Learning for the Future. Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste

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Learning for the Future



Learning for the Future

Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste Herausgegeben von Hans-Jürgen Drescher, Johannes Hebsacker, Antonia Leitgeb und Daniel Richter

Edition Bayerische Theaterakademie August Everding


Learning for the Future Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste Herausgegeben von Hans-Jürgen Drescher, Johannes Hebsacker, Antonia Leitgeb und Daniel Richter © 2024 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany tdz.de Layout: Florian Fischer Lektorat: Iris Weißenböck Englischsprachige Korrektur: James Conway Projektleitung: Johannes Hebsacker Printed in Germany ISBN 978-3-95749-508-2 (Paperback) ISBN 978-3-95749-510-5 (EPUB) ISBN 978-3-95749-509-9 (ePDF) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bayerischen Landtags.


Inhaltsverzeichnis 11

Grußwort Barbara Gronau

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Grußwort Robert Brannekämper

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Zukunft erzählen. Konferenz zur Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste Hans-Jürgen Drescher

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Für die Zukunft lernen, schon heute. Die Dokumentation Johannes Hebsacker, Hans-Jürgen Drescher, Antonia Leitgeb und Daniel Richter

1 Wissen produzieren 30

(Un)Learning for the Future. Transformation der Wissensproduktion in Hochschulen und Theatern Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter

40

Kunst als Wissen, als Experiment, als Studium Friedrich Kirschner

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Kunstprozesse vor Kunstproduktion. In die Zukunft geschrieben Adrienne Goehler

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Reality Check. Ehemalige Studierende über ihre ersten Jahre im Beruf Demjan Duran, Jana Gmelin, Danae Kontora, Antonia Tretter und Nicolas Fethi Türksever

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103 Words of Friendship. A Lexicon for a Theatre Academy of the Future Manolis Tsipos

2 Diversität entwickeln 64

All in. Inklusion im Theater und in der Theaterausbildung Max Dorner, Angelica Fell, Nele Jahnke, Malte Jelden, Johanna Kappauf, Georg Kasch und Jutta Schubert

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72

Queering Identity and Art. Körper auf der Bühne Josef Bairlein, Pınar Karabulut, Georg Kasch und Philipp Moschitz

80

Vielfalt ist mehr als ein Trend. Wie ein Schauspielstudium wirklich divers werden könnte Çağla Şahin

85

Eine Politik der Fragilität Yener Bayramoğlu

90

Combining Art with Political and Social Claims Clothilde Sauvages

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Aktivismus im Theater Carolin Wirth

95

Partizipatives Musiktheater. Von Aktionstickets, Live-Abstimmungen und der Partitur als Material Teresa Martin

3 Theater organisieren 102

Theater zukunftsfähig machen. Öffnen, flexibilisieren, lernen Antigone Akgün, Benedikt Kosian, Jasmin Maghames, Tine Milz, Moritz von Rappard, Anke Schmitz, Maximilian Sippenauer und Anne Wiederhold-Daryanavard

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Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen Jennifer Gunkel

118

The Blob und das Lachen der Medusen. Eine Gedankenskizze über das egalitäre Gagensystem am Theater Neumarkt Tine Milz

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No Reason To Get Excited. Kollektive Praxis Kollektiv Common Ground

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Wie Theater ökologisch nachhaltig handeln können Vera Hefele

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Das vernetzende Theater als lernfähiges Theater. Kultureinrichtungen in Zeiten der Krise Johannes Hebsacker

138

Kulturpolitik der Zukunft. Neue Rahmenbedingungen für das Theater im 21. Jahrhundert Georg Diez, Hans-Jürgen Drescher, Ute Gröbel, Lisa Jopt und Jonas Zipf

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4 Digitalität gestalten 148

Uncanny Valley. Konzepte von Mensch und Technologie im Theater Malena Große, Benno Heisel, Tina Lorenz, Ilja Mirsky und Chris Salter

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Acting Robots Jakob Altmayer

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Wearable AR – Textile Image Marker für AugmentedReality-Anwendungen. Eine Prozessbeschreibung Lea Unterseer

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E-Textiles Simon Rauch

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Komponieren im Metaverse. Wie kollaboratives Arbeiten auf verschiedenen Plattformen funktionieren könnte Matthias Röder

5 Zukunft denken 178

Kreativwirtschaft als Motor des Wandels. Eine Vision für das Jahr 2040 Christina Zimmer

184

Infrastrukturen der Demokratie. Theater im Zeitalter der Komplexität Georg Diez

190

Zukunftsvorstellungen. Was Theaterschaffende von der Zukunftsforschung lernen können David Weigend

196

Wissen für die Zukunft Andreas Wehrl

201

Rebuilding the Future in an Adjacent Area Sivan Ben Yishai

Anhang 209

Konferenzprogramm

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Autor:innen

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Herausgeber:innen

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Nachweise

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Grußwort

Barbara Gronau

Der vorliegende Band ist die zweite Publikation der Schriftenreihe der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Ihr Ziel es ist, aktuelle Diskurse des Theaters mit Fragen der Ausbildung, des institutionellen Wandels und der künstlerischen Praxis zu verknüpfen. Anlässlich des 30. Jubiläums der Theaterakademie fragte der Band Das Flüchtige gestalten (2023) nach der wechselvollen Geschichte des Lehrens und Lernens der Darstellenden Künste. Im vorliegenden Buch Learning for the Future richtet sich der Blick nun nach vorn, in die Zukunft. Wie alle Ausbildungseinrichtungen steht auch die Theaterakademie inmitten eines gesellschaftlichen Wandels. Mit ihm verbunden sind Veränderungen des Theaters als Kunstform, als Ausbildungsgegenstand und als Institution. In unserer Zeit, die von Umbrüchen und Krisen gekennzeichnet ist, sind wir aufgefordert, Antworten auf viele Fragen zu finden: Wie wollen wir als Theaterschaffende zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen? Welche künstlerischen Formen beschreiben unsere Gegenwart? Wer hat an ihnen teil und wer nicht? Welche Horizonte kann das Theater eröffnen? Zu diesen Fragen versammelt der vorliegende Band ein breites Spektrum luzider Analysen, persönlicher Statements und künstlerischer Positionierungen. Er präsentiert kollektive Arbeitsstrukturen und nachhaltiges Produzieren ebenso wie die Überlegungen zu neuen Ästhetiken und Techniken der VR-Brille. Die Zukunft – so zeigt sich darin exemplarisch – beginnt schon in der Gegenwart. Wie wir das Kommende denken und beschreiben, mit welchen Hoffnungen, Befürchtungen oder Forderungen wir es verbinden, hängt von den Bedingungen ab, unter denen wir es imaginieren. Theater sind Seismografen der Gegenwart, sie machen Krisen, Bedürfnisse, Entwicklungen oder auch das Übersehene, Verdrängte sichtbar. Zugleich sind sie Ausblicke, oder, wie Everding sagte: „Kunst stellt nicht fest, sie ahnt, was sein wird.“ Zukunft, so zeigt sich deutlich, ruft permanent zu ihrer Gestaltung auf. Das Theater hat deshalb immer mehr als eine rein abbildende Funktion. Es ist das Labor, in dem Zukünftiges ausprobiert und entworfen werden kann. Die Bayerische Theaterakademie entwirft diese Zukünfte im Kollektiv.

Barbara Gronau Präsidentin der Bayerischen Theaterakademie August Everding

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Grußwort

Robert Brannekämper

Es war richtig und wichtig, dass die Bayerische Theaterakademie August Everding sich an drei Tagen im Juni 2022 in einer Zukunftskonferenz ebenso vielfach wie vielfältig mit der Frage auseinandersetzte, wie das Theater im Jahr 2040 wohl aussehen werde. Zwei Dekaden im Voraus wollte man eigentlich denken – dass es wegen Corona letztlich nur noch 18 Jahre waren, zeigt, wie fragil die Kunst gegenüber äußeren Einflüssen sein kann. Um nicht von Pandemien, digitalen Quantensprüngen und einem unvorhersehbaren Zeitgeist getrieben zu werden, haben Kultur- und Theaterschaffende gemeinsam mit Studierenden und Lehrenden über alternative Zukunftsentwürfe nachgedacht und debattiert, damit am Ende – im Jahr 2040 – nicht die Dystopie auf den Bühnen regiert, sondern kreative Utopien von heute dem Theater den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft gezeigt haben werden. Eines wurde dabei rasch klar: Das Theater der Zukunft wird kein Kokon des Bewahrens sein, sondern ein Raum, der jene Themen, welche die Gesellschaft gerade aktuell prägen, viel umfassender als bisher aufgreifen wird. Dies bedingt wiederum Akteure, die darauf vorbereitet sein müssen, weshalb die Zukunftskonferenz viel Zeit und Kreativität mit der Frage verbrachte, wie sich die Ausbildung der Theaterschaffenden verändern muss. Dabei waren Schauspielschüler in die diversen Gesprächs- und Diskussionsforen ebenso eingebunden wie gestandene Mimen, die jene Ausbildung, die man ihnen einst angedeihen ließ, mit Blick auf ihre heutige Tätigkeit reflektierten. Mit so viel Praxisbezug hat man sich dieses Themas selten angenommen. Dass diese Zukunftskonferenz aber zugleich den Blick über den künstlerischen Tellerrand gewagt hat, zeigt, wie umfassend der visionäre Ansatz hier verfolgt wurde. Da ging es um Fragen der künftigen Arbeitszeiten und der Entlohnung ebenso wie um Ökologie und Inklusion, als etwa erörtert wurde, wie sich der Theaterbetrieb mit energetischen Einsparungen in Einklang bringen lässt oder wie nicht nur der Zuschauerraum, sondern auch der Bereich hinter dem Vorhang so zu gestalten ist, dass sich auch Menschen im Rollstuhl dort barrierefrei bewegen können. Hält man sich dabei das ehrwürdige Prinzregententheater als Spiel- und Ausbildungsstätte der Bayerischen Theaterakademie August Everding vor Augen, wird plötzlich deutlich, welche Herkulesaufgabe damit verbunden ist. Antworten auf diese Herausforderungen zu finden, ist aber nicht nur Sache der Theaterleute alleine, sondern zugleich Auftrag an eine verantwortungsvolle und vorwärts schauende Kulturpolitik.

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Die Zukunft kommt, ob wir das wollen oder nicht. Welche Zukunft kommt, können wir jedoch mitgestalten und mitentscheiden. Diesen Ansatz hat die Zukunftskonferenz pragmatisch verfolgt – und zwar dergestalt, dass ein Zukunftsforscher seine Methodik vorgestellt und die Frage in den Raum gestellt hat, was davon für das Theater der Zukunft interessant sein könnte. Ein Denken in Szenarien also, ein Blick in das Theater von morgen, verbunden mit dem festen Vorsatz, die Lehren für die Zukunft bereits in der Gegenwart zu ziehen. Eine wahrlich verlockende Herangehensweise, die angesichts einer vom rasanten technologischen Fortschritt geprägten Welt äußerst interessante Ergebnisse hervorgebracht hat. Angesichts von in immer kürzeren Intervallen auf uns hereinbrechenden Veränderungsprozessen wird dieser Blick vorwärts in die Zukunft und danach sogleich rückwärts in die Gegenwart zu einer Daueraufgabe werden – nicht nur für das Theater. Die Zukunftskonferenz des Jahres 2022 hat eindrucksvoll gezeigt, dass unser Theater bestens für die vor ihm liegenden Herausforderungen gerüstet ist: mit Mut zur Veränderung und mit Elan für Neues.

Robert Brannekämper, MdL Ehemals Vorsitzender, nun stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft und Kunst im Bayerischen Landtag

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Zukunft erzählen

Konferenz zur Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste Hans-Jürgen Drescher

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit als heterogen, diskontinuierlich und kontingent dazu geführt, dass Modelle systematischer und vereinheitlichender Welterklärung und der politischen Umsetzungen, für die sie das theoretische Fundament bildeten, in Zweifel gezogen wurden. So konnte poststrukturalistische Theorie vom Ende der großen Erzählungen sprechen, vom Ende der Metaerzählungen der Moderne, die dazu dienten, gesellschaftliche Institutionen, politische Praktiken, Ethik und Denkweisen zu legitimieren. Die Theorie vom Ende der großen Erzählungen hat nicht nur die Postmoderne eingeläutet, sondern auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass unsere gesellschaftliche Gegenwart von Erzählungen konstituiert wird. Es ist ein wirkmächtiges Narrativ, das die Wahrnehmung unserer Lebenswelt beherrscht und weitgehend unser Denken und Handeln, unsere Diskurse bestimmt: Es ist das Narrativ der Krise. Die Flüchtlingskrise, die durch den radikalen Klimawandel verursachte Krise, die durch die Coronapandemie und durch den Krieg in Europa ausgelösten globalen Krisen haben dazu geführt, dass die Fortschrittserzählung der Aufklärung, die über einen langen Zeitraum die Triebkraft westlich-kapitalistischer Gesellschaft bildete, in unserer Gegenwart zunehmend von der Krisenerzählung abgelöst wird. Wenn die Fortschrittserzählung der Aufklärung, die geschichtsphilosophische Metanarration von der teleologischen Bestimmtheit des Weltenlaufs, die die Entwicklung vom Niederen zum Höheren, die zunehmende Verbesserung menschlicher Lebenswirklichkeiten noch garantierte – wenn diese Erzählung ihre Geltung verliert, dann geht die auf die Zukunft gerichtete zuversichtliche Perspektive menschlichen Denkens und Handelns verloren. Dass die Krisenerzählung die Oberhand über die Fortschrittserzählung gewinnt, nimmt nicht wunder, sind wir doch in unserer hypermedialen Gesellschaft permanent katastrophalen Bildern ausgesetzt, die Befürchtungen wecken, Angst erzeugen und Perspektiven verengen und damit das, was uns lebendig hält, unser Future Mind, unseren Zukunftssinn, lähmen. Sinn der Konferenz war, sich nicht von den Dystopien unserer Gegenwart vereinnahmen zu lassen, sondern utopischem Denken und seinen Transformationspotenzialen

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Raum zu geben. Worum es ging, hat Joseph Beuys formuliert: „Die Zukunft, die wir wol-

len, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ Zukunft muss gestaltet werden, mehr noch: Sie entsteht im Prozess des Gestaltens. Doch wo setzt Gestaltung an, wie und unter welchen Konditionen wird sie vollzogen? Welchen gegenwärtigen Bedingungen ist sie unterworfen? Wie erhalten wir uns unsere gestalterische Freiheit und vermeiden, uns vor den Karren einer transformation by desaster spannen zu lassen? Wie verändern wir uns im Prozess der Gestaltung? Diese Fragen wurden im Hinblick auf die Zukunft des Theaters und die Ausbildung für die Darstellenden Künste gestellt. Gleichsam als Basso continuo begleitete uns während der Konferenz die Frage: „Wie sieht das Theater im Jahr 2040 aus?“ und indizierte damit unser methodisches Vorgehen. Wir ließen uns als bekennende Star Trek-Fans nicht nur vom legendären Intro zu den Filmen – „Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200“ – inspirieren, sondern auch von der Methode der Re-Gnose. Der Trendforscher Matthias Horx war es, der dem bereits vorbestehenden Begriff mit seinen Schriften einen größeren Raum des Diskurses eröffnet hatte. „Wir schreiben das Jahr 2040“ – das war das Mantra, das die Speculative Thinkings, die Table Talks, die Open Tables und all die Diskurse unserer Konferenz begleiten sollte. Wir trauten uns, den Weg der Re-Gnose, der „Wieder-Schöpfung“ zu gehen, geistig in die Zukunft zu springen, die wir wollen, und von dort aus auf unsere Gegenwart zurückzublicken. Dabei fragten wir uns, auf welchem Weg wir den zukünftigen Standpunkt erreichen konnten und was sich unterwegs alles verändert hat. Im Gegensatz zur Prognose stellt die Re-Gnose nicht die Frage, wie die Zukunft selbst beschaffen sein könnte. Matthias Horx sagt: „In der Re-Gnose erkennen wir, dass wir selbst es sind, die die Zukunft erzeugen. […] Die Zukunft wird zum Wandel, der wir selbst sind.“ Da wir behaupteten, das Jahr 2040 zu schreiben, blickten wir von der Warte der Zukunft aus auf die Geschichte des Theaters zurück und erzählten, wie es sich ­entwickelt, wie es sich verändert hat. Hervorheben möchte ich, dass diese Erzählungen vom Möglichkeitssinn bestimmt wurden. Aus Perspektive des Jahres 2040 hat das Theater die Tiefenkrisen als Chance begriffen, sich strukturell und inhaltlich zu erneuern: Theater hat sich zur Inklusion bekannt, lebt Diversität und Vielfalt in allen erdenklichen Bereichen und bekämpft jede Form des Ausschlusses. Wertebasierte Verhaltenskodizes haben dazu beigetragen, alle Formen von Machtmissbrauch zu überwinden. Auch wenn Theater nicht aus dem Auge verloren hat, dass Verausgabung und Verschwendung zum Spiel gehören, haben seine Bemühungen um Nachhaltigkeit Früchte getragen. Es hat nicht nur energieeffiziente Technologien genutzt, sondern auch in seiner thematischen Ausrichtung den Post-Wachstumsdiskurs befördert. Theater hat Digitalität schätzen gelernt. Über ihren technologischen Aspekt hinaus ist sie zur künstlerischen Triebkraft geworden. Sie hat Anteil an den Strukturen und Inhalten des Spiels und der Erzählungen und hat die Ästhetik des Theaters in Theorie und Praxis bereichert. Theater hat die klassischen Spielstätten verteidigt und gleichermaßen den Stadtraum erobert. Theater hat neue architektonische und soziale Räume geschaffen – Proberäume zur Gestaltung von Kunst und Kommunität. Es hat künstlerischen Po-

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tenzialen für gesellschaftliche Transformation eine Bühne eingeräumt und dabei auf kollektive Prozesse der Interaktion zwischen Darstellenden und Zuschauenden gesetzt. Theater hat seine Vorreiterrolle in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel wahrgenommen und erweitert und ist zum Experimentierraum für gesellschaftliche Transformationsprozesse geworden. Mit Unterstützung der Kulturpolitik sind auch im Theater selbst die notwendigen strukturellen und inhaltlichen Veränderungen verwirklicht worden. Bei allem Wandel hat Theater die Gewissheit bewahrt, dass es ein Ort der Kunst ist, ein Ort der Differenz und des Nicht-Affirmativen. Wenn wir aus der Perspektive des Jahres 2040 auf die Ausbildung fürs Theater schauen, wird uns klar, dass sie dessen Wandel vorangetrieben und den Studierenden als personifizierter Zukunft die Gestaltungshoheit überlassen hat. Theaterhochschulen sind zu Laboratorien für künstlerische Forschung und gesellschaftliche Transformation geworden. Verlassen wir das Morgen, überspringen das Heute und begeben uns ins Gestern, genauer ins Jahr 2012: Vor zehn Jahren fand an der damals noch sehr jungen Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg eine erste Zukunftskonferenz unter dem Titel Wie? Wofür? Wie weiter? – Ausbildung für das Theater von morgen statt. Weniger in der Hoffnung, konkrete Antworten auf die Frage nach der besten und zukunftsfähigsten Ausbildung geben zu können, als vielmehr angetrieben von dem Wunsch, überhaupt erst einmal den Gedankenaustausch zwischen den öffentlichen Theaterhochulen im deutschsprachigen Raum zu beleben, hat die ADK Ludwigsburg, die ich seinerzeit als Künstlerischer Direktor und Geschäftsführer aufbauen durfte, in Kooperation mit der Dramaturgischen Gesellschaft eine Konferenz zu den Perspektiven der Ausbildung für die Darstellenden Künste veranstaltet. In Ludwigsburg trafen sich Dozierende und Studierende deutschsprachiger Theaterhochschulen, Theaterpraktiker:innen, Expert:innen aus anderen Disziplinen sowie Vertreter:innen von Kunsthochschulen aus dem europäischen Ausland, um zu diskutieren, vor welchen Herausforderungen die künstlerische Ausbildung heute steht: Für welches Theater bildet man eigentlich aus – für welche Kunst also, aber auch für welchen Markt? Wie bildet man am besten aus? Welche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Kenntnisse benötigen junge Künstler:innen jetzt – angesichts der verschiedenartigen Erscheinungs- und Produktionsformen von Theater, die wir bereits heute verzeichnen, sowie den daraus resultierenden Beschäftigungsverhältnissen? Wie ermächtigt man angehende Theaterschaffende, selbst herauszufinden, welcher Weg, welche Ästhetik, welche Arbeitszusammenhänge für sie die richtigen sind, und diese dann zu beschreiten bzw. zu praktizieren? Wie begleitet man junge Künstler:innen bei ihren ersten beruflichen Schritten? Mit welchen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen kann man sie in ihrer künstlerischen Entwicklung unterstützen? Welche Auswirkungen haben schließlich die europäischen Harmonisierungsprozesse im Bereich der Hochschulbildung für die künstlerische Ausbildung? Die Münchner Zukunftskonferenz Learning for the Future baute auf den Ludwigsburger Fragestellungen auf, stellte aber die Frage nach der Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste wesentlich deutlicher in den Kontext sich radikal wandelnder gesellschaftlicher Entwicklungen und Erfordernisse. Es ging um die Gestaltung unserer Zukunft und um den Beitrag, den das Theater und

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die Ausbildung fürs Theater dazu leisten können. Das vielgestaltige und umfangreiche Programm der Konferenz versuchte, getragen von Studierenden, Theaterschaffenden, von Expert:innen verschiedener Disziplinen, Perspektiven für die anstehenden Transformationsprozesse zu eröffnen. Ich komme zum Schluss zur Ausgangsüberlegung, dass die gesellschaftliche Gegenwart von Narrativen bestimmt ist, zurück. Den Erzählungen trauen wir nicht nur eine große Wirkmächtigkeit, sondern auch bedeutende gestalterische Potenziale zu. Die Theatererzählung nimmt dabei aufgrund ihrer Struktur eine außergewöhnliche Stellung ein. Denn sie erwächst aus dem Spiel der Fiktionen auf der Bühne und eröffnet dadurch unendliche Möglichkeiten der Gestaltung. Wenn es darum geht, Zukunft zu gestalten, spielt die Theatererzählung eine der Hauptrollen. Theatererzählungen sind Zukunftserzählungen.

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Open Table Founding an International University for Performing Arts



Für die Zukunft lernen, schon heute Die Dokumentation

Johannes Hebsacker, Hans-Jürgen Drescher, Antonia Leitgeb und Daniel Richter

In einer sich permanent wandelnden Umgebung ist zentral, mit immer wieder n ­ euen Situationen umgehen zu können und auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können. Lernfähigkeit wird zu einer vorrangigen Fähigkeit von Theaterschaffenden und Theaterbetrieben, aber auch zu einem wichtigen Ausbildungsinhalt für Theaterstudierende. Für die Zukunft zu lernen bedeutet dabei nicht nur, als Individuum oder Organisation Veränderung oder Wandel zu üben, mit Komplexität umzugehen und Neues aufzunehmen. Lernfähig zu sein bedeutet, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu geben 1, Fehler zu machen, Fehlerkulturen zu pflegen 2 und Feedbackprozesse zu gestalten. Es bedeutet, in Szenarien denken und Perspektiven wechseln zu können. Lernfähigkeit erfordert demnach innere Diversität und interdisziplinären Austausch, aber auch Konnektivität von Individuen, Organisationen oder Systemen zwischen ihrem jeweiligen Innen und Außen. 3 Lernfähig zu sein bedeutet, offen und damit verletzlich zu sein. 4 Lernfähigkeit beschreibt in diesem Sinne ein bestimmtes „Weltverhältnis“: Lernfähige Individuen oder Betriebe sind responsiv, sie lassen sich von ihrer Umwelt betreffen, sie gehen auf Äußeres ein, reagieren, 5 sie sind flexibel und beweglich. Lernfähige Menschen oder Betriebe begreifen die Prämissen ihrer Arbeit und ihres Handelns als kontingent, 6 das bedeutet, dass auch professionelles Wissen nicht mehr als vorgegeben, sondern ebenfalls als kontingent verstanden wird. 7 Die Frage: „Könnte es anders sein?“ 8 wird zur ständigen Begleiterin in Lernprozessen. Lernfähig zu sein ist demnach kein Zustand und keine Methode, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern ein nie abgeschlossener Prozess. 9 Vom 15. bis zum 17. Juni 2022 trafen sich Praktiker:innen und Forschende mit internationalen Studierenden an der Theaterakademie August Everding, um verschiedene Visionen für die Darstellenden Künste, ihre Institutionen und die Ausbildung zu diskutieren. In Workshops, bei Open Tables, Impulsvorträgen, Tischgesprächen und künstlerischen Interventionen wurde deutlich: Lernen bedeutet, Wissen zu produzieren, Digitalität zu gestalten, Diversität zu entwickeln, Theater neu zu organisieren

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und Zukunft gemeinsam zu denken. Der vorliegende Band dokumentiert Visionen und Wünsche, bereits erprobte oder noch zu erprobende Strategien, Impulse aus (vermeintlich) theaterfernen Disziplinen mit dem Ziel, davon schon heute für die Zukunft zu lernen.

Wissen produzieren In (Un)Learning for the Future betonen Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter die Notwendigkeit des bewussten Abbaus oder der kritischen Infragestellung von bestimmten Machtstrukturen, Gewohnheiten oder Überzeugungen. Die Teilnehmer:innen betonen, dass „Unlearning“ kein einmaliges Ereignis ist, sondern ein fortlaufender, manchmal schmerzhafter Prozess des Hinterfragens von etabliertem Wissen und Normen, der zu einer inklusiven und diversen Praxis von Theatern und Theaterhochschulen beiträgt. Wissen wird durch künstlerische Praxis hergestellt und erfahrbar. In Kunst als Wissen, als Experiment, als Studium unterstreicht er deshalb die Notwendigkeit, Studierende zu ermächtigen, ihre eigene Praxis des Wissenserwerbs zu gestalten, anstatt vorgefertigtes Wissen zu konsumieren. Aus einer soziologischen Perspektive plädiert er für einen Übergang von einer institutionalisierten Weitergabe von Wissen zu einer Praxis der Wissenserkundung, in der Studierende aktiv an der Strukturierung, Subjektivierung und Pluralisierung von Wissen teilhaben. Adrienne Goehler entwirft in ihrem Brief Kunstprozesse vor Kunstproduktion, die Lernumgebung junger Theaterschaffender und Studierender als geprägt von vielfältigen Herausforderungen wie der Coronapandemie, der Klimakrise und gesellschaftlichen Veränderungen. In diesem Umfeld können junge Menschen besonders dazu befähigt werden, etablierte Normen zu hinterfragen, neue Allianzen zu bilden und den Fokus auf künstlerische Prozesse über den Produktionszwang zu stellen. In Reality Check reflektieren ehemalige Studierende der Theaterakademie August Everding ihre Ausbildung anhand ihrer Erfahrungen in ihren ersten Berufsjahren. Demjan Duran, Jana Gmelin, Danae Kontora, Antonia Tretter und Nicolas Fethi Türksever fragen sich: Worauf habe ich mich vorbereitet gefühlt, worauf nicht? Was hätte ich gerne früher gewusst? Ihre Auseinandersetzung verdeutlicht die Komplexität der Theaterwelt und die vielfältigen Herausforderungen, mit denen Absolvent:innen beim Berufseinstieg konfrontiert sind. Sie wirft auch Fragen nach der Weiterentwicklung der Theaterausbildung und den Arbeitsbedingungen in der Branche auf. Sieben Theaterstudierende aus verschiedenen europäischen Ländern erörtern im Rahmen eines mehrtägigen Workshops während der Zukunftskonferenz, wo sie bereits in der Gegenwart Zukunft entdecken, was an ihren Hochschulen schon heute gut funktioniert, was sie dort vermissen und wodurch sich gute Freund:innen auszeichnen. Manolis Tsipos dokumentiert ihren gemeinsamen Arbeitsprozess. Das entstandene Lexikon 103 Words of Friendship gruppiert sich um Begriffe wie Sensibilität, Kooperation, Vertrauen, Unsicherheit, Flexibilität oder Neugier. Es beschreibt die Suche nach einer gemeinsamen Sprache über die Zukunft und einer geteilten Vision für eine neuartige Theaterakademie.

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Diversität entwickeln Wie gelingt All in im Theater? Max Dorner, Angelica Fell, Nele Jahnke, Malte Jelden, Johanna Kappauf, Georg Kasch und Jutta Schubert diskutieren den Begriff Inklusion, Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, das Werkstattsystem, in dem Menschen mit Behinderung meist arbeiten, und die Herausforderungen auf dem Weg zu einem inklusiven Theaterbetrieb. Die mangelnde Verfügbarkeit von Ausbildungsangeboten sowie finanzielle und bürokratische Hürden werden als zentrale Barrieren identifiziert. Die Diskussionsteilnehmer:innen sprechen sich dafür aus, dass Menschen mit Behinderung Zugang zu bestehenden Arbeits- und Ausbildungssystemen erhalten sollten, anstatt für sie separate Systeme aufzubauen. In Queering Identity and Art zeichnen Josef Bairlein, Pınar Karabulut, Georg Kasch und Philipp Moschitz die Geschichte der Queerness im Theater von Shakespeare bis heute nach, diskutieren Rollenfächer, Rollenklischees und Besetzungspolitiken auf der Bühne und in der Theaterausbildung, im Schauspiel und in der Oper. Die Gesprächspartner:innen weisen darauf hin, dass das Leitungspersonal in Theatern und Hochschulen institutionelle Veränderungen fördern muss, um Queerness besser zu integrieren. Çağla Şahin beobachtet jedoch, dass sich gerade Theaterhochschulen zwar vielfältiger präsentieren, für gelebte Diversität erforderliche Anpassungen im Lehr- und Probenbetrieb jedoch ausbleiben. In Vielfalt ist mehr als ein Trend plädiert sie für umfassende Veränderungen in der Schauspielausbildung, um Diversität nachhaltig zu integrieren. Sie beschreibt Konzepte queerer Lehre, inklusiver Lehre und antirassistischer Lehre und fordert geschulte Dozierende, einen bewussten Umgang mit Queerness, Anpassungen für Studierende mit Behinderung und eine Auseinandersetzung mit rassistischen Denkstrukturen. Yener Bayramoğlu skizziert Eine Politik der Fragilität, eine Vision für das Jahr 2040, in der die Gesellschaft gelernt hat, die Fragilität des eigenen Seins, die Verletzlichkeit der Demokratie und die Fragilität der Hoffnung anzuerkennen. Vor dem Hintergrund der queeren und der postkolonialen Theorie plädiert er für einen epistemischen Wandel, der Peripherien in den Mittelpunkt rückt und eingeübte Grenzziehungen hinterfragt. In Combining Art with Political and Social Claims präsentiert Clothilde Sauvages mit dem Leitbild der Ouishare Community einen Ansatz, künstlerische und politische Praktiken zu verbinden. Das internationale Netzwerk vernetzt Akteur:innen aus unterschiedlichen Bereichen und versucht so, Themen möglichst ganzheitlich zu betrachten. Dass Diversität nicht nur hinsichtlich der im Theater versammelten Personen gedacht werden kann, sondern auch hinsichtlich der dort vertretenen Formen und Dramaturgien, zeigen zwei Beiträge von Carolin Wirth und Teresa Martin. Carolin Wirth weist darauf hin, wie immersive Bühnenanordnungen, in denen sich ein Publikum frei bewegen kann, eine Möglichkeit von Aktivismus im Theater darstellen können. Teresa Martin plädiert in Partizipatives Musiktheater für eine aktive Teilhabe des Publikums am künstlerischen Prozess, indem Zuschauer:innen an einer Szene mitwirken, indem unterschiedliche stellvertretende Akteur:innen in die Konzeption und/oder Probenarbeit eingebunden werden oder indem Teilhabe durch unterschiedliche Angebote der Barrierearmut ermöglicht wird. Sie illustriert ihre Argumentation anhand konkreter Produktionen, die verschiedene Formen der

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Partizipation nutzen und einen tradierten Werkbegriff hinterfragen. Martin unterstreicht, dass eine Zukunft für die Oper in einer Vielseitigkeit liegt, die das heterogene Publikum einbezieht.

Theater organisieren Wie können wir Theater zukunftsfähig machen? Antigone Akgün, Benedikt Kosian, Jasmin Maghames, Tine Milz, Moritz von Rappard, Anke Schmitz, Maximilian Sippenauer und Anne Wiederhold-Daryanavard diskutieren, wie sich Theater anhand der Parameter Personal, Programm, Publikum, Ort, Kommunikation und Partnerschaften wandeln können. Als gute Beispiele beschreiben sie unter anderem: demokratische Kommunikation etablieren, strategische Kooperationen mit anderen (Kultur-)Institutionen eingehen, um voneinander lernen zu können, die Einführung von Wahlpreismodellen, die Berufung kollektiver Leitungen und die Verankerung von Transformationsmanager:innen oder Prozessstellen, die Veränderung in Theatern initiieren, kommunizieren und begleiten. Nur wenn Theaterbetriebe flexibel und lernfähig werden, können sie auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren. Jennifer Gunkel beschreibt in Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen eine volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Welt, in der die Arbeitsweisen der New Work zum Standard werden und Organisationen demokratischer und flexibler werden. Die Fähigkeit, kreativ mit Veränderungen umzugehen, Ideen zu generieren und flexibel zu agieren, wird als essenziell für den Erfolg in einer sich rasch wandelnden Arbeitsumgebung angesehen. Tine Milz stellt in The Blob und das Lachen der Medusen das transparente Gagensystem des Theater Neumarkt vor, das auf Fairness, Vergleichbarkeit und Kooperation abzielt. Durch die klare Kommunikation und Gleichbehandlung aller Künstler:innen, unabhängig von ihrem Status, wird versucht, einem tradierten Geniekult entgegenzuwirken. Wie kollektives Arbeiten funktionieren kann, wird anhand der Praxis des Münchner Kollektivs Common Ground deutlich. Common Ground engagiert sich in der Aktivierung von Leerständen für Kunst und politisches Engagement. Sein Fokus liegt auf integrativem, kreativem und gemeinschaftlichem Arbeiten. Durch selbstorganisierte Projekte in ungenutzten Gebäuden schafft es neue Umgebungen für Experimente. In No Reason To Get Excited reflektierten die Mitglieder ihre kollektive Praxis. Wie Theater ökologisch nachhaltig handeln können, veranschaulicht Vera Hefele in ihrem gleichnamigen Beitrag. Sie benennt zentrale Parameter und Hebel, die Theatern dabei helfen können, ökologisch nachhaltig zu handeln. Durch die Erstellung einer Klimabilanz können Kulturbetriebe gezielt Maßnahmen zur Reduzierung ihres CO2-Fußabdrucks ergreifen, insbesondere in emissionsstarken Bereichen wie Publikumsmobilität und Energiebezug. Sie diskutiert, ob das Ziel der Emissionsreduktion auch künstlerische Freiheit einschränkt, und skizziert Strategien für eine partizipative ökologische Transformation von Betrieben: Ausprobieren, Fehler machen, Verwerfen und Neuansetzen sind wichtige Bausteine, um Neues zu lernen. Johannes Hebsacker dokumentiert in seinem Beitrag, wie deutsche Theater im Kontext des Ukrainekriegs agieren. Seine Untersuchung zeigt, wie die Theater für ihre Ukraineaktionen verschiedene Akteur:innen versammeln, die Kontakte, Wissen, Geld,

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Räume oder Ideen für Aktionen teilen und damit ihre Handlungsoptionen ­erweitern. Dabei treffen die Theater immer auch politische Entscheidungen und entwerfen sich selbst: Sie entwickeln eine Vorstellung davon, was Theater ist (sein soll) und wer bzw. was dort handelt (handeln soll), welchen Themen sich Theater öffnet (öffnen soll). In diesem Sinne beschreibt er Das vernetzende Theater als lernendes Theater, das Möglichkeitsraum sein kann, Impulsgeber und Ressource für politische Initiativen, Austragungsort von Konflikten oder Akteur in der Kulturdiplomatie. Denn Theater stehen vor zahlreichen großen Aufgaben: Sie wollen ihre Emissionen reduzieren, diverser werden, attraktiv sein für Kreative, sie wollen als Betrieb agiler und lernfähig werden. Wie können öffentliche Träger die Theater dabei unterstützen? Wie könnten gemeinsam erarbeitete Zielvereinbarungen Theater stärken? Kurz: Wie funktioniert die Kulturpolitik der Zukunft? Georg Diez, Hans-Jürgen Drescher, Ute Gröbel, Lisa Jopt und Jonas Zipf heben das Innovationspotenzial von Theater und der Freien Szene hervor. Sie problematisieren, dass die Darstellenden Künste einerseits auskömmlich finanziert werden müssen, um die Tarifsteigerungen des NV-Bühne genauso zu ermöglichen wie Mindesthonorare in der Freien Szene, eine echte Veränderung starrer Strukturen andererseits jedoch nicht mit Geld erreicht werden kann.

Digitalität gestalten Im Gespräch über das Uncanny Valley im Theater und der Technologie erörtern Ilja Mirsky, Tina Lorenz, Malena Große, Benno Heisel und Chris Salter Wechselwirkungen zwischen Mensch/Technologie oder Körper/Maschine. Wie denken Menschen Technologie, wie interagieren sie mit ihr und wie funktioniert Digitalität im Theater? Die Gesprächsteilnehmer:innen betonen, inwiefern Vertrautes in Neues eingeschrieben wird und menschliche Fantasie ein integraler Bestandteil von Technologie ist. Jakob Altmayer berichtet in Acting Robots von seiner Teilnahme am gleichnamigen Workshop, bei dem ein Roboterarm als kreatives Gegenüber im Theater untersucht wurde. Vor dem Hintergrund einer eigenen Produktion mit einem Industrieroboter reflektiert er die Herausforderungen der Probenarbeit mit Robotern. Lea Unterseer dokumentiert in Wearable AR – Textile Image Marker für Augmented Reality Anwendungen die Arbeit mit textilen Markern auf Kostümen, die Live-Interaktionen ermöglichen, und Simon Rauch beschreibt E-Textiles als Kostüme mit eingewebten elektronischen Elementen, die mithilfe von leitfähigem Garn und einem programmierbaren Controller gesteuert werden können. Er betont die kreative Vielfalt solcher Kostüme, die beispielsweise leuchten oder tönen können, und sieht in der Möglichkeit, diese Effekte mit den eigenen Bewegungen zu steuern, neue Ausdrucksweisen für Schauspieler:innen. Mathias Röder entwirft in Komponieren im Metaverse schließlich eine Vision über den künstlerisch-produktiven Alltag einer ko-komponierenden Person im Jahr 2040. Er zeigt, wie Künstler:innen in dieser Zukunftsumgebung kollaborieren, Musik generieren, Verträge gestalten und ihre Werke auf vielfältige Weise präsentieren können.

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Zukunft denken Krisen beschleunigen Transformation, schreibt Christina Zimmer. In Kreativwirtschaft als Motor des Wandels weist sie jedoch darauf hin, dass die gegenwärtige ­multiple Krise nicht allein mit technischen Mitteln zu bearbeiten ist, zu komplex sind ihre Herausforderungen. Sie hebt die Rolle der Kreativwirtschaft für die Gestaltung von Wandel hervor. Diese verfügt über die Kompetenzen und das Wissen, Lösungsansätze ganzheitlich zu denken und komplexe Prozesse und Strukturen zu gestalten. Denn Kreativität ist nach Zimmer die Fähigkeit, sich an die Gegebenheiten einer sich permanent verändernden Welt anpassen zu können, um handlungs- und so zukunftsfähig zu sein. In ihrer Vision für 2040 wachsen Wohnen, Leben und Arbeiten zusammen, werden Städte zu essbaren Gärten und vertrauen Gesellschaften auf ihre Handlungsfähigkeit. Geht es nach Georg Diez, wird sich das deutsche Theater bis 2040 in eine Arena des kollektiven Lernens und demokratischen Experiments verwandeln. Nach der Krise der repräsentativen Demokratie in den 2020er Jahren wird das Parlament an Bedeutung verlieren und Bürger:innenräte werden zur Normalität. Diese Entwicklung führt zu einer radikalen Neudefinition von Bürgerlichkeit und dem Verständnis, dass alle Bürger:innen den Staat repräsentieren. Theaterleiter:innen werden ihre gesell­schaftliche Verantwortung erkennen und ihre Häuser für Diskussionen, Workshops und demokratische Prozesse öffnen. Die Theater dienen so als Infrastrukturen der Demokratie, als Laboratorien für die Bewältigung komplexer Herausforderungen. David Weigend stellt fest, dass Menschen häufig von ganz bestimmten Zukunftsvorstellungen geprägt sind, wenn sie sich Zukünfte ausmalen, zum Beispiel aus ScienceFiction-Filmen oder Romanen. Solche Zukunftsbilder würden häufig reproduziert und seien meist erstaunlich traditionell. Er stellt deshalb verschiedene Methoden der Zukunftsforschung vor, die dabei helfen sollen, komplexer und differenzierter über Zukunft nachzudenken, darunter das Denken in Szenarien, die Verbindung von Wünschen und Fakten, das Einbeziehen verschiedener Perspektiven, die Bildung kreativer Teams und die Gestaltung von Settings für kritische Reflexion. Weigend betont die Bedeutung partizipativer Ansätze und hebt den Einsatz von spielerischen Strategien zur Förderung des Verständnisses komplexer Systeme hervor. Er schließt mit der These, dass sich gerade Theater solcher partizipativer und kreativer Methoden bedienen und damit neue Zukunftsvorstellungen fördern kann. Andreas Wehrl berichtet in Wissen für die Zukunft von der Schwierigkeit, Überlegungen über die Zukunft anzustellen, insbesondere hinsichtlich der Grenzen menschlichen Wissens. Eine Möglichkeit, dieser Schwierigkeit zu begegnen, liegt darin, diverse Wissensformen für das Nachdenken über Zukunft oder für in die Zukunft gerichtetes Handeln produktiv zu machen. Neben dem wissenschaftlichen Wissen nennt er unter anderem: das spielerische Wissen, das unsichtbare Wissen (wie beispielsweise indigenes Wissen), das narrative Wissen, das oral oder performativ verbreitet wird, und das ertrunkene oder verlorene Wissen. In Rebuilding the Future in an Adjacent Area erzählt Sivan Ben Yishai Zukunft. Sie erzählt von einer gebauten Struktur, von der Zeit, vom Verfall und vom Werden, von Veränderung, vom Neuen und Alten, vom Leben, vom Körper, von Erinnerung, von Auflösung und Rekonstruktion, vom Paaren und Gebären und vom Wachsen.

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Der vorliegende Band Learning for the Future. Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste ist Produkt zahlreicher Handlungen, Verbindungen und Arbeitsstunden. Wir Herausgeber:innen danken allen Autor:innen, die ihre Vorträge oder Diskussionsbeiträge überarbeitet oder neue Texte verfasst haben. Namentlich danken möchten wir Inge S­­­chielein und Constanze Sünwoldt für die Organisation der Konferenz, Iris Weißenböck für das sorgfältige Lektorat, Paul Tischler vom Verlag Theater der Zeit, der die Dokumentation mit ermöglicht hat, Florian Fischer, der die grafische Gestaltung verantwortet, und Paula Krapp, die uns tatkräftig bei den Transkriptionen der lebhaften Diskussionen unterstützt hat.

FUSSNOTEN 1 Vgl. u.a. Brocchi, Davide: By Disaster or by Design? Transformative Kulturpolitik: Von der multiplen Krise zur systemischen Nachhaltigkeit, Wiesbaden 2023, https://doi.org/10.1007/978-3-65838965-9, S. 558f. 2 Vgl. u.a. Birnkraut, Gesa: „Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb“, in: Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kultur­ managements, hrsg. v. Henning Mohr und Diana Modarressi-Tehrani, Bielefeld 2022, S. 129. 3 Vgl. u.a. Schneider, Martin und Markus Vogt: „Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz“, in: Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, hrsg. v. Maria Karidi, Martin Schneider und Rebecca Gutwald, Wiesbaden 2017, S. 116f. 4 Vgl. u.a. ebd., S. 114f. 5 Vgl. u.a. ebd., S. 110 und 114f. 6 Vgl. Pors, Justine Grønbæk und Niels Åkerstrøm Andersen: Potentialisierung organisieren. Die Entstehung eines neuen Wohlfahrtstaatsregimes?, Wiesbaden 2019, S. 305f. 7 Vgl. ebd., S. 4. 8 Pors und Andersen, S. 299f, 305f. 9 Vgl. u.a. Schneider und Vogt: „Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen D ­ imensionen von Resilienz“, S. 114f.

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Workshopatmosphäre, Drama! Reflexionsraum für junge Theatermacher:innen



1 Wissen produzieren


OPEN TABLE

(Un)Learning for the Future Transformation der Wissensproduktion in Hochschulen und Theatern Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter

Wie Verlernen funktionieren kann Antonia Tretter Was möchtet ihr verlernen? Hayat Erdoğan Ich würde gerne Antworten verlernen, die eine absolute Gewissheit vorgeben. Etwa, dass es nicht eine Antwort auf die Frage gibt, was Theater ist. Nur diese Frage zu stellen, zeigt schon die Komplexität auf. Von welchen Ästhetiken, welchem Kanon, welchen Spielweisen, welchen Arbeitsweisen, welchen Produktionsbedingungen, welchen Sprachen usw. geht man aus, wenn man darauf antwortet? Ich bin als Theaterdozentin an der Hochschule gelandet, weil ich dachte, wenn man Theater als Kunstapparate, als Kunstproduktionsstätten und auch die Kunstform und die Ästhetiken verändern, weiterentwickeln möchte, dann muss man da ansetzen, wo der Nachwuchs ausgebildet wird. Welche Inhalte werden dort gesetzt, welche Ästhetiken und Traditionen werden weitergegeben und reproduziert? Welche Bildungstheorien sind am Werk? Denn Bildungstheorien festigen gewisse Machtstrukturen, die Asymmetrien enthalten, weil sie vielleicht an einem Bildungskanon festhalten, der unbeweglich, gar hegemonial erscheint. Das sind gewissermaßen Antworten, die ich verlernen möchte. Was nicht bedeutet, dass ich sie vergessen oder gar ersetzen möchte. Es geht mir eher darum, diese zu erweitern, in ein Verhältnis zu setzen, zu befragen, was sie vielleicht mit einer eigenen privilegierten Position zu tun haben. So gesehen bin ich in Hinsicht auf die Frage des Unlearnings mit Sicherheit auch von Gayatri Spivak beeinflusst. Aus ihrer Perspektive hat Unlearning etwas damit zu tun, dass man versteht zu lernen, die eigenen Privilegien als Verlust anzuerkennen. Also die Fähigkeit, uns als historische Subjekte zu verstehen, die immer Teil sind von gesellschaftlichen Prozessen, in denen wir bestimmte Positionen einnehmen. Dass ich Europäerin

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bin, bedeutet, dass ich eine gewisse Handlungsmacht habe. Mir dies bewusst zu machen und mich dazu ins Verhältnis zu setzen und dieses wiederum in einen größeren Kontext, ist Teil des Unlearnings. Marijke Hoogenboom Ich habe in der Vorbereitung eine Liste zusammengestellt mit allem, was ich schon verlernt habe. Dabei habe ich festgestellt, dass davon sehr wenig für meine Arbeit relevant ist und viel mehr für mein Privatleben. Das finde ich eigentlich schade, weil ich glaube, es wäre sehr relevant, dass wir benennen können, was wir auf unserem professionellen Weg verlernt und uns bewusst abgewöhnt haben. Ich habe während der Konferenz beobachtet, dass wir schon sehr systemimmanent miteinander sprechen. Wir stellen unsere Institutionen und unsere eigene Position kaum infrage, „we take it for granted“. Aber ich würde schon zur Diskussion stellen wollen, welche Erwartungen wir zum Beispiel an eine Kunsthochschule haben. Ich würde mich wirklich sehr gerne dafür einsetzen, dass dieses Monopol aufgebrochen wird. So wie sich die Kunsthochschule als Apparat entwickelt hat, haben wir uns sehr dazu verpflichtet, immer eine Antwort parat zu haben und immer irgendwie aufzeigen zu können, wie wir etwas machen, und dass wir etwas richtig machen. Die Kunsthochschule ist ein unglaublich regulierter Betrieb geworden. Müssten wir uns nicht gemeinsam für eine deutlich vielfältigere Bildungslandschaft einsetzen? Wenn wir diese vergleichen mit dem professionellen Feld, dann reden wir immer von Stadttheater, Freier Szene und Festivals. Es wäre doch fantastisch, wenn wir so ein Äquivalent auch in der Bildungslandschaft hätten. Ich glaube, nicht alle müssen diesen Apparat durchlaufen, wie wir ihn heute haben. Wir könnten mehr Diversität in Bildungsbiografien erlauben. Ich möchte aber auch das Potenzial einer lernenden Institution nicht vergessen: Herausforderungen anzuerkennen und weiter zu lernen hat auch eine Qualität. Amelie Deuflhard Wir arbeiten international und da ist das Verlernen ein wichtiger Begriff. Denn sobald man mit Künstler:innen aus der ganzen Welt arbeitet, sobald man mit der Diaspora in unseren Großstädten arbeitet, mit internationalen Künstler:innen aus unseren Städten, mit geflüchteten Künstler:innen, lernt man sehr schnell, dass wir unsere Privilegien verlernen müssen. Hayat hat Spivak erwähnt. Pointiert formuliert: Wir müssen erkennen, dass uns unsere Privilegien nichts nützen, weil sie uns die Sicht auf die Welt versperren. Und wenn wir das jetzt auf Theater übertragen, dann müssen wir feststellen, dass die Theater weiterhin unglaublich privilegierte Betriebe sind. Sie haben ein sehr bürgerliches Publikum. Es wird viel zu wenig gemacht, um diese hochsubventionierten Betriebe so zu gestalten, dass alle Steuerzahler:innen Zugang haben, egal, aus welcher Schicht, egal, welcher Herkunft, egal, ob sie behindert oder nicht-behindert sind. Unsere Betriebe sollen in Bezug auf Publikum, in Bezug auf die beteiligten Bühnenkünstler:innen, in Bezug auf unsere eigenen Mitarbeiter:innen das widerspiegeln, was unsere Gesellschaft ausmacht. Steffen Jäger Was ich verlernen will, ist etwas, was ich selbst in meiner Regieausbildung vermittelt bekommen habe und woran ich mich jetzt in meiner Arbeit am

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meisten stoße. Es ist eine Art Selbstbild oder eine Selbstgewissheit, die wir als Universitäten, aber auch als Theatermenschen häufig in gesellschaftspolitische Debatten einbringen. Wir sehen uns als per se tolerant, progressiv und weltoffen an. Das ist ein Image, das irgendwie nicht hinterfragt oder angekratzt werden darf, von dem einfach ausgegangen werden soll. Ein oft genutztes geflügeltes Wort beschreibt diese Haltung ganz gut: Wir vom Theater halten der Gesellschaft den Spiegel vor, damit die Gesellschaft eine Erkenntnis hat oder mit Widerstand reagiert oder Besserung gelobt. In diesem Sinnbild positionieren wir uns nicht als Teil der Gesellschaft, sondern als ein Gegenüber, das sie betrachtet und reflektiert. Auf uns selbst muss das Ganze aber überhaupt keinen Effekt haben: Wir müssen uns nicht verändern, wir kommen ja unserer Aufgabe nach. Ich würde diese Haltung gerne hinterfragen und das Theater wie auch die Universitäten stärker in der Gesellschaft verorten. Dafür können wir zum Beispiel fragen, wer eigentlich beteiligt ist an dem, was hier besprochen wird, wer mitgedacht wird und wer sich eingeladen fühlen darf. Für mich ist Theater häufig eine Art öffentlich finanzierter Polo-Club. Nicht alle Menschen verstehen, wie das Spiel funktioniert. Nicht alle Menschen kommen rein. Nicht einmal alle Menschen wissen, wo er ist. Aber alle finanzieren den Club. Und ich bin offen dafür, die Universitäten wie auch die Theater zu öffnen. Barbara Gronau Wie geht eigentlich aktives Verlernen? Kann das ein Ich überhaupt? Wir können aktiv verdrängen, wir können passiv vergessen, aber aktiv verlernen können wir eigentlich nicht. Jedenfalls nicht nach gängigen Lerntheorien. Was verstehen wir also unter Verlernen, was ist das für ein Prozess? Darauf habe ich im Laufe der Arbeit der letzten Jahre vielleicht zwei Antworten für mich gefunden. Ich arbeite als Wissenschaftlerin an einer Kunsthochschule. Das hat dazu geführt, dass ich gelernt habe, die Habitualisierung, die Hierarchisierung und die Formen von Erkenntnis, mit denen ich aufgewachsen bin, infrage zu stellen. Ich habe gelernt, wissenschaftliche Erkenntnisse als Ergebnisse historischer und kultureller Zusammenhänge zu verstehen. Wir haben vor zehn Jahren ein Graduiertenkolleg an der Universität der Künste gegründet, es heißt Wissen der Künste. Dort haben wir untersucht, inwiefern die Künste selbst Wissen produzieren, inwiefern sie Wissen verschieben, inwiefern sie neue Wissensfelder generieren und damit eine ganz wichtige gesellschaftliche Schnittstelle besetzen. Dennoch ist die Hierarchie der Wissensformen immer noch wirksam. Meine zweite Antwort rührt aus der Erfahrung, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Themen wie Machtkritik, Diversität, dekoloniale Ästhetik werden zunehmend von weißen, heteronormativ positionierten Wissenschaftlerinnen, Theoretikerinnen, als Thema eingebracht. Problematisch ist das, wenn quasi appropriativ ein Thema aufgegriffen wird, ohne dass sich die Strukturen ändern. Verlernen könnte also bedeuten, das eigene Ich durch ein Wir zu ersetzen und die Verpflichtung anzuerkennen, anderen Perspektiven Platz zu machen. Das ist in Institutionen viel schwerer als gedacht. Denn das heißt, ich werde ersetzt durch jemand anderes oder dieses Modul wird ersetzt durch ein anderes. Es bedeutet die Umgestaltung von Curricula, von Strukturen, von Personalbesetzungen. Und ich denke, das ist die Aufgabe der Institutionen in den kommenden Jahren.

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Antonia Tretter Ich stelle fest, dass ich immer wieder versuchen muss, mich von meinen eigenen Sozialisationsprozessen zu lösen, seien es Konkurrenzdenken, Leistungsdruck oder auch hegemoniale Strukturen, in denen ich aufgewachsen bin. Damit meine ich konkret, dass unsere Schulen und Universitäten nach bestimmten Normen strukturiert sind, die sexistisch, rassistisch, klassistisch und ableistisch sind. Das muss ich anerkennen und fragen, welche Konsequenzen das hat. Das ist aber kein Prozess, den ich einmal anfange und der irgendwann erledigt ist. Der Prozess ist schmerzvoll und anstrengend. Doch ich finde es sehr ermutigend, dass wir hier offen darüber reden und nicht so tun, als hätten wir das Unlearning heute erledigt.

Strukturen verlernen Antonia Tretter Wir haben während dieser Konferenz immer wieder benannt, dass Hochschulorte weiße Orte sind, exklusive Orte, gekennzeichnet von Dominanzstrukturen. 1 Wir müssen von den dominanten Bildern, die wir im Kopf haben, wegkommen. Deshalb die ganz interessierte Frage an die Vertreter:innen der Hochschulen: Wie kommen wir denn davon weg? Marijke Hoogenboom In einer Hochschule ist Umbauen die härteste Übung, die man machen kann, weil es dabei wirklich ans Eingemachte geht. Man muss sich trauen, bestimmte Inhalte durch andere Inhalte zu ersetzen. Man muss sich auch entscheiden, dass man umbesetzt ‒ bis hin zur eigenen Position. Wir sprechen über öffentlich-rechtliche Institutionen mit sehr nachhaltigen Strukturen. Das heißt dann auch, Veränderungen sind sehr langsame Prozesse, die man nicht mit Gewalt durchsetzen kann und möchte, sondern mit Fairness. Dabei ist es tatsächlich auch interessant, über Lerntheorien zu sprechen. Was bedeutet lernen? Sprechen wir über Orte der Wissensproduktion oder der Wissensreproduktion? Die Hochschulen bilden üblicherweise spezifisch für die nachfolgenden Systeme aus, also beispielsweise für Stadttheater. Die Theaterakademie ist ein unglaublicher Wissensraum, der uns etwas suggeriert. Und wir haben diesen Bühnenraum, wenn man so will, seit zwei Tagen umfunktioniert in etwas anderes. Offensichtlich geht das und ich glaube, diese Art von Transformation muss man sich vorstellen. Aber an der Schwelle zu dieser Hochschule steht natürlich doch ein normatives Bild einer Berufspraxis, die im Moment existiert. In diesem Sinne sind Theaterhochschulen von ihrer ganzen Ausrichtung her konservative Institutionen. Zudem sind Hochschulen ausgesprochen exklusiv. Das muss man anerkennen. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht verändern müssten. Sie wählen aus vielen Bewerber:innen sehr wenige Studierende aus. Kann man das noch aufrechterhalten in dieser Form? Gleichzeitig dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass wir nicht auch in Zukunft an Fragen gemessen werden wie: Werden dort Menschen für ­einen ­Beruf befähigt? Haben die Absolvent:innen eine Anstellung? Wenn das u ­ nser primäres Ziel ist, reproduzieren wir nur den Status quo. Wenn wir daraus ausbrechen wollen, müssten wir entscheiden, nicht mehr oder nur zum Teil

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für einen ­existierenden Markt auszubilden. Man müsste über den Markt der Zukunft spekulieren und a ­ kzeptiert dann auch, dass das, was man anbietet, möglicherweise keine Berufsausbildung mehr ist, sondern ein bildungsorientiertes Studium. Barbara Gronau Ich möchte ergänzen, dass es in Bezug auf Bildungsinstitutionen letztlich immer nur zwei Möglichkeiten gibt: neue Institutionen zu gründen, um aus der institutionellen Tradition herauszukommen – die Idee der Free International University, die Joseph Beuys in den frühen 1980er Jahren eingebracht hat, ist ein Beispiel dafür, Mignolos Konzept des „Delinking“ spielt da eine Rolle – oder bestehende Institutionen in einem langwierigen Prozess umzubauen. Der Umbau ist schwerfällig, weil er auf so vielen Ebenen geschehen muss: Inhalte, Personalstruktur, Finanzierung, Zugänglichkeit, Beschaffenheit der Räume. Solche Transformationen sind unangenehm, es gibt Kämpfe, es gibt Streit. Auch wenn alle für Wandel sind, ist dessen Durchsetzung oder das Finden eines Konsenses oft ein jahrelanger Prozess des Aushandelns. Sich auf diesen Prozess einzulassen und ihn mitzugestalten ist, glaube ich, die Herausforderung an uns. Marijke Hoogenboom Die niederländische Hochschulwelt, aus der ich komme, war sehr beeinflusst davon, dass irgendwann die Kultus- und Bildungsminister:innen top-down entschieden haben, allen Kulturinstitutionen einen zusätzlichen Leistungsauftrag zu geben. Neben der Kunst und neben der Vermittlung sollten sie sich auch der Talententwicklung annehmen. Es gibt keine einzige institutionelle Struktur dort, die nicht selbst darüber nachdenken muss, wie sie junge Talente fördern und in irgendeiner Form auch ausbilden kann. So ist eine echte Konkurrenzsituation entstanden zu den Hochschulen. Der Leidensdruck in den Hochschulen stieg, sie mussten sich zur neuen Konkurrenz verhalten. Daraus sind interessante Kooperationsmodelle entstanden. In Amsterdam zum Beispiel haben wir den „Runden Tisch Talententwicklung“ gegründet, damit sich Produktionshäuser, Ensembles, Theatergruppen direkt mit den Studiengängen austauschen – im Interesse der jungen Künstler:innen. Man hat also, was ich richtig finde, Alternativen unterstützt, damit Kulturinstitutionen unter eigenen Bedingungen, mit eigenen Ideen, mit eigenen Ressourcen, mit eigenen Leuten interessante Schulungsformate aufbauen können. Steffen Jäger Das finde ich ein super Beispiel! Es befreit uns als Hochschule aber nicht davon, trotzdem für die Menschen, die zu uns kommen wollen, offen zu sein. Ich habe in Zürich bei einer Konferenz mit einer Schwarzen Schauspielerin gesprochen, die mich gefragt hat, wie man eigentlich Dozent:in werde. Ihre Karriere verlaufe erfolgreich und eigentlich würde sie auch gerne als Dozentin tätig sein. Darauf musste ich ganz ehrlich sagen: Ich weiß es nicht. Ich selbst war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und wurde von meiner späteren Mentorin angerufen, ob ich Lust hätte zu unterrichten. Ich hatte das Glück, von ihr über zehn Jahre pädagogisch aufgebaut und ausgebildet zu werden. Aber es gab kein Türchen, das offen war. Es gibt also für viele Menschen auf vielen verschiedenen Ebenen keinen Weg in die Hochschulen.

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Gerade jetzt befinden wir uns in einer interessanten Zeit, in der die Studierenden viel Veränderung einfordern. Sie kommen mit einem eigenen politischen Willen an die Universitäten und scheitern leider oft innerhalb von wenigen Monaten an dem System in Form ihrer Dozierenden und werden aufgehalten in ihrem Wollen. Es braucht dann vier Jahre, bis sie praktisch zur Ruhe gestellt wurden und systemkonform sind. Das schockiert mich in vielerlei Hinsicht. Christine Schmalor (aus dem Publikum) Ich bin Programmdirektorin des World Theatre Training Institute in Berlin. Wir sind privat organisiert und kümmern uns vor allem um die Entwicklung von Theatertrainingsmethoden. Dabei arbeiten wir unter anderem eng mit Hochschulen zusammen. Um diese Methoden Lehrenden zu vermitteln, haben wir am Centro Universitario de Teatro – UNAM in Mexiko einen Master-Studiengang als Pilot durchgeführt: „Teaching Professional Theatre Practice“. Die Studierenden (selbst Lehrende am CUT) wurden damit beauftragt, die nächsten Auditions durchzuführen, weil sie sagten, sie würden die falschen Personen aufnehmen. Nach einem Jahr hatten sie eine ganz neue Struktur von Studierenden. Sie berichteten uns, sie würden nun ganz anders arbeiten. Es reicht nicht, als Dozent:in selbst gut spielen zu können und weiterzugeben, was man selbst schon immer gemacht hat. Die Lehre muss sich grundlegend verändern: vom Wissenstransfer zur gemeinschaftlichen Forschung, bei der mit den Studierenden neues Wissen generiert wird.

Welches Wissen Hochschulen vermitteln Antonia Tretter Diese Gedanken möchte ich gerne aufgreifen. Welche Wissensformen sollten Hochschulen lehren? Welche Wissensformen kennen wir überhaupt? Was für einen Wissensbegriff haben wir? Amelie Deuflhard Wie alle Hochschulen organisieren auch die Theaterhochschulen vorrangig die Ausbildung des Nachwuchses, der überwiegend gebraucht wird, also des Nachwuchses für das Stadttheatersystem. Das intendieren die Hochschulen so wahrscheinlich nicht, aber eigentlich ist es der Normalfall. Und wer geht an die Hochschulen? Beuys hat gesagt, jeder Mensch sei ein Künstler, aber davon entfernen wir uns immer weiter. Im großen Förderprogramm Neustart Kultur galt, künstlerischer Nachwuchs wird nur dann gefördert, wenn er aus künstlerischen Hochschulen kommt. Was ist aber mit den Künstler:innen, die aus dem Street Dance kommen, aus Populärkulturen, die häufig sehr viel diverser sind als die Hochschulen? Theater-Communitys gibt es in jeder Stadt. In Hamburg zum Beispiel haben wir eine Gruppe, die ursprünglich von zwei deutschstämmigen Regisseurinnen geleitet wird, aber ausschließlich mit unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen Stücke macht. Daraus ist ein weiteres Label entstanden, Mable Preach, eine Schwarze Künstlerin, die inzwischen eine riesige Verdrängungskraft entwickelt hat mit super Künstler:innen, die sehr nachgefragt sind, aber keine offizielle künstlerische Ausbildung haben. Deshalb kamen sie in kein Fördersystem. Sie hätten immer irgendwie nachweisen

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müssen, dass sie Künstler:innen sind. Wie weist man nach, Künstler:in zu sein? Es gibt zwei Möglichkeiten. Wenn man schon etabliert ist in Deutschland, könnte man es entweder nachweisen, indem man in der Künstlersozialkasse ist. Das heißt, man braucht gewisse Einkünfte durch die Kunst. Oder man weist nach, dass man Kunst studiert hat. Dabei war ja gerade in der Freien Szene immer klar, dass man keine Ausbildung haben musste. Stattdessen wird immer mehr institutionalisiert. Um aus dieser Entwicklung auszubrechen, wären neue Verbindungen hilfreich. Wie könnte man Mable Preach mit ihren Leuten in die Ausbildungsgänge einbinden? Die haben übrigens auch das Publikum, von dem alle Theater träumen. Hayat Erdoğan Ich denke gerade, ich unterschreibe alles, was wir hier besprechen. Gleichzeitig frage ich mich aber, über welche Zukunft wir die ganze Zeit sprechen. Wir reden, als wäre klar, für welche Idee, für welche Vorstellung von Zukunft man was, wie, mit welchen strukturellen Veränderungen verlernen möchte. Ehrlich gesagt habe ich gar keine so konkrete Vorstellung davon, was diese Zukunft überhaupt sein soll und von welcher Perspektive sie gedacht wird. Denken wir Zukunft aus der Perspektive der Apparate, in denen wir sitzen – etwa Theater und/oder Hochschulen – und die uns an eine bestimmte Idee von Theater erinnern? Mir scheint, wir sind uns mehr oder weniger einig, dass diese Idee von Theater ausgedient hat. Genauso wie die distinkten Merkmale einer Hochkultur, eines bürgerlichen Theaters, eines deutschsprachigen Klassikertheaters. Das wäre geradezu an den realen gesellschaftlichen Entwicklungen vorbeigedacht. Ich will diese Ideen aber auch nicht diskreditieren, sondern anerkennen, dass sie historisch von einem spezifischen Standpunkt und Kontext aus betrachtet eine wichtige Funktion hatten. Aber gleichzeitig gilt es, auch Entwicklungen wie beispielsweise Diversität und multigeografischen Biografien in einer globalisierten Welt, in der Mobilität und Digitalität unabdingbar sind, um nur einige Keywords zu nennen, Rechnung zu tragen. Und schließlich: Wie denken wir Zukunft aus der Perspektive der Wissensproduktion? Im Sinne von: Welche Anregungs-, Austausch-, Denk-, Bildungsstätten wollen wir, für wen, mit wem und wofür? Wie denken wir Zukunft aus der Perspektive der Kunstform(en)? Wie sollen die darstellende(n) Künste in Zukunft aussehen? Mit welchen Geschichten, für welche Zukünfte? Ich glaube, weil es um die Komplexität und die Anerkennung der multiplen Zukünfte aus verschiedenen Perspektiven geht, weiß ich nicht, was eine Zukunft sein soll, auf die wir uns zubewegen. Deshalb kann ich auch gar nicht sagen, was wir dafür verlernen müssten, nur mich kritisch denkend, mich zur Vielheit der Welt bekennend schöpferisch auf das Unbekannte hinbewegen. Barbara Gronau Ich glaube, diese Frage ist sehr produktiv. Wir reden meist, als käme die Zukunft irgendwie als ein Abstraktum auf uns herunter. Auch während dieser Konferenz. Aber jede Visionierung von Zukunft erfolgt von einer Position aus. Jede:r muss sich selbst fragen: Von wo aus will ich Zukunft denken? Ich möchte das von einer feministischen Position aus tun, die die Frage stellt vom Verhältnis von Nähe und Distanz in der Ausbildung der Darstellenden Künste, vom Verhältnis von Frauen in Positionen, in denen sie Verantwortung übernehmen können, Dozentinnen sind, Lehrende sind, Studierende sind usw. Ich möchte Zukunft aus

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dieser Perspektive denken und dazu beitragen, dass sich ein Feld ändert und entwickelt, das in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich viel verschlafen hat. Ich kann also immer nur einen Ausschnitt von Zukunft visionieren. Ich kann kein großes Abstraktum leisten, sondern mich immer nur fragen, für welche Zukunft ich selbst eintreten kann. Daphne Ebner (aus dem Publikum) Ich habe die letzten zehn Jahre als Stadttheaterdramaturgin gearbeitet und arbeite seit einem Jahr in der Theaterakademie, wo ich Dramaturgie studiert habe. Mich würde sehr interessieren, was die Studierenden heute wollen oder erwarten. In einigen Studiengängen wie Schauspiel, Musical, Operngesang oder Regie bilden wir viel mehr Menschen aus, als es Jobs gibt. Ich habe häufig den Eindruck, Studierende haben Angst vor dem Berufseinstieg. Sie fragen sich, ob sie zu den wenigen, die ein Engagement bekommen werden, gehören. Gleichzeitig scheint eine relative Unklarheit darüber zu herrschen, was beruflich möglich ist, wenn jemand kein Festengagement möchte oder es nicht bekommt. Im Studiengang Dramaturgie fällt mir dagegen auf, dass die Studierenden viel wollen, aber kein Engagement am Stadttheater. Wir wissen aus anderen Kontexten, dass wir nicht nur spekulieren sollten, wenn wir über Menschen sprechen. Fragen wir die Studierenden eigentlich genug, was sie von ihrer Ausbildung erwarten und wohin sie wollen? Marijke Hoogenboom Ich nehme von Studierenden einen positiven und konstruktiven Druck wahr, sie sind kritisch gegenüber der Leitung und ihren Dozierenden. Steffen hat das auch angedeutet. Sie wollen mehr Freiraum, um eine individuelle Lernbiografie entwickeln zu können. Stattdessen wird man üblicherweise in die Ausbildung aufgenommen, ist dann in einer Klasse und marschiert ein paar Jahre durch die Hochschule innerhalb eines sehr klar definierten Lehrplans. Das steht für mich wirklich zur Diskussion. In Zürich versuchen wir, Studierenden viel mehr Mobilität zu ermöglichen. Bei uns wurde das Schauspielstudium, teilweise zum Kummer der Dozierenden, sehr entschieden umgebaut, um das Klassensystem aufzulösen. Nun wird in Arbeitsoder in Projektensembles jahrgangsübergreifend gelernt. Es gibt außerdem ein Wahlpflichtcurriculum, in dem die Studierenden sich wirklich nach Interesse organisieren können. Zusätzlich machen wir eine Studienreform, die wir MajorMinor nennen. Darin können die Studierenden quer durch die gesamte H ­ ochschule Kurse zusammenstellen, von denen sie denken, sie sind eine gute Ergänzung zum Hauptstudium, also durch alle Fachbereiche, von Film über Tanz, Bildende Kunst, Musik oder Immersive Arts. Früher haben wir immer geschaut, was die Absolvent:innen machen, und dann geprüft, ob die Regisseur:innen in der Regie und die Dramaturg:innen in der Dramaturgie arbeiten. Viel spannender ist, zu verfolgen, wo sie hingehen, egal, was sie studiert haben. Dann wird das Bild des Theaterstudiums viel bunter und man erkennt, welche Möglichkeiten ein Studium in einem viel breiteren Bereich bietet.

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Funktioniert Veränderung als Top-down-Prozess? Lonnie Jasper (aus dem Publikum) Ihr tragt in verschiedenen (Macht-)Positionen Verantwortung. Welche Handlungsspielräume habt ihr innerhalb eurer Strukturen und wie nutzt ihr diese? Steffen Jäger Ich versuche einzufordern, dass es in den Hochschulen einen kontinuierlichen und institutionalisierten Transformationsprozess gibt, der auch evaluierbar ist. Ich stelle jedes Semester einmal die Frage, was wir im letzten halben Jahr getan haben, um beispielsweise Antirassismus oder Antiableismus zu stärken und neue Zugänge zu schaffen. Häufig lautet die Antwort: nichts. Dann ruht sich die Institution auf der Begründung aus, dass es nur begrenzte Ressourcen gebe und der ganze Stundenplan schon so voll sei, dass dafür nicht auch noch Zeit sei. Dabei sollte doch die Öffnung der Ausbildung im Zentrum stehen und kein optionales Extra sein! Natürlich machen wir tolle und wichtige Sachen als Hochschulen, aber wir müssen anfangen, uns erst als Unterdrückungsapparate zu verstehen, um Unterdrückung wirklich abbauen zu können. Das können alle pushen, die hier am Tisch sitzen. Marijke Hoogenboom Als Führungsperson glaube ich, ich muss Diversität top-down verordnen, sonst passiert zu wenig. Wenn wir systemische Öffnung wollen, müssen wir einfordern, dass sich das Personal in einer gewissen Weise ändert, dass sich die Inhalte in einer gewissen Weise ändern und dass wir die Zugänge für die Studierenden ändern. Uns läuft die Zeit davon, denn irgendwann werden die heutigen Kunsthochschulen nicht mehr relevant sein, weil sie sich gesellschaftlich ins Aus manövrieren werden, wenn sie sich nicht ändern. Man kann Veränderung also auch aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus begründen, wenn man sie nicht als gesellschaftliche Notwendigkeit anerkennen will. Daneben glaube ich, dass wir das Monopol unserer zentralen Institutionen relativieren und uns wirklich dafür einsetzen müssen, dass es verschiedene Player in dieser Bildungslandschaft gibt, wodurch eine immer größere Diversität an autonomen Strukturen entstehen könnte, die miteinander in den Dialog treten. Amelie Deuflhard Ich glaube nicht, dass man Diversität top-down verordnen kann. Wo unterschiedlichste Menschen aus unterschiedlichsten Gewerken mit unterschiedlichsten Hintergründen arbeiten und sich alle auf ganz unterschiedlichen Sozialisations-, kulturellen wie auch intellektuellen Niveaus befinden, kann man Antirassismus nicht verordnen. Stattdessen geht es darum, Antirassismus zu lernen, Mitarbeitende zu schulen, zu überzeugen, es geht darum, gemeinsam Erfahrungen zu sammeln und dann zu handeln. Nichts davon funktioniert aus meiner Sicht top-down. Das heißt, wir müssen die Institutionen bottom-up, topdown, von allen Seiten verändern. Marijke Hoogenboom In den Niederlanden ist es inzwischen undenkbar, dass es keine oder nur wenige People of Color in einer Kulturorganisation gibt. Dazu gibt

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es inzwischen eine ganz klare, quotierte Forderung, die mit dem Code Diversity & Inclusion als Selbstverpflichtung breit getragen wird und als Subventionsbedingung umgesetzt werden muss. Sobald man andere Menschen mit anderen Erfahrungen in einer Institution und in der Leitung hat, verändert sich sehr vieles sehr schnell. Amelie Deuflhard Wenn du meinst, es sollen Top-down-Quoten eingeführt werden, dann finde ich das gut. Marijke Hoogenboom Ja, das meine ich. Barbara Gronau Man kann den Bewusstseinsbildungsprozess nicht top-down organisieren, aber als Führungsperson kann man festlegen, dass ein Teil des Etats für Diversitätsbeauftragte und die Workshops ausgegeben wird, die jeden Dienstag verpflichtend stattfinden. Man kann seine Position nutzen, um bestimmte Instrumente im Betrieb zu verankern. Ob das den Bewusstseinsbildungsprozess ändert oder welche Effekte das erzeugt, muss man beobachten. Hayat Erdoğan Handlungsspielräume gibt es, man muss sie sich aber auch nehmen und erkämpfen. Sie entstehen vor allem dann, wenn man sich nicht immer nur an die Spielregeln hält, die man erbt, wenn man eine Institution übernimmt. Solche Spielregeln hat jeder Betrieb – ob ein Theater oder eine Hochschule. Und so wie sich Gesellschaften verändern, sind diese ja auch nicht für immer und ewig in Stein gemeißelt. Als Theaterleiterin ist man immer dafür verantwortlich, ob beispielsweise Strukturen und Selbstverständnisse erhalten oder noch rigider werden, oder dafür, ob und wie notwendige Veränderungen stattfinden können. Ich glaube, das Wichtigste ist, sich immer als Teil gesellschaftlicher Prozesse zu verstehen, und das bedeutet auch manchmal, sich als Institution als Teil eines Problems zu verstehen und nicht den Finger hinaus in die Welt zu richten, dann eröffnen sich Handlungsmöglichkeiten. Denn dann weiß man, wofür man da ist und wofür man sich einsetzen möchte.

FUSSNOTEN 1 Mit dem Begriff weiß ist hier eine Herrschaftskategorie gemeint.

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Kunst als Wissen, als Experiment, als Studium Friedrich Kirschner

Kunst ist eine nachhaltige, rastlose, sich immer wieder neu hinterfragende Praxis, die es anderen Menschen erlaubt, sich wie in einem Experiment auf andere Sichtweisen und Erklärungen der Welt einzulassen. Für mich ist das so. Kunst ist dauerhaftes Experiment. Kann man das unterrichten? Wie soll ein Studiengang aussehen, an dessen Ende eine Praxis des dauernden Experimentierens steht? In meiner bisherigen Auseinandersetzung mit der Frage danach, wie Unterricht an Kunsthochschulen zeitgemäß und zielführend gestaltet werden kann, haben mich diese Fragen kontinuierlich beschäftigt. Das Unterrichten hat meine Sicht auf Kunst, vor allem aber meine Sicht auf Wissen und dessen Abwandlungen, Formen und Ausprägungen nachhaltig geprägt. Ein Kunststudium ist, wenn man so will, ein Gefäß, in dem Gesellschaft stattfindet, durch Institutionen geformt, jedoch von Beginn an auf Subversion angelegt und im Konflikt mit sich selbst. Mit zunehmender Prekarisierung der Institution Hochschule auch ein Experiment unter zunehmend realen Bedingungen. Was ist Wissen, und wofür brauche ich es, wenn ich Kunst machen möchte? Vor allem aus der Wissenssoziologie lassen sich hierzu einige treffende Gedanken ableiten, die mich in der Strukturierung meines Unterrichts, aber auch in meiner Haltung gegenüber der Welt und der Kunst sehr beeinflusst haben.

Was ist Wissen? Bei Bruno Latour 1, besser aber noch bei Karin Knorr-Cetina 2 ist Wissen keine fixe Größe, die in einem kommunikativen Akt von einer Person zur anderen weitergegeben werden kann. Ihre Forschung zeigt eindrücklich, wie Wissen immer auch an einen politischen Kontext, an Menschen, Rollen, Objekte, Orte und präfigurierte Annahmen gebunden ist. Wissen ist nicht neutral. Wissen ist nicht objektiv. Wissen, so schreibt auch Donna Haraway 3, ist situativ. Und Wissen ist, was wir benutzen, wenn wir die Welt beschreiben und uns zugehörig fühlen. Kunst ist also eine Auseinandersetzung mit Wissen. Aber mit welchem? Wo kommt es her? Man muss diese Texte nicht gelesen haben, um festzustellen, dass viele der Themen, ästhetischen Praktiken und kulturellen Diskussionen unserer Zeit nicht mehr um Probleme kreisen, die durch eine Anhäufung von Wissen aufgelöst werden könnten. Die in den 2000er Jahren noch vertretene Utopie, die großen Herausforderungen der

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Welt ließen sich durch gesteigerte Kommunikation und Verfügbarkeit von Fakten überwinden, haben uns zu einer hochgradig individualisierten und deutlich weniger kohärenten Gesellschaft gemacht. Oder wie Hans-Georg Söffner es beschreibt: „Die Vergrößerung des Wachstums- und Handlungspotentials pluraler Vergesellschaftungsformen wird erkauft mit einem hohen Maß an Fragilität des Zusammenhaltes.“ 4 Als Kulturschaffender wie auch als Hochschullehrer frage ich mich natürlich, welche Konsequenzen diese massive gesellschaftliche Veränderung auf die Grundlagen meiner Kunst und meiner Wissensweitergabe in meinen beiden Rollen hat. In Gesellschaftsformen, in denen Wissen so stark pluralisiert ist, dass genügend Fragen nicht mehr eindeutig richtig oder falsch beantwortet werden können, erweitert sich die Bedeutung von Kunst, und ich finde besonders auch die Bedeutung von Theater – als Ort mit Potenzial für soziale Verhandlung.

Spiel als Verhandlung Einen Umgang mit der zunehmenden Fragmentierung von Wissensbeständen und dadurch einhergehender Entsolidarisierungsprozesse kann man in der Handlungsfähigkeit von spielerischen, fiktiven oder fiktionalisierten Situationen finden. Diese Handlungsfähigkeit kann in der Kunst, insbesondere im Theater, durch eine Erweiterung um interaktive, partizipative Formate hergestellt werden 5. Eine Erweiterung und Neubewertung der Kulturtechnik des Verhandelns als spielerischer Prozess erlaubt allen Teilnehmenden einen ermächtigenden Zugang, der individuelle Aneignung, Subversion und Neubewertung von vorherrschenden, institutionalisierten Interpretationen einer Tatsache durch eigene Handlung zulässt. Das Spiel erlaubt die Verlagerung der Konsequenz einer Handlung aus der unmittelbaren individuellen sozialen und politischen Situation hinaus in ein So tun als ob, in dem sich andere, fremde Zugänge, Wissensbestände und Konstellationen denken und vor allem auch in ihrer simulierten Konsequenz ausprobieren lassen. Im Gegensatz zur Debatte als Idealform des Ringens um die tatsächliche Wahrheit oder des Forschens als institutionalisierte Praxis der Generierung von Wissen kann die spielerische Verhandlung, eben wegen der Unbestimmtheit ihrer Konsequenz und wegen ihres individuellen Zugangs, zusätzlichen Raum bieten, die Pluralität der möglichen Wahrheiten und Interpretationen auszuloten. Es ist nicht die einzige Form, in der Multiperspektivität und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität hergestellt werden kann, aber es ist eine, die sich dem Theater ob ihrer Ästhetik, ihrer Praxis und ihrer Sprache anbietet. Sicherlich haben Fiktionalisierung, Aneignung und spielerischer Umgang mit Tatsachen ihre Grenzen, wenn eine gemeinsame Idee von Anstand und Respekt nicht mehr aufrechterhalten werden können. Echtes Spiel entsteht jedoch immer nur im solidarischen Konsens miteinander. Eine Eigenschaft, die nicht allen Kunstformen so direkt zugesprochen werden kann. Der Gegenstand meiner künstlerischen Auseinandersetzung ist also, Kunst als spielerisches, vermeintlich konsequenzfreies Angebot eines So tun als ob zu verstehen. Die Grundlage des von mir bis 2024 geleiteten Masterstudiengangs Spiel und Objekt, und, so denke ich, auch der Grund seiner Entstehung an einer renommierten deutschen Theaterhochschule, ist in dieser partizipativen Erweiterung des künstlerischen Möglichkeitsraums durch Theater begründet.

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Obwohl sich der Studiengang, wie es alle zeitgemäßen Studiengänge sollten, mit Fragen der Digitalisierung auseinandersetzt, unterscheidet er sich im Kern von einigen anderen institutionellen Akteuren im politischen Diskurs der Digitalisierung der Kulturlandschaft. Es geht in Gesprächen über das vermeintlich Digitale oft, so scheint mir, vor allem um einen Kompetenzerwerb zur arbeitsteiligen Einbettung von Fachkräften, um traditionelle Prozesse durch neue Technologie zu unterstützen. Das ist zu kurz gedacht und trägt der oben skizzierten gesellschaftlichen Veränderung nicht ausreichend Rechnung. Vor allem, weil die Digitalisierung der Gesellschaft nicht als Ursache, sondern als Konsequenz der Pluralität von Wissen gelesen werden muss. Die dauerhafte Debatte über Digitalisierung als Teil eines wie auch immer über uns hereinprasselnden technischen Fortschritts, in welcher Haltung auch immer, lenkt von einer fundierten und relevanten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen ab, die etablierte Macht- und Deutungsstrukturen infrage stellen würde. Nimmt man zeitgenössische soziologische Gesellschaftsanalyse mit ihren Beobachtungen zur Spätmoderne ernst 6 und betrachtet man eine sich verändernde Praxis im Umgang mit Kontingenz und singulärem Erleben als Fakt, lässt sich die Ästhetik von Theater unter diesen Gesichtspunkten weiterentwickeln. Schauspiel als Repräsentation in seiner institutionalisiert ausgebildeten ästhetischen Praxis kann durch spielerische Handlungsfähigkeit, durch Mitspielen der sonst als „Zuschauende“ bezeichneten Anwesenden bereichert werden und stellt dadurch wichtige Fragen zur Ästhetisierung von Bühnenspiel. Geschichten als stellvertretende Handlungen können durch die aktive Teilnahme aller Menschen im Raum, also auch des Publikums, individualisiert und pluralisiert mitentschieden und exploriert werden. UrsacheWirkungsketten können aus der menschlichen Ursächlichkeit herausgelöst und auf komplexere Zusammenhänge, Strukturen, Objekte und Netzwerke aufgeteilt werden. Durch partizipative Dramaturgien können strukturelle Kräfte in ihrer Konsequenz erfahren und ausgelotet werden. In diesen Verhandlungen entstehen Erfahrungen, die noch nicht im selben Maße wie das deutsche Handwerk des Bühnenspiels institutionell vorkonfiguriert sind. Sie bieten die Möglichkeit von Subversion und Aneignung, vor allem aber auch die Notwendigkeit anzuerkennen, dass die gemachte Erfahrung nur eine von vielen möglichen ist, weil eine spielerische Inszenierung, in der das Publikum gesellschaftliche Rollen verhandelt, in den seltensten Fällen zweimal hintereinander gleich abläuft. Das Theater hat wie kein zweites künstlerisches Medium die Chance, seine gängige Ausbildungspraxis aus der Eindeutigkeit und Wiederholbarkeit herauszulösen und so einen spielerischen Verhandlungsraum zu schaffen, der die Pluralität von Gesellschaft abzubilden vermag. Unabhängig von jeglicher subjektiver ästhetischer oder künstlerischer Konsequenz, die mit der Pluralisierung von Wissen einhergeht, stehen insbesondere Hochschulen vor der Herausforderung, auf diese Veränderungen zu reagieren, gelten sie doch als Institutionen, an denen Wissen nicht nur weitergegeben wird, sondern ebenso entsteht. Insbesondere Kunsthochschulen müssen heute ebenfalls dieser Zuschreibung gerecht werden. Hier sehe ich eine Chance für die Kunst, ihre Relevanz gegenüber den Wissenschaften sehr deutlich zu kommunizieren, vor allem weil die dort vorherrschenden Rollenbilder viel weniger klar in Wissende (Dozierende) und Unwissende

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(Studierende) aufgeteilt werden müssen. Hier zeigt sich auch die positive Seite der Pluralisierung von Wissen: Machtstrukturen und traditionelle ästhetische Setzungen werden von mutigen Studierenden neu verhandelt. Oft auch gegen den Willen ihrer Dozierenden. Kunsthochschulen sind der ideale Ort, mit solidarischer Praxis pluraler Wissensbegriffe zu experimentieren, auch wenn man dadurch schneller als gedacht an institutionelle Grenzen stößt.

Das Studium als Utopie des Erkenntnisgewinns An die Stelle einer institutionalisierten Weitergabe von Wissen tritt die Verhandlung einer Praxis der Wissenserkundung. Aus Definition und Theoriebildung wird eine Praxis von Kontextualisierung, Subjektivierung und Pluralisierung von Erfahrungswerten. Es entstehen solidarische Räume des Übens und Aneignens. Und an die Stelle der wissenden Kontroll- und Bewertungsinstanz tritt eine transparente Begleitung mit klar kommunizierten Neigungen, Präferenzen und Differenzen. Dies führt im besten Fall zu einer veränderten Zielsetzung eines Studiums. Wenn sedimentierte Praktiken und ästhetische Ansätze neu verhandelt werden sollen, weil sie aus ihrer institutionalisierten Lesart herausgelöst werden, dann braucht es Raum und Gelegenheit für Studierende, selbst und auf individuellem Weg, an ihrer eigenen Praxis zu arbeiten und diese erlebbar zu machen. Die Verantwortung für das inhaltliche und ästhetische Gelingen der Untersuchung wird neu verteilt – es liegt nun deutlich mehr Bürde auf den Studierenden selbst, die sich eine eigene, subjektive Praxis des Wissens und des Lernens herstellen müssen. In den zunehmend durchökonomisierten Lebenswelten der Studierenden ist die Behauptung einer ergebnisoffenen Qualifikation nur mit Mühe aufrechtzuerhalten. Von dem Versprechen abzurücken, dass die durch das Auswahlverfahren ausgewählten Menschen automatisch einen ästhetischen und handwerklichen Mehrwert mitnehmen werden, führt zu erhöhter Unsicherheit und mindert die entlastende Rolle der Institution als Zugehörigkeitsmanagerin. Dementsprechend gilt die Idee eines Studiums als Raum des konsequenzfreien Ausprobierens – nicht von ungefähr ähnlich dem künstlerisch angestrebten So tun als ob – meiner Erfahrung nach zu Recht als naiv. Es lohnt sich indes, für Freiraum einzustehen, der abseits von hochaktuellen Definitionen neuer Tätigkeitsfelder zu finden ist. Die Pluralisierung ernst zu nehmen und der Individualisierung mit solidarischen Räumen zu begegnen, in denen die eigenverantwortliche Entwicklung einer künstlerischen Praxis, unterstützt durch die Infrastruktur der Institution, das eigentliche Augenmerk ist. Dieselben neoliberalen Prekarisierungsprozesse, die den Studierenden entgegenwirken, um die Möglichkeit der Konzentration auf den behaupteten künstlerischen Freiraum wahrzunehmen, wirken aber zu oft genauso auf die Institution selbst. Der Pluralisierung von Wissen wird vonseiten der Hochschulen oft nicht durch eine Individualisierung der Studienpraxis begegnet, sondern durch eine noch stärkere Auffächerung von Studienangeboten, die vorkonfigurierte Spezialisierungen suggerieren sollen. Diese Entwicklung führt zu einem Anstieg neuer und teils konträrer Rollenzuschreibungen an Kunsthochschulen und Klassenverbände – vor allem auch an kleine Klassenverbände an Kunsthochschulen, so wie ich sie in meiner Arbeit erlebt habe.

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Das Beispiel MA Spiel und Objekt So wurde bei der Konzeption des Studiengangs Spiel und Objekt vom Berliner Senat ein Absatz eingefordert, der die sogenannte Employability der potenziell abschließenden Studierenden beschreiben sollte. Was wird man, wenn man Spiel und Objekt studiert hat? Welchen Mehrwert wird Spiel und Objekt für die Studierenden haben? Diese Frage können die Studierenden im Seminar Künstlerische Forschung selbst beantworten. Das Seminar setzt sich kritisch mit dem Forschungsbegriff und der Rolle der Studierenden in ihrer eigenen Praxis auseinander, fragt, woher der Reiz der Generierung von Wissen kommt, und schlägt vor, ihn durch Gemeinschaftsbildung und Erfahrungsaustausch zu ersetzen. Anstelle von behauptetem Wissen in Form von Aufsätzen treten subjektivierte Erfahrungsberichte, in denen die Studierenden beschreiben, was ihnen als Künstler:innen wichtig erscheint, und was sie für ihre Peers relevant halten. In einem dieser Artikel schreibt Leonie Bramberger über ihre eigene Position zu ganz konkretem Wissen über Programmierung, das im Studiengang vermittelt wurde: [...] Ohne [Software-]Entwicklerin sein zu müssen, kann ich an Gesprächen teilnehmen, zu denen ich vorher keinen Zugang hatte. Ich finde mich in (Männer-) Runden und Unterhaltungen über Softwarelösungen und Spielentwicklung wieder, verstehe, was besprochen wird und kann die richtigen Fragen stellen. Und ich merke, ich bin in der Lage, Bullshitting in Situationen identifizieren zu können, wo ich mich bisher immer auf Sätze wie „Sie werden schon wissen …“ vertrösten musste. Das Netz wird nie fertig sein, aber hoffentlich weiter gesponnen [...]. 7 Wie Wissen angewendet wird, wie es zur Verlagerung von Machtsituationen genutzt werden kann und welche Wege sich durch Verständnis und Auseinandersetzung für einzelne Künstler:innen aufzeigen, können Lehrende nur bedingt beeinflussen. Aber das Vertrauen auszusprechen, dass der Umgang mit Wissen bei den Studierenden und in deren Verantwortung gut aufgehoben ist, liegt voll und ganz bei uns Lehrenden.

FUSSNOTEN 1 Latour, Bruno: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge, Mass., 1999. 2 Knorr Cetina, Karin: „Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in post-traditionalen Wissensgesellschaften“, Technik und Sozialtheorie 42 (1998). 3 Haraway, Donna: Staying with the trouble. Making kin in the Chthulucene, Durham 2016. 4 Soeffner, Hans-Georg: „Vergesst eure Leitkultur“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. ­Januar 2016, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hans-georg-soeffner-vergesst-eure-leitkultur-14007001.html. 5 Kirschner, Heiko und Friedrich Kirschner: „Situated Drama. A Framework for Preenacted Storytelling“, in: Performance zwischen den Zeiten, Bielefeld 2019. 6 Vgl. u.a. Reckwitz, Andreas: Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2020 oder Reckwitz, Andreas und Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise, Berlin 2021. 7 Bramberger, Leonie: „Fäden spinnen und Netze knüpfen“, in: SO 3, April 2022, https://spielundobjekt.de/wp-content/uploads/SO3_web.pdf.

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SPECULATIVE THINKING

Kunstprozesse vor Kunstproduktion

In die Zukunft geschrieben Adrienne Goehler

Ich beneide euch um die Möglichkeit des gleichzeitig möglichen to learn/unlearn. Liebe Akademist:innen, Während die Biologie eine Generation mit 25 bis 33 Jahren misst, hat sich in der Soziologie eine Definition von Generationen als Alterskohorten von 15 aufeinander folgenden Jahren durchgesetzt. In diesem Zeitraum ändern sich die technischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen derartig stark, dass dies nicht ohne Auswirkungen auf die in diesem Zeitraum lebenden Menschen bleibt. In eurer Generation kumuliert, mit einer großen Gleichzeitigkeit, alles, einfach alles. Einerseits ist diese Gegenwart noch ein gewaltiger Echoraum der Brüche der 2020er Jahre, die die umfassendste Unsicherheit seit dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachten. Die erste große Pandemie, die den Alltag bis in alle Poren hinein radikal veränderte; Zwangsstillstand für alles, was als Beziehung selbstverständlich war; der Krieg in Europa, der kein Wegschauen, wie noch bei den Kriegen zuvor, ermöglichte, löste Ängste mit Symptomen auf allen Ebenen aus; die Dürren und Überschwemmungen, die Knappheit an existenziellen Lebensmitteln. All das, begleitet vom Aufbäumen toxischer Männlichkeiten durch Größen- und Allmachtsfantasien, weil sie mit ihren Kränkungen nicht umzugehen wussten ... all das zusammen genommen hat sich in tiefen Spuren in unsere Gegenwart eingeschrieben. Gleichzeitig entstanden völlig unbekannte, noch vor Kurzem unvorstellbare Allianzen zwischen Kunst, Wissenschaft, Bewegungswissen, zwischen Stadt und Land, einer zunehmend neugierigen Wirtschaft, die mit der herkömmlichen Ausbeutungslogik von ­allen und allem in eine Sackgasse geraten ist. All diese Öffnungen und Überlappungen, die neuen Realitäten, die sich durch das Zusammenarbeiten ergaben, wurden möglich, weil es nach jahrzehntelanger ­Diskussion

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endlich genügend wissenschaftlich begleitete Erprobungen mit dem Bedingungslosen Grundauskommen gegeben hat, die alle belegten, dass die Menschen und die Zeit dazu da waren, die Gewissheiten der anderen und ihre blinden Flecken aufzuspüren. Ihr habt dem so eindringlichen wie einfachen Gedanken von Alexander von Humboldt, „Alles hängt mit allem zusammen“, zu neuem Leben verholfen und seid damit viral gegangen. Quer durch die Disziplinen habt ihr euch gemeinsam die Freiheit genommen, alles scheinbar Gesetzmäßige, Alternativlose zu befragen, und konntet euch so der Herkulesaufgabe stellen: what to learn and to unlearn in den Musentempeln Theater, Oper, Museum – was können und müssen sie sein, wenn sie nicht mehr vorwiegend Selbstversicherungsanstalten für Selbstgespräche der weißen, westlichen, halbwegs gut situierten, Mittelschicht sind? Brauchen wir die Institutionen Theaterakademie und Theater noch? Ja, sagt ihr, aber nur radikal anders, weil sich eure Bedürfnisse an die Kunst, an das Leben selbst verändert haben. Zu meiner großen Freude habt ihr den Künsten dazu verholfen, aus ihrem Käfig und aus ihrem Produktionszwang auszubrechen, indem ihr immer wieder darauf hingewiesen habt, dass ihr durch die Förderstrukturen gezwungen seid, wie die Auto- und Textilindustrie unentwegt ein Zuviel produzieren zu müssen. Dagegen setzt ihr andere Arbeitszeiten und Rhythmen durch, legt Gewicht auf Prozesse, auf Übergreifendes. Es ist noch nicht so lange her, dass es zunehmend von Interesse war, in diversen Teams zusammenarbeiten, um zwischen Kunst, Handwerk, Wissenschaften, Tüftler:innen und Start-ups rauszukriegen, was mit den Leftovers der fossilen Zeit anzufangen ist ... Eine ganz neue Generation von Theaterpublikum entstand, das die Bühne als ihren biografischen Ort begreift, an dem sie als Schüler:innen während der unterschiedlichsten Pandemien, die in immer neuen Formen auftauchten, ihre Klassenarbeiten schrieben, die Requisiten und die Werkstätten für sich entdeckten. Es war wesentlich eure Idee, nachdem ihr nicht einsehen wolltet, dass die Bühnen leer stehen trotz der tollsten Hygienekonzepte der Musentempel. Sie forderten euch heraus, Stücke mit ihnen zu ersinnen, und haben euch dazu gebracht, die Bewegung der 2020er Jahre aufzugreifen und weiterzuentwickeln zu „Artists for Future“ und meinten damit die Veränderung der Welt der Energie nicht nur durch Sonne, Wind, Gezeiten, sondern ihre Veränderung durch unversiegbare künstlerische Energien. Die, die die Welt verändern sollten, damit sie weiterbesteht, waren eben nicht mehr nur die anderen, sondern ihr selbst. Eine Haltung, die Artivist:innen schon in den 2010er Jahren einnahmen, damals noch marginalisiert. Es geht dem Artivismus darum, mit den unterschiedlichen Mitteln der Kunst die notwendige Transformation mitzubewegen, sie erfahrbar, spürbar, sicht-, hör- und fühlbar zu machen, kurz: die Transformation als ästhetische Herausforderung und Erfahrung zu begreifen. Ihr wart und seid angezogen von der Analyse des indischen Schriftstellers Amitav Ghosh, wonach „Die Klimakrise [...] eine Kulturkrise [ist] und damit auch eine Krise der Vorstellungskraft“. 1 Donna Haraway hat in mobilisierender Absicht ins selbe Horn geblasen und mit aller Dringlichkeit die Vorstellungskraft der Künste für diese unausweichlich nötige Transformationen eingefordert, ihre Verweltlichungen, um die

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menschlichen Beziehungen, Zeit, Arbeits- und Denkweisen als Ressourcen zu sehen, als Modelle für die Zukunft. 2 Was können wir (zurück-)geben und was brauchen wir für ein gemeinsames, würdiges Leben aller Lebewesen auf dem Planeten? Dies wurde plötzlich eine zentrale Frage in den Künsten. Dass diese Frage so viel Vorstellungskraft entfachen kann, so viel Zeit und Raum einnehmen, dass in Theatern und Museen transdisziplinäre Laboratorien entstehen, Aufführungen auf Bauernhöfen keiner Romantik dienen, sondern künstlerischen Forschungszwecken, die zunehmen und Auseinandersetzung mit der konkreten Wirklichkeit und ihren Veränderungspotenzialen sind, ist euer unschätzbar großes Verdienst. Um dieses gemeinsame Forschen zu unterstützen, gibt es einen großartig ausgestatteten Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit, 3 der auch in den 2020er Jahren, wie so vieles andere, der versäult denkenden Politik und ihrem verdammt falsch verstandenen Begriff von Kunstfreiheit abgetrotzt werden musste. Mit diesem wichtigen Instrument habt ihr die Hermetiken zwischen den Silos durchlöchert. Ihr habt einem „Rein-und-raus aus der Kunst“ zur Durchsetzung verholfen, denn es erscheint schon länger ziemlich antiquiert und irgendwie ziemlich mono, jedenfalls crazy, eine reine Künstler:innenkarriere anzustreben und nur das ein ganzes Leben lang zu tun, weil man niemals aus der Kunst austreten kann. (Hat sich ziemlich lange gehalten, diese Idee.) Dass mit solcher Leichtigkeit ganz andere Biografien auch innerhalb der Künste ­entstehen konnten, verdankt sich der Einführung des Bedingungslosen Grundauskommens. Das war ein immenser Akt, lange schon von der Bevölkerung mehrheitlich gewünscht, schließlich finanziert aus ehemaligen staatlichen Steuergeschenken diversester Art und Übergewinnsteuer, Steuern auf Transaktionen, Ressourcen, Luxus, SUV, Waffen. Deshalb erlebt ihr, anders als die Generation eurer Eltern, die Übernahme vieler Lohnarbeiten durch Algorithmen als Befreiung und immensen Zeitgewinn; die Tatsache, dass nervtötende, gefährliche oder zu schwere Arbeiten von Robotern übernommen werden, setzt Ideen frei und gibt die Zeit, anderes zu tun. Und dies mit einem Grundauskommen verbunden eröffnet neue Horizonte für einen sehr weit gefassten Kunst- und Lebensbegriff. Ich ende, wie ich begonnen habe, ich beneide euch um die Nonchalance, mit der ihr eure prekär bezahlten Privilegien an den abgeschotteten Institutionen eingetauscht habt gegen satte Verbundenheit mit der Gesellschaft. „Es geht um die Fähigkeit der Menschen, Neues in die Welt zu rufen“, sagt Hannah Arendt. Das habt ihr in viele Richtungen getan, Glückwunsch!

FUSSNOTEN 1 Ghosh, Amitav: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare, übersetzt von Yvonne Badal, München 2017. 2 Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übersetzt von Karin Harrasser, Frankfurt am Main 2018. 3 Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit: https://www.fonds-aesthetik-und-nachhaltigkeit.de.

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OPEN TABLE

Reality Check

Ehemalige Studierende über ihre ersten Jahre im Beruf Demjan Duran, Jana Gmelin, Danae Kontora, Antonia Tretter und Nicolas Fethi Türksever

Antonia Tretter 2015 habe ich an der Theaterakademie und an der Ludwig-Maximilians-Universität München meinen Masterabschluss in Dramaturgie gemacht, danach ungefähr vier Jahre im Stadttheatersystem gearbeitet und mich dann bewusst dazu entschieden, diese Institution zu verlassen. Aktuell promoviere ich hauptberuflich im Fach Theaterwissenschaft und untersuche dort die politischen Dimensionen der Praxis von Dramaturgie. In meiner Freizeit engagiere ich mich auch politisch, zum Beispiel seit zwei Jahren im dramaturgie-netzwerk. Jana Gmelin Ich habe 2020 mein Masterstudium in Dramaturgie hier abgeschlossen. Zum Start der Spielzeit 2020/21 bin ich in das Stadttheatersystem eingestiegen und seitdem auch noch nicht wieder ausgestiegen. Derzeit arbeite ich als Dramaturgin im Institut für theatrale Zukunftsforschung im Zimmertheater Tübingen. Wir machen ausschließlich Stückentwicklungen und legen großen Wert auf einen breiten Diskurs und intensiven Austausch in der Stadt. Nicolas Fethi Türksever Ich habe hier 2015 meinen Schauspielabschluss gemacht und seitdem drei, ihr nennt das Stadttheatersysteme durchlaufen. Nach acht Jahren als festes Ensemblemitglied an verschiedenen Häusern bin ich ausgestiegen und arbeite jetzt freischaffend als Schauspieler. Seitdem fokussiere ich mich ein bisschen mehr auf Film und Fernsehen. Demjan Duran Ich bin Regisseur und habe hier 2019 meinen Abschluss gemacht, als die Coronapandemie begann. Nach meinem Abschluss habe ich als Regieassistent und auch in anderen Positionen am Stadttheater gearbeitet, aber kein einziges Mal als Regisseur. Ich habe mich dann entschieden, in der Freien Szene zu arbeiten. Dort konnte ich meine Projekte realisieren.

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Danae Kontora Ich bin Opernsängerin, 2015 habe ich mein Studium Musiktheater/ Operngesang an der Theaterakademie August Everding abgeschlossen. Zunächst war ich fest an der Oper Frankfurt, dann an der Oper Leipzig, dann habe ich freischaffend gearbeitet. In meiner ersten Woche im Frankfurter Opernstudio hat die Leitung eine Barbarina für die Wiederaufnahme von Le Nozze di Figaro gesucht. Ich sollte sie singen. Also hatte ich eine Woche Zeit, um mich auf die szenischen Proben vorzubereiten und die Partie zu lernen. Eineinhalb Wochen, um zu üben, gemeinsam zu proben und dann auf der Bühne zu stehen. Das kannte ich aus dem Studium nicht, deshalb war ich geschockt. Im Studium waren wir immer sehr gründlich und gut vorbereitet für eine Produktion. Die szenischen Proben dauerten immer sechs Wochen. Wir hatten also viel Zeit, alle Abläufe zu lernen. Und dann fange ich an einem Haus an, muss schnell sein und weiß nicht, wie das geht. Jana Gmelin Mich hat die Wirkung meiner Position überrascht. Das hat mich anfangs beschäftigt und beschäftigt mich eigentlich bis heute. Das Aufeinandertreffen von Selbst- und Fremdwahrnehmung ist sehr interessant zu beobachten. Es verändert die Stimmung, wenn Dramaturg:innen bei einer Probe anwesend sind. Es verändert Abläufe und Vibes. Aber das wird einem nie zurückgemeldet, weil es dafür eigentlich keinen Safe Space gibt. Die Vorstellungen von einer Dramaturgin oder von der Position der Dramaturgie gehen sehr weit auseinander. Während meines Studiums hatte ich eine bestimmte Vorstellung davon und bin einem gewissen Ideal hinterhergerannt oder dachte, ich müsste es erfüllen. Ich war sehr aufnahmefähig für allen möglichen Input und bin dafür auch wahnsinnig dankbar. Aber dabei übernimmt man natürlich sehr leicht die Vorstellungen anderer. Dann hängen Vorstellungen schnell von Dozierenden ab. Im Beruf dann selbst die Position der Dramaturgie zu besetzen und sich in dieser Position zu finden, ist schwierig. Dass es weniger eine ideale Dramaturgin gibt und sich Dramaturgie eher aus verschiedenen Kompetenzen zusammensetzt, habe ich erst in der Praxis so richtig begriffen. Aus tradierten Vorstellungen auszubrechen und ein bisschen frei zu schwimmen, ist für mich immer noch ein sehr spannender Prozess. Demjan Duran Als ich hier fertig studiert habe, war ich auf mich gestellt und ­fragte mich, wie ich an ein Haus komme. Wie bekomme ich eine Förderung für ein Projekt? Man muss sehr selbstständig sein, ein Netzwerk aufbauen, Menschen kennenlernen. Aber so ein Theater ist riesig und vor den Dramaturg:innen hatte ich auf jeden Fall Respekt, vielleicht auch ein bisschen Angst. Ich habe mich erst nicht getraut, sie anzusprechen, weil ich nicht wusste, was ich ihnen erzählen soll. Der Anfang nach dem Studium war deshalb nicht einfach für mich. Dann habe ich jedoch gemerkt, dass die Distanz zu den Entscheider:innen gar nicht so groß ist. In so ein Theater kann man einfach reinlaufen. Also, ich kenne kein Theater in Deutschland, in das man nicht einfach an der Pforte sagen kann: „Ich gehöre dazu.“ Ein Theater ist ein öffentliches Gebäude und wenn man das versteht, ist die erste Hürde genommen. Ich habe festgestellt: Ich kann diese Menschen ansprechen, ich kann sie um Rat fragen, ich kann ihnen etwas anbieten. Als Regisseur kann ich ja nicht zu Vorsprechen gehen. Ich kann ein Konzept vorstellen, das geht im Büro, aber auch

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in einer Bar. Manchmal muss ich dreist sein. Wenn einen dann irgendwann Theater in der eigenen Arbeit unterstützen, ist das ein schönes Gefühl. Nicolas Fethi Türksever Ich musste glücklicherweise gar nicht so dreist sein. Ein ehemaliger Absolvent der Theaterakademie (Jonas Zipf) hat mich ins Ensemble des Staatstheaters Darmstadt geholt. Dort habe ich in meinen ersten beiden Berufsjahren gespielt. Man baut schon im Studium an der Theaterakademie ein Netzwerk auf. Ich habe hier mit einem Regisseur gearbeitet, der mich jetzt für die ersten beiden Staffeln einer sehr tollen Serie engagiert hat. Die Arbeitswelt hat mich zu Beginn nicht geschockt. Ich war, auch wenn das komisch klingt, froh, hier weg zu sein. Nach meinem Studium wollte ich einfach loslegen. Das habe ich sehr genossen. Die große Schockstarre kam später. Was ich gelernt habe, wofür ich brenne, was ich arbeite, ist mein Hobby. Mein Hobby zum Beruf machen zu können, ist ein Privileg. Aber ich kam ständig über die vom NVBühne vorgesehene 44-Stunden-Woche. Wenn ich dann sonntags dasitze mit müden Augen und nicht weiß, wer ich bin und wo, verebbt die Euphorie ein bisschen. Antonia Tretter Die Regisseurin Gesche Piening hat hier in München in einer freien Konstellation gearbeitet. Von ihr stammt die Aussage „Brenne und sei dankbar“. Ich bin 2014 auf dieses Zitat gestoßen, als ich während des Studiums selbst in der Freien Szene gearbeitet habe. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, was das heißt. Als ich im Stadttheater gearbeitet habe, habe ich es verstanden. Ich war bei meinem Berufseinstieg von Euphorie getragen und sehr dankbar für meine Festanstellung. In meiner ersten Spielzeit hatte ich als Dramaturgin sieben Produktionen zu betreuen. Es war der Beginn einer neuen Intendanz. Mit der Zeit entwickelte sich ein Gefühl des Ausgebranntseins. Bis ich das gemerkt habe, hat es aber eine Weile gedauert. Danae Kontora Auch wenn wir unsere Tätigkeit lieben – sie ist trotzdem Arbeit. Wir müssen fokussiert sein und viel Energie aufwenden. Deshalb ist es wichtig, dass wir Zeiten haben, in denen wir einfach sein dürfen und nicht ständig Leistungsdruck ausgesetzt sind. Ich hatte Glück und war in Häusern, die ihre Sänger:innen nicht überstrapazieren. Aber vielen Häusern ist das egal. Wenn jemand stimmlich nicht mehr kann, kommt eben jemand nach. Das ist unmenschlich. Als freischaffende Sängerin kann ich auch etwas absagen, wenn es zu viel wird. Aber viele meiner Kolleg:innen meinen, sie dürften kein Engagement ablehnen, denn sonst würden sie keine Partien mehr bekommen. Ich denke, Künstler:innen brauchen auch Zeit abseits des Produktionsdrucks oder der Aufführungen, in denen ihre Kreativität wachsen und entstehen kann. Demjan Duran Und trotzdem denken wir immer an die Arbeit. Auch wenn wir beispielsweise sechs Monate arbeiten und sechs Monate auftanken (vgl. Jennifer Gunkel: Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen, S. 111 bis 117). Finanziell können sich das aber die wenigsten freischaffenden Künstler:innen leisten. Und bei den Festangestellten erlaubt es der Betrieb nicht. Ein Theater ist wie eine Fabrik, ständig wird produziert, ein Highlight jagt das nächste. Das kostet viel Geld und

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deshalb wird bei Verhandlungen um 100 Euro gefeilscht. Vielleicht könnten Theater weniger produzieren, dafür besser bezahlen. Der Kunst zuliebe, den Menschen zuliebe, die sie schaffen. Ich beobachte: Die Kunst leidet darunter. Ich sehe unglückliche Menschen auf der Bühne, nicht nur wegen schlechter Bezahlung, sondern auch wegen des Drucks, wegen ihres Arbeitspensums. Jennifer Gunkel (aus dem Publikum) Im Unternehmen 3M, das sind die, die die Postits machen, können die Mitarbeitenden in 20 Prozent ihrer bezahlten Arbeitszeit frei entscheiden, woran sie arbeiten. Sie können in dieser Zeit also irgendwelche Projekte entwickeln, einfach, weil sie ihnen Spaß machen. Und vielleicht kommt ja etwas Interessantes dabei heraus. Ich glaube, Mitarbeitenden Freiheiten zu lassen und Zeit zum Verschnaufen zu geben – in welchem Umfang auch immer –, ist auch für die Unternehmen selbst immer nützlich. Nicolas Fethi Türksever Ich hatte zum ersten Mal seit meinem Berufseinstieg durch die Coronapandemie wirklich Zeit. Ich saß also zu Hause und habe mal einen alten Text ausgegraben oder ein Video aufgenommen, ohne an Verwertung zu denken. Meiner Kreativität tat es gut, keine Deadline zu haben. Manche Theater schaffen Räume für solche Momente, indem sie beispielsweise Workshops anbieten zu bestimmten Themen, in denen dann nicht der übliche Produktionsdruck herrscht. Aber vor allem haben in den Theatern in den letzten Jahren immer weniger Menschen immer mehr Produktionen gestemmt.

Open Table Reality Check mit ehemaligen Studierenden der Theaterakademie


Jana Gmelin Was definieren wir überhaupt als Arbeit? Ich kann leicht messen, wie lange ich brauche, um Mails abzuarbeiten oder auf einer Probebühne zu stehen. Aber wie messe ich andere künstlerische Arbeit, zum Beispiel das Nachdenken über eine neue Produktion? Wann findet diese Denkarbeit statt? Meist gibt es zu wenig Zeit dafür. Für die Qualitätssicherung ist es gut, Produktionsdruck zu reduzieren. Das Zimmertheater Tübingen versteht sich als Produktionshaus und als Stadttheater. Wir sind flexibler als andere Theater, weil unsere Stücke anders entstehen. Zwei Produktionen je Spielzeit werden von freien Gruppen bei uns produziert, aufgeführt und gastieren dann anderswo. Bei diesen Produktionen sind wir als Haus gar nicht so sehr involviert. Deshalb können unsere Stückentwicklungen über einen längeren Zeitraum entstehen und geprobt werden als sonst üblich. Thomas Koch (aus dem Publikum) Ich arbeite an der Staatsoper Stuttgart. Dort haben wir vor ca. zehn Jahren angefangen, uns mit dem Thema Organisationsentwicklung zu beschäftigen. Den systematischen Prozess haben wir zuerst in den Werkstätten implementiert. Also in den Abteilungen, die die Kunstproduktion ermöglichen. Es gab zu Beginn eine große Zurückhaltung, auch die künstlerischen Abteilungen in diesen Prozess zu integrieren. Wir dachten, Kunst und Organisationsentwicklung seien nicht vereinbar. Diese Haltung hat sich inzwischen gewandelt. Organisationsentwicklung gefährdet künstlerische Prozesse nicht, sondern hilft, diese sinnhafter zu gestalten. Wenn Arbeitszeitvereinbarungen wirklich respektiert werden, wenn eine Dialogkultur und ein wertschätzender Umgang miteinander gepflegt werden, dann funktionieren auch künstlerische Prozesse besser. Mitarbeitende fühlen sich wertgeschätzt und erleben ihre Arbeit als sinnhaft. Deshalb finde ich es wichtig, Theater zu ermutigen, sich organisatorisch weiterzuentwickeln. Und zwar mit professioneller Begleitung. Anders geht es nicht. Wir arbeiten mit der Führungsakademie Baden-Württemberg zusammen. Lonnie Jasper (aus dem Publikum) Mich interessiert, welche strukturverändernden oder positiven Beispiele ihr innerhalb eures Studiums erlebt habt oder welche ihr euch gewünscht hättet? Welche Veränderungsspielräume hattet oder nutzt ihr? Antonia Tretter Was ich als total ermutigend erlebt habe, war der Austausch im dramaturgie- und ensemble-netzwerk. Sich zu vernetzen und auszutauschen über Erfahrungen, die man macht, ermöglicht auch, sprechfähig zu werden. In der Arbeitsgruppe „Ausbildung.Hochschule.Weiterbildung“ des dramaturgie-netzwerks haben wir uns mit einer sehr interessanten Initiative vernetzt: Ana Edroso Stroebe, Hannah Mey und Sarah Heinzel von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin haben eine Umfrage unter Dramaturgiestudierenden gemacht. Es haben über 60 Studierende von allen deutschsprachigen Hochschulen mit Dramaturgiestudiengang teilgenommen. Was wir davon lernen konnten, war unter anderem, dass der Dramaturgiebegriff sehr divergent ist, auch innerhalb der Hochschulen, und dass die Vernetzung mit anderen Studiengängen nicht so gut stattfindet, obwohl das ein großer Wunsch ist. Dieses Miteinander, dieses kollektive Arbeiten ist eine Sehnsucht von vielen Dramaturgiestudierenden und ein Grund, sich für diesen

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Beruf zu entscheiden. Die Teilnehmenden berichteten, dass die Hochschulen oft geprägt sind von einer eurozentrischen Perspektive sowie von Konkurrenz und Leistungsdenken. Das muss sich ändern. Demjan Duran Ich habe den Eindruck, dass die Theaterausbildung häufig sehr marktorientiert ist. Wer das Schauspielstudium abschließt, fragt sich nicht, was er oder sie mit der eigenen Kunst will, sondern will engagiert werden und passt sich dann an. Jeder neue Abschlussjahrgang bedient, was von den Theatern gesucht wird. Warum nehmen wir uns nicht vor, jedes Jahr eine neue Avantgarde auszubilden mit ihren jeweils eigenen Themen, Interessen, Formen? Stattdessen habe ich mich schon im Studium immer gefragt, wie mein Berufseinstieg gelingen kann, damit ich meinen Lebensunterhalt sichern kann. Ich habe nicht das Mindset gelernt, selbstbewusst meine vielen Freiheiten an der Theaterakademie zu nutzen und zu machen, was unmöglich scheint. Danae Kontora Ich fand immer toll, dass wir Studierenden hier so vielfältig betreut wurden. Wir hatten sehr viele Dozierende und sehr viel Input und sehr viel Feedback. Ich fand das toll, bis ich die Akademie verlassen und verstanden habe, dass ich keine eigene Meinung habe. Dann stand ich da mit einer Partie, ich habe sie gesungen und das klang schön und das war richtig. Aber das war nicht ich, weil ich nicht wusste, wie ich eine Partie von mir aus entwickle. Ich wusste, was wirkt und was nicht, aber ich wusste nicht, was ich mit der Partie will. Ich wünsche mir, dass wir uns auch in der Ausbildung, auch im Handwerk ein bisschen von dieser Ansicht von richtig und falsch distanzieren. Jana Gmelin Letztendlich stellt sich immer die Frage, zu was wir ausgebildet werden. Auch an der Akademie gibt es feste Produktionszeiträume, in denen ein Ergebnis erzielt werden muss, das benotet wird. Es gibt also einen gewissen Produktionsdruck. Was lernen wir dadurch? Vor allem lernen wir Struktur: Wie funktioniert das alles? Wie teile ich mein Geld ein? Wie mache ich ein Programmheft? Mit wem muss ich dafür sprechen? Es ist supergut, dass diese Prozesse vermittelt werden! Aber vielleicht kann es verschiedene Schwerpunkte geben. Gibt es Phasen, in denen es um die Struktur geht? Gibt es Phasen, in denen es um den Inhalt geht, in denen laborhaft gelernt werden kann, in denen es die Freiräume zum Denken gibt, die sich ja ganz oft in dieser Struktur einfach verkrümeln? Danae Kontora Wir sind Menschen, wir wachsen ständig und natürlich bringen wir mehr und mehr von uns ein, je länger wir in dieser Welt sind. In der Ausbildung sind wir noch sehr jung und lernen dort natürlich unser Handwerk und werden gut betreut. Wir bekommen sehr, sehr viel Unterricht. Und der Unterricht ist meistens so, dass es Dozierende gibt, die mehr wissen als wir Studierenden. Wir diskutieren auch manchmal, aber meistens geht es darum, was richtig ist und was nicht funktioniert. Ich habe also ständig nach diesem „Richtigen“ gesucht. Doch es gibt kein Richtig in der Kunst. Dieses Denken bremste mich darin, Dinge auszuprobieren, die sich vielleicht falsch anfühlen, durch die ich aber vielleicht etwas Neues oder Interessantes gefunden hätte. Als Opernsängerin wird von mir ein bestimmter

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Klang erwartet, ich muss über das Orchester kommen usw. Aber ich möchte im Studium auch lernen, mich auszuprobieren, mich zu erfinden und neu zu erfinden. Dieser Prozess sollte nicht erst im Berufsleben beginnen, wo wir dann meistens auf uns allein gestellt sind, sondern viel früher selbstverständlich werden. Nicolas Fethi Türksever Ich frage mich, ob das eine Akademie oder eine Ausbildungsstätte welcher Art auch immer so leisten kann. Diese Grundlagen, die wir bekommen haben, die Technik, die Werkzeuge, die Struktur, die uns so vermittelt wurde, müssen immer und konkret an der Realität geprüft werden. Stadttheater ändern sich schließlich auch. Ich hatte das Glück, während meines Studiums eine Produktion am Volkstheater zu machen. Immer, wenn ich dort war, konnte ich abfragen: Ich hatte heute acht Stunden Unterricht, was hilft mir auf dieser Probe? Was hilft mir bei der Vorstellung heute Abend? Wie komme ich da durch? Die Everding’sche Idee ist ja, dass an der Akademie ganz verschiedene Menschen zusammenkommen und zusammen Kunst machen. Wenn das in einem geschützten Rahmen passierte, habe ich immer das Gefühl gehabt, hier ist meine Künstlerpersönlichkeit gefragt, hier gibt es kein Richtig oder Falsch, hier will jemand sehen, wie Nico mit etwas auf der Bühne umgeht. Das sind Momente, von denen ich auch heute noch zehre. Jana Gmelin Ergänzend dazu finde ich einen multiperspektivischen Austausch extrem wichtig. Das kann passieren, wenn man an ein Theater geht und sich dann in der Praxis ausprobiert oder wenn man mit den Menschen ins Gespräch kommt bei Seminaren, moderierten Diskussionen ... Antonia Tretter Studierende zu fragen, ist auch sehr hilfreich. Die Theaterhochschulen wählen ihre Studierenden in sehr aufwendigen Prozessen aus. Aber sie nutzen gar nicht die Neugier und die Interessen, die die Studierenden mitbringen, indem sie die Studierenden fragen, was sie machen wollen. So ein Austausch könnte auch institutionalisiert werden. Ein studentischer Beirat könnte die Hochschulleitung beraten, in künstlerischen Fragen, in programmatischen Fragen, aber auch in hochschulpolitischen Fragen. Ich finde es wichtig, als Hochschule studentische Mitbestimmung zu fördern und gemeinsame Reflexionsräume zu schaffen. Unsere heutige Runde, „Reality Check“, könnte hier ja eigentlich einmal im Quartal veranstaltet werden.

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103 Words of Friendship

A Lexicon for a Theatre Academy of the Future Manolis Tsipos

In my initial description of the journey that the seven female international students and myself would embark on during the Zukunftskonferenz at Theaterakademie ­August Everding, I wrote:

A future located in the present: a lexicon for a theatre academy In our time of generalised crisis, we urgently need a discussion about how we imagine our future. This is a task we need to approach seriously, taking into account the multiple manifestations of our contemporary anxiety. Nevertheless, at the same time, in the here and now, we must counter the noises of our present condition, if only to protect a space within ourselves dedicated to the forces of our desire for life; a space for the as-yet undescribed and indescribable future. This dialectical pendulum is worth our time and energy. Even more so, this pendulum can be the guide we need for today’s task of describing an ideal future theatre academy. We know that this is a demanding endeavour, as we must find the courage to imagine nothing less than a beacon of hope. Hope seems scarce these days, or at least that’s the way many of us feel. But despite our gloomy mood, we are not helpless; we have powerful tools at our disposal. During the Zukunftskonferenz. Learning for the Future we will be seeking a fresh language to use and share with our peers and with our friends; we will devise a lexicon for a future theatre academy, a lexicon for a theatre academy of the future. Let us all meet there, in that theatre academy which is already shining from the future, right here, right now. Quite an ambitious task, surely. Nevertheless, this was indeed the compass that we – Julia and Patrycja from Poland, Abigel from Hungary, Megane from France, Lea from Germany, Indre and Eva from Lithuania, and myself – followed during the few days we worked together. At the same time, it seems that the world around us – more than a year after the conference – is still undergoing a painful process (of regeneration?) full of loss, crisis, dead-ends, despair … Where do we – the partici-

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pants of our workshop, but also you, the reader of this article – stand in all of this? How can we contribute, collectively and individually, towards a betterment of our world? What truthful opening might there be in the heavily clouded horizon ahead? When will today’s youth – which for us is our young theatre students – prosper w ­ ithin a much calmer socio-educational habitat characterised by justice, sustainability, ­respect for nature, and tangible hope?

Mentors and mentees A mentor and one who is being mentored; this is the indispensable relationship that lies at the heart of all education. It is exactly this classic duo that we need to constantly keep in mind whenever the theatre field – mentors, mentees, educators, students – starts talking about the kind of educational institutions we collectively imagine in the future. Theatre itself is a discipline whose core structure is built around multiple manifestations of the relationship between a mentor (an observer) and one who is being mentored (one who is being observed); director and actor, teacher and student, theatre as an art form and its audience. My mentor prototype is Socrates. He imagined that each of us is already impregna­ ted with our own personal baby of truth. As long as this baby of truth remains a true expression of oneself, it always partakes of the absolute essence that can only be manifested in that ultimate, perfect God of Truth in which Socrates believed so fiercely. So it is safe to imagine that all of us, regardless of the sex and/or gender with which we identify ourselves, bear female bodies that converse with female minds whenever we act upon the world with a creative intention. Our impregnated wombs, full of the desire for that which is not yet born, connect us with our very own baby’s heartbeat. As our body contracts in labour pains, the most crucial thing in that very moment of giving birth is that this process be trusted to the hands of an experienced, empathetic midwife. Socrates would insist that any relationship between two entities is based on a dialogue of some sort; it is about the exchange of a language that has to be specific enough to relate to the unique nature of the interlocutors. I have been privileged to collaborate with seven young female students of great talent; perhaps we need to see the future as a task to be realised by women. In our work with the international students, we tried to discover our very own language as we slowly became more acquainted with each other. We soon found that we needed to create a safe space for ourselves in which we can share all our thoughts, needs and desires. We felt we needed to devise our own sui generis language of friendship. We actively tried to make the words we uttered during our workshop a vehicle for mutual empowerment; we made a conscious agreement that we would speak only words that friends would use in speaking to each other. We decided that cynicism – an intellectual malady that is often disguised by the premise of polemical critical thought which usually ends up harming the soul and withering the imagination – would simply not be welcome. We chose instead to be careful with our words, to choose them wisely, to create our own language, and to share it during the conference in the form of a lexicon – a dictionary that could potentially guide the steps of a future theatre academy.

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Thinking together about the future In our quest for our shared language, we asked each other many questions. We felt the first thing we needed to do was collectively arrive at a shared understanding of own relations to the future. Future is a very difficult concept to grasp. It is constantly being realised, in each and every moment that passes by. We felt troubled by it, primarily because we realised that if we actively try to imagine the unimaginable, that which is not yet present, we risk over-describing the future, and hence rendering it a hostage to our human – thus finite – capacities. We needed to make serious decisions on how to advance our collective thinking process. We chose to focus on the here and now. This is what we have in our hands, in every moment of our day-to-day lives. The present is the bearer of all possible futures. And so we began. I gave the same task to each of the seven international students. They had to choose a few words with which they would individually answer the questions we would face together during our workshop: Where do I see the future emerging? What is already working in my institution? What would I like to see in my institution? Who are my friends, the people with whom we might construct the theatre academy for the future? And so we would gradually collect the words we needed to construct our lexicon for a future theatre academy. Below, I have high­ lighted the students’ own words.

Where do I see the future emerging? Julia sees the future within a space of kindness that is in perpetual movement. This future is characterised by sensitivity for everyone, with no one excluded. Patrycja feels that the way we implement, work with and think about technology will play an integral part in the future she imagines. The future she connects with is primarily based on cooperation among individuals, groups and institutions. What is at stake here is the way we collectively understand ecology; it is of critical importance that we preserve nature and devise healthier work environments through a consistent quest for useful new conventions. Abigel believes that it is the youth that must lead the way to the future. She sees a future that is much more familiar with the ongoing processes of global digitalisation, but she also points out that the world needs to further empower educational programmes of international exchange between young students, as the Erasmus programme does in Europe. Megane envisions the future as a storm that brings a necessary destruction of the old and the dysfunctional. Naturally this process is not without pain, but she invites us to focus on this storm’s phases, stages and steps; this is a safe way to be part of the future that is getting closer and closer. For her, it is important that we speak of a future in which we consciously, internationally share our knowledge. Lea perceives the future as an entity with two faces; the first one is all about uncertainty and a fear of a looming catastrophe. This is a future that gives space to loneliness. But on the other hand, this future is full of trust and a powerful engine that generates endless possibilities. Which of these two faces people choose to see always remains an open question.

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Indre wants to see a future where technology offers ways of bettering our lives. She sees a moving network which focuses on strategies and tools for providing help for those in need (aren’t we all?). Eva proclaims that the future cannot be positive unless it is a future of equality. She thinks that this will be a generator of optimism which will empower us to accomplish the best parts of our individuality. This is about a future where we can be who we truly are, and this must remain, wherever possible, an unbiased opportunity offered to all.

What is it that already works in my institution? Julia recognised a growing culture of availability in her institution. She often felt surrounded by people of great intelligence and sensitivity. Her fellow artists have often been an inspiration to her. Patrycja valued initiatives in her institution that favour ­ internationalisation; the sharing of expertise, knowledge, know-how and practical experience among people of various cultural backgrounds. For her, the theatre academy functions at its best whenever it promotes exchange of experiences, thoughts and methods implemented in different contexts in European theatre education. Abigel is motivated when there is good communication within her institution, ­empowered by mutual curiosity and the acceptance of disagreement whenever it appears. Megane feels included when her institution accepts the possibility of not knowing everything, always, immediately. According to her, a process of adaptation to challenges and new ideas is of critical importance, a process that should take the collective needs of the institution’s students and teachers into consideration. Lea is happy when her workload keeps her sufficiently active within her institution’s community. She feels at home when contact among the students and the teachers is promoted in a common effort to render the institution a safe space where dreams can be realised. Indre puts forward two facets that need to work well within her institution for her to feel invited to fully articulate herself; to share and challenge the knowledge produced, as well as the sharing and challenging of preexisting experiences. Eva feels like a true part of her institution when there is serious mutual listening. She enjoys collaborating with others, while also remembering that we need to foster the constant practice of self-care.

What is it that I would like to see in my institution? Julia would like to see kindness for each other, with more understanding for personal and collective struggles. She would also welcome the transformative force of poetry; for her it is important to be surrounded by an abundance of open minds and open hearts. Patrycja would like to see closeness with other institutions, but also reports a certain lack of empathy in the relationships with fellow students and teachers. She hasn’t had enough opportunities for academic and/or professional collaborations. She also felt a lack of guidance on a personal, academic, and professional

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Studierende aus verschiedenen europäischen Ländern sprechen mit Manolis Tsipos über ihre Visionen für eine zukünftige Theaterakademie


level from people who understand her own needs and desires. Abigel would like to see more attention from the institution to foster her artistic growth even more. She does not experience her institution as a space that encourages flexibility within its own people, let alone with other international contacts. Megane desired a more articulated sense of humanity in her institution. She thinks there should be a truly open space in which verbalising things, needs, desires and initiatives is a collective practice. In an institution still unsettled by a pandemic, Lea hoped for a clearer return to a pedagogy characterised by durability and sustainability; such a pedagogy would focus on raising awareness that promotes an individual sense of effectiveness. She felt there was a lack of balanced energy that would allow the institution to clearly propose more tangible goals. Indre pointed to a lack of understanding across the different departments of her institution. She felt the knowledge on offer didn’t match the variety of the institution’s students, that there was more to discover. And she also referred to a problematic lack of kindness, a situation that pressures people to remain hidden behind closed doors. Eva stressed the importance of accepting the individual in her institution and noted that this was often ignored. She also wanted to see a space of non-competition in which she would be supported if needed.

Who is my friend? After focusing on the institution, we thought we needed to focus on the people who are part of it, our colleagues, our peers, our friends. We felt we had not spent enough time wondering how we choose these people or the ways these people choose us. We had to ask ourselves: With whom can I be a friend? How do I approach them? How do I build a relationship with them? How can I share a common future? We felt it would be best to imagine the future theatre academy as a place full of friends. Finding a friend takes time. It is certainly the outcome of luck, but we also find friends when we allow time to pass without pressure, to flow like the water in a creek. Stress and danger rarely allow us to discover another human being next to us; this discovery between two people requires spending a lot of time together, because this mutual recognition is always a slow process. For our task of finding the friends with whom we would populate our theatre academy for the future, we wanted – ideally – to create similar circumstances; we chose to wander around the city of Munich for as long as possible within the time constraints of our work. Like modern flâneurs, we allowed ourselves to reflect – some of us actively, others in a passive mode – on who our friends are. Individually, we walked in the streets, we entered museums, we stood by the river, we laid on the grass in the park, we observed the people leading their lives, on their own or in the company of others; we imagined. Flashes and thoughts and ideas and visions of who this ideal friend could be appeared. We all met up again and shared what we had seen and found. Julia described a friend who is intelligent, kind and poetic. Patrycja said her friend needed to be able to offer her guidance and expertise with a spirit of true cooperation. Abigel envisioned a friend who is – above anything else – accepting of her. A friend who offers her attention with honest curiosity to learn who Abigel truly is. Megane’s ideal friend is someone who is filled with humanity, who is able to include

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the collective need, and who is not afraid to verbalise their thoughts and speak their mind. Lea describes a friend who can embody freedom of mind, flexibility in their actions and faith deeply rooted in their heart. Indre longed for a friend who would be capable of understanding, someone who is inspiring and moving, and someone who is there to help in difficult moments of need. Eva insisted that a friend should be able to support her, if needed, but this friend also had to be an example of self-care, always working towards the creation of a space of collective optimism. In this habitat of many temperaments, wishes and desires, the words we collected became our lexicon, our shared language. We feel this language is our contribution to the collective decision to imagine a theatre academy for the future. This future institution should primarily be a place in time where friends meet. It should be a space where knowledge is produced and shared among friends. Perhaps in that future theatre academy we will have different roles to play; nonetheless, it is imperative that we speak a shared language. We hope this lexicon might be seen as a foundation stone of this future construction.

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2 Diversität entwickeln


OPEN TABLE

All in

Inklusion im Theater und in der Theaterausbildung Max Dorner, Angelica Fell, Nele Jahnke, Malte Jelden, Johanna Kappauf, Georg Kasch und Jutta Schubert

Der Begriff Inklusion Georg Kasch „Wissen führt nicht zwangsläufig zum Handeln“, sagt Andreas Wehrl (siehe Wissen für die Zukunft, S. 196 bis 200). Daran können wir anknüpfen. Es gibt inzwischen viel Wissen über Theater mit Menschen mit Behinderung und darüber, welche Veränderungen dafür im Theaterbetrieb notwendig wären. Diese sind aber noch nicht an allen Häusern angekommen. Als ich angefangen habe, mich 2011 mit inklusivem Theater auseinanderzusetzen, gab es einschlägige Gruppen wie RambaZamba, Theater Hora oder Theater Thikwa, die vor allem mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Theater gemacht haben. Außerdem gab es einzelne Ausnahmeperformer:innen, die in der Freien Szene gespielt haben. 2014 hat das Staatstheater Darmstadt als erstes großes Haus zwei Schauspieler:innen mit Körperbehinderung ins Ensemble geholt. Die Münchner Kammerspiele haben nun seit 2021 zum ersten Mal ein echtes inklusives Ensemble. Wann ist eigentlich der Punkt gekommen, an dem wir den Begriff Inklusion nicht mehr brauchen und ihn auch nicht durch einen neuen ersetzen müssen? Angelica Fell An der Freien Bühne München versuchen wir schon jetzt, den Begriff „inklusives Theater“ zu vermeiden, unter anderem auf unseren Plakaten. Zu uns kommen also auch Zuschauer:innen, die keine Ahnung haben, dass wir ein mixed abled Ensemble sind. Die Skepsis gegenüber dem Begriff Inklusion ist einfach groß. Hinter der Frage steckt aber tatsächlich eine andere: Wann haben wir eine Gesellschaft, in der alle marginalisierten Gruppen die gleichen Möglichkeiten bekommen, also die gleichen Rechte ausüben können, die sie haben, die ihnen aber verwehrt werden?

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Johanna Kappauf Da muss noch viel getan werden, doch wir sind auf einem Weg: Inklusion findet statt. Max Dorner Das Schöne an dem Wort Inklusion ist ja, dass keiner weiß, was es eigentlich bedeutet oder weshalb es jemand verwendet. Gemeint ist eigentlich, dass Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und zwar mit den verschiedenen Fähigkeiten, mit den verschiedenen Dimensionen, die sie haben. Oft wird der Begriff synonym für den Umgang mit Menschen mit Behinderung verwendet. Das steckt in dem Wort Inklusion eigentlich überhaupt nicht drin, denn es kann genauso auf den Umgang mit Menschen mit Migrationsgeschichte bezogen werden.

Ausbildung von Menschen mit Behinderung Georg Kasch Lange Zeit gab es für Menschen mit Behinderung keine oder kaum Ausbildungsmöglichkeiten im Theaterbereich. Die Ausbildungsinstitute haben gesagt, sie bilden keine Menschen mit Behinderungen für das Theater aus, weil diese nicht nachgefragt würden. Und die Theater haben argumentiert: Wir haben keine Ensemblemitglieder mit Behinderung, weil es keine ausgebildeten Schauspieler:innen gibt. Ein Teufelskreis. Diese Diskussion verschiebt sich gerade ein bisschen. In der Produktion Wer immer hofft, stirbt singend an den Münchner Kammerspielen gibt es großartige Momente mit Johanna Kappauf, in denen sie wie eine Understate-Diva strahlt. Auf der einen Seite hat sie so eine totale Selbstverständlichkeit und Nonchalance und auf der anderen Seite so ein unglaubliches Strahlen. Johanna, wo hast du deine Ausbildung gemacht? Johanna Kappauf Ich habe keine Ausbildung gemacht. Ich habe nur Inklusionsworkshops gemacht und ich war bei der Theatergruppe Die Blindgänger. Und bei Workshops an der Otto Falckenberg Schule. Dort hat mich Nele Jahnke gesehen. Georg Kasch Haben dir diese Workshops an der Falckenberg etwas gebracht? Johanna Kappauf Ja, schon. Bei den Workshops habe ich sehr viel gelernt und sie haben mir großen Spaß gemacht. Ich hatte keine Erfahrung, war sehr schüchtern und sprach nicht. Georg Kasch Wenn du zurückdenkst ‒ hättest du gerne so eine richtige zwei- oder vierjährige Ausbildung gehabt? Johanna Kappauf Wenn ich jetzt dran denke, ja! Aus dem Publikum Mein Sohn Gabriel (anonymisiert, Anm. d. Hrsg.) hat an zwei solchen Workshops an einer süddeutschen Schauspielschule teilgenommen. Danach dachten wir, es wäre eine gute Idee, eine Bewerbung für diese Hochschule zu schreiben, auch, weil man ja beispielsweise bei den Kammerspielen vor dem Problem stand, dass wenig ausgebildete Schauspieler:innen mit Behinderung

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vorhanden sind. Die Ausbildung bei Angelica Fell muss bezahlt werden. Sie kostet 960 Euro im Monat und wenn ich mich an die Arbeitsagentur wende, um sie finanziert zu bekommen, ist keineswegs sicher, dass das funktioniert. Staatliche Theaterhochschulen sind für die Studierenden kostenfrei. Max Dorner In der Stadt München haben wir damit angefangen, Förderungen zu vergeben und beispielsweise Projekte der Freien Bühne zu unterstützen. Ich habe aber ein paar Jahre gebraucht, um festzustellen, dass das Nadelöhr für Inklusion die Ausbildung ist. Die Theaterausbildung schafft Räume, um Entdeckungen machen zu können. Angelica Fell Eigentlich ist eine Ausbildung für künstlerische Berufe für beeinträchtigte Menschen in unserem System nicht vorgesehen. Es gibt im Sozialgesetzbuch keinen Paragrafen, nach dem man Förderung für eine Theaterausbildung beantragen könnte. Das heißt, die Unterstützung hängt vom Wohl und Wehe einer Sachbearbeiterin oder eines Sachbearbeiters ab. Eigentlich ist der Weg für Menschen mit Behinderung vorgezeichnet: erst Förderschule, dann Werkstatt. Vier von unseren ehemaligen Schülerinnen und Schülern sind jetzt fest im Ensemble der Münchner Kammerspiele. Das zeigt doch, dass die künstlerische Ausbildung funktioniert. Dennoch finden Ämter oder die Arbeitsagentur keine Paragrafen, nach denen sie die Bewerber:innen mit Behinderung tatsächlich fördern können. Aber sie fördern die Aufnahme in die Werkstatt, die viel, viel teurer ist. Die UNBehindertenrechtskonvention, genauer, die Artikel 27 und Artikel 30, gibt allen Menschen, besonders auch den Menschen mit Behinderung, das Recht zur Teilhabe. Dieses Recht muss aber umgesetzt werden. Auch das Publikum im Theater hat ein Anrecht auf diese Kunst. Wenn die beiden oben erwähnten Artikel in die Sozialgesetzbücher einfließen, wird sich die Situation ändern. Dann können Menschen Förderungen beantragen. Das ist ein politisches Problem. Aus dem Publikum Wir werden Bayern für die Theaterausbildung von Gabriel verlassen. EUCREA hat ermöglicht, dass Gabriel nun die Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg bei Bremen besuchen kann. Ich verstehe Inklusion aber eigentlich so, dass Zugang zu bestehenden Systemen gewährt wird. Nicht, dass neue Systeme geschaffen werden oder dass ein ausgrenzendes System dazu dient, bestehende Systeme zu entlasten. Wenn sich die Ausbildung nicht verändert, müssen wir unseren Blick auf die Dinge nicht ändern. Aber dann wird allen Menschen etwas vorenthalten. Auch den Studierenden ohne Behinderung übrigens. Gabriel hat einen komplett inklusiven Werdegang hinter sich. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler haben davon profitiert, weil die inklusive Ausbildung den Blick dafür weitet, was normal ist. Bisher ist es in vielen Fällen so, dass ein Mensch ohne Behinderung festlegt, wie behindert jemand sein darf, um für das Theater ausgebildet zu werden.

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Werkstattsystem und Professionalisierung Johanna Kappauf Die meisten inklusiven Gruppen werden durch das Werkstattsystem finanziert, das gerade wieder sehr stark in der Kritik steht. Menschen mit Behinderung bauen etwas in großen Werkstätten und das wird dann verkauft. Dafür kriegen sie aber einen extrem niedrigen Lohn, oftmals nur 1,50 Euro in der Stunde. In den 1990er Jahren war es ein riesiger Erfolg, dass Gruppen wie RambaZamba, Theater Thikwa und andere an dieses Werkstattsystem angeschlossen werden konnten. Davor war Theaterspielen, künstlerische Arbeit nur in der Freizeit möglich. Nele Jahnke Damals waren die Werkstätten wichtig für die Professionalisierung der inklusiven Ensembles. Bei Theater Hora war der Schritt entscheidend, zu sagen, wir wollen das täglich tun und als unseren Beruf begreifen. Ich frage mich, wie wir Inseln wie Hora transformieren können. Ich würde nicht fordern, dass man sie auflöst, weil es eine ganz große Kraft und eine Kultur gibt, diese Gruppen gemeinsam zu entwickeln. Die Existenz freischaffender Schauspieler und Schauspielerinnen ist anstrengend. Wie kann man also als Möglichkeitsräume sehen? Wie können die Schauspieler:innen fair entlohnt werden? Wie können wir die Übergänge zwischen zweitem und erstem Arbeitsmarkt durchlässiger gestalten? Georg Kasch Der Anschluss an das Werkstattsystem war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Professionalisierung dieser Gruppen. Aber die schlechte Bezahlung ist weiterhin ein Problem und man ist immer noch in diesem paternalistischen System, in dem nicht-behinderte Menschen behinderten Menschen vorschreiben, wie Dinge zu funktionieren haben. Wie seid ihr damit an der Freien Bühne umgegangen? Angelica Fell Max Dorner hat uns von Anfang an engagiert unterstützt. Inzwischen unterstützt uns nicht nur die Stadt München, sondern auch verschiedene Stiftungen. Wir sind seit 2021 in der institutionellen Theaterförderung, was uns eine schöne Planungssicherheit gibt. Wir haben auch immer Teilnehmende aus der Lebenshilfe-Werkstatt in unseren Kursen. Wir hatten da eine sehr talentierte junge Frau, die die Werkstatt verlassen und unbedingt zu uns in die Qualifizierung kommen wollte. Es ist nicht gelungen, weil die Werkstatt sie nicht freigeben wollte. Und die Eltern hatten ihrerseits Angst um die Absicherung ihres Kindes, die natürlich in der Werkstatt gegeben ist … Nele Jahnke Denn der Verdienst von Menschen mit Behinderung wird begrenzt, weil sie sonst aus den Bezügen fallen. Georg Kasch Das ist gerade für Menschen mit Assistenzbedarf katastrophal, weil die Assistenzen sehr teuer sind. Das heißt, es bleiben dann ebendiese minimalen Beträge, die eher ein besseres Taschengeld sind als eine Entlohnung.

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Nele Jahnke Theater Hora hatte auch eine Ausbildung, die wir schließen mussten. Damit wir sie finanzieren konnten, mussten wir alle Menschen, die wir ausgebildet haben, ins Ensemble übernehmen. Irgendwann waren wir 20 Leute im Ensemble bei gleichbleibendem Personal und es waren ohnehin schon alle am Rande des Burn-outs oder im Burn-out. Wir wollten ab 2014 immer wieder mit der Zürcher Hochschule der Künste kooperieren, doch die Türen waren verschlossen.

Ausbildung an Theaterhochschulen Jutta Schubert EUCREA hat mit ARTPlus 1 seit einem Jahr ein Strukturprogramm, das jetzt in mittlerweile fünf Bundesländern stattfindet und von diesen auch ­finanziert wird. In den drei Jahren seiner Laufzeit – wir haben leider nur drei Jahre zur Verfügung – suchen wir in den verschiedenen Bundesländern drei Ausbildungsinstitutionen, nicht nur im Bereich Schauspiel, und bringen diese mit interessierten Künstler:innen mit Behinderung zusammen. Also mit talentierten Interessent:innen, die teilweise in Werkstätten arbeiten, teilweise noch bei ihren Eltern leben. Und zusammen mit den Menschen mit Behinderung und der jeweiligen Hochschule versuchen wir, verschiedene Modelle zu erarbeiten. Die Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg (HKS) ist sehr weit. Die HKS ist eine staatlich anerkannte private Schule, die gerade ihr ganzes Studienprogramm inklusiv umbaut, was man bei vielen Theaterakademien noch nicht beobachten kann. An der HKS studieren nun sechs Personen im Rahmen von ARTplus, vier studieren Schauspiel und zwei studieren Bildende Kunst. Allerdings haben wir viel mehr Bewerbungen, als wir an Hochschulen vermitteln können. In den anderen Theaterakademien haben wir Gasthörerschaften oder Beteiligung an Workshops organisiert. Das ist aber nur temporär möglich, weil bisher keine Hochschule bereit ist, jemanden mit kognitiven Beeinträchtigungen für ein reguläres Studium aufzunehmen. Dafür müssten die Hochschulen unter anderem den ganzen Theorieteil einer Ausbildung umbauen. Hier müsste eine viel größere Methodenvielfalt entstehen. Ich finde wichtig, dass die Hochschulen für alle geöffnet sind. Deshalb kann ich nur an die Hochschulen appellieren, trotz aller Arbeit die Ausbildung für Menschen mit Behinderung zu öffnen. Georg Kasch Hat denn das aktuelle Personal in den Hochschulen den richtigen Blick? Sind die Dozierenden mit Ästhetiken vertraut, die vielleicht nicht dem entsprechen, was noch vor zwanzig Jahren im Stadttheater zu sehen war? Was passiert denn, wenn ihr ein Vorsprechen macht und es fährt jemand im Rollstuhl auf die Bühne? Malte Jelden Die Person kommt mit ihrem Rollstuhl überhaupt gar nicht auf unsere Bühne, weil unser Probengebäude nicht barrierefrei ist. Aber ich glaube schon, dass es möglich ist, Talent zu sehen. Und ich meine nicht Bühnensprache oder körperliche Fähigkeiten, sondern wirklich Talent. An Hochschulen müssen Satzungen, Prüfungsordnungen und Zugangsvoraussetzungen geändert werden. Denn nicht jeder Mensch kann sich in den aktuellen Prüfungsordnungen präsen-

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tieren. Die Ausbildungen müssen neu designt werden. Sie würden sich grundlegend verändern, auch die Absolvent:innen wären andere. Christoph Lepschy (aus dem Publikum) Die Strukturen sind in den Hochschulen unterschiedlich und in Österreich sind die Kunsthochschulen Universitäten, für diese gibt es diesbezüglich klare Vorgaben: Inklusion und Diversität sind Teil der Leistungsvereinbarung, auf die kann man sich immer berufen. Ansonsten ist es wirklich eine Entscheidung eines jeweiligen Kollegiums, sich auf den Weg zu machen und Inklusion in der Ausbildung ganz konkret umzusetzen. Wir haben am Mozarteum in Salzburg Menschen mit Beeinträchtigung aufgenommen. Das bedeutet selbstverständlich, bestimmte Kriterien und Gegebenheiten zu überdenken. Und natürlich braucht es dafür auch bei uns bauliche Veränderungen. Malte Jelden Wenn wir in den Hochschulen lernen würden zu differenzieren und die Ressourcen dafür hätten, wäre ein großer Schritt getan. Wir müssten in der Ausbildung in der Lage sein, auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse der unterschiedlichen Menschen differenziert und individuell einzugehen. Nele Jahnke Meine größte Sorge ist die Dominanz eines bestimmten Wissens über Theater und ein von Nichtbeeinträchtigen sehr stark normierter Theaterbegriff. Die Freie Bühne München, Theater Hora oder Theater Thikwa haben in ihrer jahrzehntelangen Arbeit viele Tools entwickelt. Aber es gibt ganz wenig Wissenstransfer von den Gruppen in die Hochschulen. Ich halte es deshalb für elementar wichtig, dass auch Dozenten, Dozentinnen mit Beeinträchtigung an den Hochschulen sind. Als kognitiv beeinträchtigte Person kann es überfordernd sein, alleine zu unterrichten, in einem Team kann es jedoch sehr fruchtbar sein, sich verständigen zu müssen. Was meinen wir beim Sprechen? Mir würde das Herz bluten, würde es darum gehen, dass keine Schauspieler:innen mehr stottern. Viel spannender finde ich die Frage, wie das ein künstlerischer Möglichkeitsraum sein kann. Jutta Schubert Viele Hochschulen haben keine Willkommenskultur. Menschen mit Behinderung finden auf den Websites der Hochschulen häufig keine Ansprechpartner:innen, was häufig schon bei der Informationssuche zu Resignation führt.

Herausforderungen im Theaterbetrieb Georg Kasch Johanna, sagen wir mal, das Deutsche Theater Berlin fragt dich für ein Gastspiel oder für eine Gastinszenierung an. Was brauchst du, um dich dort wohlzufühlen und mitarbeiten zu wollen? Johanna Kappauf Ich brauche mehr Zeit als andere, um zu verstehen und zu reagieren. Eine Person, die mich unterstützt bei der Orientierung, die mich kennt und aufpasst, dass es mir nicht zu viel wird.

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Georg Kasch Und wenn wir in den Theaterbetrieb schauen – wo liegen hier die Herausforderungen? Angelica Fell Es braucht viel, viel mehr Zeit. Wir proben drei Monate und üblich sind eigentlich sechs Wochen. Sich Zeit zu nehmen und Stress und Ängste abzubauen – diese ganzen Phänomene des Hochleistungsbetriebs – tut allen Menschen gut. Dafür brauchen wir zusätzliches Personal, beispielsweise eine Inklusionsbegleitung. Die Beteiligten müssen ja auch lernen, dass man sich anschaut, deutlich spricht und sich die Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung auch angesprochen fühlt. Wir brauchen Räumlichkeiten, um auch getrennt in kleineren Gruppen arbeiten zu können. Nele Jahnke Wir hatten jetzt eine Kollegin mit Trisomie, die Regie geführt hat, Tiziana Pagliaro. Wie kommt sie zu ihren Entscheidungen? Ich möchte nicht permanent als nicht beeinträchtigte Person für meine Kolleg:innen mit kognitiver Beeinträchtigung sprechen. Gleichzeitig weiß ich, ich verheize sie, wenn ich sie einfach in diesen Betrieb stecke. Es gehört auch zu meiner Fürsorgepflicht zu sagen, wie lange eine Bauprobe dauern muss, damit sie Entscheidungen treffen kann. Max Dorner Probleme gehören dazu. Behinderung meint, dass man behindert, dass etwas einen behindert. Deswegen gehe ich damit inzwischen auch sehr entspannt um. Es kostet mehr, es dauert länger, aber das gehört dazu. Viele, die mit einem Projekt beginnen, denken, das muss jetzt genauso schnell und effizient sein wie andere Projekte.

Warum inklusiv arbeiten? Georg Kasch Wenn auf der Bühne oder in Regiepositionen Menschen mit Behinderung beteiligt sind, ermöglicht das ganz neue Arten zu schauen und zu verstehen. Was ist der beste Grund dafür, inklusiv zu arbeiten? Johanna Kappauf Um gemeinsam zu spielen. Ob mit oder ohne Behinderung. Angelica Fell In einer Demokratie hat jeder Mensch Zugang. Ich persönlich bin immer außerordentlich berührt, wenn ich entdecke, dass in einem Stück jemand mit Beeinträchtigung spielt, weil ich denke, das ist noch mal oft eine andere Umdrehung mehr. Und Berührung erwarte ich eigentlich vom Theater. Nele Jahnke Ich bin vor allem unglaublich gern mit Kolleg:innen mit Beeinträchtigung zusammen. Ich finde, diese Räume gehören zu den poetischsten, sinnlichsten. Und es passieren so viele großartige Absurditäten, auch in sprachlichen Verdrehungen. Mich hat dieses Theater geheilt. Ich würde ohne diese Erfahrungen keine Kunst mehr machen.

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Malte Jelden Ich habe Johanna in einem Projekt an der Otto Falckenberg Schule erlebt, wo sie einen Heiner-Müller-Text gesprochen hat. Ich würde wirklich den meisten Leuten davon abraten, so einen Text zu machen. Aber Johanna hat es so hervorragend gemacht, dass der Text eine andere Dimension bekommen hat. Durch sie konnte ich wieder verstehen, was sonst meist verstellt ist. Max Dorner Wir sollten inklusives Theater machen, weil jedem Menschen guttut, sich mit Einschränkungen und Behinderungen zu befassen. Jeder Mensch ist irgendwann selbst behindert. Spätestens wenn er 80 ist, wird er auch diverse Behinderungen haben. Wie gehen wir mit Behinderungen um im Leben? Dieses große Thema auszublenden, nimmt ganz viel, was einfach zum Leben dazugehört. Deswegen sollte das auch in der Kunst sichtbar werden.

FUSSNOTEN 1 EUCREA: „ARTplus. Künstlerische Ausbildung und Qualifizierung für Kreative mit Behinderung“, https://www.eucrea.de/artplus-ausbildung-2021-2024.

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OPEN TABLE

Queering Identity and Art Körper auf der Bühne

Josef Bairlein, Pınar Karabulut, Georg Kasch und Philipp Moschitz

Ein ambivalenter Begriff Georg Kasch „Queer“ war ursprünglich mal ein Schimpfwort, hat sich dann aber gewandelt zu einem positiv besetzten Begriff. Die Beschimpften haben sich das Wort angeeignet. Anders als bei den Begriffen schwul oder lesbisch ist queer ist ein sehr offener Begriff geblieben. Ich finde das gut. Man kann sehr viel Verschiedenes hineindeuten. Was bedeutet „queer“ für euch? Josef Bairlein Der Begriff „queer“ ist relativ schwierig. Er ist ein identitätsstiftender Begriff, der eine bestimmte Gruppe umschreibt, die sich historisch gewandelt hat. Homosexuelle gaben sich mit dem Begriff, der anders als die Begriffe „gay“ oder „schwul“ auch weibliche Homosexuelle miteinschließt, eine gemeinsame Identität. Später wurde der Begriff unter anderem auf Transsexualität, Intersexualität oder Non-Binarität ausgedehnt. Ich glaube aber, das Zentrale bei diesem Begriff ist, dass er immer auch gegen eine Identität gerichtet ist, dass er Identitäten in gewisser Weise kreuzt, auflöst oder verschiebt. Der Begriff ist ambivalent. Er ist identitätsstiftend, bezeichnet eine Gruppe und setzt eine Kategorie. Gleichzeitig ist er gegen Kategorien gerichtet. Philipp Moschitz Ich liebe es, mit dem Vokabular frei umzugehen – Queerness, LGBTQIA+, Diversität, Klarheit, Frechheit, Freiheit und im nächsten Moment Abgrenzung, Hürden. Georg Kasch Die Abkürzung LGBTQIA+ verschleiert, dass es ja auch zwischen lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans und nicht-binären Menschen durchaus Friktionen gibt. Es gibt ein klares Machtgefälle, denn es macht einen großen Unterschied, ob man ein schwuler weißer Mann ist oder ob man eine queere Person of Color oder trans ist. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass aktuell zum

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Beispiel queere People of Color und Transmenschen am meisten gefährdet sind. Im politischen Diskurs merkt man, auf wen sich die Rechte einschießt.

Queerness im Theater Georg Kasch Pınar, in vielen deiner Inszenierungen lösen sich die Geschlechtergrenzen auf, etwa bei Richard Drei, einer Überschreibung von Katja Brunner. Darin heißt es zum Beispiel immer „Die Richard“ und es ist ganz klar – das ist eine Frau. Es gibt auch ein herrliches Fantasiegendern in dem Text und mehrere Figuren, die sich nicht ins Mann-Frau-Schema pressen lassen. Warum? Pınar Karabulut In meinen ersten Regiearbeiten habe ich angefangen, Texte und Stoffe kritisch feministisch anzuschauen. Für mich existiert kein Feminismus ohne Queerness, beides hängt zusammen, unterstützt sich gegenseitig. Für viele Menschen checke ich in Hinblick auf Tokenism mehrere Boxen, als migrantisierter Körper und als weiblicher Körper. Ich spreche aus dieser marginalisierten Position heraus. Es gibt eine lange Geschichte, wie sich die weiße Dominanzgesellschaft in der Darstellenden Kunst, in der Bildenden Kunst und in der Popkultur queerer ­Ästhetiken bedient, dies aber nicht kenntlich macht. Es scheint auch 2022 weiterhin bestimmte Vorstellungen davon zu geben, welche Ästhetiken im Theater Platz haben. Das versuche ich in der Form, in den Dramaturgien, in den Erzählweisen oder auch in den Besetzungen meiner Arbeiten zu hinterfragen. Welche Körper sind auf der Bühne und in welcher Beziehung stehen sie? Ich bin Regisseurin geworden, um die Bühne zu nutzen, gemeinsam in einen Austausch zu treten. ­Warum soll ich diesen Raum dann nur für mich nutzen? Ich möchte ihn öffnen. Georg Kasch Philipp, du hast in Ingolstadt Die zwölfte Nacht oder Was ihr wollt inszeniert. Shakespeare hat mit Was ihr wollt ein Stück geschrieben, in dem sich eine Frau als Mann verkleidet, sich dann aber in dieser Männerrolle in einen Mann verliebt und der Mann irgendwie auch in sie. Es ist total unklar, in wen er sich verliebt. Ist Queerness schon seit 400 Jahren Teil des Theaters? Philipp Moschitz Bei Shakespeare wurden alle Rollen von Männern gespielt. Heute finde ich es ganz wichtig, dass man über diese Grenzen hinausblickt. Deswegen haben wir zum Beispiel Lady Olivia mit einem männlichen Schauspieler, Graf Orsino mit einer weiblichen Schauspielerin besetzt und den Narr, der irgendwie zwischen den Welten hängt, noch mal anders gelesen und besprochen. Georg Kasch Josef, gesetzt den Fall, an der Hochschule gibt es ein Vorsprechen und es kommt jemand mit einer uneindeutigen Identität auf die Bühne. Die Prüfungskommission kann die Person nicht in eine Schublade einsortieren. Was passiert dann? Josef Bairlein Bis vor wenigen Jahren mussten Bewerber:innen noch ankreuzen, ob sie männlich oder weiblich sind, das müssen sie heute nicht mehr und das ist

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sehr gut so. Ausbildung und Theaterpraxis beeinflussen sich gegenseitig sehr stark. Vor zehn Jahren hätte man wahrscheinlich noch gefragt, wen eine Person, die man nicht eindeutig zuschreiben kann, denn spielen soll. Je mehr Queerness auf dem Theater stattfindet, desto diverser wird auch die Ausbildung. Leon Haller (aus dem Publikum) Der Grundlagenunterricht funktioniert in den ersten beiden Jahren an den meisten Hochschulen so, dass Männer männlich gelesene Rollen und Frauen weiblich gelesene Rollen zu spielen haben. Als ich zum Absolvent:innenvorsprechen Elisabeth aus Maria Stuart gespielt habe, war eine Reaktion: Kann man das überhaupt lesen? Ich meinte daraufhin: Ja, es ist eine politische Rede, ich denke, man kann das lesen. Gerade in der Grundlagenausbildung geht es immer sehr um bestimmte Rollenzuschreibungen. Der Mann hat in diesem Stück bestimmte Ziele, die Frau hat sich diesen Zielen unterzuordnen. Uns wird vermittelt, wir müssten das lernen, ansonsten könnten wir nicht am Theater spielen. Nur weil mein Körper auf eine bestimmte Weise gelesen wird, muss ich also immer Hochstatus spielen und weil das bei einer anderen Person anders ist, muss sie immer Tiefstatus spielen? Wenn ich in der Ausbildung nur Rollen spiele, die für andere, die diese Rollen für mich auswählen, zu mir passen, dann lerne ich eigentlich nichts über Darstellung. Stattdessen lerne ich, Eigenschaften, die ich körperlich oder gestisch mitbringe, zu verstärken. Diese Praxis hat für mich nichts mit Schauspiel zu tun, weil ich dabei nicht lerne, wie ich mich einer Rolle nähern kann, wie ich mich verändern kann, eine andere Perspektive einnehmen kann. Lerne ich, indem ich nur das spiele, was andere mir zuschreiben? Ist es wichtig, was ich für einen Körper auf die Bühne mitbringe? Çağla Şahin (aus dem Publikum) Für mich persönlich ist ein wichtiges Thema in der Ausbildung, dass immer noch Körper von Studierenden kommentiert werden. Ich glaube, das liegt daran, dass die Dozierenden unseren privaten Umgang mit unseren Körpern kennen und nicht zwischen Bühne und privater Situation unterscheiden. Es fallen dann Aussagen wie: „Hey, du bist doch so eine schöne Frau, warum trägst du dann nicht auch mal Frauenklamotten?“ Wir müssen über diesen Umgang mit dem Privaten sprechen. Im Schauspielunterricht hören wir häufig, das Private müsse zu Hause bleiben. Damit ist gemeint, dass wir private Probleme nicht auf der Bühne verhandeln sollen. Aber gleichzeitig werden unsere privaten Körper kommentiert, stigmatisiert und in Rollen gedrängt. Das passt nicht zusammen. Josef Bairlein Was wir eigentlich bräuchten, ist ein Wissen darüber, was mein Körper vermag und mit welchem Körper ich auf der Bühne stehe. Das muss man ausbilden, ohne ein:e Student:in in eine Rolle zu pressen. Bei Crossgender-Casting entstehen schnell Klischeebilder, weil Darstellende versuchen, ein anderes Geschlecht zu imitieren. Was aber heißt es, wenn als Richard ein weiblich gelesener Körper, ein individueller Körper auf der Bühne steht, der auf diese männliche Rolle trifft? Dann passiert etwas, dann transformiert sich etwas und es kann auch so etwas wie ein neues Geschlecht erscheinen.

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Pınar Karabulut Mir ist es nicht genug, crossgender zu besetzen. Ich nenne das „EinMeter-Feminismus“. Crossgender-Besetzungen sind kosmetisch und reproduzieren eher andere Darstellungsprobleme. Das Geschlecht oder den gelesenen Körper auf der Bühne zu tauschen heißt ja nicht, Queerness zu erzählen oder kritisch auf eine Darstellungsform zu schauen. Und wenn ich aber doch bei Dostojewski eine Frau als Aleksej besetzen möchte, muss ich im Theater mehrere Stunden sture Überzeugungsarbeit leisten, weil die Dramaturgie es dann doch nicht möchte, dass eine Frau eine Hauptrolle spielt. Teresa Martin (aus dem Publikum) Ich bin Musiktheaterdramaturgin und frage mich, wie wir Besetzungen im Musiktheater und auch schon in der Ausbildung abseits der Heteronormativität denken können, da im Musiktheater Stimme und Rolle sehr viel enger verzahnt sind. Stimmfächer sind mit bestimmten Rollen, die auch einstudiert werden, in der Ausbildung verbunden. Dabei sind in der Oper so viele queere Momente eingeschrieben – Hosenrollen, sehr hohe Männerrollen im Barock zum Beispiel. Trotzdem ist die Gesangsausbildung darauf angelegt, bestimmte Rollen in dem bestimmten Fach, das einem zugeschrieben wird, einzustudieren. Und diese Zuschreibungen entspringen, wie könnte es anders sein, einem binären System. Wie können wir also Queerness im Musiktheater schon in der Ausbildung fördern? Ich arbeite am Staatstheater Kassel und in unserem Ensemble singt die Bassbaritonistin Sam Taskinen. In der Spielzeit 2022/23 produzieren wir die Zauberflöte, Sam Taskinen spielt die Rolle Papageno. Wir haben große Lust darauf, diese kanonischen Rollen zu hinterfragen, neu zu denken, denn die Geschlechtsidentität einer Rolle ist natürlich eigentlich immer wieder neu definierbar. Und ich bin gespannt, wie das grundsätzlich funktionieren kann, weil Sänger:innen doch irgendwie an ihren Fachpartien festhalten. Philipp Moschitz Ich frage mich immer wieder, warum Stücke wie Carmen oder My Fair Lady heute auf Spielplänen stehen. Wie kann man diese Stoffe heute neu denken? Es gab noch nie eine männliche Carmen, es gab noch nie eine männliche Eliza Doolittle. Ich würde gerne ausprobieren, Eliza zu spielen oder Carmen zu sein. Auch in der Oper etwas neu zu machen finde ich sehr spannend. Georg Kasch Andersens Erzählungen war eine Inszenierung von Philipp Stölzl am Theater Basel, in der ein männlicher Sopran die kleine Meerjungfrau gesungen hat. Das hat gut funktioniert. In der Praxis wird also schon auch anders besetzt, das könnte auch Teil der Ausbildung werden. Es kann großartig sein, mal das eigene Stimmfach zu verlassen und zu schauen, wie agil die eigene Stimme ist. Dabei können sich ganz neue Möglichkeiten auftun. Als in den 1950er und 1960er Jahren Barockopern wieder ausgegraben wurden, mussten Tenöre und Baritone zum Beispiel plötzlich Koloraturen singen, auf die sie im Studium nicht besonders vorbereitet wurden. Pınar Karabulut Das Wichtigste ist, die Augen zu öffnen, den Blick zu ändern. Bezogen auf eine Inszenierung kann ich als Regisseurin fragen und beeinflussen, was das Narrativ auf der Bühne ist und wie es dargestellt wird. Institutionell

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­betrachtet, kann ich fragen: Wie verhalte ich mich als Regisseurin in einer Probensituation? Was preache ich während einer Probenphase? Ich stelle häufig fest, dass ich in einer sechswöchigen Probenzeit fast eine Art Guerillakämpfer:innen ausbilde, die dann in ihre nächsten Produktionen gehen und weiter preachen. So können Wissen und Awareness verbreitet werden. Schauspieler:innen berichten mir manchmal noch lange nach einer Produktion, wie ihnen das im Probenalltag hilft. Sie fühlen sich gestärkt, wenn sie wieder zurück in das alte, patriarchal ­hierarchische System gehen. Georg Kasch In der deutschsprachigen Theaterszene beobachte ich, dass vom ­Leitungsteam eines Hauses abhängt, was dort möglich ist und was nicht. Wie könnte das Leitungspersonal an deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern in Sachen Queerness besser werden? Gesine Geppert (aus dem Publikum) Es ist schön, wenn eine Produktion in Bezug auf Queerness Mitarbeitende stärkt, sodass sie auch in ihr Haus hineinwirken können. Doch es reicht nicht aus, dass jemand innerhalb einer Produktion einen Schutzraum hat und gut arbeiten kann, wenn diese Person außerhalb der Proben wieder mit Alltagssexismus und -rassismus konfrontiert ist. Wir müssen diese Themen also auch in den Institutionen bearbeiten, nicht nur auf den Proben. In den Theatern oder Hochschulen treffen so viele verschiedene Menschen mit verschiedenen Sozialisationen, mit verschiedenen Herkünften aufeinander. Auch erlernte Lehrmethoden funktionieren nicht mehr für jeden Körper automatisch. Stimmbildungsdozent:innen wissen zum Beispiel nicht notwendigerweise, wie sie mit Transmenschen oder Menschen in Transition in der Ausbildung umgehen können. Wir alle müssen lernen, mit Mensch, Körper und Stimme neu und bedingungslos umzugehen. Leon Haller (aus dem Publikum) Wichtig ist, sich ausdrücken zu können, vor allem als Intendant:in oder Regisseur:in: Wer ein Problem mit meiner Darstellung hat, soll mir das erklären, ohne beleidigende Begriffe wie „tuntig“ zu verwenden. Lonnie Jasper (aus dem Publikum) Was Strukturen tatsächlich ändern kann, ist, sich mit der eigenen Position, mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen, sich auch als cis- und/oder heterosexuelle Person beschreiben zu lernen. Dass sich eben nicht die queeren Menschen outen müssen, sondern dass sich alle Menschen beschreiben lernen in ihren jeweiligen Identitätsdimensionen. Dann lernen sie auch ‒ und das schätze ich so sehr an queeren Umfeldern ‒, offene Fragen zu stellen und Fluidität zuzulassen. Georg Kasch Heute wird es behinderten Menschen sehr oft nicht ermöglicht, eine nicht-behinderte oder eine nicht weiter definierte Rolle zu spielen. Sichtbar queeren Menschen ergeht es mit nicht-queeren oder nicht definierten Personen ähnlich. Dürfen alle alles spielen? Was ist, wenn nicht-queere Menschen queere Personen spielen oder ein Hetero-Cis-Mann eine Frau spielt?

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Aus dem Publikum Meine Meinung ist, dass nicht alle alles spielen können. Eine transsexuelle Person kann nicht von irgendwem gespielt werden. Aber das ist ein Dilemma. Denn wenn nicht alle alles spielen können, müssen sich Schauspieler:innen auf professioneller Ebene outen. Für ein Casting hatte ich mal in die Bewerbung geschrieben, dass ich queer bin. Es kam mir sehr seltsam vor, in diesem professionellen Kontext zu schreiben, mit wem ich in meiner privaten Zeit schlafe, damit ich für diese Rolle infrage komme. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass Sichtbarkeit von queeren Menschen unfassbar wichtig ist. Ich entscheide mich, mich auf Instagram als queer zu positionieren. Ich komme aus Syrien. Menschen, die ihre Sexualität dort nicht ausleben können, sollen wissen: Hier ist ein Safe Space und sie können mit mir reden. Ich mache das nicht aus Marketinggründen. Trotzdem muss ich immer wieder von Kolleg:innen hören, dass ich gut im Business bin, weil ich PoC und queer bin. Pınar Karabulut Das wirst du nie verhindern können. Bis 2012 habe ich keine Jobs bekommen, weil mir gesagt wurde, ich könne nicht in einer Stadt wie München inszenieren und solle lieber am Ballhaus Naunynstraße in Berlin arbeiten. Diese Agonie, in der du gerade bist, ist schrecklich und das tut mir leid. Wir sind in einem Transformationsprozess die Wegbereiter:innen. Wir pushen diesen Prozess. Und trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack. Aber dieser Prozess und diese Sichtbarkeit sind wichtig. Auch wenn beides anstrengend und schmerzhaft ist. Es ist wichtig, sich auszutauschen und zu stärken. Mein Ideal ist, dass alle alles spielen können, dahin müssen wir irgendwann kommen. Georg Kasch Was beim Thema Sichtbarkeit auch wichtig ist: Für viele von uns ist es möglich zu passen. „Passing“ heißt, dass jemand jederzeit überzeugend so tun kann, als gehöre er zur heteronormativen Cis-Mehrheit und damit nicht weiter auffällt. Weil das aber vielen Menschen nicht möglich ist, ist es unsere Pflicht, sichtbar zu werden. 2021 gab es im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine Liste von Menschen, die gesagt haben, ich bin queer, ich oute mich – ohne weiteres Label wie schwul, lesbisch, bi, trans. Unter dem Hashtag #ActOut wurden queere Menschen aus dem Theater- und Filmbetrieb, also vor allem Schauspieler:innen von Stadt- und Staatstheatern, aus der Freien Szene, aus Film und Fernsehen sichtbar. Leon Haller (aus dem Publikum) Was ich an #ActOut so wichtig fand, war eine Botschaft: Wir outen uns, damit wir sichtbar werden, nicht, damit wir nur noch in dieses Rollenfach gesteckt werden. Wir machen diesen Beruf genauso gut wie unsere Kolleg:innen. Es gibt ein so großes Potenzial zu sagen: Schau mal, so bin ich, so bist du, wir können voneinander lernen. Josef Bairlein Ich würde gerne zwei wichtige Aspekte unterscheiden. Die Frage nach Sichtbarkeit kann eine identitätspolitische Frage sein. Welche Gruppen werden auf der Bühne repräsentiert? Und welche repräsentieren selbst? Sichtbar gemacht werden muss aber auch: Wo wird eine Gruppenidentität überschritten, infrage gestellt oder als konstruierte Identität erfahrbar? Deswegen glaube ich,

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wir brauchen eine Theaterpraxis, in der tatsächlich jede:r alles spielen darf. Zugleich darf es nicht zu einem Ausschluss bestimmter Gruppen kommen. Georg Kasch Der Begriff Queerness beinhaltet ja auch das Unlearning von Denkmustern. Der offene Begriff wandelt sich stetig, seine Definitionen sind in Bewegung, wir auch. Wie bleibt man dran? Wichtig ist vor allem, den anderen zuzuhören, seine eigenen Erfahrungen nicht über die der anderen zu stellen und zu reflektieren, dass die Eindeutigkeit von heute morgen schon wieder ein bisschen differenzierter aussehen kann. Zugleich ist es schön, so einen Sammelbegriff zu haben, damit nicht-heteronormative Perspektiven nicht zersplittern, sondern einen Ort haben, an dem sie Solidarität erleben.

Pause im Hof der Bayerischen Theaterakademie August Everding

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Vielfalt ist mehr als ein Trend

Wie ein Schauspielstudium wirklich divers werden könnte Çağla Şahin

Der Wunsch nach Diversität ist groß: Theaterhäuser versuchen, ihre Ensembles diverser aufzustellen, BIPoC und queere Menschen werden in Ausschreibungen zunehmend direkt adressiert oder explizit zu Vorsprechen eingeladen und zur Ausbildung in Theaterberufen ermutigt. Doch ein Ensemble divers aufzustellen, sollte nicht dazu führen, dass sich ein Theater darauf ausruht und sich über einen vermeintlichen ensemblepolitischen Erfolg freut. Ähnlich ist es an Theaterhochschulen, die zunehmend versuchen, diverse Studierende aufzunehmen. Eine Arbeitsgruppe zum Thema Diversität zu haben klingt dabei nicht nur gut, sondern soll auch zeigen, dass eine Institution fortschrittlich ist. Wie aber sieht die diversitätsorientierte Ausbildung junger Schauspieler:innen aktuell aus? An Schauspielhochschulen studieren immer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte oder -hintergrund, queere Personen und Menschen mit sichtbaren oder nicht sichtbaren Behinderungen. Das ist gut! Doch was heißt das für den Unterricht? Es würde ein verändertes Lehrsystem und einen veränderten Umgang in der Zusammenarbeit bedeuten, sei es in Proben, in der Ensemblearbeit und auch in der individuellen Arbeit mit den einzelnen Künstler:innen. Die Realität ist allerdings, dass sich die Hochschulen zwar diverser aufstellen, die erforderlichen Anpassungen der Lehr- und Probensituation dabei aber auf der Strecke bleiben. Doch welche Umstellungen kommen auf die Hochschulen zu?

Queere Lehre Personen, die noch wenig Berührungspunkte mit queeren Menschen hatten, fällt ein angemessener Umgang zunächst schwer. Stereotype und veraltete Vorstellungen von Queerness sind häufig die Basis dieser Begegnungen. Diskriminierende Sätze, indiskrete Fragen zur Sexualität und zum Gender sowie binäre Vorstellungen und Rollenzuschreibungen in „männlich“ und „weiblich“ sind alltäglich. Queere Männer

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beispielsweise sollten von Dozierenden nicht aufgefordert werden, auch mal einen heterosexuellen Mann zu spielen oder gefragt werden, ob sie sich nicht vorstellen können, eine Frau zu begehren. Denn die Tätigkeit von Schauspieler:innen ist es, Figuren zu spielen und Realitäten schaffen zu können, die vielleicht nicht ihre eigenen sind. Der Versuch, dem entgegenzuwirken, ist in den Schauspielhochschulen vorhanden. Allerdings sind Toiletten, die plakativ als „Gender-Toilette“ ausgeschildert werden, Regenbogenfahnen und Frauen in Männerrollen keine umfassende Veränderung in der Lehre in Bezug auf Queerness. Sie bedienen die Illusion, dass ein Minimum an Bewusstsein ausreichend sei. Ein bewusster Umgang mit Queerness ist mit Bildungsarbeit verbunden. Eine queere Lehre benötigt geschulte Dozierende, die unter anderem für die Bedürfnisse von Transmenschen in der Sprech- und Stimmausbildung ein besonderes Augenmerk haben. Stimmen sollten unter Berücksichtigung anderer Geschlechtsidentitäten nicht in „Männer“ und „Frauen“ kategorisiert werden. Rollen können unabhängig von Geschlecht und Sexualität von allen Schauspieler:innen gespielt werden. Diskriminierung von queeren Menschen muss aktiv benannt und anerkannt werden. Auch Garderoben und Toiletten können ohne Kategorisierung auskommen: Garderoben könnten geschlechtsneutral sein und es kann darin separate, abgetrennte Umkleidekabinen geben für diejenigen, die sich nicht vor der Gruppe umziehen möchten. Am wichtigsten ist es, im Austausch mit den von Diskriminierung Betroffenen zu sein und sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Es darf nicht darum gehen, queere Menschen zu den Expert:innen von queerer Lehre zu ernennen und Aufgaben auf sie abzuwälzen. Ihre Perspektive kann allerdings dazu dienen, einen Anstoß für ein empathisches Bewusstsein zu geben.

Inklusive Lehre Viel zu selten wird in der Schauspielausbildung reflektiert, wie ableistisch sie ist. Der Arbeitsmarkt funktioniert für Schauspieler:innen ähnlich, allerdings könnten die Hochschulen Wegbereiterinnen sein für eine Stärkung von Studierenden mit Behinderung. Menschen können nicht sichtbare Behinderungen haben oder es kann vorkommen, dass sie Behinderungen nicht immer und gegenüber jeder fremden Person offen benennen wollen. Sie sollten das auch nicht müssen! Dozierende sollten daher aufmerksam mit allen Studierenden umgehen, da unter ihnen auch solche sein können, die spezifische Bedürfnisse haben. Es gibt in der Schauspielausbildung allerdings die Vorstellung eines Normkörpers, der körperlich, geistig und psychisch fit ist. Studierende, die diesem Ideal nicht entsprechen, werden in ihrer Schauspielausbildung dennoch oft so behandelt, als könnten sie es. Behinderungen werden ihnen abgesprochen. Außerdem seien sie schwierig im Umgang, unberechenbar bei Kritik, zickig bei Anweisungen und überhaupt wahnsinnig unselbstständig als angehende Schauspieler:innen. Wutausbrüche könne man sich in der Arbeitswelt nicht mehr erlauben. – Natürlich nicht. Diese Schwierigkeiten mit Studierenden entstehen aber nicht aus ihrem Trotz oder Egoismus: Probenprozesse können für alle Beteiligten anstrengend sein. Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen brauchen möglicherweise geregelte Abläufe

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in Proben, sie haben mehr Fragen, die es zu beantworten gilt, bevor sie sich in die Arbeit schmeißen können, sie können oft empfindlicher für akustische oder visuelle Reize sein. Zusätzlich müssen sie sich an harten Tagen, an denen bereits die Anwesenheit bei einer Probe eine Herausforderung ist, auch noch anhören, dass sie launisch seien. Eine an Diversität und Inklusion orientierte Lehre muss diese Menschen mitdenken. Dozierende brauchen ein Bewusstsein dafür, dass Menschen mit Behinderung, sichtbar oder nicht, ein sicheres Arbeitsumfeld brauchen. Häufige Nachfragen von den Betroffenen bedeuten nicht zwangsläufig, dass die Studierenden nicht „einfach mal machen“ wollen. Daher sollten Fragen auch nicht als Kritik an der Kreativität einer regieführenden Person verstanden werden. Studierende, die vielleicht empfindlich auf visuelle und akustische Reize reagieren, brauchen konkrete Absprachen zu Licht- und Tonkonzepten, um sich und ihre Körper auf die Reize einzustellen. In zehrenden Endprobenphasen sollten Studierende nicht zusätzlich als teamunfähig bezeichnet werden, wenn sie länger brauchen, um sich von Proben physisch und psychisch zu regenerieren. Probenphasen müssen dafür zeitlich entzerrt werden. Es braucht die Erlaubnis dafür, dass sich Studierende zurückziehen können in den Unterrichten wie auch in den Proben. Menschen mit körperlichen Behinderungen, die auf Gehhilfen oder Rollstühle angewiesen sind, benötigen eine Anpassung der Unterrichtsräume. Toiletten, Proberäume, die Kantine sowie Werkstätten und Büros müssen auch für Rollstuhlfahrer:innen leicht zugänglich sein. Einen gut zugänglichen Fahrstuhl einzurichten, ist dafür essenziell. Doch damit allein ist es nicht getan. In der Lehre muss ein geduldiger Umgang mit den Studierenden ermöglicht werden, Bewegungsunterrichte müssen flexibler gestaltet sein, damit alle Studierenden daran teilnehmen können, und der Grundlagenunterricht für Schauspielstudierende muss neu entworfen werden: Er baut auf körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf, die Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung kaum oder gar nicht erfüllen können. Unterrichts- und Probenzeiten müssen an die Bedürfnisse der Studierenden mit Behinderung angepasst sein, um Regeneration und Ruhe zu ermöglichen. Es braucht ein erweitertes, wenn nicht sogar ein neues Bild von Körperlichkeit bzw. körperlicher Leistung, die Schauspielstudierende lernen und erbringen sollen. Behinderungen sind ein weites Spektrum und können sich in vielen verschiedenen Formen und individuellen Schwierigkeiten mit dem Alltag oder der Gesundheit zeigen. Hier ist zu betonen, dass die genannten Beispiele vielleicht nicht für alle inklusiven Studierenden gelten. Allerdings gibt es einen gewaltigen Missstand in dieser Hinsicht. „Normale“ Situationen in der Lehre und beim Proben wie Aufwärmspiele und Kontaktübungen im Unterricht oder auch die Möglichkeit, sich im Kostümfundus frei zu bewegen, Stroboskoplicht oder laute Toneinstellungen könnten für Menschen mit Behinderungen dabei schon Hürden sein, die es mit einer inklusiv gestalteten Lehre zu beseitigen gilt.

Antirassistische Lehre Migrationshintergründe oder die Migrationsgeschichte von Studierenden sind schon lange keine Seltenheit mehr, auch nicht an Schauspielhochschulen. Im Umgang mit

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Studierenden, die einen Migrationshintergrund haben, gibt es bereits eine Art Vorwissen der Dozierenden. Das kann sich darin ausdrücken, dass eine zusätzliche kulturelle Prägung als Qualität verstanden wird. Diese Qualität findet sich in der Emotionalität, im Ausdruck und im (Spiel-)Angebot der Personen wieder. Die Grenzen zu positivem Rassismus und der damit verbundenen Überhöhung des kulturellen Unterschieds verlaufen dabei oft fließend. Außerdem zeugen Mikrorassismen wie die fehlerhafte Aussprache der Namen (auch nach mehrmaligen Hinweisen), Witze über die Herkunftsländer der Personen, Vergleiche mit anderen rassifizierten Personen und Verteidigungsstrategien wie: „Ich habe Freunde, die sind auch BIPoC und die finden das nicht schlimm“ von zu wenig Tiefe in der Sensibilität gegenüber BIPoCs in Unterrichtssituationen. Um diesen Problemen begegnen zu können, muss von Dozierenden, aber auch von anderen Studierenden, die vielleicht nicht von Diskriminierung betroffen sind, anerkannt werden, dass wir in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft aufwachsen und aufgewachsen sind. Rassifizierte Personen sind in fast allen Bereichen ihres Alltags von Rassismus betroffen. Rassismus ist tief in den Gedankenstrukturen der Gesellschaft und leider auch häufig im Umgang der Menschen miteinander verankert. Es ist daher nichts Ungewöhnliches, dass sich diese Strukturen auch in einer Schauspielausbildung zeigen. Diskriminierung an Schauspielhochschulen ist kein Thema, das sich mit der Besetzung von Diversitätsbeauftragten oder dem Anerkennen der Problematik allein beheben lässt. Antirassistische Lehre kann damit beginnen, dass man sich ehrlich die Zeit nimmt und der Arbeit widmet, die es braucht, sich mit den eigenen rassistischen Denkstrukturen zu beschäftigen. Menschen richtig mit ihrem Namen anzusprechen, sie nicht zu fragen, wo sie „ursprünglich“ herkommen, und Betroffenen zuzuhören ist ein Anfang. Es ist wichtig, die Kritik von ihnen ohne Verteidigung anzunehmen, wenn rassistische oder diskriminierende Aussagen als solche benannt werden. Vor allem muss eine Einigkeit darüber bestehen, dass die rassifizierte Person darüber entscheidet, was rassistisch oder diskriminierend für sie war, nicht die rassifizierende Person.

Fazit: Plädoyer für ein politisches Theater Wenn die Schauspielausbildung divers sein soll, müssen sich Lerninhalte, Lernmethoden und Dozierende verändern. Natürlich sind all die Unterdrückungsformen, denen man an Theaterhochschulen begegnet, Probleme, die tief in der Gesellschaft verankert sind. Einen von Rassismus, Ableismus oder Queerfeindlichkeit befreiten Ort wird es in einer weiterhin rassistischen, ableistischen und queerfeindlichen Welt nicht geben können. Letztlich geht es um Macht. In einer Gesellschaft, in der Menschen wirklich gleichberechtigt wären und nicht nur in der Theorie, müsste man nicht für eine queerfreundliche, inklusive und antirassistische Lehre kämpfen. Wäre die Macht der Menschen gleich verteilt, wäre die Abwertung derer, die nicht zur gesellschaftlichen Norm gehören, nicht mehr nötig. Eine diversitätsorientierte Lehre an Schauspielhochschulen umzusetzen, ist notwendig. Der Einsatz für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen ist ein Funke, aus dem mehr werden kann – weit über die Theaterwelt hinaus. In

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all unserem Streben nach mehr Diversität und einer besseren Gesellschaft darf die Strahlkraft des Theaters nicht vergessen werden. Das Theater ist ein Ort, der gesellschaftliche Missstände aufdecken und sichtbar machen kann. Das Theater kann die Macht und das gesellschaftlich herrschende System kritisieren. Was es braucht, sind mutige Theaterschaffende, die politisches Theater machen und die Ideologien der herrschenden Klasse angreifen. Das alles kann das Theater natürlich nicht allein. Doch es kann viele Menschen dazu inspirieren, sich nicht mit dem Gegebenen abzufinden, sondern sich dagegen aufzulehnen und für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Denn langfristig gesehen braucht es ein anderes Gesellschaftssystem, das an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist, das Teilhabe ermöglicht und die Gedankenstrukturen bekämpft, die wir durch das herrschende System als gegeben verinnerlicht haben – ein System, in dem es zuletzt keine Unterscheidung in divers oder nicht divers mehr braucht.

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SPECULATIVE THINKING

Eine Politik der Fragilität Yener Bayramoğlu

Wenn wir vom Jahr 2040 aus auf unsere Gegenwart im Jahr 2022 zurückblicken würden, würden wir sehen, dass insbesondere mit dem Ausbruch der Pandemie ein Gefühl der Fragilität sich in der Gesellschaft entfaltete. Der Boden unter den Füßen war brüchig. Es handelte sich um eine Fragilität, die vielen unheimlich erschien: Selbst der weiße, bürgerliche, heterosexuelle Körper sah seiner eigenen Auslöschung ins Auge. Das führte zu einem neuen permanenten Gefühl der Unsicherheit innerhalb hegemonialer Gruppen: Jede Nachbarin könnte eine Terroristin sein, jeder Kollege ein potenzieller Stalker. Die organischen, aber auch Computerviren könnten jederzeit die menschliche Ordnung auf den Kopf stellen. Es war lediglich eine Frage der Zeit, wann das große Unglück passiert. 1 Nach vielen globalen Krisen seit 2022 hätten wir tatsächlich schmerzhaft gelernt, dass wir uns von der Politik der Stärke entfernen müssen. „Die Politik der Stärke“, wie ich zusammen mit María do Mar Castro Varela in dem Buch Post/pandemisches Leben: Eine neue Theorie der Fragilität formuliere, basiert auf einer Verzerrung der Realität sowie der bewussten Produktion von Ignoranz. 2 In dieser Politik spiegelt sich der Unwillen wider, sich mit der eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen. Dieser Unwillen ist zerstörerisch und mörderisch: Für das eigene sofortige Wohlgefühl werden reale Gefahren externalisiert, verleugnet und Lügen verbreitet. Rechte Parteien beschwören die Stärke einer Nation und verleugnen die Gefahren, die von Pandemien oder der Klimakrise ausgehen. Nekrokapitalistische Unternehmen, wie beispielsweise fossile Energiekonzerne, verursachen zur Maximierung ihres Profits irreversible Schäden auf Kosten der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt. Die Politik der Stärke zeigt sich verflochten mit Praktiken der Unterwerfung und der Enteignung des Lebens wie auch der natürlichen Ressourcen, die als unbegrenzt verstanden werden. Des Weiteren ist eine solche Politik aufgrund ihrer langzeitigen Schäden verflochten mit einer Politik der Verkrüppelung nicht nur der menschlichen Körper, sondern auch der Infrastrukturen sowie der Umwelt. Im Jahr 2040 sagen wir, dass das Leben für alle fragil ist. Es ist fragil, weil es von dem Leben der anderen abhängt. Daher ist es auch nicht möglich, dieser Fragilität zu

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entkommen. Im Jahr 2040 hätten wir bereits gelernt, das Leid sowie die Verluste der anderen anzuerkennen und mitzufühlen. Hierzu muss eine Auseinandersetzung mit der Fragilität des eigenen Seins sowie mit den brutalen Auswirkungen der eigenen Macht stattfinden. Denn, so wie die katalanische Philosophin Marina Garcés schrieb, „wir sind winzig und verletzlich, aber wir haben übermäßig viel Macht“ 3. Eine der wichtigsten Kritikpunkte der queeren und postkolonialen Theorien richtet sich an Institutionen. Institutionen wie Theater, Museen oder Universitäten spiegeln eurozentrische, weiße und heteronormative Interessen wider, weil sie eben von mehrheitlich weißen, heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Menschen besetzt sind. Seit 2024 hat ein epistemischer Wandel stattgefunden. Wir betrachten die Gesellschaft und das Leben aus den Peripherien heraus und öffnen die Wege, um die Peripherien ins Zentrum zu rücken. Damit kann eine Dekolonisierung von Wissen und eine De-Subalternisierung vorangetrieben werden. Dies eröffnet Räume des Widerspruchs, in denen auch diejenigen atmen können, deren Körper an den Grenzen verwundet wurden. Wir als Mehrheitsgesellschaft lernen, unser Denken von zuvor Nicht-Gedachtem bestäuben zu lassen. Bis 2040 werden wir auch neue Strategien des sozialen Zusammenhalts entdecken. Hier könnten vielleicht die aktivistischen Strategien in der Aids-Krise eine Inspirationsquelle sein. Die früheren Aids-Aktivist:innen vertraten die Ansicht, dass der Tod ein Teil des Lebens sei – und als immanent verstanden werden sollte. Nur wenn der Tod als Teil des Lebens anerkannt würde, könne das Leben tatsächlich in all seiner Intensität gelebt werden. Viele Menschen in queeren Kontexten haben in den 1980er und 1990er Jahren Freund:innen verloren. Die Reaktionen darauf waren nicht nur Proteste, sondern auch neu geschaffene Rituale des Trauerns und Gedenkens. Ein Rückblick auf die Strategien der ersten Aids-Aktivist:innen ist auch deshalb bedeutsam, weil diese die Fragilität menschlichen Lebens sowie den Tod als Ausgangspunkt einer Politik genutzt haben, die das Konzept der Identität überschreiten ließ. Aktivist:innen, die Teil der Fürsorgenetzwerke, also der Aids-Buddy-Systeme waren, begleiteten Aids-Patient:innen beim Sterben, selbst wenn sie diese vorher nicht persönlich kannten. Die Aktivist:innen zeigten Liebe, Nähe und Fürsorge für ihnen zuvor unbekannte Menschen. Vielfach war der Grund hierfür, dass Familienangehörige, teilweise auch Freund:innen oder Partner:innen der Sterbenden genau das für die Erkrankten nicht tun konnten oder wollten. Solche Gruppen verwandeln die Freundschaft geteilter Entfremdung in einen Modus biopolitischen Widerstands, der die Grenzen von Geschlecht, Rassifizierung, Klasse und Generation durchbricht und radikal demokratische Formen der Staatsbürger:innenschaft und bürgerlichen Partizipation fördert. Ähnlich wie Aids-Aktivist:innen stellen wir in der Zukunft neue Beziehungen und Verbindungen her, die geografische, politische, organische und identitäre Grenzen überschreiten. Die Lage ist ernst. Die multiplen globalen Gefahren machen globale Allianzen und Strategien erforderlich, bei denen Identitäten nicht mehr dieselbe politische Rolle spielen werden wie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. So imaginiere ich 2040 als eine Zeit, in der unsere Genitalien, unser Begehren, unsere Akzente, unsere Hautfarben keine Bedeutung mehr haben werden. Wir werden keine Begrifflichkeiten mehr haben, um uns voneinander zu differenzieren. Die Differenzen werden zwar noch da und sichtbar und hörbar sein, dennoch werden wir nicht mehr

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die Begrifflichkeiten zu unseren geschlechtlichen und sexuellen Differenzen benötigen, um uns selbst zu ermächtigen. Denn die Gewalt und Machtstrukturen, die diese Begrifflichkeiten erforderlich machen, diese Begrifflichkeiten hervorrufen, werden nicht mehr existieren. Es ist also eine Art queere Utopie, wovon ich träume, die sich jenseits der Geografien der Heteronormativität und Cisnormativität entfalten wird. Wir werden sehen, dass auch Demokratie ein fragiles Konstrukt ist. Es verlangt unser aller Kraft, diese auch in Krisenzeiten zu schützen. Diese Fragilität der Demokratie beschreibt Derrida in seinen Schriften als „Autoimmunität der Demokratie“ 4. Bei einer Autoimmunreaktion wenden sich Teile des Körpers gegen diesen selbst. Anders ausgedrückt: Im Kampf um Selbsterhalt zerstören Teile des Körpers andere Teile, zum Beispiel zerstören Zellen andere Zellen. Eine ähnlich zerstörerische Kraft der Autoimmunität, so Derrida, kenne auch die Demokratie, wenn sie das, was sie schützen sollte, zu zerstören drohe. Derrida machte dem folgend mit seiner Idee des phármakons darauf aufmerksam, dass das, was als gut und hilfreich gilt, durchaus böse und destruktiv sein kann: So kann Gift zur Medizin werden und Medizin zum Gift. Das, was uns schützt, kann uns töten. Antivirenprogramme können Computer infizieren, und jeder Versuch, über jeglichen Zweifel erhaben zu sein, könnte unser Todesstoß sein. Ich sehe Digitalisierung wie ein phármakon. Sie ist Gift, das zur Medizin und Medizin, die zum Gift werden kann. Was im Jahr 2020 als Datenkolonialismus bezeichnet wurde, also die Digitalisierung und Datafizierung, die das Individuum selbst zu einem lukrativen Rohstoff verwandelte, werden wir in der Zukunft dank unabhängiger Institutionen verhindern. Gegen einen Datenkolonialismus werden die unabhängigen Institutionen den digitalen Bereich regulieren. Der Begriff Datenkolonialismus weist auf eine neue und gefährliche Verstrickung zwischen Kolonialität und Kapitalismus hin. Verstehen wir Kolonialismus als Prozess, in dem eine Gruppe von Menschen unter Einsatz von Technologien der Überwachung und Kontrolle den Lebensraum anderer Menschen besetzt, deren Ressourcen ausbeutet sowie ihre eigenen Ideologien durchsetzt, so haben wir es mit einer neuen Ära des Kolonialismus zu tun. 5 Die großen Technologieunternehmen verstehen Daten in dieser neuen Ära als eine begehrenswerte Ware, die gesammelt, angeboten, gestohlen und verkauft werden. Eine queere Zukunft kann jedoch nicht losgelöst von Digitalisierung verstanden werden. Digitale Medien und Technologien werden Teil der queeren Zukunft sein. Anstatt apokalyptische Vorstellungen zur Digitalisierung zu fördern, sollten wir hier von marginalisierten Menschen wie Migrant:innen und Geflüchteten lernen, digitale Medien dazu zu nutzen, europäische Grenzen zu unterwandern, in die Diskurse und Kulturen hier und dort zu intervenieren und eine bessere Zukunft aufzubauen. Die Chicana-Schriftstellerin, -Poetin, -Aktivistin und -Intellektuelle Gloria Anzaldúa hat in den 1980ern Jahren mit Borderlands/La Frontera eine fantastische Arbeit vorgelegt, in der sie die Zumutungen des Unordentlichen, Chaotischen, Queeren und Unerwünschten mit dem Konzept der Grenze in Verbindung bringt. Detailliert und poetisch beschreibt Anzaldúa, wie Menschen, die Grenzen überschreiten, alle gängigen Kategorien wie Sprache, Kultur, Nation, Identität, Sexualität oder Geschlecht miteinander verflechten. 6 Es sind die Grenzen zwischen einem Hier und Dort, zwischen uns und euch, die diese Grenzgänger:innen ständig punktieren. 2040 wird eine Zeit sein, in der die Grenzen sich auflösen werden. Menschen werden sich frei-

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lich zwischen hier oder dort bewegen können, ohne sich dabei Gedanken machen zu müssen, ob sie auch die richtigen Dokumente dafür haben. Denn wir werden mehr Orte für Zuflucht und Schutz brauchen. Donna Haraway schreibt in ihrem Buch Staying with the Trouble, dass das Anthropozän, also das Zeitalter des menschlichen Zerstörens, gravierende Diskontinuitäten verursacht. Was uns in der Zukunft erwartet, wird nicht dasselbe sein wie in den letzten Millionen Jahren. Es ist eine Zeit der Zäsur, einer Wendung, einer Transition. Da diese Zeit aufgrund der unzähligen Leiden und des Aussterbens sehr schmerzhaft ist, ist Haraway der Meinung, dass wir diese Zeit so kurz und schnell wie möglich überwinden müssen. 7 Wenn wir in der Zukunft das Anthropozän hinter uns lassen, müssen wir Zufluchtsorte ohne Grenzen schaffen, sodass alle Kreaturen sich von dieser toxischen Zeit erholen können. Rosi Braidotti bemerkt, dass wir einerseits Diskurse brauchen, die unsere Imaginationen einer besseren Zukunft anregen und gleichsam eine Dekolonisierung nekropolitischer Diskussionen ermöglichen. Denn der Grund dafür, dass im Globalen Norden ständig über den Tod gesprochen und nachgedacht wird, sei, dass auch bürgerliche Europäer:innen erkennen mussten, dass ihr Leben aufgrund der bestehenden globalen Krisen fragiler geworden ist. 8 Es werden neue kritische Perspektiven benötigt, die die Zusammenhänge zwischen Individuen und globalen Krisen in den Blick nehmen und dabei nicht übersehen, dass Handeln und Verantwortung sich nicht auf eine individuelle Ebene reduzieren lassen. Eine apokalyptische und hoffnungslose Zukunft ist keine Option für diejenigen, für die schon die Gegenwart nicht viel zu bieten hat: „Das Hier und Jetzt ist einfach nicht genug“, schrieb José Esteban Muñoz. 9 Dennoch kann die Hoffnung von Menschen, denen das Leben in der Gegenwart unmöglich gemacht wird, eine Form der Hoffnung und der Zukunftsvorstellung sein, welche die Fragilität der Dinge nicht außer Acht lässt: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft basiert dann genau auf jener von Marina Garcés beschriebenen fragilen Beziehung zwischen Verlusten in der Vergangenheit, der toxischen Gegenwart und den erhofften Veränderungen in der Zukunft. Daher ist für mich eine Zeitlichkeit von großer Bedeutung, die anstelle positivistischer und teleologischer Vorstellungen von Wachstum, Stärke oder einem „Alles wird gut“ gerade die Fragilität in den Mittelpunkt rückt. Anstatt eines grausamen Optimismus, ist die Zeitlichkeit der Fragilität von einer kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der grausamen Welt, die wir bewohnen, geprägt. Zudem brauchen wir weiterhin eine Utopiefähigkeit. Denn Utopien ermöglichen, sofern sie nicht von Selbstkritik entkoppelt sind, eine Repolitisierung und eröffnen so Handlungsmacht. 10 Zwar muss Hoffnung, wie bereits Ernst Bloch bemerkte, enttäuscht werden, droht sie doch sonst, totalitär zu werden. 11 Aber eine Hoffnung, die mit Enttäuschung rechnet, ist eine fragile Hoffnung; eine Hoffnung, die Fragilität nicht ausklammert, sondern umarmt. Wir müssen intellektuell in Bewegung bleiben und eine Zukunft einfordern, die besser ist als die Gegenwart und die Vergangenheit. Die wichtige Angst vor der Zukunft sollte uns mobilisieren und nicht verstören.

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FUSSNOTEN 1 Braidotti, Rosi: Posthuman Knowledge, Cambridge 2019, S. 37. 2 Bayramoğlu, Yener und María do Mar Castro Varela: Post/pandemisches Leben. Eine neue T ­ heorie der Fragilität, Bielefeld 2021. 3 Garcés, Marina: Neue radikale Aufklärung, Wien 2020, S. 31. 4 Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt am Main 2006. 5 Couldry, Nick und Ulises A. Mejias: The Cost of Connection. How Data is Colonizing Human Life and Appropriating it for Capitalism, Stanford 2019, S. 49. 6 Anzaldúa, Gloria: Borderlands/La Frontera, San Francisco 1987. 7 Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016, S. 100. 8 Braidotti: Posthuman Knowledge, S. 69. 9 Muñoz, José Esteban: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, Durham 2009, S. 96. 10 Castro Varela, María do Mar: Unzeitgemäße Utopien: Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehter Hoffnung, Bielefeld 2007. 11 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1975.

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SPECULATIVE THINKING

Combining Art with Political and Social Claims Clothilde Sauvages

Today, climate change, growing inequality and poverty, the crisis of democracy, the destruction of biodiversity and the constant breaching of planetary limits have reached a point where we can no longer stand still ... More than ever, we need to act against the force of the status quo, and cultivate the “optimism of our will”. 1 Why should art be part of this movement? How can it assist political and social claims? In the following, I aim to develop a short design fiction to explore answers to those questions.

It is the year 2040 It’s been a while since I left the city of Paris behind. Like so many other Parisians, I got tired of its intensity and density. But here I am, back in the city for a few days. And to my surprise, as soon as I step out of the train station, all the memories from my years of political struggle come flooding back. Why? Because so many art symbols are lying there, in the public space, as reminders of how it was in the past, but also as proof of how it changed. We can see the leftovers of the street collages made by the feminists who were using any wall of the city they could find to denounce femicides. They are everywhere, floating in the streets to remind us that dignity must be respected and cultivated in all circumstances, every day. But also that oppression of a few over others is no longer tolerated. Quite a symbol, when you remember that in 2022, 59 femicides were committed in just six months … As I cycle toward my appointment, I am pleased to observe another remnant from the old days. The flag #wearewatching: an art piece made out of thousands faces from 190 countries. All bearing witness to the climate emergency triggered by our unsustainable way of living. Taller than a ten-storey building, this flag was brought to the United Nation Climate Change Conferences (COP)

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in 2019 and 2020 to hold leaders accountable as they were deciding the future of our planet. 2 Now that we are finally on track with the Paris Agreement, this art piece made by artivist Dan Acher hangs from the Eiffel Tower. A symbol that this achievement would never have happened without a strong mobilisation of citizens and a democratic revolution. After enjoying my first coffee in the Parisian summer, I finally arrive at my destination: a bookshop located on the Avenue des Champs-Elysées. I will be talking about a book I contributed to in 2023 called Learning for the Future. Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste. To be honest, I never thought I would be speaking at an event on this avenue. Back then, this street was more famous as the temple of capitalism than for promoting the work of artists and intellectuals. I see what used to be an Apple store – those glass windows are still recognisable. It seems crazy to me that in the 2020s, we used to sell so many electrical devices with planned obsolescence. It reminds me of the performance Carrying the Cross performed by artist Filipe Vilas-Boas in 2019, 3 which exemplified how we were alienated by digital platforms with their massive surveillance and algorithm biases. He was carrying a cross-shaped Facebook “f” through the streets with the help of the public. It is ten to six and the event is about to start. Dancers from Collectif Minuit 12 are warming up. I invited them to reproduce the show they did in 2022 in front of the Total Energie headquarters to denounce the construction of the East African Crude Oil Pipeline Project (EACOP) that was supposed to be built from Uganda to Tanzania. A climatic bomb that gathered the attention of many activists across the globe. I feel this show could be a great introduction to the theme of the evening and remind the audience how art can mobilise people to act through emotions. Seven o’clock – it’s time. And while I am adjusting my microphone to enter the main room, I cannot help but think back to the guideline we, the Ouishare community, set for ourselves during those decisive times when the window to act on climate change and remain within the Paris Agreement was closing. As a community whose mission was to politicise our societal choices, we aimed for each of our actions to: (1) include all the subjects we work on in their social and ecological dimensions; (2) involve all the people concerned in discus­ sions and decisions on these same subjects. We did this by always asking all stakeholders: what consideration should be given to people? To workers? To resources? To the climate? To living ecosystems?; (3) build new bridges between people who rarely speak to each other, but also bridges between ideas, people and movements. Three guidelines, our compass that ensured each of our actions – events, articles, surveys or experiments – would always defend the three values that were at the heart of our political commitment: freedom, dignity and sharing.

Yes, those years when we had to limit the temperature increase to 1.5°C were c ­ rucial. I am glad we could count on so many artists and cultural institutions to support ­those actions, claims and values. Without such a strong mobilisation, I doubt we

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could have transformed the dominant narratives fast enough and start the democratic uprising that led our governments to finally combat our capitalist, neo-liberal society. Tonight, on this particular evening in 2040 at this event in Paris, it is their work that I want to celebrate.

FUSSNOTEN 1 Gramsci, Antonio: Prison Notebooks [Quaderni del Carcere], translated by Joseph Anthony Buttigieg II, New York: 1947 – 2019. 2 Archer, Dan: We are Watching, https://dan-acher.com/projects/we-are-watching/; Archer, Dan: We are Watching. About, https://www.wearewatching.org/about. 3 Vilas-Boas, Felipe: Carrying the Cross, https://filipevilasboas.com/Carrying-The-Cross.

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WORKSHOP

Aktivismus und Theater Carolin Wirth im Gespräch mit Johannes Hebsacker

Johannes Hebsacker Du hast während der Zukunftskonferenz an einem Workshop von Jesaja Song-Gil Rüschenschmidt und Lea Würtenberger zu künstlerischen Strategien im Aktivismus teilgenommen. Was genau habt ihr gemacht? Carolin Wirth Anfangs haben wir Themen gesammelt, die die Stadt München bewegen könnten. In kleineren Gruppen ging es dann darum, einzelne aktivistische Aktionen zu entwerfen und zu planen. Die Gruppe, in der ich war, hat sich mit Mietpreisen und Mieterhöhungen auseinandergesetzt. Wir haben uns überlegt, mit einem Sinfonieorchester in ruhige und wohlhabende Wohngegenden zu gehen und dort regelmäßig für Lärmbelästigung zu sorgen. Wir haben uns vorgestellt, damit den monetären Wert des dortigen Wohnraums senken zu können. Und ein bisschen wollten wir die Anwohner:innen auch mit ihrer eigenen Versnobtheit bombardieren. Ziel des Workshops war aber gar nicht in erster Linie, solche Aktionen künstlerisch zu entwerfen, sondern sie zumindest fiktiv detailliert zu planen. Woher kommt das Geld für die Aktion? Wer spielt in diesem Orchester? Zu welchen Zeiten spielt es dort? Womit müssen wir uns während der Aktion auseinandersetzen? Mit dem Ordnungsamt? Mit wütenden Anwohner:innen, die sich vielleicht beschweren? Wollen wir uns weitere Aktionen ausdenken, damit die Polizei unser Vorhaben nicht auf halber Strecke stoppt? Und, ganz wichtig: Wie kann man die eigene Botschaft gut kommunizieren? 2022 begannen die Aktionen der Letzten Generation. Da hat man gemerkt, dass die Öffentlichkeit ganz schnell nur um die Wahl der Protestmittel streitet, anstatt über die eigentlichen Anliegen eines Protests zu diskutieren. Wie kann man also mit einer künstlerischen Protestaktion eine inhaltliche Debatte anstoßen? Johannes Hebsacker Ist das auch eine Frage, die du dir in Bezug auf deine Theaterpraxis stellst? Carolin Wirth Ich habe als Regisseurin ein starkes politisches Interesse. In der Verbindung von politischem Aktivismus und Theater können Aktionen mit großer

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Schlagkraft entstehen. Arbeiten im Theater haben immer ein sehr starkes Framing. Menschen kommen mit bestimmten Erwartungen dorthin, sie denken vielleicht an eine Guckkastenbühne, an einen geschlossenen oder begrenzten Raum. Und Theater strahlt immer etwas Artifizielles aus. Dinge werden exemplarisch verhandelt und immer durch die Brille einer Aufführung gelesen. Aktivismus im eigentlichen Sinne ist auf einer Bühne bzw. in einer Bühnensituation gar nicht möglich, weil ebendiese Brille dazwischengeschaltet ist. Das finde ich das Schwierige daran, ein politisches Statement in eine theatrale Situation zu bringen – die Verabredung einer Aufführung verschiebt Lesarten. Johannes Hebsacker Wie gehst du mit diesem Widerspruch um? Carolin Wirth Rückblickend habe ich mich wahrscheinlich auch deshalb für das immersive Setting meiner Arbeit Asozialisierungsprogramm entschieden; diese Verabredung der Theateraufführung haben wir damit nicht gebrochen, das Zuschauer:innenerlebnis ist aber doch unmittelbarer, als wenn man in einem Theatersessel mit reichlich Abstand zum Geschehen Platz nimmt. Dadurch, dass wir auch nicht vorgegeben haben, welches Bühnengeschehen gerade im Fokus liegt, sondern das Publikum immer entscheiden konnte, in welchem Raum es gerade sein und zuschauen möchte, lag die Verantwortung für das Gesehene auch nicht mehr nur bei uns. Diese Anordnung war ein Versuch, eine Form von politischem Aktivismus innerhalb eines Theaterabends erlebbar zu machen und nicht nur davon zu erzählen. Wir haben versucht, eben nicht ausschließlich eine politische Haltung in den Raum zu stellen oder Forderungen zu formulieren, sondern all unsere Fragen, unseren Struggle mit auf die Bühne zu bringen und damit die Nähe zum Publikum zu suchen. In dieser Ehrlich- und Verletzlichkeit, die wir als Team während des Probenprozesses miteinander und während der Aufführungen auch dem Publikum gegenüber hergestellt haben, steckt für mich das aktivistische Potenzial. Wir als Künstler:innen stellen nicht einfach ein Ergebnis aus, sondern versuchen offenzulegen, warum und woher unsere Überlegungen kommen. In gewissem Sinne könnte das ein aktivistisches Theatermachen sein, auch im Gegensatz dazu, wie Aktivismus im öffentlichen Raum funktioniert. Johannes Hebsacker Und worin genau liegt das Potenzial von aktivistischem Theatermachen? Carolin Wirth Ich fürchte, dass aktivistisches Theater als Begriff nicht brauchbar ist wegen der oben beschriebenen Diskrepanz von Theaterverabredung als Vermittlung und Aktivismus als unmittelbarem Erlebnis. Ich würde sagen, wir haben uns in Asozialisierungsprogramm aus dem Werkzeugkasten aktivistischer Kunstaktionen bedient und inspirieren lassen. Das ist, glaube ich, ein Geben und Nehmen: Aktivistische Aktionen können sich theatraler und performativer Tools bedienen und das Theater kann lernen, sich aktivistischer Tools zu bedienen. Aktivistische Strategien können dabei helfen, kreativer mit der scheinbar undurchbrechlichen Aufführungssituation umzugehen.

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Partizipatives Musiktheater

Von Aktionstickets, Live-Abstimmungen und der Partitur als Material Teresa Martin

Beim Table Talk (Im)Possible Opera schwirrten die unterschiedlichsten Entwürfe zu einer Zukunft der Oper durch den Raum, wie eine Scheintote wurde die Oper auf Herz und Nieren geprüft, und ihr, der der ständige Tod schon seit Jahrzehnten angedichtet wird, ein Weiterleben attestiert. Wie Komponist Wolfgang Rihm es so passend ausdrückte: „Oper zuckt noch.“ 1 Wir Theaterschaffende, die eingeladen wurden zur Zukunftskonferenz der Theaterakademie August Everding, wurden nach lebensverlängernden Maßnahmen gefragt. Ganz unterschiedliche Therapieansätze schwirrten also über die Hinterbühne des Prinzregententheaters, es wurde seziert und analysiert, Fragen nach Vereinbarkeit von Kanon, jahrhundertealter Tradition und den Stimmfächern historisch zugeschriebenen Rollenmustern mit heutigen Geschlechterbildern, gesellschaftlichen Veränderungen und Digitalität wurden gestellt und auch beantwortet. Eine Antwort könnte wie folgt lauten: Eine Zukunft der Oper – und übrigens viel wichtiger, eine Gegenwart der Oper – ist dann possible, möglich, wenn sie für das und mit dem Publikum gedacht wird. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan. Als Dramaturgin im Musiktheater muss ich mir im Angesicht des dominierenden Kanons ständig die Frage stellen, wie ich die den Werken inhärenten, meist zeitlosen Themen einem Publikum vermittle, das immer weniger mit der Form der Oper anfangen kann, das längst nicht mehr über die Künstlichkeit des Operngesangs hinwegsieht, das die patriarchal angeordneten Figurenkonstellationen kritisch beäugt oder das vor der Bildungsbürgerlichkeit, die die Oper als Leitmedium des Bürgertums des 18. und 19. Jahrhunderts durchaus auch heute noch ausstrahlt, zurückschreckt. Die Spielpläne werden zwar zunehmend von neuen Musiktheaterkreationen bevölkert, die mal in Form einer Uraufführung, mal als transdisziplinäre collagierte offenere Form daherkommen, trotzdem liegt der Grundstein der Zukunft von Oper in ihrer kanonisierten Vergangenheit. Die Dramaturgie für ein zukünftiges wie heutiges Musiktheater zu verantworten, bedeutet also in erster Linie, Schwellenängste zu nehmen, zwischen

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Werk und Publikum zu vermitteln und das Musiktheater als das überwältigende Gesamtkunstwerk erfahrbar zu machen, wie es von Richard Wagner und vielen vor und nach ihm erdacht wurde. Ruth Berghaus, eine der wichtigsten Opernregisseurinnen des letzten Jahrhunderts, betonte, dass Musiktheater eine Erfahrung sein müsse und dass man diese Erfahrung machen müsse. Eine Idee, die so alt ist, wie das Theater selbst und auf den kathartischen Gedanken Aristoteles’ anspielt, der in Zeiten von medialer Reizüberflutung nur schwer herstellbar scheint. Und trotzdem: Das Musiktheater als Erfahrung, die gemacht werden müsse, deutet auf den aktiven Part des Publikums bei der Aufführung hin. Im Sinne der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte bedeutet dieser aktive Part ein Gegenüber für die Kunstschaffenden, ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Bühne und Publikum, das geprägt ist von der viel besprochenen Feedbackschleife. In einem partizipativen Musiktheater bekommt das Publikum einen aktiven Part in der Aufführung, bestimmt das Geschehen aktiv mit und wird aus der bloßen Rezeptionshaltung enthoben. Theoretisch stimmt der Umstand des gegenseitigen Beeinflussens für jede Aufführung, denn ein laut raschelndes Bonbonpapier, ein klingelndes Handy oder eine zuschlagende Saaltür beeinflusst nicht nur die umsitzenden Zuschauer:innen, sondern mitunter auch die Darstellenden auf der Bühne. Praktisch gesehen entsteht tatsächliche Teilhabe an einer Inszenierung aber bestenfalls planhaft. In meiner dramaturgischen Arbeit ist deshalb Partizipation ein wichtiges Gestaltungsprinzip geworden. Dabei kann Partizipation für vieles stehen: spontane Mitwirkung an der Szene, Einbeziehung unterschiedlicher stellvertretender Akteur:innen in die Konzeption und/oder Probenarbeit und die Ermöglichung von Teilhabe durch unterschiedliche Angebote der Barrierearmut, etwa in Form von den im Musiktheater üblichen Übertiteln, aber auch Audiodeskription oder theaterpädagogische Vermittlungsangebote an Schulen und Universitäten. Dass ein partizipatives Musiktheater nicht unbedingt Mitmachtheater bedeuten muss, zeigen die folgenden drei Inszenierungsbeispiele, die ich am Staatstheater Kassel mit unterschiedlichen künstlerischen Teams erarbeitet habe. In der Spielzeit 2021/22 konzipierte ich die als Revolutionsoper gehandelte Grand opera La muette de Portici gemeinsam mit dem Team um Regisseur Paul-Georg Dittrich als vielschichtige Befragung der revolutionären Kraft der Oper. Der Regieansatz hört sich zunächst nach einer selbstreferenziellen Infragestellung des Kunstschaffens in Zeiten der Pandemie an, befragte aber die (Un-)Möglichkeit von Revolution und fragte so auch ausgehend von Komposition und Libretto nach den revolutionären Gefühlen einer Stadtgesellschaft. Unter Einbeziehung von Expert:innen des Alltags als Vertreter:innen dieser Stadtgesellschaft wurde die Frage „Wofür würdest du eine Revolution anzetteln?“ vielseitig beantwortet, wurden unterschiedliche Perspektiven auf unsere heutige Gegenwart mit dem Stoff der Oper verwoben und so das Publikum über Stellvertreter:innen mit eigenen inhaltlichen Positionen in die Inszenierung einbezogen. Paul-Georg Dittrich und der musikalische Leiter Kiril Stankow legten diese Positionen als einen gesprochenen Klangteppich über die Komposition und begriffen so, ganz nebenbei, die Partitur nicht als heiliges Werk, sondern als Material. Darüber hinaus wurden bei den Aufführungen selbst Zuschauer:innen mit sogenannten Aktionstickets aktiv in das Bühnengeschehen eingebunden, in dem sie in Standbildern einzelne Gemälde von Revolutionen nachstellten, in

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Eins-zu-eins-Tischgesprächen den persönlichen Geschichten unserer Expert:innen des Alltags lauschten oder im Foyer mithilfe von VR-Brillen in die Revolutionsgeschichte der Stadt Kassel eintauchten. Die persönliche Ansprache, die die einzelnen Zuschauer:innen nicht als Kollektiv meinte, sondern auch als Individuen, forderte eine Reaktion heraus, die sich nicht im Dunkel des Zuschauer:innensaals verstecken konnte. Eine ganz andere Form der Partizipation konzipierten die beiden Regisseur:innen Florian Lutz und Barbara Frazier im Verbund mit dem musikalischen Leiter Kiril Stankow und mir für unsere Neuinszenierung der Zauberflöte, in der wir die beliebteste aller Opern dafür nutzten, um selbstironisch die Frage zu stellen, wie heute ein solches Repertoirewerk überhaupt noch auf die Bühne übersetzt werden könne. Bevor die ersten konkreten konzeptionellen Schritte gegangen wurden, fragten wir unser Publikum nach Ideen für das Bühnenbild, nach ihren Erwartungen an die Zauberflöte, wir fragten nach den Highlights und den Prüfungen, die Prinz Tamino ihrer Meinung nach meistern können solle. Aus den Antworten auf unsere Umfrage kristallisierten sich schnell Schnittmengen heraus – und auch die Erkenntnis, dass die Einigkeit des Publikums in Fragen der Ästhetik, Spielweisen und inhaltlichen Schwerpunkten eine reine Behauptung ist. Diesen Umstand machten wir uns zunutze und banden das Publikum bei jeder Aufführung über Live-Abstimmungen partizipativ ein. Nachdem zunächst ein historisierender Stil, dann eine Regietheater-Version und danach ein postdramatisch-performativer Ansatz präsentiert wurden, jeweils mit entsprechendem Bühnen- und Kostümbild, durfte das Publikum zur Wahl schreiten und über die bestimmende Ästhetik für die Aufführung demokratisch abstimmen. Im Laufe der Aufführung wurde über weitere inhaltliche Fragen abgestimmt und so war keine Aufführung wie eine andere, jede aber geformt in klarer Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Publikum. Die Dynamiken der unterschiedlichen Publika, die sich vor allem im demokratischen Abstimmungsprozess zeigten, hätten nicht unterschiedlicher sein können: Es wurde laut diskutiert, wütend und freudig, Buh- und Bravorufe schaukelten sich chorisch gegeneinander hoch – das Publikum war im Gespräch miteinander. Ein immersives Musiktheatererlebnis garantieren die Raumbühnen des Szenografen Sebastian Hannak, der bereits mehrere Rauminstallationen konzipierte, erst an der Oper Halle, dann am Staatstheater Kassel, so auch für die Neuinterpretation von Don Giovanni, an der ich als Dramaturgin mitwirkte. Die Namen dieser Bühnen reichen dabei von Heterotopia über Pandaemonium hin zu Antipolis und markieren damit den gesellschaftspolitischen Anspruch und die inhaltlichen Überlegungen, die als theoretische Idee und praktische Bühnenkonstruktion maßgeblich auf die Stücke Einfluss nehmen. In der Spielzeit 2023/24 feierte Bizets Carmen als Spielzeiteröffnung Premiere in der Raumbühne Antipolis und sorgte seitdem für eine Publikumsauslastung von 100 Prozent, was die Faszination für Bühne, Interpretation wie Stück zeigt. In Antipolis umspannen dreigeschossige Stahlgerüste die Seitenbühnen und die Hinterbühne, die Logen im Zuschauer:innensaal werden durch eine Überbauung zu szenischen Spielflächen und ein langer Steg durchläuft das Parkett. Die Bühne wächst in den Bereich des Publikums und die Grenze zwischen Bühne und Saal verschwindet. Dieses besondere Bühnenkonstrukt ermöglicht ein partizipatives wie immersives Musiktheater, das unterschiedlichen Bedürfnissen nachkommt,

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Präsentation der Raumbühne Pandaemonium des Staatstheaters Kassel, Table Talk (Im)Possible Opera

wie ein gewisser Eventcharakter, aber auch höchste musikalische Qualität und ein unmittelbares Klangerlebnis. Den Zuschauer:innen kommt bei Carmen die Rolle von Fabrikarbeiter:innen zu, sie werden so zur Kulisse, zu Akteur:innen, und b ­ eeinflussen mit ihren Handlungen das Bild, das szenische Geschehen. Nicht nur kanonische Werke wie Carmen oder Don Giovanni paaren sich gut mit dem ungewöhnlichen Raum, auch für zeitgenössische Musiktheaterstücke wie Rihms Hamletmaschine mit in der Partitur schon eingeschriebenen räumlichen Klangsetzungen bietet die Raumbühne spannende Lösungen abseits des klassischen Orchestergrabens an. Teile des Publikums trinken so mit Carmen Bier in der Kneipe, tanzen zwischen Chor und Orchester oder bekommen Don Giovannis Verführungskünste buchstäblich fast hautnah mit. Eine immersive Miteinbeziehung in die Aufführung ist die Folge und begeistert neben versierten Operngänger:innen auch ein jüngeres Publikum mit wenig Seherfahrung. Hier wird Musiktheater zur Erfahrung, so wie es Ruth Berghaus dringlich einforderte, die als Stellvertreterin der Anfänge eines Regietheaters den Zuschauer:innen zwar keine aktive Rolle für das szenische Geschehen zuschrieb, aber Erfahrung und Rezeptionshaltung zusammendachte. Über die Erfahrung, die es zu machen gilt, öffnet sich auch der Zugang zu einem tieferen Verständnis von Werk und Interpretation.

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Eine Zukunft der Oper ist dann möglich, wenn sie mit dem Publikum etwas zu tun hat. Alle drei Beispiele sind geprägt von unterschiedlichen Formen der Partizipation, die jedoch stets bestimmend für die jeweilige Inszenierung waren, die das Publikum als Akteur:innen wahr- und ernst nahmen und die Musiktheatererlebnisse möglich machten, die eine aktive Teilhabe am szenischen Geschehen nahezu einforderten. Die beschriebenen Formen der Partizipation ermächtigen das Publikum, sich die Inszenierung zu eigen zu machen, und so über die aktive Mitgestaltung auch eine gewisse Form der Verantwortung für die Aufführung zu übernehmen. Partizipation als Gestaltungsprinzip hält das Publikum an, sich Gedanken zu machen, sich zu Szene und Musik zu verhalten, nicht im weichen Sessel zu versinken, sondern mitzufühlen und -zudenken. Partizipation wird geschaffen über Anknüpfungspunkte, seien es inhaltliche in Form von gesellschaftlich relevanten Fragestellungen, seien es Darstellende als nahbare Identifikationsfiguren oder Brüche mit der hochartifiziellen Opernform. Immer wieder ist von Oper als von einer vom Aussterben bedrohten Gattung die Rede. Und wenn Musiktheater als Hochkultur in Reinform museal in eine Vitrine verbannt wird, dann kann ich diese Vorhersage teilen, wenn Musiktheater aber unmittelbar sein darf, dann kann die immer schon transdisziplinäre Form plötzlich absolut zeitgemäß wirken. Beim Table Talk zur (Un-)Möglichkeit der Oper wurde vielseitig über ihre Zukunft gesprochen, die ja, genau genommen, immer direkt jetzt, im nächsten Augenblick beginnt und sich auch nur aus dem Jetzt heraus denken lässt. Eine Zukunft der Oper ist also vor allem dann möglich, wenn sie vielseitig in Form und Inhalt, aus einem Jetzt heraus, mit dem Wissen um die Vergangenheit, be- und verhandelt wird. Das polyphone Nebeneinander ist maßgeblich für das Fortbestehen der Oper, die auf ein vielseitig interessiertes, generationsübergreifendes, krisengeprägtes, vor allem aber heterogenes Publikum trifft. Das Musiktheater, wie jede andere Sparte auch, lebt von ihrem Publikum, das pandemiebedingt ja auch schmerzlich vermisst wurde. Wenn also die Unmöglichkeit der Oper behauptet wird, dann lässt sich dieser Behauptung selbstbewusst mit unterschiedlichen Möglichkeitsentwürfen in Abhängigkeit von ihren Publika entgegentreten.

FUSSNOTEN 1 Rihm, Wolfgang: „Wolfgang Rihm ausgesprochen“, in: Schriften und Gespräche, Band 2, hrsg. v. Ulrich Mosch, Winterthur 1997, S. 356.

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3 Theater organisieren


OPEN TABLE

Theater zukunftsfähig machen Öffnen, flexibilisieren, lernen

Antigone Akgün, Benedikt Kosian, Jasmin Maghames, Tine Milz, Moritz von Rappard, Anke Schmitz, Maximilian Sippenauer und Anne Wiederhold-Daryanavard

Wir sind Teil der Lösung Maximilian Sippenauer Im Theater beschäftigen uns gegenwärtig Themen wie Machtmissbrauch, Geschlechtergerechtigkeit, Diversität, Repräsentation, Inklusion, Abbau von sozialen Barrieren. Ich wünsche mir für unsere Diskussion, dass wir Strategien und Lösungen teilen, wie ihr in der Praxis mit diesen Herausforderungen umgeht. Welche Forderung erheben Sie oder erhebt ihr für ein zukunftsfähiges Theater? Anne Wiederhold-Daryanavard Das Ziel ist, einen radikalen Paradigmenwechsel einzuläuten, sodass das Theater und generell der Kultursektor der Diversität der Bevölkerung entspricht. Das ist bisher nicht der Fall. Ich denke da an die ganzen Ps: Personal, Programm, Publikum, Place, Publicity, Partnerschaften. Die Wiener Brunnenpassage liegt direkt am längsten Straßenmarkt Europas in einer ehemaligen Markthalle. Wir arbeiten dort interdisziplinär und mehrsprachig mit einem diversen Team. Wir nehmen keinen Eintritt und arbeiten mit strategischen Partnerschaften mit sogenannten Hochkulturinstitutionen wie dem Wiener Musikverein, dem Weltmuseum Wien unter anderem über mehrere Jahre. Es ist wirklich noch ein sehr weiter Weg, den jahrhundertelangen Kunstkanon zu öffnen. Und es geht genau darum, diese Transformation zu neuen Inhalten und zu Gleichberechtigung und Umverteilung weiterzugehen, wir sind da alle mittendrin. Was die grundsätzliche zukünftige Entwicklung angeht, glaube ich nicht, dass alles nur noch digital sein wird. Ich vermute, wir suchen im Kunstbetrieb wieder mehr die Natur, gehen wieder mehr in den öffentlichen Raum, so wie in Wien mitten auf

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den Marktplatz, werden offener, partizipativer und eben endlich divers und relevant für alle, da die Kunst so viel Veränderungspotenzial für die Welt birgt. Benedikt Kosian Ich möchte ein Statement des jungen ensemble-netzwerks vorlesen: Für das Theater der Zukunft wünschen wir uns Teams in der Leitung, nachhaltige Werkstätten, Theater mit Kindertagesstätten, künstlerische Ensemblemitglieder im Personalrat, veränderte Kommunikations- und Machtstrukturen, zum Beispiel Zwischen- und Nachgespräche in Probenprozessen und vieles mehr. Antigone Akgün Es gäbe natürlich die Möglichkeit, Tabula rasa zu machen und eine ganz neue Theaterform aufzubauen. Und ich begrüße tatsächlich auch die Forderung, die Natasha Kelly letztes Jahr geäußert hatte, einen Theaterraum für ausschließlich Schwarz gelesene Perspektiven zu implementieren. Es braucht solche Räume, in denen fernab von dem, was wir gewohnt sind, ein Freiraum oder Safe Space bestehen bleibt, um Dinge auszuprobieren. Natürlich weiß ich aber auch, dass ich zum Beispiel aus einer gewissen Sozialisierung und Tradition komme, an Institutionen studiert habe und insofern gar nichts Neues aus dem Boden stampfen kann, sondern im Neuen immer irgendwie auch das Alte enthalten sein wird. Deshalb denke ich, dass wir einerseits neue Räume erschaffen können, andererseits auch Stellschrauben in den Räumen, die wir haben, drehen können – und zwar jetzt und nicht erst in zehn Jahren. Drei Buzzwords möchte ich noch in die Runde werfen: Nachhaltigkeit, Ehrlichkeit und Angst. Theater zukunftsfähig zu machen bedeutet, nachhaltig zu denken, also ökologisch nachhaltig zu denken, aber auch, sich zu entkoppeln vom reinen Projektdenken und so einem Gedanken des Tokenismus. Was ich meine: Man bekommt Fördergelder, um ein Projekt für die Stadtgesellschaft zu machen, holt sich dann zwölf Leute aus der Stadt, führt das Projekt durch, immer mit Blick auf ein Ergebnis, und dann, wenn man das Ergebnis erreicht hat, ist das Projekt abgehakt und man geht zum nächsten Thema über. Das ist nicht nachhaltig. Stattdessen brauchen wir Räume, in denen es nicht um Ergebnisse geht und in denen sich stetig ein Dialog entwickelt. Ich habe das Gefühl, dass sich häufig viele Menschen einig sind, dass beispielsweise Diversität sehr erstrebenswert ist, wenn über die Zukunft gesprochen wird. Wenn ich dann in der Institution bin, merke ich, dass viele Ängste da sind, zum Beispiel auch Ängste von weiß gelesenen Personen, die sich fragen, ob sie in einem Theater der Zukunft noch vorkommen. Ich frage mich: Wie können wir diese Ängste auffangen? Wie können wir mit allen in einen Dialog kommen und wie kann es Räume geben, in denen jemand sagen kann: „ich möchte nur noch die antiken Klassiker zeigen und keine Gegenwartsdramatik“, ohne erst mal schief angeguckt zu werden. Druck oder Aggression sind keine guten Wege Richtung Zukunft. Moritz von Rappard Es gibt sehr viele Diskussionen, ganz viele Sachen sind zu berücksichtigen und mitzudenken beim Theater der Zukunft, man könnte und sollte und müsste. Mit wem reden wir eigentlich wie lange darüber und wie verständigen wir uns dann tatsächlich auf etwas, das wir konkret ab morgen anders

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­machen? Ich arbeite mit Anke Schmitz und anderen zusammen im Lösungskollektiv Hands On. „Hands on“ bedeutet: Wir fangen einfach an. Wir sind bei einer Moderation nie allein. Wir sind immer mindestens zu zweit, haben selbstverständlich verschiedene Perspektiven und öffnen damit im Rahmen von Prozessoder Projektentwicklungen neue Räume, die mehrdimensionaler sind als ja oder nein, richtig oder falsch. Anke Schmitz Genau, denn es gibt ja immer viele Perspektiven. Und deswegen frage ich mich, warum reden wir von der Zukunft und nicht von den Zukünften? Denn die Zukünfte der hier Anwesenden werden unterschiedlich sein. Wir haben nicht alle die gleiche Zukunft. Wie viele Zukünfte gibt es eigentlich, die hier auf der Konferenz diskutiert werden? Bei einem Open Table vorher wurde auch gesagt, wir Menschen im Theater seien Teil des Problems. Lösungsorientiert systemisch kann man sagen: Wir sind Teil der Lösung. Das aktiviert. Aktiv zu sein ist das, was wir machen können. Wir können nicht die anderen bestimmen, wir können nur selbst aktiv sein, um Systeme zu ändern. Tine Milz Das Theater Neumarkt in Zürich ist ein kleines Ensembletheater mit eigenen Produktionsstätten und Werkstätten. Das heißt, wir funktionieren wie ein großer Apparat, aber im Kleinen. In einer solchen Umgebung können wir verschiedene Versuchsanordnungen ausprobieren und prüfen, ob diese in der Praxis funktionieren. Ich wünsche mir für ein zukunftsfähiges Theater ein bisschen mehr die Möglichkeit, scheitern zu dürfen. Am Stadttheater muss sich einiges ändern, ansonsten sehe ich leider schwarz für dieses privilegierte System. Nicht falsch verstehen, ich glaube an das Medium und das Potenzial von Theater als Möglichkeits- und Versammlungsort. Doch wir arbeiten in einem System, das vor allem viele Probleme produziert und reproduziert, diese nicht analysiert, sondern einfach nahtlos weitermacht. Die großen Betriebe lernen und verlernen zu wenig und fokussieren sich zu viel auf den Erhalt von Struktur und Tradition. Jasmin Maghames Ich glaube, dass Produktionshäuser, Stadttheater und die freie Szene voneinander lernen können. Ich glaube auch, dass Soziokultur, Popkultur und Hochkultur voneinander lernen können. Deshalb will ich an diesen Grenzen rütteln und herausfinden, wo es Überschneidungen gibt oder wie Barrieren abgeschafft werden können. Ich wünsche mir, dass wir im Austausch, im Diskurs, in Kommunikation, im Scheitern miteinander neue Rahmenbedingungen festlegen, unter denen wir Kunst produzieren. Auch Kunst ist Arbeit und Arbeit muss Wertschätzung erfahren. Arbeit findet immer unter bestimmten Bedingungen statt. Wir können nicht verlangen, dass sich alle aufopfern dafür, im Kunstbetrieb arbeiten zu können. Theater sollen in ihren Organigrammen Transformationsagent:innen für Nachhaltigkeit und Diversitätsbeauftragte haben. Es sollte gesetzt sein: Das ist die Grundlage, von der die Arbeit überhaupt erst losgehen kann. So wird produziert.

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Was die Kunst gefährdet (oder auch nicht) Maximilian Sippenauer Ihr habt in euren Statements drei große Themen angesprochen: Wie verändern wir Hierarchien in Theatern? Wie schaffen wir gute Arbeitsbedingungen? Und wie können wir Theater in seiner Struktur diverser oder heterogener machen? Wenn es um Veränderung von Theaterstrukturen oder -organisation geht, beobachte ich häufig eine seltsame Reaktion. Menschen behaupten, solche Veränderungen würden die Kunst gefährden. Woher kommt dieser Reflex? Benedikt Kosian Ich würde sagen, die Antwort darauf ist Angst vor dem Verlust von Macht und Deutungshoheit. Anne Wiederhold-Daryanavard Der Reflex offenbart die ausschließenden S ­ trukturen hinter dem klassischen Kulturbetrieb. In Österreich werden 86 Prozent der Fördergelder an Institutionen gegeben, die vor 1918 aufgebaut wurden. Viele Kulturinstitutionen haben eine jahrzehnte- oder jahrhundertelange Tradition weißer männlicher Führung und Inhalte. Menschen haben Angst vor Machtverlust und deshalb eine Abwehrhaltung. Belegt ist, es dauert sechs bis acht Jahre, bis sich ein Haus strukturell ändert. In Veränderungsprozessen geht es darum, Exzellenz neu zu definieren, neue Klänge und Hörweisen auszuprobieren, es geht darum, viele verschiedene Sprachen, neue Narrative auf die Bühnen zu bringen. Es ändert sich die Bewertung von Fragen wie: Welche Geschichten sind wichtig und werden erzählt? Tine Milz Wer sitzt in den Auswahlkommissionen? Wer entscheidet, wer in diesen privilegierten Kommissionen sitzt? Wer entscheidet, wer rein darf und wer nicht? Ausschluss und Ausgrenzung an allen Ecken und Enden. Überraschend und mutig ist da leider recht wenig. Leider sind es immer die gleichen Königsmacher:innen. Und sind wir mal ehrlich: Wie viele neue und diverse Menschen sind in den letzten Jahren in die Betriebe gehievt worden? Die Zahl können wir an einer Hand abzählen. Und ja: Auch hier wird gut Vetternwirtschaft betrieben. Einzelintendanzen werden vorgelebt und weiter praktiziert. Ich glaube, wir müssen von dieser Genievorstellung wegkommen, wenn wir weiterkommen wollen. Nicht nur in der Leitung, auch in Regieteams. Es gibt immer noch diese Idee, dass die regieführende Person die Kunst mache und der Rest im Team ein bisschen schönes Beigemüse sei. Ich beobachte, dass diese Genievorstellung auch in Hochschulen noch vermittelt wird. Was heißt denn eigentlich Kunstproduktion, wie wird produziert und was heißt Autor:innenschaft, wessen Namen stehen unter dem Titel und wer steht für ein Werk ein? Maximilian Sippenauer Ihr habt am Theater Neumarkt ein Leitungsteam, das aus drei Personen besteht. Wie würdest du das beschreiben? Funktioniert das gut? Ist eure Kunst schlechter geworden dadurch? Tine Milz Wir beschreiben unser Team ein bisschen wie eine Dreierbeziehung. Wir sind eben zu dritt in einer Beziehung und das macht manches einfach kompli-

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zierter. Abläufe und Entscheidungsfindungen brauchen viel mehr Zeit. Wir drehen manchmal 15 Runden, obwohl wir eigentlich dachten, wir hätten schon entschieden, bis eine die Entscheidung wieder hinterfragt, wir nochmals Dinge aushandeln und verhandeln und uns dann auch hin und wieder lustvoll streiten. Wir haben gemeinsam verschiedene Phasen durchgemacht. Da gab es zum Beispiel die Verliebtheitsphase ganz am Anfang, in der wir ganz viele Möglichkeiten gesehen und uns frei gefühlt haben. Und dann sind wir in der Realität angekommen, um festzustellen, dass wir wirklich Beziehungsarbeit leisten müssen und immer und immer wieder an unserer Beziehung zueinander arbeiten müssen. Wie wollen wir zusammenarbeiten? Wofür tragen wir Verantwortung? Wir haben ja nicht nur Verantwortung für uns drei, sondern für fast 50 Menschen. Wie verteilen wir die Verantwortung unter uns? Zu Beginn unserer Intendanz haben wir uns in verschiedene Verantwortungsbereiche aufgeteilt. Und ja, wir machen auch Fehler und ja, dazu stehen wir. Wir versuchen zu lernen und zu verlernen. Das bedeutet auch, dass wir uns permanent hinterfragen und einfach ist das eben auch nicht immer. Aber es lohnt sich, sich immer wieder den gemeinsamen Diskussionen auszusetzen. Man kann nicht sagen, was heute gut ist, ist morgen auch noch gut. Was heute gut ist, kann morgen gekippt werden. Und so bleiben wir immer in Bewegung, staying with the trouble, zu dritt und mit und im ganzen Gefüge des Neumarkts. Moritz von Rappard Bei Hands On haben wir uns mit acht Personen zusammengeschlossen, die alle aus anderen Arbeitszusammenhängen kommen, andere Sichtweisen haben und natürlich auch unterschiedlich arbeiten. Diese Vielfalt hilft mir, mehr zu sehen als in homogeneren Arbeitsgruppen. Und sie macht auch deutlich, dass es meistens mehr als zwei Sichtweisen gibt – und oftmals alle ihre Berechtigung haben. Es ist einfach und schnell zu sagen, was man blöd findet. Die Idee vom künstlerischen Genie ist nicht ausschließlich schlecht. Ich wäre vorsichtig mit Eindeutigkeiten, weil wir dann immer auch etwas verlieren. Tine Milz Das sehe ich auch so. Ich glaube nicht, dass eine Dreierspitze das beste Leitungsmodell für alle Theater- und Kunstinstitutionen ist. Wir überfordern den Apparat wahnsinnig mit der Dreierleitung, aber das spielt sich auf längere Sicht ein. Der Apparat funktioniert nach Spielregeln wie beispielsweise Probenbedingungen und Menschen gewöhnen sich an Abläufe und Strukturen. Wir haben angefangen, diese Regeln neu zu bespielen, und das fordert den Betrieb, kann aber auch zu neuen fruchtbaren Möglichkeitsräumen führen. Diese neuen Abläufe brauchen Zeit und können für unseren Mikrokosmos Neumarkt total gut funktionieren, aber an einem großen Tanker glorreich an die Wand fahren. Wir können bei uns überprüfen, was es bedeutet, kollektiv zu leiten. Wir können lernen, Verantwortung besser abzugeben oder sie gemeinsam zu tragen, und können vielleicht in einem nächsten Schritt diese Learnings an einem anderen Theater einbringen. Maximilian Sippenauer Wie viel Basisdemokratie verträgt denn eigentlich eine Kulturinstitution wie ein Theater?

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Antigone Akgün In Frankfurt gab es an den Städtischen Bühnen in den 1970er Jahren ein basisdemokratisches Mitbestimmungsmodell. Das ist aus meiner Sicht daran gescheitert, dass Wissensstände nicht genügend angeglichen wurden. Dafür braucht man sehr viel Zeit und nicht alle Menschen wollen das. In einem basisdemokratischen Modell sollen alle Menschen mitsprechen, nicht nur die künstlerischen Positionen. Unabhängig davon ist Demokratisierung in Kunstbetrieben total wichtig, um Abhängigkeiten von Einzelpersonen und manipulativem Verhalten vorzubeugen. Anke Schmitz Ich erlebe, dass miteinander sprechen wichtig ist. Um im Gespräch zu bleiben, ist es gut, wenn man es schafft, eigene Eitelkeiten und eigene Muster zurückzustellen. Das erfordert Übung, tut auch immer weh, man wird sauer. Ihr kennt das bestimmt auch. Aber ich vermisse hier eine Strukturfrage. Das Theater stellt an sich riesige Ansprüche. Die Kunst soll unglaublich viel erfüllen, von dem ich denke, das gehört zur Politik. Ich frage mich: Welche Aufgaben übernimmt das Theater heute und zukünftig? Will es Politik sein, will es Kunst sein, ist Abgrenzung überhaupt möglich? Ich habe darauf keine Antworten. Ich finde diese Fragen nur wichtig, um zu klären, wo wir uns gerade befinden und was wir wollen. Moritz von Rappard Zur Beantwortung der Frage, was Theater eigentlich kann und soll, müssten hier eigentlich ganz andere Leute mitreden. Ist das wirklich unser Job und glauben wir, dass wir das alleine herausfinden? In der freien Wirtschaft ist klar: Ein Unternehmen kann den besten Plattenspieler der Welt bauen, wenn den aber niemand kaufen will, gibt es ein Problem. Antigone Akgün Ich glaube, wenn es darum geht, wie wir ein Publikum erreichen, müssen wir über Hierarchien sprechen. Wenn es nämlich eine feudal agierende Intendanz gibt, dann möchte sie vielleicht gar nicht wissen, was das Publikum zu sagen hat. Das heißt, je demokratischer ein Betrieb wird, desto demokratischer kann auch nach außen gesendet werden.

Wovon wir lernen können Jasmin Maghames In den Theatern wird gerade viel über Rückgänge von Theaterabonnements und Abonnent:innen nachgedacht, die dann Sätze sagen wie: „Das ist nicht mehr mein Theater.“ Ich frage mich, woher diese Haltung kommt. Meine Reaktion darauf ist, es war auch nie „dein“ Theater, es ist ein Stadttheater, es gehört der Stadt, also allen. Wir können bestimmte Menschen mit bestimmten Produktionen oder Formaten ansprechen. Im Moment sind unsere Angebote nicht breit genug aufgefächert, um auch andere Menschen als das übliche Abopublikum zu erreichen. Für wen sind wir eigentlich relevant? Welche Formen oder Künste müssen auf die Bühne wachsen oder sich verbinden, damit wir mehr und diverse Menschen ansprechen? Im vergangenen Jahr gab es eine große Förderung von TikTok für Kulturinstitutionen, die auch einige Theater in Deutschland

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beantragt haben. Ein Theater hat einen sehr lustigen TikTok-Channel gemacht, auf dem sie durch ihr Haus führen und verschiedene Sachen vorstellen. Es gibt also erste Versuche, neue Formen auszuprobieren, aber es gibt eben nicht das eine Publikum, dem wir Rechenschaft schuldig sind. Ich arbeite gerne für die Menschen, die nicht da sind, und versuche, sie zu erreichen. Maximilian Sippenauer Ich höre heraus, dass wenn das System nicht heterogen ist, auch das Publikum nicht heterogen sein wird. Wo und wie hat denn das Ansprechen von anderen Publika oder Veränderungen in den Strukturen schon funktioniert? Benedikt Kosian Auf der Konferenz der Theaterstudierenden 2021 des jungen ensemble-netzwerks wurde ein interessantes Beispiel geteilt. Ein großes Opernhaus hat eine international bekannte türkische oder kurdische Opernsängerin eingeladen. Genau kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Jedenfalls wurde für die Vorstellung auch in Dönerbuden Werbung gemacht. Das Haus soll sehr voll gewesen sein mit Menschen, die bis dahin noch nie in einem Opernhaus waren. Weil es sie bis dahin nicht interessiert hat, oder sie haben sich nie angesprochen gefühlt und dachten, Oper habe nichts mit ihnen zu tun. Das Beispiel zeigt für mich, dass auch das künstlerische Personal Auswirkungen darauf hat, wer ins Theater geht. Anne Wiederhold-Daryanavard Wir haben 2022/23 mit dem Wiener Musikverein kooperiert. Mit dabei waren sechs Sängerinnen, „Wiener Stimmen“, die in acht Sprachen mit großem Orchester ihre Lieder im berühmten goldenen Saal auf die Bühne gebracht haben, danach folgte ein Abozyklus mit sechs Konzerten der jeweiligen Sängerinnen. So ein starkes, nachhaltiges Zeichen gab es bisher nicht. Und das Publikum war zu 95 Prozent erstmalig in diesem Traditionshaus: Ja, wenn sich das Programm ändert, ändert sich auch das Publikum! Deshalb finde ich diese langfristigen Partnerschaften zwischen ungleichen Kulturinstitutionen so wichtig, da diese Veränderungsprozesse sehr viel Zeit, viel gegenseitiges Vertrauen und viel gemeinsame Reflexion benötigen. Und dafür brauchen wir neue, dezentrale Kunstorte, die auf der einen Seite im direkten Kontakt mit marginalisierten Künstler:innen stehen und gleichzeitig in der Lage sind, zwei Jahre im Voraus große Koproduktionen mit großen Bühnen zu planen. Ich finde überhaupt nicht, dass alle wunderschönen existierenden Kunsttempel abgerissen werden müssen. Allerdings glaube ich, es braucht neue Synapsen in den Städten, Shared Spaces, Experimentierräume, die näher an der Bevölkerung, ebenerdig, nach dem Prinzip pay-as-you-can für alle offen bestehen. In Wien hat die Kulturstadträtin dieses Modell aufgegriffen. Es gibt nun sogenannte dezentrale Ankerzentren in mittlerweile sieben der eher äußeren Bezirken Wiens, die als offene transdisziplinäre Kulturorte ganzjährig Programm anbieten. Kulturpolitisch sollte allerdings unbedingt beides gemeinsam gedacht werden, wie sich der bisherige hochsubventionierte Kanon ändert und wie gleichzeitig hybride, offene, neue Orte der zeitgemäßen Kunst in den Städten geschaffen werden.

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Tine Milz Am Neumarkt haben wir es durchaus geschafft, in kurzer Zeit ein neues Publikum zu generieren und neue Menschen für das Haus zu interessieren. Das Publikum hat sich fast ausgewechselt. Wir haben neue inhaltliche und ästhetische Impulse gesetzt. Das hat natürlich mit unserem Programm zu tun, damit, wer auf der Bühne steht, und vielleicht auch mit unserem neuen Preissystem. Wir haben uns gefragt: Wen schließen wir eigentlich mit unserem Preissystem aus? Wer kann es sich leisten, 45 Schweizer Franken für einen Einzeleintritt zu ­zahlen? Wir haben verschiedene Modelle durchgespielt und uns dann für ein simples Wahlpreismodell entscheiden. Beim Ticketkauf können sich nun alle Personen aussuchen, ob sie 15, 30 oder 45 Franken bezahlen. Immer und für jede Veranstaltung. Zeitgleich haben mehrere Theater wie die Gessnerallee, die Rote Fabrik oder das Tanzhaus ein ähnliches Wahlpreismodell eingeführt. Das war ein schönes gemeinsames Zeichen und zeigt auch, dass wir als unterschiedliche Theater gemeinsam neue Wege bestreiten können. Zusammen ist man weniger allein und Solidarität untereinander hilft uns allen. Antigone Akgün Am Theater Bremen gibt es nach den Premieren ein Gespräch, in dem die Beteiligten den Produktionsprozess auswerten, wobei die Regie und die Dramaturgie nicht teilnehmen dürfen. Anschließend gibt es ein Gespräch zwischen dem Ensemble und der Dramaturgie, und dann wird das an den Intendanten gefeedbackt. Menschen, die die Bedürfnisse der Schauspieler:innen nicht ernst nehmen, haben dann nicht mehr so viele Chancen auf ein erneutes Engagement. Solche Formate können die Mitsprache der Mitarbeitenden fördern, bevor man basisdemokratische Formen ausprobiert. Tine Milz Hayat Erdoğan, Julia Reichert und ich sind im Neumarkt immer in einer Doppelfunktion unterwegs, wir sind die Dramaturginnen der Produktionen und das Leitungsteam. Diese doppelte Funktion ist gut, weil wir so auch nahe an den Produktionsprozessen dran sein können. Jedoch müssen wir gleichzeitig auch immer schärfen, welchen Hut wir gerade tragen. Ist es der Hut der Dramaturgin, die für ihre Produktionen einsteht, oder der Hut der Direktorin, die nochmals eine andere Funktion und Verantwortung für Produktionen trägt. Das führte zu Beginn auch oft zu Verwirrung und Missverständnissen. Doch grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn die künstlerische Leitung auch an künstlerischen Prozessen beteiligt ist. Man ist näher dran, bekommt Schwingungen, Atmosphären und Unklarheiten direkt mit und kann Lösungsvorschläge erarbeiten. Und ganz klar: Es macht auch wahnsinnig Spaß, weiterhin künstlerisch tätig zu sein, im Austausch und der Praxis zu bleiben und nicht nur in Tagesgeschäft und Struktur zu hängen. Das bringt neue Ideen und frischen Wind in die eigene Perspektive und geht vor allem in Kollektivleitungen. Checks and Balances inklusive. Benedikt Kosian Von Fridays for Future können wir auch etwas lernen. Die Bewegung hat in ihren Systemen Prozessstellen, weil sie weiß, dass sie sich permanent verändern muss. Der Veränderungsdruck von Organisationen nimmt zu, aufgrund der Klimakrise, aufgrund technologischer Entwicklungen und vie­ lem mehr. ­Deshalb sollten auch Theater solche Prozessstellen einrichten, also

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­Menschen dafür bezahlen, dass sie Veränderung anstoßen, kommunizieren und systematisch begleiten. Maximilian Sippenauer Zusammenfassend könnte man sagen, dass in einem zukunftsfähigen Theater Prozesse dynamischer werden, um schneller auf Veränderungen reagieren zu können und ganz grundsätzlich unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten zu haben.

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SPECULATIVE THINKING

Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen Jennifer Gunkel

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, wie sich die Arbeitswelt im Jahr 2040 beschreiben lässt. Die aktuelle Generation der Studierenden wird dann mit einem akademischen Abschluss und einigen Jahren Berufserfahrung mitten im Berufsleben stehen. Im Folgenden wird eine Utopie der neuen Welt der Wissensarbeit in Organisationen entworfen. Für einen Blick ins Jahr 2040 ist es nützlich, zunächst in die Vergangenheit zu schauen. Nicht, weil Entwicklungen immer gleichförmig verlaufen und sich neue aus alten Veränderungen vorhersagen lassen, sondern weil uns die Perspektive aus der Vergangenheit eine Relativierung des aktuellen Zustands ermöglicht.

1987 1987 wurde ein bekannter Song der US-Amerikanischen Rockband R.E.M. aufgenommen mit dem Titel It’s the end of the world as we know it (And I feel fine). Hiermit sollte eine Art Endzeitszenario beschrieben werden. Der Satz spiegelt in gewisser Weise die Stimmung der Mittachtziger wider: Das Ende des Kalten Kriegs war schlecht absehbar. 1987 war das Jahr nach Tschernobyl. Die Bedrohung durch mögliche Atomkriege war präsent. Kabelfernsehen und der PC waren neu und boten ungeahnte Möglichkeiten. Gleichzeitig entstanden Ängste. Das Ende der Welt, wie R.E.M. es besangen, erscheint als mögliche Bedrohung. Oder vielleicht auch als Chance?

2022 2022 ist das Jahr, in dem der Vortrag zu diesem Beitrag auf der Zukunftskonferenz stattfand. Die Coronapandemie schien bewältigt, hatte aber bei vielen Menschen gravierende Nachwirkungen hinterlassen. Große Teile des Lebens hatten während der Pandemie virtuell stattgefunden: Besprechungen in Unternehmen, Unterricht an Schulen, Vorlesungen an Universitäten, Prüfungen, sogar Gottesdienste und Kindergeburtstage. Die britische Band Bastille drückt es während der Pandemie so

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aus, dass die Zukunft möglicherweise „golden and bright“ sei. Das klingt optimistischer. Der Optimismus betrifft aber auch eine virtuelle Realität. Angespielt wird hier auf neue Möglichkeiten wie Second Life oder das Metaverse, die vor allem während der Pandemie erprobt werden konnten. Vergegenwärtigen wir uns nun diese beiden Songzeilen – „the end of the world as we know it“ und „the future is golden and bright“ –, so sind beide damals, heute und in der Zukunft gültig. Es ist eine Frage der Perspektive, welche der Aussagen man für richtig hält. In der Einladung zu meinem Vortrag bei der Zukunftskonferenz bat man mich um eine Re-Gnose – also einen Blick auf die vergangenen Jahre ab 2022 aus der Perspektive der Zukunft. Was wird bis 2040 alles passiert sein ab jetzt? Der Blick sollte utopisch statt dystopisch sein. Versetzen wir uns in die Lage der Studierenden, um deren Berufsleben es in dieser Re-Gnose geht, erscheint ein solcher Blick zielführend.

Zwischen 2022 und 2040 Ein oft zitiertes Akronym für die aktuellen Entwicklungen im Arbeitsleben lautet VUCA. Es steht für volatile, uncertain, complex und ambiguous. Dieses Synonym ist in den 1990er Jahren nach Ende des Kalten Kriegs im Militärjargon entstanden, dann wieder ein wenig in Vergessenheit geraten und spätestens seit den 2010er Jahren unter Managementberatenden wieder stark verbreitet. Es beschreibt zutreffend unsere aktuelle Lage: Vieles ist nicht vorhersehbar. Niemand hat um 2020 mit einer Pandemie im Ausmaß von Corona gerechnet. Wir haben nicht mit einem Krieg in Europa gerechnet. Wir wissen nicht, wie lange die aktuelle Lage so bleibt und was in zwei Monaten kommt. Dieser Zustand ist VUCA. Dagegen lässt sich wenig tun. Jedoch lässt sich damit umgehen. In den letzten Jahrzehnten gab es einige nennenswerte Entwicklungen aus der Psychologie, die man als Trends oder aktuelle Formen der VUCA-Bewältigung sehen kann. Die Trends Resilienz und Mindfulness versuchen, Unsicherheit und Komplexität zu begegnen – meist mit individuellen Strategien. Auf dieser individuellen Ebene existieren Tools der Selbstorganisation, Entspannungstechniken und vieles mehr. Mit den Tools sollen Komplexität reduziert und Zustände der Ungewissheit für einzelne Personen bewältigbar gemacht werden. Agile Methoden im Projektmanagement erfahren aktuell einen Boom – um VUCA-Bedingungen auf der Teamebene aktiv bewältigen zu können. Einen weiteren sich rasant entwickelnden Bereich stellt das virtuelle Arbeiten dar. Hierzu gehören hybrides Arbeiten, virtuelle Meetings und Begegnungen im Metaverse. Die genannten Trends und Werkzeuge sind nur einige von vielen möglichen Herangehensweisen der Bewältigung der VUCA-Welt. Meist gehören diese zu größeren, übergeordneten Konzepten. Drei dieser übergeordneten Konzepte werden hier vertieft: erstens das Konzept New Work, zweitens die Idee von neuen Organisationsformen und drittens das Konzept der Kreativität aus psychologischer Sicht.

New Work Was hat es mit New Work auf sich? Und wie neu ist der Begriff eigentlich wirklich? Laut einer Umfrage von 2017, so berichtet Carsten Schermuly, geben Unternehmens-

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vertreter:innen an, welche New-Work-Maßnahmen sie umsetzen: 63 Prozent berichteten, dass sie bereits New-Work-Maßnahmen durchführen. Für die meisten umfasst dies jedoch lediglich die Nutzung von Homeoffice, mobilen Technologien oder neuen Büroformen. 1 Das entspricht allerdings nicht dem, was ursprünglich mit dem Begriff gemeint war. Als Erfinder des Begriffs gilt Frithjof Bergmann (1930–2021). Bergmann emigrierte aus Österreich in die USA und lebte nach seiner Dissertation im Fach Philosophie in Princeton zwei Jahre im Wald – dort versuchte er, sich autark zu ernähren. Er versuchte, die Antwort auf die Frage nach der Arbeit, die wir „wirklich, wirklich“ wollen, zu finden. 2 Seine Hypothese war, dass eine autarke Versorgung mit eigens angebautem Gemüse eine Erfüllung darstellen könnte. Nach der zweijährigen Versuchsphase erklärte er das Projekt für gescheitert und verfeinerte seine Modellvorstellung – ein gewisses Maß an Hightech sei nicht mehr wegzudenken und Menschen hätten ein Bedürfnis danach. Bergmann entwickelte daraufhin ein Verständnis von New Work, welches eine neue Reaktion auf die klassische, arbeitsteilig organisierte Lohnarbeit ist. Dieser Ansatz erscheint zunächst kommunistisch, jedoch sei er nach Bergmann eine Weiterentwicklung des Kapitalismus. Auslöser der Gedanken waren vor allem Massenentlassungen von Mitarbeitenden der General-Motors-Werke in Flint in den 1990er Jahren. Bergmanns initiale Frage war: Was geschieht mit Menschen, die ihre Arbeit aufgrund von fortschreitender Technisierung und Automatisierung verlieren? Seine Antwort lautete, dass Menschen, die ihre Jobs an Maschinen und Computer verloren hatten, zeitliche und finanzielle Möglichkeiten erhalten sollten, individuelle berufliche Visionen zu entwickeln. Das Kernelement dieser Antwort sei eine Umkehrung: Die Aufgabe sei nicht der Sinn und Zweck und der Mensch nicht nur ein Werkzeug, um einer Aufgabe zu dienen: Nicht der Mensch solle der Arbeit dienen, sondern die Arbeit solle dem Menschen dienen. 3 Bergmann entwickelte mit seinem Team zahlreiche praktische Konzepte, um seinen Gedanken von New Work zu verwirklichen: 1.

Mitarbeitende in Flint sollen nur sechs Monate einer Lohnarbeit nachgehen – in den verbleibenden sechs Monaten sollten sie einer selbst gewählten sinnvollen Aufgabe (einer „Berufung“) nachgehen. 4

2.

„Hightech-Eigenproduktion“: Menschen stellen in schnell aufbaubaren Minifabriken Gegenstände des täglichen Gebrauchs selbst her. Diese Gegenstände sind tatsächlich attraktive und aus Sicht der Nutzer:innen begehrenswerte Produkte – die Arbeit soll keine Beschäftigungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sein, sondern dem tatsächlichen persönlichen Gebrauch dienen. 5

3.

In zahlreichen Zentren für New Work überall auf der Welt haben Bergmann und seine Mitarbeitenden unterschiedliche Projekte gestartet, um Menschen bezüglich ihrer Berufung, also einer Arbeit, die sie persönlich stark motiviert, zu beraten und sinnvolle Betätigungsmöglichkeiten zu schaffen. 6

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bergmann erwähnenswerte gesellschaftliche Ideen zur Neugestaltung der Arbeitswelt entwickelt hat. Bis zum Jahr 2040 ist man möglicherweise gut damit beraten, einige davon weiterzuentwickeln. Man betrachte die aktuellen Entwicklungen der künstlichen Intelligenz (KI): Maschinen

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übernehmen immer mehr unliebsame Aufgaben, mittlerweile auch Teile der Wissensarbeit. Das verändert unsere Arbeitswelt 2022 sowie auch in der Zukunft in rasantem Tempo. Bergmanns Ansätze stellen vor diesem Hintergrund eine Chance dar, die Arbeitswelt für Menschen anders und besser zu gestalten.

Neue Organisationsformen Bergmanns Gedanken umfassen die gesamte Gesellschaft und stellen das bisherige System der Erwerbsarbeit infrage. Das ist ein Bereich, den Individuen und Organisationen weniger gut gestalten können, da hier vor allem die Politik den Rahmen geben muss. Aber auch auf der Ebene der Unternehmen wird sich bis 2040 einiges getan haben. Die Ebene der Organisation wird deshalb an dieser Stelle genauer betrachtet. Der belgische Autor Frederic Laloux entwickelte das Paradigma der petrolfarbenen (türkisen) Organisation. 7 Laloux geht davon aus, dass sich Organisationen seit vielen Jahrhunderten immer wieder gewandelt haben. Dabei sei insgesamt eine Entwicklung sichtbar von eher hierarchischen, stabilen, regelkonformen Organisationen hin zu Organisationen, die den einzelnen Menschen eher wertschätzen, die demokratischer, offener und flexibler sind. Mit der petrolfarbenen Organisation beschreibt er eine Organisationsform, die sich aktuell als Trend abzeichnet, jedoch in der Reinform nur sehr selten vorhanden ist. Petrol ist eine Abgrenzung zu früheren Organisationsformen, die ebenfalls durch Farbbezeichnungen gekennzeichnet sind (zum Beispiel die orangefarbene Organisationsform). Die Farben kennzeichnen unterschiedliche Entwicklungsstufen von Organisationen von streng hierarchisch, über arbeitsteilig, leistungsorientiert hin zu gruppenorientiert. Sie können aber auch als Paradigmen verstanden werden, die parallel existieren. Von Farbe zu Farbe gebe es jeweils entscheidende „Durchbrüche“ 8. Die drei zentralen Durchbrüche der petrolfarbenen Organisation seien: 1.

Selbstführung: Petrolfarbene Organisationen sind sich ständig ­verändernde Systeme mit verteilter Autorität und kollektiver Intelligenz. Es gibt keine klassischen Führungskräfte. Führungsaufgaben werden von mehreren Themenverantwortlichen geteilt. Diese neue Form der Arbeitsteilung kommt dem Wunsch der Beschäftigten nach mehr Einflussmöglichkeit, weniger Hierarchie, mehr Eigenverantwortung und mehr Gestaltungsmöglichkeit entgegen. Gleichzeitig ist die Organisation anpassungsfähiger bei kurzfristigen Marktschwankungen. Insgesamt verlangt das von den Menschen in der Organisation auch ein hohes Verantwortungsbewusstsein und selbstständiges ­Vorausdenken. 9

2.

Ganzheit: Menschen sind nicht nur Profis auf einem Gebiet, sondern können sich als ganze Person in die Arbeit einbringen. Jede Person wird in ihrer ­individuellen Situation verstanden und eingebunden. Zum Beispiel wird die familiäre Situation besonders berücksichtigt, aber auch persönliche Stärken, momentane Lebenssituationen, Emotionen etc. werden wahrgenommen, ­zugelassen und zur Erfüllung der Unternehmensziele genutzt. 10

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3.

Evolutionärer Sinn: Zukunft wird nicht vorhergesagt oder kontrolliert. Mitglieder werden eingeladen, zu horchen und zu verstehen, wie die Organisation sich entwickeln könnte. Damit ist es erlaubt, den Sinn und Zweck der Organisation infrage zu stellen. Neue Aufgaben oder Geschäftsbereiche können getestet und integriert werden. Die Mission oder Vision einer Organisation ist nicht festgeschrieben, sondern kann sich mit der Zeit evolutionär ändern, um sich den Gegebenheiten anzupassen. 11

Mit den drei genannten Durchbrüchen ändern sich auch Veränderungsprozesse im Unternehmen: Veränderungen werden agil und flexibel gestaltet, Prozesse sind nicht mehr linear und weniger gut planbar. Laloux nennt in seinen Betrachtungen einige Beispiele für petrolfarbene Organisationen, zum Beispiel den Outdoor-Bekleidungshersteller Patagonia oder den französischen Automobilzulieferer Favi. Wichtig ist, dass keines der von Laloux angeführten Unternehmen alle drei Durchbrüche in Reinform vollzogen hat. Vielmehr hat jedes der genannten Unternehmen auf jeweils eigenen Wegen seine funktionierende Form gefunden. Die Fallbeispiele und Trends, die Laloux beschreibt, gehen ebenfalls in die Richtung eines Endes der Welt, wie wir sie kennen. Die Beispiele beinhalten eine große Chance und eine Herausforderung für unser klassisches Verständnis von Arbeit. Bergmanns und Laloux’ Gedanken führen uns möglicherweise auf unterschiedlichen Wegen zu einer besseren Arbeitswelt. Sie bieten grobe Konzepte für neue Formen der Arbeit. Jedoch fehlen ganzheitliche und auch praktisch anwendbare Konzepte. Was wir dafür in allen Einzelfällen brauchen, ist Kreativität.

Kreativität Im Alltag existieren viele Gerüchte über Kreativität. Erstens: Kreativität entstehe nur in der Interaktion. Zweitens: Kreativität sei ein Ereignis. Drittens: Kreative Lösungen können nur im Büro entstehen. Viertens: Genügend Druck erzeuge Kreativität. Keine dieser Behauptungen ist wahr. Empirisch belegt sind andererseits die folgenden Erkenntnisse: Erstens und zweitens: Kreativität ist ein Prozess. 12 In jeder Phase des Prozesses sind andere Bedingungen für das Fortschreiten günstig oder hinderlich. Zum Beispiel ist in der Phase der Ideengenerierung ein anregendes, nicht restriktives Umfeld förderlich, wohingegen bei der Umsetzung einer neuen Idee Ruhe und eine kritische Grundhaltung zielführend sind. Kreativität ist also sowohl in der Interaktion als auch in konzentrierten, stillen Phasen möglich. Drittens: Gute Ideen entstehen überall, unter Umständen auch unter der Dusche oder im Auto. Ideen entstehen tatsächlich oft dann, wenn das Gehirn „im Leerlauf“ ist und Kapazität für Nicht-Routineaufgaben frei wird. Dies führt direkt zu viertens: Freiräume ermöglichen Kreativität. Für die Förderlichkeit von Autonomie für Kreativität gibt es zahlreiche empirische Belege. In der Wissenschaft gibt es dazu Modelle und auch empirische Ergebnisse, unter anderem von Theresa Amabile, die sehr gut anwendbar sind, zum Beispiel das Phasenmodell der Kreativität, bei dem man einen schleifenhaften Prozess als Grundsatz erkennen kann. Diese Gedanken findet man auch in aktuellen agilen Methoden wieder, beispielsweise im Design Thinking. Wichtig bei Modellen dieser Art ist es, Freiräume zu geben und Scheitern zuzulassen.

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2040 Kreativität wird essenziell sein, um Veränderungen wie die oben beschriebenen anzustoßen und umzusetzen. Da es sich um neue und wenig erprobte Formen der Arbeit handelt, wird es vorkommen, dass mehrere Schleifen gedreht werden, bis Prozesse richtig funktionieren. Auf Veränderungen muss schneller reagiert werden als gewohnt. Aspekte der neuen Arbeit werden scheitern und neu erfunden werden müssen. Dabei ist es wichtig, Kreativität zuzulassen und die Missverständnisse bezüglich des Kreativitätsprozesses aus dem Weg zu räumen. Nehmen wir nun die Perspektive der Re-Gnose ein und blicken aus dem utopischen Jahr 2040 zurück: Wir haben neue gesellschaftliche Modelle für Arbeit und Leben entwickelt. Durch fortschreitende Technisierung und Entwicklungen im Bereich KI sind neue Möglichkeiten für sinnvolle und ganzheitliche Aufgaben der Menschen im Erwerbsleben entstanden. Es entwickelten sich politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die es Menschen erlauben, herauszufinden, welche Arbeit sie leisten möchten und sinnvoll finden, und diese Arbeit dann auszuführen. Die KI hat sich derart entwickelt, dass sie Menschen bei physisch und psychisch sehr beanspruchenden Aufgaben bestmöglich unterstützen kann. Wir haben neue Organisationsformen entwickelt. Arbeit wird in den meisten Unternehmen nicht mehr im Grundsatz klassisch hierarchisch oder autoritär organisiert, es sei denn, eine Arbeitsgruppe hat selbst so entschieden. Einige Organisationen haben sich in die Richtung von petrolfarbenen Organisationen entwickelt. Eine solche Entwicklung war jedoch nicht bei allen Organisationsformen möglich (wie zum Beispiel bei militärischen oder Rettungsorganisationen). Organisationen wandeln sich in schnellerem Tempo als bisher, um sich verändernden Umweltbedingungen anzupassen. Dass hier der Mensch als Ganzes im Fokus steht inklusive seiner Emotionen, betont die Wichtigkeit des menschlichen Wirkens gegenüber der KI. Auch die künstliche emotionale Intelligenz wird sich weiterentwickelt haben. Sie hat die menschliche emotionale Intelligenz als Kernkompetenz in der Arbeitswelt jedoch nicht abgelöst, sondern fungiert lediglich als Ergänzung. Wir nutzen Kreativitätspotenziale besser, um uns an neue, bessere Arbeitsformen anzunähern. Der Zustand des sich Veränderns ist der Normalzustand. Bei einem sich steigernden Veränderungstempo ist es wichtig, die psychologischen Erkenntnisse über den Prozess der Kreativität zu berücksichtigen, das heißt: Kreativität geschieht in Phasen. Einige Modelle und Ideen scheitern, andere werden erfolgreich sein. Dies kann nur in einer Kultur der Gestaltungsfreiheit und Fehlertoleranz passieren. Um die kreativen Herausforderungen auch nach 2040 weiterhin zu meistern, ist die wichtigste Kompetenz, die VUCA-Situation zu akzeptieren und aktiv zu bewältigen. Dies beinhaltet vor allem Fähigkeiten des Selbstmanagements. Dazu müssen wir uns als Personen, unsere Organisationen und unsere Gesellschaft befähigen. Auf allen diesen Ebenen braucht es viel menschliches Fingerspitzengefühl. Die Arbeitswelt der Zukunft wird eine große Vielfalt an Möglichkeiten beinhalten. Die Kunst wird es sein, diese Möglichkeiten zum Vorteil von Individuum und Gesellschaft zu nutzen.

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FUSSNOTEN 1 Schermuly, Carsten. New Work – Gute Arbeit gestalten, 3. Aufl., Freiburg 2021. 2 Bergmann, Frithjof: Neue Arbeit, neue Kultur, 7. Aufl., Freiburg 2020, S. 121. 3 Ebd., S. 377. 4 Ebd., S. 118ff. 5 Ebd., S. 208ff. 6 Beispiele für solche Projekte sind u.a. hier zu finden: New Work – New Culture: Dezentrale, flexible, selbstbestimmte Formen der Produktion und des Lebens, https://newwork-newculture.dev/praxis/. 7 Laloux, Frederic: Reinventing organizations. A guide to creating organizations inspired by the next stage of human consciousness, Brüssel 2014, S. 43. 8 Ebd., S. 15. 9 Ebd., S. 61ff. 10 Ebd., S. 143ff. 11 Ebd., S. 193ff. 12 Vgl. u.a. Amabile, Teresa M.: Creativity in Context, Colorado 1996.

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The Blob und das Lachen der Medusen

Eine Gedankenskizze über das egalitäre Gagensystem am Theater Neumarkt Tine Milz

„Das Lachen der Medusa ist ein Lachen, das aus der Zukunft kommt.“ 1 Und wir befinden uns im Dazwischen, in der Zwischenzeitlichkeit, in der sogenannten Gegenwart. Und für diese Gegenwart braucht es eine neue kollektive, lustvoll wabernde Figur. Die, die ich vorschlage, ist The Blob. 2 Das alles verschlingende, anschwellende und nicht aufhaltbare Kunstmonster, welches Chris Kraus in einem ihrer Briefe in I love Dick (1997) porträtiert. The Blob ist der Schrecken der Furchtlosen, ein morphender Organismus der Veränderung. Eine blobbende Veränderung, die die deutschsprachigen Theaterbetriebe dringend nötig haben. Und Zeit für Veränderung ist jetzt, denn alles, was wir anfassen, bringt Veränderung oder, wie die afroamerikanische Science-Fiction-Autorin Octavia Butler schreibt: „All that you touch, you change. All that you change, changes you. The only lasting truth is change.“ 3 „Die Zeit ist aus den Fugen“, und unsere Gesellschaft lässt sich orientierungslos von einem Extrem ins andere schubsen. Zukunftsweisende Visionen scheinen rar, die Vergangenheit gibt keine Ruhe, kehrt in Form von vielfältigen und spaltenden Gestalten, Geistern und Möchtegernheld:innen zurück und die unübersichtliche Gegenwart ergießt sich in ein Meer von unlösbar erscheinenden Problemen. Die Welt in Dauerkrise. Das Theater auch. Alles in Auflösung. Der Ausgang: ungewiss. „Die Zeit ist aus den Fugen“, und es fühlt sich irgendwie falsch an, über die Zukunft des deutschsprachigen Theaterbetriebs nachzudenken, wenn gleichzeitig die Zeit in und über sich hereinbricht. Auch die deutschsprachige Theaterlandschaft, navigiert recht orientierungslos durch ein Meer von unlösbar erscheinenden Problemen, klammert sich an die Vergangenheit, schielt sehnsüchtig in die Zukunft und verpasst dabei die Gegenwart. Wenig Visionen und viel Angst verhindern, dass unsere städtischen und staatlichen Theaterinstitutionen attraktive und zeitgemäße Arbeitgeberinnen werden. Verkrustete Strukturen, die mächtiger sind als neue Versuchsanordnungen, lähmen die Gegenwart und verhindern die Zukunft. Und vor allem eines fehlt: das kollektive und lustvolle Monströse, das befreiende Lachen, das die Verkrustungen aufbricht und neue Nähte des Miteinanders setzt.

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Das medusenhafte Lachen als Akt der Befreiung Das lustvolle Lachen kann als möglicher Befreiungsakt dienen. Die Geschichte des herzhaften Lachens war philosophisch lange verpönt. Vor allem das weibliche Lachen wurde verächtlich abgekanzelt. Extremes, explosives, bebendes, monströses und damit „weibliches“ Lachen galt als gefährlich, da ein bebendes Lachen verkrustete Oberflächen sprengen kann und veraltete, patriarchale Ordnungen ins Wanken bringt. Für die französische Philosophin Hélène Cixous wird das Lachen symbolisch durch die antike Figur der Medusa repräsentiert und steht für ein quasi kollektives Lachen der Frauen, welches sich ermächtigend an die phallokratische Gesellschaftsordnung richtet. Und genau deswegen hat das Lachen der Medusa bei Cixous auch eine gesellschaftskritische und politische Funktion. 4 Das Lachen der Medusa wird zu einer Metapher für einen politischen Akt der Befreiung von unterdrückten Klassen und Medusa wird zu einer lustvollen Kämpferin oder, wie die Theoretikerin Silvia Federici sagen würde, zu einer joyful militant, 5 die für Veränderung und Umsturz der herrschenden Ordnung einsteht. Und bis heute ist Medusa die monströse Frau, der Man(n) lieber den Kopf abschlägt, bevor Man(n) selbst erstarrt. Die britische Autorin Lauren Alkin schreibt in ihrem Buch Art Monsters darüber, wie Weiblichkeit und Monster oft in einem Atemzug ­genannt werden und räumt mit diesem Mythos auf. 6 Sie sucht nach den weiblichen Kunstmonstern, den Künstler:innen und Denker:innen, die lustvoll und monströs für Veränderung stehen. Und genau diese Suche nach anderen Erzählungen, nach Umdeutungen von herrschenden Diskursen, ist notwendig, damit wir uns aus den gegenwärtigen Kontexten befreien und inspiriert sind, neue Möglichkeiten aufzuzeigen, oder zunächst überhaupt in der Lage sind, diese zu entwickeln. Wir brauchen neue lustvolle und lachende Zeitzeug:innen wie beispielsweise die lachenden Medusen, die das kollektive Miteinander fordern und den Geniekult des Theaters endlich kastrieren. Der Geniekult im deutschen Stadt- und Staatstheater ist ein altes und gepflegtes Phänomen. Der oftmals männliche Regisseur wird als Wunderkind, als Enfant ­terrible, als Genie gefeiert. Und die Institutionen lieben diese Narration und fördern diesen Kult durch beispielsweise intransparente Gagen. Wichtigkeit und Verantwortung in Produktionen wird anhand von hierarchischen Machtstrukturen und unfairen Bemessungsgrundlagen definiert. Pay- und Gendergaps inklusive. Der Klassiker: Die Regie bekommt Topgagen, die anderen beteiligten Künstler:innen, insbesondere die häufig weiblichen Kostümbildner:innen, bekommen sehr viel weniger.

Das transparente und egalitäre Gagensystem am Theater Neumarkt Eine Möglichkeit, dem hierarchischen Bezahlsytem andere kollaborative Formen der Zusammenarbeit entgegenzusetzen und kollaboratives Arbeiten zu fördern, ist das Einführen von fairen Gagensystemen, die für alle Künstler:innen nachvollziehbar

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sind. In unserer Zeit als Co-Direktorinnen des Zürcher Theater Neumarkt haben wir ein neues und transparentes Gagensystem für eingeladene Künstler:innen entwickelt und eingeführt. Unser erarbeiteter Vorschlag ist ein Versuch, sich für egalitäre und transparente Gagen zu engagieren, bestehende Pay-Gaps und sonstige Ungleichbehandlungen abzuschaffen und Lohndumping zu vermeiden. Es ist der Versuch, eine Basis für vergleichbare und transparente Löhne am Neumarkt zu schaffen und kollaboratives Arbeiten zu fördern und zu honorieren. Die Basis ist für alle Künstler:innen gleich und orientiert sich an den vorgeschlagenen Richtlöhnen und Richtgagen von t.punkt (Theaterschaffen Schweiz). Sie setzt sich aus Wochenpauschalen für Proben (nach Alter gestaffelt), Konzeptionszuschlägen (gemessen an Wochen) für Künstler:innen mit Leitungsverantwortung sowie einem pauschalen Familienbonus zusammen. Künstler:innen mit Leitungsverantwortungen können beispielsweise Musiker:innen, Regisseur:innen, Bühnen- oder Kostümbildner:innen oder Schauspieler:innen sein. Wer Leitungs- oder Konzeptverantwortung in den jeweiligen künstlerischen Teams trägt, entscheiden die Teams in gemeinsamer Absprache mit Dramaturgie und Direktion. Menschen, die verschiedene Positionen im künstlerischen Prozess einnehmen, wie schreibende Regisseur:innen/Spieler:innen oder Bühnenbilder:innen, die auch Kostüme entwerfen, erhalten zusätzliche Konzeptionsgagen. Die Wochengagen für Proben bei Darstellenden Künstler:innen sind etwas geringer als bei leitenden Künstler:innen, jedoch erhalten sie Aufführungsgagen. Die Gagenhöhe drückt die tatsächliche Beteiligung am Arbeitsprozess aus, nicht traditionell gewachsene Lohnniveaus zwischen verschiedenen Sparten. Ein Baukastensystem erlaubt es, darauf aufbauend, unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit vergleichbar, flexibel und gerecht zu entlohnen. Zudem verteilt das System de facto nach unten um, das heißt, die Topgagen für Regie wurden gedeckelt und es profitieren gerade Künstler:innen aus den Bereichen, die vormals deutlich prekärer entlohnt wurden. Unser Gagensystem wird von Anfang an kommuniziert und behandelt etablierte sowie noch nicht etablierte Künstler:innen gleich. Wir entlohnen die kreative kollaborative Arbeit und nicht den genialen Starfaktor. Künstler:innen, die keine Agentur haben, erfahren bei uns keine Benachteiligung. Uns ist bewusst, dass wir durch dieses klare Gagensystem für gewisse Theatergrößen unattraktiv sind. Künstler:innen, die bei uns arbeiten, entscheiden sich aktiv für kollegiale Gleichbehandlung und Transparenz. Uns ist bewusst, dass Zeit nicht der beste Faktor ist, um künstlerisches Schaffen zu bemessen, aber es gibt den Teams einen klaren Zeitrahmen für Vorbereitung und Proben, der in gemeinsamer Rücksprache erstellt wird. Mehr und mehr Teams arbeiten in anderen kollektiven Zusammenschlüssen, in die jede:r unterschiedliche Expertisen mitbringt und Verantwortungen untereinander geteilt werden. Mehr und mehr Teams sehen den künstlerischen Prozess als gemeinsames Erarbeiten, an dem alle beteiligt sind und im besten Falle gleich honoriert werden. Und unser Gagensystem ist eine Möglichkeit, diesen neuen Arbeitsformen angemessener entgegenzukommen.

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Theaterblob und Kunstmonster Vielleicht ist unser egalitäres Gagensystem auch der Anfang eines Theaterblobs. Erste glitschige Schleimspuren morphen sich vom Neumarkt in andere Theaterbetriebe. Assoziierte Neumarkt-Künstler:innen tragen den Blob, unser Gagensystem, in andere Häuser. Sie nehmen unser Modell zum Anlass, um für ihre Teams Ähnliches zu verhandeln. Und so blobbt unser modellhafter, zaghafter Versuch langsam lachend in größere Institutionen. The Blob, das lachende, das alles verschlingende, einverleibende, nicht aufhaltbare, anschwellende Kunstmonster, morpht langsam in die deutschsprachige Theaterlandschaft. The Blob, der mir vorschwebt, wird von lachenden Medusen angetrieben, ist ein lebender, lernender und verlernender Organismus, der in Netzwerken denkt und alles Verkrustete verschlingt. The Blob hat keinen Mund, keinen Magen, keine Augen, kann aber dennoch Nahrung erkennen und verdauen. Und wenn man zwei verschiedene Blobs zusammenführt, wird derjenige, der gelernt hat, sein Wissen an den anderen weitergeben. Und genau so einen Blob stelle ich mir vor. Ein Blob, der unsere Theaterbetriebe und Strukturen langsam schleimig einverleibt und zu einem denkenden, lebendigen und sich immer wandelnden, monströsen und kollaborativen Netzwerk entwickelt. Die Zeit ist zwar aus den Fugen, aber „the time to blob is now“. Die Zeit der Kunstmonster ist da. Als lustvolle und lachende Kunstmonster wagen wir uns in Gebiete, die unter dem Schutz der Wahrung der Institution seit Jahrzehnten stehen, und verschlingen lustvoll die anscheinend unverrückbaren Strukturen. Und das Lachen der Medusen schwingt aus der Zukunft als Echo hinter, vor und über uns. Denn: „All that you touch, you change. All that you change, changes you. The only lasting truth is change.“ 7

FUSSNOTEN 1 Cixous, Hélène: Das Lachen der Medusa, Wien 2017, S. 13. 2 Kraus, Chris: I love Dick, London 2017, S. 202. 3 Butler, Octavia: Parable of the Sower, New York 2017, S. 13. 4 Vgl. Cixous: Das Lachen der Medusa, S. 15–24. 5 Federici, Silvia: Beyond the Periphery of the Skin, New York 2020, S. 125. 6 Alkin, Lauren: Art Monsters, London 2023. 7 Butler: Parable of the Sower, S. 13.

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No Reason To Get Excited Kollektive Praxis

Kollektiv Common Ground

Wo gibt es nicht-kommerzielle Räume in München, die von jungen Menschen selbst organisiert werden? Welche Strukturen geben niedrigschwellig und experimentierfreudig Wissen und Erfahrungen über die Aktivierung von Do-it-yourself-Kultur, temporären Räumen oder Leerständen weiter? Wie können wir in einer Stadt mit Raumknappheit neue Experimentierräume ermöglichen für Kunst, Jugendkultur und politisches Engagement? Welche Rolle spielen Institutionen und Ausbildungsorte dabei? Diesen Fragen stellt sich unser Kollektiv Common Ground. Wir sind ein interdisziplinäres Kollektiv aus München für urbane Praxis, Raum- und Wissensvermittlung sowie Aktionen zu und in Freiräumen. Wir haben in den letzten Jahren verschiedene Leerstände aktiviert und setzen uns mit Pionier- und Zwischennutzungen auseinander. Im Fokus steht integratives, kreatives und gemeinschaftliches Arbeiten für eine weitgreifende Vernetzung von Kulturakteur:innen. Wir sind vorrangig Menschen unter 30 Jahren und kommen aus diversen künstlerischen, kreativen und organisatorischen Disziplinen: Aktive im Kollektiv arbeiten in den Bildenden Künsten, im Film, in der Fotografie und in Design oder Musik, aber auch hinter den Kulissen, als Manager:innen, Veranstalter:innen, Techniker:innen und Kurator:innen.

Was unser Kollektiv macht Neben Projekten in bereits bestehenden Veranstaltungsorten und im öffentlichen Raum entstanden über die Jahre unterschiedliche Projekte in uncodierten sowie leer stehenden Räumen, zum Beispiel das Kunst- und Kulturfestival 5000 Zimmer Küche Bad in einer denkmalgeschützten ehemaligen bayerischen Kriegsakademie oder die soziokulturelle Zwischennutzung Gabriele in Kooperation mit dem International Munich Art Lab und Eduart K in einer ehemaligen Ausbildungsstätte für Heizung und Sanitär. Eines der größeren Projekte fand im Dezember 2022 in einer 6000 Quadratmeter großen leer stehenden ehemaligen Elektroinnung statt: Das Forum

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für Freiraum des Bündnisses Freiräumen bot mit mehr als 100 Programmpunkten für 1500 Besucher:innen kostenfreie Workshops, Vorträge und Diskussionen sowie Ausstellungen und Kulturprogramm über Freiräume. Ziel war die Vernetzung, Selbstorganisierung und Skillsharing bzw. Beratung zu rechtlichen Rahmenbedingungen bis hin zu Organizing, Förderstrukturen und der Verteilung von öffentlichem Raum mit seinen Nutzungsmöglichkeiten als Commons. Auch mentale Gesundheit, Wohnen, Inklusion, Stadtentwicklung, Subkultur, politische Arbeit, Diversität, Ernährung, Nachbarschaft und Umwelt wurden diskutiert. Mit mehreren in Kollektiven aktiven jungen Menschen haben wir über das gesamte Jahr 2022 selbst entwickelte Konzepte und Veranstaltungen in verschiedenen Leerständen bzw. an ungewöhnlichen Orten in der Stadt durchgeführt – mit insgesamt mehr als 3000 Besucher:innen. Es konnten Konzerte, Performances, Theateraufführungen, audiovisuelle Installationen, Diskussionen, aber auch Open-Decks oder Jamsessions organisiert werden, auch und vor allem in Kombination verschiedener Formate. Alle Veranstaltungen wurden auf Spendenbasis organisiert, Überschüsse werden an gemeinnützige Organisationen wie Bündnisse für Jugendkultur, die Seenotrettung oder Gerechtigkeitsbewegungen für Klima und Antidiskriminierung gespendet. So konnten wir vielfältige Zielgruppen in einen gemeinsamen Austausch bringen. Gefördert wurden die Veranstaltungen der Eventserie und damit auch unser Programm für die Zukunftskonferenz durch das Jugendkulturwerk des Sozialreferats München. Alle Projekte fanden unter dem Dach der Stiftung Kulturator aus München statt und sind von uns konzipiert, kuratiert und durchgeführt worden. Durch die Möglichkeit, eine prozessorientierte Förderung zu nutzen, die uns als Kollektiv die Freiheiten gegeben hat, Ideen kurzfristig und flexibel realisieren zu können, hat es sich ergeben, dass die Zukunftskonferenz auch der Startpunkt unserer nichtkommerziellen Eventserie im Jahr 2022 geworden ist.

Was verbindet freie Kollektive und das Theater? Die Zukunftskonferenz war ein geeigneter Ort, um zukünftige Formate und unser eigenes Wissen aus bisherigen Projekten und Räumen in einen großen Reflexionsprozess für die an der Konferenz Beteiligten zu bringen. Themen, die Kollektive beschäftigen, überschneiden sich oft mit gesellschaftlichen Aushandlungen von und im Theater. Im Kollektiv befassen wir uns damit, welche Diskurse in einer Theaterwelt der Zukunft Relevanz finden werden. So sind drei Workshops in das Programm der Konferenz aufgenommen worden: Im Workshop Aktivismus und Kunstfreiheit wurden die Grenzen und Möglichkeiten der Kunst verhandelt, wie Kunstwerke von Autor:innen mit dem Publikum verbunden sind, und Möglichkeiten der eigenen künstlerischen Praxis und Kunstfreiheit im Aktivismus erarbeitet. Geleitet wurde der Workshop von Jesaja Rüschenschmidt und Lea Würtenberger. Ein Workshop von Amrei Weinhöppel und Achim Waseem Seger hat für Antirassismus, Diskriminierung und kritisches Weißsein sensibilisiert. Und um weiterführend ein Bewusstsein für die verschiedenen Formen von Diskriminierung und mögliche Handlungsstrategien zu entwickeln, hat Franzi Deege einen Einblick in ­Fallbeispiele

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Mindsight, Clubbing mit dem Kollektiv Common Ground


aus der Awarenessarbeit gegeben. Darüber hinaus wurden wir bei der Zukunftskonferenz mit der Gestaltung des Abendprogramms betraut. Wir hatten dabei viele Freiheiten: So konnten wir uns selbst für ein Raumkonzept entscheiden, wer unsere Zielgruppe sein wird und wie die Inhalte kommuniziert und präsentiert werden. In unserer Arbeit ist uns eine intersektionale Praxis wichtig, wir beziehen verschiedenste künstlerische Positionen ein. So werden die Themen auf eine niederschwellige Art erfahrbar gemacht – weg von bzw. in Ergänzung zu konventionellen akademischen Wegen, aus einer DIY-Haltung heraus, die verschiedenste Menschen und Gruppen zum Mitgestalten aufruft. Die Inspiration für den passenden Titel unseres Abendprogramms hat uns im Februar 2022 der ukrainische Musiker John Object geliefert. Dieser hat, bevor er in die ukrainische Armee eingezogen wurde, sein gesamtes musikalisches Lebenswerk als Sammlung veröffentlicht. Unter den mehr als 60 Songs ist ein Werk mit dem Titel No Reason To Get Excited, welches auf einem immer wiederkehrenden Vocalsample von Jimi Hendrix’ Song All Along The Watchtower basiert.

Wie sieht Do-it-yourself in der Praxis aus? In regelmäßigen Plena und Arbeitstreffen werden unsere Entscheidungsprozesse im Kollektiv verhandelt. Wenn sich eine Person für ein Projekt findet und kein:e andere:r ein Veto dagegen hat, kann die Idee im Rahmen des Kollektivs weiterentwickelt werden. So waren an der Entwicklung von No Reason To Get Excited etwa zehn Menschen beteiligt, in der Durchführung dann circa 50 Personen inklusive der Künstler:innen. Im Vorfeld haben wir uns auf verschiedene Aufgabenbereiche eingestellt, die wir mitkonzipieren und unterstützen wollten wie Ton- und Lichttechnik, Visuals, Künstler:innenbetreuung, Dokumentation, Social Media, Einlass, Awareness und weitere. Wir wurden von der Haustechnik, dem Präsidium der Theaterakademie August Everding und dem Team der Zukunftskonferenz unterstützt, ohne die das Ganze gar nicht möglich gewesen wäre. Um Ideen weiterzuspinnen, befanden wir uns in ständiger Abstimmung über unsere Ideen und Entscheidungen. Unser Ziel bei der Zukunftskonferenz war es, die Räume der Theaterakademie neu zu denken und zu kontextualisieren: Proberäume oder auch die Hinterbühne zu öffnen für die Öffentlichkeit. Die Räumlichkeiten der Theaterakademie sind zu einem großen Teil nur für Studierende und Mitarbeiter:innen zugänglich, das wollten wir aufbrechen und dort ein niedrigschwelliges Zusammenkommen ermöglichen. So hat unser Programm an den ersten beiden Tagen auf zwei Probebühnen im Haus stattgefunden. Für den Abschluss am letzten Tag stand uns die Hinterbühne zur Verfügung. Es war eine große Bereicherung und gleichzeitig ein Experiment für uns, dass wir unser inhaltliches Konzept in unterschiedlichen Settings an mehreren Orten in der Theaterakademie präsentieren konnten. In Ergänzung sollte es einen weiteren Raum geben, der parallel zum Programm auf der Hinterbühne zum Aufenthalt dient, aber auch prozessorientiertes Mitmachen ermöglicht und die anwesenden Gäst:innen gemeinsam in einen vertiefenden Austausch bringt oder auch eventuell benötigte Ruhe geben kann. Für den Dank Tank haben wir ein Drittel des Aufenthaltsbereichs in eine Art dauerhafte DIY-Umgebung

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umgestaltet, in der es möglich war, sich kreativ auszuleben. Hauptelement war ein Computer mit Drucker, mit dem man alles, was man wollte, ausdrucken konnte. Die gedruckten Motive konnten selbstständig auf mehreren beweglichen Wänden im Raum angebracht werden. Falls man etwas ohne Elektronik beitragen wollte, gab es eine Bastelecke mit allen notwendigen Utensilien. So ist über die Dauer der Konferenz ein kollektives Kunstwerk entstanden. Außerdem ist der Raum von Musiker:innen spontan häufig selbst organisiert genutzt worden.

Ein gelungenes Beispiel einer nachhaltigen kollektiven Praxis Mit täglich bis zu 300 anwesenden Personen waren unsere Abendveranstaltungen ein Erfolg. Wie es so ist bei Aktivierungen von besonderen Räumlichkeiten, hatten wir im Rahmen der Sondernutzung Auflagen, die uns leider keine höhere Teilnehmer:innenzahl möglich gemacht haben. Mit der Open-Source-Software pretalx konnten wir kostenfrei für jeden Abend ein festes Kontingent an Tickets herausgeben. Wir waren an jedem Abend vollständig ausgelastet. Es hat uns mit Freude erfüllt, dass wir internationale Künstler:innen einladen, einbinden und einem offenen, interessierten Publikum vorstellen konnten. Ebenso konnten spontane Momente wie die Gem Session, eine Jamsession für interessierte Musiker:innen, ermöglicht werden. Genregrenzen lösten sich auf, alle nur vorstellbaren Songtempos schallten durch die Räume und verwoben sich mit Themen wie Feminismus, Kolonialismus, Selbstfindung, Identität und dem eigenen kreativen Schaffen. Für uns war es eine bereichernde Erfahrung, im Rahmen der Zukunftskonferenz unsere Visionen gemeinsam umsetzen zu dürfen. Teile des Kollektivs hatten bereits im Vorfeld Berührungspunkte mit der Theaterakademie August Everding, etwa über das Bündnis DIE VIELEN bei der Glänzenden Demo der Vielen, beim UWE-Festival oder auch über Menschen aus unserem Umfeld, die mit ihrem Studium an der Theaterakademie ihren Weg ins kreative Leben wagen. So haben wir es geschafft, unsere verschiedenen Zielgruppen abends in einen gemeinsamen Austausch zu bringen. Über das gesamte Akademiegelände hinweg hat sich eine kollektive Praxis mit einer Ermöglichungshaltung, Flexibilität und Leidenschaft ergeben. Diese resiliente Haltung ist wichtig für eine lebendige Kultur und Gesellschaft. Wir haben innerhalb unseres Kollektivs, mit den Helfer:innen bei der Durchführung und den Konferenzteilnehmer:innen in Workshops und im Abendprogramm dazu beigetragen.

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Wie Theater ökologisch nachhaltig handeln können Vera Hefele

Durch den Stillstand auf den Bühnen während der Coronapandemie erlebte das Thema ökologische Nachhaltigkeit in Kulturbetrieben erstmals eine intensivere Auseinandersetzung und seither eine immer größere Aufmerksamkeit. Das ist gut so, denn die Herausforderungen durch die Klimakrise sind enorm und können nur gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Akteur:innen bearbeitet werden. Der Kulturbranche kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn sie hat eine große Reichweite und ist zentrale Akteurin, um eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft einzunehmen. Durch eine geschickte Verknüpfung von Maßnahmen der Emissionsreduktion und der Kommunikation der Notwendigkeit dessen können Kulturbetriebe wichtige Schauplätze für den Klimaschutz und Leuchttürme für die gesellschaftliche Transformation sein. Gleichzeitig trägt eine ökologische Transformation zur Zukunftssicherung der Betriebe selbst bei. Auf der Bühne haben die Klimakrise und damit verwandte Themen längst schon ihren Platz gefunden. Aber wie lange können die Themen glaubwürdig verhandelt werden, wenn „hinter“ der Bühne Ökologie und Nachhaltigkeit gar keine Rolle spielen? In Diskussionen begegnet man häufig noch der Sorge, dass Nachhaltigkeit die künstlerische Freiheit und Vielfalt zu sehr einschränken könnte, weil beispielsweise Ausstattungen weniger opulent ausfallen könnten oder nur noch aus dem Fundus „zusammengeschustert“ werden. An dieser Stelle lässt sich jedoch entgegnen: Findet Kunst nicht schon immer innerhalb bestimmter Grenzen statt? Angefangen von räumlichen und budgetären Rahmen bis hin zu Beschränkungen durch Brandschutzauflagen und Vorschriften der Arbeitssicherheit. Und dafür gibt es gute Gründe, die nicht als Einschränkung der Kunstfreiheit hinterfragt werden. Wäre es nicht an der Zeit, analog zu den planetaren Grenzen, die wir als Menschheit haben, auch ökologische Grenzen auf der Bühne zu respektieren? Natürlich braucht es Gespräche darüber, wie Alternativen aussehen können. Gerade bei der wichtigen Frage, wie Anliegen, Perspektiven und Stimmen aus anderen Teilen der Welt hör- und sichtbar gemacht werden können, ist ein konstruktiver Diskurs unbedingt notwendig. Das Ziel, Emissionen zu reduzieren und gleichzeitig internationalen Stimmen eine Bühne zu geben, ist ein bisher ungelöstes Dilemma. Doch künstlerische Freiheit als Totschlagargument zu nutzen, um sich nicht mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen zu müssen, ist aus unserer Sicht nicht zielführend für die Zukunft.

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Ökologische Nachhaltigkeit stellt den Kern der Tätigkeit unseres Projektbüros WHAT IF für nachhaltige Kultur dar. Wir begleiten Kulturinstitutionen bei ihrem Weg zur Nachhaltigkeit, indem wir gemeinsam mit unseren Projektpartner:innen Nachhaltigkeitsstrategien entwickeln oder Klimabilanzen erstellen – also den CO2-Fußabdruck eines Kulturbetriebs berechnen. In diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in unsere Arbeit geben und aufzeigen, wie wichtig das Thema ökologische Nachhaltigkeit für die Zukunftssicherung von Kulturbetrieben ist und wo erste Ansatzpunkte sind. In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf eingehen, welche Rolle Theaterhochschulen in der Transformation haben.

Betriebsökologie als Zukunftssicherheit von Kulturbetrieben Internationales und gleichzeitig ökologisch nachhaltiges Arbeiten ist eines von vielen Dilemmata bei der ökologischen Transformation von Kulturbetrieben. Manche lassen sich (noch) nicht auflösen. Oft lohnt sich jedoch die Suche nach Alternativen. Beim Thema Internationalität können beispielsweise Residenzen anstelle von mehreren Kurzaufenthalten die Anzahl an Flügen internationaler Gastkünstler:innen und somit den CO2-Fußabdruck reduzieren. Der positive Nebeneffekt davon ist, dass durch längere Aufenthalte eine intensivere Zusammenarbeit mit den internationalen Künstler:innen ermöglicht wird. Es gibt aber auch viele Bereiche, in denen sich ökologische Nachhaltigkeit und künstlerische Freiheit nicht in die Quere kommen. Schaut man sich eine Klimabilanz an, wird dies deutlich: Zu den emissionsstärksten Bereichen gehören nämlich in aller Regel die Publikumsanreise und der Energiebezug. Ob Ökostrom bezogen wird oder Strom aus fossilen Quellen, wirkt sich definitiv nicht auf die Kunstproduktion aus, ist aber ein großer Hebel, um den eigenen Fußabdruck zu reduzieren. Auch ein durchdachtes Energieeffizienzkonzept mindert nicht die Qualität der Kunst, sondern führt neben einer besseren Klimabilanz auch zu massiven finanziellen Einsparungen. Betriebsökologie und Ökonomie gehen an vielen Stellen Hand in Hand und sorgen in Zeiten von steigenden (Energie-)Kosten darüber hinaus für Betriebssicherheit. Nachhaltigkeit ist daher aus vielen Gründen kein Nice-to-have, sondern eine Notwendigkeit. Einige Kulturbetriebe sehen ihre Nachhaltigkeitsstrategien auch als eine Form des Risikomanagements an. Wie ist das gemeint? Kommunen, die häufig Träger von Theatern sind, haben feste Klimaziele einzuhalten. Beispielsweise hat die Stadt Regensburg sich und allen kommunalen Einrichtungen zum Ziel gesetzt, bis 2035 klimaneutral zu werden. Klimaneutralität bedeutet, dass unser Handeln keinen Einfluss mehr auf das Klima hat. Sprich, entweder werden keine Emissionen verursacht oder die entstandenen Treibhausgase müssen ausgeglichen werden, um Nettonull-Emissionen zu erreichen. Da Ersteres nicht (ganz) möglich sein wird, werden Kompensationen notwendig sein, um dieses Ziel zu erreichen. Was bedeutet das für das Theater Regensburg? Alles, was der Betrieb 2035 noch an CO2-Emissionen verursacht, muss dann durch Kompensationszahlungen ausgeglichen werden. Je nach Höhe der Emissionen können auf Betriebe daher hohe Kosten zukommen. Neben dem Klimaschutz sind also auch hier finanzielle Gründe ein wichtiger Aspekt, die

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Emissionen durch Reduktionsmaßnahmen bereits jetzt vorausschauend zu senken. Wenn das Ziel Klimaneutralität heißt, muss die erste Frage lauten: Wo stehen wir jetzt? Und wie viel müssen wir in welchen Bereichen reduzieren? Dabei ist eine Klimabilanz ein essenzielles Instrument.

Klimabilanz als Startpunkt und Richtungsweisung Die Erstellung einer Klimabilanz (auch: CO2-Bilanz) dient dazu, den Status quo aller Emissionsquellen eines Kulturbetriebs zu quantifizieren und zu analysieren. Sie bildet also die entscheidende Basis für einen strategischen Nachhaltigkeitsprozess, der am Dreiklang Vermeidung, Reduktion und Kompensation ausgerichtet sein sollte. Das heißt, kompensiert werden nur die Emissionen, die nicht mehr vermieden oder reduziert werden können. Seit November 2023 gibt es erstmals einen bundesweit gültigen CO2-Bilanzierungsstandard für Kultureinrichtungen. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien ließen den Standard von einem Expertengremium entwickeln. Zusätzlich wurde ein Excel-basierter, kostenfreier CO2-Kulturrechner 1 bereitgestellt, der die Berechnung der Treibhausgase analog zum Bilanzierungsstandard ermöglicht. Er erfasst in der Basisversion (KlimaBilanzKultur – KBK) die betriebsökologischen Bereiche Wärme, Strom, Kühl- und Kältemittel, Fuhrpark, Mobilität (Mitarbeitende, Geschäftsreisen, Externe) sowie Warentransporte. Durch die Bilanz wird sichtbar, wo die größten Emissionsquellen einer Einrichtung liegen und daher die größten Stellschrauben sind, um ihren Fußabdruck zu minimieren. Die Ergebnisse der ersten Klimabilanz sollten weder als schlecht noch gut bewertet, sondern als Startpunkt und Richtungsweisung gesehen werden, um von da aus kontinuierlich und ernsthaft an einer Emissionsreduktion zu arbeiten. Denn entscheidend ist: Der erste Schritt, die Erstellung der Klimabilanz, darf nicht der letzte sein, sondern der Anfang des Transformationsprozesses zu einer nachhaltigen Kultur(produktion) und damit auch zu einem nachhaltigen Betrieb. Daten sind dabei wichtig, jedoch nicht alles. Es bedarf eines Wandels im Denken und Handeln bei allen Mitwirkenden und auf allen Ebenen einer Organisation. Diesen Prozess tatsächlich zu gehen – also ins Handeln zu kommen –, ist der eigentliche Erfolgsfaktor dafür, ob die nachhaltige Transformation gelingt. Das erfordert Zeit, Durchhaltevermögen und manchmal auch eine Portion Kreativität. Einige Grundsätze können den Prozess erleichtern und unterstützen, wie wir im Rahmen unserer Beratungstätigkeit immer wieder erfahren: Top-down und Bottom-up: Nachhaltigkeit muss in der Leitung verortet sein, damit man in der Umsetzung auch entscheidungsfähig ist. Idealerweise ist Nachhaltigkeit von Anfang an bei der Geschäftsführung angesiedelt, die gemeinsam mit den Mitarbeitenden Strukturen für eine dauerhafte Verankerung aufbaut. Ein hohes Maß an Partizipation der Mitarbeitenden zu schaffen erhöht die Identifikation mit dem Vorhaben und stellt bereits zu Beginn eine enge Verzahnung zu den täglichen Arbeitsprozessen her.

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Nachhaltigkeit ist ein Teamsport: Im besten Fall gibt es ein Team, das sich die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten teilt, gemeinsam Ziele formuliert und verfolgt. Hilfreich ist es, alle wichtigen Schnittstellen einzubeziehen, um alle Perspektiven im Team abzubilden, die für Entscheidungen notwendig sind. Dabei sind typischerweise die technischen Gewerke gefragt, aber genauso auch Mitarbeiter:innen der Kommunikation und künstlerische Entscheidungsträger:innen. Es werden nicht alle Mitarbeiter:innen von Anfang an motiviert sein. Eine Handvoll Changeleader ist zu Beginn oft zielführender, als viel Energie in Überzeugungsarbeit zu stecken. Wichtig sind zudem Allianzen außerhalb der eigenen Institution und die Vernetzung mit anderen (kulturellen) Akteur:innen, um Synergieeffekte herzustellen oder Lösungsansätze aus anderen Branchen kennenzulernen. Selbstwirksamkeit als eine Erfolgszutat: Selbstwirksamkeit wurde durch die Umweltpsychologie als ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von Verhaltensänderungen identifiziert. 2 Zu spüren, dass man in diesem sehr komplexen Thema etwas verändern kann, ist wichtig für das Durchhaltevermögen. Deswegen sind schnelle und kleine Erfolge genauso wichtig wie die großen Bretter, die es zu bohren gibt. Der Umstieg auf Recyclingpapier oder die Anschaffung von Lastenrädern sind daher genauso wichtig wie zum Beispiel der kostenintensive Austausch einer Klimaanlage. Lieber langsam als gar nicht: So wie man einen Marathon nicht von heute auf morgen läuft, sondern einen Trainingsplan macht, der eine kontinuierliche Steigerung vorsieht, verhält es sich auch mit der Umsetzung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen. Maßnahmenpatenschaften innerhalb des Teams und klare zeitliche Vorgaben und Ziele sorgen für Verbindlichkeit. Gerade in der Anfangseuphorie sollte man sich nicht zu viel auf einmal vornehmen, sondern tatsächlich in die Umsetzung kommen. Dabei hilft es, Prioritäten zu setzen und dranzubleiben.

Good Practice in ökologischer Nachhaltigkeit Auch bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen gilt es, effizient vorzugehen. Man muss das Rad nicht neu erfinden. Es gibt mittlerweile viele Institutionen, die wichtige Erfahrungen gesammelt haben, wie Emissionen eingespart werden können. Im Bereich Geschäftsreisen haben sich Travelpolicies bewährt, die beispielsweise eine No-Fly-Policy bis zu einer Reisedauer von acht Stunden enthalten. Das Mahler Chamber Orchestra hat seine Travelpolicy dahingehend überarbeitet und nach einer Testphase verbindlich eingeführt. Experimente helfen hier, um Akzeptanz zu schaffen. Die Anreise des Publikums ist häufig die größte Emissionsquelle eines Kulturbetriebs. Ein inkludiertes ÖPNV-Ticket in der Eintrittskarte kann den Anteil an autofahrenden Besucher:innen reduzieren. Wichtig ist hierbei, den Vorteil des Kombitickets gut zu kommunizieren. Häufig wissen Besucher:innen nicht, dass sie den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen können. Die Energieversorgung selbst in die Hand zu nehmen und mit einer Photovoltaikanlage zu Prosument:innen zu werden, streben immer mehr Betriebe an (zum Beispiel Konzerthaus Dortmund, Nationaltheater Mannheim, Kampnagel). Dem Thea-

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ter ­Regensburg ist die Genehmigung einer PV-Anlage sogar gelungen, obwohl das ­Gebäude unter Denkmalschutz steht. Insgesamt steckt aber auch viel Potenzial im Betrieb selbst, das ganz ohne (große) Investitionen auszuschöpfen ist. Bei der Identifikation des Potenzials kann die Sprint20-Checkliste für Energieeffizienz in der Kulturbranche helfen, die das Aktionsnetzwerk für Kultur und Medien mit Energieberater:innen veröffentlicht hat und kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zur Einsparung von Energie bereithält. 3

Nachhaltige Transformation als Fähigkeit Wir beobachten bei vielen Kulturinstitutionen zunächst Überforderung, wenn es darum geht, den Betrieb in Richtung einer nachhaltigen Praxis zu transformieren. Wo soll man anfangen, wenn Nachhaltigkeit so viele Aspekte beinhaltet, die alle gleich wichtig erscheinen? Sich zu orientieren fällt anfangs oft schwer. Neben praktischen Fragen sind auch Widerstände und Ängste vor Veränderungen häufig ein Hinderungsgrund, sich mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Das Stockholm Resilience Center spricht bei Transformation von einer „Fähigkeit, unbekannte Ansätze zu kreieren, aus denen eine fundamental andere Lebensweise entsteht, wenn die existierenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Konditionen das aktuelle System untragbar machen“ 4. Transformation als eine Fähigkeit zu verstehen, also etwas Erlernbares, ist für uns ein ganz elementarer Aspekt, der für transformatorische Prozesse eine wichtige Qualität mit sich bringt: Jede:r kann Transformation lernen. Die Bereitschaft zu haben, Dinge grundsätzlich zu hinterfragen, ist dafür ein wichtiger erster Schritt. Warum tun wir, was wir tun? Und wie wollen wir diese Mission im Hinblick auf die notwendigen Veränderungen zukünftig verwirklichen? Damit eine fundamental andere Lebensweise entsteht, müssen wir uns auch fundamentale Fragen stellen. Die Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen, sondern brauchen Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen: Ausprobieren, Fehler machen, Verwerfen und Neuansetzen sind wichtige Bausteine, um etwas Neues zu erlernen und zu kreieren. Anzuerkennen, dass das Teil des Prozesses ist, erhöht die Offenheit, sich diese Transformationsfähigkeit anzueignen. Denn der Anspruch, sofort die perfekte Lösung zu haben, sorgt meistens nicht dafür, dass sich Dinge verändern, sondern kleine, stetige Schritte.

Hochschulen als Weichensteller für zukunftsfähige Kulturbetriebe All das gilt nicht nur für Kulturbetriebe, sondern auch für Universitäten und Hochschulen, die Studierende auf ihr zukünftiges Berufsleben vorbereiten. Ausbildungsbetriebe wie Theaterhochschulen oder Institute für Kulturmanagement haben hier die Verantwortung, Nachhaltigkeitswissen genauso wie die Fähigkeiten für Transformation zu vermitteln. Es ist zu spät, sich erst im Berufsleben mit den Fragen von nachhaltiger Kunst- und Kulturproduktion auseinanderzusetzen. Denn Kulturschaffende sehen sich dann mit der Nachhaltigkeitstransformation konfrontiert, zu der

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ihnen schlichtweg das Know-how fehlt. Die Lehre sollte innovative Denkanstöße für die nachhaltige kulturelle Transformation geben. Sie kann dazu anregen, das Verständnis von Kunstschaffen in einer Welt von Ressourcenknappheit zu reflektieren und neue Wege des Produzierens und neue Ästhetiken auszuprobieren. Im Bereich der Ausstattung sind hier Prinzipien wie Kreislaufwirtschaft (cradle-to-cradle), das Arbeiten mit dem Bestand und die Beschäftigung mit nachhaltigen Materialien wie Pilzmyzelen als Beispiele zu nennen. In den genannten Bereichen gibt es aktuell noch nicht die perfekten Lösungen, sondern Ansätze, die erprobt werden können. Die Auseinandersetzung damit hat das Potenzial, neue ästhetische Sprachen zu finden und dem Verständnis „Theater muss Verschwendung sein“ neue Praktiken entgegenzusetzen.

Nachhaltigkeit als Fundament für eine zukunftsfähige Kulturbranche Nachhaltigkeit sollte keine Option mehr sein, sondern das Fundament, auf das eine zukunftsfähige Kulturbranche aufbaut. Dazu gehört, die gesellschaftliche Verantwortung für eine nachhaltige Transformation unserer Lebens- und Produktionsweise wahrzunehmen und das eigene Handlungspotenzial zu evaluieren, um die entsprechenden Maßnahmen der Veränderung umzusetzen. Hochschulen können in der Ausbildung wichtige Weichen stellen, zukünftige Generationen an Kulturschaffenden auf die notwendigen, anstehenden Veränderungen vorzubereiten. Denn nur nachhaltiges Produzieren ist ein echter Garant für Kunstfreiheit.

FUSSNOTEN 1 Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit: CO2 Rechner & Klimabilanzen für die Kultur, 2023, https://­ aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/projekte/co2rechner-fur-die-kultur/. 2 Hamann, Karen et al.: Psychologie im Umweltschutz. Handbuch zur Förderung nachhaltigen Handelns, München 2016. 3 Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit: Sprint20-Checkliste: Energieeffizienz in der Kulturbranche,­ 24. Oktober 2023, https://aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/studien/sprint20-checkliste-energieeffizienz-in-der-kulturbranche/. 4 Stockholm Resilience Centre, 2012.

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SPECULATIVE THINKING

Das vernetzende Theater als lernfähiges Theater Kultureinrichtungen in Zeiten der Krise Johannes Hebsacker

Am 24. Februar 2022 beginnt die Russische Föderation einen Angriffskrieg auf die Ukraine. Am 14. März desselben Jahres übermitteln deutsche, schweizerische, österreichische und liechtensteinische Theater in Kooperation mit dem Left Bank Theatre (Kyiv) eine Absichtserklärung an das ukrainische Kulturministerium mit der Bitte, ukrainische Künstler:innen ins europäische Ausland ausreisen zu lassen. Männliche ukrainische Bürger im Alter von 18 bis 60 Jahren sind zu diesem Zeitpunkt mit einem Ausreiseverbot belegt. 1 Die unterzeichnenden Theater wollen den Künstler:innen des angegriffenen Staats darüber hinaus eine Plattform zur Verfügung stellen und ihre Kunst zugänglich machen. Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks sowie Artikulationen ukrainischer Perspektiven auf den Krieg seien aufgrund der Lage vor Ort erheblich eingeschränkt, so die Autor:innen Birgit Lengers und Stas Zhyrkov. 2 In Europa herrscht ein Angriffskrieg, die Coronapandemie scheint noch nicht ausgestanden und die Klimakrise verschärft sich zunehmend. Was macht Theater in einer Gegenwart voller Krisen, einer Gegenwart, in der der deutsche Bundeskanzler eine „Zeitenwende“ ausruft? 3 In meiner Masterarbeit habe ich gefragt, wie deutsche Stadt- und Staatstheater infolge der Absichtserklärung (politisch) agieren. Dafür habe ich drei Häuser genauer untersucht und ihre Handlungen im Kontext des Ukrainekriegs anhand von Expert:inneninterviews rekonstruiert. 4

Theater lernt als Netzwerk Die Absichtserklärung zahlreicher Theater gegenüber dem ukrainischen Kulturministerium erwirkt, dass eine Gruppe männlicher Künstler aus der Ukraine ausreisen darf. Die Künstler dürfen das Land verlassen, weil die unterzeichnenden Theater zusichern, deren Kunst eine Plattform zu bieten. Was geschieht in der Folge? Die Theater setzen Themen und Inhalte. Sie bestimmen, wer bei ihnen künstlerisch tätig ist. Sie setzen sich in künstlerischen Aktionen, in Diskussionen oder Statements mit Themen wie dem Verhältnis von Ukraine und Russland auseinander, mit der

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­Annexion der Krim und dem Euromaidan, mit der Geschichte der Ukraine, zivilgesellschaftlichem Widerstand, Pazifismus und weiteren. Diese Inhalte werden von Direktion, Dramaturgie und/oder den beteiligten ukrainischen Künstler:innen getroffen. In den ersten Kriegswochen drängen zahlreiche Fragen auf die Agenda der Theater. Sie fragen sich, ob sie in dieser Situation russische Künstler:innen engagieren wollen, die sich nicht vom Angriff distanzieren, ob sie in dieser Situation Tschaikowsky spielen, ob sie tatsächlich für ein Gastspiel nach Moskau fahren oder ob sie ihre Bühne auch Ukrainer:innen mit nationalistischen Haltungen zur Verfügung stellen wollen. Die Absichtserklärung legt nahe, inhaltliche Entscheidungen an Kulturschaffende aus der Ukraine zu delegieren. Und tatsächlich: Die Erfahrungen, Perspektiven und Meinungen ukrainischer Kulturschaffender sind in der ersten Hälfte des Jahres 2022 auch auf Bühnen in Deutschland vertreten. Die Theater verhalten sich zu Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind oder fliehen wollen. Indem sie Künstler:innen engagieren, verschaffen sie ihnen Arbeit. Ein Theater nimmt sogar geflüchtete Künstler:innen, teilweise mitsamt Familien, in seinen Gästewohnungen auf. Die Kolleg:innen vermitteln ihnen Jobs in der Stadt und ermöglichen ihnen die Ankunft und ein Sozialleben vor Ort. Die Theater sammeln Spenden und bestimmen über deren Verwendung. Um Sachspenden weiterzuleiten, kooperiert ein Staatstheater mit einem Netzwerk, das im Kontext der Migrationsbewegung im Jahr 2015 entstanden ist. Der beteiligte deutsch-ukrainische Verein weiß beispielsweise, welche Güter wo in der Ukraine benötigt werden. Mit solchen Kooperationen legen die Theater fest, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für unterstützungswürdig oder besonders wichtig halten. Die Theater positionieren sich öffentlich. Sie verbreiten im Rahmen von Aufführungen, Diskussionen oder Solidaritätserklärungen Perspektiven auf den Ukrainekrieg. Sie vertreten die Forderungen der Absichtserklärung: Die unterzeichnenden Theater verurteilen „die Verletzung des Völkerrechts und die brutalen Militäraktionen“ der Russischen Föderation. Sie sprechen sich ausdrücklich gegen die Leugnung des Kriegs durch den russischen Staat und „für Freiheit, Demokratie und eine offene Gesellschaft“ aus. Ihr Ziel ist neben der Verbreitung und Bewahrung ukrainischer Kunst „die künstlerische Integration der Ukraine in die europäische Kulturgemeinschaft“. 5 Auch für ihre genannten Fragen im Umgang mit russischen Künstler:innen entwickeln die Theater Lösungen und positionieren sich damit zwangsläufig. Auf Anraten einer ukrainischen Künstlerin wird auf einer Theaterwebsite zeitweise unter anderem empfohlen, an das ukrainische Militär zu spenden. Die Positionierung eines Theaters ist ein Aushandlungsprozess in Gesprächen innerhalb der Leitung oder in der Auseinandersetzung mit Mitarbeitenden. Die publizierten Statements und andere Aktionen kommunizieren die Haltung eines Theaters nach innen wie nach außen. In ihren Aktionen konzipieren die Theater Zielgruppen. Wenn in einer szenischen Lesung ukrainisch- und deutschsprachige Schauspieler:innen auftreten (und in die jeweils andere Sprache übertitelt werden), richtet sich eine solche Veranstaltung gleichermaßen an deutsch- wie ukrainischsprachige Menschen. Weitere Zielgruppen sind beispielsweise geflüchtete Menschen, Schüler:innen oder Journalist:innen. Für einen Willkommensbrunch kooperiert ein Theater mit einem lokalen Verein. Dieser Verein unterstützt geflüchtete Familien und deren Gastfamilien. Die gemeinsame Initiative erreicht 200 Ukrainerinnen und Kinder. Ein anderes Theater

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gründet ­zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung und geflüchteten Kulturschaffenden die Ukrainian Artistic Task Force. Dieses Vermittlungsportal soll Gesuche von geflüchteten Kulturschaffenden mit Stellenangeboten von Kulturorganisationen in Deutschland verbinden. Die Theater erzeugen so eine eigene Öffentlichkeit. Sie entsteht in verschiedenen (Kommunikations-)Räumen – auf der Theaterbühne samt Auditorium, auf der digitalen Präsenz der Theater (also auf der Internetseite, dem YouTube-Kanal, dem Instagram-Profil und dergleichen mehr), am Theatergebäude selbst (durch zahlreiche ukrainische Flaggen) oder in den Medien, die berichten. Die Aktionen im Kontext des Kriegs verändern diese Öffentlichkeit. Die Wahl der Kooperationspartner:innen des Theaters beeinflusst demnach die Konzeption von Zielgruppen und kann eine Öffnung des Hauses zur Folge haben. Die Theater lernen als Netzwerke, die sich im Kontext ihrer Ukraineaktionen verändern. Sie umfassen Mitarbeiter:innen aller Abteilungen und Gewerke, Künstler:innen, die aus der Ukraine geflohen sind, und Kulturschaffende in der Ukraine, die von dort aus an Aktionen beteiligt sind. Die Netzwerke umfassen aber auch lokale Kulturakteur:innen, Organisationen für Transporte von Hilfsgütern, das Goethe-Institut, mit dem ein Theater Sprachkurse anbietet, NGOs wie Rotary, um gemeinsam Spenden zu sammeln, staatliche Stellen oder auch ein Künstler:innenhaus, mit dem ein Theater ein Stipendienprogramm realisiert.

Theater organisieren ist eine politische Praxis Einige Beobachter:innen des Kriegs vertreten die Ansicht, dass die Unterdrückung von Kunstausübung Teil der russischen Strategie in der Ukraine sei. Unabhängig davon gilt: Die Bombardements von Kultureinrichtungen, die Belagerungen von Städten schränken Kulturschaffende massiv ein. Ukrainischen Künstler:innen und ihrer Kunst eine Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen hat also eine politische Dimension. Ausgehend von den oben genannten Beobachtungen lassen sich folgende politische Handlungen in den Theatern beschreiben: a) Theater versammeln Akteur:innen, damit versammeln sie auch Menschen mit verschiedenen Haltungen, Ressourcen und Potenzialen. b) Theater framen Situationen, unter anderem als politische Krise oder als humanitäre Krise. c) Theater treffen Entscheidungen. d) Sie programmieren Themen und Inhalte. e) Sie positionieren sich selbst. f) Sie arbeiten zum Erreichen ihrer Ziele mit anderen Organisationen zusammen. Die Handlungen der Theater haben Folgen für geflüchtete Künstler:innen, für den Austausch zwischen Ukraine und Deutschland, für die Theateröffentlichkeit. ­Theater haben also einen Gestaltungsspielraum, auch abseits der Inszenierungen, die sie produzieren. Und sie tragen Verantwortung für die politischen Entscheidungen, die sie bewusst oder unbewusst treffen.

Vernetzung fördert Fantasie Ich beschreibe ein Theater zusammenfassend als Netzwerk, das andere Entitäten und damit Ressourcen versammelt und organisiert, wobei es relativ stabil und

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­offen ist. An der Netzwerkstruktur eines Theaters wird deutlich, dass es nicht nur auf einen Ort oder einen Betrieb beschränkt ist. Theater ist in gewisser Hinsicht ein dislokales Phänomen, das Dualismen wie innen/außen, global/lokal, damals/heute, mikro/makro, aber auch künstlerisch/politisch aufhebt. Beschriebene Handlungen und Aktionen eines Theaters werden von Handlungen vor 2022, von Künstler:innen in der Ukraine, Stiftungen, Vereinen, staatlichen Stellen und dergleichen mehr mitbedingt. Die Akteur:innen innerhalb dieses Theaternetzwerks vergrößern also gegenseitig ihre Handlungsspielräume. Sie teilen Kontakte, Wissen, Geld, Räume, Ideen für Aktionen und mehr. So ist das Netzwerk Theater verwoben mit der Welt, es ist ein Ergebnis von und ein Katalysator für Vermittlung. In ihren Aktionen und Handlungen entwerfen sich die Theater selbst. Sie entwickeln eine Vorstellung davon, was Theater ist (sein soll) und wer bzw. was dort handelt (handeln soll), welchen Themen sich Theater öffnet (öffnen soll). Abstrahiert lässt sich festhalten: Das Netzwerk Theater zeichnet sich durch Praktiken des Reagierens, Involvierens, Kuratierens, Vermittelns und Positionierens aus, durch Praktiken des Versammelns und Organisierens, des Ermöglichens und Unterbindens. Die Untersuchung bestätigt, dass ein Stadt- bzw. Staatstheater verschiedene Potenziale hat, die nicht nur die Produktion von Aufführungen umfassen. Es stellt sich für Theaterpraktiker:innen und Kulturpolitiker:innen daran anknüpfend die Frage, inwiefern beispielsweise Zielvereinbarungen diese Potenziale widerspiegeln können oder sollen. Welche Aufgaben sollen Stadt- bzw. Staatstheater innerhalb einer Stadt oder in anderen (beispielsweise translokalen) Zusammenhängen wahrnehmen? Wofür sollen sie ihre Netzwerke einsetzen? Was gilt für den öffentlichen Träger neben Aufführungen als legitimes Produkt eines Theaters? Was also wäre zu tun im Theater der Krisen? Die Häuser könnten erstens ihr Engagement gezielt ausbauen (indem sie weniger produzieren) und zweitens strategische Kooperationen eingehen. Vernetzung erweitert die Handlungsoptionen der Theater, ihre Reichweite, ihre Spielpläne, ihre Fantasie. Die Vorstellung dessen, was Theater ist, würde sich verändern: Das vernetzende Theater könnte Möglichkeitsraum sein, Impulsgeber und Ressource für politische Initiativen, Austragungsort von Konflikten oder Akteur in der Kulturdiplomatie.

FUSSNOTEN 1 Vgl. Auswärtiges Amt: „Ukraine: Reisewarnung/Ausreiseaufforderung“, Auswärtiges Amt, 6. Juli 2022, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/ukrainesicherheit/201946. 2 Vgl. Lengers, Birgit und Stas Zhyrkov: „Absichtserklärung“, 14. März 2022, https://www.deutschestheater.de/programm/aktuelles/absichtserklaerung-ukraine/. 3 Scholz, Olaf: „Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022“ (Deutscher Bundestag, 27. Februar 2022), https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356. 4 Die interviewten Kolleg:innen haben offen über die Ereignisse an ihren Häusern gesprochen, weil die Namen der untersuchten Theater nicht publiziert werden. 5 Lengers und Zhyrkov: „Absichtserklärung“.

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OPEN TABLE

Kulturpolitik of the Future Neue Rahmenbedingungen für das Theater im 21. Jahrhundert Georg Diez, Hans-Jürgen Drescher, Ute Gröbel, Lisa Jopt und Jonas Zipf

Georg Diez Eignen sich die aktuellen politischen Rahmenbedingungen, die Theaterförderung und die Struktur der Theater für das 21. Jahrhundert – oder denkt man Kulturpolitik innerhalb von Rahmenbedingungen, die schon zu alt sind für unsere Gegenwart? Ich habe den Eindruck, dass Theater sehr viel langsamer dabei sind, ins 21. Jahrhundert vorzudringen, als andere Kulturinstitutionen. Stadtbibliotheken zum Beispiel sind radikal anders, vor allem in nordeuropäischen Ländern – Orte wahrer Demokratie, Orte der Öffnung, der Neudefinition des Lernens und Miteinanders. Im Theater ist das vielleicht eher das Ideal. Wie ist, auf dieser Grundlage, Ihre jeweilige Vision formuliert von Kulturpolitik oder Kulturinstitutionen im Jahr 2040? Ute Gröbel Meine Vision für 2040 ist, dass die Freien Darstellenden Künste die Anerkennung erfahren, die sie verdienen. Sie sind die zweite Säule des deutschen Theatersystems. Deshalb sollen sowohl ihre Künstler:innen als auch ihre Institutionen auskömmlich finanziert sein und zwar in einer Form, die ihnen wirklich das freie Arbeiten ermöglicht, das sie im Namen tragen. Lisa Jopt Meine Vision wäre, dass die Kulturförderung keine freiwillige Leistung ist, sondern zu den Pflichtaufgaben der Kommunen gehört. Meine andere Vision wäre, dass es zum Selbstverständnis einer Branche gehört, Mitglied in einer Gewerkschaft oder einem Interessenverband zu sein. Künstlerisch Beschäftigte haben nämlich eine Gewerkschaft. Das steht zwar unserem Ethos als Soloexzellenz entgegen, ist aber so. Die Bühnengewerkschaft GDBA ist jetzt 150 Jahre alt, wir sind eine der ältesten Gewerkschaften in Deutschland, und ich bin die erste weibliche Präsidentin. Wir verhandeln den Tarifvertrag NV-Bühne, also die Rahmenbedingungen für die künstlerisch Beschäftigten an den Landes-, Stadtund Staatstheatern. Und da gibt es auch eine Verbindung zur Freien Szene. Die

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Honoraruntergrenze des BFDK orientiert sich an der Mindestgage des NV-Bühne. Aktuell fordern wir Honorarstufen, damit Berufserfahrung angemessen entlohnt wird. Menschen, die mehr Erfahrung haben, sollen sich nicht immer unten einsortieren, in der Hoffnung, so ihren Fördergeldantrag bewilligt zu bekommen. Jonas Zipf Mir ist es nicht so wichtig, dass wir erst mal über Geld reden. Das ist ja üblich bei kulturpolitischen Diskussionen. Und üblich ist auch, dass man immer mehr fordert. Die Annahme ist, die meisten Probleme löse man mit Wachstum. Ich glaube, das funktioniert nicht. Wenn wir über das Theater im Jahr 2040 reden, dann müssen wir darüber reden, wie wir die Transformation in den Feldern Digitalität, Inklusion und Nachhaltigkeit gestalten und nicht erleiden. Vor allem also eine Transformation der Apparate, Betriebe und Strukturen. Im Moment gibt es eine Menge Forderungen und Ideen, ganz viel Kraft auf der Straße, in der Zivilgesellschaft, im Aktivismus, auch innerhalb der Theaterinstitutionen, jedoch relativ wenig Bereitschaft, wirklich Verantwortung für die Betriebe und Strukturen zu übernehmen. Deswegen ist meine These, dass der Theaterbetrieb der Zukunft einer ist, der nicht nur Resonanz zwischen Kunst, Künstler:innen und Publikum herstellen kann, sondern auch innerhalb des Betriebs. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Dahin werden wir aber nie kommen, wenn wir nicht endlich aufhören zu wachsen. Das gilt für die gesamte Gesellschaft, aber es gilt auch ganz besonders für den Kultur- und Kunst- und Theaterbetrieb. Wir produzieren so viel, dass wir nicht ins Nachdenken und Machen kommen. Also müssen wir in eine Postwachstumsphase eintreten. Hans-Jürgen Drescher Meine Vorstellung ist, dass sich aus der Perspektive des Jahres 2040 grundlegende Veränderungen von Strukturen und Inhalten, die für die Gesellschaft im Allgemeinen und für Kunst und Kultur im Besonderen relevant sind, ergeben haben. Wir haben gelernt, dass Wandel permanent und fluide ist. Wir haben auch gelernt, dass wir unser Denken und Handeln nicht von Krisennarrativen vereinnahmen lassen. Kulturpolitik hat eingesehen, dass Transformation notwendig ist, und hat sie proaktiv gefördert. Kulturpolitik hat Transformationsprozessen keine Zwecke vorgeschrieben. Sie hat Kunst und Kultur zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Aufgaben motiviert. Insbesondere die Theater haben begriffen, dass sie zu den wichtigen Playern gesellschaftlichen Wandels gehören. Aspekte der Internationalisierung, Diversität, Digitalität, Inklusion und Nachhaltigkeit haben nicht nur in die Strukturen der Theater Einzug gehalten, sondern auch in die künstlerische Praxis. Der Umgang mit Zeit ist entscheidend geworden. Kulturpolitik hat davon Abstand genommen, die Bühnen unter Produktionsund Quotenstress zu setzen. Kulturpolitik hat die Theaterhochschulen in ihrem Bestreben unterstützt, zu künstlerischen und gesellschaftlichen Zukunftslaboren zu werden, der Verschulung durch den Bologna-Prozess Einhalt geboten und sichergestellt, dass Ausbildung auf der Eröffnung von Freiräumen beruht. Georg Diez Ich möchte nun zunächst einmal auf die Freie Szene und ihr Selbstverständnis schauen. Ist ihr Ziel, sich eine Art von Förderung, einen Platz im

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­bestehenden Rahmen zu sichern? Oder geht es darum, die Freiheit in der Nische zu erhalten? Ute Gröbel Entstanden ist das freie Theater aus dem Impuls heraus, die Institutionen zu verlassen und außerhalb der Institution Theater zu machen, um frei zu sein in Fragen der Arbeitsweise, der Ästhetik und auch ganz bewusst andere Themen setzen zu können, politisches Theater zu machen, unmittelbares Theater zu machen, Theater auch für das nicht-bürgerliche Publikum zu machen – auf der Straße, im Viertel, auf dem Land. Und das freie Theater war darin auch sehr erfolgreich bis heute. Alles, was wir heute unter den innovativen Theaterformen verstehen, das dokumentarische Theater, das partizipative Theater, das inklusive Theater, das Theater im öffentlichen Raum, also alle Theaterformen, die diese Guckkastenbühne verlassen, sind im Ansatz im freien Theater entstanden. Aber ich spreche hier über eine Entwicklung von 50 Jahren und natürlich fanden in dieser Zeit auch Institutionalisierungsprozesse statt. Eigene Häuser, eigene Institutionen wurden gegründet, zum Beispiel freie Produktionshäuser wie Kampnagel, das inzwischen interessanterweise auch ein Staatstheater ist. Was bedeutet das wiederum für unser System, wenn es wieder Häuser schafft, wenn es in Häuser zurückkehrt, wenn es ebendiese Strukturen und auch diese Hierarchien schafft, die es ja eigentlich abschaffen wollte? Das Interessante ist, dass das immer noch ein offener Prozess mit vielen verschiedenen Akteur:innen ist, weil die Szene sich nicht auf diese Institutionen beschränkt. Es gibt eben die freien Künstler:innen, die freien Gruppen, die sich ihre Produktionsbedingungen selbst schaffen. Ich glaube, zentral ist immer noch, dass sich viele Akteur:innen genau Freiheit im Arbeiten erhalten möchten und selbst setzen wollen, wie sie arbeiten, mit wem sie arbeiten und welche Themen sie bearbeiten. Das Politische ist auch immer noch Teil des Freien Theaters. Dort soll keine Diskrepanz entstehen zwischen dem, was auf der Bühne behauptet wird, und dem, was hinten im Betrieb passiert. Das ist ja, was in den Stadt- und Staatstheatern sehr stark diskutiert wird. Georg Diez: Entsteht im Kontext des Freien Theaters also eine größere transformatorische Vision? Ute Gröbel: Natürlich sprechen wir mit Blick auf das Freie Theater immer noch über eine Nische im Vergleich zum restlichen Theater. Aber ich glaube schon, dass das Freie Theater ein Nukleus sein kann für etwas Neues. Dort können Impulse entstehen, in dem Abseitigen, in dem Kleinen, in dem Experimentellen. Unser Anspruch ist nicht, irgendwie die gesamte Gesellschaft zu transformieren. Auch wenn nur eine kleine Gruppe von Zuschauer:innen ihre Perspektive auf die Welt verändert durch eine Erfahrung, die sie bei uns machen, ist das schon ein wichtiger Impuls. Und unsere Praxis ist immer durchlässig für verschiedenste Menschen, die an Projekten mitwirken, auch für Lai:innen. Diese Durchlässigkeit ist für uns extrem wichtig. Wie kann man auf den Ort, an dem man Theater macht, reagieren? Welche Themen bringen die Künstler:innen ein? Also nicht wir als Produktionsort setzen die Themen, sondern wir greifen das auf, was an uns herangetragen wird.

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Das hängt mit unserer spezifischen Produktionsstruktur zusammen. Wir haben selbst keinen künstlerischen Etat, sondern sind drittmittelfinanziert über die viel gescholtene Projektförderung. Was die Projektförderung wiederum mit sich bringt, ist, dass Themen sehr schnell gesetzt und auf die Bühne gebracht werden können, das ist ein sehr flexibles System. Deswegen kann man schon sagen, dass das, was bei uns gezeigt wird, sehr nah dran ist an aktuellen Diskursen oder bestimmten Brennpunkten. Manchmal erreichen wir das Publikum, das wir erreichen wollen, manchmal auch nicht. Natürlich ist es ein Problem, dass sich auch das Freie Theater in einer Bubble befindet, auch in der Freien Szene wird viel für die eigenen Leute produziert, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber trotzdem würde ich immer wieder behaupten, dass sich das Freie Theater mehr als Plattform für verschiedene Gruppen versteht. In diesen Produktionsstrukturen kann eine Vielfalt von Themen besser gesetzt oder besser abgebildet werden als in anderen. Georg Diez Gewerkschaften, hieß es, waren lange in der Krise. Was funktioniert aus Ihrer Sicht, Lisa Jopt, an diesem Modell noch? Ist die Gewerkschaft eine Organisationsform für das 21. Jahrhundert? Lisa Jopt Yes, it is! Ich habe lange außerhalb der Gewerkschaftsstruktur gewirkt, weil ich den Gewerkschaftssprech abstoßend fand und nicht wusste, wie ich die Organisation für die Verbesserung meiner konkreten Arbeitsbedingungen nutzen kann. Deswegen haben wir eine Küchentischbewegung gegründet – das ensemble-netzwerk. Wir hatten uns nach dem Motto zusammengeschlossen: „Ich liebe Theatermachen, aber so wie es produziert wird, macht es keinen Spaß.“ Es ist nicht funny, sich keinen Biokäse kaufen zu können, weil man mit 2000 Euro Mindestgage einfach ständig nur in der Miese ist. Außerdem bestimmen andere, welche Rollen ich spiele. Wahrscheinlich hätte ich besser in die Freie Szene gepasst, aber ich bin als Schauspielerin am Stadttheater gelandet. Dort habe ich ständig Menschen um mich herum gesehen, die keine Lust mehr hatten auf diese Art des Produzierens. Wenn Intendant:innenwechsel ist, kann das ganze künstlerische Personal, ohne dass man sich mit ihnen beschäftigt, entlassen werden. Der Begriff der Kunstfreiheit, darauf beruft man sich nämlich, wird nur mit einer Personalie verbunden: der Intendantin oder dem Intendanten. Als Gewerkschaft fragen wir uns, ob die Kunstfreiheit nicht eigentlich an die Institution an sich, die Belegschaft gebunden ist. Du hast gefragt, ob Gewerkschaften noch wichtig sind. Wir hätten eine Sieben-Tage-Woche, wenn es keine Gewerkschaften geben würde. Es würde kein 13. Monatsgehalt geben ohne Gewerkschaften. Es gäbe keinen Mutterschutz ohne Gewerkschaften. Alles, was immer so ein bisschen kompliziert ist, mit Paragrafen zu tun hat, was aber am Ende gute Rahmenbedingungen schafft, weil man sich regenerieren kann oder Sozialschutz genießt, haben Gewerkschaften gemacht. Das fällt nicht vom Himmel. Wir müssen zum Beispiel dieses Vertragswerk, den NV-Bühne, grundlegend neu verhandeln. Außerdem stellen wir uns die Frage, wie wir das Erpressungsnarrativ, dass die Theater kaputtgehen, wenn wir mehr Geld fordern, beenden. Oder dass Stellen abgebaut werden müssen, wenn die Künstler:innen völlig berechtigt bessere ­

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­Gagen ­fordern. Wir Theaterschaffende sind so erpressbar, weil wir unsere Berufe lieben. Dafür arbeiten wir auch für weniger Geld – unsere Währung ist Sichtbarkeit und Ausdrucksmöglichkeit. Doch die kommende Generation ist ganz anders. Junge Theaterschaffende, Studierende sind viel mehr befasst mit strukturellen Themen und lassen sich vieles nicht mehr gefallen. Jonas Zipf Wir müssen darüber sprechen, was Transformation heißt. Fast niemand beschreibt, was das eigentlich ist. Transformation passiert, ob wir wollen oder nicht. Klimawandel passiert. Digitalität passiert – damit meine ich nicht Digitalisierung, den Aufbau von Software- und Hardware-Kapazitäten, sondern eine alterierte Art des Kommunizierens und Arbeitens. Diversifizierung passiert. Das sind alles Transformationen, die laufen, ob wir wollen oder nicht. Entweder, sie ereignen sich by design oder aber by desaster. Es gibt vielleicht noch ein Zeitfenster, in dem die Politik die Chance hat, diese Prozesse zu gestalten. Dafür existiert ausreichend viel Wissen, zum Beispiel in den Freien Darstellenden Künsten. Aber die Frage, die sich stellt, ist, ob die Herausforderungen auch einige Etagen weiter oben begriffen werden. Es sind gewählte Vertreter:innen, die Entscheidungen treffen müssen. Die sind im Moment komplett visionslos, wenn es um Kulturpolitik geht. Da gibt es keine Übersetzung dieser Transformationsthemen: Wir müssten darüber sprechen, wie Kulturentwicklungspläne, Satzungszwecke, Geschäftsanweisungen etc. auf Landesebene und in Kommunen aussehen können, mit klaren, verbindlichen Zielen. Denn die gibt es fast gar nicht. Wenn es Kulturentwicklungspläne gibt, dann sind sie häufig nichtssagend. Wir müssten darüber sprechen, wie Leitungen von Häusern mit Rahmenverträgen nicht nur zu irgendwelchen Kennziffern wie Einspielergebnissen verpflichtet werden, sondern zu Entwicklungszielen. Personalund Organisationsentwicklung beginnt doch mit kulturpolitischen Zielsetzungen, die ich aber nicht sehe. Welche Kompetenzen werden vorausgesetzt bei Auswahlprozessen und welche Zielvereinbarungen gibt es für Museumsdirektionen, für Intendant:innen? Da ist wenig Steuerung, im Fall der notwendigen Transformation auf den Feldern Nachhaltigkeit, Digitalität und Diversität fast gar keine. Und das liegt daran, dass auf politischer Ebene Kompetenz fehlt, ich will fast sagen, Dilettantismus herrscht. Sind wir ehrlich: Kultur ist ein Politikfeld, das gesellschaftlich wenig zählt. Damit macht man keine politische Karriere. Georg Diez Ich frage mich nur, warum Kulturpolitik oft so schalmeienhaft ist und von Kultur als etwas spricht, das automatisch gut ist und heilend – dabei sehen wir ja überall, dass Kultur so umstritten ist, dass wir fast täglich von neuen Kulturkriegen reden. Lisa Jopt Mit dem Bund der Szenograf:innen und der Dramaturgischen Gesellschaft haben wir uns 2017 die Aktion 40.000 Theatermitarbeiter:innen treffen ihre Abgeordneten ausgedacht. Diese Idee hat sich bei einer unfinanzierten Konferenz in einem Bauernhaus am Lagerfeuer entwickelt. Wir treffen nun jedes Jahr unsere Abgeordneten und informieren sie über die Bedeutung und die Bedingungen von Theater. Das kann jede und jeder. Jeder Mensch hat das Recht, seine Abge-

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Open Table Kulturpolitik of the Future


ordneten zu treffen. Das Ergebnis war total erstaunlich, weil die Abgeordneten wahnsinnig dankbar dafür waren, dass wir ihnen erzählt haben, was wir Theaterschaffende vormittags machen oder was wir netto verdienen oder was wir alles so studiert haben, denn das wissen viele nicht. Es war aber auch wichtig, dass wir ihnen Begriffe an die Hand geben, wie man für Kultur argumentiert. Ein Satz, der sehr bekannt ist, lautet: „Theater sind Erfahrungsräume der Demokratie.“ Georg Diez: Aber das stimmt doch schon gar nicht. Theater sind keine demokratischen Räume, sie sind Ausschlussräume, innerstädtische Räume, vor denen man eine gewisse Angst hat. Theater sind keine integrativen Räume, keine Orte, an denen gesellschaftliche Konflikte ausgehandelt werden. Lisa Jopt: Inhaltlich schon. Georg Diez Aber die Frage ist, was sich von den auf inhaltlicher Ebene formulierten Ansprüchen oder Visionen auch im Betrieb, in der Struktur der Theater selbst niederschlägt. Hans-Jürgen Drescher Wir müssen nicht nur Strukturen und Inhalte künftigen Theaters neu denken, sondern auch die Architektur der Theaterbauten. Schon vor vielen Jahren wollte Pierre Boulez die Opernhäuser in die Luft sprengen und hat damit sowohl die Institution als auch ihre bauliche Hülle gemeint: eine Schwellenangst verursachende Architektur. Fast überall im Lande sind die in der Nachkriegszeit entstandenen Theater marode und müssen saniert oder abgerissen werden. Für die Stadtgesellschaften erwächst hieraus die Chance, Theaterbauten neu zu konzipieren. Das Frankfurter Architekturmuseum hat in einer wichtigen Ausstellung neue Theaterarchitektur, vor allem aus Skandinavien, vorgestellt: eine offene, transparente Architektur, die alle Bürger:innen zur Teilhabe einlädt, die vielfältige kulturelle Aktivitäten zulässt. Auch hier ist Kulturpolitik aufgerufen, neue architektonische Konzepte zu ermöglichen. Jonas Zipf Ich möchte benennen, warum Kulturpolitik so wenig konkret – wie Georg Diez es nennt: so schalmaienhaft – ist. In der Regel reden wir über etwas, was immer weiterwächst. Wenn kein Krieg stattfindet oder keine andere große Krise, dann ist Kultur etwas, was einfach wächst. Und das kostet immer zusätzlich. Jede Innovation, jedes Problem scheint Wachstum zu erfordern. Auch die Logik der Bühnengewerkschaft ist Wachstum. Ihr braucht das Wachstum, damit ihr höhere Löhne verhandeln könnt. Ohne Wachstum könnten diese Politiker:innen nicht mit euch reden und Antworten geben, auch nicht auf die Forderung nach auskömmlicher Finanzierung der Freien Szene. Das ist also ein Paradox. Das Paradox des prästabilisierenden Wachstums. Solange alles über Wachstum lösbar zu sein scheint, gibt es keine echte und konkrete Diskussion und Auseinandersetzung – so lange lässt sich alles zur größten Zufriedenheit aller lösen. Aber mit der Realität der Bedürfnisse der gesellschaftlichen Zielgruppen und deren Veränderung hat das irgendwann nichts mehr zu tun …

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Ute Gröbel Wir haben darüber gesprochen, dass die Kulturpolitik aktuell größtenteils ausfällt als Partnerin für den Prozess der Transformation. Und die Frage ist wirklich, wie man die Kulturpolitik dahin bringt, zur Akteurin des Wandels zu werden. Mal davon abgesehen, dass man einzelne Abgeordnete aufsucht und berät. Es ist irgendwie schade, dass keine Vertreter:innen der Kulturpolitik anwesend sind, denn diese Frage hätte ich gerne gestellt. Georg Diez: Welche Allianzen erhofft ihr euch? Lisa Jopt Eine meiner wichtigsten Allianzen ist tatsächlich jene mit dem Publikum. Die Zuschauer:innen sind auch Wähler:innen. Wenn sie informiert sind über unsere Themen oder darüber, was wir brauchen, dann können sie bei der nächsten Wahl Entscheidungen treffen. Auch sie können die Parteien nach deren kulturpolitischen Meilensteinen fragen. Jonas Zipf Mir wäre es schon sehr, sehr wichtig, dass in der Politik insgesamt begriffen würde, dass im Kulturfeld die gesellschaftliche Transformation gestaltet werden kann. Im Moment begreift das leider vor allem die AfD. Sie versteht, dass man kulturpolitische Positionen revisionistisch besetzen kann und mit konservativen Erwartungshaltungen anschlussfähig bis weit in die Mitte der Gesellschaft wird: Wenn Politiker:innen der AfD beispielsweise den „Gender-Gaga“, die „Denglisierung“ der deutschen Sprache oder das „Blut- und Sperma-Regietheater“ verunglimpfen, dann ist sie an diesen einzelnen Punkten schlicht und ergreifend mehrheitsfähig. Das ist ein Einfallstor, das, was Harald Welzer eine „Shifting Baseline“ nennt: Die viel beschworene Brandmauer nach rechts wird löchrig. Und das nicht zuletzt, weil andere Parteien dieses kulturpolitische Vakuum regelrecht anbieten. Kulturpolitik ist für die Rahmenbedingungen und Zielvereinbarungen zuständig. Also beispielsweise dafür, Leitungen zu besetzen, die nachhaltige Personal- und Organisationsentwicklung betreiben, und nicht diese Intendantenzampanos. Es wäre so wichtig, mal danach zu fragen, welche Managementkompetenzen, welche Führungs- und Personalentwicklungskompetenzen Menschen haben, die in Theatern Verantwortung tragen. Keine Geschäftsführung eines anderen kommunalen Unternehmens, kein Oberbürgermeister ist so unkontrolliert in seiner Machtausübung wie Intendant:innen. Intendant:innen werden nach künstlerischen, inhaltlichen, politischen und manchmal symbolischen Kriterien ausgewählt und nicht nach ihrer Kompetenz, einen Theaterbetrieb zu entwickeln. Dazu müsste sich die Politik verhalten. Das schafft sie auch bei jeder Besetzung von Geschäftsführer:innen für Stadtwerke oder Verkehrsbetriebe.

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4 Digitalität gestalten


OPEN TABLE

Uncanny Valley

Konzepte von Mensch und Technologie im Theater Malena Große, Benno Heisel, Tina Lorenz, Ilja Mirsky und Chris Salter

Sich Technologie nahe fühlen Ilja Mirsky Ich behaupte, dass interaktive Spieleplattformen wie Gather.town auch durch die Verwendung von etablierten Ästhetiken an Popularität gewonnen haben. Gather.town spielt durch das eigene Erscheinungsbild ästhetisch auf Minecraft und auf alte, verpixelte Ästhetiken in Gamingkonsolen an. Wenn man das weiterdenken würde, könnte man sich fragen, ob wir im Jahr 2040 immer noch an den visuellen und interaktiven Standards aus den 2010er Jahren hängen würden. Wie nimmst du das in deiner Praxis wahr, Malena? Malena Große 2010 war ich 13 Jahre alt, da waren gerade Die Sims populär, und ich glaube, es kam gerade Die Sims 4 heraus. Die Augmented Reality in meinem neuesten Stück hat tatsächlich Ähnlichkeiten mit der Sims-Ästhetik. Die Sims lösen bei mir ein Gefühl von Nostalgie aus, weil ich das Spiel nicht mehr spiele, es für mich also nur noch eine Erinnerung ist. In meiner Arbeit verknüpfe ich diese Erinnerung mit etwas, das ich noch gar nicht kenne. Vielleicht ist es für Menschen einfacher, etwas vermeintlich Neuem oder Unbekanntem in einer vertrauten Ästhetik zu begegnen. Und vielleicht ist die Verwendung bekannter digitaler Ästhetiken eine Möglichkeit, sich dem Unbekannten ein bisschen angstfreier nähern zu können. Ilja Mirsky In dem Stück, das du gerade erwähnst, Hallo – Ganz befreit vom ­Käthchen von Heilbronn, verwebst du Heinrich Kleists Käthchen von Heilbronn mit digitalen Technologien wie Augmented Reality (Erweiterte Realität) und künstlicher Intelligenz bzw. maschinellem Lernen.

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Malena Große Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn eine der Figuren eine künstliche Intelligenz ist. Graf Wetter vom Strahl aus dem Käthchen von Heilbronn ist in meinem Stück diese künstliche Intelligenz. Er versucht zu lernen, was ein Käthchen von Heilbronn ist. Wir verknüpfen die Fragen nach dieser Käthchen-Figur, die bei Kleist sehr wenig spricht, mit der Frage von Computern oder Machine Learning. Machine Learning basiert auf der Kombination von Daten. Wir versuchen, dieses Sich-Entziehen oder diese Unlesbarkeit von Käthchen zu verdeutlichen, indem wir es mit dem künstlichen Graf Wetter vom Strahl konfrontieren, also mit einem System, das immer versucht, konkret zu werden oder eine Lesbarkeit zu erzeugen, und deshalb an Käthchen scheitert. Chris Salter Currently, we are in this period of anthropocentric criticism, where we as human beings have wrecked the planet and now we’re looking at all the so-called more-than-human things around us to save us: plants, the animals and even machines. That is interesting because Moholy-Nagy in the 1920s ‒ just like Friedrich Kiesler, just like Antonin Artaud, just like Vsevolod Emilyevich Meyerhold ‒ they all wanted to get away from the representation of the theatre and to something that was beyond purely human experience. Artaud wanted to get to an experience that would essentially transform the sensory organs and turn our human perception inside out to an almost ecstatic, spiritual sense. It’s very interesting, be­cause the combination of theatre and technology has a long history about basically ­humans, machines and the gods. We keep playing this formation again and again and again. Artificial intelligence, virtual reality ‒ all of these are the next gods we are trying to construct. But the interesting fact is that they increasingly disappear from the stage. If you go back to the deus ex machina, from what we know from fifth-century Athens, these cranes came down out of the sky to save the stupid humans who had screwed up. The gods always save the world. But now, the systems in the theatre are increasingly hidden. We don’t know what the technological gods are doing, we just know something is happening below the surface and something happens to our perception that we don’t know. So, there is all this tension that we think is all new but actually has incredibly deep historical roots. Ilja Mirsky Wie kann man mit dieser Überforderung durch Technologie, aber auch durch die inhaltliche Verwebung von Mensch, Maschine, Göttern umgehen? Benno Heisel In der Romantik, aber auch in verschiedenen Kunstbewegungen um die Romantik herum, gab es Auseinandersetzungen mit genau diesen Themen. Käthchen greift das auf, die Begriffe des Amphibs, des Artefakts, der Marionette, der Puppe ebenso. Wenn ich mich mit dieser Zeit auseinandersetze, dann vor allem mit den damaligen Versuchen, sich dem Körper zu entledigen. In der Romantik gibt es eine ganz starke Medienkunstbewegung unter dem Eindruck des Schattentheaters. Das Schattentheater hat damals viele Menschen fasziniert, weil dahinter das Versprechen stand, Körper transformieren zu können. Das, was in der Lyrik möglich war, dass sich zum Beispiel ein Schloss in einen Hexensabbat verwandelt, das ging damals in keiner anderen Form der Kunst. Vieles von dem, was jetzt möglich ist, wurde damals auch schon geträumt. Was dabei ­entstanden

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ist, ist der Begriff des Artefakts, in gewisser Hinsicht auch in seiner zeitgenössischen Bedeutung als Fehler. Also zum Beispiel der Transformationsfehler zwischen verschiedenen Codecs, der Übersetzungsfehler von einem Medium ins andere oder der Übersetzungsfehler von einer Bewegung im dreidimensionalen Raum auf eine digital übersetzte Bewegung in einem virtuellen Raum. Diese Artefakte fühlen sich für uns Menschen wahnsinnig gut an. Wir brauchen sie, um uns wohlzufühlen mit Technologie. Denn eine Technologie, die fehlerlos funktioniert, ist Horror. Ein Kugelschreiber, der nicht aufhören würde zu schreiben, würde ab einem gewissen Zeitpunkt eine existenzielle Krise auslösen. Dieser Zwischenbereich der Artefakte hat schon immer viele Menschen interessiert. Tina Lorenz Ich möchte noch einen Gedanken zur Überforderung durch Technologie ergänzen. Wir wissen ja, dass wir neue Räume anders bespielen müssen. Wir kennen unsere Bühnenräume seit Jahrhunderten. Wir wissen, der Opernchor passt nicht auf eine kleine Kammerbühne, auf der großen Opernbühne säuft ein Monolog ab. Aber wie ist das mit Virtual Reality? Warum ist in diesem Raum das Akustische zu viel? Weil das Visuelle so dominant ist. Das haben wir gelernt, als wir viel mit VR und mit 360°-Video gearbeitet haben. Die Rezipient:innen hören nicht mehr zu, sie sind beschäftigt mit dem Schauen – sich auf beides gleichzeitig zu konzentrieren fällt im virtuellen Raum scheinbar schwer. Im altbekannten Theatersaal ist das möglich, da gibt es eine eingeübte Rezeptionspraxis. Als die Pandemie angefangen hat, waren viele Theater sehr überrascht, als sie begonnen haben, online zu spielen, und gemerkt haben, dass die Zuschauer:innen gar nicht aufhören zu reden, also parallel zu chatten. Wir haben gedacht, wir kommen in einen luftleeren digitalen Raum und machen Theater und die Leute verhalten sich, wie sie das aus dem Theater kennen. Aber in anderen Räumen gibt es andere Kulturen. Wir Theaterschaffende müssen erst einmal lernen, wie unsere Kunst im digitalen Raum funktioniert, weil es ist ja eigentlich kein luftleerer Raum und es ist vor allem auch kein öffentlicher Raum. Alle zugänglichen digitalen Plattformen, die wir bespielen können, das ganze Web 2.0, ist ein privatisierter Raum. Wir sind dort User, das heißt, wenn wir gegen Nutzungsbestimmungen verstoßen, werden wir ausgeschlossen. Kunstfreiheit gibt es dort nicht. Wir hätten jetzt die historische Chance, das Web 3.0 anders zu gestalten. Dazu müssten wir uns aber erst damit auseinandersetzen, welche Räume es dort geben wird, und als künstlerische Institutionen freie künstlerische Praxis verlangen. Ilja Mirsky Weil wir bei digitaler Theaterpraxis immer auf Leistungen oder Produkte von privaten Unternehmen zurückgreifen, ist unsere künstlerische Arbeit ja auch abhängig von dem, was diese Technologieunternehmen ermöglichen. Oculus, das VR-Brillen entwickelt, gehört beispielsweise zu Meta (ehemals facebook). Tina Lorenz: Und der Konkurrent gehört inzwischen übrigens zu ByteDance, dem Konzern hinter TikTok. Benno Heisel Wir dürfen nicht vergessen, diese Fragen auch zu stellen: Für wen ist Kunst nicht zugänglich? Welche neue Form von Analphabetismus wird in digitaler

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Theater in der virtuellen Realität: 14 Vorhänge, ein VR-Monolog von Einar Schleef, in Kooperation mit dem Staatstheater Augsburg


Kunst erzeugt? Welche Formen der Ausschließung werden erzeugt? Solange die Infrastruktur denjenigen gehört, die jederzeit in der Lage sind, sie zu filtern oder abzustellen, ist die gerechtere Gesellschaft definitiv noch nicht existent oder zumindest immer prekär.

Körper als Schnittstelle Ilja Mirsky Welche Rolle spielt der menschliche Körper für Technologie als Schnittstelle zwischen der realen und der virtuellen Umgebung? Chris Salter We have two genealogies of virtual reality. One of them is the disembodied “Körper” that is all about simulation and the disappearance of the body. That was pretty much a predominant idea in the 1990s in the second wave of VR when it was still in research labs and just starting to enter into the public eye. But if you actually go back to its early roots in the 1960s, Ivan Sutherland, one of the founders of computer graphics who was first at Harvard and later at University of Utah, delivered a famous talk called The Ultimate Display to a congress of information scientists in 1965. 1 He described something that does not sound like vision but instead a kind of extended touch – what he called a “kinaesthetic display”. Thus, this second genealogy of virtual reality describes actually a completely different media technology than anything in history because here VR is based on the body as a sensory motor system. This system does not work without you moving: moving your head, moving your body. And so we tend to imagine it being disembodied because we are put in a three-dimensional world. What is starting to happen right now is mixed reality, which is a kind of mixing between the simulated and the physical. We’re working on a project called Animate about climate change and we are using a new kind of video display system developed by Meta called “video passthrough”. This system makes it possible to turn a VR headset into a kind of worn augmented reality device with cameras in the headset. The experience is very strange for the wearer/audience member – being between two worlds – the computationally generated and the physical one. Ilja Mirsky An dem Video von Animate finde ich sehr interessant, dass ihr die PassThrough-Technologie nutzt, die Mixed Reality auf VR-Brillen ermöglicht und vor nicht einmal einem Jahr etabliert wurde. Pass-Through bedeutet, die Person, die die Brille trägt, sieht ihre Umgebung, aber auch virtuelle Einblendungen durch die Brille. Chris hatte gerade über diese körperlichen Aspekte beim Einsatz von Technologien gesprochen, insbesondere in Bezug auf VR und auf Simulationen von virtuellen Umgebungen. Malena, bei deiner Produktion hast du ja bewusst Augmented Reality als künstlerisch-technologisches Mittel eingesetzt. Was waren hierbei deine Überlegungen und welche Bedeutung hast du dem Embodiment, der Körperlichkeit, eingeräumt?

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Fantasie als Teil von Technologie Malena Große Ich habe einen Text von Elfriede Jelinek gelesen, in dem sie darüber schreibt, dass es so wahnsinnig schwierig sei, künstlichen Intelligenzen einen Körper zu verleihen oder sie darzustellen. Sie haben einen Körper, es ist ja nicht so, als schweben sie irgendwo herum. Ihre Körperlichkeit ist jedoch unglaublich schwer zu greifen. Man kann einen Server auf die Bühne stellen, aber die Frage ist, was transportiert sich dann tatsächlich von ihrer Körperhaftigkeit, von Intelligenz oder von Machine Learning? Da in meinem Stück Hallo – Ganz befreit vom Käthchen von Heilbronn eine Figur durch Machine Learning performt werden sollte, stellte sich die Frage, wie diese sichtbar gemacht wird, wie wir ihren Körper behaupten. Wir haben uns entschieden, dass wir die Figur animieren und Zuschauer:innen sie mithilfe eines Tablets als Augmented-Reality-Figur auf der Bühne sehen können. In Kleists Käthchen von Heilbronn gibt es das romantische Motiv des Sich-nicht-treffen-Könnens. Das ist bei Augmented-Reality-Anwendungen besonders tragisch: Wenn man sich der durch AR dargestellten Figur nähert, entfernt sie sich, wird überdeckt oder verschwindet. Bei einer Aufführung wiederum sehen nur die Zuschauer:innen mit ihren Tablets die AR-Figur, die Schauspieler:innen auf der Bühne sehen ihren AR-Spielpartner nicht. Ich habe bereits ein Stück gemacht, in dem eine künstliche Intelligenz mitperformt hat. Niemand hat geglaubt, dass sie wirklich live gemacht hat, was zu sehen war. Ich vermute, diese Skepsis gegenüber der KI kam daher, dass sie nicht auf der Bühne verkörpert wurde. In Hallo haben wir deshalb versucht, der KI eine Form oder Darstellung zu geben. Auch wenn die AR-Figur nicht zeigt, wie die KI wirklich aussieht, sondern Motive aus Kleists Käthchen von Heilbronn aufgreift. Ilja Mirsky Du evozierst eine imaginative Projektionsfläche durch die virtuellen Einblendungen. Das folgt im Grunde dem Prinzip, das Benno in Bezug auf das Schattentheater beschrieben hat. Es werden in der Darstellung Abstraktionen eröffnet, die die Rezipient:innen selbst mit Erfahrungen oder Wahrnehmung füllen. Benno Heisel Menschen haben damals geglaubt, dass diese sich bewegenden Bilder real seien, die die Laterna magica an die Wand geworfen hat. Ich dachte, das kann doch nicht stimmen. Das ist doch einfach eine bemalte Glasplatte, die nicht animiert ist, im Prinzip ein Dia. Da ist keine Bewegung. Bis ich dann eine Laterna magica getestet und gemerkt habe, mit wie wahnsinnig wenig Licht ihre Projektion entsteht und wie dunkel der Raum um sie herum sein muss. Es findet alles im Kopf der Rezipient:innen statt. Die Lichtquelle ist eine Trippeldochtlampe, eine Dreifachlinsenoptik davor verstärkt die Helligkeit. Aber alles, was da herauskommt, ist immer noch so lichtschwach, dass es ein menschliches Auge überhaupt erst nach Minuten wahrnimmt. Dieser Spielraum, den die Fantasie aufmacht, wenn die Technologie aufhört, ist für die Kunst wahnsinnig interessant. Diesen Spielraum öffnen auch künstliche Intelligenz oder neuronale Netze. Was ich sagen will: Unsere Fantasie ist definitiv ein Teil der Technologie! Damit ist die

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Technologie im Körper der Person, die sie benutzt, mit verkörpert. Es ist eine total spannende Frage, wie man damit künstlerisch umgeht. Tina Lorenz Es gibt doch diesen Spruch: „Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.“ 2 Das heißt, wenn wir nicht mehr unter die Haube blicken können, wenn wir nicht mehr herausfinden können, wie etwas funktioniert, dann haben wir ein Verständnisproblem und unsere Fantasie setzt ein. Ich finde das schön und wichtig. Es verhindert aber ein bisschen, dass wir uns in der Tiefe mit Technologien auseinandersetzen, die unser Berufsfeld massiv verändern werden. GPT-3, ein auf Deep Learning basierendes Sprachmodell, wird die Dramaturgie, den Umgang mit Texten maßgeblich verändern. DALL-E, eine Software, die auf Basis sogenannter Prompts Bilder generiert, wird den Umgang mit Bildern verändern. Beide Anwendungen beeinflussen, wie wir Texten und Bildern in Zukunft vertrauen werden. Früher war klar: Ein Text ist menschengemacht, ich habe im Text ein Gegenüber. Jetzt ist das nicht mehr unbedingt der Fall. Und das heißt, wir müssen unser Verhältnis zu Text, zu Theater, zu Performance ändern. Chris Salter I find artificial intelligence one of the most interesting concepts and tools at the moment. First of all, it has not been used on stage for that long, which is ironic considering the fact that artificial intelligence in the form of what we call artificial neural networks goes back to the mid-1940s. Of course, the technologies have gotten more sophisticated because we can finally run these complex algorithms faster on graphic processing units. At the same time, these systems have become so ubiquitous and powerful because they have access to all of this data gathered from Facebook, Apple, Google and Amazon. Tina mentioned Arthur C. Clarke’s third law about technology and magic. It shows that we want to project into the technologies more than what they actually do. Virtual reality is still a very brittle technology. Artificial intelligence in the form of machine learn­ ing or deep learning is really, really good at doing only very narrow things – like classifying the difference between data sets. For example, Yoshua Bengio, one of the inventors of so-called deep learning, says that the technologies are as sophisticated as a toaster is right now. A toaster is really good at making toast but if you ask the toaster to squeeze your orange for your orange juice, it won’t really know how to do that. So we imagine more than what these things can actually do. At the same time, when they start working in interesting ways, they kind of surprise us.

Expressive Technologie Ilja Mirsky Malena, ich habe deine Arbeit Hallo – Ganz befreit vom Käthchen von Heilbronn gestern gesehen. Ich finde, es ist eine Pionierarbeit, weil du durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und AR eine neue Formsprache erzeugst, die Zugänge zu einer technologischen Einsatzmöglichkeit im Theater eröffnen. Steht das für dich in einer bestimmten historischen Entwicklung von Technologien oder einer Kontinuität im Einsatz von Technologien im Theater?

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Training eines neuronalen Netzes durch Zuschauer:innen in Hallo – Ganz befreit vom Käthchen von Heilbronn


Malena Große Technologie verändert sich permanent, auch Betitelungen verändern sich, Definitionen von Körpergrenzen verändern sich. Ich habe Regie studiert, kein technologisches Fach. Irgendwann habe ich angefangen, mich zu fragen, was genau passiert, wenn jemand programmiert, und warum das passiert. Die unglaubliche Möglichkeit von Technologie ist: Man kann gemeinsam etwas beobachten oder etwas begegnen, von dem man nicht weiß, wie es funktioniert. Dann fängt man an zu fragen, zu rekonstruieren. Theater kann vielleicht ein bisschen mutiger sein, die eigene Unwissenheit und diese Versperrung zuzulassen, die Technik auch haben kann. Im Theater können wir Technologie gemeinsam kennenlernen, anstatt sie erklären zu müssen. Tina Lorenz Wenn neuronale Netze mit großen Datenmengen umgehen, perpetuieren sich Vorurteile und auch Rassismen, die in diesen Daten enthalten sind. Open AI weist auf diesen „algorithm bias“ explizit hin. Wie geht ihr bei Hallo damit um? Ist das ein Thema in der Entwicklung gewesen? Malena Große Ein Käthchen ist ein junges Mädchen, das sich ständig niederkniet. Es ist scheinbar eine Figur, die viele Probleme macht in der Darstellung und ein Stereotyp ist. Viele Menschen haben ein eigenes Bild von Käthchen. Unsere KI will lernen, was ein Käthchen ist. Sie wird dafür mit Bildern gefüttert, die die Zuschauer:innen mit ihren Tablets machen. Unsere KI ist also ein Bild-Classifier, sie ordnet und analysiert Bilder. Aber natürlich ist die Datenmenge bei uns sehr begrenzt. Wir kommen nicht über 100 Bilder in einer Analyserunde, sonst würde die Auswertung einfach zu lange dauern. Diese passiert bei uns ja live. Wir haben für die Spielenden deshalb Kostüme entworfen, die sich einer solchen Klassifikation widersetzen. Sie enthalten sehr viele verschiedene Signale, sind sehr bunt, bewegen sich viel. Wenn sich die Spielenden in den Kostümen zu mehreren zusammenlegen, ist nicht zu differenzieren, ob es sich um ein Objekt, fünf Personen oder 20 handelt. Differenzierungen wie menschlich/nicht-menschlich, männlich/weiblich funktionieren hier nicht. Irgendwann in der Inszenierung kann die KI-Figur das Käthchen nicht mehr greifen. Das ist natürlich eine Setzung. Wir versuchen also, innerhalb der Inszenierung das tradierte Bild von Käthchen kontinuierlich aufzulösen. Wir fragen: Ist es eigentlich Mann oder Frau? Ist es überhaupt Mensch oder ist es Wesen? Ist es Wesen oder ist es vielleicht auch Ding? Ist es materiell oder ist es vielleicht in einer immateriellen Welt von Träumen, Visionen, Vorstellungen, Ideen oder Halluzinationen vorhanden? Ilja Mirsky Wir haben jetzt immer wieder über das Verhältnis von Körperlichkeit und Technologie gesprochen. Dominiert hier der Zugang zu Technologie über die visuelle Wahrnehmungsebene? Chris Salter I wonder, why don’t we start to think about virtual reality technologies not as display technologies but as expressive technologies? What if we think ­about virtual reality as being part of my movement and alter what I’m seeing and what I’m hearing and what I’m feeling? This is again the tension between this predominantly visual understanding of VR’s origins in computer graphics and

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the human body which is not just vision, not just seeing, but hearing, touching, tasting, smelling. All of these senses are what should basically feed our thinking about the relationship between technology and the stage. Tina Lorenz Neue Räume und Kanäle zu bespielen bedeutet auch, anders spielen zu lernen und neu Präsenz aufzubauen. Ein 360°-Video ist eine sehr einsame Erfahrung für Rezipient:innen. Man trägt eine VR-Brille, schaut an sich herunter und denkt, man sei ein Geist. Das war tatsächlich eines der häufigsten Feedbacks, die wir erhalten haben: die Kritik an der Entkörperlichung der eigenen Erfahrung. Man hat das Gefühl, man schwebt einfach in diesem Raum. Das ist künstlerisch nicht uninteressant. Wir gehen damit sehr gerne um, wir erforschen das, weil wir es interessant finden. Gleichzeitig konstituiert sich Theater durch Kopräsenz, durch Gleichzeitigkeit und Liveness. Im Digitalen tun wir uns als Theater noch ganz schön schwer damit. Auch ein Stream erzeugt Liveness und Kopräsenz, Letztere manifestiert sich aber nicht auf der visuellen Streamingebene, sondern im Chat auf der Rezeptionsebene. Das heißt, wenn die Menschen im Chat miteinander reden, dann erzeugen sie Kopräsenz und Liveness. Wenn Theater den Chat ausschalten, dann machen sie sich so ein bisschen auch die Kopräsenz kaputt. Chris Salter This is why I find that pass-through technology so strangely fascinating. You don’t have this disembodied feeling. It’s grainy and black and white but you actually see yourself. And this is super interesting because it’s a very strange experience to look at the world and see it flat because this is what pass-through technology is doing: you are moving around objects that are virtually in that same space. You actually have to navigate your own body’s presence and also the copresence of others because you see other people. So a very interesting shift in those debates about co-presence and presence is the fact that the presence now is again being mediated but in a very different way than beforehand. Besides, I want to highlight that there is this debate on the agency of objects, machines and so on. In recent electronic artworks the human is nowhere to be found. I wonder why humans are in the centre of our discussion here. In media arts people speak of performances but there is no human on the stage. There is dust, there is bacteria, there is fog, there are vibrating surfaces but there is no human being ‒ and yet people are somehow fascinated by this.

FUSSNOTEN 1 Sutherland, Ivan E.: „The ultimate display“, in: Proceedings of the IFIP Congress 2, Nr. 506–508 (1965), S. 506–508. 2 Clarke, Arthur C.: „Hazards of Prophecy. The Failure of Imagination“, in: Profiles of the Future. An Enquiry into the Limits of the Possible, London 1962.

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WORKSHOP

Acting Robots Jakob Altmayer im Gespräch mit Johannes Hebsacker

Johannes Hebsacker Während der Zukunftskonferenz hast du an einem Workshop von Markus Schubert teilgenommen, in dem ihr Maschinen als kreatives Gegenüber untersucht habt. Was habt ihr gemacht? Jakob Altmayer Markus Schubert hat einen Roboterarm mitgebracht. Anfangs haben wir eine technische Einführung bekommen. Wie verwendet man so einen Roboterarm? Es gab eine Art Interface oder Schaltstelle, damit konnte der Workshopleiter die Bewegungen des Arms schnell und einfach programmieren. Wir haben dann in Gruppen kleine Szenen konzipiert, in denen der Roboter mitspielt, und diese nacheinander geprobt. Johannes Hebsacker Was war dabei besonders bemerkenswert? Jakob Altmayer Der Roboter ist einem menschlichen Arm nachempfunden. E ­ inige seiner Bewegungen erinnern deshalb an Bewegungen, die ich auch machen kann. Der Roboter kann aber eben auch Bewegungen, die ich nicht kann. In s ­ olchen Momenten wird es spannend oder unheimlich. Johannes Hebsacker Du hast kurze Zeit später an der Theaterakademie selbst ein Stück mit einem Roboter entwickelt. Jakob Altmayer Wir hatten auch einen Industrieroboter, einen Arm, der auf einem fahrbaren Untersatz stand. Daran waren viele Kabel angeschlossen, die den ­Roboter mit dem Operator verbunden haben. Wir haben mit dem Roboter eine Choreografie entwickelt. Unser thematischer Ausgangspunkt war Frankenstein und die Figur des Monströsen aus einer postanthropozentrischen oder queeren Perspektive. Ich betrachte den Roboterarm also als Körper auf der Bühne. Das bedeutet für mich aber nicht, dass ich der Maschine menschliche Narrative überstülpen möchte. Das funktioniert für mich nicht. Ich möchte erforschen, was so ein Ding kann, welche Bewegungsqualitäten es hat. Der Roboter selbst soll

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nicht zum Thema werden, indem ich mir eine Geschichte über einen Roboter ausdenke. Ich suche eher nach einem Theater der Atmosphären, in dem die Mittel wie Objekte, Materialien, Licht, Sound oder eben ein Roboter dieselbe Aufmerksamkeit erfahren wie die Körper der Spieler:innen und möglicher Text. Gewissermaßen wurde der Roboter bei uns also eher Teil einer Bühnenlandschaft, in der menschliche und nicht-menschliche Akteur:innen mitgewirkt haben. Johannes Hebsacker Wie ist es, mit Menschen und einem Roboter gemeinsam zu proben? Jakob Altmayer Bei uns musste jede Bewegung des Roboters vorab programmiert werden. Wir konnten deshalb nicht sehr flexibel proben. Man hat eine Idee, aber es dauert eine halbe Stunde, bis der Roboter sie umsetzen kann. Dann können wir proben und merken jedoch schnell, dass etwas nicht passt. Es muss also etwas umprogrammiert werden, was wieder Zeit erfordert. Für die Schauspieler:innen war das sehr anstrengend und auch für mich als Regisseur war das teilweise zermürbend. Ich muss aber ergänzen: Wir hatten nicht die neueste Technologie. Mit einem System wie dem von Markus Schubert hätten wir ganz anders arbeiten können. Das habe ich mir so nicht ausgesucht. Ich war einfach abhängig davon, welche Technik ich damals bekommen habe. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich Arbeitsprozesse mit Robotern ganz anders planen würde, um die Probenzeit dann effektiver zu nutzen, zum Beispiel im Vorfeld Workshops durchführen, in denen man bestimmte Sequenzen schon mal programmieren kann. Johannes Hebsacker Wurdest du vom Theater unterstützt? Jakob Altmayer Es gibt keine Coding-Abteilung, die dafür Ressourcen hätte. D ­ eshalb hatten wir viele Freiheiten. In den wenigsten Theatern gibt es meines Wissens personelle oder materielle Infrastruktur für digitale Praxis. Ich würde gar nicht erwarten, dass irgendjemand für uns den Roboter steuert. Dafür haben wir jemanden engagiert. Aber ich nehme schon eine Differenz wahr zwischen der schnellen technologischen Entwicklung außerhalb der Theater und den Kompetenzen in Theaterbetrieben.

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Workshop Acting Robots



WORKSHOP

Wearable AR – Textile Image Marker für AugmentedReality-Anwendungen Eine Prozessbeschreibung Lea Unterseer

10:00 Uhr, Phase 0: Vorbereitung Vor Beginn des Workshops wird zunächst das vorhandene Equipment geprüft und die Dozentin Luise Ehrenwerth begrüßt die Teilnehmenden. Der Großteil besteht ­dabei aus Studierenden des Studiengangs Schauspiel und anderer künstlerischer Studiengänge, sodass die Vorkenntnisse im Bereich Technik eher gering sind. ­Laptop oder Tablet sind zunächst noch in der Tasche. Diejenigen, die nach ein paar Minuten dann doch vor einem eingeschalteten Computer sitzen, sind angewiesen, das Programm Unity herunterzuladen. Schon das scheint einige Teilnehmende vor größere Herausforderungen zu stellen.

10:20 Uhr, P hase 1: Horizont erweitern und Möglichkeiten aufzeigen Virtual und Augmented Reality (VR und AR) haben bereits ihren Einzug in den Alltag gefunden. Der Workshop beginnt deshalb damit, bekannte Begriffe einzuordnen und die Möglichkeiten dieses Mediums des Virtuellen aufzuzeigen. Hilfreich ist hierfür die Einordnung von Milgram und Kishino aus dem Jahre 1994: das Realitäts-VirtualitätsKontinuum. 1 Die beiden Wissenschaftler beschreiben damit das Spektrum zwischen realer und virtueller Umgebung und die verschiedenen Mischformen. Mixed Reality ist dabei das Aufeinandertreffen von virtuellen und realen Komponenten – ob als Instagram-Filter oder AR-Kostüm. Das können virtuelle Objekte in einer realen Umgebung oder reale Objekte in virtueller Umgebung sein (zum Beispiel Schauspielende vor einem virtuellen Hintergrund, der mithilfe eines Greenscreens generiert wird). Anwendungen für Augmented Reality, also die um virtuelle Komponenten ­ergänzte

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Realität, gibt es bereits zahlreich. Bei ikea.de kann man sich die virtuelle Couch ­direkt im Wohnzimmer anzeigen lassen, fielmann.de setzt durch einen Filter die anzuprobierende Brille virtuell auf die Nase. Digitale Modelabels wie DressX kreieren und verkaufen virtuelle Outfits, die dann auf Plattformen wie Instagram präsentiert werden können. Das Label The Fabricant produziert Kleidung ausschließlich virtuell und verkauft sie als NFT. Das Modeunternehmen Carlings brachte 2019 ein T-Shirt auf den Markt, auf dem durch Instagram-Filter politische Statements erscheinen. Mit der Bedeutung dieser Möglichkeiten im theatralen Kontext hat sich Luise Ehrenwerth in der Spielzeit 2021/22 als Fellow an der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund beschäftigt. Dort arbeitete sie an ihrem Forschungsprojekt connecting:stiches. Ausgehend von textilen Markern erarbeitete sie ein erweitertes Kostüm, das aus einem analogen Kostüm und zusätzlichen virtuellen Komponenten besteht. Durch Schaltkreise und textile Marker ist eine Live-Interaktion zwischen dem Kostüm, der tragenden Person und der betrachtenden Person möglich. So kann die das Kostüm tragende Person durch die Manipulation des Kostüms, wie zum Beispiel das Schließen einer Stofflasche mit einem Druckknopf, das virtuelle Bild beeinflussen, das die beobachtende Person auf dem Tablet sieht. Das Kostüm werde Spielpartner, sagt Luise Ehrenwerth. Das Ziel des Workshops ist es, eine reduzierte Version ihres Forschungsprojekts nachzuvollziehen. Innerhalb von vier Stunden wird dabei nicht nur ein Grundverständnis von virtueller Mode, Kostümdesign und den für das Projekt notwendigen technischen Programmen vermittelt, sondern auch eine Möglichkeit zum kreativen Arbeiten mit analogen Stoffen und Materialien geboten.

11:30 Uhr, Phase 2: Analoge Gestaltung Ein textiler Marker kann alles sein, der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Einzige Voraussetzung ist, dass der Marker technisch funktional sein muss. Und selbst die wenigen Parameter, die es dafür zu beachten gibt, fördern eine gewisse freie Kreativität: Ein textiler Marker muss möglichst viele verschiedene Formen verwenden und kontrastreich gestaltet sein. Repetitive Muster, wie zum Beispiel ein klares Schachbrettmuster oder auch Kreise müssen vermieden werden. Die spezifischen Farben spielen dabei keine Rolle, da der Marker von der Software in grey scale verwendet wird. Nur der klare Unterschied zwischen hell und dunkel ist entscheidend. Die Software erkennt später einzigartige Punkte im erstellten Muster, an denen dann die virtuelle Darstellung ausgerichtet wird. Für die Gestaltung des textilen Markers liegen verschiedenfarbige Jutebeutel bereit, die mithilfe von Stickgarn und aufbügelbaren Stoffen bearbeitet werden sollen. Zur Unterstützung der Teilnehmenden steht neben Luise und ihrem Fachwissen auch ein Buch mit Stickanleitungen zur Verfügung. Eine Stunde lang wird nun gebastelt, gestickt und gebügelt. Es macht sich eine gelöste Atmosphäre breit, während jede:r fieberhaft an der eigenen Kreation arbeitet. Konzentriert wird abgewogen, ob sich Leo- und Zebraprint vertragen oder ob zu Tigerstreifen besser blaues oder pinkes Garn passt. Nach einer Stunde muss die Workshopleiterin die Anwesenden beinahe dazu zwingen, die Nadel und das Bügeleisen niederzulegen und mit der virtuellen Gestaltung zu beginnen.

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12:40 Uhr, Phase 3: Digitale Gestaltung Der Übergang zum Computer ist für einige Gestalter:innen holprig, niemand hat zuvor mit Unity gearbeitet. Unity ist eine Spiel-Engine, mithilfe derer virtuelle Objekte und Umgebungen erstellt werden können. Um eine AR-Anwendung zu bauen, wird das Vuforia Software Development Kit (Vuforia SDK) verwendet. Durch die Installation führt eine Schritt-für-Schritt-Anleitung der Workshopleitung, der die Teilnehmenden folgen, sodass die eigenen Anwendungen programmiert werden können. Als Basis wird dafür der textile Marker, also der zuvor bearbeitete Jutebeutel, inte­ griert. Dafür muss der Beutel (möglichst glatt, gleichmäßig beleuchtet und ohne Schatten) abfotografiert und das Bild in die AR-Anwendung importiert werden. Nach diesem Schritt beginnt das tatsächliche virtuelle Gestalten. Auch hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit Formen, Farben, Texturen und Größen zu spielen. Physikalische Gesetze wie Schwerkraft und Stabilität spielen in der virtuellen Gestaltung zunächst keine Rolle. Diese können zwar – schöpfungsähnlich – zur virtuellen Umgebung hinzugefügt werden, sind aber nicht zwingend notwendig. Die Lernkurve bei der ersten Benutzung von Unity ist steil, vor allem da das ­Vuforia SDK eine einstiegsfreundliche AR-Kreation ermöglicht. Besonders Sphären, also Kugeln, Blöcke und ähnliche Grundformen sind schnell erstellt, Farben und Texturen lassen sich spielerisch auswählen, austauschen und ändern. Die Atmosphäre in dieser letzten Stunde, in der die AR-Anwendung gebaut wird und die tatsächliche virtuelle Gestaltung stattfindet, ähnelt stark der Spielfreude, die sich zuvor bei der analogen Gestaltung einstellte. Was baut man, wenn alles möglich ist? Wenn es kein unten und oben, keine Schwerkraft und auch sonst keine Regeln gibt, die man zuvor nicht selbst festlegt? Wenn Objekte sich von einer Sekunde auf die andere verformen, expandieren, pulsieren oder leuchten können?

13:50 Uhr, Phase 4: Testung Es ist kurz vor Ende des Workshops, und es bleibt nicht mehr viel Zeit für die Testung des kreierten Prototyps. Vuforia SDK ermöglicht User:innen, durch die Webcam die AR-Anwendung zu testen. Im ganzen Raum stehen Menschen vor ihren Webcams und wedeln mit Jutebeuteln vor ihrem Computer hin und her. Auf den Bildschirmen, durch die Kameralinse transformiert, eröffnet sich eine neue Ebene des gewedelten, physischen Gegenstands: Dort stapeln sich große weiße Blöcke horizontal vor dieser blauen Tasche; lila und blaue Seifenblasen steigen vom Muster jener s ­ chwarzen Tasche auf. Begeistert werden Screen Captures und Screenshots aufgenommen, hier und da auch sofort auf Instagram geteilt.

14:00 Uhr, Phase 5: Ausblick und Potenzial Erst mit einem nächsten Schritt, der Entwicklung einer App für die mobile Ansicht, wäre die Anwendung bereit zur Verwendung (als Prototyp). Doch die Teilnehmenden verlassen den Workshop mit einem neuen Verständnis für AR, Digitalität und die künstlerische Produktion an der Schnittstelle zwischen realem und virtuellem Raum

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sowie einer neu gewonnenen Freude am Gestalten und – nicht zu vernachlässigen – an selbst gestalteten Textilien, die sofort stolz auf dem Hof des Prinzregenten­ theaters und auf Social Media präsentiert werden. Es ist die Verbindung zwischen Kostüm und Augmented Reality, welche auf mehreren Ebenen eine Erweiterung des sprichwörtlichen Spielfelds ermöglicht. Materialität und Stofflichkeit können bis ins vermeintlich Unvorstellbare ausgereizt werden. Der theatrale Raum erweitert sich und bleibt trotzdem auf bestimmte betrachtende Individuen zugeschnitten, denn nur wer den Schlüssel, also ein Tablet oder eine andere Art von Kamera, hat, wird in diesen Raum eingeladen. Dieser Workshop ermöglichte es, Studierenden in kurzer Zeit die vielen Möglichkeiten von Mixed Reality in Bezug auf Kostüm zu eröffnen und sie neugierig zu machen. Das virtuelle Gestalten bietet einen neuen Impuls für den kreativen Spieltrieb und die künstlerische Vorstellungskraft. Und stellt die Frage: Was ist möglich, wenn alles möglich ist?

FUSSNOTEN 1 Milgram, Paul und Fumio Kishino: „A Taxonomy of Mixed Reality Visual Displays“, in: IEICE Transactions on Information and Systems 77, Nr. 12 (1994). S. 1321–1329.

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WORKSHOP

E-Textiles Simon Rauch im Gespräch mit Johannes Hebsacker

Johannes Hebsacker Was sind E-Textiles, Simon? Simon Rauch Bezogen auf das Theater kann man sich darunter Kostüme mit eingewebten elektronischen Elementen vorstellen, die auf unterschiedliche Weise gesteuert werden können. Im Workshop haben wir Teilnehmenden im Rahmen unserer Möglichkeiten selbst solche Textilien angefertigt. Das heißt, ich habe eine Filzmatte bekommen, auf die ich LEDs genäht habe, die blau, grün oder rot leuchten konnten. Dafür habe ich leitfähiges Garn verwendet, um eine Verbindung zwischen den LEDs und der Energiequelle, einem kleinen Akku, herzustellen. Ich weiß noch, dass mir das echt schwerfiel, weil ich handwerklich im Nähen und Sticken nicht der Beste bin. Aber es hat funktioniert und am Ende konnte ich die LEDs auf der Filzmatte zum Leuchten bringen. Johannes Hebsacker Wie konntest du die LEDs steuern? Simon Rauch Es gibt eine Kontrolleinheit, die programmiert werden kann. Prinzipiell kann man mit solchen Kostümen sehr kreativ sein. Die Steuerung beispielsweise von LEDs kann bewegungsabhängig programmiert werden. Das heißt, Spieler:innen, die solche Kostüme tragen, könnten mit ihren Bewegungen elektronische Komponenten ihres Kostüms steuern. Ich hatte mich für den Workshop angemeldet, weil ich mir überhaupt nichts unter dem Begriff E-Textiles vorstellen konnte. Dann saß ich da und habe mich bemüht, mir nicht in den Finger zu stechen. Aber ich finde es extrem spannend, was ich als Schauspieler mit solchen elektronischen Kostümen machen kann! Johannes Hebsacker Was ermöglichen sie dir in deinem Schauspielstudium und als Schauspieler? Simon Rauch E-Textiles können ja nicht nur leuchten. Man kann auf ein Kostüm auch mehrere sehr flache und flexible Spulen aufnähen, die im Prinzip wie Lautspre-

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cher funktionieren. Yvonne Dicketmüller, die Workshopleiterin, hat uns während des Workshops ein Video von einem Crying Dress gezeigt. Das war ein Kleid, das getönt hat. Ich habe mal einen Bewegungsmonolog gemacht. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass es die technischen Möglichkeiten gibt, ein Kostüm oder ein Kostümteil so mit elektronischen Elementen zu durchziehen, dass es tönen oder leuchten kann und ich diese Effekte auch noch mit meinen Bewegungen steuern kann, ergeben sich ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten!

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Diskussion über zeitgenössisches Musiktheater



SPECULATIVE THINKING

Komponieren im Metaverse Wie kollaboratives Arbeiten auf verschiedenen Plattformen funktionieren könnte Matthias Röder

Spekulationen In meiner spekulativen Rede für die Theaterakademie zum Thema Komponieren im Jahr 2040 habe ich versucht, ein Zukunftsbild zu zeichnen, das auf aktuellen Technologietrends basiert. Was auf den ersten Blick als futuristisch erscheinen mag, ist in Wirklichkeit eine Projektion existierender Technologien, künstlerischer Praktiken und soziokultureller Phänomene in eine greifbare Zukunft. Eine der zentralen Technologien, die in meiner Rede vorgestellt wurde, ist die Verwendung von künstlicher Intelligenz (KI) in künstlerischen Prozessen. Hierbei geht es um die Anwendung von KI-Algorithmen zur Erzeugung von Musik, zur Simulation von menschlichen und nicht-menschlichen Charakteren und zur Generierung von Trainingsdaten für KI-Modelle. Diese Entwicklungen finden bereits heute in verschiedenen Bereichen der Musikindustrie statt. KI-gesteuerte Musikproduktion kann inzwischen Musik in nahezu jedem Genre erstellen und wurde bereits erfolgreich in zahlreichen kommerziellen Anwendungen eingesetzt. Die Idee, KI als Co-Autor:in in kreativen Prozessen zu nutzen, ist ebenfalls kein Science-Fiction-Konzept, sondern wird bereits in Bereichen wie Literatur und Kunst umgesetzt. Ein weiterer zentraler Aspekt meines Texts ist die Einbindung von Blockchain-Technologie in den Kunstbereich, insbesondere im Kontext von Smart Contracts und Kryptowährungen. Diese Technologie ermöglicht es, Urheberrechte und Lizenzvereinbarungen transparent und nachvollziehbar zu gestalten, und bietet neue Möglichkeiten für Künstler:innen, ihre Arbeit zu monetarisieren. Kryptowährungen und NFTs (Non-Fungible Tokens) werden bereits jetzt zur Finanzierung von Kunstprojekten und zum Verkauf von digitalen Kunstwerken verwendet. Ebenso betone ich die wachsende Bedeutung des Metaverse – ein Begriff, der ein ausgedehntes Universum virtueller Welten beschreibt, die nahtlos miteinander verbunden sind. Künstler:innen können hier ihre Werke in einer vollständig immersiven, inter-

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aktiven Umgebung präsentieren und neue Formen der Z ­ uschauer:inneninteraktion ermöglichen. Obwohl der Begriff Metaverse aus der Science-Fiction stammt, sind wir bereits Zeug:innen der Entstehung solcher Räume durch Technologien wie Virtual Reality, Augmented Reality und Social Media. Ich beziehe mich auch auf die Idee der immersiven Installationen und interaktiven Performances, welche bereits heute in der Performancekunst und im Theater zunehmend an Bedeutung gewinnen. Diese Formate brechen mit traditionellen Aufführungskonventionen und ermöglichen es dem Publikum, auf verschiedene Weisen an dem künstlerischen Prozess teilzunehmen, wie beispielsweise in der Single-Player-­ VR-Game-Version von Schönbergs Erwartung am Staatstheater Augsburg. Doch trotz all der erstaunlichen technologischen Möglichkeiten, die ich in meinem Text beschreibe, verweist er auch auf die fortdauernde Relevanz traditioneller künstlerischer Praktiken und Ausdrucksformen. So spielt etwa der traditionelle Flügel, ausgestattet mit modernster Technik, eine zentrale Rolle im kreativen Prozess. Der Flügel symbolisiert die fortwährende Bedeutung von Haptik und Unregelmäßigkeit in einer zunehmend digitalisierten Kunstwelt. Mein Text sollte jedoch nicht nur als technologische Spekulation gelesen werden, sondern auch als Reflexion auf zeitgenössische Diskurse um Autor:innenschaft, Zusammenarbeit, geistiges Eigentum und künstlerische Produktion in der digitalen Kultur. Diese Diskurse sind tief in unseren gegenwärtigen soziokulturellen Kontext eingebettet und werden wahrscheinlich auch in der Zukunft weiterhin relevant sein. Abschließend möchte ich betonen, dass die in meinem Text vorgestellten Ideen nicht unbedingt eine Vorhersage für die Zukunft sind, sondern eher eine kreative Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Herausforderungen, die sich aus der Verschmelzung von Kunst und Technologie ergeben. Sie dienen dazu, Diskussionen und uns dazu anzuregen, über die Zukunft des Komponierens und der Kunst im Allgemeinen nachzudenken. Es ist eine Einladung, die Zukunft aktiv mitzugestalten, anstatt sie passiv geschehen zu lassen. Die Zukunft ist, wie William Gibson sagte, bereits da – sie ist nur noch nicht überall angekommen.

Ein möglicher Arbeitsalltag Wir befinden uns im Jahr 2040, genauer gesagt, ist es 5:15 Uhr am 7. Juni 2040. Gerade bin ich aufgewacht, die Familie schläft noch. Jetzt ja nicht aufwecken, wenn alles gut geht, habe ich eineinhalb Stunden, um an Flugangst zu arbeiten. Flugangst ist das neue Kunstwerk, das ich zusammen mit zahlreichen anderen Künstlerinnen und Künstlern vorbereite. Vor 20 Jahren hätte man dazu noch Album gesagt. Doch die Grenzen zwischen Musikalbum, interaktiver Performance, immersiver Installation und Tournee sind ziemlich verschwommen. Mit Kaffee bewaffnet setze ich mich in meinem Kreativzimmer an den Computer. Neben mir ein traditioneller Flügel, ausgestattet mit Motoren und Sensoren und einer Schnittstelle zum Computer, die es mir erlaubt, den Flügel durch meine personalisierte künstliche Intelligenz aus der Digital Audio Workstation zu steuern. ­Diese veraltete Technologie, mit ihrer Haptik und den kleinen Unregelmäßigkeiten und Fehlern hat es mir angetan. Eigentlich total verrückt, sich noch mit diesen ­alten

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­Dingern herumzuärgern, aber ich liebe das etwas wehmütig Altmodische dieser ­MIDI-Schnittstellen und der hölzernen Mechanik der alten Instrumente. Als Erstes logge ich mich in den Terminal ein, um zu sehen, welche neuen Nachrichten über unsere Kollab-Plattform reingekommen sind. Viele meiner Kollaborator:innen sitzen in anderen Zeitzonen, manche von ihnen sind mir nur als Avatare bekannt mit ihren rotierenden 3D-Profilen und den kunstvoll gestalteten Soundscapes, die sie wie einen Insektenschwarm durch das Metaverse ziehen. Ah, sehr gut, ein Direct Beam von AltApe42. Ich schaue mit meinen Augen auf die ActivityZone und schon öffnet sich ein Channel zu ihrem Avatar. Über die 3D-Soundanlage in meinem Kreativzimmer kann ich jetzt ihr subtiles Soundbranding hören. Es ist, als wäre ich in einen anderen Raum eingetaucht. Ich habe keine Ahnung, wer AltApe42 eigentlich ist, noch wo er oder sie sich eigentlich physisch aufhält. Ich weiß nur, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelt, nicht um eine AI, denn sein Proof of Humanity auf Ethereum lässt daran keinen Zweifel. Ihre Soundscape ist heute etwas entspannter als sonst, offensichtlich geht es ihnen gut. Der Beam besteht aus einer Textnachricht und mehreren Tausend Files: „GM. Habe neue Trainingsdaten für Telos generiert. Total abgefahrene Library von metalabel.xyz, die ich noch nicht kannte. Ich glaube, die Ergebnisse sind gut, bitte lass mich wissen, ob es so passt!“ Wow, cool, Telos ist das AI-Modell, das wir für die Non-Human Characters in Flugangst benutzen. Es ist wie eine Art Modell, mit dem wir die Interaktion zwischen den menschlichen und virtuellen Schauspieler:innen steuern. Improvisation ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit und ein gutes Interaktionsmodell zu haben, ist dabei unerlässlich. Ich öffne den Wormhole-Folder und finde 786.000 Files mit simulierten Trainingsdaten. Ich überfliege die Daten und schaue mir einige genauer an. Super, das wird sicherlich funktionieren, denn die Daten haben einige Dimensionen mehr, als wir bisher zur Verfügung hatten. Ich pinge das Machine-Learning-Team über die Kollab-Plattform an und sende eine Nachricht in den Channel: „Lasst uns bitte die von AltApe42 generierten Trainingsdaten für eine neue Instanz von Telos ausprobieren. Hier ist der Data NFT, den ihr dafür nutzen könnt.“ – „Alles klar, wir haben die neue Instanz in ca. neun Stunden fertig, oder brauchst du es vorher?“ Das passt, dann kann ich mir das Ergebnis noch anschauen, bevor die Kids aus dem Kindergarten und der Schule abgeholt werden müssen … 5:47 Uhr. Jetzt noch ca. eine Stunde, um den vierten Music-Scape weiterzuentwickeln. Ich setze den Terminal in den Music Mode, was sofort alle Socials und Productivity Tools ausblendet und den Terminal auf Audio optimiert. Jetzt höre ich mir den aktuellen Stand des Mastertracks an. Der Mastertrack ist die Version der Musik, die letztendlich nur von mir verwendet wird. Man kann es sich wie einen Möglichkeitenraum vorstellen, denn das fertige Kunstwerk ist vollkommen reaktiv und wirkt also in jeder Situation etwas anders. Als Künstler kann ich aber die grundlegenden Elemente und ihre Variabilität bestimmen. Das Komponieren ist also eher so etwas wie ein Schaffen von Charakteren und ihren Umgebungen. Die eigentlichen Verbindungen und Übergänge werden in der Regel on the fly durch die AI gestaltet. Momentan klappt der Übergang von der Strophe in die Bridge noch nicht so ideal, die AI gibt an dieser Stelle zu viele repetitive Elemente aus, was irgendwie die Spannung zerstört. Ich zoome auf die Stelle rein und höre mir drei kurze Simulationen mit drei unterschiedlichen Presets an. Dadurch kann ich das Ergebnis für drei unterschied-

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liche Audiences simulieren. Aha, die AI ist irgendwie zu sehr auf orchestralen Kitsch eingestellt, ich habe die Idee, es mal mit einer knackigen Beethoven-Charakteristik zu probieren. Dazu wechsle ich in den Mastertrack und suche nach einem geeigneten AI-Modell. Zunächst habe ich keine guten Treffer im OrkestraVST-Plugin und habe schon die Befürchtung, dass ich ein eigenes Modell trainieren muss. Aber dann fällt mir ein, dass Holly und Matt vor einigen Monaten ein Modul auf Soundchain veröffentlicht haben. Der Preview ist schon mal sehr gut, mal sehen, ob ich das Ding auch ordentlich integriert bekomme. Ich öffne die Konfiguration meiner Workstation, gebe die ETH-Adresse von Holly und Matt ein und verbinde meine Wallet. Jetzt kann ich die Lizenzbedingungen anschauen: Commercial Use erlaubt, „0.5 % of all transactions“ sowie Einbindung der HollyPlus AI auf dem Metatrack. Das klingt doch super, ich simuliere noch die Commercials mit Tokenspice und sehe, dass es keine Probleme mit den Incentives gibt. Jetzt signe ich mit meiner Wallet, um die Tokens des Modells zu kaufen, und kann dann das Modul integrieren. Nach 30 Minuten habe ich alles am Laufen und höre mir das Ergebnis an. Wow, klingt echt gut! Und das alles mit minimalem Energieeinsatz, denn der Transfer von Proof of Work zu Proof of Stake bei ­Ethereum macht die Blockchain super effizient. Wer hätte gedacht, dass ich die ganze Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Blockchain so schnell in Luft auflösen würde? Ein kurzer Blick auf die Uhr, gleich werden die Kinder wach. Mich interessiert das Feedback meiner Community, deshalb minte ich den aktuellen Stand in einen Data-­ NFT. Dabei werden alle Beiträge der Kollaborationspartner:innen berücksichtigt und in den Smart Contract eingebunden. So werden alle Erträge, die mit Flugangst entstehen, in Echtzeit auf alle Partner:innen aufgeteilt. So, der Preview-Mint ist jetzt gemacht, ich poste den Drop mit einem kurzen Tweet und die ersten Reaktionen kommen über meinen persönlichen Discord rein. Das Feedback schaue ich mir später an, jetzt erst mal frühstücken! 10:00 Uhr. Die Kinder sind in der Schule und im Kindergarten, Frühsport, duschen, alles paletti. Nun kommen Besprechungen mit den technischen Leiter:innen und Intendant:innen der Spielstätten. Wir gehen die individuellen Gegebenheiten durch. Manche Häuser haben Holodisplays, andere sind nur mit alten Projektoren ausgestattet. Auch die Größe der Häuser ist sehr unterschiedlich. Vom Off-Theater bis zur Opernbühne ist alles dabei. Kein Problem. Vom Mastertrack bauen wir jetzt verschiedene Conversions, die für den jeweiligen Ort die Materialien bouncen und senden werden. Außerdem haben die meisten Kollaborateur:innen ihre eigenen künstlerischen Ideen, sodass das Werk am Tag der Erstaufführung bereits in zahlreichen Remixes zu hören sein wird. Ist ja klar, dass die Tribe-Members der Volksbühne eine kritische Brechung erwarten, während die Follower der Staatsoper die authentische Version mit optionalem Kommentar erwarten. Eine Kollegin aus Freiburg hat die Idee, das Werk für Streichorchester und ohne Electronics, mit Real-Life-Actors aufzuführen. Wow, ich liebe den historischen Ansatz und lasse die Orchestrator-AI einen ersten Entwurf schreiben. Vor dem Mittagessen schaue ich in meinen Discord, wo meine Community-Members in den NFT-gated Channels ihr Feedback zu den geteilten Previews geben. Im #InnerCircle hat ein User schon eine Weiterentwicklung gepostet, die mir sehr gefällt. Das übernehme ich sofort in den Mastertrack, natürlich bei entsprechender Nennung und automatischer Umsatzbeteiligung, die von der Länge der Beiträge abhängt.

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Nach dem Mittagsschläfchen kommt dann der wirklich kreative Teil der Arbeit. Mein Co-Autor Daniel, er ist Schauspieler, kommt vorbei. Wir bauen die 3D-Capturing-Devices auf, verkabeln uns mit Sensoren, die emotionale und physische Reaktionen aufzeichnen, und beginnen mit Improvisationen auf Basis des vorhandenen musikalischen Materials. Drei Stunden volle Konzentration, die Ergebnisse gehen in unsere persönlichen AIs und erweitern so unser künstlerisches Spektrum. 16. Juni 2040, Tag der Uraufführungen. In über 20 Spielstätten weltweit wird Flugangst erstmals aufgeführt. Dabei kommen verschiedene Versionen zum Einsatz, teilweise ähnlich, teilweise verfremdet und anders. Das Ticketing für den Launch haben wir über NFTs gemacht, die den Zuschauer:innen auch Zugang und Angebote zu speziellen Events vor und nach der Aufführung geben. Nach den Uraufführungen bekommt jede:r Besucher:in einen POA, Proof of Attendance. Mit diesem gibt es dann Zutritt zu unserer interaktiven und personalisierten Version des Kunstwerks im Metaverse, damit man das Erlebnis vertiefen kann. Kreative User:innen können dort auch ihre eigenen Remixes erstellen und diese dann auf einer der zahlreichen Kunstplattformen vorstellen. Die Collector-Community wartet schon gespannt auf die ersten Drops von bekannten Remix-Artists. Gegen Mittag sind die ersten Events in Asien schön über die Bühne gegangen. Die entsprechenden Twitter-Feeds der Fans zirren mit Snippets und ersten Eindrücken. Ich schaue kurz in unser Ethereum-Dashboard und sehe, dass Ticketverkäufe und Royalties (Umsatzbeteiligungen) aus dem GEMA-Smartcontract fließen. Toll, so eine Blockchain-basierte Verwertungsgesellschaft! Tief in der Nacht gibt es dann noch eine Premierenfeier auf Twitch. Da bin ich aber schon längst im Bett und schicke deshalb meine AI!

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5 Zukunft denken


SPECULATIVE THINKING

Kreativwirtschaft als Motor des Wandels Eine Vision für das Jahr 2040 Christina Zimmer

There are professions more harmful than industrial design, but only a very few of them. And possibly only one profession is phonier. Advertising design, in persuading people to buy things they don’t need, with money they don’t have, in order to impress others who don’t care, is probably the phoniest field in existence today. 1 In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts herrschte Weltuntergangsstimmung. Die Welt schien am Rande der Zerstörung zu stehen. Die immer schnellere Erwärmung des Klimas, Zoonosen und globale Pandemien, der russische Überfall auf die Ukraine und die Möglichkeit eines drohenden Atomkriegs und schließlich auch die rasante Entwicklung einer künstlichen Intelligenz, die dem menschlichen Geist bald überlegen sein könnte, konfrontierten uns mit existenziellen Bedrohungen. Die menschliche Zukunft war akut gefährdet. Nichts weniger als das Leben aller kommenden Generationen stand auf dem Spiel. Eine humane Zukunft? Nicht absehbar! Wir schreiben das Jahr 2040. Überraschenderweise. Allen Befürchtungen zum Trotz haben wir uns weder durch den Zusammenbruch des Ökosystems selbst ausgerottet, noch haben wir einer künstlichen Superintelligenz das Feld überlassen. Unsere Zukunftsängste von damals waren unbegründet. Die Welt steht noch. Das menschliche Leben ist weitergegangen. Wie sieht es heute aus? So wie damals, im Jahrzehnt der Omnikrise? Oder ganz anders?

Wir haben mehr Zutrauen in unsere eigene Handlungsfähigkeit gewonnen Es gibt weiterhin Krisen. Aber wir gehen anders damit um als früher. Wo früher verwaltet wurde, wird heute gestaltet. Unsere Verwaltung ist schlanker geworden. Bürokratie wurde abgebaut und digitalisiert. Wir haben weniger Regeln und die, die es gibt, sind für jeden leicht zugänglich. Neues auszuprobieren ist so leichter geworden. Wir sind weniger perfektionistisch. Fehler vermeiden wir nicht mehr um jeden

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Preis, sondern sehen sie als Chance, besser zu werden. Dadurch sind wir experimentierfreudiger geworden. Untereinander herrscht eine Kultur des Wohlwollens. Altes Silodenken haben wir überwunden und schauen häufiger über den Tellerrand. Wir arbeiten nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander. Wir haben festgestellt, welchen Hebel gemeinsames Handeln entfalten kann.

Unsere Städte sind heute lebenswerter als damals Sie sind bunter und lebendiger geworden. Überall sind gemischte Viertel entstanden. Öde Wohnsiedlungen, die den halben Tag leer stehen, oder Tristesse in den Innenstädten sind heute Vergangenheit. Die Entwicklung wurde aus der Not heraus geboren: Wesentlicher Treiber dieses Wandels war die Coronakrise. Sie hat uns gezwungen, umzudenken, kreativ zu werden und neue Wege zu gehen: Damals, vor 20 Jahren, mussten wir auf Distanz voneinander gehen, um eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern. Plötzlich war damit auch der tägliche Weg ins Büro verboten. Bildschirmkonferenzen ersetzten den Konferenzraum, Büros verwaisten. Überraschenderweise ist aus dem Provisorium des Ausnahmezustands eine neue Normalität geworden, die wir sehr schätzen. Viele hatten Gefallen an der neuen Art der Zusammenarbeit gefunden und arbeiteten auch nach dem Ende der Pandemie weiterhin von zu Hause. Mobiles Arbeiten gehört heute ganz selbstverständlich zu unserem Alltag. Eine erzwungene Veränderung unserer Alltagsroutine, die sich nicht nur als bessere Alternative erwiesen hat, sondern die auch einen großen Einfluss auf die Transformation unserer Städte hatte: Weil immer mehr Mitarbeiter:innen von zu Hause arbeiten wollten, reduzierten viele Unternehmen ihre Büroflächen. Der zunehmende Leerstand vergrößerte das Angebot, die Flächenpreise in attraktiven Innenstadtlagen waren rückläufig. Weil Mieten wieder bezahlbar wurden, kehrten Handwerk und Produktion in die Innenstädte zurück: traditionelle Gewerke wie Schuhmacherinnen und Maßschneider, Schreinereien, aber auch moderne Produktionsbetriebe, die mithilfe von 3D-Druck on-demand fertigen. Wo früher immer gleiche Modeketten und uniforme Fastfood-Ketten zum Konsum aufgefordert haben, laden heute Reparatur-Cafés zum Austausch ein. Das ist ökologisch genauso sinnvoll wie sozial: Gebrauchsgegenstände werden gemeinsam wieder funktionstüchtig gemacht. Jung und Alt kommen hier ins Gespräch und lernen voneinander. Auch ein Teil unserer Lebensmittel wird heute urban produziert: Kaffeeröstereien, Craftbier-Brauer oder Aquaponik-Farmen, die Fischzucht mit Pflanzenproduktion verbinden, haben sich in den Innenstädten angesiedelt. Die räumliche Nähe erleichtert heute die Vernetzung der lokalen Ökonomie und fördert Innovationen.

Wohnen, Leben und Arbeiten sind zusammengewachsen Alles für den täglichen Bedarf ist fußläufig zu erreichen. Die kurzen Wege haben unsere Mobilitätssysteme grundlegend verändert. Weil wir keine weiten Strecken mehr zur Arbeit oder zum Einkaufen zurücklegen mussten, wurde das Auto für viele überflüssig. Im Laufe der Zeit sank überraschenderweise die Anzahl privater Autos. Freiwillig, ganz ohne staatliche Eingriffe.

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Ohne Autos ist der urbane Raum zum Erholungsort geworden. Lärm, Luftverschmutzung und Unfälle sind Vergangenheit. Allergien und asthmatische Erkrankungen sind zurückgegangen. Die Straßen gehören wieder den Menschen: Gesellschaftliches Leben spielt sich heute zu einem großen Teil im öffentlichen Raum ab. Kinder rennen umher, Nachbar:innen unterhalten sich, Freund:innen treffen sich. Straßen, die früher vorwiegend dem Transit dienten, sind heute öffentliche ­Begegnungsräume geworden. Starkregen, Hochwasser und heiße, trockene Sommer haben wir immer noch. Aber wir sind heute gegen Extremwetter besser gewappnet. Bepflanzter Boden kann bei Regen mehr Wasser aufnehmen und speichern als versiegelte Beton- oder Asphaltflächen. Parkplätze wurden deshalb renaturiert. Wo früher versiegelte Flächen waren, stehen heute Stadtwälder. Bei Hitze spenden die Bäume Schatten. Zusätzlich kühlen sie ihre Umgebung ab, indem sie Feuchtigkeit verdunsten. Nebenbei sorgen die vielen Bäume auch für saubere Luft in den Städten.

Wir haben unsere Städte in essbare Gärten verwandelt Auch in Krisenzeiten sind wir so in der Lage, uns selbst zu versorgen. Monotone ­öffentliche Grünflächen sind zu Streuobstwiesen geworden. Apfel-, Birnen-, Kirsch-, Pflaumen- und Walnussbäume auf den Wiesen dienen der urbanen Lebensmittelproduktion. Sie werden gemeinschaftlich gepflegt und nicht geplündert, weil wir gelernt haben, dass wir auf lokale Lebensmittelproduktion angewiesen sind. Parks haben sich in essbare Gärten verwandelt. In Hochbeeten werden hier Kräuter, Obst und Gemüse angebaut. Wir haben ein partizipatives System der Bewirtschaftung aufgebaut: Durch die Mitarbeit werden Genussscheine erworben, die im Parkladen gegen Lebensmittel eingetauscht werden können. Abends sorgt warmes LED-Licht für Sicherheit auf Wegen und öffentlichen Plätzen. Die Leuchtmittel sind insektenfreundlich und sparsam im Verbrauch. Betrieben wird die Straßenbeleuchtung mit Solarenergie – und der Bewegungsenergie der ­Passant:innen. Mit jedem Schritt erzeugen wir Energie. Früher verpuffte sie ungenutzt. Heute wird sie in speziellen Gehwegplatten gespeichert. Neben Sonnen- und Windenergie nutzen wir so auch unsere Bewegung als regenerative Energiequelle. Statt zum Energiesparen gezwungen zu sein, werden wir zum Energieproduzieren motiviert. Jeder Schritt erzeugt Energie und versorgt dezentral die Infrastruktur vor Ort. Das ist gut fürs Klima und die Gesundheit.

Städtischen Raum nutzen wir effizienter Unsere Wohnungen sind kleiner als vor 20 Jahren, aber geräumiger, weil wir Wohnfunktionen, die wir selten brauchen, ausgelagert haben. Schon in den 2020er Jahren blieben die heimischen Küchen in einer zunehmend mobilen Gesellschaft meistens kalt. Gegessen wurde unterwegs, außer Haus. Bei immer knapper werdendem Wohnraum wurden komplett eingerichtete Küchen in den eigenen vier Wänden zur Ressourcenverschwendung. Wir leben heute dezentral. Mit digitaler Technik haben wir unser Zusammenleben neu organisiert und nutzen räumliche Ressourcen effizienter. Überall haben Menschen heute Zugang zu geteilter Infrastruktur wie Gemein-

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schaftsküchen, Werkstätten und Co-Working Spaces oder Heimkinos. Kommunale Räume sind so gestaltet, dass sie flexibel genutzt werden können: beispielsweise als temporärer Pop-up-Store, als Impfzentrum oder als Notunterkunft. Dadurch sind neue Begegnungsräume entstanden.

Was ist passiert? Wir haben ein neues Verhältnis zur Krise entwickelt. Wir sehen sie nicht mehr als Bedrohung, sondern als Entwicklungsmotor. Wir Menschen sind G ­ ewohnheitstiere. Routinen erlauben uns, auf Autopilot zu schalten und so Ressourcen zu sparen. ­Unser innerer Schweinehund ist sehr effizient. Um ihn auszutricksen und uns aus unserer mentalen Komfortzone zu holen, brauchen wir eine Herausforderung: ­Krisen. Sie zwingen uns, Gewohnheiten zu ändern und neue Wege zu gehen. Not macht erfinderisch. Diese alte Weisheit hat sich schon damals in der Coronapandemie bewahrheitet, als plötzlich nichts mehr war wie vorher, als wir alle die Krise am eigenen Leib gespürt haben. Die bis dato geltende Normalität war vorbei. Niemand war auf diese Situation vorbereitet. Alle waren gleichermaßen mit dem Unvorhersehbaren konfrontiert. Aber nicht alle sind auf die gleiche Weise damit umgegangen. Im Privaten genauso wie im Wirtschaftsleben lassen sich rückblickend zwei Gruppen unterscheiden. Während sich die einen von der Unsicherheit lähmen ließen, wurden andere erfinderisch: Am ersten Tag des Shutdowns stand bei einigen Unternehmen an der Tür: „Wegen behördlicher Anordnung leider geschlossen“, andere boten direkt eine Alternative: „Gerne nehmen wir Bestellungen entgegen und liefern sie Ihnen nach Hause.“ Die Fähigkeit, umdenken zu können, war überlebenswichtig. Während der Coronapandemie hat sich Kreativität als Zukunftskompetenz bewiesen. Sie ist die grundlegende menschliche Fähigkeit, Alternativen zu entwickeln und mit Unvorhergesehenem produktiv umzugehen. Kreativ zu sein bedeutet, sich an die Gegebenheiten einer sich permanent verändernden Welt anpassen zu können, um handlungs- und so zukunftsfähig sein zu können. Die Kreativbranche ist relevant geworden. Sie dient nicht mehr nur der Unterhaltung oder der verkaufsfördernden Verschönerung des Alltags. Heute ist sie als Innovations- und Transformationskraft anerkannt. Das sah vor 20 Jahren noch ganz anders aus. Damals kämpfte die Kultur- und Kreativwirtschaft um die Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Obwohl ihre volkswirtschaftliche Relevanz als drittgrößter Wirtschaftszweig im Land damals unbestritten war, wurde ihre gesellschaftliche Bedeutung von Politik und Öffentlichkeit unterschätzt. Ihre Leistungen wurden überwiegend oberflächlich betrachtet und auf ihre Kaufreizästhetik reduziert. Nur wenige waren der Ansicht, die Kultur- und Kreativwirtschaft stifte auch darüber hinaus einen Mehrwert. Weitverbreitet war noch in den 2020er Jahren die Überzeugung, gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimaschutz, Ernährungssicherheit oder saubere Energieversorgung seien allein mit technischen Lösungen zu bewältigen. Es war die damalige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die die gesellschaftliche Relevanz der Kultur- und Kreativwirtschaft hervorhob und ihr eine entscheidende Rolle bei der Zukunftsgestaltung zuwies. Sie vertrat die Überzeugung, es brauche dringend eine Richtungskorrektur unserer bisherigen Lebensweise und einen Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Am 16. September 2020

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­zeichnete sie in ihrer Rede „Die Welt von morgen schaffen: Eine vitale Union in einer fragilen Welt“ ihre Vision einer nachhaltigen Gesellschaft. Für die Verwirklichung ihrer Vision einer „vitale[n] Union“ brauche es einen Kulturwandel, ein neues Bewusstsein. 2 Technische Mittel allein seien keine Lösung. Um eine notwendige Kurskorrektur und damit gesellschaftlichen Wandel einzuleiten, stieß Frau von der Leyen vor 20 Jahren eine kreative Bewegung an, die an ein historisches Vorbild anknüpfte: das N­eue E ­ uropäische Bauhaus. Ein Jahrhundert vorher stand Deutschland ebenfalls an einem Wendepunkt. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie lag die alte Normalität in Trümmern. Deutschland musste sich fundamental neu erfinden. Mit dem Anspruch, diesen Neuanfang mitzugestalten, gründete Walter Gropius 1919 in Weimar eine Hochschule für Gestaltung: das Staatliche Bauhaus. Alles sollte hier grundlegend neu gedacht werden. Das Bauhaus strebte nicht nur eine stilistische Revolution in Architektur und Design an. Hinter der Hochschulgründung stand von Anfang an der gesellschaftspolitische Anspruch einer ästhetischen Erziehung des Menschen. Gestaltung sollte dazu beitragen, eine moderne Gesellschaft aufzubauen, weshalb Gestalter:innen in der Ausübung ihrer Tätigkeit große soziale Verantwortung trügen. Um dieser komplexen Herausforderung gerecht werden zu können, wurde am Staatlichen Bauhaus ein systemischer Gestaltungsansatz verfolgt, der die Grenzen verschiedener Disziplinen überwand. An diese sozial verantwortliche und interdisziplinäre Gestaltungstradition knüpfte das Neue Europäische Bauhaus an, dieses Mal auf europäischer Ebene. In der Vision der damaligen Kommissionspräsidentin sollten Gestalter:innen, Ingenieur:innen und Ökonom:innen Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent umgestalten. Heute sind wir diesem Ziel schon nähergekommen. Wir gehen viel effizienter mit Ressourcen um. Die Kreislaufwirtschaft hat sich in vielen Wirtschaftsbereichen etabliert. Es war die Kultur- und Kreativbranche, die diesen Kulturwandel entscheidend mitgestaltete, weil sie ganzheitlich denkt und Sinnzusammenhänge schafft. Ein Kulturwandel ist mehr als die Implementierung neuer Technologien. Kulturwandel bedeutet, neue Strukturen und Prozesse zu etablieren, die veränderten Erfordernissen entsprechen. Es geht dabei nicht um die Anpassungsfähigkeit des Einzelnen, sondern um eine gesellschaftliche Transformation. Für ein solches gemeinschaftliches Projekt braucht es eine gemeinsame Vorstellung. In ihrer Fähigkeit, eine gemeinsame Vorstellung und Verständigungsbasis zu schaffen, entfaltet sich die transformative Kraft der Kultur- und Kreativbranche. Sie ist systemrelevant geworden, weil sie diese Fähigkeit beim Umbau in eine nachhaltige Gesellschaft bewiesen hat. 2022 standen wir vor anderen Herausforderungen als nach dem Ersten Weltkrieg. Aber wieder war ein Neuanfang vonnöten. Und wieder waren Gestalter:innen gefragt, konkrete Vorstellungen davon zu entwickeln, wie eine zukünftige Alternative zur damaligen Gesellschaft aussehen könnte, und andere Menschen dafür zu begeistern. Kulturwandel braucht eine Vision, eine inspirierende Geschichte, Emotionen und Bilder, um Vorstellungen von der Zukunft zu bekommen. Gesellschaftliche Transformation gelingt nur, wenn alle Beteiligten gut miteinander kommunizieren und ein gemeinsames Verständnis haben. Die von der damaligen Kommissionspräsidentin initiierte Kreativbewegung hat das Augenmerk auf die soziale Verantwortung der Kultur- und Kreativwirtschaft gelenkt. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass ihre spezifischen Fähigkeiten für

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Transformationsprozesse unabdingbar sind. Damit stieg auch die Wertschätzung für ihre Leistungen. 2040 ist die Kreativ- und Kulturwirtschaft nicht nur ein zentraler Wirtschaftsfaktor, sondern vor allem auch einflussreiche Gestalterin gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Ihre tradierten Rollen als konsumanheizende Blickfängerin oder elitäre Freizeitunterhalterin hat sie abgelegt. In der Kultur- und Kreativwirtschaft hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Sie versteht sich nicht mehr als reine Umsetzerin, sondern als Mitdenkerin. Ihre Leistung geht über eine bloße Oberflächengestaltung hinaus. Selbstbewusst stellt sie heute nicht mehr allein ihre gestalterische Vermittlungsfähigkeit, sondern ihre kreative Fähigkeit, konzeptionell Alternativen zu entwickeln, in den Vordergrund. Kreative und Kulturschaffende waren in vielerlei Hinsicht schon immer Vermarktungsprofis. Sie beherrschen die Techniken der ästhetischen Verführung. Früher waren sie allein aufgrund dieser Fähigkeiten gefragt und haben primär auch nur ihr Handwerkszeug vermarktet: ihre Fähigkeiten, zu vermitteln, zu begeistern und Erlebnisse zu schaffen, die im Gedächtnis bleiben. Die Kernkompetenz der Kreativund Kulturwirtschaft liegt aber nicht allein in der Vermittlung von Inhalten, sondern in der Hervorbringung von Ideen. Darin, neue Perspektiven zu eröffnen und alternative Narrative zu entwickeln. Kreative und Kulturschaffende lenken den Blick vom Machbaren zum Wünschenswerten. Sie schaffen Möglichkeitsräume, indem sie nicht fragen: Wie können wir leben?, sondern indem sie fragen: Wie wollen wir leben? Früher haben Kreative und Kulturschaffende die Gestaltung der Zukunft überwiegend Ingenieur:innen und Ökonom:innen überlassen und sich mit der nachgeordneten Rolle der gestalterischen Umsetzung zufrieden gegeben. Heute stehen sie in der konzeptionellen Mitverantwortung für die Gestaltung der Zukunft. Daran hat sich die Kultur- und Kreativbranche gewöhnen müssen, denn lange Zeit hatte sie sich in der zweiten Reihe als Dienstleisterin eingerichtet. Langsam hat sie ihre Komfortzone verlassen. Heute ist sie in ihre neue Rolle hineingewachsen, sitzt mit Politik und Wirtschaft auf Augenhöhe an einem Tisch und prägt die Entwicklung einer zukunftsfähigen Gesellschaft auch inhaltlich mit. Sie hat nicht nur Gestaltungswillen, sondern ist auch mit gesellschaftlicher Gestaltungsmacht ausgestattet. Mit dieser Macht geht soziale Verantwortung einher. Als Expert:innen für ästhetische Verführung verfügen Akteur:innen der Kultur- und Kreativwirtschaft über mächtige Werkzeuge. Gestaltung ist keine harmlose Disziplin. Manipulationstechniken, die einen bestimmten Effekt erzielen, gehören zum Handwerkszeug aller Kreativen und Kulturschaffenden – von der Form- und Farbgebung über die Dramaturgie bis zur Inszenierung. Wie alle Werkzeuge können auch diese technischen Fähigkeiten zum Guten und zum Schlechten eingesetzt werden. Die Verantwortung der Kultur- und Kreativwirtschaft besteht darin, zu entscheiden, wie und wofür sie ihre Werkzeuge einsetzen: zur Selbstbestimmung und zur Humanisierung der Welt oder zur Förderung der Medienabhängigkeit und zur Spaltung der Gesellschaft. FUSSNOTEN 1 Papanek, Victor: „Preface“, in: Design For The Real World, London 1971. 2 von der Leyen, Ursula: „Die Welt von morgen schaffen. Eine vitale Union in einer fragilen Welt“, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen ­Parlaments, 16. September 2020.

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SPECULATIVE THINKING

Infrastrukturen der Demokratie

Theater im Zeitalter der Komplexität Georg Diez

Wir befinden uns im Jahr 2040 und das Theater in Deutschland hat seine Zukunft in der Vergangenheit gefunden. Das Theater ist, wie schon in seinen Anfängen im antiken Athen zu einem zentralen Ort der politischen Selbstverständigung geworden, zu einem offenen Raum für gemeinsames Lernen, für Kommunikation zwischen Bürger:innen – eine Bestimmung weit über die Festlegung auf eine bestimmte, eng definierte kulturelle Funktion hinaus, weit über Fragen von Schiller, Strindberg und Schlingensief. Was ist passiert nach der demokratischen Legitimationskrise der 2020er Jahre, die mit der wachsenden Ungleichheit zu tun hatten, der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, der institutionellen Verkümmerung und vor allem der alles überwölbenden Frage des Klimawandels? Hat das Land Anfang der 20er und 30er Jahre des 21. Jahrhunderts den demokratischen Systemwandel geschafft? Was lange deutlich war: Die repräsentative Demokratie in der Art, wie sie im 18. Jahrhundert unter den Prämissen der Industrialisierung entwickelt wurde, ist im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Digitalisierung, nicht mehr die passende Regierungsform. Repräsentation, elementar in einer arbeitsteiligen Welt, ist nicht mehr die passende politische Metapher und Praxis für eine Welt, in der sich Arbeit, aber auch Anwesenheit anders konstituiert. In einer Welt, in der eine demokratisch definierte und kontrollierte und positiv genutzte Digitalisierung dafür gesorgt hat, dass viele Menschen sehr viel weniger arbeiten müssen, ist nicht mehr Repräsentation, also Abwesenheit das zentrale politische Prinzip, sondern Präsenz. Die Parlamente haben nach und nach ­– und das war eine schwierige Art institutioneller Selbstentfaltung – ihre Funktion und ihre Rolle abgegeben. Diese institutionelle Veränderung war der Schlüssel zur demokratischen Zukunft und letztlich die Rettung des Systems, das wie so viele Institutionen im Wandel vor allem im Selbsterhalt seine Identität und Bestimmung gefunden hatte. Die repräsentative Demokratie wurde nach und nach immer weniger repräsentativ und nach ersten Experimenten mit Bürger:innenräten auf lokaler Ebene wurde diese Art kollektiver Entscheidungsfindung zum nationalen und supranationalen Standard.

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Die Demokratie veränderte sich durch radikale Beteiligung der Bürger:innen, technologisch durch digitale Tools unterstützt. Demokratisch entwickelte Algorithmen ermöglichten eine erweiterte und verbesserte Form von Liquid Democracy. Der Bundestag wurde geöffnet für die Bürger:innen. Er wurde als Arbeits- und Repräsentationsort nicht mehr gebraucht und wird nun als Ort digitaler Innovation genutzt, eine Art andauernder gesellschaftlicher Hackathon. Entscheidungen werden in Echtzeit getroffen. Zufällig ausgewählte Bürger:innen debattieren in den Räten und unterstützt von Expert:innen die wichtigen Fragen der Gesellschaft. Die Kommunikation ist direkt und transparent, wie es die gemeinschaftlich organisierten digitalen Plattformen ermöglichen. Die Schwierigkeiten auf diesem Weg waren nicht nur politischer Art, also das Problem, Menschen davon zu überzeugen, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer in diesem Fall parlamentarischen Macht aufgeben sollen. Die Schwierigkeiten waren auch mentaler Art, also überhaupt erst einmal zu verstehen, was die Chancen und Möglichkeiten, was die Logik und die Schönheit der neuen Zeit waren. Es ging dabei um ganz elementares institutionelles Redesign, um eine grundsätzliche Transformation der Art und Weise, wie sich Öffentlichkeit, die immer schon politisch ist, konstituiert. Eines zeigte sich: Veränderungen, die wesentliche Strukturen der Gesellschaft betreffen, passieren nicht nur top down, deus ex machina, sie passieren auch nicht nur bottom up, durch Revolte. Diese Veränderungen ergeben sich aus einem komplizierten Tanz von top down und bottom up, bei dem sich das eine aus dem anderen ergibt. Ein wichtiger Schritt hierbei war das gemeinsame Lernen oder Wiederentdecken, was es bedeutet, Bürger:innen zu sein – nicht allein Teil einer Gesellschaft, sondern Ausgangspunkt, Ursprung demokratischer Macht. Nicht Zuschauer:in, sondern aktiv anwesend, gefordert in individueller Verantwortung für das Gemeinwesen. Und in dieser Zeit der politischen Veränderung, die auch immer eine kulturelle ist, wurden die geistigen Voraussetzungen des Wandels immer wichtiger. Die sogenannten Kriege der frühen und mittleren 2020er Jahre waren ein Zeichen der Angst und der Regression in der Gesellschaft, ein Relikt des Alten, instrumentalisiert von denen, die ein Interesse daran hatten, diese Macht des Alten über das Neue im Sinne von Antonio Gramsci zu erhalten – was der Gesellschaft den Odem des toten Denkens verlieh. Das Lebendige dagegen, die Energie, die Dynamik, die immer auch aus der Präsenz entsteht, war der Modus des Neuen, das gemeinschaftlich erlernt werden musste. Die Orte dieses gemeinschaftlichen Lernens waren Orte, die ihre eigene Veränderung konstruktiv, offen und experimentell angingen – es waren die Theater, die dieses demokratische Lernen ganz wesentlich ermöglichten. Schon bevor sich die Proteste in den späten 2020er Jahren zuspitzten und Fragen von legitimer Gewalt und Widerstand gegen die Zerstörung der gemeinsamen Lebensgrundlagen offen diskutiert wurden, hatten einige Leiter:innen großer städtischer Theater erkannt und verstanden, dass in der grundsätzlichen institutionellen Krise auch eine Chance steckte. Denn es war ja nicht nur die repräsentativ organisierte Politik, die Legitimationsprobleme hatte. Es war auch klar geworden, dass die Medien straucheln, dass die Parteien schwanden, dass die Schulen und Hochschulen des Landes einen viel zu engen Begriff davon hatten, was Lernen ist im digitalen Zeitalter; was die Notwendigkeit von anderen Fragen und Austausch bedeutet im Zeitalter der H ­ yperkomplexität;

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was die Explosion des Wissens für die bürgerschaftliche Selbstvergewisserung bedeutet. Diese Theaterleiter:innen hatten verstanden, dass ihre Häuser offen sein könnten für diesen gemeinsamen Prozess, offen sein müssten, wenn sie ihre demokratische Funktion erfüllen sollten – so wie es im antiken Athen gewesen war, wo die wesentlichen und aktuellen Fragen der Polis so symbolisch wie direkt vor den Augen der Bürger verhandelt und zur Abstimmung gebracht wurden, Fragen von Schuld und Verantwortung, von politischer Ordnung und individueller Bestimmung. Sie hatten auch verstanden, dass der Spätkapitalismus noch die letzten öffentlichen Räume okkupiert und Gemeinsamkeit oder gemeinsames Arbeiten, Denken, Reden kommerzialisiert – New Work also oder andere Coworking Spaces; weniger als Orte des Wirs oder der Koordination und mehr als Symbole der Vereinzelung; das Ich als Unternehmer:in. Also fingen sie an, ihre Häuser zu öffnen. Sie fingen an, die Menschen nicht mehr als Gäst:innen oder Zuschauer:innen zu sehen, sondern als Bürger:innen, denen die letzten gemeinsamen Orte für Sinnstiftung verloren zu gehen drohten. Es waren erst einzelne Veranstaltungen, für die tagsüber die Foyers geöffnet wurden, Lesungen, Diskussionen, Workshops zu den aktuellen Themen und Fragen. Dann wurden die Theater experimenteller. Sie verstanden, dass sie ihre gesellschaftliche Funktion sehr begrenzt definiert hatten: Literatur, Performance, Kunst im engeren und weiteren Sinn als Hauptanliegen und Bildungsaufgaben. Was aber, fragten einige, wenn wir umgekehrt denken? Was, wenn wir fragen, was diese Demokratie eigentlich braucht, wie sie Sauerstoff bekommt, wie sie den Menschen ein Gefühl zurückgibt, dass sie wichtig sind, dass sie wertvoll sind, dass sie gehört werden? Was also, wenn die Theater ihre Aufgabe als Demokratielabor in der attischen Tradition ernst nehmen würden? Als Ort der Emanzipation in der aufklärerischen Tradition, als Manege für politische Auseinandersetzung und Anknüpfung an die 1960er und 1970er Jahre, als der politischen Verkümmerung mit radikaler Öffnung begegnet wurde. Wie also definieren wir Bildung und Inklusion in einer pluralen und diversen Gesellschaft? Welche alternativen Orte zu privatisierter und kommerzialisierter Öffentlichkeit können wir schaffen? Warum ist so wenig kostenfrei? Was heißt frei, wenn grundsätzliche gesellschaftliche Aufgaben mit Preisen belegt sind? Was gehört alles zur sozialen oder öffentlichen Infrastruktur, Nahverkehr, Internet, Kultur? Die Theater weiteten damit ihre Ambitionen aus, sie übernahmen Verantwortung und halfen, das Wesen und die Funktion des Staats zu verändern. Nach all den Jahren und Jahrzehnten ideologischen Einbahnstraßenfußballs, nach dem neoliberalen Schrumpfungsverfahren von Begriff und Konzept des Staats drehte sich in diesen Jahren das Verständnis davon, was den Staat macht, um: Wir alle sind der Staat. Was in den Theatern stattfand, war nicht nur ein Lernen im eigentlichen Sinne. Über die Texte, die die Welt ausmachen, über die Gedanken, die Strukturen schaffen, um die Welt zu verstehen, über die Grundlagen von Naturwissenschaft und Technologie Zugang zu den wesentlichen intellektuellen und damit realen Produktionsmitteln dieser Zeit. Was auch stattfand, war das Lernen, was es heißt, Bürger:innen zu sein – ein Entdecken dieser Praxis von gegenseitiger Aufmerksamkeit, Wachheit und Zuneigung. Was von den Menschen abfiel, die sich oft schon morgens und dann den ganzen Tag hindurch in den Räumen, Gängen, Foyers der Theater trafen, war der Schleier des

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Politischen als Ideologie. Sie fanden zu sich im Politischen als Praxis. Je weiter das Zeitalter der Ideologien, also das inhumane 20. Jahrhundert, zurückfiel, desto deutlicher wurde, dass der Geist des 21. Jahrhunderts einer des humanen Pragmatismus war, eine Form der Entideologisierung, die im Miteinander ihren Modus fand, in der Präsenz ihr Prinzip, im Theater ihren Ort. Was in den 2020er Jahren sehr verkürzend und oft vorschnell Polarisierung genannt wurde, war tatsächlich mehr das Prisma der Macht, die Konflikt braucht, um sich selbst zu legitimieren. Und das postideologische Zeitalter, das diese Divisionen an alten Formen und Vorstellungen von Politik überwand, wurde im Theater eingeübt. Differenzen blieben bestehen, aber sie wurden nicht direkt politisiert. Sie wurden in Gespräche überführt, sie wurden in Praxis überführt. Diese Praxis wiederum, wie sie im Theater eingeübt wurde und in den Bürger:innenräten ihre demokratische Form fand, war kleinteilig, experimentell. Die Praxis bedeutete Anwesenheit. Die Theater wurden zu Orten einer radikalen Neudefinition von Bürgerlichkeit, nicht als kulturelles Attribut, sondern als demokratisches Anrecht. Auch der Begriff des Politischen wurde damit im Theater an seinen Ursprung gebracht, die Polis, die Stadt, die Gemeinschaft, nicht die Gruppierung, die Partei, die Nation. Die Veränderungen des Politischen im Theater waren grundsätzlich. Man tat sich zusammen, man definierte Zeit anders, man definierte das Soziale anders. Auch hier veränderte sich die Vorstellung von Staat – weg von Anspruch hin zu Struktur, die Ermöglichung des Sozialen also als Realität an einem konkreten Ort. Ein Ausweg aus der Epidemie der Einsamkeit. Diese Einsicht, diese Erkenntnis macht aus den Theatern Orte gelebter Humanität in einer Gesellschaft, die immer diverser und in verschiedener Weise komplexer wurde und diese Orte dringend brauchte. Die Komplexität war real in den digitalen Welten, in den existenziellen Fragen von Klimawandel und den wirtschaftlichen Veränderungen, die in den 2030er Jahren zu mehr Gerechtigkeit geführt hatten. Sie war epistemischer Art, und sie schuf den Rahmen dafür, wie Institutionen geschaffen wurden, die dieser Komplexität Rechnung tragen. Prinzipien wie Systemdenken oder Selbstorganisation wurden immer wichtiger. Es zeigte sich damals auch, dass das Digitale die allem unterliegende Infrastruktur war, die die neuen Formen von politischer Organisation, wirtschaftlicher Praxis und einer neuen Arbeitsqualität erst ermöglichte. Als Infrastruktur erzeugte das Digitale, wie etwa die Straße, eine bestimmte Wirklichkeit, eine bestimmte Vorstellung von Raum, Entfernung, Geschwindigkeit. Das Digitale aber, und das war wichtig für die zentralen gesellschaftlichen Institutionen, die sich neu definierten und veränderten, war damit zugleich Infrastruktur und mehr als das. Das Digitale war eine Denkform, die das Heterogene bevorzugt, das Prozessuale, das Experimentelle, das Gleichzeitige. Das Digitale schuf neue Werte, Fragen, Probleme und Antworten. Konstruktiv gedacht ergab sich daraus eine neue Bewegung für Commons, also gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen Besitz von Daten oder auch anderen Gütern, eine Demokratisierung der Öffentlichkeit, die Teil einer umfassenden Demokratisierung wurde. Wir leben 2022 dem Namen nach in einer Demokratie. Manche Kriterien passen, manche nicht. Alles in allem scheinen wir uns aber auf eine bestimmte reduktionistische Definition von Demokratie geeinigt zu haben. Das gilt es zu verändern. Dafür brauchen wir Räume.

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Table Talk (Im)Possible Opera



SPECULATIVE THINKING

Zukunftsvorstellungen Was Theaterschaffende von der Zukunftsforschung lernen können David Weigend

Schauen wir heute in die Zukunft, so sind wir mit einer Reihe von Krisen konfrontiert. Besonders bedrohlich sind die ökologischen Krisen wie die globale Erwärmung, das Artensterben oder die schwindenden Ökosysteme. Neben den verheerenden Folgen für den Planeten verstärken die Krisen soziale Missstände wie Armut, globale Ungerechtigkeit, den Kampf um knappe Ressourcen oder Flucht und Migration. Doch wie konnte es so weit kommen? Schließlich waren die letzten 100 Jahre von einem rasanten Fortschritt geprägt. Das Leben der Menschen wurde viel besser. 1920 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 55 Jahren. Heute werden wir im Schnitt 80 Jahre alt. 1 1920 hatten in deutschen Großstädten die Menschen neun Quadratmeter zum Leben. 2 Heute sind es über 40 Quadratmeter, inklusive aller Annehmlichkeiten wie fließendes Wasser, Heizung oder Waschmaschine. 3 Wir können heute die ganze Welt bereisen, wir schicken Raketen ins All und haben das menschliche Genom entschlüsselt. Natürlich ist der Fortschritt und Wohlstand nicht gleich verteilt. Weltweit leben knapp neun Prozent der Menschen in extremer Armut. Doch auch diese Zahlen sind rückläufig. Bei all den positiven Entwicklungen fällt es schwer zu glauben, dass wir als Menschheit kollektiv auf eine Apokalypse zusteuern. Doch unser Wohlstand ist teuer erkauft. Er fußt zu großen Teilen auf der Ausbeutung der Natur und der Zerstörung der Ökosysteme. Und die Folgen sind krass. In Deutschland sind beispielsweise in den letzten 30 Jahren (gemessen an der Biomasse) mehr als drei Viertel aller Insekten verschwunden. Und jedes Jahr werden es weniger. 4 Weltweit stehen eine Million Arten am Rande des Aussterbens. Eine Studie von Yinon Bar-On zeigt, dass heute 95 Prozent der Tiere auf der Erde (gemessen an der Biomasse) Nutztiere sind. Nur 5 Prozent sind Wildtiere. 5 Die schönen Bilder, die wir in Naturreportagen im Fernsehen sehen, sind also nur eine Illusion. In Wirklichkeit gibt es heute kaum noch Wildnis. Der Mensch hat die Kontrolle über die Erde übernommen. Wissenschaftler:innen sprechen daher auch vom Anthropozän. Es markiert den Übergang in eine Epoche, in der der Mensch zum prägenden Faktor für das Erdsystem wird. 6 Und wir gehen denkbar schlecht mit unserem Planeten um. Viele Expert:innen betonen daher, dass für die

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große Transformation zu einer nachhaltigen Zukunft neben technischen Innovationen auch eine kulturelle und soziale Neuausrichtung notwendig ist. Im Futurium Lab widmen wir uns diesen großen Herausforderungen und entwickeln mit Expert:innen und Lai:innen neue Ideen für eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft. Dazu nutzen wir Techniken, die ihren Ursprung in der Zukunftsforschung und im Design haben. Die Zukunftsforschung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Industriegesellschaft entstanden. Sie machte Karriere in den 1960er Jahren. Damals herrschte Planungsoptimismus. Die Zukunft galt als mehr oder weniger berechenbar. Fortschritte in der Computertechnik unterstützten diesen Glauben. Ein bekanntes Beispiel ist die Studie Grenzen des Wachstums des Club of Rome. Sie basierte auf einem „Weltmodell“, das nach damaliger Überzeugung zukünftige Entwicklungen simulieren und berechnen konnte. Viele der damaligen Zukunftsstudien stellten sich später als grundlegend falsch heraus. Und so hat sich heute das Konzept einer offenen Zukunft durchgesetzt. Zukünftige Entwicklungen sind demnach mit einer so hohen Unsicherheit behaftet, dass wissenschaftliche Aussagen über sie nicht ohne Weiteres möglich sind. Heute beschäftigt sich die Zukunftsforschung daher nicht mit zukünftigen Gegenwarten, sondern mit gegenwärtigen Zukunftsbildern und Zukunftsvorstellungen. 7 Das Konzept der offenen Zukunft impliziert auch, dass viele unterschiedliche Zukünfte möglich und denkbar sind. Zukunftsforscher:innen entwickeln daher oft unterschiedliche Zukunftsszenarien, die das Spektrum der Möglichkeiten aufzeigen und die Unsicherheit betonen. Die Methodenpalette der Zukunftsforschung ist vielfältig. Sie umfasst quantitative und qualitative Ansätze und bedient sich Methoden wie der Delphi-Methode, Szenariotechniken oder Leitbildanalysen. Daneben kommen partizipative Ansätze wie Zukunftswerkstätten oder ko-kreative Methoden wie Design Thinking zum Einsatz. Im Futurium Lab greifen wir auf einen Mix verschiedener Techniken zurück – immer mit dem Ziel, die Perspektive auf mögliche Zukünfte zu erweitern. Hinter den verschiedenen Methoden und Forschungsansätzen verbergen sich Prinzipien, die auch im Kulturbereich gut genutzt werden können. Sie helfen, zukünftige Entwicklungen besser einzuschätzen, Zusammenhänge zu verstehen und sich selbst und andere zu motivieren, die Zukunft zu gestalten.

Wir sind alle von Zukunftsbildern geprägt Unsere Vorstellung von der Zukunft ist ein Mosaik aus dem, was wir bereits kennen. Ob Bilder aus der Science-Fiction oder Alltagserfahrungen – alles fließt in unsere Zukunftsbilder ein. So waren die Visionen der 1950er Jahre vom damaligen Technikoptimismus durchdrungen. Menschen träumten von Raumfahrt, fliegenden Autos oder Atomkraft. Doch die Rollenbilder der damaligen Zukunftsutopien blieben erstaunlich traditionell. Und so wurde die atombetriebene Zukunftsküche weiterhin von der Hausfrau bedient. Auch heute begegnen uns überall die immer gleichen stereotypen Zukunftsbilder: Hyperloops, grüne Hochhäuser, Quadrocopter, schwimmende Städte und natürlich humanoide Roboter. Für einen produktiven Zukunftsdiskurs sind jedoch frische Bilder abseits der Klischees notwendig. Zukunftsbilder, die unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume berücksichtigen und nachhaltige

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Konzepte zeigen. Bei der Produktion neuer Zukunftsbilder kann das Theater eine wichtige Rolle spielen. Es kann neue Ideen und Bilder erzeugen, Stereotype brechen und neue Blickwinkel auf die Zukunft ermöglichen.

In Szenarien denken Die Zukunft ist keine geradlinige Fortsetzung der Gegenwart. Sie ist ein Raum voller Möglichkeiten. Viele Menschen sehen die Zukunft als etwas, das sich prognostizieren lässt. Doch Statistik und Berechnungen stoßen schnell an ihre Grenzen. Gerade wenn wir uns längere Zeiträume anschauen, kommen wir irgendwann von begründeten Vermutungen zur reinen Spekulation. Szenarien sind wünschenswerte oder mögliche Zukunftsbilder. Diese können sich stark voneinander unterscheiden. Die Szenariotechnik erlaubt es, unterschiedliche Zukünfte systematisch zu erforschen und vorzustellen. Das Denken in Szenarien hilft, sich auf verschiedene Entwicklungen vorzubereiten. Die Szenariotechnik ist daher nicht nur ein Instrument der Forschung, sondern auch ein Werkzeug der strategischen Planung und ermöglicht Organisationen, flexible Strategien zu entwickeln. In einer Welt, die sich ständig im Wandel befindet, ist die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen und sich anpassen zu können, unerlässlich.

Wünsche und Fakten zusammenbringen Zukunftsforschung unterscheidet zwischen wünschbaren und möglichen Zukünften. Die ersten beruhen auf unseren Hoffnungen und Träumen, die zweiten auf beobachtbaren Trends. Im Futurium beschäftigen wir uns insbesondere mit den Wünschen der Menschen. Dabei betrachten wir drei Ebenen. Auf der persönlichen Ebene stellen wir die Frage nach den individuellen Wünschen. Was ist mir wichtig? Wie möchte ich leben? Diese Wünsche können im Konflikt mit der nächsten, der gesellschaftlichen Ebene stehen. Denn was dem Individuum nützt, kann der Gemeinschaft schaden. Die Fragen lauten dann: Was dient dem Allgemeinwohl? Und was bringt gesellschaftlichen Nutzen? Die letzte und grundlegende Ebene ist das System Erde. Was kann der Planet verkraften? Was benötigen andere Lebewesen? Diese Ebenen helfen uns, ein ganzheitliches Bild von wünschbaren Zukünften zu entwickeln. Auf Basis der Wünsche lassen sich beobachtbare Trends bewerten und einordnen. Was bringt zum Beispiel autonomes Fahren für Individuum, Gesellschaft und den Planeten? Oder der Einsatz von Gentechnik zur Entwicklung robuster Weizensorten, die ohne Pestizide wachsen können?

Einen breiten Blick auf die Zukunft haben Bei Diskussionen über die Zukunft neigen wir dazu, den Fokus auf wenige spezifische Punkte zu legen. So beschränkt sich die Diskussion über die Mobilität der Zukunft oft auf technische Aspekte wie Antriebsart, Reichweite oder autonomes Fahren. Kulturelle oder soziale Faktoren spielen kaum eine Rolle. Für eine produktive Auseinandersetzung ist ein breiter Blick auf die Zukunft wichtig. Dabei kann die STEEP-Analyse helfen. Das ist ein Framework zur Analyse von externen Faktoren. STEEP steht für Society, Technology, Economy, Ecology und Politics. Die systemati-

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sche Untersuchung dieser Bereiche hilft uns, besser zu verstehen, welche Chancen und Risiken zukünftige Entwicklungen mit sich bringen. Die Methode ist besonders nützlich, um Trends zu identifizieren und umfassende Szenarien zu entwickeln. Im Bereich Mobilität kann die STEEP-Analyse den Blick beispielsweise auf folgende Fragen lenken. Society: Wo wollen die Menschen in Zukunft wohnen und arbeiten? Welche kulturellen Codes machen Autos zu Statussymbolen? Economy: Wie teuer wird Mobilität, wenn CO2 voll bepreist wird? Ecology: Wie viel Fläche nehmen Straßen der Natur weg? Politics: Welche Verkehrsmittel haben den größten gesellschaftlichen Nutzen und sollten vom Staat finanziert werden?

Kreative Teams bilden Ein weiteres Prinzip der Zukunftsforschung ist ihre inter- und transdisziplinäre Ausrichtung. Sie vereint Wissenschaftler:innen aus diversen Disziplinen wie Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und Ingenieurswissenschaften mit Akteur:innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Insbesondere für die Entwicklung neuer Ideen sind diverse Teams wichtig. Innovation sprießt oft aus der Begegnung von Gegensätzen. Aber diese Vielfalt ist nicht ohne Herausforderungen. Im Futurium setzen wir daher auf Prototyping. Es ist oft leichter, eine Idee durch einfache Materialien wie Papier und Knete darzustellen, als sie kompliziert zu erzählen. Diese Herangehensweise ermutigt Teams, zu experimentieren, kühne Ideen zu erforschen und neue Wege zu gehen. Ohne diesen kreativen Spielraum können Teams in der Falle des Common Sense landen, in der alle nur über das sprechen, was sie bereits kennen, und das Potenzial der vielfältigen Expertise ungenutzt bleibt.

Settings für kritische Reflexion schaffen Eine Technik, die wir im Futurium viel nutzen, ist spekulatives Design. Im Gegensatz zum herkömmlichen Design, das sich auf die Lösung aktueller Probleme konzentriert, wirft spekulatives Design einen Blick in die Zukunft. Es stellt Fragen und provoziert. Objekte werden gestaltet, um eine Debatte auszulösen. Manchmal sind diese Designs absichtlich verstörend oder surreal, um die Menschen aus ihrer Komfortzone zu locken. Ein Beispiel für einen kritisch spekulativen Ansatz ist die Arbeit Smile to Vote von Alexander Peterhänsel. Sie hinterfragt die ethischen und gesellschaftlichen Implikationen von Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz. Kernstück ist eine fiktive Wahlkabine, die mit Gesichtserkennung funktioniert. Die Wähler:innen schauen dafür in eine Kamera und das System stimmt automatisch für eine Partei ab. Dazu wurde das System mit den Gesichtern der Bundestagsabgeordneten trainiert. Auf Basis dieser Daten schließt das System von den physiologischen Eigenschaften des Gesichts auf die politische Einstellung der Menschen. Die Arbeit greift kontroverse Forschungsmethoden auf, die davon ausgehen, dass sich von äußeren Merkmalen auf innere Eigenschaften schließen lässt. Heute werden ähnliche Systeme bereits bei der Überwachung von Bahnhöfen oder Flughäfen eingesetzt. Das Ziel der Arbeit ist, die Grenzen und Risiken digitaler Technologien im demokratischen Kontext kritisch zu überdenken. Es wirft die Frage auf, ob wir von Algorithmen kontrolliert werden wollen oder die Kontrolle selbst behalten wollen. 8

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Gemeinsam Informationen sammeln Partizipative Methoden spielen eine wichtige Rolle in der Zukunftsforschung. Eine häufig genutzte Methode ist die Zukunftswerkstatt. Sie wurde in den 1960er Jahren von Robert Jungk entwickelt. Ziel der Methode ist es, Menschen von passiven Betroffenen zu aktiven Gestalter:innen zu machen. Ein Defizit vieler klassischer partizipativer Methoden wie der Zukunftswerkstatt ist, dass Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen werden, ohne belastbare Daten zu haben. Hier setzt Citizen Science oder Bürgerwissenschaft an. Citizen Science ermöglicht die Einbindung von Bürger:innen in verschiedenen Stufen eines Forschungsprozesses. Das reicht von der Fragestellung und Planung eines Projekts bis zur Datensammlung und Kommunikation der Ergebnisse. Citizen Science nutzt dabei oft neue Technologien wie Handys, Open-Source-Software oder günstige Mikrocontroller und Sensoren. Technologien, die in den 1960er Jahren noch nicht verfügbar waren. Citizen Science kann so partizipative Prozesse enorm stärken und neue Formen von Zukunftsdiskursen ermöglichen. Ein Beispiel aus dem Futurium Lab ist das Projekt SensorBikes. Es entstand in Kooperation mit dem Team von SenseBox und besteht aus kleinen DIYMessstationen für Fahrräder. Die Messstationen können einfach am Fahrradsattel montiert werden und erheben Daten wie die Luftqualität, die Bodenbeschaffenheit oder den Abstand zu den vorbeifahrenden Autos. Die Messergebnisse werden als frei verfügbare Open-Source-Daten ins Internet geladen und können von allen Menschen genutzt werden. Mit den Daten lassen sich beispielsweise Gefahrenstellen im Straßenverkehr identifizieren. Sie bilden die Grundlage für Stadtplanung, Bürger:inneninitiativen und Zukunftsgestaltung. 9

Spielerisch Systeme verstehen Im Futurium Lab nutzen wir Spiele als Werkzeuge des Verstehens. Ein gutes Beispiel ist der Future Mobility Simulator. Die Installation basiert auf dem Cityscope Projekt des MIT Media Lab. 10 Mit Legosteinen bauen die Besucher:innen eine Miniaturstadt, die automatisch in eine Computersimulation übertragen wird. Die Bewohner:innen der Legostadt werden durch virtuelle Agent:innen repräsentiert, die bestimmten Regeln folgen. Die Simulation erlaubt es den Besucher:innen, eine Vielzahl von Szenarien durchzuspielen. Dabei erhalten sie Feedback von den virtuellen Bewohner:innen. Die Simulation ist damit weit mehr als ein theoretisches Modell. Sie ist ein dynamisches Werkzeug, das sowohl Planer:innen als auch der breiten Öffentlichkeit ermöglicht, die Konsequenzen verschiedener Szenarien in einem geschützten Rahmen zu testen. So trägt der Future Mobility Simulator aktiv zur Gestaltung einer nachhaltigeren und effizienteren urbanen Zukunft bei. 11

Reale Experimente für neue Lösungen Oft reichen Theorie und Simulation nicht aus und Ideen müssen in der Praxis erprobt werden. Dafür hosten wir im Lab regelmäßig reale Experimente, beispielsweise zum Thema Kreislaufwirtschaft. Die Kreislaufwirtschaft versucht, Ressourcen so lange

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wie möglich im Umlauf zu halten. Statt Produkte nach der Nutzung wegzuwerfen, werden sie recycelt, repariert oder weitergenutzt. Das Ziel ist eine nachhaltige Wirtschaft ohne Abfall. Kreislaufwirtschaft ist nicht nur ein technisches Problem, sondern verändert auch die Gestaltungsprozesse. Ein Beispiel ist das Projekt Cloudfill, das wir zusammen mit dem Berliner Architekturbüro Certain Measures entwickelt haben. Anstatt mit einer vorgefertigten Designidee zu starten, beginnt das Projekt mit dem Material, das bereits vorhanden ist. Im Beispiel der Cloudfill war dies eine alte Datsche, die abgerissen und zerlegt wurde. Das Abbruchmaterial war dann der Ausgangspunkt für das Design eines neuen Gebäudes. Diese radikale Umkehr des Designprozesses wird durch einen Algorithmus unterstützt, der das verfügbare ­Material scannt und optimale Nutzungsmöglichkeiten vorschlägt. Damit wird Abfall, der sonst auf Deponien landen würde, in wertvolle Ressourcen für den Bau neuer Gebäude umgewandelt. 12 Diese neun Prinzipien sind nur ein Ausschnitt von sinnvollen Ansätzen und Techniken, um die Zukunft zu gestalten. Der Weg der Transformation zu einer nachhaltigen und gerechten Welt ist schwierig. Er erfordert ein kollektives Umdenken und Mut, sich großen Herausforderungen zu stellen. Das Theater kann aus meiner Sicht hier einen wichtigen Beitrag leisten. Indem es neue Zukunftsbilder schafft, die Bühne als Raum der gesellschaftlichen Verhandlung nutzt, uns inspiriert, provoziert oder ­einfach nur träumen lässt.

FUSSNOTEN 1 Statistisches Bundesamt: „Seit 1950 wurden in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich 405 000 neue Wohnungen pro Jahr fertiggestellt“, Statistisches Bundesamt 2023, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/06/PD23_N041_31.html. 2 Pfister, Ulrich: „Wohnen – Alltagsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert“, Universität Münster 2014, https://www.wiwi.uni-muenster.de/wisoge/sites/wisoge/files/downloads/skripte/alltagsgeschichte/ s09_wohnen_folien.pdf. 3 Ohne Autor:in: „40,9 Quadratmeter in Großstädten: Die Deutschen leben auf immer größerem Raum“. Tagesspiegel, 9. Februar 2022, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/die-deutschen-leben-aufimmer-grosserem-raum-4780588.html und Statistisches Bundesamt: „Seit 1950 wurden in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich 405 000 neue Wohnungen pro Jahr fertiggestellt.“ 4 ARD alpha: „Insektensterben: Drastischer Insektenschwund in Deutschland | Rote Liste | Artenschutz | Tiere | Natur | Verstehen“, ARD alpha, ohne Jahr, aufgerufen am 28. November 2023, https:// www.ardalpha.de/wissen/natur/tiere/artenschutz/rote-liste/insekten-insektensterben-insektenschwund-bienen-schmetterlinge-grillen-kaefer-100.html und Hallmann, Caspar A. et al.: „More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas“, in: PLOS ONE (2017), https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809. 5 WDR Quarks: „So viele Nutztiere gibt es auf der Welt“, WDR Quarks, 2019, https://www.quarks. de/umwelt/landwirtschaft/so-eindeutig-sind-nutztiere-in-der-ueberzahl/; Bar-On, Yinon M., Rob Phillips und Ron Milo: „The biomass distribution on Earth“, PNAS (2018), https://doi.org/10.1073/ pnas.1711842115. 6 Crutzen, Paul J.: „Geology of mankind“, nature 415, Nr. 3 (2002), https://doi.org/10.1038/415023a. 7 Grunwald, Armin: „Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft?“ In: Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, hrsg. v. Reinhold Popp und Elmar Schüll, Heidelberg 2009. 8 Futurium: „Smile to Vote“, Futurium 2019, https://futurium.de/de/smile-to-vote. 9 Futurium: „SensorBikes“, Futurium 2021, https://futurium.de/de/sensorbikes. 10 MIT Media Lab: „CityScope“. MIT Media Lab, ohne Jahr, aufgerufen am 2. Dezember 2023, https:// www.media.mit.edu/projects/cityscope/overview/. 11 Futurium: „Future Mobility Simulator“, Futurium 2021, https://futurium.de/de/future-mobility-simulator. 12 Futurium: „CloudFill“, Futurium 2019, https://futurium.de/de/cloudfill.

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SPECULATIVE THINKING

Wissen für die Zukunft Andreas Wehrl

Das Wissen der Gegenwart 2040 ist mein Sohn volljährig. Mit dieser Feststellung markiere ich die Überforderung, die mit so einem Zukunftsdatum einhergeht – ich kann darüber fast gar nichts wissen. Der Satz löst zwei weitere Irritationen bei mir aus. Wir sprechen heute, wenn wir über Zukunft sprechen, viel über Krisen und wir wissen darüber sehr viel, gerade was uns die Physik lehrt. Wir wissen etwa genug über den Klimawandel, um schnellstens etwas gegen ihn zu unternehmen. Doch Wissen führt trotz aller Evidenz der Krisen nicht notwendigerweise zum Handeln. Diese frustrierende Tatsache ist ein Baustein in dem Dreieck aus Wissen, Theater und Zukunft, über das ich sprechen möchte. Ich halte sie in einem einfachen Satz fest: Die Welt steckt in einem bösen Traum. Die zweite Irritation ist eine Art Schuldempfinden, das sich meldet, wenn ich der Einladung folge, mich auf diese Reise in die Zukunft zu begeben. Denn wir leben in einer Zeit, in der wieder Städte vernichtet und Menschen im Krieg umgebracht werden. Ist es da nicht eine Flucht vor der Wirklichkeit, mich mit Zukunftsproblemen auseinanderzusetzen? Natürlich müssen wir beides zugleich leisten, aber der Schuldreflex ist ein Hinweis, der mich an etwas erinnert, das ich wiederum in einem einfachen Satz festhalte: Die Welt steckt nicht nur in einem bösen Traum, sondern auch in einer bösen Wirklichkeit. Nachdem ich die beiden Sätze notiert hatte, war mir leichter. Es fühlte sich gut an, die böse Gegenwart beiseitezuschieben und stattdessen über Zukunft zu sprechen – ich vermute, weil die Zukunft nur erzählt ist. Sie ist etwas, von dem wir wissen, dass wir nicht viel darüber wissen können. Dann habe ich mich gefragt, wie heute über Zukunft gesprochen wird. Wir sagen viel darüber, was wir am Heute ändern wollen, und wir müssen am Heute ziemlich viel ändern. Das betrifft weit mehr Themen als den Klimawandel, man blicke nur in die Agenda dieser Zukunftskonferenz. Neben Veränderungen zum Positiven hin sprechen wir auch oft darüber, was wir in der Zukunft verhindern wollen. Es geht um Zukünfte, die nicht eintreten sollen, um Krisen und Katastrophen. Es geht um das

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Abwenden von etwas, das mathematisch und in Modellen und Berechnungen, aber auch narrativ und künstlerisch beschrieben wird. Alles, was wir am Heute ändern und in der Zukunft abwenden wollen, folgt dem Versuch, Leid zu verhindern. Über Zukunft wissen wir gleichzeitig erschreckend viel und erschreckend wenig. Wenn eine Flugzeugturbine in 10.000 Metern Höhe Kerosin verbrennt, wissen wir sehr genau, was dabei physikalisch und chemisch passiert. CO2-Moleküle, die wir in der Atmosphäre deponieren, verbleiben dort etwa 100 Jahre. Am Ende kommt eine Menge raus, das klimawirksam ist, vor allem CO2-Moleküle. Und wenn nun von der Erde oder den Wolken reflektierte Strahlung der Sonne auf ihrem Rückweg ins Weltall auf ein CO2-Molekül trifft, beginnt dieses zu schwingen und die Energie, die eben noch ins All zurückwollte, verbleibt in der Erdatmosphäre. Diese und viele weitere Zusammenhänge sind sehr klar und mittlerweile gut durchschaut. In anderer Hinsicht wissen wir zugleich erstaunlich wenig. Eine große Zahl an Publikationen besteht aus Szenariorechnungen, die sozioökonomische Transformationen beschreiben. Diese Szenarien sind gewissermaßen Landschaften unserer Vorstellung des Kommenden. Sie entwerfen Bilder von Zukunft, aufgrund derer politische Entscheidungen getroffen werden. Sie werden mit viel Aufwand und Gründlichkeit erstellt und sind doch in einer Weise profan und defizitär. Sie sind profan, weil für Zukunftsszenarien zahlreiche Annahmen getroffen werden müssen. Das betrifft beispielsweise Zeitpunkte, zu denen neue Technologien in der Industrie verfügbar sein werden, oder auch Zahlen dazu, wie viele Menschen auf eine fleischlose Ernährung umstellen. Derartige Werte sind notwendig, um die Studien zu erstellen, auf deren Basis politische Entscheidungen getroffen werden. Sie sind wirkmächtig, obwohl sie Elemente beinhalten können, die auf sehr wackeligen Beinen stehen. Das Zukunftswissen ist außerdem auch defizitär, weil es oft fantasielos und empathielos bleibt. Alle Szenarien und Modelle müssen sich beschränken, einige haben offensichtliche Schwächen. Doch auch bei der besten Intention, alles Relevante zu berücksichtigen, liegen ihnen immer auch Entscheidungen darüber zugrunde, was nicht relevant genug ist. Inwiefern unsere Entscheidungsgrundlagen defizitär gewesen sein werden, werden wir in der Zukunft wissen. Wie können wir darauf reagieren? Ich stelle die These auf, dass wir eine Expertise für Physik, Fiktion und Leid brauchen. Der Klimawandel illustriert das beispielhaft: Zu einem Verständnis physikalisch-technischer Grundlagen brauchen wir Fantasie, um uns nicht ganz der scheinbaren Übermacht gegenwärtiger Erfordernisse auszuliefern. Und wir brauchen den Blick auf das Leid, weil es am Ende immer um reale Konsequenzen für Menschen geht, wenn wir über Zukunft sprechen.

Das Wissen, das fehlt Teil zwei habe ich überschrieben mit „Das Wissen, das wir brauchen“ – und mich dann gleich unterbrochen und notiert: Es ist vermessen zu behaupten, wir wüssten, welches Wissen wir brauchen. Denn in dieser Behauptung steckt eine Hybris. Besser wäre vielleicht zu fragen, welches Wissen fehlt. Ich habe über vier Formen nachgedacht, die ich überschrieben habe mit: das spielerische Wissen, das unsichtbare Wissen, das narrative Wissen und das ertrunkene Wissen.

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Das spielerische Wissen ist ein Begriff, der mir in den Sinn kam, als ich über die Münchner Klimakonferenz 2051 nachgedacht habe. 1 Bei diesem Projekt haben wir mit künstlerischen Mitteln ein Setting entworfen, das Wissenschaftler:innen einladen sollte, eine Retrospektive auf das Wissen von heute zu versuchen. Und das wurde zum Glück angenommen – zum Glück, denn wir haben den Expert:innen keine Honorare bezahlt. Stattdessen wollten wir die Konferenz so konzipieren, dass sie intrinsische Teilnahmen motiviert. Das bedeutete zusätzliche Arbeit für die Menschen, die hierfür einen wissenschaftlichen Beitrag erarbeiten sollten. Und sie haben davon Gebrauch gemacht, haben die Konferenz als Spielwiese in verschiedener Form genutzt. Eine Erkenntnis für mich war: Wir können mit künstlerischen Mitteln an andere Disziplinen herantreten und das kann zu völlig neuen Arbeiten führen. Im Falle dieser Konferenz haben zahlreiche Wissenschaftler:innen Texte verfasst, in denen sie aus einer fiktiven Zukunft, dem Jahr 2051, auf die heutige Gegenwart in ihrer Disziplin zurückblicken. Ein Konferenzband versammelt die Texte, das Archiv wird hoffentlich bis ins Jahr 2051 verfügbar sein und dann möglicherweise wiederum beforscht werden. Wissen, das so in die Welt kommt, nenne ich spielerisches Wissen. Das unsichtbare Wissen könnte man auch das weitgehend inoffizielle Wissen nennen. Es gibt in der Klimawissenschaft die Begriffe des indigenen Wissens und des lokalen Wissens. Sie finden sich in den IPCC-Sachstandsberichten, die nur alle fünf oder sieben Jahre erscheinen und der Versuch sind, ein Kompendium über das gesamte Wissen der Menschheit über den Klimawandel und seine Folgen zu erstellen. Diese Berichte umfassen Tausende Seiten. Für meine Magisterarbeit habe ich den vierten Bericht weitgehend gelesen, etwa 3000 Seiten. Mittlerweile ist der sechste erschienen, er ist noch wesentlich umfangreicher. In ihm findet sich ein Kapitel über indigenes und lokales Wissen. Darin ist dieses Wissen definiert. Die Definitionen besagen, es handle sich um Kenntnisse, Fähigkeiten und Philosophien von Gemeinschaften, die seit langer Zeit in einer Umweltumgebung leben und darüber ein spezielles Wissen haben. Lokales Wissen ist analog beschrieben, aber bezogen auf einen konkreten Ort und mit einer Einordnung versehen, dass dieses Wissen immer einer Kontextualisierung bedarf, weil man nicht zu einer eindeutigen Definition kommt. 2 Was in diesem riesigen Korpus an Wissen über den Klimawandel nun aber nicht enthalten ist, ist ein Kompendium dieses indigenen oder lokalen Wissens. Diesen Kontrast fand ich interessant. In den Richtlinien des Weltklimarats für die Aufnahme von Quellen in den IPCC-Bericht kann man nachlesen, dass Quellen aus peer-reviewed Journals, also begutachtete Beiträge aus Wissenschaftspublikationen aus dem Bereich Wissenschaft, Technik und Sozioökonomie zulässig sind. Ebenfalls möglich sind Berichte von Regierungen, aus Forschung, Industrie, Forschungseinrichtungen, internationalen Organisationen sowie Konferenzberichte. Den Organisator:innen dieser Konferenz sei also zugerufen: Macht einen Konferenzbericht, dann wird das, was hier gesprochen wird, zitierfähig im Sinne eines IPCC-Berichts. Und dann ist noch beschrieben, was als Quelle nicht akzeptiert werden kann: Das sind Zeitungsund Magazinartikel, Blog-Beiträge, Beiträge aus Social-Network-Seiten. Es handelt sich also ausnahmslos um Beiträge in geschriebener Form. Selbst die Ausschlussliste enthält nur Quellen, die dem Charakter nach Dokumente sind. Während diese Arbeitsweise diese monolithischen Kompendien erst möglich macht, zeigen sich hier auch Grenzen.

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Wenn ich nun über narratives Wissen spreche, ist das nicht als Beispiel von indigenem Wissen gedacht, auch wenn die Assoziation naheliegt. Es geht mir darum, einige Prinzipien dieser Wissensform zu beleuchten. Lyotard schreibt von der Vorherrschaft der narrativen Form in der Formulierung traditionellen Wissens 3 von den Cashinawa-Erzähler:innen, deren Erzählungen stets so beginnen: „Dies ist die Geschichte von …, so wie ich sie immer gehört habe. Jetzt werde ich sie erzählen, hört sie an.“ Und sie enden stets gleich: „Hier endet die Geschichte von … Der, der sie euch erzählt hat, ist … (cashinawischer Name), bei den Weißen: (spanischer oder portugiesischer Name).“ Dieses Beispiel könnte man nun gut ins Seminar mitnehmen und seine erzählerischen Kompetenzbehauptungen analysieren: Ich kann die Geschichte weitergeben, weil ich sie selbst gehört habe. Weil sie überliefert ist – und zwar seit jeher –, erhält sie eine Art Ewigkeitsstatus, selbst wenn sie erfunden ist. Und Held:in und Erzähler:in haben den gleichen Status, sie werden miteinander identifiziert. Was sagt mir das für die hier skizzierten Überlegungen? Wissen kann man nicht allein auf Wissenschaft reduzieren und auch nicht auf Erkenntnis. Es ist mehr. Hier haben wir ein Beispiel für eine von einem Subjekt verkörperte, performative Form von Wissen. Sie fällt durch den Kriterienkatalog des IPCC und als Quelle für die Entwicklung von Transformationsszenarien bietet sie sich auch nicht gerade offensichtlich an. Theaterschaffenden hingegen wird es vermutlich nicht viel Fantasie abverlangen, hier von Wissen zu sprechen. Die letzte Wissensform habe ich das ertrunkene Wissen genannt. Vom ausgestorbenen oder verdursteten Wissen zu sprechen wäre genauso angebracht, die gegenwärtigen Krisen bringen viele Formen des Leids mit sich. Irgendwann habe ich angefangen, Zeitungsmeldungen weiterzuschreiben. Das ist reizvoll, weil der Ausgang von Meldungen oft sehr unbefriedigend ist und manchmal einfach deprimierend. 2016 hatte ich einmal eine Meldung über 104 vor der libyschen Küste geborgene Leichen gelesen. Ich habe den knappen Text für mich weitergeschrieben. Was sich abspielen muss, wenn Menschen im Meer ertrinken, wird dabei auf bitterste Weise real. Zugleich hinterlassen die Ereignisse keinen Nachhall. Über den ertrunkenen Menschen schließt sich das Meer und dann herrscht dort Sturm oder Stille, das wissen wir nicht. Über das, was sich auf einem Boot und im Wasser ereignet, wenn alle, die an Bord waren, ertrinken, haben wir kein Wissen. Wir können ihrem Schicksal auch sicher nicht gerecht werden, wenn wir versuchen, uns diesem schreibend zu nähern. Den Versuch können wir aber machen und durch die Erzählung eine Form von Erinnerung und von Wissen herstellen – so ungenügend es auch sein mag. Diese letzte Wissensform knüpft für mich an die These an, nach der unsere Versuche, Zukunft zu gestalten, auch immer damit zu tun haben, Leid zu verhindern. Das trifft zu, wenn wir uns für den Erhalt der Biodiversität oder im Kampf gegen den Klimawandel engagieren, aber auch, wenn wir den Widerstand der Ukraine gegen Russland unterstützen. Das soll nun nicht der bemühte Versuch sein, mich von den beiden Metaphern des bösen Traums und der bösen Welt, in der wir stecken, zu einem zuversichtlichen Ende zu dehnen. Was ich aus dieser Einladung zum spekulativen Nachdenken für mich mitnehme, ist vor allem Folgendes: Wenn wir über Zukunft sprechen, will ich mich daran erinnern, dass ich über etwas spreche, das real ist, sich in irgendeiner Weise realisiert, und wo es immer darum gehen sollte, Leid zu verhindern. Hier ist etwas zu erreichen: Wissen muss nicht folgenlos bleiben.

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FUSSNOTEN 1 Heisel, Benno, Andreas Wehrl, Theresa Spielmann und Christina Wehrl (Hrsg.): The 2051 Munich Climate Conference. Future Visions of Climate Change, Bielefeld 2023. 2 Begum, Ara, R. Lempert, E. Ali, T.A. Benjaminsen, T. Bernauer, W. Cramer, X. Cui, K. Mach, G. Nagy, N.C. Stenseth, R. Sukumar und P. Wester, 2022: „Point of Departure and Key Concepts“, in: Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, hrsg. v. H.-O. Pörtner, D.C. Roberts, M. Tignor, E.S. Poloczanska, K. Mintenbeck, A. Alegría, M. Craig, S. Langsdorf, S. Löschke, V. Möller, A. Okem, B. Rama, Cambridge, UK und New York, NY, USA, S. 148. 3 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 3. Aufl., Wien 1994.

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SPECULATIVE THINKING

Rebuilding the Future in an Adjacent Area Sivan Ben Yishai

God is Change. Octavia E. Butler

It is the year 2040 and it’s been years and years of debates now regarding my future. There were plans to refurbish my body and restore it, then plans to divide me into a few houses, or rebuild me, temporarily, at the outskirts of the city. The arguments were loud. From one side people shouted: Times have changed – demolish! From the other: The past is the future – preserve! Initiatives in favor of keeping me as a site of historical and cultural significance clashed with initiatives for using the land on which I was built for affordable housing. Activists collected signatures and brought my future to a referendum – This building used to be vivid, these stages used to be fully booked, but accept it – not anymore! Everybody had an opinion: local and state officials, city planners, environmental activists, people who loved me, people who despised me, people for whom I was a home, people who couldn’t afford a ticket and hadn’t walked through my doors even once in their lives. They all gave speeches or told their personal stories and didn’t stop arguing whether I should be restored or left behind, commemorated or dismantled, and if dismantled, how to do it ecologically, would it be possible to reuse my materials afterwards, and in any case, how to pay for it, who should pay for it, when to start. My huge entrance doors remained locked, a red and white tape was stretched on them in an X-shape, fences were put up all around me, Danger signs and No Entry stickers were to be seen on every column, hung on every wall. Winters went by, once in a while the debate flared up again, but was then muted by another, always more important topic. My huge body had slowly begun to decay. Out of time, out of sight, my innards were lying in the dark like on the bottom of the sea. The glass in my windows was shattered, the doors were swinging in their hinges, my façade gradually lost its colour and got covered in bird droppings. The golden

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letters at the highest point of the building disappeared overnight, probably stolen by a group of teenagers or something like that. Climbing plants crawled in every direction and covered the concrete with thick green surfaces, protecting it like layers of fat, cocooning me from the cold. Within my body, the stages started to rot, lost their shape and colour and got colonised by fungi that digested, slowly, the moist wood. A mouldy smell filled my interior, soil piled up on the red velvet carpets, contaminated dust covered every machine. Rusted metal and dust, shattered windows and dust, thin rays of light capturing little whirlpools of dust. By the way, did you know that the author Shmuel Yosef Agnon has written that dust is the sorrow of goddesses for all the rooms which stand empty, while so many humans have no roof to protect them? That dust is the tears shed by gods, for all the millions of empty square metres all over the world, while so many beings are looking for a roof, are drowning in the sea. The public arguments have grown silent. I was forgotten. I was close to losing any colour that I remembered I had ever had in me, when the moss started covering my interior halls and rooms. It grew on the smooth walls and covered them with green shiny velvet, it spread on the ceilings and filled every crack: seedless moss, rootless moss, coming from nowhere, just here for now, pastless, goalless, horizontal, thick and hairy like fur, concealing colonies of insects of all kinds which lived and died in it, mated and laid eggs, filling the room with their rhythmical movement, with their constant rustle that got mixed with the sound of flowing water coming from the walls, a few pipes cracked and trickles of water started flowing down, flooding the carpets and oozing through the floors. And the water started to push against my foundation, against 15 ft. of concrete, and the pressure caused a movement, only a few millimetres, which was followed by the floors and walls shifting position, which made the ceilings start to slowly crack, slowly bend and eventually sag. And in the long winter that followed, as snow accumulated on the roof and wind, water and trash added extra weight – one night, on the northern side of the theatre, right above the huge wide stairs in my centre, one ceiling eventually collapsed. The long winters had morphed into endless stormy summers and sour rain started to pour in through my open ceilings. Phosphoric winds were blowing through my corridors like horrible dreams, shattering every remaining glass surface, destroying every mirror. The water raged down the stairs, stormed into the entry hall, ate away at the edges of the carpets and kept on boiling there for days, as though it was lava that stemmed from an infected wound in the earth’s core, as though it was lava that was bubbling there and wouldn’t cool down. But after who knows how long, the winds eventually ceased, the waves got gradually smaller, the rains stopped, and the temperature has slowly begun to decrease. The body of water in the centre of the marble foyer stood still, and it didn’t take much time until the first Mangrove tree appeared. It grew there, by itself, on one of the shallow margins of the water, but was then followed by another tree, and then another tree, and within only a couple of days, an enormous thicket of brown roots and green branches surrounded the water completely; and while the exterior of the house – the balconies and the deco, the huge columns with the finely detailed ornamentation – continued to decay, new

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varieties of aquatic plants started developing within me, filling my lungs with fragrance, charging the water with oxygen. And this was when the first fish had appeared. A few lizards, a couple of snakes. You already understand where it’s going, right? Not too long after, a turtle started wandering around my corridors, two nutrias, one red wolf and even two baby alligators, all living between the forested shore and the neon-green duckweed surface of the water, my body had started to teem with life, nests were built under the trees and among the roots, seeds and nectar of flowering plants were nourishing the reptiles and the amphibians, and under the chandeliers, wild sows were swallowing worms, chewing flowers and defecating in every office, in every workshop, on the big stage, on the small stage, in every wardrobe and on every desk, and the faecal matter got covered by dry leaves, flushed by piss and water, soaked up into the muddy carpets, absorbed into the rotten floors, filling them with maggots and bacterium, cradling the animals that rolled on it back and forth. And little mice were running between the coulisses, and birds were head-diving to the water, then sprang back to the ceiling, and offspring of all species were napping in the warm velvet laps of the folding chairs, life was bursting out of every room, out of every corner, peeked at me from every direction, roared at me, and don’t ask me how, I have no reasonable answer, but yes, the little light that came from the hole in the ceiling was somehow enough for all this to occur, this little hole on my roof was all that was needed. It is almost impossible to recall when exactly the first group of humans had come to the building. They locked themselves in one of the old storerooms under the ground and lay there, naked, curled into one another for months, thrown on their side like a broken machine. None of them ever climbed to the ground floor or came close to the body of water, none of them ever interacted with another species. They just lay there, bent, below an old control-panel, disguised by vegetation. I didn’t even remember their presence there, which might have been the reason I hadn’t noticed it, when one day, the storeroom was empty, its door was open and they were gone. Days later, I identified them crawling beneath the thicket, always close to the walls, always clinging to one another, as though a hand was sewn to a leg, a head to a bottom, a back to a belly. Their heads peeked out and disappeared, their limbs were swaying in every direction like tentacles: one body made out of dozens, moving in spirals, proceeding carefully, slowing down at once if another species crawled in its direction, waiting patiently, motionless, if it tried to draw near, waiting for it to sniff, allowing it to climb up, which eventually added multiple different heads to this body, numerous shiny eyes that were blinking in all the colours under every armpit, hundreds of non-human and human and more than human genitalia, a couple of stork wings that were flapping powerfully between this body’s curves, dragging this creature back and forth on the water surface. Every day this body changed its form and size completely, every day it was joined by more and more species, one day it had hundreds of erecting limbs, and on the day afterwards, it was still as a rock, pale as a sleeping octopus in its crevice, one day it dived in the water and lay on the seabed for days, on others, it was rolling along the whole house, moving in cartwheels through the old offices, through the flooded stages, through the wild vegetation

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of the canteen and the back gardens. It had no upper part or lower part, it had no head or anus, like a starfish: multidirectional, no beginnings, no ends, no vertebras, no shields, silent, blind, aimless and eternal, like the future itself. And the room was full with the bleats of whelps mixed with the moans of birth giving, the room was full with the juices of copulating mixed with the pus of deadly fights, full with exposed sweaty skins, with wet dirty furs, full of rubble, full of saliva, covered by faeces. And in every corner, believe me, someone was mating, in every wardrobe and on every stage, under the water and on the tree tops, I mean, in the booking offices, wild dogs were mating, where the cash-boxes used to stand, turtles were mating, above them, on the windowsills, birds were mating, within the mosses, insects were mating, and hyenas were mating with dogs, and tigers were mating with wolves, and rabbits with cats, and mice with rats, and humans with – ok, TMI –, and really, my friends, it’s been so many years that we’ve known each other, I recognise each and every one of you, and you recognise me too, I know, and still then how to explain it, how to explain this moment when something really new happens to you, happens in you, I mean, it might have happened endless times before, yet it’s completely new for this moment, completely new for this place, you see, new species were born in me and filled my interior spaces, and how did it happen, and how to name these creatures, how to classify them, how to recognize them, and why didn’t it happen before – I don’t know! Because at that point I wasn’t more than the shell of my body, I wasn’t more than the frame of all that had happened within me, I wasn’t more than the stage of all that appeared in me, and so, all I had done was to basically avoid intervening and just let the growing life in me thrive, let it form, let it deform, let the wordless noise increase: new, yet familiar, foreign, yet it seemed like it had always been here, it seemed like these species had been here the whole time, had been here during every outstanding show and every sleepy panel-discussion, every anxiety attack and every war, they were here, hidden, the whole time like the ruins are hidden in the architecture, like the decay is hidden in the youth, like the bacteria. Exactly like the bacteria that is embedded in the skin since day one, yet no one sees it, that is always part of the body, still, the ultimate other, but I tell you: now comes the time of the bacteria, finito la comedia, it‘s dead, I‘m done, now comes the time of the bacteria, because she is the one who knows how to rise, only she is the one who starts to live when the matter dies, only she grows with death, flourishes with corruption, multiplies when the body stops, builds when everything else is stuck. From all the forms of life – it’s her, from all the actors, the writers, the directors – it’s her, who was always there, part of me, she was there before them, she was there after them, she witnessed everyone, everything, yet was never asked, was never seen, was never heard, never mattered, never considered – an assistant in a theatre, a 20-year-old assistant in an old, panting theatre world, an assistant, a bacteria in a dying body, whom everyone is trained to ignore, whose opinion no one wants to hear, not the director, not the actors, not you, no one, not me either, I never wanted to hear her, never had time, never had patience, I mean, who would have ever imagined that she and none other than her was the one to know what to do after this body decays, was the one to know how to live after death, how to rebuild after everything is done. She knew, but as she was never asked, she never spoke, sat on the side and never spoke, unnoticeable, undetectable, she saw generations of shooting stars flying and diminishing, burning

204


and getting burned, and never spoke, watched rehearsals and shows and didn’t say a thing, an assistant who doesn’t count, the assistant who no one counts, who no one remembers. But she was there and waited, she did her job, followed from the side and waited, and not like a spectator waiting for another show to finally end, but like the bacterium awaits a body to die so it can finally start to break down the cells, and break the capillaries open, and release the trapped gas within the cavities of the corpse, let the bodily fluids leak out, let the blood flow, let it harden, let it crust, so much life was filling my body after I died, as though the death was always in me waiting, rehearsing, preparing, as though the nests and the eggs were always there, hidden, waiting for their grand entrance, their big monologue, for their final break through, as though the fungi, the snakes, the grass-covered carpets were all part of the genetic constitution of this institution, waiting to flourish in the magnitude of their endless forms. So in a shut-down house that no one funds and no one invests in, in a shut-down city that no one visits and no one wants to live in, under the radiant purple sun and the cold moon, all my velvet seats got uprooted. One by one they were ripped out from the floor like rotten teeth from a jaw, one after another they were carried out, their velvet covers stripped off like the scalps from the heads of corrupt leaders in distant times. The velvet red of white violence, the velvet red that allowed blood with poetry, violence with libretti, the velvet red that covered war crimes by launching new theatres, and Leitkultur by literature, the velvet blood which enabled racism by recitals and neocolonialism by encore and another encore and another one. The expensive textile, my soft pyjama, was torn off the seats by hundreds of claws and fingernails, by metal knives, by little teeth, and changed its form like everything, changed its purpose, changed its shape, like pretty much everything. But the swathes of red textile fabric hadn’t changed into blankets, curtains or deco. The swathes of red textile fabric had transformed into fuels. What do I mean by ‘fuels’? By fuels I mean everything that can burn. Because you know: since forever, time immortal, people perceived fire as a necessary component in the ecological system, people have used fire as a way to manage their forests and clear up their lands, and this controlled burning encouraged growth, maintained the forest’s health and helped to prepare it for the dry summer months. Urbanisation and colonisation brought these ancient practices to an end, and generation upon generation was taught to fear fire and prevent it, not only in the cities but in the countryside too. Setting fire intentionally, in one’s field for example, became a taboo, and instead, no matter where you went, you’d actually see an cylindrical red fire extinguisher, look here, look at me, you’d see them in each and every one of my corners, on every staircase, scattered in every floor. The exact occurrences which led to the fire that eventually tore me down isn’t that important now, and to be very honest I don’t even know the whole story myself. But I guess you already got it, right? As time passed, the summers became longer and longer, the temperature kept on rising, the dry vegetation kept on piling, and as heat met oxygen and oxygen met fuel, at some point the fire started. It ran through my enormous body, spread from one velvet sheet to another, from one treetop to

205


­another, from one building to another, and it didn’t stop, it continued to the neighboring city and the city nearby and the city nearby, and the flames went on from one country to another, from one continent to another and didn’t stop, and didn’t shut down, because after years of suppressing fire, and after centuries of fighting it, now, its deadly form had erupted, the wildfire, not the controlled one, not the one you could turn off, not the one in whose end you’ll see a little flower bud or the hidden top of a green sprout which started to grow, not that one, but the one that wouldn’t stop, the one after which nothing, really nothing, can be saved anymore.

Textauszug aus Sivan Ben Yishai: Offending the Stage © Suhrkamp Verlag Berlin, 2022.

206


Die Simultanübersetzerinnen bei der Arbeit


Anhang

208


Konferenzprogramm

Professor für Dramaturgie

15. Juni 2022

­Mozarteum, Beata Szczucińska, Kanzlerin der Aleksander-Zelwerowicz-Theaterakademie War-

17:00

Eröffnung

schau, Theaterwissenschaftlerin,

Hans-Jürgen Drescher, Präsident

Kulturmanagerin, Manolis Tsipos,

der Theaterakademie

DasArts-Coach, Lázló Upor,

August Everding, englische

­Dramaturg, Übersetzer, Dozent

Simultanübersetzung 19:30

Pause

Grußwort 20:30 Speculative Thinking.

Robert Brannekämper MdL,

17:30

Vorsitzender des Ausschusses

Visionen für die Zukunft #2

für Wissenschaft und Kunst im

Ein Speedvortrag der Psycho-

Bayerischen Landtag, englische

login Jennifer Gunkel, englische

Simultanübersetzung

Simultan­übersetzung

Speculative Thinking. Visionen

Open Table: Reality Check

für die Zukunft #1

Englische Simultanübersetzung

Speedvortrag der Psychologin

Moderation: Dorte Lena Eilers,

Adrienne Goehler, englische

Studiengangleiterin Kulturjour-

Simultanübersetzung

nalismus an der Hochschule für Musik und Theater München und

Open Table: Founding an

der Theaterakademie August

International University for

Everding, Kulturjournalistin und

Performing Arts

Redakteurin

In englischer Sprache

Mit: Demjan Duran, Regisseur,

Moderation: Harald Wolff,

Jana Gmelin, Dramaturgin Zim-

Dramaturg, Vorsitzender

mertheater Tübingen, Danae

Dramaturgische Gesellschaft

Kontora, Sopranistin, Antonia

Mit: Daphne Ebner, ­Dramaturgin,

Tretter, Dramaturgin, Theater-

Referentin internationale Bezie-

wissenschaftlerin, Nico Fethi

hungen Theaterakademie

Türksever, Schauspieler

August Everding, Max Koltai, Studierender Schauspiel,

22:00 No Reason to Get Excited: ­Clubbing mit Common Ground

Studierendenvertreter E:UTSA, Christoph Lepschy, ­Dramaturg,

209


Open Table: All In

16. Juni 2022

Moderation: Georg Kasch, ­Kulturjournalist, Redakteur nachtkritik.de

10:00 Yoga

Mit: Max Dorner, Dramaturg, ­ Kulturreferat München „Diversi­

10:00 Workshop für Studierende:

tät und Inklusion“, ­Angelika Fell,

Aktivismus und Kunstfreiheit

Leitung Freie Bühne München,

Leitung: Jesaja ­Song-Gil

Nele Jahnke, Dramaturgin und

Rüschenschmidt,

Regisseurin im Leitungsteam

Lea Würtenberger

der Münchner Kammerspiele, Johanna Kappauf, Schauspielerin u.a. Münchner Kammer-

10:00 Workshop für Studierende:

spiele, Jutta Schubert, EUCREA/

Antira/Critical Whiteness

Diversitätsprojekte, Malte Jelden,

Leitung: Amrei Weinhöppel,

Studiengangsleiter Regie Otto

Achim Waseem Seger

Falckenberg Schule 14:00 Pause, Yoga oder Workshop für

10:30 Table Talk: Ökologische Nach-

Studierende: Acting Robots.

haltigkeit im Kulturbetrieb

Maschinen als kreatives Gegen­

Mit: Sebastian Brünger, Kultur­

über im künstlerischen Raum

stiftung des Bundes, Sina

Leitung: Markus Schubert,

Barbra Gentsch, Bühnen- und

Creative Coder

Kostümbildnerin, Vera Hefele, Projektbüro WHAT IF, Jonaid

Aufzeichnung des Livestreams:

Khodabakhshi, treibgut

Wir sind noch einmal davon­

München, Ralph Zeger, Bühnen-

gekommen

und Kostümbildner, Bund der

Schauspiel von Thornton Wilder,

Szenografen e.V.

Inszenierung und Bühne Marcel Kohler

11:30

Uraufführung als Video­ 15:00 Workshop für Studierende:

produktion: Transstimme Oper in zwei Akten nach

Drama! Reflexionsraum für

einer Geschichte von Fabià

junge Theatermacher:innen

­Santcovsky, Libretto, Anja Hilling,

Leitung: Sabina Dhein, ­Direktorin

Regie, Bühne, Bildregie, Schnitt,

Theaterakademie Hamburg,

Blanka Rádóczy

John von Düffel, Autor, Drama-

In Kooperation mit der Münchner

turg und Professor für Szeni-

Biennale für Neues Musiktheater

sches Schreiben an der Berliner Universität der Künste, Eva-Maria

12:30

Speculative Thinking. Visionen

Voigtländer, Dramaturgin und

für die Zukunft #3

Dozentin Theaterakademie

Ein Speedvortrag des Politik-

Hamburg und Studierende der

wissenschaftlers Andreas Wehrl,

Theaterakademie Hamburg

Büro Grandezza

Diskutiert werden:

210


Was mir fehlt,

Christiane Plank-­Baldauf,

ist Munition

Musiktheaterdramaturgin und

Mit: Wibke Charlotte Gneuß, Stu-

Dozentin an der Ludwig-Maxi­

dierende Szenisches Schreiben,

milians-Universität und der The-

Till Doğan Ertener, Studierender

aterakademie August Everding,

Regie, und Mascha Luttmann,

Blanka Rádóczy, Regisseurin

Studierende Dramaturgie 16:30

Speculative Thinking. Visionen

Die Bestien

für die Zukunft #4

Mit: Guido Wertheimer, Studie-

Ein Speedvortrag der Kultur-

render Szenisches Schreiben,

managerin und Nachhaltigkeits-

Musa Kohlschmidt, Studierender

forscherin Clothilde Sauvages,

Regie, und Amelie Lopper, Stu-

Connector OuiShare München/

dierende Dramaturgie

Paris, in englischer Sprache

In Kooperation mit der Hoch-

Open Table: Unlearning for the

schule für Musik und Theater

Future

Hamburg

Englische Simultanübersetzung Moderation: Antonia Tretter,

15:00 Workshop für Studierende:

­Dramaturgin, Theaterwissen-

Inklusion im Theater und keine

schaftlerin

Ausbildung in Sicht

Mit: Amelie Deuflhard, Künstleri­

Leitung: Jutta Schubert, EU-

sche Leiterin Kamp­nagel Ham-

CREA/Diversitätsprojekte und

burg, Hayat Erdoğan, Dozentin,

Frangiskos Kakoulakis, Schau-

Dramaturgin, Ko-Direktorin

spieler Münchner Kammerspiele

Theater Neumarkt Zürich, Barbara Gronau, Theaterwissen­

15:00 Table Talk: (Im)Possible Opera

schaftlerin und Dekanin der

Mit: Serge Dorny, Intendant

Fakultät Darstellende Kunst an

­Bayerische Staatsoper München,

der Universität der Künste Berlin,

und Laura Schmidt, ­Dramaturgin

Marijke Hoogenboom, ­Direktorin

Bayerische Staatsoper München,

des Departements D ­ arstellende

Dorothea Hartmann, Künstleri­

Künste und Film an der Zürcher

sche Leiterin Tischlerei und

Hochschule der Künste (ZHdK),

Leitungsteam Deutsche Oper

Steffen Jäger, Regisseur, ­Dozent

Berlin, Sebastian Hannak,

an der Musik und Kunst Privat­

Bühnen- und Kostümbildner

universität der Stadt Wien

und Teresa Martin, Musiktheaterdramaturgin am

16:30

VR-Inszenierung: Kinesphere

Staatstheater Kassel, Thom

Ein Mensch-Maschine-­

Luz, Regisseur, Musiker und

Tanzabend in 360 Grad

Bühnenbildner, Lulu ­Obermayer,

In Kooperation mit dem

Performancekünstlerin, ­Daniel

Staatstheater Augsburg

Ott und Manos ­Tsangaris Künst­ lerische Leiter der Münch­ner Biennale für Neues Musiktheater,

211


17:00

Smart Film, unendliche Dauer:

Arbeitsgruppen: Theater

The Future Is Not Unwritten

zukunftsfähig machen

Idee/Regie/Produktion: Susanne

Moderiert von Claudia Schmitz

Steinmaßl

und Moritz von Rappard vom Hands On-Lösungskollektiv

17:30

VR-Inszenierung: 14 Vorhänge VR-Monolog von Einar Schleef

19:00 Vorstellung: Hallo – Ganz befreit

In Kooperation mit dem Staats-

vom Käthchen von Heilbronn

theater Augsburg

(Premiere) Regie: Malena Große

18:00 Pause 19:00 VR-Inszenierung: Kinesphere 19:00 Speculative Thinking. Visionen

Ein Mensch-Maschine-­

für die Zukunft #5

Tanzabend in 360 Grad

Ein Speedvortrag von ­Matthias

In Kooperation mit dem

Röder, futureSTAGE Research

Staatstheater Augsburg

Group, englische Simultanübersetzung

20:00 VR-Inszenierung: 14 Vorhänge VR-Monolog von Einar Schleef

Open Table: Theater zukunfts-

In Kooperation mit dem

fähig machen

Staatstheater Augsburg

Englische Simultanübersetzung Moderation: Maximilian Sippe-

21:00 No Reason to Get Excited: Clubbing mit Common Ground

nauer, Kulturjournalist, Autor Mit: Antigone Akgün, A ­ utorin, Regisseurin, Performerin, Benedikt Kosian, Studierender Schauspiel, junges ensemblenetzwerk, Jasmin Maghames, Dramaturgin, Vorstandsmitglied der Dramaturgischen Gesellschaft, Tine Milz, Dramaturgin, Kuratorin, Ko-Direktorin Theater Neumarkt Zürich, Anne Wiederhold-Daryanavard, Künstlerische Leiterin der Wiener Brunnenpassage, Expertin für Diversität im Kulturbetrieb, Anke Schmitz und Moritz von Rappard, Hands On-Lösungskollektiv, Berater für bessere Teamarbeit und Kooperationen

212


17. Juni 2022

12:30

Open Table: Crossing the Lines. Theater, Netflix und Co. Moderation: Maximilian Sippenauer, Kulturjournalist, Autor

10:00 Yoga oder Workshop für

Mit: Nico Hofmann, Regisseur,

Studierende: E-Textiles – Eine

Filmproduzent, ­Drehbuchautor

Einführung

und Geschäftsführer der UFA

Leitung: Yvonne Dicketmüller

GmbH, Pınar Karabulut, Re­ gisseurin, Cosmea Spelleken,

Workshop für Studierende:

Autorin, Regisseurin und

Wearable AR – Textile Image

Medienkünstlerin, ­Susanne

Marker für Augmented-Reality-

Steinmaßl, Regisseurin,

Anwendungen

Videokünstlerin

Leitung: Luise Ehrenwerth Table Talk: 50 Ways of Story­ 10:00 Smart Film, unendliche Dauer:

telling

The Future Is Not Unwritten

Mit: Andreas Beck, Staatsinten-

Idee/Regie/Produktion: Susanne

dant Residenztheater, und Albert

Steinmaßl

Ostermaier, Schriftsteller, Ewald

In Kooperation mit der Hoch-

Palmetshofer, Autor und Drama-

schule für Fernsehen und Film

turg am Residenztheater, D ­ aniela

München

Ginten, Geschäftsführerin Deutsche Akademie der Darstellenden

10:30 Speculative Thinking. Visionen

Künste und FernsehFilm-­Festival

für die Zukunft #6

Baden-Baden, Benno Heisel,

Ein Speedvortrag des Medien-

Autor, Musiker, Regisseur, Mehdi

und Kommunikationswissen-

Moradpour, Dramaturg, Autor,

schaftlers Yener Bayramoğlu

Theresa Seraphin, Autorin, Netzwerk Münchner Theatertex-

Open Table: Queering Identity

ter:innen, Eva-Maria, Voigtländer

and Art

Dramaturgin und Dozentin Thea-

Moderation: Georg Kasch,

terakademie Hamburg

Kulturjournalist, Redakteur nachtkritik.de

13:00 VR-Inszenierung: Kinesphere

Mit: Josef Bairlein, Dozent Thea-

Ein Mensch-Maschine-­

terakademie, Pınar Karabulut,

Tanzabend in 360 Grad

Regisseurin, Philipp Moschitz,

In Kooperation mit dem

Schauspieler und Regisseur

Staatstheater Augsburg

12:00 Speculative Thinking. Visionen

13:30

für die Zukunft #7 Ein Speedvortrag der Autorin Sivan Ben Yishai, in englischer Sprache

213

Pause oder Yoga


14:00 Workshop für Studierende:

16:00 Speculative Thinking. Visionen

Interaktive Requisiten:

für die Zukunft #9

Microcontroller-Grundlagen

Ein Speedvortrag des Zukunfts-

für (Theater-)Schaffende

forschers David Weigend, Futuri-

Leitung: Johannes Bereiter-Payr

um Berlin Open Table: Ready for the

14:00 VR-Inszenierung: 14 Vorhänge VR-Monolog von Einar Schleef

Digital Future?

In Kooperation mit dem

Englische Simultanübersetzung

Staatstheater Augsburg

Moderation: Ilja Mirsky, Dramaturg, Programmierer am Institut

14:30

Workshop für Studierende:

für theatrale Zukunftsforschung

Awareness

Mit: Friedrich Kirschner, Profes-

Leitung: Franzi Deege, Booker,

sor für digitale Medien an der

Promoter und Tourdriver bei

Hochschule für Schauspielkunst

FAUCHKRAMPF! – Music Agency

Ernst Busch, Marcus Lobbes,

For Angry Feminists und im Kafe

Regisseur, Direktor Akademie

Kult München

für Theater und Digitalität Dortmund, Roman Senkl, Regisseur,

Speculative Thinking. Visionen

Kathrin Zeitler, Digitalstrategin

für die Zukunft #8

und Kulturmanagerin

Ein Speedvortrag des Journalisten und Autors Georg Diez,

16:00 Vorstellung: Hallo – Ganz befreit

The New Institute, englische

vom Käthchen von Heilbronn

Simultanübersetzung

Regie: Malena Große

Open Table: Uncanny Valley

17:30

Pause

Englische Simultanübersetzung Moderation: Ilja Mirsky, Drama-

18:00 Uraufführung als Video­-

turg, Programmierer am Institut

­pro­duktion: Transstimme

für theatrale Zukunftsforschung

Oper in zwei Akten nach

Mit: Malena Große, Regisseurin,

einer Geschichte von Fabià

Benno Heisel, Digitalkünstler,

Santcovsky, Libretto, Anja Hilling,

Dramaturg, Regisseur, Tina

Regie/Bühne/Bildregie/Schnitt,

Lorenz, Projektleiterin ­Digitale

Blanka Rádóczy

Entwicklung Staatstheater

In Kooperation mit der Münchner

Augsburg, Chris Salter, Künstler,

Biennale für Neues Musiktheater

Professor für computerbasierte Kunst

18:30

Speculative Thinking: Visionen für die Zukunft #10

15:00 VR-Inszenierung: Kinesphere

Ein Speedvortrag der Designerin

Ein Mensch-Maschine-

und Literaturwissenschaftlerin

Tanzabend in 360 Grad

Christina Zimmer, englische

In Kooperation mit dem

Simultanübersetzung

Staatstheater Augsburg

214


Founding an International

Bühnenangehöriger, Julian

University for Performing

Warner, Kulturanthropologe,

Arts #2

Leiter Brechtfestival Augsburg

In englischer Sprache

und Projekt 2022 der Metropol-

Moderation: Manolis Tsipos

Region Stuttgart, Jonas Zipf,

­DasArts-Coach

Regisseur, Publizist, Kultur­

Mit: Julia Felicja Flisińska (Polen),

manager

Lea Mergell (Deutschland), Indrė Seselskaitė (Litauen),

20:30 VR-Inszenierung: 14 Vorhänge

Eva Smoriginaitė (Litauen),

VR-Monolog von Einar Schleef

Abigél Szőke (Ungarn),

In Kooperation mit dem

Patrycja Wysokińska (Polen)

Staatstheater Augsburg

VR-Inszenierung: 14 Vorhänge

21:30

In Kooperation mit dem Staatstheater Augsburg 19:30

No Reason to Get Excited: ­Clubbing mit Common Ground

VR-Monolog von Einar Schleef

VR-Inszenierung: Kinesphere Ein Mensch-Maschine-­ Tanzabend in 360 Grad In Kooperation mit dem Staatstheater Augsburg

20:00 Speculative Thinking. Visionen für die Zukunft #11 Ein Speedvortrag des Drama­ turgiestudierenden ­Johannes Hebsacker, englische Simultan­ übersetzung Open Table: Kulturpolitik of the Future Englische Simultanübersetzung Moderation: Georg Diez, Autor, Journalist, Editor in Chief The New Institute Mit: Hans-Jürgen Drescher, Präsident der Theaterakademie August Everding, Präsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Ute Gröbel, Dramaturgin, Leiterin Theater HochX, Lisa Jopt, Präsidentin der Genossenschaft Deutscher

215


Autor:innen

A

D

Antigone Akgün ist Regisseurin, Auto-

Amelie Deuflhard ist seit 2007 künst-

rin, Performerin und Dramaturgin und

lerische Leiterin von Kampnagel in

seit 2023 Vorstandsmitglied der Drama-

Hamburg.

turgischen Gesellschaft. Georg Diez ist Autor und Journalist Jakob Altmayer studiert Regie für Mu-

und Fellow bei ProjectTogether und ­

sik- und Sprechtheater, performative

der Max-Planck-Gesellschaft.

Künste (B.A.) bei Prof. Sebastian Baumgarten an der Bayerischen Theateraka-

Max Dorner leitete die Stabsstelle

demie August Everding.

Diversität und Inklusion des Münchner Kulturreferats. Mit seinem unermüd-

B

lichen Engagement trieb er die Inklusion im Münchner Kunstbetrieb maßgeblich

Josef Bairlein ist seit 2011 Dozent an der

voran. Er verstarb im Februar 2023.

Theaterakademie August Everding in den Studiengängen Schauspiel, Regie

Demjan Duran studierte bis 2019 ­Regie

und Bühnenbild.

für Schauspiel und Musiktheater (M.A.) an der Theaterakademie August

Dr. Yener Bayramoğlu ist Medien- und

Everding und arbeitet seitdem als

Kommunikationswissenschaftler. Er

freischaffender Regisseur.

war u.a. Gastprofessor für Gender und

E

Queer Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Seit 2024 arbeitet er als Assistant Professor an der Universi-

Hayat Erdoğan ist seit 2019 Dramaturgin

ty of York.

und Co-Direktorin des Theater Neumarkt

C

Zürich und darüber ­hinaus Dozentin im Masterstudiengang Theater an der Zürcher Hochschule der Künste. Zudem

Common Ground ist ein interdiszi­

arbeitet sie als Autorin und Kuratorin.

plinäres Kollektiv aus München für

F

Urbane Praxis, Raum- und Wissens­ vermittlung sowie Aktionen zu und in Freiräumen.

Angelica Fell ist Initiatorin und Leiterin der Freien Bühne München e.V.

216


G

H

Jana Gmelin studierte Dramaturgie

Vera Hefele ist Kultur- und Transfor-

(M.A.) an der Theaterakademie

mationsmanagerin und Gründerin des

August Everding und arbeitet seit der

Projektbüros WHAT IF für nachhaltige

­Spielzeit 2023/24 als Stadtdramaturgin

Kultur.

und künstlerische Leiterin der Sparte ­zwinger x am Theater und Orchester

Benno Heisel ist Musiker, Regisseur,

Heidelberg.

Dramaturg, Objekt- und Figurentheatermacher.

Adrienne Goehler, Diplompsychologin, war u.a. Präsidentin der Hochschule

Prof. Marijke Hoogenboom ist seit

für bildende Künste Hamburg, Senatorin

2019 Direktorin des Departements

für Wissenschaft, Forschung und Kultur

Darstellende Künste und Film an der

in Berlin, Kuratorin des Hauptstadtkul-

Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

turfonds und arbeitet heute als freie

J

Publizistin und Kuratorin. Ute Gröbel ist Dramaturgin, Dozentin

Prof. Steffen Jäger ist Regisseur und

und künstlerische Leiterin des HochX

seit 2023 Professor für Ensemblearbeit

Theater und Live Art in München.

und Rollengestaltung am Max Reinhardt Seminar, Universität für Musik und Dar-

Prof. Dr. Barbara Gronau ist Professorin

stellende Kunst Wien.

für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin

Nele Jahnke arbeitete u.a. als künstle-

und seit Herbst 2022 Präsidentin der

rische Co-Leiterin beim Theater HORA.

Bayerischen Theaterakademie August

Seit 2020 ist sie als Dramaturgin und

Everding. Dort leitet sie auch den

Regisseurin Teil des Leitungsteams

Kooperationsstudiengang Dramaturgie.

der Münchner Kammerspiele. Sie unterrichtet gelegentlich und ist Teil der

Malena Große studierte Musiktheater-

inklusiven queeren Performancegruppe

­­und Schauspielregie (M.A.) an der

Kafi Q.

Theaterakademie August Everding. Seit 2023 studiert sie Dokumentarfilmregie

Malte Jelden ist freier Regisseurund

an der Hochschule für Fernsehen und

Studiengangsleiter des Studiengangs

Film München.

Regie an der Otto Falckenberg Schule München, deren Leitung er im Sep-

Prof. Dr. Jennifer Gunkel ist Professorin

tember 2024 übernehmen wird.

für Angewandte Psychologie an der Hochschule Fresenius für Wirtschaft

Lisa Jopt ist Schauspielerin und seit

und Medien.

2021 Präsidentin der Bühnengewerkschaft GDBA.

217


K

M

Johanna Kappauf ist als Schauspielerin

Jasmin Maghames war von 2021 bis

zunächst als Gästin und seit der Spiel-

2023 Dramaturgin am Schauspielhaus

zeit 2022/23 auch als festes Mitglied im

Bochum, seit der Spielzeit 2023/24 ist

Ensemble der Münchner Kammerspiele.

sie Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin und seit 2021 Vorstandsmitglied

Pınar Karabulut ist Regisseurin für

der Dramaturgischen Gesellschaft.

Schauspiel und Oper und war von 2020 bis 2023 Teil des künstlerischen

Teresa Martin studierte bis 2021 Drama-

Leitungsteams der Münchner Kammer-

turgie (M.A.) an der Theaterakademie

spiele. Ab der Spielzeit 2025/26 wird

August Everding und ist seitdem Musik-

sie Co-Intendantin am Schauspielhaus

theaterdramaturgin am Staatstheater

Zürich.

Kassel.

Georg Kasch ist Kulturjournalist und

Tine Milz ist seit 2019 Dramaturgin und

seit 2010 Redakteur bei nachtkritik.de.

Co-Direktorin des Theater Neumarkt Zürich.

Prof. Friedrich Kirschner war Begründer und von 2018 bis 2024 Studiengangs­

Ilja Mirsky war von 2019 bis 2022

leiter des Studiengangs Spiel und

Dramaturg am Institut für theatrale

Objekt (M.A.) an der Hochschule für

Zukunftsforschung im Tübinger Zim-

Schauspielkunst Ernst Busch Berlin.

mertheater und ist seit der Spielzeit 2022/23 Dramaturg und Digitaldrama-

Danae Kontora studierte Musiktheater/

turg am Residenztheater München.

Operngesang (M.A.) an der Theaterakademie August Everding und ist seitdem

Philipp Moschitz studierte an der

als freischaffende Opernsängerin tätig.

Theaterakademie August Everding und arbeitet als Schauspieler, Sänger,

Benedikt Kosian studierte bis 2022

Regisseur und Coach. Seit 2006 ist

Schauspiel (B.A.) an der Theateraka­

er Teil des festen Ensembles am

demie August Everding und ist seit

Metropoltheater München.

2018 Mitglied des jungen ensemble-

R

netzwerks.

L

Moritz von Rappard ist Mitglied des Lösungskollektivs Hands On. Er ist

Tina Lorenz verantwortete von 2020

Dramaturg und Co-Entwickler der

bis 2023 die neu geschaffene Sparte

g3-Methode.

Digitaltheater am Staatstheater Augsburg. Seit 2024 leitet Tina Lorenz

Simon Rauch studierte Schauspiel an

die Abteilung Forschung und Produk-

der Theaterakademie August Everding

tion, das Hertz-Labor, am Zentrum

und ist seit 2023 Ensemblemitglied des

für Kunst und Medien Karlsruhe.

Schlosstheater Celle.

218


Dr. Matthias Röder ist geschäftsfüh­

Manolis Tsipos, DasArts-Alumnus,

render Direktor des Karajan Instituts

arbeitet als Performancemacher und

in Salzburg, Leiter des Beethoven KI-

Dramaturg, er schreibt Lyrik und Prosa,

Projekts und Gründer der Sonophilia

ist Mentor und Kommunikationscoach

Foundation.

und dabei spezialisiert auf die DasArts Feedback-Methode.

S

Nicolas Fethi Türksever studierte Çağla Şahin studiert im Studiengang

bis 2014 Schauspiel an der Theater­

Schauspiel (B.A.) an der Theateraka-

akademie August Everding und

demie August Everding und ist seit 2020

arbeitet seitdem als Schauspieler

Mitglied im jungen ensemble-netzwerk.

für Theater und Film.

U

Prof. Chris Salter ist Digitalkünstler und seit 2022 als Professor/Leiter für den Immersive Arts Space an der Zürcher

Lea Unterseer schließt im Frühjahr

Hochschule der Künste (ZHdK).

2024 ihr Masterstudium in ­Dramaturgie an der Theaterakademie August

Clothilde Sauvages ist als Gründerin

Everding ab.

und Journalistin in den Bereichen

W

soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit aktiv. Von 2017 bis 2022 war sie Sprecherin und Connector des

Andreas Wehrl leitet das Beratungs-

internationalen Netzwerks Ouishare.

unternehmen The Climate Desk. Der Politikwissenschaftler und Autor

Anke Schmitz ist als Beraterin und

hat an zahlreichen Theaterprojekten

Coach Teil des Lösungskollektivs

mitgewirkt.

Hands On. David Weigend ist seit 2015 Leiter Jutta Schubert ist als Projektleiterin

für Bildung und Partizipation der

Teil des Leitungsteams von EUCREA

Futurium GmbH.

Verband Kunst und Behinderung e.V. Anne Wiederhold-Daryanavard ist Maximilian Sippenauer arbeitet als

seit 2007 Mitbegründerin und Künst-

freier Kulturjournalist, Autor und Filme-

lerische Co-Leiterin der Wiener

macher, hauptsächlich für die Kultursen-

Brunnenpassage.

dungen TTT (ARD) und Capriccio (BR).

T

Carolin Wirth studiert Regie für Musik- und Sprechtheater, performa­tive Künste (M.A.) bei Prof. Sebastian

Antonia Tretter studierte bis 2015

Baumgarten an der Bayerischen

Dramaturgie (M.A.) an der Theateraka-

Theaterakademie August Everding.

demie August Everding. Seit Dezember 2019 promoviert sie am Institut für Theaterwissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München.

219


Y Sivan Ben Yishai ist Dramatikerin und Theaterregisseurin und wurde für ihr Werk u.a. 2023 mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet.

Z Dr. Christina Zimmer ist Gründerin des Designstudios twistid. Die Designerin und Literaturwissenschaftlerin arbeitet an Projekten im Bereich nachhaltige Zukunftsgestaltung. Jonas Zipf war bis 2022 Werkleiter von JenaKultur und ist seitdem Kaufmännischer Geschäftsführer auf Kampnagel in Hamburg.

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Herausgeber:innen

Prof. Hans-Jürgen Drescher war von 2014 bis 2022 Präsident der Theaterakademie August Everding und Leiter des Masterstudiengangs Dramaturgie. Seit 2016 ist er Präsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Er war verantwortlich für die Gesamtkonzeption der Zukunftskonferenz. Johannes Hebsacker studierte bis 2023 Dramaturgie (M.A.) an der Theater­akademie August Everding und der Ludwig-Maximilians-Universität ­München und arbeitet seitdem als wissenschaftlicher Volontär bei der Kulturstiftung des Bundes. Antonia Leitgeb ist stellvertretende Leiterin des Studiengangs Dramaturgie an der Theaterakademie August Everding und war Kuratorin der Zukunftskonferenz. Daniel Richter ist Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und war Kurator der Zukunftskonferenz.

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Nachweise

S. 18/19, S. 27, S. 51, S. 59, S. 79, S. 98, S. 143, S. 151, S. 160/161, S. 168/169, S. 188/189, S. 207 Bilder von Jean-Marc Thurmes S. 155 Bild von Alvise Predieri S. 124/125 Bild von Yunus Hutterer S. 201 bis 206 Textauszug aus: Sivan Ben Yishai, Offending the Stage. © Suhrkamp Verlag Berlin, 2022. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, 2024.

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