Hybridtheater. Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften – Drei Gespräche

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Hybrides Theater basiert auf digitalen Technologien, die physische und virtuelle Räume zeitgleich adressieren. Die Darstellung auf der Bühne bezieht sich dabei nicht selten auf Material und Vorbilder aus dem digitalen Raum. Dem entspricht das Bestreben hybrider Theaterformen, die eigene Präsentationsform für PublikumsFeedback und Interaktion zu öffnen. Wie ein Ethnologe sammelt und studiert der Performer Arne Vogelgesang die unterschiedlichsten Netz-Communitys und -Phänomene und erschafft gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen von internil aus diesem theatralischen und politischen Material hybride Theaterformate. Fluchtpunkt seiner Arbeit sind die Situation des biologischen Körpers und die Evaluation der Gefühle im digitalen Raum. In seinen Gesprächen mit Thomas Oberender, dessen experimentelle Arbeit als Kurator und Vordenker neuer Formate sich stark mit neuen Raumkonzepten verbindet, diskutieren beide die Auswirkungen des Plattformkapitalismus auf die Kunstproduktion sowie alternative Konzepte von Authentizität, Skript, Figur und politischer Aktion.


Thomas Oberender und Arne Vogelgesang Hybridtheater



Thomas Oberender und Arne Vogelgesang Hybridtheater Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften Drei Gespräche


Wir danken den Berliner Festspielen für die Zusammenarbeit an dieser Publikation. Thomas Oberender und Arne Vogelgesang Hybridtheater Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften Drei Gespräche © 2022 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion: Tobias Kluge Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: HIT Druck: Druckhaus Sportflieger Printed in Germany ISBN 978-3-95749-403-0 (Paperback) ISBN 978-3-95749-413-9 (ePDF) ISBN 978-3-95749-412-2 (EPUB)


Thomas Oberender Hybridtheater … 7 Arne Vogelgesang und Thomas Oberender Spiele, von denen wir nicht wissen, dass wir sie spielen Gespräch über This Is Not a Game … 31 Wo gehen all die Versprecher hin? Zwei Gespräche über Es ist zu spät … 103 Arne Vogelgesang Profilbilder … 188 Bildnachweis … 204



Hybridtheater Thomas Oberender

Was wird man, fragte mich kürzlich mein Sohn, der gerade Geschichte studiert, über unsere Zeit in 200 Jahren sagen? Über Leute wie ihn und mich, die noch das Entstehen des Internets erlebt haben, die den ersten iPod und das erste iPhone gekauft haben, die am Leben waren, als Jeff Bezos zum reichsten Mann der Erde wurde und der Klimawandel eskalierte. Man wird sich fragen, wie wir das alles erlebt und daran mitgewirkt haben – am Klimawandel, an der Digitalisierung und am Ausklingen einer imperialen Weltordnung im Namen der Aufklärung. Man wird sich vorzustellen versuchen, wie es war, als man noch in Flüssen baden konnte. Als man noch Geheimnisse hatte und lesen konnte, ohne gelesen zu werden.

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Wissenschaftler*innen trainieren Maschinen darauf, zu erkennen, worauf Menschen schauen, wenn sie ein Bild betrachten. Wenn Maschinen im digitalen Raum sehen, worauf ich achte, können sie die Darstellung dieser Informationen vergrößern oder weitere Informationen ähnlicher Art hinzufügen. Sie können aber auch bewirken, dass genau das verschwindet, was ich sehen möchte. In dieser Welt könnte ich beobachten, wie alles, was für mich bedeutsam ist, sich vor meinen Augen auflöst – oder vergrößert wird. Was von vielen Menschen beachtet und geschätzt wird, kann also durch künstliche Intelligenz in unserem Wahrnehmungsfeld einen zentralen Platz erhalten oder entfernt werden, und dies in Echtzeit, während ich es betrachte, oder sogar noch zuvor. Was mir wichtig erscheint, wird von weniger wichtigen Aspekten der Realität separiert und bereinigt. Es ist eine Auslagerung und Verstärkung (durchaus „normaler“) mentaler Funktionen an Maschinen, die ihrerseits nicht nur die Bilder lesen und sortieren, die sie uns zeigen, sondern auch uns. Menschen mit Gewaltphobien werden im Netz zukünftig vielleicht keine Bilder von Gewalt mehr finden, so wie man im chinesischen Internet schon heute nichts mehr über das Massaker am Tiananmen-Platz findet, „das Netz“ aber bemerkt, wer sich dafür interessiert. Und über kurz oder lang wird „das Netz“ überall sein – in jedem Ding, Prozess, Ort, mit dem ich in Verbindung stehe. Wir sind jene Mehrgenerationenschicht, die diese Entwicklungen hervorbringt und in dieser Netzmoderne zugleich

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noch eine Erinnerung an „früher“ hat, als die Medien noch linear waren und man Briefe schrieb. Schon jetzt entsteht unter den Vorzeichen der Netzkultur eine neue Aufmerksamkeit für das Analoge, Autonome, Vormoderne; aber das Leben, das in seiner Entwicklung stets einen Zuwachs an Intelligenz belohnt hat, so prognostiziert es James Lovelock in seinem Buch Novozän, wird vom biologischen Körper in den technologischen weiterziehen. Die Intelligenz, die Selbstreproduktion und die Evolution werden sich neue „Körper“ erschließen und die Grenzen zwischen Tieren, Menschen und Maschinen werden weniger strikt und weniger ängstlich bewacht, vielmehr wirken die Übergänge zwischen ihnen immer verlockender. Die Neuzeit begann nicht damit, dass auf der Globe-­ Theatre-Bühne Shakespeares plötzlich Ferngläser und Mikroskope benutzt wurden. Shakespeares Theaterbau hatte keine Zentralperspektive. Aber die Perspektive der Figuren auf der Bühne wurde plötzlich eine andere – es war nicht mehr Gott, der ihrem Leben zuschaute, sondern der Mensch selbst. Und er sah Individuen, die zwar Züge ihrer mittelalterlichen Ahnen trugen, die noch halb Trickster oder Zauberer waren, aber nun ihrem eigenen Willen folgten und sich vor Menschen verantwortet haben. Das digitale Zeitalter beginnt seinerseits auch nicht mit Computer­ animationen auf der Bühne, mit Videobildern in Echtzeit oder Streaming. Es kann sich völlig analog ereignen. Die Auflösung des Schemas von Sender und Empfänger ist zum Beispiel ein Aspekt der Netzwerkrealität – sie empfängt und sendet gleichzeitig, sie schafft einen Raum struktureller

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Rückkopplung, der andere Werk- und Begegnungsformen mit sich bringt. All das hat neue Formate und Dramaturgien entstehen lassen, die ihrem Wesen nach keine Computer brauchen, aber auf der Erfahrung einer digitalisierten Kultur beruhen. Ein neues Worldbuilding Das Theater des archaischen und mechanischen Zeitalters hat eine eigene Hochtechnologie hervorgebracht: Dramen, Stücke und die gerahmte Bühne sind seine über Jahrhunderte perfektionierten Instrumente und sie werden nicht veralten. Sie werden weiter funktionieren wie die symphonischen Orchester des 19. Jahrhunderts und zu Teilen in Strukturen eines anderen Worldbuildings aufgehen. Diese neuen Theaterformen sind weniger literaturbasiert, auch wenn sie raffinierter geskriptet sind. Die neue Rolle des Skripts, das die Begegnung zwischen den Besucher*innen und dem Werk partizipativer und symbiotischer gestaltet, korrespondiert mit den Herausforderungen, vor denen unsere hochgradig vernetzte Kultur insgesamt steht: „Gesucht sind Ordnungen“, schreiben Ruedi Widmer und Ines Kleesattel in ihrem Reader Scripted Culture, „in denen sich Vorstellungen der Gleichverteilung von Macht („distributed“, „dezentral“) mit Vorstellungen des freien Fließens von Daten und Informationen sowie solchen des Schutzes vor Manipulation („Blockchain“) verbinden. Die in der realen Digitalisierung, Globalisierung und Ökonomisierung liegenden Formen der Durchdringung und

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Entgrenzung werden als Probleme gesehen, denen man, wenn überhaupt, durch die Verbesserung dessen, was bei Galloway Protokoll heißt, beikommt.“1 Diese Protokolle bewirken und managen zum Beispiel die strukturelle Verflüssigung und Molekularisierung der Öffentlichkeit oder steuern im Hybridtheater den Chat und die Abläufe und Zugänge in einem virtuellen Theaterraum. In der künstlerischen Produktion erlauben sie das Entstehen von symbotischen, partizipativen Welten, die inklusiv sind und in Echtzeit die verschiedensten Akteur*innen und Technologien verbinden und im eigentlichen Sinne nur noch Akteur*innen unterschiedlichen Grades kennen. Hier ist jeder und jede mittendrin, aber viele Elemente der technologischen Struktur sind interaktiv und mit verschiedenen Programmen vernetzt. Ein Wesenszug dieser neuen Theaterformen ist eine transhumane Vision, die das Funktio­nieren der symbiotischen Systeme schildert – und nicht des Menschen. In ihnen trifft die Zeitlosigkeit der digitalen Medien, in denen alles präsent bleibt, auf die Augenblicklichkeit des Geschehens und inszeniert diese Begegnung. Während die Programme der linearen Medien kuratiert sind und in der Zeit vergehen, liegen, so der Literatur­wissenschaftler Joseph Vogl, die digitalen Angebote zeitlos wie Minen im Raum und warten auf ihre Begegnung mit dem Publikum. Und so verhält es sich auch mit den digitalen 1  Ruedi Widmer, Ines Kleesattel (Hg.): „Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung“, Zürich 2018, S. 14.

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Theaterwelten – selbst da, wo sie analog inszeniert sind, aktivieren sie ihre Inhalte erst durch die aktiven Gesten des Publikums. Jede Aufführung in den Narrative Spaces von Mona El Gammal beruht auf diesem Skript verborgener Optionen, die von den Besucher*innen im analogen Raum ausgelöst werden. In den kommenden Jahrzehnten können im digitalen Raum Schauspieler*innen, die gestorben sind, wieder erscheinen und nun neue Rollen spielen – sie können Texte sprechen, die sie nie gesagt haben, und das in jeder Sprache und in jeder physischen Gestalt. Wie in dem Science-Fiction-Film The Congress von Ari Folman, in dem die Schauspielerin Robin Wright in den besten Jahren ihrer Karriere dazu gezwungen ist, die Rechte über ihre Erscheinung an einen Medienkonzern abzutreten, der sie fortan in einer digital animierten Produktionswelt noch zu ihren Lebzeiten weiterarbeiten lässt – ohne dass sie jemals wieder vor einer Kamera stehen muss. Die Frage danach, wer spricht, wird sich anders beantworten, genauso wie die nach dem Was und dem Wo. Bereits heute ist es unklar und oft unwichtig, wer auf Imageboards wie 4chan mit seinen anonymen Posts ohne Login und Registrierung spricht. Das Genre der Science-Fiction, sagte die Autorin Ursula Le Guin, ist gegenwartsbeschreibend, nicht prognostisch. Es formuliert, was heute evident ist, nicht was kommt: „Der Zweck eines Gedankenexperiments – als ein Begriff, wie er von Schrödinger und anderen Physikern verwendet wurde – besteht nicht darin, die Zukunft vorherzusagen“,

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so Le Guin. „Schrödingers berühmtestes Gedankenexperiment zeigt, dass die ‚Zukunft‘, auf der Quantenebene, nicht vorhergesagt werden kann; aber es beschreibt die Realität, die gegenwärtige Welt. Science-Fiction ist nicht vorhersagend, sondern beschreibend.“2 Die Digitalkultur macht sich heute im Gegenwartstheater auf unterschiedliche Weise bemerkbar: Erstens als ein anderes mindset, als eine neue Perspektivierung unseres Denkens und unserer individuellen Verortung in der Welt, die nicht mehr grundsätzlich menschen­bezogen und menschengeneigt ist, wie Wolfgang Welsch dies formulierte.3 Felix Stalder beschreibt in seinem Buch Kultur der Digitalität, wie sich dieses mindset schon in der frühen Neuzeit herausgebildet und mit Aspekten wie Quantifizierung und Algorithmisierung verbunden hat. Zweitens zeigt sich die Digitalkultur im Vorhandensein eines digitalen Raums. In ihm hat das „Soziale“ oder „Gesellschaftliche“ eine andere Bedeutung. Er wird von der Tendenz des Internets zur Gamifizierung geprägt, von der Wettbewerbsorientierung, Fiktionalisierung und Affektorientierung der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen. Drittens sind es die Echtzeit-Technologien, die hybride oder vollständig virtuelle Realitäten schaffen und zugänglich machen. Damit verbunden ist ein Überschwappen der digitalen Sphäre in die physische, 2  https://www.bukrate.com/quote/1777290 (Übersetzung durch den Autor). 3  Wolfgang Welsch: „Die Kunst und das Inhumane“, in: „Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 2002“, Berlin 2004, S. 736.

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realkörperliche Wirklichkeit und vice versa – inhaltlich, habituell, kommunikativ und politisch. Diese Kennzeichen der Digitalkultur prägen nun digitale Theaterformen, die analog realisiert werden, hybrid oder rein virtuell. Virtuelles Theater ist es vollumfänglich dann, wenn Publikum und Performer*innen in Echtzeit im gleichen digitalen Raum sind. Mit den alten Technologien war dies bislang unerschwinglich – die Weiterentwicklung von Rechnern und Software hat das verändert. Auch das mit dieser Entwicklung verbundene operative Know-how nimmt auf Seiten der Künstler*innen und Institutionen beständig zu. Parallel zu diesem rein virtuellen Theater entstehen im freien und institutionalisierten Theater weit häufiger hybride Formate. Sie beruhen auf unterschiedlichen technischen Zugängen und besitzen unterschiedliche Gewichtungen zwischen dem rein Virtuellen und dem physisch Präsenten. Hybride Theaterformen finden zeitgleich online und offline statt. Sie entwickeln für das Publikum im Saal und online nicht nur simultan unterschiedliche Beteiligungsformen, sondern auch unterschiedliche Modi der körperlichen Präsenz und Verhaltensweisen. Dennoch spielt der physisch präsente Körper in ihnen eine besondere Rolle und verankert das Geschehen. Denkbar ist, dass vollumfänglich virtuelle Theaterformen in Zukunft nicht mehr komplett und ausschließlich von Menschen generiert werden und sich daher mit Fragen nach einem Theater ohne Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Text verbinden. Was

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passiert, wenn all das von der KI kommt? Wer „macht“ das dann? Diese Fragen werden in den hybriden Theaterproduktionen von Arne Vogelgesang bereits sichtbar. Empirie im digitalen Empire Seit 2005 realisiert Arne Vogelgesang mit dem Theaterlabel internil und unter eigenem Namen freie Theaterprojekte, die mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien, Fiktion und Performance experimentieren. Mit seiner Kollegin Marina Dessau und anderen realisiert er Projekte und Workshops, die auf dem Umgang mit dokumentarischem Material basieren, das sie auf YouTube und anderen Plattformen gefunden haben und im Theater live reenacten. „Unser künstlerisches Verfahren als Performer*innen ist es also“, so Vogelgesang, „die zusammengeschnittenen und collagierten Dinge, die wir recherchiert und in einen dramaturgischen Zusammenhang gebracht haben, mit technischen Mitteln einzuspielen und mit einer Sekunde Verzögerung nachzusprechen. So schlagen wir die Brücke zwischen Dokument und Gegenwart, zwischen Netz und Theaterraum, mit unseren eigenen Spielkörpern.“4

4  Katharina Anzengruber, Anita Moser, Arne Vogelgesang (2020): „Kunst mit politischem Material dann interessant, wenn es neue Formen von Theatralität enthält“, in: „p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #11“, abrufbar hier: https://www.p-articipate.net/kunst-mit-politischem-material-dann-interessant-wenn-es-neue-formenvon-theatralitaet-enthaelt/

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In den Videodokumenten seiner Recherchen, die er in seinen Lectures und Aufführungen zeigt, werden digitale Proto­gesellschaften sichtbar, die wie ein v­ irtuelles „Ausland“ erscheinen – sie spielen mit unbekannten Formen der Selbstinszenierung, der Fiktionalisierung unserer analogen und biologischen Welt „draußen“ und der wirklichen Emotionalität der sozialen Plattformen. Vor seinem Regiestudium am Max Reinhardt Seminar in Wien hat Arne Vogelgesang sechs Semester Ethnologie studiert. In seiner Arbeit reist er feldforschend in andere gesellschaftliche Welten, die digital sind, und bringt Theaterformen zurück und auf die Bühne, von denen Menschen wie ich, die wenig Zeit in diesen Foren verbringen, gar nicht wussten, dass sie überhaupt existieren. Mit ethnologischem, aber auch künstlerischem, muster­ erkennendem Blick studiert er die Sprachen und Codes, die sich in den Online-Gesellschaften herausgebildet haben, und schleust sie zurück in den politischen Diskurs des Theaters. Warum geht Vogelgesang auf diese Online-­ Recherchen? Warum verbringt er Monate und vielleicht Jahre seines Lebens in diesen Foren? Warum bereist und erforscht er die digitalen Plattformen wie ein Ethnologe und analysiert und übersetzt deren eigene Sprache und Theaterrealität für jene, die keine Insider*innen dieser Szenen sind? Es kann nicht nur der Ethnologe dort fündig werden, sondern es muss auch der Künstler sein – mit seinem, wie Vogelgesang über sich sagt, Interesse an Spielarten der politischen Radikalisierung, devianten Praktiken und der Digitalisierung des Menschlichen.

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Seine Arbeit zeigt den digital playground als relativ unzensiertes Experimentierfeld unterschiedlicher Gruppen und Akteur*innen im digitalen Raum. In den Insider*innen-Foren der menschlichen Netzgemeinschaften entwickelt sich unsere Praxis der Liebe, Politik, Spiritualität oder Ökonomie weiter und spitzt sich zu. Vogelgesangs Recherche ist aber auch eine Form zeitgenössischer Theaterforschung, des Abgleichs physischer Spielwelten mit denen reiner Virtualität. Sie eröffnet uns viele Fragen: Wieso ist in vielen Internet-Communitys die Theatermetapher so en vogue? Wie funktioniert die mediale Kreislaufwirtschaft zwischen digitaler und physischer Welt? Gibt es eine neue Art von politischer Entertainment-Kultur im Netz, andere Formen von Verständniskunst? Welche Politiken hat Kunst nach dem Agitprop-Theater aus der Zeit Brechts, des Living Theatre oder Schlingensiefs heute anzubieten? Die Mechanik der sozialen Medien beruht, wie das Theater, auf Erregung, aber in ihnen ist alles zugleich ernst und nicht nur „als ob“. Was bedeutet das für das Theater? Wie unterscheidet sich die Konstruktion von Identität als Machtfaktor in den sozialen Medien von der im Theater? Wie entstehen und beglaubigen sich Rollenbilder in den sozialen Medien? Was sind und tun truther und baker in dieser Welt? Kann man die Austauschkultur auf 4chan als Avantgardetheater betrachten? Was verbindet solche Spiele mit dem DAU-Projekt von Ilya Khrzhanovsky? Ist das politische Projekt der Fake-isierung von Wirklichkeit bei QAnon etwas anderes als die Inszenierung von Wirklichkeit im „wirklichen“ Theater? Und ist eine Form von hergebrachtem Theater denkbar, die ähnlich community driven

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funktioniert wie ein alternate reality game? Wie können sich diese Spiele ohne wirklichen Plot nur mit einem plot device am Leben erhalten? „Dont dream it – be it“ – war das nicht Julian Becks Traum vom Theater? Wenn Insider*innen-Plattformen ein kollektives Subjekt erschaffen, stirbt damit die Figur oder nur das Individuum? Was ist Surkows diskordianistisches Theater und wo findet es statt? Nur langsam baut sich ein neues Verständnis davon auf, was heute eine Figur, ein Stoff und eine Vorstellung ist – verändert durch die Erfahrungen im Netz und den digitalen Spielwelten. So beschreibt Vogelgesang das theatrale Milieu der Reichsbürger*innen und ihren Versuch, mitten in unserem Land eine „Theaterrepublik“ zu gründen, also einen von ihnen selbst ausgerufenen Staat, den sie mit Theatermitteln inszenieren und für „echt“ halten, weil sie die politische Realität der Bundesrepublik für Theater halten. Er entdeckt in diesen Netz-Milieus neue Figuren wie „natürliche Personen“, „Selbstverwalter*innen“ oder „Querdenker*innen“, die spezifischen Narrationen und Spielszenarien folgen, ohne sie selbst für ein Spiel zu halten. Seine Theaterprojekte bringen die Theatralität dieser Videodokumente auf der Bühne wieder in eine Verbindung mit dem physischen Körper des Performers. So wird es reenactet, durchfühlt, durchdacht, als das Andere nachvollziehbar, erlebbar, kommentiert und Teil einer divergierenden szenischen Konstruktion. Vogelgesangs Klimawandel-Stück Es ist zu spät adaptiert zum Beispiel den digitalen Fakten-Stream der Katastrophe und kreiert den fiktionalen Charakter eines Influencers, dessen aufgezeichnete

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Netz-Performance auf der Bühne live vom Urheber und Darsteller der Figur nachgespielt wird. Wobei diese Wiederbegegnung der Figur mit ihrem Erfinder und Double sich auf der Theaterbühne nicht nur für dessen Eingebungen öffnet, sondern auch für den Input des Publikums am Bildschirm, das via Chat die Vorgänge kommentieren und die Kameraperspektive verändern kann. Symptome des digitalen Zeitalters Es ist also vieles „hybrid“ an dieser Aufführung – gebündelt, gekreuzt und durchmischt ist nicht nur das zeitgleiche Geschehen auf der physischen und digitalen Bühne. In unseren Gesprächen beschreibt Arne ­Vogelgesang verschiedene Merkmale des digitalen Zeitalters, wie sie sich in seiner Arbeit zeigen. Zum einen formalisieren sie das Verhältnis zwischen Werk und Publikum anders und bieten dafür partizipative Regeln an. Diese Regeln sind systemisch organisiert – sie verknüpfen die Akteur*innen untereinander und mit den unterschiedlichen Protokollen, die in der technologischen Einrichtung der Mise en Scène wirksam sind, um das Wort „Inszenierung“ an dieser Stelle bewusst zu vermeiden.5 Hybride Aufführungen entwickeln 5  „Der Begriff der Mise en Scène“, so Jörn Schafaff, „ist in diesem Zusammenhang auch insofern bedeutsam, als er, wie Beate Söntgen erläutert, ‚die Aktivität des Herstellens und Einrichtens im Akt des Darstellens, aber auch das Hervortreten des Szenischen selbst [betont], während der Begriff der Inszenierung mit der negativen Konnotation des Scheins behaftet ist.‘“ Beate Söntgen zitiert nach: „Mise-en-Scène“, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg, Tobias Vogt (Hg.): „Kunst-Begriffe der Gegenwart“, Köln 2013. Hier zitiert in: Jörn Schafaff: „Rirkrit Tiravanija. Set, Szenario, Situation“, Köln 2018.

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so ein anderes Theaterdisplay, das seine eigene mediale Konstruktion und „Scheinhaftigkeit“ offen zeigt. Als reflektiertes Spiel ist es auf einer Ebene seines Geschehens stets reaktiv, nicht nur auf der sozialen Ebene der Begegnung mit dem Publikum, sondern auch hinsichtlich des Inputs von Komponenten, die von digitalen Protokollen bestimmt werden. Die Aufführung organisiert dafür ein symbiotisches System, in dem der Performer mit seiner Figur, aber auch die Zuschauer*innen im Chat mit ihm und auch untereinander kommunizieren können. Sie werden aktiv wahrgenommen und können sich zwischen unterschiedlichen Sichtweisen des Geschehens entscheiden. Eine solche Option, das lineare „Sendegeschehen“ der Performance zu durchbrechen, hat Vogelgesang in früheren Arbeiten bereits rein analog hergestellt, indem er ritualhafte Performanceregeln aufstellte, die dem Publikum die Möglichkeit gaben, die Dauer der Aufführung gruppendynamisch selbst zu bestimmen. Auch solch ein analoges Verfahren für multilaterale Partizipation ist für ihn ein Symptom des digitalen Zeitalters. Auf der Ebene von Darstellung bedeutet die Hybridisierung von Aufführungsformen die Implementierung von Feedbackstrukturen in diese – die Darstellung beginnt, sich selbst zu betrachten. Prinzipiell begann dies bereits mit der simultanen Bühne des Videobildes, das zum Beispiel in Frank Castorfs Aufführungen das aktuelle Bühnen­geschehen in Echtzeit in der anderen Sichtweise des Videos zeigte. In den Stücken von internil hat diese Aufnahme in gewisser Weise schon stattgefunden

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und das Echtzeit­geschehen ist das Live-Reenactment der Aufzeichnung, die wiederum parallel live gestreamt und neben den Beobachter*innen im Saal auch den ­Follower*innen am Bildschirm zugänglich ist. Das klassische Regiebuch als ein Meta-Skript zum Text des Stückes enthält die akribischen Notate jener vielen kleinen Entscheidungen, die den Text eines Stückes und die Einrichtungen auf der Ebene von Ton, Licht und Ausstattung auf der Bühne zur Handlung einer Gruppe von Menschen werden lassen. Auf der digitalen Ebene des Hybridtheaters schreiben die Leute im Chat das Regiebuch der Szene, das ebenfalls Handlungsanweisungen wie zum Beispiel einen Kamerawechsel in der Aufnahme des Streams beinhaltet. Das bedeutet eine Transformation des Publikums und der szenisch Handelnden – in diesem System werden sie Akteur*innen und nehmen zudem Einfluss auf das Skript des für sie partiell offen zugänglichen Geschehens. So wird unsere traditionelle Theaterwelt davon erfasst, was für Influencer*innen grundlegend und üblich ist – nämlich dass sie sich zurückmelden, dass sie Reaktionen aufnehmen, wie im „Theatersport“ und damit umgehen, dass nicht nur sie zu ihren ­Follower*innen kommen, sondern auch diese zu ihnen und das Environment der Mise en Scène das entsprechend vorsieht. Das Konzept der Theaterregie als Modell der zentralisierten Herrschaft und Augpunkt im Saal trifft in der Wirklichkeit unseres digitalen Zeitalters auf Strukturen, die Regie nicht mehr als einen endlichen Vorgang der Einrichtung begreifen, sondern des permanenten Mitspielens,

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Anwesendbleibens. Die Regisseur*innen gehen im Hybrid­ theater nach der Premiere nicht mehr nach Hause, sondern performen allabendlich mit im Team und öffnen das Regiebuch für andere. Das können Menschen sein, aber auch digitale Dienste, die mediale Inhalte algorithmisch vermitteln und filtern. Systemschaffend ist jedes Kunstwerk, doch vom traditionellen Black-Box-Theater unterscheidet sich ein Stück wie Es ist zu spät durch seine neuen Beteiligungs-Regeln. Das Hybridtheater ist kein einfaches Streaming klassischer Aufführungen mit Chatfunktion, sondern macht den Theatervorgang porös für mehrere Seiten – das Publikum chattet mit dem Publikum und der Performer wiederum mit diesem und der Videoexistenz seiner Figur. Zusätzlich agiert ein Team im technischen Setup und arbeiten parallel algorithmisierte Inputsysteme. Qualitativ entwickelt das Hybridtheater also andere Angebote und Strukturen als frühere Theatermedien. Das Publikum spielt in den Austauschforen des Netzes und kreiert dort andere soziale Beziehungsformen mit einer eigenen Sprache aus Emojis und Codes. Das digitale Medium, das in die analoge Aufführungswelt eingebunden wird, man könnte dies natürlich auch umgekehrt sehen, ist schließlich selbst zu einer realitätserzeugenden Sphäre geworden, die Gefühle und Bindungen kreiert, ausbeutet, bereichert und uns alle in dieses Spiel verwickelt. Die Theaterarbeit von Arne Vogelgesang und internil beobachtet und nutzt die Veränderungen sozialer

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Interaktion unter den neuen Bedingungen der Kommunikation auf digitalen Plattformen. Zum Beispiel im Hinblick auf die Art und Weise, wie sich in einem alternate reality game wie QAnon die Rolle vom individuellen Menschen auflöst und Teil eines Spiels wird, das durch verschiedene puppetmaster eine Wirklichkeit konstruiert, die für viele Menschen nicht in Anführungsstrichen steht. internil gibt in seinen Stücken dem Publikum Verantwortung, auch wenn es diese gar nicht will. Und da, wo die Rollen und Aufgaben sehr wechselhaft verteilt sind, wird das Spiel gleichzeitig partizipativer und auch schwerer zu verlassen. Im Falle von Es ist zu spät gibt es kein klares Ende der Performance – die Grenzen fließen auch hier ineinander. Immersiv ist diese Theaterarbeit nicht nur in dem landläufigen Sinne, dass sie unter die Haut geht und zu Empathie und Identifikation verführt. Partizipative und symbiotische Strukturen, die das alte Subjekt-Objekt-Verhältnis in ihren spezifischen Raum- und Beteiligungsformen auflösen, sind in verschiedensten Kunstgattungen inzwischen ein eigenes Genre. Typisch für dieses Genre ist, dass es seine eigene Rahmung auflöst, die vierte Wand verschwinden lässt, über die Grenze geht und fließende, wechselseitige Begegnungsrichtungen zwischen Werk und Publikum herstellt. Was der Schlussapplaus vorm Vorhang im klassischen Theater beendet und als ein Ritual der abschließenden Begegnung außerhalb des Spiels inszeniert, ersetzt im hybriden Theater der Chat, der das Publikum mit in die Garderobe der Künstler*in und von der Garderobe mit an die Bar nimmt.

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In Vogelgesangs devised media theatre geht er nicht nur via Live-Performance und -stream zum Publikum, sondern die Zuschauer*innen müssen zu ihm kommen, dort, wo sie gerade sind – in ihrer Welt, vor ihrem Bildschirm. Das Theater hat in der Lockdown-Phase der Pandemie nach verschiedensten Wegen gesucht, sein Publikum auch jenseits der physischen Bühne zu erreichen, aber das für das digitale Zeitalter wirklich typische Theater lässt das Publikum schlicht die Bühne erreichen. Es sind also mindestens drei Parameter, die sich in seinem Hybrid­theater grundlegend verändern: Das Publikum wird aktiviert. Das Geschehen auf der Bühne wird als ein Wirklichkeitssplitting erlebt, das seine Herstellung offen zeigt, und diese reflexive Medialität führt zu einem neuen Bewusstsein für die manipulative Apparathaftigkeit des Theaters, das sein Darstellen offen darstellt und für das Publikum partiell veränderbar macht. Dadurch entzieht sich die Mise en Scène des Hybridtheaters auch seiner endgültigen Fixierung, denn an Teilen seines Skripts wird jeden Abend im Chat weitergeschrieben. Hybridtheater beruht auf Echtzeit-Technologien, die es erlauben, die digitale und physische Ebene seiner doppelten Existenz durch verschiedene Inputs ständig zu modifizieren. Da Ton und Bild (wie die Live-Performance) im selben Moment bearbeitet werden können, überlagert oder vermischt sich das Bühnengeschehen mit anderen Bildern und Klängen, sodass mit dem Abbild selbst gespielt wird. Was wir im Leben oft erst im Laufe der Zeit herausfinden – dass die Dinge sich so oder auch ganz anders betrachten

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lassen –, geschieht auf dem digitalen Spielfeld durch die Wechsel der Kameraperspektive und die Kommentare der Mitsehenden automatisch. Neben der Diversifizierung der Perspektiven entsteht also auch eine Aktivierung der Betrachtenden, die in die Situation der Aufführung eintreten können – bisweilen physisch, oft und vorzugsweise aber auch durch ihre Wortmeldung, ihr Mitspielen oder im Austausch mit anderen Gästen. Während zum Beispiel die Fans vom Tatort diesen in diversen Online-Foren live kommentieren und untereinander bewerten können, kann die Sendung selbst aus ihrer linearen Struktur nicht austreten. Das hybride Theater aber öffnet sich den Einwirkungen seiner Fans und Zuschauer*innen und trägt ständig die Züge eines offenen Spiels. In seiner Geschichte hat das westliche Theater seine Gemachtheit in unterschiedlichen Formen thematisiert – im Extempore, in der Durchbrechung der vierten Wand, anhand epischer Mittel, mit denen sich Schauspieler*innen oder Autor*innen selbst einbringen. Im digitalen Theater dichtet das Publikum mit und schreibt im Chat, was es denkt, während das vorproduzierte Theater läuft und ihm für dieses Feedback eigene Sektoren einrichtet. Dieser Kommentarteil fließt in einem Stück wie Es ist zu spät sofort in das Stück ein, dessen Skript porös, aber dennoch keine durchgehende Improvisation ist. Vielmehr steigert sich die präsentische Geistesgegenwart der Aufführung in schwindelerregende Höhe. Im Skript seiner Aufführung wird das Publikum selbst zur (kollektiven) Figur, die Arne Vogelgesang mitschreibt, anspricht, in sein System integriert und aktiv inszeniert.

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Der Körper Teilhabe an kultureller Produktion ist die neue Ware. Mit ihr verbindet sich in den digitalen Foren eine neue Performance von Ehrlichkeit, die vor allem auf einem offenen Geben und Nehmen beruht. Es geht, in den Worten Vogelgesangs, um die Beglaubigung von Beziehungs-Transaktionen. Auf der Grundlage von Marktregeln entstehen im digitalen Raum neu designte Online-Beziehungen zwischen Performer*innen und Publikum. Wer bezahlt hat, darf hier etwas fordern: Das ist der Payback-Imperativ sozialer Foren im digitalen Raum. Für die Influencer-Figur in Vogelgesangs Stück Es ist zu spät erzeugt das eine kraftvollere, „echtere“ Wirkung und Beziehung. Seit Jahren erforscht Arne Vogelgesang den digitalen stream of performance von Influencer*innen, rechten Propagan­dist*innen, Pick-up-Artists und deren verblüffend ehrlichem Hunger nach Klicks und Likes, der diversen devianten Gesinnungen und Praktiken eine Bühne eröffnet. Dies sind in der Regel abweichende Verhaltensweisen, die bizarr oder gefährlich sind und ihre Abweichung von der Norm virtuell, aber nicht unwirksam ausleben. ­Vogelgesang performt diese Verhaltensformen digitaler Gemeinschaften mit seinem eigenen Körper nach und macht sie dadurch für sich erfahrbar. Das Netz erscheint so als eine Plantage von Devianz – es erzeugt anonymisierte Abweichungsenklaven und ist ein Weltreich der Sezession und der SingularitätsAktivist*innen. Hier, im virtuellen, staatenlosen Raum, entstehen die freien Republiken von Menschen, die wirklich

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probehandeln, im Guten wie im Schlechten, und oft eine Vorhut späterer Entwicklungen sind. Die Neuerfindung des Menschlichen im sogenannten Web 2.0, das auch das Soziale 2.0 hervorgebracht hat, erschafft digitale Beziehungen, die oft sozialer und auch körperlicher sind, als man es ihnen aus kritischer Perspektive oft zugesteht. Solche koproduzierenden Beziehungen im Theater zu etablieren kann, so Arne Vogelgesang, eine Trainingssituation für Verwertungsformen sein, die in Zukunft auch im Theater wichtiger werden. Insofern sind unsere drei Gespräche tastende Versuche, mit V ­ ogelgesangs Erfahrungen Theater auch dort zu entdecken, wo wir es normalerweise nicht suchen und erwarten. Seine hybride Struktur folgt hybriden Erfahrungen – der wilde, von devianten Lebensformen bevölkerte Sozialraum des Netzes produziert Figuren und Lebenshaltungen, die vital und abgründig, attraktiv oder politisch gefährlich sind, die narrative Systeme, kollektive Codes und Muster offenbaren, die Vogelgesang über Wochen und Monate faszinieren und in diese virtuellen Lebenswelten bannen. Zugleich spielt er nicht dort, sondern mit dem, was er dort findet, auf einer Bühne, die materiell ist und ein alter Ort körperlicher Repräsentanz. Die Tiefenstruktur unserer gesellschaftlichen Gegenwart, die sich im Sozialen 2.0 nackter, fantastischer und vielleicht wahrer zeigt als in der Welt der Klarnamen und Institutionen, ist ganz sicher einer der Gründe für die Beutezüge im Netz, die Arne Vogelgesang seit fünfzehn Jahren

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umtreiben. Dass er sie nicht einfach rückübertragen kann in die literaturbasierten Theaterstrukturen, sondern dafür selbst hybride Systeme baut, eher bastelt, ist das Zukunftsweisende seiner Arbeit. Und mit dem Alien-Blick, mit dem er auf unsere Gesellschaft im Netz schaut, der politischen Sorge, die ihn dabei umtreibt, schaut er zugleich auf die traditionelle Theaterroutine und ihre Meister*innen am Regiepult, deren Zentralperspektive und Verschwinden nach der Premiere er auflöst. Es ist dieser Übergang vom Text zum Skript (im Sinne von Protokoll), das er ­entwickelt, um diese Live-Begegnung mit dem Leben außerhalb der Bühne, aber auch mit dem Leben auf der Bühne zu ermöglichen, die in 200 oder 300 Jahren vielleicht erinnert werden wird als Spielform eines Theaters, das noch nicht loslassen konnte vom Echtraum. So wie auch der Körper noch nicht hybrid war, kein Cyborg, sondern der Leib eines Performers, der das Theater selbst als Netz und Plattform nutzte.

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Arne Vogelgesang und Thomas Oberender

Gespräch über This Is Not a Game Arne Vogelgesang recherchiert seit mehreren Jahren intensiv zu rechten Netz-Communitys, die sich auf digitalen Plattformen wie Reddit oder 8chan organisieren, austauschen und einen gemeinsamen Nenner in verschwörungstheoretischen, demokratiefeindlichen und misogynen Ideologien finden. Die Vernetzung und Politisierung von Gruppen wie den Reichsbürger*innen oder dem QAnonNetzwerk hat die Grenzen des digitalen Raums längst verlassen und wirkt in die analoge Gegenwart zurück: Attentate, Demonstrationen und Angriffe auf staatliche Institutionen wie das Washingtoner Kapitol oder den Berliner Reichstag im Zuge der Corona-Proteste sind die medienwirksame Spitze eines Eisberges, der sich aus den Echokammern und Filterblasen des Netzes und der sozialen Plattformen erhebt. Arne Vogelgesangs Interesse

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an diesen Gruppen und Phänomenen reicht über deren politische Implikationen hinaus: Er betrachtet sie aus einer theatralen Forscherperspektive. Denn Rollenspiel, Inszenierung, Narration und ästhetische Transgression sind Kategorien, ohne die ein Phänomen wie QAnon, das einem überlebensgroßen, labyrinthischen Live-Rollenspiel gleicht, nicht auskommt. Gerade der Spielcharakter ist für viele dieser Gruppen zentral, unabdingbar und gemeinschaftsstiftend: Sei es die aggressiv-misogyne „Flirttechnik“ der sogenannten Pick-up-Artists, die nach einer konkreten Handlungsanleitung agieren, oder die Schnitzeljagd der Q-Anhänger*innen nach der Super-Weltverschwörung, die sie weiter in wahnhafte Fiktion treibt – Phänomene wie diese lassen sich als alternative Theaterkonzepte begreifen und lösen unser herkömmliches Verständnis von „Bühne“ auf. In Vorträgen und Bühnen- und Film-Essays arbeitet sich der Regisseur und studierte Ethnologe Arne ­Vogelgesang an diesen games ab und sucht nach den Strukturen eines Phänomens, das ohne die Einbettung in den Plattformkapitalismus und die digitale Feedback-Kultur nicht existieren könnte. Thomas Oberender: Ihr Film beziehungsweise Ihre Performance-Lecture This Is Not a Game beschreibt ein Spiel, das kein abgegrenztes Spielfeld hat, sondern dessen Spielfeld die Welt als Ganzes ist. Das Spiel b ­ eziehungsweise Online-Netzwerk QAnon spielt mit der Welt, wie wir sie kennen. Aber es sagt gleichzeitig auch, dass wir sie nicht wirklich kennen. Wir kennen nur eine für uns errichtete Kulisse. Für viele Menschen entsteht so eine massive

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Unwirklichkeitserfahrung, denn alle, die dieses Spiel spielen, sehen die Welt mit den Augen des Spiels, und für das Spiel ist die Welt ein riesiger Fake, der leider eben nur ein paar Eingeweihten auffällt. Aus der Perspektive der Verschwörungstheorie wird mit uns gespielt. Das ist sehr interessant. Für die QAnon-Anhänger*innen sind die vielen ausgewählten Details oder Vorgänge aus der Welt der täglichen Nachrichten nur die Camouflage einer dahinter verborgenen Wirklichkeit, die sie dank ihrer Recherchen als Mitspieler*innen enthüllen. Sie sind die Erleuchteten. Wir sind die Dummen, die den großen Fake noch nicht durchschaut haben. Aber zum Glück gibt es diesen anonymen Absender von Informationen namens Q, der regelmäßig Fragen veröffentlicht, die uns die Augen öffnen sollen. Sie beschreiben in Ihrer Arbeit die Welt von QAnon als eine Art Live-Action-Role-Play (LARP), das auf dem relativ entlegenen Imageboard 4chan begann und dann nach „draußen“ gelangte, in das „Internet für alle“, die sozialen Netzwerke und das realgesellschaftliche Leben. Für die Spieler*innen-Community wurde Trump so zum Märtyrer in der echten Welt, weil er in der Mythologie ihres Spiels den deep state einer verbrecherischen Elite angreift. Diese Community ist zunehmend auch in Deutschland präsent. Man könnte sagen, dass QAnon, das mit seiner Fiktion die gesamte Wirklichkeit „verzaubert“, das größte Gegenwartskunstwerk oder Massentheater unserer Zeit ist. Aber seine Wirkung in der realen Welt, nachdem es sich im Internet als eine Bewegung radikalisiert hat und herüberschwappt, ist äußerst fatal – es spaltet die Gesellschaft und fängt an, selber zur politischen Kraft zu werden, siehe Attila

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Hildmann oder die versuchte Reichstagserstürmung im Zuge der Corona-Proteste. Mein Eindruck am Ende Ihres Filmes war: Vielleicht ist QAnon das faszinierendste Spiel, das Menschen sich je ausgedacht haben, aber es ist auch im selben Moment das gefährlichste. Sie haben sich wie ein Feldforscher in diese Szene hineinbegeben, was auch gut passt, denn Sie haben Ethnologie und Theaterregie studiert. Und auch schon vor dem QAnon-Tribe haben Sie sich mit anderen Selbst­darstellungswelten im Netz beschäftigt, denen von Rechtsextremen oder Influencer*innen – alles Figuren in einer gescripteten Welt voller Ambiguität und Rollenspiele, aber eben auch politischer Implikationen. Seit wann betrachten Sie diese netzbasierten Szenen als Theater?

Technologische Räume Arne Vogelgesang: Ich habe eine klassische Theater­regieAusbildung am Max Reinhardt Seminar absolviert, an dem das Telos der Ausbildung allerdings nicht unbedingt das war, was ich später getan habe beziehungsweise heute mache. Was mich relativ früh interessiert hat, waren technologische Räume, also Umgebungen durchaus auch im zeitlichen Sinne, zu denen beziehungsweise in denen menschliche Körper sich zu den von ihnen geschaffenen Medien und Maschinen verhalten müssen. Ich glaube, dazu kam es, weil das die Realität war, in der ich zu dieser Zeit bereits größtenteils lebte – ich war auch schon vor meinem Studium relativ viel mit dem Computer und dem Internet beschäftigt.

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TO: Wann war das? AV: Ich habe von 2002 bis 2006 studiert. Intensiv im Internet bewegt habe ich mich seit Ende 1999. Vorher, gegen Ende meiner Grundschulzeit, gab es schon Computer­ spiele. Das heißt, digitale Medien waren ein prägender Teil meines Lebens, aber es hat gedauert, bis dieses Interesse ins Theater gedriftet ist. Wahrscheinlich dauert es beim Theater sowieso immer ein bisschen länger, bis die Sachen dort ankommen. Bereits meine ersten Stücke hatten sich mit Technologie und bildgebenden Verfahren, Videobildern und dem Nachspielen von Videodokumenten beschäftigt. Aber erst 2013 gab es einen Moment, in dem ich dachte: „Augenblick mal, ich bin unglaublich viel im Internet unterwegs, die ganze Zeit. Ein signifikanter Teil meines Lebens spielt sich dort ab und das Netz ist ein realer Erfahrungsraum für mich. Warum ist das eigentlich nicht die Grundlage von dem, was ich im Theater mache?“ Dieser Moment hat einiges verändert. Man kann ja immer nur von dem erzählen, was man erlebt oder zur Kenntnis nimmt – was weder völlig fremd noch völlig eigen ist, sondern gerade anders genug, um Interesse zu wecken. Das erste direkt auf das Internet bezogene Stück, das ich mit der Unterstützung von Kolleg*innen gemacht habe, war daher ein Stück über Romantik im Online-Zeitalter, insbesondere über die Frage, was die Männerfigur in der Online-Romantik auszeichnet. Singlebörsen oder Pick-up-Coachings waren damals schon ein großes Thema, und ich wollte dieses Material unbedingt collagieren. So

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entstand das erste Stück in einer Genealogie von Arbeiten, die sich im Wesentlichen nur noch auf Internetmaterial und Software stützten, um sich daraus selbst zu bauen. TO: War das eine Form von Lecture-Performance oder der Versuch, diese Internet-Erfahrungen in eine klassische Theatersituation zu übersetzen? AV: Ich glaube, es war zu wenig narrativ und kommentierend, um eine Lecture-Performance zu sein. Es war wohl eine Art Monolog-Performance. Ein Kollege war dabei – Christoph Wirth, der mit seinem Kollektiv auch bei einem Projekt in der Reihe „Immersion“ bei den Berliner Festspielen zu Gast war. Er hat den Sound für die Performance gemacht und Musik geschrieben, die dem Stück einen guten Sog gab. Und Marina Dessau, eine Kollegin, mit der ich schon seit Schulzeiten auf Bühnen stehe, hat mich performativ unterstützt. Ich habe in dieser Collage versucht, das, was mir an romantischem „Text“ im Netz entgegenkam – Post-Dada-Poesie von Spam Bots, Motivationstexte, Ratschläge oder schlecht übersetzte Hook-ups von Werbemails –, einfach runterzusprechen und zwischendurch Pick-up-Coachings mit dem Publikum zu veranstalten. TO: Was ist das – ein Pick-up-Coaching? AV: Ein Pick-up-Artist (PUA) ist ein selbsternannter „Verführungskünstler“. In dieser heterosexuellen Subkultur betrachten es Männer als Kunst, so viele Frauen wie möglich

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aufzureißen und als Kerben auf dem eigenen Waffenschaft zu verbuchen. Es gibt Dating Coaches, die in den Pick-upForen versuchen, die hetero-romantische Interaktion zu schematisieren, vermeintliche Frauentypen zu klassifizieren und Manipulationstechniken zu vermitteln, die Adepten angeblich sicher zum Erfolg führen. Eine sehr skurrile, aber auch nicht ungefährliche und weitgehend misogyne Szene, die sehr viel Output im Internet hat. Es gab und gibt natürlich Heerscharen von jungen Männern, die gerne wissen wollen, wie sie im Flirt erfolgreich sind und entweder eine Freundin kriegen, wenn sie nicht allzu hartherzig sind, oder möglichst viele Frauen aufreißen, wenn sie sich ein bisschen empathieloser geben.

Destruktion als Therapie TO: Das ist Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone – nicht in der depressiven oder melancholischen Variante, sondern als Wettbewerb. AV: Dieser ist auf jeden Fall aggressiv, aber mit Übergängen in die depressive Variante. Teile der PUA-Szene sind mit eingeflossen in das, was man heute Incel-Kultur nennt – „involuntary celibates“ –, quasi der nicht erfolgreiche Teil im Wettbewerb. Bei den Pick-up-Artists drückt sich die Frauenverachtung im Erfolg ihrer Behandlung des Objekts „Frau“ aus. Und bei den Incels im Misserfolg, für den man wiederum Frauen verantwortlich macht. Beide Szenen greifen ineinander.

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TO: Das erinnert mich an den Film In the Company of Men von Neil LaBute, der Ende der neunziger Jahre entstanden ist. In dessen Zentrum steht die Wette von drei Geschäftsleuten, ein Mädchen zu verführen, das blind ist. In seinem Stück The Shape of Things hat LaBute ein paar Jahre später gezeigt, wie eine Kunststudentin aus einem jungen Mann, der Adam heißt, physisch und psychisch einen anderen Menschen macht, eine lebende Skulptur, und diesen Prozess als ihr Abschlussprojekt an der Kunsthochschule dokumentiert. Das war 2003, ungefähr zu jener Zeit, von der Sie sprechen. Vielleicht haben diese Spiele ja etwas mit einer Gesellschaft zu tun, die damals das Ende der Geschichte gefeiert hat, den Neoliberalismus und die Bereitschaft, alles als Ressource zu begreifen – nur wird das hier ins Seelische gewendet. Ich wusste nicht, dass diese Verführer-Szene eine eigene Subkultur im Netz hat. AV: Ja, der Neoliberalismus war und ist begeistert vom Machtpotenzial angewandter Spieltheorie. Eines der berühmtesten Bücher in der Pick-up-Szene heißt tatsächlich The Game, weil die Flirtinteraktion und der Umgang von Männern mit Frauen als ein Spiel verstanden wird, dessen Regeln man lernen kann – mit dem Effekt, dass Frauen, die an solche „Künstler“ geraten, natürlich nicht wissen, dass sie gerade deren Spielgegenstand sind. Das ist ein Machtpotenzial, das mich interessiert hat: Wenn eine Partei sagt, „So, ich spiel jetzt mal und das ist mein Bezug zur Wirklichkeit“, und die andere Partei das nicht weiß, kann das sehr unangenehme Folgen haben.

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TO: Die historische Variante dieser Haltung ist wahrscheinlich Choderlos Laclos’ Spiel der Verführungen in Gefähr­ liche Liebschaften. In der zugespitzten Bearbeitung von Heiner Müller sind seelischer Sadismus und Takt, Feingefühl und Esprit die Mittel der Verführung und erschaffen eine Welt, in der alles Zeichen und Beute ist. Bei Laclos verbindet sich das stark mit dem Ancien Régime. Naive Liebe war für die Hofgesellschaft nur etwas für Bauern und Kinder – was natürlich auch nicht stimmt. AV: Sartres Schmutzige Hände zeigt die bürgerliche Variante davon, in der zumindest beide Parteien spielen, aber auch nicht rauskommen aus dem Spiel. Pick-up-Artists sind vielleicht die sehr, sehr runtergekochte und einseitige Variante dieses Spiels. TO: Sie sehen in jeder Frau die Trophäe. AV: Mehr als Preise können sie nicht sehen. TO: Solche Beobachtungen zeigen, dass Sie in Ihren Arbeiten oft eine ethnologische Perspektive einnehmen. Sie sind mit intensiven Feldstudien verbunden, auch wenn das Feld bei Ihnen oft das Netz ist. Am Anfang Ihrer Regiearbeit stand, wenn ich das recht verstehe, also das Thema der Liebe in Zeiten des Internets. AV: Wahrscheinlich das klassische Einstiegsthema im Theater, ja. Das Thema der Liebe und ihre Metamorphose im Netz. Zu Beginn war das noch sehr allgemein angelegt,

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aber nach dem ersten Feedback habe ich das auf jene hetero-männliche Perspektive zugespitzt, die zum großen Teil auch meine ist: Wir haben unserer Collage noch eine Version des SCUM-Manifests von Valerie Solanas hinzugefügt, sehr eingekürzt, mit Google übersetzt und in Tagebuchform umgeschrieben. So entstand eine Art Selbstbekenntnis, und all der Hass, den Solanas den Männern in ihrem Text entgegengeschleudert hat, wurde bei uns quasi zu einem Dokument männlichen Selbsthasses. Wir haben das Ganze für das Publikum als „Meditation über den inneren Mann“ gerahmt. Letzten Endes ging es darum, was vom heterosexuellen Mann noch übrig bleibt, wenn man sich ansieht, in welcher Form er unter diesen Internetbedingungen der Partner*innensuche – wenn man es überhaupt noch so nennen will – auftaucht. Es war ein sehr destruktives Stück. Destruktion als Therapie, wenn man so will.

Parakünstlerische Praktiken von Netzakteur*innen TO: Schon bei Ihrem ersten Projekt war zu sehen, was auch Ihren jüngsten Film This Is Not a Game prägt: Dieser Übergang eines „Spiels“ – man könnte auch sagen einer Geisteshaltung oder Verhaltensweise –, das sich zunächst in der digitalen Kultur artikuliert und dann in die physische Welt übertritt. Auch bei Ihrer Analyse von QAnon zeigen Sie, wie ein Spiel von Insider*innen-Plattformen wie 4chan oder 8chan zunächst in das „Internet für alle“ wechselt und schließlich in das Alltagsleben hier draußen.

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AV: Ja, das war thematisch das, was mich die nächsten Jahre begleitet hat. Und die Frage, wie wir diese Kultur und auch das politische Material aus dem Netz im Theater darstellen können. So hat sich relativ schnell eine Mischung aus Aufklärung und dem Versuch, das Ganze künstlerisch zu behandeln, ergeben. Wozu auch zählt, dass wir das, was von den genannten Akteur*innen im Netz betrieben wird, ebenfalls als eine para-künstlerische Praxis begreifen. Sehr oft besprechen Internet-Handelnde ihr Tun oder das der anderen in den Metaphern von Theater, Darstellung oder Repräsentation – all das macht es doppelt interessant, dieses Material ins Theater zu tragen. TO: Theater funktioniert ja wie ein gigantischer Staubsauger, für den alles interessant ist, was Gegenwart irgendwie transzendiert. Das können alte Texte sein, mit denen man die Gegenwart über die Schulter wie durch einen Spiegel anschaut, oder Formen, Wissen und Sprachen fremder Herkunft, die einen zur Übersetzung zwingen. So hat das Theater auch Sie aufgesaugt und gesagt: Das sind Nachrichten aus einer anderen Welt, obwohl wir mittendrin leben. In This Is Not a Game kristallisiert sich Ihre jahrelange Arbeit in einer künstlerischen Form und mit einem Vokabular heraus, die Sie den Spielwelten der Internet-Communitys entlehnen und nicht der traditionellen Theaterbühne. All das prägt Ihren Bericht über die Menschen und ihre Gebräuche, die Sie im Netz studiert haben, auch formal. Wen treffen Sie im Netz?

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AV: Ich glaube, mein Hauptaugenmerk liegt weder auf den Menschen noch auf den Figuren, sondern eher auf Beziehungen und Handlungen im weitesten Sinne, die ja auch Theaterstoff sind. Mich beschäftigt die Frage, was Leute da gerade tun, in dieser neuen virtuellen Wirklichkeit. Denn was die einen tun, könnten auch andere tun – es kann Vorbild und damit politisch wirksam sein. Handlung und Handelnde lassen sich aber natürlich nicht ganz klar trennen. TO: Das ist wie auf der Bühne oder im Spiel. Wer ist das, den wir da beobachten? AV: Genau. Was ist das? Spielen sie oder spielen sie nicht, und wenn ja, was für ein Spiel spielen sie und wie begreifen sie sich darin? Das findet man wenn überhaupt erst im Laufe der Zeit heraus. Die ersten Arbeiten, die wir 2014 mit politischem Material gemacht haben, stützten sich stark auf Momente von Selbstinszenierungen in YouTubeVideos, also auf Dokumente von Menschen, die sich vor die Kamera setzen und dann anfangen, Propaganda zu machen. Das waren einerseits Dschihadist*innen, andererseits Leute, die sich selber Patriot*innen und „Islam­ kritiker*innen“ nennen – das Milieu also, das später mit Pegida auf die Straße ging. Es waren die theatralen Settings ihrer Propaganda, für die wir uns interessiert haben. Wobei dieses Material schon in den Jahren vor 2014 entstanden ist, wenn auch nicht sehr viel früher – so alt sind die sozialen Medien noch gar nicht. Sie kommen einem nur so alt vor.

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TO: Das stimmt. AV: Ich habe neulich überlegt, seit wann es eigentlich YouTube gibt. Die ersten politischen YouTube-Materialien, die ich gesammelt habe, stammen ungefähr von 2008. TO: Seit wann gibt es „Reichsbürger*innen“? Man könnte sie ja für eine Art Spielgruppe halten, wenn ihr Treiben nicht diesen fanatischen und demokratiefeindlichen Aspekt hätte, der kein Spiel ist. Wann haben sie damit begonnen, Bauernhöfe zu kaufen, Vereine zu gründen und eine informelle Staatsstruktur aufzubauen – mitten unter uns? Das muss doch ein Vorspiel gehabt haben? Als Sie sich mit dieser Bewegung beschäftig haben, sind Sie wahrscheinlich auch in deren digitale Vorgeschichte zurückgekehrt, ähnlich wie bei Ihrer Arbeit über QAnon.

Mediales Mordtheater AV: Auf die Reichsbürger*innen können wir gerne später zurückkommen. Sie sind sehr interessant. Ihre Geschichte geht tatsächlich schon lange vor dem Internet los. Aber ich würde gerne noch bei 2014 bleiben, als wir mit Recherchen zum NSU und zu Anders Breivik die Digitalisierung des Terrors nachzuzeichnen versuchten. Breivik, der NSU und Al-Qaida waren bereits Fälle, bei denen Netzaktivismus und digitale Propaganda in die reale Welt vorgedrungen waren. Breiviks Attentat auf Utøya und auch die islamistischen Anschläge hatten reale Menschenleben gekostet, aber

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mir fiel auf, dass der Begründungszusammenhang dafür seltsam digital war. Die Tatsache, dass Breivik im Grunde all die Menschen, die er erschossen hat, nur erschossen hat, um Werbung für sein Manifest zu machen, und für seinen eigenen Terroranschlag sogar noch extra einen Trailer gedreht hat, das waren bereits Zeichen dafür, dass sich irgendetwas verändert hatte. Vielleicht nicht in Gänze, weil Terror immer mit einem solchen Kalkül funktioniert – er zielt ja auf mediale Verbreitung und die Medienlandschaft ist heutzutage nun mal eine digitalisierte –, aber die Aktivitäten im Netz waren selbst Treiber für Radikalisierung geworden. Wir haben es mit einer neuen Art von Kreislaufwirtschaft zu tun. Es gibt Propaganda im Netz, die auf reale Aktionen abzielt, ansonsten wäre sie nicht politisch. Was an Medienlandschaften im Internet zur Verfügung steht, ist eine riesige hungrige Verwertungsmaschinerie für alle Formen von Aktionen im physischen Raum. Selbst wenn diese dort kaum auffallen, können sie digitalisiert eine große mediale Wirkung entfalten und darüber dann wiederum zurückspielen in die so genannte „reale“ Welt, die wir immer noch sprachlich abtrennen von der Internetwelt, weil unser Vokabular der Tatsache hinterherhinkt, dass das natürlich alles miteinander verzahnt und verwoben ist. TO: Wutreden von Menschen, die sich im Netz über etwas aufregen, sind ein Theater, das von vielen Menschen leidenschaftlich angenommen wird. Sie haben in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass politische Propaganda im Netz immer auch eine Form

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von Entertainment-Charakter besitzt, da sie sich auf Plattformen abspielt. Sie spricht Leute direkt an, wirbt um deren Aufmerksamkeit und Likes und will sie auf eine emotionale Reise mitnehmen, für die man den Anlass schaffen muss. Diese Reise ist in der Regel ein geschickt produzierter Flow von Bildern und Informationen, der unterhält, aber auch tödlich enden kann, wenn die ultimative Unterhaltung das ist, was kein Spiel mehr ist. Sie beschreiben diese Verschiebung des Entertainments ins Tödliche als eine Weiterführung der digitalen hate speech als live gefilmte Anschläge oder Amokläufe in der analogen Welt. Diese ultimative Variante des Spiels kann man eigentlich gar nicht Amoklauf nennen, sondern mediales Mordtheater. Anschläge wie von Stephan Balliet auf die Synagoge in Halle werden im Internet für Menschen aufgeführt, die live verfolgen, wie man das in der echten Welt tut, mit Helmkamera und bereits vorher gebasteltem Soundtrack. Was zu einer sehr problematischen Form von Zeug*innenschaft führt. In einer fantastischen Ausstellung von Inke Arns zum Alt-Right-Komplex im Dortmunder U gab es einen Raum, in dem die Aufzeichnung einer Aufführung von Milo Rau über Anders Breivik lief. In Breiviks Erklärung – so hieß das Projekt – hat die Schauspielerin Sascha Özlem Soydan dessen Manifest vorgelesen, sichtbar um Distanz bemüht, aber ich habe mich dabei ertappt, wie ich diesen Gedanken eines Massenmörders gelauscht habe und dachte: „Wenn ich nur ein bisschen labiler wäre und mich auf diese zum Teil perfide Argumentation einließe, würde ich mich einer Gehirnwäsche öffnen, der scheinbar auch Breivik erlegen ist.“ Wird in diesem Dokumentar-Theater das

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Gift vielleicht doch weitergegeben? Wenn Teenager*innen in dieser Videokabine sitzen und Breiviks satanische Verse hören, konsumieren sie eine sehr starke Droge, die man unkommentiert austeilt. Das gilt natürlich nicht nur für Teenager*innen. Als ich Breivik via Sascha Özlem Soydan über die japanische Kultur schwärmen hörte, lief es mir kalt den Rücken runter. Aber wahrscheinlich ist es der einzige Weg, diese Dämonie öffentlich zu machen, für alle bekannt und diskutierbar. Wie beurteilen Sie als Experte solch riskante Transfers, die sehr von der Erlebnissituation des Publikums abhängen?

Eine Art Verständniskunst AV: Die Frage, was man repräsentiert, zu welchem Zweck und für wen – und repräsentiert auch in dem Sinne, dass man etwas reproduziert, das bereits woanders politische Ziele hatte, die ganz andere sein können –, ist eine Frage, die man immer wieder neu anschauen und beantworten muss. Ich glaube, dass sich mit der Zeit ändert, welche Entscheidungen man trifft und welche nicht. Bei Milo Rau war es ja die Schauspielerin, die die Distanz zum Text hergestellt hat oder zumindest herstellen sollte. Es hängt auch vom Kontext und dem Publikum ab, ob solche Distanzierungen gelingen oder nicht – und darüber wird wahrscheinlich auch immer gestritten werden. Wir haben, nachdem wir ein Reichsbürger*innen-Stück gemacht haben, eine Gastspiel-Anfrage aus Bautzen bekommen. Bautzen ist eine Stadt, die in mehrfacher Hinsicht akute

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politische Probleme hat, auch mit Reichsbürger*innenIdeologie. Ich habe damals schweren Herzens eine Absage geschrieben, in der ich sinngemäß sagte: „Wir haben dieses Stück für ein Publikum in einem Berliner freien Theater entwickelt, bei dem wir ziemlich genau wissen, wer da hinkommt und wer nicht. Unser Stück besteht nur aus Originalmaterial, das collagiert wurde, und rechnet damit, dass das Publikum eine kritische Distanz zu den Materialien einnimmt und vielleicht eher den beunruhigenden Effekt erlebt, dass ihnen manche Dinge, die gesagt werden, gar nicht so fremd sind. Es ist für einen Ort geschrieben, an dem Theater eher eine Art Verständniskunst betreibt, was aber für ein Publikum in einer Stadt, wo die Hälfte der Leute mit diesen Ideen sympathisiert, eine grandios falsche Aktion wäre, denn dort bräuchten wir ein völlig anderes Stück.“ Ich denke also, man muss nicht nur klären, was man produziert und reproduziert, sondern auch für wen und was die Vorannahmen über das Publikum sind – weil diese zwangsläufig eine Auswirkung darauf haben, wer ein Stück zu sehen kriegen wird und wer nicht. Weil all die Leute, mit denen man nicht rechnet, dann auch nicht kommen werden. Oder erst recht – aber als Feinde. Das sind Überlegungen, die man, wenn man mit dokumentarischem Material umgeht, vor allem dann immer wieder anstellen muss, wenn man den Anspruch hat, das Material als Dokument mit nicht zu viel Wertung zu versehen, wofür es gute Gründe geben kann. Manchmal mag Agitprop-Theater das Richtige und Nötige sein. Aber Theater kann auch ein Raum sein, in

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dem Dinge befragbar werden, in dem man es erst mal eine Weile aushält, dass man nicht genau weiß, was man davon hält. Politische Haltung soll ja kein Reflex sein, sondern auch Ergebnis von Reflexion. Dadurch dass die politische Belagerung oder zumindest die Belagerungs­ mentalität in der letzten Zeit zugenommen hat, werden diese offenen Räume gefühlt seltener. In dieser Situation kann Kunst ein Raum sein, in dem man sich ein bisschen freischaufeln kann, obwohl es kein unpolitischer Raum ist. Welche Politiken hätte Kunst in diesem Zusammenhang anzubieten? Über solche Politiken nachzudenken, muss on the fly bei der Arbeit stattfinden. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. TO: Schon das Intro von This Is Not a Game ist von der Berücksichtigung der verschiedensten Zusammenhänge, in die sich Ihre Arbeit begibt, geprägt. Zunächst geben Sie den Hinweis auf antisemitische und rassistische Materialien, der den dokumentarischen Quellen und der unkommentierten Art, wie Sie damit umgehen, geschuldet ist. Aber Sie halten auch eine zügige Ansprache an die hater, deren Angriffe Sie prophylaktisch beantworten – als eine Art Gegenzauber zu jener toxischen Rahmung, die vom anderen politischen Lager kommen wird. Dieser Prolog etabliert einen Ton, der aus der Feedback-Kultur des Internets kommt. Vielleicht hilft dieses Intro auch, diese Belagerungsmentalität zu durchbrechen, von der Sie gesprochen haben. AV: Das müssten Sie mir genauer erklären.

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TO: Indem Sie das, was Ihnen die hater später vorwerfen könnten, selber schon vorwegnehmen und als Gegenregung in Ihren eigenen Argumentationsstrang einbauen, holen Sie die Gegenseite ja gewissermaßen ins Boot, nehmen sie auf, und das, was vielleicht mal als Antwort gedacht war, als Todesstoß, als Denunziation – all das wird plötzlich wieder Teil eines Prozesses, einer Auseinandersetzung und ist grundsätzlich offen. Bei Belagerungsmentalität denke ich an die shrinking spaces, die wir in der Regel mit autoritär regierten Ländern wie der Türkei, dem Iran, Ägypten oder Russland verbinden, in denen die Handlungsräume der Zivilgesellschaft durch die Regierenden stark eingeschränkt werden. Aber wir haben genau das auch in den USA in der Trump-Zeit beobachtet. Identitätspolitik führt ja interessanterweise oft nicht zu mehr Toleranz, sondern zu mehr Grenzen, No-Gos und neuen Tabus. Und die AfD und die Querdenken-Bewegung haben auch hierzulande eine eskalierende Argumentationsweise entwickelt, die sozial spaltet, weil es nur noch um die emotionale Reise geht, die Klicks. Auch der Begriff cancel culture steht ja, je nachdem wer ihn verwendet, für die Tilgung und Beseitigung von diskriminierend empfundenen Aussagen und Positionen – eine ursprünglich linke Strategie, die inzwischen von der politisch Rechten für ihren identitären Kulturkampf übernommen wurde. AV: Ja. Ich glaube, für das, was ich mit Belagerungsmen­ talität meine, spielt es eine große Rolle, dass die Rechte seit einigen Jahren kulturell in der Offensive ist. Aber es ist nicht nur das. In vielen Sozialmedien sind politische

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Ökonomien entstanden, die aus als normverletzend empfundenen sprachlichen Aussagen große Mengen Aufmerksamkeitskapital schöpfen können – egal, ob diese aus Kalkül, Unreflektiertheit, Ungenauigkeit oder Unwissen getätigt wurden. Manchmal weiß man ja nicht genau, warum Menschen sprechen, wie sie sprechen. Aufgrund der Möglichkeit von User*innen, Inhalte kopieren und zirkulieren lassen zu können, schlägt vieles enorme Wellen, das vorher nie wichtig geworden wäre. Diese Aufregungsökonomie regiert quer durch alle politischen Spektren. Mit Skandalösem lassen sich einfach und schnell Klicks und Likes erzielen. Von ihrem inneren Prinzip her glaube ich, dass es gar nicht entscheidend ist, ob diese Erregungen für gute oder schlechte politische Anliegen entstehen. Denn darüber, was das jeweils genau ist, streiten sich in der Regel alle und oft genug profitieren mehrere Seiten davon. Nahezu immer natürlich die Plattformen selbst. TO: Diese Gewinn-Mechanik der Erregungskultur ist keine Rechts-links-Thematik, sondern medieninhärent. AV: Ja, es hat was mit der Mechanik sozialer Medien zu tun. Das hat aber zur Folge, dass es mehr Aufmerksamkeit dafür gibt, was ich wann und wie sage. Auch das ist eine Parallele zum Theater – Kunst lebt ja von einer Steigerung der Aufmerksamkeit, aber es fehlt der Aspekt des Probehandelns. Das sozialmediale Spiel ist immer Ernst. Alle, die im Netz etwas veröffentlichen, müssen mehr und mehr aufpassen, was sie sagen, weil der digitale Raum sich durchpolitisiert hat. Das ist nicht unbedingt schlecht, weil es auch

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all denen, die vorher nie aufpassen mussten, was sie sagen, ein gehöriges Maß Sicherheit wegnimmt. Und zu denen gehöre ja auch ich. Nichtsdestotrotz verändert das etwas am Selbstgefühl oder dem Gefühl dafür, wie frei ich mich in einem Raum bewegen kann, den es bis vor kurzer Zeit noch überhaupt nicht gab und der auf dem Versprechen aufbaut, allen eine Stimme zu geben. „Sag was du willst, sei souverän.“ Aber: „Alle anderen werden über das Gesagte urteilen, also sei ständig auf der Hut.“ Und diese beiden neoliberalen Modi hauen sich ständig gegenseitig auf die Mütze, wie im Kasperletheater. TO: Als ein Gründungsversprechen der sozialen Medien empfinde ich – auch wenn das heute naiv wirkt –, dass sie keine Hierarchien haben, keinen Hegemon. Außer die Plattformbetreiber*innen selber, die darauf achten, was erlaubt ist, ohne Eingreifen des Staates, solange es seine Gesetze nicht verletzt. AV: Genau. Es gibt in den sozialen Netzwerken dafür zwei Imperative: Einerseits „Sei du selbst“, was wahnsinnig wichtig ist für jegliche Netzperformance von Authentizität. Und andererseits die Ansage: „Du kannst sein, wer du willst.“ Beides zusammen ergibt eine sehr seltsame Mischung, eine Art existenzielles Spiel mit Identität. Das gibt Aussagen oft eine identitär-performative Komponente oder macht diese vielleicht auch einfach nur sichtbarer. Man könnte anhand der 2010er Jahre eine Ethnografie der Bewusstwerdung von Identität als Macht- und Ohnmachtsfaktor und als potenzielles Waffensystem in

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Schauspieler einer Inszenierung von Maurice M ­ aeterlincks Der blaue Vogel, wahrscheinlich Deutsches Theater Berlin, 1912.

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den sozialen Medien schreiben. Und zwar keineswegs nur für die, denen „Identitätspolitik“ seit einiger Zeit als Pseudo-Vorwurf entgegengehalten wird, sondern vor allem für jene, die ganz praktisch begriffen haben, dass sie ihre identitären Privilegien in mediale power moves verwandeln können. Da es in sozialen Medien aber erst einmal kein Gelände gibt, durch das Fronten verlaufen könnten, sind alle ständig gleichzeitig in Offensive und Defensive, sobald sie in das Kriegsspiel einsteigen oder hineingezwungen werden. Vielleicht ist es das, was ich mit Belagerungs­ mentalität meinte.

truther schaffen Figuren TO: Vielleicht können wir kurz über die Präsentationshaltung des traditionellen Theaters sprechen. Diese beiden Imperative, von denen Sie sprechen, spielen auf der Bühne eine große Rolle, auch wenn das Material, mit dem im traditionellen Theater gearbeitet wird, nur in Ausnahmefällen dokumentarisch oder scheinbar authentisch ist. Seit dem späten 19. Jahrhundert gibt es einerseits die Bemühung, die Künstlichkeit des Theaters im Naturalismus zum Verschwinden zu bringen – was im Grunde der Gipfel der Künstlichkeit ist, weil man sie nicht mehr bemerkt; und kurz darauf beginnt die gegenteilige Bemühung, die Künstlichkeit des Theaters bei Edward Gordon Craig oder Maurice Maeterlinck in einem stark formalisierten Spiel besonders sichtbar zu machen, sodass sie ihre Werke am liebsten mit Marionetten aufgeführt hätten.

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Der Naturalismus produziert also eine Art psychologische Authentizität, während Craigs Theater formal authentisch ist. Aber immer gibt es das Stück; das Skript und die Schauspieler*innen werden mit den jeweiligen Rollen „besetzt“, wie man am Theater sagt. In der Welt der Netz-Communitys besetzen oder schaffen sich die Menschen ihre Rollen jedoch selbst, das ist ein wichtiger Unterschied. Sie haben in Ihrem Film untersucht, welche Rollenbilder sich in diesen digitalen Communitys herausbilden, beziehungsweise welche Rahmungen von Situationen zu Rollenbildern oder zu einem Rollenbewusstsein derer, die da agieren, führen. Und Sie weisen auf das Paradox hin, dass diese Rollenbilder von Individuen hervorgebracht werden, die sich im Staat nicht mehr repräsentiert fühlen und aus Protest eine eigene Repräsentationskultur entwickeln, also ihr eigenes Theater, durch das sich für sie die Welt wieder authentisch anfühlt. Im traditionellen Stadttheater ist die Bühne ein der Welt abgezweigter Raum, eine Welt in der Welt, die da drinnen unter sich bleibt, auch wenn sie an Vorgänge draußen denken lässt. Bei einem Spiel wie QAnon ist das anders – die Vorgänge „draußen“ sind alle Fake, die Wahrheit erfährt man nur drinnen, im Spiel. In This Is Not a Game leiten Sie QAnon von der LARP-Kultur her, also einem Liverollenspiel in der physischen Realität, bei dem Menschen in fiktive Situationen eintreten. Das passiert in der Regel nicht vor Publikum, sondern mit einem selbst und den anderen Mitspieler*innen, zum Beispiel als Reise in ein fiktives Mittelalter, in dem man sich als Spielfigur auslebt, halb improvisiert, halb instruiert. Irgendwann sei diese LARP-Kultur ins Netz gewandert, sagen Sie, und hat

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sich dort neue Welten erschaffen. QAnon wanderte aus sehr speziellen Foren schließlich ins Netz des Mainstreams und in die sozialen Medien und beruht immer darauf, dass „unsere“ Welt, also die Ereigniswelt der offiziellen Politik und Nachrichten, plötzlich als ein LARP-Szenario behandelt wird. In dieser fiktionalisierten Realität siedeln sich anonyme Akteur*innen an, die zu Figuren werden, die sich ihre Rollen selber zuschreiben, wenn sie innerhalb der QAnon-Community etwa behaupten: „Ich bin ein FBI-Mann im Weißen Haus und gebe euch Hintergrundinformationen.“ Innerhalb des Spiels wird diese anonyme Stimme zum „FBI-Insider“ und seine Aussagen werden von den Mitspieler*innen als Aussagen eines FBI-­Insiders behandelt. So werden diese Stimmen durch andere sogenannte truther, also Menschen, die glauben, eine geheime Wahrheit hinter den offiziellen Nachrichten der Politik und Medien zu kennen, beglaubigt und so wird die Figur zur Figur. Das QAnon-Theater braucht Feedback, weil seine Rollen und Plots nur durch das Feedback anderer truther entstehen. In der Commedia dell’arte erfindet niemand seine Rolle, sie wird innerhalb der eigenen Familie weitergegeben. Aber in dem Feedback-Theater, in dem Sie sich bewegen, sagt jeder selbst, dass er oder sie Il Capitano ist, hier gibt es nur anonyme Mitspieler*innen und kein Publikum im klassischen Sinne. Kann man sagen, dass die Vorgänge in Echtzeit entstehen durch das jeweilige Framing und jene Fragen, die der mysteriöse Q vorgibt?

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Es zählt nur das geschriebene Wort AV: Mehr oder weniger. Die Austauschkultur auf 4chan, Reddit und verwandten Plattformen ist tatsächlich sehr schnell, das passiert alles on the fly, mehr oder weniger in Echtzeit. Wobei man auch eine Grenze beachten muss, wenn man reale Phänomene oder soziale Aktionen als Spiel oder Theater betrachtet, insbesondere, wenn sie gravierende politische Folgen haben. Ich versuche, die Ähnlichkeiten festzustellen, aber natürlich ist ein Internetforum wie 4chan, auf dem anonym Texte und Bilder getauscht werden können, auch erst mal nur 4chan und nicht Avantgarde-Theater, obwohl man es sich so anschauen kann – als textbasiertes Theater, in dem sehr viele Rollen zur Verfügung stehen und man einen Echtzeitaustausch mit einem Publikum hat, das auch mitspielt. Es ist aus dieser Perspektive dann eine Art riesiges Lehrstück in der ursprünglichen Brecht’schen Bedeutung. Obwohl es nicht mal identifizierbare Körper gibt, sondern bloß deren Fiktion, und die Basis einer eigenen Kultur, die sich ständig weiterentwickelt, mit eigener Sprache und Referenzsystem. Ein solches Imageboard ist damit ein Inkubator für bestimmte Netzphänomene, trotz der Beschränkungen, die es hat. Was QAnon als Spiel angeht, sollte man die Rolle der Q-Figur deswegen aber auch nicht überbewerten. Sie ist nicht potente Regie, sondern eher Soufflage in einem Produktionszusammenhang, aus dem die Regiefunktion gestrichen oder dezentralisiert wurde und sich nach

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Marktprinzipien neu verteilt. Auf der Ebene der dramaturgischen Funktionen wäre dieses Spiel älteren Theaterformen wie der Commedia dell’arte sogar näher: Es gibt funktionale Typen wie der „Informant“, „Troll“, „Narr“, „Rechercheur“ – aber wer diese Funktionen gerade ausfüllt, ist variabel und führt zu unterschiedlichen Spielstilen. Mit der Zeit bilden sich vielleicht so etwas wie Rollen mit eigenen Machtpotenzialen heraus. TO: Welche Rollen sind Ihnen in diesen Foren oder Boards aufgefallen? AV: Ich habe in dem Stück Flammende Köpfe, das ich für das Theater Dortmund entwickelt habe, scherzhaft versucht, verschiedene YouTube-Videos, die ich über Jahre gesammelt habe, nach den klassischen Rollenfächern des Theaters einzuteilen. Da gab es dann etwa die komische Alte, den jugendlichen Liebhaber oder die jugendliche Naive, die gerettet werden muss. In meiner Lesart der Videos waren das Angebote an eine bürgerliche Gesellschaft, in diesen Rollen ein Ensemble von verschiedenen „Patriot*innen“ und Identifikationsangeboten entdecken zu können. Aber Rollenfächer in dieser Form gibt es auf 4chan nicht – man weiß ja nie genau, wer da gerade schreibt. Ist das ein Fünfzehnjähriger oder eine Sechzigjährige? Es zählt nur das geschriebene Wort, das macht die ganze Fiktion aus. In dieser Textfläche ist Q die zur Rolle erhobene Funktion des Informanten, die Community macht sich wahlweise über die Inhalte lustig oder überaffirmiert sie, die beflissenen Rechercheur*innen sind baker – Bäcker

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Set-Aufnahme von Ilya Khrzhanovskys Film-Zyklus DAU.

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des täglichen Brotes an Verschwörungserzählungen und dramatischer Spannung, das dann von Influencer*innen und ihren Gefolgschaften kollektiv verzehrt und verdaut wird. TO: Sie sehen mich ja jetzt in diesem Skype-Fenster vor einem Schwarz-Weiß-Foto, das nichts mit unserem Gespräch zu tun hat. Ich war zu faul, es auszuwechseln, aber irgendwie mag ich es auch. Es ist ein Foto von einem Projekt des russischen Künstlers Ilya Khrzhanovsky, das DAU hieß. Dieses Projekt kann man auch als ein gigantisches Spiel begreifen. An ihm haben sich hunderte Menschen über zwei Jahre in der Ukraine beteiligt. Vielleicht kann man es auch als ein Massen-LARP beschreiben. Khrzhanovsky und sein Team haben dort ein stadtviertelgroßes Filmset gebaut, in dem sie wirklich gelebt haben und zwar in einer Art Zeitreise, zurück in die stalinistische Sowjetunion. Das Filmset zeigte ein damals geheimes Institut in Moskau, in dem der einzige Nobelpreisträger der UdSSR tätig war, der Physiker und Erotomane Lew Landau, nach dessen Spitznamen „Dau“ der Film benannt wurde. Die Menschen in dieser Filmstadt waren keine Schauspieler*innen, sondern wirkliche Physiker*innen, Forscher*innen oder Techniker*innen und lebten zum Teil über Monate und Jahre miteinander, während sich das Set, ihre Kleidung, Sprache und ihre Verhältnisse fast unmerklich durch drei Jahrzehnte bewegten. Kinder wurden gezeugt, Ehen geschlossen und immer wieder war eine Kamera dabei, ganz offen, insgesamt hat man 700 Stunden Film gedreht. Einer der

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dort entstandenen Spielfilme, die eigentlich auch Lebensfilme sind, hat bei der Berlinale 2020 einen Silbernen Bären gewonnen. Das Foto in meinem Hintergrund war der Innenhof dieses Sets. In einem gewissen Sinne hat sich das Projekt Khrzanovskys, das eine Art StalinismusAnalyse schaffen wollte, auch „selbst“ geschrieben, indem die Menschen, die im Set und Kostüm lebten, sich frei entscheiden konnten, was sie tun und wie weit sie gehen – als dieser Charakter, der oder die sie in diesem Sowjet-LARP waren. Man könnte sagen, dass die Konstruktion dieses Sets, oder besser Settings, die Menschen wirklich in einen anderen Zustand versetzt hat. Wenn Sie an die Bewegung von QAnon aus der Netzkultur in die soziale Realität der körperlichen Welt denken oder wenn Sie den Querdenker*innen zuhören, haben Sie dann nicht auch das Gefühl, dass sie vergessen haben, dass dieser FBI-Mann im Internet eine fiktive Figur ist? Wie geschieht es, dass scheinbar Leute mitspielen, die irgendwann nicht mehr wissen, dass es ein Spiel ist?

Dunkle Dialektik AV: Es war nie nur als Spiel gemeint und auch nicht als künstlerisches Experiment. Deswegen hat es ja diesen Doppelcharakter von „Shall we play a game?“ – das ist ein Zitat aus War Games, einem Hollywoodfilm von 1983. In diesem sagt ein ahnungsloser Teenager: „Hey, lass uns Atomkrieg spielen“ – und dann geht’s fast schief, weil ein Computersystem im Spiel ist, das nicht zwischen

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Wirklichkeit und Simulation unterscheiden kann und erst lernen muss, dass manche Spiele am besten nicht gespielt werden. Der Film thematisiert damit bereits die zweite Tagline von Q und die Kehrseite des Doppelcharakters: „Hey, this is not a game, das ist Ernst, was wir hier machen, das ist kein Spiel“ – weil das Spiel ja mit Material aus der Wirklichkeit gespielt wird. Es bezieht sich auf die reale Politik und versucht, diese mit dem Ziel umzuerzählen, eine politische Mobilisierung oder in manchen Bereichen vielleicht auch eine Demobilisierung zu erreichen. Darüber kann man diskutieren. Insofern ist dieses Überschwappen von Spiel in Ernst von Anfang an angelegt, sowohl in dem Sinne, dass es kein abgeschotteter Bereich ist, in dem alles nur reine Fiktion ist, sondern in dem die Wirklichkeit selbst fiktionalisiert wird. Es ist auch in dem Sinne angelegt, dass das Spiel in genau dieser Fiktionalisierung von Wirklichkeit besteht. Dass dahinter ein politischer Impetus steht, der das auch möchte, und die „Figuren“ sich schließlich auch in der Wirklichkeit so verhalten wie im Spiel, ist die Kehrseite davon. Auf 4chan und in diesem textbasierten kollektiven game jam sind tatsächlich nur die Spielregeln und der Stil entworfen worden. TO: Welche Regeln sind das? AV: Die Mechanik von Andeutungen und Fragen, Recherche­ aufgaben und die Regeln des Narrativs: „Wir enthüllen hier ein großes Ereignis, das ist das größte Whistleblower*innenEvent aller Zeiten.“ Was ja gleichzeitig einen potenziell massiven Schaden für jedes reale Whistleblowing darstellt.

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TO: Weil so jede Enthüllung in einen Fake-Bereich gerät. Bei QAnon wird ja nur „Fake“ enthüllt. AV: Ja, genau, QAnon ist quasi die Fake-isierung von Wirklichkeit als ein politisches Projekt. Das ist vielleicht sogar das Wesentliche daran. In dem Moment, wo jemand in dieses Projekt eingetreten ist, entsteht ein Zweifel an allem. TO: Und nur die eigene Community, die sich um die „Wahrheit“ kümmert, weiß „Bescheid“. Man kann niemandem mehr vertrauen, außer Leuten, die den gleichen Virus tragen. Und gleichzeitig ist es elektrisierend. In Ihrem Film zeigen Sie die Mechanik, dass die Frageliste von Q der Code für ein Rätsel ist, das es aufzulösen gilt, um zur wirklichen Wirklichkeit durchzustoßen. Wenn ich diesen QAnon-Antworten von Leuten folge, die scheinbar ein Wissen haben, das Türen öffnet zu dem, was dahinter wirklich los ist, schüttle ich natürlich irgendwann den Kopf über die Leichtgläubigen, die ahnungslos die Tages­ schau schauen. Das ist schon ein ziemlicher Schritt. Für Buddhist*innen ist die Welt, die sie im Traum erleben, die wirkliche Welt, hingegen die Welt, die wir sehen, wenn wir die Augen öffnen, nur ein Traum. Tendenziell ist das bei QAnon ähnlich: Dass die Wirklichkeit per se der Traum ist und ich diesen Trug durchschauen muss, um wissend zu werden, ist strukturell auch die Basis des Spiels, das Sie beschreiben. AV: Das verbindet das Spiel mit der klassischen Spiritualität, weshalb QAnon auch so gut in Teilen der esoterischen

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Szene funktioniert. Ich träumte, ich sei ein Schmetterling, oder bin ich der Schmetterling, der träumt, er sei erwacht? Dieser Moment des Erwachens als Kollektivereignis ist nicht neu: „Das Volk erwacht“ gab es auch bei den Nazis, und die Spiritualisierung von Politik kommt jetzt zurück. Wir sehen das bei QAnon und finden es zum großen Teil vorreflektiert in Filmen, denn viele Filme, soweit sie Kunstcharakter haben, beschäftigen sich mit ihrem Medium und thematisieren damit, ob nicht die Realität auch ein Film sein könnte oder der Film die Realität – so wie diese Grenze auch im Theater bespielt wird, wenn die Spieler*innen aus der Rolle fallen. Deswegen ist Matrix so ein beliebter Film in diesen Szenen, weil er die Thematik des Erwachens mit der Erzählung über eine große Lüge verbindet, darüber, dass die Wirklichkeit selbst eine Lüge ist. Bei all dem spirituellen Gerede von „Licht“ ist es natürlich eine ziemlich dunkle Dialektik, wenn wir sagen, wir konstruieren eine alternative Wirklichkeit, um zu beweisen, dass die Realität falsch ist. TO: „Dunkle Dialektik“ ist eine gute Beschreibung. Mich erinnert das an die Matrix-Erfahrung des amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Dieser hat acht Jahre vor seinem Tod ein Gotteserlebnis gehabt, ein Paulus-­ Erlebnis, und die letzten Jahre seines Lebens ausschließlich mit dem Versuch verbracht, das, was ihm offenbart wurde, zu verstehen. Dieser Realitäts-Shift hat ihn über mehrere Tage aus dem normalen Zeitfluss ausgekoppelt und in die Zeit der Christenverfolgung vor über 2000 Jahren geführt. Philip K. Dick hat plötzlich einen Dialekt des Aramäischen

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Die erste Seite aus Robert Crumbs Comic Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick.

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verstanden und gesprochen und ihm ist eine lebensgefährliche Erkrankung seines Sohnes mitgeteilt worden, die zu einer Notoperation am Folgetag geführt hat, weil er sie dem Arzt mit medizinischen Ausdrücken präzise beschreiben konnte. Es ist alles in allem nicht so einfach, in dieser Epiphanie nur einen paranoiden Schub zu sehen, wovor er sich selbst am meisten gefürchtet hat. Dick hat sich während dieser Ereignisse also scheinbar wiederholt kurz auf der Ebene des Programmierers der Matrix befunden, zumindest würden die Wachowski-Schwestern das so beschreiben. Wir erleben ja gerade, wie verschiedene Formen von marginalisiertem Wissen – sei es das animistische Wissen der Indigenen, das unserer eigenen Vormoderne oder das von nichtwestlichen Kulturen – aufgewertet werden. Klimawandel, Artenschwund, aber auch unsere Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus oder der Pandemie haben ein neues Wende-Wissen produziert und eine tiefe Skepsis gegenüber der destruktiven „Normalität“ der Moderne. Vieles von diesen Zweifeln und Abkehrbedürfnissen okkupiert auch QAnon und sagt: „Du hast recht mit diesem Gefühl, hier stimmt wirklich was nicht. Die Mächtigen lügen.“ Diese Verbindung zwischen Spiritualität, QAnon und der extremen Rechten, wie Ihr Film sie zeigt, hat mich schockiert. Sie legen unter die Bilder der versuchten Erstürmung des Reichstags durch Hygiene-Demonstrant*innen einen authentischen Soundfile, der scheinbar direkt aus einem Yoga-Retreat kommt, geprägt von der professionellen Milde und Rhetorik heilsgewisser

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Lehrer*innen, die von Liebe sprechen und wahrer Empfindung. AV: Ja. Was dieser neuen Spiritualität fehlt, sind ein paar echte Mystiker*innen. Es fehlt die mystische Praxis. Es gibt jedoch einen riesigen Markt mit einer sehr flachen Spiritualität, die sich leichter politisieren lässt. Und spirituelle Politik ist wahnsinnig gefährlich. So viel es an dieser zu kritisieren gibt, ist es aber leider auch nicht so, dass hyperrationale Politik zwangsläufig besser wäre. Es muss nicht das eine gut und das andere schlecht sein. Die Kollektivierung von Ergriffenheitsgefühl oder Verbundenheitsgefühl hat meiner Meinung nach vor allem den Makel, dass sie sich nicht mit der Gewalt einer wirklich spirituellen Erfahrung verbindet, die ja nicht gewaltsam herbeigeführt werden kann. Das, was Philip K. Dick oder andere Leute beschreiben, die diese spirituelle Erfahrung tatsächlich gemacht haben, lässt deutlich werden, dass das in der Regel ein nicht besonders angenehmer Vorgang ist, sondern etwas, das einen massiv durcheinanderrüttelt. Die Beschreibungen, die ich häufig finde, sowohl aus der seichten Esoterikszene als auch von Teilen der rechten Szene, die das okkupiert hat, sind von ganz anderer Art und rein zerebral: „Das war der Moment, in dem ich aufgewacht bin und erkannt habe, dass Weiße unterdrückt werden“ und so weiter. Erweckung als ideologisches Abonnement. Solche Verwandlungsmomente haben ja überhaupt nicht die Erfahrungskomponente, von der Dick spricht, sondern sind eher vergleichbar mit NLP-Techniken. Diese sind eine

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Sammlung von Methoden und Kommunikationstechniken, die darauf zielen, psychische Abläufe im Menschen zu beeinflussen. Man formatiert sich anders, programmiert sich, erreicht damit eine Art Sinn und Zielgerichtetheit und kann auf dieser Basis dann unbeschwert agieren – was meiner Meinung nach nicht der Effekt ist, den eine wirklich spirituelle Erfahrung hat. In der Regel bewirkt die ja nicht unbedingt, dass man danach besser weiß, was man tun soll, sondern recht lange braucht, um mit der neuen Wirklichkeit zurechtzukommen. Ich glaube, dass bei QAnon oder spiritueller Politik im Grunde genommen nur die Erzählung von spiritueller Erfahrung verwertet wird, ohne die Erfahrung selbst gemacht zu haben. Und das funktioniert, weil dieser Moment, in dem es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt, offensichtlich enorm verlockend ist. TO: Ich glaube, die diabolische Dimension, aber auch die faszinierende, die Sie beschreiben, ist dieser Mix aus dem Angebot, seinen Empfindungen zu folgen, und zugleich plötzlich mehr zu wissen und so, wie es in dem Spiel heißt, aus dem Regime der zerstörerischen Eliten, die sich mit Kinderblut verjüngen, auszusteigen. Selbst wenn man irgendwo im Hinterkopf noch im Sinn hat, dass es ein Spiel ist, fühlt sich die Selbstermächtigung echt an. Und so schlüpft man durch das, was Sie in Ihrem Film als „Karnickellöcher“ beschreiben. Diese rabbit holes – kleine Merkwürdigkeiten, die scheinbar harmlose Details in den offiziellen Nachrichten zu Codes für ungeheuerliche Geheimaktionen machen – sind der Check-in für die Welt der Verschwörungserzählung. Es ist wie bei Alice im

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Wunderland – man soll dem weißen Kaninchen folgen. Irgendwas spricht einen da an, man sagt sich: „Das wäre ja interessant.“ Und schon schlittert man auf die andere Seite der Welt, in dieses Wahngebäude der QAnon-­Erzählung, wo man ständig in Trab gehalten wird durch neue Q-Posts, das heißt durch neue Indizien für die „Wahrheit“ einer Erzählung, an deren Beleg Tausende von Menschen basteln. Einige von ihnen werden wirklich Täter*innen, die das Kapitol angreifen, weil sie es für ein satanistisches Tempelmonument halten, oder planen Attentate und Entführungen, um die angeblichen Geheimpläne der Regierung zu durchkreuzen. Wenn wir das technisch betrachten – wie entsteht diese Narration? Es gibt scheinbar Menschen, die Regeln für dieses Spiel festgelegt haben, und es gibt den großen Unbekannten, diese ominöse Figur Q, die jene Fragen veröffentlicht, die das alles in Gang halten. Sie haben Q den puppetmaster genannt. Was ist das? AV: Der Begriff puppetmaster wird in der Alternate-­ Reality-Game-Szene benutzt, um die Spielleiter*innen zu kennzeichnen. Also diejenigen, die das Spiel entwerfen, steuern und das Feedback der Spieler*innen integrieren und so sicherstellen, dass alle eine gute Spielerfahrung haben. Es ist natürlich seit Langem auch der propagandistische Begriff für die Strippenzieher*innen in antisemitischen Verschwörungsideologien. Ich beziehe mich aber auf die erste Definition und in diesem Kontext hat der Begriff keine antisemitischen Untertöne. Trotzdem ist puppet­ master vielleicht nicht der ideale Begriff für das, was die Funktion in diesem Spiel ist.

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Community Drive TO: Es ist ein altmodisches Bild. In gewisser Hinsicht zu klar, weil man weiß, wer die Puppe und wer Meister*in ist. Bei den Spielen, von denen Sie sprechen, changieren die Realität und das Personal viel mehr, oder? AV: Ja, es ist ein altes Bild, das nicht ­hundertprozentig passt. In einem Alternate-Reality-Game sind die Spieler*innen ja gerade in hohem Maße keine Puppen, sondern müssen mit ihren je eigenen Bedürfnissen, Interessen und Lebenspraxen motiviert und bei der Stange gehalten werden. Natürlich muss es eine Person oder mit nicht geringerer Wahrscheinlichkeit mehrere Menschen geben, die diese motivierenden und handlungstreibenden Posts verfassen, diese Q-Posts, von denen Sie sprechen. In dem Video gehe ich auf die Frage noch etwas näher ein, ohne sie zu klären, weil ich bis jetzt nichts D ­ efinitives zur Identität der Verantwortlichen finden konnte. Es gibt Recherchen und Meinungen dazu, zum Beispiel, dass die Person, die jene Q-Posts sendet, mehrfach gewechselt habe. Gerade anfangs konnte ja jeder in dem gleichen Stil posten und zum LARP beitragen, weil alles anonym war. Es gibt Screenshots von Discord-Servern, also Chaträumen, in denen sich baker aus der 4chan-­Gemeinde darüber kurzgeschlossen haben, wie sie mit neuen Q-Drops umgehen, wie sie was publizieren und welche Auslegungen sie wählen. Möglicherweise stammen aus einem solchen Kreis auch die ersten Posts. Dann gab es 2017 einen Wechsel

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von 4chan auf 8chan, das heißt vom größten englischsprachigen Imageboard auf das kleinere und extremere. Danach wurden sogenannte tripcodes eingeführt, Identifika­ tionszahlenfolgen, die passwortgeschützt sind und sicherstellen sollen, dass es immer die gleiche Person ist, die als Q postet – die aber auch mehrfach gehackt wurden. Eine häufig vertretene Theorie lautet, dass seit dem Austritt einiger Leute aus dem Spiel die Betreiber*innen von 8chan entweder selbst dieses Posts verfassen – weil im Grunde genommen das gesamte Board nur noch für die Q-Posts existiert – oder zumindest wissen, wer Q ist. Bewiesen ist nichts und ich weiß auch nicht, ob man das jemals rausbekommen wird. Vielleicht nicht. Es ist auch nicht die wichtigste Frage bei diesem Spiel, denn es funktioniert ja mit der Ansage: „Q, gib uns die Brotkrumen“ – also die Hinweise und die Rätselaufgaben – „das tatsächliche Brot backen wir uns selbst daraus“. Das heißt, das Spiel ist community driven, wie man auf Englisch sagt – es ist die Gemeinschaft der Ratenden und Weiterverbreitenden, die im Wesentlichen dieses Spiel erzeugen, am Leben erhalten und ihm seine Dynamik geben. Und das führt zu der für mich interessantesten Frage im Hinblick auf diese fiktive Figur: Wie lange kann das weiterlaufen? Geht das Spiel weiter, selbst wenn die Figur mit ihren Botschaften aufhört? Kann es ein Evangelium von Q geben? Jesus war ja auch irgendwann tot und erst dann konnte es richtig losgehen. Könnte man zum Beispiel den Tod dieser Figur inszenieren, wie glaubwürdig auch immer, und hätte plötzlich eine Sammlung von Schriften, aus denen sich eine regelrechte fringe religion entwickelt? Oder geht das nicht, weil diese

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Pseudoreligion so an die momentane politische Realität gekoppelt ist, an das ständige Versprechen, dass Trump als Erlöser die Verhältnisse komplett ändert, dass in dem Moment, da er nun kein Präsident mehr ist, dieser Glaube seine Zugkraft verliert? Das ist, von außen betrachtet, im Moment vielleicht die spannendste Frage, was die Weiterentwicklung von QAnon angeht. TO: Ein bisschen ist das, als würde das Living Theatre ewig weiterspielen, weil sie Julian Becks theoretische Texte als Evangelien weiter heilig halten und die Revolution nie aufhört. Oder nehmen wir Brecht – der steckt weiter in allen möglichen zeitgenössischen Theaterarbeiten drin, von denen er sich gar nicht hätte vorstellen können, dass er sie mit seinem Kleinen Organon oder Verfremdungs- und Lehrstückideen inspiriert hat. Nur sind diese Vergleiche zugleich völlig schief. Wir wüssten zum Beispiel gar nicht, wer Brecht war. Aber vielleicht wissen wir das ja wirklich nicht. Ich glaube, jetzt hängen wir gerade. (Pause) Hören Sie mich? AV: Ich habe mal mein Bild ausgeschaltet, genau, wir hatten Tonprobleme und das Ganze hing. TO: Kann ich auch machen. AV: Vielleicht geht es jetzt besser so. Können Sie das Letzte noch mal wiederholen, bei mir ist fast nichts angekommen? TO: Die Frage ist, wie sich das Spiel eigentlich fortschreibt. Wodurch entsteht die Narration? Ein wenig an

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Informationen und Richtungen wird durch die Q-Posts vorgegeben, aber „das Brot backen wir“. Bei einem normalen Computerspiel würden wir das nicht machen, weil die Handlung feststeht. AV: Es gibt einen Artikel von einem Game Designer, Reed Berkowitz, der gesagt hat, der Unterschied von Q zu einem richtigen Spiel oder einem Alternate-Reality-Game sei, dass es keinen Plot gibt, aber einen plot device – die Figur Q, die ja nicht real ist, sondern nur dazu dient, die Handlung voranzutreiben. Diese Handlung ist aber nicht geschrieben, sondern nur eine Anweisung. Es gibt Versatzstücke von Dramaturgien, es gibt ständig suspense, es gibt die dauernde Ankündigung: „Jetzt geht’s gleich los, jetzt kommt’s.“ Es ist wie ein gigantischer, stundenlanger Trailer. TO: Eine endlose Aneinanderreihung von Cliffhangern. AV: Genau, es ist ein einziger, gigantischer Cliffhanger ohne Handlung, der auf die Weiterentwicklung der Realität angewiesen ist, denn de facto passiert all das, was versprochen wird, ja nicht – bis man es selber tut. TO: Ah, das ist vielleicht auch die gefährliche Dynamik in der Sache. AV: Ja, das macht die politische Komponente daran aus. Alle müssen irgendwann erkennen, dass diese Erzählung – zum Beispiel die von dem Erlöser Trump, der bald alles klären wird, während wir uns nur zurückzulehnen und

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„die Show zu genießen“ brauchen, wie es oft heißt –, dass all das nie eintritt und diese Show niemals kommt. Deshalb muss man sie irgendwann selber machen, siehe die Erstürmung des Washingtoner Kapitols nach Trumps Abwahl. Die Handlung, die vorangetrieben wird, ist entweder die Recherche, das Nachvollziehen, das Lösen der Rätsel und das Missionieren bis zu einem bestimmten Grad. Oder es bedeutet, irgendwann als selbsterfüllende Prophezeiung genau das zu tun, was einem die ganze Zeit versprochen wurde. Wenn mir die ganze Zeit versprochen wird, dass bald aufgeräumt wird, die und die Personen alle verhaftet werden und vor ein Militärgericht gestellt werden, aber es passiert nicht, dann gibt es irgendwann plötzlich genug Leute, die vorm Kapitol stehen. Und darunter sind einige, die mit Waffen ausgerüstet sind und ihre Handschellen selber mitgebracht haben oder sie vor Ort finden – weil sie nun mal gerne Leute verhaftet sehen wollen. Oder hingerichtet. Und plötzlich spielt sich dieser hundert Mal wiederholte Plot real ab. Don’t dream it, be it. Das ist die Gefahr. TO: Wenn ich an die Hygienedemonstration vorm Reichstag denke, dann habe ich nicht das Gefühl, dass diese Leute sich noch in einem Spiel bewegen. Diese zweite Wirklichkeit, diese durch die Q-Posts insinuierte Wirklichkeit wird von ihnen für die authentische Wirklichkeit gehalten. AV: Das ist typisch für Verschwörungserzählungen. Die Einzigen, die das als Spiel gesehen haben, waren vielleicht

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Szenen-Fotografie von Wladimir Majakowskis Stück Mysterium Buffo, inszeniert von Wsewolod E. Meyerhold, Erstes Theater der RSFSR Moskau, 1921.

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am Anfang die Leute auf 4chan – das war auch im Format deutlich. Aber seitdem QAnon 4chan verlassen hat, wird es kaum mehr als Spiel beschrieben, sondern als Realität. TO: Und so erzeugen diese Vorgänge irgendwann ihre eigenen Märtyrer*innen. AV: Ja, so entstehen auch irgendwie anrührende Szenen, wie die mit jener Frau, die nach der Kapitol-Erstürmung völlig konsterniert vor der Kamera sagte: „Sie haben mich mit Pfefferspray besprüht! Wir dachten, wir machen Revolution. Wir wollten ins Kapitol, das ist doch die Revolution hier – und ich hab Pfefferspray abgekriegt!“ Sie konnte das nicht fassen, weil sie dachte, das liefe alles ab wie der Film, der ihr die ganze Zeit versprochen wurde, oder dass es sich vielleicht wie in einem Musical abspielt. Les Miserables de Q. TO: Zu den gerne erzählten Legenden unseres traditio­ nellen Theaters in Europa gehört ja zum Beispiel auch die Revolution, die in Brüssel aus der Oper auf die Straße getragen wurde und zum Aufstand führte. Auch Brechts Idee der Mobilisierung des Proletariats durch seine Lehrstücke und Majakowskis Mysterium Buffo waren von der Inkubation des Lebens durch das Spiel beseelt. Genauso die Outdoor-Thingspiele der Nazis. Aber auch im eher traditionellen Guckkastentheaterbetrieb wird dieser Limbo zwischen der Bühne drinnen und der Welt draußen oft betont, ganz so, als könne das Theater einen Übergangs­ bereich schaffen, der drinnen und draußen verbindet.

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AV: Ja, das ist die große Sehnsucht des Theaters, dass man rauskommt. TO: Eigentlich verrückt, dass Kunst nie nur Kunst sein will. AV: Obwohl man fairerweise sagen muss, dass es Brecht ja nicht darum ging einzuüben, wie man Leute in eine Kalkgrube wirft, sondern das Problem zu verstehen. Von einer solchen Komplexität sind dann Spiele wie die von QAnon doch relativ weit entfernt. Da werden nach meiner Meinung tatsächlich Verschwörungserzählungen eingeübt, indem sie so oft wiederholt werden, dass sie die Form von Wirklichkeit in den Köpfen der Beteiligten annehmen.

Die Plattform- Kommunikation schafft ein Kollektivsubjekt TO: Es gibt einen diabolischen Aspekt an QAnon, der mich sehr fasziniert. Denn das Spiel, das unsere a­ lltägliche Welt mit einem alternativen Szenario verbindet, für dessen Wahrheit all die Mitspieler*innen pausenlos und auf der Höhe der aktuellen Nachrichtenlage neue Belege finden, verwandelt ja eine bis dahin unschuldig wirkende Realität in etwas Auszubeutendes, in eine Ressource, die das Spiel füttert. QAnon-Apps „hosten“ nun meine Beziehung zur Realität, zu Menschen, städtischen Räumen und so weiter. Wie jedes soziale Netzwerk kapitalisieren sie unsere sozialen Beziehungen. Und seit der Jahrtausend­wende beobachten wir dieses Vordringen der

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Verwertungszusammenhänge in unsere Privatsphäre an sehr vielen Stellen: Uber macht mein privates Auto zum Taxi, Airbnb das leere Kinderzimmer zum Gästeraum und bei QAnon fiktionalisiert sich nun mein privates Weltverhältnis entsprechend der Logik eines verschwörungstheoretischen Spiels. Das kann im klassischen Dispositiv von Theater eigentlich nicht passieren, oder? Erstens sehen wir im Theater als Kollektiv alle den gleichen Wahn. Aber er bleibt hinterm Portal. Aber was Sie in Ihrem Film über QAnon beschreiben, ist die größte Inbesitznahme von Lebenswelt, die Menschen sich je ausgedacht haben. Sieht man einmal von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts ab. AV: Ich verschlagworte diesen Prozess – und der begann schon deutlich vor QAnon – seit ein paar Jahren für mich als Privatisierung des Politischen. Man sah ihn auch an der Weise, wie sich im vergangenen Jahrzehnt ein YouTubeAktivismus herausgebildet hat, in dem sich Menschen in ihrem privaten Wohnzimmer oder Auto vor die Kamera setzen und als politische Subjekte inszenieren. Oder sich durch die neue Aufmerksamkeitsökonomie der digitalen Medien als solche überhaupt erst erfanden – „erwachten“. Wir leben also nicht mehr in einer Zeit, wo das Private auch politisch ist, sondern andersrum – das Politische wird zunehmend privat. Dies aber nicht in der alten bürgerlichen Bedeutung einer dem öffentlichen Geschäft entzogenen Sphäre, sondern im wirtschaftlichen Sinne eines Entziehens von staatlichem, also auch demokratisch reguliertem Einfluss. Gleichzeitig gibt es eine entgegengesetzte Bewegung, gerade in einem Kollektivsubjekt wie /pol/ oder

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4chan. Individualität spielt hier kaum eine Rolle, außer für diejenigen, die versuchen, damit wieder Geld zu machen. Aber für die meisten, die sich nur innerhalb dieser reinen Aufmerksamkeitsökonomie bewegen, ist das tatsächlich ein rein kollektiver, in seinem darwinistischen Konkurrenzcharakter fast naturhafter Vorgang. Da die Natur der Kommunikation auf Imageboards wie 4chan oder 8chan oder anderen so funktioniert, dass alle anonym sind, dass ich nur als Pseudonym auftrete, kann ich Erfolge nie auf mein individuelles Guthabenkonto schreiben, es ist immer Wir. Es ist immer das Wir, das es geschafft hat, und so wird das tatsächlich intern auch besprochen. Selbst in Slogans wie „We are the news now“, den man auch vorm Kapitol gehört hat, heißt es „We are“ – es ist immer ein Kollektivsubjekt, das da gesetzt wird. Das digitalisierte Volk. TO: Ist das das Ende der Figur? AV: Vielleicht eher das Ende des Individuums als das der Figur. Auf Krautchan oder später Kohlchan gibt es den Bernd. Da gibt es also eine Figur, die Bernd-Figur, aber alle heißen und sind dort dieser Bernd. Dieser Bernd hat dies gemacht, jener Bernd hat das gemacht. In den englischsprachigen Versionen ist es „Anonymous“, alle sind Anon – von diesen Imageboards kommt auch das Anonymous-Kollektiv. Das heißt, ich kann mir zwar privat auf die Schulter klopfen, wenn ich einen Witz gemacht habe oder mein Meme weiterverbreitet wird, aber niemanden interessiert eigentlich, wer ein Meme zuerst gemacht hat. Das ist Kollektiveigentum, das überhaupt erst dadurch zum Meme

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wird und zu wirken beginnt, weil es zirkuliert, kopiert und vervielfältigt wird.

Die Gefräßigkeit von Q Anon und seine Parteiähnlichkeit TO: Das erinnert mich an die frühen Bolschewiki oder das Pathos der Komsomolzen – da ist man Teil einer Avantgarde gewesen, leidenschaftlich, aber namenlos. AV: Vielleicht kann man QAnon als eine Persiflage auf die Partei verstehen. 4chan selber ist nicht mal Räte­ kommunismus, sondern dort herrscht eher Konkurrenz-­ Anarchie oder Diskordianismus, eine riesige Zelebration der Uneinigkeit. Und QAnon ist der Versuch, diese Uneinigkeit als eine Art politische Kraft zu nutzen und irgendwie zu dirigieren. Was zum Teil auch dazu geführt hat, dass es Streit gab und sie von 4chan runtergeschmissen wurden und zu 8chan gewechselt sind. TO: Die Weimarer Republik, dieses ganze Durcheinander, die Zwietracht zwischen den außerparlamentarischen Kampfbünden, Fürstenenteignung und konservativer Revolution, esoterischen Bewegungen und ­Lebensreform, Dada und Bauhaus – zwischen all dem entstand die NSDAP. Sie wurde medial durch den Verleger Alfred Hugenberg stark unterstützt, seit 1925 wurde Hitler in der NSDAP „Führer“ genannt. Mit der Weltwirtschaftskrise, Notstandsverordnungen, extremer Sparpolitik und

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Arbeitsdienst setzte sich die antisemitische und populistische Narration der NSDAP, begleitet vom Straßenterror der SA, immer stärker durch. Trumps demagogische Rhetorik und Geist des „America First“ ist weit entfernt von diesen Zuständen, aber sein Nationalradikalismus hat auch eine verbindende Wirkung. Und mit QAnon ist da plötzlich ein Spiel, das sagt, dass es kein Spiel ist, und das Trumps System der Verdächtigungen, Verleumdungen und Unterstellungen, mit dem er politische Gegner*innen überzogen hat, erstaunlich ähnlich ist. Durch den endlosen Thread von Qs Fragen, die die Demokratie anzweifeln, lässt dieser Thread ein systemstürzendes Narrativ durchblicken und redet es somit auch interaktiv herbei. AV: Ja, ich glaube, es gibt da eine Parallele zu dem, was ich die „Gefräßigkeit von QAnon“ nenne. Denn es wurden nicht nur diverse Verschwörungserzählungen, die schon im Schwange waren, aufgenommen und einverleibt, sondern auch verschwörungs-esoterische Bewegungen. Der Anschluss eines Teiles von ihnen an QAnon gelang zum Beispiel dadurch, dass man einen Kurzschluss mit der Thrive-Bewegung herbeigeführt hat, mit einer selbsternannten „Bewegung“ in Anführungszeichen, die aus dem gleichnamigen Film hervorging und so groß dann wiederum auch nicht war, aber den New-Age-Spiritualismus mit absurden Verschwörungserzählungen vermengt hat, um möglichst viele Menschen anzusprechen und so an Masse zu gewinnen. Das hat eine gewisse Partei­ähnlichkeit. Aber die Gefahr oder Sorge, die mich beschäftigt, ist, dass in diesem Fall erst die Farce kommt und dann die Tragödie.

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Bei QAnon glaube ich, dass es zu far out und zu lächerlich ist, als dass es von signifikanten Teilen der radikalen Rechten voll angenommen werden würde. Aber die Mechanik hat man jetzt ganz gut ausprobiert, und es kann sein, dass die nächste Version wesentlich erfolgreicher ist. TO: Sie sagen am Ende Ihres Films, dass die aktuellen Geschehnisse, die Angriffe auf das Kapitol, vielleicht das Finale eines Testlaufs waren, der mit der Entmachtung von Trump enden wird. Aber das muss ja nicht das Ende des Spiels auf einer höheren Ebene sein. Und Sie geben den Hinweis, dass man dies in Osteuropa zuvor alles schon ausprobiert hatte. Was meinen Sie damit? AV: Ich bin im Osteuropa-Stoff oder im russischen Stoff nicht so tief drin, aber es gibt ja diese Erzählungen über den Putin’schen Berater, dessen Name mir natürlich gerade nicht einfällt … TO: Ich höre die Tasten klappern. AV: … der aus dem Theater kam. TO: Ah ja. Wladislaw Surkow, kann das sein? AV: Genau. Diese Erzählung besteht jedenfalls darin, dass die Strategie der Putin’schen Herrschaft im Grunde darin besteht, ähnlich diskordisch zu sagen: „Wir unterstützen einfach alle. Wir fördern die Faschist*innen und wir fördern die Antifaschist*innen und die dazwischen, wir

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Der Berater Wladislaw Surkow und Wladimir Putin.

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fördern unsere eigene Opposition. Und dann erzählen wir allen, dass wir das tun. Und in dem Moment bricht alles außerhalb von unserem Zentrum komplett zusammen, weil niemand mehr weiß, wer überhaupt authentisch spricht.“ Das heißt, dass eigentlich alles, was passiert, ein gigantisches Theater ist und jedes Oppositionsangebot, das mir entgegenkommt, im Grunde nur gesteuert ist von der tatsächlichen Macht – was ironischerweise genau der Kern der meisten Verschwörungserzählungen über die Eliten ist. TO: Klingt nach einer perfiden Geheimdienststrategie. AV: Ja. Ich weiß nicht, wie viel von dieser Story stimmt. In Berichterstattungen habe ich öfter über sie gelesen, aber es ist einfach auch eine gute Geschichte, und wenn die Geschichten zu gut sind, kann man oft annehmen, dass die Wirklichkeit noch ein bisschen komplizierter ist. Aber mein Eindruck war, dass mit der Trump’schen Regierungszeit sehr viel von dem, was man russischer Desinformation und den russischen Trollfabriken zugeschrieben hat, noch mal in den USA durchgespielt wurde. Es ist ja auch klar, dass es nicht nur an einem Ort der Welt passiert, sondern wenn das ein probates Machtmittel ist, wird es auch andernorts probiert. Eine andere Erzählung, eher aus verschwörungsideologischen Kreisen und den truther-Communitys, also denjenigen, die überall die Wahrheit ausgraben – TO: – in Anführungsstrichen, Wahrheit ist ja ein seltsamer Begriff geworden.

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AV: Das stimmt, „Wahrheit“ in Anführungszeichen, so wie truther in Anführungszeichen auch eine Selbst­ bezeichnung ist. Nun ist diese Community aber gespalten, weil ein Teil der Meinung ist, dass QAnon eine Psy-Op ist, also eine gesteuerte Geheimdienstoperation gegen das amerikanische Volk, um politische Kräfte oder politischen Unwillen mit Blödsinn lahmzulegen. Und auch diese Geschichte hat etwas sehr Überzeugendes. Das ist die Kraft einer guten Story: Natürlich kann man Realist sein und vieles für Zufall und Emergenz halten, aber wie viel befriedigender ist es, Q als Geschichte darüber zu betrachten, dass hier Strategien der Desinformation und psychologischen Kriegsführung, die man sonst in anderen Ländern benutzt, um Feinde zu schwächen, nun einfach auch im eigenen Land angewandt werden, um den eigenen Machterhalt zu sichern, oder vielleicht auch einfach nur, um davon abzulenken, dass der Präsident eigentlich total unfähig ist und sich, seine Netzwerke und Familie die ganze Zeit bereichert? TO: Das ergäbe einen unglaublich tollen Film … AV: Nicht wahr? Auch Trumps Twitter-Account war ja ein gigantisches, absurdes Theater.

„„Natürliche Personen“ statt Figuren TO: Die Reichsbürger*innen, von denen wir vorhin sprachen, sind aber kein Spiel, oder?

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AV: Nein, aber von allem, was ich recherchiert habe, schienen sie mir die theatralischsten zu sein. TO: Sie folgen ja auch einer Verschwörungstheorie, die sie in der politischen und sozialen Realität unseres Landes offensichtlich reale „Inseln“ einer völlig anderen Welt bauen lässt. AV: Die Idee, dass die BRD eigentlich gar kein Staat ist, sondern das Deutsche Reich fortexistiert, kommt tatsächlich aus der harten nationalsozialistischen Szene. Das war der Versuch, nach der Gründung der BRD diesen Staat und sein Grundgesetz zu delegitimieren – noch vor der Zeit des Internets. Manfred Roeder oder Horst Mahler und das „Deutsche Kolleg“ in Würzburg, ein neonazistischer Think Tank, waren einige der Figuren und Player, die das mitentwickelt haben. TO: Ah, Horst Mahler war der Anwalt von Rainer Langhans und Fritz Teufel von der Kommune 1 und danach auch von der RAF. Ein Linksextremist, später HolocaustLeugner. AV: Ja, das waren stramme Nazi-Akademiker und irgendwie ist die Reichsbürger*innen-Ideologie von da ­diffundiert und hat seither seltsame, fast travestierende Formen angenommen. So haben Leute angefangen, sich als Reichskanzler auszurufen, sich fiktive Adler-Orden anzuhängen und zu sagen: „Ich gründe einen neuen Staat.“ Das Interessante an der Szene ist für mich, dass sie einen

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Karl Liebknecht spricht auf einer Kundgebung im Berliner Tiergarten während der Novemberrevolution 1918/19.

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wahnsinnigen Glauben an und Vertrauen in Sprechakte hat. Was Liebknecht oder Scheidemann konnten, das kann sich doch jeder herausnehmen. Vielleicht stelle ich mich auch einfach mal ans Fenster und rufe etwas aus. Aber der Glaube, dass das dann auch wirklich so ist und es nicht etwa noch eine Mehrheit von Menschen geben müsste, die das akzeptieren, und vielleicht noch ein paar Freikorps, die es durchsetzen – das ist halt das Spezielle an diesen Leuten. Deswegen findet man in der Szene der Reichsbürger*innen, zu der auch sogenannte „Selbstverwalter*innen“ gehören, unglaublich viele Akte der Ausrufung, der performativen Erklärung von Wirklichkeit, was als solches eine sehr theatrale Handlung ist. TO: Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass Schlingensief zu Teilen auch so funktioniert hat. AV: Ja. Ich glaube, dass es in der Kunst auch vor ­Schlingensief viele vergleichbare Aktionen gab, und das ist den Leuten, die so was in der rechten Szene machen, nicht unbedingt bewusst. Es gab in den 1990er Jahren auch diese Mode der Ausrufung von sogenannten „Mikronationen“ oder Staatsfiktionen, siehe Neue Slowenische Kunst. In solchen Fällen war es künstlerische Praxis, einen exterritorialen Staat zu proklamieren, und die existierten dann ja auch relativ lange. Was immer „existieren“ in diesem Zusammenhang bedeutet. TO: Einige gibt’s noch, in Litauen und die sogenannte Freistadt Christiania in Kopenhagen. Berühmt geworden

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ist der Freistaat Fiume, den der italienische Nationalist und Dichter Gabriele D’Annunzio Anfang der 1920er Jahre in der gleichnamigen Stadt gegründet hat. Sie gehört heute zu Kroatien. AV: In der Reichsbürger*innen-Szene kommt nun die Legende hinzu, dass es einen Unterschied – der ist den Aktiven in der Szene wirklich unglaublich wichtig – zwischen Menschen und Personen gibt. Die reden also nicht von Figuren, sondern von Personen und von Personalausweisen und so weiter, die bewiesen, dass wir nur das Personal des Staates wären und diesen Arbeitsvertrag kündigen könnten. Das heißt, durch das Gesetz werden wir nur als eine juristische Fiktion angesprochen, was innerhalb des Rechtsvokabulars auch völlig richtig ist. Aber die Reichsbürger*innen übertragen das auf die Wirklichkeit und sagen, dass sie zu diesem Staat, der sie die ganze Zeit als Fiktion adressiert, sagen können, dass sie diese Fiktion nicht mehr sein wollen, sondern jetzt sie selbst sind. „Ich bin jetzt Mensch. Und damit kündige ich den gesamten Vertrag, den ich mit dem Staat habe, und bin jetzt frei.“ TO: Wahnsinn. Das ist wieder so ein bizarres Stück. AV: Im Grunde auch eine Variante der Matrix-Story, nur dass die Fiktion rein sprachlich ist. In dieser Szene steht ständig ein Begriff von Künstlichkeit gegen einen der Echtheit. Und mit diesem konstruierten Widerspruch wird ein gigantisches Theater aufgeführt, weil die Leute – ich glaube, es hat ein bisschen abgenommen, aber vor ein paar

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Jahren war das ein großes Problem – jede Konfrontation mit der Staatsgewalt filmen und sich selber als die freien menschlichen Subjekte inszenieren, die mit Amtspersonen in Streit geraten, vor denen sie die unsinnigsten Forderungen erheben, sie völlig delegitimieren und versuchen, sie mit ihrer schrägen Logik in die Ecke zu treiben. Zugleich ist das für diese Szene auch wiederum wunderbares Unterhaltungsmaterial, das goutiert und gefeiert wird. Es gibt eine sehr schöne Aufzeichnung von einem Workshop, den Adrian Ursache gegeben hat. Adrian Ursache war einmal Mister Germany und ist dann Reichsbürger-Souveränist geworden. Hier wurde er wiederum berühmt dadurch, dass er vom SEK niedergeschossen wurde, nachdem er versucht hat, sein Haus, das gepfändet werden sollte, gemeinsam mit anderen Leuten zu besetzen. Als die Polizei kam, um ihn rauszuholen, und er mit einer Waffe rumgefuchtelt hat, hat er sich dafür ein paar Kugeln eingefangen. Von ihm gibt es also eine Aufzeichnung, die ihn bei der Durchführung eines Workshops zeigt, den er gegeben hat, nachdem er in der Reichsbürger*innen-Szene berühmt geworden ist, weil er genau mit dieser Art von Reichsbürger*innen-Theater zuvor vor seinem Gartenzaun einen Gerichtsvollzieher und ein paar Polizisten vermeintlich in die Flucht gejagt hat, indem er sie so lange zutextete, bis sie abzogen. Das war der große Beweis dafür, dass es geht – man muss nur genug magische Formeln wiederholen und dann geht die Polizei irgendwann einfach. In seinen Workshops hat er nun versucht, diese magischen Formeln auch anderen Leuten beizubringen. In einem dieser Workshops sagt er: „Schaut, es ist alles nur ein Spiel.

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Es ist wie im Werbespot von Manuel Neuer, der sagt: ,Wenn du willst, bin ich nicht mehr deine Freundin, dann bin ich Manuel Neuer‘“ – oder andersrum, das weiß ich jetzt auch nicht mehr. Und genauso könne er sich auch hinstellen und sagen: „Ich bin Angela Merkel und das ist jetzt so.“ Es kommt für ihn lediglich darauf an, Authentizität durchzuziehen: „Ich bin jetzt nur noch Mensch und frei und unabhängig.“ Daher könne jeder Mensch innerhalb des Umfelds von Ämtern und Staatsvertreter*innen immer entscheiden: „Spiele ich mit oder spiele ich nicht mit.“ Denn unsere Souveränität entstehe dadurch, dass wir Kontrolle darüber erlangen, ob wir spielen oder nicht spielen. Das heißt, ich bin jetzt keine „Person“ mehr und leg das einfach ab und bin nur noch ich, oder ich bin jetzt doch wieder Person – aber darüber entscheide einzig und allein ich. Und das ist eine sehr wirkungsvolle Handlungsweise.

Magische Formeln TO: Und diese Person, die ich dann vorgebe zu sein, bin natürlich auch nicht ich, sondern eine Rolle, die anzunehmen ich mich entschieden habe. AV: Ja, oder ich nehme eine an und sage: „Jaja, genau der bin ich“, und eine Sekunde später sage ich: „Ach nee, der bin ich doch nicht. Das ist nicht mein Name, mein Name ist ein ganz anderer.“ Das ist eine extreme Form von Theater – aus der Rolle fallen, in eine andere hinein, selbst Regie führen. Während gleichzeitig in dieser Szene – aber nicht

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nur dort – eine unglaubliche Abschätzigkeit gegenüber allen Theaterbegriffen vorherrscht, denn „Theater“, das ist die Politik, das Polit-Theater, die Politikdarsteller*innen, die gewählten Politiker*innen. Der Theaterbegriff wird die ganze Zeit benutzt, um die eigene Verachtung gegenüber der parlamentarischen Demokratie zu erklären und sich selbst als das authentische Volk zu reinszenieren. Und gleichzeitig spielt man, dass sich die Balken biegen, ohne das so zu benennen. TO: Wenn ich alte News & Stories-Sendungen von Alexander Kluge anschaue, in denen sich Helge Schneider eine Kapitänsmütze aufsetzt und einen U-Boot-Kommandanten spielt, der die Fragen von Alexander Kluge zum U-Boot-Krieg im Ersten Weltkrieg beantwortet, hat das natürlich auch etwas davon. Das ist ein vor allen Augen absurdes und trotzdem geistvoll oder befreiend wirkendes Theaterspiel, aber mit dem Unterschied, dass der Rest der Wirklichkeit nicht denunziert wird. Für die Reichsbürger*innen ist das eigentliche Theater hingegen der gesamte politische und administrative Alltag unseres Landes. Und Leute wie Adrian Ursache sind sich darüber im Klaren, dass ihr Reichsbürger*innen-Theater ein Trick ist, mit dem man die amtliche Öffentlichkeit verblüffen und sich Freiräume verschaffen kann. Das ist schon eine unglaubliche Reflexion von dem, was Leben an sich ist – eben ein viel größeres, unendliches Spiel. AV: Was die Reflexion begrenzt, ist jener Glaube, dass die eigenen magischen Formeln wirklich griffen und man

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Alexander Kluge und Helge Schneider in Kluges Sendung News & Stories.

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irgendwann gewänne. Man könnte quasi allen anderen diktieren, was die Wirklichkeit sein soll. Und das funktioniert eben nicht. TO: Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Leuten wie Helge Schneider und Adrian Ursache. AV: Aber die Einführung von derart magischen Praktiken ist die konkrete politische Strategie, die in dieser Szene entwickelt wurde. Sie wurde deren Beitrag zur politischen Praxis. Und sie beinhaltet, dass man in einer Diskussion mit anderen Leuten enorme Vorteile erzielen kann, wenn man einfach eine andere Realität behauptet, unsinnige Formulare verlangt und sagt: „Nein, aber da muss eine Unterschrift sein, das ist ja nur ein Stempel, dann ist das nicht gültig.“ Oder man sagt: „Nein, ich brauche einen Fingerabdruck mit blauer Tinte. Tut mir leid, so ist das nicht gültig, da kann ich Ihnen nicht helfen.“ Oder: „Nein, das ist nicht mein Name, der steht da nur.“ Mit solchen Manövern ist es ziemlich lange Zeit gelungen, Vertreter*innen der Exekutive komplett zu verwirren und zu entwaffnen, weil sie darauf angewiesen sind, dass die anderen nach ihren Regeln spielen. TO: Das delegitimiert die andere Seite vollkommen. Während Theater ja auch viel mit Legitimation zu tun hat: Ich bin auf der Bühne jetzt ein anderer und ihr im Saal gestattet mir das – diese Erlaubnis ist die Grundlage jeder Aufführung im Stadttheater.

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AV: Ja, genau. Aber an die Kraft dieser Delegitimierung über den Moment hinaus wird in dieser Szene geglaubt, das ist die Schwäche des Ganzen. Man hat den Staat ausgerufen und erklärt die Polizei jetzt für aufgelöst, aber dann kommt sie trotzdem und verhaftet einen, und man kann nichts dagegen machen. TO: Reichsbürger*innen funktionieren, bis es zur Probe aufs Exempel kommt. Oder die Wirklichkeit blutet irgendwann wirklich. AV: Es sind ja auch Leute gestorben. Oder – und das ist, glaube ich, letztlich die Idee und deswegen gibt es diese enorme Aktivität und Propaganda – man überschreitet irgendwann so etwas wie eine kritische Masse. In den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen waren viele Reichs­ bürger*innen vertreten. Es geht einfach darum, dass genug Leute die eigene Fiktion glauben. Und das verbindet sich sehr gut mit QAnon – wenn die Masse groß genug ist, dann ist der Staat einfach da und real, sobald er ausgerufen wird. TO: Das heißt, es wächst mitten in unserer Republik eine Theaterrepublik heran, die sich nicht mehr als Teil des offiziellen Landes begreift, sondern das offizielle Land als Theater begreift und gar nicht mehr ernst nimmt, also für nicht mehr legitim erklärt. AV: Ja, genau. Das Gute ist: Dadurch, dass in der Reichs­ bürger*innen-Szene alle selber gerne Führer*in sein wollen, entsteht ein neo-historisches Deutschland, ein

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Flickenteppich von lauter sich überlappenden kleinen Staaten – oder auch großen Staaten –, die sich gegenseitig ihr Territorium streitig machen, weil alle wollen, dass ihr Staat der richtige ist. Das vermindert die Gefahr, weil sich diverse Reichsbürger*innen und Reichsregierungen ständig untereinander bekämpfen. Aber was man daraus lernen kann, ist die reale Wirkung, die der Glaube an die Macht der Fiktion und von theatralen Akten haben kann. TO: Sie haben vorhin beschrieben, dass es QAnon gelungen ist, anschlussfähig für diverse Verschwörungstheorien zu werden, was das Spiel auf eine ganz andere Ebene gehoben hat. Wenn es diese Person gibt, die das Diverse, dieses Pluriversum unterschiedlicher Verschwörungstheoreme und Stimmen zusammenfasst wie dieser ominöse Q, und er zum Beispiel den Flickenteppich der Reichsbürger*innen in eine größere Narration integriert, kann es doch sehr gefährlich werden. AV: Ja. TO: Wenn all diese „natürlichen Personen“, „Selbstver­wal­ter*innen“ und Querdenker*innen auf Q’s Fragen reagieren würden und anfingen, ihre Recherche entsprechend diesem master script auszuführen, wäre das gefährlich. AV: Ja. Andererseits sind ganz normale Bürger*innen ja auch gefährlich, wenn sie die richtige Erzählung bekommen. TO: Zum Beispiel?

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Ä nderungen im Verhältnis zu unserer politischen Wirklichkeit AV: Naja, auch bei den Nazis bestand der Großteil der Basis ja nicht aus gefestigten Verschwörungsideolog*innen, sondern eben aus dem Volk. Ich glaube, wenn es erst mal den richtigen Rahmen gibt, liegt das Mobilisierungs­ potenzial noch ganz woanders. Aber es gibt zumindest aktuell sehr diverse Szenen politischer Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Graden von Organisation. Und die zusammenzufassen, verleiht ein großes Potenzial an Macht, das glaube ich schon. Und vielleicht ein größeres als das Potenzial, über den offiziellen demokratischen Weg zu gehen. Gerade in Deutschland, wo es eine Menge Schutzmechanismen dagegen gibt. In den USA hatte Trump es ja schon geschafft, relativ viele Mechanismen auszuhebeln, weil seine Partei so froh war, den Präsidenten zu stellen. Bis zu dem Punkt, an dem viele Leute in der eigenen Partei – zumindest sagen sie das selber so – erklärter­ maßen aufgewacht sind und spätestens aufgrund der Bilder vom erstürmten Kapitol sagen: „Meine Güte, es könnte sein, dass der das tatsächlich ernst meinte mit dem Putsch, und auch das, was er vorher gesagt hat, vielleicht meinte er das ja wirklich.“ Ich fürchte allerdings, dass dies kein nachhaltiger Lerneffekt sein wird. Es ist eine beunruhigend persistente Eigenschaft von vielen Menschen, dass sie Faschist*innen nicht glauben, was sie sagen. Sie denken: „Die meinen das nicht so.“ Das war in der Berichterstattung vor Hitlers Machtergreifung bereits genauso – exakt in

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der Form, in der man es wieder hören kann. Inklusive des Glaubens, es gäbe Momente, in denen Leute, die faschistische Versprechen machen, sich „entlarven“ und deswegen ihre Attraktivität verlieren würden. Auch eine Theater­ metapher. Es wird dabei vernachlässigt, dass Faschismus – je nachdem, wie die historische Situation ist – für sehr viele Menschen auch eine attraktive Option sein kann. TO: Wie schätzen Sie die medialen Fähigkeiten der Reichsbürger*innen ein? Ist das vergleichbar mit der Attraktivität von QAnon? AV: Es ist sehr viel diffuser und unorganisierter, aber es gibt eine eigene Sprache und es gibt auch gewisse Regeln und eine große Hartnäckigkeit, das eigene Paralleluniversum scheinbar größerer Selbstmächtigkeit nicht mehr zu verlassen. Und es gibt einen regen Transfer aus den USA in den deutschsprachigen Bereich, was den Souveränismus angeht. In den USA nennen sich die Leute, die sich auf das „Naturrecht“ berufen, sovereign citizens. TO: Schillers Don Carlos handelt eigentlich durchgehend von der Differenz zwischen dem, was man damals pathetisch als den Menschen entdeckte, der in jedem Katholiken, Protestanten, Bürger, Aristokraten, Niederländer oder Spanier gleichermaßen vorhanden ist, also in dem, was in der Reichsbürger*innen-Szene als Ebene der bloßen „Person“ abgelehnt wird. Schon seltsam, in welch travestierter Form das wiederkehrt. Für Schiller ist eine der großen Fragen ja die, wie man unter all den Höflingen und

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Rollenspieler*innen am Hof, in der Kirche und auf dem erotischen Parkett einen Menschen entdecken kann. Denn wenn man den Menschen in der Person zum Vorschein bringt, kann man zum Beispiel auch Frieden schließen zwischen Katholiken und Protestanten. Don Carlos’ Vater, König Philipp, fragt ihn spöttisch, ob er ihm denn wenigstens einen Menschen an seinem Hof zeigen könne. Für ihn gibt es da nur Höflinge im unguten Sinne. Der „Mensch“ ist bei Schiller unlösbar mit Pathos verbunden. Er entwickelt in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung sogar die Idee eines idealen Staates, der zur Befreiung des Menschen durch die Mittel der Kunst beitragen soll. Diese Idee des „Menschlichen“ war einmal sehr progressiv besetzt. AV: Ja. Es ist ein bisschen deprimierend, dass momentan die rechten oder reaktionären Kräfte so viel erfolgreicher damit sind, die Resterampe der Ideen zum Rohstoff ihrer politischen Bewegung zu machen. Es könnte ja auch die Linke sein, aber irgendwie kriegen die das gerade nicht so gut hin. Obwohl ich selbst diesem „Menschen“-­ Idealismus auch nicht viel abgewinnen kann. Mich hat es immer eher genervt, wenn das Theater sich überanstrengt, um diese Fiktion auf der Bühne zu dramatisieren. Aber lieber im Theater als vor dem Reichstag. TO: In Ihrem Film beschreiben Sie, wie QAnon von der Spiritualität bis zum Staatsstreich alles innerhalb eines verschwörungstheoretischen Widerstandsszenarios vereint, das sich gegen Aufklärung völlig abdichtet. Ich war schockiert von den Bildern der Erstürmung des Kapitols –

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nicht weil die Täter*innen so surreal anmuteten, sondern im Gegenteil: Da gab es diese Milizentypen, aber auch die Hipster und Leute, die aussehen wie Performancekünstler*innen. Es ist keine Loser-Szene, die da aufmarschiert. Ähnlich wie bei den deutschen Hygienedemos. AV: Das stimmt. TO: So viel Theater war nie. AV: Die Hygienedemos, also die tatsächlichen Hygienedemos von „Nicht ohne Uns“ und der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“, sind ja nicht zufällig zuerst vor der Volksbühne in Berlin aufmarschiert, sondern teils als Theatermachende einige Jahre vorher bei der Besetzung des Hauses mit dabei gewesen. Die sind also natürlich mit einem Theaterbewusstsein aufgetreten. TO: Bei den „Staub zu Glitzer“-Leuten kann ich mir das schwer vorstellen. AV: Die haben sich recht schnell von diesem kleinen Flügel distanziert, der bei den Hygienedemos beteiligt war. Nichtsdestotrotz – das ist jetzt ein bisschen despektierlich, aber ich war bei der Volksbühnenbesetzung 2017 vor Ort, als wir gerade an dem Reichsbürger*innen-Stück gearbeitet haben, und habe da ein bisschen mitgefilmt und mir das angeschaut und fand es frappierend, weil es so ähnlich war. TO: So ähnlich mit den Reichsbürger*innen?

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AV: Genau. Die Proklamationen, diese Kultur der Ausrufung und so eine seltsame Besetzung – auch im psychologischen Sinne – des Gebäudes und der Glaube daran, mit der Ausrufung von etwas anderem wäre jetzt schon die Wirklichkeit verändert. Und dann an der tatsächlichen politischen Realität zu scheitern und sich einwickeln zu lassen, um mit dieser Besetzung so kläglich zu enden – das hatte ein ähnliches Feeling. Andere Motive, andere politische Zusammensetzung, aber die Stimmung war ähnlich. Natürlich lange nicht so krass wie bei der Erstürmung des Kapitols. Dort hatte man bei manchen Leuten das Gefühl, dass sie komplett in einem ganz seltsamen Film sind und überhaupt nicht verstehen, was sie da gerade tun und was passiert. Aber es lag eine ähnliche Stimmung in der Luft. Und vielleicht vermittelt das zumindest eine Ahnung oder einen Geruch davon, dass sich in unserem Verhältnis zur politischen Wirklichkeit oder in der Art und Weise, wie wir in Aktion treten, gerade etwas ganz grundlegend verändert – unabhängig von politischen Ambitionen. Wobei ich glaube, dass die politische Rechte sich damit leichter tut, weil sie in den meisten Fällen ein instrumentelleres Verhältnis zur Wahrheit hat. TO: Naja, ich war bei dieser Besetzung der Volksbühne durch das Kunstkollektiv „Staub zu Glitzer“ auch eines Abends vor Ort, und mich hat das eher gerührt, muss ich sagen. Ich bin zufällig in eine Diskussion hineingeraten und habe bestimmt zehn, fünfzehn Jahre niemanden mehr so über Theater diskutieren hören, über die politische

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Rolle der Institutionen, über die Organisationsformen, all das. Dass so fundamental diskutiert wurde, hatte ich zuletzt 1989/90 erlebt, und das hat mir großen Eindruck gemacht. Das andere ist natürlich der Gestus der Ergreifung, diese Occupy-Geste. Dieser magische Vorgang hat schon funktio­niert. Auch weil ich mich persönlich privilegiert fühle und an vielem schuldig. Aber bin ich politisch nur wahrhaftig, wenn ich von Hartz IV lebe? Auch das ist eine Spielart des Konflikts von Mensch und Person. Ich finde gut, dass unsere Unterhaltung über Ihren Film This Is Not a Game am Theater endet, an der Volksbühne. Ja, vielleicht endet sie damit heute wirklich. Zumindest für den Moment. Lassen Sie uns das fortsetzen, ja? Ich fand das sehr anregend. Danke! AV: Das ging mir genauso. Vielen Dank!

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Zwei Gespräche über Es ist zu spät Arne Vogelgesang beschäftigt sich in vielen seiner Arbeiten mit der Marktlogik der sozialen Netzwerke und Plattformen. In seinem Projekt Es ist zu spät, das 2019 für das Monologfestival am Theaterdiscounter entstand und in dem er die Rolle eines Influencers annimmt, verbindet Vogelgesang das Interesse am Plattformkapitalismus mit den sozialen und ökologischen Krisen unserer Gegenwart. In einem rant-artigen Parforceritt konfrontiert Vogelgesang sich und das Publikum mit dem Artensterben, drohenden Kippunkten, Wasserknappheit, Flucht, Armut, Faschismus, Krieg und der Festung Europa, und verbindet diese Krisen mit einer Strukturkritik des Theaters, das ebenso wie Klima- und Sozialpolitik einen Reset benötigt. Die pandemiebedingte Digital-Variante des Stückes, die unter anderem beim Impulse Festival als Livestream gezeigt

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wurde, erzeugt durch die Nutzung des abgefilmten Originalstücks und eines erweiterten Online-­Reenactments des Originals einen Dialog zwischen verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen. Durch die Einbeziehung des Publikums mit einem Livechat und partizipativen Möglichkeiten der Einflussnahme ermöglicht diese Digital-­ Variante ein besonderes Element der Interaktion, das an die Struktur und den Charakter vieler Online-Games erinnert. Vogelgesangs theatrales Setting erschafft eine Welt, in der die Beziehung zur Ware erstarrt und durch Transaktionsgesten ständig neu hergestellt, bekräftigt und validiert werden muss. Selbst das authentischste Gefühl und die glaubwürdigste Betroffenheit können sich dieser Kommodifizierung nicht entziehen – bis zu einem Punkt, an dem Gefühl und Ware nicht mehr unterscheidbar sind und Emotionen vor allem in den monetarisierten FeedbackSchleifen der Beteiligten entstehen. Authentizität erweist sich in diesen Beziehungen als eine fragwürdige, medienbezogene und instabile Kategorie. Aufgrund technischer Probleme haben Arne Vogelgesang und Thomas Oberender ihr Lockdown-Gespräch über Es ist zu spät wenige Wochen später noch einmal wiederholt und der fehlerhaften Auf­nahme einen zweiten Durchgang hinzugefügt, der seinerseits keine einfache Wiederholung ist und dennoch vom gleichen Thema handelt – dem Entstehungs- und Bedeutungskontext von Vogelgesangs Klimakatastrophenstück und der Auseinandersetzung mit digitalen Formen von Theatralität und Politik.

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Erstes Gespräch TO: Ich freue mich, dass wir uns – Corona-bedingt vor der Kamera – wiedersehen. Ich habe das Gefühl, deine Kopfhörer werden immer größer. AV: Vielleicht wird mein Kopf nur immer kleiner. TO: Auf alle Fälle werden die Haare immer kürzer. AV: Sie sind in starken Hin-und-Her-Bewegungen, das ist richtig. TO: Es sieht so aus, als ob die letzte Aufführung von Es ist zu spät ca. zehn Tage her ist – falls du dir darin noch immer die Haare abschneidest. AV: Das müsste ungefähr stimmen. Ich habe im Moment ein bisschen Probleme mit der Zeit, aber ungefähr zehn Tage sollte hinkommen, ja. Seitdem wachsen sie wieder. TO: Bei den Reenactments deiner ersten Aufführung von Es ist zu spät, bei der du dir einen wirklich sehr langen Bart abgeschnitten hast, nimmst du dir einen künstlichen, ziemlich fest angeklebten Bart ab. Ja, ich würde tatsächlich gerne mit dir über deine Haare sprechen. Dass du sie abschneidest, ist eine Grenzüberschreitung, in vielfacher Hinsicht. Und sie schafft bei allen weiteren Aufführungen ein interessantes Problem – denn was ab ist, ist ab. Das

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schafft eine Realität. Genauso wie das Abnehmen eines Fake-Barts eine Realität schafft oder zeigt. Aber dahinter liegt ja ein Spiel mit der Zeit oder der Realität von Zeit. Du überblendest in den späteren Aufführungen ja verschiedene Zeitebenen – die der Uraufführung, die wir als Aufnahme erleben, und dann das Reenactment der Uraufführung in Echtzeit vor der Kamera mit etwas, das man eben nicht wirklich wieder herstellen kann – dem Bart. Wenn du sagst, dass du im Moment ein bisschen Probleme mit der Zeit hast und nicht weißt, in welcher Zeit du dich bewegst, dann ist das, bezogen auf deine Aufführung, ihr zentrales Thema – deine Unsicherheit, an welchem Punkt oder Ort der Zeit du dich gerade befindest. Ich würde dich gerne ein bisschen ausfragen über die Entstehungsgründe dieser sehr bewegenden Aufführung. Wie ist es dazu gekommen, diese Arbeit zum Thema Klimawandel zu entwickeln, und welche Recherchen sind ihr vorausgegangen? AV: Der Monolog ist als eine Art Konvergenz von zwei verschiedenen Entwicklungslinien entstanden, einer etwas längeren und einer etwas kürzeren. Mit den Kolleg*innen des Labels internil, mit denen ich in der Regel Theater mache, habe ich mit einer Förderung des Fonds Doppelpass gemeinsam mit dem Theaterdiscounter 2017/18 bereits eine Serie von Stücken erarbeitet. Die hieß Gog / Magog und beschäftigte sich mit Untergangsszenarien und Erzählungen über verschiedene „Krisenherde“. Der letzte Teil dieser Serie spielte in Europa. Wir haben das Geschehen in die Zukunft versetzt und das Publikum als Leute adressiert, die kurzfristig noch mal einen Körper haben, um

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sich an die Geschichte des untergegangenen Europas zu erinnern, weil das mit Körpern leichter geht. Alle saßen im Kreis in einer Art Gemeindegottesdienst auf Sitzkissen aus Fleisch um ein erloschenes Lagerfeuer herum und zwischen den einzelnen Erzählungen unserer Liturgie wurden verschiedene Riten praktiziert. Einer davon war das alte europäische Ritual des Handtuchwerfens. Dafür wurden an alle Papierhandtücher ausgegeben. Ich hatte einen größeren Stapel Notizen über die ökologische Katastrophe und habe gesagt: „Ich werde das jetzt hier verlesen und mache das so lange, bis alle ihr Handtuch geworfen haben. Jede Person im Publikum entscheidet, wann sie das Handtuch wirft, das heißt, alle sind auch dafür verantwortlich, wie lange das jetzt gehen wird.“ Bei den verschiedenen Aufführungen konnte man dann beobachten, wie unterschiedlich die Menschen damit umgegangen sind. Manche haben das Handtuch schon geworfen, bevor ich angefangen habe, und andere haben sehr, sehr lange festgehalten, einfach um zu sehen, wie lange sich das Spiel weitertreiben lässt. Als ein Jahr später das nächste Monologfestival im Theaterdiscounter anstand, hat die künstlerische Leitung uns gefragt, ob wir dafür nicht wieder etwas produzieren würden. Da das Thema dieses Monologfestivals „Alarmstufe Rot“ war, wurden wir gefragt, ob es nicht etwas sein könnte, das auf dem HandtuchRitual basiert und der frustrierenden Faktensammlung zum Klimawandel. Das ist das eine Kernstück unseres jetzigen Stückes.

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Das andere ist sehr persönlich. Ich dachte: „Gut, ich könnte mir überlegen, mit diesem Material noch mal etwas zu machen – aber was will ich eigentlich? Ich will mir auf jeden Fall diesen langen Bart abrasieren.“ Ich habe ja tatsächlich, so wie ich es in dem Stück erzähle, viele Jahre diesen Bart getragen und in verschiedene Stücke eingebaut, wie ein Kostüm. Und diesen Theaterbart, dachte ich, kann ich mir eigentlich auch nur auf einer Bühne wieder abnehmen. Ich musste also auf einen Moment warten, in dem ich diesen Bart in ein Stück einbauen kann, um ihn auf der Bühne loszuwerden. Beides kam in diesem Stück zusammen. Erst mal ging es also nur darum, ein Stück um diesen Moment des Bartabschneidens herum zu bauen. Das war der emotionale Kern der Performance, den ich versucht habe mit dem emotionalen Abgrund der Klimakatastrophe zu verbinden. Die schwierige Aufgabe, die sich daraus ergeben hat, war, dass dieser Bart ja nur einmal abgeschnitten werden kann. Wie machen wir das also bei den folgenden Aufführungen? Wie reenactet man einen Moment, der sehr theatralisch behauptet, eine einmalige Geste zu sein? TO: Bevor wir darauf zurückkommen, möchte ich dich gerne fragen, wie du den Theaterdiscounter, der für die Entstehung dieser Arbeit und auch früherer Arbeiten von internil ja nicht unwichtig war, beschreiben würdest? Was gibt es dort für Arbeitsbedingungen und welche Freiräume schafft dieser Ort?

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Auf der Schwelle zwischen Offline- und Onlinetheater AV: Der Theaterdiscounter ist eine freie Spielstätte – frei im Sinne von „freiem Theater“ –, die teilweise auch kleinere Arbeiten produziert oder koproduziert. Wir kennen uns lange. Der Theaterdiscounter hat 2013 das erste ­internilStück, das in Berlin entstanden ist – Neue Liebe –, eingeladen. All die Jahre, in denen wir mit dem Theaterdiscounter zusammengearbeitet haben, hatte ich immer eine große Freude daran, dass er keine klassische Theater­ architektur besitzt. Er ist ein ehemaliges Fernmeldeamt aus DDR-Zeiten, das sogenannte Fernmeldeamt Mitte. Er hat eine Büroarchitektur mit Betonsäulen, einen etwas hässlichen Linoleumboden und ist keine Blackbox. Ich hatte immer eine Zuneigung zu Orten, die nicht aussehen wie ein Standardtheater, weil man mit denen mehr spielen kann. Die normale Blackbox ist ja so gebaut, dass sie sich selber unsichtbar macht, was sicher manchmal gut ist. Aber im freien Theater haben wir in der Regel sowieso nicht das Geld, um große immersive Bühnenbilder zu bauen. Wir müssen nutzen, was da ist. Von den ersten Experimenten an hatte ich auch deswegen immer das Gefühl, dass es interessanter wäre, den Raum auch erzählerisch mitzunutzen und mit Publikumspositionen spielen zu können. Weg von der einen Spielrichtung. Das war immer die erste Verhandlung, die wir hatten, wenn wir Stücke entwickelt haben: „Kriegt man diese Zuschauertribüne

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raus? Wie kriegen wir das Publikum in eine andere Konfiguration?“ Das war für Es ist zu spät kein Thema, weil wir das für ein Festival produziert haben und dann klar ist, dass man keine riesigen Raumexperimente veranstaltet, weil die Taktung der einzelnen Festival-Beiträge eng ist. Ansonsten glaube ich, dass wir teilweise ein bisschen untypisch für das Programm des Theaterdiscounters sind, weil das Haus schwerpunktmäßig auf Literatur- und Sprechtheater setzt. Schließlich gibt es andere Häuser, die sehr viel performativer unterwegs sind. Gerade deswegen ist es schön, dass wir schon so lange kooperieren können. Es ist zu spät ist wahrscheinlich das sprechendste Sprechstück von allen, die wir dort gemacht haben. Ich spreche einfach die ganze Zeit durch. TO: Schaust du bei deinem Monolog auf einen Teleprompter? Er wirkt sehr situativ und es gibt ja auch die Reproduktionsebene, in der du die Premierenfassung des Stücks simultan reenactest. Wahrscheinlich ist es wichtig, um die Beschreibung des Settings zu komplettieren, zu erwähnen, dass die Zuschauer*innen das Stück als einen Livestream erleben und die Möglichkeit haben, online die Erzählebene zwischen der Ebene des Originals und des Reenactments zu wechseln und auch die Kamera­position. Später kann das Publikum auch entscheiden, ob die Infografiken im Hintergrund sichtbar bleiben oder nicht. Und zwischen diesen Ebenen navigieren du und das Publikum in Echtzeit. Insofern ist es schon eine sehr komplexe Form von Literarität für ein monologisches Stück, weil dieses Stück ja über

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weite Teile mit sich selber spricht. Wie hat sich das entwickelt? Wenn du sagst, du brauchtest einen Weg, um dir den Bart abzuschneiden, ist das sicher eine der herausfordernsten Arten, sich davon zu trennen. AV: Es wurde immer komplexer. Bis kurz vor der Premiere konnte ich über das Stück nur sagen: „Ich weiß nicht genau, was ich machen werde, aber ich werde mir auf jeden Fall den Bart abrasieren.“ Und der Rest musste drum herum gebastelt werden. Das Setting für die Erstaufführung war fast prophetisch: vor einem Live-Publikum – damals, als das noch ging – die Aufzeichnungssituation für ein Online-Video zu inszenieren. In ihr adressiert die Figur, die ich spiele – oder was immer das ist, als das ich auftrete –, immer nur die Kamera und spricht mit einem zukünftigen Publikum, nämlich demjenigen, dem dann später offenbart wird, dass dieses Video, das dort gerade erst aufgezeichnet wird, das erste Video für den zukünftigen Onlinekanal ist. Gleichzeitig ist es auch das letzte Video, das ein Theater­publikum jemals sieht, denn der Abend markiert genau den Übergang zwischen Offline- und Online-Theater. Diese erste Aufführung und Aufzeichnung habe ich tatsächlich mit einem Teleprompter gemacht. Ich hatte darauf die Notizen, bin durch sie durchgesurft und habe dabei natürlich eine Menge Fehler und Versprecher gemacht, die dann Teil der Aufführung wurden. Einen Teil habe ich für die Reenactments rausgeschnitten, aber ein großer Teil ist dringeblieben. Nach der Uraufführung war

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erst mal nicht klar, wie wir damit weitermachen würden. Zur zweiten Aufführung im Theaterdiscounter – einige Tage nach der ersten – haben die Kolleg*innen von internil meinen Part übernommen. Sie haben also mich nachgespielt, mit angeklebten Bärten und Kostümen aus früheren Produktionen. Das war für uns also auch ein Festival der eigenen Geschichte. Die darauffolgenden Aufführungen habe ich wieder selbst als meine eigene Kopie gespielt, auch weil ich so schnell spreche im Original, dass es eine Zumutung für jede andere Person ist, das ohne viel Vorarbeit und Probe zu reenacten. Und aus dem, was wir 2020 „Lockdown“ genannt haben, also den Bedingungen, unter denen plötzlich keine Live-Aufführungen mehr stattfinden konnten, ist die Livestream-Version entstanden, die es jetzt gibt. Die hybride Struktur, live in einem Theater für ein OnlinePublikum zu spielen, entstand beim Impulse-Festival 2020. Wegen der Pandemieentwicklung wurde relativ kurzfristig klar, dass es keine Aufführungen vor einem physisch anwesenden Publikum geben kann, und so stellte sich die Frage, welche Stücke überhaupt gezeigt werden können. So haben wir mit dem Team vom FFT in Düsseldorf innerhalb weniger Tage die Livestream-Version mit ihren Interaktionsmöglichkeiten entwickelt. Und das war sehr interessant, weil das Originalsetting ja lautete: Das gegenwärtige Publikum wird als ein in der Fiktion vergangenes nicht mehr direkt angesprochen und kann schon deswegen nicht interagieren, und das noch nicht anwesende zukünftige Publikum kann es als Fiktion natürlich auch

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nicht. Mit den Livestreams waren wir in einer seltsamen Zwischensituation: Das Publikum, das ich jetzt anspreche, fällt aus dem Dualismus dieser Fiktion, weil es vor dem Screen ja trotzdem noch ein Theaterpublikum ist und weil das Stück immer noch in Theaterkontexten gespielt wird und nicht einfach auf YouTube läuft. Den fiktiven YouTubeKanal, für den ich den Monolog produziert habe, gibt es ja nicht. Trotzdem sind die Leute online in einem L ­ ivestream und verhalten sich so, wie das fiktive zukünftige Publikum sich verhalten würde – sind aber eigentlich das alte. Das alte Publikum spielt sozusagen das zukünftige. Das finde ich sehr symptomatisch für die Situation, die wir gerade im Theater erleben, weil doch jetzt jedes Theater weniger versucht, online ein neues Publikum zu finden, als vor allem erst einmal das alte vor die Online-Bühne zu bekommen. Aber das hat ja auch Online-Erfahrungen jenseits des Theaters. Wie mischen sich die verschiedenen Sehgewohnheiten und Adressierungen dieser Welten und ihrer Konventionen?

Das Feedback von Darstellung TO: Es ist faszinierend, dass eure Inszenierung eine mediale Realität erzeugt, die ständig fragt, was real ist, indem sie mit der zeitlichen Realität selber spielt – ich als Betrachter*in entscheide, auf welcher Ebene ich das Stück gerade sehe, und erlebe zugleich, dass man aus dieser Stückmaschine nicht herauskommt. So wie man auch aus

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Szenen-Foto aus der Living-Theatre-Inszenierung Paradise Now.

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der Theatermaschine nicht herauskommt – was den Bruch oder die Fehler und Zufälle in diesem Loop sehr interessant macht. Wie eben auch die großen Klima-­Katastrophen in der echten Welt uns immer dringender die Frage stellen, ob wir dieses Mal aus unserem Trott herausfinden. Dieses ästhetische Flirren, das deine Aufführung prägt, entspricht dem moralischen Flirren, das dieses Thema gesellschaftlich umgibt. Einen Bruch im Betriebssystem der Kunst herzustellen oder zumindest zu thematisieren, ist im Theater ein sehr seltener Vorgang. In der Theater­geschichte gab es immer wieder Künstler*innen, deren Arbeit die Realität der Aufführung selber verändern wollte, die sozusagen das Format selber angegriffen und damit die Bedingungen der Begegnung mit Publikum experimentell verändert haben. Ich beschäftige mich im Moment mit der Geschichte des Living Theatre. Vor allem in den zwanzig Jahren ihres Exils, als sie jenseits der USA als eine Gruppe von Menschen durch die Welt gezogen sind, haben sie am Rand der westlichen Gesellschaft, aber vor allem auch in nicht-westlichen Kulturen, in Lateinamerika und Afrika, nach anderen Theater- und Lebenspraktiken gesucht, die irgendwie eine Tür für andere Formen der Kunst, aber vor allem der Gesellschaft aufstoßen. Sie haben am Rand gesucht, um der Mehrheitsgesellschaft neue Wege zu zeigen. Und das hat zu anderen Aufführungssystemen geführt, die nicht unbedingt textbasiert waren, die ritualhaften Charakter hatten, die zeremoniell waren, die ohne Skript funktionierten.

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Damals haben sie diesen wunderschönen Begriff des nonfictional actor hervorgebracht, also das Konzept eines Darstellers, der*die im klassischen Sinn keine literarische Figur ist, also keine fiktive Person verkörpert, sondern in einer fast paradoxen Weise sich selbst oder etwas Spielerisches verkörpert, das von ihm oder ihr nicht ablösbar ist. Dessen Realität ist die Fiktion. Daran habe ich gedacht, als ich Es ist zu spät gesehen habe. Du reenactest eine Figur, die du selber bist, die aber zugleich eine Rolle behauptet, aus der heraus sie den Betrieb des traditionellen Stadt­ theaters aus moralischen Gründen ablehnt. Weil das Theater als Medium und Institution Teil einer Untergangsdynamik der Gesellschaft ist, eine komplizenhafte Struktur, die mit Wiederholungen zu tun hat. Diesem Moment, etwas allabendlich zu wiederholen, entkommt das Stadttheater nicht – und die Abonnent*innen sagen: „Na, zum Glück!“ Aber gesamtgesellschaftlich ist es eben fatal, wenn alle immer so weitermachen. Happenings und Aktionen oder Interventionen sind strukturell etwas anderes, graduell auch Tino Sehgals „konstru­ ierte Situationen“, die er in Museen oder im öffentlichen Raum herstellt. Aber das klassische Stadttheater und genauso das freie Theater beruhen darauf, dass etwas, das man zuvor geprobt und einstudiert hat, von allen Erschütterungen der Welt unberührt immer so weiterspielt. Und diesem Wiederholungszwang entkommt ja auch deine eigene Aufführung nicht, obgleich sie den quasi paradoxen Versuch darstellt, einen Endpunkt zu inszenieren. Denn diese echte Rauschebart-Abnahme – das geht eben nur

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einmal. Und wenn du es wiederholst, wird es „Theater“ mit Anführungszeichen. Und sobald es Theater wird, rollt die Maschine und rollt und rollt – entschuldige, wenn ich dir hier über weite Teile dein eigenes Stück erzähle. Es ist zu spät, um auszusteigen, es geht weiter, der Titel deines Werks heißt ja dementsprechend auch: Es ist zu spät. Und das gilt eben leider auch für unsere Situation im Großen: Der Klimawandel läuft. Er läuft und läuft. Was bedeutet, etwas abstrakter betrachtet, der Vorgang der Wiederholung für das klassische Theater? AV: Hmmm … Meine Unizeit ist schon so lange her. Also ja, Theater ist immer Wiederholung von irgendetwas, auch in dem Sinne, dass Repräsentation selbst eine Art von veräußerter Erinnerung ist, eine Wiedervergegenwärtigung. Schon in dem Moment, da man anfängt, etwas zu proben, versucht man zu wiederholen, was man sich ausgedacht oder vorgestellt hat. Das Interessante daran ist meistens, zu sehen, wie es schiefgeht. Und das Verhältnis von Schiefgehen und Klappen tariert man dann in der Probenzeit aus. Wir haben mit internil sehr früh angefangen, in Bezug auf dokumentarisches Material genau mit diesem Tarieren zu arbeiten, das heißt, wir haben uns der Frage gewidmet, wie wir Medialität, jenseits von der unserer eigenen Körper, mit auf die Bühne bringen. Und da war Wiederholung – das Nachspielen von Mediendokumenten, ihr „Nachturnen“ im Sinne einer Übung, das Nachvollziehen von Bewegungen, das direkte Nachsprechen von Sätzen, die man hört – ein gutes Mittel, um das Dokument und

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seine Wiederholung gleichzeitig auf der Bühne präsent zu haben. Und eben die Differenz von beidem, den „Rest, der nicht aufgeht“. Ich bin beileibe kein Experte für klassisches Theater, aber ich denke, eine ganze Weile haben Theaterautor*innen versucht, die Differenzen zwischen Stoff und Form vorab zu klären, damit das mit der Wiederholung besser funktioniert. Während Theater unter modernen Bedingungen solche Differenzen als vielleicht sogar primäres darstellerisches Material begreift, weil sie ein modernes Weltverhältnis repräsentieren. Wenn sich nun aber die mediale Wirklichkeit fortwährend selbst dramatisiert, wie betreiben wir im Theater mit dieser Wirklichkeit nun Differenzproduktion, wenn wir nur Wiederholung gelernt haben und nur durch Wiederholung lernen können? Wir wollten dieses Wiederholungsprinzip, das ja auch ein Lernprinzip ist, als Frage mit auf die Bühne bringen. Für mich war es daher ein relativ natürlicher Vorgang, nach der ersten Vorstellung von Es ist zu spät – sozusagen nach dem Happening – zu sagen: „Ja gut, wenn wir das Stück nun noch mal spielen müssen, dann nehmen wir halt Kopfhörer und machen ein Reenactment.“ Denn genau das haben wir mit internil schon viele Jahre gemacht. Dieses Feedback von Darstellung verstehe ich auch nicht unbedingt als ein Problem, sondern eher als Grundcharakteristikum von derzeitiger Kulturproduktion. Ich glaube, der problematische Zusammenhang stellt sich erst dadurch her, dass es in diesem Stück mit der Erzählung über die ökologische Katastrophe, über Produktionsweisen und die

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Notwendigkeit – wie du sagst –, mit einem bestimmten gesellschaftlichen Wiederholungszwang aufzuhören, zusammenkommt. Und damit, dass wir nicht wissen, wie das geht. Wir können nur noch Iterationen von Fortschritt, aber sehen keinen Ausweg aus unserer eigenen Erfolgslogik. Auch ich im Theater nicht. Und darüber mache ich mich dann ja auch mit dieser Behauptung des Ausstiegs ein wenig lustig. Es gibt ja schon auf der dramaturgischen Ebene einen Widerspruch zwischen dem Maßstab der Klimakatastrophe als einer Art Hyperobjekt und dem vergleichsweise lächerlichen Abrasieren des eigenen Barts. Als wäre solch eine maximal subjektive Lösung irgendwie repräsentationsfähig. Und dann zu sagen: „Ich hab jetzt Schluss gemacht mit dem Theater“, um mit irgendeinem Online-YouTube-Kanal für ein anderes Publikum weiterzumachen – das ist ja auch keine Lösung für irgendeins der besprochenen Probleme. Ich behaupte das einfach nur in einem großen rant, der das Scheitern am eigenen Anspruch mit Selbstaffirmation zu übertönen versucht. All das bekräftigt eher das, was du vorher gesagt hast: dass man nicht aussteigen kann. Wir können aus der Welt nicht aussteigen. Aber wie dann mit einer Situation umgehen, in der man so deutlich spürt, dass man aus bestimmten Modi, die sowohl den eigenen Alltag als auch den aller anderen und eben auch der Kunst strukturieren, dringend rausmuss?

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Set-Bild aus Event for a Stage von Tacita Dean, 16 mm Farbfilm, Video mit Sound, 50 Minuten, 2015.

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Theater und Melancholie TO: Deine Inszenierung hat mich ein wenig melancholisch gemacht. Melancholie als Zustand der tatenlosen Betrachtung des sich vollziehenden Unglücks – so hat das W. G. Sebald einmal genannt. Theater gilt ja als eine besonders dramatische Angelegenheit, aber eigentlich ist es melancholisch. Es ist geradezu erfunden worden, um das Leben melancholisch zu betrachten – all die Katastrophen nur zu betrachten und nicht einzugreifen. Dein wunderbarer Satz von eben, dass wir aus der Welt nicht aussteigen können, wird ja in deinem Stück sehr raffiniert inszeniert. Und zwar als Überblendung von zwei Welten: der des Originals und der des Reenactments der originalen Aufführung. Und dieses Reenactment ist eine Realität, die ihre Singularität dadurch erzielt, dass wir ständig vergleichen, wo diese beiden Zeitschienen synchron laufen oder differieren. Wir können in einer Aufführung von Es ist zu spät etwas machen, was man im Theater nie machen kann: Nämlich die Aufführung vom letzten Abend des gleichen Stückes mit der heutigen parallel zu sehen. Es gibt übrigens einen großartigen Film von Tacita Dean, der heißt Event for a Stage. Und schon im Titel hat das, zumindest im Englischen, eine gewisse Mehrdeutigkeit. Ein Event ist eine Veranstaltung, aber dem Wort liegt auch der Sinn von etwas Einmaligem bei, was für ein Theaterstück stimmt und auch nicht stimmt, denn anders als ein Film wiederholt es sich auf der Bühne ja nicht vollkommen

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identisch. Und das zeigt Tacita Dean, indem sie einen Monolog, den sie 2015 für den Schauspieler Stephen Dillane geschrieben hat, von diesem viermal spielen lässt. Dabei wurde er von zwei Kameras aufgenommen, die zeigen, wie er an jedem dieser Abende von ihr, die in der ersten Reihe des Publikums sitzt, mit dem Text gefüttert wird. Die Regisseurin reicht den Text also Seite für Seite dem Schauspieler zu, der ihr die Seiten aus der Hand reißt und die von ihr geschriebenen Sätze vorträgt, als gäbe es die sie ihm zureichende Künstlerin nicht. Dillane trägt bei den vier Versionen unterschiedliche Varianten seiner Maske und seines Kostüms. In der Montage der Aufnahmen entsteht dann einerseits ein Flow innerhalb der Performance, aber es entstehen in ihm zugleich eben auch zeitliche Brüche, etwa durch unterschiedlichen Kostüme und Attitüden des Darstellers oder die Einbrüche der Theaterrealität, wenn ihm zum Beispiel die Seiten zugereicht werden – all das erzeugt eine Wahrheit im Film, die eben nicht nur durch eine einfache Repräsentation entsteht. Sie entsteht durch das Medium, das sich selber sichtbar macht und reflektiert. Ich glaube, Stephen Dillane hat es gehasst, dass seine Arbeit der Repräsentation so gebrochen wird, wenn er sich vor den Augen des Publikums immer wieder die Textseiten aus den Händen der Autorin schnappen muss. Aber vielleicht hat er auch das einfach nur gut gespielt. Deine Frage, „Wie soll man aussteigen aus dieser Welt?“, ist ja in deinem eigenen Stück auch deshalb so schwierig

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zu beantworten, weil wir die Realität von mindestens zwei Welten erleben. Wir erleben das Reenactment und das Original. Also es gibt die Realität eines a­ ufgezeichneten Monologs, den ein zukünftiger Influencer für seinen zukünftigen Videokanal hergestellt hat, und dann wird die Aufzeichnung nachgespielt.

Das Reale ist der Kampf mit dem Medium Und dabei machst du etwas, das sonst im Theater nicht wirklich möglich ist, denn du drückst ab und zu auf die Pausentaste und sagst: „Ok, hier habe ich was rausgeschnitten aus der originalen Aufzeichnung, das kann ich euch aber erzählen“, und dann synchronisierst du wieder oder thematisierst die Fiktionalität deiner eigenen Situation, weil du ja technikbedingt leicht zeitversetzt agierst, was die Betrachtenden nicht automatisch wissen können. In die Aufführung ist also ihr eigenes Making-of bereits integriert. Die „Welt“, der ich in der Aufführung begegne, ist eigentlich nur noch die Darstellung von Welt, mit der in der Aufführung gespielt wird. Das einzig Reale, das es hier gibt, ist diese Komplikation – dein Kampf mit dem Medium, der Mehrzeitigkeit, der Komplexität. So ist die Welt. Das ist die Welt. Vielleicht, um auf den Punkt von Wiederholung zurückzukehren, könntest du noch mal dieses Moment der Konvergenz beschreiben, das zwischen der Tragik der Klimaentwicklung und der Fatalität von Theaterstrukturen besteht. Du nennst das in deinem Stück

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die „Maschinen“, die einfach immer weiterarbeiten müssen. Wie hast du diese Ähnlichkeiten entdeckt? AV: Es ist wahrscheinlich entzaubernd, wenn ich an dieser Stelle sagen muss, dass ich bei diesem Festival, in so einem Stück einfach unbedingt einen rant über das Theater unterbringen wollte. Ich musste diese Parallelen erfinden, um besser aufs Theater schimpfen zu können. Das ist vielleicht ein bisschen enttäuschend. TO: Nein, gar nicht. Was wolltest du unterbringen? Ich habe das akustisch nicht verstanden. AV: Ich wollte einen rant, ich wollte mich lautstark aufregen, ich wollte „die Zerstörung des Theaters“, um es in den Worten von Rezo zu sagen. Das sollte auch Teil des Stücks sein, weil es zur YouTube-Welt dazugehört, dass man die alten Medien kaputt macht. TO: Das ist die Position des Influencers, der das alte Medium angreift. AV: Genau, ich bin jetzt im neuen Medium und deswegen schimpfe ich auf das alte Medium, weil ich ja in einem Konkurrenzverhältnis zu ihm stehe. Im Stück fungiert das neue Medium für die Figur als Legitimierung der eigenen Karriereentscheidung. Man muss ja begründen können, am besten moralisch, warum man aus dem Alten rausgeht und warum das Neue viel besser ist. Das sind die Stellen, wo es in dem Stück am absurdesten wird, zum Beispiel

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wenn es zu einer Ansprache ans Publikum kommt und die halbfiktive Figur den halbfiktiven Online-Follower*innen erklärt: „Mit uns ist das hier total anders und viel glaubwürdiger“ – und die Zuhörenden merken, dass da etwas hinten und vorne nicht stimmt. TO: Kannst du auf diesen Punkt etwas genauer eingehen? Ich meine dieses ex tempore des Influencers über die Verlogenheit der alten Welt des Theaters und warum seine Performance auf YouTube viel glaubwürdiger ist. Das thematisiert ja auch sehr diabolisch die moralische Dimension des Plattform-Kapitalismus. Denn das Echtheitsversprechen, das der YouTube-Influencer, die Figur, die du in dem Moment bist, gibt, hat viel mit der sozialen Situation zu tun, wie sie durch die digitale Welt geprägt wird – es geht weniger um Loyalitäten zu einer Sache als um Reichweiten, das Produkt ist man selbst und so weiter. Warum sagt diese Figur, sie sei für ihr Publikum wahrhaftiger als die alten Schauspieler*innen auf der Theaterbühne? AV: Ihr Argument ist im Wesentlichen die direkte monetäre Beziehung zum Publikum. TO: Aber das Publikum im Stadttheater bezahlt auch für sein Ticket. AV: Mich als einzelnen Performer aber allenfalls vermittelt über die Institution. Online ist es so, dass die Leute direkt bezahlen, wenn ihnen etwas gefällt, und es nicht tun, wenn es ihnen nicht gefällt. Es gibt da keinen vermittelnden

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Puffer, nur Infrastruktur und Marktgeschehen. Wahrhaftiger aber wird das dadurch, dass die Bezahlenden auch Forderungen stellen, dass sie auch Anerkennung und einen direkten Gegenwert haben wollen, und es für den Influencer daher einen ständigen Austauschprozess mit den eigenen Follower*innen geben muss, damit das Geschäft läuft. Deswegen schafft sein Verhalten, in der Logik des Influencers, online eine substanziell viel ­ehrlichere und gehaltvollere und tragfähigere Beziehung als im traditionellen Theater. Sie ist nicht institutionalisiert, sondern kommunifiziert – nur über mediale Flüsse von Geld, Sprache oder Memes vermittelt. TO: Und die Figur erweitert das noch um den Punkt, dass das Theater eine Art von Fake-Situation herstellt, weil ich auf der vom Staat bezahlten Theaterbühne ja Theater gegen den Staat spiele, für das der Staat bezahlt – und das kann nicht wahrhaftig sein. Selbst wenn ich noch so progressive Aussagen machen, im Grunde ist das alles gekauft und entschärft durch die vom Staat freigehaltene Institution. Was immer das Stadttheater tut, kann ihm nicht gefährlich werden. AV: Und dann geschieht das noch in Formen, die niemand versteht.

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Die Performance von Ehrlichkeit TO: Genau. Das ist auch ein beliebter Vorwurf. Und oft wahr. Deine Figur moniert daran vor allem, dass diese Theaterformen gar nicht von heute sind, sondern von irgendwann und irgendwoher kommen und mit uns jetzt hier, in dieser Situation, nichts mehr zu tun haben. Das, was deine Figur sagt, hat ja ein Moment von Theaterstürmerei. Aber es ist auch auf eine finstere Weise hellsichtig. In ein paar Jahren wird die Influencer-Figur an dieser Stelle wahrscheinlich das Publikum auffordern, Token an dieser Aufführung zu erwerben. Kannst du die neue Ehrlichkeit des Influencers, die sich hier als die Ehrlichkeit einer Geschäftsbeziehung entpuppt, in ihrem kapitalistischen Zusammenhang beschreiben? AV: Uuuuuh, also ich wünschte, ich könnte das. TO: In deinem Stück tust du es ja. AV: Mich beschäftigt das in letzter Zeit schon, aber tatsächlich habe ich nicht das Gefühl, dass ich es wirklich könnte oder dass ich es im Stück auch nur ansatzweise tun würde. Es gibt ein anregendes Buch von Joseph Vogl, das kürzlich erschienen ist und in dem er die Plattform­ ökonomien mitbehandelt. Er beschreibt darin die Entwicklungsgeschichte des World Wide Webs, wie es aus den Anforderungen der Finanzökonomie entstanden ist. Das hat mir ein bisschen Aufschluss darüber gegeben, über

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welche Geschichte und Verfahrensweisen sich das, was wir heute Aufmerksamkeitsökonomie nennen, eigentlich aufgebaut hat und warum es so plausibel ist, dass neue Formen der Kulturproduktion und -distribution – beides konvergiert ja immer öfter – sich mit Micropayments, bezahlten Likes oder NFTs [Non-Fungible Token = geschützte Digital-Güter] verbinden. Einer der extremeren Vorschläge in dieser Richtung kam vergangenes Jahr von der Gründerin einer neuen „sozialen“ Plattform, die Abstimmungen zu ihrem Kernfeature macht. Benutzer*innen können dort persönliche Entscheidungen zur Wahl stellen und ihre Follower*innen mit erworbenen Stimmrechten darüber bestimmen lassen, wie sie ihre Freizeit gestalten, was sie essen oder ob sie zum Beispiel romantische Beziehungen beginnen oder beenden. Teilhabe am Leben anderer und die Interaktion mit ihnen ist die Ware, an deren Vermittlung solche Marktplätze verdienen zu können glauben. Wie auch immer sich solche auf Grundlage von Marktmechanismen neu designten Beziehungen für die ­Beteiligten anfühlen mögen – eine derart ins Visier genommene komplette Extraktion von Wert aus dem Sozialen kann nur plausibel werden und funktionieren, wenn sie von einer neuen kulturellen Ökonomie flankiert wird. Deren Geschäftsgrundlage aber ist Authentizität. Auf irgendeiner Ebene muss ja die Beglaubigung der Beziehungs-­Transaktion stattfinden und diese hat eine eigene Logik: Ich bezahle Geld für meine Beziehung und will mich von den

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Interaktionsangeboten auch angesprochen fühlen. Deswegen ist es schon jetzt in Livestreams so wichtig, dass die Leute immer wieder die Namen derer nennen, die im Chat schreiben, und auf ihre Einwürfe antworten, denn diese Teilhabe an der kulturellen Produktion ist eben die Ware, zumindest zu einem großen Teil. Dafür braucht es diese Performance von Ehrlichkeit, ansonsten würde das nicht funktionieren. Das zumindest ist mein Verdacht. Weil das Bedürfnis, gesehen zu werden, eines ist, was sich extrem schwer ablösen lässt von der Tatsache, dass man nicht nur von einer Kamera, sondern von anderen Menschen, von bestimmten anderen Menschen gesehen werden möchte. Überwacht werden wollen wir nicht, aber von möglichst vielen Leuten gesehen werden – das schon. TO: Es ist spannend und in diesem Zusammenhang, von dem du gerade sprichst, auch logisch zu beobachten, wie das Publikum in dieser Inszenierung mitinszenieren darf. Du hast ihm dafür in der Online-Präsentation einen Spielraum eröffnet, den es so in keiner anderen Theaterform hat. Es kann zum Beispiel die Kameraperspektiven zwischen der Betrachtung des Originals oder der des Reenactments wechseln, oder es gibt einen Saaljoker, mit dem man eine Drohne aktivieren kann, die spezielle Bilder von der Situation erschafft. All diese Anweisungen bilden wiederum ein eigenes Skript, das parallel zum Skript der Aufführung mitläuft, als Kommentar auf der Chat-Ebene, aber auch als Regieanweisung aus dem Saal, also aus den vielen Zimmern, in denen die Betrachter*innen sitzen. Auch das ist ja eine ungewöhnliche Situation –

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die Zuschauer*innen inszenieren die Aufführung mit und da sie das mit der Tastatur machen, könnte man sagen, sie schreiben sie mit. Im traditionellen Theater sehe ich ständig, was im Regiebuch steht, weil es eben Raum und Handlung geworden ist, ohne dass ich den Text im Regiebuch sehe. Bei dir kann ich ein wenig ins Regiebuch schauen und sogar etwas reinschreiben. Im traditionellen Theater ist das Skript fertig, bei dir auch, aber mit kleinen Fenstern. Wo das Theaterportal sonst eine hermetische Welt zeigt, öffnest du ein Fenster zwischen dem Performancegeschehen und der Rezipient*innen-Seite, die dann keine reine Rezipient*innen-Seite mehr ist.

Das Publikum als Figur An einer Stelle des Stückes sagst du, dass das Publikum selber zu einer Figur wird. Was bedeutet es, dass das Publikum eine Figur ist? Eine Figur im klassischen Sinne empfinde ich als etwas, das im wörtlichen Sinne vorgeschrieben ist – vorgeschrieben als eine Gestalt aus Text, und diese Gestalt kann durch andere verkörpert und interpretiert werden. Aber wie kann das Publikum eine Figur sein? AV: Ich schreibe ja in meinem Stück dem fiktiven zukünftigen Publikum, das ich adressiere, bestimmte E ­ igenschaften und Beziehungen zu meinem Auftritt zu. Das Kalkül des Protagonisten ist: „Ich nehme jetzt das erste Video für einen Kanal auf, den es noch gar nicht gibt, und rede mit den Leuten so, als hätten wir eine intensive Beziehung.“ Für

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die Figur des Influencers ist es ein Ausdruck von Hoffnung, dass dieses Publikum online erscheinen möge, denn zum Zeitpunkt der Aufzeichnung existiert es tatsächlich noch nicht, auch innerhalb der Stückfiktion nicht. Die Situation von Theaterschaffenden, immer hoffnungsvoll auf ein zukünftiges Publikum hin zu proben und zu planen, verdoppelt sich hier in der Fiktion. Aber die Geschäftsbeziehung zum imaginierten Publikum ist etwas anders. Schon in der ersten Aufführung, in der ich das zukünftige „Originalvideo“ zuerst aufgezeichnet habe, fand ich es sehr interessant, dass ein reales Publikum im Raum saß, das zuschaute, wie ein fiktives Publikum adressiert wurde, das nicht da war. Das reale Publikum konnte auf einem Monitor das Bild der Kamera sehen und nachverfolgen, wie ich mit ihr spiele. Gleichzeitig habe ich es aber nie eines Blickes gewürdigt, als wäre es nicht da oder als wäre seine Anwesenheit irrelevant. Es hat sich aber durch die Aufnahme in die jetzige Fassung des Stücks eingeschrieben: In der Original-Aufzeichnung hört man zwischendurch seine Lacher. Weil es ein Festival war, waren die Leute amüsierwillig. Die performte relatability des Protagonisten wurde von ihnen in eine Art Stand-up zurückverwandelt. Und ich habe natürlich zwischendurch Pausen gelassen, denn die Witze und auch meine beiseite gesprochenen Kommentare – ich könne all meine Fehler ja später herausschneiden – waren natürlich an das real anwesende Publikum gerichtet. Ich habe nie mit jemandem aus dem Publikum darüber gesprochen, als wer man sich dort eigentlich angesprochen fühlte. Das würde mich sehr interessieren. Identifizierte

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man sich mit diesem fiktiven Publikum der Zukunft oder sah man das als distanziertes Publikum der Gegenwart, das nur den Vorgang beobachtete? Das ganze Geschimpfe über Theater ist ja deswegen Teil des Stücks, weil es für ein Theaterfestival entwickelt wurde und nicht, weil ich dachte, das wäre für Leute auf YouTube wahnsinnig interessant. Es torpediert eigentlich das Kalkül der Aufzeichnung und deswegen rahmt meine Figur es als „den Nerd-Teil“ und sagt dem fiktiven Publikum, es könne den ja einfach überspringen – was das reale Theaterpublikum wiederum gerade nicht kann. Sprengen solche Spiele die Fiktion oder ist die Identifikation des realen Publikums mit seiner Fiktion so fluide, dass sie das aushält? Diese Frage finde ich interessant. Es kommt mir so vor, als hätten wir im Theater sehr viel über die Identifikation mit Rollen und Figuren nachge­ dacht, aber wenig darüber, wie wir mit Identifikationen des Publikums arbeiten können. Jetzt, da wir das Stück pandemiebedingt in einem Livestream zeigen, wird die ganze Geschichte ja noch verwischter, weil die Leute tatsächlich online sind, in einem Chat, und ich ein Chat-publikum adressiere, das nicht das Publikum ist, was man im Original hört und das in einem Theater saß. Das aktuelle Publikum online ist aber auch nicht jenes des Influencers, das damals gemeint war, aber es könnte es werden. Es ist sozusagen mitten in der Transformation, die das Stück beschreibt. Und ich weiß selbst gar nicht recht, wie ich damit umgehen soll. Ich adressiere das Chat-publikum mit dieser Fiktion, indem ich sage: „Hey Leute, ich mache das für euch, weil ihr euch so sehr gewünscht habt, dass ich dieses Reenactment

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mache.“ Das heißt, es gibt diese fiktive Publikumsfigur und es gibt das reale Publikum ganz nah beieinander, aber es liegt an den Leuten selber, wie sie damit arbeiten wollen, weil die von mir angebotene Geschichte ganz offensichtlich hanebüchen ist. Ich nehme an, dass die Identifikation für die meisten nicht wahnsinnig stark ist, gerade wenn sie damit beschäftigt sind, noch im Chat zu interagieren und mit der tatsächlichen Gegenwart klarzukommen. TO: Das Publikum kann also zur Figur werden, weil der Protagonist die ganze Zeit à part spricht, über die Rampe hinweg, direkt in den „Saal“ der Kamera. Und das Publikum im Saal ist in der Originalaufführung gar nicht gemeint gewesen, sondern du sprichst schon damals zum fiktiven Publikum der Follower*innen in spe jenes Influencers, den du darstellst. Aber das Publikum ist vorgesehen und in der zweiten Phase der Entwicklung deines Stückes wird es als Online-Publikum dann auch wirklich einbezogen, weil du ihm ein Fenster öffnest, durch das es zurücksprechen kann. Und all das ist Teil deines Skripts, wenn man den Text-Begriff jetzt mal etwas weiter fasst. Ed Atkins hat mir einmal gesagt, dass er als bildender Künstler seine Figuren schreibt. Ich habe das zunächst immer auf der narrativen Ebene verstanden, weil die computergenerierten Figuren in seinen Filmen sich ja verhalten und sprechen, aber irgendwann habe ich kapiert, dass er das Programmierte selbst meint, dass die Figuren mit Programmiersprachen hergestellt werden. Er schreibt sie als Code und für ihn ist die Programmiersprache eben

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Film-Still einer animierten Figur aus Good Man von Ed Atkins, Video mit Sound, 2017.

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auch eine Form von Literatur, die wir dann als Bild oder Film erleben und darüber den „Text“, auf dem sie beruhen, ganz vergessen. In gewisser Weise ist die Publikums­ situation von dir „geschrieben“ und wird von deinem Skript „programmiert“ – ich kann, wenn ich das möchte, ein bisschen hineinschlittern in dieses Geschehen. Ich kann es aber auch nur konsumieren – dann bin ich ein*e klassische*r Beobachter*in. So etwas realisiert sich nur sehr selten im traditionellen Theater. Dein Stück funktioniert zeitgleich perfekt auf zwei Ebenen: Ich glaube, wenn ich im Saal säße, würde es mir sehr gefallen, wenn ich sähe, was du da vorne machst. Und wenn ich am Bildschirm daheim die digitale und die analoge Ebene zugleich sehe, also den Saal plus dein Echtzeit-­Reenactment plus die Einladung, selber Perspektiven zu bestimmen, dann funktioniert das im digitalen Raum eben auch exzellent. Und das alles kulminiert am Ende in einem seltsam wortlosen Vorgang, verbunden nur mit deinem Körper. „Der Bart muss ab“ – dieses sprachliche Bild, so hat es jemand im Chat formuliert, ist ja die Sache, um die es im Zentrum geht: einen Schnitt zu machen. In der hyperkomplexen Situation der Aufführung wirkt das wie der Versuch, etwas tatsächlich Authentisches herzustellen, etwas, das man nicht faken kann. Sogar auf der Ebene des Reenactments ist die Abnahme des angeklebten Bartes ein physisch bedrückender Vorgang, einfach, weil er so mühsam ist und so lange dauert. Dieser Vorgang, sich vor aller Augen die langen Haare abzuschneiden, bewegt, glaube ich,

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alle, die das sehen. In der Wiederholbarmachung dieser ursprünglich einmaligen Aktion hast du einen Weg gefunden, deren Wirkung sogar noch zu steigern. AV: Ich finde schön, dass das für dich so funktioniert. Ich habe die Verbindungen selbst erst spät verstanden. Einerseits war der Wunsch, diesen Bart loszuwerden von Anfang an vorhanden – ganz unabhängig von den Inhalten, mit denen das verknüpft war. Andererseits gibt es das Konzept des climate grief, zu deutsch Klimatrauer. Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren oder etwas, das uns sehr nahestand, dann gibt es eine Phase von Trauer, in der wir Abschied nehmen müssen, um weiterleben zu können und um unser Weiterleben auch irgendwie verstehen zu können. Eines der größeren Probleme in der Vermittlung der ökologischen Katastrophe ist, dass sie so groß ist und wir so viel verloren haben und noch verlieren werden, dass es persönlich eigentlich kaum zu bewältigen ist. Und das ist dieser Berg von Trauer, der im Grunde schon seit Jahren (unterbrochenes Audio) … auf jeden Fall schnell wegschieben, um irgendwie weitermachen zu können. TO: Arne, ich glaube, wir haben gerade ein t­ echnisches Problem. Du warst kurz weg. Ich denke, wir machen unfreiwillig eine sehr authentische Erfahrung mit dem Medium. Also (lacht) von mir aus können wir weitersprechen. Ich habe dich über weite Teile verstanden, aber ob der Mitschnitt funktioniert, müsste Jan von der Technik sagen. Jan, gehen wir noch mal zurück oder machen wir

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weiter? (keine Reaktion von Jan) Jan von der Technik ist nicht mehr präsent. Wir sind unter uns. Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe. AV: Manchmal bricht bei mir das Internet ein bisschen ein. Ich kann noch mal erzählen, was ich gesagt habe, das ist an der Stelle glaube ich nicht so schwierig. TO: Ja, dann können wir das später übereinanderlegen.

Trauerarbeit AV: Ich gehe im Stück durch einen Wust von Klimafakten, die ökologisch genommen furchtbare Dinge sind und von mir zwar ein bisschen auf Effekt genudelt wurden, aber nicht ausgedacht sind. Bei jedem einzelnen Fakt wäre es angebracht, um eine Perspektive auf ein Weiterleben danach zu entwickeln, zu trauern um das, was verloren gegangen ist. Das ist, was das Konzept des climate grief zu beschreiben versucht. Wir müssten eigentlich einen Riesenberg von Trauerarbeit für all das verrichten, was bereits verloren gegangen ist und was verloren gehen wird. Aber das ist zu viel für einzelne Personen. (unterbrochenes Audio) … ist ein Punkt, an dem die Figur wieder zu den beiden wird, die ich im Stück … TO: … Arne, entschuldige, die Verbindung ist immer noch instabil. Ich weiß nicht, was aufgenommen wird und was ich höre. Kann sein, dass mehr aufgenommen wird als ich

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höre. Jan? Du warst bis zu einem bestimmten Punkt mit dem climate grief gekommen. Man bräuchte eigentlich nach jedem einzelnen dieser Fakten Zeit zur Verarbeitung, Zeit zur Perspektivierung. Was du herstellst, ist ja ein nicht abreißender Strom von deprimierenden Offenbarungen auf allen Ebenen. Man ist völlig überwältigt von der Fatalität der Entwicklung, in der wir uns mittendrin befinden und aus der es auch kein Zurück gibt. Das benennst du in deinem Stücktitel: Es ist zu spät. Der Kipppunkt, ein wichtiges Motiv in deiner Aufführung, ist überschritten, wir sind darüber hinaus. Es bleibt keine Zeit für Trauer. AV: Ohne diese Trauer ist es aber sehr schwer, unser Weiterleben auszurichten. Es gibt auch einen Kipppunkt auf der psychologischen Ebene. Einerseits wird der Titel immer wahrer – das habe ich erst später verstanden. Denn am Anfang dachte ich ja: „Das machst du jetzt einmal.“ Aber dann kamen Gastspiele und falsche Bärte und neue IPCC-Berichte. Und wenn du dann nach zehn Jahren immer noch dieses Stück spielst, verschmelzen Realität und Fiktion ja in eine einzige bedrückende selbsterfüllende Prophezeiung. Selbst wenn ich sagen würde: „Gut, dann spiele ich es nur einmal im Jahr und lasse mir jedes Mal einen Bart wachsen“ – wie traurig wird das? Sowohl auf der Ebene: „Ich höre jetzt mit dem Theater auf“, was ich offensichtlich nicht schaffe, als auch auf der Ebene der Aktualität der erzählten Fakten. Ich glaube, an irgendeinem Punkt kippt die fehlende Trauerarbeit um, das ist auch ein Kipppunkt der Figur, die ich darstelle, so eine Art climate doomer. Das ist eine mentale Einstellung, die uns, fürchte ich, in den nächsten

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Jahren immer häufiger begegnen wird. Es ist die Haltung: „Wir haben so lange gewartet und über Jahrzehnte hinweg die Forschung rezipiert, die Zeitungen haben berichtet, es wurden Richtwerte festgelegt, aber trotzdem nicht adäquat gehandelt. Und jetzt ist es offensichtlich zu spät. Also hey, ist ja egal, was sollen wir jetzt noch machen? Es ist doch sowieso schon zu spät, dann lasst uns doch alles kaputt machen!“ Menschen, die angesichts dieser Aufgabe einfach aufgeben – ob aus Erschöpfung, Zynismus, Ohnmacht oder dem Wissen, dass sie alt genug sind, um das Schlimmste nicht mehr er… (unterbrochenes Audio) … vor dieser Slideshow aus Katastrophenbildern, die wir ja alle kennen. Sie sind etwas, das es mir ermöglicht hat, zumindest in diesem Moment, an eine Art von Trauer heranzukommen. Das ist etwas, das auch ich spüren kann – selbst wenn ich nur einen angeklebten Bart in diesem Moment abmache, und mit dem angeklebten Bart vielleicht sogar noch mehr. Dann weiß ich (unterbrochenes Audio) … um sich emotional in diese Situation reinfallen zu lassen. Dass das nicht geht, haben viele junge Menschen längst verstanden, weil sie in dieser Katastrophe groß geworden sind. Ich habe das Stück vor Kurzem beim Augenblick mal!Festival gespielt und dort war das Publikum sehr jung. Ich habe mit einer Teilnehmenden gesprochen, die danach einen Text geschrieben hat, der sich darauf bezog, dieses Schauspiel zu sehen – diesen Theaterabend, der sich immer wiederholt. Die Wiederholung ist ja in diesem ReenactmentKonzept von vornherein angelegt: Das hast du einmal gemacht, das machst du noch mal, du kannst es auch noch

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tausend Mal reenacten, es wird wieder das Gleiche sein. Und sie hat gesagt, dass sie dieses Weitermachen komplett fruchtlos findet. Sie hat außerdem gesagt: „Ich würde so gerne Theater machen, aber es dauert so lange, um reinzukommen ins Theater. Darum sind alle schon dreißig, die jetzt junge Theatermacher*innen sind, weil sie ewig durch diese ganzen Institutionen und Antragsmühlen durchgehen müssen. Aber wenn ich dreißig bin, dann können wir Theater nicht mehr so machen wie ihr heute. Weil ich mir ausrechnen kann, wie es läuft und welche Veränderungen greifen werden. Deswegen: Macht doch mal Platz, damit wir, die jetzt 16, 17, 18 sind, noch ein paar Jahre Theater machen können, so wie ihr das gemacht habt. Weil wir es eigentlich sehr schön finden und gerne dran sein würden, bevor auch das zu spät ist.“ Das fand ich sehr berührend. Ich glaube, dass dieses Gefühl für die Katastrophe sich in den jüngeren Generationen noch mal verändert und somit auch diese Trauerarbeit, die ich selbst noch nicht ganz verrichtet habe. Ich merke das immer wieder: Ich setze mich vor eine Berichterstattung und sehe ein paar Bilder, und irgendwann merke ich, wie es mich langsam trifft, die schiere Dimension des Verlustes. Das begegnet den jetzt Jüngeren ja schon viel früher. Ich bin gespannt darauf, wie sie damit umgehen werden. TO: Es gab eine Phase, da hatte ich das Gefühl, dass nur die Jugend uns retten kann. Dass plötzlich neue Bewegungen neben Parteien entstehen, soziale Bewegungen wie 1989 im Osten oder wie Fridays for Future oder E ­ xtinc­tion Rebellion heute, aber auch ganz andere, die sich in anderen politischen

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Bereichen ereignen, die gar nicht mehr reingehen in die politischen Institutionen, die das ablehnen, und stattdessen alternative Strukturen aufbauen. Wie die Floating University in Berlin. Gestern ist das novellierte Klimaschutzgesetz verabschiedet worden, das wäre ohne Greta Thunberg nicht passiert. Dass sich eine gesamtgesellschaftliche Dynamik in Richtung mehr Umweltschutz entwickelt hat, hat viel mit unerwarteten Allianzen zu tun, die wir ja auch im Negativen beobachten, also zwischen QAnon und der Querdenken-­ Bewegung, zwischen Pegida und russischem Geheimdienst. Aber die positive Variante gibt es eben auch. Im Grunde agierst du wie eine Figur von Kleist, der die Augenlider weggeschnitten wurden und die sehen muss, was gerade passiert. Du entfaltest in diesem Stück eine katastrophale Symphonie dystopischer Prozesse. Wie eine jüngere Generation da rauskommt, eine ganz junge, wie du eben berichtet hast, ist die große Frage. Der Moment des Bartabnehmens hat in diesem Zusammenhang vielleicht auch deshalb eine fast archaische Wirkung, weil es eine Form von Opfer ist, etwas, wo sich inmitten all dieser Bilder und fatalen Bezüge plötzlich die Kreatur aus all dem herausschält. Es ist dieses vorsichtige und langsame, ritualhafte Sich-nackt-Machen, das du da zelebrierst, das unter die Haut geht. Und das ist in der physischen wie in der übertragenen Welt gleichermaßen wirksam. Man kann das schlecht faken. (lacht) Und das passiert in einer Aufführung, die die ganze Zeit die Produktion von Wirklichkeit thematisiert, also das Künstliche, den Fake, die uns sogar mitspielen lässt. Berührenderweise ist es dieses ständige

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Arne Vogelgesang bei der Abnahme seiner Haare und seines Barts, Theaterdiscounter, 2019.

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Oszillieren von Realität zwischen Bild und Wirklichkeit in Anführungszeichen, das eine Realität erzeugt, die am Ende zwischen beidem gar keinen Unterschied mehr macht, weil hier alles die Wirklichkeit ist, durch deren verschiedene Ebenen hindurch wir uns die Welt ständig neu bauen. Kannst du dir vorstellen, jemals wieder eine Form von Theater zu entwickeln, die nur auf einer dieser Ebenen funktionieren würde?

Stücke mit einer Rolle für das Publikum AV: Das konnte ich mir bis jetzt tatsächlich nicht. Eigentlich noch nie. (lacht) TO: Hast du dich schon am Max Reinhardt Seminar davon verabschiedet? AV: Ja, das betrifft viele Ebenen. Ich hatte schon während des Studiums das Gefühl, dass die klassische Weise der Theaterproduktion, mit der Regie als Herrschaftsmittelpunkt im Raum, einfach zu wenig mit meiner Gegenwart zu tun hat, als dass sie für mich das produzieren kann, was man künstlerische Wahrheit nennt und worum es ja doch irgendwie immer geht. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Theaterschaffenden und -­konsumierenden sich ebenso wenig dem Repräsentationszusammenhang entziehen können sollten wie wir uns unseren Verstrickungen im Alltag entziehen können. So entstand der Gedanke, dass

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Film-Still von Chris Burdens Performance Shoot, F Space, Santa Ana/Kalifornien, 1971.

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wir eine andere Form finden müssen, Stücke zu erarbeiten und auch dem Publikum darin eine Rolle zuzuweisen. Wobei ich das Gefühl habe, dass das, was wir mit internil bisher gemacht haben, eigentlich immer noch recht konservativ ist im Vergleich zu anderen Experimenten, die ja oft sehr viel extremer sind. TO: Würdest du uns etwas empfehlen, was wir in dieser Hinsicht gesehen haben sollten? AV: Hmm, ich schaue wegen der knappen Zeit sehr wenig Theater – das ist echt ein Problem. Deswegen sind es eher ältere Sachen, die mich bewusst beeinflusst haben: Brecht mit der Integration der Regie- und Zuschauer*innenFunktion in den Lehrstücken, Richard Foreman mit der Aufkündigung dramatischer Zusammenhänge, Forced Entertainment mit der Engführung von Ernsthaftigkeit, Humor und methodischer Selbstreferenzialität. Ein Akt wie das Bartabschneiden in Es ist zu spät ist natürlich auch ein Witz über die Performancekunst. Ich arbeite in dem Stück hart daran, diesen Bart narrativ so aufzuladen, dass das funktionieren kann. Und ich freue mich, dass es funktioniert. Aber das ist ja nichts im Vergleich dazu, sich wie Chris Burden eine Kugel in den Arm schießen zu lassen. In der Regel versuche ich, künstlerisch-technische Arbeitsweisen zusammenzubringen und zusammenhalten, die mich beeindrucken, weil ich nicht radikal genug bin, nur in eine Richtung loszumarschieren. Ich versuche, so viel wie möglich in meine Arbeit zu integrieren. Ähnlich ist es auch im Hinblick auf die Angebote von Interaktion – da

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ist ja das am Gaming orientierte Spieltheater wahnsinnig viel weiter an Möglichkeiten oder hinsichtlich tatsächlicher Aushandlungsprozesse mit einem Publikum. Im Bereich der Partizipation hat sich die Gruppe Turbo Pascal zum Beispiel darauf spezialisiert. Es gibt in allen Bereichen, den Grenzbereichen, Leute, die mehr machen oder weiter sind. Mich interessiert, wie man verschiedene Vorgehensweisen so zusammenmontiert bekommt, dass man dabei trotzdem auch das Theater noch ein Stückchen vorantreibt. Dass diese Arbeitsweise eben nicht aus dem Theater austritt. Es ist ja auch ein großer Verrat, einen Ausstieg zu inszenieren und dann doch immer noch weiterzumachen, so wie ich es mit Es ist zu spät tue. Der Bart wächst immer wieder nach, ich kann ihn nie endgültig abschneiden. TO: Es ist aber gleichzeitig auch etwas, von dem man als jemand, der Kunst beobachtet oder erlebt, immer träumt. Wenn ein Inhalt plötzlich Form wird, die Trauerarbeit eine Struktur findet, die gleichzeitig mehr ist als Psychotherapie. Dieses Moment des Bartabschneidens stellt dabei ein Bild oder eine Realität in sich her, statt Realität zu symbolisieren oder abzubilden. Es ist auf einmal die Sache selber. Und das passiert, wohl deshalb, weil es der Körper ist, dieses Natur-Ding, in dem wir leben, der auf einmal die Sache selbst wird. Deshalb habe ich am Anfang nachgefragt, woher das Stück und seine Idee eigentlich kamen. Du hast diese ritualhafte Form des Handtuchwerfens beschrieben, die so lange dauert, bis (lacht) der Letzte aufgegeben hat. Das ist bereits die Verkoppelung einer Theaterwirklichkeit mit einer gesellschaftlichen Realität,

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die von uns einen Ausstieg fordert und die dringende Notwendigkeit zeigt, das Fatale zu unterbrechen. Du hast das Medium in seiner Künstlichkeit sichtbar gemacht und thematisiert, um direkt sprechen zu können. Das ist eine verblüffende Erfahrung. Wer sind die Leute, die daran mitgearbeitet haben? AV: Oh, danke für die Frage – ich spreche hier ja nur als Einzelner. In der Bartgeschichte und dem Stück sind viele Jahre gemeinsamer Arbeit unter dem Label internil kondensiert: mit meiner Kollegin Marina Dessau, die von außen draufgeschaut hat, um mir zu sagen, ob das funktio­ niert – wie man im Theater so sagt – und die jetzt den Chat bespielt; mit Christoph Wirth, Katharina Haverich, ­Christopher Böhm und Tobias Wollschläger, die in der zweiten Aufführung die künstlichen Bärte trugen; mit Ilka Rümke vom Produktionsbüro „ehrliche arbeit“, mit Robert Wolf und Juri Rendler, die bei vielen unserer Stücke großartige Arbeit mit Raum und Licht gemacht haben, und über die Jahre mit vielen anderen Kolleg*innen. TO: Arne, ich habe viel gelernt beim Zuhören. internil macht eine großartige Arbeit. Vielen Dank, dass wir darüber sprechen durften. Ich hoffe, wir setzen das fort. AV: Dankeschön. TO: Bis bald. AV: Ja.

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Zweites Gespräch TO: Ich freue mich, dass du uns noch einmal für ein Gespräch über deine Aufführung Es ist zu spät zur Verfügung stehst. Einmal haben wir ja schon geübt, aber technisch ist das nicht ganz geglückt. Anders als dein Stück. Dein Stück ist für das Berliner Monologfestival im Theaterdiscounter entstanden. Kannst du kurz beschreiben, was das für ein Theater ist? AV: Der Theaterdiscounter (TD) ist eine freie Spielstätte, die schon etwas länger existiert, als ich selber professionell Theater mache. Zunächst waren sie in der Monbijou­ straße, soweit ich mich erinnere. Dann ist das Theater in die Klosterstraße umgezogen, in eine Etage des ehemaligen Fernmeldeamts (Ost) der DDR. Das ganze Gebäude hat seit der Wende mehrmals zu immer steigenden Preisen den Besitzer gewechselt, zuletzt im Mai 2020, als neue Investor*innen es komplett entmieten wollten und nur durch politischen Druck und Solidarität der Verbleib des TD vorerst gesichert werden konnte. Mit internil haben wir seit 2013 ungefähr ein Dutzend Stücke zur Aufführung gebracht, fast alle als Premieren in und mit der Architektur des TD. Dass das Stück Es zu spät dort seine Uraufführung hatte, bildet eine verborgene Unter­ erzählung. Eigentlich steckt auch der Theaterdiscounter in dem Bart, den ich im Stück als Superrequisit benutze, das ich mit Geschichte auflade.

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TO: Was hat der Bart mit dem Theaterdiscounter zu tun? AV: Dass Theater einen Bart hat und der Bart ab muss, ist die eine Pointe von Es ist zu spät. Die andere, dass mein realer Bart in der Originalaufführung sehr lang war. Ein Jahr nachdem wir ein Projekt im Theaterdiscounter gemacht haben, fingen wir an, Stücke mit und über Internetmaterial zu entwickeln, speziell über politische Propaganda im Internet: über den NSU, dessen mediale Inszenierung und das, was man (noch nicht) über den NSU-Komplex weiß. Außerdem ein Stück über Anders Breivik und den Dschihadismus. Im Zuge dieser Stückentwicklungen – das erzähle ich auch in Es ist zu spät – hatte ich eine Residenz, während der ich angefangen habe, mir den Bart wachsen zu lassen. Auch dieses Stück kam im TD zur Aufführung und ich behielt den Bart in den folgenden Jahren meiner Theaterarbeit, er wuchs sozusagen in den Räumen des Theaterdiscounters weiter, als wäre er dort endemisch. Insofern gehörten die beiden zusammen. Aber es war für mich auch klar, dass ich diesen Bart, weil es ein Theaterbart war, der für all unsere Stücke immer auch ein Ausstattungsstück war, nur im Theater wieder loswerden würde, und deshalb musste ich ihn irgendwann auf der Bühne abrasieren, im Theaterdiscounter, zu dem er gehörte. Das war eine Motivation für die Entstehung des Stücks. TO: Auf diese Arbeit und ihren Entstehungskontext im Jahr 2019 am Theaterdiscounter legte sich später eine weitere Ebene, die das Stück und seine Weiterentwicklung

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am Freies Forum Theater (FFT) in Düsseldorf beeinflusste. Wie kam es dazu? AV: Im darauffolgenden Jahr lud das Impulse Festival uns und das Stück ein. Das FFT war die Spielstätte. Die Einladung erfolgte bevor the virus kam und dann musste der Großteil der Aufführungen abgesagt werden, weil es damals kein Hygiene-Konzept gab und die meisten Stücke für ein Präsenzpublikum entworfen waren. Es gab nur wenige Inszenierungen, bei denen alle Beteiligten es sinnvoll fanden, ihre Arbeit digital zu präsentieren. Ich fand, dass sich Es ist zu spät – obwohl es am Anfang überhaupt nicht so geplant war – sehr gut für eine Livestream-Form eignete. Die zwei Wirklichkeitsebenen, mit denen das ursprüngliche Stück spielt, tragen die digitale Ebene schon in sich. Das ist einmal die Behauptung, dass wir hier in einem Theaterraum zusammen sind – aber das anwesende Publikum wird nicht angesprochen, sondern ein zukünftiges, das im digitalen Raum ist. Dadurch kann auf einmal eine dritte Ebene mit einem Publikum hinzukommen, das zwar immer noch ein Theaterpublikum für den Theater-Livestream ist, das aber jetzt tatsächlich bereits digital ist und genau zwischen diesen beiden Wirklichkeiten und Zeitebenen festhängt. Das auszuprobieren fand ich sehr interessant – auch weil es für mich das erste Mal war, Theater über einen digitalen Stream mit einem Chat zu machen. Wir haben ein paar Tage an der Einrichtung gewerkelt und mit Bild-im-BildTechniken und Kameras herumgespielt. Dann hatten wir die Idee, eine Drohne einzubauen. Damals lief noch jemand aus dem technischen Team mit einem Selfie-Stick durch den

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Raum und spielte die Drohne – das war eine sehr schöne Erfahrung. Und so entstand die Fassung in der verfeinerten Version, die wir immer noch spielen. TO: Ich würde gerne versuchen, für Menschen, die die Aufführung nicht gesehen haben, zu beschreiben, wie ich sie erlebt habe. Zunächst handelt es sich um eine analoge Produktion, deren Protagonist ein Influencer beziehungs­ weise ein YouTube-Channel-Betreiber ist, der seine ­Follower*innen anspricht, seine Netzgemeinde, und dabei ein relativ drastisches Thema verfolgt: die Spur ins Apokalyptische, den gnadenlose Verbrauch der Erde, eines planetarischen, biologischen Systems, das mit rasendem Tempo zerstört wird. Und gleichzeitig ist die Aufführung das Reenactment einer früheren Aufführung und hat sozusagen zwei Zeitspuren – die alte Aufnahme, die wir sehen, und zusätzlich dich live als Playbackkünstler, der das damalige Geschehen nachspielt und sich selber doubelt. Wobei dieses Reenactment immer wieder unterbrochen wird und die gedoubelte Figur momentweise zu einem Conférencier oder Regisseur der Szene wird, der die Differenz der Zeit-Raum-Situation thematisiert, reflektiert und dann etwas macht, was tatsächlich im wirklichen Theater der traditionellen Art schwierig zu realisieren ist: Du machst das Publikum zur Figur. Das heißt, das Publikum ist ein konstruiertes Gegenüber, schon in der originalen Aufführung, als es noch vor Ort war, aber vor allem auf der Ebene des Reenactments und seines Livestreams, denn es wird ständig angesprochen. Im Reenactment kann es sogar Einfluss auf das Spiel nehmen und von zuhause aus im

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Chat die Kameraperspektiven wählen, es kann Wünsche äußern, die erfüllt werden, oder eine Saaldrohne aktivieren. Es gibt im Rücken der Figur zum Beispiel eine Bildergeschichte, einen Stream von images, die auf einer sehr affektiven Ebene das, was dort rhetorisch verhandelt wird, spürbar macht, und auch sie kann ein- oder ausgeblendet werden. Das heißt, es handelt sich um eine vielschichtige Konstruktion von Zeit und Raum, die sich selber reflektiert und irritiert. Auf der inhaltlichen Ebene stellt dein Stück die Frage, warum wir den Kipppunkt verpasst haben, an dem sich die Klimakatastrophe noch hätte vermeiden lassen. Dein Stück ist über weite Teile auch eine theatre lecture über den Kollaps des Klimasystems, die Vermüllung der Erde, die immer krassere soziale Ungerechtigkeit, die die Gesellschaften auseinandertreibt und polarisiert. All das wissen wir, aber wir kommen nicht raus aus der Wiederholung der schlechten Verhaltensweisen. Und an diesem Punkt arbeitet sich der gesamte Abend ab. Wieso kommen wir da nicht raus? AV: Ich finde es gar nicht so leicht, das auseinanderzudröseln, weil die Widersprüche, die das Stück aufbaut, auch tatsächlich die sind, in denen ich selbst stecke und arbeite. Das Wissen, dass eine Art von Ausstieg nötig ist, eine Kursänderung oder Änderung von Arbeitsweisen, ist auf der persönlichen Ebene nur schwer umzusetzen, weil es ein globalkollektives Problem ist. Und wir haben kein Konzept dafür, wie wir kollektiv globale Probleme lösen, sondern haben im Gegenteil dadurch ein Problem erzeugt, dass wir immer mehr Augenmerk auf individuelle Lösungen und

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Verhaltensweisen gerichtet haben. Aus dieser Perspektive wird die Notwendigkeit des Ausstiegs in dem Stück erzählt: „Ich persönlich steige jetzt aus dem Theater aus und ich erzähle warum.“ Ich projiziere meine gesamte Erfahrungsgeschichte in diesen großen Bart hinein, den ich mir später abnehmen werde, und erzähle dem Publikum, was ich im Theater darüber gelernt habe, wie schlimm die Lage ist. Und dann komme ich zu dem Punkt, an dem ich sagen muss: „Ja, gut, aber mit dem Theater kann ich daran auch nichts ändern, deswegen muss jetzt Schluss sein.“ Woraufhin ich eine radikale, unwiederholbare Geste inszeniere – die lächerlicherweise in nichts anderem besteht, als mir den Bart abzurasieren.

Sich selbst ein Bein stellen Und all das auch nur, um diesen Ausstiegsprozess von vornherein für seine Verwertung in einer zukünftigen YouTube-Karriere anzulegen. Denn die Pointe ist, dass das ganze Stück der Aufnahmeprozess für ein Belohnungsvideo ist, das später die zahlenden Follower*innen sehen dürfen. Das heißt, in dem Moment, da ich versuche, inhaltlich eine Konsequenz zu inszenieren, wird sie schon dadurch absurd, dass ich ihre zukünftige Verwertung innerhalb der Logik, in der ich sie vollziehe, antizipiere und dann eben doch weitermache. Dieser schmerzhafte Widerspruch ist durchaus einer, den ich in der Realität lebe und der sich immer wieder selbst reinszeniert – womit ich am Anfang nicht gerechnet habe.

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Am Anfang hatte ich es eher als Herausforderung verstanden, eine unwiederholbare Geste aufzuzeichnen und dann vor dem Problem der Wiederaufführung, die ja nicht geht, zu stehen. Darüber wollte ich vor der Premiere absichtlich gar nicht nachdenken. Aber nun bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich feststellen muss: In jedem Jahr, in dem wir das Stück weiter spielen, wird es trister, dass das Stück immer noch gespielt wird und dieser Typ mit dem angeklebten Bart, der dann vielleicht noch ein bisschen grauer ist, immer wieder auftaucht und diese Geste, die nicht mehr als eine Kopie ihrer selbst ist, immer noch wiederholt. Ebenso wird dieser Typ auch immer wieder vor einer Slideshow von Kata­strophenbildern stehend gerührt sein von der eigenen vermeintlichen Radikalität, die aber keine ist. Er hat aber aus Hilflosigkeit auch nichts Besseres anzubieten. Das ist nämlich das, was mir in der Situation, in der ich die Geste vollziehe, passiert. Ich finde es zunehmend schwerer auseinanderzunehmen, was ich da eigentlich tue und wie viele Beine ich mir selber stelle. Ich frage mich, ob dieses Sich-selbst-ein-Bein-Stellen bei dem Versuch, etwas Richtiges zu tun oder darzustellen, nicht das eigentliche Kernproblem ist. Oder auch eben gerade nicht, weil wir immer weitergehen und weitergehen und weitergehen und sich selbst ein Bein zu stellen vielleicht das Beste ist, was man machen kann, wenn die Alternative lautet, immer weiter vorwärts in den Abgrund zu taumeln.

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TO: Es ist in meinen Augen der Versuch, einen Ausstieg zu inszenieren, der nicht naiv ist und der die Rahmung, in der das passiert, und die Verführung, sich die eigene Konsequenz nur vorzuspielen, mitbedenkt. Das Framing, das du für deine Aufführung entwickelt hast, ist gesellschaftsmetaphorisch: Der Influencer, der aus seinem Leben immer mehr sozialen Rohstoff zum Erlebnisangebot für andere machen muss. Der auf der Suche nach dem echten Gefühl, der „wahren“ Beziehung ist, deren Erlebnis durch die Verwertungszusammenhänge, in die sie eingebettet sind, zugleich immer schwieriger wird. Die Authentizität deiner Figur, ihr glaubhaftes Ergriffensein vom Ausmaß der ökologischen Katastrophe, besitzt zugleich auch einen Produkt-Charakter. Man kann das nicht mehr auseinanderdividieren – Gefühl und Ware. Es kommt eben so schön rüber bei den Follower*innen, wenn es einen selber echt ergreift. Sie liken das dann. Das spiegelt die Aporien des Plattformkapitalismus, von Menschen, die – in dieser digitalen Berufswelt als Influencer*innen – ihre eigene Ware geworden sind. Ich möchte und kann darüber nicht moralisieren, denn sie können ja auch gute Ziele damit verfolgen, aber sie agieren in einer Struktur, die sofort alles monetarisiert, was sie tun. In diese Zone arbeitet sich dein Stück tief hinein. Und es kann einen im Theater ja auch traurig machen – melancholisch im Sinne von W. G. Sebald –, dass man ständig Revolution spielt, aber danach als Schauspieler*in duschen und als Besucher*in früh am nächsten Morgen wieder ins Büro geht. Wir machen weiter das Gleiche –

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im Theater und jenseits des Theaters, weil das Theater uns dabei hilft, kulturell erfrischt praktisch alles beim Alten zu belassen. Das ist jedenfalls jener andere Widerspruch, in den sich deine Figur hineinbegibt, wenn sie eine Zäsur in der Mechanik des Theaters sucht. Sie bezieht sich auf den unablässigen Produktionsprozess, aber auch auf unsere konsumistische Haltung zu dem, was wir als Theater wahrnehmen, das ja das Gegenteil von Ausstieg, Zäsur oder Revolution ist. Das ist die raffinierte Traurigkeit in deinem Stück: Wie entkomme ich dem? Der Verzicht auf grundsätzliche Änderungen prägt ein System, in dem man ständig so tut, als ob alles anders wird. Aus einer anderen Perspektive kann man dein Stück aber auch als eine Art von Ritualveranstaltung verstehen, an deren Ende man sagt: „Der Bart ist ab.“ In der physischen Realität meint das schon einen Verwandlungsprozess – wenn er ab ist, gibt es kein Zurück, man steht plötzlich jenseits der Illusionen, und das ist mit einer Initiation verbunden, mit einem anderen Wissen, mit einer anderen Haltung. In der ersten Situation im Theaterdiscounter sehe ich noch einen relativ klassischen Performer, der sich über die Monate seiner Residenz einen sehr langen Bart hat wachsen lassen, den er am Ende auch genau an diesem Ort wieder loswerden will. Dabei schafft er ein einmaliges Ereignis, aber eben auch ein großes Problem, denn wenn der Bart ab ist, ist er ab, und danach ist der gleiche Vorgang nur Theater in Anführungszeichen, wobei man das nur auch in Anführungszeichen setzen sollte. Ist es dir schwergefallen, den echten Bart abzuschneiden?

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W. G. Sebald, Paris, 1998.

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AV: Oh nein, ich hatte mich schon mindestens ein Jahr lang danach gesehnt, den loszuwerden, und nur noch auf diese Gelegenheit gewartet! Den echten Bart abzuschneiden war das Beste, weil ich mir da das Abschneiden selbst noch ein bisschen glauben konnte. Jetzt ist die Glaubwürdigkeit für das Publikum viel wichtiger geworden. Meine ganz klassische Hoffnung ist natürlich, irgendwann einen angeklebten Bart und eine Perücke zu haben, bei denen man nicht erkennt, dass sie angeklebt sind. Ich habe durch die verschiedenen Gastspiele festgestellt, dass es schwer ist, das glaubhaft vor einer Live-Kamera hinzukriegen, aber wir versuchen immer noch, dichter ranzukommen. Am ähnlichsten sehe ich mir immer noch nach der „Rasur“. Aber die Momente nach der Bartabnahme unterscheiden sich für mich im Reenactment sehr stark vom ursprünglichen Akt. In der Originalaufnahme sage ich, wenn ich wieder vor die Kamera komme, nachdem ich die Rasur gemacht habe, dass es mir schon viel besser geht oder dass ich mich leichter fühle – und so war es auch in diesem Moment. Dieser planvolle Akt der Befreiung war schon sehr pathetisch und befreiend (lacht), denn das war ja vor allen Dingen etwas, das ich zunächst um meinetwillen tun wollte. Ich wollte all die Zeit an diesem Ort, wo mir dieser Bart gewachsen war, loswerden. Es war eine sehr egoistische Konstruktion, mir diesen Wunsch auf der Bühne zu erfüllen. Und das war sehr schön, tatsächlich. Glücklicherweise war es nicht nur für mich rührend, sondern auch für die Zuschauer*innen. Wenn ich das nun auf der Reenactment-Ebene vor den Zuschauer*innen im Stream wiederhole, ist es natürlich nicht die gleiche Geste, weil

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sie nicht in meinen Körper eingreift. Ich produziere nur das Bild des Abschneidens eines angeklebten Barts. Es ist eher melancholisch und auch ein bisschen hoffnungslos. Es enthält die Leere, die eine Reproduktion oft mit sich bringt – wenn man nicht viel mehr als die Erinnerung an den Moment und das, was er mal bedeutet hat, besitzt und jetzt versucht herauszufinden, was es bedeutet, wenn man versucht, diesen Moment zu wiederholen. Das Reenactment ist ein weit weniger körperlicher Vorgang und hängt ein bisschen davon ab, wie viel Mastix aufgetragen ist und wie sehr der Kleber hält. Je fester er ist, desto größer ist der Schmerz – was ich ganz angenehm finde, weil da wenigstens etwas passiert. TO: Dass selbst die Reenactment-Ebene so mühsam und drastisch wirkt, hat mich überrascht. AV: (lacht) Ich übertreibe auch ein bisschen, wegen des Effekts. TO: Dann hat sich das Max Reinhardt Seminar ja doch gelohnt. Sag, ich möchte noch mal auf die unterschiedlichen Formen von Figuren eingehen, die in dieser Aufführung hergestellt werden. Die Grundfrage ist: Ist es ein geschriebener Text, den du bei dem Monologfestival im Theaterdiscounter reproduzierst? Ist es ein Stream, den du vom Teleprompter abliest? Oder hast du den Text beim ersten Mal improvisiert? Was erschafft dich als Figur? Ist es dieses Rezitieren oder Improvisieren auf der ersten Ebene des Stückes?

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Dem Publikum Verantwortung geben AV: Bei der ersten Aufführung hatte ich Stichpunkte und einen Teleprompter, mit dem ich gearbeitet habe. Die Erzählung ist eine Mischung zwischen der fiktiven Influencer-Figur, die sich vor allem aus der Art und Weise der Adressierung des ebenso fiktiven Publikums und ein paar Rahmenbehauptungen ergibt, und meiner eigenen Geschichte, die ich durchaus beglaubigen kann. In der zweiten Aufführung im Theaterdiscounter haben Kolleg*innen von internil in Kostümen aus unseren vergangenen Stücken und sehr schlecht angeklebten Bärten die Aufzeichnung der Premiere nachgespielt, während ich nur noch die Medienmaschine bedient habe, die das Original zugespielt hat. Dabei hatten wir neben den Kostümteilen und Requisiten auch viele Fotos von unseren alten Inszenierungen dabei, auf denen sie und ich zu sehen waren. Die haben diese ganze Geschichte noch mal auf einer anderen Ebene beglaubigt, denn der echte Bart, der vorher diese Leistung erbracht hatte, der war ja nicht mehr da. Wenn du also nach der Genese der Figur fragst, dann ist es dieses Zusammenspiel von Fiktion und Beglaubigung, dokumentierter Geschichte – auch der Bart spielt ja die Rolle eines Dokuments – und projizierter Zukunft. Und das Beziehungsgeflecht der An- und Abwesenden, zu denen auch das Publikum gehört, ohne das es keine

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Figuren gäbe und das ja auch seine eigene Geschichte und Zukunfts­aussichten hat. Du hattest vorhin Rituale angesprochen. Das erinnert mich daran, dass es diesen langen Teil über die ökologische Katastrophe, den ich als Lerneffekt wiederhole, schon vorher gab. Der stammt aus einem früheren internil-Stück im Theaterdiscounter, dem vierten Teil einer Serie über Krisenerzählung und Desinformation mit dem Titel Gog / Magog. In diesem Stück ging es um den Untergang Europas, der aus der Perspektive einer körperlosen Zukunft erzählt wird. Das Publikum war nur ein kleiner Kreis von 25 Leuten, die um ein erloschenes Feuer herum saßen, in einer Art Gemeindegottesdienst der Zukunft. Und an einer Stelle des Abends haben wir mit den Leuten gemeinsam das alte europäische Ritual des Handtuchwerfens gespielt. Sie haben von uns Papierhandtücher erhalten und ich habe gesagt: „So, an dieser Stelle unserer Liturgie tun wir gemeinsam, was die Leute früher in Europa auch immer gemacht haben. Ich werde jetzt lesen, und wer nicht mehr zuhören will, der wirft das Handtuch, und wenn alle Handtücher geworfen sind, dann hören wir auf, aber nicht vorher. Das heißt, ihr übernehmt Verantwortung füreinander und dafür, wie lange wir hier sitzen und uns das anhören.“ Und dann habe ich angefangen, eine noch ausführlichere Sammlung von Fakten, als ich sie jetzt in Es ist zu spät repetiere, mehr oder weniger in die Gemeinschaft einzumassieren. Und an jedem Abend war es zu einem anderen Zeitpunkt zu Ende. Manchmal flog das erste Handtuch schon vor meiner ersten Frage, ob

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die Anwesenden schon mal von „Mikroplastik“ gehört haben, manchmal musste ich nach einer halben Stunde mit Einwürfen aus der Runde wieder von vorne anfangen, weil irgendjemand aus der Gemeinde es wirklich wissen wollte. Und dann fing das Publikum an, miteinander darüber zu streiten, ob es jetzt nicht mal Zeit sei, dieses Handtuch zu werfen, über die Verantwortung für die Gruppe, es jetzt mal gut sein zu lassen und weiterzumachen im Stück. Das war ein sehr schöner Moment. Diese Interaktivität war formal in einem Monolog wie Es ist zu spät erst einmal gestrichen, ließ sich aber im Livestream glücklicherweise wieder herstellen. Was mich daran am meisten interessiert hat, war die Möglichkeit, dem Publikum die Verantwortung dafür zu geben, aus welcher Kamera­perspektive das Stück gezeigt wird. Es war dieses Aufbrechen der klassischen Zuschau-Haltung. Plötzlich waren sie in der Not, sich miteinander verständigen zu müssen oder erst mal verstehen zu müssen, dass die Entscheidungen, die sie treffen, alle anderen mitbetreffen. Das heißt, wenn ständig neue Befehle von verschiedenen Leuten kommen, dann wechselt auch ständig das Bild hin und her, zumal sie wegen der Verzögerung zwischen Videostream und Chat auch in einer etwas anderen Zeit sind – immer ein bisschen hinterher und voraus zugleich. Das heißt, sie müssen sich irgendwie kollektiv organisieren, also genau das tun, was strukturell für den Protagonisten im Stück nicht möglich ist, weil er nur eine einzelne Person ist – nämlich ich. Alleine kommt man halt nicht weit. Das ist das kleine bisschen Hoffnung, was da drinsteckt, und dort treffen sich die Figuren auch wieder, in dieser Übertragung des Rituals.

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TO: Kannst du näher beschreiben, wo sich die Figuren treffen? Es gibt die Figuren der ersten Aufführung, dann die reenactende Figur, die sich quasi selber spiegelt. So wie Peter Handke in Immer noch Sturm eine Erzähler-Figur erfunden hat, die in der Personenliste „Ich“ heißt, und die Person, die das spielt, erscheint, zumindest für mich, dann auf der Bühne als Peter Handke und sagt später, wenn die Erzählerfigur als junger Mann auftritt, „Das bin ich“ über die andere Figur. Bei dir gibt es die Figur eins, dann deren Double und dann die kollektive Figur derer, die in dieses Ich-Spiel von außen eingreifen. Würdest du sagen, dass diese kollektive Figur auf eine ähnliche Weise geschrieben wurde, geschrieben im Sinne ihrer Präsenz in einem Skript, das du vorgegeben hast?

Koproduzierende Beziehungen AV: Ich weiß nicht, ob Schreiben die richtige Metapher dafür ist. Vielleicht in einem sehr weit gefassten Sinn, irgendwo zwischen den verteilten Aufzeichnungsinstanzen in Kafkas Strafkolonie und einer Art geskripteter, kultureller Familienaufstellung. Die Klage der ­InfluencerFigur über das Theater bezieht sich zum einen ja darauf, dass im Theater alles nur wiederholt wird, zum anderen darauf – und damit legitimiert sie auch ihren Ausstieg –, dass die ökonomischen Beziehungen im Theater nicht direkt genug sind. Meine Figur sagt, dass das Gütesiegel ihrer digitalen Tätigkeit sei, von ihren Zuschauer*innen

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direkt bezahlt zu werden. Die Wertextraktion hat sich total privatisiert und findet direkt am eigenen Körper und Leben statt. Das wird von dieser Figur allerdings nicht in Frage gestellt, auch wenn sie zumindest in einem Nebensatz einmal sagt, dass das, was so furchtbar am Theater ist – nämlich dass ständig das Gleiche noch mal etwas anders gemacht wird –, das Einzige sei, das daran nachhaltig ist – also eigentlich Grund zur Hoffnung geben könnte. Zum Zeitpunkt der Erstaufzeichnung war mir ganz klar, dass ich im Theater bin und auch beruflich im Theater bleiben werde, also sicher keine Karriere als YouTube-Star starten würde. Nach zwei Jahren Lockdown und dem Großteil meiner beruflichen Aktivitäten im digitalen Raum stellt sich mir nun aber schon die Frage, ob dieser Gegensatz so gestimmt hat oder ob wir uns nicht alle gezwungenermaßen der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets anverwandeln, weil jetzt auch dort publiziert wird. Das bringt das Publikum, aber auch mich, in genau diesen Zwischenraum, in dem wir uns treffen können und, so glaube ich, auch müssen. Dort, wo die Rollen und Aufgaben sehr viel wechselhafter verteilt sind, das Spiel gleichzeitig partizipativer und auch schwerer zu verlassen ist. Chancen und Zwänge sind im Kapitalismus ja oft eher eine Frage der Perspektive, als dass es einen Unterschied zwischen beiden gäbe. Ich habe das während der Lockdownzeit sehr stark als eine Extraktion zu spüren bekommen. TO: In welchem Sinne?

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AV: Konkret als Burnout. Ich bewege mich seit Anfang der Pandemie kontinuierlich kurz vor der Burnout-Grenze, manchmal ein bisschen näher, manchmal ein bisschen ferner. Das kannte ich vorher so nicht. Ich glaube, das hat einerseits mit der unsicheren Gesamtsituation zu tun, die einen unheimlichen Druck erzeugt, und dann auch damit, dass die Zeiträume kürzer sind und Aufträge sich überlagern – ich kann es nicht ganz genau greifen, aber es ist viel stärker spürbar. Das ist bei sehr vielen Leuten in der Influencer-Szene gang und gäbe, sobald sie, wie man sagt, „Erfolg haben“. Sie kommen in den digitalen Verhältnissen viel schneller an die Burnout-Grenze ihrer Selbstverwertung. Was wir sonst der Erde – pathetisch gesprochen – antun, also Bodenerschöpfung als ein Stichpunkt, spüren wir als Erschöpfung der Körper auf der anderen Seite. Und diese Erschöpfung tritt in Verwertungsformen, die scheinbar so immateriell sind wie die Online-Produktion, viel schneller ein. Auch die braucht ja einen Träger und das ist eben der Körper, dieses schnell ermüdende Material. Das kenne ich als jemand, der viel vor dem Rechner und im Netz hängt, zwar schon etwas länger, aber Onlinesituationen für Theater nicht nur als Ausgangsmaterial, sondern als Endprodukt zu erleben, war auch für mich eher neu. Insbesondere Videokonferenzen finde ich zum Beispiel körperlich unglaublich anstrengend, weil der performative Status der allseitigen Kamerabildproduktion meist so unklar ist. Zwang und Chance eben. Von den existierenden Formaten kann Theater da auf jeden Fall eine Menge lernen, for better or for worse. Es ist zu spät

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ist noch relativ zurückhaltend, wenn es darum geht, das Publikum in eine partizipative oder mitproduzierende Lage zu versetzen. „Hey, ihr habt die gleiche Position wie ich. Wir haben eine direkte Beziehung und ihr könnt jetzt mitentscheiden: ‚Sehen wir das, oder sehen wir das andere?‘ Chattet ein bisschen, gebt mir eine Anweisung.“ Solche koproduzierenden Beziehungen zu etablieren, kann eine Trainingssituation für Verwertungsformen sein, die in Zukunft im Theater wesentlich wichtiger werden und die eine andere Beziehung zum Publikum herstellen als die klassische Haltung: „Kommt, setzt euch hin und seid ruhig, schaut zu und applaudiert danach.“ Es kann aber auch eine Möglichkeit sein, sich im neuen Medium selbst zu reflektieren und sich die Frage zu stellen: „Was ist das überhaupt für eine Art von Beziehung? In welchem Verhältnis steht sie zu der alten? Was sind bei beiden die Dinge, die wir nicht so cool finden, und was sind die Dinge, die vielleicht ganz gut daran sind?“ Weil das, was so toll an den neuen Beziehungen ist, vielleicht auch genau das ist, was wirklich schlimm an ihnen ist. TO: Was du jetzt beschrieben hast, inszeniert deine Aufführung als eine Art Ambiguitätserfahrung. Es ist eine ständig süß-saure Erfahrung mit den Fragen: „Wo bin ich? Was mache ich? Wieso komme ich nicht aus diesen fatalen Schlaufen raus? Was macht mich an der Sache gleichzeitig so traurig? Was ist eigentlich der Zustand der Welt?“ Man könnte das Stück ja auch als eine szenische Medi­tation darüber verstehen, wie junge Leute damit umgehen sollen, dass sie in eine Welt hineingeboren werden, die von ihren

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Eltern im Grunde schon ruiniert wurde und sich in den nächsten Jahren immer schneller ihrer Erschöpfung entgegen entwickeln wird. Du hast in unserem letzten Gespräch gesagt, dass dein Stück im Grunde Trauerarbeit leistet, aber eine, die kaum eine Lösung anbieten kann. Wir machen kleine Schritte in die richtige Richtung, aber die große Maschine läuft so weiter. Angesichts dessen ist dieses Theater-Ritual der sich wiederholenden Situation eine Tragödienbeschreibung. Sie spiegelt den Entwicklungsprozess des Planeten und wird dann plötzlich durch dieses einmalige Moment, dieses Opfer unterbrochen. Dieses ritualhafte Moment bringt eine ganz andere Realität und Ebene ins Spiel, die eng mit dem Körper verbunden ist, aber auch mit einer Art von intuitivem Wissen von, wenn man so will, paganen Praktiken. Sich den Bart abzunehmen oder die Haare anderer aufzubewahren hat ja auch ein kultisches Moment. Es ist für mich das Berührende an deinem Stück, dass es in diesem Moment die Ebenen wechselt – und zwar dann, wenn es das Unwiederholbare noch mal nachspielt. Vielleicht liegt es auch an der Musik. Aber vielleicht ist es auch ein Moment der Öffnung, weil in dem Moment, in dem das Körperliche sich vom Narrativen löst und eine eigene Form von Realität ins Spiel kommt, auch eine ­Erfahrungs­welt, die älter, archaischer und schwerer diskutierbar ist, ins Spiel kommt. Wie waren die Reaktionen auf deine Bartabnahme? Wie erlebst du das selbst? AV: Bei der Erstaufführung war das, soweit ich es mitgekriegt habe, für viele, die im Publikum saßen, ein Authentifizierungsmoment der gesamten Erzählung. So war es

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natürlich auch geplant. Deswegen versuche ich im Stück, dem späteren Vorgang möglichst viele Beine zu stellen, indem ich genau das, was ich dann tue, vorher schon kritisiere. Ich lästere über die Formeln zeitgenössischen Theaters und moniere: „Da packst du Projektionen drauf, spielst noch ein bisschen kitschige Musik und dann machst du irgendwelche Sachen, die was bedeuten sollen oder nicht, oder ganz besonders körperlich sind, und das ist dann Theater.“ Genau das mache ich in dem Moment der Rasur, und irgendwie funktioniert es trotzdem. Ich habe nach der Premiere folgendes Feedback bekommen: „Aaah, ich hatte vorher noch gar kein Stück von dem gesehen und jetzt hört der schon wieder auf, wie schade.“ Was ich gesagt habe, wurde also wirklich geglaubt, obwohl es Theater war. Und das war vor allem die Leistung des real abrasierten Bartes, denke ich. Damit spielen wir im Theater ja oft, und es wäre billig, sich darüber lustig zu machen, dass die Leute glauben, was man ihnen im Theater erzählt, denn genau diesen Effekt versucht man ja die ganze Zeit herzustellen. Aber ich fand es trotzdem erstaunlich. Für mich war an dem Punkt klar: „Naja, ich hab zwar keinen Plan, aber ich werde sicherlich nicht aufhören mit dem Theater, sondern auch das ist nur ein weiterer Versuch, welches zu machen.“ Ich wollte noch was anderes sagen, was ich jetzt leider vergessen habe, weil mein Kopf schon so durchlöchert ist … (überlegt) Es wird wiederkommen. TO: Vielleicht kommen wir kurz auf diese besondere Beziehung zum Publikum in der digitalen beziehungsweise mit Feedback verbundenen Form von Online-Theater zurück?

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AV: Ah! Ich weiß es wieder, entschuldige! TO: Ja, bitte.

Der Glitch als Ausweg AV: Ich glaube, die eigentliche körperliche Ebene habe ich in dem Stück zu großen Teilen aus der Livestream-Fassung rausgeschnitten. Im Original war sie viel stärker. Das ist nämlich gar nicht die spektakuläre Bartabnahme, die ja im Kontext der Erzählung eine gut lesbare Geste ist, sondern das sind die ständigen Versprecher, Verhaspler, die Notwendigkeit, Wasser zu trinken, ein bestimmtes Wort, das mir nicht gelungen ist, noch mal verständlich auszusprechen und so weiter. All die Malheurs, die während der Erstaufführung passiert sind und auch problemlos passieren konnten, weil sie durch die Aufzeichnungssituation gerahmt waren, sodass ich zwischendurch sagen konnte: „Egal, das schneiden wir später alles raus, kein Problem.“ Diese Kommentarebene hat mir in der Originalsituation geholfen, heil durch meine Stichpunkte durchzukommen, und dem Publikum hat sie die Erzählung beglaubigt und gleichzeitig als Fiktion markiert, weil sie die Kamera als eine Art vierte Wand gesetzt hat. Ich habe ja kommentiert, als wäre ich allein mit der Kamera. Dadurch kam das Lachen des Präsenz-Publikums über die Situation hinzu, dass das Live-Publikum jetzt immer noch hören kann, wenn es im Stream in das Originalvideo reinschaltet. Aber irgendwann kam es jedenfalls in dem langen Klima- und

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Ökofaktenteil, der ja wirklich viel zu lang ist, bei allen im Raum zu einer Übermüdung. Je weiter ich in dem Monolog vorankam, desto erschöpfter wurde ich und habe mich deswegen immer öfter versprochen, sodass durch die Redundanzen auch das Publikum immer erschöpfter wurde. Diese Stolper und Haspler beziehungsweise dieser Sand im Getriebe, wenn es plötzlich hakelt und knirscht, lassen alle Beteiligten die eigene Müdigkeit innerhalb des Produktionsvorgangs spüren. Und nur in theaterhaften Verhältnissen lassen diese sich irgendwie auch genießen, oder? Mein Kollege Christoph Wirth wollte zur der zweiten Vorstellung gerne nur all diese Versprecher und Unterbrecher reenacten und hat gefragt, ob wir nicht das gesamte Stück nur auf diese Momente zusammenschneiden sollten. Weil das ist doch das utopische Moment an dem Stück – wo es schiefgeht. TO: Das ist im Grunde die Authentifizierung des glitches. Das, wovon du sprichst, sind analoge Formen von glitch, eine Störung im Prozess, eine kleine Fehlfunktion, ein Zwischenfall, der in unserer Wahrnehmung ein Ausrufe­ zeichen erzeugt, ein Aufmerken, etwas Einmaliges, das deshalb für Wahrhaftigkeit steht, etwas, das nicht „gemacht“ ist, sondern sich ereignet. Dieses Ereignis ist nichts anderes als das Sichtbarwerden des Mediums selbst. So wie wir im Stottern plötzlich die Sprache selber hören. In diesen Zwischenfällen, von denen du sprichst, wird das Medium des Performers sichtbar, der fehlbare Darsteller fällt als Darsteller auf. Wenn er mit seinem Körper und Geist Aussetzer hat, werden wir plötzlich wach und

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schauen hin – so wie bei einer Bildstörung im Fernsehen. Dieses glitch-Moment im analogen Theater ist normalerweise der Texthänger. In dem Moment, wo der Text aus der ersten Reihe auf die Bühne hochgeflüstert wird, zeigt sich das Theater selber. Das Besondere bei dir ist aber, dass du in der späteren Aufführung diese Nervositäten, wenn du zum Beispiel spontan etwas trinkst, im Reenactment wiederholst und plötzlich werden die glitches sichtbar und zugleich auch wieder integriert ins Gemachte dieser zweiten Erzählebene, die ja sehr konzentriert und kontrolliert ist. Nur durch diese Spiegelung wird die Situation auf einmal als etwas Gemachtes erkennbar, weil das abweichende Moment augenfällig wird. Aber mich beschäftigt noch etwas anderes. Da wird die ganze Zeit geredet. Bis zur Erschöpfung. Doch das Abnehmen des Bartes – selbst in seiner gefakten Variante – erzeugt plötzlich Stille. Man denkt über diesen stream of desaster nach, all diese InternetInfos, und dann legt da jemand seinen Bart ab. Das verknüpft eine sich radikalisierende Umwelt­situation mit einem Opferritual, wie du ja auch schon in den Vorstudien des Stückes das Ritual des Handtuchwerfens eingesetzt hast. Diese Kombination ist sehr nahe dran an der künstlerischen DNA eures Kollektivs, das sich ja von Beginn an für politische Radikalisierungsprozesse interessiert hat, die sich oft aus dem digitalen in den analogen Raum bewegen und die du wie ganz wenige mir bekannte Menschen in einer so exzessiven Weise erforschst und als theatralischen Rohstoff behandelst. Das zweite sind deviante Praktiken und das dritte die Digitalisierung des Menschlichen. All das spielt meiner Meinung nach in die Aufführung Es ist zu

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spät hinein. Eine politische Radikalisierung gibt es ja auch im Umwelt- und Aktivistenbereich. AV: Im Stück taucht das in zwei Momenten auf. Einerseits in diesem Hagel von Fakten, der zu einer radikalen Geste nötigt, auch wenn sie noch so einen langen Bart hat. Aber auch in der Figur, von der sich der Titel ableitet, weil sie sagt: „Es ist zu spät. Wir haben all diese Fakten, aber wir lernen hier nichts Neues und sie drängen uns auch nicht zum Handeln, weil wir den Punkt des Handelns bereits verpasst haben.“ Diese Figur wird uns in der Zukunft mehr und mehr begegnen, dieser climate doomer. TO: Was sind doomer? AV: Doomer sind die Apokalyptiker*innen des Internets, diejenigen, die glauben, dass mindestens ihre eigene Zukunft unfassbar schwarz ist und da auch nichts mehr zu gewinnen ist, und die aus dieser Diagnose ihre Handlungsrationalität ableiten. Diese lautet in einem fast populistischen Duktus in etwa so: „Wir haben komplett versagt und nichts oder viel zu wenig dafür getan, um die Katastrophe zu verhindern, obwohl sie seit Jahrzehnten besprochen wird und verhinderbar war. Wir haben lieber die Ursachen dieser Katastrophe aufrechterhalten. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo erkennbar wird, dass es zu spät ist und wir uns nicht mehr bemühen müssen – und schon gar nicht auf persönlicher Ebene –, irgendetwas gegen diese Katastrophe zu tun. Denn solange die Lufthansa gerettet wird, fange ich doch nicht an, mir Bambusstrohhalme

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für ein gutes Gewissen zu kaufen. Was soll der Unsinn? Wir wollten den Untergang und jetzt kriegen wir ihn. Also lasst ihn uns genießen, solange es geht.“ Menschen mit einer solchen Haltung haben keinerlei Vertrauen mehr in die Fähigkeit von Regierungen, wie demokratisch sie auch gewählt sein mögen, irgendetwas Gutes – was immer das heißt – tun zu können. Ich glaube, diese Haltung wird uns in der Zukunft mehr und mehr begegnen – der Neoliberalismus frisst seine Kinder. Wir sehen ja, was jetzt schon bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen auf der Straße los ist. Vor unseren Augen zerfällt die Gesellschaft in diejenigen, die glauben, dass der Regierung gemeinwohlorientierte Maßnahmen zuzutrauen sind, und diejenigen, die das nicht mehr glauben wollen und auch nicht bereit sind, auf dem bereits sinkenden Schiff noch irgendeine staatliche Einschränkung ihrer Bequemlichkeit hinzunehmen. Ich glaube, Corona war auch in dieser Hinsicht nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt. So viel zum Stichwort Radikalisierung. TO: Du hast das einmal in den Worten von Hans Sedlmayr als „Verlust der Mitte“ beschrieben, weil sich in der gesellschaftlichen Mitte – die in gewisser Weise systemtreu ist, da sie an der Gestaltbarkeit des Systems durch Wahlentscheidungen festhält – dieser alte Konsens langsam auflöst. Sie zerfällt vor unseren Augen in hermetische Gruppen, die sich zum Teil radikalisieren, weil ihre Identität hauptsächlich auf dieser Sezession vom „System“ beruht. Dein Video-Essay This Is Not A Game beschreibt das als eine Realitätsauflösung oder Hybridisierung von

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Realität, die vor allem in Internet-Communitys vorange­ trieben wird, in denen sich Verschwörungstheorien und Spiele mit realen Vorgängen in der Politik und den Mainstream-Medien so vermischen, dass das für viele Akteur*innen dann realweltliche, fatale Konsequenzen hat. Oder deviante. Was sind die devianten Praktiken, von denen ihr auf eurer Website sprecht?

Devianz AV: Devianz ist die Abweichung von der Norm auf sozialer Ebene, beziehungsweise konstituieren sich Normen erst durch die Definition und Sanktionierung von Abweichungen – das ist eine Frage der Perspektive. Das spielt in Es ist zu spät keine so große Rolle, weil das Verständliche oder das Normverhalten ja schon in der Figur angelegt ist. Aber Devianz interessiert mich ganz im Allgemeinen und ich vermute, dass dieses Interesse meine Faszination für politisch radikales Material geweckt hat. Nicht nur, weil wir uns offensichtlich in politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen befinden und es deswegen interessant ist, über diese Prozesse zu sprechen, sondern auch, weil die Praktiken selber faszinierende Aspekte besitzen, zum Beispiel die lustgetriebenen Hasstiraden in Kommentarspalten, aus denen die Libido förmlich trieft. Mich beschäftigt die Lust an der Gewalt, die darin sichtbar wird, aber auch das Aussteigen von Menschen aus unseren Wahrheits- oder Konsenssystemen, bis hin zu den abstrusesten Fällen. Das ist, was mich an vielen unserer Stoffe

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der letzten Jahre eigentlich fasziniert hat – die Art und Weise, wie sie gesellschaftliche Regelsetzungen verhandeln und kenntlich machen. Menschen, die Dinge tun, die nicht sehr viele andere Menschen tun und die daher auf Unverständnis oder Ausschluss stoßen; neue Gemeinschaften, die in einer nach Transgression dürstenden Kultur entstehen und die das Normale zur vermeintlichen Abweichung umdeuten. Normalität wird ja erst in ihrer Verletzung erkennbar und Beuys’ Forderung „zeige deine Wunde“ hat sich im politischen Streit um Normsetzungen zu einer ganz eigenen Spielform entwickelt. Aber jenseits davon: Ich glaube, das ist eigentlich ein ganz klassischer Topos am Theater. Shakespeare zeigte ja auch Leute in seinen Stücken, die ein bisschen (lacht) über die Stränge schlagen, und genau das dient der Darstellung des Menschlichen, was auch immer das jeweils genau ist.

Das Soziale selbst ist das Medium TO: Shakespeare ließ im interpersonellen Bereich nicht nur Menschen auftreten, sondern auch Geister. Wenn du über das Menschliche sprichst, das sich in der Abweichung zeigt, führt das zu einem weiteren Interessengebiet von internil – der Digitalisierung des Menschlichen. Deine Stücke handeln unübersehbar davon. AV: Auf der rein technischen Ebene geht es uns seit einigen Jahren bei der Darstellung von Menschen besonders um

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deren 3D-Erzeugung, um Avatare, um Motion Capture, um Sprachsynthese, um die Überführung der Menschendarstellung in digitale Medien. Und wir schauen mit Neugier, wie wir das mit dem Theater verbinden könnten. Theater hat es sich ja zur Aufgabe gestellt, anhand der Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Handlungen etwas über diese auszusagen. Man kann fallweise geteilter Meinung darüber sein, ob das gelingt oder nicht, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass grundsätzlich im Theater MENSCHEN ganz großgeschrieben werden, und deshalb gibt es im Theater ja auch so viel Menschenkitsch. Auf der methodischen Ebene finde ich das interessant, denn unsere Beziehungen sind ja immer mittelbarer geworden und schließen heute zum Beispiel auch Produktion von und Beziehungen zu Bildern von Menschen ein – von uns selbst und von Nichtmenschen. Was früher Domänen und Praktiken der Kunst waren, die ihre definierten Orte hatten, ist heute für viele Leute zu einem großen Teil Alltagspraxis. Und es stellt klassische dramatische Handlungsbegriffe teilweise ziemlich auf die Probe. In Es ist zu spät wird die Digitalisierung des Menschen allerdings eher auf der Ebene der Aufmerksamkeitsökonomie verhandelt. Mein akutes Interesse gilt zur Zeit den Verwertungslogiken auf der Plattformebene im so genannten Web 2.0 und der damit verbundenen Neuerzeugung von Miteinander, dem Sozialen 2.0. Darüber möchte ich gerne mehr wissen. Man kann ja sehr despektierlich über soziale Medien reden und sich zu Recht fragen, ob die denn überhaupt sozial sind und so weiter. Aber eigentlich bedeutet „soziales

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Fotogrammetrisches Selbstporträt von Arne Vogelgesang.

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Medium“ vor allem, dass innerhalb des technischen Apparats das Soziale selbst das Medium ist, und das wird nach bestimmten Extraktionsregeln neu erzeugt, um etwa die Konversion von Affekten in Beziehungen zu befördern. Das ist die eine Ebene der Darstellung der Digitalisierung des Menschen in Es ist zu spät. Auf ihr wird das Publikum angesprochen und gebeten, bitte ein Like dazulassen. Wenn dann die Herzen verteilt werden, das heißt, wenn die über den Chat digital vermittelte Beziehung zu den Leuten von diesen wirklich angenommen wird, funktioniert das ja auch. Ich kenne das selbst aus dem Internet – wenn jemand besonders nett in die Kamera guckt und dich direkt anspricht, auf dich im Chat reagiert, dann fühlst du dich tatsächlich gemeint und gesehen. Dabei ist es ein konventioneller aufmerksamkeitsökonomischer Mechanismus, der die Darstellung von Beziehung als Produkt distribuiert. Wobei die Unterstellung, dass das digitale Erlebnis unkörperlich wäre – häufig von Menschen geäußert, die in meiner Wahrnehmung gar nicht viel Zeit mit diesen Medien verbringen –, gar nicht stimmt. Wenn ich das Gefühl habe, gemeint zu sein, treffen und bewegen mich Konflikte oder Zuneigungsbekundungen über Internetkanäle viel stärker, als das im alltäglichen Leben geschieht. Denn dort funktionieren meine Filter anders und ich lese eher subtile Zeichen. Digitale Beziehungen sind oft viel emotionaler, vor allem wenn der eigene Körper unbeobachtet ist. Auf der anderen Seite beobachte ich an mir, wenn ich zum Beispiel in einem Chat bin und mir überlege, wie ich antworte, dass ich meine eigene

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Idealisierter Avatar von Arne Vogelgesang mit abgebrochenem Arm.

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Emotionalität antizipiere und zum Beispiel erst einmal lächle, bevor ich schreibe, damit ich freundlich formuliere und überprüfen kann, ob der Emoji auch gerade gut performt. Das sind Theatervorgänge – ich spiele mir meine digitale Persona selbst kurz vor, um sie dann überzeugend im Chat darstellen zu können. Das finde ich spannend. TO: Ich vermute, dass das auch der Grund dafür ist, dass du diesen Abend ganz anders ausklingen lässt, als das bei Aufführungen im Theater sonst der Fall ist. Normalerweise gibt es einen Applaus, der einem Vorhang folgt, und dieser Austausch ist das Ritual des Abschieds vom Erlebnis. Interessanterweise ist der Applaus von der Bühne aus gesehen ja der einzige Moment, in dem das Publikum in gewisser Weise anwesend ist und angenommen wird. Der Schlussapplaus ist die gemeinsame Verabschiedung aus der Fiktion, wobei sie selber auch nicht wirklich ablösbar von der Fiktion ist, aber dieses Ritual ist etwas, das über das singuläre Ereignis der Veranstaltung hinausgeht und sozusagen ewig wiederkehrt – egal was gespielt wird. Du bekommst hingegen keinen Applaus im digitalen Raum. Es gibt nur Emojis und eine Menge durch die Luft flirrender Herzchenhände. Und deshalb frage ich mich, wie du aus deiner eigenen Situation wieder rauskommst? Deine digitalen Zuschauer*innen sind ja in kein kollektives Ritual eingebunden. Sie können sich wie Konsument*innen verhalten, die nur nehmen, was ihnen schmeckt. Mich hat sehr beschäftigt, dass ich, wenn ich den Link zu deiner Aufführung an Freund*innen und Kolleg*innen geschickt

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habe, denen immer sage, dass sie die Aufzeichnung von Anfang an sehen sollen und bitte auch nach dem Bartabschneiden dranbleiben sollen, weil es danach noch weitergeht. Wie gehst du mit dem Wegfallen vom Applaus und dieser Hyperindividualisierung der Zuschauer*innenSituation um, die wesentlich konsumistischer ist? Am Schluss steht ja auch bei dir eine Influencer-Geste, indem du sagst, dass du mal schaust, was die Leute im Chat geschrieben haben und du dich an die Arbeit machst. Oder ist das keine Arbeit? AV: Der Unterschied ist wahrscheinlich, dass es das klare Zeichen für das Ende der Aufführung nicht mehr gibt, dass alles ineinanderfließt. Tatsächlich ist es ja nicht so, dass es keinen Applaus gäbe, sondern der Applaus ist eben genau das, was im Chat stattfindet. Deswegen muss ich zum Chat, sonst kriege ich den nicht – und natürlich will ich den. (lacht) Dafür mache ich das ja letztlich. Und dann stehe ich aber sofort mit den Leuten an der Bar. Es gibt nicht mehr diese räumliche und zeitliche Trennung von Applaus und Verbeugen hier, Gespräch auf Augenhöhe später. TO: Ja, das klassische Abschminken in der Garderobe gibt es auch nicht. Das machst du alles vor der laufenden Kamera. AV: Genau. Ich kann nicht sagen, „Jetzt gehe ich erst mal und dann treffen wir uns später wieder“, sondern der Applaus und die Bar sind am gleichen digitalen Ort und zwar im selben Moment – je nachdem, wie viel in den Chat

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geschrieben wird. Denn wenn ich weggehe, verschwinden die Leute auch sofort in ihre Wohnung oder in den nächsten Browser-Tab. TO: Ja, interessant. Alles fließt. AV: Damit weiß man auch nicht mehr, wann das Spiel aufhört, sondern die Aufführung plätschert so aus und fließt in das Danach, sodass ich nicht mehr genau weiß, ob ich noch im Stück bin oder mich zeitlich außerhalb von ihm befinde. Spielt das Publikum jetzt noch weiter oder nicht – oder hat es überhaupt jemals gespielt oder hab ich überhaupt jemals gespielt? Das bleibt unklar, was ich schön finde. Als wir das Stück das erste Mal im Stream gezeigt haben, war das wahnsinnig angenehm für mich. Ich agiere die ganze Zeit für die Kamera und habe zwar den Chat präsent, aber muss nicht, wie ein echter Influencer das tun müsste, permanent auf den Chat reagieren, weil ich ja das Originalstück reenacte. Ich bin als Performer vollkommen in diesem Zwitter zwischen Theater und tatsächlichem Livestream gefangen. Zusätzlich entlastet mich meine Kollegin Marina, die den Chatbot spielt und so die Interaktion am Laufen hält. Am Ende des Stücks kann ich mich dann auf einmal entspannen und mit den Leuten zusammen sein, und dieses Gefühl des virtuellen Zusammenseins, das ist schon sehr real. Ich habe das vor allem beim ersten Stream für das Impulse-Festival viel stärker empfunden als sonst im Theater.

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Ich bin eigentlich eher ein scheuer Mensch und suche nach dem Applaus nicht unbedingt das Bad in der Menge, sondern bin ganz froh, wenn ich in Ruhe in einer Ecke mein Bier trinken und jederzeit auch wieder fliehen kann. Wenn da jemand kommt und sagt, dass es gut war, finde ich das schön und nicke und freue mich und vielleicht sage ich auch ein paar Sachen, aber ich fühle mich da nicht super sozial. In einem Chat ist das ist sehr viel leichter. Ich finde das angenehm, denn ich bin trotzdem noch allein, habe meinen eigenen space, aber virtuell sind halt die anderen alle da. Und es ist eben nicht so klar, ob es noch Teil des Stücks ist oder nicht – das ist auch ein Schutz. TO: Deine Aufführung nimmt diesen Realitäts-Shift auf eine kluge Weise nicht zu heilig und gleichzeitig bleibt der Abend sehr verletzbar. Ich glaube, davon nimmt man auch etwas mit an die virtuelle Bar – das ist sehr schön. Auch ich hatte als Teil des Publikums ein großes Nähe-Gefühl zu dir als Performer, was nicht unbedingt meine Erwartung ist, wenn ich mir einen Theaterabend im Internet anschaue. Aber dieses Ausklingen, dieser Chillout, dieses Sharing, das ist vielleicht wirklich ein ganz anderes Ritual als der klassische Applaus, der ja trennt. In einer Zeremonie wird ja nicht applaudiert. Und dieses gemeinsame Rausgehen aus dem Abend hat mir sehr gefallen. Oft ist der Schluss eines Theaterabends, bevor der Vorhang dann endgültig fällt oder das Licht ausgeht, mit einer Pointe oder irgendeiner machtvollen Inszenierungsvolte verbunden. Das hat strukturell etwas Gewaltvolles. So ist es bei dir eben gar nicht, sondern es ist eine sehr freundliche, schöne soziale Erfahrung.

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AV: Vielen Dank. TO: Es hat mir sehr gefallen. Im Theater würde ich jetzt vielleicht echte Blumen werfen. AV: Danke. Darf ich noch eine Sache sagen? TO: Bitte! AV: Ich finde es wichtig, weil wir ja über Wiederholungen und Reenactment gesprochen haben, dass wir darauf hinweisen, dass wir dieses Gespräch gerade zum zweiten Mal geführt haben. Das fiel mir jetzt bei den Blumen ein. Denn hier hinter mir standen bei unserem ersten Gespräch im Bild noch Blumen, die mittlerweile gestorben sind, weil der technische glitch uns beim ersten Gespräch die Aufnahme kaputt gemacht hat. Und wir haben jetzt versucht, unser Gespräch eigentlich nicht zu reenacten, sondern neu zu führen, was ich auch sehr schön fand und besser, als das alles noch mal so zu machen. Aber mich beschäftigt schon die Frage: „Wo gehen all die Versprecher hin?“ Eigentlich verlagern diese sich ja in die Technik. Einerseits sind Gespräche schön und wichtig. Andererseits habe ich aber oft auch insgeheim die Hoffnung, dass sie irgendwann unterbrochen werden oder kaputt gehen, weil die Technik ausfällt und dieser Technikausfall noch nicht integrierbar ist in das Spektakel – was mit den meisten Versprechern in meinem Stück ja passiert ist. Ich habe sie für den Livestream auf ein verdaubares Maß zusammengeschnitten, damit das Publikum bei der Stange bleibt.

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TO: Ich nehme an, wir werden dieses Gespräch auch redigieren. AV: Da bin ich sicher. Tatsächlich sitze ich ja gerade gar nicht in einem Videogespräch mit dir, sondern vor meiner Textverarbeitung, und bin mit meinen Korrekturen am Ende dieser Transkription angekommen, nachdem du schon Vieles neu geschrieben hast. Wir sind zu den verschiedensten Zeiten hier im Text, gleichzeitig und ungleichzeitig, und haben entschieden, welche Unter­brechungen und Versprecher wir drin lassen und welche nicht. Aber wir haben keine neuen erfunden, oder? So ist es mit der Ästhetik des glitches passiert. Er ist irgendwann schick geworden und hat damit seine disruptive Kraft ein bisschen verloren. Er wird künstlich hinterher draufgefiltert, um das rauer zu machen, was zu glatt lief. Es ist aber immer schön, wenn sich noch irgendwo ein bisschen Disruption finden lässt – nicht die ökonomische Disruption von Märkten, die die nächste Extraktion sicherstellt, sondern die vielleicht einen Ausweg aufzeigt und einem vermittelt: „Ah, es ist noch nicht zu spät, es kann noch irgendwas anderes kaputt gehen als wir – ein Kaputtgehen, das uns ein bisschen heiler macht.“ TO: Gut, dass du noch mal darauf hingewiesen hast. Und dieses Schlusswort gefällt mich jetzt auch sehr gut. Zum zweiten Mal zeigt sich so etwas wie Hoffnung. Danke! AV: Vielen Dank. TO: Wir setzen das fort.

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Profilbilder Arne Vogelgesang

In einer assoziativen Bildserie collagiert Arne V ­ ogelgesang visuelle Referenzen, Fundstücke und Zeugnisse der Bühnen- und Videoarbeiten des Theaterlabels internil. Sie bebildern zentrale Themen und Rechercheinteressen der gemeinsamen Arbeit: Gesichter und Masken, Köpfe und Körper, Ansprachen und Spiegelungen, politische Privatisierung und die Rolle ihrer medialen Technologien.

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Folgende Arbeiten von internil sind in der Bildserie zu sehen: MAUSER Lehrstück, internil, 2009/10 Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen NEUE LIEBE Performance, internil, 2013/14 Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen UNTERGRUND Performance, internil, 2014 Finanziert durch den Bremer Autorenund Produzentenpreis In Kooperation mit dem Theater­ discounter Berlin ANDERS Performance, internil, 2014–2016 Gefördert vom Programm flausen – young artists in residence, dem Fleetstreet Residenz-Programm, der Rudolf Augstein Stiftung und der Hamburgischen Kulturstiftung GLÜHENDE LANDSCHAFTEN Performance, internil, 2015 Gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei / Kulturelle Angelegenheiten In Kooperation mit dem Theater­ discounter Berlin

AGGROPROLYPSE Performance, internil, 2016 Koproduktion mit dem Monologfestival 2016 FLAMMENDE KÖPFE Lecture Performance, Arne Vogelgesang / Wiebke Rüter, 2017–2019 Produktion des Schauspiel Dortmund In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung STAATENLOS Performance, internil, 2017–2019 Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds In Kooperation mit Theaterdiscounter und Vierte Welt LOCKDOWN Webserie, Marina Dessau / Arne Vogelgesang, 2020 Produktion des Staatstheaters Darmstadt In den verschiedenen Stücken spielten: Franka Beck, Christopher Böhm, Marina Dessau, Katharina Havernich, Patrick Heppt, Stefan Kreissig, Anne Noack, Jessica Schwan, Arne Vogelgesang, Christoph Wirth, Tobias Wollschläger

MIRROR STAGE Installation, Arne Vogelgesang / internil, 2016 Ein Projekt im Rahmen der Forecast Platform Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen In Kooperation mit CREW / Eric Joris (BE)

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Bildnachweis Der Verlag hat sich um die Einholung der Abbildungsrechte bemüht. Da in einigen Fällen die Inhaber der Rechte nicht zu ermitteln oder zu kontaktieren waren, werden rechtmäßige Ansprüche nach Geltendmachung abgegolten. Umschlagrückseite: Marcus Lieberenz / bildbuehne.de S. 52 © The Universal Order / Digital positive from the original gelatin silver negative in the George Eastman Museum’s collection S. 58 © Orlova S. 64 „The Religious Experience of Philip K. Dick“ © Robert Crumb, 1986. Reprinted by permission of the author S. 74 © Sovfoto/UIG S. 82 © PhotoXpress/ZUMA Press S. 86 © Bundesarchiv, B 145 Bild-P046271 / Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.0 S. 92 © dctp.tv / Alexander Kluge S. 114 © Gianfranco Mantegna / Leihgabe The Living Theatre Archives S. 120 © Zan Wimberley. Leihgabe der Künstlerin; Frith Street Gallery, London; Marian Goodman Gallery, New York / Paris S. 134 © Leihgabe des Künstlers, Cabinet Gallery, London; Isabella Bortolozzi Galerie, Berlin; Gladstone Gallery, New York; dependance, Brussels S. 142 © Loris MG Rizzo S. 144 © Estate of Chris Burden / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 S. 158 © IMAGO / Leemage S. 178, 180 © Arne Vogelgesang

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Bildserie Arne Vogelgesang S. 190–203 1_lockdown_doppelseite Alle Bilder: © Marina Dessau / Arne Vogelgesang 2_neueliebe_doppelseite 2 Fotos oben rechts: © Jule Roehr Reihe unten links: Screenshots Rest: © Arne Vogelgesang 3_masken_doppelseite 2 Fotos rechts (ANDERS Bielefeld): © Tom Dobrowski 1 Foto unten rechts: © Nils Bröer Bilder Mitte und unten Mitte: © Arne Vogelgesang Rest: Screenshots von Videomaterial auf YouTube u. a. 4_kopf_doppelseite Bild: © Arne Vogelgesang 5_spiegelwald_doppelseite Reihe 3 Spalte 2: © Birgit Hupfeld links oben: Screenshot von Videomaterial auf YouTube Rest: © Arne Vogelgesang 6_reichsbürger_doppelseite Foto Mittelleiste unten: © Nils Bröer Übrige Bilder Mittelleiste und Mitte rechts: © internil Rest: Screenshots von Videomaterial auf YouTube u. a. 7_ankuendigung_doppelseite Fotos oben: © Nils Bröer Foto unten rechts: © Arne Schmitt Bild unten links: © internil


Thomas Oberender, geboren in Jena, war Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele und Intendant der Berliner Festspiele / Gropius Bau. 2016 startete das von ihm konzipierte Programm „Immersion“. Er veröffentlicht Stücke, Kritiken und Essays über zeitgenössische Künstler sowie politische und ästhetische Transformationsprozesse. Arne Vogelgesang, geboren in Berlin (Ost). Regieausbildung am Max Reinhardt Seminar Wien, Gründungsmitglied des Theaterlabels internil. Unter diesem und eigenem Namen seit 2005 Arbeit als Theaterund Videokünstler. Experimentiert mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien und Performance.



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