig klar geäußert: Er hasse diese Kerle ihrer Einbildung und ihres Dünkels wegen, weil sie die große Masse ihrer Mitmenschen auf Grund einer lächerlichen Pseudobildung verachten. »Der Aristokratismus ist die schändlichste Ver­ achtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen: Hochmut gegen Hochmut, Spott gegen Spott.« Nach der Niederlage seiner Revolutionsversuche entsteht Büchners »Dan­ ton«, und zwar, in der Interpretation der genannten Faschisten, als Ausdruck seiner Enttäuschung. Beide nennen Büchner deshalb groß, weil er die Enttäuschung an der Revolution gestaltet hat. So nennt Viëtor seine Studie »Die Tragödie des heldischen Pessimis­ mus«. Er sagt von Danton: »… ein von der großen Enttäuschung Überwäl­ tigter, der nicht handeln will. Nicht mehr handeln will – darauf kommt es an … Das Drama beginnt in dem Augenblick, da Dantons revolutionärer Glaube durch die Erkenntnis von der hoffnungslosen Unfreiheit des Men­ schen und der Unerlösbarkeit des Lebens gebrochen ist.« Worin besteht diese Enttäuschung? Viëtor gibt in seiner Analyse der Szene mit Robespierre eine klare Antwort: »Robespierre ist naiv genug zu glauben, die Revolution gehe allein darum, dem Volk bessere Verhältnisse zu schaffen … An diesem gefähr­ lich stupiden terroristischen Dogma entzündet sich Dantons Feindschaft.« Danton – und mit ihm Büchner – sei gerade durch seine Enttäuschung tiefer 258


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

und »realistischer« als Robespierre. Und der Inhalt dieser Enttäuschung: »Es war eine religiöse Wahrheit – eine, die sich auf die letzten, ewigen Fragen der Menschheit bezog … eine Erkenntnis …, vor der alles Handeln sinnlos erscheint.« Büchner gestaltet also »eine religiöse Wahrheit aus der Geschichte. ›Dantons Tod‹ ist die Tragödie des großen Politikers, der in dem Augenblick vernichtet wird, wo er aus dem Rausch der radikalen Aktion zurückfindet zu staatsmännischer Besonnenheit und erneuernder Kraft«. Die Enttäuschung an der Revolution, die daraus entstehende Verzweiflung ist also für Viëtor der wirkliche Baustein zum Positiven, zur »staatsmännischen Besonnenheit«. Noch radikaler geht Pfeiffer vor. Seinem Buch liegt eine neue »Geschichts­ philosophie des Dramas« zugrunde. Diese Theorie beruht darauf, dass das Drama heldisch-dämonisch-germanisch, die Epik dagegen christlich-jüdisch sei. Es lohnt nicht, sich mit dieser Theorie sachlich auseinanderzusetzen. Nur zur Beleuchtung von Pfeiffers Arbeitsmethode sei hervorgehoben, dass er meint, diese Auffassung auf Schelling stützen zu können. Und zwar folgen­ dermaßen: Pfeiffer nennt das Epos, mit Schelling, »Darstellung des End­ lichen im Unendlichen«. Und er zitiert darauf Schellings Ausspruch über das Christentum: »Die dem Christentum eigentümliche Richtung ist vom Endlichen zum Unendlichen.« (Hervorhebung von mir, G. L.) Es wird ein­ fach aus dem grammatikalischen Sinn beider Sätze, ohne jede Berücksich­ tigung der Schellingschen Auffassung des Unendlichen klar, dass Schelling hier gerade das Gegenteil dessen sagt, was ihm Pfeiffer in den Mund legt. Dementsprechend betrachtet Schelling Homer als den typischen Vertreter des Epischen und zeigt im Christentum die Auflösung des alten Epos. Dieser Gegensatz zwischen Pfeiffer und Schelling geht sogar so weit, dass Pfeiffer in den Reimpaaren die zusammenhaltende Form des Epischen erblickt, wäh­ rend für Schelling der Hexameter das typische Versmaß des Epos ist. Wenn also Pfeiffer seine »Theorie« mit der Autorität Schellings decken will, so ist seine einzige »Methode« die Spekulation auf die Unbildung und Unaufmerk­ samkeit seiner Leser. In diesem Unsinn ist aber doch Methode. Pfeiffer will nur die altgermani­ schen Sprüche und Lieder als dramatisch in seinem Sinne anerkennen. In der ganzen Neuzeit gehe eine Episierung des Dramas vor sich; auch bei Shake­ speare, besonders aber in der deutschen Klassik. Erst mit Kleist beginne ein wirkliches germanisch-dämonisches Drama. Pfeiffer setzt hier in der Lite­ raturgeschichte die Linie des offiziellen Philosophen des »dritten Reiches«, Alfred Baeumler, fort, der in seiner Antrittsrede an der Berliner Universität den ideologischen Kampf gegen den Humanismus der deutschen Klassiker 259


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als Hauptaufgabe der »politischen Pädagogik« aufgestellt hat. In diese Linie des Dämonisch-Dramatischen will Pfeiffer Georg Büchner einfügen. Danton ist dem »dämonischen Zwischen« verfallen. Es ist heldisch in einer unheldischen Zeit. Das Hindernis seines Heldentums ist die Demokra­ tie: »Danton hat erkannt, daß der heroische Schritt für ihn nicht möglich ist wegen der Übermacht unheldischen Geistes in seiner Mitwelt.« Die Tragik Dantons besteht nach Pfeiffer darin, dass Danton mit der Masse handeln muss, aber die Masse mit seinen »heldischen« Zielen nicht Schritt halten kann. Seine Tragik besteht darin, dass er noch nicht imstande ist, die faschistischen Methoden der sozialen Demagogie erfolgreich anzu­ wenden. Dies ist seine tragische Enttäuschung und Verzweiflung; dies ist auch die dämonische Verzweiflung seines Dichters. Der offenere und plum­ pere Viëtor plaudert hier unvorsichtiger aus der Schule. Er kommentiert die Worte von Büchners Robespierre, dass man die Revolution vollenden müsse, folgendermaßen: »Wann ist eine Revolution fertig? Das ist kein objektiv angebbarer Zustand, dies Fertigsein; eine Revolution ist dann vollendet, wenn ein Zustand erreicht ist, der die Grundforderung der revolutionären Führer erfüllt.« (Von mir hervorgehoben, G. L.) Auf diese Weise und mit solchen Methoden wird »wissenschaftlich bewiesen«, dass Büchner ein tragisch-verzweifelter, untergegangener Vor­ läufer der »nationalsozialistischen Revolution« gewesen ist.

II Worin besteht die wirkliche Tragödie Dantons bei Büchner? Arnold Zweig hat über dieses Drama sehr fein bemerkt: »Und so begeht Büchner den dra­ matischen Fehler, die ungeheure Notwendigkeit und Lobenswürdigkeit der Revolution als solcher vorauszusetzen, wie er sie im Gefühl hat.« Einerlei, ob die Forderung Zweigs dramaturgisch, im Rahmen der Büchnerschen Kon­ zeption von Dantons Tragödie, erfüllbar ist oder nicht: Zweig hat in bezug auf die Charakteristik des Dichters selbst völlig recht und trifft den Kernpunkt seines Wesens. Büchner ist stets ein konsequenter Revolutionär gewesen, von einer erstaunlichen Frühreife und Klarheit, von einer erstaunlichen Folge­ richtigkeit im Auf und Ab seines revolutionären, seines menschlichen und dichterischen Schicksals. Wir können hier nicht einmal skizzenhaft die Biographie Büchners angeben. Wir müssen uns damit begnügen, einzelne Äußerungen aus den 260


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

verschiedenen Perioden seines Lebens anzuführen, um die Legende von seiner »Enttäuschung an der Revolution« zu zerstören. Der Grundzug von Büchners Wesen ist ein glühender revolutionärer Hass gegen jede Ausbeu­ tung und Unterdrückung. Schon in einer Rede auf dem Gymnasium hat er Cato gegen Caesar verherrlicht. Als Student in Straßburg schreibt er an seine Familie: »Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatür­ lichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen?« Aus dieser Gesinnung heraus schließt sich Büchner in Hessen der revo­ lutionären Geheimorganisation an, obwohl er sich in Straßburg verschie­ dentlich sehr skeptisch darüber geäußert hat, ob in Deutschland eine revo­ lutionäre Erhebung möglich sei. Dass er sich dennoch an die Spitze der revolutionären Geheimorganisation stellt, darin sehen seine faschistischen Verfälscher einen »Widerspruch«. Dieser Widerspruch löst sich indessen sehr leicht auf, wenn wir die besondere Stellung Büchners innerhalb der deutschen revolutionären Bewegung beachten. Büchner ist vielleicht der einzige unter den damaligen Revolutionären, der die ökonomische Befreiung der Massen in den Mittelpunkt seiner revolutionären Tätigkeit stellt. Er hat deshalb die schärfsten Konflikte mit seinen Gesinnungsgenossen. Weidig, der Führer der hessischen revolutionären Geheimorganisation, hat in Büchners Ent­ wurf zum »Hessischen Landboten« das Wort »reich« überall in »vornehm« geändert und die Schrift dadurch, in Richtung des Liberalismus, ausschließ­ lich gegen die feudalabsolutistischen Überreste umgestellt. Nach Büchners Konzeption steht und fällt aber die Revolution damit, ob sich die Massen der Armen gegen die Reichen erheben werden. Deshalb erklärt die gerichtliche Aussage von Becker, einem Freund des Dichters, klarer als jeder Kommentar Büchners Teilnahme an den hessischen Revolutionsversuchen: »Mit der von ihm geschriebenen Flugschrift wollte er (Büchner, G. L.) vorderhand nur die Stimmung des Volkes und der deutschen Revolutionäre erforschen. Als er später hörte, daß die Bauern die meisten gefundenen Flugschriften auf der Polizei abgeliefert hätten, als er vernahm, daß sich auch die Patrioten gegen seine Flugschrift ausgesprochen, gab er alle seine politischen Hoffnungen in bezug auf ein Anderswerden auf.« 261


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Wo ist hier die »Enttäuschung« an der Revolution? Vor seiner revolutio­ nären Tätigkeit schreibt Büchner an seine Familie: »Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der einzelnen vergebliches Torenwerk ist.« Und nach seiner Flucht, also zur Zeit seiner »Enttäuschung«, schreibt er an Gutzkow: »Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Abso­ lutisten geteilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolu­ tionäre Element in der Welt; der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin … werden.« Es gibt wenige Beispiele in der Geschichte, dass ein junger Revo­ lutionär zwischen seinem zwanzigsten und vierundzwanzigsten Lebensjahr seine politische Linie so begonnen und so konsequent durchgehalten hätte. Büchner ist also ein plebejischer Revolutionär, dem die ökonomischen Grund­ lagen einer Befreiung der arbeitenden Massen klarzuwerden beginnen. Er ist eine wichtige Figur in der Reihe, die von Gracchus Babeuf bis zu Blanqui (im Juniaufstand 1848) führt. Entsprechend dieser konkreten historischen Stellung darf man die Klar­ heit der Anschauungen Georg Büchners nicht mit dem Maßstab der späteren Kämpfe des bereits zur Klasse organisierten Proletariats messen. Büchner, obwohl Zeitgenosse des Chartismus in England und der Lyoner Aufstände in Frankreich, kann als praktischer deutscher Revolutionär das Proletariat noch nicht als Klasse sehen und erkennen. Als echter plebejischer Revolu­ tionär konzentriert er sich auf die ökonomische und politische Befreiung der »Armen«; den deutschen Verhältnissen entsprechend natürlicher­ weise in erster Linie auf die der Bauern. Sein konsequentes Einstehen dafür bringt ihn theoretisch wie praktisch in einen unauflösbaren Gegensatz zu den Liberalen unter seinen Zeitgenossen, die er, wie es später die bedeu­ tenden revolutionären Demokraten tun, immer wieder mit scharfer Ironie kritisiert. Selbstverständlich ergibt sich aus dieser Lage der Dinge, dass die revolutionäre Perspektive Büchners sehr viel Unklarheit enthält. So schreibt er in jenem Brief an Gutzkow, den wir oben zitiert haben: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« Noch deutlicher kommen die unklaren Tendenzen etwas später in einem anderen Brief an Gutzkow zum Ausdruck. Nach einer herben Kritik des »spitzen Verhältnisses«, in dem die gebildeten Liberalen zum Volke stehen, sagt er: »Und die große Klasse selbst? Für sie gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und religiösen Fanatismus. 262


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsere Zeit braucht Eisen und Brot – und dann ein Kreuz oder sonst so was.« Die Tat­ sache, dass der konsequente und streitbare Materialist Büchner, wenn auch vorübergehend, zu derartigen Anschauungen über die revolutionäre Rolle der Religion oder eines Religionsersatzes kommen konnte, zeigt, wie tief und ungelöst die Widersprüche des Übergangs in seiner Zeit gewesen sind. Und zwar keineswegs nur in Büchners Kopf, sondern allgemein, im großen historischen Sinne. Die durch die Französische Revolution und die industrielle Revolution in England befreiten Produktionskräfte des Kapi­ talismus haben die gesellschaftlichen Widersprüche in ganz anderer Weise hervortreten lassen als im 18. Jahrhundert. Vereinzelte große Denker haben bereits aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft sozialistische Konsequenzen gezogen; freilich utopisch, freilich ohne die Bedeutung des Proletariats als revolutionärem Verwirklicher dieser Forderungen auch nur zu ahnen. Die Anhänger des größten Theoretikers der kapitalistischen Öko­ nomie, Ricardo, begannen sehr bald nach des Meisters Tod aus der Mehrwert­ theorie sozialistische Folgerungen zu ziehen; freilich wieder nicht durch eine dialektische Erkenntnis der Bewegungsgesetze der Gesellschaft, nicht durch die Erkenntnis der Rolle des Proletariats in der Revolution, sondern durch eine ethische Interpretation der Mehrwerttheorie. Jene Denker und Politi­ ker wiederum, die mit den beginnenden spezifischen Kämpfen des sich zur Klasse organisierenden Proletariats unmittelbar verbunden waren, suchten die besonderen Ziele des proletarischen Klassenkampfes gedanklich heraus­ zuarbeiten, indem sie diese zu allen Zielsetzungen der bisherigen Umwäl­ zungen in schroffen Gegensatz stellten; sie blieben aber in dieser Periode bei der unmittelbaren krassen Gegenüberstellung stecken. (Von den Maschinen­ stürmern bis zu den Anfängen des Syndikalismus.) Die entschlossenen ple­ bejischen Revolutionäre dagegen suchten in der konsequent durchgeführten demokratischen Revolution einen Weg, der die ökonomisch-sozialen Wider­ sprüche der kapitalistischen Gesellschaft revolutionär aus der Welt schaffen sollte. Solange aber in der Wirklichkeit und dementsprechend auch in den Köpfen der Revolutionäre aus den »Armen« nicht ein wirkliches Proletariat wurde, war es für sie unmöglich, die Probleme klar zu sehen. Je tiefer, radikaler und umfassender ein revolutionärer Demokrat auf dieser Entwicklungsstufe die Fragen stellte, in desto tiefere und unlösbarere Widersprüche musste er sich verwickeln. Man höre, wie Büchner sich zu Gutzkow über seine positive Perspektive äußert: »Ich glaube, man muß in sozialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung 263


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eines neuen geistigen Lebens im Volke suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding wie diese zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben derselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aus­ sterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.« Der große demokratische Revolutionär Frankreichs, Blanqui, ist im Laufe eines langen Lebens von den »Armen« bis zum Proletariat, von Babeuf bis zur Anerkennung des Marxismus vorgedrungen. Der vierundzwanzigjährige Büchner ist am Anfang desselben Weges gestorben. Er ist aber – mit Aus­ nahme Heines – der einzige in Deutschland, der diesen Weg gegangen ist. Er ist, mit Heine, unter den deutschen Schriftstellern der einzige, den man mit den späteren, größeren und reiferen revolutionären Demokraten, mit Tschernyschewskij und Dobroljubow überhaupt vergleichen kann.

III Es ist ohne weiteres verständlich, dass diese Übergangskrise der revolutio­ nären Bewegungen auf dem Kontinent als eine der wichtigsten Fragen die kritische Analyse der Französischen Revolution aufwirft. Hat doch diese nicht nur das Leben des französischen Volkes aufs tiefste aufgewühlt, son­ dern auch ganz Europa ein anderes Gesicht gegeben; eben das Gesicht jener tiefen Widersprüche, auf deren ideologische Erscheinungsformen wir eben hingewiesen haben. Es ist natürlich, dass dabei zwei völlig entgegengesetzte Anschauungen auftauchen mussten. Einerseits wurde aus der Tatsache, dass diese Erschütterung der Welt die materielle Lage des entstehenden Proleta­ riats nur verschlimmerte, eine Ablehnung einer jeden politisch-demokrati­ schen Revolution gefolgert (am krassesten ist diese Auffassung bei Proudhon sichtbar, sie hat aber im Frankreich der Zeit Büchners viele Vorläufer). Ande­ rerseits haben die demokratisch-plebejischen Revolutionäre die Illusion, dass ein konsequentes Zu-Ende-Führen des jakobinischen Terrors von selbst zu einer Erlösung der Massen aus ihrem materiellen Elend führen müsste. Wie tief und säkular diese Antinomie gewesen ist, kann man an der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung beobachten, wo noch in der imperialis­ tischen Periode etwa Sorel und Jaurès die beiden extremen Pole dieser Anti­ nomie repräsentieren. Diese Antinomie liegt als tragischer Widerspruch Büchners »Dantons Tod« zugrunde. In dieser Tragödie wurde also nicht irgendein subjektives 264


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Erlebnis eines jungen Menschen (»Enttäuschung«, »Verzweiflung« usw.) gestaltet; Büchner suchte vielmehr mit dem großen Instinkt eines wirklichen, epochemachenden Tragikers den säkularen Widerspruch seiner Periode im Spiegel der Französischen Revolution darzustellen. Und zwar nicht so, dass er die Probleme seiner Zeit in diese Periode hineingetragen und die Revolu­ tion als Kostüm benutzt hätte. Er erkannte vielmehr mit dem richtigen Blick des bedeutenden Tragikers, dass dieses Problem seiner Epoche gerade in der Französischen Revolution aufgetaucht und eine bedeutende historisch-­ polemische Gestalt erhalten hatte. Mit einer an Shakespeare erinnernden Klarheit und Vehemenz wird die­ ses Problem gleich in den ersten Szenen des Dramas exponiert. Danton und seine Freunde sprechen davon, dass die Revolution beendet werden müsse. »Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen«, sagt Hérault. Gleich darauf zeigt Büchner in einer bewegten und realistischen Volksszene, wie die Armen über die bisherigen Errungenschaften der Revolu­ tion denken. »Sie (nämlich die Reichen, G. L.) haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesaugt haben. Sie haben uns gesagt: Schlagt die Aristo­ kraten tot, das sind Wölfe. Wir haben die Aristokraten an die Laterne gehängt. Sie haben gesagt: Das Veto frißt euer Brot; wir haben das Veto totgeschlagen. Sie haben gesagt: Die Girondisten hungern euch aus; wir haben die Giron­ disten guillotiniert. Aber sie haben die Toten ausgezogen, und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren.« Büchner zeichnet in allen Volksszenen diese tiefe Erbitterung der ver­ elendeten Massen. Und er zeigt zugleich, als großer Realist, dass diese Massen noch kein klares Bewusstsein darüber haben können, in welche zweckmä­ ßigen Handlungen ihre Erbitterung umschlagen könnte. Die Unlösbarkeit der objektiven Widersprüche in der Wirklichkeit (und auch im Kopfe Büch­ ners) spiegelt sich darin, dass die Erbitterung des Volkes noch richtungs­ los, schwankend ist, von einem Extrem ins andere umschlägt. Als fester Zug bleibt nur die Erbitterung selbst und ein zynisch-aufrichtiges Aussprechen der unmittelbar sichtbaren Ursachen, weshalb die Massen enttäuscht sind. Büchner ist also dichterisch durchaus konsequent, wenn er diese Volksszene mit einem grotesk-realistischen, an Shakespeare geschulten bitteren Humor gestaltet. Die kompositorische Bedeutung dieser Volksszene geht jedoch über das Shakespearesche Vorbild hinaus. Die Rolle des Volkes als des Chors, der die individuellen Tragödien der Protagonisten sozial begründet, handlungsge­ mäß und gesellschaftlich-ideell kommentiert, ist in der Entwicklungsperiode 265


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des Dramas vor und nach der Französischen Revolution außerordentlich gewachsen. Die Volksszenen in »Egmont«, »Wallensteins Lager« usw. zei­ gen deutlich diesen Weg: es besteht eine engere Verknüpfung zwischen dem, was »oben«, in den tragischen Schicksalsverflechtungen der Haupthelden, geschieht, und den Bewegungen, Entwicklungen »unten«, im Leben des Volkes selbst. Büchner geht nun noch einen Schritt weiter: bei ihm ist die materielle Lage, die aus ihr entspringende geistige und moralische Verfas­ sung des Pariser Volkes der letzte Grund sowohl für den Konflikt zwischen Robespierre und Danton als auch für seinen Ausgang, den Untergang der Anhänger Dantons. Dieser Chor ist also aktiver als der antike, greift unmittel­ bar in die Handlung ein. Und doch beschränkt Büchner – mit sehr bewusster Kunst – die Rolle der Volksszenen darauf, dass sie chorartig, ideell und stim­ mungshaft die tragischen Schicksale der führenden, der »welthistorischen Individuen« begleiten. Denn jene historisch tragende Bewusstheit, die die hier dargestellte Weltkrise haben konnte, erhielt tatsächlich in den Kämp­ fen zwischen Robespierre und Danton ihren höchsten Ausdruck. Die noch richtungslose Erbitterung des Volkes steht deshalb zugleich über und unter den sich »oben« abspielenden tragisch-individuellen Kämpfen. Dieser tie­ fen und richtigen historischen Erkenntnis gab Büchner in seiner originellen, shakespearisierenden und doch über Shakespeares Volksauffassung hinaus­ gehenden chorartigen Gestaltung der gesellschaftlichen Grundlagen eine überwältigende dramatische Form. Auf diesem Boden wird der große politische Gegensatz des Dramas zwi­ schen den Anhängern Dantons auf der einen und Robespierre und Saint-Just auf der anderen Seite zur dramatischen Steigerung geführt. Danton will, wie wir gesehen haben, die Revolution beenden, Robespierre – in seinem Sinn – die Revolution fortführen. Die Forderung Dantons, den revolutionären Ter­ ror aufzugeben, ist nur die konsequente Folgerung aus seinen Prämissen. Darum sagt er gleich am Anfang des entscheidenden Gesprächs mit Robes­ pierre: »Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an, ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Töten zwänge.« Die Antwort Robespierres lautet: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte voll­ endet, der gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen.« Es ist die übliche Auffassung dieser entscheidenden Szene des Dramas, dass Danton das Moralisieren des engen und beschränkten Robespierre mit großer Verachtung, mit objektiver, geistiger Überlegenheit widerlegt. Es ist 266


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

richtig, dass Danton Robespierre mit Verachtung behandelt. Es ist auch rich­ tig, dass Büchner philosophisch-weltanschaulich die Ansicht Dantons, den epikureischen Materialismus, teilt und darum, wie wir sehen werden, eine dramatisch-lyrische Sympathie für seine Figur hat. Der wirkliche gedankliche und dramatische Ablauf des Gesprächs ist aber doch ein völlig anderer, und gerade darin drückt sich die große dramatisch-tragische Begabung Büchners aus. Danton widerlegt nämlich mit keinem Wort die politische Anschauung Robespierres. Er weicht im Gegenteil einer politischen Auseinandersetzung aus, er hat kein einziges Argument gegen den politischen Vorwurf, gegen die politische Konzeption Robespierres, die, wenn wir uns an die zuletzt angeführten Briefe Büchners erinnern, im wesentlichen die Konzeption des Dichters selbst ist. Danton leitet das Gespräch auf eine Diskussion über die Prinzipien der Moral hinüber und erficht hier als Materialist einen leichten Sieg über die Rousseauschen Moralprinzipien Robespierres. Aber dieser bil­ lige Sieg in der Diskussion enthält keine Antwort auf die Zentralfrage der politischen Lage, auf die Frage des Gegensatzes von arm und reich. Büchner zeigt sich hier als geborener Dramatiker, indem er den großen gesellschaft­ lichen Widerspruch, der auch als unlösbarer Widerspruch in seinen eigenen Gefühlen und Gedanken lebt, in zwei historischen Gestalten – jede mit ihrer notwendigen Größe und mit ihrer notwendigen Borniertheit – verkörpert. Dieses Ausweichen Dantons ist kein Zufall, sondern gerade der Kernpunkt seiner Tragödie. Danton ist bei Büchner ein großer bürgerlicher Revolutionär, der aber in keiner Hinsicht über die bürgerlichen Ziele der Revolution hin­ auszugehen vermag. Er ist ein epikureischer Materialist, ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts, im Sinne der Holbach und Helvetius. Dieser Materialismus ist die höchste und konsequenteste ideologische Form des vorrevolutionären Frankreich, die Weltanschauung der ideologischen Vorbereitung der Revolu­ tion. Marx charakterisiert diese Philosophie folgendermaßen: »Holbachs Theorie ist also die historisch berechtigte, philosophische Illusion über die eben in Frankreich aufkommende Bourgeoisie, deren Exploitationslust noch ausgelegt werden konnte als Lust an der vollen Entwicklung der Individuen in einem von den alten feudalen Banden befreiten Verkehr. Die Befreiung auf dem Standpunkt der Bourgeoisie, die Konkurrenz, war allerdings für das 18. Jahrhundert die einzig mögliche Art und Weise, den Individuen eine neue Laufbahn freierer Entwicklung zu eröffnen.« Aber gerade mit dem Sieg der Revolution über den König und über die Feudalen, bei dem Danton eine führende Rolle spielte, entstehen in der Gesellschaft jene neuen Widersprüche, denen Danton fremd und ablehnend 267


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gegenübersteht, auf die seine Weltanschauung keine Antwort geben kann. Robespierre und Saint-Just wollen die Revolution weiterführen, für Danton ist diese Weiterführung nicht mehr seine Revolution. Er hat für die Befreiung vom Feudalismus gekämpft, die Erlösung der Armen vom Joch des Kapitalis­ mus hat mit seinen Zielen nichts mehr zu schaffen. Er sagt in einem Gespräch über das Volk, unmittelbar vor der großen Auseinandersetzung mit Robes­ pierre: »Es haßt die Genießenden, wie ein Eunuch die Männer.« Aus diesem Grunde fühlt er sich dem Volk und auch der Politik entfrem­ det. In Gesprächen mit seinen Freunden wird immer wieder gesagt, dass er ein »toter Heiliger« der Revolution sei. Es ist kein Zufall, dass die Erinne­ rung an die Septembermorde, die Gewissensbisse darüber bei Danton gerade unmittelbar vor seiner Verhaftung auftauchen. Solange die Revolution seine eigene war, also im September, hat er entschlossen und tapfer gehandelt und die Septembermorde als eine selbstverständliche, notwendige Maßnahme zur Rettung der Revolution betrachtet. Geht aber die Revolution darüber hinaus, geht sie die plebejischen Wege Robespierres und Saint-Justs, so ent­ steht aus Dantons Entfremdung von dieser Revolution seelisch notwendig der Gewissenskonflikt. Und diese Entfremdung vom Volk ist keine Einbildung Dantons, wie seine Anhänger ihm vorwerfen. Nach dem Gespräch mit Robespierre geht er in die Sektionen, um sie gegen Robespierre zu alarmieren; »sie waren ehrfurchtsvoll, aber wie Leichenbitter«, sagt Danton selbst. Seine hinreißende Beredsamkeit auf der Anklagebank macht zwar auf die Zuhörer einen ungeheuren Eindruck. Aber dieser Eindruck ist nur vorübergehend, er kann an der grundlegenden Stimmung der breiten Massen nichts ändern. Büchner fügt an die letzte große Rede Dantons unmittelbar eine Volksszene vor dem Justizpalast an. Dort sagt einer der Bürger: »Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau, er badet sich in Burgunder, ißt das Wildbret von silbernen Tellern und schläft bei euren Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist. Danton war arm wie ihr. Woher hat er das alles?« Die zynische Apathie, das müde Gelangweiltsein Dantons, sein NichtHandeln-Wollen erscheinen in dieser Beleuchtung nicht als widerspruchs­ volle psychologische Charakterzüge des einst tatkräftigen Revolutionärs, sondern sind die notwendigen seelischen Reflexe seiner Lage. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Büchner dieses Gelangweiltsein als den vor­ herrschenden Zug des satten Bürgertums auffasst. Wir erinnern an den früher zitierten Brief an Gutzkow, wir verweisen auch auf die Figur des Leonce in seinem späteren Lustspiel. 268


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

Aber Büchners Danton ist kein reaktionärer Bourgeois. Er spottet zynisch über die Moraltheorie Robespierres – aber er hat (Camille Desmoulins ausge­ nommen) keine Sympathie für seine Anhänger. Wofür kann er kämpfen? Mit wem soll er kämpfen? Sein Anhänger Lacroix nennt sich selbst einen Schuft; General Dillon will Danton mit einem solchen Anhang befreien: »Ich werde Leute genug finden, alte Soldaten, Girondisten, Exadelige.« Und gerade, dass Büchners Danton einen solchen Kampf mit diesen Verbündeten nicht will, zeigt, dass das Revolutionäre in ihm erhalten blieb. Die Eigenart, wie die politisch-menschlichen Sympathien Büchners verteilt sind, spiegelt sich im ganzen Aufbau des Dramas. Robespierre und besonders Saint-Just sind die wirklichen, dramatisch handelnden, vorwärts­ treibenden Figuren. Danton ist sowohl in der ersten Hälfte des Dramas als auch am Schluss zwar Mittelpunkt, aber eher Objekt denn treibende Kraft der Handlung. Es ist kein Zufall, sondern Büchners bedeutende dramatische Kompositionskraft, dass der erste Akt mit der Unterredung zwischen Robes­ pierre und Saint-Just nach dem Dialog Danton-Robespierre, der zweite mit der Konventszene und den Reden Robespierres und Saint-Justs schließen. Und wir haben gesehen, dass sogar der dritte Akt, in dem Dantons Verteidi­ gungsreden ihn auch dramatisch-szenisch in den Mittelpunkt der Handlung stellen, nicht mit diesen großen rhetorischen Ausbrüchen, sondern mit der Szene endet, aus der wir die Beurteilung Dantons durch das Volk angeführt haben. Und endlich schließt das Drama mit jener kleinen Szene, in der die wahnsinnig gewordene Lucile Desmoulins am Platz der Guillotinierung »Es lebe der König« ruft. Dantons Schicksal ist also der Mittelpunkt der Hand­ lung, aber nicht die Aktivität des Helden bewegt das Drama. Danton erleidet sein Schicksal.

IV Und doch steht die Tragödie Dantons und nicht die von Robespierre und Saint-Just im Mittelpunkt. Den tragischen Konflikt dieser Jakobiner wird ein Jahrzehnt später Karl Marx in der »Heiligen Familie« umreißen. Büchner hat in seinem Robespierre einzelne menschliche Konflikte angedeutet (leider auch – was eine der wenigen Inkonsequenzen in der Charakterzeichnung ist – den von bürgerlichen Historikern übernommenen »Neid« auf Danton); Saint-Just trägt nur wenige psychologisch individuelle Züge, er ist die Verkör­ perung des tatkräftigen, ungebrochenen, plebejischen Revolutionärs, mehr 269


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eine Wunschfigur als eine ausgearbeitete Gestalt. Er hat dramatisch – mutatis mutandis – im Verhältnis zu Danton eine ähnliche kontrastierende Funktion wie Fortinbras zu Hamlet bei Shakespeare. Die dramatisch-tragische Zentralstellung Dantons hängt damit zusam­ men, dass Büchner mit einer außerordentlichen dichterischen Tiefe nicht nur die politisch soziale Krise der revolutionären Bestrebungen des 18. Jahr­ hunderts am Wendepunkt der Französischen Revolution gestaltet, sondern zugleich, mit dieser Frage untrennbar verbunden, die Weltanschauungskrise dieses Übergangs, die Krise des alten mechanischen Materialismus als Welt­ anschauung der bürgerlichen Revolution. Dantons Figur, Dantons Schicksal ist die tragische Verkörperung jener Widersprüche, die die historische Ent­ wicklung der Periode zwischen 1789 und 1848 aufwirft, die der alte Materia­ lismus nicht lösen kann. Der gesellschaftliche Charakter des epikureischen Materialismus geht verloren. Die Materialisten des 18. Jahrhunderts konnten infolge der objek­ tiven Lage der Ansicht sein, dass ihre – dem philosophischen Wesen nach idealistische – Gesellschafts- und Geschichtstheorie aus ihrer materialisti­ schen Erkenntnistheorie entsteht, konnten glauben, dass sie den Kompass ihrer Handlungen wirklich ihrem epikureischen Materialismus entnehmen. Helvetius sagt: »Un homme est juste, lorsque toutes ses actions tendent au bien public.« Und er glaubt, aus dem epikureischen Egoismus den Inhalt dieser Gesellschaftlichkeit, ihre notwendige Verbindung mit der Ethik der Individuen abgeleitet zu haben. Der Sieg der Bourgeoisie in der Revolution zerreißt diese Illusionen. Gerade auf der Entwicklungsstufe, auf der Danton zu handeln hat, treten die Wider­ sprüche innerhalb des »bien public« schroff hervor. Der einfache Egoismus verwandelt sich in kapitalistische Gaunerei, in einen zynischen moralischen Nihilismus. Mit tiefer Ironie und großer, diskreter, stets gestaltender und nie kommentierender dichterischer Kraft stellt Büchner diesen Prozess dar. Der gemeine Streber Barrère sagt: »Die Welt müßte auf dem Kopf stehen, wenn die sogenannten Spitzbuben von den sogenannten rechtlichen Leuten gehängt werden sollten.« Und der Spitzel Laflotte, im Begriff, den General Dillon zu verraten, verteidigt diese Handlung mit Dantonschen, mit epikureisch-egois­ tischen Argumenten: »Der Schmerz ist die einzige Sünde, und das Leiden ist das einzige Laster; ich werde tugendhaft bleiben.« Robespierre und Saint-Just haben demgegenüber, da sie die plebeji­ sche Revolution wollen, einen Maßstab des Handelns; freilich auf Grund einer Ablehnung des philosophischen Materialismus, auf Grund eines 270


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

Rousseauschen Idealismus, den Danton – an sich, abgetrennt von der poli­ tischen Lage des gegenwärtigen Handelns – besonders auf dem Gebiet der Moral spielend, ironisch und geistig überlegen bekämpfen kann. Da aber das politische Handeln die Aufgabe des Tages ist, nützt Danton diese philo­ sophische Überlegenheit des Materialismus gar nichts. Er hat als Politiker, als Denker, als Mensch die Richtung verloren. In dieser großen Tragödie tritt die Unfähigkeit des alten Materialismus, die Geschichte zu begreifen, in den Vordergrund. Büchner selbst hat diesen Konflikt sehr tief erlebt, ohne ihn philosophisch lösen zu können. Er schreibt (aus Gießen an seine Braut) über sein Studium der Geschichte der Revolu­ tion: »Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und kei­ nem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken … Das Muß ist eins von den Verdammungs­ worten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: ›Es muß ja Ärger­ nis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt‹, ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« Es ist nun außerordentlich interessant, wie und mit welchen Variationen dieser Ausbruch Büchners bei Danton in der Szene vor seiner Verhaftung wiederkehrt. Einzelne Aussprüche übernimmt Büchner fast wörtlich aus diesem Brief und legt sie dem zweifelnden, verzweifelten Danton in den Mund. Man sieht, wie sehr die Danton-Figur der dichterische Ausdruck die­ ser von Büchner tief erlebten Widersprüche geworden ist. Aber man muss zugleich auf die Unterschiede der Formulierungen, der Betonungen achten. Danton gelangt zu einem mystischen Agnostizismus, zu einem verzweifelten Nicht-Verstehen-Können der Geschichte. Für Büchner bleibt das Erkennen der historischen Notwendigkeit, auch wenn man sie nicht beherrschen kann, das Höchste. Darum ist dieses »Muß« bei Büchner nicht verzweifelt, nicht pessimistisch wie bei Danton. Im Drama gibt Büchner auf Dantons Zweifel wiederum eine gestaltete Antwort mit der großen Konventrede von SaintJust, in der die eherne und unmenschliche Notwendigkeit der Geschichte, die ganze Generationen, die ihr im Wege stehen, revolutionär zerstampft, die wie ein unwiderstehlicher Vulkanausbruch oder wie ein Erdbeben wirkt, mit leidenschaftlichem Pathos bejaht und verherrlicht wird. 271


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Auch hier sehen wir, wie sehr die beiden Protagonisten des Dramas den Widerspruch, die Krise in Büchners Leben und Denken verkörpern. Aber nur beide zusammen, in ihrer tragischen Wechselwirkung, verkörpern Büchners Gedanken, weder ist Danton noch ist Saint-Just für sich ein Sprachrohr des Dichters. Allerdings kommt Saint-Justs Auffassung Büchners Konzeption von der Lösung der »Magenfrage« am nächsten. Allerdings tragen sowohl Robes­ pierre wie Saint-Just Züge, deren lyrische Spuren wir in Büchners Rede über Cato finden können. Aber Robespierre und Saint-Just sind doch ebensowenig mit Büchner identisch wie Danton. Und gerade weil Büchner in dieser großen geistigen Krise unerschütterlich an der materialistischen Philosophie festhält und nie den Glauben verliert, mit ihrer Hilfe die großen Probleme des Lebens lösen zu können, steht seinem Gefühl Danton näher als der ihm politisch verwandte Saint-Just. Der Widerspruch, der in bezug auf die materialistische Bejahung des Lebens, auf die Philosophie des Genusses tragisch behandelt wird, ist eben­ falls ein großes weltanschauliches Problem der Übergangszeit. Camille Des­ moulins sagt in der ersten Szene des Dramas: »Der göttliche Epikur und die Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen Marat und Chalier die Türsteher der Republik werden.« Das klingt hier ziemlich thermidoria­ nisch. Aber die Lebenslust und Lebensfreude der zur Herrschaft gelangten bürgerlichen Klasse vermischt sich in dieser Periode immer wieder mit der Sehnsucht nach einer neuen und besseren Welt, in der die menschliche Tugend keinerlei asketische Beschränkungen kennen wird. Auch Heine ver­ kündet diese neue Lebensfreude in Vers und Prosa; verkündet sie fast immer so, dass beide Strömungen zusammenklingen. »Das blühende Fleisch auf den Gemälden Tizians, das ist alles Protestantismus. Die Lenden seiner Venus sind viel gründlichere Thesen als die, welche der deutsche Mönch an die Kir­ chentüre von Wittenberg angeklebt.« Allerdings führt bei Heine von hier ein gerader Weg zu jenem anderen, »besseren Lied«, das die Lebensfreude und Diesseitigkeit der befreiten Menschheit verkündet. Dieser Widerspruch lebt, von der anderen Seite her gesehen, in der entste­ henden revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse. Babeuf beerbt sowohl den alten Materialismus als auch das Asketisch-Revolutionäre in Robespierre. Große Dichter, wie Heine und Büchner, große Denker, wie Fourier, sind von der Unzulänglichkeit beider Extreme in gleicher Weise überzeugt; keiner von ihnen kann eine widerspruchslose Lösung finden. Und noch der junge Marx und Engels sind gezwungen, bereits auf dem Boden des dialektischen Materialismus, gegen die asketische Auffassung der Revolution zu kämpfen. 272


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

Heine ist breiter, beweglicher, reicher als Büchner; er hat die Hegelsche Dialektik in seiner Weise verarbeitet, nicht ignoriert wie Büchner. Er kann aber auch nur, gedanklich wie dichterisch, die widerspruchsvollen Tendenzen in ihrer Widersprüchlichkeit ausdrücken, keineswegs das sie bewegende ein­ heitliche Prinzip aufdecken. Selbstverständlich kann auch Büchner keinen Ausweg finden. Was er politisch sucht, die Konkretisierung der »Armen« zum revolutionären Proletariat, ist in seiner, der deutschen Wirklichkeit nicht vorhanden. Deshalb kann er auch in seinem konsequenten Materialismus die dialektische Auffassung der Geschichte nicht finden. Büchners persön­ liche Eigenart besteht aber darin, seinen widerspruchsvollen Weg wirklich geradlinig, ohne Schwankungen, unbekümmert um die Widersprüche zu Ende zu gehen, und nicht wie Heine beweglich und elastisch zwischen den widerspruchsvollen Extremen hin und her zu pendeln.

V Daraus entsteht Büchners bedeutender, an Shakespeare und Goethe geschul­ ter Realismus. Seine politische Sehnsucht begehrt den bewusst gewordenen, zur politischen Aktivität erwachten »Armen«. Als großer Realist gestaltet er aber den ausgelieferten, ausgebeuteten, ruhelos hin und her gejagten, von jedem getretenen Woyzeck, die großartigste Gestalt des damaligen »Armen« in Deutschland. Gundolf und Pfeiffer wollen dieses großartige Gesellschaftsbild in Stim­ mungsmalerei umfälschen, wobei Pfeiffer Gundolfs ästhetisierende Verfäl­ schung dahin »vertieft«, dass die Stimmungskunst Büchners der Ausdruck seines dämonischen Wesens sei. »Stimmung ist bei ihm: ständige Gegen­ wärtigkeit des Dämonischen. Stimmung ist dauerndes Atmen, Atemholen des Dämonischen.« Diese Analysen gehen dahin, aus Büchner schriftstel­ lerisch einen Vorläufer Strindbergs und des Expressionismus zu machen. Auch damit wird die historische Wahrheit auf den Kopf gestellt. Büchner gestaltet die physische und die ideologische Hilflosigkeit Woyzecks gegen seine Unterdrücker und Ausbeuter; also eine reale gesellschaftliche Hilflosig­ keit, die vom Sein aus gestaltet ist, deren Wesen Woyzeck, wenn auch nicht klarsieht, so doch wenigstens ahnt. Als sein Hauptmann ihm einen Vorwurf wegen Unmoral macht, antwortet Woyzeck: »Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld. Wer kein Geld hat – Da setz einmal einer seinesglei­ chen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unseins 273


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ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen … Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.« Strindberg dagegen gestaltet das tiefe Erlebnis seiner eigenen Hilflosigkeit gegen die ent­ fesselten Mächte des Kapitalismus; er durchschaut diese nicht und muss sie deshalb mystifizieren. Er gestaltet nicht die konkrete seinshafte Hilflosigkeit, sondern die ideologischen Reflexe seines eigenen Erlebnisses der Hilflosig­ keit. Er ist also dichterisch kein Fortsetzer, sondern ein Gegenpol Büchners. Büchner hat seine realistischen Tendenzen ununterbrochen, offen und auf hohem theoretischem Niveau verkündet. Seine Theorie des Realismus ist: dichterische Widerspiegelung des Lebens in seiner Beweglichkeit, Leben­ digkeit und seinem unerschöpflichen Reichtum. Vom historischen Drama fordert er geschichtliche Treue. Schon in »Dantons Tod« wettert Desmoulins gegen den künstlerischen Idealismus. Und in dem Novellenfragment »Lenz« lässt Büchner seinen Helden, den bekannten Jugendfreund Goethes, folgen­ des Bekenntnis zum wirklichen Realismus aussprechen: »Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mie­ nenspiel; er hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und den ›Soldaten‹. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. Man muß nur Aug und Ohren dafür haben.« Hier ist der weltanschauliche Zusammenhang zwischen Büchners Bestrebungen zur konsequenten, volkstümlichen Demokratie und seinem schriftstelleri­ schen Realismus sehr deutlich. So steht das Bild Büchners ganz klar vor uns. Als Revolutionär und gro­ ßer Realist im miserablen Deutschland der dreißiger Jahre – wie sollte er bei solch elender Wirklichkeit nicht Ausbrüche der Wut und Erbitterung erlebt haben? Diese aber ergeben in der Linie seines Lebens nicht einmal solche Schwankungen wie bei Heine, geschweige denn, dass sie in »Enttäuschung« oder »Verzweiflung« umgeschlagen wären. Büchner hat die wenigen Jahre seines Lebens konsequent und ohne Schwankungen gewirkt: als plebe­ jisch-demokratischer Revolutionär in seiner politischen Tätigkeit, als philoso­ phischer Materialist in seiner Weltanschauung, als Nachfolger Shakespeares und Goethes im großen Realismus.

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VI Wozu aber braucht der Faschismus die Verfälschung Büchners, weshalb macht er aus Büchner einen »Verzweifelten«? Zum Verkünder des »dritten Reiches« konnten ihn ja trotz aller Fälschungskünste weder Viëtor noch Pfeif­ fer stempeln. Was aber ist für sie gewonnen, wenn der Revolutionär zum Ver­ treter des »heldischen Pessimismus«, der Realist zum »Stimmungskünstler des Dämonischen« verfälscht wird? Man soll, so offenkundig und grob diese Fälschungen auch sind, die ern­ ste politische Wirkung solcher Demagogie in der Literaturgeschichte nicht unterschätzen. Freilich verkündet die ganze faschistische deutsche Presse ununter­ brochen den Glauben an die Zukunft des faschistischen Deutschland. Aber sie verkündet eben einen Glauben, und zwar einen blinden Glauben, kein Wissen, keine reale Perspektive der Zukunft. Nicht Denkende, sondern zur Willenlosigkeit Hypnotisierte sollen sich um den »Führer« scharen. Dazu ist es notwendig, eine Atmosphäre des blinden Glaubens zu schaffen, dazu ist die Vernichtung einer jeden rationalen Auffassung von Natur und Geschichte unerlässlich. Jede Philosophie der Vergangenheit, die der deutsche Faschis­ mus sich zu eigen macht (Schopenhauer, die Romantik, Nietzsche), leugnet die Erkennbarkeit der Welt. Aus dem Chaos, aus dem Nichts, aus dem Dun­ kel der Verzweiflung sollen die Menschen durch das »Wunder«, durch den »Führer« gerettet werden. Aber darüber hinaus ist der Nationalsozialismus infolge der Verzweiflung der Massen (auch der Masse der Intelligenz) zur Macht gekommen. Diese Verzweiflung hatte sehr reale ökonomische und ideologische Gründe: den drohenden Zusammenbruch des kapitalistischen Systems und damit den wirklichen Zusammenbruch der Existenz von Millionen Werktätigen, den Zusammenbruch der bisher herrschenden bürgerlichen Ideologie. Die auf einem solchen Boden entstehende Verzweiflung der Massen kann Ausgangs­ punkt ihrer revolutionären Erhebung sein, bietet aber gleichzeitig Anknüp­ fungspunkte für die wüsteste und plumpeste Demagogie. Lenin schreibt am Vorabend der siegreichen Oktoberrevolution folgendes über diese Verzweif­ lung der Massen: »Und kann man sich darüber wundern, daß die von Hunger und dem langen Krieg gequälte und zermarterte Masse nach dem Gift der Schwarzen Hundert ›greift‹? Kann man sich eine kapitalistische Gesellschaft am Vorabend des Zusammenbruchs ohne die Verzweiflung der unterdrückten Massen vorstellen? Und kann die Verzweiflung der Massen, unter denen die 275


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Unwissenheit groß ist, anders zum Ausdruck kommen als im gesteigerten Absatz eines jeden Giftes?« Die Verzweiflung der deutschen Massen wurde von der sozialen und nationalen Demagogie der Nazis systematisch geschürt; jedes Denken, jedes Suchen nach Wahrheit wurde abgewürgt, um das »Wun­ der« vorzubereiten, um später jene, die infolge der weiteren Verschlechte­ rung ihrer materiellen und ideologischen Lage verzweifelt blieben und vom Opium der Nazipropaganda nicht mehr völlig betäubt werden konnten, in Folterkammern, in Konzentrationslager zu stecken. Die Krise jedes Gesellschaftssystems wird stets von einer großen Welt­ anschauungskrise begleitet; man denke an das späte Rom, an die Auflösung der feudalen Gesellschaft. Gerade in ihrem Zusammenbruch dokumentieren die ökonomischen Kategorien, wie sehr sie »Daseinsformen«, »Existenz­ bestimmungen« sind: die Entwurzelung der materiellen, der gesellschaft­ lichen Existenz breiter Massen bringt notwendig eine Weltanschauung der Wurzellosigkeit, der Verzweiflung, des Pessimismus und der Mystik mit sich. Die Weltanschauungskrise des kapitalistischen Systems hat schon lange begonnen. Die Hässlichkeit, Verlogenheit, Unsicherheit und Ungerechtigkeit, die Sinnlosigkeit des Lebens im Kapitalismus erscheint sehr früh bei einer Reihe von Dichtern und Denkern als Sinnlosigkeit des Lebens überhaupt, bei jenen Dichtern und Denkern, die eine Perspektive der Erneuerung nicht ein­ mal ahnen. Die so entstandene, oft ehrliche, kritische und sogar rebellische Verzweiflung wird immer wieder von den Sykophanten des Kapitalismus aus­ genutzt, um jene Menschen, die für das kapitalistische System nicht direkt gewonnen werden können, wenigstens dazu zu verleiten, in einer weg- und ziellosen und darum für das kapitalistische System ungefährlichen Verzweif­ lung zu verharren. Solche Verzweifelten sind für den Kapitalismus unschäd­ lich, oder ein großer Teil von ihnen wird, wie die Erfahrung zeigt, früher oder später offen kapitulieren. Dostojewskij sagt, der richtige Atheist sei auf der vorletzten Stufe zu Gott. Je tiefer die Krise des kapitalistischen Systems, desto größer ist die gesell­ schaftliche Bedeutung dieser Verzweiflung, denn sie dringt in immer breitere Massen ein, beeinflusst immer tiefer das Denken und Leben der Menschen. Und gleichzeitig mit dieser steigenden sozialen Bedeutung sinkt das welt­ anschauliche Niveau der Verzweiflung, nimmt aber zugleich immer fieber­ haftere, immer heftigere, in Mystik umschlagende Formen an. Man denke an die Reihe: Schopenhauer-Kierkegaard-Dostojewskij-Nietzsche. Je tiefer die Krise ist, desto weniger reicht für die ideologische Verteidigung des kapitalistischen Systems die einfache Apologetik aus. Die Sinnlosigkeit, 276


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die Grausamkeit und Bestialität des Lebens, das Ausgeliefertsein des Men­ schen an sein Chaos, der Pessimismus als adäquate ideologische Reaktion auf dieses Chaos müssen anerkannt werden, und die Apologetik besteht darin, die Massen auf der Grundlage dieser Anerkennung zu einem unkritischen Wunder-Erwarten zu erziehen, sie von der unbefangenen Untersuchung der konkreten sozialen Ursachen dieser Lage abzulenken. Mit Nietzsche nimmt diese neue Periode der kapitalistischen Apologetik ihren Anfang. Die soge­ nannte Philosophie der Spengler, Klages, Baeumler usw. ist immer wieder ein Aufruf zur Verzweiflung – im Dienst des reaktionären Kapitalismus. Die Verzweiflung der Massen selbst ist aber ehrlich, sogar rebellisch. Sie wird nur von der faschistischen Demagogie in eine reaktionäre Richtung abgelenkt. Und der Faschismus appelliert dabei, wie Dimitroff ausgezeichnet auseinandergesetzt hat, nicht nur an die Rückständigkeit im Denken und Gefühlsleben der Massen, sondern an suchende, noch unklare Instinkte, die sogar in die Richtung auf wirkliche Befreiung tendieren. Es ist ein Lebens­ interesse des Faschismus, dass die Verzweiflung der Massen in dieser Dumpf­ heit, Dunkelheit und Auswegslosigkeit verharre. Wenn also die faschistische »Philosophie« diese Verzweiflung hegt und pflegt, jede Untersuchung der ökonomischen Grundlagen des Existenzzu­ sammenbruchs der Massen als flach, platt, ungermanisch usw. denunziert, so leistet sie dem Faschismus in gewissen Kreisen dieselben demagogischen Pro­ pagandadienste wie sonst der grobe Antisemitismus Streichers. Deshalb darf man auf den minderwertigen Inhalt dieser Verzweiflungsideologie nicht ein­ fach hochmütig herabsehen. Selbstverständlich ist die Theorie Pfeiffers vom Dämonischen ein glatter Unsinn. Aber dieser Unsinn knüpft sehr geschickt an die unmittelbare ideologische Lage breiter Schichten der Intelligenz an, lenkt sie demagogisch von der wirklichen Erkenntnis ihrer Lage ab, führt sie in die falsche Tiefe eines ausweglosen Dunkels, in die Welt der chronischen Verzweiflung, des Heideggerschen »nichtendenden Nichts«; züchtet eine Psychologie, die in der Verzweiflung selbst ein Kennzeichen des höher gear­ teten Menschen sieht, die gerade mit Hilfe der Verzweiflung die Menschen isoliert, auf sich selbst zurückwirft, die die Intelligenz zu einer hochmütigen Abwendung von den Massen erzieht. Solche groben und plumpen Fälschungen haben also sehr konkrete gesell­ schaftliche Grundlagen und politische Zwecke. Und der Kampf um die ver­ führte Intelligenz muss unermüdlich an der Entlarvung dieser Verfälschun­ gen arbeiten. Dostojewskij irrt sich, wenn er im Atheismus eine Vorstufe zum vollendeten Gottesglauben sieht. Seine Atheisten nehmen allerdings diese 277


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Stellung ein. Aber der Weg von Jacobsens Niels Lyhne oder von Turgenjews Bassarow führt niemals zu irgendeinem Gottesglauben. Wenn man nun die Geschichte des Atheismus so darstellen würde, dass sie in Iwan Karamasow als höchster Gestalt des Atheismus kulminiert, so hätte man diese Umfälschung der Geschichte vollzogen. Nach einer solchen Methode werden verspätete Jakobiner wie Hölderlin, revolutionäre Demokraten wie Georg Büchner, ja, selbst enttäuschte, skeptisch gewordene, von mystischen Anwandlungen zuweilen erfasste Rebellen wie Flaubert und Baudelaire zu Verzweifelten à la Klages oder Heidegger umgefälscht. Aber ihre immer konkrete Verzweiflung, auch ihr Pessimismus, ihre Skepsis haben mit dieser imperialistischen Demagogie nichts zu tun. Ihr Denken ist, wie wir es am Beispiel Büchners gezeigt haben, konkret, historisch und gesellschaftlich und gerade darum tief und umfassend mensch­ lich. Wenn Büchner daran »verzweifelt«, dass in den dreißiger Jahren in Deutschland keine plebejisch-demokratische Revolution zu entfachen ist, so ist seine Erbitterung groß und zukunftsschwanger, weil sie – bei ihm sogar mit klarer Bewusstheit, bei anderen mehr oder weniger unbewusst – auf die wirkliche Zukunft der Menschheit, auf die wirkliche Befreiung des Menschen vom gesellschaftlichen Joch gerichtet ist. Eine solche Tendenz ist aber, wenigstens als Möglichkeit, in jeder verzweifelten Stimmung der Massen über den Zusammenbruch ihrer materiellen und ideologischen Existenz enthalten. Und diese Möglichkeit kann durch Dichter wie Büchner oder Hölderlin zum Leben, zur Klarheit erweckt werden. Darum sind die richtig verstandenen großen Dichter und Denker der Vergangenheit für den Faschismus eine wirkliche Gefahr. Darum müssen sie umgefälscht werden, damit der verzweifelte Intellektuelle der Gegenwart in Büchner einen Vor­ läufer seiner eigenen Unklarheit erblickt und nicht einen Helfer zur Klarheit, zum Kampf. Der Kampf gegen diese Fälschungen kann nur der der historischen Konkretheit sein. Denn erst das Ausklügeln einer ewigmenschlichen, überhis­ torischen, übergesellschaftlichen Verzweiflung kann den Weg zur richti­ gen Erkenntnis versperren. Unsere Aufgabe ist, diese offene und deutliche Sprache der geschichtlichen Wirklichkeit zum Tönen zu bringen. Diese Stimme ist aber bei den wirklich großen Gestalten der Vergangenheit der konkrete Kampf um die Befreiung der Menschheit. Die Legendenbildung der deutschen Literaturgeschichte hat zum Beispiel aus dem älteren, wei­ cheren, unklareren Zeitgenossen Büchners, Lenau, einen »Pessimisten« gemacht. Dabei hat sich Lenau ganz klar über die wirkliche Ursache seines 278


Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner

»Pessimismus« geäußert. In den Schlussstrophen seiner »Albigenser« sagt er über seine eigene Lage: Geteiltes Los mit längst entschwundenen Streitern Wird für die Nachwelt unsere Brust erweitern, Daß wir im Unglück uns prophetisch freuen, Und Kampf und Schmerz, sieglosen Tod nicht scheuen. So wird dereinst in viel beglücktem Tagen Die Nachwelt auch nach unserm Leide fragen. Woher der düstere Unmut unserer Zeit, Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit? – Das Sterben in der Dämmerung ist schuld An dieser freudearmen Ungeduld; Herb ist’s, das lang ersehnte Licht nicht schauen, Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen … Und wenn auch Lenau durch sein ganzes Gedicht klar gezeigt hat, was er unter Befreiung versteht, so ergänzt er es doch in der letzten Strophe dadurch, dass er die lange Reihe der Befreiungskämpfe von den Albigensern bis zu den Stürmern der Bastille aufzählt und noch die Worte »und so weiter« hin­ zufügt, um ganz unmissverständlich zu sagen, dass seine »Verzweiflung« eine konkrete, historische ist, die Entrüstung und Ungeduld über das lange Hinzögern der demokratischen Revolution in Deutschland, dass sein »Pes­ simismus« der deutschen Misere seiner Tage galt und die Hoffnung auf eine lichtvolle Zukunftsperspektive, auf die endliche Verwirklichung der Revo­ lution in sich barg. Wenn wir diesen schreienden Kontrast der historischen Tatsachen und ihrer faschistischen Umfälschung betrachten, so muss in uns ein gewisses Schuldgefühl erwachen. Um so mehr, als all diese plumpen faschistischen Lügen auf »feinen« Fälschungen der Geschichte aus früheren Perioden fußen, aus Perioden, wo wir noch die legale Möglichkeit des Kampfes gegen jede Ver­ fälschung besaßen. Zweifellos trägt die enge und starre, den Reichtum und die Kompliziertheit großer historischer Gestalten nicht berücksichtigende Methode der Vulgärsoziologie einen Teil der Schuld daran, dass die richtige Auffassung der Geschichte durch den Marxismus nicht genügend in die Mas­ sen gedrungen ist, dass sie nicht genügend breite Kreise der Intelligenz aus­ reichend tief erfasst hat. Aber auch unsere antifaschistischen Freunde unter 279


Theatergeschichte

den Schriftstellern und Literaturtheoretikern müssten über diese Tatsache nachdenken. Sie müssten prüfen, ob sie nicht aus missverstandener »Moder­ nität«, aus kritiklosem Mitmachen philosophischer Tagesströmungen usw. jenen gefährlichen Vorbereitungsideologien des Faschismus zu weitgehende Konzessionen gemacht haben. Ob sie – um bei unserem Fall zu bleiben – die Enthistorisierung, die Entgesellschaftung, die abstrakte Verewigung der »Verzweiflung« nicht auch ihrerseits in der Literaturgeschichte gefördert haben. Ob die Verknüpfung Büchners mit Kierkegaard, Dostojewskij und Heidegger wirklich eine rein faschistische Erfindung ist, ob die Faschisten hierbei nicht auf ganz entgegengesetzt gemeinte, aber in diese Richtung wei­ sende »Vorarbeiten« stoßen konnten. Die Entlarvung der faschistischen Demagogie ist überall eine Überprü­ fung des geistigen Rüstzeugs, nicht nur bei den Kommunisten, sondern auch bei allen ehrlichen Antifaschisten. 1937

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Gerhart Hauptmann

Die Persönlichkeit In seinem Aufsatz »Die Victor-Hugo-Legende« charakterisiert Paul Lafargue Hugo folgendermaßen: »diese Sonnenblume, die ihrer natürlichen Anlage nach dazu verdammt war, sich stets der Sonne zuzuwenden …«; er beschreibt damit einen bestimmten Typus von Schriftstellern – zu welchem Typus auch Gerhart Hauptmann gehört – ganz ausgezeichnet. Solche Schriftsteller sind nicht direkte Diener der Klasse, der sie angehören, weder im Sinne eines bewussten Vorkämpfertums (oder Klopffechtertums) der Klasseninteressen, noch im Sinne eines geschäftsmäßigen Bedienens der jeweils herrschenden Strömungen in der Klasse. Solche Schriftsteller sprechen vielmehr nur naiv, spontan, gutgläubig, subjektiv überzeugt das aus, was ihnen auf der Seele liegt; sie wären sogar bereit und sind zuweilen bereit, tapfer in Opposition zu politischen Machthabern, zu literarischen Moderichtungen zu stehen. Aber Inhalt und Form dieses gutgläubigen Sich-aussprechens ist nichts anderes, als was der Durchschnittsmensch der Klasse denkt und empfindet, erlebt und erstrebt. Gerhart Hauptmann repräsentiert diesen Typus in Reinkultur. Er ist ein wirklich echter Dichter in der traditionellen Bedeutung des Wortes. Eine Äolsharfe: der Wind saust (oder säuselt) durch die Saiten und diese erklingen stets, je nach der Stärke und der Richtung des Windes. Aber der Wind, der durch die Saiten fährt, ist nur der Atem der liberalen Bourgeoisie Deutschlands, bzw. ihrer Intelligenz. Hauptmann reproduziert wahllos alle Widersprüche der gesellschaftlichen Lage dieser Schicht, ihrer langen – nicht allzu ruhmvollen – Entwicklungsgeschichte von 1890 bis zum heutigen Tage. Er tut es naiv, ohne diese Widersprüche als widerspruchsvoll zu erkennen, ja auch nur zu empfinden. Er tut es aber dichterisch, gestaltend. D. h. sein Werk ist kein unmittelbarer, direkter Ausdruck der Ideologie der liberalen Bourgeoisie. Diese Ideologie kommt allerdings in seinem Werk ganz unmit­ telbar, naiv zum Ausdruck. Das ist aber das Resultat; nicht der Weg, nicht der Prozess. Und gerade, dass in Hauptmanns Werk der aller-unmittelbarste, der trivialste Inhalt des liberalen Bourgeois in einer Form zum Ausdruck 281


Theatergeschichte

kommt, die – scheinbar – hoch über diesem platten Dasein schwebt, die – scheinbar – originell und wirklich persönlich ist, die die tiefen Spuren eines wirklichen Erlebnisses, eines echten dichterischen Ringens mit dem Erlebnis an sich trägt; gerade dieser Widerspruch zwischen Inhalt und Form, des­ sen dialektische Einheit, die klassenmäßige Einheit eben dieses Inhalts mit eben dieser Form vom Zuschauer und Leser empfunden, aber nicht begriffen wird: gerade dies ist der Schlüssel zur dauernden, wenn auch abnehmenden Wirkung Hauptmanns. Wie viele junge Generationen dieser Bourgeoisie und ihrer Intelligenz sind von Hauptmann »abgefallen« und haben »neuen Göt­ tern« – von Maeterlinck bis zur neuen Sachlichkeit – geopfert! Aber Haupt­ mann ist durch alle diese »Stürme« hindurch doch der repräsentative Dichter des bürgerlichen Deutschlands der Gegenwart geblieben. Und ein großer Teil seiner Gegner hat mit eintretender »Reife« für diese Bedeutung Hauptmanns ein zunehmendes Verständnis erwiesen. Diese Art der Wirkung zeigt eine große Ähnlichkeit mit der Wirkung Victor Hugos; die Ähnlichkeit gründet sich auf eine ähnliche Beziehung der dichterischen Persönlichkeiten zur Klasse, die sie vertreten. Hier hört allerdings die Ähnlichkeit auf. Denn Hugo und Hauptmann vertreten so ver­ schiedene Entwicklungsstadien der Bourgeoisie, noch dazu in verschiedenen Ländern, dass Inhalt und Form bei beiden notwendig grundverschieden sein müssen. Es bleibt aber doch noch eine gewisse Analogie zwischen der Wir­ kung von Victor Hugo und Gerhart Hauptmann. Wie jedes Wort des alten Hugo – und mag es noch so flach, noch so reaktionär gewesen sein – einen besonderen Unterton dadurch erhielt, dass es vom »großen Gegner« Napo­ leons III. ausgesprochen wurde, so bekommt die platteste Versöhnung mit der bestehenden Wirklichkeit bei Gerhart Hauptmann ein Piedestal dadurch, dass diese Versöhnung eben vom Dichter der »Weber« vollzogen wurde. Die revolutionäre Vergangenheit der Dichter gibt ihrer konservativen Gegenwart einen besonderen Reiz, eine erhöhte Anziehungskraft: man kann mit ruhi­ gem Gewissen überall mittanzen, wenn solche Helden der »revolutionären« Opposition zur Versöhnung aufspielen.

Die Jugendopposition Schalten wir in dieser Weise die »Weber« der Vergangenheit als notwendi­ gen Bestandteil in die aktuelle Wirkung Hauptmanns ein, so muss vorerst untersucht werden, wie der Hauptmann von heute mit dem Weberdichter 282


Georg Lukács: Gerhart Hauptmann

zusammenhängt. Ist er noch immer »derselbe«, wie viele Verehrer sagen, oder ist er von der revolutionären Haltung seiner Jugend abgefallen, ist er Renegat geworden? Wir glauben: keine dieser Auffassungen ist richtig. Hauptmann hat sich organisch, wenn auch nicht geradlinig, vom »Sonnen­ aufgang« bis zum »Sonnenuntergang« entwickelt. Aber das Prinzip dieser Entwicklung liegt nicht in seiner Persönlichkeit, sondern in der Schicht, deren naiver Wortführer er war und ist. Die Sackgasse, in die das Bismarcksche Regime im Laufe der 80er Jahre immer stärker geriet, die Erstarkung der Arbeiterbewegung trotz Sozialisten­ gesetz und die gleichzeitig beginnende Entfaltung des deutschen Imperialis­ mus (Übergang vom »saturierten« Deutschland zum Kampf für »den Platz an der Sonne«) ließen eine große, ideologisch außerordentlich unklare Oppo­ sition am linken Flügel der bürgerlichen Intelligenz entstehen: Tolstoi und Ibsen, Nietzsche und der Sozialismus mengten sich in dieser Oppositions­ ideologie, die literarisch die Form des Kampfes um Echtheit und Naturwahr­ heit gegen das Prunkhaftleere oder Hohlgeistliche der herrschenden Literatur annahm. Ohne freilich zu bemerken, dass sie auch hier nur Oberflächener­ scheinungen bekämpfte, dass vieles von ihr Anerkannte aufs Tiefste mit den bekämpften Richtungen zusammenhing. Es ist nur allzu verständlich, dass eine solche Opposition vorerst Anlehnung, ja Anschluss an die Arbeiterbe­ wegung suchte. Von Paul Ernst bis Hermann Bahr haben damals junge Intel­ lektuelle massenhaft der Arbeiterbewegung einen kurzen Besuch abgestattet. Wie es dabei in diesen Köpfen aussah, zeigt die Tatsache, dass selbst ein Mann vom Kaliber Franz Mehrings, der ebenfalls um diese Zeit, wenn auch nicht aus denselben Gründen, sich der Sozialdemokratie anschloss, noch 1892 in Nietzsche die Möglichkeit zu einem »Durchgangspunkt zum Sozialismus« sehen konnte. (Neue Zeit, X. II. 668/9.) Der »Sozialismus«, der auf solchem Boden entstand, war teilweise eine gefühlsmäßig übersteigerte »Großstadt­ poesie«, teils das kleinbürgerliche »Mitleid« mit den »Enterbten«, teils eine mythologisierende Utopie des nahenden »großen Zusammenbruchs«. Die rasche Rückwendung zur ausgesprochenen bourgeoisen Ideologie war also von vornherein gegeben und musste eintreten, sobald der Übergang zur offe­ nen imperialistischen Ära vollzogen und die Übergangskrise überwunden war. Gerhart Hauptmann hebt sich aus der Reihe dieser Schar durch eine gewisse, in dieser Periode sehr fruchtbare Nüchternheit hervor. Er ist nie Sozialdemokrat geworden. Andrerseits hatte er auch nicht den Umschwung von einem romantischen Sozialismus zur romantischen Verherrlichung der 283


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wilhelminischen Ära mitgemacht. Er war und blieb in liberaler Opposition zum wilhelminischen Deutschland. Am deutlichsten und schriftstellerisch stärksten kommt diese Opposition in der Komödie »Der Biberpelz« (1893) zum Ausdruck. Hauptmann hat hier eine später nie wieder erlangte Schärfe im Kampfe gegen das kaiserliche Deutschland, und er erreicht von dieser energisch oppositionellen Haltung aus einen so spitzen, so glücklich sinn­ lich pointierten satirischen Szenenaufbau und Dialog, wie niemals wieder im Laufe seiner Entwicklung. Sieht man sich freilich diese Komödie, die den glücklichen Guerillakrieg von Lumpenproletariern gegen die Besitzenden schildert, einen Guerillakrieg, den das kaiserliche Deutschland durch seine blinde Verfolgung der liberalen Elemente begünstigt, etwas näher an, so zeigt es sich deutlich, dass die Komödie sich gegen diese Auswüchse des Systems und nicht gegen das System selbst, gegen die »deutsche« Form der kapita­ listischen Herrschaft und nicht gegen diese selbst richtet. Die Grenze Hauptmanns ist also auch auf seinem Höhepunkt ganz klar ersichtlich. Diese Grenze muss hier nicht deshalb festgestellt werden, als ob wir es Hauptmann zum Vorwurf machen würden, kein proletarischer Schrift­ steller gewesen zu sein. Ganz im Gegenteil. In dieser Gipfelleistung Haupt­ manns zeigen sich seine Vorzüge und Schwächen so eindeutig, dass sie sehr geeignet ist, den Maßstab für seine spätere Entwicklung abzugeben. Und gerade hier sehen wir, dass diese Vorzüge und Schwächen keineswegs bloß »persönliche« Eigenschaften Hauptmanns sind, sondern die seiner Klasse. Gerade weil er, wie bereits gesagt, eine Äolsharfe ist, die nur der Wind zum Tönen bringt, hängt gerade für ihn alles davon ab, was für ein Wind in der liberalen Bourgeoisie weht. Seine ganz außergewöhnliche Beobachtungsgabe für die äußeren Erscheinungsformen des Lebens, für den typischen Gehalt, den sie zum Ausdruck bringen, seine ebenfalls außergewöhnliche Fähigkeit, das Beobachtete in abgetönter Sprache zu gestalten, diese eigensten Vorzüge Hauptmanns werden dadurch begrenzt, dass diese gestalteten Beobachtun­ gen zum Inhalt bloß die Klassenideologie einer rasch niedergehenden Klasse haben; noch dazu die eines Teiles der Klasse, die nicht mehr umhin kann, sich ängstlich davor zu hüten, den Ursachen der Ereignisse auf den Grund zu gehen, ihre eigenen Probleme wirklich zu Ende zu denken. Dieser Wind bläst durch die Äolsharfe von Hauptmanns Dichtertalent und deshalb kann selbst seine beste Komödie nur an der Oberfläche scharf, also eher spitz als schnei­ dend sein; deshalb muss, mit der Weiterentwicklung der Klasse auch diese Spitze sich in eine gelegentliche Stichelei verwandeln. Man vergleiche bloß den »Biberpelz« mit seiner Fortsetzung, mit dem »Roten Hahn« (1901). Der 284


Georg Lukács: Gerhart Hauptmann

öffentliche, der politische Hintergrund des Guerillakampfes ist hier bereits so gut wie vollständig verschwunden. Der aus der ersten Komödie bekannte Vertreter der kaiserlichen Obrigkeit, von Wehrhahn, agiert ebenso tölpelhaft auf der Szene wie 7 Jahre früher und verhindert ebenso die »Aufdeckung« der »Verbrechen«. Aber er hat mit der Handlung selbst nichts Wesentliches mehr zu schaffen. Während die ganze Handlung des »Biberpelz« auf satirische Pointen gegen ihn, gegen das System, das er repräsentiert, zugespitzt war, wird hier aus demselben Guerillakrieg ein »menschlich-moralisches« Privat­ problem. Und mit dem Aufhören des gesellschaftlich-politischen Charakters der Handlung sinkt der Vertreter des Staates zur überflüssigen Episodenfigur herab. Aus der Spitze wird eine gelegentliche Stichelei. Diesen Weg ins Private, ins »Menschlich-moralische« hat Hauptmann nicht gradlinig zurückgelegt. Aber jeder Versuch, ins Allgemein-gesellschaft­ liche vorzustoßen, enthüllt immer krasser, dass Hauptmann hier nichts mehr zu sagen hat, dass der Wind durch die Saiten seiner Harfe immer zaghafter säuselt. Die »Weber« (1892) sind ein einziger, nie wiederkehrender Glücks­ fall seines Lebens. Getragen von der Stimmung jener Übergangskrise, wo die wachsende Kraft des Proletariats den Bismarckschen Versuch, die »Arbeiter­ frage« durch Blutbad und Absolutismus zu lösen, zum kläglichen Scheitern brachte, zeigen die »Weber« in Stoffwahl und Komposition alle bedeuten­ den Eigenschaften Hauptmanns. Und die glückliche Stoffwahl verhüllt – fast – seine Schranken. Eine Darstellung der Leiden und der explosiven Kraft des Proletariats lag in der von uns angedeuteten geschichtlichen Situation in Deutschland in der Luft. (Andere Schriftsteller, z. B. Halbe, machten ähnliche Versuche.) Hauptmann gelang es, einerseits durch Flucht in die Vergangenheit, der Darstellung sowohl der modernen Formen der Ausbeu­ tung, wie der aktuellen Formen des Kampfes auszuweichen. Gerade dadurch aber gelang es ihm andrerseits, ein kompromissloses, wahrhaftes Bild die­ ser Ausbeutung und dieses spontanen Aufstandes zu geben. (Und selbst der alte Weber Hils im 5. Akt – wo sich der spätere Hauptmann bereits deutlich zeigt – fällt aus dem historischen Rahmen nicht heraus.) Hier, wo Hauptmann nur Facta wiedergeben, nur ihre natürliche Gliederung szenisch lebendig werden lassen konnte, aber nicht gezwungen war, das Geschilderte in einen gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang einzufügen, konnte ihm eine tapfere und einheitliche Wirklichkeitsgestaltung gelingen: sein feines Reproduktionstalent, das auch hier nicht in die Tiefe, nicht bis zu den trei­ benden Kräften dringt, hält hier wenigstens eine - vergangene Teilbewegung als Gesamtbild fest. 285


Theatergeschichte

Das Scheitern am Allgemeinen Es ist historisch bis zu einem gewissen Grad richtig, dass der Aufstand der Weber nur gegen die Art und den unmenschlichen Grad der Ausbeu­ tung, nicht aber (bewussterweise) gegen die Ausbeutung selbst gerichtet war. Aber diese historische Schranke der damaligen kaum – und noch rein explosiv – erwachenden revolutionären Arbeiterbewegung Deutschlands konnte Hauptmann keinen Augenblick als historisch, auch nicht als Schranke bewusst werden. Im Gegenteil. Gerade seine dichterische Identifizierung mit dieser Schranke hat sein Drama für ihn möglich und für sein – anfangs wider­ strebendes – Publikum tragbar gemacht. Von hier aus war eine Entwicklung nur nach rückwärts möglich. Wir haben bei dem noch stark oppositionellen »Biberpelz«, wo der gesellschaftliche Inhalt aktueller und konkreter hervor­ tritt, bereits auf die Grenze dieser Opposition hingewiesen. Das Bauernkriegdrama »Florian Geyer« (1895) systematisiert geistig wie künstlerisch diese Schranken und Widersprüche. Indem Hauptmann hier nicht mehr eine »ausgeschnittene« lokale Teilbewegung, sondern einen Kampf im nationalen Maßstabe schildert, verwandeln sich bereits die auf­ ständischen Bauern in einen rohen und blutdürstigen »Pöbel«, ihre plebeji­ schen Führer in gewissenlose und feige »Demagogen«. Freilich wird auch das Fürstentum, die »Reaktion« mit den düstersten Farben geschildert. Und zwi­ schen beiden »Bestien« reibt sich die liberale »Lichtgestalt«, Florian Geyer, ohnmächtig auf. Schon die Komposition des Stückes ist bezeichnend. Florian Geyer tritt immer erst in der Mitte des Aktes auf, als das »Unheil«, das er vor­ ausgesehen hat, aber gegen das er nie ernsthaft ankämpfte, bereits eingetreten ist oder alsbald durch Boten gemeldet wird. Und seine Rolle besteht darin, dieses »Unheil« in stimmungshaft-»tiefsinniger« Weise zu kommentieren. Hauptmanns dichterische Ehrlichkeit kommt darin zum Ausdruck, dass er diese traurige und unbewusst treffende Satire auf den liberalen Politiker treu­ herzig und aufrichtig ergriffen gestaltet, ohne ihn auch nur für eine Minute komisch zu nehmen; Paul Schlenther hat mit richtigem Klasseninstinkt in Hauptmanns Geyer den Kaiser Friedrich der liberalen Geschichtslegenden erblickt. Wenn auch die Wirklichkeit an hohler Phrasenhaftigkeit Haupt­ manns Gestaltung weit übertroffen hat, so hat – vielleicht gerade deshalb – die Bourgeoisie den »Florian Geyer« zuerst abgelehnt. Es musste eine noch weitergehende Aushöhlung ihrer Ideologie, eine noch entschiedenere Anpas­ sung an die spezifischen Formen des deutschen Imperialismus eintreten (z.B. Bülowblock zwischen Konservativen und Liberalen), damit Hauptmanns 286


Georg Lukács: Gerhart Hauptmann

kläglicher Florian Geyer als »Lichtgestalt« aus einer »ruhmvollen« Vergan­ genheit auf die liberale Bourgeoisie wirke. Diese Linie setzt sich nun konsequent und im rapiden Abstieg durch. Es ist uns hier aus räumlichen Gründen nicht möglich, über das »Festspiel in deutschen Reimen« (1913), den »Weißen Heiland« (1920) diese Entwicklung Hauptmanns bis in die Gegenwart zu verfolgen. Diese Entwicklung spiegelt treu, naiv, spontan die Entwicklung der liberalen Bourgeoisie wider. Wir können uns diese Analyse aber auch darum ersparen, weil Hauptmanns Weg immer seltener zu dem Versuch von Gesamtdarstellungen führt; er wird immer ausschließlicher zum Dichter des Privat-»menschlichen«, des Einzelschicksals. Es wäre falsch, ihm dies zum Vorwurf zu machen. Es liegt tief im Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und in der gesellschaftlichen Stellung der Bourgeoi­ sie begründet, dass den unmittelbaren Stoff der Dichtung vorwiegend private Schicksale abgeben. Das hat freilich die Dichter der großen Periode der bürger­ lichen Literatur nicht gehindert, in diesen privaten Schicksalen große Fragen der bürgerlichen Gesellschaft gestaltend durchzuarbeiten. Aber mit der abneh­ menden Fähigkeit zu Mut und Konsequenz, mit dem steigenden Mythologi­ sieren der gesellschaftlichen Mächte zu einem ganz irrationellen, »seelischen« oder biologischen »Schicksal«; wird der private Stoff dem gesellschaftlichen Zusammenhang, dem er inhaltlich und objektiv angehört, entrissen. Er wird erst jetzt zu etwas wirklich Privatem, der seine Allgemeinheit, seine Wirkungs­ möglichkeit nur dadurch erhält, dass gerade diese Form des Entweichens vor den wirklichen Problemen der Gegenwart, gerade diese Art des Mystifizierens der Zusammenhänge gerade die für die Klasse selbst typische Form der Apo­ logetik, der »Versöhnung« mit der Wirklichkeit, des Verschwindenlassens der Widersprüche ist. Es wird also hier keineswegs behauptet, dass alle von Haupt­ mann behandelten Fragen gleichgültig wären. Die Probleme der Ehe, der Liebe, des Berufs etc., die die Themen der späteren Dramatik Hauptmanns bilden, sind nicht nur an und für sich wichtig, sondern auch die Art, wie Hauptmann sie behandelt, ist nicht ohne Bedeutung. Allerdings als charakteristisches Davonlaufen vor den klaren Fragestellungen und Lösungen.

Weltanschauung Es wäre allzu direkt und darum schief zu sagen: Hauptmann möchte die Prob­ lematik der heutigen Bourgeoisie einfach aus der Wirklichkeit »wegdichten«. Auch dazu ist ja eine breite und große bürgerliche Literatur da. Die besondere 287


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Funktion des »großen« Dichters der heutigen liberalen Bourgeoisie ist nicht so direkt. Die Tatsachen selbst – z. B. Auflösung der Ehe – sind nicht weg­ zuleugnen und sollen auch nicht vollständig geleugnet werden. Aber die etwa dargestellte Eheauflösung soll in der Gestaltung ein Einzelfall bleiben (sowohl stofflich wie formell ist jeder gestaltete Fall unmittelbar ein Einzel­ fall); er soll nicht gedanklich verallgemeinert werden, wie dies noch Ibsen tat. Die Verallgemeinerung – und ohne Verallgemeinerung gibt es wiederum keine Wirkung – muss vielmehr irrationell stimmungshaft erfolgen. D. h. es wird in der Gestaltung der Personen das rein Individuelle, das rein Besondere, also das Psychologische, ja das Psychopathologische einseitig und ausschließ­ lich betont. Das »Schicksal«, in dessen Gestalt der objektive gesellschaftli­ che Widerspruch hier entstellt gestaltet auftritt, löst sich im Nebel des stim­ mungshaften Psychologismus auf. Um aber damit dem Schriftwerk nicht jede Allgemeinheit und damit jede Wirkungsmöglichkeit zu rauben, erhält dieses »Schicksal« - wieder stimmungshaft, wieder irrationell – eine ganz abstrakte Allgemeinheit: es ist das Menschenschicksal, vor dem wir ergriffen stehen sollen. Die Unfähigkeit der Klasse, ihr eigenes gesellschaftliches Sein zu begreifen: das Lebensgefühl ihrer Einzelmitglieder, die in diesen Fragen des Haltes einer inhaltlichen, Gebote, Verbote, Perspektive etc. gebenden Klas­ senideologie entbehren, dichtet sich zu einem solchen abstrakt allgemeinen Nebel des »Schicksals« zusammen. Die allgemein-europäische Wirkung der albernen Märchendramen Maeterlincks kann nur aus dieser ideologischen Lage verstanden werden. Andrerseits wird es klar, dass diese Fragestellung gerade für die liberale Bourgeoisie und insbesondre für ihre Intelligenz wich­ tig geworden ist: sie hat sich in der revolutionären Periode der Bourgeoisie von der überlieferten Moral etc. befreit (diese lebt – heuchlerisch, im Einzel­ fall stets umgangen – etwa in der Agrarbourgeoisie weiter fort); ihre eigene Moral versagt aber völlig den von ihr auch gedanklich nicht zu bewältigenden Tatsachen der imperialistischen Epoche gegenüber. Aus dieser ideologischen Auflösung entsteht: eine Religiosität ohne Dog­ men, ja ohne Gott, die aber inhaltlich alle »Gefühlswerte«, alle weltanschau­ lichen Folgen des Christentums aufbewahrt; ein Relativismus, der hofft und sich einbildet, mit subjektiv stimmungshaften Zutaten die Wirklichkeit doch erfassen zu können (es ist charakteristisch, dass alle neueren Relativisten, von Simmel und Max Weber bis Mannheim, sich erbittert gegen den Vorwurf des Relativismus wehren); ein subjektiver Idealismus, der über den eigenen Schatten springen, wie Münchhausen sich am eigenen Zopf aus dem Graben des Solipsismus ziehen möchte. 288


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»Dichterische Tiefe« Hauptmann hat sich nun in seiner »Reife« wirklich zum repräsentativen Dichter dieser Schicht entwickelt. Alles, was in den helleren und klareren Köpfen dieser Periode halb ausgesprochen, dann aber – bewusst oder unbe­ wusst – wieder zurechtgebogen wurde, kommt bei ihm in naiver Unmittel­ barkeit zum Vorschein. »Fuhrmann Henschel« (1898), mit dem diese Periode seiner Entwicklung klar einsetzt, ist ein mit naturalistischer Technik gemach­ ter Maeterlinck. Und diese naturalistische Technik, die Hauptmann nie ganz fallen lässt, bringt den grundlegenden Widerspruch noch krasser zum Vor­ schein. Denn jenes Auseinanderklaffen des Allgemeinen und des Besonderen, auf das wir, als Weltanschauungsgrundlage seiner Gestaltung, bereits hin­ gewiesen haben, steigert sich desto mehr, je »lebenswahrer« die Gestalten in allen ihren Einzelheiten sind, je alltäglicher, »typischer« die Handlung angelegt ist. Gerade dadurch fallen Gestalten und Handlung noch mehr aus­ einander. Wer eine Handlung (man nehme wahllos »Rose Bernd« [1903], »Die Ratten« [1910] etc.) aufmerksam analysiert, wird erstaunt sein, welch ein grobes Gewebe von ganz unmotivierten Zufällen sie ist. Er wird aber zugleich beobachten können, dass Hauptmann mit naiver Ehrlichkeit diese Zufälle aneinanderhäuft, im sicheren Gefühl, dass er durch sie hindurch sein Schicksalerlebnis zum Ausdruck bringt. Aber Zufall bleibt Zufall und Schick­ sal bleibt Schicksal; es ist hier kein dialektischer Prozess wirksam, wo sich die Notwendigkeit durch die Zufälle hindurch, sie aufhebend, durchsetzen würde. Die Verbindung ist vielmehr eine rein subjektiv-idealistische. Haupt­ mann gestaltet das, was ihm als Notwendigkeit vorschwebt, dadurch, dass seine Gestalten nachträglich, post festum, das Erlebnis haben: das was ihnen geschah, ist notwendig gewesen. Man denke zum Beispiel an Henschels: »Du kannst nichts dafür«; an den Schluss von »Michel Kramer« (1900); Frau Fielitz im »Roten Hahn« sagt: Ma’ kann’s ni ändern: an Tummheet is. Aber wenn ma’ a Leuten de Augen will ufkneppen: is ni! Tummheet regiert de Welt. Was sein mir: Sie, ich und mir alle zusamm’? Mir han uns mußt schinden und schuften durchs Leben, eener so gutt wie der andere dahier. Nu etwa! Also! Mir wer’n woll Bescheid wissen. Wer nit mitmacht, is faul, wer de mitmacht, is schlecht. Diese Stelle ist typisch dafür, was man bei Hauptmann als »dichterische Tiefe« zu feiern pflegt. Und es ist wahr: hier kommt dieses ganze Chaos der 289


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ungelösten Widersprüche ganz naiv – und gerade darum in vielen Fällen sehr wirkungsvoll – als Einheit, als »Weltbild« erlebt zum Vorschein. Während andere Schriftsteller denselben für sie unentwirrbaren Knäuel von Wider­ sprüchen zu einer Harmonie zurechtstutzen, oder zynisch verhöhnen, oder aus ihrem Nichtverstehen ein artistisches Spiel machen, sprudelt all dies bei Hauptmann unmittelbar, mit der einfachen, subjektiv echten Ergriffenheit von Dichtern vergangener Epochen hervor; von Dichtern freilich, die wirk­ lich unter einfachen Verhältnissen gelebt haben, deren Naivität sich also mit ihren Inhalten im Einklang befand. Wenn aber Hauptmann durch diese subjektive Echtheit eine eigenartige Stellung unter den heutigen Schriftstellern einnimmt, so bedeutet dies lange nicht, dass er damit zu einem wirklich bedeutenden Dichter, zum Gestalter einer Epoche geworden wäre. Ganz im Gegenteil. Die subjektive Echtheit hat nur zur Folge, dass Hauptmann im besten Glauben, mit dem besten Gewissen, alle Modetorheiten der Bourgeoisie, alle ideologischen Flauseln der Intelli­ genz mitmachen musste; dass er – mit fast bäuerlicher Schlichtheit und auch Plumpheit – von Shakespeare bis Maeterlinck, von Calderon bis Kleist alle möglichen und unmöglichen Stile eklektisch, nebeneinander und nachein­ ander, in sich aufnahm; dass seine feine Beobachtungsgabe und sein feines Sprachgefühl keiner Entwicklung fähig geworden sind; dass in der langen Reihe der Werke, die er seit 20 Jahren schuf, kein einziges vorhanden ist, das einen einigermaßen bleibenden Wert haben würde. Diese Formfrage ist selbstverständlich nur eine Konsequenz des inhalt­ lichen, weltanschaulich-kritiklosen naiven Mitmachens aller ideologischen Strömungen der liberalen Bourgeoisie. Man nehme als besonders bezeich­ nendes Beispiel die Religion. Der junge Hauptmann lässt den Helden seiner »Einsamen Menschen« (1891) noch Atheisten, Haeckelanhänger sein – aber bei vollem Verständnis und Respekt für die Religiosität der alten Generation; in »Hannele« (1893) werden bereits alle Requisiten des Christentums schrift­ stellerisch ausgenützt, freilich mit dem »naturalistischen« Vorbehalt, dass es sich um Fieberträume handle; noch energischer geht dies – nach der ins Mystische stilisierten kantianischen Episode von »Michael Kramer« – im »Emanuel Quint« (1910) vor sich: hier salviert Hauptmann einerseits sein »modernes«, »naturalistisches« Gewissen damit, dass der »neue Christus« ein armer Wahnsinniger ist, andererseits weicht er zugleich einer schärferen Gegenüberstellung: Christus (primitiver Kommunismus) und kapitalisti­ sche Gegenwart aus und kann doch alle, jetzt zu gar nichts verpflichtenden, Stimmungseffekte des Urchristentums in diesem Kontrast einheimsen. In 290


Georg Lukács: Gerhart Hauptmann

den »Indianerdramen« (der Weiße Heiland, Indipohdi [1920]) wächst sogar das Christentum als »naturwüchsiges« Produkt aus jeder primitiven Kultur hervor; im ersten Drama gelingt es Hauptmann, das liberale »Sowohl als auch« darzustellen: nämlich Montezumas religiösen Pazifismus und Cor­ tez’ koloniale Realpolitik miteinander »tragisch« zu »versöhnen«, beide als berechtigt zu gestalten. Diese beiden Seiten – die subjektive Ehrlichkeit und die klägliche objek­ tive Leistung – müssen nebeneinander stehen, wenn wir Hauptmann wirk­ lich begreifen wollen. Und diese schroffe, unauflösbare Dissonanz, die sowohl seine Klassengrundlage widerspiegelt, wie seine Werke charakteri­ siert, kommt gerade durch die »versöhnende« Note seiner Weltanschauung, durch seinen religiös gefärbten Relativismus gestaltet zum Ausdruck: eine bodenlose Plattheit, die sich – gutgläubig – als tiefe und tiefempfundene Weisheit gibt. Ich schreibe, wieder aufs Geratewohl, ein solches Beispiel aus »Kaiser Karls Geisel« (1908) her: karl: alcuin: karl:

Nun gut: der längste Tag hat seinen Abend. Gleichwie auf jede Nacht ein Morgen folgt. Gut, was bleibt übrig, als geduldig warten!

Das Fazit Aber diese »Tiefe«, dieses »Verstehen», diese »Gläubigkeit« und – vor allem – dieses »Mitleid mit aller Kreatur« sind nicht bloß objektiv flach und nichtssa­ gend, sondern schlagen, angesichts der Tatsachen der objektiven Wirklichkeit in eine – objektive – Unwahrhaftigkeit um. Denn ergriffenes Verstehen (post festum), Einsamkeitsgefühl und vor allem Mitleid: das sind die wohlfeils­ ten Empfindungen, die man nur haben kann. Man macht alles, was einem die gesellschaftliche Lage diktiert, ungestört mit. Dann »erlebt« man diese »Ergriffenheit«, ist dem Dichter dankbar und fühlt sich als Einzelmensch – und für diese Weltanschauung gibt es ja nur Einzelmenschen – »gehoben«. Nachher tut man dann genau dasselbe, wie früher. Aber das Leben hat eben seine »Weihe« erhalten. In seiner Jugend dämmerte Hauptmann etwas von der heuchlerischen Wesensart dieser Haltung. In den »Webern« »erlebt« der Fabrikant Dreißiger ein »menschliches Mitleid« mit dem Weberjungen, der bei der Auszahlung ohnmächtig wird. Erst als das Kind von Hunger zu spre­ chen beginnt, lässt er es in das andere Zimmer schaffen. Aber diese kritischen 291


Theatergeschichte

Lichtblicke hören immer mehr auf. Hauptmann predigt immer entschiedener den inhaltlosen subjektiven Idealismus, die »Versöhnung« mit der Wirklich­ keit durch das »Erlebnis«: »Die Glocke ist mehr als die Kirche, der Ruf zu Tische mehr als das Brot« (Michael Kramer). Dass all dies – heute! – subjektiv ehrlich gepredigt wird, erklärt die anhal­ tende Wirkung Hauptmanns bei der liberalen Bourgeoisie. Und noch dazu, wir wiederholen, man sagt sich: es ist der Weberdichter, der so spricht. Hauptmanns »Armer Heinrich« sagt: Des Abgrunds Tiefen ruhn Unter des Schiffes Kiel, auf dem wir gleiten, Und ist ein Taucher dort hinabgetaucht, Und heil zurückgekehrt zur Oberfläche, So ist sein Lachen, wenn er wieder lacht, Lasten von Golde wert. Wir glauben Hauptmann gern, dass er nicht um des Goldes willen »lacht«. Aber objektiv hat dieses sein »Lachen« dieselben Konsequenzen, als wenn er sich bewusst prostituiert hätte. Ja, er steigert noch durch seine Ehrlichkeit diese objektive Wirkung. Man mag ihn also als Opfer des ideologischen Nie­ dergangs seiner Klasse beklagen. Er hat aber alles, was dieser Niedergang mit sich brachte, widerstandslos mitgemacht und sich damit als Dichter – frei­ willig, ehrlich, aber vollständig – prostituiert und zugrunde gerichtet. Das scheint uns das Fazit des Falles Hauptmann zu sein. 1932

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Beileidschreiben an Helene Weigel zum Tod Bertolt Brechts

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Gedenkrede gehalten bei der Trauerfeier für Bertolt Brecht am 18. August 1956

Bedeutende Dichter, die unserer Periode vorangegangen – Ibsen und Tsche­ chow – haben die eigentliche Aufgabe der Literatur darin gesehen: vernünf­ tige Fragen an die Wirklichkeit, an ihre Zeit, an deren Menschen zu richten. Die bürgerlichen Schriftsteller haben diesen Weg nur allzu bereitwillig eingeschlagen; je später, desto entschiedener. Jede Antwort ist aus der Spra­ che, aus der Gestaltung, ja man kann sagen aus der Kategorienlehre der Lite­ ratur verschwunden. Die bloße, abstrakte, zu Selbstzweck gewordene Frage pulverisierte die Welt der Dichtung, machte aus ihr ein wirres Spiel wesen­ loser, beziehungsloser Moleküle. Die Gefahr, die darin lag, war unschwer zu erkennen. Und nicht wenige der Bestwollenden unter den Unsrigen replizierten mit gesteigerter Abstrakt­ heit auf das Negative, sich in Abstraktion verlierende Fragen. War dort über das Fragen die Antwort vergessen, so verschlang hier die dogmatisch gewor­ dene Antwort ein jedes Suchen, eine jede Frage. Brecht fand mit dem Instinkt, mit der Vernunft eines bedeutenden Schriftstellers die königliche Mitte. Seine Dramen, seine Poesie stellen Fragen mit einer Radikalität, mit einer aufwühlenden Intensität, mit einem sicheren Zielen auf aktuelle und doch unerkannte Tiefen. Hinter all dieser wogenden Problematik steht aber stets die durch nichts erschütterbare Gewissheit der letzten Antwort, der wahren Perspektive. Wenn also Brecht durch die Wucht seines Dichtertums zur Selbstprü­ fung zwang, wenn diese Selbstprüfung bei ihm immer in ein Überprüfen der gesellschaftlichen Wirklichkeit umschlug, so erweckte er in vielen Tausen­ den von Menschen heilsame Krisen. Heilsame, denn der wilde Wellenschlag der von ihm auferweckten Problematik war kein alles verschlingender Mahl­ strom, sondern ein frischer Wind, der kluge Schiffer in den Hafen führen konnte. Tiefste Problematik in bezug auf alle Einzelfragen des menschlichen Lebens, tiefste Zielbewusstheit in bezug auf das Ganze der Menschheits­ entwicklung: das war der fruchtbare, der fruchtbringende, der lebendige Widerspruch in Brechts dichterischem Schaffen. 295


Theatergeschichte

Alle seine Fragen wurzeln in der Besonderheit unseres Heute: darin besteht seine echtgeborene Originalität. Alle seine Fragen – und die sie fundierende Antwort – entspringen dem ständigen Bedürfnis der Menschheit, sich aus jeder Entwürdigung zu befreien, sich eine dem Menschen angemessene Hei­ mat im gesellschaftlichen Leben aufzubauen: darin besteht seine innige Ver­ bundenheit mit den echtesten, größten Überlieferungen der Literatur. Es ist gleichgültig, dass Brecht selbst zuweilen die Forderungen des Tages überbetont empfand und die Verbindungen mit der Vergangenheit ableh­ nen zu müssen meinte. In seinen besten Werken ist diese Einheit ungeteilt vorhanden. Brecht ist ein echter Dramatiker. Seine tiefste Absicht bleibt, die Mas­ sen, die Zuschauer und Zuhörer seiner Dichtung umzuwandeln. Sie sol­ len das Theater nicht bloß erschüttert, sondern verändert: dem Guten, der Bewusstheit, der Aktivität, dem Fortschritt praktisch zugewandt verlassen. Die ästhetische Wirkung soll eine moralische, eine gesellschaftliche Umkehr hervorbringen. Das aber war der tiefste Sinn der aristotelischen »Katharsis«. Sie sollte – so verstand sie mit Recht Lessing – die Erschütterung in eine Fertigkeit zum Sittlichen erheben. Weil Brecht dies wollte und in seinen besten Werken ver­ wirklichte, war er ein wirklicher Dramatiker. Nach Ibsen, Tschechow und Shaw war es Brecht, der für unsere Zeit diese »ewige« Frage mit aktuellen Inhalten, in einer aus diesen Inhalten erwachsenden Form auswarf. Daher seine außergewöhnliche, über Partei- und Landesgrenzen hinaus­ greifende Wirkung. Daher der unermessliche Verlust durch seinen so frühen Tod. Daher aber auch die trostvolle Zuversicht: auch dieses mitten im Aufstieg abgebrochene Lebenswerk ist und bleibt unser machtvoller Kampfgenosse im Ringen um eine lichte Zukunft der Menschheit. 1956

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In memoriam Hanns Eisler

Ich kann mich an den Anfang unserer Bekanntschaft nicht mehr erinnern; sicher fällt er in die Zeit meiner Wiener Emigration in den zwanziger Jah­ ren. Jedenfalls verband uns damals und noch lange Zeit eine persönliche Sympathie, die, vor allem wegen der seltenen Begegnungen und wegen der Verschiedenheit unserer Betätigungsfelder, sich noch nicht zur Freundschaft kristallisierte. Die erste öffentliche Begegnung sah aus, als ob eine scharfe theoretische Gegnerschaft zwischen uns bestünde. Es war die Zeit der soge­ nannten Expressionismusdebatte (um 1938). Ich griff einen Artikel von Eisler und Bloch scharf an; Eisler erwiderte nicht minder heftig. Von einer heutigen Perspektive aus muss man aber die innere Einheitlichkeit beider »Fronten« dieser Diskussion sehr vorsichtig einschätzen; sie waren bei weitem nicht so homogen, wie es scheinen konnte. Die Kritiker des Expressionismus als eines unentbehrlichen und fruchtbaren Erbes der modernen Literatur gingen von äußerst verschiedenen, ja entgegengesetzten Positionen aus. Es gab einerseits viele, die im Namen des damals höchst ärarischen, schematisch-naturalisti­ schen Durchschnitts des sozialistischen Realismus, der zumeist, auch nicht zu seinem künstlerischen Vorteil, mit etwas roter Romantik garniert war, jede Neuerung in der Literatur als »Formalismus« a priori ablehnten. Es gab ande­ rerseits solche – zu ihnen gehörte auch ich – die in der sozialistischen Litera­ tur einem wirklich umfassenden und tiefen Realismus zustrebten. Das Fest­ halten an den Traditionen der großen Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart war also hier kein »Konservativismus«, sondern die Sehnsucht nach einer angemessenen künstlerischen Widerspiegelung der gegenwärti­ gen Wirklichkeit, die unsere Probleme auf dem geistigen und künstlerischen Niveau der alten Kunst zugleich zeitgemäß und zeitbeständig zu gestalten imstande ist. Darum entstand eine Stellungnahme gegen das kurzsichtige und beschränkte Modeschlagwort, das einen Bruch mit dem 19. Jahrhundert verkündete; war doch dieses nicht nur das von Goethe und Thomas Mann, sondern auch das von Karl Marx. Nicht minder uneinheitlich waren die weltanschaulichen und künstleri­ schen Grundlagen jener »Front«, die den Expressionismus durch dick und dünn verteidigten. Am lautesten waren zumeist jene, die den eben erwähnten 297


Theatergeschichte

radikalen Bruch mit dem 19. Jahrhundert forderten, die den sogenannten Ver­ lust der Wirklichkeit (Benn) zur Grundlage einer jeden zeitgemäßen Kunst machen wollten. Es waren, aus heutiger Sicht betrachtet, zumeist jene, die die Problematik der bürgerlichen Gesellschaft, ihr eigenes Unbehagen an ihr, in ein neues Genussmittel verwandeln wollten; deren Kritik, ihrem objekti­ ven Wesen nach, zu einem Beitrag zur Stabilisierung des Kritisierten wird. Daneben und dagegen gab es in dieser »Front« auch ehrliche Sucher, die von den neuen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens im Innersten gepackt und erschüttert waren und die zugleich eine humanistische und revolutio­ näre Antwort auf die spezifischen Greuel dieser Periode zu finden ausgin­ gen. Ihr »Modernismus« war deshalb vor allem ein stilistisches Mittel, um ihre ernsthafte, sich stets konkretisierende, immer inhaltsvollere Opposition auszudrücken. Brecht nahm zwar unmittelbar an dieser Expressionismus­ diskussion nicht teil, war aber, im Hintergrund, das Zentrum dieser Tendenz, obwohl die andere Strömung ebenfalls ihn sich anzueignen trachtete. Dem Wesen seiner Gesamtentwicklung nach gehörte Hanns Eisler nicht nur zum Mitarbeiterkreis Brechts, sondern auch zu den wenigen Mitstreitern für das von ihm zutiefst Erstrebte. So falsch die sich in dieser Debatte zuspitzenden Gegensätze in ihrer abs­ trakten Unmittelbarkeit auch waren, so hatte ihre Falschheit doch soziale Wurzeln, so dass – trotz ernsthafter Versuche – eine vollständige Klärung auch heute noch nicht erfolgt ist. An Anläufen zur Überwindung falscher Gegnerschaften hat es freilich schon damals nicht gefehlt. Unmittelbar nach der Diskussion war (1938/1939), so glaube ich heute, mein Briefwechsel mit Anna Seghers der erste Versuch einer derartigen Verständigung zwischen letzthin Zusammengehörigen jenseits der Schlagwörter der unmittelbaren Gegenwart. Nicht allzu lange Zeit nachher, freilich schon während des Krieges, fuhr Brecht über Moskau nach Amerika. Wir hatten damals ein eingehendes Gespräch über die Lage der Literatur, und eine Wendung Brechts ist mir auch heute noch plastisch im Gedächtnis geblieben. Man wolle, sagte er, von vielen Seiten ihn gegen mich aufhetzen und sicher sei dies auch bei mir der Fall; wir beide sollten aber diesen Versuchen energisch widerstehen. Wir verab­ schiedeten uns – ich kann Brechts Worte natürlich auch hier nur sinngemäß wiederholen – damit, dass wir uns eine Stunde nach Kriegsende im Café Josti, Potsdamer Platz, treffen würden. Hinter dem Scherz Brechts steckte freilich ein stimmungshafter Optimis­ mus utopischen Charakters über das Tempo der Entwicklung, den damals auch ich mit ihm zu teilen trachtete. 298


Georg Lukács: In memoriam Hanns Eisler

Um bei unserem Thema zu bleiben: Auch die Herausbildung der echten Fronten vollzog sich in der Wirklichkeit weitaus langsamer als in unseren Wünschen. Die Herrschaft der Shdanowschen Ideologie mit ihrer mecha­ nisch-administrativen Verdrängung eines jeden »Modernismus« führte im Gegenteil zu einer weiteren Erstarrung der falschen »Fronten«, und auch ihre viel später erfolgte, zumeist äußerst formelle, bloß verbale Überwindung konnte wenig daran ändern. Dass es heute Literaturen gibt, wo die Vertreter des ärarischen Schematismus mit denen eines von Tagesmoden bestimmten Formalismus gemeinsam gegen das »veraltete« 19. Jahrhundert auftreten, kann wahrhaftig nicht als Klärung betrachtet werden. Das wirkliche Durch­ brechen von erstarrten Irrtumsmauern war das Werk einzelner bedeutender Künstler, vor allem Brechts; mit ihm auch Hanns Eislers. Jeder Aufenthalt, der mir in Berlin vergönnt war, führte immer Gespräche des sich anbahnenden Einverständnisses mit beiden mit sich, das ständig erstarkende Gefühl, dass wir den Tunnel von zwei Seiten anbohren und unweigerlich uns in der Mitte treffen würden. (Ich betrachtete es als – durch Überbeschäftigung erfolgtes – großes Versäumnis, dass ich das, was in solchen Gesprächen zur Sprache kam, niemals in adäquater, theoretischer Form fixieren konnte. Auch die späten Andeutungen in der englischen Ausgabe meines kleinen Buches über die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus sind von einem angemesse­ nen Ausdruck dieser Probleme weit entfernt.) Hanns Eisler hat sein Ringen um die neue Wahrheit nicht nur in seinen Kompositionen verkörpert, die zu beurteilen mir, einem Nichtmusiker, die Kompetenz fehlt, sondern auch theoretisch. Ich möchte bloß auf seinen höchst interessanten Vortrag über Schönberg (1955) hinweisen. Was diesen Aufsatz auch heute noch so aufschlussreich macht, ist das intime Verfloch­ tensein von lebendigem, liebevollem Verständnis für den Meister, für seine Intentionen mit scharfer, schonungsloser Kritik an seinem Werk selbst, an seiner Methode, an seiner Ausdrucksweise. Ich erwähne nur nebenbei, dass Hanns Eisler – sicher nicht zufällig – immer wieder auf die Verbindungsfäden zu sprechen kommt, die Schönberg, als Schaffenden wie als Pädagogen, mit der klassischen Periode des 19. Jahrhunderts verbunden haben. Seine Kri­ tik ist nicht nur vom Ton der echten Anhänglichkeit des Schülers gefärbt, sondern geht, mit Recht, von der zeitbedingten Notwendigkeit einer gerade solchen Kunst aus. Er spricht von dem »Grundton der Verzweiflung« in Schönbergs Musik und erläutert ihr Wesen so: »Er hat lange vor der Erfin­ dung, des Bombenflugzeugs die Gefühle der Menschen im Luftschutzbun­ ker ausgedrückt; er hat mit seiner Musik immerhin zu verstehen gegeben, 299


Theatergeschichte

dass die Welt nicht schön war.« Eisler zeigt auf diese Weise, dass die neue Formgebung und die ihr entsprechende neue Methode und Technik des Zwölftonsystems kein willkürlich-formalistisches, bloß artistisches Experi­ ment war, sondern die notwendige Folge eines gesellschaftlich-geschichtlich bestimmten Weltbildes. Diese richtige Einsicht kann jedoch die sachliche Schärfe in der Feststellung der ästhetischen Schranken und Widersprüche, die aus dem Schönbergschen System notwendig folgen, nicht mildern. Es ist hier wirklich nicht der Ort, auf diesen höchst wichtigen Fragenkomplex näher einzugehen; ich will ja jetzt nicht über allgemeine Kunstphilosophie sprechen, bloß einen sehr wesentlichen Zug von Hanns Eislers Persönlichkeit verdeutlichen. Aber gerade darum muss das entsprechend Prinzipielle seines Standpunkts kurz hervorgehoben werden. Indem er zum Beispiel als not­ wendige Konsequenz der Zwölftontechnik den »Mangel an Gegensätzen« als Gefahr feststellt, indem er darauf hinweist, dass die Permutationsmethode die Phantasie des Komponisten »einseitig« macht, ja sie »verarmen« kann, nähert er sich von verschiedenen Seiten der grundlegenden Problematik die­ ser Kompositionsart. So sagt er an einer Stelle: »Die Durchführungsteile in einer Zwölftonkomposition modulieren nicht, sie werden nur wie die Geis­ ter der Abgeschiedenen noch einmal beschworen, aber sie bleiben wie eben die Abgeschiedenen abstrakt und haben keine Kraft mehr, die in der Form pulsiert.« Hanns Eisler deckt hier die Verarmung der modernen Kunst an wesentlichem Gehalt, an Dimensionen und Bestimmungen und dadurch an intensiver Unendlichkeit, an wahrhaftem Leben auf. Er zeigt, wie sie – vom Gehalt, von der Weltanschauung aus – immer »flacher«, immer weniger dimensional werden muss. Ich könnte solche Zitate aus dieser Schrift und anderen Äußerungen beliebig vermehren. Ich tue es nicht, denn hier soll nicht von Schönbergs Problematik die Rede sein, sondern von Hanns Eislers Verhalten zu den gro­ ßen Problemen der Kunst seiner Zeit. Dazu genügt aber bereits das bisher Angedeutete. Man sieht, wie Hanns Eisler von einer echt empfundenen Dank­ barkeit, von einer ebenso echten Hochachtung Schönberg gegenüber erfüllt ist, zugleich jedoch mit – ebenso echtem – künstlerischem Schauder vor den Konsequenzen dieser Kunst auf der Flucht begriffen ist. Mögen kompetente Musikkenner die ästhetischen Früchte dieser Haltung an seinen Werken, an seiner künstlerischen Entwicklung nachweisen. Ich bin, wenn ich an Hanns Eisler, an einzelne unserer Berliner Gespräche, denke, von tiefer menschlicher Ehrfurcht davor erfüllt, was das Ringen seines Lebens um die künstlerische Wahrheit ausstrahlt. Darum kann ich diese spärlichen und fragmentarischen 300


Georg Lukács: In memoriam Hanns Eisler

Zeilen nur mit den Worten schließen, die ich am Kriegsanfang für ganz andere Probleme, in ganz anderen Zusammenhängen niederschrieb: »Nur die ehrlich Suchenden können finden, nur die richtig Flüchtenden werden ihre wirkliche Heimat erreichen.« 1965

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Kolumnentitel

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ANHANG

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Arbeitsplatz von Georg Lukács in seiner Wohnung in Budapest, wo von 1972 bis zur Schließung 2018 auch das Georg-Lukács-Archiv untergebracht war. Foto: Jakob Hayner

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Editorische Notiz

Für die Auswahl der Texte wurde, soweit darin enthalten, auf die Werkaus­ gabe der Schriften von Georg Lukács aus dem Luchterhand-Verlag bezie­ hungsweise dem Aisthesis-Verlag, der dieses Projekt fortgesetzt hat und – 60 Jahre nach dem Beginn – im Jahr 2021 mit dem letzten Teilband zum Abschluss führte, zurückgegriffen. Die Eigenheiten in der Schreibweise von Lukács wurden beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden behoben. Eine maßvolle Anpassung an die Regeln der neuen Rechtschreibung wurde vorgenommen.

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Textnachweise

Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik G. Lukács: Werke. Bd. 10. Aus: Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik, S. 577–592. Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik G. Lukács: Werke. Bd. 11. Aus: Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. 1, S. 692–720. Das Problem der Öffentlichkeit G. Lukács: Werke. Bd. 6. Aus: Der historische Roman, S. 154–166. Auf dem Weg zur realistischen Kunst Akademie der Künste, Berlin, Herbert-Ihering-Archiv 6651. Dieser Text beruht auf Lukács’ Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels. Es geht um den Realismus G. Lukács: Werke. Bd. 4, S. 313–344. Kunst und objektive Wahrheit G. Lukács: Werke. Bd. 4, S. 607–650. Faust-Studien G. Lukács: Werke. Bd. 6, S. 453 f. und 469–485. Die Tragödie Heinrich von Kleists G. Lukács: Werke. Bd. 7, S. 201–234. Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner G. Lukács: Werke. Bd. 7, S. 249–272. Gerhart Hauptmann G. Lukács: Werke. Bd. 4, S. 69–80.

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Beileidsschreiben an Helene Weigel zum Tod Bertolt Brechts Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv 888/58. Gedenkrede, gehalten bei der Trauerfeier für Bertolt Brecht am 18. August 1956 Georg-Lukács-Archiv, Budapest. In memoriam Hanns Eisler Aus: Die Zeit, Nr. 36/1965.

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Gefördert durch:

Georg Lukács Texte zum Theater Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke In Zusammenarbeit mit dem Literaturforum im Brecht-Haus Mit Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds im Rahmen des geförderten Projekts »Re-reading Lukács – staging theory. Georg Lukács und das Theater« Abdruck der Texte aus der Lukács-Werkausgabe mit freundlicher Genehmigung des Aisthesis Verlags (Bielefeld). © Aisthesis Verlag Bielefeld Abdruck aller weiteren Texte von Lukács mit freundlicher Genehmigung von Zoltán Mosóczi (The Lukács Estate) © dieser Ausgabe bei Theater der Zeit, 2021 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Gestaltung: Kerstin Bigalke Umschlagfoto: Georg Lukács auf dem Pariser Weltfriedenskongress 1949, © ullstein bild – Roger-Viollet Printed in Germany ISBN 978-3-95749-362-0 (Paperback) ISBN 978-3-95749-374-3 (ePDF) ISBN 978-3-95749-375-0 (EPUB)


Georg Lukács (1885 –1971) war ein ungarischer Kolumnentitel Philosoph und Literaturwissenschaftler und – neben Gefördert durch:

Ernst Bloch, Max Horkheimer, Antonio Gramsci und Karl Korsch – einer der bedeutendsten Erneuerer der marxistischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu seinen wichtigsten frühen Veröffentlichungen zählen »Die Seele und die Formen«, »Die Theorie des Romans« sowie »Geschichte und Klassen­bewusstsein«. Es folgten Schriften über die russischen und französischen Realisten des 19. Jahrhunderts, über Johann Wolfgang von Goethe

Georg Lukács Texte zum Theater Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke In Zusammenarbeit mit dem Literaturforum im Brecht-Haus Mit Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds im Rahmen des geförderten Projekts »Re-reading Lukács – staging theory. Georg Lukács und das Theater«

und Thomas Mann sowie die Herausgabe seiner vierbändigen »Ästhetik«. Lukács engagierte sich für die ungarische Räterepublik 1919. Er beteiligte sich auch am Budapester Aufstand 1956 und war Kultusminister der Regierung Imre Nagy. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er in Budapest, aus seinem Kreis gingen u. a. Ágnes Heller und György Márkus hervor.

Abdruck der Texte aus der Lukács-Werkausgabe mit freundlicher Genehmigung des Aisthesis Verlags (Bielefeld). © Aisthesis Verlag Bielefeld Abdruck aller weiteren Texte von Lukács mit freundlicher Genehmigung von Zoltán Mosóczi (The Lukács Estate) © dieser Ausgabe bei Theater der Zeit, 2021 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Gestaltung: Kerstin Bigalke Umschlagfoto: Georg Lukács auf dem Pariser Weltfriedenskongress 1949, © ullstein bild – Roger-Viollet Printed in Germany ISBN 978-3-95749-362-0 (Paperback) ISBN 978-3-95749-374-3 (ePDF) ISBN 978-3-95749-375-0 (EPUB)

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Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke sowie mit einem Beitrag von Bernd Stegemann und einer Einleitung von Dietmar Dath.

READER

Georg Lukács hat das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer geprägt. Zeitlebens interessierte sich der ungarische Philosoph für die Kunst des Theaters. Der Reader versammelt eine Auswahl seiner Schriften – aus den Bereichen Ästhetik, Realismus und Theatergeschichte.

GEORG LUKÁCS TEXTE ZUM THEATER

Georg Lukács (1885 –1971) war ein ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler und – neben Ernst Bloch, Max Horkheimer, Antonio Gramsci und Karl Korsch – einer der bedeutendsten Erneuerer der marxistischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu seinen wichtigsten frühen Veröffentlichungen zählen »Die Seele und die Formen«, »Die Theorie des Romans« sowie »Geschichte und Klassen­bewusstsein«. Es folgten Schriften über die russischen und französischen Realisten des 19. Jahrhunderts, über Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann sowie die Herausgabe seiner vierbändigen »Ästhetik«. Lukács engagierte sich für die ungarische Räterepublik 1919. Er beteiligte sich auch am Budapester Aufstand 1956 und war Kultusminister der Regierung Imre Nagy. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er in Budapest, aus seinem Kreis gingen u. a. Ágnes Heller und György Márkus hervor.

GEORG LUKÁCS TEXTE ZUM THEATER

ISBN 978-3-95749-362-0

9 783957 493620 >

»Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbeschäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoretisches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee.« Dietmar Dath


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