Heiner Müller – Anekdoten

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Heiner Müller – Anekdoten


Der Verlag Theater der Zeit und der Herausgeber danken dem Suhrkamp Verlag für die freundliche Unterstützung.

Heiner Müller – Anekdoten Gesammelt und herausgegeben von Thomas Irmer © 2018 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Sibyll Wahrig Coverabbildung: Einar Schleef „Heiner Müller mit Gummihammer“, 1975. © VG Bild-Kunst Fotoserie: Grischa Meyer (Da Heiner Müller der Einladung zu einer Konferenz in Toronto kurz vor seinem Tod nicht folgen konnte, ließ er eine Videoaufzeichnung für die Veranstaltung anfertigen. Die Bilder zeigen Heiner Müller bei seinem letzten Interview mit Ute Scharfenberg im Oktober 1995.) Printed in the EU ISBN 978-3-95749-121-3 (print) ISBN 978-3-95749-127-5 (ePUB) ISBN 978-3-95749-180-0 (ePDF)


Heiner MĂźller Anekdoten Gesammelt und herausgegeben von Thomas Irmer

mit zwei Erinnerungen von Katja Lange-MĂźller und Lothar Trolle


„mit müller essen, bzw. trinken. müller unaufhörlich anekdoten redend / legenden, seine letzte kunstart.“

aus: Volker Braun: „Werktage 1990–2008“, Berlin: Suhrkamp Verlag 2014, S. 245


Vorwort Einen Anekdotenschatz zu hinterlassen, das ist ein Merkmal großer Persönlichkeiten. Die Anekdoten setzen im besten Fall ein Lebensbild zusammen, das die klassische Biografie ergänzt und mit ihr auf verschiedenen Ebenen korrespondiert. Nietzsche meinte sogar: „Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben.“ Im Fall Heiner Müllers waren schon zu Lebzeiten zahlreiche Anekdoten im Umlauf. Wahrscheinlich deshalb, weil der Dichter zeitweise aus der Öffentlichkeit vertrieben wurde und damit selbst wie die Anekdote in ihren spätantiken Anfängen zu einer Art „geheimen Geschichte“ wurde. Und ganz bestimmt auch deshalb, weil Müller immer für eine originelle Erwiderung bekannt war, die es lohnte, weitererzählt zu werden. Ohnehin ist ja das Theatermilieu ein Tummelplatz des mündlichen Austauschs, die Kantine praktisch der Humus, auf dem Klatsch unter Umständen zu höherer Bedeutung gedeiht. Einiges wurde auch schon früh von Autorenkollegen aufgeschrieben, die damit Müller mit kurzem Strich zu porträtieren suchten. Anderes schwirrte gleichsam autorlos und

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nur mündlich tradiert über die Tische. Alles in allem ein reicher Schatz, zusammengesetzt aus vielen kleinen Stücken, deren vollständige Zahl – das gehört zum Wesen der Sache – sich nicht annähernd bestimmen lässt. Zumal der Dichter in seiner zweiten Lebenshälfte viel durch die Welt streifte und allerorten Anlässe für anekdotisches Material bot, auf dessen Erkundung hier einige Mühe verwendet wurde. Wir legen damit eine offene Sammlung vor, zu der jeder und jede Berufene noch das Eine oder Andere ergänzen möge, privat ganz für sich oder wünschenswerter Weise in künftig erweiterten Auflagen dieses Büchleins. Dazu passend: Heiner, warum sprichst du immer so leise? – Damit ich jedem etwas anderes erzählen kann. So dürfte es noch unendlich viel mehr geben. Müller selbst war eine Quelle von Anekdoten, die er aus Lektüre und Gesprächen fischte und zu der ihm gemäßen pointierten Kurzerzählung formte, die dann – daran erkennt man die bewusste Formung – bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt zum Einsatz kommt. Dies ging einher mit seiner Vorliebe für Witze, von denen hier einige Lieblingsstücke aufgenommen wurden, da sie als Anekdoten anderer Art das Bild durchaus vervollständigen. Ein Fragment-Bild freilich, das


aber bekanntlich mit der Poetik wie auch dem Selbstverständnis Heiner Müllers einiges zu tun hat. Viel Vergnügen! Thomas Irmer Berlin, Juni 2018

Anmerkung: Der Name Heiner Müller wird im folgenden mit dem Kürzel HM angegeben, auch weil ihm dies als Initial-Code für „Die Hamletmaschine“ sehr gefiel.

Mit großem Dank an Knut-Ove Arntzen, Tone Avenstroup, David Bathrick, Volker Braun, Margarita Broich, Frank Castorf, Gautam Dasgupta, Friedrich Christian Delius, Adolf Endler, Durs Grünbein, Hansgünther Heyme, Wladimir Koljasin, Mark Lammert, Katja Lange-Müller, Grischa Meyer, Thomas Oberender, Emine Sevgi Özdamar, Wolfgang Rindfleisch, Ljubiša Ristić, Christoph Rüter, Helmut Schödel, Bernd Stegemann, Wolfgang Storch, Stephan Suschke, Holger Teschke, Matthias Thalheim, B. K. Tragelehn, Lothar Trolle, Robert Wilson, Andrzej Wirth, Renate Ziemer – und Brigitte Maria Mayer.

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Verdienste Anfang der fünfziger Jahre nahm HM an einem Übersetzerwettbewerb teil. Am besten dotiert waren Stalin-Hymnen mit 350 Mark pro Stück, eine sagenhafte Entlohnung. „Vier Hymnen pro Nacht waren drin.“

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Die Postkarte Mitte der siebziger Jahre war HM für einige Zeit nach Hamburg gefahren und wurde an seinem Theater, dem Berliner Ensemble, mit Bangen zurückerwartet. Schließlich erreichte eine Postkarte die Kollegen: „Habe mich nun endgültig für den besseren deutschen Staat entschieden.“ Ein paar Tage später tauchte er im Theater auf – zum Erstaunen aller und insbesondere der guten Genossen, die ihn schon als DDR-Flüchtling abgeschrieben hatten. HM: „Wieso denn? Auf der Karte stand doch alles.“


Heinz oder Heiner Heinz Müller war der Name eines hohen SS-Offiziers und Kriegsverbrechers in Bulgarien. Als HM einmal nach Bulgarien fuhr, wurde er kurzzeitig verhaftet, weil man ihn für Heinz Müller hielt.

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Fünf Lieblingswitze von HM Inserat in einer Zeitung: „Frau sucht Mann mit Pferdeschwanz. Frisur egal.“ Kommt ein Blinder mit seinem Blindenhund ins KaDeWe, packt ihn am Schwanz und wirbelt ihn wild umher. Alle stürzen sich empört auf den Blinden, verteidigen den Hund, da sagt der Blinde: „Man wird sich doch mal umschauen dürfen.“ Marx steckt in der Scheiße und möchte in den Himmel. Petrus sagt zu ihm: „Weiß ich nicht, ob das gut ist.“ Sie gehen los. Lenin steht bis zur Stirn in der Scheiße. Dann Stalin, der steht nur knapp mit den Füßen über der Scheiße. Marx sagt: „Wieso? Du hast doch einiges am Hacken. Warum steckst du nicht tiefer drin?“ – Da antwortet Stalin: „Ich stehe auf den Schultern des Genossen Trotzki.“


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Ein Zug fährt Richtung Zukunft. Erster Nothalt: Alle aussteigen. Schieben. Weiter geht’s. Zweiter Nothalt: Die Genossen aussteigen – und schieben. Weiter geht’s. Wieder Stopp: Alle Genossen müssen nun an den Wagen rütteln. Ein Dramatiker besucht einen Kritiker. Der öffnet die Tür – mit einem Haufen Scheiße in der Hand – und sagt: „Guck mal, da wär’ ich beinahe reingetreten.“


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Nomen est nomen HM war erfreut, als in einer frühen Besprechung seiner Arbeit ausgerechnet die Formulierung erschien: „Müller, den Namen sollte man sich merken.“


Trost Nach dem, wie sich noch herausstellen sollte, folgenschweren Verbot der „Umsiedlerin“ suchte HM ein wenig Zuspruch bei Hanns Eisler. Der beschied ihm: „Müller, ich hätte das Stück auch verboten – wegen Schönfärberei.“

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Genie und Geld Der Lyriker Heinz Kahlau erinnerte sich 1998: Ich weiß noch, wie man sich erzählte, HM gehe herum und versuche, sich Geld zu verschaffen, pumpe die Leute an und sei nicht in der Lage, das Geld zurückzugeben. Dann hörte ich, was man sich über Manfred Krug erzählte: Er soll HM wegen der nicht zurückgegebenen Gelder verprügelt haben. Danach traf ich HM und sprach ihn auf diese Dinge an. Da sagte er zu mir: „Na ja, wenn ein Volk nicht lernt, sich seinen Genies gegenüber zu verhalten, dann muss man es ihm beibringen.“


Mit der Brechtstange Barbara Brecht-Schall wurde in London die Handtasche gestohlen. HM schickte ihr eine Postkarte: „Schöne Grüße, Hakenfinger-Jakob“.

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These und Antithese Hansgünther Heyme hatte in Köln das Stück „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“ von Dieter Forte inszeniert – als Koproduktion mit dem WDR. Nach einem schlimmen Premierenskandal wegen Regie- und Textbrutalitäten trat der WDR zurück und bot dem Regisseur als Ersatz ein „milderes Material“ an: HMs „Macbeth“. Heyme sagte begeistert zu. Die Aufführung bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen wurde aufgezeichnet und lief in der ARD. HM sah die Fernsehaufzeichnung und schrie am Telefon den Regisseur an: So etwas Brutales, Undialektisches habe er noch nie gesehen. Er schäme sich, mit ihm einst Retsina getrunken zu haben. Er warf den Hörer auf die Gabel. Später sah er Heymes Inszenierung des „Prometheus“ in HMs Adaption mit über hundert Jugendlichen in einer KölnEhrenfelder Brotfabrik und lobte: Heyme sei ein Meister dialektischen Herangehens.


Mythos HM und Ginka Tscholakowa machten in den siebziger Jahren gern Urlaub im bulgarischen Sosopol. Mit einer größeren Gesellschaft ging es per Boot zu einer unbewohnten Insel vor der Küste. Man aß und trank und fuhr zurück, um in einem Lokal weiterzufeiern. Plötzlich stellte man fest, dass HM fehlte. Er war nirgends zu finden. Schließlich besann man sich auf die Insel. Philoktet saß dort in der Nacht mit einer übrigen Flasche Wein neben ein paar Ziegen.

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Rechts oder links Es gibt in Dresden eine Straßenbahn, erzählte HM Ende der achtziger Jahre, mit der die Schauspieler zur Probebühne fahren. Aber da kommt eine Abzweigung und keiner weiß, ob die Bahn rechts oder links abbiegt. Das hat mit endlosen, schwer kalkulierbaren Straßenarbeiten zu tun. Biegt sie rechts ab, fährt sie zur Probebühne, biegt sie links ab, müssen die Schauspieler laufen. In der Straßenbahn werden Wetten abgeschlossen, wohin die Bahn fährt. Die Hoffnung ist: nach rechts. Eines Tages steigt an der Kreuzung eine alte Frau aus. Sie kommt zurück, steckt den Kopf durch die Tür und sagt auf Sächsisch: „Die Hoffnung ist der Tod.“

aus: Helmut Schödel/Joseph Gallus Rittenberg: „Meine Wut seid ihr. Unter Dichtern, Huren & im Wald“, © Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 1993, S. 88


Natürliche Mängel der amerikanischen Literatur Der Dichter Adolf Endler traf HM, der gerade von seiner ersten Amerikareise zurückkam. Endler war begierig, etwas über neue Literatur in den USA zu hören. HM wiegelte gleich ab: Es gibt eigentlich nichts Interessantes dort. Höchstens einen, den habe er sogar kennen gelernt – Thomas Pynchon. Endler wird später ein leidenschaftlicher Leser des bis zur Rätselhaftigkeit die Öffentlichkeit verweigernden Autors und verewigt seine Begeisterung in dem Amerika-Buch „Warnung vor Utah“.

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Inhalt und Form Der junge Grafiker Grischa Meyer hatte einen opulenten Entwurf für eine schöne Ausgabe von HMs Übersetzung von Shakespeares „Wie es euch gefällt“ gemacht: zwei Bände im Schuber, Text und Bilder getrennt. Gemeinsam fuhr man nach Leipzig zum Chef des Reclam Verlags. Der erschrak. „Ist das nicht ein bisschen manieriert?“ HM darauf: „Na und, meine Übersetzung ist auch manieriert.“ Der Schuber kam ins Programm.


Das richtige Auftreten In der späten DDR waren HMs Lesungen Kultveranstaltungen, die lange vorher ausverkauft waren. Für die Eröffnung war der richtige Ton zu setzen. HM: „Wenn ich gewusst hätte, dass es hier so voll ist, hätte ich mich noch rasiert.“

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Das Rätsel Shakespeare Die berühmte Rede „SHAKESPEARE EINE DIFFERENZ“ hielt HM im April 1988 im Rahmen der jährlichen Shakespeare-Tage in Weimar. Große Forscher aus aller Welt und ein zahlreiches Publikum erwarteten nicht weniger als die umfassende Antwort auf alle ShakespeareFragen. Wahrscheinlich in einem ausgreifenden Vortrag von mindestens zwei Stunden. Der Dichter erschien, mit zwei Blatt Manuskript in einem weißen Intershop-Beutel, las diese in dem für ihn typischen Sound vor und verschwand nach knapp zehn Minuten. Nachhall bis heute.


Preiswürdige Zähne HM habe ein großes Problem mit Zahnärzten gehabt, das er wiederholt für Anklagen gegen ein gelangweilt bürgerliches Theaterpublikum anführte. Tatsächlich hatte er lange Zeit sehr schlecht behandelte Zähne und einen Teil des Büchner-Preisgeldes für eine Sanierung eingesetzt. Sein späterer Zahnarzt, ein Herr wie aus dem polnischen Adel im alten West-Berlin, lobte ihn jedoch als den geduldigsten Patienten.

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Der Gastgeber Der junge Durs Grünbein kam gelegentlich zu HM, um sich über neue Arbeiten auszutauschen. Naturgemäß dauerten diese Besuche bis in den frühen Morgen, ohne dass an Whisky gespart wurde. Einmal holte HM für seinen Gast eine Süßigkeit hervor, griechische Zimtpflaumen, ganz offenbar ein Geschenk von einer Reise, denn es war weithin bekannt, dass sich HM aus solchen Sachen wenig machte. Wohl deshalb drängte er: „Unbedingt probieren!“


Anstand Bei einem Seminar in Wien fiel HM eine Studentin auf. „Die gefällt mir“, sagte er seinem Freund Josef Szeiler später. Der rief die junge Frau an und schickte sie zu HM nach Berlin. „Kannst Karriere machen.“ Zwei Tage später stand sie mit Koffern in HMs Tür. Und blieb eine ganze Weile. Es war aber die Falsche, gestand er Szeiler. „Warum hast du ihr das nicht gesagt?“ – „Ich wollte nicht so unhöflich sein.“

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Postmodern 1984 – die akademischen Diskussionen um das Phänomen der Postmoderne schaukelten sich langsam hoch – wurde HM von seinem amerikanischen Übersetzer Carl Weber nach seinem Verständnis von postmodernem Theater gefragt. HM: „Der einzige Postmodernist, den ich kenne, ist August Stramm. Der war ein Modernist, der bei der Post arbeitete.“


Zähne zeigen In New York ging HM mit Freunden durch Harlem, obwohl damals alle davon abgeraten hatten. Er fand es faszinierend, lief vorne weg, Ginka hinterher, und plötzlich stand da ein schwarzer Obdachloser, ein riesiger Mann, der tänzelte auf ihn zu und HM wusste: Das ist mein Mörder. Und HM fiel nichts Besseres ein als Hi zu nuscheln. Und der, irgendwie überrascht, sagte auch Hi und ging weiter, weil er bei diesem Hi HMs schwarzen Zähne sah und sofort wusste: Da ist nichts zu holen.

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Verfremdung Die amerikanische Regisseurin Sue-Ellen Case bereitete eine Aufführung von „Zement“ in Berkeley vor. Sie fragte HM, ob man die Anrede „Genosse“ weglassen könnte, das Publikum wäre bei dem ohnehin schwierigen Stück wahrscheinlich davon irritiert. „Warum?“, meinte HM, „Einen Sire bei Shakespeare würden Sie ja auch akzeptieren.“


Wilsons Masken HM und Robert Wilson fuhren nach Delphi zu einer Konferenz über die griechische Tragödie. Daran nahm auch eine Eskimo-Frau teil, die erzählte, dass sie die Klassiker mit nur zwei Spielern inszeniert. In der Mitte ein Feuer, drum herum Masken auf Ständern, hinter denen die beiden Schauspieler die Positionen und Rollen wechseln. HM war fasziniert und erklärte seinem Freund, dass dieser eigentlich die Masken für seine Texte aufstelle, so dass in der Mitte Platz für deren intellektuelle Entfaltung bleibe.

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Bildbeschreibung Christoph Hein erzählte von einem trunkenen Abend mit HM. Lange nach Mitternacht und viel Wodka habe dieser einen Text aus der Tasche gezogen und ihn gebeten, das mal zu lesen. Er habe ihn in der Nacht zuvor, auch nach viel Wodka, geschrieben und könne nichts mehr damit anfangen. Ob er, Hein, sich einen Reim darauf machen könne.


Vermeidung Der von Hansgünther Heyme in Essen konzipierte Doppelabend „Mauser/Bildbeschreibung“ mit Margit Carstensen gastierte in Frankfurt am Main. Carstensen traf den Meister auf einem Flur des Theaters und fragte, ob er sich die Vorstellung ansehe. Er verlautbarte: Auf keinen Fall. Eine halbe Stunde mit ihr und seinem Text würde er nicht durchstehen.

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Unter der Gürtellinie HM auf dem Pissoir – in der DDR war alles Scheiße außer dem Bier, das war Pisse – über die Schwierigkeit des Urinierens in Anwesenheit fremder Männer. Schon in der Jugend ging ihm das so, bis er einen Trick fand. Immer wenn er allein war, hatte er Wilhelm Busch vor sich hin psalmodiert: „Max und Moritz, gar nicht träge, / Sägen heimlich mit der Säge, / Ritzeratze! voller Tücke, / In die Brücke eine Lücke.“ Dies im Stillen in Anwesenheit Fremder angewendet, sorgte fürderhin für einen kräftigen Strahl. Dichtung ist auch für einen Pawlowschen Reflex gut.


Entscheidende Fragen HM mit Michel Gaißmayer in der Bar des Bristol Kempinski, die damals, im alten West-Berlin, noch im Stil der fünfziger Jahre, eingerichtet war. In der Hand das Whiskyglas, vor ihm ein riesiger Gobelin: „Warum kann ich mein Glas nicht gegen diesen hässlichen Teppich schleudern?“ Lange Pause. „Warum kann ich nicht Nein sagen?“

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Ost-westlicher Dialog 1993, nach der Premiere von „Tristan und Isolde“, Empfang beim Bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Gorbatschow ging mit seiner Ehefrau Raissa voran, HM hinter ihnen. Stoiber wandte sich zu ihm: „Sprechen Sie Deutsch?“


Vergleiche Ein Tag nach seinem größten Erfolg als Regisseur am Berliner Ensemble, saß HM mit Leander Haußmann im Garten des Theaters. Haußmann gratulierte ihm, HM erzählte ihm eine Anekdote von Curt Bois. Der hatte sich bei Fritz Kortner darüber beklagt, dass er in der Probe an einer bestimmten Stelle nicht gelacht hätte: „Aber gestern haben sie doch an der Stelle gelacht!“ „Ja, aber unter meinem Niveau.“ Zwei Tage zuvor hatte Schleef mit seinem anderen Blick die Qualität der Aufführung beschrieben: „Das ist alles Talmi, alles Talmi. Aber es ist großartig.“

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Das Gefecht Der Autor Bernd Böhmel besuchte HM in dessen Lichtenberger Wohnung. HM öffnete die Tür, mit zwei erhobenen Händen, in der einen eine Zigarre. Böhmel eröffnete sofort das Gespräch: „Ich bin aber intelligenter als Sie.“ Worauf HM antwortete: „Ist ja gut, kommen Sie erst einmal herein.“ Später gab es ein frugales Mahl. HM biss in die Wurst und sagte: „Ich bin aber begabter.“


Schreiben Der amerikanische Germanist David Bathrick fragte HM, woran er denkt, wenn er seine Stücke schreibt. „Ich denke an nichts, im Moment des Schreibens ist das Denken vorbei. Ich suche einfach das schwarze Loch.“

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Sächsisch ficken Während der Rundfunk-Produktion „Fatzer“ fachsimpelte HM mit dem gleichfalls aus Sachsen stammenden Regisseur Matthias Thalheim über die schönsten mundartlichen Ausdrücke fürs Vögeln. „Kniewansteln“ und „Dengeln“ waren gängig. Thalheim glaubte, mit „’ner Alten de Schalmei uffklappen“ schon den Vogel abgeschossen zu haben. Da zog HM noch höher: „Woll’n mer’s Sechzeich zusammenstecken?“


Archäologie der Zukunft In der Schweiz warf HM bei einem Ausflug ins Hochgebirge bereits nach dem Mauerfall einige Münzen der DDR-Währung von einer Klippe herunter. „Die Archäologen werden sich einmal über die Ausmaße der DDR wundern.“

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LehrstĂźck Als HM in das Direktorium des Berliner Ensembles kam, meinte er, dass einige der Schauspieler vielleicht nur als Zuschauer noch zu verwenden seien.


Tabakskollegium In der Akademie der Künste zündete HM sich während einer Veranstaltung eine Zigarre an. Ein Feuerwehrmann machte ihn sofort darauf aufmerksam, dass das verboten sei. „Wenn hier nicht geraucht werden darf, können hier auch keine Versammlungen abgehalten werden.“

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Ansichtssache Zur Eröffnungspremiere des Fünfer-Direktoriums am Berliner Ensemble erschien auch die von HM herausgegebene „Drucksache“ mit „Mommsens Block“ und einem Brief von Matthias Langhoff an den damaligen Berliner Kultursenator. Der neue Geschäftsführer des Hauses hatte sich eifrig um Sponsoren für diese Publikation bemüht, die für ihr Geld nun auch ihre Firmenlogos abgedruckt sehen wollten – von Mercedes-Benz bis zu IBM. Viele Mitarbeiter des Theaters waren empört; die Emotionen auf der Leitungssitzung gingen hoch. Der Grafiker Grischa Meyer schlug vor, die Logos auf einen Einleger zu drucken und das Blatt „Ansichtssache“ zu nennen. Das könnte das Publikum dann herausnehmen und wegwerfen. HM nickte lächelnd und sagte: „Und darunter drucken wir den Vers von Brecht: ‚die schnellen / Grauen Herrn von den Kartellen‘.“ Der Einleger wurde ein Sammlerstück.


Resümee Als Spiegel TV mit dem Statement von HM zu seinen Stasi-Kontakten gesendet wurde, bemerkte er am nächsten Morgen: „Das war der Nobelpreis.“

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Rauschen Nach einer Probe zu „Quartett“, die mit der Ankündigung von Marianne Hoppe geendet hatte, nicht mehr weiter zu proben, saß HM mit dem Dramaturgen Holger Teschke im Garten des Berliner Ensembles. Um ihn aufzuheitern, erzählte Teschke eine Anekdote von Brecht, der einmal von einem Schauspieler gefragt worden war, warum er sich am Berliner Ensemble mit so vielen Idioten umgebe. Brecht antwortete, sein Lehrer Karl Korsch habe sich in seiner Wohnung an einer viel befahrenen Straße einen Wasserhahn neben den Schreibtisch installieren lassen, damit dessen Rauschen ihn vom Straßenlärm ablenke. Dieses Rauschen übernähmen bei ihm, Brecht, die Idioten. HM nickte nachdenklich und sagte schließlich: „Ich habe sogar die Spree vor dem Turmzimmer. Aber nicht mal die rauscht laut genug.“


An die Nachgeborenen Im Oktober 1995 traf sich HM mit dem Dramaturgen Holger Teschke zu einem Gespräch in einer kleinen Bar nahe seiner Wohnung in Kreuzberg. Man sprach über Stückvorschläge für die kommende Spielzeit, über Regisseure und Besetzungen. Schließlich ging es auch um die Vorbereitung des hundertsten Geburtstags von Brecht im Jahr 1998. „Die Eröffnungsinszenierung muss Bob Wilson machen“, sagte HM grinsend. „Brechts ‚Ozeanflug‘ und danach ‚Landschaft mit Argonauten‘. Das wird meine posthume Rache.“

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Eloge Der Verwaltungsdirektor des Berliner Ensembles Anfang der neunziger Jahre hieß Peter Sauerbaum. HM dichtete: „Meines Lebens schönster Traum / hängt an einem Sauerbaum.“


Aufs Ende zu Während der knapp zehnstündigen Hauptprobe für „Hamlet/Maschine“ im Frühjahr 1990 saß HM an seinem Regiepult, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Danach sagte er nur: „Der Schluss muss aber noch ganz anders werden.“

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Heimat In einer hitzigen Talkshow, ein paar Jahre vor der Wiedervereinigung, mit Martin Walser und Ruth Berghaus zu dem heiklen Thema Heimat wurde HM, der bis dahin geschwiegen hatte und – im Bild der beiden deutschen Staaten – gleich aus zwei Gläsern Whisky trank, zu einer Stellungnahme gedrängt: „Heimat ist, wo Otto Sander am Tresen sitzt.“


In der Schule bekannt HM kam in Köln gern bei den Freunden Doris und Egon Netenjakob zu Besuch, wenn er dort zu tun hatte. Im Deutschunterricht von deren Sohn Moritz wurde gefragt: „Wer kennt HM?“ Moritz meldete sich: „Ich kenn’ ihn. Der duscht immer so lange.“

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Der ehrliche Kritiker Das norwegische Performancekollektiv Baktruppen inszenierte 1989 „Germania Tod in Berlin“. Als die Mauer fiel, wollten die Performerinnen die neue Freiheit mit Nacktheit feiern. HM sah eine Vorstellung und wurde gefragt, ob sie ihm gefallen habe. Er sagte nur: „Schöne Beine.“


Schiffbruch Bei einem Gastspiel im norwegischen Bergen unternahm das gesamte Berliner Ensemble einen Ausflug in die Fjorde. Das Schiff lief auf Grund und musste evakuiert werden. HM fand, die Geschichte wäre wie von ihm ausgedacht, und er erzählte sie oft weiter.

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Schwierige Frage Von Wolfgang Heise gefragt, was Material sei, erwiderte HM: „Die Selektion des Materials.“


Sicherheitshalber In den sechziger Jahren ging HM zu dem für seinen Wohnort in Pankow zuständigen Polizeirevier in der Kissingenstraße und erkundigte sich, ob er schon verhaftet sei.

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Die Gefahr Lothar Trolle, dessen dramatische Arbeiten lange Zeit nur ausnahmsweise im Theater gespielt und noch seltener gedruckt wurden, erhielt von HM den Hinweis: „Nichts ist gefährlicher als der frühe Erfolg.“


Würdigung Ein hoher Parteifunktionär in Berlin wurde Anfang der achtziger Jahre nach dem schwierigen Verhältnis zu den Schriftstellern gefragt. Und was ist mit HM? „Der ist nicht wichtig. Den versteht sowieso keiner.“

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Dschuhs 1972 „Dschuhs“, sagte HM auf die Frage des Kellners, was er trinken wolle. Der Kellner verstand nicht, und HM wiederholte, deutlicher: „Dschuhs!“ Als auch das nichts nützte, übersetzte ich dem Kellner, was der DDR-Bürger wünschte, „Saft, Orangensaft“. Der eine konnte nicht wissen, dass sich die DDR mit dem Import von englischen Begriffen für einfache Dinge wie ‚Saft‘ oder ‚Brathuhn‘ den Anschein von westlicher Weltläufigkeit verschaffen wollte. Der andere wusste noch nicht, dass die Begriffe im Westen nicht verstanden wurden oder als besonders provinziell galten.

aus: Friedrich Christian Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben.Biografische Skizzen“, © 2012 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin, S. 250


Erste Besprechung mit dem Lektor

Wie es sich gehörte, brachte ich guten Whisky mit, HM zögerte, sprach, um mich abzuschrecken, von fünf oder mehr Bänden, die notwendig seien. Ich tat so, als schreckte mich das nicht. HM schien sich nicht festlegen zu wollen.

aus: Friedrich Christian Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben.Biografische Skizzen“, © 2012 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin, S. 250/1

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Der Großzerstörer Einar Schleef wollte 1994 für eine Inszenierung am Berliner Ensemble einen echten sowjetischen Panzer auf die Bühne fahren lassen. HM: „Schleef weiß nicht, dass er kein Buster Keaton ist.“


Verantwortung HM: „Ich sage alles, nur nicht, was ich denke.“

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Gespenst 1969 spielte die Kölner Avantgarde-Band Can im Schauspielhaus Zürich die Bühnenmusik zur Uraufführung von „Prometheus“. Wie von Zauberhand – man vermutete letztlich ein Gespenst – wurde jeden Abend kurz vor der Vorstellung die Elektroorgel ausgeschaltet. Mit den Göttern als Saboteure rechnete indes niemand.


Schutzwende Kurz nach der Wende ging HM durch die Ausstellung in einer soeben gegründeten Galerie in Ost-Berlin mit junger Kunst. Beiläufig: „Früher hätte uns Alfred Kurella davor bewahrt.“

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Gespräche „Heiner, warum sprichst du immer so leise?“ – „Damit ich jedem etwas anderes erzählen kann.“


Die Vision In einem Seminar für Studenten der Theaterwissenschaft an der Berliner HumboldtUniversität Ende der siebziger Jahre wurde HM nach seinen Erfahrungen in den USA gefragt. Ein ganz Eifriger forderte ihn zum direkten Vergleich mit der DDR auf. „Natürlich ist hier alles viel schlimmer. Aber das ist ja auch die Hoffnung.“

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Gemeinsamer Nenner HM traf den Verleger Gautam Dasgupta in einem Berliner Restaurant. Er sagte zu ihm: „Weißt du Heiner, ich hasse das Theater.“ HM antwortete darauf: „Oh, das ist wundervoll, da sind wir einer Meinung. Es wäre großartig, wenn du mich in den Staaten vertreten würdest.“


Der richtige Klassenstandpunkt Zu Robert Wilson befragt, sagte HM über den amerikanischen Künstler: „Ich mag seine Inszenierungen, denn es sind kommunistische Inszenierungen.“

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Vorsehung HM wünschte sich, „Macbeth“ auf dem Dach des World Trade Center zu inszenieren. Mit Hubschraubern. Seinem darüber verwunderten Verleger in Amerika sagte er, dass dieses Gebäude sowieso einmal ein Friedhof sein würde.


Landflucht Beim Besuch des Grand Canyons waren HM die Zigarren ausgegangen. Er rief deswegen mitten in der Nacht seinen Verleger Gautam Dasgupta in New York an und bat um dessen Kreditkartennummer. Er mĂźsse sofort ein Flugzeug nach Los Angeles mieten.

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Verborgene Theatergeschichte 1983 erhielt HM auf Einladung von Andrzej Wirth seine erste Gastprofessur an dessen Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Er machte einen Workshop zu „Hamletmaschine“ und verblüffte die Studenten damit, wie offen er den eigenen Text behandelte. Auf der Probebühne stand eine Tafel mit Notizen zum Stück und Frank Hentschker wurde von HM aufgefordert, einmal dagegen zu springen, gleichsam als Bild der nur ungenügenden Theorien. Hentschker krachte mit dem Kopf durch die Tafel und alle fanden das sehr komisch. Die WorkshopInszenierung wurde später in West-Berlin bei einem Treffen von Schauspielschulen gezeigt, wo sie Robert Wilson sah. Das Prinzip der blutjungen Spieler mit einem sehr schweren Text regte schließlich seine legendäre „Hamletmachine“ an der New York University an, die Wilson 2017 noch einmal mit italienischen Schauspielstudenten rekonstruierte. So wirkt HM als Regisseur fort.


Oh, don’t ask why HMs amerikanischen Verlager Gautam Dasgupta erreichten gelegentlich nächtliche Anrufe von seinem Autor. Er nahm im Schlaf den Hörer ab und HM und Bob Wilson sangen ihm „Surabaya Johnny“ und den „Alabama Song“.

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Pars pro toto HM verblüffte immer wieder Leute, wenn er aus irgendeinem Regal ein Buch herauszog, eine beliebige Seite aufschlug, las und sofort urteilte: „Kein guter Roman.“


Östliche Weisheit Im Haus seines amerikanischen Verlegers entdeckte HM eine Anthologie mit klassischen chinesischen Stücken. Eine Regieanweisung lautete: „Diese Figur tritt auf, setzt sich hin und macht keine Bewegung in den nächsten vier Stunden.“ HMs Reaktion: „Großartig!“

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Lost in translation Ein Broadway-Agent rief HMs amerikanischen Verleger Gautam Dasgupta an, der sofort so irritiert wie elektrisiert war. Es gebe da ein Stück „Who Comes Over“ von diesem HM, vielleicht könne man das groß rausbringen. Dasgupta hielt das zunächst für eine Verwechslung mit Arthur Miller. Der Agent bestand auf seinem Anliegen mit „Who Comes Over“, nicht von Miller. Es stellte sich heraus, er meinte „Verkommenes Ufer“. Aus der Sache wurde natürlich nichts.


Besucher beschäftigen Wenn HM das Gespräch langweilig wurde, ging er nach nebenan und holte einen Bildband oder einen Roman. Er zeigte den Gästen die Stelle, die für ihn von Interesse war, und sagte höflich: „Das kennst du doch sicher.“

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Geschichte machen HM hatte eine Theorie, wie man den Lauf der Geschicke des Landes beeinflussen könne, indem man gezielt Gerüchte lanciert. Das machte er sehr gerne – irgendwelchen Leuten Krankheiten andichten. Für Konrad Naumann zum Beispiel, dem oft betrunkenen Berliner SED-Chef, hat er Parkinson erfunden.


Anatomie Renovierung Als die Wohnung in Wilmersdorf, HMs WestBerliner Quartier im Merve-Verlag als große Wohngemeinschaft, von ihren Bewohnern renoviert werden sollte und alle mit Ausräumen und Malern anfingen, setzte sich HM in sein Zimmer und schrieb „Anatomie Titus“ wie in einem Schub. Arbeiten ja, mitmachen nein.

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Origami Die junge Fotografin Margarita Broich saß in der Kantine des Schauspielhauses Bochum, wo HM „Der Auftrag“ inszenierte. Er sagte als Erstes: „Schöne Daumen.“ Einige Zeit später hinterließ er ihr einen Zettel mit der Aufschrift: „Einen Kuss aus Papier“.


Der jugendliche Held Margarita Broich, HMs Gefährtin der achtziger Jahre, war dreißig Jahre jünger als er, ihre Eltern wiederum weit älter als im Durchschnitt ihrer Generation. Als HM zum ersten Mal mit nach Hause kam, begrüßte ihr Vater den bereits über Fünfzigjährigen: „Kommen’se mal rein, junger Mann.“

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Diagnose Margaritas Vater, einst Arzt mit eigener Klinik im Rheinland, hatte sich vom Leben zurückgezogen mit der Selbstdiagnose Depression. Die Leute versuchten es mit allen möglichen guten Ratschlägen. HM, der auf Anhieb einen guten Draht zu diesem besonderen Menschen hatte: „Guck mal raus. Lohnt sich gar nicht rauszugehen.“


Flugtext HM war sicher, dass man mit dem Flugzeug nicht abstürzt, wenn man einen nicht veröffentlichten Text bei sich trägt, hundertprozentig sicher, dass die Götter einen da nicht vom Himmel holen, wenn der Text nicht fertig ist.

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Gipfeltreffen In Finnland sollte es ein großes Treffen mit den Kaurismäki-Brüdern geben. Irgendwann ging die Tür auf und Aki kam rein wie eine Flipperkugel, konnte nicht mehr stehen. HM guckte ihn ganz lieb an, wusste, um was es sich handelt – da geht gar nichts mehr – und brachte Aki im Ringergriff zum Sitzen. Schweigen.


Ernährungssorgen Eine Tochter von HM war einmal bei ihm und wurde von ihm ermuntert, das Licht einer hängenden Glühlampe zu fassen. „Du musst höher springen, und dann musst du danach greifen, das ist eine Birne. Und da kannste reinbeißen.“ Das Entsetzliche dieser Szene wurde in der Szene von vielen Müttern weiter getragen.

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Rückblende 1984 kamen HM und Ginka nach Sofia. Noch war ungewiss, ob die Premiere von „Philoktet“ stattfinden wird. In der alten Plattenbauwohnung von Ginka gab es einen kleinen Umtrunk mit dem Regisseur Dimiter Gotscheff. „Du, Heiner, du, äh, du, äh, äh, äh. Du, du, du hast den größten Satz in der deutschen Klassik und Gegenwartsdramatik geschrieben.“ HM – trinkt, nickt. „Hm. Sicher. Und welchen meinst du?“ „Na … na den, wo der Philoktet auf dem Höhepunkt seiner Kotzarie gegen alles Griechische, den Trojanischen Krieg und das ganze Grünzeug dieser Welt schäumt. Odysseus tritt auf, sagt: ‚Spiel nicht den Blöden, steh auf und komm.‘“ HM verschluckt sich, Ginka haut ihm ein paar Mal auf den Rücken. Er zieht an seiner Zigarre mit lächelnden Augen: „Hm. Guter Satz.“


Flugasche aufs Haupt Als Monika Maron ihre Klage über die Verhältnisse mit dem tröstlich gemeinten Fazit beschloss, die DDR sei zwar ein hundsföttischer und gemeiner Staat für Intellektuelle, aber doch wenigstens für die Arbeiter gut, fragte HM: Warum? Was Maron, aus der Sicht eines Arbeiters, auch nicht sagen konnte. Sechs Jahre lang hatte sie die herzzerreißenden Zustände in den Betrieben der DDR als Reporterin besichtigt, ohne dass sie ihre der Kindheit entstammende Überzeugung aufgegeben hätte, es sei nichts entwürdigender, als für einen Kapitalisten zu arbeiten. Ein paar Jahre später, nachdem „Flugasche“ erschienen war, sagte HM: „Aber sag mal, irgendwann schreibst du das alles noch mal richtig?“

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Aufrecht Woran Generationen von Feministinnen gearbeitet haben – dass Männer beim Pinkeln sitzen und nachfragen, ob man ihre Gedanken versteht, all das tangierte HM gar nicht. Er schrieb im Stehen.


Himmel Emine Sevgi Özdamar besuchte HM in dessen Wohnung im Hochhaus am Tierpark. HM zeigte als Erstes die Decke voller Risse – sie schien gleich herunterzufallen. Er sagte: „Die Decke ist so ähnlich wie das Leben. Irgendwann bricht alles zusammen.“

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Sowjet-Test Im Herbst 1961 kam der sowjetische Theaterwissenschaftler Wiktor Klujew, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, nach Berlin, um im BertoltBrecht-Archiv zu arbeiten. In den Postkarten an seine Familie in Moskau schrieb Klujew begeistert über seine Bekanntschaft mit Peter Hacks, Helmut Baierl und Armin Stolper, umsichtigerweise ohne den Namen HM zu erwähnen. Ende September schrieb er eine Karte: „Heiß in Berlin … Zwei Tage auf Proben …“ Am 30. September 1961 sah er die Premiere eines „konterrevolutionären“ Stücks von HM, „Die Umsiedlerin“, das von den Parteifunktionären scharf kritisiert wurde für „die Weigerung des Künstlers, das Wesen der Dinge zu verstehen“. Inspiriert von der originellen Form des Dramas und der tiefen Einsicht des Dramatikers in die Tragödie des Umbruchs auf dem Land in der Nachkriegszeit, ging Klujew zum ZK der SED, um gegen das Verbot des Stückes zu intervenieren. Die sowjetische Botschaft informierte umgehend Moskau darüber. Nach seiner Rückkehr erfuhr er,


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dass ihm ein Reiseverbot für fünf Jahre auferlegt wurde. Er schlussfolgerte: „Der Qualitätstest war erfolgreich.“ Wladimir Koljasin


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Doppelagent HM hatte Angst vor der russischen Kälte und kam trotzdem in dünnen Lederschuhen nach Moskau. Er wurde in einem Hotel des Zentralkomitees der KPdSU in der Plotnikow-Straße untergebracht. Ein „geheimes Hotel“ ohne Schild an der Straße, in dem die Nomenklatura für ihre Dienstreisen in die Hauptstadt abstieg. Er fühlte sich unwohl. Das Restaurant war leer und er saß allein am Tisch. Es war kalt, der Gast wollte nicht ausgehen. In den Händen hielt er demonstrativ das Buch mit den Erinnerungen von Curzio Malaparte, die von den ersten Tagen der Invasion der faschistischen Armee in der UdSSR erzählten. HM fragte nach der Karte. Der Kellner kam in seinem schwarzen Anzug mit Krawatte und antwortete: „Wir haben zurzeit keine Speisekarte.“ HM ging, ohne auch nur Tee zu trinken. In Richtung des abwesenden Kellners bemerkte er: „Ich habe ihn eine halbe Stunde lang beobachtet. Ein typischer KGBler.“ Wladimir Koljasin


Unbekannt in Russland Bei einer der ersten Reisen nach Moskau trat HM zusammen mit Robert Wilson bei einer Veranstaltung in dem riesigen Saal der TretjakowGalerie auf. Mit Wilson war das Kunstpublikum zu diesem Zeitpunkt schon vertraut, HM aber absolut unbekannt. Wilson sprach als erster mit seiner Gestik, die an Majakowski erinnerte. Statt aus seinen Werken zu lesen, begann HM etwas umständlich eine Begebenheit aus seinem Leben zu erzählen. Er begriff sofort, dass er verloren hatte, und sprach vÜllig farblos, sodass ihm keine einzige Frage gestellt wurde. Dann sind beide ruhig und unbemerkt gegangen. Wladimir Koljasin

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Dramatiker der Zukunft Am Vorabend eines Festivals der DDR-Dramatik in der UdSSR 1982 organisierte der sowjetische Schriftstellerverband ein Arbeitstreffen der deutschen Kollegen mit Schriftstellern und Übersetzern in den Räumlichkeiten der Vereinigung für den Schutz des Urheberrechts. Als führender Übersetzer trat der Dramatiker Michail Schatrow auf, der sich bei dem Treffen als Großmeister gab. Der Vereinigung wurden neue Stücke von Rudi Strahl, Rainer Kerndl und Helmut Bez empfohlen. HM schlug sein Revolutionsstück „Der Auftrag“ vor. Schatrow ergriff das Wort und sagte, dass das Stück sehr kompliziert sei, nur Anatoli Wassiljew könnte es aufführen – der galt zu dieser Zeit aber als besonders brisanter Regisseur. Abschließend bemerkte er, dass „Der Auftrag“ ein Stück des 21. Jahrhunderts sei. HM ahnte, in was er da geraten war, und scherzte. Später meinte er: „Die DDR ist viel größer als die UdSSR und deshalb geraten wir viel leichter in Schwierigkeiten.“ Wladimir Koljasin


Gegenseitige Wirtschaftshilfe 1974 schickte Wiktor Klujew einen seiner Studenten nach Berlin zu HM und seiner damaligen Frau, der bulgarischen Regisseurin Ginka Tscholakowa. Da der Student etwas abgerissen aussah, wurde ihm sofort eine kräftige Suppe eingeflößt. Ein paar Jahre später besuchte der Student noch einmal HM, der nun im 14. Stock eines Neubaus in Friedrichsfelde wohnte. Der Student trug immer noch die DDR-Jeans, die inzwischen die Farbe von Löschkalk hatte. Der Dramatiker musterte den sowjetischen Jüngling von Kopf bis Fuß und hieß ihn, morgens bei seiner Rückkehr aus Westberlin auf ihn zu warten. Am nächsten Tag bekam der Student echte amerikanische Jeans, ein modisches Jackett und ein Diktiergerät zum Arbeiten. Wladimir Koljasin

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Hinterhältiger Bulgakow Der Theaterhit nach Ende der UdSSR war „Hundeherz“ nach Bulgakow am Theater des jungen Zuschauers. HM sagte, dass er Bulgakow nicht mag und versteht, aber der Einladung folgt. Den ersten Akt hat er verschlafen, im zweiten nahm er lebhaft jedes Wort auf. Für gewöhnlich versammelte sich nach der Vorstellung im Büro der Intendantin und Regisseurin Genrietta Janowskaja die Crème de la Crème der Moskauer Intellektuellen. HM lobte Inszenierung und Schauspieler, sagte, dass Bulgakow sich ihm in seinem wahren Licht gezeigt hätte, und küsste die Hand der Regisseurin. In der Nacht rutschte HM auf einer vereisten Straße aus. Am Morgen stellte sich heraus, dass er sich die linke Hand gebrochen hatte. Mit eingegipster Hand kehrte er nach Berlin zurück. Die Ärzte der Charité stellten fest, dass es gar keinen Bruch gab, rieten HM aber nichtsdestotrotz dazu, noch einige Zeit den Gips zu behalten: „Wer weiß schon – diese Russen.“ So bekam Bulgakow den Spitznamen: der Hinterhältige. Wladimir Koljasin


Ein Topf Buchweizenbrei HM wurde eingeladen ins Restaurant des sowjetischen Theaterverbands und traf dort auf den Dramatiker Alexander Gelman. „Wird mir so der Weg in die Berliner Theater bereitet?“ Gelman entpuppte sich als Dostojewski-Kenner, und beim Wodka wurden die Dramatiker Freunde. Auf dem Weg ins Hotel war nur noch von Gelman die Rede und am Abend war HM zum Essen in dessen Wohnung eingeladen. Philosophische Gespräche bis tief in die Nacht. Zum Wodka wurde heißer Buchweizenbrei gereicht. HM wurde traurig und wollte den Brei nicht anrühren: „Ich habe während des Krieges nur einmal Buchweizenbrei gegessen, als es nichts zu essen gab.“ Wladimir Koljasin

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Im Arsch Die erste und letzte Öffnung des Theaters in der Sowjetunion für HMs Dramatik war das Gastspiel des Bochumer Theaters von „Germania Tod in Berlin“ unter der Regie von Manfred Karge und Matthias Langhoff 1989 in Moskau. Michail Schatrow erfuhr, dass in der Inszenierung eine für die DDR nicht wünschenswerte Szene enthalten ist, in der auf der Flagge des Bruderstaats herumgetrampelt wird. Schatrow schickte Wladimir Koljasin mit der dringenden Bitte nach Berlin, dass HM die Regisseure dazu überreden sollte, die Szene zu streichen. Der russische Übersetzer kam also mit ein paar Packungen von HMs Lieblingspapirossi „Belomorkanal“ für ihn in die DDR. Der fühlte sich geschmeichelt von der Anfrage des Präsidenten des sowjetischen Theaterverbands und erwiderte: „Was ich den Regisseuren auch sage, sie verstehen mich nicht.“ Dazu erzählte er ein paar Anekdoten über Honecker, der es geschafft habe, „das Herz Europas im Arsch zu begraben“. Wladimir Koljasin


Kenntnis des Kritikers Auf dem Festival von Avignon 1991 stellte HM den Kritiker Martin Linzer, damals Chefredakteur von Theater der Zeit, vor: „Martin Linzer geht seinem Beruf als Theaterkritiker seit Jahrhunderten nach. Er hat sehr oft über meine Stücke geschrieben. Und er ist einer der seltenen Kritiker in der DDR, der nie mehr als notwendig gelogen hat, um die Wahrheit zu sagen.“

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Wendefragen Eine TV-Talkshow. Frage: „Nach der Wende gab es doch viele Probleme. Leute verloren ihre Arbeit. Manche haben sich sogar umgebracht.“ HM: „Ja, aber es gab auch negative Entwicklungen.“


Besuch bei Heiner Bernd Müller war, wie ich, Bühnenarbeiter am Deutschen Theater. Er war auf der „rechten Seite“ und ich auf der „linken Seite“ eingeteilt, und obwohl wir bei Auf-, Um- oder Abbauten nur selten in direkten Kontakt kamen, dauerte es nicht lange und wir saßen in unseren Pausen (und die können bei Bühnenarbeitern manchmal Stunden dauern) immer etwas abseits von den anderen, denn wir hatten durchaus andere Gesprächsthemen als unsere Kollegen an den Nachbartischen. Ich hatte erfahren, dass es Bernds Mutter war, die Viktor Rosows „Unterwegs“ für das Deutsche Theater bearbeitet hatte. (Die Inszenierung von „Unterwegs“ war allerdings das Hassobjekt von uns Bühnenarbeitern, da das Bühnenbild so gigantisch war, dass man mit dessen Aufbau spätestens acht Uhr früh beginnen musste und wir noch trotzdem unsere Schwierigkeiten hatten, bis zum Beginn der Vorstellung fertig zu werden.) Und dass Bernds Vater Heiner Müller wäre, aber der Name sagte mir nicht viel. Wahrscheinlich verwechselte ich ihn mit Armin Müller, den ich bereits damals (immerhin!) furchtbar fand. Bernd und ich waren bald so be-

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freundet, dass wir nicht nur in den Pausen zusammen saßen, sondern ich ihn immer öfter an freien Tagen zu Hause in der Wohnung seiner Eltern in der Kissingenstraße besuchte. Und da Bernds Zimmer sich gleich rechts neben der Eingangstür der Wohnung befand, war es meist er, der mich nach meinem Klingeln an der Wohnungstür empfing. Es passierte nur selten, dass ich bei meinen Besuchen auch seinen Eltern Guten Tag sagen musste. Dass man Bernds Eltern aber besser nicht mit Armin Müller verwechseln sollte, dämmerte mir dann doch allmählich, je öfter mir Bernd in unserem Aufenthaltsraum aus Büchern vorlas (oder mir gestattete, in diese Bücher einen Blick zu werfen), die er der Bibliothek seiner Eltern entnommen hatte. Ziemlich genau erinnere ich mich noch, wie mir Bernd während einer „Iphigenie“-Vorstellung (wir warteten da in unserem Aufenthaltsraum auf das Ende des zweiten Aktes) Becketts „Glückliche Tage“ zum Lesen hinhielt und ich in dieser Pause fast den ganzen ersten Akt in mich „hineinschlang“. Da waren die Würfel gefallen. Und dann las mir Bernd einmal die erste Szene von „König Ubu“ vor. „O! Kannst Du mir das nicht einmal pumpen!“


„Ich weiß nicht, das gehört ja meinen Eltern.“ Und eine Woche später war es dann soweit. Auch diesmal war es Bernd, der mich an der Wohnungstür empfing, aber da seine Eltern zu Hause waren, in der Küche saßen und die Küchentür weit offen stand, saßen wir in seinem Zimmer auf seiner Liege und warteten, warteten, bis endlich zu hören war, drüben in der Küche wird sich nun nicht mehr unterhalten, jetzt scheinen die beiden in ihr Zimmer zu verschwinden. Bernd ließ daraufhin noch einige Zeit vergehen, bevor er mit schnellen und grazilen Bewegungen losspurtete durch den Flur der Wohnung, hin zu diesem Bücherregal, in diesem Zimmer am Ende des Flurs, dessen Tür weit offen stand und das fast so hoch war wie dieses Zimmer. Und ohne suchen zu müssen, mit einer einzigen schnellen und gezielten Bewegung zog er dann aus dem, was sich da in dem Bücherregal neben- und übereinander stapelte, dieses dünne Heftchen, aus dem er mir vor Tagen vorgelesen hatte und das er mir nun, der ihn da bereits an der Wohnungstür erwartete, ohne dass da noch ein weiteres Wort fiel, zuschob. Ich hatte es. Ich hatte es. Es war Alfred Jarrys „König Ubu“ in der Übersetzung von Marlis und Paul

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Pörtner. Ein Bühnenmanuskript des Verlages Kiepenheuer & Witsch mit dem Eigentumsstempel der Bibliothek der „Möwe“. Es steht noch heute in meinem Bücheregal. Lothar Trolle


Die Ente in der Flasche Am 22. Dezember 1995, acht Tage vor seinem „Tod in Berlin“, besuchte ich den Dramatiker Heiner Müller im Münchener „Klinikum rechts der Isar“. Wir saßen an einem Tisch der Cafeteria, die immer dicht besiedelt war von mehr oder weniger krank aussehenden Menschen in Jogginganzügen und Bademänteln, weil man innerhalb des KlinikGeländes nirgends sonst als dort eine Sorte eines schwach alkoholischen Getränks, nämlich PiccoloPortionen des Sektes Mumm, kaufen und sogar noch rauchen konnte. Heiner war jedes Mal gekleidet, als wolle er gleich gehen; an jenem Tag trug er einen Trenchcoat, ein Wolljackett, einen Schal und einen viel zu weiten, schwarzen Pullover, aus dem er – mit seinen von den dicken Brillengläsern noch vergrößerten grauen Augen und den nun scharf hervortretenden Konturen der Nase im abgemagerten Gesicht – herausschaute wie ein Geierküken, das auf Futter wartet. Wir sprachen wenig; es gab lange Pausen zwischen Heiners einsilbigen Fragen, auf die ich mich dankbar stürzte, und meinen bemüht lustigen Antworten.

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Irgendwann, ich glaube bei Heiners zweitem und meinem dritten Piccolo, redete ich von einem Freund, der mir eine Geschichte erzählt hatte und bald darauf gestorben war. Wann, fragte Heiner. Ich sagte ihm, dass Harry, den Heiner nur flüchtig kannte, schon zwei Jahre tot sei, und erzählte, wie ich Harry im Krankenhaus besucht hatte und wie er, da er nicht mehr lesen und nicht mal mehr fernsehen wollte, mich aufgefordert hatte, ihn mit Geschichten zu unterhalten, bis ich eines Tages keine mehr wusste und zu ihm sagte: Nun habe ich dir schon so viele Geschichten erzählt, jetzt bist du aber auch mal dran. Ich kenne doch nur eine einzige Geschichte, habe, sagte ich zu Heiner, dieser Harry geantwortet und mir dann die folgende erzählt, eine Zen-Geschichte; die habe er, das zu betonen war ihm wichtig, im Knast von seinem Karate-Lehrer, einem taiwanesischen Dealer, gehört. Ich werde, versprach ich Heiner, versuchen, diese Geschichte genau so wiederzugeben, wie Harry sie erzählt hatte. Also, da gab es einmal einen Meister und seinen Schüler. Der Meister hatte sich diesen Schüler, wie das die vagabundierenden Zen-Meister so machen, von der Straße gegriffen. Vielleicht war’s


ein Waisenjunge; jedenfalls war der wohl froh, dass sich jemand für ihn interessierte, wich dem Meister nicht mehr von der Seite und wurde, da er kräftig, geschickt und intelligent war, der liebste Schüler, den der Meister je hatte. Es war wunderbar, total harmonisch; sie bettelten, übten Kung Fu und Yoga und schliefen nachts in ihren beiden kleinen Zelten. Eines Morgens nun, als der Schüler gut gelaunt aus seinem Zelt krabbelte, erblickte er den Meister, der in Lotusposition hinter einer auf den ersten Blick stinknormal aussehenden, hellgrünen eng- und langhalsigen Zwei-Liter-Flasche saß. Doch was war das?! In der Flasche befand sich eine lebendige Ente mit Flügeln, Füßen, Schnabel. Welche Sorte, fragte Heiner. Ja, was weiß denn ich?, sagte ich, wahrscheinlich so eine weiße, wie sie überall herumlaufen. Hm, sagte Heiner, in Asien? Ist doch egal jetzt, sagte ich und erzählte weiter. Ungewohnt streng schaute der Meister seinen Schüler an. Was meinst du, fragte er, wie konnte die Ente in diese Flasche kommen? Der Schüler beäugte die Flasche von allen Seiten; die Ente darin flatterte und schnatterte. Meister, sprach

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der Schüler, ich kann nichts dafür, ich war’s nicht, ganz bestimmt nicht. Ich habe nichts damit zu tun, ich … Doch der Meister ließ seinen Schüler nicht zu Ende reden, im Gegenteil, er tat etwas, das er noch nie getan hatte, zumindest nicht mit diesem, seinem Lieblingsschüler. Er packte ihn am Hemd, zog ihn hoch, boxte ihm in den Magen, schlug ihm ins Gesicht, wieder und wieder. Endlich ließ er ihn wie einen Sack voll nasser, fauler Sojabohnen in den Staub plumpsen und ging davon. Der Schüler kroch in sein Zelt, wo er bitterlich weinte, vor Schmerz – und vor Kummer auch. Was war mit seinem grundgütigen Meister geschehen? Wie war der zu dieser Flasche gekommen und wie die Ente in sie hinein? Der Schüler versuchte, die Sache zu begreifen, und darüber schlief er ein. In der grauen Morgendämmerung erwachte er und krabbelte, weil er pissen musste, hinaus ins Freie. Wer aber saß da, zwischen des Schülers und seinem eigenen Zelt, putzmunter und baumgerade hinter der Flasche mit der leise schnatternden Ente? Der Meister natürlich! Na, weißt du jetzt, wie die Ente in die Flasche gekommen ist?, rief voller Hohn des Schülers Meister.


Meister, stammelte der Schüler, ich habe nachgedacht und überlegt, gegrübelt und meditiert; vielleicht hat ja ein anderer Meister, ein größerer noch als du, womöglich ein Glasbläser aus dem Chinjang-Kloster, die Flasche mit seinen geschickten Lippen um die Ente herum … Wieder ließ der Meister den Schüler nicht ausreden; nein, er schüttelte, trat und prügelte ihn, so derb und ausdauernd, dass der arme Schüler schließlich ohnmächtig niedersank … Und die Ente, unterbrach mich Heiner, hat die denn noch gelebt? Enten sind zäh, sagte ich. Außerdem wird der Meister ihr was zum Fressen in die Flasche geschüttet haben, Kekskrümel oder Regenwürmer oder so was. Hm, und ein bisschen Wasser zum Saufen und Schwimmen, fragte Heiner. Aber ich ging nicht weiter darauf ein, obwohl mich Heiners Interesse gerade an der Ente nicht wenig erstaunte, denn ich hatte bislang nie eine besondere Tierliebe bei ihm bemerkt, und fuhr fort: Als der Schüler wieder zur Besinnung kam, war der Meister verschwunden. Aus hundert Wunden blutend, mit mindestens zwei gebrochenen Rippen, vor Leid fast bewegungsunfähig,

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schleppte sich der Schüler zu seinem Zelt und konnte weder denken noch schlafen; eine zeitlose Ewigkeit klebte er schluchzend an der harten Bambusmatte. Es gab nur eine Erklärung, der Wahnsinn hatte sich seines Meisters bemächtigt. Und nur eine Lösung, so schwer es ihm fiel, nicht nur wegen der Verletzungen, er musste weg von diesem tobsüchtig gewordenen Meister und zwar augenblicklich. Also packte der Schüler seine sieben Sachen und wollte auf unhörbaren Zehen entweichen. Doch kaum hatte er den Kopf hinausgestreckt in die sternlos-stockfinstere Nacht, da krallte auch schon eine Hand nach dem Halsausschnitt seiner verschwitzten Jacke. Es war die Hand des Meisters, wessen sonst?! Ach so, keifte wie eine alte Hexe der Meister, du willst dich verkrümeln, du undankbarer, törichter Rotzlöffel? Aber vorher, du dümmster Schüler, den ich je hatte, löst du noch deine Aufgabe. Also was ist? Wie kam die Ente in die Flasche? Meister, entgegnete mit halb erstickter Stimme der Schüler, du bist nicht länger mehr mein Meister, denn du hast einen Sprung in der Reisschüssel! Ich lasse mich von dir nicht totschlagen. Es ist mir scheißegal, wie die blöde Ente in die Flasche gekommen ist. Ich hau jetzt ab!


Der Meister ließ den Schüler los, aber nur, um ihn im nächsten Moment fest in seine Arme zu schließen. Mein lieber Schüler, sagte er leise und ergriffen, diesmal hast du aber echt lange gebraucht. Es tat auch mir weh, dass ich dich so verhauen musste, damit du es endlich kapierst. Nun wird alles wieder gut. Das, sagte ich, ist die ganze Geschichte. Hm, und die Ente, fragte Heiner. Die Ente, die Ente, die Ente, sagte ich. Was willst du bloß immer mit der Ente?! Die, das ist ja der Trick bei diesen Zen-Geschichten, hat nichts zu bedeuten; nur zum Schein wird die Aufmerksamkeit auf die Ente gelenkt. Hm, zum Schein, sagte Heiner, was für ein Schein? Mondschein, Geldschein, …? Du hast die Geschichte doch verstanden, fragte ich. Verstanden in dem Sinne, dass diese Zen-Geschichten alle eine Pointe haben und eine Art Lehre vermitteln wollen. Hm, ich denke schon, meinte Heiner, aber sag erst mal du … Ich, sagte ich, habe die Geschichte damals nicht verstanden, und Harry konnte ich nicht mehr fragen. Mir ging es wie diesem Schüler; ich dachte auch nur darüber nach, wie die Ente in die Flasche

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gelangt sein könnte. Doch warum das am Ende plötzlich völlig unwichtig sein sollte, das begriff ich nun gar nicht. Irgendwann habe ich mir das Buch „Der ZEN und seine weisen Rätsel“ besorgt – ich glaube, es waren insgesamt 92 weise Rätsel – und das mit der Ente herausgesucht. Wenn ich mich nicht irre, war es das 21., eins von den eher einfachen, denn die Rätsel werden ja von Seite zu Seite komplizierter. Und hinten in dem Buch fand ich dann die Zen-genaue Auflösung. Warte mal, das ging etwa so: Die Erkenntnis ist das Wichtigste im Leben dessen, der nach Erleuchtung strebt. Er soll seinen Lehrer, der ihm erkennen hilft, achten und ehren, auch wenn er den Lehrer einmal nicht versteht. Aber keine Erkenntnis, nicht mal die größte, und kein Lehrer, selbst der beste nicht, sind es wert, dass man sich für sie und von ihm demütigen, misshandeln oder gar umbringen lässt. Hm, gute Geschichte, wirklich, sagte Heiner. Trotzdem, wenn der Schüler beim letzten Mal, als er den Meister verlassen wollte, wenigstens die Flasche zerschlagen hätte, für die Ente, damit sie weggekonnt hätte, von diesen beiden Idioten, dann wäre sie noch besser. Katja Lange-Müller



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