Nebenfiguren Herausgegeben von Stefanie Diekmann und Dennis Göttel
Nebenfiguren
Wir danken der Stiftung Universität Hildesheim und der Universität zu Köln für die Unterstützung der Tagung und der Publikation. Für die Förderung des Austauschs danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Herder Kolleg der Universität Hildesheim.
Nebenfiguren Herausgegeben von Stefanie Diekmann und Dennis Göttel Recherchen 171 © 2024 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de Gestaltung: Tabea Feuerstein Korrektorat: Iris Weißenböck Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-525-9 (Paperback) ISBN 978-3-95749-545-7 (ePDF)
Recherchen 171
Nebenfiguren hrsg. v. Stefanie Diekmann/ Dennis Göttel
Inhalt
Vorwort
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Einleitung: Auftritte Christina Thurner Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts Dennis Göttel Nationalsozialcharaktermasken: Zur Filmografie Rudolf Schündlers Lukas Foerster The Ghost, The Voice, The Faceless: Die nicht-sichtbaren Nebenfiguren der Sitcom als Träger kontrollierter Kontingenz Bettine Menke hidden, besides, behind (Willie emerging)
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Einleitung: Figurationen Friedrich Balke Unter dem Einfluss der Figur: Die Arbeit der Verschiebung in Jensens Gradiva und Freuds Kommentar Katja Schneider Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz David J. Levin Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
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Einleitung: Typologien Juliane Vogel Trabanten, Vertraute, Ensembles: Zur Pluralisierung der dramatischen Rede im 18. Jahrhundert Wolfgang Kemp Außerordentliche Nebenfiguren: Vier Fälle aus der Bildkunst Fabienne Liptay Figurationen im Film: Bemerkungen zur Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit Einleitung: Konstellationen Alexander Streitberger Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama Martin Jehle When things don’t work out: Zu den unterbrochenen Operationsketten der ungeschnittenen Einstellung Robin Klengel/Leonhard Müllner (Total Refusal) Die digitale Masse: NPC, soziale Chiffre und Autonomiebestrebung
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Inhalt
Stefanie Diekmann Disappearing Birdie Coonan: Notizen zur Nebenfigur im Kino der Backstage
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Verzeichnis der Autor:innen
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Vorwort Stefanie Diekmann und Dennis Göttel Angesichts der Tatsache, dass in der Forschung zu audiovisuellen Medien und darstellenden Künsten die Figurenanalyse und deren Methodik breiten Raum einnehmen,1 ist es überraschend, dass das Feld der Nebenfiguren nur selten systematisch untersucht wurde.2 Diesem Desiderat möchte der vorliegende Band begegnen und die ästhetische und konzeptionelle Komplexität der Nebenfigur in konkreten Fallstudien analysieren. Dabei kann es kaum um eine vollständige elaborierte Theorie gehen, sondern vielmehr darum, zentrale Parameter der entsprechenden Auftritte zu skizzieren. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass Nebenfiguren innerhalb von Konstellationen etabliert und ihrerseits eingesetzt werden, um Konstellation zu modellieren: als respondierende, kommentierende, als intervenierende und immer wieder als beobachtende Akteur:innen. Mehr noch als für protagonistische Figuren gilt, dass Nebenfiguren relational, sekundär und als Effekt einer Betrachtung kenntlich werden, die weniger auf solitäre Akteur:innen gerichtet ist als auf die repräsentationale Ordnung, an der die Nebenfiguren durch ihre Auftritte Anteil haben. Wo sie auftreten, besiedeln Nebenfiguren ein terrain vague: zwischen Staffage und Figuration, Multiplikation und Singularisierung, Observation und Einflussnahme, Hintergrund und Vordergrund, Funktionalität und Disruption, um nur einige Gegensätze zu nennen. Nebenfiguren sind Instanzen der Vermittlung. Ihre akteuriale Bedeutung besteht nicht nur darin, Botschaften, Objekte und Personen auf die jeweilige Szene zu befördern, sondern ist ebenso dadurch bestimmt, Momente der Handlung zu fokussieren, Blicke und Aufmerksamkeit auszurichten und die Rezeption einer Anordnung oder eines Ablaufs zu steuern. Zwischen der Antizipation von Handlungsverläufen und der Reaktion auf Handlungsumbrüche kann diese Steuerung diverse Formen annehmen. Grundsätzlich aber ist davon auszugehen, dass die Nebenfigur durchaus imstande ist, sich in ein Machtverhältnis zum Geschehen zu setzen – weniger, indem sie das Geschehen aktiv gestaltet, als vielmehr aufgrund ihres Vermögens, als Medium seiner Wahrnehmung zu agieren. Der Status der Nebenfigur ist reversibel. Von der Rückstellung ins Dekor, ins Szenenbild oder ins Off ist sie immer nur ein paar Schritte entfernt. Wenn indes davon auszugehen ist, dass die Ablösung vom Umraum sich in ihrem Fall noch krisenhafter und prekärer gestaltet
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Vorwort
als im Fall protagonistischer Figuren, so gilt umgekehrt, dass es sich bei den Nebenfiguren um jene Instanzen handelt, in deren Auftritten der Umraum weit stärker präsent, ja aktiv bleibt. Diese Akteur:innen sind konstitutiv Teil einer Umgebung und nicht selten agieren sie als diejenigen, durch die sich ein Milieu artikuliert und in das Geschehen und dessen Ablauf eingreift. Die Auftrittsprotokolle von Nebenfiguren sind heterogen. Sie umfassen das ganze Spektrum zwischen permanenter, periodischer und punktueller Präsenz. Noch diffiziler organisiert ist die Akteurialität jener Nebenfiguren, deren Existenz innerhalb einer Handlung zwar behauptet, aber zu keinem Zeitpunkt in einen konkreten Auftritt konvertiert wird. Das Komplementär dieser ›behaupteten‹ Figuren sowie derjenigen, die nur episodisch oder erratisch auftauchen, sind solche, die dauerhaft ins Bild oder ins Spiel gebracht werden, um dort einen festen Platz zu besetzen. Wollte man sich an einer Typologie der Nebenfiguren und ihrer Funktionen versuchen, so spricht vieles für die Annahme, dass beide in engster Beziehung zur Temporalität und zum Timing ihrer Auftritte stehen. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes ist mit dem Interesse verknüpft, die Nebenfigur zum einen als Erscheinung zu begreifen, die in je spezifischen Konstellationen eine bestimmte Koordinate besetzt, zum anderen als Element, dessen zentrale Bedeutung für szenische Anordnungen, Abläufe und Entwicklungen in einer komparatistischen Perspektive noch einmal deutlicher zutage tritt. Damit wird eine Abgrenzung sowohl gegenüber jenen Ansätzen vorgenommen, die Figurenanalyse ausschließlich als Unternehmung einzelner Disziplinen verstehen, als auch gegenüber der Idee, dass die Nebenfigur als transhistorische Konstante zu verstehen wäre. Zum Zwecke einer ersten Systematisierung sind die Beiträge in vier Sektionen zu den Themen Auftritte, Figurationen, Typologie und Konstellationen gegliedert. Jede Sektion wird von einem kurzen Text eingeführt, um die Perspektive und die Zusammenstellung der Beiträge knapp zu erläutern. Den im Band versammelten Autor:innen möchten wir herzlich für ihre Texte und den anregenden Austausch danken – in der Hoffnung, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung um den Komplex der Nebenfigur weiter entfalten wird. Danken möchten wir auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung der Tagung »Nebenfiguren«, die im November 2022 als Kooperation der Stiftung Universität Hildesheim und der Universität zu Köln statt-
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Vorwort
fand. Dem Theater für Niedersachsen, vor allem Oliver Graf und Kristin Schulze, gilt unser Dank für die großzügige Gastfreundschaft und die umfassende logistische Unterstützung, dem Herder-Kolleg der Universität Hildesheim für die zusätzliche Förderung des Tagungsprogramms. Das Redigat der Beiträge wurde von Marian Kirwel und Eleanor Thieser übernommen, denen wir an dieser Stelle ebenfalls herzlich für ihre Arbeit danken.
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Für deutschsprachige Publikationen der jüngeren Zeit vgl. z. B. Brandstetter, Thomas: »Figura. Körper und Szene: Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert«, in: Fischer-Lichte, Erika/Schönert, Jörg (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 23 – 38; Brandl-Risi, Bettina/Wagner, Meike/Ernst, Wolf-Dieter (Hrsg.): Figuration: Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000; Brandstetter, Gabriele/ Peters, Sibylle (Hrsg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002; Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz: Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2002; Bronfen, Elisabeth/Straumann, Barbara: Die Diva: Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002; Wild, Christopher J.: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters: Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i. Br. 2003; Eder, Jens: Die Figur im Film: Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008; Liptay, Fabienne/Balme, Christopher/Drewes, Miriam (Hrsg.): Die Passion des Künstlers: Kreativität und Krise im Film, München 2011. Während es in der Literaturwissenschaft einige Fallstudien zu Nebenfiguren gibt (vgl. z. B. Bulckaen, Denise: Les Personnages secondaires dans les romans de Smollett, Paris 1992; Dimpel, Friedrich Michael: Die Zofe im Fokus: Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters, Berlin 2011), stellt das Thema in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen weitgehend ein Desiderat dar. Größere Aufmerksamkeit fanden bildtheoretisch inspirierte Zugänge, die sich eher mit Erscheinungsformen multiplizierter Akteurialität befassen, die mit Begriffen wie Statisterie, Extras oder auch den »Namenlosen« in Verbindung gebracht werden (vgl. Willemsen, Paul/Trummer, Thomas (Hrsg.): Actors & Extras, Brüssel 2009; Didi-Huberman, Georges: Die Namenlosen zwischen Licht und Schatten, Paderborn 2017). Die Auftrittsformen der Nebenfigur werden dabei kaum adressiert und erscheinen insgesamt als ›blinder Fleck‹ eines Spektrums, dessen Extreme durch die protagonistische und die bis zur Unkenntlichkeit vervielfältigte Figur besetzt werden. Wiederum befassen sich einschlägige kulturwissenschaftliche Publikationen zwar nicht explizit mit Nebenfiguren, durchaus aber mit bestimmten Professionen, deren zentrales Charakteristikum die (häufig vergeschlechtlichte oder rassialisierte) Position an der Peripherie ist, so mit Sekretären und Sekretärinnen oder Dienerinnen und Dienern (vgl. Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.): Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich, Berlin 2003; Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a. M. 2010; Esslinger, Eva: Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur, Paderborn 2013; Murell, Denise: Posing Modernity: The Black Model from Manet and Matisse to Today, New Haven 2018).
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Einleitung: Auftritte Ob in der Theatersprache »Auftritt« das Teilelement eines Aufzugs von Personen oder das Betreten der Bühne einzelner Darstellender meint: In beiden Fällen geht das Wort mit der Vorstellung einher, dass jemand erscheint,1 sichtbar wird, aus der Backstage und aus dem Grund hervor- und herausgetreten ist,2 gleich, ob als Hauptfigur, Nebenfigur, Chor, Statisterie. Der Auftritt hat den Charakter einer Setzung und eines Übertritts in die Intelligibilität. Im Auftritt manifestiert sich eine Präsenz, und er ist ein konkreter Akt. Die in der Sektion Auftritte versammelten vier Beiträge – zu Sprech- und Tanztheater sowie zu Fernsehserie und Spielfilm – rücken hingegen das, was den Auftritt von Darstellenden grundlegend auszumachen scheint, gezielt in ein undeutlicheres Licht, insofern gerade der Aspekt der Sichtbarkeit nicht als voraussetzungslos gegeben und stattdessen als komplexe prozessuale Aufstellung begriffen wird. Wenn dies die Autor:innen an Nebenfiguren exerzieren, ist das nicht zufällig: Vielmehr ist insbesondere an dieser Figurengruppe virulent, dass die Umstände des Auftritts variieren, und dass im Auftritt durchaus zur Disposition gestellt sein kann, was Präsenz heißt, wie sie sich einlöst – und wie sie sich auflöst. In den Beiträgen geht es folglich um verschiedene Modi des Erscheinens von Nebenfiguren, die im Verschwinden nicht ihren absoluten Widerpart finden, sondern von ihm konstituiert werden. Anders formuliert: Diese Beiträge handeln von Auftritten, die vom Abgang immer schon eingeholt sind. Sind gegenwärtige kulturwissenschaftliche Diskurse zur Sichtbarmachung primär als repräsentationspolitischer Einsatz zu verstehen – oft geht es dabei um eine gezielte Fokusverschiebung innerhalb hegemonialer und von Herrschaft durchzogener Darstellungs- und Aufmerksamkeitsregime, im Zusammenhang etwa mit nicht-heteronormativen Figuren oder Figuren mit Handicaps –, zeigt sich exemplarisch im Beitrag von Christina Thurner, dass es keineswegs mit bloßer Präsenzwerdung getan ist: Stattdessen müssen, hier in einem Fallbeispiel des Tanztheaters von Jérôme Bel und der Akzentuierung veritabler Nebendarsteller:innen, auch im Ver- und Vorrücken aus dem Hinter- in den Vordergrund die Charakteristika einer Nebenfigur – die sich in der Tradition des Tanztheaters durch Züge einer Staffage, eines Dekors auszeichnet – intakt bleiben, um die ästhetische Spezifik und das Politikum im Verhältnis von Zentrum und Peripherie artikulierbar zu machen. Zwar wird in Bels Inszenie-
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Einleitung: Auftritte
rung Véronique Doisneau eine arrivierte Nebendarsteller:in zur Protagonist:in; jedoch werden gerade in diesem Vorgang die temporalen und spatialen Verhältnisse im Bühnentanz in ihrer teils brutalen Wirkmächtigkeit wahrnehmbar. Nicht ganz unähnlich verhält es sich, wenn die Filmografie eines Schauspielers, der jahrzehntelang auf Nebenrollen in Kino und Fernsehen gebucht war, zum Gegenstand wird, wie dies im Beitrag von Dennis Göttel über Rudolf Schündler geschieht. Wie schon in Thurners Text gilt auch hier das Erkenntnisinteresse einem Nebendarsteller und dadurch vermittelt den Nebenfiguren, die ein konkreter Leib verkörpert hat. Im Medium des Ausschnitts und des Filmschnipsels treten Schündlers Nebenfiguren aus dem jeweiligen Hintergrund von Diegese, Narration und Szenenbild heraus. Und doch bleiben in der Verkettung der verschiedenen Rollen bestimmte Charakteristika der Nebenfigur transparent und geben zudem erst in ihrer Zusammenstellung eine filmografische ›Fratze‹ preis, nämlich eine aus Teilstücken bestehende, allzu deutsche Charaktermaske. Wenn hier ein Wesenszug das Unwesen ist, das die Nebenfigur im Schatten herkömmlicher Filmgeschichtsschreibung treibt, dann korrespondiert der Begriff des haunting body (Göttel) mit den Topoi des Ghosts im Beitrag von Lukas Foerster genauso wie mit den Frequenzen des appearing/disappearing bei Bettine Menke. Die Geisterhaftigkeit der Nebenfigur bei Foerster erzeugt jedoch keineswegs Schauder, sondern Witz: Analysiert werden in seinem Beitrag spezifische Nebenfiguren, die im Genre der TV-Sitcom eine gewisse Popularität genießen, nämlich solche, die gar nicht (oder nur sehr eingeschränkt) sichtbar werden. Die Konstellationen, die diese Figuren etablieren, haben weniger etwas mit dem Typecasting der Unterhaltungsindustrie oder dem Jenseits des Starsystems zu schaffen. Vielmehr lassen solche Figuren, die oftmals nicht einmal figürlich im phänomenalen Sinn sind, eine spezifische Form der Kommunikation entstehen, die systematisch durch den dauerhaft suspendierten Auftritt bedingt ist. Vergleichbar, weil die Nebenfigur auch hier entzogen und mal verdeckt, mal körperlich fragmentiert ist, verhält es sich mit Samuel Becketts Happy Days im Beitrag von Bettine Menke. Keine spezifische Inszenierung, sondern der vermeintliche Nebentext der Regieanweisungen zu (besser: in) Becketts Stück sind es, denen das Interesse gilt; jene Momente und Passagen also, in denen in hoher, höchstgenau getakteter Frequenz die ›Auftritte‹ und ›Abgänge‹ geregelt werden. Menke legt in ihrer Analyse nicht nur die Nähe des Beckett’-
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Einleitung: Auftritte
schen Theaters zu Handpuppentheater und Slapstick offen, sondern findet zudem das Theatrale gerade nicht in der somatischen und stimmlichen Präsenz des Bühnenauftritts, sondern in der Schrift und den Satzzeichen, in denen die Konstruktion der semi-präsenten Nebenfigur aus Becketts Stück erst zu sich kommt. Durchforstet Menke den Paratext, sichtet Foerster Episoden langfristig laufender Sitcoms mit Blick auf bestimmte Muster des Running Gags, filtert Göttel ein umfangreiches filmisch-televisuelles Korpus hinsichtlich teils kürzester Szenen und folgt Thurner den Subversionen des herkömmlichen Tanztheaters, so lassen sich diese Untersuchungen methodologisch als fortwährende Suchbewegungen begreifen. Research ist hier search und quest, gefragt wird danach, was der Auftritt der Nebenfigur überhaupt ist, welche Wirklichkeit und Wirkung er hat und inwieweit er sogar die allgemeine Konzeption von Auftritt (und exit) unterläuft und destabilisiert.
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Zum Auftritt als Erscheinen in medienkomparatistischer Perspektive vgl. Matzke, Annemarie/Otto, Ulf/Roselt, Jens (Hrsg.): Auftritte. Strategien des InErscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld 2015. Grundlegend zum Auftritt in der Tragödie vgl. Vogel, Juliane: Aus dem Grund: Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Paderborn 2018.
Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
Christina Thurner
Vorgerückt aus dem Hintergrund:1 Jérôme Bels Künstler:innenporträts Die Pariser Ballettsaison 2004 begann mit einem Skandal. Für die Eröffnungsgala war der französische Choreograf Jérôme Bel von Brigitte Lefèvre, der damaligen Ballettdirektorin der Opéra de Paris, eingeladen worden, eine Uraufführung zu kreieren. Das Resultat trug den Titel Véronique Doisneau.2 Beim Pariser Ballettpublikum fiel das Stück zunächst durch. Die Tanzpublizistin und -wissenschaftlerin Iris Julia Bührle beschreibt die Aufführung in ihrer tanznetz-Kritik vom 8. Oktober 2004 folgendermaßen: Die Titelheldin ist eine Tänzerin der Pariser Kompanie am Ende ihrer Karriere, die den Rang eines ›Sujet‹ innehat, was wohl am ehesten dem eines Halbsolisten [sic!] entspricht. Doisneau kommt im Probenkostüm auf die Bühne, erzählt aus ihrem Leben und tanzt einige Ausschnitte aus ihren Lieblingsstücken, meist zu selbst gesungener Musik. Dann folgt ein langer Teil, in dem sie ihre Rolle als unbewegter Schwan im Corps während des Pas de Deux des zweiten Aktes von ›Schwanensee‹ zu Musik vorführt. Wenn an der Idee, das Leben eines relativ unbekannten Tänzers zu einem Ballett zu verarbeiten, ganz bestimmt nichts auszusetzen ist, so ließ doch die Ausführung sehr zu wünschen übrig. Das Stück besteht zum größten Teil aus Pausen und ist dadurch, dass es sehr an der Oberfläche bleibt und auch kein wirkliches Porträt einer Tänzerin zeigt, von geringem Interesse und flüchtiger Wirkung.3 Soweit Bührle im Jahr der Uraufführung, 2004. Ihre Prognose, muss man von heute aus gesehen sagen, war definitiv falsch. Véronique Doisneau gilt inzwischen als Paradestück des zeitgenössischen Konzepttanzes; es war nach der Uraufführung auf mehreren internationalen Festivals zu sehen; 2007 wurde eine Filmfassung produziert, die seither durch die ganze Welt tourt4 und auch im Internet zugänglich ist. Das Stück hat Eingang in renommierte Lexika gefunden5 und wurde in der Forschung eingehend diskutiert,6 vor allem auch, weil es den Anfang einer Reihe von Soli markiert, die Bel für oder mit Tänzer:innen kreiert hat, und die alle deren Namen im Titel tragen:
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Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
Nach Véronique Doisneau sind dies die Stücke Isabel Torres (2005), das »nach einer brasilianischen Tänzerin des Balletts am Teatro Municipal von Rio de Janeiro«7 benannt ist; 2009 kamen die Stücke Lutz Förster mit dem langjährigen Mitglied des Wuppertaler Tanztheaters und Cédric Andrieux mit einem früheren Tänzer der Merce Cunningham Dance Company auf die Bühne.8 Die Beispiele dieses Beitrags sind also zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest in der Tanzwissenschaft keineswegs unbeachtet und schon gar nicht, wie Bührle (im Rückblick gesehen) irrtümlich konstatiert hat, von »flüchtiger Wirkung«.9 Interessant sind die Stücke im Kontext einer Thematisierung von Nebenfiguren aus dem offensichtlichen Grund, dass sie Tänzer:innen aus dem Hintergrund programmatisch in den Vordergrund rücken und Protagonist:innen etablieren (Ensemblemitglieder, Halbsolist:innen), die vorher nicht oder kaum alleine auf der Bühne zu sehen gewesen sind. Sie waren zumeist, wenn auch in unterschiedlicher Weise, Nebenfiguren in gänzlich anderen Konstellationen als in Bels Inszenierungen. Dort spielen sie nun eine Hauptrolle, in der sie aber just ihr Leben in der Nebenrolle erzählen, vorzeigen, tanzen. Auf Bels Homepage ist über Véronique Doisneau zu lesen: Invité à faire une pièce pour le ballet de l’Opéra de Paris par sa directrice Brigitte Lefèvre, Jérôme Bel a souhaité mettre en scène une sorte de documentaire théâtral sur le travail d’une des danseuses du ballet : Véronique Doisneau. La danseuse, proche de la retraite, seule sur scène, pose un regard rétrospectif et subjectif sur sa carrière de ballerine au sein de cette institution.10 Das Stück, das gemäß der Premierenkritikerin Bührle »zum größten Teil aus Pausen« besteht und »auch kein wirkliches Porträt einer [noch dazu unbekannten] Tänzerin« zeigt,11 wird vom Choreografen selbst als Reflexion auf das Leben einer Ballerina mitsamt Institutionskritik angepriesen. Und es bietet bei genauerem Hinsehen auch für das Thema Nebenfiguren aufgrund dieses Reflexionsgestus geradezu paradigmatische Anknüpfungspunkte. Im Folgenden möchte ich mich vor allem auf Véronique Doisneau konzentrieren und punktuell auch noch auf die Inszenierung Lutz Förster zu sprechen kommen, in der das Thema etwas anders zu betrachten ist. Dabei sollen drei Aspekte hervorgehoben und diskutiert werden, wobei ich mich am Abstract zur Tagung »Nebenfiguren«
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Die spatiale und temporale Dimension
orientiert habe, die vom 28. bis 30. Oktober 2022 im Kulturcampus Domäne der Stiftung Universität Hildesheim unter der Leitung von Stefanie Diekmann und Dennis Göttel stattgefunden hat.12 Ich gehe zunächst auf die spatiale und temporale Dimension ein; dann auf die akteuriale Dimension, wobei ich die jeweilige Funktion der Figuren im Hinblick auf Aufmerksamkeits- und Machtverhältnisse reflektiere, um abschließend exemplarisch Aussagen zum terrain vague der Figur (im komplexen Gefüge von Haupt- und Neben-) in Bels Porträtserie machen zu können. Die spatiale und temporale Dimension
Zu Beginn des Stückes Véronique Doisneau gibt die gleichnamige Protagonistin nach einer Begrüßung des Publikums zunächst private Informationen über ihren Familienstand und ihr Alter (42 Jahre) preis und erwähnt, dass sie zwei Kinder im Alter von sechs und zwölf Jahren habe.13 In acht Tagen gehe sie in Rente, weshalb dieser Abend ihr letzter Auftritt an der Pariser Oper sei. Sie führt weiter aus, dass sie in der Hierarchie der Pariser Oper den Rang des »Sujet« innegehabt habe, das heißt, sie hat im sogenannten Corps de Ballet halbsolistische Rollen getanzt. Doisneau erzählt weiter, dass sie nie ein Star geworden sei, das habe sich einfach nie ergeben. Sie sagt, übersetzt: »Ich denke, ich war nicht talentiert genug und physisch zu fragil.«14 Die Tänzerin Doisneau blieb also in ihrer Bühnenkarriere eine Nebenfigur, wovon im Stück beziehungsweise im Film auch eine weitere Szene handelt. Die Protagonistin erzählt zunächst und zeigt dann minutenlang ihren Part aus dem zweiten Akt des Balletts Schwanensee, wobei sie am Bühnenrand schier endlos in Posen verharrt, die sie nur selten wechselt.15 Als »eine der schönsten im klassischen Ballett« bezeichnet Doisneau zuvor jene Szene aus Schwanensee, in der sich normalerweise jeweils 32 Ballerinen des Corps de Ballets auf der Bühne befinden.16 Im Stück Véronique Doisneau beschreibt die Tänzerin die lange Szene allerdings als eine Qual für all jene, die nicht als Hauptfiguren im Zentrum tanzen: In langen Passagen würden die Nebenfiguren zum, wie sie es nennt, unbeweglichen »menschlichen Dekor, um die Stars zur Geltung zu bringen«17. Für sie, die Nebenfiguren, sei das das Schlimmste gewesen, was sie in ihrer Funktion als Corps-Tänzer:innen tun mussten, und ihr sei jedes Mal elend zumute gewesen, so als müsste sie schreien oder davonlaufen. (Abb. 1) (Abb. 2)18 Vergleicht man nun ein Bild einer Schwanensee-Aufführung, in dem vorne das Solistenpaar agiert und im Hintergrund das Ensemble
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Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
Abb. 1: Véronique Doisneau im gleichnamigen Stück von Jérôme Bel (2004), Foto © Icare
Abb. 2: Solist:innenpaar Vadim Muntagirov und Marianela Nuñez in Swan Lake, Royal Ballet (2020), Foto © Alastair Muir
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Die spatiale und temporale Dimension
der Nebenfiguren in genau der Pose zu sehen sind, die Doisneau in der erwähnten Bühnen- beziehungsweise Filmszene zuletzt eingenommen hat, dann wird eklatant deutlich, wie unterschiedlich das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur, von Vorder- und Hintergrund wahrgenommen wird oder werden kann. In Véronique Doisneau steht die Performerin allein auf der Bühne; sie wird zur Hauptfigur, die den prekären Status der Nebenfigurenrolle vorführt und kommentiert. Das Publikum hört die bekannte Musik des Ballettklassikers und imaginiert unweigerlich im Mittelpunkt den Prinzen mit dem auserwählten weißen Schwan den sogenannten Grand Pas de Deux tanzen, den Doisneau mit ihren 31 identisch gekleideten Kolleginnen aus dem Corps de Ballet fast unbeweglich rahmen musste: Doisneau als Versatzstück, genauer als ornamentaler Teil eines kollektiven Corps de Ballets, aufgegangen im einfassenden Ballettkörper, der die Hauptsache, den bewegten und bewegenden Liebestanz, dekoriert. Räumlich gesehen löst die Szene im Stück Véronique Doisneau insofern eine Irritation aus, als sie das Verhältnis von Haupt- und Nebenschauplatz beziehungsweise Haupt- und Nebenaktion umkehrt. Anwesend beziehungsweise sichtbar ist nur die statische Nebenfigur (und dazu auch nur eine einzige aus einem ganzen Corps de Ballet) am Rand der Bühne. Wir, die Zuschauenden, imaginieren dazu allerdings in die Leere des Zentrums den bewegten Tanz, den wir ja alle kennen – immerhin ist Schwanensee der Ballettklassiker schlechthin.19 Gleichzeitig ertappen wir uns beim Zusehen der Passage in Véronique Doisneau dabei, wie wir die Szene bisher jeweils wahrgenommen haben, ja wie wir überhaupt Ballett oder auch anderen Bühnentanz wahrnehmen: Wir fokussieren einen Bruchteil der Figuren im Zentrum und blenden die anderen Figuren aus, verweisen sie an den Rand, nehmen sie höchstens als dekorativen starren Rahmen wahr. In diesem Moment wird bewusst (gemacht), was es bedeutet, wenn Bels Protagonistin konstatiert: Die Tänzer:innen sind beziehungsweise werden »unbewegliches menschliches Dekor, um die Stars zur Geltung zu bringen«20. Hier kommt nun der zeitliche Aspekt ins Spiel. Während der Pas de Deux der Solist:innen mit der Musik harmoniert und dynamisch ist, sind die Nebenfiguren regelrecht ausgebremst. Das menschliche Dekor ist starr; jegliche Aktion ist angehalten, jegliche Bewegung stagniert. Das tut weh. Weh tut es zum einen der Tänzerin, denn es ist unheimlich anstrengend, so lange reglos zu verharren. Weh tut es im Stück Véronique Doisneau aber auch – für einmal – dem Publikum, für das die langen Zwischenzeiten kaum auszuhalten sind. Als Zuschau-
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Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
ende ist man in die Situation versetzt, die zeitliche Dehnung mit zu durchleiden, während minutenlang nichts passiert, die Figur lediglich still dasteht. Hier kommt nun die nächste Dimension ins Spiel, die mit einer Reflexion von Aufmerksamkeits- und Machtverhältnissen zusammenhängt. Die akteuriale Dimension
Véronique Doisneau macht die Funktion von Nebenfiguren augenfällig, indem sie sich als solche präsentiert und ihre vermeintliche Marginalität kommentierend thematisiert. Im Abstract zur Tagung »Nebenfiguren« heißt es denn auch: »Die Nebenfigur ist keine Nebensache«; sie spielt »innerhalb einer Handlung, einer Dramaturgie« dezidiert eine unterstützende Rolle in einer hierarchisierten Anordnung. Und weiter: »Nebenfiguren werden innerhalb von Konstellationen etabliert und ihrerseits eingesetzt, um Konstellation zu gestalten«.21 Das deckt sich mit der radikalen Feststellung von Doisneau, zitiert in Gerald Siegmunds Buch zu Jérôme Bel: »[…] it is the corps de ballet’s disciplinary act of standing still for ten minutes that creates beauty«.22 ›Schönheit‹, das heißt das Wirkungsziel der Schwanensee-Szene, wird auch über den umfassenden Disziplinierungsakt der Tänzerinnen des Corps de Ballets evoziert. Die akteuriale Dimension bedeutet in diesem Zusammenhang: »Nebenfiguren sind Instanzen der Vermittlung. Es gehört zu ihren wesentlichen Funktionen, zu fokussieren, […] Blicke und Aufmerksamkeit auszurichten.«23 Véronique Doisneau (das Stück) entlarvt mithilfe seiner Titelfigur (der aus dem Hintergrund vorgerückten, eine Nebenfigur repräsentierenden Tänzerin Doisneau) die Machtverhältnisse auf der Ballettbühne. Das Stück hält dem Publikum vor Augen, was dies für die einzelnen Tänzerinnen bedeutet: Künstler:innen mit je einem Namen und einem Leben, von dem die Zuschauenden in der Regel nichts wissen, nichts wissen wollen. Und auf einmal erschließt sich, was es beinhaltet, wenn man diese Personen im abstrakt-ornamentalen Corps de Ballet aufgehen und dastehen lässt. In Véronique Doisneau wird die gleichnamige Persona von der Nebenfigur aus dem Hintergrund zur tragischen Heldin im Rampenlicht; von der rahmenden, unter Schmerzen Schönheit vermittelnden Instanz zur personifizierten Selbstermächtigung.24 Allerdings: Solange wir Véronique Doisneau als Stück von Jérôme Bel betrachten, ist Doisneau wiederum nur Ausführende und nicht (zumindest nicht im rechtlichen Sinne) Urheberin. Dies ist dann nochmals ein anderes Thema.
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Terrain vague der Figurenkonstellation
Terrain vague der Figurenkonstellation
»Wo sie auftreten, besiedeln die Nebenfiguren ein terrain vague: zwischen Staffage und Figuration, zwischen Multiplikation und Singularisierung, […] Hintergrund und Vordergrund, Funktionalität und Disruption«,25 heißt es in der Tagungsankündigung. Auf die gesamte Porträtserie von Jérôme Bel bezogen kann man daran noch weitere Überlegungen anschließen, die durch das vorsätzliche Vorrücken seiner Bühnenfiguren angestoßen werden. Bel erklärt in einem Interview mit der Tanzwissenschaftlerin Isa Wortelkamp: »Dieses seit 2004 existierende Projekt produziert eine subjektive Sicht auf bestimmte Momente der Tanzgeschichte. Das ›Ich‹, das von jedem Performer ausgesprochen wird, formuliert die Subjektivität.«26 Eine Subjektivität, kann man nun anfügen, die sich dort artikuliert, wo in der Regel Subjektivität nicht gefragt ist, weil die Nebenfiguren (zumindest im Ballett) in der Regel in der Gruppe, im Corps de Ballet, aufgehen und eben keine Subjekte darstellen, keine singulären Figuren sind, sondern Staffage, Rahmen, »Dekor« (Doisneau). Julia Wehren schreibt zu diesem seriellen Projekt, es handle sich bei Bels Tänzer:innenporträts vordergründig um »szenische Selbstdarstellungen, in denen mittels der Biographien der Eindruck von Unmittelbarkeit erweckt wird. Allerdings schiebt sich der Choreograf Jérôme Bel stets dazwischen«27. Doisneaus Solo und die der anderen Tänzer:innen können gelesen werden als […] Kritik am System des ›sprachlosen‹, im Dienste eines Choreografen und seiner Bewegungssprache stehenden Tänzers. Darüber hinaus problematisieren die Stücke [also auch Véronique Doisneau] die Frage nach dem Subjekt und dessen Darstellung auf der Bühne […] sowie die Frage nach der Autorschaft.28 Nicht ganz so klar ist diese Konstellation nun im Fall von Bels Stück Lutz Förster aus dem Jahr 2009, und zwar in mehrfacher Hinsicht. So kam Förster bereits als Tänzer in Wuppertal eine andere Funktion in den Stücken zu als einer Tänzerin im Corps de Ballet an der Pariser Oper, weil im Tanztheater keine derart strikt hierarchisch organisierte Neben- und Unterordnung praktiziert wird. Auch wenn Pina Bauschs Tänzer:innen sich und ihre Bewegungsfolgen viel stärker in die Entwicklung neuer Choreografien einbringen konnten, galt allerdings Bausch letztlich immer als Urheberin der Stücke. Aber auch die Frage, wer in den Tanztheaterstücken Haupt- und wer Nebenfigur ist,
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Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
Abb. 3: Lutz Förster im gleichnamigen Stück, ursprünglich konzipiert von Jérôme Bel (2009), Foto © Anna Van Kooij
lässt sich in ihren Produktionen sicherlich um einiges schwerer beantworten als im Falle der Aufführungen des extrem hierarchisierten (Pariser) Balletts. Im Hinblick auf das fragile Terrain der Figurenkonstellation und das selbstermächtigende Vorrücken ist Bels Stück Lutz Förster umso interessanter. (Abb. 3) Im Januar 2011 stand in der Zeitschrift tanz eine kurze, anonym verfasste Nachricht mit dem Titel »autorschaft«. Darin war zu lesen: LUTZ FÖRSTER hatte zuletzt durch das Stück ›Lutz Förster‹ von Jérôme Bel enorm Furore gemacht. Nun hat Bel, nach einem Jahr, seinen Namen zurückgezogen. Bel ließ verlauten, das Stück passe nicht mehr zu seinem ›kritischen Anspruch‹. Es gehört nun Förster allein.29 Was ist oder war denn der »kritische Anspruch« Bels, den auch Julia Wehren in ihrem Kommentar zur Serie der Tänzer:innenporträts anspricht? Und inwiefern ist diese Notiz selbst Teil des Spiels im Terrain der Figurenkonstellation? Es kann an dieser Stelle nicht auf die (durchaus komplexen) Einzelheiten der Kooperation zwischen Bel und Förster eingegangen werden; im Rahmen dieses Beitrags ist allerdings Folgendes hervorzuheben: Offenbar besteht ein Unterschied zwischen den in den Vordergrund, in die solistische Mitte eines Stückes gerückten Figuren Doisneau und Förster.30
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Terrain vague der Figurenkonstellation
Beide – Doisneau und Förster – erzählen in den entsprechenden Stücken mutmaßlich in ihrem Namen aus ihrem Leben und Berufsleben, tanzen Teile ihrer ehemaligen Rollen und werfen gerade dadurch Fragen auf zu ihrer jeweiligen Rolle im Tanzbetrieb, zu Funktionen, Machtverhältnissen und Aufmerksamkeitsregimes, von denen die Entwicklung von Tanzstücken bestimmt ist. Warum das bei Förster anders ist als bei Doisneau beziehungsweise warum das Stück Lutz Förster den kritischen Anspruch weniger erfüllt als Véronique Doisneau, hat – so eine mögliche These – dann allerdings etwas mit der Haupt- und Nebenfigurenkonstellation zu tun. Die Geste der (Selbst-)Ermächtigung, das Vortreten aus dem Hintergrund, das Sich-Lösen aus der dekorativen Starre ist bei Doisneau weitaus dramatischer und wirkungsvoller als bei Förster. Dieser darf im Stück Lutz Förster zwar erzählen, wie er zu einigen Szenen in den Tanztheaterstücken kam. Jedoch war er, der weder bei Bausch noch (zunächst) bei Bel offiziell und rechtswirksam als Urheber seiner Tanzkunst ausgewiesen wurde, vielleicht nie eine Nebenfigur oder ein Nebendarsteller. Dies lässt sich deshalb vermuten, weil im Tanztheater als Institution zwar auch rigide Machtverhältnisse wirken, die Choreografie- und Inszenierungspraxis aber in Bezug auf Haupt- und Nebenfiguren auf der Bühne anders strukturiert ist als das Ballett.31 Aus dieser kurzen Beobachtung wäre zu schließen, dass die Tänzer:innenporträts von Bel »kritisch« (Bel) nur dann sind und funktionieren, wenn sie den Status und die Funktion von tatsächlichen Nebenfiguren beleuchten und somit die Institution Bühnentanz im Namen und aus der Perspektive der Nebenfigur befragen (wobei sie das Publikum in diese Befragung mit einschließen). Anders als im Fall des Stückes Lutz Förster werden in Véronique Doisneau eben nicht einfach Exzerpte aus einer Tänzerlaufbahn vorgeführt, sondern in aller Drastik – räumlich, zeitlich und akteurial gesehen – erfahrbar gemacht, was eine in den Mittelpunkt gerückte Nebenfigur aus ihrem Berufsalltag als eine von vielen Tänzerinnen zu erzählen und vor allem aufzuzeigen hat.
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Vorgerückt aus dem Hintergrund: Jérôme Bels Künstler:innenporträts
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Zum Thema, wenn auch mit anderem Fokus, hat die Autorin bereits publiziert, vgl. Thurner, Christina: »Die Stimme erhoben. ›Ich‹-Sagen und Autorschaft in den Tänzerporträts von Jérôme Bel«, in: Krüger Anne-May/Dick, Leo (Hrsg.): Performing Voice. Vokalität im Fokus angewandter Interpretationsforschung, Büdingen 2019, S. 209 – 215. Zur Uraufführung finden sich auf der Homepage von Jérôme Bel unterschiedliche Angaben: vgl. http://www.jeromebel.fr/index.php?p=2&s=8&ctid=1 [7. August 2023], wo der 22. September 2004 angegeben wird, und http://www.jeromebel.fr/index.php?p=2&s=8&ctid=7 [7. August 2023], wo als erstes Aufführungsdatum der 24. September 2004 genannt wird. Uraufführungsort war die Opéra national de Paris, Palais Garnier. Bührle, Julia: »Ein gemischtes Vergnügen. Die Eröffnungsgala der Pariser Oper«, in: tanznetz, 8. Oktober 2004, http://www.tanznetz.de/blog/4348/eingemischtes-vergnugen [21. Januar 2016]. Vgl. http://www.jeromebel.fr/index.php?p=2&s=8&ctid=7 [7. August 2023]. Vgl. Mordhorst, Svenja: »Véronique Doisneau. Tanzstück«, in: Hartmann, Annette/Woitas, Monika (Hrsg.): Das große Tanz-Lexikon. Tanzkulturen – Epochen – Personen – Werke, Laaber 2016, S. 661 – 662. Vgl. beispielsweise Wortelkamp, Isa: »Namen und Geschichten. Lesarten des Tanztheaters im biographischen Zyklus von Jérôme Bel«, in: MAP – Media | Archive | Performance 5 (2014), https://perfomap.de/map/5/verkoerperungen/ namen-und-geschichten [7. August 2023]; Wortelkamp: »Seinen Namen geben / Geschichte(n) Tanzen. Jérôme Bel im Gespräch mit Isa Wortelkamp«, Dezember 2010, in: MAP – Media | Archive | Performance 5 (2014), https://perfomap.de/ map/5/verkoerperungen/seinen-namen-geben-geschichte-n-tanzen [7. August 2023]; Wehren, Julia: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis, Bielefeld 2016; Siegmund, Gerald: Jérôme Bel. Dance, Theatre, and the Subject, London 2017; Thurner: Die Stimme erhoben. Wortelkamp: »Namen und Geschichten«, S. 1. Vgl. auch Milder, Patricia: »Teaching as Art. The Contemporary LecturePerformance«, in: PAJ. A Journal of Performance and Art 33 (2011), H. 1 (97), S. 13 – 27; vgl. spezifisch zu Andrieux außerdem Dickinson, Peter: »Cédric Andrieux. With Bel, Benjamin, and Brecht in Vancouver«, in: TDR. The Drama Review 58 (2014), H. 3, S. 162 – 169. Bührle: »Ein gemischtes Vergnügen«. http://www.jeromebel.fr/index.php?p=2&s=8&ctid=1, [7. August 2023]; auf Deutsch: »Eingeladen, ein Stück für das Ballett der Pariser Oper zu machen, wollte Jérôme Bel eine Art theatrale Dokumentation über die Arbeit einer der Tänzerinnen des Balletts inszenieren: Véronique Doisneau. Die Tänzerin, kurz vor der Pensionierung, allein auf der Bühne, wirft einen retrospektiven subjektiven Blick auf ihre Karriere als Ballerina in dieser Institution.« [Übers. C. T.] Bührle: »Ein gemischtes Vergnügen«. Vgl. https://www.uni-hildesheim.de/media/forschung/herder_kolleg/aktuelles/ Tagung_Nebenfiguren_Flyer_2022-10.pdf [7. August 2023]. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=OIuWY5PInFs, ab 00:01:25 [7. August 2023]. Ebd., 00:03:40 – 00:03:47 [Übers. C. T.]. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=L10LlVPE-kg, ab 00:00:16 [7. August 2023]. Ebd., 00:00:16 – 00:00:32 [Übers. C. T.]. Ebd., 00:00:45 – 00:00:51 [Übers. C. T.]. Ebd., 00:00:52 – 00:01:12. Vgl. Regitz, Hartmut/Regner, Otto Friedrich/Schneiders, Heinz-Ludwig: Reclams Ballettführer, 12., durchges. Aufl., Stuttgart 1996, S. 553. https://www.youtube.com/watch?v=L10LlVPE-kg, 00:00:45 – 00:00:51 [7. August 2023]. Abstract zur Tagung »Nebenfiguren«; vgl. https://www.uni-hildesheim.de/media/forschung/herder_kolleg/aktuelles/Tagung_Nebenfiguren_Flyer_2022-10. pdf [7. August 2023]. Vgl. Siegmund: Jérôme Bel, S. 192: »[…] es ist der disziplinierende Akt des Corps de Ballet, zehn Minuten stillzustehen, der Schönheit schafft.« [Übers. C. T.]
Endnoten
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Vgl. https://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/unterschaetzte-rollen-inmittendes-geschehens-tagung-zur-inszenierung-von-nebenfiguren-in-film-theater-erzaehlung-und-kunst/ [7. August 2023]. Siegmund: Jérôme Bel, S. 200, schreibt dazu: »For Véronique Doisneau the choreographic structure of Swan Lake that subjectifies her remains entirely alien to her physical rhythms and demands. The scene from Véronique Doisneau positions her as a tragic heroine painfully confronting the abstract und uninhabitable universality of the choreography that destroys her as a dancer.« https://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/unterschaetzte-rollen-inmitten-des-geschehens-tagung-zur-inszenierung-von-nebenfiguren-in-film-theater-erzaehlung-und-kunst/ [Herv. i. O.] [7. August 2023]. Jérôme Bel in Wortelkamp: »Seinen Namen geben/Geschichte(n) Tanzen«. Wehren: Körper als Archiv in Bewegung, S. 12. Ebd. In: tanz (2011), H. 1, S. 27 [Herv. i. O.]. Das gilt m. E. auch für Torres und Andrieux, was hier aber ebenfalls nicht im Detail gezeigt werden kann. Dies ließe sich auch für die Kompanie von Merce Cunningham zeigen, die in Cédric Andrieux den Kontext bildet.
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Nationalsozialcharaktermasken: Zur Filmografie Rudolf Schündlers
Dennis Göttel
Nationalsozialcharaktermasken: Zur Filmografie Rudolf Schündlers »Mit wenig Seele, aber viel Psychologie.« Rudolf Schündler als Konditor Kreutzkamm in Karl May (1974, Hans-Jürgen Syberberg) Doppelgänger
Eine Begebenheit während der Hausparty in The Exorcist (1973, William Friedkin) wird sich zwar für den Filmplot als unbedeutend erweisen, erschreckt jedoch für einen Augenblick: Ein angetrunkener Gast blafft den alten Butler, der bislang milde, ja servil daherkam, an, ein deutscher Nazi zu sein. Zunächst die Ausflucht murmelnd, er sei vielmehr aus der Schweiz, verliert der Butler schnell die Contenance, springt dem anderen an die Gurgel und beginnt ihn zu würgen, während er ihn, teils auf Hochdeutsch, wüst beschimpft. Was mich beim Schauen gruselte, war indes weniger die Aggressivität, auch wenn sie zum ersten Mal mein Augenmerk auf die Nebenfigur des Butlers richten ließ: Er erinnerte mich plötzlich an jemand anderen. Seine weichlich-brüchige Stimme, die in Gebrüll umschlägt, seine zerzausten Augenbrauen, sein irrer Blick, sie ließen mich schockhaft an einen der Lehrer aus der westdeutschen Filmreihe Die Lümmel von der ersten Bank denken. Deren erster Teil, Zur Hölle mit den Paukern (1968, Werner Jacobs), wird von einigen Freeze-Frames eröffnet, mit denen nacheinander Vertreter des Lehrkörpers vorgestellt werden. Auch die Standbilder des Lehrers Knörz springen alsbald in Bewegtbilder um – als ob eine gefrorene Erinnerung auftaute, als ob der Figur Leben eingehaucht würde. Wie sich herausstellte, wurden der Lehrer wie der Butler tatsächlich vom selben Schauspieler verkörpert, nämlich von Rudolf Schündler. Ihn wiederzuerkennen, eröffnet eine denkwürdige Mesalliance: zwischen westdeutscher Filmklamotte und New Hollywood, zwischen einem juvenilen Paukerfilm und dem genreprägendsten Horrorfilm überhaupt. Zwischen Filmen also, die wenig mehr gemeinsam zu haben scheinen, als dass Schündler in beiden auftritt. Dass dessen Filmografie womöglich nicht die eines mehr oder minder Namenlosen ist, könnte ein schmaler Brief William Friedkins
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Haunting Body
bezeugen, den er einige Zeit nach den Dreharbeiten zu The Exorcist an Schündler schickt, als der im Spital liegt: »Dear Rudolph [sic!] [/] David told me of your recent illness, which deeply saddened me. […] I really believe that your contribution to The Exorcist is a major one, and in no small way responsible for the film’s success.«1 Der Tonfall des Briefs mag der Aufmunterung eines Bettlägerigen geschuldet sein, erscheint die Rede von Schündlers Beitrag zum Erfolg von The Exorcist doch arge Lobhudelei; die behauptete Wichtigkeit der Nebenfigur des Butlers jedenfalls bleibt unbestimmt. Die Relevanz des Darstellers Schündler wiederum liegt aber womöglich nicht in der Produktionsgeschichte jenes Films verborgen, sondern zeigt sich auf andere Weise: unheimlich aufgespannt zwischen verschiedenen Filmen. Haunting Body
Der Theaterwissenschaftler Marvin Carlson hat auf die Geisterhaftigkeit hingewiesen, wenn das Publikum einer Aufführung bei Figuren die Erinnerung an frühere Rollen derselben Schauspieler:innen ereilt. Über die Konvention des type casting hinaus fasst Carlson dieses Moment mit dem Begriff des Haunted Body,2 des heimgesuchten Schauspielkörpers. Unausgesprochen vorausgesetzt scheint, dass sich solche Erinnerungen gemeinhin auf die Auftrittsgeschichte bekannterer Schauspieler:innen beziehen. Nennt ihn eine Kurzbiografie einen »der fleißigsten Filmschaffenden seines Landes«,3 so heißt es im Lemma zu Rudolf Schündler in der Neuen Deutschen Biografie: »Als wandlungsfähiger Darsteller war er in zumeist kleinen, aber einprägsamen Rollen in mehr als 100 Spielfilmen zu sehen.«4 Freundlich umschrieben ist hier der Umstand, dass Schündler quasi ausschließlich Nebenfiguren in Film und Fernsehen gespielt hat. Etwas widersprüchlich attestiert der CineGraph, Schündlers Rollen seien »zwar stets einprägsame darstellerische Kabinettstückchen«, sie blieben »aufgrund ihrer episodenhaften Ausrichtung jedoch ohne wirklich nachhaltiges Echo«.5 Schündlers Filmografie umfasst Auftritte etwa in Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (1933, Fritz Lang), in Episoden von Derrick und Der Alte, im Tatort und in Wenn der Vater mit dem Sohne (1955, Hans Quest), im westdeutschen Heimatfilm der 1950er- und in Sexfilmchen der 1970er Jahre, in Dario Argentos Giallo-Klassiker Suspiria (1977) und in der Reihe Traumschiff, in nationalsozialistischen Propagandafilmen und Komödien, in mehreren Teilen der Edgar-Wallace-Reihe, in David Hemmings’ Schöner Gigolo, armer
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Gigolo (1978) und in der Immenhof-Reihe, in Hans-Jürgen Syberbergs Karl May und der Kinderfilmreihe Michel aus Lönneberga, in zwei Filmen von Wim Wenders und einem von G. W. Pabst, in Filmen mit Marlene Dietrich, Heinz Erhardt, Nena, Hanns Zischler, Dennis Hopper, Heinz Rühmann, Max von Sydow, Udo Kier und David Bowie. Sprich: eine völlig abstruse filmisch-televisuelle Ansammlung, die durch kein Genre, kein Thema, kein Motiv und auch durch keine Nationalkinematografie oder die Differenz von Unterhaltungs- und Autorenkino zusammengehalten wird, kurz: ein Konvolut, das nur dann zum Korpus werden kann, wenn der Auftritt Schündlers zum Kriterium wird. Zielt bei Carlson die Figuration des Gespensts auf eine zumindest tendenzielle analytische Ununterscheidbarkeit, was die Differenz von Figur und Schauspielkörper betrifft, stellt sich die Frage, welche Effekte dies für eine filmhistorische Untersuchung zu einem veritablen Nebendarsteller zeitigt. Um die Spezifika der Nebenfigur zu bestimmen, gilt es, Carlsons zentrales Konzept um den Begriff eines Haunting Body zu ergänzen. Angezeigt ist damit, dass Schündlers Schauspielkörper Filme heimsucht: Schündler als Phantom der Filmgeschichte. Impliziert soll damit nicht sein, den Begriff des Haunted Body fallen zu lassen. Vielmehr gilt es, entlang seiner Filmografie einerseits von Schündler verkörperte Figuren aus ihrer narrativen Stellung herauszulösen, andererseits die Spuren der Diegese nicht vollends an ihnen zu tilgen. Eine solche methodische Unternehmung beruht auf Ausschnitten, auf einer Auswahl von Szenen mit Schündler, die erst in der Re-Montage noch etwas anderes preisgeben, als vom jeweiligen Film auferlegt. Karl Prümm argumentiert in seiner Forschung zu deutschjüdischen Chargendarstellern der frühen 1930er Jahre, deren »zahllose […] Rollen summieren sich zu einem prägnanten Text, der beständig zitiert, wieder aufgenommen, weitererzählt und angewandelt wird. Die Chargen sind schon vor der individuellen Geschichte fertig, bringen ihre eigene Körpererzählung in jede Inszenierung mit. Ihr bloßes Erscheinen verweist auf andere Filme, fügt sich ein in eine Kette von Auftritten […].«6 Angesiedelt zwischen Typage und individueller Körperlichkeit weist Prümm den Chargen Handlungsmacht, ja Quasi-Autorschaft für ihre Filmografie zu, in der »sie selber die Hauptrolle spielen«7. Eine solche Aufwertung von Nebendarsteller:innen mag deren schauspielerische Qualitäten betonen, doch verstellt sie just die entscheidenden Charakteristika in den Auftritten der Nebenfigur, nämlich das »Momenthafte und Periphere«8, das
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Wiederkehr
»Beiläufige und Episodische«9. Die methodologischen Überlegungen zu einer Filmgeschichte der Nebenfiguren – Peter Hartmann bezeichnet sie als »Figuren ohne Eigenleben«10 – müssen daher einer zentralen Eigenschaft, die auch dem Gespenst, dem Wiedergänger zugeschrieben wird, verpflichtet bleiben: Dem Erscheinen folgt das Verschwinden und vice versa.11 Wiederkehr
Das Wort vom Wiedergänger trifft allerdings nicht nur einen methodischen Aspekt zur Darstellung der Nebenfigur im Zeichen des Haunting Body. Im Fall von Schündlers Filmografie hat es auch eine historische Dimension, die in der filmhistorischen nicht aufgeht. Wird in der eingangs beschriebenen Szene aus The Exorcist die Anschuldigung vorgebracht, der Butler sei ein »Nazi bastard«, ein »bloody damn butchering Nazi pig«, findet die erste Szene mit dem Lehrer Knörz in Zur Hölle mit den Paukern ihren Höhepunkt ebenfalls in einem Verweis auf den Nationalsozialismus. Der von Schündler gespielte Lehrer hält einem aufmüpfigen Schüler eine Standpauke, die in den Worten gipfelt: »Weil ihr keine Ehrfurcht mehr habt vor den nationalen Gütern und keinen Respekt mehr vor dem Lehrkörper und euren Eltern, die euch immer mit gutem Beispiel vorangegangen sind«, worauf der Gemaßregelte kontert: ›Ja, wie sie zum Beispiel Adolf Hitler gewählt haben‹«, was den Lehrer noch herrischer, im selben Moment aber auch ganz nervös werden lässt. In beiden Szenen ereignen sich die Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus unerwartet: als plötzliche Wiederkehr des Verdrängten und im Zeichen einer von Adorno beschriebenen Unentscheidbarkeit: »Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam […].«12 Das Verdrängte aber sieht sich in den Handlungen beider Filme selbst rasch wieder verdrängt. Sei es durch die Erzählstruktur der falschen Fährten, die in der Narration von The Exorcist gelegt werden, um die Erklärbarkeit übersinnlicher Vorkommnisse zu hintertreiben: Als hätte sein Ausbruch nie stattgefunden, nimmt der Butler sehr bald wieder die Rolle eines bit player ein.13 Oder sei es durch die Episodenhaftigkeit der Ulkereien und Sketche in Zur Hölle mit den Paukern, wo Schündlers Figur alsbald das Opfer eines makabren Schülerstreichs wird: Ihm wird weisgemacht, ein Schüler habe sich aus dem Fenster in den Tod gestürzt, und niemand schenkt dem Lehrer Glauben, weil sich keine Leiche auf dem Schulhof finden lässt.
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Der fassungslose Lehrer wird in völliger Verwirrung in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und verschwindet aus der Handlung (was ihn nicht davon abhält, in den weiteren Teilen der Filmreihe wieder aufzutauchen).14 Der Nervenzusammenbruch korrespondiert mit dem brachialen Wutanfall in The Exorcist, insofern der Unterwürfige hier und der Autoritäre dort einen Moment des Umschlags erfahren, der die jeweilige Figur bis ins Mark erschüttert. Tatsächlich kommt der Nationalsozialismus als Referenz, gar als Thema nur in ganz wenigen Filmen, in denen Schündler mitwirkte, explizit vor. Und doch – oder vielmehr deswegen – deuten die beiden Anwürfe in The Exorcist und Zur Hölle mit den Paukern in ihrer Plötzlichkeit, die umgehend wieder verhallt (kreuzt man beide Filmtitel: als ob das Infernalische sofort exorziert werden müsste), auf die unterschwelligen Leitmotive von Schündlers Filmografie: die Latenz des Faschismus und die Geschichte des deutschen Nationalcharakters. Diese Figuration wird, so uneinheitlich das Werk Schündlers ist, erst im Zusammenspiel seiner Auftritte erkennbar. Böse Tat
Der allerletzte Film Schündlers, Das schreckliche Mädchen (1990, Michael Verhoeven), thematisiert die bundesrepublikanische Gesellschaft und deren mangelnde Erinnerungspolitik, was ihn zu einem Teil der damals erst beginnenden Etablierung der historischen Aufarbeitung der Shoah in Westdeutschland macht. Protagonistin ist eine junge Frau in der bayerischen Provinz, die sich auf eigene Faust daran macht, die Lokalgeschichte ihrer Heimatstadt während des Nationalsozialismus gegen den Widerstand ihres sozialen Umfelds und der Stadtoberen zu durchleuchten. Ihre Recherche führt sie ins Archiv der Regionalzeitung; die winzige Rolle des Archivars (dessen Screentime ganze 16 Sekunden umfasst) spielt Schündler, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits fast vollständig erblindet war.15 Zwar ist er dies nicht in der Diegese, jedoch erscheint die an der Schnittstelle zum Extradiegetischen sich konstellierende Figur eines blinden Archivars paradox. Hinzu kommt, dass sich der Greis, gefragt nach Vorkommnissen während des ›Dritten Reichs‹, »überhaupt gar nicht erinnern« kann. Der Erblindete ohne Gedächtnis wird so zur doppelten Trope für die Filmografie Schündlers: sowohl im Zeichen historischer Verdrängung deutscher Schuld als auch als Nebenfiguration des Vergessens seiner Rolle in der Filmgeschichte. Das schreckliche Mädchen wurde 1990 auf der Berlinale, zwei Jahre nach Schündlers Tod und schon nach dem Mauerfall, uraufge-
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Böse Tat
führt, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Nachkriegszeit an ihr Ende gekommen war, die in der deutschen Teilung ihre sichtbarste Gestalt hatte. Diese deutsch-deutsche Grenze prägt die Topologie in Wim Wenders’ Roadmovie Im Lauf der Zeit (1976), und Schündlers Figur, der Vater des von Hanns Zischler gespielten Protagonisten, ist quasi der Vorgänger jenes Zeitungsarchivars: ein alter, einsamer Herausgeber einer Provinzzeitung und so müde, dass er die Anschuldigungen seines Sohns beinahe wortlos über sich ergehen lässt und über seiner Schreibmaschine einnickt. Diegetisch ein Vater-SohnKonflikt, trägt das Zerwürfnis die Spuren eines gesellschaftspolitischen Generationenkonflikts im Westdeutschland der 1970er Jahre. Wenn es zu Schündler heißt, dass er »[n]ach dem 2. Weltkrieg […] auf der Leinwand zum Prototyp des skurril-komischen Alten«16 avancierte, überrascht diese Typage auf den ersten Blick, war er Mitte der 1940er Jahre erst etwa 40 Jahre alt. Impliziert der Fokus auf die Filmografie eines Nebendarstellers – und nicht ausschließlich auf eine vom Leib abgespaltene Figurentypologie – auch das Älterwerden und die zunehmende körperlicher Gebrechlichkeit, scheint es bei Schündler zu einer vom Publikum rasend schnell empfundenen Alterung gekommen zu sein. Das ist umso bemerkenswerter, als sein Durchbruch als Schauspieler in Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse sich mit der Figur des schießwütigen Hardy ereignete, die immer wieder in Raserei verfällt. Die Agilität von Schündlers Spiel Anfang der 1930er Jahre steht in markantem Kontrast zu seinen späteren, oftmals (zumindest zunächst) reserviert erscheinenden Figuren. Die juvenil wirkende Hitzköpfigkeit eines Hardy jedenfalls findet keinen direkten Widerhall in Schündlers weiterer Filmografie, vielmehr mimt er häufig Spießbürger, die sich manchmal erst auf den zweiten Blick als Halunken oder Verbrecher zu erkennen geben. Trotz des Umstands, dass sein Auftritt in Das Testament des Dr. Mabuse also nicht im engeren Sinne repräsentativ für das Rollenportfolio Schündlers ist, prägt dieses Engagement noch Jahrzehnte später seine Karriere. So schrieb Wim Wenders auf meine Anfrage zu den Beweggründen für die Besetzung Schündlers in Im Lauf der Zeit: »[W]ir [suchten] von einem Tag auf den anderen einen ›Vater‹ […]. Wir hatten ja kein Drehbuch, die Szene habe ich praktisch über Nacht geschrieben, und dann einen Freund in Berlin angerufen, welche Schauspieler er denn wüßte, die so um die 70 Jahre alt wären. […] Dann hat er mir eine Handvoll genannt, und dabei war Rudolf Schündler. In seiner Filmographie habe ich gesehen, daß er im ›Testament des Dr. Mabuse‹ mitgespielt hatte, ein Film, den ich gut in
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Erinnerung hatte. Und das hatte mir gefallen, daß […] [der Darsteller des] Vater[s] bei Fritz Lang gespielt hatte[,] und deswegen habe ich ihn genommen. Das schien mir filmhistorisch völlig richtig […].«17 Die Passgenauigkeit der Besetzung als Reverenz an Lang fügt sich ein in die allgemeine Motivik zur Kinogeschichte in Im Lauf der Zeit. In seiner Rezeptionsgeschichte wurde Das Testament des Dr. Mabuse sehr bald als Menetekel der faschistischen Machtübernahme gelesen. Wenders’ Bezugnahme auf den Film mag zwar eine Verneigung vor dem filmhistorischen Erbe der Weimarer Republik sein, doch schließt die Besetzung Schündlers in Filmen und Serien der Nachkriegszeit nolens volens auch einen Bezug auf die Filmgeschichte des Nationalsozialismus ein. Eine von Schündlers zahlreichen Rollen nach der Machtergreifung ist die im Propagandafilm Achtung! Feind hört mit! (1940, Arthur Maria Rabenalt) als spielsüchtiger Ingenieur, der aufgrund seiner Schulden als Spion für eine ausländische Regierung anheuert. War das Verhalten des Ingenieurs im Laufe des Films von Unfreundlichkeit, Zugeknöpftheit und Arroganz geprägt, so folgt seiner Enttarnung der sukzessive Verlust der souveränistischen Pose und schließlich der mentale Meltdown. Zeichnete sich Schündler in Das Testament des Dr. Mabuse durch Weißglut und Tobsucht aus, finden diese Eigenschaften in Achtung! Feind hört mit! so ihr Komplementär. Und beide Figurationen werden en miniature wiederholt im Ausbruch des Butlers in The Exorcist respektive im Zusammenbruch des Lehrers in Zur Hölle mit den Paukern. Aus diesem Film scheint ein Satz der von Schündler gespielten Figur für diese allzu deutsche Filmografie wahr geworden zu sein: »Das ist der Fluch der bösen Tat«. Auf diese, leicht verfälscht rezitierte Zeile aus Schillers Wallenstein würde folgen (der LümmelFilm macht davor halt): »Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.«18 Zwischen jenen vier Filmen – heraufziehender Faschismus Anfang der 1930er Jahre, nationalsozialistische Propapanda sowie die Wiederkehr verdrängter deutscher Geschichte um und nach 68 – positioniert sich mit Wenn der Vater mit dem Sohne ein Film der 1950er Jahre (also vor dem konfliktuösen Familienverhältnis in Im Lauf der Zeit), der nicht nur dem ›Wirtschaftswunder‹ und dem beginnenden Massentourismus in den Süden Gestalt gibt, sondern auch um Trauer kreist: allerdings nicht bezogen auf die deutsche Schuld, sondern um den im Krieg gefallenen Sohn. Schündlers Rolle beschränkt sich hier auf die eines bloßen Stichwortgebers in der als Sketch gestalteten Eingangssequenz. Der von Heinz Rühmann
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gespielte Besitzer eines Scherzartikelladens preist allerlei Nippes und Masken an, die den zugeknöpften, grimmigen Kunden unbeeindruckt lassen. Erst Schadenfreude lässt Schündlers Figur in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn ein von der Straße her geschossener Fußball die Scheibe der Auslage zum Klirren bringt. Der Kleinbürger kommt letztlich auf seine Kosten, ohne etwas zu kaufen. Die souveräne Fassade des bürgerlichen Deutschen ist scheinbar wieder hergestellt, und doch ereignet sich auch hier ein Umschlag von Schündlers Figur: nicht in körperliche Gewalt, nicht in den mentalen Zusammenbruch, aber ins bösartige Lachen – wenngleich es steril, automatisiert wirkt. Deutsches
So verkehrt es wäre, Schündlers enorme schauspielerische Bandbreite zu ignorieren und so wenig er auf einen Typus festzulegen ist, bedeutet dies keineswegs, dass sein Portfolio nicht einer Kohärenz folgte. Lässt man das Spätwerk zunächst außer Acht, muss die Figuration eines rapiden Umschlags, eines Umsprungs als wiederkehrendes Moment gelten. Sie nimmt ihren Ausgang entweder vom Bornierten, Überheblichen, Herrischen oder aber vom Folgsamen, Duckmäuserischen, Untertänigen, manchmal, wie noch zu sehen sein wird, auch vom Verschrobenen, Entrückten, Versponnenen. Im Umschlag dann zeigt sich urplötzlich Überreiztheit, Kopflosigkeit, Tobsucht oder, teils vermischt, Verwirrung, Wahn. Der entweder starre oder schwächliche Leib wird vom Kontrollverlust heimgesucht, er bäumt sich auf, oder er bricht in sich zusammen. Ihren konzisen Zusammenhang erhalten weite Teile der Filmografie Schündlers, betrachtet man sie als Ausprägung des Nationalcharakters, genauer: des deutschen männlichen Kleinbürgers über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Seine Filmografie unter diesem Gesichtspunkt zu sehen, meint wesentlich, sie als Ausdruck des Postfaschismus zu begreifen. Eine solche Perspektive schließt an das Erkenntnisinteresse von Siegfried Kracauers Studie zum Kino der Weimarer Republik an, wo »mittels einer Analyse der deutschen Filme tiefenpsychologische Dispositionen, wie sie in Deutschland von 1918 bis 1933 herrschten« aufgedeckt werden sollten; übrigens »Dispositionen, […] mit denen in der Zeit nach Hitler zu rechnen sein wird«19. Kracauer lehnt dabei zwar aus guten Gründen den Begriff eines »feststehenden Nationalcharakters«20 ab, richtet sein Augenmerk indes auf die Episode einer Kollektivmentalität. Vor diesem Hinter-
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grund kann die ideologiekritische Perspektive auf das Schündlerische Figurenensemble an Erich Fromms Begriff des Gesellschaftscharakters respektive Sozialcharakters anschließen. Dessen historisch-materialistischer Gehalt zielt auf die »dynamische […] Anpassung der menschlichen Natur an die Gesellschaftsstruktur. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sich ändern, so führt das zu Veränderungen im Gesellschaftscharakter, das heißt zu neuen Bedürfnissen und Ängsten.«21 In seiner Analyse der Genese des deutschen Faschismus verweist Fromm auf die zentrale Rolle des Kleinbürgertums, bei dem er sowohl »das Streben nach Unterwerfung« als auch »die Gier nach Macht«22 ausmacht. (Kracauer im Übrigen betont für das Kino der Weimarer Republik, es sei von der »Mittelschicht-Mentalität«23 dominiert.) Auf die ökonomische Krise der Zwischenkriegszeit reagierte das Kleinbürgertum »mit einer Intensivierung bestimmter Charakterzüge, nämlich seiner sadistischen und masochistischen Strebungen. Die Nazi-Ideologie entsprach diesen Wesenszügen und intensivierte sie noch«.24 Diese Simultaneität von Sadismus und Masochismus im Kleinbürger bezeichnet Fromm als wesentliches Merkmal des »autoritären Charakters«25. Schündlers Nebenfiguren lassen ebenjene Struktur des autoritären Charakters vor allem in seinem Beharrungsvermögen in postnazistischer Gestalt sichtbar werden, indem sie eine Mentalitätsgeschichte des männlichen deutschen Kleinbürgers auswie abbilden: als Leib-, Gesten- und Mimengeschichte. Begrifflich zuspitzen ließe sich dieses filmische Korpus auf das Kompositum des Nationalsozialcharakters. Seinen Fluchtpunkt allerdings hat dieser deutsche Gesellschaftscharakter woanders als im sadistisch-masochistischen Wechselspiel: im Altersmilden und Naturseligen, in der Melange aus Fernweh, Innerlichkeit und Friedensaposteltum, verkörpert in einem Passagier in einer »Kenia«-Folge des Traumschiffs (1983, Alfred Vohrer). Auf einem Landausflug in einen kenianischen Nationalpark salbadert die von Schündler gespielte Figur eines gebrechlichen Sanftmütigen auf einer stattlichen Aussichtsplattform (mit der sich der Massentourismus als neokoloniales Blickregime verrät) vom Wunsch nach Frieden auf der Welt. Dieser Wink zur Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er Jahre ist aber gerade nicht der Bruch mit dem Postfaschismus, sondern dessen neuere Ausprägung, folgt man der Philippika Wolfgang Pohrts, der in der deutschen »Friedensbegeisterung eine deutschnationale Erweckungsbewegung«26 identifizierte, die (im antiamerikanischen Ressentiment) die Volksgemein-
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Maskerade
schaft wiederentdeckte, nunmehr endlich die Rolle des Opfers reklamierend. Maskerade
Will Karl Prümm im Spiel der Chargen (bezogen auf das deutsche Kino der frühen 1930er Jahre) aufgrund der chrono-topischen Ordnung ihrer Auftrittsprotokolle – Momenthaftigkeit und Peripherie – das »Widerständige« gegenüber der mit den Hauptfiguren verbundenen »Illusion eines transzendentalen Subjekts« erkennen und stellt er die These auf, die Chargen entzögen sich damit »jeder Totalität«,27 möchte ich angesichts der Nebenfiguren Schündlers argumentieren, dass sie im Zeichen des deutschen (Post-)Faschismus vielmehr der Totalität preisgegeben sind. Wo Schündler vor allem Spielarten des Kleinbürgers verkörpert, ist es unerlässlich, daran zu erinnern, dass das Kleinbürgertum schon aufgrund seiner schieren Existenz ein zentrales Krisensymptom für die Stellung des Bürgertums im kapitalistischen Vergesellschaftungsprozess ist, verkörpert es doch auf besondere Weise die Schimäre eines autonomen Subjekts.28 Falko Schmieder hat in seiner begriffshistorischen Darstellung zur Charaktermaske – die in der »theatrale[n] Bilderwelt«29 von Marx’ Kapital eine hervorgehobene ideologiekritische Stellung einnimmt,30 um zu erfassen, dass die Subjekte ihrem ökonomischen Funktionszusammenhang substituiert sind – auf Fromms Begriff des Gesellschaftscharakters als Versuch einer sozialpsychologischen Übertragung hingewiesen.31 Mit Verweis auf Horkheimer und Adorno hält Schmieder außerdem fest, dass im Zuge von Faschismus und Autoritarismus ein sozialer Typus entstand, »bei dem die Differenz zwischen Charaktermaske und Individuum nivelliert zu werden drohte«32. Während bei Marx die Rede von der (ökonomischen) Charaktermaske zwar auf eine Personifikation der verdinglichten sozialen Beziehungen abzielt, mangelt es ihr dort, also bezogen auf das 19. Jahrhundert, noch an derjenigen Totalität, die dann für das 20. Jahrhundert in der Dialektik der Aufklärung skizziert wird: »Die wirtschaftliche Charaktermaske und das, was darunter ist, deckt sich im Bewußtsein der Menschen, den Betroffenen eingeschlossen, bis aufs kleinste Fältchen.«33 Im Zuge forcierter Vergesellschaftung wird die Rede von der Charaktermaske beinahe obsolet, da damit impliziert würde, man könne sie noch absetzen. Diverse Masken und künstliche Gesichter tauchen in Schündlers Filmografie immer wieder auf. Wimmelt es in Das Testament des
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Nationalsozialcharaktermasken: Zur Filmografie Rudolf Schündlers
Abb. 1: Pistole und Fellvorleger: Das Testament des Dr. Mabuse (1933), Screenshot
Abb. 2: Scherzartikel: Wenn der Vater mit dem Sohne (1955), Screenshot
Abb. 3: Totenmaske und Pin-up: Der unheimliche Mönch (1965), Screenshot
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Maskerade
Dr. Mabuse von Masken in Form von Ethnografika, die zur Fantastik des Films beitragen, ist einer der Showdowns des Films von zwei Köpfen gerahmt: In blinder Wut reißt Schündlers Figur eine Büste von ihrem Podest, um sie zu zerschmettern; und sein bald folgender Suizid gipfelt in der Nahaufnahme der Tatwaffe in seiner Hand: Am Boden darunter ist ein Fellvorleger zu sehen, dessen Tierschädel (vielleicht von einem Guanako) stummer Zeuge des Selbstmords wird (Abb. 1). Die Unheimlichkeit der toten Gesichter und Masken findet ihr Komplementäres in der Exposition von Wenn der Vater mit dem Sohne. Hier aber ist mit dem Spuk Schluss, stattdessen sollen aufgesetzte Nasen und Brillen bloß Clownerie sein. Die Masken stehen Rühmann als früherem Star des nationalsozialistischen Kinos perfekt zu Gesicht (Abb. 2), während Schündlers Gesicht nur in Seitenansicht oder mit unveränderter Miene zu sehen ist. Die Persona materialisiert sich also nur am Protagonisten. In Der unheimliche Mönch wiederum (1965, Harald Reinl), einem Film aus der Edgar-Wallace-Reihe, ist das Motiv der Maske erneut düster: Schündler mimt einen eigenbrötlerischen Taubenzüchter und Kunsthandwerker, der Gesichter von Schülerinnen in Gipsmasken verewigt, die sich post festum als Totenmasken erweisen, sobald die jungen Frauen ermordet wurden. Schündlers Figur, gleichermaßen Faktotum und arglistiger Handlanger,34 hat in seinem Atelier eine ganze Wand mit solchen Totenmasken drapiert. Doch dienen diese nicht nur dem Totenkult, ihre Hohlräume sind auch profanes Versteck für Schlüssel wie für Pin-ups (Abb. 3). Aufgedeckt ist hier ein Topos, der sich durch die Filmografie Schündlers zieht: eine unterdrückte Sexualität, die sich vor allem im Umstand manifestiert, dass so gut wie alle seine Figuren Junggesellen sind oder scheinen, was zum markanten Element ihrer kleinbürgerlichen Typologie wird. Schündler steht in einem mittelbaren Verhältnis zu jenem Sammelsurium an Masken (und maskenartigen Gebilden), die in den Filmen auftauchen. Er selbst muss deswegen keine tragen, weil seine Nebenfiguren bereits Fleisch gewordene Masken kleinbürgerlicher Typen sind. Am Ende seines Werks spitzt sich dies zu: In der Eröffnungssequenz von Der Unsichtbare (1987, Ulf Miehe), einer läppischen Komödie über einen Journalisten in der Midlife-Crisis, spielt Schündler dessen wunderlichen Onkel; auf dem Totenbett vermacht er dem Neffen den Schlüssel zu einem Banksafe, in dem eine Mütze lagert. Denjenigen, der sie trägt, macht sie völlig unsichtbar. Das fantastische Element erfährt im Plot keine Erklärung. Vielmehr radi-
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Nationalsozialcharaktermasken: Zur Filmografie Rudolf Schündlers
kalisiert sich in der Mütze das Motiv der Maskierung, nämlich hin zum unsichtbaren Körper. Die Mütze wird zum epistemischen Bild der Filmografie des Nebendarstellers, mit ihr kommt der Haunting Body zu sich. Gesichte
Eine filmische Studie zu einer womöglich inhärenten Fantastik des Nebendarstellers findet sich in Dario Argentos Suspiria, wo Schündler einen kurzen Auftritt als zerzauster Professor hat, der zur Geschichte der Hexerei forscht.35 Am Fuße des Münchner BMW-Turms (spätes Wahrzeichen des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders in der vormaligen ›Hauptstadt der Bewegung‹) begegnet die manieristische Ästhetik des Giallo mittels zahlreicher Einstellungswechsel, Kamerabewegungen und Zooms dem Körper Schündlers regelrecht obsessiv. So fokussiert der Film Schündlers Gesicht, wobei es vor allem (wie seine gesamte Filmografie hindurch) die buschigen, struppigen Augenbrauen sind,36 die ins Auge fallen. Mehr noch aber ist es sein Hinterkopf, für den sich die Kamera interessiert und dem sie sich sukzessive nähert. Ex negativo weist die Zurschaustellung des Hinterkopfs auf das Gesicht als tradierten Ort von Individualität hin, die hier an der Nebenfigur infrage gestellt wird. Die Antwort von Suspiria darauf ist janusköpfig, indem das Haupt auf einen Nebenschauplatz verschoben wird: Das Finale der Sequenz ist die Spiegelung Schündlers in der Glasfassade des Hochhauses – als ob die Kamera demonstrieren wollte, dass es sich bei ihm doch nicht um ein Gespenst handele, das ja bekanntlich kein Spiegelbild hat. Die vom hellen Sonnenlicht verschwommene, unscharfe Spiegelung gibt aber auch die gegenteilige Antwort, gleicht die Figur Schündlers hier doch einem Trugbild, einer Einbildung, als gehörte er nicht zur Gruppe der Gesichter, sondern zur derjenigen der Gesichte.37 Dass das methodische Unternehmen zu Schündlers Filmografie selbst haltlos sein könnte, dass man womöglich einen Budenzauber veranstaltet oder aber einen Verfolgungswahn entwickelt hat, diesen Verdacht könnte schließlich der Titel eines Buchs, als dessen Autor der von Schündler gespielte Professor in Suspiria vorgestellt wird, erregen: Magic, or Paranoia.
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Endnoten
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Brief von William Friedkin an Rudolf Schündler vom 28. Juni 1974. Archiv der Akademie der Künste, Rudolf-Schündler-Archiv, Signatur: Schündler 685, »William Friedkin an Rudolf Schündler«. [Herv. von »The Exorcist« i. O.] Vgl. Carlson, Marvin: The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor 2003, S. 67 – 95. Weniger, Kay: »Rudolf Schündler«, in: ders.: Das große Personenlexikon des Films, Bd. 7, Berlin 2001, S. 197 – 199, hier: S. 197. Schündler arbeitete u. a. auch als Filmregisseur. Kühn, Volker: »Schündler, Rudolf Ernst Paul«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 23, Berlin 2007, S. 639 – 640, hier: S. 640. o.A.: »Rudolf Schündler – Schauspieler, Regisseur«, in: CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film, hrsg. v. Hans-Michael Bock, Lieferung 30, München 1998, S. D1 – D12, hier: S. D1. Prümm, Karl: »Klischee und Individualität. Zur Problematik des Chargenspiels im deutschen Film«, in: Heller, Heinz-B./Prümm, Karl/Peulings, Birgit (Hrsg.): Der Körper im Bild. Schauspielen — Darstellen — Erscheinen, Schriftenreihe der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft, Bd. 7, Marburg 1999, S. 93 – 109, hier: S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 94. Ebd., S. 98. Hartmann, Peter: Zur Dramaturgie der Nebenfigur in Theater und Film, Marburg 2000, hier: S. 127. Vgl. zum Topos des Verschwindens der Nebenfigur den Beitrag von Stefanie Diekmann in diesem Band. Adorno, Theodor W.: [Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit], in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, hier: S. 555. Zu Kleinstrollen im Film bzw. bit players vgl. z. B. das Dossier »Small Parts, Small Players«, in: Screen, Vol. 52, 1, Spring 2011, S. 78 – 127. In Die Zwillinge vom Immenhof (1973, Wolfgang Schleif) spielt Schündler ebenfalls ein Lehrer, dem ein Streich gespielt wird: Die titelgebenden Schwestern machen ihm während einer Schulstunde weis, die jeweils andere zu sein. Vgl. CineGraph: »Rudolf Schündler – Schauspieler, Regisseur«, S. D3. Kühn: Schündler, Rudolf Ernst Paul, S. 640. E-Mail von Wim Wenders an den Verf. vom 9. August 2021. Friedrich Schiller: [Wallenstein]. Fünfter Aufzug, erster Auftritt, in: Schillers Werke: Nationalausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal, Weimar 1949, S. 162. Originaler Wortlaut: »Das eben ist der Fluch der bösen Tat«. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler, darin: »Vorwort«, Frankfurt a. M. 1979, S. 7 – 8, hier: S. 7. Ebd., »Einleitung«, S. 9 – 18, hier: S. 14. An anderer Stelle betont Kracauer: »Ein Individuum oder ein Volk ist kein fixiertes Wesen, sondern lebender Organismus, der sich entlang nicht vorhersagbarer Linien entwickelt […].« (Kracauer: »Nationalcharaktere – wie Hollywood sie zeigt«, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 19 (2010), H. 2, S. 91 – 102, hier: S. 92). Drehli Robnik, dem ich an dieser Stelle für Hinweise zum vorliegenden Text danken möchte, arbeitet zum Begriff des Nationalcharakters bei Kracauer heraus, dass dieser als Klassencharakter zu verstehen ist, ergänzt um die süffisante Anmerkung, dass laut Kracauer den Deutschen zum Nationalcharakter vor allem der Charakter fehle. Vgl. Robnik, Drehli: Flexibler Faschismus. Siegfried Kracauers Analysen rechter Mobilisierungen damals und heute, Bielefeld 2024, hier: S. 231. Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, München 2000, hier: S. 289. Ebd., S. 207. Kracauer: Caligari, S. 15. Ebd., S 287. Ebd., S. 215.
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Pohrt, Wolfgang: »Ein Volk ein Reich ein Frieden. Über die Friedensbewegung und das neue, alte Heimatgefühl«, in: Die Zeit 45 (1981), S. 40 ff., hier: S. 40. Prümm: Klischee und Individualität, S. 109. Zur Verfassung des deutschen Kleinbürgertums Anfang der dreißiger Jahre vgl. Kracauer: [Die Angestellten], in: Werke. Neun Bände, Bd. 1, hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 2006. Haug, Wolfgang Fritz: »Charaktermaske«, in: ders. (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg 1995, S. 435 – 451, hier: S. 441. Zu Charaktermasken in der Theatergeschichte vgl. ebd., S. 437 – 440. Zu Marx’ Verwendung der Charaktermaske vgl. u. a. Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals, MEW 23, Berlin 2003, S. 16, 91, 163, 591. Vgl. Schmieder, Falko: »Charaktermaske«, in: ders./Toepfer, Georg (Hrsg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018, S. 58 – 64, hier: S. 62. Ingo Elbe hingegen betont, unter Verweis auf Fromm, deutlicher den Unterschied: »›Charaktermaske ist nicht identisch mit ›Charakter‹ als psychologischer Strukturkategorie für meist unbewusste, verhaltensfundierende und affektiv geladene Einstellungen.« (Elbe, Ingo: Thesen zum Begriff der Charaktermaske, Bochum 2022, S. 3) Schmieder: »Charaktermaske«, S. 63. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: [Zwei Welten], in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1981, S. 238. In Der amerikanische Freund (1977), seinem zweiten Film unter der Regie von Wim Wenders, spielt Schündler einen Kunstauktionator, dessen Geschwätzigkeit sich auch hier mehr und mehr als Verschlagenheit herausstellt, ohne dass dies allerdings geahndet würde; dennoch erweist sich jene Nebenfigur als heimlicher Initiator der gesamten Handlung des Films. Schündler agiert hier auch mit Udo Kier, der ebenfalls als veritabler Nebendarsteller mit einer höchst heterogenen Filmografie gelten darf. Inwiefern sich mit ihm eine filmhistorische Fortschreibung deutscher Charaktere fände, gälte es zu untersuchen. Schündlers Augenbrauen fügen sich gut in die Aufzählung Rudolf Arnheims über auffällige, unschöne körperliche Merkmale der Charge: »Der Chargenspieler ist auf Wunsch unrasiert, hat Sommersprossen, schielt, hat Falten am Hals, schmutzige Fingernägel und Zahnlücken.« (Arnheim, Rudolf: »Lob der Charge«, in: ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film, hrsg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt a. M. 1979, S. 113 – 115, hier: S. 113) Mit Bezug auf Marx’ Metaphern des Spuks heißt es in der deutschen Übersetzung von Derridas Marx’ Gespenster: »Marx zielt oft auf den Kopf, auf das Haupt. Die Gestalten des Gespensts sind vor allem Gesichte(r). Es geht also dabei um Masken […].« (Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2003, S. 158)
Lukas Foerster
The Ghost, The Voice, The Faceless: Die nicht-sichtbaren Nebenfiguren der Sitcom als Träger kontrollierter Kontingenz Sehen und gesehen werden: Das ist auf einer basalen Ebene fast schon eine hinreichende Definition audiovisueller Medien. Weshalb die Frage, wie man in Film und Fernsehen zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterscheiden kann, zunächst ebenfalls recht leicht zu beantworten scheint. Wie viel Screentime eine Figur in einem Film oder einer Serie erhält, ist zwar nicht immer ein hinreichendes, aber meist zumindest ein notwendiges Kriterium für die Zuordnung. Sichtbarkeit und ihre Dauer sind nun einmal eine zentrale Währung audiovisueller Medien, die im Regelfall auch für Hierarchisierungen in Bezug auf die relative dramaturgische Relevanz von Figuren instrumentalisiert wird. Mein Beitrag allerdings beschäftigt sich mit einem Sonderfall: Wie steht es um Figuren, die gar keine Screentime erhalten, also überhaupt nicht sichtbar werden? Wie noch zu zeigen sein wird, gilt es in diesem Zusammenhang, unterschiedliche Varianten der Nicht-Sichtbarkeit zu unterscheiden. Im Zentrum der Überlegungen wird dabei ein Figurentypus stehen, der auf eine besonders augenfällige Art und Weise nicht sichtbar ist: die Nicht-Sichtbaren der Sitcom.1 »Ouch, that got to hurt!« – 1
Was es mit den Nicht-Sichtbaren der Sitcom auf sich hat, was sie von anderen nicht- oder mindersichtbaren Nebenfiguren unterscheidet, soll zunächst anhand des Beispiels von Ugly Naked Guy beschrieben werden. Ugly Naked Guy ist eine Nebenfigur der Sitcom Friends (1994 – 2004), die im Verlauf der Serie mehrmals erwähnt wird. Zwar geschieht dies in lediglich zwölf von insgesamt 236 Episoden; da Ugly Naked Guy jedoch in der Serie eindeutig räumlich verortet wird – er und Monica, eine der Hauptfiguren der Serie, wohnen in benachbarten Häusern, seine Wohnung ist von »Monica’s Appartment«, dem zentralen Schauplatz der Serie, aus einsichtig –, darf man durchaus davon sprechen, dass Ugly Naked Guy einen stabilen Platz in der fiktionalen Welt von Friends einnimmt. Wobei es sich, soweit für Nebenfiguren durchaus typisch, um eine (innerfiktional) relationale Verortung handelt. Ugly Naked Guy
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The Ghost, The Voice, The Faceless
wohnt nicht an dieser oder jener Adresse, sondern gegenüber einem Ort, der seinerseits ein Fixpunkt ist. Er verlässt diesen Ort auch nie oder wird von der Serie zumindest nie in einem anderen Raum verortet. An die Blickachse durch zwei Appartementfenster hindurch ist er gebunden wie an eine Kette. Nur dass sich diese Blickachse nie im Bild konkretisiert: Mit zwei Ausnahmen2 taucht Ugly Naked Guy nie im Bild auf. Präsenz besitzt er nur als Thema in den Dialogen anderer Serienfiguren. »Eww, look. Ugly Naked Guy lit a bunch of candles«, sagt dann zum Beispiel Phoebe, eine der Hauptfiguren der Serie, während sie – in der Episode »The One Where Chandler Gets Caught« – aus dem Fenster schaut, und es folgt kein Gegenschnitt auf den Erwähnten; Phoebes Blick findet also keine Entsprechung in der Filmsprache. Stattdessen antwortet Rachel, eine andere Hauptfigur, aus demselben Fenster schauend: »Ouch, that got to hurt«, woraufhin das berühmte körperlose Sitcomlachen losbricht. Der Witz besteht also darin, dass es etwas zu lachen gäbe, wenn wir es denn sehen würden. Genauer gefasst beruht die humoristische Wirkung auf dem Zusammenspiel zweier Elemente: der Imagination einer lustigen Szene und deren Nicht-Sichtbarkeit. Diese paradoxe Struktur ist bereits im Namen der nicht-sichtbaren Figur angelegt. Der setzt sich aus drei Worten zusammen, die allesamt auf äußerliche Eigenschaften verweisen, oder jedenfalls auf Eigenschaften, die sich im Allgemeinen im Bereich des Visuellen niederschlagen: ugly, naked, guy. Die Fernsehzuschauer:innen werden dieser hässlichen, nackten Männlichkeit allerdings gerade nicht ansichtig. Auch die drei genannten Eigenschaften und damit der Name der Figur rechtfertigen sich ausschließlich vermittels der Kommunikation anderer, im Gefüge der Serie wichtigerer Figuren, also gewissermaßen relational. Existenzfragen
Dies wirft die Frage auf, ob es Ugly Naked Guy, eine Figur des audiovisuellen Mediums Fernsehen, die man weder sieht noch hört, überhaupt in einem substanziellen Sinne gibt. Aus einer narratologischen Perspektive ist die Frage zweifellos mit ja zu beantworten. Der Nicht-Sichtbarkeit der Figur haften keine Momente der Irrealität an. In der oben beschriebenen Szene wird Ugly Naked Guys Existenz durch die intersubjektiv geteilte Wahrnehmung Phoebes und Rachels verifiziert. Wir könnten ihn, suggeriert die in dieser Hinsicht auf einer stabilen fiktionalen Weltkonstruktion basierende Serie, eben-
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Existenzfragen
falls sehen, wenn die Kamera nur ein wenig anders platziert wäre. Tatsächlich, so könnte man den Gedanken weiterspinnen, bestätigt sich der Erfolg einer fiktionalen audiovisuellen Weltkonstruktion ja nicht zuletzt darin, dass auch Figuren, Gegenständen, Orten und so weiter, die nicht im Bild zu sehen sind, unter den Bedingungen und nach den Maßstäben der Fiktion Existenz zugestanden wird. Die relationale Bestimmung seiner definierenden Eigenschaften teilt Ugly Naked Guy wiederum mit Nebenfiguren in anderen Genres des Audiovisuellen. Man denke an Sidekicks oder Love Interests, denen in den Filmen und Serien, in denen sie auftauchen, niemand die Existenz absprechen würde, nur weil sie nicht für sich selbst, sondern lediglich in ihrer Bezüglichkeit auf die Hauptfigur interessant sind. Wobei anzumerken ist, dass bereits die typologischen Bezeichnungen von Nebenfiguren dieser Art auf eine je spezifische narrative beziehungsweise dramaturgische Funktion verweisen. Genau das ist bei Ugly Naked Guy nicht der Fall: Es existiert keine geläufige Genrekonvention, die besagt, dass Comedyserien in die Nachbarhäuser der Hauptfiguren Ugly Naked Guys zu platzieren haben. Was Ugly Naked Guy fehlt, und was die Frage, ob er überhaupt existiert, erst einmal nicht ganz unplausibel erscheinen lässt, ist offensichtlich nicht einfach nur Sichtbarkeit und auch nicht nur eine gewichtige Funktion innerhalb der Dramaturgie der Serie. Es mangelt ihm vielmehr an Markierungen einer Eigenständigkeit zweiter Ordnung, im Sinne eines zwar fiktionalen, aber doch in der Figur selbst verankerten Identitätskerns. Natürlich haben die anderen Figuren der Serie erst einmal auch keine Existenz außerhalb des fiktionalen Universums Friends. Aber Monica, Rachel, Phoebe, Ross, Chandler und Joey, um die sechs Hauptfiguren zu nennen, besitzen doch eine Reihe von Identitätsmarkern, die Ugly Naked Guy nicht aufweisen kann: insbesondere einen Eigennamen und ein sie selbst eindeutig identifizierendes Aussehen. Mehr noch: Insofern alle sechs Hauptfiguren von real existierenden und durchaus prominenten Schauspieler:innen gespielt werden, und zwar jede und jeder stets von dem- oder derselben, findet der fiktionale Identitätskern eine außerfiktionale Beglaubigung. Die Einzigartigkeit Monicas, Rachels et al. ist also nicht, oder jedenfalls nicht in jeder Hinsicht, Fiktion. Tatsächlich werden im Vorspann der Serie nicht die der Fiktion zugehörigen Rollennamen, sondern die Realnamen der Darsteller:innen eingeblendet. Der Name des Darstellers des Ugly Naked Guy hingegen taucht nie im Vorspann der Serie Friends auf.3
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The Ghost, The Voice, The Faceless
Drei Modi der Nicht-Sichtbarkeit
Ugly Naked Guy ist kein Einzelfall. In zahlreichen Sitcoms, und zwar insbesondere in Multikamerasitcoms4 der 1980er und 90er Jahre, finden sich einige Figuren dieser Art, deren primäre Eigenschaft darin besteht, nie oder nie ganz sichtbar zu sein. Durchweg handelt es sich dabei um Neben-, nicht um Hauptfiguren; manche finden nur gelegentlich, andere häufiger und einige wenige in fast jeder Episode Erwähnung. Auch die Art ihres ›Auftritts‹, der Modus ihrer Nicht-Sichtbarkeit ist nicht in jedem Fall dieselbe. Für eine erste Annäherung an das Phänomen kann man sich an einer Unterscheidung orientieren, die die für das Mapping der Popkultur der Gegenwart unabdingbare Website tvtropes5 etabliert hat. Dieses nach dem Wiki-Prinzip betriebene Projekt,6 das Motive, Erzähltechniken und Figurentypen aus dem Bereich der Unterhaltungsmedien katalogisiert, enthält einen Eintrag namens »He Who Must Not Be Seen«.7 Darunter fallen zunächst alle fiktionalen Figuren in populären Medien, zu deren bestimmenden Eigenschaften zählt, dass sie nicht sichtbar oder nicht gänzlich anwesend sind. Weiterhin listet die Website drei Unterkategorien auf: »The Ghost«,8 »The Voice«9 und »The Faceless«.10 Bezeichnet werden damit drei unterschiedliche Formen und auch drei unterschiedliche Intensitäten von Abwesenheit: »The Ghost« bezieht sich auf Figuren, die von anderen Figuren erwähnt werden, selbst aber nie in der Serie auftauchen, weder im Bild noch auf der Tonspur; »The Voice« meint Figuren, die lediglich als Stimme präsent sind; »The Faceless« schließlich Figuren, die zwar körperlich im Bild auftauchen, deren Gesicht aber nie sichtbar wird. Alle drei Typen tauchen in Sitcoms auf. Ugly Naked Guy ist offensichtlich ein Nicht-Sichtbarer des Typs »The Ghost«; ein Beispiel für »The Voice« ist Howard Wolowitz’ Mutter in The Big Bang Theory (2007 – 2019); exemplarisch für »The Faceless« ist der Nachbar Wilson in Home Improvement (1991 – 1999). Figuren können zwischen verschiedenen Kategorien hin und her wechseln, so etwa Vera, die Ehefrau einer Hauptfigur in der Sitcom Cheers (1982 – 1993), die für gewöhnlich die Rolle eines »Ghost« einnimmt, aber gelegentlich auch als »Voice« oder »Faceless« in Erscheinung tritt. (Ähnliches gilt auch, wie kurz angerissen, für zwei Sonderauftritte von Ugly Naked Guy.) Nicht möglich ist es den Nicht-Sichtbaren im Allgemeinen, ganz in die Welt der Sichtbarkeit überzuwechseln. Ihre Funktion für die Serien bleibt durchgängig und zwingend an ihre Nicht-Sichtbarkeit geknüpft. Was die Sitcom an der Nicht-Sichtbarkeit interessiert, ist
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Markierte und nicht-markierte Nicht-Sichtbarkeit
indes nicht die spezifische sinnliche Qualität, die sie in den televisuellen Text einträgt, sondern die ontologische Differenz, die sie etabliert. Sie zieht innerhalb der jeweiligen Serienwelt eine absolute Unterscheidung ein: zwischen sichtbaren Figuren auf der einen und nicht-sichtbaren Figuren auf der anderen Seite, und es ist diese Unterscheidung selbst, die von den Serien poetisch produktiv gemacht wird. Markierte und nicht-markierte Nicht-Sichtbarkeit
Die Kategorien, die tvtropes etabliert, beziehen sich ausschließlich auf die audiovisuelle Struktur der Figurentypen, woraus auch folgt, dass es sich bei »The Ghost«, »The Voice« und »The Faceless« nicht um sitcomspezifische Phänomene handelt. Tatsächlich sind alle drei Figurentypen noch nicht einmal auf audiovisuelle Medien festgelegt: »The Ghost« etwa kann auch in Hörspielen auftauchen, »The Voice« in Romanen, »The Faceless« so gut wie überall. In der Tat listet tvtropes Beispiele aus diversen Genres und Medien auf. Um das Besondere an Ugly Naked Guy und anderen Nicht-Sichtbaren der Sitcom zu fassen zu bekommen, ist es daher notwendig, figurenbezogene Nicht-Sichtbarkeit in der Sitcom systematischer unter narratologischen und genrebezogenen Gesichtspunkten zu untersuchen. Im Folgenden geht es zunächst darum, verschiedene Formen der Nicht-Sichtbarkeit in fiktionalen audiovisuellen Medien zu kartieren. Als Erstes ist zu unterscheiden zwischen unmarkierter und markierter Nicht-Sichtbarkeit. Figuren, deren Nicht-Sichtbarkeit innerhalb der Serie oder des Films unauffällig bleibt, und die für keinerlei Irritationen sorgt, können als unmarkiert nicht-sichtbare Figuren bezeichnet werden. Wenn beispielsweise in der Sitcom Seinfeld (1989–1998) Jerry seinen Freunden eine Anekdote über eine Frau erzählt, mit der er am Vorabend ausgegangen ist, ist nicht unbedingt zu erwarten, dass diese Frau sich im weiteren Verlauf auch visuell materialisiert. Es kann durchaus bei dieser einen Erwähnung oder einer gelegentlichen Thematisierung bleiben. Selbst Figuren, deren Eintreffen erwartet wird, dann aber doch ausbleibt, bleiben im Sinne dieser Begriffsbestimmung noch unmarkiert nicht-sichtbar;11 zumindest solange ihre Abwesenheit narrativ motiviert ist und nicht über die Kontingenz der dargestellten Situation hinaus thematisch wird. Wenn hingegen Vera in Cheers die titelgebende Bar betritt und ihr sofort ein Kuchen ins Gesicht geworfen wird, haben wir es offensichtlich mit einer anderen Form von Nicht-Sichtbarkeit zu tun. Veras
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The Ghost, The Voice, The Faceless
Nicht-Sichtbarkeit wird markiert, und zwar nicht als kontingente Abwesenheit, sondern eben als spezifische Nicht-Sichtbarkeit. Es gehört zu Veras Eigenschaften, nicht (ganz) sichtbar zu sein. Und zwar: nicht sichtbar für das Publikum. Entscheidend ist also eine Verschiebung: Als unmarkierte verweist Nicht-Sichtbarkeit primär auf die fiktionale Erzählwelt der Serie, als markierte primär auf den Erzählvorgang. Die Unsichtbaren
Da beides, Diegese und Narration, in audiovisuellen Medien notwendigerweise verschränkt ist beziehungsweise einander voraussetzt, handelt es sich freilich nicht um eine trennscharfe Unterscheidung. Der Kinoschurke Dr. Mabuse etwa ist eine Figur, die in den nach ihr benannten Filmen zwar zweifellos als nicht-sichtbar markiert wird; seine Nicht-Sichtbarkeit bezieht sich jedoch sowohl auf den Erzählvorgang als auch auf die Erzählwelt. Dass Nicht-Sichtbarkeit markiert ist, heißt also zunächst nur, dass sie als Nicht-Sichtbarkeit, also als Unterscheidung, relevant ist – für die Diegese, für die Narration oder für beides gleichermaßen. Die zweite Unterscheidung baut auf der ersten auf und unterscheidet zwei Modi der markierten Nicht-Sichtbarkeit. Genauer gesagt geht es darum, aus der Menge der markiert Nicht-Sichtbaren eine Untermenge auszuschließen: die (markiert) Unsichtbaren. Tatsächlich ist der Zusatz »markiert« an dieser Stelle weitgehend unnötig oder sogar redundant, da Unsichtbarkeit im hier verwendeten Sinne in den audiovisuellen Medien praktisch immer markiert ist. Pointierter formuliert: Jede unsichtbare Figur ist auch nichtsichtbar, aber nicht jede nicht-sichtbare Figur ist unsichtbar. Als unsichtbar sollen hier Figuren bezeichnet werden, deren Nicht-Sichtbarkeit auf außergewöhnliche, nicht-alltägliche Umstände zurückzuführen ist. Besonders häufig finden sich Figuren dieses Typs im fantastischen beziehungsweise im Mystery-Kino, aber auch im absurden Theater. In diesen Genres sind die Unsichtbaren oftmals in Ver- und Enthüllungsnarrative (oder auch in Nicht-Enthüllungsnarrative) eingebaut, ihre Nicht-Sichtbarkeit ist also in erster Linie dramaturgisch motiviert. Dr. Mabuse, der sich dem Zugriff seiner Häscher entzieht; Darth Vader, der sich hinter einer Maske verbirgt; Godot, der nicht kommt. Unsichtbarkeit ist, mit anderen Worten, eine Form von Nicht-Sichtbarkeit, die im Rahmen einer fiktionalen Erzählung auf epistemologische Interessen verweist. Hier lassen sich wiederum
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Grundlose Nicht-Sichtbarkeit
zwei Spielarten unterscheiden: epistemologische Interessen, die in der Welt gründen, und solche, die im Subjekt gründen. Epistemologische Interessen, die in der Welt gründen, heften sich an objektiv (das heißt, auf einer von eventuell mehreren Realitätsebenen) Anwesende, die aber subjektiv (das heißt, aus der Perspektive der Alltagswahrnehmung) unsichtbar bleiben oder zumindest Sichtbarkeitsdefizite aufweisen. Geisterwesen als Boten einer zweiten Realität in der ersten fallen darunter, aber auch im Bereich des Empirischen verankerte, sich dem erkennenden Zugriff der Normalsterblichen jedoch konsequent entziehende Figuren des Mabuse-Typs. Epistemologische Probleme, die im Subjekt gründen, heften sich hingegen an Figuren, die objektiv abwesend sind, aus der subjektiv verzerrten Perspektive eines Einzelnen jedoch sichtbar werden. Zu den entsprechenden Erscheinungen gehören Wahn- und Wunschvorstellungen oder auch Traum- und Erinnerungsbilder. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass es im Fall von Figuren des Mabuse- oder Darth-Vader-Typs einen in der Erzählwelt verankerten Grund für die Nicht-Sichtbarkeit gibt oder dass zumindest ein solcher postuliert wird. In diesem Sinne ist die Nicht-Sichtbarkeit der Unsichtbaren zweifellos markiert, nämlich als Problem. Die Nicht-Sichtbarkeit ist, auf die eine oder andere Weise, ein Skandal, an den auf der narrativen Ebene zum Beispiel Enthüllungsdramaturgien, aber auch Verwechslungskomödien und ähnliche Erzählformen anschließen können. Nicht in jedem Fall, aber in der Tendenz geht es darum, Nicht-Sichtbarkeit in Sichtbarkeit zu überführen. (Selbst bei Beckett verweist die Antidramaturgie der verweigerten Enthüllung auf ihr konventionelles Gegenstück.) Die Nicht-Sichtbarkeit der Unsichtbaren ist also nicht stabil, sondern dynamisch, was sich auch in der Erzählform niederschlägt: Geisterwesen zum Beispiel erscheinen und verschwinden oft von einer Einstellung zur nächsten, etwa wenn die Erzählperspektive wechselt. Grundlose Nicht-Sichtbarkeit
Ex negativo ergibt sich damit derjenige Typ der Nicht-Sichtbarkeit, dem das besondere Interesse dieses Beitrags gilt: eine markierte Nicht-Sichtbarkeit, für die sich keine in der Erzählwelt verankerten Gründe finden lassen, weshalb sie auch nicht als epistemologisches Problem markiert ist. Eine nicht dynamische, sondern stabile Nicht-Sichtbarkeit, die nicht auf ihre Überführung in Sichtbarkeit hin perspektiviert ist. Eine Nicht-Sichtbarkeit, an die sich keine Spannungsdramaturgien anschließen lassen, und die nicht auf eine zweite
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Welt in der ersten und auch nicht auf eine pathologisch verformte individuelle Wahrnehmung verweist. Ihren privilegierten Ort hat diese Nicht-Sichtbarkeit nicht in Serien und Filmen aus dem Themenkreis des Fantastischen – sondern in der Sitcom. Um ein weiteres Mal auf die Terminologie von tvtropes zurückzukommen: Alle drei Unterkategorien des Figurentyps »He Who Must Not Be Seen« verweisen bereits in ihrer Bezeichnung auf Semantiken des Unheimlichen beziehungsweise der Fantastik. »The Ghost« am deutlichsten, aber auch »The Faceless« auf den Mann ohne Gesicht, die Augen ohne Gesicht usw. sowie »The Voice« auf die körperlose Anrufung, die Stimme aus dem Nichts, auch auf das Akusmatische, das Michel Chion als eine grundlegende ästhetische Disposition des Kinematografischen beschreibt.12 Die Kategorien, mit denen nicht-sichtbare Figuren für gewöhnlich beschrieben werden, partizipieren offensichtlich an Semantiken des Unheimlichen, verweisen also auf jenen Figurentypus, den ich oben als die Unsichtbaren bezeichnet habe. Die Nicht-Sichtbaren der Sitcom hingegen tun genau das nicht, sie entstammen keiner Paralleloder Unterwelt, sind nicht bloße figments of imagination einer anderen Figur und auch keine Superschurken oder Geheimnisträger, deren Identität es zu enttarnen gilt. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um komplett diesseitige Phänomene, die weder den Realitätseindruck der Diegese, die sie gewissermaßen unvollständig umschließt, infrage stellen, noch ein epistemologisches Interesse entfachen oder eine konventionelle Enthüllungsdramaturgie in Gang setzen. Tatsächlich versucht die Sitcom gar nicht erst, Nicht-Sichtbarkeit narrativ zu motivieren. Ganz im Gegenteil: Die Willkür und Lächerlichkeit des Nicht-Sichtbarseins wird als Attraktion ausgestellt. Man denke an den Kuchen, den Vera in Cheers, wie oben erwähnt, ins Gesicht geworfen bekommt, wenn sie nach langer Verzögerung doch einmal das Hauptset der Sitcom betritt. Home Improvement wiederum denkt sich in fast jeder Episode neue, oft ziemlich abstruse Möglichkeiten aus, um das komplette Gesicht des Nachbarn Wilson vor unseren Blicken zu verbergen, etwa hinter sich öffnenden Schranktüren oder den sich auftürmenden Speisen eines reich gedeckten Esstischs. Wenn die Sitcom aber kein Interesse daran hat, Nicht-Sichtbarkeit dramaturgisch auszubeuten, wozu benötigt sie sie beziehungsweise weshalb markiert sie sie dann?
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Nicht-Sichtbarkeit als Konvention
Nicht-Sichtbarkeit als Konvention
Eine mögliche Antwort wäre: Die Nicht-Sichtbarkeit der Sitcom ist eine filmsprachliche beziehungsweise narrative Konvention, die sich im Sinne einer selbstreflexiven Geste selbst als Konvention ausstellt. Und die dadurch auf die gesteigerte Komplexität verweist, die modernes televisuelles Erzählen für manche Beobachter:innen auszeichnet.13 Zum Beispiel könnte man die Nicht-Sichtbaren als eine frühe Ausprägung des televisuellen Neobarock bezeichnen.14 Zwar werden die Serien der 1980er bis 2000er Jahre, in denen die Nicht-Sichtbaren der Sitcom besonders häufig auftauchen, für gewöhnlich nicht dem Quality-TV jüngeren Datums zugerechnet (schon weil es sich bei ihnen fast durchweg um Produktionen der großen US-amerikanischen Networks handelt). Aber in der Geschichte der Sitcom treten sie relativ spät auf den Plan, mehrere Jahrzehnte nach I Love Lucy, dem ersten Erfolgsformat des Genres. Für eine Auslegung der Nicht-Sichtbarkeit in der Sitcom als eine primär auf der Ebene der Narration angesiedelte Konvention spricht, dass sie ihren Ursprung nicht in der dargestellten Welt oder der Innerlichkeit einer der dargestellten Figuren, sondern in der Erzähltechnik hat. Wobei gleich anzumerken ist, dass diese Erzähltechnik so komplex nun auch wieder nicht ist. Es handelt sich bei den Nicht-Sichtbaren der Sitcom um hochgradig statische Figuren. Immer wieder werden sie filmsprachlich auf ähnliche Weise in die Serie (des-)integriert, sie durchlaufen im Allgemeinen keine Entwicklungsprozesse und wechseln im Off des Bildes nicht den (imaginären) Ort. Sie bleiben nicht-sichtbar und doch wer und wo sie sind. Der Mangel an Sichtbarkeit übersetzt sich weder in eine gesteigerte Beweglichkeit noch in herausragend originellen Dialogwitz – die Erwähnung von Ugly Naked Guy etwa zeitigt fast stets simpel konstruierte Pointen, sogenannte Oneliner. Die Nicht-Sichtbarkeit der Sitcom ist stabil, nicht dynamisch und deshalb nur in beschränktem Umfang zum Aufbau von Komplexität nutzbar. Eher könnte man Ugly Naked Guy und seinesgleichen als ins Audiovisuelle erweiterte Sprachspiele (oder auch als psychoanalytische Fort-da-Spiele) bezeichnen. Darin wären sie einem Running Gag vergleichbar, mit endlos wiederholten Catch Phrases, die in manchen Sitcoms zum Markenzeichen einzelner Figuren werden. Auch das trifft es indes noch nicht ganz, weil Sprachspiele sich im Allgemeinen durch komplette Reversibilität und, daraus resultierend, das Oszillieren zwischen zwei Zuständen auszeichnen.15 Die Eigentümlichkeit der Nicht-Sichtbarkeit besteht hingegen darin, dass sie zwar einer-
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seits die zentrale, oft fast die einzige relevante Eigenschaft der entsprechenden Figuren ist, die Figuren aber andererseits problemlos als Teil der dargestellten Welt akzeptiert werden. Ihre Existenz steht, wie oben ausgeführt, nicht zur Debatte. Sie sind nicht entweder fort oder da, sondern stets beides gleichzeitig – und wenn wir über ebendiesen Zustand lachen, dann wird er dadurch nicht irritiert, sondern stabilisiert. Nicht-Sichtbarkeit als Kommunikation
Wenn die Nicht-Sichtbaren der Sitcom also nicht als ein epistemologisches Problem markiert sind, als was dann? Eine weitere mögliche Antwort: als Witz. Genauer gesagt: als Artefakt einer als komisch markierten Kommunikation, die für die Sitcom spezifisch ist. Die Sitcom ist das einzige komische audiovisuelle Genre, in dem der bloße Fakt der Nicht-Sichtbarkeit zur Pointe taugt. Dass diese Pointe wieder und wieder funktioniert, innerhalb einzelner Serien, aber auch über verschiedene Sitcoms hinweg, verweist darauf, dass Nicht-Sichtbarkeit in der Sitcom eine andere Bedeutung annimmt als in anderen Spielarten des Audiovisuellen. Und zwar deshalb, weil sie, so die im Folgenden auszuführende These, keine Frage der Epistemologie ist, sondern eine der Kommunikation.16 Analysiert man die Nicht-Sichtbaren der Sitcom aus der Perspektive des Sitcom-internen kommunikativen Systems, dann wird deutlich, dass ihre Funktion nicht in ihrer sinnlich wahrnehmbaren (beziehungsweise: gerade nicht wahrnehmbaren) Präsenz im Bild oder in einer stabilen dramaturgischen Funktion für die Handlung zu suchen ist. Vielmehr gilt es, sie als Artefakte des kommunikativen Systems zu beschreiben. Die freilich, darauf sei ein weiteres Mal verwiesen, gleichzeitig stabile Elemente eines fiktionalen Weltentwurfs bleiben. »Ouch, that got to hurt!« – 2
Kehren wir noch einmal zu Ugly Naked Guy und der zuvor beschriebenen Szene in der Sitcom Friends zurück. Es lohnt sich, sie ausführlicher, Einstellung für Einstellung, zu beschreiben: Einstellung 1: Phoebe steht am Fenster, die Kamera ist hinter ihr im Zimmer der Freund:innen platziert. Phoebe: »Eww, look. Ugly Naked Guy lit a bunch of candles.« (Gelächter des Studiopublikums) Einstellung 2: Die Kamera ist vor dem Fenster platziert, durch das
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»Ouch, that got to hurt!« – 2
Phoebe blickt. Die anderen Hauptfiguren der Serie treten hinzu und schauen ebenfalls nach draußen. Alle (mit peinlich berührten Gesichtern): »Oou.« (Gelächter des Studiopublikums) Einstellung 2: Kameraposition wie 1, die Figuren wenden sich wieder vom Fenster ab. Rachel: »Ouch, that got to hurt!« (Gelächter des Studiopublikums) An der kommunikativen Konstellation, die Ugly Naked Guys ›Auftritt‹ hervorbringt, haben offensichtlich nicht nur die beiden Sprecherinnen, Phoebe und Rachel, Anteil, sondern auch die anderen vier Hauptfiguren der Serie, sowie, insbesondere, das unsichtbare Publikum auf der Tonspur, das auf Phoebes wie auch Rachels Satz mit Lachen antwortet. Und das selbst auf die nicht eindeutig verbalisierte Reaktion der anderen Figuren mit Lachen reagiert. Worüber lacht das Studiopublikum jeweils? Das erste Lachen bezieht sich auf Rachels Beobachtung, also auf die Vorstellung, dass sie beobachtet, wie Ugly Naked Guy Kerzen anzündet. Schon hier ist darauf zu verweisen, dass es sich keineswegs um eine besonders plastische Vorstellung handelt – schließlich hat das Publikum Ugly Naked Guy nie zu Gesicht bekommen und erhält keine weiteren Hinweise auf die Ausgestaltung der beobachteten Szene. Das zweite Lachen bezieht sich auf die Reaktionen der Hauptfiguren, die den weiteren Verlauf der Szene beobachten. Hier findet eine Verschiebung statt: Das Publikum erfährt gar nicht mehr, was konkret im Apartment von Ugly Naked Guy geschieht. Natürlich können wir uns ebendies in unserer Fantasie ausmalen. Für die Serie ist es allerdings komplett unwichtig, was genau Ugly Naked Guy anstellt. Wichtig ist nur, dass er in diesem Moment seine Funktion als lächerliches Objekt der Aufmerksamkeit erfüllt, die Aufmerksamkeit anderer Figuren bindet und Reaktionen hervorruft. Das dritte Lachen schließlich führt auf den ersten Blick wieder zum Inhalt der Beobachtung zurück. Nur: Bezieht es sich wirklich auf die Vorstellung, dass Ugly Naked Guy Schmerzen erleidet? Höchstens in nachrangiger Hinsicht. Wieder fehlen Kontextinformationen, die dabei helfen würden, uns die Szene auszumalen. Nicht nur wir selbst sehen Ugly Naked Guy nicht, selbst Rachel schaut nicht mehr in Richtung seiner Wohnung, wenn sie den Satz »Ouch, that got to hurt!« ausspricht. Tatsächlich findet eine zweite Verschiebung statt: Gelacht wird eben deshalb, weil der Kontext unklar bleibt; eben weil wir nicht sehen, was Rachel gesehen hat. Gelacht wird, in anderen Worten,
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zumindest auch über unseren eigenen Ausschluss aus der Kommunikation beziehungsweise über die Nicht-Sichtbarkeit selbst, die in diesem Sinne Teil hat am kommunikativen Spektakel, das die Sitcom als Ganze darstellt. Als Gegenprobe ließe sich überlegen, wie die Szene ausgesehen hätte, wenn Ugly Naked Guy kein Unsichtbarer, sondern ein Sichtbarer der Sitcom wäre.17 Vermutlich bereits auf die erste Einstellung, die Phoebe am Fenster zeigt, spätestens aber auf die zweite Einstellung, in der auch die anderen Freund:innen ans Fenster treten, würde ein Gegenschuss aus der visuellen Perspektive der Hauptfiguren folgen. Die Szene in Ugly Naked Guys Apartment könnte sich zum Beispiel als Slapstick-Nummer abspielen, die von den Hauptfiguren aus der Ferne quasi als Stummfilm betrachtet wird. Oder die visuelle Perspektive könnte vollständig in Ugly Naked Guys Wohnung springen.18 Gelacht werden würde in jedem Fall, vor und gegebenenfalls auch im Fernseher, über Ugly Naked Guys direkt im Bild erscheinendes Verhalten. Reaction Shots der dieses Verhalten beobachtenden Hauptfiguren wären zwar ebenfalls denkbar, doch sie wären lediglich ein Zusatz zur Hauptattraktion. Sitcom-Visualität
Was die Nicht-Sichtbarkeit von Ugly Naked Guy leistet, ist also: von Handlung auf Kommunikation umzustellen.19 Eben weil die Nicht-Sichtbaren der Sitcom keine Konkretion im Bild finden, taugen sie für die Sitcom als flexible und hochgradig produktive Kommunikationsträger beziehungsweise: als innerserielle kommunikative Multiplikatoren. Die Sitkommunikation übersetzt den Mangel an Sichtbarkeit und damit an Handlungsmacht in einen Reichtum an komisch markierten kommunikativen Anschlüssen. Doch nicht nur Handlung wird inhibiert. Ebenso wenig wie Ugly Naked Guy je als Handelnder thematisiert wird, werden die Hauptfiguren primär als Wahrnehmende präsentiert. Denn das wäre die zweite Option, die die Serie hätte, würde sie Ugly Naked Guy in den Bereich des Sichtbaren verschieben: Sie könnte uns an der visuellen Wahrnehmung der Hauptfiguren partizipieren lassen und zum Beispiel die Geschehnisse im benachbarten Apartment zunächst nur unvollständig, dann immer detaillierter vorführen; und dabei auch an voyeuristische oder sadistische Publikumsinteressen anschließen. Aber wie schon mehrfach erwähnt: An den Nicht-Sichtbaren der Sitcom entzündet sich eben kein (wie auch immer libidinös überformtes) epistemologisches Interesse. Ihre Nicht-Sichtbarkeit ist
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Spielmaterial
kein dynamisches, sondern ein statisches Attribut, weshalb die Figuren auch nicht in Dramaturgien der Enthüllung eingebaut werden können, die auf Abstufungen von Sichtbarkeit, auf einem langsamen Erscheinen, auf visueller Fragmentierung usw. basieren. Dieses Argument verweist auch auf die spezifische Visualität der Multikamerasitcom und damit auf produktionstechnische Zusammenhänge: Multikamerasitcoms werden bis heute fast durchweg mithilfe des sogenannten Drei-Kamera-Lichtschemas beleuchtet, das darauf hinausläuft, das gesamte Set in einheitlich helles Licht zu tauchen. Das hat zur Folge, dass alles, was vor der Kamera erscheint, perfekt sichtbar ist. Anders als viele andere Formate des Fernsehens und vor allem des Kinos arbeiten Sitcoms fast nie mit visuellen Latenzen. Durchaus aber: mit Nicht-Sichtbarkeit. Was die Sitcom im Vergleich zu anderen visuellen Medien und anderen Formaten auszeichnet, ist die Art und Weise, wie sie das Sichtbare vom Nicht-Sichtbaren scheidet: Sie kennt keine Abstufungen von Sichtbarkeit, sondern lediglich die binäre Unterscheidung.20 Die Nicht-Sichtbaren der Sitcom fügen sich in diese binäre Sitcom-Visualität ein; es ist sogar möglich, dass sie sie figurieren.21 Denn die Nicht-Sichtbaren sind nicht einfach minder Sichtbare, ihre Nicht-Sichtbarkeit verweist auch nicht auf eine virtuelle Sichtbarkeit, die sich irgendwann in der Zukunft herstellen wird. Die Geister der Sitcom – »The Ghost« – haben in diesem Sinne tatsächlich keine physische Ausdehnung, die Stimmen – »The Voice« – haben keinen Körper, in dem sie verankert sind, und die Gesichtslosen – »The Faceless« – haben in der Tat kein Gesicht. Spielmaterial
Die Nicht-Sichtbaren der Sitcom sind weder als Subjekte der Handlung noch als Objekte der Wahrnehmung zu betrachten. Sondern als kommunikative Artefakte, die als solche eine gewisse Konstanz gewinnen – und damit, innerhalb der Diegese der Serie: eine stabile Existenz –, aber keine Substanz im Sinne von körperlichen Attributen oder anderen außerkommunikativen Eigenwerten, die ihre Verwendungsmöglichkeiten in der serieneigenen Kommunikation einschränken würden. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass gerade Ugly Naked Guy so entkörperlicht nun auch wieder nicht ist. Tatsächlich ruft sein Name nicht nur drei körperliche Attribute, sondern auch jede Menge soziokulturelle Assoziationen auf. Ugly Naked Guy repräsentiert das Hässliche in einer Welt der konventionell schönen Twentysome-
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things und die Nacktheit in der züchtigen, Körperlichkeit und Intimität streng reglementierenden Welt des Fernsehens. Mit Ugly Naked Guys Männlichkeit verhält es sich komplizierter, aber vermutlich ist auch diese Setzung kein Zufall, insofern sie, gemäß kultureller Konventionen, die eher weibliche als männliche Nacktheit erotisch aufladen, die Figur tendenziell entsexualisiert. Wenn die Hauptfiguren durch ihr Fenster ins Nachbarhaus blicken, dann blickt jedes Mal eine schöne Angezogenheit auf eine hässliche Nacktheit herab.22 Derartige soziokulturelle Zuschreibungen sind nicht zu trennen von der spezifischen kommunikativen Struktur, die sie hervorbringt. In diesem Fall heißt das: Die wertenden, kulturalisierten Zuschreibungen, die sich an Ugly Naked Guy heften, tauchen in Friends als etwas auf, das im Bild selbst nicht präsent ist. Wirkmächtig werden sie nur vermittels eines Namens, also eines Elements der Kommunikation. Die hässliche männliche Nacktheit ist insofern keine identitäre Setzung, sondern reines Spielmaterial. Aus der Perspektive der kommunikativen Struktur der Sitcom ist Ugly Naked Guy ein kommunikatives Artefakt und damit prinzipiell austauschbar. Will eine Sitcom im Nachbarhaus keinen nicht-sichtbaren hässlichen nackten Mann, sondern, wie in der Seinfeld-Episode »The Contest«, eine nicht-sichtbare schöne nackte Frau platzieren, müssen lediglich einige Dialogzeilen ausgetauscht und einige Anschlusspointen angepasst werden. Dass die Nicht-Sichtbaren der Sitcom nicht primär soziokulturelle Inhalte beziehungsweise deren Verdrängung aus dem Bereich der Sichtbarkeit repräsentieren, lässt sich noch deutlicher an einem anderen Vertreter zeigen: Der Nachbar Wilson aus Home Improvement gehört zu den bekanntesten Nicht-Sichtbaren der Sitcom. Wilson werden keinerlei ›deviante‹ soziokulturelle Attribute zugeschrieben, die es notwendig machen oder zumindest nahelegen würden, ihn partiell aus dem Bildraum zu verbannen. Im Gegenteil: An soziodemografischen Kategorien gemessen repräsentiert er fast mustergültig die weiße, kleinstädtische Mehrheitsgesellschaft der USA. Wenn dennoch die untere Hälfte seines Gesichts nicht-sichtbar bleibt, dann haben wir es offensichtlich mit einem lupenreinen Fall von SitcomWillkür zu tun. Überhaupt ist unter den drei Kategorien der Nicht-Sichtbarkeit, die die Sitcom kennt, diejenige, der Wilson angehört – »The Faceless« –, die radikalste: weil hier der harte Schnitt zwischen Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit nicht zwischen den Figuren verläuft, sondern durch eine einzelne Figur hindurch gezogen wird. Die
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Endnoten
Nicht-Sichtbarkeit frisst sich als ein Moment kontrollierter Kontingenz in die dramatis persona hinein und verwandelt sogar körperliche Integrität in Spielmaterial.
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Der Beitrag schließt an Überlegungen und Unterscheidungen an, die ich in einer Monografie zur Multikamerasitcom entwickelt habe. Vgl. Foerster, Lukas: Sitkommunikation. Zur televisuellen und semantischen Struktur der MultikameraSitcom, Berlin 2023, insb. S. 110 – 120. Die beiden Ausnahmen: Episode 3.08 »The One with the Poking Stick« und Episode 5.14 »The One Where Everybody Finds Out«. In beiden Fällen wird Ugly Naked Guy nicht komplett in den Bereich der Sichtbarkeit gerückt, sein Gesicht bleibt dem Publikum verborgen. Insofern fügen sich auch die Ausnahmen in das unten analysierte Muster. Dies gilt selbst für die beiden Episoden, in denen die Figur doch teilweise zu sehen ist. Tatsächlich findet sich auf der Website HuffPost eine Recherche zur Identität von Ugly Naked Guy, die ihm am Ende zwar tatsächlich einen bürgerlichen Namen zuordnet, in ihrem detektivischen Gestus jedoch nur den prekären Identitätsstatus der Figur bestätigt. Vgl. Van Lulling, Todd: »My Year-Long Quest To Uncover The Identity Of ›Ugly Naked Guy‹«, in: HuffPost, 31. Mai 2016, https://www.huffpost.com/entry/ugly-naked-guy-friends_n_573caa4ae4b0ef86171cef1f [15. Oktober 2023]. Bezüglich ihres Produktionsverfahrens lassen sich zwei Formen der Sitcom unterscheiden: Multikamerasitcoms und Singlekamerasitcoms. Multikamerasitcoms werden vor einem Live-Publikum mit mehreren Kameras gleichzeitig aufgezeichnet, Singlekamerasitcoms hingegen wie die meisten anderen fiktionalen Fernsehformate Szene für Szene mit jeweils einer Kamera. Vgl. auch: Foerster: Sitkommunikation, S. 72 – 77. Mein Beitrag befasst sich ausschließlich mit Multikamerasitcoms. Im Folgenden werden deshalb die Begriffe Sitcom und Multikamerasitcom synonym verwendet. https://tvtropes.org/. Vgl. auch Whitford, Leslie: »TV Tropes«, in: Reference Reviews 29 (2015), H. 1, S. 35 – 36, https://doi.org/10.1108/RR-07-2014-0213. https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HeWhoMustNotBeSeen [5. Mai 2024]. https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/TheGhost [5. Mai 2024]. https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/TheVoice [5. Mai 2024]. https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/TheFaceless [5. Mai 2024]. Vergleiche auch Noël Burchs Unterscheidung zwischen »imaginary off-screen space« und »concrete off-screen space«. Markierte Nicht-Sichtbarkeit verweist in diesem Sinn stets auf »imaginary off-screen space«, also auf ein Off, das sich seiner Konkretisierung als On nicht bloß kontingent und vorübergehend, sondern dauerhaft und im Sinne einer bewussten Setzung verweigert. Vgl. Burch, Noël: Theory of Film Practice, Princeton 1981, S. 21 – 22. Chion, Michael: Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1990. Vgl. etwa Mittell, Jason: »Narrative Complexity in Contemporary American Television«, in: The Velvet Light Trap 58 (2006), S. 29 – 40. Vgl. etwa Ndalianis, Angela: »Television and the Neo-Baroque«, in: Mazdon, Lucy/Hammond, Michael (Hrsg.): The Contemporary Television Series, Edinburgh 2005, S. 83 – 101. Vgl. etwa Baecker, Dirk: »Oszillation 4.0. Zur Kulturform der nächsten Gesellschaft«, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten (2016), PID: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-82683-6, insb. S. 2 – 3. Sprachspiele im hier verstandenen Sinn fallen unter Baeckers Begriff einer Oszillation 1.0.
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An anderer Stelle habe ich ausführlich ausgeführt, dass und wie die Sitcom die Welt, in der sie sich situiert, nicht als etwas Vorgefundenes oder durch externe Genreregeln Vorgegebenes begreift, sondern als etwas, das durch selbst generierte Kommunikationsregeln geschaffen wird – gegen die die Sitcom mitunter vorsätzlich verstößt. Diesem Prozess habe ich den Namen »Sitkommunikation« gegeben. Diese These, die unter anderem auf die spezifischen Produktionsbedingungen der (Multikamera-)Sitcom sowie auf einige Unterscheidungen der Luhmann’schen Systemtheorie rekurriert, kann an dieser Stelle nicht komplett aufgefaltet werden. Vgl. Foerster: Sitkommunikation, insb. S. 62 – 133. Was er, vgl. Endnote 2, in zwei Episoden der Serie zumindest teilweise ist; es ließe sich anmerken, dass die entsprechenden Szenen, subjektiv betrachtet, nicht gerade zu den komischen Highlights von Friends zählen. Wobei dieses Gedankenspiel produktionspraktisch vermutlich an den Zensurvorgaben des US-amerikanischen Networkfernsehens scheitern würde, das die Darstellung von Nacktheit weitgehend ausschließt. Anders als im Fall der Figuren in Cheers und Home Improvement hat Ugly Naked Guys Nicht-Sichtbarkeit also auch eine kulturell kontingente Komponente. Siehe Foerster: Sitkommunikation, S. 299 – 304. Eben hier schließt mein Ansatz an Luhmanns Systemtheorie an. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 608: »Nur wenn man von Handlung auf Kommunikation umstellt, wird es notwendig, die Elementareinheiten der Systembildung rekursiv durch Bezug auf andere Operationen desselben Systems zu definieren.« Mit Luhmann lassen sich die Nicht-Sichtbaren der Sitcom mithin als ein Verfahren der Digitalisierung beschreiben. Vgl. ebd., S. 359 – 360. Wiederum mit Luhmann können die Nicht-Sichtbaren der Sitcom als ein re-entry der Unterscheidung von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit auf der Seite der Sichtbarkeit gefasst werden. Vgl. u. a. ebd., S. 45 – 46. Tatsächlich beschreibt der einzige mir bekannte Text zu den Nicht-Sichtbaren der Sitcom, von Chris Ritchie, eine Reihe dieser Figuren als Symptome sexueller Repression. Vgl. Ritchie, Chris: »›Er Indoors‹: The invisible other in sitcom«, in: Comedy Studies 3 (2012), H. 1, S. 83 – 91.
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Bettine Menke
hidden, besides, behind (Willie emerging) In Becketts Happy Days gibt Willie in einem konventionellen Sinne wohl eine Nebenfigur ab. Das Stück wird in vielen Bei- und Metatexten (fast) wie ein Ein-Personen-Stück, und für einmal als »a ›female solo‹«1 behandelt. Das hat offenbar unmittelbar zur Folge, dass die entsprechende Sekundärliteratur (nur) von Fotos der Protagonistin begleitet ist und (nur) Interviews mit der jeweiligen (bekannten) Schauspielerin, das eine oder andere Mal auch deren Texte zur Probenarbeit, beigefügt sind.2 Aber nicht (nur) deshalb befasse ich mich hier mit Willie – versteht sich. Vielmehr will ich am Beispiel fragen, wie sich Nebenfiguren manifestieren, beside? Das wird für unterschiedliche Medien verschieden aufgefasst werden müssen. Eine Nebenfigur auf einem Tafelgemälde etwa befindet sich auf derselben Malfläche wie die zentrale Figur, aber literaliter neben, am Rande.3 Wie steht es mit dem Anwesenheitsmodus von Nebenfiguren in Schauspielen? Anwesend wie die Protagonisten oder Hauptfiguren sind Neben-Figuren wohl nicht? Aber doch auch nicht abwesend? Sonst wären sie gar keine Figuren, die doch irgendwie erscheinen müssen. Wodurch sind sie Nebenfiguren, wenn es sich nicht schlicht um eine dramatische Kategorie handeln soll: untergeordnet, im Umfeld der Darstellung des einen Charakters dienend? Welche Art von ›neben‹, ›am Rande‹, ›nicht ganz aus dem Hintergrund gelöst‹ oder je schon wieder ›zurückgenommen‹ oder anders – macht Nebenfiguren auf dem Theater aus? Und wie ist das neben oder beside selbst ›manifest‹ (wenn es das überhaupt ist)? Wie ist es an-/abwesend? In Happy Days zeigt Willie sich (zunächst) nicht, aber der Text situiert ihn: neben, beside(s) und behind, so im Bei-, Para- oder Nebentext, einem »Nebenraum des Textes«, wie es heißt,4 also in Textpartien, die konventionell para-, beside(s), neben dem (Dramen-)Text, an dessen Rändern stünden. Aber die »antithetische[] Vorsilbe« ›para‹bezeichnet, was »zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Randes liegt, den gleichen Status besitzt und dennoch sekundär ist«5. Nachdem in Happy Days eingangs, para-, eine Szenerie mit Aussicht als Theatervorrichtung: »pompier trompe l’oeil Backcloth« beschrieben ist, ist zu lesen (das heißt: Happy Days muss gelesen werden):6 In einem »mound« stecke Winnie, »lying asleep on ground, hidden by mound, WILLIE«7.
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Expanse of scorched Grass rising centre to low mound. Gentle slopes down to front and either side of stage. […] / Blazing light. / Very pompier trompe-l’oeil Backcloth to represent unbroken plain and sky receding to meet in far distance. Imbedded up to above her waist in exact centre of mound, WINNIE. […] She is discovered sleeping, her arms on the ground before her, her head on her arms. […] / To her right and rear, lying asleep on ground, hidden by mound, WILLIE. / Long pause. A bell rings piercingly, say ten seconds, stops. She does not move. Pause. Bell more piercingly, say five seconds. She wakes. Bell stops. […] Long pause.8 Der Paratext gibt Willies Anwesenheit an als nicht sichtbare: »hidden«, im Sichtraum abwesend/anwesend.9 Das entspricht in markanter Kargheit der antiken Teichoskopie – aber ohne jene auf die Rede-Szene gebrachte eindrucksvolle Hypotypose, in der die Rede sich feiert, indem sie das in Raum und Zeit Entfernte vorzustellen vermag, als ob es vor Augen stünde. Hier und fortwährend wissen Zuschauende (auch Winnie zuweilen) nicht, ob Willie da ist oder nicht, ob er hört oder nicht usw. …10 Mit dem mound ist auf der Bühne eine jener sichtbaren Vorrichtungen des Vorenthaltens, ein Zeichen zugleich für das Nicht-Sichtbare, ja Verborgene installiert, der sichtbaren Einrichtungen eines off im on. Das macht bereits das antike griechische Theater, das mit der skēnē als räumlicher Abscheidung, mit der Differenz von off und on allererst den szenischen Darstellungsraum erzeugte. Mit den Einrichtungen eines Nicht-Einsehbaren, nicht dem Raum der Darstellung angehörenden ist das off im on ›aktiviert‹, so etwa mit den Mülltonnen in Becketts Endspiel oder auch den (zunächst skandalisierten) Ein-Sicht versperrenden Containern auf den Bühnen der letzten Jahrzehnte. Happy Days führt das Auftreten vor, indem es dieses vorenthält. Kann Winnie nicht auftreten, da sie bereits, zum einen mit ihrem unteren Teil verborgen feststeckend, zum andern sichtbar gezeigt, auf der Szene präsent ist: »discovered sleeping«, so tritt Willie zunächst nicht (oder gar nicht) auf. Wenn er denn ›eintritt‹, wie Gontarski sagt,11 so mit Winnies Worten: »dressed to kill« (61), ist der ›große Auftritt‹, im Nebentext lesbar, desavouiert: Willie kraucht mühsam am Hügelhang entlang und rutscht wieder ab (63). Fast durchgehend jedoch ist Willie »hidden«, im Neben-Text anzutreffen: ab-an-wesend. Er hat fast keinen (Dramen-)Text.12 Allerdings verunsichert Happy Days die hierarchisierende Scheidung von Text und Paratext, von ›innen‹, also dem was sehend und hörend ›verstanden‹
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werden muss, und von bloßem ›außen‹. So ist die zitierte, im Paratext vorgegebene Szenerie schon Irritation im Anfang und des Anfangs. Zum einen, weil der Anfang der theatralen Präsentation in eine vor den Beginn dessen, was als Drama erwartet werden mag,13 reichende diffuse Zone verlegt ist, der die Beschreibung des Bühnenbilds im ›Nebentext‹ angehört. Zum anderen aber, weil er in Aufschub gebracht ist, suspendiert in der Abfolge: Licht, ›discovering‹, »(piercing) bell«,14 Pause, Pause, Pause ... Diese Unentscheidbarkeit kehrt immer noch mal wieder. Tritt Willie überhaupt ›in Erscheinung‹? Und wie denn zeigt ›er‹ ›sich‹ (wenn denn überhaupt)? 1. [Hand – Puppen – Spiel] Willie, »hidden by mound«, ›gibt‹ ein nicht-personales: nicht-gesichtiges Theater über den das Sichtfeld querenden Rand, eine Art Objekt-Theater15 der Körperteile und Utensilien. Zunächst: »Top back of WILLIE’s bald head […] rises to view above slope, comes to rest. Pause.« Weiter: His hand appears with handkerchief, spreads it on scull, disappears. Pause. The hand appears with boater, club ribbon, settles it on head, rakish angle, disappears. Pause. (14) WILLIE opens newspaper, hands invisible. Tops of yellow sheets appear on either side of his head. (15) Paper disappears. […] Paper reappears, folded, and begins to fan […], hand invisible. (17) Die Hand (die nur para-textuell, kursiv-schriftlich ›ihm‹ zugerechnet ist) ›manifestiert‹ sich »invisible«,16 durch die sichtbar werdenden Gegenstände – oder zuweilen auch, sich selber zeigend, im Verbund mit ihnen. Es handelt sich um ein Theater als stummes, nicht lesbares Spiel, ein Hand-Puppen-Theater17 im in die Sicht-Gelangen über der Kante, ein (bloßes) appears/disappears von Dingen und Körper-Partikeln, das derart auf den Rand – und in die Tiefe unter diesem bezogen ist. disappears, [...] reappears [...] appears (18) [...] disappears. His hand reappears immediately, holding card (19); hand reappears, disappears [hat] [...]; Hand reappears, disappears [handkerchief] […] [und nochmal] Hand reappears, disappears [handkerchief] [...] Hand reappears, disappears [boater] (20 … ongoing 46/47).
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Über dem Rand des »slope« erscheinen – und es verschwinden unter ihm – Dinge und Körper-Partikel.18 Es handelt sich hier um ein Spiel des Auftauchens aus – wie Abtauchens in – nicht-sichtbare/n Tiefen eines nicht einsehbaren off. (Dieses Spiel korrespondiert dem in Becketts Come and Go,19 das die titelgebenden Grundoperationen des Theaters20 reduzierend erkundet.) Das Erscheinen (wie das Verschwinden) geschieht von der Abwesenheit, vom Nicht-Sichtbaren her (in das es sich zurückzieht), auf das damit Bezug genommen wird. Das macht das Theater seit der griechischen Antike aus: Wie bereits angesprochen, wurde durch die skēnē, eine Zeltbahn, eine Bretterwand, die Rückzugs- beziehungsweise Umkleideräume abschirmte, in die die Protagonisten aus dem öffentlichen Raum abgehen konnten,21 allererst der szenische Darstellungsort der Protagonisten als ein schmaler Rand vor der schneidenden skēnē, der nach hinten begrenzenden Wand eingerichtet, derart der szenischen Darstellung und den Protagonisten die unabstreifbare Bezogenheit auf das off eingeschrieben. 22 So ist die Eröffnung der szenischen Darstellung negativ an die Abwesenheit, den Rückzug, das hier Abwesende, den Vorenthalt, das Nicht-Einsehbare, Dunkle gebunden. Ist mit dem mound auf der Bühne dem Darstellungs-Raum ein anderer, der Sicht vorenthaltener, ein off als nicht einsehbarer Raum sichtbar eingefügt,23 wird diese Relation durch das appears/disappears der Dinge und Partikel über/unter den den Präsentationsraum schneidenden Rand exponiert. Gezeigt wird auf den der Sicht vorenthaltenen, nicht-sichtbaren Abgrund der Szene. [...] arm disappears. His hand reappears immediately, holding card (19); hand reappears, disappears [hat] [...]; Hand reappears, disappears [handkerchief] […] Hand reappears, disappears [handkerchief] [...] Hand reappears, disappears [boater] (20 usf.). Gegeben wird hier ein Theater in partiellen Präsentationen in und von Dingen – als niederes Hand-Puppen-Spiel. Als ein solches kann dann auch Winnies teilweises, geteiltes ›Erscheinen‹ über dem (Rand des) »mound« (der anderes nicht-sichtbar birgt) aufgefasst werden (vgl. 7). Als Spiel vom off her hat es in Happy Days zudem ein aufgeführtes, ins Schauspiel hineingefaltetes Doppel in Winnies Agieren mit den Dingen in und aus der Tasche, als einem weiteren in den Sichtraum eingetragenen Dunkel, eine nicht nur den Zuschauenden uneinsehbare Tiefe.24 In dieser kann Winnie nur kramen (rummage), Dinge eher zufällig aus ihr zum Vorschein bringen,25 zurückver-
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schwinden lassen – »back into the bag – back out of the bag –« (45), »in the bag, outside the bag« (54) – oder sie zeitweilig betrachten, stammelnd lesen, zuweilen zwischenzeitlich auf dem Rand des Hügels ablegen, sie auch mal nutzen – oder auch wegwerfen. Ein Spiel der Wiederholungen auch dies.26 Die Dinge, die die Puppen sind, taugten dem Theater der europäischen Moderne zur Exposition des Theaters als solchem, als Medium, in seiner Artifizialität.27 Daher wurden diese und die populären Theater, zu denen sie gehörten,28 von den im 18. Jahrhundert dignifizierten dramatischen Formen, deren in sich geschlossene wahrscheinliche Darstellung von Charakteren und Handlungen die Wahrnehmung ihres Mediums und ihrer Künstlichkeit verhehlen sollte, ausgeschlossen. Dass sie Objekte sind: ›durch und durch‹ physisch, ohne Innerlichkeit, dass sie den Psychologismus der Darstellung, Einfühlung abweisen, den Antinaturalismus des Theaters modellieren und prägnant vorstellen,29 das macht(e) sie attraktiv. Hier dissoziiert das Hin und Her der in Partikeln, im/als dismemberment: appearing/disappearing, innehaltend und wiederholend, (sich) zeigenden Bewegungen das, was im dramatischen Auftritt zur konstitutiven Figuration einer konturierten Person werden und eine Gestalt annehmen sollte, die die zum Vorschein bringende, anderswoher kommende Bewegung vergessen machen sollte. Diese Teleologie ist ausgesetzt durch (und an) die zerstückten Vorgänge, die wiederholend je wieder vor sich zurückkommen. Sehen wir die Teile und Objekte, die in Happy Days über der Kante des slope, über dem Rand sichtbar erscheinen, wie/als Hand-Puppen, so fungiert Willie als ein unentscheidbar un- oder willentlicher, un- oder wissentlicher ›Spieler‹: puppeteer. Er gehört dem Abgrund des theatralen Erscheinungsraums zu und an. Ruft seine unsichtbare (»invisible«), zuweilen auch sichtbar werdende Hand die Mani-pulation auf, so ist diese auf ihren literalen physischen Sinn umgelegt.30 Der »Spielraum«, der zwischen Puppe und Spieler eröffnet ist,31 ist hier als der des Theaters impliziert, gibt hin und her über die Kante gehend eine mise-en-abyme des theatralen Erscheinungsraums, der den Rand zwischen sichtbar/nicht-sichtbar, on/off querend als ein in sich geteilter Raum inszeniert ist: in der Bindung des Sichtbaren an das abgeschieden nicht sichtbar Bleibende, den (Hinter-)Grund allen appearing/disappearing. Die Manipulation geht im Zufall dessen auf, was für Zuschauende sichtbar wird – oder auch nicht. So suspendiert dieses Theater der Dinge das Geschehen an eine Materialität ohne Innenleben, dementiert und
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durchschneidet den Anthropomorphismus der menschlichen Gestalt, in der theatrale Darstellung verständlich werden sollte, und ist verwiesen an ein nicht-einsehbares Dunkel ohne Intention. Das Theater in seiner Artifizialität, das etwa der, im Nebentext genannte, pompöse trompe l’oeil Hintergrund-Vorhang indiziert,32 ein Theater der ja auch billigen Künstlichkeit, das seine Spiel-Vorrichtungen und sein Spielhaftes durchaus grob exponierende exzentrische Spiel wird von Happy Days aufgerufen und vorgeführt. Wenn Willies kahler Hinterkopf aufgeht, »rises to view above the slope« (14), ist das schlicht komisch. Ein Körperpart nimmt abgelöst am «external life« des ›Theaters der Dinge‹ teil.33 Die Hin-und-Her-Bewegungen on – off, disappears [...] reappears [...] appears [...] disappears [...] reappears immediately, [...] reappears, disappears [...]; reappears, disappears […] reappears, disappears rufen die der komischen Figuren auf: in ihrem sich Zeigen und Verschwinden, in Wiederholungen, unaufhörlich, da nicht motiviert durch ein Innen-Leben, vielmehr bewegt durch einen theatralen Mechanismus. Im Dienste der Begründung eines ästhetisch dignifizierten (bürgerlichen) Dramas seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde wie das Puppenspiel der Hanswurst oder fool der Wandertheater als Verkörperung eines wider alle dramatische Kohärenz (sich) exponierendes Spiel verworfen.34 Die »›Botschaft‹« der »Vertreter des Harlekin-Prinzips« »bestand«, so Rudolf Münz, in ihrem »Auftreten«, genauerhin in ihrem Sprung: »Eccomi«, was nichts als dies sagt: »Da bin ich!«35 Who? Kein Individuum und kein Gemeintes. Harlekin oder Hanswurst macht das immer wieder noch einmal heraus-, ›zum Vorschein kommen‹ aus; es manifestiert die mechané des Auftretens, des unterbrechend auf der Szene Erscheinens – und schon wieder weg sein, ohne einen Sinn gemacht zu haben. Das Auftreten der Spaßmacher vollendet sich nicht, wird nicht etwas eröffnen, nicht etwas und jemanden, keinen Charakter in sich abschließender Figuration etabliert haben.36 Weil dieses Zum-Vorschein-Kommen keine Handlung (die etwas geändert haben würde) geworden sein wird: Jede ist umgehend, je schon zurückgenommen, wird der Vorgang sich wiederholen: unabsehbar, immer wieder anders. Das immer wieder Zum-Vorschein-Kommen(-Müssen) lässt an den unaufhörlich, nach jedem Hineindrücken wieder aus dem Kasten springenden Springteufel denken, eines jener paradigmatischen Spielzeuge, die für Bergson den Mechanismus modellieren, der das Komische ausmacht.37 Im »Kasperletheater« ist er zu sehen:
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So wie sich der Gendarm auf die Bühne wagt, kriegt er wie zufällig einen Schlag mit dem Knüppel, der ihn zu Boden streckt. Er rappelt sich hoch, ein zweiter Schlag fällt ihn von neuem. Zweiter Anlauf, neuer Schlag. Im gleichförmigen Rhythmus der sich spannenden und wieder entspannenden Sprungfeder fällt und steht der Gendarm, und das Publikum brüllt vor Lachen.38 So auch in »vielen komischen Szenen« von Komödien, etwa denen Molières.39 Wiederholungen sind, so Bergson, komisch, weil sie (auf) den Mechanismus zeigen, der in ihnen zu sehen ist,40 wenn ›wir‹ in der Situation statt der »›Freiheit‹« von Handlungen, in denen sich ein vermeintlich ›lebendiges Innenleben‹ manifestierte, der (so Bergson) das »Leben« »all seinen Ernst« »verdankt«, etwas anderes sehen,41 ein der ›inneren‹ lebendigen Intention Äußeres, ein dieser fremdes, sich ablösendes »Teil«.42 Von Pulcinella sagt Giorgio Agamben: »Er scheint mit einer Art mechanischer Notwendigkeit […] wie Arlechino, Roger Rabbit oder Harpo Marx unbedingt seinen Spaß von sich geben« zu müssen.43 Can’t help it; er ist kein Charakter mit individuiertem Innenleben und Geschichte, die vermeintlich sein Tun konsistent motivieren würden. Er führt keine Handlungen aus, sondern macht Späße, Streiche; dabei ist unabsehbar wann, woher, wie er seinen nächsten Spaß oder Schlag anbringen wird. 2. [lazzi – arretierte Gesten] Die Rede vom Komischen in Bezug auf Becketts Happy Days sollte nicht zu sehr verblüffen. Diese Züge wurden auch schon vermerkt: »The actions could belong to a vaudeville song and dance«, kommentiert Gontarski,44 so etwa die schon zitierte Nummer, die in Wiederholung geht: »Top back of WILLIE’s head appears above slope« (47): »His hand appears with handkerchief, spreads it on scull, disappears. Pause. The hand appears with boater, club ribbon, settles it on head, rakish angle, disappears. Pause.« (14).45 Wenn die Hand erst Hut, dann Schnupftuch vom Kopf entfernt, »WILLIE« (wie zu lesen ist) sich (nicht sichtbar) mit diesem laut schnäuzt, dann erneut: »hand reappears with handkerchief, spreads it on skull, disappears. Pause. Hand reappears with boater, settles it on head, rakish angle, disappears. Pause.« (20). Happy Days rekurriert auf die nicht-dignifizierten Theaterformen: »popular, vulgar, and comic, the underbelly of art: the circus, burlesque, vaudeville, music-hall, and silent film. Its staple is low comedy: slapstick, routines, vulgar gestures, pratfalls, figures of speech literalized«46. Hatte Beckett
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anfänglich »A Low Comedy« als Titel in Betracht gezogen,47 so hält auch der Titel »Happy Days« diesen Anschluss.48 Happy Days macht, so Gontarski, »extensive use of the lazzo«, der von der Commedia dell’Arte her kommt, in der »stock characters improvise a set routine«, wie dann auch im Slapstick etwa der Marx Brothers.49 Späße, lazzi, erfolgen jäh, immer wieder unverhofft, plötzlich unterbrechend, unabsehbar, so dass Ereignis und Wiederholung ununterscheidbar werden: immer noch einmal wiederholend irgendwann, von irgendwoher, immer wieder – anders:50 unwahrscheinlich, durch keine Gestalt (vermeintlich) ›inneren Zusammenhangs‹, sei es der Handlung sei es eines Charakters, beschränkt.51 Sie kommen aus einem »unerschöpflichen« »Fond des Komischen« der Possen, die sich »beinahe jeden Augenblick selbst« »überrasch[en]«.52 Was Pulcinella nicht lassen kann, ist, einen ›Spaß von sich zu geben‹; ein solcher »ist nie Teil einer Handlung,« so Agamben, er »lockert und unterbricht die Folge der Handlungen«, nimmt aus ihr wie damit dem Drama immer schon einen Ausweg.53 Späße widerstreiten der Handlung, indem sie keine geworden sein werden, sondern die Handlung, die sie ausführen, zugleich »rückgängig« machen.54 Weil sie die Vollendung einer Handlung, die ihre Wiederholung unmöglich machen würde, suspendieren, werden Späße immer wieder, immer wieder anders wiederholt, (wie) zufällig in ihrem Eintreten, kontingent in den Effekten.55 Auch Happy Days durchkreuzt im Spiel der lazzi die naturalistischen Unterstellungen, die das Theater vergessen machen soll(t)en. Gontarsky spricht von einer »defiance of the naturalistic tradition«, »[in] sympathy with the unhinged world of Marx Brothers«.56 Willie emerges ... störend, unterbrechend – etwa, wenn Winnie Partien ihres Gesichts im kleinen Handspiegel betrachtet: »Lips. She is interrupted by disturbance from WILLIE. He is sitting up. […] Top back of WILLIE’s bald head, trickling blood, rises to view above slope, comes to rest.« (14, vgl. 45). Hier wird eine »physical comedy« gegeben:57 So auch ganz literal mit Winnies wiederholten »strikes« mit dem Sonnenschirm, mit denen sie Willie zu irgendwas bewegen zu wollen scheint. (Dann taucht dieser blutend auf, 12 – 14.) So etwa Willies über dem Rand sich zeigendes Blättern in der Zeitung, »turns page«, das intermittierend den Rhythmus der Rede-Partikel vorgibt:58 WILLIE opens newspaper, hands invisible. Top of yellow sheets appear on either side of his head. WINNIE finishes lips, inspects them in mirror held a little further away. Ensign crimson. (WILLIE
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turns page. WINNIE lays down lipstick and mirror, turns toward bag.) Pale flag. WILLIE turns page. WINNIE rummages in bag, brings out small ornate brimless hat (15). Beckett zufolge waren, wie Martha Fehsenfeld, eine WinnieDarstellerin, anführt, die Interruptionen »›a clue of the play – something begins, something else begins‹. Winnie is constantly being interrupted or is interrupting herself. […] These interruptions […] were directed in counterpoint during the business of Willie’s turning the pages of his newspaper.«59 Wenn Willie dann nicht (nur) in Kursiva sich findet, wenn ›er‹ spricht, so spricht er nicht ›selbst‹,60 sondern indem er, wie die vorangehende Pantomime nahelegt, vorliest, indem er, blätternd, lesend, den Zeitungstext zerfällt, in Bruchstücken zitiert (was vor diesem Verlesen wohl Sinn gehabt hat), und Winnie jeweils zum abbrechenden Einhalten verhält. WILLIE […] Top of yellow sheets appear on either side of his head. […] WINNIE […] brings out small ornate brimless hat […] smooths feather, raises it towards head, arrests gesture as WILLIE reads. WILLIE His Grace and Most Reverend Father in God Dr. Carolus Hunter dead in tub. Pause. WINNIE (gazing front hat in hand, […] [).]« (15) Das Inserieren der gelesenen Partikel fungiert als lazzo, als Streich, der unterbricht und Unterbrechungen intermittierend ins Geschehen einlässt, und zwar gerade dadurch, dass sich das Unterbrechen wiederholt, immer noch einmal: »arrests gesture«61. Der Gag, wörtlich ein Mund-Stopfen, wie Agamben weiß,62 ist ein running gag: Pause. She raises hat towards head, arrests gesture as WILLIE reads. WILLIE Opening for smart youth Pause. She raises hat toward head, arrests gesture, takes off spectacles, gazes front, hat in one hand […] […] (Pause.) The shadows deepening among the rafters Pause. She opens eyes, puts on spectacles, raises hat toward head, arrests gesture as WILLIE reads. WILLIE Wanted bright boy. Pause. WINNIE puts on hat hurriedly […].« (16/17)
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Das ist Slapstick, in dem die Gegen-Spieler ihren Streich, einander je wieder überraschend, noch mal wiederholen, unverhofft: immer wieder anders, und umgekehrt den wiederholten Streich zu erwidern oder ihm (markiert: hastig) zuvor zu kommen suchen. Eine Slapstick-Nummer wie die stumme in Marx Brothers’ Duck Soup (1933) zwischen Harpo, Chico, einem Limonadenverkäufer mit ihren drei Hüten, die runtergeschlagen, fallen gelassen, aufgefangen, abgegriffen, vertauscht, auch abgefackelt werden (das wiederholt sich: Hüte werden ersetzt),63 die Becketts En attendant Godot mit der ausführlichen pantomimischen Hüte-WechselEinlage reinszeniert.64 Durchbrechen lazzi die Folge der Handlung jäh und dementieren, was als (vermeintliche) innere Kohärenz der Handlung eines Charakters, die sich vollenden könnte und Folgen hätte,65 für ein als Drama gerechtfertigtes Theater gefordert wurde/wird, so wird durch’s Unterbrechen, im Innehalten eines handelnden Vollzugs (»raises hat toward head«) die Geste arretiert: her-/ausgestellt. Die Geste bietet sich dar, insofern die Handlung, die vermeintlich vollzogen werden soll (Hutaufsetzen), nicht ausgeführt wird; immer wieder wird der Hut nicht aufgesetzt worden sein (irgendwann dann doch, »hurriedly«);66 immer wieder wird die Geste suspendiert, hängt – im mehrfachen Sinne. »[The] suspended gestures« »[are] undercutting their seriousness«, so Gontarski für Happy Days,67 sie subvertieren den ›Ernst‹ der Handlungen, sie ans Spiel verweisend, das sie sind.68 Bergson zufolge lenkt die Komödie, »um zu vermeiden, daß wir eine ernste Handlung ernst nehmen«, »unsere Aufmerksamkeit auf die Gesten anstatt auf die Taten. […] In der Handlung [die, so unterstellt Bergson, »bewußt« wäre] gibt sich der Mensch ganz; in der Geste« drängt sich »ein isolierter Teil«, »außerhalb« der ›personalen‹ ›bewußten‹ Ganzheit vor.69 Das geschieht insbesondere in den Wiederholungen, in denen das Publikum sie anders: abgetrennt, als einen Mechanismus,70 anderes denn einen dramatischen Charakter sieht, der empathisch, naturalistisch: Theater-vergessen aufzufassen wäre.71 Dadurch dass der Vollzug, in dem die ernsthafte Handlung ausgeführt, sich vollenden und damit die Geste ausgelöscht würde, suspendiert ist, ist die Geste, die im Vollzug von etwas nicht aufgeht,72 als arretierte, temporär fest- und sichtbar gehalten: als tableau, kann man sagen,73 her-, hervor- und ausgestellt. So legt die innehaltend gestellte Pose eine Pause ein (mit der sie in volksetymologischem Bezug steht), wie umgekehrt eine gehaltene Pause eine Pose (vor-)stellt, so hier anfangs zweimal: »She raises her head, gazes front.
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Long pause«. »She straightens up, lays her hands flat on ground, throws back her head and gazes at zenith. Long pause.« (8). Benjamin zufolge (zum »gestischen Theater« Brechts) werden Gesten durchs Unterbrechen eines Handelnden hervorgebracht.74 Die Geste ist nicht Ausdruck einer Innerlichkeit,75 widerstreitet dem Repräsentationsmodell, behauptet sich als Kraft intransitiv gegenüber jedem etwas, das sie ›tragen‹ würde,76 und zwar indem sie, unterbrechend auf-gehalten, sich und den Ablauf sperrt.77 Die arretierten Gesten legen in Happy Days als unterbrochene, innehaltend sich unterbrechende Bewegungen, die im Para-text explizit zu lesen sind, »Pauses«, die punktieren (44). Sie sind unterbrechend-zerlegende Einlassungen in das Geschehen, von dem als dramatischem die so genannte ›innere‹ Kohärenz von Charakteren und Handlung als sich vollendende abschließende Ganzheit gefordert würde. Im (Inne-)Halten, in einem Halt, im mit dem Interesse am ›Handlungs‹zusammenhang unverträglichen, »retardierenden«, (sich) absetzenden Unterbrechen von Verläufen wird die Geste als »zitierbare« hervorgebracht:78 »Unterbrechen [sei, so Benjamin] eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung«, das er (in akzentuierter Beiläufigkeit) am Zitieren ausweist: »Es liegt, um nur eines herauszugreifen, dem Zitat zugrunde. Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen.«79 »[D]as epische Theater, das auf die Unterbrechung gestellt ist, [sei] ein in spezifischem Sinne zitierbares«, weil es darauf gehe, »›Gesten zitierbar zu machen‹« (so zitiert Benjamin Brecht).80 Wie Worte erst »geübt, das heißt erst gemerkt, später verstanden sein [wollen]«, so werden auch die Gesten – daher wird »das Spiel« »unterbrochen« – »erst gemerkt, später verstanden«.81 Sie werden »zitierbar«, indem sie gesperrt, (auf-)gehalten und abgesetzt, sperrig gemacht werden, und den Ablauf sperren.82 Die Geste ist derart keine »Einheit«,83 vielmehr in/von sich verschieden, zitierbar, virtuell anderswohin, in andere Räume und Zeiten verwiesen. Die dynamis der Unter-Brechung bebt ›im Innern‹ der unterbrechend hervorgebrachten Gesten. Das Spiel der (wie) zufälligen, wiederholten Unterbrechungen, der Arretierungen und der sich einlassenden Intermittenzen wird in Happy Days immer wieder wiederaufgenommen, auch in Verkehrungen der personalen Zurechnung (der Unterbrechungen). Die Differenz von Neben- und Hauptfigur, die anfänglich eingeführt und mit Blick auf die Bühnensituation nahezuliegen schien, ist nicht gehalten. In ein kontrapunktierendes Widerspiel treten die Gesten auch umgekehrt: Willie »stops fanning«, wenn Winnie, sich unterbre-
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chend, stammelnd Text-Bruchstücke einer Zahnbürsten-Aufschrift spricht/liest – und dies (immer) wieder aufnimmt, um erneut zu stoppen. Paper disappears. […] Paper reappears, folded, and begins to fan WILLIE’s face [das hier nicht sichtbar ist], hand invisible. WINNIE takes up toothbrush and examines handle through glass. WINNIE Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (Pause. WILLIE resumes fanning. WINNIE looks closer, reads.) Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (Pause. WILLIE resumes fanning. WINNIE lays down glass and brush […] takes up glass […], takes up brush and examines handle through glass.) Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (pause. WILLIE resumes fanning) … hog’s (WILLIE stops fanning, pause) … setae. (Pause. […]).« (17/8) In dieser Slapstick-Nummer wird (scheint’s) immer wieder auf den Einsatz des oder der anderen gelauert, wobei hier das stops/resumes fanning des anderen die sich unterbrechend auf sich zurückkommende stammelnde Rede Winnies, deren Auslassungen, Pausen markiert und ausstellt. Dem Spiel wird punktierend, ein Rhythmus gegeben, der sich im Schriftbild zeigt, in der schriftlichen Organisation der Unterbrechungen, der (einander) unterbrechenden Partikel. 3. [besides, para- – innen/außen] Theatrale Präsentationen kommen je aus Wiederholungen, aus Zitationen anderswoher und zu einer anderen Zeit,84 aus Proben und Vorstellungen;85 sie ›sind‹ wiederholbar, latent auf andere Räume und auf andere Zeiten bezogen, und geben sich in jeder Wiederholung Unvorhersehbarem, Kontingenzen preis. Das Theater machen Handlungen aus, die wiederholbar sind, sich nicht vollenden und Folgen haben können, daher keine Handlungen sind. Wenn ein Sonnenschirm, der an einem (?) Abend (oder jeden Abend?) unverhofft in Flammen aufgeht (37), sodass Winnie ihn von sich wirft, am nächsten Tag wieder da sein werde: morgen wie heute (»I presume this has occured before, though I cannot recall it«) (37), dann weil es sich um Theaterabende handelt.86 Die Requisite wird dafür gesorgt haben, dass auch das Glas, das Winnie in einem paradoxalen Test wegwirft und auf einem Stein zerschmettert, wieder aus der Tasche zu kramen ist: »[it] will be in the bag again tomorrow« (39).
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»No, one can do nothing. (Pause)« (39) – das trifft nicht die melancholische Vergeblichkeit, die Melancholie einer (sinnlosen) Welt, sondern ist ›Realität‹ des Theaters, auf dem allerdings alle Wiederholungen potentiell immer andere sein werden oder jeweils werden mögen. »Strange thing, […] Strange? (Pause.) No, here all is strange (Pause.)«, »Never any change«, spricht vom theatralen Zeitraum: »Strange feeling that someone is looking at me.« (44/5, 40)87 Das Theater ist ein Dispositiv des Sehens (und Hörens), dem der Blick der Zuschauenden und Zuhörenden von anderswo her vorgängig ist. Diesen Blick faltet Happy Days ins Geschehen auf der Szene ein:88 off/on – etwa mit der Eingabe des Klingel-Signals, das den Zeitraum des Geschehens vorgibt: back into – back out of the bag »until the bell – went«.89 Das Theater-Geschehen ist nicht in sich geschlossen; »here« gibt es keine mit sich identische Gegenwart.90 So ist Winnies Rede von »a happy day, another happy day« eine wiederholende, immer wieder wiederholte. Sie spricht auch dies an: »that’s what I always say, it will have been a happy day, another happy day. (Pause.)« (62): Oh this is going to be another happy day! (15), the happy day to come (18), this is going to be a happy day. […] Another happy day (23), what a happy day for me ... it will have been. (Pause.) So far (Pause.) (34) Oh this will have been a happy day! (40) Oh this is a happy day! This will have been another happy day! (Pause.) After all. (Pause.) So far (47/8) [und die letzten gesprochenen Worten noch mal:] Oh this is a happy day! This will have been another happy day! (Pause.) After all. (Pause.) So far. (64)91 »[A] happy day« ist derart nie gegenwärtig, da. Während der (vielleicht zitierte) Song »Happy Days are here again« diese jubilatorisch begrüßt,92 verweisen die wiederholenden Zitationen jeden solchen Tag nicht nur je wieder in eine Zukunft: nicht jetzt,93 sondern im Futur II auch an die Nachträglichkeit, aus der allenfalls der Tag als »happy day« nur als vergangener und »another«, festgestellt worden sein wird: Er ist je noch und wieder in eine vergangene Zukunft verschoben, die über den Tag entschieden haben wird, aber »so far«, je noch in Aufschub gebracht ist, in eine Nicht-Präsenz. Die Gesten, die durchs Unterbrechen des Verlaufs erzeugt werden, diesen unterbrechen und als gedehnte Unterbrechungen gegen diesen sich absetzen, kennzeichnete Benjamin mit dem bemerkenswerten typografischen Vergleich: »seine Gebärden muß er
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[der Schauspieler] sperren können, wie ein Setzer die Worte«,94 der für die theatrale Präsentation die spatiale Anordnung von Buchstaben als Modell angibt.95 Gesten werden »zitierbar« gemacht, indem sie gesperrt werden, wie »Setzer die Worte« s p e r r e n , die Abstände zwischen den Buchstaben ausdehnen, die Worte in sich auftrennen und sie spatialisierend, re-markiert, gegen den Verlauf, den Lauf des Satzes und dessen Lesbarkeit absetzen, diesen sperren und derart den Ablauf, sei es des Satzes, sei es der ›Handlung‹, stauen. Damit ist die Aufmerksamkeit auf die Schriftlichkeit gelenkt, die bereits als die schriftliche Organisation von Becketts Text angesprochen wurde, die den Neben-Text in besonderer Weise angeht. Denn die konventionelle Hierarchie von Zentrum und Rand, die Sache der spatialen Organisation der Schrift ist, wird in Happy Days suspendiert ans Nebeneinander von typografisch recte und kursiv unterschiedenen Partien. Mit dem Neben- oder Paratext, in dem die ›Nebenfigur‹ Willie (fast durchgehend) ihren Ort hat, der Unterbrechungen, Einlassungen, Pausen (in das was konventionell Dramentext genannt wird) einlegt, ist auf die Notwendigkeit verwiesen, den Text zu lesen, die Schrift zu sehen.96 Denn diese, die konventionell im off: in den Vor- und Nebenräumen der theatralen Darbietung, zu verbleiben hatte, geht nicht im Geschehen ›auf der Szene‹ auf. Der Text behauptet sich im Schriftrest. Dass die paratextuelle Angabe ausgeführt werde, ist etwa von »Pause« durchaus nicht ohne Weiteres anzunehmen; sie verweist, ja bindet an die Schriftlichkeit. Wie wäre »Pause« aufzuführen, wenn eine Pause doch (irgendwie) ein Pausieren der Aufführung sein müsste?97 Oder, wenn die Pause von dem, was zuvor als Szenerie beschrieben ist, gar nicht zu unterscheiden ist (»She does not move. Pause.«). Oder wie wäre mit ihr zu beginnen? [Nach dem bereits zitierten ›Anfang‹ »Blazing light«:] WINNIE […] is discovered sleeping, her arms on the ground before her, her head on her arms. […] To her right and rear, lying asleep on ground, hidden by mound, WILLIE. / Long pause. A bell rings piercingly, say ten seconds, stops. She does not move. Pause. Bell more piercingly, say five seconds. She wakes. Bell stops. She raises her head, gazes front. Long pause. [usw.] (7/8) Dem geläufigen Wortgebrauch zufolge müsste schon (irgend-)was stattfinden, das unterbrochen würde, wenn eine Pause eingelegt wird. Vielleicht ist schon (irgend-)was ›geschehen‹? – Ist hier doch unentscheidbar, wo der Anfang ist, wo das Stück (?), die Aufführung (?)
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begonnen hat oder haben wird. Mit dem Nebentext? Oder beginnt nach dem zweiten Klingelzeichen (»more piercingly«), der theaterbekannten Eingabe von außen, die Aufführung: mit den Posen der »Long pause[s]«?98 Die Schrift zeigt sich als die ›Aufführbarkeit‹ sperrende, insbesondere mit Satzzeichen wie dashes – die in Winnies Rede, das heißt: in den Text, schriftlich auftrennend und Pausen einlegend intervenieren: Poor Willie – (examines tube, smile off) – running out – (looks for cap) – ah well – (finds cap) – can’t be helped – (screw on cap) – just one of those old things – (lays down tube) – another of those old things – (turns towards bag) – just can’t be cured – (rummages in bag) – cannot be cured – (brings out small mirror, turns back front) (9, ongoing – 11) Die dashes »–« lassen hier unterbrechend Aktionen Winnies (mit dem kursiven ›Neben‹text) ein, sie punktieren, wie es explizit heißt, »the following«, Verlauf und Text »interrupted by pauses«.99 So auch die literalen Punkte als Auslassungszeichen: »…« im Stammeln der Aufschriften ablesenden Winnie, deren Rede immer wieder abbricht, vor sich zurückfällt, wiederholt: WINNIE Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (Pause. WILLIE resumes fanning. WINNIE looks closer, reads.) Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (Pause. WILLIE resumes fanning. […]) Fully guaranteed … (WILLIE stops fanning) … genuine pure … (Pause. WILLIE resumes fanning) (17/18) Lesen wird vorgeführt, indem es sich Zeit und Pausen nimmt,100 sich unterbricht, Lücken oder Zwischenräume ins Gelesene einträgt, dieses und damit den Sprech- und ›Dramen‹text Happy Days zerstückt. Die Auslassungen »…« halten Seitenraum und besetzen ihn, der den Verlauf sperrt, so wie die suspendierten arretierten Gesten den der Bühnenhandlung. Die theatralen Zeiträume, die komischen Figuren eingeräumt waren und ihre ›letzten Reservate‹ blieben, als die Bühnenkunst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts dignifizierte ästhetische Form gewinnen sollte, waren Neben-Räume, das para- der Zwischenspiele, das doppelnd-entzweiende Neben- und Bei- der Parodien, die (so
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führt Walter Benjamin für die Wiener Haupt- und Staatsaktionen an) der »clown und fool« »verkörperte«. Diesen »clown und fool«, den ernsthaften Personen, den (vermeintlichen) Instanzen der Autorität »›höchst lästig‹«, können diese doch »nicht los werden«.101 Die Zwischenspiele der Harlekin-Parodien, die »letzten Rückzugsreservate des Komischen«, so Christopher Wild, werden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Drama, das das Theater vergessen machen will, durch die »zunehmende Integration aller Teile eliminiert«.102 Aus Einlagen oder Nummern jedoch besteht Happy Days: das stumme Dingtheater Willies, dessen zerlegende Zeitungslektüren aus dem off, das Stottern der Zahnbürstenstil-Lektüre Winnies oder deren Agieren mit Tasche und Dingen, die tableaux der Gesten – als Running Gags, mehr oder weniger komische Nummern, die die Unterscheidung zwischen Zentrum und Rand, dem Eigentlichen und dem vermeintlich nicht Dazugehörigen nicht gelten lassen. Im Schriftbild, in dem das mit der Rede vom »Nebentext« üblicherweise als distinktes Außen, als Randphänomen unterstellte in das üblicherweise »Dramentext« genannte eingefallen ist, kontrapunktieren diese einander und zersetzen typografisch den Text. Der Bei-, Para- oder Nebentext rückt in Happy Days in den sogenannten Dramentext ihn unterbrechend ein, durchsetzt ihn, legt unaufhörlich Pausen, Schwellen, an denen »Innerlichkeit und Äußerlichkeit« unentscheidbar sind, »zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Randes«103 im (vermeintlich) Innern, in den Text. Punktierend behauptet sich die Schriftlichkeit des Theatertexts – gegen dessen Aufhebung in seiner (vermeintlichen) Aufführung, derart gegen ein Konzept des Dramas, das alle seine Prä- und Paratexte wie seine ›Gegebenheit‹ allein von der Wiederholung und Wiederholbarkeit her, die diese auf andere Räume und Zeiten verweisen, vergessen machen sollte.104 Die Schrift dagegen manifestiert die konstitutive Differenz dessen, was als dramatische Einheit postuliert wurde, von sich (selbst). 1 2
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Gontarski, Stanley E.: Beckett’s Happy Days: A Manuscript Study. Columbus 1977, S. 49, trotz: »Happs Days contains two characters« (ebd.); er vermerkt »the decrease in Willie’s role« in den verschiedenen Fass.en (S. 40 u. 25). Vgl. in BenZvi, Linda (Hrsg.): Women in Beckett. Performance and Critical Perspectives, Urbana, Chicago 1990, z. B. Dame Peggy Ashcroft (Text, Foto S. 13); Madelaine Renaud (Interv., Foto S. 16); Nancy Illig (Foto S. 25); Aiden O’Kelly (Interv., Foto S. 38); Hanna Marron (Interv., Foto S. 43); Brenda Bynum (Foto S. 54). Von Fehsenfeld, Martha (Text, Foto S. 56) aber liegt auch ein analytischer Beitrag vor: »From the Perspective of an Actress/Critic. Ritual Patterns in Beckett’s Happy Days«, in: Burkman, Katherine H. (Hrsg.): Myth and Ritual in the Plays of Samuel Beckett, London, Toronto 1987, S. 50 – 55.
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Vgl. den Beitrag von Wolfgang Kemp im vorliegenden Band. Zu den Nebentexten der Dramen vgl. u. a. Detken, Anke: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009. Miller, J. Hillis: »The Critic as Host«, in: ders.: Theory Now and Then, Durham 1991, S. 143 – 170, dt. zit. nach Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001, S. 9. Der Text ist nicht nur Vorlage für die Aufführung. Die Rücksicht aufs Lesen ist nicht zu beschränken auf die konventionellen Reden vom ›Lesedrama‹, wo die ›Aufführbarkeit‹ fraglich scheint; so auch hinsichtlich der Dramen des 18. Jahrhunderts Detken: Im Nebenraum des Textes, S. 1 – 3, 10, 12 – 14, 17 – 19, 22 – 24, 34, 255 – 261, 263 – 266, 295, 385 – 387, 392 – 394. Beckett, Samuel: Happy Days. A Play in Two acts, New York 1961, S. 7 u. 8; im Folgenden sind Zitate im Text mit Sz. nachgewiesen, Typografie wie in der Vorlage. Beckett: Happy Days, S. 7 u. 8. Das kursiv Gesetzte wäre in einem traditionellen Dramentext Beitext als sog. Regieanweisung. Was ist der An-/Abwesenheitsmodus des Nebentexts? George Taboris Inszenierung von Becketts Endspiel lässt die Bühneneinrichtung spielen (vgl. Thielmann, Friederike: »Black Box spielen. Zum Endspiel als Innenraum ohne Möbel«, in: Schäfer, Armin/Kröger, Karin (Hrsg.): Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing, Bielefeld 2016, S. 143 – 157). So auch: »WILLIE bows head out of sight. […] WILLIE blows nose loud and long, head and hands invisible.« (Happy Days, S. 20); »collapses behind slope, his head disappears« (S. 24); »WILLIE invisible starts crawling left towards hole« (S. 25). Ist er da? Es heißt, er werde von Winnie gesehen: »her eyes rest on WILLIE« (Happy Days, S. 9, vgl. S. 13, 25); »WILLIE […] head and hands invisible. She turns to look at him. Pause.« (S. 20); »WILLIE invisible starts crawling left towards hole« (u. alles Folgende): »she watches« (S. 25). Mit [the] hole ist Nicht-Sichtbarkeit (im den Zuschauenden Nicht-Einsehbaren) gedoppelt; Winnie weiß nicht: »Have you gone off on me again? (Pause.)« (S. 37); er solle signalisieren: »if you have not gone off« (S. 37, tut er mit fünf Fingern). Hört er? Mal antwortet Willie (S. 25), von dem Winnie auch sagt: »he cannot speak« (S. 36), oder den sie anweist: »don’t answer« (S. 41). Zu Act II heißt es: »Willie is apparently gone«, »is absent« (Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 71 u. 56), was Zuschauende nicht sehen, ebensowenig wie Winnie: »Ah well not to know, not to know for sure« (Happy Days, S. 51, vgl. S. 50 – 61). Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 50, vgl. S. 29, 49. Willies Wörter könnten abgezählt werden: (vor-lesend) »It« (S. 23), »Yes« (S. 25); ein Dialog wird nicht ausgemacht werden können, auch wenn er wohl mal antwortet auf insistente Fragen Winnies: »Eggs« (zweimal), »Formication« (zweimal, S. 30); am deutlichsten erhält die (immer wieder wiederholte) Frage »What is a hog exactly?« (die eher keine erwartet), eine Antwort (S. 47). Dann auch WILLIEs »a hoarse song without words – musical-box tune« (S. 40). Der Vorhang eröffnet nicht (vgl. Beckett: Happy Days, S. 7), fällt nur am Ende beider Acts (S. 48, 64). The piercing bell »which Beckett has called Winnie’s enemy« ersetzte, was zuerst »an alarm clock which rings softly« gewesen sein soll, auf der Winnie den Tages-Fortgang selber ablesen konnte (Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 37 – 39). The piercing bell dgg. gehört zu den Eingaben von außen: In ihr interveniert an »outside force« (Gontarski, S. 38) – wie der Inspizient des Theaterabends (Happy Days Act I S. 7/8; II, S. 49, der Schluss S. 64). Die Intervention wird benannt: »the bell for waking and the bell for sleep« (S. 21, 35, 44/5, 46, 47, 56). Als Theater der Dinge wird »Puppen-, Figuren-, Objekttheater« aufgefasst, vgl. die gleichnamige Publikation hgg. von Joss, Markus/Lehmann, Jörg, Berlin: Theater der Zeit, 2016 (Lektionen 7). Derart wird auch anders aufgefasst, was üblicherweise Requisit ist. Dem Abstract zur Tagung zufolge »besiedeln die Nebenfiguren ein terrain vague zwischen Staffage und Figuration«, sind sie »[v]on der Rückstellung ins […] Szenenbild oder ins Inventar […] immer nur […] um ein […] [weniges] entfernt«; das kennzeichnet Willie in Happy Days sehr gut. Zuerst nachdem Winnie Willie mit dem Sonnenschirm schlägt (»strikes«), dieser ihrer Hand entgleitet, »and falls behind mound. It is immediately restored to her by WILLIE’s invisible hand.) Thank you dear. (She transfers parasol to left hand […]).« (S. 12, ongoing)
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Puppen sind Dinge (vgl. das »Theater der Dinge«, Festival der Schaubude Berlin, taz 16. Oktober 2017, jährlich); das macht ihre Faszination für das Theater der Moderne aus, vgl. Taxidou, Olga: Modernism and Performance. Jarry to Brecht, Basingstoke 2007: »Puppets and Actors«, S. 10 – 42. »Figuren/Theater« gibt »Fragmente einer Sprache der Dinge«, titelt Sibylle Peters (in: Brandstetter, Gabriele/ Peters, Sibylle (Hrsg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002, S. 327 – 339). In Hamlet heißt es von Horatio: »(gives his hand) A piece of him« (Shakespeare: Hamlet I.1, V. 19). Beckett: Come and Go. dramaticule for John Calder, in: ders.: Cascando and other short dramatic pieces, New York 1970 (7. Aufl. 1978), S. 65 – 71, vgl. das choreografische Schema S. 70. Vgl. Vogel, Juliane: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, München, Paderborn 2017, S. 11, 19/20.; dies.: »Kommen und Gehen, Notizen zu einer Verkehrsformel der Bühne«, in Bergmann, Franziska/TongerErk, Lily (Hrsg.): Ein starker Abgang. Inszenierungen des Abtretens in Drama und Theater, Würzburg 2016, S. 34 – 47; Kröger, Karin/Schäfer, Armin: »Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing. Vorwort«, in: Schäfer, Armin/Kröger, Karin (Hrsg.): Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing, Bielefeld 2016, S. 7 – 19, hier (»Ein kleines Theater«): S. 14 – 16). Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Theaterkörper«, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, André/Zimmermann, Mayte (Hrsg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 158 – 171, hier: S. 166. Vgl. Menke, Bettine: »Agon und Theater. Fluchtwege: die Sch(n)eidung und die Szene – nach den aitiologischen Fiktionen F. C. Rangs und W. Benjamins«, in: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hrsg.): Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden, Berlin 2018, S. 203 – 241, 207 – 209; Kruschkova, Krassimira (Hrsg.): »Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film«, in: Maske und Kothurn 51/1, Wien 2005. Die abtrennende skēnē fügte dem öffentlichen Darstellungsraum einen anderen: das Haus, als Raum des Verborgenen, der Gräuel sichtbar ein. Die on/off-Relation wird auch thematisch mit die Sicht vorenthaltenden Vorhängen auf den Bühnen, in den letzten Jahrzehnten mit Containern auf Castorfs/ Neumanns Bühnen oder mit Polleschs Realisierung von Diderots imaginärer vierter Wand. Winnie: »Could I, if some kind person were to come along and ask, What all have you got in thet big black bag, Winnie? Give an exhaustive answer? (Pause.) No. (Pause.) The depths in particular, who knows […].« (Happy Days, S. 32) Nachdem Winnie sich aufgefordert hat: »begin your day«: »Pause. She turns to bag, rummages in it […], brings out a toothbrush, rummages again, brings out a flat tube of toothpaste« (Happy Days, S. 8/9); »rummages in bag […] brings out small mirror« (S. 9); »(rummages in bag) […] (rummages) […] (brings out spectacles in case)« (S. 10); »Turns to bag, rummages in it […] brings out revolver […] puts it back, rummages brings out almost empty bottle of red medicine« (S. 13); »Turns to bag, rummages in it […] brings out lipstick« (S. 14, vgl. S. 20, 22); »rummages in it […] brings out finally a nail file« (S. 41). »Do not overdo the bag« (2 mal). »(Pause. She turns to look at bag.) Perhaps just one quick dip. (She turns back front, closes eyes, throws out left arm, plunges hand in bag and brings out a revolver. Disgusted) You again!« (S. 32/33); »still bowed, to the bag, brings out unidentifiable odds and ends, stuffs them back, fumbles deeper, brings out finally musical box, winds it up, turns it on, listens for a moment« (S. 39), wie zuvor den Sonnenschirm mit »a handle of surprising length« (S. 12). Das kommt Harpos Manteltasche gleich, aus der er in Horse Feathers (1932) cup of coffee (Min. 12:30), sword + fish (Min. 12:40), Beil (Min. 14:15), Seehund (Min. 24), an zwei Enden brennende Kerze (Min. 28:20) usw. zieht (https://archive.org/details/19FreeDownloadAmpStreamingInternetArchive [7. April 2023]. Evoziert sind auch weitere Spielformen: »Could I enumerate its contents? (Pause.) No. (Pause.) […] »if some kind person were to come along and ask, What all have you got in the big black bag, Winnie? Give an exhaustive answer? (Pause.) No. (Pause.) The depths in particular, who knows what treasures. (Pause.)« (Happy Days, S. 32)
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In Konzepten des Theaters der Moderne »the very theatrical nature of enactment is symbolically transferred to the puppet« (Taxidou: Modernism and Performance, S. 12); als »reminder of this artificiality« (S. 28), »to celebrate the very theatricality of the stage« (S. 30). Zum Anschluss an populäre Theaterformen, im Englischen: »Punch and Judy deriving from the Commedia dell’Arte«, vgl. ebd., S. 13/4, 31 – 33, u. ö. Vgl. ebd., S. 12, 27, 30, 32, 17/8; »its quest for […] modes of acting that do not rely on psychological expression« (S. 22/3), setzt sich ins Verhältnis zu ihrem Medium und dessen Künstlichkeit (S. 27/8). »Whereas the human form seems to present a seamless unification of form and content« »of the inner psychchological worlds and their outer expressiveness« (S. 12/3 u. 40; vgl. S. 17), dementieren die Puppen vermeintliche Einheit in der menschenähnlichen Gestalt, geben den Anhalt für »its anti-naturalistic and quasi-epic project[s]« (S. 22). Bes. eindrücklich war Alfred Jarrys Ubu Roy (S. 40). Statt die Zuschauenden zu Empathie anzuhalten, wird »distance and estrangement« erzeugt (S. 27); auch Meyerholds Petruschka legte (gleichfalls in Paris) »[a]ll emphasis on the external life of puppets, on the distance they impose on the audience, on their shameless artificiality« (S. 40, vgl. S. 30 – 33; zur anglophonen Tradition seit dem späten 19. Jh. S. 16 – 18, 40 – 42). Für die Abkehr »from the psychologism of the internalised world of character«, »the drama of Shaw and Yeats«, vgl. Barnes, Djuna in »When the Puppets Come to Town« (New York Morning Telegraph Sunday Magazine, 8. July 1917), in: P. N. Review 30 (2004), einl. von Rebecca Loncraine, S. 48 – 50, hier: S. 50; vgl. Taxidou, S. 41). Das Festival »Theater der Dinge« (Schaubude, Berlin) 2017 eröffnete mit »Kasper unser«: des Spielers »Hände führen als Objekte oft ein Eigenleben« (taz, 16.10. 2017). »Die Tradition sieht das Motiv der Manipulation ins Bild gesetzt, wenn die Technik, mit der eine Figur geführt wird, auf der Szene erscheint. Doch wird nicht gerade dadurch sichtbar, daß die Führungstechnik einen Spielraum generiert, der Spieler und Figur gemeinsam ist?« (Peters: »Figuren/Theater – Fragmente einer Sprache der Dinge«, S. 335, 338). Unter dem Titel der »Spielräume« stand das diesjährige Festival »Theater der Dinge«. Die Zweiheit, die das Spiel erst macht: Puppe – Spieler, wird zu keiner Ganzheit sich fügen. Was erscheint, hat weder ›Inhalt‹ noch Innenleben, das einem Ausdruck abzulesen wäre; was motiviert: bewegt, ist äußerlich. Woher kommt das »pompier« des »trompe l’oeil backcloth«, ein Wort, das es im Engl. nicht gibt, in den englischen Text? im Franz., in das S. Beckett sehr bald übersetzte, steht dieses allerdings doch kaum gebräuchliche Wort auch: »Une toile de fond en trompe-l’oeil tres pompier«; d. i. im Deutschen, das Beckett auch konnte (1961 erfolgte die Auff.), eher schwach: »Auf dem Prospekt sehr kitschige naturgetreue Darstellung einer ununterbrochenen Ebene« (Glückliche Tage, Happy Days, O les beaux jours (dt. Übers. v. Erika u. Elmar Tophoven) Frankfurt a. M., Berlin, EA 1975 (2000), S. 8 – 9. Taxidou: Modernism and Performance, S. 40. Vgl. Wild, Christopher: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i. Br. 2003, u. a. mit Bez. auf Gottsched S. 15, vgl. S. 217 – 218, 58. Umgekehrt erweist Benjamin die Überkreuzung von Puppentheater und »Spaß« des »fools und clowns«: als mise-en-abyme des »Spielhaften« des Schauspiels (Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften [im Folgenden mit Sigle GS plus römischer Band und Seitenzahl nachgewiesen], hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser u. a., Frankfurt a. M. 1972ff., Bd. I, S. 203 – 430, S. 302 – 306, 262). Münz, Rudolf: »Das Harlekin-Prinzip«, in: ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 60 – 65, hier: S. 62; vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Der ›Chor der Komödie‹. Zur Wiederkehr des Harlekins im Theater der Gegenwart«, in: ders. (Hrsg.): Performing Politics, S. 189 – 201, hier: S. 194); Matzke, Annemarie/Otto, Ulf/Roselt, Jens: »Einleitung. K(l)eine Theorie des Auftritts«, in dies. (Hrsg.): Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld 2015, S. 7 – 16, hier: S. 7.
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Samuel Weber zufolge suspendiert das Kommen-Gehen des »Possenspielers«, »was man bei dem dramatischen Theater den Auftritt heißt«. »Das unmittelbar sich nicht Vollendende des Auftritts ist hier entscheidend.« (Weber, Samuel: »Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien«, in Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hrsg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998, S. 31 – 51, hier: S. 45 – 46; vgl. ders. »Kierkegaard’s Posse«, in ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 200 – 228, hier: S. 218, 221 – 224) Bergson, Henri: Das Lachen, aus dem Franz. von Roswitha Plancherei-Walter, Zürich 1972, S. 52. Ebd., S. 52/3. In Mariage forcé: »Sganarelle drängt Pancrace immer wieder in die Kulisse, und jedesmal kommt Pancrace redend wieder zum Vorschein, eine wahre, automatisch funktionierende Sprechmaschine. Und als es Sganarelle endlich gelingt, seinen Widersacher im Haus (fast hätte ich ›Kasten‹ gesagt) einzusperren, schnellt dessen Kopf plötzlich aus dem aufklappenden Fenster, als ob er einen Kastendeckel aufsprenge.« (Ebd., S. 53) In Malade imaginaire: »so oft sich Argan aus seinem Sessel erhebt, um Purgon den Mund zu schließen, sehen wir diesen – als habe man ihn in die Kulisse geschoben – für einen Augenblick verschwinden und dann wie von einer Feder geschnellt mit einer neuen Verwünschung auf der Bühne erscheinen. Der gleiche, ständig wiederholte Ausruf: ›Monsieur Purgon!‹ markiert den Rhythmus der komischen Szene.« (S. 53/54) Ebd., S. 54. So auch in Tartuffe der gewitzten Bediensteten stets wiederkehrende Rückfrage »Und Tartuffe?«, mit der sie den ›Herrn‹ zur Wut, das Publikum zum Lachen treibt (S. 55). Ebd., S. 58. Die Clowns »kamen, gingen, prallten aufeinander, stürzten zu Boden, sprangen wieder hoch«: »Tatsächlich begann das Publikum immer mehr auf das Wiederhochspringen zu achten. […] Man sah nur noch Gummibälle. Gummibälle, die von allen Seiten gegeneinander geschleudert werden.« (S. 44/45) Etwa, wenn eine Geste, die sich wiederholt, als ein der Intention fremdes »Teil« gesehen wird (Ebd., S. 29/30, 99, 57). Bergsons Entgegensetzung von lebendigem Leben und dem Mechanischen, das es überlagere, überdecke (S. 32/33, 39 usw.), ist aber nicht zu halten. Zupančič gibt ihr die notwendige weitere Drehung, dass die »mechanische Äußerlichkeit selbst konstitutiv für die Lebendigkeit des ›innerlichen‹ Geistes« ist (Zupančič, Alenka: Der Geist der Komödie, aus dem Engl. von Frank Ruda u. Jan Völker, Berlin 2014, S. 137, vgl. 139). Das Komische treibt die Spaltung, das dem Subjekt Fremde als dessen Inkonsistenz hervor; es ist nicht und war nie eines, mit sich identisches (S. 140 – 43; vgl. Bergson: Das Lachen, S. 29/30, 99 – 102). Agamben, Giorgo: Pulcinella oder Belustigung für Kinder in 4 Szenen, aus dem It. von Marianne Schneider, München 2018, S. 53. Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 51. In der Wiederholung: »WILLIE’s hand appears with handkerchief, spreads it on skull, disappears.) […] WILLIE’s hand appears with boater, settles it on head, rakish angle, disappears.« (S. 47) Ebd., S. 47. Zuerst zeigte der Anfang Willie »dressed like a circus clown« (so Gontarski, S. 49). »The play was written by a comedian […] weaned on the travesties of two world wars and Irish politics. Beckett […] is at once clown, satirist, farceur«. »A story line swollen with sentimental potential and a sprinkling of dancehall theatricality, of such stuff is Happy Days made. The balance of the […] comedy and pathos […] is of utmost importance.« (Ebd.) Das Lied, das Winnie, zuvor je aufschob, dann schließlich (»musical-box tune«) singt (Happy Days, S. 64, ohne Text tönt es bereits aus der »musical box«, S. 39, wird rau gesummt von Willie, S. 40), The Merry Widow Waltz, gehört diesen Genres zu: Franz Lehars Operette Die lustige Witwe, Premiere 1905 in Wien, rasanter weltweiter Erfolg. Gontarski: Beckett’s Happy Day, S. 47 – 49. Als Prätext nimmt Gontarski den Song »Happy Days are Here Again« an (ebd., S. 60); dieser war, 1929 vom Komponisten Milton Ager mit dem Textschreiber Jack Yellen verfasst, überaus erfolgreich; er schloss das ›Technicolor finale‹ des Films Chasing Rainbows (1930, Charles Reisner), wurde als Anti-Depressionssong
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zur Hymne des Präsidentschafts-Wahlkampfs von Franklin Delano Roosevelt (https://en.wikipedia.org/wiki/Happy_Days_Are_Here_Again [10. März 2023]; vgl. dort die Fülle von »other versions«). Beckett begann die Arbeit an seinem Stück 1960, die engl. Fass. lag 14. Mai 1961 vor, seine franz. Übers. Nov. 1962, aber änderte den Titel, Wikipedia zufolge: »he borrowed the title ›O les beaux jours‹« von Verlaines Gedicht ›Colloque sentimental‹«. Wer weiß? Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 55, vgl. S. 48 u. 54/5. Fürs Nachleben der komischen Figuren der Commedia dell’Arte verweist der gleichnamige Bd. (»Eine Bildgeschichte der Kunst des Spektakels«, hrsg. v. David Esrig, Nördlingen: Greno, 1985) wie auf Music-Hall und slapstick auf Becketts Theater (S. 245/246). Die Analogie zu Harpos Manteltasche wurde schon angezeigt (s. o. Endnote 25). Vgl. zu Pulcinella (wie zit.), Agamben: Pulcinella, S. 62/3; man kann ihm keine Handlung zurechnen, er kann nicht verantwortlich gemacht werden (52/3). Vgl. etwa Harpos wiederholter unterbrechender Hupen-Einsatz in Duck Soup (1933, Leo McCarey), ab 00:21:20, 00:59:23, unverhofft als Limonaden-Spritze, 00:23:10. https://archive.org/details/the-cocoanuts-1929-marx-brothers/DUCK+ SOUP+-+1933+-++Groucho+Harpo+Chico+Zeppo+Marx+Margaret+Dumont. mp4 [10. März 2023]. »Die Vorstellungen des Hanswurst« sind am Maße des bürgerlichen Dramas »unnatürlich«, da »unwahrscheinlich«, ein durch kein Maß von Charakter, Handlung, Wahrscheinlichkeit gebändigtes Spiel, das die Zuschauenden auf die »kunstfertige Vorführung« treffen lässt. Wild: Theater der Keuschheit, S. 252, 222/223. Dgg. gab die vermeintliche ›innere Wahrscheinlichkeit‹, die dramatische Geschlossenheit ausmachen sollte, das Konzept ab für die »mediale[] Selbstaufhebung« des Theaters (S. 248 – 252; vgl. S. 15, 217/8, 58/9). Weber: »Vor Ort«, S. 45; vgl. »Kierkegaard’s Posse«, S. 218. Agamben: Pulcinella, S. 52; ebenso zu »Harlekins Scherze[n]« in der Commedia dell’Arte, ders.: Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 66. Ebd., S. 71. »Der Spaß kann nicht als Handlung zur Last gelegt werden – er ist ein reines irreparables Wie ohne Substanz und ohne moralische Person« (ebd., vgl. S. 52). »Possen« sprechen wörtlich von der Potentialität, von der sie sich nicht sich vollendend ablösen, Weber: »Kierkegaard’s Posse«, S. 218, vgl. S. 217 – 224. Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 48. Ebd., S. 52/53. Ein Modus von: »›In turning to the theater … Beckett uses action to help him undermine language.‹« (zit. ebd. S. 53; so zit. auch Carey, Phyllis: »The Ritual of Human Techné in Happy Days«, in: Burkman, Katherine H. (Hrsg.): Myth and Ritual in the Plays of Samuel Beckett, London; Toronto 1987, S. 144 – 150, hier: S. 145) Fehsenfeld: »From the Perspective of an Actress/Critic«, S. 52; Becketts Regie war »always concerned with the rhythm of the ritual« oder »games«, etwa »[the] meticulous designation of the right and left hand« (S. 50/51, 53, vgl. Happy Days, S. 12/13); vgl. »Becketts Regieanweisungen”, in: Samuel Beckett inszeniert ›Glückliche Tage‹. Probenprotokoll von Alfred Hübner, Frankfurt a. M., 1976, S. 105 – 107. ›Eigene Rede‹ Willies gibt es kaum; als ›Antworten‹ genommen werden könnten etwa »Yes« (Happy Days, S. 25) – auf die Anfrage, er möge auf »Can you hear me?« antworten: »just yes or no, can you hear me, just yes or nothing.« (S. 25); das wäre sehr Verschiedenes: Wenn nichts (»nothing«) zu hören ist, ist über »yes or no« des Hören-Könnens nicht entschieden. Willies: »Sucked up?« (S. 34) wiederholt Winnies Frage. Auf eine der vielen und oft wiederholten Fragen Winnies: »What is a hog exactly?«, all of the sudden die Auskunft Willies: »Castrated male swine. […]. WILLIE opens newspaper, hands invisible.« (S. 47) Mit dem Wort »formication« ›macht‹ Willie einen billigen Witz (S. 29/30, vgl. S. 43): »Winnie mistakes the comment, ›Formication‹ [zur Eier transportierenden Ameise], for a sexual reference (as no doubt most of the audience does).« (Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 40) In Happy Days, S. 15, (3x) 16/17, 20, 30, 45, 48. Agamben zufolge »ist die Geste in ihrem Wesen«, die sich in ihrem »Mittel-Sein […] unterbricht und allein so dabietet«, »immer gag im eigentlichen Sinne des
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Wortes, das zunächst etwas bezeichnet, das in den Mund gesteckt wird, um am Sprechen zu hindern« (Agamben, Giorgio: »Noten zur Geste«, in: ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg i. Br., Berlin 2001, S. 53 – 62, hier: S. 61). Duck Soup, 00:21:50 – 00:24:00, noch mal 00:32:20. In Beckett: En attendant Godot (1952, Uraufführung 1953 in Paris) zwischen Vladimir und Estragon mit dem zurückgebliebenen Hut Luckys: »Vladimir – […] (Il rannasse le chapeau de Lucky, le contemple, le redresse.) Ça devait être un beau chapeau. (Il le met à la place du sien qu’il tend à Estragon.) Tiens. […]. (Estragon prend le chapeau de Vladimir. Vladimir ajuste des deux mains le chapeau de Lucky. Estragon met le chapeau de Vladimir à la place du sien qu’il tend à Vladimir. Vladimir prend le chapeau d’Estragon. Estragon ajuste des deux mains le chapeau de Vladimir. Vladimir met le chapeau d’Estragon à la place de celui de Lucky qu’il tend à Estragon. Estragon prend le chapeau de Lucky. Vladimir ajuste des deux mains le chapeau d’Estragon.Estragon met le chapeau de Lucky à la place de celui de Vladimir qu’il tend à Vladimir. Vladimir prend son chapeau. […] Estragon tend le chapeau de Vladimir à Vladimir qui le prend et le tend à Estragon qui le prend et le tend à Vladimir qui le prend et le jette. Tout cela dans un mouvement vif.)/ Vladimir. – Il me va?« (Paris 1952, S. 101/102). Eine mögliche Vorlage ist auch: ›Hüte probieren‹ von drei Commedia dell’Arte-Figuren (in Commedia dell’Arte, hrsg. von Esrig, S. 246/247). Vgl. Agamben: Pulcinella, S. 50 – 53. Das Zeitungs-Blättern wiederholt sich (vgl. S. 45– 48), und wiederholt ist »arrests gesture«: etwa »to put it [hat] in bag« (S. 48), »about to put revolver in bag she arrests gesture and turns back front« (S. 45). Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 54/55. Agamben zufolge nehmen Spässe die Handlung, die sie ausführen, »zugleich« zurück (Pulcinella, S. 71); die des Harlekin »vergessen« »vergnügt ihren Zweck«: machen »einen alten Gebrauch unwirksam«, indem sie mit ihm »spielen« (Agamben: Profanierungen, S. 84/85); »Mittel ohne Zweck« auf der »Schwelle« zögernd (S. 84) sind Agamben zufolge die Gesten (»Noten zur Geste«, S. 60/61). Bergson: Das Lachen, S. 99 [Hvhg. i. O.]; »die Geste entzieht sich dem Bewußtsein, sie ist automatisch […]; in der Geste drückt sich ein isolierter Teil der Person aus, und zwar ohne deren Wissen oder doch zumindest außerhalb ihrer Totalität.« (ebd.) Tartuffe »finden« »wir« »erst komisch, wenn wir uns auf seine Gesten konzentrieren.« »Komisch […] ist das, wodurch ein Mensch sich unbewußt preisgibt, es ist die unwillkürliche Gebärde, das unbedachte Wort.« (S. 100/101) So Bergson bez. »der Gebärden eines Redners«, mit der Unterstellung: »Ein Gedanke […] [n]ie bricht er ab, nie wiederholt er sich. Jeden Augenblick muß er sich ändern, denn sich nicht mehr ändern heißt nicht mehr leben. Ebenso lebendig sei daher die Gebärde! Sie gehorche der Grundregel des Lebens und wiederhole sich nie! Doch was geschieht stattdessen? Jene Bewegung des Arms oder des Kopfes, immer dieselbe, kehrt sie nicht regelmäßig wieder? Falls ich dies als Zuhörer bemerke, falls es genügt, um mich abzulenken, falls ich unwillkürlich auf die Bewegung warte, und sie kommt, wenn ich sie erwarte – dann muß ich wider Willen lachen. Weshalb? Weil ich jetzt einen Mechanismus vor mir sehe, der automatisch arbeitet. […] Es ist Komik.« (Ebd., S. 29): »wo wir aufhören, wir selber zu sein«, in dem, »was an unserer Gestik monoton, mechanisch und folglich unserer lebendigen Persönlichkeit fremd ist«, bzw. wenn wir »den Teil Automatismus, der sich in ihm festgesetzt hat, von seiner Person abtrennen« (S. 29/30). Wie bereits vermerkt (s. o. Endnote 43) ist nicht Bergsons Unterstellung der Entgegensetzung von Mechanismus und lebendigem Leben des (bewussten?) Subjekts zu halten, sondern dieses ist untrennbar vom ihm fremden Automatismus, das Subjekt ist nicht mit sich eins, und das Komische treibt die Spaltung, die Inkonsistenz im Subjekt als Fremdes, auch »unwillkürlich« »unbewußt[em]« hervor (S. 100; vgl. Zupančič: Der Geist der Komödie, S. 137, S. 139 – 143). Vielmehr »the one reduced to a quasi-automaton singing the mechanical song of a music, the other, a pratfalling clown« (Carey: »The Ritual of Human Techné in Happy Days«, S. 149). ›Unlesbar‹, »auf der Schwelle« (Agamben, Profanierungen, S. 66, 84); »in der Schwebe« (ders., »Noten zur Geste«, S. 61).
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In »an awkward position for a brief tableau« (Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 55). Die Unterbrechung (durch den Eintritt eines Fremden) macht ›verfremdend‹ ein »›Tableau‹, wie man um 1900 zu sagen pflegte«, so Benjamin zum Brechtschen Theater (Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht« (1931, Abdruck in Frankfurter Zeitung durch den Redakteur verhindert), in: GS Bd. II, S. 519 – 531, hier: S. 522; sowie: »Was ist das epische Theater?« (1939 anonym in Maß und Wert 2/6 publiziert), in: GS II, S. 531 – 539, hier: S. 535). Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1931), S. 521; »Was ist das epische Theater?« (1939), S. 536 – 39. Diese Texte werden hier nur partiell beigezogen; für eine Lektüre im wörtlichen Detail, vgl. Menke, Bettine: »Gesture and Citability: Theater as Critical Praxis«, in: Söntgen, Beate et al. (Hrsg.): Critical Stances. The Stakes of Form, Berlin 2020, S. 261 – 295; deutsche Fass. »Geste und Zitierbarkeit, der Anhalt der Kritik und Theater als kritische Praxis«, https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/ literaturwissenschaft/professuren/allgemeine-und-vergleichende-literaturwissenschaft/lehrende/prof-dr-bettine-menke: Vorabveröffentlichungen. Ihre Bestimmtheit ist in Happy Days je äußerlich: »hand up in gesture of raising a glass« (S. 24); Willies »hairy forearm appears above slope, raised in gesture of giving, the hand open to take back, and remains in this position till card is returned.« (S. 18, vgl. 19); »gesture to lay down spectacles« (zweimal S. 30); oder auch: »ample gesture of arms« (S. 38), und ›reines‹ »– gesture –« (S. 44 u. 33). Vgl. Agamben: »Noten zur Geste«, S. 59 – 62. Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1931), S. 529; (1939), S. 536. Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1931), S. 521 – 523. Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1939), S. 535/536. Ebd. Benjamin: »Bert Brecht«, GS II, S. 660 – 676, hier: S. 662 (mit Brecht-Zit.). Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1931), S. 529; (1939), S. 536. »Plötzlich tritt da ein Fremder ein.«, »mittels Unterbrechung von Abläufen« »entdeckt« das Theater »Zustände« (das heißt auch Benjamin »›Tableau‹«, »Was ist das epische Theater?« (1931), S. 522; (1939), S. 535). »Der Zustand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand«, die aus der »Geste selbst«, keine »unteilbare Einheit«, hervorgeht ((1931), S. 530). Vgl. Weber, Samuel: »Introduction«, in: ders.: Theatricality as Medium, S. 7, 22. Dazu gehören die Wiederholungen: »doing it over and over again«, in »the rehearsal process«, das waren auch die der »gestures«, so Fehsenfeld bez. Happy Days (»From the Perspective of an Actress/Critic«, S. 51 – 53). »Night after night, the same events occur on stage. […] they never seem to learn. Oedipus will return again tomorrow, sight restored, and blunder through the same dramatic ironies, […]. Winnie-Willie, Clov-Hamm, Didi-Gogo will reappear tomorrow as they did today, as they did yesterday. […] the characters’ consciousness of their medium is […] an attack on the artificial theater of illusion, on the suspension of disbelief. […] consumed parasols reappearing are not only incongrously comic, but […] freing […] from theatrical realism and its […] obligation to explain and make plausible.« (Gontarski: Beckett’s Happy Days, S. 48) »[T]hat all seems strange. (Pause.) Most strange. (Pause.) Never any change. (Pause.)« (Happy Days, S. 45), wiederholt: »Strange feeling. (Pause. Do) Strange feeling that someone is looking at me. […] back and forth, in and out of someone’s eye. (Pause. Do) Strange? (Pause. Do) No, here all is strange. (Pause. Normal Voice)« (S. 40). Die Intervention von the bell signalisiert das Gesehenwerden: wenn Winnies Augen zufallen, »Bell rings loudly« (Happy Days, S. 49, 51, 58, 64). »Someone is looking at me still. (Pause.) Caring for me still. (Pause.) That is what I find so wonderful. (Pause.) Eyes on my eyes« (S. 49/50). »Those are our eyes!« kommentiert Gontarski (Beckett’s Happy Days, S. 48). »In Act II of Happy Days, not only has Winnie returned to play her part for the audience, the audience has returned from the lobby to play its part for Winnie« (S. 47). Mit Mr. Shower und Cooker macht der Text einen mehrsprachigen Namens-pun (S. 41/42), den Beckett auf die deutschen Wörter Schauer und Gucker bezog (dt. übersetzt sind die beiden aber anders).
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hidden, besides, behind (Willie emerging)
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Vgl. Happy Days, S. 45; vgl. S. 21, 35, 44/45, 46, 47 u. 56. »But no. […] Not now. […] No no. […] What now? […] What now« (S. 54) »No. […] Not here. […] Not now.« (S. 56); »One says, Now is the time, it is now or never, and one cannot.« (S. 57) Zudem Happy Days, S. 53; jede Wiederholung ermöglicht/erfordert eine andere Intonation. Außerdem: »happy chance« (S. 52, 60), »Another heavenly day« (S. 8), »golden day« (S. 24). Carey zählt 8-mal (»The Ritual of Human Techné in Happy Days«, S. 146). Dieser so erfolgreiche Song (s. o. Endnote 48) musste als ›Anti-Depressionssong‹, als Hymne des Präsidentschaftswahlkampfs von Franklin Delano Roosevelt auf das (mögliche) Kommende vorgreifen. Vgl. Schuck, Peter: »Spuren der Zeit. Zur Medialität der Unterbrechungen in Samuel Becketts Happy Days«, in: Schäfer/Kröger (Hrsg.): Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing, S. 47 – 73, hier: S. 71/2. Benjamin: »Was ist das epische Theater?« (1931) S. 529, (1939) S. 536. So modelliert Benjamin auch die barocken Trauerspiele dadurch, »daß die Situationen nicht allzu oft, dann aber blitzartig wechselten wie der Aspekt des Satzspiegels, wenn man umblättert« (Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 361). Zur Schriftlichkeit der Pausen vgl. Schuck: »Spuren der Zeit«, S. 48 – 58, 68/69. Das verhandelt René Polleschs Und jetzt? gerade, in der Spielzeit 2022/23 an der Volksbühne (Berlin). Oder erst nachdem sie (sich selbst) auffordert: »Begin, Winnie. (Pause.) Begin your day, Winnie. (Pause.)«? (S. 8). Mit dashes: »(Pause.) And now? (Long Pause. Starts putting things back in bag, toothbrush last. This operation, interrupted by pauses as indicated, punctuates following.) It is perhaps a little soon – to make ready – for the night – (stops tidying, head up, smile) – the old style! – (smile off, resumes tidying) – and yet I do – make ready for the night – feeling it at hand – the bell for sleep – saying to myself – Winnie – it will not be long now – Winnie – until the bell for sleep. (Stops tidying, head up.)« (S. 44). Zu den schriftlichen Lesepausen, die Lesezeiten inszenieren, vgl. Schuck: »Spuren der Zeit«, S. 49 – 52. Der »clown und fool« ist »›den Personen des Stücks oft sehr lästig‹«: »›die verkörperte Idee der Parodie, die, als solche, ja unsterblich ist‹«, die diese »›schlechthin nicht los werden.‹« (Franz Horn, zu den Haupt- und Staatsaktionen, zit. in Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 303/304, vgl. S. 302 – 306, 262). Sie inhäriert diesen Schauspielen gleichsam eingefaltet, in »Miniaturen« wie oder als ein Puppen- oder Marionettentheater. Die »Harlekinaden«, die »hauptsächlich aus ›Parodien auf die ernsthaftesten Stücke‹« bestanden, die neben-sprechend »das, was einfach und ernst ist«, »zweideutig und unernst« machen, da sie Theater ›nachahmen‹ und dieses daher exponieren (Wild: Theater der Keuschheit, S. 251 – 253). Miller: »The Critic as Host«, dt. zit. nach Genette: Paratexte, S. 9. Das ästhetisch dignifizierte Drama soll paradoxerweise an den vorgelegten Text binden, alles Extemporieren, Improvisieren ausschließen und zugleich die Schriftvorlage vergessen machen, vgl. Menke, Bettine: »Maschine und Melodram. Wie Tiecks Der gestiefelte Kater das Theater vorführt«, in: Menke, Bettine/ Struck, Wolfgang: Theatermaschinen – Maschinentheater. Von Mechaniken, Machinationen und Spektakeln, Bielefeld 2022, S. 231 – 257, hier: S. 255 – 257, zugleich OA (https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/42/12/33/oa9783839453148. pdf).
Einleitung: Figurationen Der Titel dieses Tagungsbands scheint, wenn er spezifisch nach den Nebenfiguren fragt, eine unausgesprochene Voraussetzung zu haben: die nämlich, dass der zweite Bestandteil des Kompositums, »Figuren«, mindestens für die versammelten Beiträge klar definiert sein sollte. Durchkreuzt wird eine solche Definition indes nicht nur durch die Bandbreite kultur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen, in denen die Beiträge zu verorten sind, sondern auch durch die prozessuale, performative Dimension des Figurenbegriffs, die gerade in jüngeren Publikationen immer wieder akzentuiert worden ist.1 Vor diesem Hintergrund den Begriff der Figurationen ins Spiel zu bringen, bedeutet folgerichtig, gerade die Figurenwerdung, sprich: die Prozesse, die eine Figur allererst hervorbringen und intelligibel machen, ins Zentrum von Beschreibung und Analyse zu stellen. Figurationen in Augenschein zu nehmen, soll darüber hinaus auch die Pluralität von Figuren (und ihrer Genese) sowie die wechselnden Besonderheiten in den szenischen Arrangements mehrerer Figuren herausstreichen. Damit geht die Frage einher, wie Figuren konstelliert sind und welchen Konventionen der Anordnung sie unterliegen – also die Frage, wie Nebenfiguren (kon-)figuriert sind. Figurationen, wie sie in den drei nachfolgenden Beiträgen aus der Medien-, Literatur-, Tanz- und Musiktheaterwissenschaft rekonstruiert und analysiert werden, besitzen das Potenzial, das schiere Konzept von Nebenfiguren und damit die Validität einer klar hierarchisierten Anordnung von Figuren generell infrage zu stellen. In Friedrich Balkes Text geschieht dies zunächst begriffsgeschichtlich entlang der Forschungen Erich Auerbachs, um dessen Konzeption der figura für die Medienwissenschaft zu operationalisieren. Insbesondere die semantischen Dimensionen von Bewegung und Verwandlung werden nicht zuletzt im Sinne einer Prozessualität der Figur betont, um sie, anhand einer Analyse von Sigmund Freuds Lektüre von Wilhelm Jensens Gradiva, mit Akteur-Netzwerk-Theorien in Beziehung zu setzen. In diesem Zusammenspiel werden zum einen vermeintlich gesicherte Topoi wie Reproduktion und Nachbildung hinterfragt, zum anderen eine Handlungsmacht der Dinge konturiert, was den Begriff der Figur aus seiner anthropozentrischen Umklammerung löst und sich damit auch auf die Verfasstheit der Kategorie »Nebenfigur« auswirkt. Ebenfalls mit einem begriffsgeschichtlichen Überblick zur Figur eröffnet Katja Schneiders Beitrag, hier nun im Kontext der tanzwis-
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Einleitung: Figurationen
senschaftlichen Forschung. Steht im Nukleus des Tanzes ohnehin die Frage nach Bewegung, wird Figuration bereits seit längerer Zeit in einem Spannungsverhältnis zur Figur gedacht, insbesondere was historische Konventionen und deren Destabilisierung durch jüngere Entwicklungen des Tanztheaters und der Performance betrifft. Im postmodernen und im aktuellen Tanz(theater) wird die Kategorie der Nebenfigur zunehmend zugunsten einer programmatischen Dezentrierung von Ensembles unterminiert. Schneider verfolgt diese Entwicklung anhand einer Reihe von Fallstudien und stellt abschließend die Frage, inwieweit das Publikum gerade angesichts partizipativer Ästhetiken selbst als Nebenfigur zu fassen sein könnte. Mit einer solchen möglichen definitorischen Ausweitung radikalisiert sich auch das Potenzial des Begriffs der Figurationen. Im Kontext des Hybrids von Musiktheater, Oper und Tanztheater beschreibt und analysiert der Beitrag von David Levin die komplexen Figurationen in Anne Teresa De Keersmaekers Inszenierung von Mozarts Oper Così fan tutte. Hier steht die programmatische Doublierung aller zentralen Figuren – Gesang zum einen, Tanz zum anderen – im Mittelpunkt und mit der Doublierung auch die Frage, welche Figur und welche Kunst hier der jeweils anderen sekundiert, während wiederum das Bühnenbild Bewegungsmuster illustriert. Mit der Begriffsschöpfung der Nebenfiguration reagiert der Aufsatz auf diesen konzeptuellen Einsatz, ohne dass noch eine ›Hauptfiguration‹ als Gegenüber auszumachen wäre. Schließlich gerät für Levin auch die ›Verdopplung‹ der Inszenierung durch ihre Veröffentlichung qua DVD in den Fokus und wird hinsichtlich der audiovisuellen Blicklenkung und der dadurch möglichen Re-Installierung einer Hierarchie von Haupt- und Nebenfiguren problematisiert. Mit Levin ließe sich somit fragen, ob die ausgeweiteten und dynamisierten Handlungsspielräume der (vormaligen) Nebenfiguren, wie sie medien- und akteurtheoretisch bei Balke oder in Anbetracht der Zerstreuung der Figuren im Tanztheater bei Schneider konzipiert sind, in effigie, also durch die medialen Eigenheiten und Übertragungsformen der Kamera, nicht auch wieder zur Disposition gestellt werden können. Wenn die Analyse der Figur mit der Betonung der Figuration auf eine offene Genese abzielt, impliziert dies nicht notwendigerweise eine anhaltende Stabilität des Prozesses der Destabilisierung. 1
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Vgl. z. B. Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration: Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000; Boehm, Gottfried/Brandstetter, Gabriele/von Müller, Achatz (Hrsg.): Figur und Figuration: Studien zu Wahrnehmung und Wissen, Paderborn 2007.
Friedrich Balke
Unter dem Einfluss der Figur: Die Arbeit der Verschiebung in Jensens Gradiva und Freuds Kommentar Figura nach Auerbach
Erich Auerbach zeigt in seinem Figura-Essay, dass »Figura« im exegetischen Kontext des frühen Christentums die Bedeutung von praefiguratio annimmt. Im Kontext der kirchenväterlichen Debatten um das Verhältnis des Alten zum Neuen Testament bezeichnet Figura eine Interpretationsstrategie, die darauf abzielt, »die im Alten Testament auftretenden Personen und Ereignisse als Figuren oder Realprophetien der Heilsgeschichte des Neuen zu deuten«1. Diese Figuraldeutung läuft Gefahr, das Gedeutete zu depotenzieren oder dem Deutungsinteresse unterzuordnen und es nicht in seinem Eigensinn zu würdigen. Die exegetische Strategie verwandelt die Figuren des AT in gewisser Weise zu Nebenfiguren: Sie sind nichts (mehr) aus eigenem Recht, aber werden dennoch gebraucht, denn sie gewinnen ihre Funktion durch ihre Fähigkeit, das eigentliche Geschehen anzukündigen und es mit einer prophetischen Legitimation zu versehen. Deshalb stellt Auerbach in einem Nachsatz fest: »Dabei ist zu beachten, daß Tertullian ausdrücklich es ablehnt, die wörtliche oder geschichtliche Geltung des Alten Testaments durch die Figuraldeutung zu entkräften.«2 Auerbach stellt nun den theologischen Refunktionalisierungen der Figura Überlegungen voran, die die Figura um Aspekte der Figuralität erweitern, die aus theologischer Perspektive nebensächlich erscheinen mögen, aus medienwissenschaftlicher Sicht aber höchst aufschlussreich sind. Auerbach attestiert der antiken und späthellenistischen Figura eine »Expansionsneigung«3, die sie insbesondere von der forma unterscheide. Die lateinische figura unterscheide sich von der forma dadurch, dass sie nicht auf eine »Modellvorstellung« (Urbild, Archetypus etc.) reduzierbar ist, sondern immer dann Verwendung findet, wenn im Griechischen schema steht. Schema – zu unterscheiden von dem, was wir das Schematische nennen – bezeichnet zunächst die Tendenz der Figura, sich von der optischen Dimension zu lösen und auf medial sehr differente Verhältnisse übertragbar zu werden: Neben das »Plastische«4 der Figura – so wichtig es auch als Ausgangsvorstellung gewesen sein mag und so wenig es sich
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Unter dem Einfluss der Figur
je völlig verliert – trete damit »ein weit allgemeinerer Begriff der sinnlichen Erscheinung und der grammatischen, logischen, mathematischen Form, ja später auch der musikalischen und choreographischen«5. Diese Expansionsneigung der Figura lässt sich als ihre Übertragbarkeit fassen. Figura »greift über«, so Auerbach, nämlich »in das Gebiet von statua [Statue], ja von imago, effigies, species, simulacrum (Bildnis, Wachsbild, Erscheinung, Trugbild)«6. Die Begriffe, die Auerbach hier anführt, bezeichnen Bildtypen, denen ein prekäres Wirklichkeitsverhältnis eigen ist: Was hier jeweils zur Erscheinung gelangt, kann sich immer als eine Täuschung herausstellen. Auerbach spricht nirgendwo von »Nebenfiguren« – aber gemessen an der späteren massiven (geschichts- beziehungsweise heils-)theologischen Rezentrierung der Figurakonzeption lässt sich sagen, dass die antike Konstellation die Figura in lauter ›Nebenfiguren‹ auflöst, also ihre grammatischen, logischen, mathematischen, musikalischen und choreografischen Dimensionen auffächert, die im Kontext des Christentums von der heilsgeschichtlichen Präfigurationsfunktion überlagert werden.7 Bewegung und Verwandlung sind die entscheidenden Kollateralbegriffe,8 die Auerbach der figura hinzugesellt, um sie von der forma und einer Materie zu unterscheiden, die sich damit zu begnügen hat, die forma zu verkörpern. Mit anderen Worten: Figura bezeichnet bei Auerbach den Vektor einer Entkörperung, wie noch deutlicher wird, wenn seine Untersuchung von Aristoteles zum unverhohlenen Materialisten Lukrez übergeht. Lukrez erhält in Auerbachs Begriffsgeschichte den Status eines interessanten Ausnahmefalls: Er verwende Figura »auf eine höchst eigentümliche, freie und bedeutende Art«,9 die in der Verstärkung ihrer Übertragbarkeit und damit ihrer Ablösung von einem Ursprungssinn, der ihre Bedeutung festhalten könnte, bestehe. Unter dem Einfluss der Figur: Freuds Gradiva
Zwischen den Blick und den Gegenstand, auf den er gerichtet ist, schieben sich im Materialismus eines Demokrit und Lukrez die »Häutchen« und »Filme«, die »Eidola«, die Bildchen, denen zwar die Würde und der Seinsanspruch des eidos beziehungsweise der (platonischen) Idee versagt bleiben, die aber dennoch ihr (Un-)Wesen treiben, indem sie, wie sich Auerbach ausdrückt, geisterhaft »in der Luft umherstreifen«.10 Zu Traumbildern, Fantasiegestalten und, wie sich noch erweisen wird, zu Nebenfiguren können sie aber auch auf ganz andere Weise werden, wie ich an Freuds Text »Der Wahn und die
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Unter dem Einfluss der Figur: Freuds Gradiva
Abb. 1: Die drei Töchter des Kekrops, Rom, Vatikanische Museen
Abb. 2: »Gradiva«, Fragment des sogenannten Aglauriden-Reliefs, Gipsabdruck
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Unter dem Einfluss der Figur
Träume in W. Jensens Gradiva« von 1907 zeigen möchte. Freud kommentiert eine Erzählung, in der sich von einer Figur etwas ›abschält‹, das sich in der Tat als Traumbild, Fantasiegestalt oder Schatten des Toten verstehen lässt, nach dem gleichen Muster, das Auerbach mit Bezug auf die »besondere Abwandlung«, welche die Figura bei Lukrez erfahre, feststellt.11 Der Gradiva-Text Freuds gewinnt im Zusammenhang mit der Figura-Problematik vor allem deshalb eine Bedeutung, weil hier die von Auerbach so betonte plastische Dimension der Figura in den Mittelpunkt tritt und zugleich zum Anlass einer intensiven Fantasietätigkeit wird. Die Erzählung Wilhelm Jensens, die 1903 als selbstständige Buchpublikation erschien, ist zunächst einmal ein Text über ein steinernes Kunstwerk, genauer: über ein römisches Reliefbild, noch genauer: über die kunstgewerbliche Replik dieses Reliefbilds. Der Protagonist der Erzählung, ein gewisser Dr. Hanold, Privatdozent für Archäologie, kultiviert seine Obsession an einem »vortrefflichen Gipsabguß«12 des Reliefbilds, das er in einer der großen römischen Antikensammlungen entdeckt hatte (Abb. 1). Die Gradiva ist auf prägnante Weise eine Nebenfigur, und das in einem zweifachen Sinne. Zunächst ist daran zu erinnern, dass sie selbst, so wie sie die Gipsabdrucke zeigen, eine Nebenfigur ist, die als solche in spezifischer Weise unkenntlich gemacht wurde, um sie auf diese Weise als eine Hauptfigur zu inszenieren. Es handelt sich bei ihr nämlich um ein Teilstück, das Fragment eines mehrteiligen Reliefkorpus, das man bei Ausgrabungsarbeiten auf dem Forum Romanum zutage gefördert hatte. Die Gradiva gehört zum sogenannten Aglauriden-Relieffragment, das Aglauros, Pandrosos und Herse zeigt, die drei Töchter des Kekrops, des Gründers Athens. Aglauros-Gradiva, die die Reihe anführt, ist die einzige der drei Schwestern, die vollständig erhalten geblieben ist. 1903, im Erscheinungsjahr der Novelle Jensens, gelang die Rekonstruktion des Reliefs durch die Zusammenführung von Fragmenten, die auch heute noch über verschiedene Museen verstreut sind.13 Aber die Reproduktionsindustrie und Jensens Erzählung kapitalisieren den Gradiva-Effekt, verwandeln den am Relief entstandenen Schaden in einen ästhetischen Vorteil: »Auf dem Umschlag der Buchausgabe der Gradiva von 1903 ist denn auch vom fragmentarischen Zustand des Reliefs nichts zu bemerken.«14 (Abb. 2) Diese figurale Isolierung wird zudem durch den Akt einer fiktiven Namensgebung verstärkt, die Aglauros in ein anderes Register einträgt, das ihre mythologische Funktion überschreibt und
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Unter dem Einfluss der Figur: Freuds Gradiva
unkenntlich macht. Dass man Aglauros zukünftig Gradiva nennen wird, ist vielleicht die nachhaltigste Wirkung, die von Jensens Erzählung ausgehen wird, die innerdiegetisch von der Idee angetrieben wird, diesen Namen durch einen anderen, ›wahreren‹ Namen zu ersetzen. Weil Jensen im Rahmen der realistischen Poetik, der sein Schreiben gehorcht, weiß, dass die »Fiktion innerhalb einer Kultur das [darstellt], was die Historiographie als Irrtum einsetzt«15, organisiert er den narrativen Prozess als eine quasihistoriografische beziehungsweise biografische Aufklärungsarbeit, die seinen Protagonisten und seine Leser am Ende erkennen lassen soll, warum es sich bei Gradiva um einen (hartnäckigen) »Irrtum« handelte und wie dieser entstehen konnte. Gradiva, Jensens Erzählung, »bezieht ihre Autorität daraus, als Zeuge dessen angesehen zu werden, was ist oder gewesen ist.«16 Eine Nebenfigur ist die in Gradiva umbenannte Aglauros dann aber, zweitens, in dem Sinne, dass das Relief in der Erzählung Jensens über eine eigene Handlungsmacht verfügt, wenn es auch offensichtlich unbelebt ist: Obwohl die Gradiva einem sie überschreitenden figuralen Zusammenhang angehört, löst sie sich von dieser Konfiguration ab, um eine ihr eigentlich nicht zustehende, störende und verstörende, unheimliche Wirkung zu entfalten – unheimlich mit Blick auf die Familiarisierung der Gipsfigur, deren Ort nicht etwa ein Museum, sondern das Zuhause eines Privatdozenten ist. Der Gipsabguss hing nun schon seit einigen Jahren an einem bevorzugten Wandplatz seines sonst zumeist von Bücherständern umgebenen Arbeitszimmers, sowohl im richtigen Lichtfall als an der, wenngleich nur kurz, von der Abendsonne besuchten Seite.17 Die Figur steht neben den Bücherständern, aber sie ist so angebracht, dass sie im Rahmen des Arbeitszimmers Wirkungen entfaltet, die denen einer musealen Präsentation gleichkommen: Neben dem regulären Lichtfall hat ihr Besitzer auch an special effects gedacht, wie an der Berücksichtigung der Abendsonne deutlich wird. Zu den wesentlichen Funktionen der Gradiva gehört es, »zu fokussieren, zu indizieren, Blicke und Aufmerksamkeit auszurichten, die Rezeption einer Anordnung, eines Arrangements oder eines Ablaufs zu steuern«18. Die Rezeption geht im Fall von Jensens Erzählung aber über Akte der (gelehrten) Betrachtung hinaus: Eine steinerne Gipsfigur verlässt die Ordnung des Repräsentationalen, sie hört auf, eine bloße Semiophore,19 ein Zeichenträger zu sein, der nur existiert, um ange-
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Unter dem Einfluss der Figur
schaut zu werden, und steuert das Verhalten dessen, der die Figur sein eigen nennt und der doch in Wahrheit mehr ihr gehört als sie ihm. Diesen Einfluss übt sie in einem Maße aus, das Freud als wahnhaft bezeichnet, während Jensen im Untertitel seiner Erzählung lediglich von einer »Phantasie« spricht und damit die Autorität des klinischen Diskurses als Interpretationsrahmen für das ungewöhnliche Verhalten seines Protagonisten zurückweist.20 Gradiva erzählt die Geschichte eines Archäologen, der von einem (billigen) Artefakt, der Replik eines Kunstwerks, so beeindruckt, beeinflusst oder eben gesteuert wird, dass er sein Leben ändert. Und das, obwohl Dr. Hanold, der immerhin »Dozent der Archäologie«21 ist, es schon von Berufswegen eigentlich besser wissen müsste. Der gelehrte Protagonist der Erzählung glaubt an Gradiva22 – was Freud dazu veranlasst, die Frage nach der affektiven Bindungswirkung von Artefakten oder Dingen aufzuwerfen, anders gesagt: von Figuren, die allenfalls den Status von Staffage oder Dekor beanspruchen dürfen. Freud stellt diese Frage auch deshalb so nachdrücklich, weil er selbst sich in besonderer Weise an solche Artefakte gebunden fühlte, wie unter anderem seine regelmäßigen Besuche beim Moses des Michelangelo in der römischen Kirche S. Pietro in Vincoli belegen. Wichtiger als die berühmte Deutung, die Freud der Monumentalstatue widerfahren lässt, ist das Eingeständnis, dass er einem Zwang folgt, das Kunstwerk wieder und wieder aufzusuchen und sich dem zornigen Blick des Moses auszusetzen. Damit schreibt Freud seine eigene künstlerische Erfahrung in die Struktur des Wiederholungszwangs ein und markiert den pathologischen Anteil an der ästhetischen Rezeption.23 Kunstwerke, so Freud 1914 in seinem Moses des Michelangelo, »üben eine starke Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien«; und er fügt hinzu: »Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten vor ihnen zu verweilen« – und zwar vor allem dann, wenn großartige Beispiele solcher Werke »unserem Verständnis dunkel geblieben sind« – trotz aller Bemühungen um wissenschaftliche Aufklärung. »Was uns so mächtig packt«, schreibt Freud, ist eben das Rätsel, das uns bannt, aber zugleich keineswegs untätig bleiben lässt.24 Genau dies, also von einem Objekt mächtig »gepackt« zu werden, kennzeichnet auch den sehr anders gelagerten Fall, der Freud in seinem Gradiva-Kommentar beschäftigt. Dort ist es zwar keine hervorragende Kunstschöpfung, die ihren Betrachter in den Bann zieht, wohl aber teilt der Privatdozent mit Freud das Gefühl der Überwältigung und den beharrlichen Willen, diesen Affekt aufzuklären.
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Unter dem Einfluss der Figur: Freuds Gradiva
Die Gradiva gehört zur Staffage der häuslichen Umgebung des Gelehrten und gewinnt dennoch ein figurales Surplus, das die legitimen Formen der Bewunderung und Faszination überschreitet. Dieses figurale Surplus ist als »Arbeit der Verschiebung«25 zu verstehen, die Georges Didi-Huberman in einem Text über Jahrmarktfiguren und ihre Herausforderung für die Kunstgeschichte beschrieben hat: »Haben nicht die schönsten kunsthistorischen Arbeiten immer von Bildern gehandelt, die die traditionelle Wissenschaft nicht mehr als ihren Gegenstand ansah, nicht etwa, weil dieser Gegenstand verschwunden war, sondern weil er im Zustand der Wiederkehr existierte«,26 im vorliegenden Fall also: als billige Gipsfigur, die dem Kunstwerk ein Nachleben beschert, das ihm an seinem ›eigentlichen‹ Ort, dem Museum, verweigert wird. Ein steinernes Bild, das ein künstlich-künstlerisches Objekt ist und seinen Platz im Arbeitszimmer des Protagonisten hat, ›verlässt‹ diesen Ort und nimmt – zunächst in Gedanken und Spekulationen, dann aber durch eine Reise des Protagonisten nach Pompeji – zunehmend Eigenschaften einer Person an. Die affektive Transformation, die die Figur bewirkt, übersetzt sich in eine räumliche Translation. Die Gradiva wird aktiv, genauer: Sie aktiviert und gewinnt eine ihr nicht zustehende Handlungsmacht. Das Vokabular der Akteur-Netzwerk-Theorie drängt sich auch deshalb auf, weil Bruno Latour die zentrale Frage seines Ansatzes knapp so formuliert: »Wie kann man jemanden dazu bringen, etwas zu tun?«27 Klassische Handlungstheorien, wie sie die Soziologie entwickelt hat, sind für die Beschreibung von Handlungszusammenhängen unzureichend, weil sie bestimmte Akteurstypen privilegieren, anders gesagt: weil sie einen Kurzschluss zwischen Akteur und Mensch produzieren. Jensens Gradiva ist im Kern eine Auseinandersetzung mit der »modernen Verfassung«, die auf der Trennung zweier ontologischer Zonen beruht, »die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits«28. Jensens Gradiva ist im Sinne Latours ein Hybrid, der diese »Große Trennung«29 unterläuft. Die Erzählung zeichnet die komplexen Verwicklungen nach, die aus der Unfähigkeit ihres Protagonisten resultiert, diese große Trennung aufrechtzuerhalten und die Verwirrung der Zeiten zu vermeiden. Dass die Erzählung zugleich das, was sie vermischt, wieder aufzulösen bestrebt ist und in eine Perspektive mündet, in der erneut klar zu sein scheint, wo die Grenze verläuft zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, dem »Gelärm der Großstadt«, in der Dr. Hanold von der Gradiva träumt, und Pompeji, in der er sie situiert,
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ändert nichts daran, dass ihr diese ontologische Restauration, wie sich zeigt, keineswegs vollständig gelingt. Handlungstheorien sind also dann unzureichend, wenn sie immer schon zu wissen vorgeben, wer in die Position des Akteurs einrücken kann und wer nicht. Eine ganze Reihe von komplexen Operationen, die Latour »Mittler«30 nennt, konstituieren in ihrer Gesamtheit Jensens Narration. Was den Protagonisten Dr. Hanold alles zum Handeln bringt, ist dementsprechend auch nicht einfach mit einem Blick auf die Gradiva-Figur zu beantworten, sondern durch die minutiöse Aufzählung all der Schritte, die er unternimmt, um die Figur als Co-Akteurin zu konstituieren. Anders formuliert: Bevor sie in der Lage ist, etwas mit ihm zu tun, also Handlungsqualität zu gewinnen, muss zunächst etwas an ihr ›getan‹ werden. Das beginnt mit der Aufstellung der Gipsfigur, setzt sich fort in der Namensgebung und den sie begleitenden etymologischen Betrachtungen, den Spekulationen über die vermeintliche Herkunft der Gradiva, der Isolierung der Fußstellung und den wissenschaftlichen Anstrengungen zur Aufklärung ihrer anatomischen Möglichkeitsbedingungen, den Schreckensträumen, in denen Hanold die Gradiva im Jahre 79 n. u. Z. während des Vesuvausbruchs in Pompeji ›sieht‹ und ihr nur mit einem »Warnruf«31 beispringen kann, und es endet mit dem Entschluss, diesen Ort des Traumgeschehens aufzusuchen. Dr. Hanold will Gradiva, die Vorschreitende, in ihrer ›natürlichen‹ Umwelt aufsuchen, dort, wo sie ›wirklich existiert‹ hat und weiterhin, wie er überzeugt ist, existieren kann. »Wo war sie so gegangen und wohin ging sie?«,32 das ist die Frage, die er sich vorlegt. Von der Figura sagt Auerbach: [Ihre] Verbindung mit Worten wie plásis verstärkte die wahrscheinlich schon von Anfang an bestehende, aber nur langsam sich vorarbeitende Expansionsneigung von figura in der Richtung ›Statue‹, ›Bild‹, ›Porträt‹; es greift über in das Gebiet von statua, ja von imago, effigies, species, simulacrum.33 Jensens Erzählung steigert die »Expansionsneigung von figura« ins Unheimliche, insofern der Gipsabdruck zweifellos über die Dreidimensionalität eines »plastischen Gebildes«34 verfügt, aber über das »Gebiet von statua« hinausgeht und ihre eigentliche Handlungsmacht erst dadurch gewinnt, dass Hanold die Körperlichkeit der in Pompeji wiedergefundenen Gradiva fraglich wird.35
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Gradiva beschreibt die komplexen Formen der Verlebendigung dessen, was doch bloß ein in bestimmte Formen gebrachter Stein ist. Obwohl, wie die Erzählung sagt, »an dem Relief nichts sonderlich Beachtenswertes« ist, wird die billige Replik für den Dozenten zum Sinnbild des Lebens selbst – wobei es sich bei diesem Leben um den Inbegriff von etwas äußerst Flüchtigem und Alltäglichen handelt, so als habe der Künstler, der das Relief gefertigt hat, das Mädchen »auf der Straße im Vorübergehen rasch nach dem Leben im Tonmodell festgehalten«.36 In seiner Ausgabe der Erzählung unterstreicht Freud »Leben«. Dieses Leben enthüllt sich für Hanold nicht »durch plastische Formenschönheit«, sondern durch »die Bewegung«, genauer, dadurch, dass das Mädchen im Schreiten sein »niederfließendes Gewand »ein wenig aufgerafft« hat, »so daß die Füße in den Sandalen sichtbar wurden«37. Ein bestimmtes Detail, ein Partialobjekt, eine Nebensache dieser Figur, ihre Füße, und hier wiederum bestimmte Teile der Füße, »Zehenspitzen« und »Sohle« beziehungsweise »Ferse«, erregen die Aufmerksamkeit des Archäologen.38 Auerbach hatte seinem »Figura«-Aufsatz einen etymologischen Hinweis vorangestellt und auf das erste nachweisbare Vorkommen des Wortes bei Terenz hingewiesen: »FIGURA, vom gleichen Stamm wie fingere, figulus, fictor und effigies, heißt nach seiner Herkunft ›plastisches Gebilde‹ und findet sich zuerst bei Terenz, der Eun[uchus] 317 von einem Mädchen sagt: nova figura oris«,39 was sich mit: eine neue oder ungewöhnliche Form des Gesichts übersetzen lässt. Was Terenz in seiner Komödie vom Gesicht eines Mädchens sagt, verschiebt Jensen auf die Besonderheit einer Gangart, die »flugartiges Schweben mit festem Auftreten«40 verbindet. Statt an dieser Stelle, was naheliegt, von Fetischismus zu sprechen und damit das Phänomen vorschnell in eine psychopathologische oder gar psychiatrische Perspektive zu rücken, sollte man, wie es im Übrigen auch Freud tut, der die Grenze »zwischen den normal und krankhaft benannten Seelenzuständen« ausdrücklich als eine »konventionelle« und »fließende« relativiert,41 die Blicksteuerung auf die Techniken der visuellen Isolierung beziehen, die in der Fotografie, aber auch in der Filmtheorie unter anderem von Balázs, Kracauer und Deleuze reflektiert worden sind:42 So interessiert sich Deleuze dafür, wie es bestimmten Filmen gelingt, den Körper oder Teile des Körpers »in eine Zeremonie« einzufügen, »ihn in ein Glasgefäß oder einen Kristall, in einen Karneval oder eine Maskerade« zu versetzen, »die ihn zu einem grotesken Körper macht, aber ebenso seine Anmut und seine Glorie hervortreten läßt.«43 Diese Filme erschöpfen sich in
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»sinnlosen und unentwegt wiederkehrenden Gesten« und steigern sie zu dem, was Deleuze – mit einem auch auf Gradiva zutreffenden Begriff – die »unmögliche Positur«44 nennt. Die Erzählung identifiziert nämlich genau eine solche »unmögliche Positur« als den Kern der Faszination ihres Protagonisten, der in der Folge alle Anstrengungen unternimmt, um die Möglichkeit der »Gangart« der Gradiva auch mit wissenschaftlichen Mitteln zu erforschen. Um die Frage zu beantworten, ob der Künstler »den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe«,45 geht Hanold in drei Schritten vor: zunächst vergleicht er das römische Genrebild mit anderen »Abbildungen antiker plastischer Werke« (1); dann nimmt er einen Selbstversuch vor, das heißt, er ahmt mit seinem eigenen Körper den Gang der Gradiva nach (2); und schließlich legt er das Problem einem befreundeten Anatomen vor (3): Nebenfigur (Gradiva) und Nebensache (die »fast senkrechte Aufstellung des rechten Fußes«46) werden zum Gegenstand einer Hauptbeschäftigung, die nicht nur das gesamte Leben des Forschers in Anspruch nimmt, sondern auch weitere Akteure an der Beobachtungsarbeit beteiligt. Dennoch sind all diese Versuche zur Aufklärung des Phänomens vergeblich: Die Frage, heißt es, »gelangte nicht zu einer Lösung«47. In dieser Situation entschließt sich Hanold zu einem, wie es heißt, »durchaus fremdartigen Tun«, für das der pseudowissenschaftliche Begriff der »pedestrischen Prüfungen«48 einsteht. Hanold stellt »Beobachtungen nach dem Leben an«.49 Er verlässt den Bereich der archäologischen und anatomischen Inskriptionen und geht auf die Straße, um dort Frauen beim Schreiten zuzusehen, ohne freilich über die ›chronofotografischen Augen‹ zu verfügen, die einzig das Problem einer Lösung zuführen könnten. Die Chronofotografie hatte sich genau eine solche Aufgabe vorgelegt, nämlich die basalen Bewegungsarten von Lebewesen aller Art so weit zu zerlegen, dass Fragen wie die der »Mechanik des Gehens«,50 die auch Hanold umtreiben, entscheidbar werden; also, ob beim Ausschreiten eines Menschen eine Bewegungsphase identifizierbar ist, in der ein Fuß im rechten Winkel zur Oberfläche aufgestellt ist. Indem Hanold sich entschließt, Frauen auf der Straße beim Gehen zu beobachten, fertigt er zwar keine Chronofotografien an, denn er operiert ohne Kamera; aber er sammelt doch eine »ziemliche Anzahl von Beobachtungen, die seinem Blick mannigfache Verschiedenheiten vorüberführten«,51 und überträgt damit eine Frage, deren phantasmatischen Kern die Erzählung durch ihren ironischen Ton
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klar exponiert, in das Register empirisch-quantitativer Datenerhebung. Gradiva ist also keineswegs bloß eine pompeijanische Fantasie, wie im Untertitel angekündigt wird, sondern die Erzählung über eine Reise nach Pompeij, die der Protagonist tatsächlich antritt, um die Schreitende dort in ihrer präsumptiven alltäglichen Umgebung anzutreffen. Die Reise tritt er an, weil er auch mit den Untersuchungen, die er auf den Straßen seiner Heimatstadt anstellt, um zum ›realistischen‹ Gehalt des Phantasmas vorzudringen, zu keinem definitiven Ergebnis kommt. Das Nachleben des Wahnes: Was von der Gradiva bleibt
Der Lernprozess, den Jensen seinen Protagonisten durchmachen lässt, soll ihn, Freud zufolge, am Ende in die Lage versetzen zu verstehen, dass die steinerne Gradiva nur ein totes Deckbild einer Jugendfreundin ist, von der Hanold, ohne es zu wissen, nie losgekommen ist, und in deren sprechendem Namen sich das GradivaProgramm vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt: Zoë Bertgang, schreitendes Leben: genauer, wie Hanold, der »nicht nur in den klassischen Sprachen, sondern auch in der Etymologie der germanischen bewandert« war, seiner in Pompeji wiedergefundenen Kindheitsfreundin erklärt: »die im Schreiten Glänzende«52. Die Erzählung erschöpft sich aus dieser Perspektive im »Nachklang« vergessener Kindheitserinnerungen,53 wie Freuds Kommentar festhält. Die narrative Entwicklung löst den Bann, in dem der Protagonist so lange verharrt, wie er nicht durchschaut, was ihn an die billige, kunstgewerbliche Replik bindet und dass er irrtümlicherweise die Neben- für die Hauptfigur hält. Das Programm der Psychoanalyse ist ja insgesamt als eine Reflexion über Nebenfiguren beschreibbar: Was wäre unbedeutender als zum Beispiel Fehlleistungen, die man als Figuren einer sprachlichen Störung oder Entgleisung begreifen kann, und die sich höchst unspektakulär manifestieren: »Lassen Sie uns also die kleinen Anzeichen nicht unterschätzen«, fordert Freud die »Damen und Herren« auf, an die er sich zwischen 1915 und 1917 an der Universität Wien mit seinen Vorlesungen wandte: »Gibt es nicht sehr bedeutungsvolle Dinge, die sich unter gewissen Bedingungen und zu gewissen Zeiten nur durch ganz schwache Anzeichen verraten können?«54 In einer bestimmten (realistischen) Literatur, die sich mit Vorliebe der Psychopathologie des Alltagslebens zuwendet, entdeckte Freud zweifellos eine Verbündete seines Interesses an den »schwachen Anzeichen« und deren Entzifferung. Das poetologische
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Programm der Erzählung Jensens ist mit einer epistemischen Dimension verknüpft: Literatur vermag die Wahrheit über eine befremdliche Obsession zu formulieren – ohne sie an die akademischen (zum Beispiel psychiatrischen) Hüter der Wahrheit zu überweisen. Sie vermag den Prozess einer trügerischen Übertragung rückgängig zu machen und öffnet den Leser:innen so die Augen für die Gründe und Hintergründe des nach alltäglichen Maßstäben wahnhaften Verhaltens einer Figur. Freuds Kommentar ratifiziert, so scheint es zunächst, diese Lesbarmachung mit den Mitteln der Psychoanalyse. »Der Rest ist Heiratsdramaturgie.«55 Die Eheschließung mit der in Pompeji wiedergefundenen Jugendfreundin Zoë ist unter diesem Aspekt der letzte Schritt der ›Rückübertragung‹ der Gradiva, ihrer effektiven Verwandlung in ein legitimes Liebesobjekt oder eine Partnerin. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Haupt- und Nebensache scheinen zwar am Ende der Erzählung wieder ihre angestammten Plätze einzunehmen. Aber Freuds Kommentar vollzieht doch nicht einfach nur den narrativen Gestus der Erzählung nach. In jedem Wahn, hatte er seinen psychiatrischen Kollegen entgegengehalten, »steckt auch ein Körnchen Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den Glauben verdient, und dieses ist die Quelle der also soweit berechtigten Überzeugung des Kranken.«56 Freud versteht das Objekt, an das sich der Wahn bindet, als »Entstellungsersatz des verdrängten Wahren«, das »denselben gegen jede kritische Anfechtung« schütze.57 Da Freud die Frage der Wahrheit des Wahnes aufwirft, liegt die andere Frage nahe, ob sie in dieser funktionalen Bestimmung – der Wahn als Statthalter einer verdrängten Wahrheit – aufgeht, die ihm letztlich nur eine provisorische Berechtigung zuweisen würde. Mir scheint, dass Freud allerdings in seinem Kommentar noch einen Schritt weitergeht und die Zeit des Wahnes nicht einfach der Zeit der wiedergefundenen Wirklichkeit gegenüberstellt, sondern dass er das Problem des Nachlebens des Wahnes aufwirft. Freud zeigt sich von der Erzählung Jensens deshalb so beeindruckt, weil die Narration Raum für die Insistenz der Nebenfigur lässt und damit für die Unmöglichkeit ihrer restlosen Auflösung oder einer ›Analyse‹, die sie in ein bloßes Trugbild überführen würde. Die Figura wird am Ende der Reise wieder zu der kleinen Gipsstatue, die ihren festen Platz im Arbeitszimmer des Gelehrten hat und, auf diese Weise domestiziert, ihre vormalige Handlungsmacht einbüßt. Oberflächlich betrachtet scheint es sich so zu verhalten, als entfalteten Jensens Erzählung und Freuds Kommentar ein glattes Substitutionsverhältnis: Eine Figur aus Fleisch und Blut, die wiedergefundene Jugendfreundin,
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Abb. 3: Jensen: »Gradiva«, S. 216 (Randnotizen aus Freuds Arbeitsexemplar)
ersetzt in der libidinösen Ökonomie des Protagonisten die steinerne Gradiva und weist ihr wieder ihren legitimen Platz und ihre legitime Funktion als Semiophore an. Allerdings verschafft der letzte Satz der Erzählung, mit dem doch ihr Ende und die Auflösung des sie antreibenden Problems erreicht sein sollte, Zoë noch einmal (wie schon mehrfach zuvor) einen Auftritt als »Gradiva rediviva«: Sie waren an das Herkulestor zurückgelangt, wo am Anfang der Strada Consolare alte Trittsteine die Straße überkreuzten. Norbert Hanold hielt vor ihnen an und sagte mit einem eigentümlichen Klang der Stimme: ›Bitte, geh hier vorauf!‹. Ein heiter verständnisvoll lachender Zug umhuschte den Mund seiner Begleiterin, und mit der Linken das Kleid ein wenig raffend, schritt die Gradiva rediviva Zoë Bertgang, von ihm mit traumhaft dreinblickenden Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden Gangart durch den Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hinüber.58
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Freud hat mehr als alles andere an Jensens Erzählung bewundert, dass Zoë dem Wahn ihres Jugendfreunds nicht frontal begegnet, um ihn als Irrtum zu entlarven, sondern mit den Elementen dieses Wahns spielt. In dem Maße, wie die Gipsfigur wieder dekorativ wird, führt sie ein eigenartiges Nachleben als figura verborum, die in die Rede Zoës Eingang findet. Durchsetzt von »Zweideutigkeiten« sei diese Rede und das größte Kompliment, das Freud ihr machen kann, fasst er in dem Satz zusammen: »Es ist ein Triumph des Witzes, den Wahn und die Wahrheit in der nämlichen Ausdrucksform darstellen zu können.«59 (Abb. 3) »Aufnahme der Phantasie« notiert er an den Rand des Schlusssatzes der Erzählung: »Phantasie« ist ein Element des Untertitels der Erzählung, dem Freud entgegen der konventionellen Verwendung sein Gewicht zurückerstattet. Das ist der Grund, warum er die »Versöhn[un]g« und damit die Ratifizierung des Realitätsprinzips relativiert: Mittels einer grafischen Markierung, eines Bogens stellt er den Zusammenhang von »Aufnahme« und »Phantasie« her, den die »Versöhnung« unterbrochen hatte. Wie sich die Aufnahme der Fantasie an anderer Stelle sprachlich vollzieht, zeigt folgende Bemerkung Zoës: »Mir ist’s, als hätten wir schon vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen«, richtet sie sich an den Dozenten: »Kannst du dich nicht darauf besinnen?«60 Der langwierige Ersetzungsprozess, den die Erzählung vorführt, um den Plot aufzulösen (Zoë für Gradiva, das Leben für den Tod), partizipiert weiterhin an dem, was ersetzt wird, so dass der Wahn seiner restlosen Auflösung widersteht. »Wir müssen dem Gedanken widerstehen«, schreibt Latour, »daß irgendwo ein Wörterbuch existiert, mit dessen Hilfe sich all die mannigfaltigen Wörter der Akteure in die wenigen Wörter eines sozialen Vokabulars übersetzen ließen.«61 Und dies gilt auch vom psychoanalytischen Vokabular, sofern es das komplexe Vokabular, das ein Archäologe erfindet, um in eine Beziehung zu einer Gipsfigur einzutreten, auf eine schlichte Wahrheit zu reduzieren versuchte. Der Fall Hanolds, der von Gradiva nach Pompeji gerufen wird, ist nicht so verschieden von dem des Pilgers, den Latour anführt: ›Ich kam in dieses Kloster, weil mich die Jungfrau Maria rief.‹ Wie lange soll die Forscherin sich zurückhalten, bevor sie blasiert lächelt und die Jungfrau Maria durch die ›offenkundige‹ Selbsttäuschung eines Akteurs ersetzt, der eine religiöse Ikone ›zum Vorwand‹ nimmt, um seine eigene Entscheidung zu ›verschleiern‹?62
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»Man wäre also versucht zu denken«, schreibt Jacques Derrida in einem Text, der sich mit der Rolle von »Widerständen« in der Psychoanalyse beschäftigt, »daß das Ereignis (événement) der Psychoanalyse die Heraufkunft (avènement) – unter demselben Namen – eines anderen Begriffs der Analyse gewesen sei. Eines Begriffs, verschieden von dem, der in der Geschichte der Philosophie, der Logik und der Wissenschaft in Gebrauch war.«63 Derrida musste sich für die Modi der Analyse schon deshalb interessieren, weil sein eigenes Unternehmen, die Dekonstruktion, »unleugbar einer analytischen, einer zugleich kritischen wie analytischen Forderung« gehorcht: »Stets geht es darum, aufzulösen, Sedimente abzutragen, zu erlegen, Sedimente, Artefakta, Voraussetzungen, Institutionen abzubauen.«64 Davon handelt auch Gradiva, deren Referenzfigur das Sediment einer bestimmten Überlieferung ist, kunstgewerbliches Artefakt und zugleich eine Institution in dem Sinne, dass sie einem Leben, nämlich dem des Protagonisten der Erzählung, ihr Gesetz gibt, indem sie ihn zwingt, ihren Schritten zu folgen. Und wenn wir uns daran erinnern, dass die Gradiva als Kunstfigur »in den 20er und 30er Jahren eine nochmalige Renaissance erlebt«65, im Surrealismus ebenso wie bei Salvador Dalí oder Max Ernst,66 dann wird klar, dass ihre institutionelle Wirkung sogar den Rahmen der Erzählung überschreitet. Jensens Erzählung und Freuds Kommentar sind sich in der »analytischen Forderung« einig: auflösen, abtragen, zerlegen, abbauen sind Tätigkeiten, die sich in beiden Texten finden. Jensens Kunstgriff, die Szene der Erzählung von Hanolds deutscher Heimatstadt nach Pompeji zu verlegen, trägt dem »archäologischen Motiv der Analyse«67 ganz explizit Rechnung. Pompeji nämlich ist der Ort abgetragener Sedimente, verstreuter Artefakte und abgebauter Institutionen, denn die Stadt hat in der Folge des Vesuvausbruchs im Jahre 79 zwar nicht physisch, aber institutionell aufgehört zu existieren. Insofern der Psychoanalyse nichts »fremder ist als die Chemie, als jene Wissenschaft der Einfachen«, verweigert sie zugleich das Telos der Analyse, das im »Phantasma einer Wiederergreifung des Ursprünglichen«68 besteht, im Fall der Gradiva also: in der Vorstellung, dass sich der Affekt, der Hanold an die Gipsfigur bindet, auf eine Kindheitsliebe, deren Platzhalter Gradiva war, zurückführen lasse, so als gelte es nun, dieses Einfache wiedereinzuholen und es an die Stelle des
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Wahnes zu setzen, der damit aufhören würde, seine Macht über den Archäologen auszuüben. Freud legt großen Wert auf die Beobachtung, dass Zoë deshalb als eine erfolgreiche Therapeutin fungieren kann – er spricht von ihrem Auftreten »als Arzt«69 –, weil sie den Wahn des Archäologen, der sich an die Gipsfigur geheftet hatte, nicht rundheraus verwirft und durch die Wahrheit, also sich selbst, ersetzt.70 Zoë Bertgang muss sich die Gradiva zumindest teilweise zu eigen machen und öffnet ihre Rede deshalb der Zweideutigkeit.71 Dadurch nimmt sie selbst die Züge einer Figur an, die weiterhin von dem, was sie ist, unterschieden bleibt. Die psychoanalytische Figuraldeutung bewahrt damit ein Moment, das Auerbach mit dem eingangs zitierten Hinweis auf Tertullian thematisierte, der es ausdrücklich abgelehnt habe, »die wörtliche oder geschichtliche Geltung des Alten Testaments durch die Figuraldeutung zu entkräften«72. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum Freud selbst, wie er in seinem Moses-Aufsatz mit Blick auf seinen eigenen Wahn, der ihn immer wieder zur Moses-Statue zurückkehren lässt, schreibt, er hege »die Hoffnung, daß dieser Eindruck keine Abschwächung erleiden wird, wenn uns eine solche Analyse [des Moses] geglückt ist«73. 1 2 3 4 5 6 7
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Auerbach, Erich: »Figura«, in: Balke, Friedrich/Engelmeier, Hanna: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des »Figura«-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn 2018, S. 121 – 188, hier: S. 141. Ebd. Ebd., S. 125. Vgl. auch Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hrsg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002. Ebd., S. 124. Ebd., S. 124f. Ebd., S. 125. Vgl. dazu Balke: »Enteignungen, Verdopplungen, Depersonalisierungen. Mimesis und die Expansion der Figura«, in: ders./Linseisen, Elisa (Hrsg.): Mimesis Expanded. Die Ausweitung der mimetischen Zone, Paderborn 2022, S. 71 – 100. Die von Auerbach sogenannte »Figuralinterpretation« schränkt den Spielraum der Figura ein, denn sie zielt ausschließlich darauf ab, »die im Alten Testament auftretenden Personen und Ereignisse als Figuren oder Realprophetien der Heilsgeschichte des Neuen zu deuten.« (Auerbach: »Figura«, S. 141) Auerbach: »Figura«, S. 126. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd. Jensen, Wilhelm: »Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück«, in: Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹. Mit der Erzählung von Wilhelm Jensen, hrsg. und eingeleitet von Bernd Urban, Frankfurt a. M. 1998, hier: S. 129. Das Gradiva-Fragment des Aglauriden-Reliefs befindet sich in der Sammlung des Vatikanischen Chiaramonti-Museums. Vgl. dazu die Angaben im »Vorwort« zu Rohrwasser, Michael/Steinlechner, Gisela/Vogel, Juliane/Zintzen, Christiane (Hrsg.): Freuds pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle »Gradiva«, Wien 1996, S. 6 – 13.
Endnoten
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De Certeau, Michel: »Die Geschichte: Wissenschaft und Fiktion«, in: ders.: Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse, Wien 2006, S. 33 – 60, hier: S. 33. Ebd., S. 36. Jensen: »Gradiva«, S. 129. Abstract zur Tagung »Nebenfiguren«, Stiftung Universität Hildesheim, 28. – 30. Oktober 2022. Pominan, Krzysztof: »Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: die Sammlung«, in: ders.: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 13 – 72. Jensen spricht zwar nicht vom »Wahn«, sondern von der »Verrücktheit« bzw. einem »Zustand völliger Verrücktheit« (Jensen: »Gradiva«, S. 199), die von seinem Protagonisten Besitz ergriffen habe, aber unter dem Eindruck der Ereignisse in Pompeji nicht nur neue Nahrung erhält, sondern auch, wie wiederum Freud schreibt, »rissig« wird (Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹, S. 64). Wahn wie Verrücktheit oder »Verrückung« sind psychiatrische Konzepte, wie sie z. B. Emil Kraepelin in seinem berühmten Psychiatrie-Lehrbuch entwickelt. Er befasst sich dort u. a. mit einer »Gruppe von Fällen, in denen sich von Anfang an klar erkennbar ganz langsam ein dauerndes, unerschütterliches Wahnsystem bei vollkommener Erhaltung der Besonnenheit und der Ordnung des Gedankenganges herausbildet«. Diese Formen führen »mit Nothwendigkeit zu einer tiefgreifenden Umwandlung der gesammten Lebensanschauung, zu einer ›Verrückung‹ des Standpunktes«, »welchen der Kranke gegenüber den Personen und Ereignissen seiner Umgebung einnimmt«. Kraepelin hat hier paranoische Verhaltensweisen im Blick, die bei Dr. Hanold, bei dem Wahn und Besonnenheit bzw. szientifische Akkuratesse tatsächlich nebeneinander bestehen, gerade fehlen. Auf ihn trifft Kraepelins Beschreibung nur insofern zu, als sein Wahn und seine Verrückung zwar zu einer »tiefgreifenden Umwandlung« seines Standpunkts führen, aber nicht in der Weise, dass er seiner Umgebung mit äußerstem Misstrauen begegnet, sondern ganz im Gegenteil seinem Wahn die ihm passende Umgebung verschafft. Hanolds Wahn liegt die Verpflichtung einer Figur gegenüber zugrunde, die ihn eigentlich zu nichts verpflichtet. Sein Verhältnis zu ihr ist durch Zuwendung und Dienstbarkeit gekennzeichnet. (Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte. Zweiter Band: Allgemeine Psychiatrie. 6. vollständig umgearbeitete Auflage, Leipzig 1899, S. 430) Das ist auch der Grund, so meine These, warum Freud vom Wahn in ausdrücklicher Absetzung von seiner nosologischen Situierung in der Psychiatrie spricht, die mit ihren Diagnosen – Freud nennt »Paranoia«, »fetischistische Erotomanie« und »dégénéré« – sofort zur Stelle ist. Freud bewundert Jensen dafür, dass dessen Erzählung diesem ›Klassifikationswahn‹ gerade nicht folgt – und zwar »aus gutem Grunde. Er will uns ja den Helden näherbringen, uns die ›Einfühlung‹ erleichtern; mit der Diagnose dégénéré, mag sie nun wissenschaftlich gerechtfertigt sein oder nicht, ist uns der junge Archäologe sofort ferne gerückt; denn wir Leser sind ja die Normalmenschen und das Maß der Menschheit.« (Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹, S. 81 f.) Jensen: »Gradiva«, S. 130. Im Verhältnis zum Gipsbild nimmt Hanold die Position des Mönchs ein. Michel Serres erinnert an die »seltsamen Verrichtungen«, denen sich die Priester »in dunklen und geheimen Klausen hingaben, wo sie, allein, die Statue einer Gottheit bekleideten, schmückten, reinigten, sie aufstellten oder heraustrugen, ihr eine Mahlzeit zubereiteten und endlos mit ihr sprachen, und zwar Tag und Nacht«. Das Gegenteil der Religion, so Serres, ist die »Nachlässigkeit«, die definiert wird als der Wille, allein in der Gegenwart zu leben und sich zu weigern, »die Zeit zusammenzufügen«. (Serres, Michel: Der Naturvertrag, Frankfurt a. M. 1994, S. 81 ff.) Es sind die »manifest unangenehmen Erfahrungen, die wiederholt werden, und es läßt sich beim ersten Hinsehen schwer erkennen, welche Instanz des Subjekts daraus eine Befriedigung ziehen könnte«. (Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1982, S. 629) Freud rückt daher einen gewissen Widerstand ins Zentrum seiner Beschreibung der wiederholten Besuche der Marmorstatue, von der er zugleich angezogen und abgestoßen wird: Er hat den Eindruck, dass der »verächtlich-zürnende
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Blick des Heros« auch ihm gilt und schleicht sich daher »behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraums«, so als gehöre er selbst »zu dem Gesindel, auf das sein [Moses’] Auge gerichtet ist«. Freud: »Der Moses des Michelangelo«, in: ders.: Schriften über Kunst und Künstler, Frankfurt a. M. 2004, S. 55 – 83, hier: S. 59. Ebd., S. 57. Didi-Huberman, Georges: phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern, Köln 2001, S. 39 – 51, hier: S. 47. Ebd., S. 43. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 102. Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 19. Ebd., S. 20. Latour: Eine neue Soziologie, S. 66. Jensen: »Gradiva«, S. 136. Ebd., S. 130. Auerbach: »Figura«, S. 125. Ebd., S. 122. Hanold ist vom »Problem der Körperhaftigkeit oder -losigkeit« der Gradiva besessen und neigt lange Zeit der Annahme zu, »wenn er sie berühren, etwa seine Hand auf die ihrige legen würde, träfe er damit nur auf leere Luft« (Jensen: »Gradiva«, S. 183). Ebd., S. 129. Ebd., S. 130. Ebd., S. 139. Auerbach: »Figura«, S. 121. Jensen: »Gradiva«, S. 130. Freud: Der Wahn und die Träume, S. 80. Vgl. Balke: »Empfindungsblock oder elastisches Gewebe: Schreckensbilder des Alltags bei Siegfried Kracauer«, in: Groß, Bernhard/Dirk, Valerie (Hrsg.): Alltag. Ästhetik, Geschichte und Medialität eines Topos der Moderne, Berlin 2022, S. 147 – 166, hier: S. 150 – 154. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. 1991, S. 245. Ebd. Jensen: »Gradiva«, S. 133. Ebd. Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 134. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 211. Freud: Der Wahn und die Träume, S. 69. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 51. Steinlechner, Gisela: »Fundsache Gradiva. Auftritt der pompejanischen Muse im Surrealismus«, in: Rohrwasser/Steinlechner/Vogel/Zintzen: Freuds pompejanische Muse, S. 127. Freud: Der Wahn und die Träume, S. 112. Ebd., S. 112 f. Jensen: »Gradiva«, S. 216. Freud: Der Wahn und die Träume, S. 116. Ebd., S. 196. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 84. Ebd., S. 84. Derrida, Jacques: »Widerstände«, in: ders.: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Frankfurt a. M. 1998, S. 128 – 178, hier: 152. Ebd., S. 163.
Endnoten
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Rohrwasser/Steinlechner/Vogel/Zintzen: Freuds pompejanische Muse, S. 13. Steinlechner, Gisela: »Fundsache Gradiva«, S. 123 – 155. Derrida: »Widerstände«, S. 153. Ebd., S. 164. Freud: Der Wahn und die Träume, S. 118. In der Vorlesung über die »Übertragung« hebt Freud hervor, dass die psychoanalytische Arbeit in einer »Neuproduktion der Krankheit« besteht, die sich auf »eine einzige Stelle wirft, nämlich auf das Verhältnis zum Arzt«: »Alle Symptome des Kranken haben ihre ursprüngliche Bedeutung aufgegeben und sich auf einen neuen Sinn eingerichtet, der in einer Beziehung der Übertragung besteht.« (Freud: Vorlesungen, S. 349) Auf die Krankheit folgt also nicht einfach die Gesundheit, sondern »eine neugeschaffene und umgeschaffene Neurose, welche die erstere ersetzt« und die es dem Analytiker erlaubt, »sich in ihr besonders gut zurecht« zu finden. Das ist der Grund, warum Zoë-Gradiva sich umfassend in Hanolds Phantasma ›einarbeitet‹ und ihm zu diesem Zweck forensische Fragen zu seinen Annahmen stellt: »›Du sprachst gestern, du hättest mir einmal zugerufen, als ich mich zum Schlafen hingelegt, und nachher bei mir gestanden; mein Gesicht sei da ganz weiß wie Marmor gewesen. Wann und wo war das?‹ […] ›In der Nacht, als du dich am Forum auf die Stufen des Apollotempels setztest und der Aschenfall vom Vesuv dich zudeckte.‹ ›Ach so – damals. Ja, richtig – das war mir nicht eingefallen. […] Doch das geschah, wenn ich mich recht besinne, vor bald zwei Jahrtausenden. Lebtest du denn damals schon? Mich deucht, du siehst jünger aus.‹« (Jensen: »Gradiva«, S. 176 f.) Freud notiert an dieser Stelle an den Rand: »Beginn d. Therapie v. ihrer Seite«. Das ist der Grund, warum Derrida Freuds Verhältnis zu Jensen als Bündnis charakterisiert: »Er schlägt vor, sich als der Gelehrte einer neuen und weit besser gerüsteten Wissenschaft [als der herkömmlichen Psychiatrie] mit dem Romanschriftsteller zu verbünden.« (Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 175) Auerbach: »Figura«, S. 141. Freud: »Der Moses des Michelangelo«, S. 58.
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Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz
Katja Schneider
Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz Zu Beginn eine Nebenbemerkung über die Figur im Tanz: Tanzende erscheinen als Figuren und führen Figuren aus. Ob in einem traditionellen Handlungsballett, in einem Werk des Modern Dance oder in einer handlungslosen Choreografie – Figur wird tanzwissenschaftlich als »Raumgestalt, […] die Kontur des darstellenden Körpers« verstanden, zugleich auch als »die Einheit einer Bewegungsfigur und die daraus abzuleitenden Möglichkeiten ihrer Positionierung in der Syntax ihrer Bewegungsfolgen«1. Beschreibbar ist die Figur als eine »Zeit- und Raum-Organisations-Formel«,2 die auf eine (teils schriftlich niedergelegte, teils nonverbal tradierte) Codierung der Bewegung3 verweist. Der repräsentative Aspekt einer Figur wird so stets flankiert von einem ästhetischen. »Seit dem 17. Jahrhundert«, so schreibt Gabriele Brandstetter, »wird die Bezeichnung Figura zur Bezeichnung bestimmter Schrittkombinationen – danze figurate – verwendet. Ebenso ist damit aber auch die Konstellierung der Gesamtfigur der Choreografie (ihre ›Karte‹) und die Interaktion der Tänzer (ihre Konfiguration) gemeint«.4 Peter Stamer ordnet der repräsentativen Ebene die »Kohärenzzeichen«5 »Figur und De-Figur«6 zu, während er für die ästhetische Ebene »Figuration« verwendet, die »figurativ nicht ordnungsfähig ist, aber dennoch in Erscheinung tritt«7. Figuration und Figur seien in einer dynamischen und komplexen Weise aufeinander bezogen, insofern sie beide mit kulturellen Kontexten verknüpft seien, in starker Abhängigkeit von »historischen Konventionen« das Konzept der Figur, in der »Analyse von historisch fixierbaren Codebrüchen« die »Theorie der Figuration als Nicht-Figur, De-Figur oder Figurenrest«.8 Die Stabilität historischer und aktueller Konventionen bewirke somit die Stabilisierung der Figur, die Figuration störe diesen Prozess der Stabilisierung. Die Nebenfigur im Tanz (als theatrale Größe) ist demnach im Hinblick auf repräsentative und ästhetische Aspekte sowie im Gefüge von Konventionen und Brüchen dieser Konventionen zu betrachten und am Beispiel unterschiedlicher historischer Formen zu untersuchen. Im Folgenden soll es um Annäherungen an unterschiedliche Konstrukte von Nebenfiguren im Tanz gehen, die typologisch jenseits
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traditioneller Narration liegen. Deswegen steht nicht die Bestimmung unterschiedlicher Konzeptionen von Nebenfiguren und ihrer Funktionen (etwa im Handlungsballett oder in narrativen Strukturen) im Zentrum meines Beitrags. Vielmehr soll erprobt werden, ob das Konzept Nebenfigur für unterschiedliche Konventionen von Bühnentanz funktionalisiert werden kann, das heißt: ob es etwas beitragen kann zur Analyse von Werken, die keine Handlung nachahmen, sondern bereits Handlung sind,9 oder die informiert sind von Konzepten des Postmodern Dance, dessen Vertreter:innen mit konkreten physischen Aktionen experimentierten und diese als Tanz bestimmten. Zur heuristischen Bestimmung der Nebenfigur möchte ich neben den repräsentativen und ästhetischen Aspekten noch einen dritten Aspekt hinzunehmen, der mir wesentlich erscheint: den Aspekt der organisationalen oder institutionellen Logik. Um das näher zu erläutern, beginne ich mit einem konventionellen Beispiel aus dem Handlungsballett. Benno, Freund und Helfer
Benno, der Begleiter des Prinzen Siegfried im Ballett Schwanensee, scheint eine typische Nebenfigur zu sein. Er steht in einer speziellen Relation zu einer der Hauptfiguren, dem Prinzen Siegfried, er begleitet ihn, richtet seine Aktionen auf ihn aus, erscheint gemeinsam mit ihm oder bereitet dessen Auftritte vor, geht mit ihm ab oder eilt ihm nach. Benno, so beschreibt es die Inhaltsangabe für den ersten Akt auf der Website des Bayerischen Staatsballetts, sei einer der Freunde des Prinzen, der versuche, diesen aufzuheitern und abzulenken, wenn er in Gedanken versunken sei.10 Einmal handlungslogisch etabliert und als Begleiterfigur eingeführt, wird er in dieser Zusammenfassung der Handlung nicht mehr erwähnt. Die Nebenfigur als Freund und Helfer, das repräsentiert Benno. Handlungsfunktional bestätigt diese Figur in ihrem Verhalten die normativen gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten des Prinzen, der – als Protagonist – die klassifikatorische Grenze zwischen der sozialen, höfischen, Welt und der fantastischen Welt der Schwäne überschreitet. Zwar wird Benno ebenfalls mit den Schwänen/Schwanenmädchen am See konfrontiert, erlebt jedoch in der Folge nicht die Transformationen, die Siegfried durchmachen wird. Entsprechend findet man Benno im Verzeichnis der Personen nie an der Spitze der Nennungen. Zentral gesetzt ist die Liebesgeschichte zwischen Prinz Siegfried, der sich als Geburtstagsüberraschung auf Geheiß seiner Mutter eine Braut aussuchen soll, und der Schwanen-
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Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz
prinzessin Odette, einer jungen Frau, die vom Zauberer Rotbart in einen Schwan verwandelt worden ist und nur temporär menschliche Gestalt erhält. Nur wahre Liebe kann sie erlösen, aber da sich Siegfried im Augenblick der Wahl von der Tochter Rotbarts, die als schwarzer Schwan Odile auftritt, verwirren lässt und sie zur Frau erwählt, verwirkt er das Leben Odettes.11 In Besetzungsübersichten jüngerer Zeit variiert die Reihung der Figuren der zentralen Handlung. Sie kann genealogisch organisiert sein, oder es werden erst die Figuren der sozialen Welt, dann die der fantastischen aufgeführt, wobei Odette/Odile als Umschlagfigur fungieren kann. Manchmal beginnt das Verzeichnis der dramatis personae mit Odette/Odile, manchmal mit den Herren Prinz Siegfried, Rotbart und Benno, wobei Letzterer sich frühestens auf Platz drei, oft auf Platz fünf befindet.12 In der Version des Choreografen Lew Iwanow und seines Chefs Marius Petipa, die 1895 am MariinskiTheater in St. Petersburg herausgebracht und traditionsbildend wurde,13 wird Benno als Freund des Prinzen an dritter Stelle genannt, nach diesem und dessen Mutter, die an erster Stelle steht.14 Die dramaturgische und paratextuelle Bestimmung – die repräsentative Ebene – der Nebenfigur, die ich hier am Beispiel der Begleiterfigur Benno kurz umrissen habe, möchte ich im Folgenden um zwei Aspekte ergänzen, die im Fokus dieses Beitrags stehen sollen. Erstens der Aspekt der Zugehörigkeit zur Organisationsstruktur eines Hauses/einer Kompanie/einer Gruppe, der je nach Größe und Finanzierung, Anbindung an ein festes Haus oder Zugehörigkeit zur sogenannten freien Szene, Genre und Tradition variiert. Und zweitens der Aspekt der Medienspezifik, also der Phänomenologie des Tänzer:innenkörpers und der choreografischen Konfiguration. Die Triangulation von Dramaturgie, dem institutionellen Status des oder der Tanzenden und der choreografischen Konfiguration soll weiter Aufschluss über die Funktionen und den Status der Figur Benno geben. Darüber hinaus werde ich mich auf diese Weise in einem zweiten Schritt Werken annähern, die nicht mehr über Handlung und Figur im traditionellen Sinn verfügen. Wie gezeigt, lässt sich die Figur Benno in heutigen, auf der Version von Iwanow/Petipa beruhenden Einstudierungen von Schwanensee dramaturgisch als unterstützende Nebenfigur bestimmen. In der Ensemblehierarchie tanzt ihn ein Erster Solist oder Solist. Benno weiß, wann er sich zurückziehen muss. Bisweilen ist er auf der Bühne präsent, wenn Siegfried mit Odette tanzt, er selbst fungiert jedoch nicht als Partner von Odette, schon gar nicht im zentralen Pas de deux
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der zweiten Szene des ersten Aktes, der sich Odettes Klage, in einen Schwan verzaubert worden zu sein, anschließt. In aktuellen Inszenierungen wird der Pas de deux vielmehr von den beiden Protagonist:innen alleine getanzt, umrahmt von einem weiblichen Corps de ballet, der Gruppe.15 Diese etablierte, klare Unterscheidung in Hauptfiguren (die tanzen) und Nebenfiguren (die dekorativ rahmen) differenzierte sich in der Tradierung des Balletts erst heraus. In der St. Petersburger Version von 1895 erweiterte nämlich Benno den Pas de deux, den »Schritt zu zweit«, zu einem Pas de trois, einem »Schritt zu dritt«. Der Tänzer des Benno, Alexander Oblakov, übernahm im Partnering mit Odette Schrittfolgen, die der Tänzer des Prinzen nicht ausführte. Denn Pavel Gerdt, dem Premier Danseur Noble, stand in der Logik der Organisation zwar die Rolle des Prinzen zu, doch er war anscheinend nicht in der Lage, sie vollständig zu tanzen. Ob aus Altersgründen (er war damals etwas über 40 Jahre alt) 16 oder temporär infolge einer Knieverletzung,17 sei hier dahingestellt.18 Im Part-Sharing von Siegfried und Benno wurde auf ein Modell zurückgegriffen, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich war, aber in den 1890er Jahren, der Zeit der St. Petersburger Version, kaum mehr praktiziert wurde. Der ältere, ranghöhere Premier Danseur Noble erhielt die Rolle des Protagonisten, ein jüngerer Kollege übernahm Partnering und virtuose Tanzpartien.19 Diese Arbeitsteilung korrespondierte mit einer Werkstruktur, die zwischen pantomimischen, die Handlung vorantreibenden, und rein tänzerischen Sequenzen mit ornamentaler und/oder reflektierender Funktion differenzierte. Waren diese Funktionen auf zwei Figuren und zwei Personen verteilt, dann stellte dies für das zeitgenössische Publikum augenscheinlich kein Problem dar. Der Konvention folgend, synthetisierte es das, was es wahrnahm, im Kontext seiner Erwartungen und Seherfahrungen – und leistete damit seinen Beitrag zur Konstituierung von Figuren. Theaterwissenschaftlich lässt sich das wie folgt definieren: Eine Figur ist a) ein Konstrukt aus Schauspieler und Rolle, das in einer Aufführung durch b) einen Akt der Verkörperung eines Schauspielers oder einer Schauspielerin und c) als Syntheseleistung der Zuschauerinnen und Zuschauer hervorgebracht wird. Dieser Akt der Figuration ist ein Prozess, der den gesamten Verlauf einer Aufführung umspannt.20
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Die Leistung, die das Publikum im Fall von Benno und Prinz Siegfried zu erbringen hatte, lässt sich aus der Beschreibung der Sequenz durch den Tanzhistoriker Cyril W. Beaumont erahnen: […] Again she [Odette; K.S.] steps back to Siegfried, turning to L., posé on L. point with retiré and développé to 1st arabesque, facing 6. * Soutenu sur les pointes to R., end R. front facing 2, staging just behind Siegfried’s extended R. arm, holding it with both hands, développé to 4th pos. front croisé R.F., take R. hand off Siegfried’s shoulder lightly to 4th en haut, bringing R. hand back to his arm, when she falls to R. and is caught over Benno’s R. knee, her arms in 5th pos. en haut; he raises her and returns her gently to Siegfried, she standing on her L.F., R.F. pointe tendue back. Repeat all from *, and this time sustain fall over Benno’s knee as corps de ballet begin to move.21 Trotz der Transgression in der choreografischen Gestaltung hierarchisiert Beaumont die Rollen ganz klar und definiert primäre, sekundäre und tertiäre Gruppen,22 wobei er die Doppelrolle Odette/Odile als »only principal role«23 bestimmt. Der Prinz übernehme seinerseits die »one secondary role«24. »Finally, there are the four subsidiary roles of Benno, Rothbart, Wolfgang, and the Princess Mother.«25 Das Trio, in dem die Tänzerin mit ihrer materiellen Körperlichkeit ins Zentrum rückt, spiegelt zum einen die dominante Position der Protagonistin, die sich während des 19. Jahrhunderts im Handlungsballett herausbildete. Zum anderen verdeutlicht es, wie auch die reinen Tanzpassagen semantisiert und dramaturgisch funktionalisiert sein können: Dieser Pas de trois, so Jennifer Homans, zeige die Gefühle Odettes und übernehme auf diese Weise die Funktion eines Monologs, in dem ihr bereits pantomimisch dargestelltes Schicksal, ihre Traurigkeit, tänzerisch gestaltet werde: »Siegfried and Benno were there to lift and support Odette and to allow her feelings to fully emerge.«26 Die Analyse der Figur Benno verdeutlicht beispielhaft, wie im Tanz repräsentative, institutionelle und mediumumspezifische Logiken intermittieren, gerade wenn »Figur« als eine »Begriffstrias«27 (Rolle, Schauspieler, Figur) konzipiert wird. Figur sei, so Jens Roselt, ein Konstrukt von Schauspieler und Rolle.28 Die Figur Benno entstand, als der Tänzer Alexander Oblakov mit seinem individuellen Körper in der Rolle des Freundes von Prinz Siegfried auf der Bühne in Erscheinung trat und dieses Konstrukt vom zeitgenössischen Publikum als
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»Objekt der Wahrnehmung« synthetisiert wurde.29 Dass dies gelingen konnte und in anderen Fällen weiterhin gelingt, verdankt sich der Routinisierung der Zusehenden, die während einer Aufführung mit permanenten Prozessen von Stabilisierung, Destabilisierung und Neuformatierungen beschäftigt sind.30 Zugleich bedingen sich – diesseits und jenseits der Narration – Aspekte der Ensembleorganisation einerseits und der choreografischen Organisation andererseits. Wie Letztere modelliert wird, das folgt kulturellen Konventionen beziehungsweise dem Bruch mit diesen.31 Für die Identifizierung von Haupt- und Nebenfiguren sorgen beispielsweise auch die spatiale Situierung von Figuren und die Art und Weise, wie und woher sie den Raum betreten. In der Zeit Ludwigs XIV., um kurz auf die Zeit der Anfänge des europäischen Balletts zurückzublicken, verkörperte der absolutistische Herrscher das Zentrum der Macht in der Mitte des theatralen Raumes. Seine langen Auftrittswege aus dem seitlichen Hintergrund der Bühne direkt auf das Publikum zu, aber nicht weiter als bis zu deren Mitte, präfigurieren nach wie vor Auf- und Abtritte der Protagonist:innen in traditionellen Balletten. Doch nicht nur dort. In ihrem Lehrbuch The Art of Making Dances empfiehlt Doris Humphrey, Pionierin des US-amerikanischen Modern Dance, zur Charakterisierung einer historischen Königin, diese niemals aus den Seitenkulissen auftreten und sich im Kreis bewegen zu lassen: It would be quite wrong to plan it so that the lady entered in the middle of the side […] and began moving in a circular pattern. […] How much better to establish this figure mostly facing forward, with a few, possibly very simple gestures, so that we immediately know this person and are aware of her inner mood through direct communication.32 Humphrey hierarchisiert die Topologie der Bühne, kartografiert sie im Hinblick auf die Wirkung, die Tänzer:innen auf bestimmten Positionen entfalten können, und auf die Relevanz, die ihnen bei Auf- und Abtritten zukommt. Mit Humphrey ließen sich Haupt- und Nebenfiguren anhand ihrer Auf- und Abtritte räumlich identifizieren und beschreiben. Remember that the main paths which are illuminated, so to speak, are the diagonals and down the center; that the sides are very weak for either entrances and exits, or any other movement.
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Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz
In fact, all places except the corners and center back are weak for emergences and departures.33 Humphrey verweist hier zudem auf eine mediumspezifische Nutzung der Bühne: »No actor has a chance to walk on that magical diagonal.«34 Die »magische« Diagonale sei Tänzer:innen vorbehalten, die in der Regel auf einer fast leeren oder nur am Rand dekorierten und mit Bühnenbauten versehenen Bühne agieren – im Gegensatz zu Schauspieler:innen und Sänger:innen. Denn die »magische Diagonale«, so Humphrey, entstehe aus der leeren Mitte der Bühne. Wenn gegenwärtig solche Konventionen der mediumspezifischen Raumnutzung oft nicht mehr in Anschlag gebracht werden, so ließe sich folgern, dann haben entscheidende Transformationen stattgefunden: Diese betreffen zum einen die Repräsentationen des tanzenden Körpers, zum anderen Funktionen von Choreografie und tänzerischer Gestaltung und schließlich meist auch die Logiken der Organisationen und Institutionen. Die Produktionen des US-amerikanischen Choreografen Merce Cunningham ab den 1950er Jahren oder die Arbeiten des Judson Dance Theater in den 1960er Jahren sind prominente Beispiele für solche Transformationen und Brüche mit Konventionen. Dasselbe gilt – und darum soll es im Folgenden gehen – für verschiedene Stücke, die dem deutschen Tanztheater zuzurechnen sind. Dispersionen
In seinem wegweisenden Buch Postdramatisches Theater erläutert Hans-Thies Lehmann das Prinzip der Enthierarchisierung von Theatermitteln und zieht dazu Gemälde von Breughel heran. Auf diesen »de-dramatisiert[en]« Bildern, so Lehmann, finde »die für die dramatische Darstellung typische Zuspitzung und Zentrierung mit der Trennung von Haupt- und Nebensache, Zentrum und Peripherie«35 nicht statt. Und auch im Tanztheater lässt sich eine entsprechende De-Zentrierung und Ent-Hierarchisierung beobachten: Auf institutioneller Ebene war Gerhard Bohner, Leiter der Ballettsparte in Darmstadt ab der Spielzeit 1972/73, der Erste, der sein Ensemble »Tanztheater«36 nannte (statt Ballettensemble) und der die traditionelle Hierarchie in der Kompanie aufhob, indem er alle Tänzer:innen als Solist:innen engagierte.37 Andere Kompanien zogen nach und etablierten ein an vielen Theatern jenseits von Ballettkompanien praktiziertes Modell gleichberechtigter Solotänzer:innen. Diese Transformation auf der institutionellen Ebene hatte Konsequenzen für die Konzeption von Figuren. 106
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1996 etwa brachte Susanne Linke, eine der Protagonistinnen des deutschen Tanztheaters und damals zusammen mit Urs Dietrich Leiterin der Tanzsparte am Bremer Theater, das Stück Hamletszenen38 heraus, das Personal und Handlungsstrukturen aus Hamlet von William Shakespeare aufnimmt. Die Figuren sind teilweise dispergiert (lat. dispergere: ausbreiten, zerstreuen): Die Besetzung nennt zwei Hamlets, vier Ophelias und zwei Claudiusse – zudem können Tänzer:innen während der Aufführung fluide zwischen den Rollen wechseln. Aus Kontext, Requisiten, Kenntnis des Shakespeare-Textes und Programmheft lassen sich Figuren punktuell ermitteln; jedoch bleiben sie in ihrer Identität nicht über das ganze Stück hinweg stabil. Die Aufteilung von Figuren auf verschiedene Tänzer:innen ermöglicht es in Hamletszenen, unterschiedliche Zustände von Figuren zu synthetisieren, gleichzeitig unterschiedliche soziale Situationen oder unterschiedliche Lebensalter zu zeigen und auf die generelle Inkonsistenz von Subjekten hinzuweisen, die man heute vielleicht mit dem Konzept der Dividuation39 fassen würde. Dispersionen wirken entindividualisierend, enthierarchisierend und – im Sinne Lehmanns – dezentrierend. Die Zerstreuung kann wiederum auch in einer neuen Konzentration resultieren, insofern nicht selten in Transformationen von literarischen Vorlagen die Personenkonstellation auf die wichtigsten Figuren reduziert wird und Nebenfiguren gar nicht mehr in Erscheinung treten. Dabei können auch Hauptfiguren als Dispersionsfiguren organisiert werden – wie etwa in Pina Bauschs frühem Stück Blaubart. Beim Anhören einer Aufnahme von Béla Bartóks Oper »Herzog Blaubarts Burg« (1977): »Männer und Frauen agieren dabei in Chören, die die Rollen der beiden Protagonisten – Blaubart und Judith – auf verschiedene Tänzerinnen und Tänzer aufteilen.«40 Blaubart und Judith sind die Protagonist:innen, die als solche explizit besetzt werden, aber nicht von individualisierten Nebenfiguren flankiert sind, sondern von Kopien ihrer selbst. Auch in Reinhild Hoffmanns Stück Könige und Königinnen (1982, Bremen)41 tritt das ganze Ensemble als Königinnen und Könige auf, wobei es jedoch keine Ausdifferenzierung der Rollen gibt. Die 18 Tänzerinnen und Tänzer sind in der Besetzung als »Tänzer« alphabetisch, nach Frauen und Männern getrennt, genannt. Im Verlauf des Stückes wechselt die »Königsfunktion von einem zum nächsten Darsteller«, so beschreibt es Susanne Schlicher und folgert: »Man kann nicht mehr von einer Figur oder Rolle sprechen, sondern von einem von der Person losgelösten Begriff, einer Funktion, die hier in
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Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz
den verschiedenen Szenen thematisiert wird.«42 Das Interesse liege mehr auf »der Entwicklung szenischer Situationen«,43 so Schlicher. Der Körper werde hier als Austragungsort individueller, sozialer und gesellschaftlicher Konflikte markiert. In den Stücken von Linke, Hoffmann und Bausch wird tendenziell die Funktion von Nebenfiguren in Dispersionsfiguren transformiert, die neben den Protagonist:innen auftreten, nicht nur um diese zu rahmen oder zu grundieren, sondern um zu dem Konstrukt der Figur etwas Substanzielles (jedoch nicht Individuelles) hinzuzufügen. Dazu gehört, wie erwähnt, die Möglichkeit, die Figur simultan in anderen sozialen Situationen oder in unterschiedlichen Altersstufen zu zeigen. Dieses Verfahren schließt nicht aus, dass sich mikrochoreografisch hierarchische Abstufungen im Einsatz der Dispersionsfiguren beobachten lassen und weiter ausdifferenziert werden könnten. Dazu könnten die erwähnten Aspekte von Figurenkonfiguration und Raumnutzung herangezogen werden, ebenso wie tanzund bewegungsanalytische Kategorien. Eine spezifische Art von Nebenfiguren zeigt sich in Werken, in denen Figuren eine besondere, von den übrigen Auftretenden stark differierende Funktion übernehmen. In dem Stück 1980 (1980) von Pina Bausch tritt ein Turner auf, der turnt. Er teilt sich mit den Tänzer:innen die Bühne, übernimmt aber nicht deren Aktionen, sondern bleibt kontinuierlich und konsequent bei seiner Sache. In 1980 turnt der Turner, zaubert der Zauberer, geigt der Geiger. In der Besetzung sind diese drei im Unterschied zu den nicht weiter differenzierten, unter der Rubrik »Tanz« verzeichneten Akteur:innen als »Sonderdarsteller« eingeführt.44 Die Exekutionen dieser als »Sonderdarsteller« bezeichneten Figuren, die nicht zum festen Ensemble gehören, verstehe ich als performativ im Sinne von: ausüben, vollziehen, vollführen, verrichten. Indem sie, zumindest was den Turner und den Zauberer betrifft, aus dem ursprünglichen Kontext ihrer Praxis dezentriert wurden, verschiebt sich die Qualität ihrer Darbietungen. Der situative Kontext der von ihnen dargebotenen Handlungen – das Training, der Wettkampf, die Zaubershow mit ihrer spezifischen Dramaturgie – verblasst. Betont werden in 1980 hingegen ihre Aktionen als Verrichtungen neben anderen, die eine eigenständige performative Qualität erlangen. Exekutionen
In 1980 treten Repräsentanten dem Tanz benachbarter Disziplinen in einem Tanzstück auf: Der Zauberer spielt mit seinen Handlungen auf
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das Als-ob des Theaters und auf dessen Showaspekt an, der Turner korrespondiert in seiner Körperlichkeit und seinen artistischen Fähigkeiten mit den Tänzer:innen, der Geiger ist als Musiker traditionellerweise mit dem Tanz verbunden.45 Gleichwohl werden sie in der institutionellen Logik als Nicht-Tänzer markiert beziehungsweise in ihrem Tun und in ihrer (Berufs-)Bezeichnung als abweichend von dem, was die Tänzer:innen tun, spezifiziert. Man könnte sie in diesem Sinn als Nebenfiguren bezeichnen, da sie jenseits der Spielszenen der Tänzer:innen ihrer Kunst nachgehen. Ihre Funktion wäre es dann, die Aktionen der Tänzer:innen einerseits zu kontrastieren und andererseits mit ihren Aktionen die Grenzen dessen, was als Tanzstück zu verstehen ist, verschiebend zu erweitern. Eine vergleichbare Exekution in anderem Kontext wäre das stille Stehen der Figur im Stück Songs of the Wanderers (1994) des taiwanesischen Choreografen Lin Hwai-min und des Cloud Gate Dance Theatre. Während des 80-minütigen Stückes steht ein Akteur, im Paratext »Meditierender« genannt,46 vollkommen ruhig in Zhanzhuang-Stellung auf der Bühne, während von oben Reiskörner wie Wasserstrahlen auf seinen Kopf fallen, bis sich zum Schluss ein Hügel aus Reis um ihn angehäuft hat. Sein ruhiges Stehen kontrastiert mit den Aktionen der Tänzer:innen um ihn herum; es semantisiert mit seiner Verrichtung das Stück, spannt es in einen spirituellen Rahmen und übernimmt zugleich die Funktion, das Verstreichen der Zeit zu visualisieren. Auch hier verweist die kontrastierende Nebenfigur, die sich nicht den egalitären Aktionen der Gruppe anschließt, auf erweiterte Grenzen des Mediums Tanz, die in den 1990er Jahren bereits etabliert sind. Bausch hatte ab Mitte der 1970er Jahre in Europa die Ausweitung dessen, was als Tanz definiert wird, vorangetrieben; in den USA sorgte der Postmodern Dance ab Ende der 1960er Jahre dafür, dass seither physische Aktionen wie Gehen, Laufen, Hüpfen, Rollen, Sitzen, Stehen, Liegen fraglos als Tanz gelten. Solche Bewegungsformen, die aus dem alltäglichen Bewegungsrepertoire stammten, in ostentativer Beiläufigkeit und Konzentriertheit ausgeführt wurden und in engem Zusammenhang mit der Performance Art der Zeit gesehen werden müssen, prägten den Tanz nachhaltig. Institutionelle Veränderungen wie kollektives Arbeiten, die Generierung von Material aus den Improvisationen der Tänzer:innen, die Einflüsse von Performance Art, Postmodern Dance und Konzeptkunst wurden von Choreograf:innen der 1990er Jahre erneut aufgenommen und der eigenen Arbeit anverwandelt.
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Das äußert sich zum Beispiel in performativen Verrichtungen – zu denen eben auch Stehen, Liegen, Sitzen gehören – wie in der Produktion No One is Watching (1995) der US-amerikanischen, in Europa arbeitenden Tänzerin und Choreografin Meg Stuart. Ähnlich wie in Songs of the Wanderers kontrastiert dort eine Figur »in Stillness« die Aktionen der Tänzer:innen. Eine nackte Frau sitzt während der gesamten Zeit der Aufführung mit dem Rücken zum Publikum im hinteren linken Bereich der Bühne auf einem Hocker. Sie kann nur dann von den Aktionen der Tänzer:innen etwas sehen, wenn der links von ihr an der Wand lehnende Spiegel diese reflektiert. Fraglos ist sie eine Figur, »eine Gestalt, die auf der Bühne in Erscheinung tritt und aktiv oder passiv an einer Handlung oder einem Geschehen teilnimmt«47. Wie »der Meditierende« in Songs of the Wanderers tritt die Frau in No One is Watching in Erscheinung. Sie ist Akteurin, greift aber nicht in das Geschehen ein. Ihre Teilnahme lenkt den Blick auf eine Körperlichkeit, die zu den Körpern der fitten, schlanken Tänzer:innen eine Opposition bildet. Ihr performatives, in sich ruhendes Sitzen48 und ihre massive, fleischige Rückenansicht bilden einen scharfen Kontrast zu den Tanzenden und sind zugleich referenziell. Der abweichende Körper, der in der Regel aus dem Tanz ausgeschlossen ist, präsentiert sich hier als »Bildzitat«49: »Die szenische Versuchsanordnung scheint direkt den Bildern von Francis Bacon entsprungen.« Mit dem performativen Akt des Sitzens, den die nackte Frau exekutiert, vermittelt sie Kontext und spezifische Referenzen an das Publikum und übernimmt so Funktionen einer Nebenfigur, indem sie durch ihr phänomenales Sitzen die Körperlichkeit der anderen Darsteller:innen kommentiert und kontrastiert, was zum gängigen Leistungsspektrum von Nebenfiguren gehört. Interessant ist, dass auf diese Figur paratextuell (anders als bei Bausch und Lin Hwai-min) nicht hingewiesen wird. Obwohl die nackte Frau auf Fotografien, die das Stück dokumentieren, präsent ist und so das Werk mitrepräsentiert, wird sie auf der Website der Choreografin nicht als Darstellende aufgeführt.50 In gewisser Weise verbindet sich die Figur aufgrund der Dauerpräsenz auch mit der Ausstattung der Bühne. Ob in Bauschs 1980, in Songs of the Wanderers von Lin Hwai-min oder No One is Watching von Meg Stuart: Allen gemeinsam ist, dass die performativen Verrichter:innen mit dem, was sie tun, und dem, was sie nicht tun, kategorial von den übrigen Akteur:innen getrennt sind. Ihre »Zeit- und Raum-Organisations-Formel«51 unterscheidet sich fundamental von denjenigen der Tänzer:innen. Was sie
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Exekutionen
verrichten, das trägt jedoch entscheidend zur Semantisierung und Kontextualisierung der Stücke bei. Sie sind dezentriert, Figuren am Rande, die – als près de – die Gruppe mehr oder weniger egalitärer Tänzer:innen, die sich nur auf der Makroebene nach Haupt- und Nebenfiguren unterscheiden lassen, in ihrer Kollektivität konturieren und stärken. Relevant erscheint mir die Beobachtung, dass diese distanzierten Verrichter:innen sich kategorial unterscheiden von Verrichter:innen, die aus den Gewerken auf die Bühne kommen und Aktionen ausführen, die eng auf das Geschehen bezogen werden können, wodurch sie – man könnte sagen – fiktionalisiert, zur Figur werden, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Dafür liefert wieder Bausch ein Beispiel: In ihrem Stück Café Müller (1978) tritt der Bühnenbildner des Ensembles, Rolf Borzik, als Mann in dunklem Anzug auf, der das ganze Stück über auf der Bühne präsent ist und hektisch den Tänzer:innen Holzstühle aus dem Weg räumt, die sie nicht zu beachten scheinen und gegen die sie bei ihren Bewegungen sonst stoßen würden. Seine Bewegungen sind schnell, er rennt, er hechtet, er stößt die Stühle um, schleudert sie weg; in seinem Tun ist er permanent auf Verrichtungen der anderen fokussiert. Seine Aktionen sind zielgerichtet, effektiv und verursachen Lärm (der krachend umfallenden Holzstühle), ganz anders als die somnambulen oder trippelnden Bewegungsschleifen der Tänzer:innen. Borzik bereitet den Raum, er gestaltet das Bühnenbild in situ und actu und – tanzt. Im Paratext taucht er doppelt auf, als Bühnenbildner und als Name unter der Rubrik »Tanz«52. Dass Borzik beziehungsweise seine Bühnenfigur, die Stühle aus dem Weg räumt, in seinem Bewegungsverhalten und -repertoire von dem der anderen stark abweicht, segregiert ihn nicht von der Gruppe. Als jüngeres Beispiel für die Integration und Fiktionalisierung der Gewerke eignen sich die Werke Raimund Hoghes, in den 1980er Jahren Dramaturg von Pina Bausch und ab den 1990er Jahren als Choreograf und Performer/Tänzer tätig. Bereits in Hoghes erstem Stück, Verdi Prati (1992), zeichnete der bildende Künstler Luca Giacomo Schulte als Bühnenbildner verantwortlich. Mit der sechsten Produktion, Lettere Amorose (1999), änderte sich Schultes Status zu dem eines künstlerischen Mitarbeiters, wiederum 13 Stücke später, in Cantatas (2012), wurde er zusätzlich unter »Tanz« geführt. Bis zu diesem Zeitpunkt war Schulte bereits immer wieder auf der Bühne präsent gewesen: Er führte vielfältige Verrichtungen aus, die traditionell Bühnenbildner:innen, der Aufführung vorgelagert, und Bühnenarbeiter:innen im Verlauf der Aufführung sowie davor
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Dispersionen und Exekutionen: Zur Nebenfigur im Tanz
und danach übernehmen. Er trug Requisiten auf und ab, legte oder streute etwas aus, neutralisierte den Raum wieder, säuberte ihn; er bereitete den Raum für weitere Auftritte, akzentuierte ihn etwa durch das Malen von Wasserkreisen. Er tat es in demselben ausgestellten Duktus, der Hoghes eigene Aktionen als Performer kennzeichnete, doch in subordinierter Form. Mal stellte er sich an die Wand und hörte mit anderen der eingespielten Musik zu. Hoghe selbst blieben auf der Bühne die wesentlichen Raumausmessungen sowie Aktionen alleine und mit anderen vorbehalten. Schulte übernahm zunächst auch keine virtuosen Tanzsequenzen wie andere Tänzer:innen in Hoghes Stücken. Dennoch waren die Aktionen, die er ausführte, stilisiert. Die Performanz, die aus der Fiktionalisierung der Gewerke resultiert, unterstreicht einen erweiterten Tanz- und Choreografiebegriff und ist zugleich Ausdruck einer Organisationsstruktur, die dazu tendiert, das Kollektive des Produktionsprozesses auch im Vollzug der Aufführung auszustellen. Dies kann im Kontext jener kollaborativen Arbeit gesehen werden, die ab den 1990er Jahren die Zusammenarbeit vieler Gruppen bestimmte.53 Lässt man sich auf den Gedanken ein, solche Exekutionen auch unter dem Begriff der Nebenfigur zu fassen, dann kann man auch noch einen Schritt weitergehen und sich fragen, ob sich die Kategorie Figur beziehungsweise Nebenfigur auch auf die Zusehenden ausweiten lässt. Partizipation: Das Publikum als Nebenfigur?
In The Last Performance (1998) von Jérôme Bel, so konstatiert Peter Stamer, wird das Publikum durch die Aufrufung einzelner Namen (jeden Abend andere) durch die aus dem Walkman tönende Stimme anwesend: »Die Stimme markiert die Anwesenheit jeden Zuschauers, sie macht ihn zur Figur des Theaterstücks.«54 Durch die Nennung ihrer Namen werden die Zusehenden auf der Bühne präsent; sie beenden, so zur Figur geworden, durch ihre namentlichen Auftritte das Stück; »der Zuschauer wird als Figur des Stücks aus dem Stück entlassen«55. Mit der Nennung des eigenen Namens sind sie selbst auf der Bühne akustisch vertreten, die Nennung verweist stückintern auf die Konventionen eines Theaterabends, der mit der Reservierung, dem Kauf des Tickets beginnt.56 Das sprachliche Zitieren als ein prinzipielles metatheatrales Verfahren kann gleichermaßen kulturell bekannte Größen wie auch die Zuschauer:innen des jeweiligen
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Partizipation: Das Publikum als Nebenfigur?
Abends als Figuren etablieren. In dem Augenblick, in dem ein Name ausgesprochen wird, werden die so Bezeichneten für einen Moment zur Hauptfigur. Wie verhält es sich hingegen mit Stücken, in denen Teile des Publikums für das Publikum als Gestalten in Erscheinung treten und die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich ziehen? Gemeint sind hier partizipative Formate, die das Publikum als Akteur:innen einbeziehen. Es wird aufgefordert, sich aktiv am Geschehen, an einer Situation zu beteiligen, was den Partizipierenden als auch den (weiterhin) Zusehenden als klare Information kommuniziert wird. Damit findet ein Rollenwechsel statt, eine »Fiktionalisierung«57 der Zuschauenden. Dies geschieht zum Beispiel in der Inszenierung Dionysos Stadt von Christopher Rüping an den Münchner Kammerspielen. Hier gibt es zwei Formen von Publikumsbeteiligung: Erstens ist auf der Bühne eine »Raucherbank« mit dazugehöriger Ampelschaltung platziert, auf der – wie von Schauspieler Nils Kahnwald im Prolog erläutert, Stichwort: »szenisches Rauchen« – während der (insgesamt zehnstündigen) Vorstellung Zuschauer:innen, bei grüner Ampelanzeige, rauchen dürfen – und es, indem sie die Bühne betreten, dort auch tun. Zweitens werden im dritten Teil, zur Hochzeit von Elektra und Pylades, Teile des Publikums auf die Bühne gebeten, um mitzufeiern und mitzutrinken,58 bis sie wieder hinuntergebeten werden. Für die im Saal verbliebenen Menschen übernehmen sie kurzzeitig den Status von Figuren. Von Nebenfiguren? Kann man von diesem aktivierten Publikum als Nebenfiguren sprechen? Liefern sie in ihren performativen Verrichtungen Kontext und Referenz, was meines Erachtens zentrale Funktionen von Nebenfiguren sind? Oder stellen sie sich lediglich für die Dauer ihres temporären Bühnenauftritts zur Schau? Kennzeichnen sie als dispersive Figuration die Grenzüberschreitung auf die Bühne? Reicht es, in den eigenen Verrichtungen beobachtbar zu sein, um Figur zu werden? Das Publikum etwa, dem in dem Stück Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett (2020) der Gruppe Ligna über Kopfhörer Aufforderungen vermittelt werden, bestimmte Dinge in der Öffentlichkeit zu verrichten,59 wird aktiviert und von zufälligen Passant:innen ebenso wie von gezielt Anwesenden in seinem Verhalten beobachtbar; choreografiert wird es von Stimmen. Auch hier kann der plurale Körper nicht als Nebenfigur, allenfalls als multiple Hauptfigur gefasst werden, so meine These, weil dem so aktivierten Publikum die größtmögliche Grenzüberschreitung in die Beobachtbar- und Sichtbarkeit gelingt.
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Brandstetter, Gabriele: »Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe«, in: Neumann, Gerhard (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 598 – 623, hier: S. 599. Brandstetter, Gabriele: »Figura. Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert«, in: Fischer-Lichte, Erika/Schönert, Jörg (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 23 – 38, hier: S. 26. Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000, S. 189 – 212, hier: S. 201. Ebd. [Herv. i. O.]. Stamer, Peter: »›Ich bin nicht Jérôme Bel‹. Überlegungen zum Verhältnis von Figuration/Repräsentation im Tanztheater«, in: Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000, S. 138 – 157, hier: S. 139. Ebd. Ebd. Ebd., S. 143. Vgl. Siegmund, Gerald: Theater- und Tanzperformance zur Einführung, Hamburg 2020, S. 178 – 179: »Im Gegensatz zum Handlungsballett, gegen das sich der moderne Tanz absetzen möchte, ahmt er keine Handlung nach, sondern ist bereits Handlung, weil er die Prinzipien des Lebens selbst gestaltet.« https://www.staatsoper.de/stuecke/schwanensee/2022-06-04-1930-12932 [5. September 2023]. In der Tradition von Schwanensee wurde auch immer wieder mit einem positiven Ende experimentiert. Auch Benno wurde im 20. Jahrhundert bisweilen als Figur funktional ersetzt, zum Beispiel bei Alexander Gorski, der aus ihm 1920 in seiner Produktion für das Bolschoi-Theater einen Narren machte. Vgl. Koegler, Horst: [Eintrag] »Wenzel Reisinger. Lebedinoje osereo«, in: Dahlhaus, Carl (Hrsg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. v. Carl Dahlhaus (= Bd. 5. Werke Piccinni – Spontini), München 1994, S. 212 – 218, hier: S. 217. Vgl.: In der Version nach Petipa/Iwanow des Royal Ballet London in der Spielzeit 2021/22 rangiert die Figur Benno an fünfter Stelle nach Odette/Odile, Prinz Siegfried, der Königin und Rotbart, https://static.roh.org.uk/digital/cast-sheets/ Swan-lake/Cinema/German_ROH1540522_DIG_Cast_Sheet_SwanLake_22_ Cinema_Full_Cast_KL_v7.pdf [1. September 2023]. Ebenfalls in der Spielzeit 2021/22 reihte Ray Barras Fassung nach Petipa/Iwanow Benno an fünfter Stelle nach Odette/Odile, Prinz Siegfried, Rotbart, Charlotte (der von der Mutter dem Prinzen zugedachten Verlobten) und Königin Luise, https://www.staatsoper.de/ stuecke/schwanensee/2022-06-04-1930-12932 [20. September 2023]. Die Fassung von Marius Petipa und Lew Iwanow entstand 1895 am MariinskiTheater in St. Petersburg. Eine erste Fassung stammt von Wenzel Reisinger und kam 1877 am Bolschoi-Theater in Moskau heraus. Vgl. Koegler: »Lebedinoje osero«, S. 212 – 218. Vgl. Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft »Schwanensee«. Rekonstruktion von Alexei Ratmansky (2016), Wiederaufnahme 3. Juni 2018, Zürich 2018, S. 26. Vgl. den Beitrag von Christina Thurner in diesem Band. Homans, Jennifer: Apollon’s Angels. A History of Ballet, New York 2010, S. 285. Vgl. https://petipasociety.com/pavel-gerdt/ [12. September 2023]. Selma Jean Cohen argumentiert mit Alter und Position Gerdts: »Auch Bennos Auftritt im Adagio hatte einen ähnlichen prosaischen Grund: der alternde Pawel Gerdt war den körperlichen Anforderungen des Partnering in einem Pas de deux nicht mehr gewachsen. Da ihm jedoch aufgrund seines Status am Theater der Part des Helden zukam, mußte eine Regelung gefunden werden.« [Herv. i. O.], in: dies.: Nächste Woche Schwanensee. Über den Tanz und das Tanzen (amerikan. Original 1982), Frankfurt a. M. 1988, S. 17. Cohen: Nächste Woche, S. 17. Weiler, Christel/Roselt, Jens (Hrsg.): Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017, S. 178 [Herv. i. O.]. Beaumont, Cyril W.: The Ballet Called Swan Lake (Originalausg. London 1952), New York 1982, S. 99. [Herv. i. O., Fettung K. S.].
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Ebd., S. 69. Ebd. Ebd. Ebd. Homans: Apollon’s Angels, S. 285. Weiler/Roselt: Aufführungsanalyse, S. 194. Roselt, Jens: [Eintrag] »Figur«, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Weimar 2005, S. 104 – 107, hier: S. 106–107. Weiler/Roselt: Aufführungsanalyse, S. 171. Siehe ebd., S. 177. Für die Ballettkomödien Molières hat dies Stefan Wasserbäch beschrieben, der auch die Funktion der Nebenfiguren beleuchtet. Vgl. Wasserbäch, Stefan: Machtästhetik in Molières Ballettkomödien (= Biblio 17, Vol. 2015, Jg. 2017), Tübingen 2017. Humphrey, Doris: The Art of Making Dances (Originalausg. 1959), 17. Aufl., hrsg. v. Barbara Pollack, New York 1977, S. 82. Ebd. Ebd., S. 83. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, 3. veränd. Aufl., 2005, S. 148. Schlicher, Susanne: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke (= rowohlts enzyklopädie 441), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 169. Ebd. https://www.susanne-linke.eu/choreographien/1990/ [19. September 2023]. Ott, Michaela: Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin 2015. Siegmund: Theater- und Tanzperformance, S. 200. https://reinhild-hoffmann.de/1978-1986-bremer-tanztheater/koenige-undkoeniginnen#stb [20. September 2023]. Schlicher: TanzTheater, S. 251. Ebd. https://www.pinabausch.org/de/work/1980 [20. September 2023]. Ich unterscheide hier den Geiger bei Bausch von Musiker:innen, die auf der Bühne präsent, zum Teil in die Handlung eingebunden sind und so für die Zusehenden sichtbar den Sound für das Bühnengeschehen liefern. Auch sie sind Figuren, haben aber eine andere Funktion als der Geiger bei Bausch, der nicht den Soundtrack, der vom Band kommt, ersetzt. Figuren wären auch Kamerateams, die »von der dramatischen Handlung unberührt zwischen den Figuren auf der Bühne auftauchen und die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenken. Das Theater erweitert damit experimentell seine Konventionen und greift dabei Veränderungen alltäglicher Wahrnehmungspraktiken auf.« Weiler/Roselt: Aufführungsanalyse, S. 192. Zum performativen Stehen vgl. u. a. Lepecki, André: Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, New York (NY)/London 2006; Foellmer, Susanne: »Choreography as a Medium of Protest«, in: Dance Research Journal 48 (2016), H. 3, S. 58 – 69, https://www.jstor.org/stable/48629496; Schneider, Katja: »Wie stehen? Ein Vorschlag zur Kombination von Tanz- und Bewegungsanalyse mit Kontextualisierungs- und Referenzialisierungsstrategien«, in: Balme, Christopher/Szymanski-Düll, Berenika (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft (= Forum modernes Theater 56), Tübingen 2020, S. 199 – 220. Zum Gehen in performativem Kontext vgl. Hesse, Fiona/Oucheriev, Marie/Ulrich, Matthias (Hrsg.): Walk! (zgl. Ausstellungskatalog mumok, Wien, und Schirn Kunsthalle, Frankfurt a. M.), Wien 2022. Roselt, Jens: [Eintrag] »Figur«, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Weimar 2005, S. 104 – 107, hier: S. 104. Verwiesen sei hier darauf, dass André Lepecki für die Dramaturgie verantwortlich war. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 437.
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Zu dieser Produktion, im Untertitel »A love story for 6 dancers«, sind als Performer nur Tänzer:innen aufgeführt; die sitzende Figur ist nicht verzeichnet, https://www.damagedgoods.be/en/no-one-is-watching [13. September 2023]. Brandstetter: »Defigurative Choreographie«, S. 599. https://www.pinabausch.org/de/work/cafe [25. September 2023]. Vgl. dazu: Ruhsam, Martina: Kollaborative Praxis: Choreographie, Wien, Berlin 2011. Stamer: »Ich bin nicht«, S. 153. Eine Gegenposition dazu nimmt ein: Siegmund: Abwesenheit, S. 341. Ebd. Vgl. ausführlicher dazu: Schneider, Katja: Tanz und Text. Zu Figurationen von Bewegung und Sprache, München 2016, S. 123 – 125. Siegmund: Theater- und Tanzperformance, S. 139. Ich habe die Vorstellung am 2. März 2019 gesehen. Vgl. auch Dössel, Christine: »Es werde Sonnenlicht«, in: Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2018, https://www. sueddeutsche.de/kultur/muenchner-kammerspiele-1.4159477? [5. Mai 2024]. Dies können dezidiert Tanzbewegungen sein, aber auch Aktionen wie Schuhe ausziehen.
David J. Levin
Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne In diesem Beitrag möchte ich, vom Begriff der Nebenfigur ausgehend, eine bestimmte Form der Operninszenierung betrachten. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre haben sich bekanntlich einige der wichtigsten Choreograf:innen – Pina Bausch, Trisha Brown, Anne Teresa De Keersmaeker, Wayne McGregor, Mark Morris und Sasha Waltz, um einige prominente Namen zu nennen – der Inszenierung von Opern zugewandt. Einige der daraus resultierenden Arbeiten sind von besonderem Interesse, was Neuerungen der Disposition von Figuren auf der Opernbühne und die damit verbundenen Konventionen der Mimesis und der Sinnerzeugung betrifft. Wenn Choreograf:innen Opern inszenieren, kommt es immer wieder vor, dass Hauptund Nebenfiguren neu konstelliert werden: Wie diese Konstellationen aufgefasst und die Implikationen für die Ästhetik der gegenwärtigen Operninszenierung verstanden werden können, sind Fragen, denen ich in diesem Essay nachgehen werde. Wenn Opern von Choreograf:innen inszeniert werden, erscheinen meist Tänzer:innen in ihren Produktionen – und sie erscheinen nicht nur in Ballettszenen, wie sie ja immer wieder in der Oper vorkommen, sondern überall. Dass Tänzer:innen auf der modernen Opernbühne auftauchen, ist insofern bemerkenswert, als diese Bühne generell durch eine Reduktion der Darstellungsmittel im Dienste einer strengeren dramatischen Mimesis gekennzeichnet ist, seit Richard Wagner Mitte des 19. Jahrhunderts gegen das Primat der Zerstreuungsmechanismen wetterte und dabei besonders das unmotivierte Herumtanzen ins Visier nahm, das er als besonders irritierend empfand. Von daher verwundert es auch nicht, dass die meisten dieser »Choreopern« (wie die von Choreograf:innen inszenierte Opern von der Tanzwissenschaft getauft worden sind) einer Wagner’schen Ästhetik insofern folgen, als sie den singulären Vorrang der Sänger:innen durch einen ähnlich singulären Vorrang der Tänzer:innen ersetzen. Indem nun Tänzer:innen anstelle von Sänger:innen auftreten, wird die Darstellungsform inhaltlich zwar verändert, jedoch in der Singularität der Ausdrucksweise kaum infrage gestellt. In dem umfangreicheren Projekt, dem dieser Aufsatz entnommen ist, gehe ich der Frage nach, wie sich die Inszenierungs-
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
praktiken der Oper in den letzten fünfzig Jahren verändert haben. Bei diesen Veränderungen spielt die Choreoper eine wichtige und bisher nur wenig beachtete Rolle.1 Nehmen wir sie ins Visier, so gibt sie Anlass, das Erscheinen einer Dramaturgie des Nebeneinanders (oder: der Nebenfiguration) auf der Opernbühne zu verfolgen, die als entscheidender Beitrag zu den Darstellungsformen auf der heutigen Opernbühne – und sogar als Weiterentwicklung der Praktiken des postdramatischen (Opern-)Theaters – verstanden werden kann. Ich möchte dies exemplarisch an Anne Teresa De Keersmaekers Inszenierung von Mozart und da Pontes Così fan tutte aufzeigen, die 2017 an der Pariser Oper aufgeführt und kurz danach auf DVD veröffentlicht wurde. Haupt- und Nebenfiguren auf der (Chore-)Opernbühne
Beim Auftritt der Tänzer:innen in Choreopern ist es für den hier diskutierten Zusammenhang entscheidend, dass dabei Sänger:innen – normalerweise die Hauptfiguren der Oper – zu Nebenfiguren werden. Diese veränderte Positionierung hat eine eigene Geschichte, die sich vom Orchestergraben zu den Bühnenrändern erstreckt. Als etwa George Balanchine 1936 Glucks Orfeo ed Euridice an der Metropolitan Opera in New York inszeniert oder als Mark Morris 1989 Purcells Dido and Aeneas für das Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie auf die Bühne bringt, werden die Sänger:innen in den Orchestergraben verbannt, um den Blick des Publikums frei für die Tänzer:innen und den Tanz zu machen.2 Bei Pina Bausch, die Orpheus und Eurydike 1975 für das Tanztheater Wuppertal erarbeitet, haben die Sänger:innen Zugang zur Bühne, doch positionieren sie sich dort meist am Rande oder im Hintergrund.3 Bei diesen und ähnlichen Inszenierungen handelt es sich letztlich um einen einfachen Tausch: Der Blick des Publikums wird von Sänger:innen auf Tänzer:innen ›umgeschaltet‹; die einen werden durch die anderen ersetzt. Dabei bleibt die von Wagner abgeleitete, homogene Darstellungsästhetik tendenziell unangetastet: Sinnstifter sind in diesem Modell die tanzenden Körper, begleitet von den nun visuell verdrängten Stimmen der Sänger:innen und dem Spiel des Orchesters. Im Fall des Pariser Così von Anne Teresa De Keersmaeker ist das ganz anders. Hier wird jede Rolle doppelt besetzt, mit jeweils einem:r Tänzer:in (aus De Keersmaekers Kompanie Rosas) und einem:r Sänger:in.4 Durch diese Verdopplungen leistet die Inszenierung eine Umgestaltung und Erforschung der Ausdrucksmöglichkeiten im Stück, und zwar bei jedem Auftritt und in jeder Szene. Bei
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Così und die Beständigkeit
De Keersmaeker findet parallel zur inhaltlichen Entwicklung des Bühnengeschehens fortwährend ein formaler Dialog zwischen Singen, Tanzen, und Spielen statt. Anhand dieses Dialogs wird immer wieder infrage gestellt, was und wer Hauptfigur, was und wer Nebenfigur ist. Hier werden diese Identitäten – wird Identität überhaupt – in pluralisierter Form zur Schau gestellt (und selbstverständlich auch: zu Gehör gegeben). Così und die Beständigkeit
Così fan tutte ist ein besonders passendes Forum für die Desorientierung und Neuorientierung, die De Keersmaekers Produktion vornimmt, da diese Oper selbst so sehr mit Des- und Neuorientierung beschäftigt ist. Schließlich ist dies ein Stück, das die Unbeständigkeit – und das Abhandenkommen – von Identität darstellt. Das Stück fragt, was es bedeutet, jemand zu sein (und jemanden zu lieben) und dann plötzlich jemand ganz anderes zu sein (und jemanden anderes zu lieben). Während die Inszenierung mit dem ständig wechselnden Nebeneinander von Sänger:innen und Tänzer:innen eine Nebenfiguration darstellt und erkundet, findet diese Nebenfiguration innerhalb eines Stückes statt, das eben selbst im Kern die Unbeständigkeit der einzelnen Figuren erforscht. Bekanntlich komponierte Mozart Così zur Zeit der Französischen Revolution: Die Uraufführung fand im Januar 1790 am Wiener Burgtheater statt, knapp zwei Jahre vor Mozarts Tod im Dezember 1791. Die Handlung spielt im Golf von Neapel im 18. Jahrhundert. Der alternde Philosoph Don Alfonso ist von der Untreue der Frauen überzeugt und provoziert seine beiden jungen männlichen Freunde Ferrando und Guglielmo, indem er die Treue ihrer Verlobten, der Schwestern Dorabella und Fiordiligi, infrage stellt. Um seine Behauptung zu beweisen, schlägt Alfonso den jungen Männern folgenden Plan vor: Sie sollen ihren Verlobten mitteilen, dass sie in den Krieg ziehen, und dann als Albaner verkleidet zurückkehren, bereit, alles zu tun, um die Verlobte des anderen zu verführen. Nach der plötzlichen Abreise ihrer Geliebten sind Fiordiligi und Dorabella empört, als die Dienerin Despina (Don Alfonsos Komplizin) ihnen zwei Albaner vorstellt, die sich in ihren romantischen Ersuchen als bemerkenswert beharrlich erweisen. Nachdem die Schwestern sie zunächst entrüstet zurückgewiesen haben, lassen sie sich schließlich von den neuen Verehrern verführen, die ihrerseits desillusioniert sind, als sie sehen, dass ihre Geliebten sie verraten. »Das tun sie alle!« (»Così fan
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
tutte«), bemerkt Don Alfonso kurz vor dem Ende und freut sich, dass er seinen Standpunkt bewiesen hat. Als der Betrug auffliegt, finden die beiden Paare in ihrer ursprünglichen Konstellation wieder zusammen, wie es sich für eine Komödie gehört, und trotz allem. Seit ihrer Entstehung rief die Oper Così, wie Edward Said deutlich macht, tief sitzende Ängste in Bezug auf Treue und Spektakel hervor. Die Korrekturmaßnahmen, die unternommen wurden, um diesen Ängsten gerecht zu werden, hatten wichtige Folgen für die Operngeschichte, von Beethovens Fidelio (das Said als programmatisches Korrektiv zu dem libidinösen Aufruhr liest, den Mozart und da Pontes späte Komödie auslöste) bis zu Strawinskys The Rake’s Progress.5 Zudem wurde das Stück selbst Teil der Korrekturmaßnahmen, die es auslöste, wie Gabriele Brandstetter in einem meisterhaften Werk der philologischen Rekonstruktion aufzeigt: Die Übersetzungen von Da Pontes Libretto ins Deutsche im frühen 19. Jahrhundert zeugen von einer schwindelerregenden Vielfalt von Versuchen, die sexuelle Ungebärdigkeit des Librettos einzudämmen.6 Als Stück spielt Così fan tutte also mit der Beständigkeit. So stellt Fiordiligi in der zehnten Szene des zweiten Aktes die Frage, für sich, jedoch auch für das Stück im Allgemeinen: »[W]ie [kann] sich an einem einzigen Tag ein Herz so ändern«? (»Ma non so, come mai si può cangiar in un sol giorno un core.«)7 Diese Frage wird meist als Problem einer individuellen Psychologie verstanden. Doch De Keersmaekers Inszenierung erweitert sie zu einem Problem der Form. Das heißt, dass ihre Inszenierung die Des-integration (vor allem der Zuneigung, aber auch der Identität und der Wahrnehmung), um die es in Così geht, sichtbar macht, ja verkörpert, indem sie das expressive Register des Stückes umsetzt, die Körper vervielfacht und damit den expressiven Raum in ein körperliches Nebeneinander umdenkt, zwischen einzelnen Figuren, etwa zwischen den Schwestern Dorabella und Fiordiligi, jedoch auch innerhalb der jeweiligen Figur, also zwischen Fiordiligi und Fiordligi; zwischen Tanzen und Singen; zwischen Körpern und Formen des Agierens, der Wahrnehmung und der Darstellung. Die Dramaturgie der Inszenierung können wir also als eine des Nebeneinanders, ja der Nebenfiguration, auffassen, in der pluralisierte Figuren nebeneinander und neben sich selbst, gestellt werden. De Keersmaekers Dramaturgie der Nebenfiguration
De Keersmaekers Inszenierung wurde am 26. Januar 2017 an der Opéra Garnier in Paris uraufgeführt; sie wurde im Fernsehen live
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De Keersmaekers Dramaturgie der Nebenfiguration
Abb. 1: Così fan tutti i ricchi? Miah Persson (Fiordiligi), Bo Skovhus (Don Alfonso), Florian Boesch (Guglielmo), und Isabel Leonard (Dorabella) in der Inszenierung von Claus Guth bei den Salzburger Festspielen, Sommer 2009, Foto © Monika Rittershaus
ausgestrahlt und erschien einige Monate später auf DVD. So nahm die Inszenierung einen Platz in einer Reihe von neueren Inszenierungen ein, die nicht nur auf Opernbühnen weltweit zu erleben, sondern auch auf DVD und im Netz zu sehen sind. Diese mediale Verfügbarkeit der Inszenierung überschneidet sich mit einer neueren Deutungstendenz des Stückes, welche die historischen Resonanzen der im Stück kursierenden Angst vor dem Verrat durch den Partner vor einen aktuellen Hintergrund stellt. Einen Urtext für die Neigung zur aktualisierenden Deutung liefert die Peter-Sellars-Inszenierung von 1986, die das Stück, wie Sellars es zu tun pflegte, in einem zeitgenössischen Moment und an einem vertrauten Ort ansiedelte, in diesem Fall im »Despinas«, einer Kneipe in den Hamptons, wo Mozart und Da Pontes Figuren in Jeans, T-Shirts und Sommerkleidern auftraten.8 Im Laufe der letzten 15 Jahre haben einige Inszenierungen die mit Sellars verbundene
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
Abb. 2: Liebesprobe(bühne). Von links: Erin Wall (Fiordiligi), Elīna Garanča (Dorabella) Barbara Bonney (Despina) und eine unbenannte Bürgerin im Bühnenbild von Richard Peduzzi für die Inszenierung von Patrice Chéreau für das Festival d’Aix en Provence im Jahr 2005. Foto © Ros Ribas
Neigung zur Aktualisierung weitergeführt, um die soziale Welt des Stückes im Lichte der Globalisierung von Elitekulturen zu erforschen: In der Salzburger Inszenierung von Claus Guth aus dem Jahr 2009 (Abb. 1) und der Madrider Produktion von Michael Haneke aus dem Jahr 2013 wird das Stück in eine Welt junger Privilegierter eingefügt, mit Prada-Anzügen und aufgelockerten Krawatten für die Jungen und engen Designerkleidern und High Heels für die Mädchen und dem allgegenwärtigen Gefühl, dass der schillernde Schein nicht nur in zwischenmenschlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht täuscht: In diesen Inszenierungen ist das Partyleben der »Rich and Famous« selten unbeschwert. Man denke an Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999) oder die HBO-Satire The White Lotus (2021 –) von Mike White: Guth und Haneke haben sich beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf den Weg gemacht, die Düsternis und Leere einer Welt des Glamours zu erkunden. In beiden Inszenierungen ist die Welt des Stückes eine uns bekannte, wenn auch nicht gerade zugängliche (etwa in East Hampton, Gstaad oder SaintTropez), die ein Opernpublikum in Salzburg oder am Teatro Real Madrid vermutlich leicht erkennen würde, da sich die Lebenswelt der globalen Eliten der Oper in einigen Hinsichten mit ebenjener überschneidet, die in den Inszenierungen dargestellt wird.
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De Keersmaekers Dramaturgie der Nebenfiguration
Dieser flüchtige Rundgang durch die neuere Produktionsgeschichte soll verdeutlichen, wie einzigartig die Pariser Inszenierung von De Keersmaeker ist. Ihre Inszenierung spielt auf einer nackten Bühne, einem Raum ohne unmittelbaren szenografischen Bezug. In dieser Hinsicht ähnelt die Inszenierung am ehesten dem Schauplatz der Inszenierung Patrice Chéreaus in Aix-en-Provence 2005 (Abb. 2).9 Doch während Chéreaus Inszenierung auf einer von Richard Peduzzi entworfenen Probebühne eines nicht näher benannten italienischen Opernhauses spielt und damit vor allem auf das Musiktheater Bezug nimmt, ist der Ort, wo De Keersmaekers Inszenierung spielt, die Bühne an sich. Anders formuliert, wir befinden uns an einem Zwischenort, der weniger erfunden als vorhanden ist: eine leere Opern- und Ballettbühne im Palais Garnier, die ja von der Opéra national de Paris und dem Ballet de l’Opéra national de Paris gleichermaßen geteilt und bespielt wird. Für Zuschauer:innen, die mit De Keersmaekers Arbeiten vertraut sind, ist das karge Bühnenbild, von Jan Versweyveld entworfen, durch die auf dem Boden markierten geometrischen Muster unmittelbar als eine De-Keersmaeker-Bühne erkennbar, da es an die Bühnenbilder früherer Inszenierungen erinnert und vom häufigen Rückgriff der Choreografin auf die Geometrie als Bezugspunkt in ihrer Arbeit zeugt. Dies also sind die ersten Nebenfiguren, die das Publikum der Inszenierung wahrnimmt: »ein mehrfarbiges und geometrisches Profil, das mit Hilfe von Pentagrammen, Kreisen und Spiralen nachgezeichnet werden kann, die sich augenscheinlich kreuzen und bis ins Unendliche ineinandergreifen«, wie es der Produktionsdramaturg Jan Vandenhouwe formuliert.10 Indem sie die Rollen verdoppelt, vervielfältigt De Keersmaeker das Feld unserer visuellen Identifikation: Die vertraute dyadische Beziehung (zwischen Zuschauer:in und Sänger:in) wird demnach trianguliert, so dass sich die Zuschauer:in mit je einem:r Sänger:in und einem:r Tänzer:in pro Rolle zurechtfinden muss. Und es ist wichtig festzuhalten, dass diese Vervielfältigung selbst einer weiteren Vervielfältigung unterliegt. Um dies zu erklären, möchte ich kurz auf die Dramaturgie der Nebenfiguren in der Inszenierung eingehen, die wir, wie bereits gesagt, primär im Zeichen einer Dramaturgie der Nebenfiguration verstehen können. De Keersmaekers Vorgehensweise in Paris, die Gesangsrollen zu verdoppeln, hat einen wichtigen Vorläufer in Hans Neuenfels’ Stuttgarter Inszenierung von Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail aus dem Jahr 1998. In seiner Inszenierung verdoppelt
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
Neuenfels jede der Hauptrollen (mit Ausnahme von Pascha Selim) und teilt sie in jeweils zwei Rollen auf, die von einem:r Sänger:in und einem:r Schauspieler:in gespielt werden. Hier konvertiert die Inszenierung in Form eines Exzesses, was der Operntext sonst als Mangel darstellt: Wenn der Pascha normalerweise als Schauspieler ohne Sängerstimme verstanden (und besetzt) wird, so werden hier alle anderen Hauptdarsteller:innen der Oper – jede:r von ihnen natürlich ein:e Sänger:in – durch eine:n Schauspieler:in ergänzt.11 Sowohl in der Stuttgarter Entführung als auch in der Pariser Così findet eine expressive Verdoppelung statt, deren Logik sich aus der Unterscheidung von Ausdrucksformen ergibt (bei Neuenfels eine Verdoppelung von Sänger:innen mit Schauspieler:innen, bei De Keersmaeker eine Verdoppelung von Sänger:innen mit Tänzer:innen). Doch obwohl beide Inszenierungen eine Verdoppelung vornehmen, scheint mir ihr Ansatz wesentlich verschieden: Während Neuenfels’ Einsatz von Schauspieler:innen und Sänger:innen immer wieder im Laufe des Stückes thematisiert und reflektiert wird (so dass die Schauspieler:innen und Sänger:innen ihre Ausdrucksmöglichkeiten und -grenzen auf verschiedene Weise zur Kenntnis nehmen und kommentieren), wird in der Inszenierung von De Keersmaeker die Unterscheidung zwischen Gesang und Tanz als Voraussetzung für die von der Inszenierung geschaffene Welt einfach vorausgesetzt und nicht weiter thematisiert. Umso bemer-
Abb. 3: Die sechs Sänger:innen und sechs Tänzer:innen als gestisches Ensemble in Anne Teresa de Keersmaekers Inszenierung für die Opéra de Paris in 2017, Foto © OnP
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De Keersmaekers Dramaturgie der Nebenfiguration
kenswerter ist es, dass De Keersmaeker die Spieler:innen in Paris immer wieder als gestisches Ensemble versammelt, das heißt: Sie präsentiert die Sänger:innen als expressive Körper und bindet sie in einem gewissen Maß in die choreografierte Bewegung ein (Abb. 3). Nichtsdestotrotz nimmt sich die Pariser Inszenierung die Möglichkeit, den Ausdrucksunterschieden zwischen Gesang und Tanz freien Lauf zu lassen, und im Gegensatz zur Stuttgarter Entführung ist sie weniger gehemmt in ihrer Erkundung; die Unterschiede werden zur Schau gestellt. Für das Publikum der Pariser Inszenierung stellen sich eine Reihe von Fragen, spannend und verwirrend zugleich. Nicht nur: Wer ist die eine oder andere Figur? Sondern auch: Wo ist sie? – Worin besteht sie? – Wird sie getanzt? – Gesungen? Da es sich um eine Multiplikation handelt, in der die Figur zugleich von der einen Instanz gesungen, von der anderen getanzt und deshalb ständig und wechselhaft zu-, von- und gegeneinander erlebt wird, werden auch die Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenfigur in Bewegung gesetzt. Konkret: Die Frage, wer und was Haupt-, wer und was Nebenfigur ist, wird nicht nur zwischen Figuren gestellt – so etwa zwischen Fiordligi und Dorabella –, sondern auch unter den Figuren selbst, also zwischen Fiordiligi und Fiordiligi, Dorabella und Dorabella. In dieser Inszenierung findet die Figur nie, oder nur geteilt und verdoppelt, zu sich selbst. Sie existiert nur im Verhältnis zu einer oder einem daneben. Statt eines festen Gerüsts oder einer festen Hierarchie, durch das oder durch die einzelne Figuren in Bezug zueinander gestellt werden, bietet Così von De Keersmaeker eine konstitutive Flüchtigkeit der Figuration. Dadurch wird die Binsenweisheit, nach der die Oper ein Sammelbecken expressiver Formen ist, neu belebt. In dieser Inszenierung finden wir ein Übermaß an Bedeutungen, das die Beziehungen der Figuren im Stück eher dynamisch als starr gestaltet, und ebenso werden Charakter und Situation und Identität im Stück neu verunsichert, aktiviert sowie in Bewegung gesetzt. In dem Impuls zu Multiplikation und Bewegung widersetzt sich De Keersmaekers Inszenierung der konsolidierenden Logik des Wagnerischen Projekts, der Gesamtisierung des Gesamtkunstwerks, der Zusammenschaltung von Ausdrucksformen im Kunstwerk der Zukunft. War es Wagners Anliegen, die Autonomie der Ausdrucksformen in den Dienst einer ausdrucksstarken Singularität zu stellen, so sind es hier die dispersiven Energien (um einen Schlüsselbegriff aus Katja Schneiders Beitrag zur Tagung »Nebenfiguren« zu zitieren12) von De Keersmaekers Projekt, die dazu tendieren, die Ausdruckskanäle
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
auf eine produktive Art und Weise voneinander zu trennen und nebeneinander zu stellen. Plus de deux: Despina und die Figuration
Um einen besseren Eindruck davon zu vermitteln, wie De Keersmaekers Inszenierung vorgeht, möchte ich eine Szene eingehender betrachten. Dies ist ein heikles Unterfangen, da die Inszenierung, wie ich bereits angedeutet habe, durch eine bemerkenswerte idiomatische und dramaturgische Vielfalt gekennzeichnet ist, so dass bei der Untersuchung einer einzelnen Szene die Gefahr besteht, das Dynamische zu fixieren und einzelne Aspekte zu fetischisieren. Eine Variante dieses Auswahlproblems resultiert aus der Tatsache, dass die Inszenierung für Fernsehen und DVD aufgenommen worden ist. Ich denke dabei an die emphatisch konventionelle Kameraführung und den Schnitt der DVD-Version, die zwangsläufig sehr viel dazu beitragen, unseren Blick zu lenken und dabei in jedem Moment Entscheidungen darüber treffen, wer oder was als eine Hauptfigur, wer oder was als eine Nebenfigur zu betrachten sei. So könnte man sagen, dass die Kamera das transaktionale Spiel der Inszenierung, die Art und Weise, wie expressive Autorität zwischen Sänger:innen und Tänzer:innen in der Inszenierung ausgetauscht und weitergegeben wird, wörtlich vor Augen führt, anschaulich macht. Dass sich Kameraführung und Schnitt so sehr an den Konventionen der Opernaufnahme halten, bedeutet, dass die DVD-Version weniger das Spiel und die Dynamik innerhalb der Inszenierung wiedergeben, als dieses in die konventionelle Sprache von Opernaufnahmen einengt, in denen Sänger:innen – und mehr noch: deren Stimmen – immer wieder in den Vordergrund gestellt werden. Das Resultat ist eine entscheidende Einengung der Darstellung, eine Reduzierung ihrer expressiven Multiplizität, da die Kamera immer wieder entscheidet, was die Inszenierung sehr viel offener lässt: wo Signifikanz zu suchen ist, oder, etwas weniger abstrakt ausgedrückt, wohin sich der Blick des:r Zuschauers:in in jedem einzelnen Moment richten könnte. Wird die Inszenierung im Theater erlebt, ist es hingegen dem:r Zuschauer:in überlassen, zu bestimmen, wer wann eine Hauptfigur, wer wann eine Nebenfigur darstellt – oder besser: was als Haupt- und als Nebenfigur wahrgenommen wird. Darin unterscheidet sich De Keersmaekers Inszenierung von den konventionalisierten Praktiken vieler früherer Choreopern. Die Bildregie der DVD macht es dem:r Zuschauer:in bedauerlicherweise schwerer, ebendiesen Unterschied wahrzunehmen.
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Plus de deux: Despina und die Figuration
In der Pariser Inszenierung werden die Tanz-Gesang-Paare als solche durch die von An D’Huys entworfenen Kostüme andeutungsweise identifizierbar. So trägt die Sängerin Michèle Losier als Dorabella bei ihrem Auftritt in der zehnten Szene des ersten Aufzugs ein gelbes Hemd und einen weißen Rock, und die Tänzerin Samantha van Wissen trägt Hemd und Rock im selben Gelb. Die Kostüme ähneln sich, bleiben aber auch voneinander unterschieden. Jacquelyn Wagner, die Fiordiligi singt, trägt das lange schwarze Kleid, mit dem sie am Anfang der Inszenierung auftrat, und das jetzt das Leiden andeutet, das mit dem plötzlichen Scheiden ihres Liebhabers in den Krieg verbunden ist; Cynthia Loemij, die die Rolle tanzt, trägt eine schwarze Tunika über den weißen Hosen. Die Kostüme werden im Laufe der Inszenierung gewechselt, jedoch wird die am Anfang eingeführte Grundähnlichkeit der Paare (meistens, aber nicht nur, durch Farbe oder Muster der Kleidung markiert) beibehalten. Despinas Arie in F-Dur, »In uomini, in soldati« (»Von Männern, von Soldaten«), erklingt in der Szene zehn, gegen Mitte des ersten Aktes. Es ist Despinas erste Arie und sie bietet ein erhellendes (und amüsantes) Beispiel für einige der Details von De Keersmaekers Inszenierung. Alle Frauen (das heißt: das jeweilige Duo aus Tanz und Gesang, durch das Dorabella, Fiordiligi und Despina dargestellt werden) sind auf der Bühne versammelt, nachdem Dorabella gerade in ihrer Arie in Es-Dur, »Smanie implacabili, che m’agitate« (»Unerbittliche Qual, die mich peinigt«), der Verzweiflung der Schwestern über die plötzliche Abreise ihrer Liebhaber einen gebührend melodramatischen Ausdruck verliehen hat. In dem darauffolgenden Rezitativ und der Arie erteilt Despina ihren Herrinnen eine unverblümte Lektion in den geschlechtsspezifischen Gepflogenheiten der Welt. Wie einige Kritiker:innen festgestellt haben, steht ihre Unverfrorenheit im Einklang mit jener Autorität, die die Opera buffa den Dienerfiguren immer wieder zugesteht: ihren Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen.13 Doch selbst wenn man sich die allgemeinen Normen der Opera buffa vor Augen hält, ist die Lektion, die Despina erteilt, bemerkenswert wegen der Deutlichkeit ihrer Sexualpolitik und des Selbstbewusstseins der musikalischen Deklamation. Wie Mary Hunter hervorhebt, gebietet Despina nicht nur über ihre Herrinnen, sondern auch über das Orchester, »interrupting its opening flourish and derailing what could have been a perfectly decorous opening«14. Der Dialog der Dienerin mit dem Orchester in dieser Arie steht nicht nur in deutlichem Kontrast zu ihrem untergeordneten sozialen Status, sondern verändert auch vorübergehend die Rolle des Orchesters als Ausdruckspartner: 127
Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
Abb. 4: Die Tänzerin Marie Goudot (links) und die Sopranistin Ginger Costa-Jackson teilen ein gestisches Vokabular in Anne Teresa de Keersmaekers Inszenierung für die Opéra de Paris in 2017, Foto © Anne Van Aerschot/Rosas
[T]he level of dialogic engagement between Despina and the orchestra, which functions almost as another character at the beginning of ›In uomini‹, is unique in the opera and contrasts with the voice-orchestra relations in [Despina and Fiordiligi’s] arias, which are both more decorous […] and less interlocutory.15 So zeigt Hunter, wie Mozart und Da Ponte die Rolle der Despina sowohl in sozialer als auch in musikalischer Hinsicht zwischen den ihr auferlegten und den von ihr konstruierten Rollen aufgeteilt haben. Gesellschaftlich ist die ihr zugewiesene Rolle eine untergeordnete, aber die Rolle, die sie in der Arie einnimmt, ist autoritativ, sogar herrisch. Dasselbe gilt für die Musik: Aufgrund der Beherrschung des musikalischen Materials und ihrer mangelnden Bereitschaft, sich den deklamatorischen Vorgaben des Orchesters zu beugen oder anzupassen, führt Despina das Orchester an, das sie normalerweise nur begleiten würde. (Wie Kristi Brown-Montesano treffend formuliert hat: »Despina lays out crime and punishment with the same music, combining bucolic affability with tenacious drive.«16) Um noch einmal direkt Bezug auf die Terminologie dieses Bandes zu nehmen: In der Arie Despinas fungiert die Nebenfigur in verschiedener Hinsicht – politisch, kompositorisch, szenisch – als Hauptfigur.
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Plus de deux: Despina und die Figuration
In ihrer Deutung der Szene zeigt De Keersmaeker zweierlei: zum einen die Ausdrucksstärke und den spielerischen Elan von Despinas Ausdrucksautonomie, zum anderen die Einschränkung der expressiven Eigenständigkeit, die dieser zugrunde liegt. Während die Sopranistin Ginger Costa-Jackson die Arie an die beiden Schwestern(paare) Dorabella und Fiordiligi auf der Bühne richtet (durchsetzt von gelegentlichen komischen Nebenbemerkungen an das Publikum), bewegt sich die Tänzerin Marie Goudot um die geometrischen Formen, die der Bühne eingeschrieben sind, sowie um die Schwestern und um Costa-Jackson herum. Man könnte die Pluralisierung der Figuration zwischen Sängerin und Tänzerin so lesen, dass die Sopranistin Ginger Costa-Jackson musikalisch für Despinas vergleichsweise freie Rede einsteht und gleichzeitig implizit Despinas körperliche Einschränkung anschaulich macht, während es der Tänzerin Marie Goudot überlassen wird, gestisch für Despinas Ausdrucksautonomie einzustehen, während sie implizit auch ihre musikalische Einschränkung figuriert. Und doch kreuzen sich diese Tendenzen: Die beiden Despinas werden in der Inszenierung der Arie immer wieder miteinander verbunden; ihre Ausdrucksweisen überschneiden sich aufgrund eines subtilen gemeinsamen gestischen Vokabulars, wie zum Beispiel ein Klopfen auf die Brust oder eine leichte Auswärtsdrehung der Hände (Abb. 4). Die Pariser Inszenierung verwandelt also die deklamatorische Arie einer Dienerin in eine Art erweitertes Duett, nicht so sehr ein Pas de deux, sondern ein Plus de deux, bei dem das manifeste »deux« aus dem Gesangpart und dem Tanzpart besteht (aber auch, wie Mary Hunter betont, aus Despina und dem Orchester), bei dem aber auch diese Identitäten in Bewegung gesetzt werden. Goudot und Costa-Jackson strahlen ein Gefühl von gleichzeitiger Autonomie und Synchronität aus: So korrespondieren die Tanzbewegungen Goudots immer wieder mit den Bewegungen von Costa-Jackson, wenn auch nur flüchtig: in der Körperhaltung, in gemeinsamen Blicken, in Konstellationen der körperlichen Nähe. So halten Tänzerin und Sängerin, um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen, in Schlüsselmomenten der Arie inne und betrachten sich gegenseitig, etwa wenn Despina vor der Fermate in Takt 57, kurz vor dem Ende der Arie, klagt: »nè val da barbari chieder pietà« (»es ist Wahnsinn, von Barbaren Mitleid zu erwarten«). Die Choreografie suggeriert also, dass die Figuren in ihren unterschiedlichen Darstellungen expressiver Unabhängigkeit immer wieder kurz aufeinander abgestimmt sind.
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Choreo-Così: Nebenfiguren und Nebenfiguration auf der Opernbühne
Der Gesamteindruck von De Keersmaekers Inszenierung der Szene ist der einer expressiven Partnerschaft, ein körperlicher Ausdruck der ›offenen Beziehungen‹ und jener Selbstverwirklichung, für die Despina in der Arie plädiert. Gleichzeitig verdeutlicht die Struktur der Beziehung – die Gegenüberstellung von Bewegung und Hemmung – sowohl die Grenzen von Despinas Position (sie bleibt am Ende eine Dienerin) als auch die Ausdrucksfreiheit, die ihr das Stück und die Opera buffa bieten. Raum der Kontiguität
Bei De Keersmaeker ist das »Neben« von Nebenfiguren zugleich ein räumlicher und ein konzeptioneller Ort. In ihrer Aufführung steht vieles auf dem Spiel: die Beziehungen, die sie zwischen tanzenden und singenden Körpern herstellt; die körperlichen Umstellungen und dramaturgischen Verschiebungen, die sie hervorbringt; und die Logiken der Sinnstiftung, die daraus resultieren. In der Pariser Aufführung ist die Choreoper alles andere als eine festgelegte oder formelhafte Angelegenheit. Vielmehr konstituiert die Inszenierung einen generativen Raum der Kontiguität von Gesang und Tanz, von Sänger:innen und Tänzer:innen. Damit zeigt sie, dass ein breites Spektrum an Interpretations- und Ausdrucksmöglichkeiten in einer Bühnenpraxis besteht, die wir als Nebenfiguration bezeichnen könnten. Die Implikationen sind wichtig für unser Verständnis der Leistung der Inszenierung, aber auch für die größeren Verschiebungen und Deutungsmöglichkeiten, die sie für die Operninszenierung im Allgemeinen eröffnet.
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Endnoten
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Zu den interessanten Veröffentlichungen zum Thema vgl. z. B. Reininghaus, Frieder: »Choreographen als Opernregisseure: Anmerkungen zur Arbeit von Alain Platel, Joachim Schlömer, Jan Fabre und Kollegen«, in: Tanz im Musiktheater – Tanz als Musiktheater. Bericht eines internationalen Symposions über Beziehungen von Tanz und Musik im Theater, hrsg. v. Thomas Betzwieser, Anno Mungen, Andreas Münzmay, Stephanie Schroedter (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater 22), Würzburg 2009, S. 393 – 406. In seinem Aufsatz bespricht Reininghaus kurz De Keersmaekers Inszenierung von Verdis I due foscari, die sie für La Monnaie in Brüssel im Frühjahr 2003 vorbereitete. Er schließt seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass die kritische und kreative Landschaft nach wie vor unbeständig ist: »Die Sache selbst ist also noch allzu sehr im Fluss. In jedem Fall aber wird der Zufluss dieser keineswegs homogenen Strömungen der neuesten Musiktheatergeschichte als Hauptkapitel erhalten bleiben: dass und wie die Tanzmeister Opernverhältnisse in Bewegung versetzten und Körperlichkeit hervorheben.« (S. 405) Für eine neuere und weniger akademische Diskussion vgl. Macaulay, Alastair: »Dimensions of movement: on choreography in opera«, in: Opera 73 (2022), H. 3, S. 284 – 289. Für eine ausführliche und erhellende Besprechung der Dido und Aeneas von Morris vgl. Jordan, Stephanie: »Mark Morris Marks Purcell: Dido and Aeneas as Danced Opera«, in: Dance Research: The Journal of the Society for Dance Research 29 (2011), H. 2, S. 167 – 213. Für einen detaillierten Bericht über die Balanchine/ Pavel-Tchelitchev-Inszenierung von Glucks Orpheus and Eurydice an der Met vgl. Steichen, James: Balanchine and Kirstein’s American Enterprise, New York, Oxford, 2018, S. 117 – 123. Zu Bausch vgl. Haitzinger, Nicole: »Orpheus und Eurydike (1975) von Pina Bausch«, in: dies.: Resonanzen des Tragischen: Zwischen Ereignis und Affekt, Wien 2015, S. 330 – 338. Ins Englische von Lisa Jeschke übersetzt als »Staging and Embodiment of the Tragic in Pina Bauschs Orpheus and Eurydice (1975)«, in: Congress on Research in Dance [CORD] Proceedings, Cambridge 2016, S. 191 – 197. Fiordiligi wurde von der Sopranistin Jacquelyn Wagner und der Tänzerin Cynthia Loemij gespielt; Dorabella von der Mezzosopranistin Michèle Losier und der Tänzerin Samantha van Wissen; Ferrando von Frédéric Antoun gesungen und Julien Monty getanzt; Guglielmo von Philippe Sly gesungen und Michaël Pomero getanzt; Don Alfonso von Paulo Szot gesungen und Bostjan Antoncic getanzt; Despina von Ginger Costa-Jackson gesungen und Marie Goudot getanzt. Das Orchester der Opéra national de Paris wurde von Philippe Jordan geleitet. Louise Narboni führte Regie bei der Fernsehproduktion; Jan Versweyveld entwarf das Bühnenbild und die Beleuchtung; An D’Huys entwarf die Kostüme; Jan Vandenhouwe diente als Produktionsdramaturg; die Produktion wurde von der Pariser Oper, Mezzo und Telemondis koproduziert und von Arthaus Musik 2017 auf DVD vertrieben. Vgl. Said, Edward: »Opera Opposed to Opera: Così fan tutte and Fidelio«, in: Profession, New York 1998, S. 23 – 29. Brandstetter, Gabriele: »So machen’s alle: Die frühen Übersetzungen von Da Pontes und Mozarts ›Così fan tutte‹ für deutsche Bühnen«, in: Die Musikforschung 35 (1982), H. 1, S. 27 – 44. Mozart, Wolfgang Amadeus: Rezitativ »Ora vedo che siete«, in: ders.: Così fan tutte, opera buffa in due atti, Leipzig 1907, II/10, S. 276. Die Inszenierung, 1986 beim Pepsico Summerfare Festival an der State University of New York at Purchase gezeigt und für das Fernsehen aufgenommen, war eine Neufassung eines ersten Versuchs am Stück, das Sellars gemeinsam mit dem Dirigenten Craig Smith für ein Festival in Castle Hill (Massachusetts) zwei Jahre zuvor vorbereitete. Zu der Reihe von Mozart/Da Ponte-Opern, die Sellars für das Pepsico Festival inszenierte, vgl. McClary, Susan: »American Mozart«, in: dies.: The Passions of Peter Sellars: Staging the Music, Ann Arbor 2019, S. 11 – 35. Chéreaus Inszenierung wurde vom europäischen Kabelsender Arte live aufgezeichnet und anschließend auf DVD veröffentlicht. In den Hauptrollen spielen Erin Wall als Fiordiligi, Elina Garanča als Dorabella, Stéphane Degout als Guglielmo und Shawn Mathey als Ferrando sowie Barbara Bonney als Despina und Ruggero Raimondi als Don Alfonso; der Arnold Schoenberg Chor und das
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Mahler Chamber Orchestra wurden von Daniel Harding dirigiert; die Inszenierung wurde von Stéphane Metge, einem häufigen Mitarbeiter Chéreaus, verfilmt. Vandenhouwe, Jan: »Geometrien zwischen Himmel und Erde«, aus dem Holländischen von lengoo, in: Begleitheft zur DVD. Così fan tutte, Mitschnitt aus der Opéra national de Paris – Palais Garnier 2017. Eine Koproduktion von der Opéra national de Paris, Mezzo und Telmondis, Paris 2017, ohne Seitenzahl. Zu De Keersmaekers Beziehung zur Geometrie vgl. auch Lebedev, Oleg: »Anne Teresa De Keersmaeker: An Unbridled Activity of Vital Lines«, in: Aberrant Nuptials: Deleuze and Artistic Research, Bd. 2, hrsg. v. Paulo de Assis und Paolo Giudici, Leuven 2019, S. 145 – 162. In einer Fußnote bemerkt Lebedev: »This influence can be seen in her floor plans in their relation to the Feng Shui art of geomancy, for instance through her use of the Lo Shu magic square, where every line produces a sum corresponding to the symbolic value of the yin (8 + 7) and the yáng (9 + 6) = 15. This magic square is additionally linked to the Pythagorean τετρακτύς, combining in a mystic manner (1) musica universalis, (2) four elements, and (3) dimensions in space. De Keersmaeker’s staging of Mozart’s Così fan tutte at l’Opéra de Paris is a good illustration of these intricate processes.« (Lebedev: »Anne Teresa De Keersmaeker«, S. 160, Fußnote 13.) Eine ausführliche Besprechung mit Beispielen von der geometrischen Notation der Bühne befindet sich in »The geometrical dramaturgy in the setting of space, light, costumes, and cast«, in: De Keersmaeker, Anne Teresa/Cvejić, Bojana; Drumming & Rain: A Choreographer’s Score, Brüssel 2014, S. 112 – 115. Zur Stuttgarter Entführung vgl. Levin, David J.: »Deconstructing Singspiel: Mozart’s Die Entführung aus dem Serail«, in: ders.: Unsettling Opera: Staging Mozart, Verdi, Wagner, and Zemlinsky, Chicago 2007, S. 99 – 136, hier: S 104. Vgl. Schneider, Katja: »Dispersionen und Exekutionen. Zur Nebenfigur im Tanz« in diesem Band. Vgl., z. B., Brown-Montesano, Kristi: »Survival Class: On Despina«, in: dies.: Understanding the Women of Mozart’s Operas, Berkeley 2007, S. 259 – 276, hier: S. 268 und Hunter, Mary: »Così fan tutte and Convention«, in: dies.: The Culture of Opera Buffa in Mozart’s Vienna: A Poetics of Entertainment, Princeton 1999, S. 273 – 298, hier: S. 274. Ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Brown-Montesano: »On Despina«, S. 263.
Einleitung: Typologien Die Typisierung scheint das Schicksal der Nebenfigur, die Typologie das Raster, durch das ihre Auftritte organisiert werden. Auf die Zweidimensionalität, die den Nebenfiguren vielfach attestiert worden ist, antwortet in der Ökonomie der Figurengestaltung (vor allem in den visuellen Medien) eine Ausstattung mit besonderen Kennzeichen und Eigenarten, die dazu verwendet werden, die Nebenfigur physisch, ethnisch, sozial etc. zu markieren. Zum Stereotyp, auch: zu den verschiedenen Formen der Diskriminierung, unterhalten die Routinen dieser Ausstattung ein ziemlich direktes Verhältnis. Und dass die Nebenfiguren, wie gelegentlich behauptet, auch ein Surplus freisetzen, ist keineswegs gesichert, selbst wenn die Behauptung ihres Eigensinns im Diskurs über die Auftritte aus der zweiten oder dritten Reihe zu den zentralen Topoi gehört. Aufschlussreicher als die Typologie der Ausstattung ist die der Funktionen, die weit in die Geschichte der bildenden Kunst und in die des Theaters zurückreicht. Fraglos sind beide Typologien intrinsisch verbunden, wie unter anderem Denise Murrell in ihrer Studie über die Black Models in der Malerei der Moderne gezeigt hat.1 Jedoch legt die Typologie der Funktionen nahe, die Nebenfigur nicht statisch, sondern dynamisch zu denken: in einem Kontext von Abläufen und Handlungen, die von sehr unterschiedlichen Ordnungen figuraler Multiplikation bestimmt sein können. Einen entscheidenden Ordnungswechsel zeichnet der Beitrag von Juliane Vogel über die »Pluralisierung der dramatischen Rede« nach: zunächst mit Blick auf die Typologie der Nebenfigur im klassischen französischen Theater, um von dort eine Geschichte der Autonomisierung und Diversifizierung zu entwerfen, die ihre wichtigen Schauplätze weniger im Sprechtheater als in der Oper und im Tanz hat. Die Emanzipation jener suivants, confidants und amants, die sich im Theater des 17. Jahrhunderts auf geordneten Bahnen um das Gestirn der Hauptfigur bewegen, vollzieht sich zum einen im Modus der partiellen Ablösung von den Protagonist:innen; zum anderen ist sie eng verbunden mit Interaktionen, die quer zu etablierten Aufteilungen und Abgrenzungen in der figuralen Hierarchie verlaufen. Der dynamisierte Austausch: nicht nur zwischen denjenigen, die zuvor als »Trabanten« (Vogel) in je spezifischen Funktionen agieren, sondern auch zwischen Figuren, deren sozialer und drama-
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Einleitung: Typologien
turgischer Status sich deutlich unterscheidet, ist Voraussetzung für die Ausbildung dessen, was später im Begriff des Ensembles gefasst werden wird. Keine egalitäre Ordnung, aber eine, in der die Kopräsenz von personnages principaux und personnages secondaires durch Auftrittsprotokolle organisiert ist, in denen Rangunterschiede punktuell suspendiert werden, ein Austausch über Standes- und Statusgrenzen hinweg erfolgen kann, und in denen vielstimmige Formen der Äußerung immer häufiger zu finden sind. Der Beitrag Wolfgang Kemps, der sich mit Ordnungen und Ausnahmen im Auftritt der Vielen befasst, setzt in bestimmtem Sinne dort ein, wo der von Vogel abblendet: auf einer Szene, auf der sich die Figuren als Vielzahl bereits etabliert haben. Die (holländische) Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts wird dabei als ein Schauplatz untersucht, auf dem sich die Formen des Umgangs mit der Vielzahl ausdifferenzieren und eine Semantik der Anordnungen und Blickbeziehungen entsteht, in der auch Platz für den kontingenten und den erratischen Auftritt vorgehalten ist. Zwischen den aufgereihten »Gleichen« in einem holländischen Gruppenporträt von Jacobsz, deren faktische Rangunterschiede die Bildstruktur (noch) nicht affizieren, den Vielen, die in den Gemälden Rembrandts sehr unterschiedliche Haltungen in Nähe und Distanz zum Geschehen einnehmen, und dem Gewimmel, aus dem sich in einem Gemälde wie Bruegels »Kreuztragung« einzelne Figurengruppen absondern, skizziert der Beitrag ein Spektrum der Gruppierungen und Aufteilungen, denen ebenso viele Positionen zum Geschehen entsprechen. Wie nebenbei wird dabei auch an eine literatur- und kunstwissenschaftliche Tradition der Typologisierung erinnert, die geeignet ist, viele, aber eben nicht alle Akteur:innen in der Welt der Vielen zu erfassen. Der Sender, der Schenker, der Helfer (nach Vladimir Propp), der Nächste, der Dritte (nach Michail Bachtin) sind Figuren, die in der Literatur, auf dem Theater, in der bildenden Kunst oder später im Film allerorten wiederzufinden sind. Gleiches gilt für die Zweifler und die Spötter, nicht zu reden von den Skeptikern, den Gegnern oder den demonstrativ Abgewandten. Indes ist der Auftritt, auf den sich das Stichwort der Außerordentlichen Nebenfigur (Kemp) bezieht, vor allem derjenige der gleichgültigen, indifferenten Figur. Außerhalb der Ordnung stehend, einem anderen Gesetz und einer anderen Geschichte zugehörig, besetzen die Indifferenten im Raum der Darstellung diejenige Position, in der Bezüge, Aufteilungen, Allianzen suspendiert sind.
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Einleitung: Typologien
Die Kulturgeschichte der Typisierung grundiert auch die Überlegungen von Fabienne Liptay zur Figuration im Film im Zeichen von »Durchschnittlichkeit« und »Gewöhnlichkeit«. Im Fokus stehen dabei zunächst die Korrespondenzen zwischen den Typologien des Sekundären, die sich in der filmischen Besetzungspraxis ausbilden, und dem homme moyen: einem Produkt der Statistik und der positivistischen Diskurse des 19. Jahrhunderts, in denen Individuen ihre Kontur und ihr Profil in Abstand von einem phantasmatischen Mittelwert gewinnen und Typologien auf einer Skala zwischen Nähe und Distanz zu diesem Wert konturiert werden. In der Verdatung entdeckt Liptay die Essenz dieser Konzeption: ob als Vermessung und Registrierung von Individuen, die ab 1880 im Kontext der kriminologischen Arbeit erfasst werden (Bertillon, Quételet), oder in Form der Taxonomien, die ab den 1920er Jahren von Castingbüros und -abteilungen vorgenommen werden. Die Besetzung nach Typen und Klassen, die Administration der Vielen durch Institutionen wie das Central Casting in Hollywood, die para-polizeilichen Vermerke zu einzelnen Akteur:innen und die satirische Markierung anderer als »most dangerous«, weil allzu sichtbar, sind Elemente einer transdisziplinären Ordnung, die konstitutiv auf das Prinzip der Klassifikation gegründet ist. Die Subversion dieses Prinzips und die Züge einer evasiven, idiosynkratischen Subjektivität lassen sich nach Liptay hingegen in der Figur des homme ordinaire ausmachen. Vor allem in Jean-Louis Schefers L’homme ordinaire du cinéma (1980) wird diese Figur als fluide Erscheinung entworfen: ein Körper im Kino, der mit den Körpern auf der Leinwand im affektiven Austausch steht, und dessen Begehren und Interesse nicht zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterscheiden. Wenn die Fluidisierung und die De-Figuration des verdateten Individuums schließlich in der Analyse von zwei Arbeiten des Medienkünstlers Omer Fast reflektiert werden, zeigt sich: Auf die Typologie ist auch darin Verlass, dass sie ihre Gespenster aus sich selbst erzeugt.
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Murell, Denise: Posing Modernity: The Black Model from Manet and Matisse to Today, New Haven 2018.
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Trabanten, Vertraute, Ensembles
Juliane Vogel
Trabanten, Vertraute, Ensembles: Zur Pluralisierung der dramatischen Rede im 18. Jahrhundert Trabanten
Der thebanischen Königin Dido stellt Pietro Metastasio, der berühmte Librettist der italienischen Gattung der Opera seria, in seiner Oper Didone abbandonata von 1743 eine Schwester mit dem sprechenden Namen Selene zur Seite. Dieser Name, der ins Deutsche übersetzt »Mond« bedeutet, bestimmt zugleich eine Position innerhalb eines planetarischen, eines sozialen und eines dramatischen Kosmos. Monde sind Teile eines Trabantensystems, das sich um eine leuchtende Mitte lagert. Sie bewegen sich in Abhängigkeit von einem Zentralgestirn, ohne das sie nicht existieren würden, das aber umgekehrt auf ihre Gefolgschaft und Hilfe angewiesen ist.1 In den Personenverzeichnissen klassizistischer Tragödien und höfischer Opern rangieren die in dieser Weise abhängigen Personen an nachgeordneter Stelle.2 In ähnlicher Weise wie Selene werden auch Namen wie Ismène3 oder Palamède,4 die bereits in der griechischen Mythologie im Schatten großer Namen auftauchen, für Trabanten verwendet. Selenen und Ismenen haben kein Eigenlicht. Sie empfangen es von den Helden – den figures principales oder premiers, in denen sich, wie Jacques Scherer in seiner Studie zur La dramaturgie classique en France bemerkt,5 der Glanz des in Erscheinung-Tretens konzentriert. Gesellschaftliche Abstufungen und dramatisches Gewicht werden in Lichtstärken gemessen, wobei es immer nur der Abglanz der figures principales ist, der die Trabanten erhellt. Diese Hierarchie gilt insbesondere für einen Figurentypus, der für das klassizistische Regeldrama kennzeichnend ist und nach Scherer den Inbegriff einer personnage secondaire verkörpert: die Vertraute oder den Vertrauten oder »le confident«,6 der einer jeweiligen Hauptfigur zur Seite tritt und während des gesamten Stückes an ihrer Seite ausharrt. Diese Rollen, die in der dramatischen Ordnung des Regeldramas wie auch in dessen musikdramatischem Pendant der Opera seria vorgesehen sind, haben die Funktionen der Begleitung wie der Assistenz. Ihre Aufgabe besteht darin, die Rede der Hauptfiguren zu aktivieren und zu provozieren, Unausgesprochenes zu versprachlichen, dadurch die Handlung voranzutreiben und
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zugleich für die Einhaltung der bienséance zu sorgen, indem sie verhindern, dass die zentralen Figuren auch im Moment der affektiven Überwältigung ihren sozialen Halt verlieren. Oft genügt ihre bloße Anwesenheit, um den Wohlanstand auch im Zustand der Passion zu garantieren. Will man ihre Aufgaben beziehungsweise ihre »dramaturgical duties«7 systematisieren, ergeben sich drei unterschiedliche Formen von Unselbstständigkeit: Die Nebenfiguren des klassizistischen Dramas sind suivants, sie sind confidents und gelegentlich amants. Sie sind suivants, indem sie dem Helden oder der Heldin auf dem Fuß folgen und durch die Verkörperung von Gefolgschaft ihren Rang bestätigen; sie sind confidents, indem sie zu Mitwissern von tragischen Liebesschicksalen und politischen Plänen werden; sie sind amants, deren Amouren sich in die Liebesverkettungen der höfischen Welt einfügen und im eigenen Liebesschicksal zugleich das Liebesschicksal der Hauptfiguren spiegeln.8 Zumindest auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung in der Mitte des 17. Jahrhunderts unterliegen die rôles secondaires einer hochgradigen Kontrolle, die sie ausschließlich auf ihre Assistenzfunktion reduziert, das heißt ihnen keinen dramatischen Eigensinn zugesteht. Individualisierungs- und Artikulationsmöglichkeiten der Nebenfiguren werden auf der Szene nunmehr radikal eingeschränkt, auf ein Zentrum hin ausgerichtet und auf eine leere Verstärkungsleistung verpflichtet, die gleichwohl und gerade durch ihre Unterordnung die Konzentration der Handlung steigert. Dieser Abstraktionsgrad spiegelt sich in einer weiteren Strategie der Namensgebung wider, die den semantischen Gehalt der Namen reduziert. So legt der Mangel an figuraler Ausarbeitung, der die Nebenfiguren kennzeichnet, Namen mit hohen A-Anteilen, das heißt Namen von hoher phonologischer und phonetischer Allgemeinheit und Plastizität nahe. Sie dienen gleichsam als dramatische Stammzellen, aus denen nicht-individuelle beziehungsweise halb artikulierte Namen gewonnen werden können, die in die Sphäre der glänzenden Namen nicht vordringen.9 Damit ist zunächst die Gruppe der sogenannten confidents oder Vertrauten adressiert, in denen sich das Trabantensystem auf ideale Weise verkörpert. Ich meine die Namen Arbace,10 Arcas,11 Araspe,12 Arbate13 oder Actor,14 die als Namen von Konfidenten konventionalisiert werden und bis hin zu Johann Wolfgang von Goethes Iphigenie auf Tauris (Arkas) oder Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Idomeneo (Arbace) weiterwirken. Der häufiger auftretende Name Albin,15 der Weiße, deutet überdies explizit auf die Unbeschriebenheit des Assistenzcharakters hin. 137
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Die romanistische Forschung ist sich einig, dass sich dieses, häufig als monoton bezeichnete Modell der Begleitfigur, das auf der Höhe des Konfidentenwesens um 1650 zu beobachten ist, zum Ende des 17. Jahrhunderts zu verändern beginnt. Bereits Jean Racines Tragödien dokumentieren die gesteigerte Vitalität von Trabanten, die aus der Abstraktion heraustreten und auf Kosten der rôles principaux ein eigenes, wenngleich eingeschränktes Handlungsprofil erhalten.16 Hier liegt es nahe, das bekannte Beispiel der Amme17 Oenone aus Racines Phèdre heranzuziehen, deren Kräften es zu verdanken ist, dass die Titelfigur überhaupt aus dem Schatten der Backstage in die Sichtbarkeit der Bühne eintritt. In der Figur Oenones erstarkt die rôle secondaire sowohl in psychischer wie auch in physischer Hinsicht. Ihre Stärke zeigt sich auch darin, dass sie die unter der Last ihrer frevelhaften Liebe dahinsinkende Phèdre buchstäblich aufrechthält und auf der Bühne mit ihren Armen abstützt.18 Auftritt, Geständnis und Intrige Phèdres werden dem Willen der Amme zugeschrieben, der mit dem Willen der Königin nicht identisch ist: »Du willst es so«,19 sagt Phèdre, »[w]as hoffst Du durch Dein Flehn mir abzustürmen?«20 Während die Königin zusehends schwächer wird, erfährt die erste Person Singular aufseiten Oenones eine bislang ungekannte Aufwertung. Ihr Ich wird zu einem von der Stimme der Königin zunehmend autonomen Faktor.21 Volle Autonomie erlangt sie hauptsächlich dadurch, dass sie die Paarung auflöst und die Königin am Ende allein lässt. Im vierten Akt entzieht sie sich durch Selbstmord der Bühne, nimmt die Intrige Phèdres mit in den Tod und beraubt die Heldin ihres wie immer fragwürdigen Rates und Schutzes. Interessanterweise kann diese erst nach dem gewaltsamen Bruch mit dem konventionellen Konfidentenwesen beziehungsweise nach der Abtrennung von ihrem Schatten, ihrer Amme, ihre volle und nunmehr ungeteilte Auftrittskraft entfalten.22 Weiterhin jedoch bleibt die Kommunikation zwischen Rollen ersten und zweiten Grades strukturell asymmetrisch. Die Dramaturgie der ungleichen Paarung verhindert auch weiterhin die Vergesellschaftung der Figuren untereinander. Der Hauptfigur verpflichtet, bleiben die Nebenfiguren, auch wenn sie miteinander sprechen, zugleich voneinander isoliert. Sie unterstehen einer Ordnung, in der die Personenzahlen begrenzt, die Eigenbewegungen minimiert werden und kollektive Äußerungsformen strikt ausgeschlossen sind. Nicht nur ist in der Figur des Confident die bewegliche und vielfigurige Form des antiken Chores unterdrückt23 und in ein Verhaltensmuster bedingungsloser Bezogenheit gebannt. Ausgeschlossen sind
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auch alle Anordnungen und Redegattungen, die der aristokratischen Kommunikation widersprechen. Situationen, in denen das dialogische Ritual aufbricht, um offene Kommunikationslagen mit offeneren Gesprächsdynamiken herzustellen, die auch Fremde und Unbekannte einschließen und sowohl Eintracht als auch Konflikt austragen würden, kommen schon aus formalen Gründen nicht in Betracht. Die Regeln sind so formuliert, dass sie das Auftreten unbestimmter Pluralitäten und deren Vernetzung verhindern. Jede Form der szenischen Animation wird daher eingeschränkt.24 Indem die Hauptfiguren der Welt entzogen und ihre Kommunikation auf wenige zeremonielle Muster beschränkt werden, engt sich die Welt der tragischen Bühne immer weiter ein.25 Ensemblebildung in der Oper
Es lohnt sich ein Blick auf die jüngeren Arbeiten der Opernforschung, um zu verstehen, wie sich die strenge Teilung zwischen rôles principaux und rôles secondaires im Lauf des 18. Jahrhunderts allmählich auflockert. Detailliert haben Forscher wie Sieghart Döhring, Sabine Henze-Döhring, Hermann Dechant oder Michele Calella in ihren Arbeiten aufgezeigt, wie sich die festen, auf Paarung, Terzett oder Doppelpaarung ausgerichteten Kommunikationsstrukturen der Oper der Aufklärung ausdifferenzieren. Im Sonderraum der Oper, der mit spezifischen dramaturgischen Lizenzen ausgestattet ist, zeichnen sich die Tendenzen ab, die längerfristig auch das Regeldrama erfassen. Das betrifft zuvorderst die Gattung der Opera seria, die entstand, als die Oper am Ende des 17. Jahrhunderts bereinigt und den Regeln des aristotelischen Sprechtheaters angenähert wurde. Nach den Gattungsredaktionen der Academia dell’ Arcadia am Ende des 17. Jahrhunderts, die das gesungene Theater auf das aristotelische Regime des gesprochenen Dramas verpflichtete, wurden die für die Dramaturgie des Klassizismus charakteristischen musikdramaturgischen Ordnungsfiguren nach der Jahrhundertmitte zunehmend in beweglichere Anordnungen überführt, in denen die Stimmen unabhängig von ihrem Gewicht mit größerer Selbständigkeit ausgestattet wurden. Demnach entwickelte die Oper des 18. Jahrhunderts eine gestaltungsoffene Form der Vokalpolyphonie. Sie brachte zunehmend komplexere Gruppierungen hervor, in denen unterschiedliche Stimmen gleichberechtigt, polyphon und homophon, sukzessiv und simultan zusammenkamen und in denen es zu Wort- und Stimmüberlagerungen kam, die eine spezifische, über die Addition von Einzelstimmen hinausgehende Ensemblewirkung erzeugten.
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Um diese Tendenzen zum stimmlichen Zusammenspiel zumindest vorläufig zu fassen, soll hier ein erweiterter und geöffneter Begriff des Ensembles zugrunde gelegt werden.26 Bezeichnete er in den Opern des 17. und frühen 18. Jahrhunderts noch vornehmlich die Gesangsformen des Duetts, Terzetts, Quartetts oder Chors,27 die jeweils geschlossene musikalische Einheiten mit festen Verlaufsformen bildeten, so lässt er sich nun zunehmend auf größere und offenere Gesprächslagen beziehen, die den engen Rahmen der höfischen Gesprächsökonomie überschreiten und die dialogische beziehungsweise ternäre Struktur pluralisieren und dynamisieren.28 Dabei hat die musikwissenschaftliche Forschung zwei unterschiedliche genealogische Linien nachgezeichnet, an denen gezeigt werden kann, wie sich aus konventionellen Formen solistischer Mehrstimmigkeit allmählich spannungsreiche, formal flexiblere und sozial komplexere Konstellationen entwickeln.29 Einerseits ist in diesen Ensembleszenen der Einfluss der Opera buffa – das heißt der komischen Oper – nachweisbar,30 die Formen einer freieren musikalischen Sozialität entwickelte und ein offeneres und heterogenes Gesprächsmodell verwirklichte, das auch zur Überschreitung von Standesgrenzen ermutigte.31 Insbesondere in den Finales der Akte wie auch der gesamten Handlung wurden die Akteure auf der Bühne zusammengeführt und dem Widerstreit der Interessen, dem beschleunigten Wortwechsel wie der simultanen Rede Raum gegeben. Die großen Ensembleszenen in Mozarts Da-Ponte-Opern zeigen aus der umgekehrten Perspektive der Komödie, wie sich die hochstehenden Protagonisten der Opera seria nunmehr in gemischten Situationen wiederfinden, in denen sie nicht nur die Redezeit mit anderen Figuren teilen, die durchaus auch bescheidenerer Herkunft sein können.32 In ihnen verwirklicht sich ein »figuraler Plural«,33 der auch die hohen Personen den gemischten Verhältnissen der Komödie aussetzt. In den Ensembles des DonGiovanni mischen sich die Stimmen des Dieners Leporellos und des Bauernmädchen Zerlina mit denen der Heroinen Donna Anna, Donna Elvira und Don Giovannis. Die hohen Personen werden in die für sie kränkende Zone der gleichzeitigen Rede gezogen und in ein Liebesleid verstrickt, das sie in Bezug auf das Liebesobjekt mit Personen niederen Standes teilen. Der aristokratische Geltungsanspruch der solistischen Rede, der für die Opera seria bestimmend war, ist damit preisgegeben. Wie Stefan Kunze in seiner Monografie zu Mozarts Opern feststellt, wird aus der Verflechtung der Stimmen, die eigentlich für die Gattung der Komödie kennzeichnend ist, eine
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ernste, durch Widerstreit und Verwirrung bestimmte Form – wie zugleich eine »Einheit von Komik und Tragik«,34 die sich transversal zu den Standesgrenzen verhält. Andererseits lässt sich diese Lockerung des »sens de la rigu35 eur«, der das in der Opera seria dominierende Trabantensystem bestimmte, auch auf den Einfluss der französischen tragédie lyrique zurückführen, der der Begriff des Ensembles ursprünglich entstammt.36 Exemplarisch kann dies an den Opern Giovanni Paisiellos, Tommaso Traettas, Christoph Willibald Glucks und Niccolò Jommellis37 aufgezeigt werden,38 der seit 1745 als Hofkomponist im Dienst des Herzogs Eugen in Stuttgart beschäftigt war und auch für die Ensembledramaturgie Friedrich Schillers anregend werden sollte, der seine Sozialisation als Dramatiker am Stuttgarter Hof erlebte. Auch in Jommellis Opern werden die dualen oder ternären Formen der Mehrstimmigkeit durch Ensembles mit szenischem Charakter ergänzt, an denen mehrere gleichberechtigte Personen mit unterschiedlichen Interessen beteiligt werden.39 In der Oper Fetonte erlaubt es eine Neuauslegung des Begriffs der Scena, den Kreis der Sprechenden in unbestimmter Weise zu erweitern und den Austausch unter ihnen zu dynamisieren.40 Hier fallen besonders die fortwährenden Wechsel der Ansprechpartner ins Auge. Der Musikwissenschaftler Hermann Abert, der 1908 die erste Monografie über Jommellis Opernschaffen vorlegte, spricht von »lockeren Gebilden«, auf die herkömmliche und auf Geschlossenheit hinzielende Bezeichnungen wie etwa das Quartett, Terzett etc. nicht mehr angewandt werden können: »Bald führt diese oder jene Gruppe das Wort, bald erfolgen Fragen und Antworten Einzelner gegeneinander.«41 Auf diese Weise wird die chorische Diktion diversifiziert und das Solo in die Vielstimmigkeit eingewebt. In seinem sehr aufschlussreichen Eintrag in Die Musik in Geschichte und Gegenwart hat Georg Rienäcker Potenzial und Dynamik solcher Ensembles in idealtypischer Zuspitzung beschrieben: Dies manifestiert sich in unterschiedlichen Satzgefügen: In ihnen und in deren Wandel wird offenkundig, inwieweit eine Singstimme der anderen sich gleichrangig zugesellt oder unterordnet, wann aus dem Mit- und Gegeneinander von Akteuren bzw. Stimmen sich Gruppen bilden, in denen die einzelnen ihrer Singularität gewahr sind oder verlustig gehen, wann solche Gruppen sich als Apriorisches oder als Resultat mehr oder minder gewaltsamer Zusammenschlüsse verstehen, was sie und ihre Mitglieder vereint oder auseinandertreibt usw.42 141
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Ähnliche Tendenzen zur Ensemblebildung lassen sich auch im Tanztheater dieser Epoche beobachten – vorrangig bei dem Choreografen und Tanztheoretiker Jean Georges Noverre, der ebenfalls von Herzog Carl Eugen an den Stuttgarter Hof berufen wurde und dessen neuartige Ballette mit einer neuen Ballettdramaturgie als Zwischenspiele in die Opern Jommellis integriert wurden.43 In seinen zuerst 1760 und 1769 auf Deutsch erschienenen Lettres sur la danse et sur les Ballets stellte er das höfisch geprägte und folglich hierarchische Konzept der Nebenfigur infrage. Seine Überlegungen zur Reformierung des höfischen Balletts waren zugleich Provokationen konventioneller höfischer Figurendisposition. Im Medium des Tanzes forderten sie das Ordnungsideal der höfischen Hierarchie heraus, das klar zwischen souveränen und untergeordneten Figuren, rôles principaux und rôles secondaires, unterschieden hatte. Stattdessen vertrat er ein Ideal der bewegten Verschiedenheit, das die vormals abstrakten höfischen Begleitfiguren – die einzelnen Glieder einer »suite« – choreografisch individualisierte. Zwar wird die herausgehobene Position der Hauptfiguren auch durch den neuen Typus des Balletts bestätigt,44 dennoch bietet die Form des Ensembles die Möglichkeit, diesen Rangunterschied vorübergehend zu vergessen: »Ich habe gesagt, dass man die vornehmsten Personen des Balletts manchmal auf einige Augenblicke vergessen müsse.«45 Umgekehrt verwahrt er sich gegen die Mise en Scène von Figuren, »die auf der Szene nichts zu sagen haben«. Sind sie »überflüßig, müssen sie wegbleiben; haben sie aber zu reden, so muß ihr Gespräch dem Gespräche der Hauptpersonen beständig gemäß sein.«46 Dieses Gemäße bedeutet hier nicht mehr Bescheidung und Unterordnung unter die höherrangigen Protagonisten im Sinne des höfischen Aptum, sondern die Gewährung von Augenhöhe aller Beteiligten im Moment des Zusammenspiels. Der Monotonie der Konfidenten setzt er außerdem das Ethos der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit entgegen. Noverres Choreografien räumen eigener Auskunft nach jeder tanzenden Nymphe und jedem tanzenden Bauer die Möglichkeit ein, sich voneinander zu unterscheiden und diese Verschiedenheit wiederum in Ensembles zur Geltung zu bringen. Sie verdeutlichen, dass die Pluralisierung der Anordnungen mit einer Individualisierung der Akteure einhergeht: Hier würden wir Nymphen erblicken, die zwischen Furcht und Wollust schwimmen; da würden sich einige weit spröder und stolzer gebehrden, als ihre Gespielinnen; dort würden andere
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mit ihrer Furcht eine Art von Neugierde verbinden; kurz, alle würden durch die Verschiedenheit ihrer Stellungen die verschiedenen Bewegungen ihrer Seele zu erkennen geben […].47 Das Prinzip des Ensembles, so legen es diese Entwicklungen nahe, reagiert auch auf dem Feld des Balletts auf die Lockerung stratifizierter Redeordnungen, die zuvor durch eine strenge Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenfiguren, höheren und niederen Rängen geprägt waren. Es begünstigt das Aufkommen unbestimmter Formationen auf der Bühne, die bloßes Trabantentum aufsprengen und ein differenziertes Zusammenspiel mehrerer ermöglichen. Ensembles gewähren Raum für Ansammlungen, die den herkömmlichen und eindeutigen Beziehungsmustern nicht mehr entsprechen und über die in wenigen Zahlen ausgedrückte Figurenökonomie der klassizistischen Szene hinausgingen. Sie tragen einer Entwicklung Rechnung, die mit einem zeitgenössischen Ausdruck als Andrang der »plusieurs«48 bezeichnet werden kann49 und eine kollektive Kommunikation mit erhöhten Unbestimmtheitsgraden begünstigt. Ensembles setzen die Mannigfaltigkeit nicht nur von Figuren, sondern auch von Rede in Szene. Mit einem Ausdruck Gottfried Boehms gesprochen leisten sie die Mise en Scène »fließender Differenz«50. Als eine moderne soziale Form verarbeitet diese Entwicklung die Erfahrungen sozialer Komplexitätssteigerung, die durch eine ständische Dramaturgie und ihre Kabinettformate nicht mehr bewältigt werden konnte. Die »Mehreren« als Herausforderung des Regeldramas: Voltaire und Shakespeare
Das Regeldrama französischer Prägung lässt sich auf diese offenere Form indessen nur zögernd ein. Während die anderen dramatischen Gattungen im Lauf des fortschreitenden Jahrhunderts dem Andrang der plusieurs Rechnung tragen, sind im Regeldrama die Zeichen der Veränderung weniger deutlich sichtbar. Weiterhin lässt es sich auch in Bezug auf die Gestaltung von dramatischer Rede durch den sens de la rigueur leiten, der nach Scherer die Dramaturgie der zweiten Jahrhunderthälfte bestimmt. Das Prinzip der rigueur dient nicht zuletzt der Sicherung der Ständeklausel. Es wird auch vor dem Hintergrund eines Diskurses verständlich, der das Gleichzeitig- oder Zusammenreden von Personen als Unart der »einfachen Leute« verwarf und als mit der Würde tragischer Helden unvereinbar erklärte.51 Die neue Form der Ensemblerede wurde als gemischte Rede angesehen, die der Reinigung durch den tragischen Prozess nicht unterworfen war
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und dadurch den Wohlanstand der Redeordnung gefährdete. »C’est même la coutume des gens du petit peuple, lorsqu’ils sont échauffés, de parler tous ensemble, en confusion et sans presque s’entendre.«52 (»Es ist hauptsächlich die Gewohnheit der kleinen Leute, wenn sie erregt sind, durcheinander zu reden – ›tous ensemble‹ –, in Verwirrung und ohne einander zu hören.« [Übers. J. V.])53 Wer sich ins Durcheinander der Rede stürzte und gleichzeitig mit anderen sprach, riskierte den Verlust jener Noblesse und Distinktion, die auch den Unterschied zwischen Hauptfiguren und Nebenfiguren beziehungsweise niederrangigen Figuren absicherten. Zwei Schlaglichter auf die Dramatik Voltaires, die generell dem Regelkanon bis zu seinen letzten Tragödien verpflichtet war, sollen beleuchten, wie den Herausforderungen begegnet wurde, die mit der pluralisierten und gemischten Rede an das klassizistisch-aristotelische Dramenmodell herantraten und die Veränderungen sichtbar werden, die Stellung und Konzept der Nebenfiguren im Lauf seiner dramatischen Arbeit modifizierten. Diese Veränderungen können, auch wenn sie in Frankreich stattfanden, ihrerseits nicht ohne den wachsenden Einfluss William Shakespeares auf die Dramatik des Kontinents im 18. Jahrhundert verstanden werden.54 Die Herausforderung des Regeldramas durch die Form des Ensembles geht von einer Form des Dramas aus, die auch in ihrer tragischen Ausprägung offenere und sozial durchmischte Redesituationen zuließ, in denen mehrere und heterogene Sprecher miteinander in Austausch traten. Voltaire profilierte sich nach einem Englandaufenthalt am Anfang seiner Laufbahn als ein Kritiker und Autor, dessen Bemühungen darauf ausgerichtet waren, die Franzosen mit Shakespeare vertraut zu machen und ihnen die Schönheiten einer Dramaturgie näherzubringen, die den rigiden aristotelischen Vorstellungen der doctrine classique eklatant widersprachen. In seiner 1736 erschienenen Tragödie La Mort de César stellte er sich der Aufgabe, Shakespeares Tragödie Julius Caesar nach dem klassizistischen Organon umzuschreiben. Mit dieser Unternehmung war die Frage nach dem Formschicksal des Ensembles wie nach der Rolle der Nebenfiguren in einem auf soziale und kognitive Distinktion gerichteten Repräsentationssystem unmittelbar berührt. Schließlich ging es darum, mit den Mitteln des französischen und auf Subordination von Nebenfiguren hin ausgerichteten Modells der doctrine classique eine Dramaturgie anzueignen, die die Handlungssphäre der großen Akteure von Anfang an mit Figuren ausgefüllt hatte, die keine Trabanten waren und eine Form des Zusammenspiels begünstigt
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hatte, die mit keinen hierarchischen Auflagen verbunden war.55 Die Herausforderung wurde im Fall des Mort de César außerdem durch ein Sujet gesteigert, das dem Stoffkreis der römischen Res publica entnommen war und, da es konkret von der Verhinderung einer Monarchie handelte, in Widerspruch zu den politischen, durch den Absolutismus geprägten Rahmenbedingungen der französischen Tragödienproduktion trat.56 Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Voltaire ausgerechnet die zwei großen Ensembleszenen der Tragödie Shakespeares in seine Transkription integrierte. Elastizität und Primat des Regelsystems sollten vorrangig an den Starszenen getestet werden – den »morceaux qui élèvent l’imagination et qui prennent le cœur«57, wie er in seiner Lettre Sur la tragédie formulierte. Wegen ihres erhöhten Aufkommens von Akteuren forderten sie besondere diplomatische Antworten von französischer Seite. Dabei handelte es sich erstens um das rhetorische Glanzstück von Shakespeares Drama: die Rede Mark Antons an das Volk der Römer nach der Ermordung Caesars, das in den europäischen Rhetorikschulen als Beispiel für die seelenwendende Kraft der Rhetorik diente und den Ruhm Shakespeares auf dem Kontinent begründete. Zweitens ging es um die große Ensembleszene aus dem zweiten Akt, in der die Verschwörer im Garten des Brutus zusammenkommen, um die Ermordung Caesars zu beschließen.58 Sollte der ursprüngliche Effekt dieser Szene59 auch in der französischen Version erhalten bleiben, so waren die Verschwörer als Ensemble zu behandeln. Der vielfältige Sprecherwechsel, der Shakespeares Szene animierte, musste auch in der Übertragung erhalten werden. So ist auch bei Voltaire die Bemühung zu erkennen, die Verschwörer reihum sprechen zu lassen, das heißt eine Gesprächslage zu schaffen, die auf eine kollektive Entscheidungsfindung hindeutete. Der Charakter der Vielstimmigkeit, der das Original prägt, scheint auch durch das Raster der Regeldramatik hindurch. Dennoch konnte und wollte Voltaire das Formpotenzial des bei Shakespeare vorgefundenen Ensemblespiels, das nicht zuletzt ein republikanisches war, nicht vollständig nutzen. Nur wer namentlich und in seinem Rang definiert war, hatte die Lizenz zum Auftreten. Der von produktiver Unbestimmtheit bestimmten Wahrnehmung Shakespeares antwortet auf der Seite der französischen Klassik ein scharfer, unterscheidender Blick. Wie war in diesem Rahmen das Prinzip der zahlenmäßig unbestimmten Mehreren zu verwirklichen, das Voltaire bei Shakespeare vorfand?
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Die Kompromisse, die Voltaire findet, setzen auf unterschiedlichen Gestaltungsebenen an. Erstens ist seine Bemühung erkennbar, die Namen der beteiligten Verschwörer festzustellen und über die Zusammensetzung der Gruppe von Anfang an aufzuklären. Die Personenliste, die der Szene vorangestellt ist, umfasst Brutus, Cassius, Cinna, Casca, Décimus. In der nachfolgenden Szene tritt Cimber zu den Anwesenden hinzu. Während die Verschwörer bei Shakespeare zunächst in der unbestimmten Figur der »moe«60, der »Mehreren«, erscheinen – im Halbdunkel und mit verdeckten Gesichtern –, vermeidet Voltaire den Eindruck der Unbestimmtheit. Die Identifizierung der Akteure wird nicht dem spärlichen Licht überlassen. Andererseits aber signalisiert auch er die Anwesenheit einer unbestimmten Gruppe, die zu den bekannten Namen der Beteiligten hinzutritt. Tatsächlich finden sich auch auf seiner Bühne viele oder mehrere ein. Diese Personen, die die Verschwörer bei ihrem Auftritt begleiten, werden unter der Sammelbezeichnung »Suite«61 zusammengefasst, die das alte hierarchische Konzept der suivants oder der Gefolgschaft in die Verschwörungsszene hineinträgt. Das Vorbild Shakespeares wird im Spiegel des absolutistischen Trabantensystems reorganisiert. Die »moe« Shakespeares gliedern sich in die figures principales der Verschwörer und eine Gruppe von Gefolgsleuten auf. Ausgerechnet die Szene des republikanischen Komplotts, die sich gegen Caesars monarchischen Ehrgeiz richtet, unterscheidet im Sinne der Regelpoetik souveräner Figur und suivants ohne Sprechergewicht, die keine Stimme in der Polyphonie des Verschwörungsprozesses erhalten. Zusätzlich wird durch die soziale Durchstrukturierung der Gruppe der politische Effekt einer auf die Erhaltung der Res publica ausgerichteten Versammlung eingehegt. Auch mit einer weiteren Entscheidung sorgt Voltaire dafür, dass sich das Potenzial der Ensemblerede an dieser Stelle nicht entfalten kann. Ein bedeutender Eingriff in die Vorlage ist darin zu sehen, dass er den offenen polyphonen Austausch der Verschwörer, der Shakespeares Szene kennzeichnet, in der gemeinsamen Geste des Schwurs gipfeln lässt. Während Shakespeares Brutus die gemeinsame Schwurhandlung verweigert, weil er das Schwören als leeres Theater betrachtet, das nur diejenigen für nötig halten, die von der Schwursache nicht völlig durchdrungen sind,62 emphatisiert Voltaire den Moment des kollektiven Eides am Ende der Szene. Den polyphonen Prozess der Beschlussfassung führt er gleichsam in einer finalen Coda zusammen – und damit zur Einstimmigkeit zurück. Sein Brutus verpflichtet alle Anwesenden auf dasselbe Ziel. In einer gestuften
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Redesequenz, die aus den Sätzen: »Jurez donc avec moi« – »Jurez par tous les dieux« – »juron d’exterminer«63 besteht, wird die Ensemblerede in einen einstimmigen Redeakt überführt: Brutus: Wir schwören es bei Dir, ihr Helden, deren Bilder unseren Mut anstacheln. Wir schwören, Pompeius, zu Deinen heiligen Knien, alles für Rom zu tun und nichts für uns. Vereinigt zu sein für den Staat, der sich in uns versammelt (»rassemble«), um zu leben, zu kämpfen und gemeinsam zu sterben (»ensemble«). Auf, bereiten wir uns vor. Es gibt nichts, was uns aufhalten kann. [Übers. J. V.] Nous le jurons par vous, Héros, dont les images A ce pressant devoir excitent nos courages; Nous promettons, Pompée, à tes sacrés genoux, De faire tout pour Rome, & jamais rien pour nous; D’être unis pour l’Etat, qui dans nous se rassemble, De vivre, de combattre, & de mourir ensemble. Allons, préparons-nous: c’est trop nous arrêter.64 Das Konzert der Stimmen endet damit explizit in einem »Rassemblement«, das nicht mehr das offene Zusammenspiel mehrerer, sondern der Schlussakkord einer überwundenen Polyphonie und Manifestation eines unter der autoritären Direktion des Brutus stehenden Unisono ist.65 Das »tous ensemble« Voltaires ist keine plurale, sondern eine homophone Figur und zugleich eine Ordnungsfigur des klassizistischen Theaters, das die Stimmen der Mehreren nur gefiltert und formiert auf der Bühne zuließ. »Concert« – Voltaires Les Scythes und Herders Shakespeare
Unter den späteren Stücken Voltaires sticht zudem die Tragödie Les Scythes von 1766 hervor, die schon durch ihren Titel aus dem Rahmen fällt, der an die Stelle eines tragischen Individuums ein Volk und wenigstens dem Namen nach einen kollektiven Handlungsträger treten lässt.66 Dabei schätzt Voltaire das Risiko einer solchen Anordnung so hoch ein, dass er sein Drama als rohe und vorläufige Skizze67 bezeichnet, deren Vollendung er einer späteren Generation überlassen will, für die sich die Hoffnung auf einen politischen Wandel bereits erfüllt haben könnte. Bereits in der Vorrede setzt er den Fluchtpunkt einer Dramaturgie, die die Grenzen zwischen Hauptfiguren und Nebenfiguren suspendiert. Der Vorredner teilt unmissver-
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ständlich mit, dass es in diesem Drama keine rôles secondaires gebe: »D’ailleurs presque tous les rôles étant principaux«.68 Im Nachsatz aber lanciert er einen Begriff, der die Dramaturgie der auf mehrere Figuren ausgedehnten Wechselrede auf eine neue poetologische Grundlage stellt: »D’ailleurs presque tous les rôles étant principaux il faudrait un concert, & un jeux de théâtre parfait.«69 (»Indem im Übrigen alle Rollen Hauptrollen sind, bedürfte es eines Konzerts beziehungsweise eines vollkommenen Theaterspiels.« [Übers. J. V.]) Mit dem Wort concert ist ein Kommunikationsideal bezeichnet, das im Diskurs des 18. Jahrhunderts geprägt wird und den öffentlichen Austausch unter Gleichberechtigten ermöglicht, ohne dass damit eine Festlegung auf die Musik verbunden ist.70 Indem Voltaire seine Figuren konzertieren ließ, verabschiedet er, zumindest an dieser Stelle, das Konfidentenwesen in seiner konventionellen Form. Concerts kennen, den zeitgenössischen Diskussionen nach, nur gleichwertige Stimmen, sie umfassen Dissens ebenso wie Konsens, Rivalität wie Harmonie, solange es sich um die Kommunikation heterogener Partner handelt, die sich keiner Hauptstimme unterordnen.71 Nach Auskunft der Encyclopédie Diderot/D’Alembert geht es um Veranstaltungen »à plusieurs parties«72. Auch der Eintrag »Concert« in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste betont die Eigenständigkeit der Stimmen: »In solchen Stücken ist eine beständige Abwechselung der Instrumente, da bald dieses, bald ein anderes den Hauptgesang oder die Hauptstimme führt, bald alle zusammentreten.«73 Dieser Konzertierung der Stimmen entspricht zugleich die Planierung von Grenzen und die Nobilitierung minderer Sprecher. Das Personenverzeichnis von Les Scythes sieht keine Nebenfiguren und suivants vor. Voltaire suspendiert die Schranken zwischen Land und Hof, oben und unten, wenn er die Stimmen der Prinzen und der Hirten und Bauern mischt. Durch die Vermischung und Enthierarchisierung vormals getrennter und hierarchisierter Redebereiche überschreitet er die Konventionen im Namen einer der doktrinären Künstlichkeit des Theaters entgegengesetzten »nature«.74 Der integrierte Rederaum der Skythen hebt sich von einem tragischen Repräsentationsraum ab, in dem nur die Rede unter Gleichen oder der zeremonielle Dialog mit den Konfidenten zulässig ist. Zugleich nähert sich Voltaire einem neuen Szenenideal an. Durch die Bildung von offenen Ensemblestrukturen soll die rigide Szenendramaturgie des Regeldramas geöffnet und zu einem großen szenischen Bild erweitert werden. Dem concert entspricht damit die erfolgreiche szenische Form des tableau, die ein integrales Bild einer dramatischen Hand-
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lung entwirft, in dem das Verschiedene einem einzigen Bildgedanken untergeordnet wird.75 Was jedoch in Voltaires Übertragung ausgespart bleibt, ist der Faktor der Umgebung und der Kollateralität, die Shakespeares Ensembles kennzeichnen. Anders als die dramaturgie classique dramatisiert der englische Dramatiker des frühen 17. Jahrhunderts die soziale und räumliche Einbettung der Rede stets mit: Im Fall der Verschwörungsszene Shakespeares Julius Caesar wird die nächtliche Atmosphäre, das Licht und der Sonnenstand in den Szenenablauf einbezogen, und einander unterschiedliche Rederegister wechseln sich ab, anhand derer sich intime und rhetorische Kommunikationsebenen unterscheiden lassen. In die Darstellung mehrstimmiger Rede bezieht Shakespeare auch die Umstände ein, unter denen sie stattfinden. Es ist dieser Aspekt, der die deutschen Dramatiker in den 1770er Jahren für die Polyphonie Shakespeares sensibilisiert, während sie sich von der rigorosen Figuren- und Äußerungsökonomie der Franzosen polemisch abwenden. Seine Ensembles regen sie zu Spielformen an, die die Bühnengrenze zur Welt hin öffnen.76 Im Schutzschirm des Namens Shakespeare entwerfen Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe ein Theater der Weltfülle, in die Haupt- und Nebendinge, Haupt- und Nebenpersonen gleichermaßen einbezogen sind. Die Anziehungskraft des englischen Dramatikers liegt in einem emphatischen Weltbezug, der keine Figurenselektion vornimmt, wie sie das klassizistische Modell praktiziert. Herder begründet die Überlegenheit Shakespeares darin, dass dieser nichts weniger als das »Ganze« zur Darstellung bringe.77 Die ganze Welt wird in das »Cockpit«78 der Bühne eingeschlossen. Shakespeares Ordnung ist nach Herders Ansicht sowohl eine »ordo successivorum wie auch simultanorum«,79 in dem Nacheinander und Gleichzeitigkeit ohne Widerspruch ineinandergreifen. Herders Ausruf: »Welche Welt! Welch ein Ganzes!«80 wird zur Devise einer neuen integralen Dramaturgie. Shakespeare arbeite »auf das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit. Wenn bei Jenem ein Ton der Charaktere herrschet: so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nötig sind, den Hauptklang eines Konzerts zu bilden.«81 Auch hier wird die Form des Konzerts aufgerufen, um die Zusammenkunft vieler Stimmen auf der Bühne zu bezeichnen. Damit ist einer Dramatik der Weg gewiesen, die die tragische Raumenge öffnet und die formalen Auflagen der strengen Abwechselung und Sprecherhierarchien zugunsten einer neuen Form
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der Vielstimmigkeit zurückweist. Goethes Götz von Berlichingen oder Schillers Die Räuber shakespearisieren, indem sie auch die Figuren entdeutlichen und das Unbestimmte und Flüchtige an ihnen zur Geltung bringen. Der Begriff des concerts wird somit an den der Welt gekoppelt, das Prinzip der Selektion durch Pluralisierung der szenischen Anordnung ersetzt, in denen vor allem Friedrich Schiller und in seiner Nachfolge die großen Szenen der Oper des 19. Jahrhunderts profitieren werden. Mit diesen Beobachtungen soll keinesfalls der alte polemisch aufgeladene Gegensatz zwischen französischer und englischer Dramaturgie wiederbelebt werden. Schon gar nicht ist eine Parteinahme für eine Seite gemeint, die in der deutschsprachigen Forschung zumeist die englische ist. Was ich in aller Kürze zeigen wollte, war, wie unterschiedlich der Andrang der plusieurs in den dramatischen Gattungen verarbeitet wird und wie diese auf das Polyphon- und Mannigfaltigwerden der Wechselrede, auf das Anwachsen von Anonymität und sozialer Unbestimmtheit reagieren, das sich zeitgleich in den europäischen Gesellschaften vollzieht. Es sollten die Traditionen identifiziert werden, mit deren Hilfe dieser Formwandel in Oper, Ballett und Tragödie bewältigt wird, und die Konsequenzen aufgezeigt werden, die sich für die Redeordnungen des Dramas ergeben, ohne dass dabei das chorische Unisono in den Vordergrund tritt. Ensembles sind keine Chöre; und sie sind auch nicht das Volk, das das klassizistische Regeldrama in die Backstage verbannt, ihre Kollektivität ist diversifiziert und individualisierend, sie dynamisieren Zusammenspiel, Gegenspiel und Wechselspiel gleichermaßen, indem sie Gleichzeitigkeit und Nacheinander verknüpfen. Was dabei entsteht, ist eine neue Idee der Handlungsfähigkeit – eine Bewegung weg von heroischen Handlungssolos hin zu vielfach aufgelösten und richtungslosen Momenten der Stimmenverflechtung, in der sich das Künftige aus dem Dunkel offener Vielstimmigkeit vorbereitet. Es ist das Zugleich des Verschiedenen, wenn nicht sogar die Konfusion, die diese Lage bestimmt, die die Zukunft aus der Mischung der Stimmen hervorgehen lässt.82
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Zu den Interdependenzen innerhalb des monarchisch-absolutistischen Herrschaftsbereichs vgl. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1983, S. 34. Vgl. Scherer, Jacques: La Dramaturgie classique en France, Paris 1959, S. 19. Abeille, Gaspard: Argélie Reine de Thessalie, Paris 1674. Corneille, Thomas: Bradamante (1695). Zur Auffindung der Namen der Confidents und Suivants wurde die Website Théâtre classique verwendet. Crébillon, Claude-Prosper Jolyot de: Electre (1708). Vgl. Scherer: La dramaturgie classique, S. 46. Scherer: La dramaturgie classique, S. 39 – 50. Fermaud, Jacques Albert: »Défense du confident«, in: Romanic review 31 (1940), H. 4, S. 334. Pavis, Patrice: »Art. Confident«, in: ders.: Dictionary of the Theatre. Terms, Concepts and Analysis, aus dem Frz. von Christine Shantz, Toronto, Buffalo 1998, S. 74. Zur Liebesverkettung vgl. Matzat, Wolfgang: »Racines Liebestragödie«, in: Dörr, Volker C./Schneider, Helmut J. (Hrsg.): Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext, Bielefeld 2006, S. 39 – 58, hier: S. 42. Corneilles Komödie La Suivante entfaltet im Medium des Komischen das Potenzial der Konfidentenbeziehung, wenn sie die Suivante zur Konkurrentin der Heroine werden lässt und damit eine potenzielle soziale Dynamik mobilisiert, die in der Tragödie nur angedeutet, aber nicht entfaltet werden kann. Vgl. Krämer, Sibylle: »Der Bote als Topos oder: Übertragung als eine medientheoretische Grundkonstellation«, in: Heilmann, Till A./Heiden, Anne von der/Tuschling, Anna (Hrsg.): medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen, Bielefeld 2011, S. 60 – 62. Begriffe wie »ontologische Neutralität« treffen auch auf die Konfidenten zu. »Die diskursiv ohnmächtige Position des Boten erscheint wie der Negativabdruck jener Souveränität eines sprechenden Subjektes, von der die Sprechakttheorie inspiriert ist.« (Ebd., S. 60) Vgl. außerdem Pfister, Manfred: Das Drama, 11. Aufl., München 2001, S. 241 – 250. Vgl. auch Dimpel, Friedrich Michael: Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters, Berlin 2011, S. 142, der wie Pfister die in der Regel geringe Merkmalausstattung der Confidents betont. Lemierre, Antonin-Marin: Artaxerce (1768). Racine, Jean: Mithridate (1673). In diesem Stück ist eine besondere Häufung der A-Anteile in den Namen der Assistenzfiguren zu beobachten. Corneille, Pierre: Nicomède (1651); Voltaire: Oedipe (1718). Racine: Mithridate (1673). Voltaire: Sofonisbe (1774). Voltaire: Le Brutus (1731). Péchantré, Nicolas: Geta (1687). Corneille, Pierre: Polyeucte Martyre (1643). Saurin, Jean de: Spartacus (1760). Barbier, Marie-Anne: La Mort de César (1745). Lena Bührichen spricht in ihrer BA-Arbeit, die aus einem von mir gemeinsam mit Steffen Bogen an der Universität Konstanz veranstalteten Seminar zum Thema »Nebenfiguren« hervorgegangen ist, von Emanzipation. Vgl. Bührichen, Lena: Trabantenfiguren – Ewige Mitläufer? Die Confidente Oenone in Jean Racines »Phèdre« im Spannungsfeld von Funktion und Emanzipation, Bachelorarbeit, Universität Konstanz, S. 30. Zur Transformation einer komischen Figur vgl. Scherer: La dramaturgie classique, S. 41. Vgl. Bührichen: Trabantenfiguren, S. 20. Racine, Jean: [Phädra], aus dem Frz. von Friedrich Schiller, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe. Übersetzungen und Bearbeitungen, Bd. 9, hrsg. v. Heinz Gerd Ingenkamp, Frankfurt a. M. 1995, S. 613 – 673, hier: S. 623 (I/3, V. 268). Racine: Phädra, S. 622 (I/3, V. 260). Darauf hat Lena Bührichen in ihrer BA-Arbeit aufmerksam gemacht, Bührichen: Trabantenfiguren, S. 12. Auch die umgekehrte Dynamik ist möglich, so wenn Orest in Racines Andromaque den Rat seines Konfidenten Pylades abschüttelt und das handlungsleitende Prinzip der raison verwirft. (Ich danke Philipp Lammers für diesen Hinweis.)
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Vgl. Scherer: La dramaturgie classique, S. 39 – 40. Vgl. zur Klage über die Monotonie des Konfidentenwesens Scherer: La dramaturgie classique, S. 39. Vgl. Auerbach, Erich: Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts, Bd. 3, München 1933, S. 47. Zur komplexen begriffsgeschichtlichen Situation vgl. Rienäcker, Gerd: »Art. Ensemble«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Bd. 3, hrsg. v. Friedrich Blume, Kassel/Basel 1954, S. 100. Hermann Dechant lässt die Geschichte des Ensembles in der Camerata Fiorentina, das heißt um 1580 beginnen, wobei er besonderen Wert auf den handlungsfördernden Charakter des Ensembles legt: »Mit dem Begriff Ensemble verbindet sich im engeren Sprachgebrauch ein handlungsfördernder vom Orchester begleiteter Satz, in dem unterschiedliche Aussagen und Haltungen der Personen zusammengefasst und wirkungsvoll gegeneinander ausgespielt werden.« Dechant, Hermann: Arie und Ensemble. Zur Entwicklungsgeschichte der Oper. 1600 – 1800, Bd. 1, Darmstadt 1993, S. 18. Die Frage, inwieweit Duette und Terzette durch die Integration von Handlungselementen dynamisiert werden, spielt für die gegenwärtige Argumentation keine Rolle. Neben Dechant vgl. Wiesend, Reinhard: »Zwischen Aria a due und Ensemble. Zum Duett in der Opera buffa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Engelhardt, Markus/ Witzenmann, Wolfgang (Hrsg.): Convegno italo-tedesco »Mozart, Paisiello, Rossini e l’Opera Buffa«, Regensburg 1998, S. 259 – 293, hier: S. 280. Vgl. Dechant: Arie und Ensemble, S. 18: »Die Zahl der Sänger, ab der ein Satz ›Ensemble‹ zu nennen ist, läßt sich nicht festlegen.« Vgl. Calella, Michele: Das Ensemble in der Tragédie lyrique des späten Ancien Régime, Eisennach 2000, S. 36. Vgl. Dechant: Arie und Ensemble, S. 101. Analoge Entwicklungen in der gesprochenen Komödie beschreibt Saskia Haag in: »Der Bindezauber der Komödie. Quodlibets im Theater Johann Nestroys«, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 45, (2013), H. 1, S. 85 – 127. Ich danke Dörte Schmidt sehr herzlich für ihre Hinweise auf Da Ponte. Den Begriff übernehme ich von Saskia Haag, die am Beispiel der dramatischen Binnengattung des Quodlibet eine analoge Pluralisierung beobachtet. Vgl. Haag: »Der Bindezauber der Komödie«, S. 85. Die Entwicklung im Volkstheater entspricht den hier aufgezeigten Formoperationen. Auch hier ist Vermehrung und Vermischung der Figuren – die »moltiplicité« (Stranitzky) zu beobachten. (Vgl. ebd., S. 92) Vgl. Kunze, Stefan: Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 419. Scherer: La dramaturgie classique, S.35. Vgl. Dechant: Arie und Ensemble, S. 100. Vgl. insbesondere Rienäcker: »Art. Ensemble«, S. 105. Zur Unterscheidung von Buffa-Finales, die auf den Fortschritt der Handlung abzielen und dem lyrischen Ensemblespiel im Einflussbereich der tragédie lyrique vgl. Abert, Hermann: Niccolo Jommelli als Opernkomponist. Mit einer Biographie von Hermann Abert, Halle 1908, S. 327. Vgl. Dechant: Arie und Ensemble, S. 115. Vgl. Henze-Döring, Sabine: »Art. Niccolò Jommelli: Fetonte«, in: Dahlhaus, Carl/ Döhring, Sieghart (Hrsg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 3, München, Zürich 1989, S. 209 – 212, hier: S. 210 – 212. Vgl. ebd., S. 347. Henze-Döring zitiert Heinse, der festhält, dass in solchen Szenen verschiedene Leidenschaften ineinandergeflochten werden können: »Dido hofft wieder bei dem Schmerz der Eifersucht im Äneas; und Jarbas wird rasend über den ausgelassenen Spott.« Vgl. auch Abert: Niccolo Jommelli als Opernkomponist, S. 306. Beispielsweise der Beginn des zweiten Aktes, in denen Rezitative zu mehreren, eine Arie und ein Duett zu einer übergreifenden Ensemblestruktur zusammengefasst werden. In Jommelli, Niccolò: Fetonte. Dramma per musica. Text von Mattia Verazi, hrsg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser, Wiesbaden/ Graz 1958, S. 135 – 137. Abert: Niccolo Jommelli als Opernkomponist, S. 340. Rienäcker: »Art. Ensemble«, S. 100.
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Vgl. Abert: Niccolo Jommelli als Opernkomponist, S. 302 – 303. Vgl. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und die Ballette, Hamburg, Bremen 1769, S. 31 (»dass diejenigen Personen, welche die Hauptrollen haben, immer noch ihre vorzügliche Stärke behalten, und über alles, was sie umringte, hervorragen«). Ebd., S. 28. Ebd., S. 28. Ebd., S. 12. »complexe«, in: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 3, Paris 1753, S. 765. Vgl. zum ästhetischen Problem der Vermannigfaltigung und Vermehrung um 1800 Vogel, Juliane: »Einleitung zur Sektion 3: Gattung und Gestalt«, in: Koschorke, Albrecht (Hrsg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion. 2015, Stuttgart 2017, S. 305 – 316, hier: S. 306. Boehm, Gottfried: »Der Grund. Über das ikonische Kontinuum«, in: ders./ Burioni, Matteo (Hrsg. ): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 29 – 95, hier: S. 76. Vgl. Calella: Das Ensemble in der Tragédie lyrique, S. 82. Nougaret, Pierre Jean Baptiste: De l’art du théâtre, oul il est parlé des différens genres de spectacles et de la musique adaptée au théâtre, Bd. 2, Paris 1769, S. 329, S. 336. Zur Unvereinbarkeit von simultaner Rede und tragischer Würde vgl. Calella: Das Ensemble in der Tragédie lyrique, S. 82. Zur Regieanweisung: »zugleich« vgl. Haag: »Der Bindezauber der Komödie«, S. 121. Vgl. Lammers, Philipp: »Julius Caesar, altered. The Travels of Tragedy under Neoclassical Conditions (Voltaire, Antonio Conti)«, Masch. Ms., erscheint in: ders./Vogel, Juliane/Wald, Christina: Traveling Tragedy, London 2025, S. 1 – 2. Vgl. Clare, Janet/Goy-Blanquet, Dominique: »Introduction. ›Migrating Shakespeare‹«, in: dies.: Migrating Shakespeare. First European Encounters, Routes and Networks, London 2021, S. 1 – 28. Vgl. Mazouer, Charles: »Les tragédies romaines de Voltaire«, in: Dix-huitième siècle 18 (1986), S. 359 – 373. Voltaire: »Sur la tragédie«, in: Œuvres complètes de Voltaire. Lettres philosophiques, Bd. 22, Garnier 1879, S. 148 – 156. Zur Insertion Shakespearescher Elemente in die neoklassizistische Struktur vgl. Lammers: »Julius Caesar, altered«, Masch. Ms., S. 10 – 11. Über die große Szene vgl. Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz, Freiburg im Breisgau 2002, S. 57 – 113. Vgl. abschließend und mit Bezug auf den großen Erfolg von Julius César auf dem Kontinent: Lammers: »Julius Caesar, altered«, Masch. Ms., S. 10 – 11. Shakespeare, William: The Tragedy of Julius Caesar, hrsg. v. Lawrence Mason (= The Yale Shakespeare), New Haven 1957, S. 25 (II/1, V. 71). Voltaire: [La Mort de César], in: ders.: Œuvres completes de Voltaire, Bd. 2, Paris 1817, S. 5 – 58, hier: S. 32 (II/3). Vgl. Shakespeare: The Tragedy of Julius Caesar, S. 27: »Oh, not an oath […]« (II/1, V. 114). Voltaire: La Mort de César, S. 37. Ebd. Zu den klassizistischen Formationen auf dem Theater vgl. Vogel: Die Furie und das Gesetz, S. 57 – 113. Vgl. auch Bert-Vitoz, Renaud: L’éveil du héros plebeien, Lyon 2023, S. 249 – 251. Hier der Nachweis, dass die theatrale Praxis auf ein chorales Prinzip umgestellt und durch Proben die Ensemblewirkung herausgearbeitet werden sollte. Voltaire: [Les Scythes, tragédie. Préface de L’Edition de Paris], in: ders.: Œuvres completes de Voltaire, Bd. 5, Paris 1785, S. 212 – 220, hier: S. 219: »Esquisse«. Voltaire: Les Scythes, tragédie. Préface, S. 218 – 219. Ebd. Zur musikalisch-soziologischen Begriffsgeschichte des »Konzerts« vgl. Frömming, Gesa: »Die Freiheit der Virtuosen. Musizieren als Denkbild politischen Handelns bei Hannah Arendt«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 96 (2022), S. 177 – 208, S. 180. Hier der Verweis
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auf Hannah Arendt, die in ihrer Handlungstheorie auf den im 18. Jahrhundert geprägten musikalischen Begriff des Konzerts zurückgreift und zum Ausgangspunkt einer Theorie der Interaktion macht. Vgl. Frömming: »Die Freiheit der Virtuosen«, S. 181 – 182. Cahusac & Rousseau & Cahusac: »Art. Concert«, in: Diderot, Denis/d’Alembert, Jean le Rond: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, etc., University of Chicago: ARTFL Encyclopédie Project, hrsg. v. Robert Morrissey und Glenn Roe, Herbst 2022 Edition. https://artflsrv04.uchicago.edu/ philologic4.7/encyclopedie0922/navigate/3/3608 [19. Februar 2024]. »On ne se sert guere du mot concert que pour une assemblée d’au moins quatre ou cinq musiciens, & pour une musique à plusieurs parties, tant vocales qu’instrumentales. Quant aux anciens, comme il paroît qu’ils ne connoissoient pas la musique à plusieurs parties, leurs concerts ne s’exécutoient probablement qu’à l’unisson ou à l’octave.« Sulzer, Johann Georg: »Art. Concert«, in: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1, Leipzig 1771, S. 223 – 224. Vgl. Voltaire: Les Scythes, tragédie. Préface, S. 218. Vgl. Graczyk, Annette: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 77 – 116. Vgl. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur, 11. Aufl., München 2015, S. 307. Vgl. Vogel, Juliane: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle von Racine bis Nietzsche, Paderborn 2018, S. 132 – 146. Vgl. Herder, Johann Gottfried: »Von deutscher Art und Kunst. Shakespeare. Erster Entwurf«, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767 – 1781, Bd. 2, hrsg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S. 522 – 529, hier: S. 522. Shakespeare, William: Henry V., hrsg. v. Raymond Joel Dorius (= The Yale Shakespeare), New Haven 1955, S. 1 (Prologue, V. 11). Herder: »Von deutscher Art und Kunst. Shakespeare. Erster Entwurf«, S. 518. Ebd., S. 511. Ebd., S. 509. Zur »Konfusion« im Sinne des Durcheinandersprechens vgl. Haag: »Der Bindezauber der Komödie«, S. 96.
Wolfgang Kemp
Außerordentliche Nebenfiguren: Vier Fälle aus der Bildkunst »Act so there is no use in center.« Gertrude Stein, Tender Buttons, 19141 Einer der Kombattanten um den Ingeborg-Bachmann-Preis 2022 war Alexandru Bulucz, ein in Rumänien gebürtiger Schweizer Autor, der sich wie viele, gefühlt alle, seiner Mitbewerber und Mitbewerberinnen am Themenkreis ›Identity‹ abarbeitete. Sein Erzähler, auch in Rumänien gebürtig, ebenfalls im Ausland lebend, sieht »seine Kreise«, also seine Welt, von drei Arten von anderen definiert und tendenziell infiltriert. Sie heißen: die Passanten, die Tangenten und die Sekanten. Die Passanten waren ihm die liebsten, er war ihr unbeteiligter Beobachter, die Tangenten waren in der Regel harmlos, auch wenn manche Situationen grenzwertig waren, was seine Beteiligung herausforderte, was ihm missfiel, und die Sekanten, die stachen sich durch seine Kreise hindurch und wirbelten sein Leben durcheinander, was er abgrundtief verabscheute.2 Soweit die Sozialtopologie, die ein Marginalisierter absteckt, nicht nach Klassen, Gruppen, Geschlechtern, Instanzen, sondern nach Graden der Nähe und daraus resultierender Einwirkung, more geometrico, wobei zugegebenermaßen die Passanten kein Begriff aus der Mathematik sind, aber als Kategorie seit Poe und Baudelaire geadelt, sowohl als Perspektivträger als auch als anonymes Gegenüber. Mit den Passanten beginnt für die Nebenfiguren die Moderne. Im Fall des Fremden und Marginalisierten ist Distanz und Anonymität kein Effekt der Massengesellschaft, sondern lebensgeschichtlich auferlegt und im speziellen Fall des Erzählers von Bulucz auferlegt und gesucht. Seine notwendige Unsicherheit und Unkenntnis führen weiterhin dazu, dass er über den Ansatz einer ersten räumlichen Sortierung nicht hinausgelangt. Verständlich und heillos, stilistisch wie konzeptionell seit Franz Kafka ein Paradigma der Moderne. Ich wurde auf den Text aufmerksam, weil seine Klassifikation den beschränkten Möglichkeiten der Malerei und Grafik entgegenkommt. Ohne Innenperspektive, wie sie Bulucz noch hat, müssen die
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Bildkünste ihre Figuren auf der Fläche und im projektiven Raum zuallererst nach Abständen und Positionen sortieren. Nun wird man einwenden, dass auch das Wort Nebenfiguren nicht anders ansetzt als räumlich, aber in der Sprache und in den Literatur- und vor allem Theaterwissenschaften ist sehr viel mehr möglich, und damit meine ich nicht motivgeschichtlich vergleichende Untersuchungen wie Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalters und in der Frühen Neuzeit.3 Ich meine, in Anlehnung an Bulucz und seinen Formalisierungsversuch, die Betrachtung der handelnden Figuren nach ihrer Funktion. Den Funktionsbegriff hatte Vladimir Propp 1928 in die Erzählforschung eingeführt und damit ein Instrument zur Überwindung der erwähnten Rollenstudien geschaffen. Das Personal interessiert Propp nur unter dem Aspekt des Beitrags, den es zur Handlung beisteuert, doch er musste dafür auch neue Rollen, gewissermaßen reine Funktionäre erfinden, so zum Beispiel die Figuren des Senders, des Schenkers, des Helfers.4 Auf Propp folgte Michail M. Bachtin, der die Welt und besonders die erzählte Welt ebenfalls als »Handlungswelt«5 begriff, aber das bloße Handeln durch die Aktionsformen der Teilnahme und der Teilhabe erweiterte. Dazu setzte auch er neue »Funktionäre« ein: den Anderen, den Nächsten, das Wir, den Einzelnen und – seine wichtigste Erfindung – den Dritten.6 Diese Ansätze wurden vom Strukturalismus weitergeführt und erhärtet – man denke nur an das Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas –, und sie wurden interdisziplinär ausgeweitet. Von 2003 bis 2009 konzentrierte sich zum Beispiel ein Graduiertenkolleg der Universität Konstanz auf das Rahmenthema »Die Figur des Dritten«.7 Das Forschungsprojekt der FU Berlin »Die Figur des Zeugen. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine soziale Institution des Wissens« wäre als Parallelprojekt zu benennen, und es verweist im Titel auf das, was auch für das Konstanzer Kolleg galt: Das neue Interesse an Figuren ist nicht mehr ein narratologisches, sondern ein epistemologisches.8 Sachverhalte zu formalisieren und den Funktionsbegriff ins Zentrum zu rücken, ist eine klassische Strategie der Moderne, aber die Frage darf gestellt werden, ob dieser Ansatz dem Figurenkonzept der modernen Literatur gerecht wird – gemeint sind anspruchsvollere Texte als der eingangs zitierte. Nehmen wir Ulysses und die Figur des Mannes im Macintosh. Diese taucht dreimal auf und wird weitere sechsmal erwähnt und ist seit Langem eine Art Kultgegenstand der Joyce-Gemeinde. Leopold Bloom nimmt an einem Begräbnis teil und wird eines Mannes gewahr, den er noch nie gesehen hatte: »Now who
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is that lankylooking galoot over there in the macintosh? Now who is he I’d like to know? Now, I’d give a trifle to know who he is. Always someone turns up you never dreamt of.«9 Bloom fragt wie Propp nach dem Existenzrecht, sprich: der Funktion einer Nebenfigur. Sein Nachdenken und seine anschließenden Erkundungen verlangen nach einer profanen Hermeneutik, wie sie Arthur Conan Doyle für seine Sherlock-Holmes-Geschichten entwickelt hatte, bevor James Joyce mit dem Ulysses begann. Solche Detektivarbeit wurde von Bloom, seinem Autor und seinen Lesern geleistet, aber davor sagt Bloom noch Folgendes – die Szene spielt immer noch auf dem Friedhof: »Mr Bloom stood far back, his hat in his hand, counting the bared heads. Twelve. I’m thirteen. No. The chap in the macintosh is thirteen. Death’s number.«10 Bloom geht zuerst in Bulucz’scher Manier die Einordnung der Nebenfigur formalisierend, in diesem Fall arithmetisch an. Dann rechnet er den Mann aus der Zahl zwölf heraus und sich in diese hinein, sodass der Unbekannte zusätzlich eine belastete Ziffer trägt: »… thirteen. Death’s number«. In sechs kurzen Sätzen vollzieht sich der Übergang von einer formalisierenden zu einer symbolischen Lesart der Nebenfigur, und eine solche kann so leicht nicht zu einem schlüssigen Ende gelangen. Die Trauergemeinde der zwölf bildet die Gruppe der Apostel ab und ist deshalb sakrosankt. Aber gehörte zu dieser Gruppe nicht ein Dreizehnter, einer, der jenseits aller irdischen Zählbarkeit figurierte? Unrubrizierbar. Wer aber den Mann im Macintosh doch als »Funktionär« einordnen möchte, könnte ihn einen MacGuffin nennen. Nach Alfred Hitchcock ist ein MacGuffin eine rätselhafte Sache oder Person oder Wendung im Plot, etwas, das die Hauptpersonen stark beschäftigt, um sich schließlich in Nichts aufzulösen. Als Figur würde der MacGuffin dann eine neue Art von Katalysator verkörpern, einen Katalysator, der den Erzählprozess antreibt und doch in ihm verbraucht wird. Die allmähliche Herausbildung von Haupt- und Nebenfiguren aus der Menge der Vielen
Die Literatur kann Menschen ohne Eigenschaften zu Hauptfiguren machen, die Malerei kann das nicht, aber es lassen sich Bilder finden, die ohne Protagonisten und Nebenfiguren nur mit Gleichen auskommen. In der Kunstgeschichte wurde das Thema der vielen Gleichen im Bild zum ersten Mal 1902 zu einer Gründungsschrift von Strukturforschung und Rezeptionsästhetik ausgearbeitet. Ich
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Außerordentliche Nebenfiguren: Vier Fälle aus der Bildkunst
Abb. 1: Dirk Jacobz, Schützengilde (1529), Amsterdam, Rijksmuseum, © Wiki Commons
spreche von Alois Riegls Das holländische Gruppenporträt, eine Abhandlung über die scheinbar banalen Bilder, in denen sich Vereine und Körperschaften vom 15. bis zum 17. Jahrhundert konterfeien ließen.11 Riegl untersuchte, wie die Maler den Grundgedanken einer Gemeinschaft ausdrücken konnten und wie die Ungleichheit unter den Gleichen, bedingt durch die Amtsträger und durch innere Rangunterschiede, die wir nicht kennen, aber vermuten, zur kompositorischen Herausforderung wurde. Es gab und gibt in jedem Verein Funktionsträger, die Frage ist nur, ob ihre Prominenz auch die Bildstruktur erfasst. In der ersten Phase der von Riegl untersuchten Geschichte ist das nicht der Fall. (Abb. 1) Riegl spricht vom kompositorischen Gesetz einer Koordination oder »äußere[n] Einheit«; alle Porträtierten stehen isokephal in Reih und Glied und schauen aus dem Bild den Betrachter an. Rangunterschiede werden nur durch Symbole und Hinweise ausgedrückt. Ein kompositorischer Egalitarismus herrscht.12 In zwei Schritten geht die stilistische Entwicklung weiter bis zur absolutistischen Feier der Hauptleute. Das bewirkt ein Aufreißen der Reihenstruktur und erzeugt einen neuen Zwang, den Zwang zur Abwechslung und zu einer Auszeichnung, die mit Symbolen nicht mehr geleistet werden kann, denn diese sind gewis-
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Abb. 2: Rembrandt, Nachtwache (1642), Amsterdam, Rijksmuseum, © Wiki Commons
sermaßen körpersprachlich-kompositorisch verbraucht. Ein Raum wird geöffnet, der genutzt werden muss, um ihn auch mit Nebenfiguren zu füllen, mit sekundären Gestalten wie Bediensteten, aber auch mit kuriosen Figuren: siehe im berühmtesten aller Gruppenporträts, in Rembrandts sogenannter Nachtwache (Abb. 2), das Mädchen als Marketenderin, das für eine Nebenfigur sehr viel Licht abbekommt und zur prominenten Mittelgruppe gehört. Diese Stufe des Komponierens nennt Riegl »innere Einheit«. Jetzt stellen die Dargestellten ihre Gemeinschaft und ihre Statusdifferenzen durch Teilnahme aneinander und Teilhabe an der alle Personen verbindenden Aktion dar. Eine Subordination, die freilich punktuell auch gebrochen werden kann, um damit den Zusammenhang der anderen Personen noch weiter zu steigern. Das bedeutet, dass wir einen »Funktionär« einführen müssen, an den Propp und Bachtin nicht gedacht haben: den Indifferenten. Das Mädchen, das zwischen den Männern herumwirbelt, nähert sich dieser Rolle an. Man könnte es als eine abgelenkte und ablenkende Figur bezeichnen, und dem entspricht nicht nur ihr spielerischer Charakter, sondern auch der Blick aus dem Bild. Dieser diente in der ersten Phase der Gruppenkomposition als Mittel, um die äußere Einheit herzustellen, und ist unter dem Regime der inneren Einheit ganz selten. Dort
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sollen, wie gesagt, die Teilnehmer aufeinander reagieren und sich um ihren Auftrag kümmern. Die kleine Marketenderin aber möchte Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Nebenfiguren müssen nicht nur ungewöhnlich bekleidet auftreten wie der Mann im Macintosh und das golden angestrahlte Mädchen, sie konstituieren sich auch durch einen Systembruch. Das vielfigurige Personal des Neuen Testaments und ein Versuch seiner Gliederung im Bild
Untersuchungen von der Art des »Holländischen Gruppenporträts« wurden erst wieder nach 1968 angestellt, sozialgeschichtliche Studien zu meist profanen Themen wie Masse, Menge, Kollektiv, Volk, Publikum, Öffentlichkeit. Es handelte sich dabei in der Regel um ikonografische Arbeiten, die, anders als Riegl, nicht strukturgeschichtlich engagiert waren. Die christliche Ikonografie bekam wenig von diesem erneuerten Interesse an den Vielen ab. Für sie ist aber der Umgang mit Haupt- und Nebenfiguren, mit Volk, Partei, Gruppe, Dritten essenziell, sobald die Bedeutungsperspektive des Mittelalters aufgegeben und die Verhältnisse zwischen den Rollenträgern in einem projizierten Realraum disponiert werden müssen. Als Medium einer Offenbarungsreligion bildet christliche Kunst auch ab, wie und ob überhaupt die Botschaften und die Wunder von den Vielen verarbeitet werden. Damit ist ein grundsätzlicher Unterschied zum antiken Mythos gegeben, der von ungewöhnlichen Vorgängen handelt, die kein Publikum brauchen oder haben dürfen. Das Neue Testament ist auch darin wahrhaftiger und näher am sozialen Leben, dass es den totalen Erfolg des Eingreifen Gottes nicht kennt. Es bleiben Gegner und Indifferente übrig – und selbst die neu Gewonnenen müssen sich von Johannes 1,10 sagen lassen: »Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.« Das steuert direkt und gefährlich auf ein »Deus absconditus«-Konzept zu, aber der Evangelist biegt gerade noch vor dieser Position ab: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben […].« Der Glaube versetzt nicht nur Berge, sondern bewegt, formt, scheidet auch Mengen. Welche Wirkungen aus dieser Macht folgen, hat Max Klinger in seinen Entwürfen für einen neutestamentlichen Zyklus aus dem Jahr 1877 dargestellt. In zwei Blättern (Abb. 3, 4) schildert er die Zustände vor und nach der Bergpredigt und kommt dabei der Sozialtopologie
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Abb. 3: Max Klinger, Der Weg zur Bergpredigt, Hanfstaengl Heliogravüre nach der verlorenen Vorlage des Berliner Kupferstichkabinetts, Privatbesitz
Abb. 4: Max Klinger, Die Rückkehr von der Bergpredigt (1877), Handzeichnung, Berlin Kupferstichkabinett (nach: Pendant Plus, Berlin 2012)
des eingangs zitierten Alexandru Bulucz sehr nahe. Eine lose gewürfelte, frei sich bewegende Menge steigt den Berg, wo die Predigt stattfinden wird, hinauf – und herab kommen als Erstes die nicht überzeugten Widersacher, die Pharisäer, dann Christus und seine zwölf Gefolgsleute quasi im Gleichschritt, und oben auf dem Berg verharrt das Volk, das sich noch nach Gläubigen und Ungläubigen scheiden, also den Effekt der Hauptaussagen des christlichen Glaubens noch verarbeiten muss. Der Evangelist spricht von dieser Herausforderung: »Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.« (Matthäus 7, 29) Er sagt auch: »Als Jesus von dem Berg herabstieg, folgten ihm viele Menschen nach.« (Matthäus 8, 1) Was diese Gefolgschaft angeht, begnügt sich Klinger mit den zwölf Aposteln, die hinter Jesus in einer Linie marschieren, während die Gegner, die Pharisäer in ihrer Distanz, zwar ebenso überzeugt wirken, aber quasi ins Leere absteigen. Klingers schönster Einfall ist jedoch der römische Soldat, der im zweiten Blatt zum Vorgang hinzutritt, eine Zufallsbegegnung. Ich betone Vorgang: Der Legionär ist am Hang der Einzige, der auf der Stelle steht. Und weil er als Soldat und als Römer ein gesteigerter Anderer und Dritter ist, steht er auch quer zum Geschehen. Dass er
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auf gleicher Höhe mit Christus auftritt und den Helm abgenommen hat, sollte zu denken geben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen Literatur und bildende Kunst ohne solche Einbrüche des Kontingenten nicht mehr aus. Den Mann im Macintosh gehört in dieselbe Schublade wie der zufällig die Wege Christi kreuzende römische Soldat. Die Erzählung der Evangelien hat einen Wanderprediger zur Hauptperson, in der Bulucz’schen Terminologie eine Sekante, die verschiedenste Kreise der Gesellschaft schneidet und manche Schnitte offen stehen lässt. »Da verließen ihn alle und flohen. Und ein junger Mann folgte ihm nach, der war mit einem Leinengewand bekleidet auf der bloßen Haut; und sie griffen nach ihm. Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt.« (Markus 14,50 – 52) Frank Kermode hat diesen »boy with a shirt« in einem Kapitel seines großen Buches The Genesis of Secrecy neben den Mann im Macintosh gestellt.13 Die Nebenfiguren werden die Protagonisten
Um bei der christlichen Ikonografie zu bleiben, Klinger arbeitete in einer Zeit, da Künstler in das Heilige Land reisten, um an einer vermeintlich seit Jesus Christus stehen gebliebenen Population ihre Studien zu treiben, Studien, die zuallererst von dem Interesse motiviert sind, das biblische Geschehen als Massenereignis zu schildern.
Abb. 5: Pieter Bruegel, Der Weg auf den Kalvarienberg (1564), Wien, Kunsthistorisches Museum, © Wiki Commons
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Diese Tendenz lässt sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen, als der Typus der sogenannten Volkreichen Kreuzigung (auch als »Volkreicher Kalvarienberg« bezeichnet) aufkommt, der um die Kreuze auf dem Golgatha eine bunte, karnevalistisch angetriebene Menge versammelt.14 »Kreuzigung mit Gedräng« wird das in einigen Quellen seit dem 15. Jahrhundert genannt.15 Pieter Bruegel der Ältere ist ein Jahrhundert später einen Schritt weiter gegangen und hat das Volk zum Hauptgegenstand gemacht. Das gilt natürlich zuallererst für die ›Bilderbögen‹ der Sprichwörter oder Kinderspiele, in denen alle Menschen klein und separat und gleichberechtigt auftreten. Die Herausforderung ist aber um vieles größer, wenn eine Geschichtserzählung einen Höhepunkt und damit eine notwendige Hierarchisierung vorschreibt. Mehr am Volk als am Helden interessiert, muss Bruegel dann seine Bilderzählung von Held und Höhepunkt abrücken. Die Rede ist von der 1564 datierten Wiener Kreuztragung, die richtiger Der Weg auf den Golgatha heißt (Abb. 5).16 Die Menge und als Teil von ihr Christus sind noch auf dem Weg zur Kreuzigung: Soldaten, Schaulustige, Händler, Kinder, Tiere – man will über 500 Personen gezählt haben. Die alten geometrischen Marker überwindend, die in solchen Darstellungen von den Kreuzen gesetzt werden, legt Bruegel den Strom der Menge in eine große Kurve, von links, aus der Richtung eines fernen Jerusalem aufsteigend, in der Mitte den Bildvordergrund anstrebend und dann wieder leicht nach rechts umbiegend und zum Gipfel hin weiterziehend. Man könnte von einem Übergang der linearen Geometrie in die algebraische Geometrie sprechen. In der Nähe des Scheitelpunkts der projektiven Kurve, im Mittelgrund und dem Maßstab, den die Menge setzt, unterworfen, ist Christus unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen. Ein Datum unter vielen, es hält nicht das »Gedräng[e]«, aber das Getriebe der Geschichte punktuell auf. Doch der Lauf der Dinge hat zugunsten von Scheitel der Kurve und Vordergrund etwas aus dem Strom ausgeschieden – Maria, Johannes und die Frauen, die an vorderster Stelle pausieren und sich zu einer klassischen Beweinungsgruppe aufgebaut haben. »Klassisch« meint hier gotisch, denn in diesem Stil hat Bruegel die Gewandung und die Körperlichkeit gestaltet und hat die Gruppe wie ein Bild im Bilde auf den Betrachter zu organisiert, eine Disruption im Räumlichen und im Zeitlichen, denn diese Position werden die Trauernden erst unter dem Kreuz, also später einnehmen. Sie sind asynchron, ein Bruch in der Aktualität der Teilnehmer am Golgatha des Jahres 1564.
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Christliche Zeit ist erfüllte Zeit; sie ist vielfach vorbestimmt, durch Prophezien und durch die typologische Klammer zwischen Altem und Neuen Testament. Diese Vorbestimmtheit galt das ganze Mittelalter und wirkt im 16. Jahrhundert noch nach, wie Clemens Lugowski in seiner Untersuchung der frühen deutschen Prosaliteratur gezeigt hat.17 Erfüllte Zeit, bei Lugowski heißt das »Orientierung des Handlungsvorgangs am Ergebnishaften« oder »perfektische Aktionsart«, bedeutet, dass eine Verlagerung vom »Ergebnishaften« auf das »Vorgangshafte« genauso unmöglich war wie eine detaillierte Ausarbeitung der Vorzeit des Ereignisses. Eine Aufwertung der Nebenfiguren käme für die Literatur ohnehin nicht infrage. In den Volkreichen Kreuzigungen geschieht der Tumult der Menge immerhin tota simul und unter der Aufsicht des Kreuzes. Bruegel verstößt gegen diese Prinzipien, indem er dem Vorgang die Priorität einräumt, und zwar dem Vorgang vor dem Hauptereignis. Letzteres wird vorgesehen, aber nur in winzigem Maßstab und zeichenhaft. Auf dem Gipfel bilden die miniaturhaft erscheinenden Schaulustigen einen Kreis, der die Kreuze umsteht und der eine andere Ausgabe des Kreises ist, der rechts im Vordergrund in der Höhe schwebt. Das Rad, auf dem die vorher ›geräderten‹ Verurteilten einem qualvoll verlängerten Todeskampf ausgesetzt wurden, ist von Bruegel absurd überhöht worden und schwebt als Menetekel über dem Ganzen. Die Kreuze sind dagegen nur zart und kaum sichtbar angedeutet. Das Galgenrad modernisiert das Geschehen und vervollkommnet gewissermaßen die große Kurve des Aufstiegs zum Golgatha. Weil er fast alles in Fluss gesetzt und das Ergebnis dem Zeichenmodus übertragen hat, begreift man besser, warum Bruegel sich gezwungen sah, das große Kontinuum an einer Stelle zu unterbrechen und in der Beweinungsgruppe einen Zeiten- und Stilbruch zuzulassen. Hier regiert die gute alte Bedeutungsperspektive über den Maßstab, den die Menge vorgibt, und ein statisches Gruppenmonument setzt sich vom Flüchtig-Vorgangshaften ab. Zu diesem Einbruch des »Perfektischen« in die neue Welt des Vorübergehenden kann ich noch einmal auf Lugowski referieren, der als erstes Werkbeispiel sich die Geschichte von den vier Heymonskindern vornimmt, eines der erfolgreichsten Bücher des Mittelalters, im 15. Jahrhundert neu bearbeitet und bald gedruckt. Im 14. Kapitel sitzt der Schwarzkünstler Malegys auf der Brücke, und ein Mann kommt vorbei. Die Leser wissen, dass es sich um den König handelt, Malegys aber weiß das nicht, der König ist anonym unterwegs, eine als Nebenfigur verklei-
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dete Hauptperson. Malegys spricht den Mann mit den Worten an: »gnedigster Herr König« und verhält sich danach gegenüber dem Fremden ganz ungebührlich, sodass der König sich schließlich zu erkennen gibt. »Da sagt Malegys, gnedigster Herr, da bitte ich um Verzeihung, dass ich so ungeschickt gegen Euer Majestät geredet habe, denn ich habe Euer Majestät nicht gekannt.«18 Lugowski zu diesem Widerspruch: »Das Königssein erhält das Übergewicht, wird isoliert herausgestellt, ohne Zusammenhang mit allem anderen, und behauptet sich als nackter, unbezogener Seinsverhalt.«19 Unbezogen, darf ich hinzufügen, auf das Vorher und Nachher der Geschichte. Und unbezogen, isoliert herausgestellt, »ohne Zusammenhang mit allem anderen«, ist auch Bruegels Gruppe im Vordergrund, ein Statement, das sagt: Vorgang und Gegenwart sind doch nicht alles. Wenn ich das Bild auf diese Weise strukturanalytisch betrachte, mache ich im Sinne der Betrachter von 1564 einen Fehler. Diese würden nämlich die Teilnehmer unterscheiden und identifizieren wollen. Was möglich ist, Bruegel garantiert auf einer Fläche von 124 mal 170 Zentimeter, dass jeder Teilnehmer als Einzelmensch wahrgenommen wird. Es mutet konsequent an, dass Bruegel die Sonderzone des Vordergrunds, gewissermaßen die Präambel des Bildes, auch nutzt, um ein Statement in Sachen Nebenfiguren abzugeben. Richten wir den Fokus auf die Gestalt links von der Beweinungsgruppe. Dort sitzt ein Krämer-Hausierer, ein »Funktionär«, der seit Hieronymus Bosch eine beliebte Figur der niederländischen Ikonografie ist, ein Inbild für den homo viator und eine von mehreren Fassungen der Figur des Jedermann. Die Nebenfigur vertritt so gesehen als Allegorie réelle alle. Alle sind in unendlich großer Zahl präsent, und alle sind durch eine Personifikation vertreten. Die Erweiterung der ersten durch eine zweite Aussageform hat auch die Einfügung der Beweinungsgruppe motiviert. Hoch stilisiert ergänzt diese den Vortrag im niederen Stil, der sagt: hier und heute. Aber würdigen wir auch den räumlichen Sinn des Daneben: Wir dürfen annehmen, dass der Krämer im Moment nicht am Geschehen teilnimmt, weder die Trauer rechts von ihm, noch den Zusammenbruch Christi in der Mitte realisiert und auch keinen aktiven Anteil an diesem Jahrmarktsfest auf Golgatha nimmt, wie man das Bild betitelt hat.20 Die Teilnahmslosigkeit des fliegenden Händlers wiegt umso stärker, als er ja eine klassische Figur der Vermittlung ist. So wie Bruegel ihn einsetzt, verkörpert er indessen nicht nur den Jedermann, sondern auch die Welt im Sinne der bereits herangezogenen Johannes-Stelle: »aber die
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Abb. 6: Rembrandt, Christus heilt die Kranken (1647 – 1649), Radierung, © Wiki Commons
Welt erkannte ihn nicht«. Ein weiterer Eintrag im Katalog der außerordentlichen Nebenfiguren. Der Gleichgültige als Anführer einer Welt, der alles gleichgültig ist – bis auf die Sensation. Magnetisch Angezogene, Zweifler, Reflektoren und der König der Indifferenten
Der Indifferente verstößt gegen zwei Gesetze oder Erwartungen: Er missachtet das Verlangen nach narrativer Konsistenz, und er ignoriert die Ansprüche der höheren Mächte und des geltenden Zeremoniells. Wir wollen sein Auftreten und die Gegenreaktion der um Teilhabe Bemühten noch an einem weiteren Hauptwerk studieren. Rembrandts Erzählkunst, 80 Jahre später entwickelt, bietet sich zum Vergleich an. Gut holländisch arbeitet er weiter an der Gradation, an der Abstufung von Formen der Partizipation und Reaktion, aber er arbeitet in einem anderen Maßstab, größer, näher dran am Geschehen, und wie wir kurz im Hinblick auf die Nachtwache angedeutet haben: Rembrandt disponiert wie selbstverständlich mit Größen wie Macht, Stärke, Autorität. Seine Radierung Christus heilt die Kranken, begonnen 1640, nennt man auch das Hundertguldenblatt (Abb. 6). Von rechts zieht ununterbrochen ein Zug von Hilfsbedürftigen zur Mitte, zu Christus hin. Es gibt nur ein reflektierendes Element, welches das Wunder
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dieser starken und koordinierten Attraktion würdigt, und das ist das Kind, das sich umdreht und aufschaut. Links von Christus herrschen ganz andere Zustände. Rembrandt hat im oberen Eck die Bank, besser die Mauer der Zweifler und Spötter eingerichtet, das sind selbstredend die skeptischen Pharisäer, die gar nicht hinschauen, sondern miteinander diskutieren, lächeln, die Hand vor den Kopf schlagen. Aber am rechten Rand dieser Gruppe und in der Nähe Christi beginnt diese aktive Indifferenz zu bröckeln. Besinnung kehrt ein, der Kontakt mit dem Betrachter wird fragend gesucht, bis die beiden letzten beziehungsweise die ersten dieser Gruppe sich Christus zuwenden, ohne an ihn schon ein Anliegen zu richten. Indem Rembrandt die Pharisäer in eine paradoxal erscheinende Helligkeit hüllt, macht er die Gesinnung dieser Gruppe als Einheit sichtbar und bleicht gleichzeitig ihre Körperlichkeit aus. Wohingegen Christus Licht aussendet und von Licht und Schatten ausgewogen moduliert wird. Aber in der linken Hälfte differenziert Rembrandt die Nebenfiguren noch weiter aus. Es gibt einen jungen Mann in reicher Tracht, den die Erzähltheorie seit Franz K. Stanzel einen »Reflektor« nennt.21 Sitzend ist er an der geistigen Verarbeitung des Vorgangs beteiligt. Und neben ihm steht die junge Mutter, die anspruchsvollste Bilderfindung überhaupt. Von hinten gesehen trägt sie als Attribute das Kind und die Kürbisflasche, das Symbol der Fürsorge. Die Mutter sucht mit Kopfhaltung und Blick definitiv nicht Christus, sondern schaut auf ihr Kind. Das ergibt eine sehr besondere Art, Wirkmächtigkeit szenisch und körpermimisch darzustellen: Die Mutter überprüft die erwartete Wirkung der Macht. Zusammen mit dem Pensieroso, dem Nachdenklichen links von ihr, repräsentiert die Mutter die generelle Tendenz Rembrandts, effektive Vorgänge mit einer Art von Echokammer zu umgeben, also mit einer Zone des Zweifelns, Abwägens, Reflektierens und Verarbeitens bis hin zum bekennenden Ja-Sagen, Sich-Hingeben. Dieser Zwischenbereich wird durch Rembrandts Licht- und Schattenregie atmosphärisch bindend gemacht. Für die Nebenfiguren ein Habitat, in dem sie sich auch anders als nur im Raum der Relationen entfalten können. Wie so viele Künstler vor ihm und nach ihm nutzt auch Rembrandt den Rand für freie Einfälle. Mit dieser, der normalsten aller Positionierungen der Nebenfigur, möchte ich schließen und beim Hundertguldenblatt bleiben: Mein Beispiel ist die grandiose Figur des Orientalen, der am linken Bildrand aufragt und als Rückenfigur, ähnlich wie der Krämer Bruegels, sein Desinteresse ostentativ
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verkörpert, ja sogar innerbildliche Aufmerksamkeit erregt. Als Geste des Unbeteiligtseins sind kaum zu überbieten die auf dem Rücken gekreuzten Arme und der Stock, der im Gegensatz zu den anderen Stöcken im Bild keine Stütze eines Gebrechlichen ist, sondern ein Herrschaftszeichen. Wie viel prompter ist der Einsatz dieser Figur als das Herumgenörgele der Pharisäer! Der Orientale gehört selbstverständlich in eine Klasse mit dem Jungen im Leinengewand, dem Mann im Macintosh und dem Marketendermädchen. Auch er ist durch seine Kleidung ausgezeichnet. Auch er macht keinen vordergründigen Sinn, aber man kann an solchen Figuren nachvollziehen, was Henry James ihre »intensive Suggestionskraft« genannt hat, als er im Vorwort zu The Portrait of a Lady begründete, warum er sich erst einmal Charaktere und speziell Randfiguren vorstellt, bevor er an den Plot eines Romans denkt: »[T]he intensity of suggestion that may reside in the stray figure, the unattached character, the image en disponibilité.«22
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Stein, Gertrude: Tender Buttons, New York 1914, https://poets.org/poem/tender-buttons-objects [5. Mai 2024]. Bulucz, Alexandru: »Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 3 (2022). Schillinger, Jean (Hrsg.): Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bern 2009. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens, Frankfurt a. M. 1975 [1928]. Bachtin, Michail M.: Zur Philosophie der Handlung, Berlin 2010. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989; Pape, Carina: Handlungswelt und Lebenswelt bei Michail M. Bachtin, https://carinapape.net/ressourcen/pape-handlungswelt_ und_lebenswelt_bei_michail_bachtin.pdf [5. Mai 2024]. Zum Thema des Dritten: Ich habe in Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1998, versucht, Bachtins Ansätze zum Chronotopos und zum Dritten für die kunsthistorische Erzählforschung nutzbar zu machen. Siehe den Antrag des Projekts: https://www.uni-konstanz.de/figur3/prg1.htm [5. Mai 2024]. Als Ergebnis sei verwiesen auf: Eßlinger, Eva/Schlechtriemen, Tobias/Schweitzer, Doris/Zons, Alexander (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a. M. 2010. https://www.hsozkult.de/event/id/event-61088 [5. Mai 2024]. Als Buch: Schmidt, Sibylle (Hrsg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bochum 2009. Joyce, James: Ulysses, Bd. 1, Hamburg, Paris, Bologna 1932, S. 114. Ebd. Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt, Wien 1997 [1902]. Siehe auch die von mir herausgegebene und kommentierte Ausgabe: The Group Portraiture of Holland, Los Angeles 1999. Zu dem hier abgebildeten Beispiel, das zu den ganz frühen Versuchen in diesem Genre gehört, vgl. Ganz, Ulrike Dorothea: Neugier & Sammelbild, Rezeptionsästhetische Studien zu gemalten Sammlungen in der niederländischen Malerei ca. 1550-1650, Weimar 2006, S. 50ff. Kermode, Frank: The Genesis of Secrecy. On the Interpretation of Narrative, Cambridge (Mass) 1979, Kap. III.
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Roth, Elisabeth: Der volkreiche Kalvarienberg in Literatur und Bildkunst des Spätmittelalters, Berlin 1967; Wimbök, Gebriele: Passion als Programm. Zur Kreuzigungsdarstellung in der Kunst vom Hochmittelalter bis zum Barock, https:// www.kulturstiftung.de/passion-als-programm [5. Mai 2024]. Opitz, Christian Nikolaus: »Zum Begriff der Kreuzigung ›mit Gedräng‹«, in: Concilium medii aevi 15 (2012), S. 63 – 76. Aus dem umfangreichen Schrifttum sei verwiesen auf Gerth, Julia: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen, Berlin 2010, S. 171 – 182, und Schnabel, Norbert: »Das Jahrmarktsfest von Golgatha – Pieter Bruegels ›Kreuztragung‹«, in: StendhalSyndrom, 6. Mai 2012, http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2012/05/dasjahrmarktsfest-von-golgatha-pieter.html [5. Mai 2024]. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Berlin 1932. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Vgl. Endnote 16. Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 2008, S. 222. James, Henry: Vorwort zu The Portrait of a Lady, New York 1908, S. VIII.
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Figurationen im Film
Fabienne Liptay
Figurationen im Film: Bemerkungen zur Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit Pré-face
Dies ist ein Versuch, sich dem hierarchischen Gefüge filmischer Figuren nicht aus der Perspektive der Dramaturgie, sondern aus der Perspektive der Figuration anzunähern. Figuration wird hier als Prozess verstanden, in dem Figuren erscheinen und verschwinden, in Beziehung zueinander treten und auseinandergehen, ein plastischer und performativer Prozess der bildlichen Formgebung und Wahrnehmung.1 Körper und Schauspiel, Kostüm und Maske sind hierbei ebenso von Bedeutung wie die Inszenierung, die Aufteilung räumlicher und zeitlicher Sichtbarkeitsverhältnisse durch Lichtsetzung und Kameraführung, das Arrangement der Figuren im Raum und die Dauer ihrer jeweiligen bildlichen Präsenz, aber auch die Routinen der Produktion, die eine ungleiche Behandlung der Schauspieler:innen gemäß der Rangfolge der ihnen attestierten Wichtigkeit vorsehen. Anders als die Stars erscheinen Nebenfiguren gewöhnlich nicht in Großaufnahme und erst recht nicht im Glamourlicht; sie beleben die Szene im Hintergrund oder an den Rändern des Geschehens und sind deshalb häufig mit der Vorstellung alltäglichen Treibens verbunden, das die Geschicke der Hauptfiguren, von denen die Filme erzählen, vermeintlich überdauert. Ihre Sichtbarkeit ist dem Gebot der Unauffälligkeit unterstellt, aus der sie nur momenthaft oder episodisch heraustreten, was ihnen dann wiederum besondere Prägnanz in der körperlichen Erscheinung und im Spiel abverlangt. Oftmals verlassen sie die Szene, wenn sie ihren dramaturgischen Auftrag erfüllt haben, ohne wiederzukehren; sie verschwinden unbemerkt aus dem Film.2 Mitunter prägen sich ihre Auftritte aber auch ein und bleiben im Gedächtnis.3 Anders als die Hauptfiguren, die als singulär wahrgenommen werden, werden die Nebenfiguren auch dann, wenn sie allein auftreten, im Plural gedacht. Vielfach sind sie, schon durch eine bis heute gängige Praxis des Typecastings, als Angehörige sozialer, ethnischer, beruflicher Gruppen angelegt, die durch äußerliche Merkmale unmittelbar erkennbar sein sollen und auf wenige, umso prägnantere Züge festgelegt werden; dabei sollen es gerade ihre individuellen Eigenheiten sein, die die Nebenfiguren als Repräsentant:innen eines sozialen Typus ausweisen. Dies macht sie
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Pré-face
besonders anfällig für Formen der Stereotypisierung und Diskriminierung, aber auch der Solidarisierung und Identifikation außerhalb des Heldenschemas. Die Figuration ist ein Ausdruck kulturellen und sozialen Wissens um ungleiche Bedingungen des Erscheinens. Sie schließt Dynamiken ein, wie sie Norbert Elias gemeinsam mit John L. Scotson in Etablierte und Außenseiter (The Established and the Outsiders, 1965) mit Blick auf ungleiche Machtverhältnisse und Abhängigkeiten in sozialen Gemeinschaften beschrieb. Unter Figuration verstand Elias ein Muster sozialer Beziehungen, an dem sich wahrnehmen und darstellen lässt, wie Menschen zusammenhängen, wie und warum sie miteinander diese bestimmte Figuration bilden oder wie und warum sich die Figurationen, die sie bilden, verändern und in manchen Fällen entwickeln.4 Die Figurationssoziologie war auch ein Gegenentwurf zu einer quantifizierenden Analyse statistischer Korrelationen, insofern sie soziale Strukturen als relational, wandelbar und prozessual begreift, mithin als eine »komplexe Polyphonie der Bewegungen«,5 wie sie Elias und Scotson mit Blick auf die Machtdifferenzen zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Bewohner:innen in einer kleinen englischen Gemeinde um 1960 beobachteten. Dies war zugleich ein Versuch, über soziologische Probleme »in der Sprache des Films zu reden«, also Prozesse zu beschreiben, die eine zeitliche sowie eine historische Dimension haben und sich daher nicht als gesellschaftliche Gegebenheiten oder Zustände in der »Form eines ›Standphotos‹«6 erfassen ließen. Der bemerkenswerte Umstand, dass Elias und Scotson die Figuration in filmischen Begriffen beschrieben, lässt den Film dabei geradezu modellhaft in seinem Vermögen erscheinen, soziale Beziehungen in beweglichen Figurenkonstellationen auszudrücken. Der Blick der Figurationssoziologie wäre demnach also dem Kino abgeschaut. Die Choreografie der Figuren im Film, die Muster ihrer Beziehungen werden in umgekehrter Perspektive auch als Bewegung lesbar, in der soziales Wissen um die Bedingungen von Inklusion und Exklusion ausgehandelt wird. Die Figuration ist der Prozess des Erscheinens, der sich aus dieser Bewegung, aus den dynamischen Positionen und Relationen im Gefüge filmischen Personals ergibt. In diesem Sinne sprach Marc Vernet sogar von der »Plastizität des gesamten Systems« eines Films, in dem die Nebenfiguren abgespal-
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Figurationen im Film
tene Facetten der Hauptfigur verkörpern, die ihre möglichen, erstrebenswerten oder nicht erstrebenswerten Entwicklungen aufzeigen: [S]o könnte man sagen, die Erzählung zeige zunächst, in Form von Hilfsfiguren samt ihren Lebenswegen, nur ungewisse, bewusst verzerrte Anamorphosen der Hauptfigur, bevor sie diese als ›aufrechte‹ Figur (figure) (wieder)herstelle.7 Deutlich wird hier, wie sehr Vernets Begriff der Figuration vom klassischen Erzählkino informiert ist, in dem die Nebenfiguren funktional im Verhältnis zur Hauptfigur bestimmt und ihr beigeordnet werden, während die Figuration, wenn sie unabhängig davon beobachtet würde, zu gänzlich anderen Sichtweisen auf die Nebenfigur führen könnte, in denen die ihr spezifischen Weisen des Erscheinens Beachtung finden. Um diese soll es im Folgenden gehen, allerdings sollen sie nicht in der filmischen Inszenierung selbst beobachtet werden. Vielmehr wird nach den Bedingungen gefragt, die ihr vorausgehen, nach den diskursiven, imaginativen und medialen Verfahren, die die Figuration im Schatten der Stars grundieren. Insbesondere rücken dabei die historischen Diskurse in den Blick, die die Nebenfigur begleitet haben, sowie die medialen Bildpraktiken, die mit ihr und ihrer Besetzung im Film verbunden waren und sind. Konkret möchte ich die Figuration vor dem Hintergrund historischer Diskurse der ›Durchschnittlichkeit‹ und der ›Gewöhnlichkeit‹ betrachten, die die Wahrnehmung der Nebenfigur maßgeblich geprägt haben, auch wenn sie ihr nicht exklusiv sind (denkt man an die vielen Filme, in denen Menschen des alltäglichen Lebens in den Hauptrollen figurieren). Damit ist zugleich vorweggenommen, dass die anschließenden Überlegungen nicht auf Nebenfiguren beschränkt bleiben, sondern diese vielmehr beispielhaft für die Figurationen von Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit betrachten. L’homme moyen
Als Rudolf Arnheim sein »Lob der Charge« schrieb, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Filmtechnik im Oktober 1931, begründete er das Lob mit der Nähe zur sozialen Wirklichkeit, die das Spiel der Nebendarsteller auszeichne: Man entthrone die Wertbegriffe der Ateliers und sehe sich einmal draußen um, und man wird mit Erstaunen feststellen, daß in dieser unserer wirklichen Welt lauter Chargen herumlaufen und keine Heldenspieler!8 172
L’homme moyen
Was er im Sinne eines natürlicheren Schauspiels forderte, war die Übertragung des Chargenspiels auf die Helden, damit diese »ebenso zwanglos, ebenso individuell, ebenso alltäglich, mit ebenso vielen sterblichen Mängeln behaftet« erscheinen.9 Dabei ist es eine geradezu unverwechselbare Individualität, sind es Macken, Ticks, Skurrilitäten, die die Chargen gegenüber den Helden auszeichnen, die Arnheim als einförmig und standardisiert beschrieb: Die Eigenart des Chargenspielers wird oft bis zur Unleidlichkeit unterstrichen, so daß er einem prähistorischen Amphibium ähnlicher sieht als einem unbescholtenen Zeitgenossen mit Wahlrecht und Fünfzimmerwohnung – dem Heldenspieler wird mit Gewalt alle Besonderheit abgeschliffen, bis etwa zwei so verschiedene und so eigenartige Schauspielerinnen wie die Harvey and die Sten unter derselben Schiffsoffiziersmütze und nach derselben Schminkkur nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.10 Ähnliche Beobachtungen finden sich etwa bei Gilbert Seldes in seinem 1935 im Esquire veröffentlichten Artikel »The Itsy-Bitsy Actors«, der den Schauspieler:innen in den kleinen Nebenrollen eine Menschlichkeit attestierte, die den Hauptrollen fehle: The minor players are allowed certain human qualities which the major ones forgo. They are rude, violent, ironic, mean, brutal and mocking. They say what the audience often feels, pricking the great bubble of pretensions which floats through the morals of every movie. They are disruptive elements. And they are very good company.11 Das Chargenspiel wurde jedoch nicht nur gelobt, sondern in der Fachpresse, gerade auch wegen seiner disruptiven Qualitäten, als dramaturgisches Problem behandelt. Wo Nebendarsteller:innen aufgrund ihrer Physis oder ihres Spiels auffielen, wurden sie vielfach als »scene stealers« adressiert. In einer Studie über den journalistischen Diskurs in Hollywood zeichnet Linn Lönroth nach, wie denkwürdige Auftritte von Nebendarsteller:innen zunehmend kriminologisch beschrieben wurden.12 Zu den Entdeckungen ihrer Recherche gehört ein Artikel aus dem Hollywood Magazine von 1937 – dem Jahr, in dem erstmals ein Academy Award für den besten Nebendarsteller verliehen wurde13 –, worin ausgewählte Schauspieler in einer Galerie
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Figurationen im Film
der »Most Dangerous Men in Hollywood« porträtiert werden.14 Mit fünfstelligen Nummern versehen werden ihre fotografischen Porträts wie in einem Strafregister präsentiert und von kurzen Texten begleitet, die die Gattung des Steckbriefs imitieren. Diese Männer seien berüchtigt dafür, sich in die Szene einzuschleichen, ja, die Nebenrolle als Tarnung zu benutzen, um das romantische Paar zu stören, ernste Szenen durch Lacher zu ruinieren, die Helden zu belauschen, ruhige Dramen zu terrorisieren oder die Herzen des Publikums zu stehlen. Schauspielerische Leistungen, in denen die Darsteller die funktionale Subordination ihrer Nebenrolle überschreiten, werden dabei zugleich gewürdigt und geahndet. Natürlich war der Rückgriff auf anthropometrische Verfahren zur polizeilichen Identifikation hier ironisch zu verstehen, sie gehörten längst zum populären Wissen, das sich mit dem Chargenspiel verknüpfen ließ. Das kriminologische Porträt, das aus der Geschichte der Sozialstatistik im 19. Jahrhundert resultierte, ist hier mehr als nur eine Kuriosität; es bildet die historische Folie der Durchschnittlichkeit, vor der die Nebendarsteller:innen neben den Stars Hollywoods überhaupt erst in Erscheinung traten, und zwar in einem gänzlich anderen Bildregister als dem der Glamourfotografie. Es war der belgische Astronom und Statistiker Adolphe Quételet, der hierfür die Grundlagen gelegt hatte mit seiner Schrift Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft (Sur l’homme et le développement de ses facultés, ou essai de physique sociale, 1835), in der er das Konzept des »l’homme moyen« formulierte, ein »fingiertes Wesen«, das sich aus dem berechneten Mittelwert gesellschaftlicher Daten unter Berücksichtigung der Gauß’schen Normalverteilung ergab.15 Dabei betonte Quételet auch die Bedeutung des »mittleren Menschen« für die Künste und die Dichtung: Das Bedürfniss [sic], in der Darstellung wahr zu seyn, die Physiognomie, die Sitten und Gewohnheiten der Völker in verschiedenen Zeiten treu zu schildern, musste von jeher die Künstler und Dichter veranlassen, unter den Individuen, die sie beobachteten, die charakteristischen Züge der Zeit, in der sie lebten, ins Auge zu fassen, oder mit anderen Worten sich möglichst wenig vom mittleren Menschen zu entfernen.16 Die Bedeutung des »mittleren Menschen« für die Dichtung und die Künste sah Quételet gerade darin, Werke zu schaffen, die rühren und ergreifen,17 weil sie »wirklich das Gepräge der Gesellschaft an sich«18
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tragen. Der aus numerischer Bestimmung gewonnene »mittlere Mensch« sollte dabei nicht nur klassische Ideale der griechischen und römischen Antike überwinden. Er trat darüber hinaus auch an die Stelle anderer normativer Vorstellungen des gewöhnlichen Menschen, wie sie etwa Hobbes im Leviathan in der Mitte des 17. Jahrhunderts propagiert und der wissenschaftlichen Begründung eines staatlichen Gemeinwesens zugrunde gelegt hatte, das von »ordinary men« in der Ausübung des Gesetzes getragen wurde.19 Als Erfindung des 19. Jahrhunderts stand der »mittlere Mensch« im Zentrum einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, die durch das Mittel messbarer Werte zusammengehalten wird. Individuelle Eigenheiten, die eine Person unverwechselbar machen, waren in dieser Ordnung zugleich die Voraussetzung für die aus ihnen berechnete Durchschnittlichkeit. Quételet beschrieb dieses scheinbare Paradox, auf dem seine soziale Physik gründete, dahingehend, dass die individuellen Besonderheiten in körperlicher und geistiger Beziehung um so viel mehr sich verwischen und die allgemeinen Bedingungen, auf denen der Fortbestand und die Erhaltung der Gesellschaft beruht [sic], vorherrschen lassen, je grösser die Zahl der zum Gegenstand der Beobachtung gewählten Individuen ist.20 Allan Sekula wies in seinem grundlegenden Essay »The Body and the Archive« (1986) darauf hin, dass es die Leistung kriminologischer Fotografie gewesen sei, ein visuelles Archiv des »homme moyen« errichtet zu haben. So war die von Alphonse Bertillon begründete »Bertillonage« nicht lediglich ein standardisiertes Verfahren, um verdächtige oder straffällige Personen zu registrieren und identifizieren, sondern darüber hinaus die fotografische Voraussetzung für die Erfindung eines sozialen Körpers. Um die schier unüberschaubare Menge an anthropometrisch verdateten Porträts so zu verwalten, dass sie wieder auffindbar sein sollten, organisierte Bertillon sie in Registern anatomischer Details, die er entsprechend der Abstände zum Durchschnitt ordnete. Das derart erweiterte Feld des fotografischen Porträts konstituierte folglich ein ganzes Archiv der sozialen Ordnung: a shadow archive that […] contains both the traces of the visible bodies of heroes, leaders, moral exemplars, celebrities, and those of the poor, the diseased, the insane, the criminal, the
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nonwhite, the female, and all other embodiments of the unworthy.21 Als Bertillon sein System der anthropometrischen Identifikation und Klassifikation im französischen Pavillon auf der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893 präsentierte, stellten auf dem Ausstellungsgelände patrouillierende Polizeikräfte den Nutzen seiner Anwendung bereits unter Beweis. So heißt es in einem zeitgenössischen Artikel zum Polizeischutz auf der Weltausstellung: »[N]early every known criminal who is likely to visit Chicago during the World’s Fair is ›on record,‹ and will find himself ›registered‹ before selecting his hotel.«22 Im historischen Kontext dessen, was Tony Bennett den »exhibitionary complex« des 19. Jahrhunderts nannte, kündigte sich hier bereits ein anderes visuelles Regime an, das nicht mehr darauf beruhte, einzelne Werke für den Blick Vieler zugänglich zu machen, sondern diese vielen selbst in den Blick rückte: The principle of spectacle – of rendering a small number of objects accessible to the inspection of a multitude of men – did not fall into abeyance in the nineteenth century: it was surpassed through the development of technologies of vision which rendered the multitude accessible to its own inspection.23 Pamela Robertson Wojcik hat aufgezeigt, wie mit der Etablierung von Castingbüros und -abteilungen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Besetzungspraxis institutionalisiert wurde, die auf Typisierung und Klassifizierung in Schauspielerverzeichnissen beruhte: These directories feature photographs of actors and actresses, sometimes listing their credits and/or studio affiliations, in alphabetical order and within certain categories. […] Ultimately, through the combined forces of increasing rationalization and the star system, Hollywood develops a complex and hierarchical ladder of types – some defined by lines, some by appearance, some by personality, some associated with certain stereotypes, and some with social types, some operating as stars and some as character actors.24 Dabei war insbesondere das System der Registrierung von Statist:innen, das Hollywood mit der Einrichtung von Central Casting im Jahr
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1925 etablierte, von der sozialstatistischen Verwaltung individueller Daten nach Maßgaben der Durchschnittlichkeit inspiriert. Denn diese stellte ein effizientes Modell für die administrative Bewältigung der in Massen nach Hollywood strömenden Arbeitssuchenden und für ihre Organisation in klassifizierenden Registern dar. Der Umstand, dass mit Howard R. Philbrick, der die Leitung von Central Casting im Jahr 1940 übernahm, ausgerechnet ein ehemaliger Mitarbeiter des FBI mit der Reorganisation der Statistenarbeit beauftragt wurde, wozu auch die Einführung polizeilicher Verfahren gehörte, um »gangster and hoodlums« aus den Registern auszusortieren,25 lädt zu Spekulationen über Besetzungspraktiken ein, die sich an dem von Bertillon entwickelten System der Identifikation von Kriminellen orientierten. Spekulationen dieser Art verkennen indessen, dass sich das Casting nach Typen und Klassen der Idee des menschlichen Durchschnitts verdankte, die insbesondere die Wahrnehmung von Darstellenden in den unteren und untersten Rängen weitaus stärker prägte als jede Tendenz ihrer Kriminalisierung im Interesse der moralischen Besserung des Studiobetriebs. Es ist die Zugehörigkeit zu den in Registern und Archiven verwalteten Datenpopulationen, die dabei die Figuration von Durchschnittlichkeit bestimmt. L’homme ordinaire
In den raren, aber prominenten Fällen, in denen die Gewöhnlichkeit hinsichtlich des Films Beachtung fand, war sie weniger auf den Gegenstand als auf den Modus seiner Betrachtung bezogen. Stanley Cavell sprach in Anlehnung an Freud von der »Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, die sich zeige, wenn Vertrautes, das aus der Erfahrung und aus dem Denken ausgeschlossen war, plötzlich wiederkehre.26 Cavell begründete sein Interesse am Film, wie auch an Shakespeare, Emerson, Thoreau und der Oper, ausdrücklich im Gewöhnlichen, das er als Herausforderung für die Philosophie erachtete, die es im Zuge des Skeptizismus verleugnet und nun wieder zu entdecken habe: »[D]ie Akzeptanz des Alltäglichen, des Gewöhnlichen, ist dabei nicht einfach gegeben, sie besteht vielmehr als Aufgabe.«27 Wo sich die Filmbetrachtung dieser Aufgabe annahm, entdeckte sie mitunter auch die Nebenfigur als Protagonistin einer unheimlichen Wiederkehr des Gewöhnlichen. Dabei bestand die Aufgabe nicht zuletzt darin, über die im theoretischen Diskurs weitgehend vernachlässigte oder aus ihm ausgeschlossene Nebenfigur zugleich alternative Sichtweisen auf Filme zu erproben. So bemerkte etwa
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David Thomson in seinem Beitrag »The Lives of … Supporting Players« (1989), dass es die namenlosen Nebendarsteller:innen seien, in denen sich das Publikum wiedererkenne,28 und dass sich über dieses Nahverhältnis des Publikums zu ihnen ein anderer Blick auf Filme erschließe, der den Rahmen der Heldengeschichte überschreite: »a view that does not fit well […] with any notion of some roles or lives being grander than others« (1989).29 Dieser nicht weiter ausgeführte Gedanke wurde von Aaron Taylor systematisch wieder aufgenommen. In »Uncelebrated Lives. Reflections on the Supporting Player« (2012) umreißt er eine Form der Filmbetrachtung, die sich die Freiheit nimmt, ins Nebensächliche abzuschweifen, um dort gemeinhin übersehene Bedeutungsdimensionen des Films zu entdecken. Roland Barthes oder Siegfried Kracauer beschrieben solches Abschweifen als subjektive Träumerei im Kino,30 hier hingegen wird es an das wache Interesse für die Nebendarsteller:innen geknüpft, an ihre performative Arbeit und expressive Verkörperung in der Figuration: Rather than describing interpretation as a search for subtextual or covert meanings, we can describe our responses to the work of supporting players as a kind of cognitive shift. In essence, they can provide us with a way of altering our comprehension of the narrative’s surface action. We no longer rely upon them for our construal of referential meaning (simply ›following‹ a story) or explicit meaning (understanding a story’s ›message‹); instead they prompt us to identify the energies, tensions, complexes, feelings, impulses and so on that animate a story, giving it weight, breadth, life.31 Dadurch eröffnen sich auch Perspektiven auf eine alternative Teilhabe sowie andere Formen von Identifikation, die von der strukturalistischen Narratologie verstellt waren. Dabei ist es die Intensität einer Darbietung, die das Interesse am Handlungsgeschehen unterbricht und zu anderen Weisen filmischer Wahrnehmung einlädt – Weisen einer theoretisch nicht vorgebildeten, ›gewöhnlichen‹ Betrachtung, die sich gerade mit Vorliebe an die Nebenrolle heften: »[T]here are productive connections to be made between an attentiveness to the supporting player and the associational quality of ordinary spectatorship.«32 Was hieran interessant ist, sind weniger die assoziativen Qualitäten, die gegen ein geschultes Interesse an der dramatischen
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Struktur ins Feld geführt werden, als vielmehr grundsätzlich der Versuch, eine Form gewöhnlicher Filmbetrachtung in der Nebenfigur zu begründen. Dabei werden auch Zugänge zur Nebenfigur erschlossen, die diese nicht auf ihre subsidiäre Funktion innerhalb der narrativen Struktur und szenischen Anordnung verweisen, sondern ihr einen performativen Körper attestieren, der sich quer zum funktionalen Gefüge stellen oder es vorübergehend aufheben kann. Während die Anatomie der Nebenfigur vor allem in dramaturgischen Begriffen gefasst wurde, etwa im Anschluss an E. M. Forster, der sie als »flach« oder »zweidimensional« bezeichnete, da sie geringe Komplexität und Tiefe hat,33 wird ihr hier ein Körper mit affektiven und identifikatorischen Potenzialen zugestanden. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Nebenfigur, sobald sie in den Fokus des Interesses rückt, überhaupt noch sinnvoll als Nebenfigur beschrieben werden kann. David Galef hat dieses Problem in seiner literaturwissenschaftlichen Studie zum Supporting Cast pointiert benannt: [M]any minor and flat characters are simply meant as background. In fact, should they be noted as anything but animated scenery, they will detract from other, more important characters. […] The reasons for such a shift in focus are various, from an artistic miscalculation to an interest in quiddities to political sympathy for marginal groups. One could go further and argue that any minor or flat character so highlighted is actually a major character – and this opens up another definitional, even descriptive problem. The problem is the dividing line between minor and major characters.34 Ein eigenwilliger, ja enigmatischer Beitrag zur Gewöhnlichkeit als einer genuin modernen Denkfigur im Kinodiskurs, in dem diese Trennlinie bereits aufgehoben ist, ist Jean Louis Schefers Buch Der gewöhnliche Mensch des Kinos (L’homme ordinaire du cinéma, 1980). Der gewöhnliche Mensch: Das ist der Autor selbst, der sein Buch als Kinogänger, nicht als Kritiker des Kinos schrieb; das ist aber auch jeder Mensch angesichts der Kinoerfahrung – denn es ist »nicht möglich, dass meine Kinoerfahrung vollständig solitär ist«.35 »Gewöhnlichkeit« meint hier eine bestimmte Form der Betrachtung von Filmen, die nicht analytisch oder theoretisch motiviert ist, sondern sich von anderen Körpern und Erfahrungen affizieren lässt:
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Was projiziert und animiert wird, sind nicht wir selbst. Und doch erkennen wir uns hierin (als könnte hier ein seltsamer Wunsch nach Ausdehnung des menschlichen Körpers als Bedeutung fungieren oder in Objektsimulationen nach und nach verlöschen, Simulationen, die wir als höchste Nachahmung unserer selbst empfinden: Was nicht in uns geboren wurde, kann hier leben). […] Der Zuschauer ist gefangen in dieser neuen Freiheit, etwas von sich selbst zu betrachten, das niemals stattgefunden hat: Er erlernt mithin auf ebenso paradoxe Weise seine Erinnerung.36 Schefer stellte sich diesen gewöhnlichen Menschen des Kinos als »Wesen ohne Eigenschaften« vor,37 nach dem Vorbild des Protagonisten aus Robert Musils Roman, um persönliche Erfahrungen hin auf ein unpersönliches Denken anderer möglicher Erfahrungen zu öffnen. Dabei erachtete er den Film als einen Ort der Erfahrung eines Unbekannten, insbesondere eines unbekannten Schreckens, angesichts dessen sich der Mensch des Kinos als »un être simulé«38 erfährt, als ein simuliertes Subjekt. Dieses Subjekt war phantomatisch, vergleichbar den Phantomgliedern der Kriegsamputierten aus dem Ersten Weltkrieg,39 und damit entschieden körperlich, gezeichnet durch die Geschichte, die sich im Schauspiel wiederholt. Dieser Bildkörper, von dem die Zuschauer:innen getrennt und mit dem sie über ein »geisterhaftes Band«40 zugleich verbunden sind, ist dabei insofern gewöhnlich, als er allem sozialen Leben hinzugedacht wird: »moins ›idéale‹ que strictement impossible […], quotidien comme fantôme a tout vivant social«.41 Schefer lässt ihn in Szenen des Werdens erscheinen, in einer mitunter monströsen oder grotesken Figuration, die Körper noch vor jeder Bedeutung hervorbringt. Die Figuren, denen das erste Kapitel des Buches mit der Überschrift »Götter« gewidmet ist,42 sind Freaks, Monster, Dienstmädchen, Dickwanste, Sklaven, Ungetüme, Trottel, exzentrische Tiere – Figuren, die als »Backwerk«43 oder »Blutwurst«44 bezeichnet werden, die ein Gesicht wie »weiße Butter«45 oder eine Fratze mit »verkürztem Rüssel«46 haben. Schefer beschreibt ihre Körper als das, was ihnen widerfährt, als eine »figurative Masse«, der sie »um keiner Aktion willen« entkommen können.47 In einem Gespräch über die Figuration im Film, das Schefer in den Cahiers du cinéma mit Serge Daney und Jean-Pierre Oudart führte, bemerkte er, dass das Ideal im Kino ursprünglich der obszöne Körper der Burleske gewesen sei, den das Starsystem verdrängt habe48 – wobei zu fragen wäre, ob das Star-
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system den obszönen Körper nicht eher bewahrt, aber in die Nebenrollen verwiesen hat. Das letzte Kapitel des Buches von Schefer ist dem Gesicht gewidmet. Es beginnt mit eindrücklichen Beschreibungen einer Szene aus Paul Wegeners Golem (1920), in welcher der Rabbi versucht, dem formlosen Lehmklumpen ein menschliches Gesicht zu modellieren: Wir sind bereits in diesem Lehmfetzen aufgenommen, den der Rabbi auswringt, glättet und, ihn faltend, an die Stelle eines Golemgesichts gleiten lässt (wobei er daran verzweifelt, diesem Steinwesen ein menschliches Gesicht abzuringen und nur die Ausbeulungen von Augen und Nase hinkriegt, wie bei den ungeschickten Versuchen eines Kindes mit einem Haufen Knete, dem es nicht gelingt, sein Gesicht damit zu formen). […] Als gäbe uns das Bild hier nur seine Masse und nicht seine Form und als sei dies die Dauer unseres, des einzig möglichen Blicks – dank der Erwartung, die eine Handlung ist, lediglich von der ewigen Abwesenheit der Form eines Gesichts erreicht.49 Diesem Bild korrespondiert gegen Ende des Kapitels ein anderes aus Akira Kurosawas Schloss im Spinnwebwald (Kumonosu-jō, 1957), worin die Welt in einem grauen Schleier verschwindet. Dieser graue Schleier aus Dampf und Nebel steht – wie das Gesicht des Golems, das unter den formenden Händen nicht entstehen will – für die (De-)Figuration als Prozess: Ich sehe hier, durcheinander, die Entstehung der Welt (und ebenso gut ihre elementare Zerstörung), die Geburt oder den langsamen Wiederbeginn des Gedankens und einen Beginn des Sichtbaren, der noch keine Gestalt und keine Handlung ist.50 Was hier beschrieben ist, was Schefer auch sprachstilistisch in sich auflösenden Satzgebilden evoziert,51 ist ein völlig anderes Bildregime als das der metrischen oder anthropometrischen Durchschnittlichkeit. Gewöhnlichkeit bezeichnet hier eine zutiefst subjektive und zugleich unpersönliche Kinoerfahrung der Affizierung und Solidarität der Körper. Diese Körper sind inchoativ,52 in einem unabgeschlossenen Prozess des Werdens, der Mutation oder Deformation befindlich. An keiner Stelle ist von Nebenfiguren oder Hauptfiguren explizit die Rede. Im Blick des gewöhnlichen Menschen des Kinos, wie ihn Schefer imaginierte, existieren diese nicht mehr oder noch
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nicht, sie sind zurückgeworfen auf die figurative Masse ihrer Bildkörper vor aller Gestalt und Handlung. Déformation professionnelle
Mit A Place Which Is Ripe und Karla (beide 2020) möchte ich im Folgenden zwei filmische Arbeiten von Omer Fast in den Blick nehmen, die implizit einen Beitrag zur Figuration von Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit leisten. Sie entstanden im Dialog mit einem doppelseitig ausgeführten Selbstporträt von Max Beckmann aus dem Jahr 1917, das den Künstler als einen von Kriegserlebnissen gezeichneten Menschen zeigt. Auf der einen Seite des Blattes ist er sitzend mit gefalteten Händen dargestellt, auf der anderen Seite in einer Kopfansicht, mit einem offenen und einem fast geschlossenen Auge, als würde er gleichzeitig nach außen und nach innen blicken. Es scheint, schreibt Michael Hering, Direktor der Staatlichen Graphischen Sammlung München, als ob den Gesichtszügen in diesem Moment das Menschliche entgleitet und sie im Schwanken zwischen äußerer Weltverachtung und innerer Zerrissenheit zu einer chimärenhaften Grimasse erstarren.53 Beckmann zeichnete das Selbstporträt im zeitlichen Umfeld seiner endgültigen Entlassung aus dem Kriegsdienst, nachdem er als Sanitäter in den Lazaretten zwei Jahre zuvor einen Zusammenbruch erlitten hatte und beurlaubt worden war. Es sind die einzigen Bildzeugnisse in einer Phase ausgesetzter künstlerischer Produktivität. Als die Staatliche Graphische Sammlung München die Tuschzeichnung erwarb, trat Michael Hering an Omer Fast mit der Einladung heran, ausgehend von ihr eine Ausstellung zu gestalten.54 A Place Which Is Ripe und Karla entstanden so im Kontext einer Serie von Arbeiten, die sich explizit auf die Zeichnung von Beckmann beziehen und eine Auseinandersetzung mit der Figuration traumatischer Erfahrung im Porträt suchen.55 Dabei zeigen sie das Gesicht als prekären Ort der Bildpolitik in einem Datennetz globaler Informationsverarbeitung.56 In beiden filmischen Arbeiten sprechen die Personen über Bilder – Bilder von Gewaltverbrechen, Missbrauch, Mord –, mit denen sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit konfrontiert waren. Sie mussten Videos mit grausamen Inhalten aus dem Internet entfernen, wie die Content Moderatorin in Karla, oder Aufzeichnungen öffentli-
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cher Kameras zur Aufklärung von Gewaltverbrechen sichten, wie die beiden Polizeiermittler in A Place Which Is Ripe. Aber die Bilder, die zu sehen sind, sind nicht diejenigen, über die sie sprechen; es sind Bilder, die durch algorithmische Operationen zu ihren Worten gesucht oder generiert werden, um daraus ein Porträt zu erschaffen. Dabei geht es auch darum, nach den medialen Bedingungen zu fragen, denen die Figuration im Zeitalter computerbasierter Gesichtserkennung oder Simulation unterworfen ist – Bedingungen, die auch den Anlass für den Streik der Mitglieder der Schauspielgewerkschaft SAG-AFTRA in Hollywood gaben, nachdem der Verband der TV- und Filmstudios AMPTP den Studios die Möglichkeit zusichern wollte, Schauspieler:innen mithilfe von Künstlicher Intelligenz gegen einen Tageslohn zu scannen und diesen Scan weiterverwenden zu dürfen.57 Die Herstellung von »Digital Replica« und »Synthetic Performers« durch generative KI stellt eine existenzielle Bedrohung insbesondere für Nebendarsteller:innen und Statist:innen dar.58 Sie stellt darüber hinaus aber auch die diskursgeschichtliche Nähe aus, die diese zum »mittleren Menschen« im Kontext der Sozialstatistik und der aus ihr hervorgegangenen anthropometrischen und biometrischen Verdatung, von der Bertillonage bis zur Facial Motion Capture, unterhalten. Die Ausstellungsräume der Pinakothek der Moderne machten den Eindruck einer verlassenen oder noch nicht bezogenen Wohnung, in denen die installierten Arbeiten, inmitten von Gerümpel, Koffern und Umzugskartons, ein geisterhaftes Eigenleben zu führen schienen. A Place Which Is Ripe spielte auf drei synchronisierten mobilen Displays, die wie persönliche Gegenstände in einer offenen Schublade in einer kleinen Kommode platziert waren. Als Ausstellungsbesucherin betrat man das Zimmer wie einen Tatort, der zur Spurensuche einlädt. Die filmische Installation basiert auf Interviews mit zwei ehemaligen Ermittlern von Scotland Yard, die über ihre Arbeit mit Videoüberwachung und Gesichtserkennung berichten. Aufgrund ihrer besonderen Befähigung, Gesichter in der Menge wiederzuerkennen, wurden sie bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen eingesetzt, um Tausende Stunden aufgezeichnetes Videomaterial von öffentlichen Überwachungskameras zu sichten und auszuwerten. Die verschriftlichten Interviews wurden von professionellen Schauspielern (Bernhard Schütz und Stefan Kolosko) neu interpretiert, die jeweils nur von hinten zu sehen sind, während sie erzählen.59 Dazu sind, auf den anderen beiden Displays, ausgewählte Ergebnisse der Bildersuche zu sehen, die Google zu den eingespeisten Worten der Ermittler lieferte.
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Abb. 1 – 2: Omer Fast: Karla, holografische Projektion und HD-Video, 34:45 Min., 2020, Videostill, lineare Fassung © Omer Fast
An einer Stelle erzählt einer der beiden Super-Recognizer, dass er nicht fernsehen könne, weil er immer nur auf die Personen im Hintergrund achte (Abb. 1). Parallel dazu sind auf den anderen beiden mobilen Displays Filmszenen zu sehen, in denen sich Statisten und Kleindarsteller ungebührlich Aufmerksamkeit verschafft haben, wie der beim Luftangriff in die Kamera lächelnde Soldat im Trailer zu Christopher Nolans Dunkirk (2017) oder der kleine Junge im Restaurant in Alfred Hitchcocks North By Northwest (1959), der sich, schon bevor der Schuss fällt, die Ohren zuhält; oder Szenen, in denen berühmte Schauspieler als Statisten figurierten, wie Bruce Willis in The Verdict (1982, Paul Newman) oder Brad Pitt bei seinem Filmdebüt in Hunk (1987, Lawrence Bassoff); oder Szenen, in denen Statisten zu Berühmtheit gelangten, wie EJ Zapata, ein Hintergrundschauspieler aus Los Angeles, dessen Showreel mit kompilierten Arbeitsproben – darunter American Horror Story, Staffel 8, Episode 11 (2018) oder Shameless, Staffel 9, Episode 11 (2019) – auf Vimeo viral ging.60
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Abb. 3 – 4: Omer Fast: A Place Which Is Ripe, drei Videos auf Mobilgeräten, 16:39 Min., 2020, Videostill, lineare Fassung © Omer Fast
Erläuterungen der Super-Recognizer, wie sie Personen anhand physiognomischer Details identifizieren, anhand der Form der Ohren, Ohrläppchen oder Ohrmuscheln (Abb. 2), erinnern an das Indizienparadigma, das Carlo Ginzburg dem späten 19. Jahrhundert attestierte: eine »Interpretationsmethode«, die ihre Erkenntnisse gerade aus den »nebensächlichen und unerheblichen Details«, den »Einzelheiten, die allgemein als trivial und unwesentlich galten, als ›nicht beachtenswert‹«, gewann.61 Dabei sei es vor allem die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Verwaltungs- und Polizeikräften gewesen, die der Kunst des Spurenlesens, wie sie Morelli, Freud und Sherlock Holmes praktiziert hatten, zur »Entwicklung einer differenzierteren Kontrolle des Individuums in der Gesellschaft« verhalf.62 Es ist ebendieses historische Paradigma, das die Personen im Hintergrund, die Nebenfiguren und Statisterie einer Szene, in den Blick treten lässt. Ganz andere Bedingungen des Erscheinens hingegen präsentierten sich in der Ausstellung in einem der angrenzenden Räume der
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Wohnung, dem verdunkelten Schlafzimmer, in dem ein Gesicht im Raum schwebte wie eine geisterhafte Erscheinung aus Albträumen. Technisch gesehen handelte es sich um eine holografische Projektion auf der Basis der Daten, die vom Gesichtsausdruck einer Schauspielerin abgelesen wurden. Diese Schauspielerin (Genia Maria Karasek) ist, wie die Super-Recognizer, ebenfalls nur von hinten zu sehen, auf einem kleinen Display, das seitlich am Bett installiert war, als sei es eine Fernsteuerung des Traumgeschehens. Auf dem Kopf trägt sie einen Datenhelm zur Facial Motion Capture, während sie den Worten, die sie spricht, mimischen Ausdruck verleiht,63 beinahe so, als würde sie das holografische Gesicht in Echtzeit animieren. Auch diese Arbeit basiert auf dokumentarischen Interviews, die Omer Fast führte, in diesem Fall mit einer Person, die als Content Moderatorin in einer Belegschaft von 200 Mitarbeitenden für das weltweit größte Videoportal tätig war, um Videos mit gewaltsamen Inhalten in Nachtschichten zu filtern, bis sie ihre Tätigkeit niederlegen musste, weil eines dieser Videos sie traumatisierte und in ihren Träumen verfolgte. Das holografische Gesicht, das an ihrer statt zu sehen ist, ist ein digitales Modell, hohl und blicklos, mit grauer Hauttextur, als sei es noch nicht fertig gerechnet (Abb. 3). Es maskiert die Person, die anonym bleiben wollte, weil ein Vertrag mit dem Arbeitgeber sie zur Verschwiegenheit verpflichtete, und erschafft aus ihrer Erzählung zugleich ein Gesicht, das schauspielerisch und algorithmisch interpretiert wird. Wie in A Place Which Is Ripe wird auch hier, in Karla, ein Porträt aus den Worten einer Person generiert, die durch vielfache Transformation ins Bild übersetzt wurden. Das Anliegen der Anonymisierung erscheint dabei weniger relevant als das der Modellierung eines Porträts aus den Daten traumatischer Erfahrung. Was unterdessen sichtbar wird, sind die Fehlleistungen der Übersetzung, die zwischen dem nicht einholbaren Ereignis und seiner medialen Repräsentation liegen: die sprachlichen und algorithmischen Verfahren der Generierung von Bildern, nicht die Bilder der Sache selbst. Zwischen dem, was zu sehen ist, und dem, wovon die Personen sprechen, liegt – wie zwischen dem nach innen und dem nach außen blickenden Auge Beckmanns – ein Abgrund. Im Spiel der digitalen Replikation und synthetischen Performance kommt dabei zum Vorschein, was die Figuration systematisch vom Körper der Darstellenden trennt. Im Zuge des jüngsten Gewerkschaftsstreiks der Schauspieler:innen in Hollywood sind diese generativen Technologien mit Blick auf die Nebenrolle gerade deshalb so
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kritisch diskutiert worden, weil sich deren Besetzung dadurch leicht einsparen lässt. Ist eine schauspielerische Darbietung einmal vom Gesicht abgelesen und in ein Bündel von Daten gewandelt, können diese Daten beliebig wiederverwendet oder mit anderen amalgamiert werden. In Karla werden diese Verfahren indessen selbst performativ, insofern sie ihre eigenen Grundlagen destabilisieren. Denn dieses Gesicht, das auf der Basis technischer Gesichtserfassung entstanden ist, entzieht sich nicht nur der Identifizierbarkeit, sondern stellt auch völlig andere Beziehungen zwischen Körpern, Erzählungen und Technologien her. Im Laufe der kontinuierlichen Rede nimmt es unterschiedliche Gestalt und Stimme an, bringt Figuren verschiedener Lebensalter hervor, die sich fließend zwischen geschlechtlichen und ethnischen Zuschreibungen bewegen (Abb. 4). Digitale Replikation und synthetische Performance werden hier als Möglichkeiten genutzt, jenen Konnex von Individualität und Durchschnittlichkeit zu durchtrennen, der den Diskurs um die Nebenrolle wesentlich bestimmt hat. Was sich in der plastischen Aktivität des Morphens zeigt, gleicht vielmehr einer figurativen Masse in Mitleidenschaft gezogener Körper. Dabei korrespondiert das polymorphe, ständig werdende und unfertige Gesicht der inchoativen Figuration, die Schefer als Geburt eines neuen, noch unbekannten Menschen aus der Gewöhnlichkeit imaginierte.64 Vieles an diesem holografischen Gesicht erinnert auch an den phantomatischen Bildkörper, den er mit der »Erhebung einer geisterhaften Existenz in uns« verglich: als würde sich »ein durchsichtiger Schläfer in unseren Träumen auf die Ellbogen zu stützen«.65 Angesichts dieser traumartigen Erscheinung sind wir es, die uns ihr als invalide Träumende hinzudenken, »un être simulé«, das den Ort des abwesenden Körpers in der Szene bewohnt. Die Figuration entfaltet hier darüber hinaus Potenziale, wie sie ihr Donna Haraway oder Rosi Braidotti im Kontext feministischer Kritik zugedacht haben.66 Sie verstehen die Figuration als transformative Praxis, die vom Gegenstand auf die Bedingungen des Denkens übergreift, um Weltverhältnisse jenseits einer mimetischen Beziehung zu herrschenden Diskursen und Logiken der Repräsentation herzustellen. Haraways »Fadenfiguren«67 oder Braidottis »nomadische Subjekte«68 sind Beispiele solcher Figuration, durch die andere Formen von Subjektivität und verkörperter Erfahrung zum Ausdruck gelangen. Sie stellen, wie Braidotti schreibt, alternative (Selbst-)Entwürfe minoritärer Subjekte und ihrer Position im Gefüge hierarchischer Beziehungen dar:
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As such, they are no metaphors, but rather critical tools to account for the materially embedded and embodied locations and power relations. They are also creative expressions of the intensity, i. e., the rate of change, transformation or affirmation, the potentia (positive power) one inhabits.69 Versteht man die Figuration in methodischer Hinsicht als eine dynamische Relation, aber auch als eine Form des relationalen Denkens in spezifischen historischen und sozialen Kontexten, so eröffnen sich dadurch auch andere Perspektiven auf das Beziehungsgefüge filmischer Figuren. Es liegt auf der Hand, dass die potentia einer Figur den Rahmen ihrer Funktionalität oder Operativität überschreitet, allerdings ist sie nur insofern transformativ, als sie die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit, die technischen und dramaturgischen Protokolle, die ihr Erscheinen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht organisieren, zugleich zur Anschauung bringt. In diesem Sinne hat Kathrin Thiele im Anschluss an Braidotti und Haraway von der Figuration als einer Möglichkeit der Intervention in gängige narrative Weltentwürfe gesprochen: Figurieren als spekulativ-kritische Denk-Praxis kann jenen, die sie praktizieren, helfen, eine angemessene Aufmerksamkeit für die […] allzu gängigen Geschichten auszubilden; Geschichten, die uns ständig daran erinnern (müssen), wer darin dauerhaft übersehen wird oder gar nicht erst vorkommt.70 Es ist evident, dass die Nebenfigur als Verkörperung dramaturgisch konventionalisierter Exklusion oder Marginalisierung, aber auch als Gesicht in der Menge verdateter Individualität in diesem Kontext besondere Bedeutung erhält. Aber es ist auch evident, dass eine solche Denkpraxis die Nebenfigur ebenso in den Blick rückt, wie sie diese kategorisch zum Verschwinden bringt. 1
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Zur Figuration in diesem prozessualen und performativen Verständnis vgl.: Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel ästhetischer Gefüge, München 2001; Brandstetter, Gabriele/ Peters, Sibylle (Hrsg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002; Boehm, Gottfried/Brandstetter, Gabriele/von Müller, Achatz (Hrsg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, Paderborn 2007; Vogel, Juliane: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Paderborn 2018. Zur Figuration im Film vgl. insbesondere den Beitrag von Paech, Joachim: »Bewegung als Figur und Figuration (in Photographie und Film)«, in: Boehm/ Brandstetter/von Müller (Hrsg.): Figur und Figuration, S. 273 – 291. Vgl. den Beitrag von Stefanie Diekmann in diesem Band.
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Vgl. den Beitrag von Dennis Göttel in diesem Band. Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, Berlin 1993, S. 73. Vgl. außerdem Elias: »Figuration«, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 88 – 91. Elias/Scotson: Etablierte und Außenseiter, S. 33. Ebd., S. 76. Vernet, Marc: »Die Figur im Film«, aus dem Französischen von Jessica Beer, in: montage/av 15 (2006), H. 2, S. 11 – 44, hier: S. 19. Arnheim, Rudolf: »Lob der Charge«, in: ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film, hrsg. von Helmut H. Diederichs, Frankfurt a. M. 1979, S. 113 – 115, hier: S. 115. Vgl. zum Chargenspiel auch die beiden Aufsätze von Prümm, Karl: »Erneuertes Lob der Charge«, in: filmwärts 23 (1992), H. 3, S. 5 – 9; sowie »Klischee und Individualität. Zur Problematik des Chargenspiels im deutschen Film«, in: Heller, Heinz-B./Prümm, Karl/Peulings, Birgit (Hrsg.): Der Körper im Bild. Schauspielen – Darstellen – Erscheinen, Marburg 1999, S. 93 – 109. Arnheim: »Lob der Charge«, S. 115. Ebd., S. 114. Seldes, Gilbert: »The Itsy-Bitsy Actors«, in: Esquire 3 (1935), S. 56 u. 128; wieder abgedruckt in: McClure, Arthur F./Twomey, Alfred E.: The Versatiles. Supporting Character Players in the Cinema 1930 – 1955, South Brunswick, New York 1969. Lönroth, Linn: »›Certainly No Clark Gable‹ – Reflections on the Journalistic Discourse about Hollywood Character Actors, ca. 1915 – 1949«, in: The International Association for Media and History (IAMIST), 8. April 2020, https://iamhist. net/2020/04/certainly-no-clark-gable/ [29. April 2024]. An Walter Brennan für seine Rolle als Swan Bostrom in Come and Get It (1936, Howard Hawks und William Wyler). N. N.: »The Most Dangerous Men in Hollywood«, in: Hollywood Magazine 26 (1937), H. 9, S. 38 – 39. Vgl. hierzu u. a. Ewald, François: L’Etat providence, Paris 1986; Hacking, Ian: The Taming of Chance, Cambridge 1990. Quételet, Adolphe: Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, Stuttgart 1838, S. 559. Ebd., S. 560. Ebd., S. 563. Vgl. hierzu etwa Foisneau, Luc: »Common People as Individuals. Hobbes’s Normative Approach to the Ordinary Mind«, in: Jacob, Margaret C./Secretan, Catherine: In Praise of Ordinary People. Early Modern Britain and the Dutch Republic, New York 2013, S. 47 – 63. Quételet: Über den Menschen, S. 8. Sekula, Allan: »The Body and the Archive«, in: October 39 (1986), S. 3 – 64, hier: S. 10. M’Claughry, R. W./Bonfield, John: »Police Protection at the World’s Fair«, in: The North American Review 156 (1893), H. 439, S. 711 – 716, hier: S. 712. Bennett, Tony: »The Exhibitionary Complex«, in: New Formations 4 (1988), S. 73 – 102, hier: S. 98. An anderer Stelle habe ich in diesem Zusammenhang vom »statistischen Komplex« gesprochen: Liptay, Fabienne: »Der statistische Komplex«, in: Kritische Berichte 50 (2022), H. 3, S. 28 – 36. Robertson Wojcik, Pamela: »Typecasting«, in: Criticism 45 (2003), H. 2, S. 223 – 249, hier: S. 241f. u. 244. Vgl. zum Typecasting im historischen Schnittfeld von Wissensgeschichte und Populärkultur außerdem: Ewan, Stuart/Ewan, Elizabeth: Typecasting. On the Arts and Sciences of Human Inequality, New York 2008. Vgl. Segrave, Kerry: Extras of Early Hollywood. A History of the Crowd, 1913 – 1945, Jefferson, London 2013, S. 41. Cavell, Stanley: »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: ders.: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, hrsg. von Espen Hammer und Davide Sparti, aus dem Englischen von Martin Hartmann, Frankfurt a. M. 2002, S. 76 – 110. Ebd., S. 101. Vgl. zur Gewöhnlichkeit im Ausgang der Philosophie der Alltagssprache bei Cavell ferner: »Something Out of the Ordinary«, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 71 (1997), H. 2, S. 23 – 37; sowie Must We Mean What We Say?, New York 1969.
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Thomson, David: »The Lives of … Supporting Players«, in: Film Comment 25 (1989), H. 6, S. 32 – 34, hier: S. 33; wieder abgedruckt in: Robertson Wojcik (Hrsg.): Movie Acting. The Film Reader, New York, London 2004, S. 207 – 210. Ebd., S. 34. Barthes, Roland: »Beim Verlassen des Kinos«, in: Filmkritik 235 (1976), S. 290 – 293; Kracauer, Siegfried: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York 1960, S. 164 – 166. Taylor, Aaron: »Uncelebrated Lives. Reflections on the Supporting Player«, in: Quarterly Review of Film and Video 29 (2012), H. 2, S. 114 – 128, hier: S. 122f. Ebd., S. 120. Forster, Edward Morgan: Aspects of the Novel, New York 1927, S. 103 – 118. Galef, David: The Supporting Cast. A Study of Flat and Minor Characters, University Park 1993, S. 11. Schefer, Jean Louis: L’homme ordinaire du cinéma, Paris 1980; zitiert nach der dt. Übersetzung von Michaela Ott und Raimund Linden: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, hrsg. von Matthias Wittmann, München 2013, S. 16. Vgl. zu den Versuchen, sich dem »gewöhnlichen Menschen« bei Schefer zu nähern: Blümlinger, Christa: »Das Rätsel des gewöhnlichen Kino-Menschen«, in: Meteor 11 (1997), S. 30 – 32; Wittmann, Matthias: »Das Kino ist auch ein Paradox. Jean Louis Schefers Welt der Disproportion«, in: Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 171 – 194. Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 99 u. 107. Ebd., S. 15 u. 18. Schefer, im Gespräch mit Serge Daney und Jean-Pierre Oudart: »Questions de figuration: L’Homme ordinaire du cinéma – Entretien avec Jean Louis Schefer«, in: Cahiers du cinéma 296 (1979), S. 5 – 15, hier: S. 7. Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 101. Ebd., S. 99. Schefer im Gespräch mit Daney und Oudart: »Questions de figuration«, S. 7f. Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 25 – 91. Ebd., S. 47. Ebd., S. 55. Ebd., S. 81. Ebd., S. 33. Ebd., S. 73. Schefer im Gespräch mit Daney und Oudart: »Questions de figuration«, S. 12. Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 147 u. 149. Ebd., S. 136. Die Übersetzer:innen sprechen in ihrer Nachbemerkung von einer »stotternden Dokumentation einer Affizierungserfahrung am Rande der Möglichkeit ihrer Versprachlichung« und von einem »prädikatlosen Satzgebilde, dessen Subjekt in Nebensätzen semantisch weiter ausgefranst und vielbezüglich verunklart wird«. Ott, Michaela/Linden, Raimund: »Nachbemerkung der Übersetzer«, in: Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 195 – 198, hier: S. 195. Schefer im Gespräch mit Daney und Oudart: »Questions de figuration«, S. 8 f. Hering, Michael: Max Beckmann, Selbstporträt, 1917, https://www.ernst-von-siemens-kunststiftung.de/objekt/max-beckmann-selbstportr%C3%A4t-1917.html [29. April 2024]. Die Ausstellung »Max Beckmann / Omer Fast Abfahrt«, die vom 8. Oktober 2020 bis 10. Januar 2021 in der Pinakothek der Moderne in München installiert war, blieb während der COVID-19-Pandemie über weite Strecken geschlossen. Einige der hier weiterentwickelten Überlegungen verdanken sich einem Gespräch, das ich mit Omer Fast im Rahmen der Reihe »Artist’s Talks« des Migros Museums für Gegenwartskunst geführt habe: Online-Talk with Omer Fast, 4. Februar 2021, https://migrosmuseum.ch/en/videos/eintrag-1003832 [29. April 2024]. Vgl. in diesem Zusammenhang Meyer, Roland: Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook, Konstanz 2019; ders.: Gesichtserkennung. Digitale Bildkulturen, Berlin 2021. Der am 14. Juli 2023 begonnene Streik der Schauspielergewerkschaft kam am 9. November 2023 mit einer vorläufigen Vereinbarung zu einem Ende, die Min-
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destvergütungen, Zustimmungsregelungen und Entschädigungen zum Schutz der Schauspieler:innen vor der Bedrohung durch KI zusicherte. (SAG-AFTRA: Tentative Agreement Reached, 8. November 2023, https://www.sagaftra.org/tentative-agreement-reached [29. April 2024]) In Abgrenzung zu »Digital Replica«, deren Aussehen und/oder Stimme als die eines natürlichen Darstellers oder einer natürlichen Darstellerin identifiziert werden können, definiert die Vereinbarung einen »Synthetic Performer« als »digitally created asset that is intended to create, and does create, the clear impression that the asset is a natural performer who is not recognizable as any identifiable natural performer«. (SAG-AFTRA: TV/Theatrical Contracts 2023. Summary of Tentative Agreement, 16. November 2023, https://www.sagaftra.org/ files/sa_documents/TV-Theatrical_23_Summary_Agreement_Final.pdf, S. 3f. [29. April 2024]) Diese Beschreibung bezieht sich auf die deutschsprachige Fassung der Arbeit, die in der Ausstellung »Abfahrt« in München zu sehen war. In der englischsprachigen Fassung von A Place Which Is Ripe werden die Super-Recognizer nicht durch Schauspieler verkörpert, sondern wurden in Interviewsituationen, ebenfalls von hinten, in ihren Hotelzimmern gefilmt. EJ Zapata: Solid evidence every TV show, Movie, and Commercial are all in the same Cinematic Universe (my background extra compilation), 31. März 2019, https:// vimeo.com/327565388 [29. April 2024]. Ein ähnliches Verfahren der Kompilation von Auftritten im Hintergrund wurde in Jill, Uncredited (2022), einem Kurzfilm von Anthony Ing, genutzt, der die Darstellerin Jill Goldston in den zahlreichen Filmen aufspürt, in denen sie im Hintergrund figurierte. Ginzburg, Carlo: »Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes«, in: Eco, Umberto/Sebeok, Thomas A. (Hrsg.): Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, aus dem Englischen von Christiane Spelsberg und Roger Willemsen, München 1985, S. 125 – 197, hier S. 132. Vgl. auch Ginzburg: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, aus dem Italienischen von Karl F. Hauber, Berlin 1983. Ginzburg: »Indizien«, S. 165. Die 3-D-Animation wurde von Mimic Productions in Berlin ausgeführt, deren Begründer David Bennett als ehemaliger Facial Motion Capture Manager von Weta Digital unter anderem bei Hollywoodproduktionen wie Avatar (2009, James Cameron) oder Rise of the Planet of the Apes (2011) mitgewirkt hatte. Schefer im Gespräch mit Daney und Oudart: »Questions de figuration«, S. 814. Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos, S. 105. Vgl. hierzu Dawney, Leila: »The Work That Figures Do«, in: Lury, Celia/Viney, William/Wark, Scott (Hrsg.): Figure. Concept and Method, Singapur 2022, S. 21 – 39. Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, aus dem Englischen von Karin Harrasser, Frankfurt a. M., New York 2018, S. 19ff. Braidotti, Rosi: Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, 2. Aufl., New York 2011, S. 21ff. Ebd., S. 12. Thiele, Kathrin: »Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis. Relationalität, Diffraktion und die Frage ihrer ›Nicht-Unschuldigkeit‹«, in: Angerer, Marie-Luise/Gramlich, Naomie (Hrsg.): Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten, Berlin 2020, S. 43 – 61, hier: S. 59. Vgl. auch Thiele, Kathrin: »Figuration and/as Critique in Relational Matters«, in: Haas, Annika/ Haas, Maximilian/Magauer, Hanna/Pohl, Dennis (Hrsg.): How to Relate. Wissen, Künste, Praktiken/Knowledge, Arts, Practices, Berlin 2021, S. 229 – 243.
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Einleitung: Konstellationen
Einleitung: Konstellationen Keine Nebenfigur ohne Konstellation. (Was umgekehrt nicht zutrifft, da die elementaren Konstellationen von Protagonisten und Antagonisten, Chor und Einzelfigur, Göttern und Menschen durchaus ohne Nebenfiguren auskommen.) Nebenfiguren existieren in Konstellationen, das heißt: in Abstand und Nähe zu den Hauptfiguren, in größerer oder geringerer Dichte, in diversen Formen der Verteilung und Gruppierung, in Funktionen, die sie auf je spezifische Positionen versetzen (und von dort aus in Bewegung); stets unter den Bedingungen eines Auftritts, dem das Verschwinden der Nebenfigur bereits eingeschrieben ist. Die folgenden Beiträge untersuchen die szenografischen, dramaturgischen, choreografischen, logistischen, akzidentellen Rahmenbedingungen, unter denen sekundäre Figuration vonstattengeht. Zwischen Unübersichtlichkeit und Intelligibilität, zwischen intendierter und nicht intendierter Auffälligkeit, zwischen Momenten der Störung oder Fehlleistung, in denen die Nebenfigur punktuell bemerkbar wird, und den langen Phasen, in denen sie bei voller Sichtbarkeit weitgehend unbeachtet bleibt, entwickelt sich ein Spektrum von Fallstudien, das den Konditionen des marginalen Auftritts gewidmet ist. So identifiziert Alexander Streitberger die Panoramen des 19. Jahrhunderts als aufwendig produzierte Szenarien der Unübersichtlichkeit, in denen die Aufgabe der Zentralperspektive zu einem Nebeneinander von Haupt- und Nebenfiguren führt, die ohne »Orientierungshilfe« (Streitberger) nicht zu identifizieren und nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Besteht ein entscheidender Effekt der Zentralperspektive darin, neben der idealen Position der Betrachtung auch das Zentrum eines Bildes festzulegen, so nötigen die Panoramen des 19. Jahrhunderts zu einem wiederholten Wechsel der Position, von der sich der Blick auf immer neue Szenen und Details ausrichtet. Im Gegensatz zur klassischen Malerei erscheint das Panorama somit als Schauplatz einer mehrfachen Dehierarchisierung, da es nicht nur die Beziehung des betrachtenden Subjekts zu den betrachteten Figuren neu organisiert und jenes zum zentralen Akteur der panoramatischen Ordnung macht, sondern (etwa im Londoner Panorama The Storming of Seringapatam, 1800/01) auch die Hierarchien zwischen den zahlreichen Figuren auflöst, die sich über die Bildfläche verteilen.
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Einleitung: Konstellationen
Einen Spezialfall von Dehierarchisierung untersucht auch der Beitrag von Martin Jehle, der jene Momente fokussiert, in denen auf einem Filmset (Touch of Evil beziehungsweise Good Fellas) die Aufzeichnung einer langen ungeschnittenen Einstellung an den Fehlleistungen von Nebendarsteller:innen scheitert. In diesen Augenblicken, in denen die koordinierten Bewegungen der zahlreichen Personen, Objekte, Apparate, Vehikel, die in die Aufzeichnung involviert sind, durch eine falsche Handlung ausgehebelt werden, transformieren sich die Nebendarsteller (in den Fallbeispielen durchweg männlich) in Instanzen, die über die Macht verfügen, eine ganze »Operationskette« (Jehle) zu unterbrechen und alle Abläufe auf null zurückzusetzen. Dass der Spezialfall zugleich als ein exemplarischer betrachtet werden kann, ist die entscheidende Pointe des Beitrags. Denn was die Unterbrechung der Operationskette anzeigt, ist die Interdependenz sämtlicher Aktivitäten und Akteur:innen, die auf einem Set zusammenfinden. In der Sequenzeinstellung, die alle Beteiligten in dieselbe Logik des reibungslosen Ablaufs zwingt, sind die Hierarchien zwischen Berufs- und Statusgruppen punktuell suspendiert, ist die individuelle Performanz primär ein Element in einer Abfolge, die aus so und so vielen Stationen besteht – und an jeder einzelnen zum Erliegen kommen kann. Wo die Produktion virtueller Handlungsräume zu einem zentralen Teil der Filmpraxis wird (The Mandalorian, 2019 –), wird die Dehierarchisierung noch einmal variiert. Zu den Akteur:innen, die nun in den Fokus treten, zählen nicht mehr nur die Sekundär-, Assistenz- und Supplement-Figuren des klassischen Filmsets, sondern auch jene Programmier- und Effektspezialist:innen, deren Tätigkeit sich die längste Zeit in den Büros der Postproduktion abspielte. Auf dem Set hingegen interagieren sie mit Regie und Kamera, um jene Umgebungen zu entwickeln, in denen Relevanz, Status und Behandlung von Figuren und Objekten durch die sukzessiven Blickbewegungen unausgesetzt neu bestimmt werden. Ebendiese Szenarien liefern das Material für die Beobachtungen von Robin Klengel und Leonard Müllner (Kollektiv Total Refusal), die sich mit den Auftritten und dem »Aktionskorsett« (Klengel/Müllner) sogenannter Non-Playable-Characters (NPCs) in Videospielen befassen. Auffällig sind dabei zunächst die transmedialen Kontinuitäten, die zwischen diesen Umgebungen und den älteren Auftrittsorten von sekundären Figuren bestehen: Die NPCs, die vom Algorithmus des Spiels gesteuert werden, konturieren sich als Rand-
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Einleitung: Konstellationen
erscheinungen, in Abhängigkeit von den Bewegungen des Avatars; ihr Auftritt ist transitorisch, peripher und tendenziell dem Parcours zugehörig, der von den Avataren auf ihrem Weg durch das Spiel durchquert wird. Die neoliberale Grundierung der Emanzipationsversprechen, die von Filmen (Free Guy, 2021) oder Serien (Westworld, 2016 – 2022) an die NPCs adressiert werden, ist im ersten Teil des Beitrags ebenso Thema wie der Transfer der konstitutiven Opposition von Haupt- und Nebenfiguren in ideologische Modelle sowohl der Esoterik als auch der Alt-Right-Bewegung. Die Perspektiven der Emanzipation von NPCs, ihre Befreiung aus der Logik des Sekundären, diskutiert der zweite Teil. Und zeigt dabei auf, dass die aktuellen Ansätze, Bewegungen und Aktivitäten von NPCs im Zeichen der Verselbstständigung neu zu organisieren, zwar in sozialen Simulationsmodellen funktionieren mögen, nicht aber in jenen Umgebungen, in denen Eigensinn und Eigenlogik der »Ambient Human Presence[s]« früher oder später den Ablauf des Spiels durchkreuzen. Die Logiken der Sichtbarkeit wie des Verschwindens und die damit verbundenen Konstellationen der Exposition und der Marginalisierung sind auch Thema des Beitrags von Stefanie Diekmann. Dabei geht es zunächst um die periodisch auftretenden Versuche, die prekäre, periphere Positionierung der Nebenfigur zu korrigieren und ihr quer durch Literatur, Theater, Tanz, Film, Serien einen Platz einzurichten, der ungeteilte Aufmerksamkeit in Aussicht stellt. Mit wenigen Ausnahmen laufen diese Versuche darauf hinaus, das Prinzip des »Protagonismus« (Diekmann) zu affirmieren und mit der Exposition ein sehr konventionelles Repertoire der Psychologisierung und der Krisendramaturgie zu aktivieren. Interessanter als die repetitiven Versuche der Exposition (The Dresser, 1983; The Assistant, 2019, u. a.) sind jene temporären Auftritte, in denen die Positionierungen einer Nebenfigur als Marker bezeichnet werden können, die das Potenzial haben, die Wahrnehmung einer Szene oder eines Ablaufs zu steuern und zu pointieren. Dieses Potenzial wird dort deutlich, wo die Bewegungen in Umgebungen stattfinden, die durch eine besonders rigide Raum- und Blickordnung gekennzeichnet sind: Für die Backstage im Erzählkino (All About Eve, 1950) gilt dies ebenso wie für fast alle Settings, in denen Parameter wie Einschluss, Ausschluss, Zugang, Verdeckung, partielle und partikulare Sichtbarkeit eine Rolle spielen. Indes verhindert die punktuelle Relevanz der Nebenfigur für die Formation von Blick- und Raumordnungen keineswegs, dass sie früher oder
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Einleitung: Konstellationen
später, wenn sie ihre Funktion erfüllt hat, von der Szene verschwindet. Fast immer erfolgt dieses Verschwinden im Zeichen einer doppelten Unsichtbarkeit: Zum einen bedeutet es die Rückkehr in die Peripherie oder ins Off, zum anderen vollzieht es sich in vielen Fällen unbeachtet. Die Nebenfigur, so ließe sich formulieren, ist die Figur, für die in den Ordnungen des Auftritts nicht einmal ein Abgang vorgesehen ist.
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Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama
Alexander Streitberger
Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama Von Stephan Oettermann als das erste Massenmedium bezeichnet,1 geht die Erfindung des Panoramas auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. In dem von ihm 1787 eingereichten Patent fasst Robert Barker, der allgemein als Erfinder des Panoramas gilt, die wesentlichen Eigenschaften dieser neuen Repräsentationsform konzise zusammen: Ein Panorama, von Barker als »La nature à coup d’oeil« charakterisiert,2 besteht aus einem gigantischen Rundgemälde, das einen umfassenden und vollständigen Blick auf eine Landschaft oder Situation erlaubt. In einer kreisförmigen Architektur angebracht, soll es ausschließlich von einer in der Mitte des Gebäudes errichteten, umzäunten Plattform aus betrachtet werden können. Um die illusionistische Wirkung des Bildes zu steigern, wird das obere Ende der Leinwand durch ein über der Plattform angebrachtes Velum, das auch für die gleichmäßige Verteilung des von oben eintretenden Lichtes zuständig ist, verdeckt. Der untere Bereich hingegen soll durch gemalte Staffagen oder reale Objekte kaschiert werden, sodass lediglich die realitätsgetreu wiedergegebene Natur wahrgenommen wird. Das damit verfolgte Ziel sei es, dem Betrachter und der Betrachterin das Gefühl zu vermitteln, tatsächlich an Ort und Stelle zu sein.3 Will man heutzutage historische Panoramen und ihre Wirkung untersuchen, so ergibt sich ein Problem. Da die Rundgemälde nur für kurze Zeit in den eigens für sie gebauten Rotunden gezeigt wurden, um dann auf Reisen zu gehen, wurden sie einerseits ständig verändert und an die neue Ausstellungssituation und ihr Publikum angepasst. Andererseits wirkte sich das für den Transport notwendige Einrollen, der wiederholte Auf- und Abbau wie auch die anschließende Einlagerung in oft ungeeigneten Lagerplätzen extrem schädlich auf den Erhaltungszustand der Leinwände aus.4 Entsprechend sind heute so gut wie keine originalen Rundgemälde aus dem 19. Jahrhundert mehr vorhanden. Für die Großzahl historischer Panoramen gilt also, dass ihr Studium über Umwege erfolgen muss, wie zum Beispiel mithilfe von Vorzeichnungen und maßstabverkleinerten Studien, Orientierungsplänen, wie sie den Besucher:innen zur Besichtigung mit auf den Weg gegeben wurden, oder, vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts, anhand der zu Dokumentationszwecken
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Polyperspektivische Enthierarchisierung
hergestellten Schwarz-Weiß-Fotografien. In Bezug auf die Wirkung und die Rezeption erweisen sich die zahlreichen und oft ausführlichen Beschreibungen, wie sie in Presse, Fachzeitschriften oder Begleitheften zu finden sind, als äußerst aufschlussreich. Im Vergleich mit Studien und Reproduktionen haben solche Texte den Vorteil, dass sie in der Regel auf dem Besuch eines Panoramas beruhen und somit auch dessen spezifischen Wahrnehmungsbedingungen Rechnung tragen. Ein Studium der im Panorama platzierten Figuren muss sich in erster Linie auf solche sekundären Bild- und Textquellen stützen, was nicht unproblematisch ist, da im Panorama die dargestellten Objekte und Figuren im Hinblick auf ein betrachtendes, sich auf der Plattform bewegendes Subjekt stets neu konfiguriert werden. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen soll im Folgenden das Verhältnis von Haupt- und Nebenfiguren in Panoramen auf drei Ebenen untersucht werden. Zunächst stellt sich die Frage, wie in einem Panorama die kompositorische Hierarchisierung der Figuren stattfindet, besitzt doch ein Rundbild naturgemäß kein Zentrum, womit auf formaler Ebene die Etablierung eindeutiger Raum- und Rangordnungen erschwert wird. Souvenirbroschüren, Orientierungspläne und Programmhefte bieten in dieser Hinsicht oft Orientierungshilfen, um den Stellenwert einzelner Figuren im Panorama bestimmen zu können. Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Wahrnehmung einzelner Segmente des Panoramas vom Standpunkt des betrachtenden Subjekts abhängt. Wie also verschiebt sich das Verhältnis von Haupt- und Nebenfiguren aus der Sicht der jeweiligen Betrachterin und des jeweiligen Betrachters? Daran anknüpfend stellt sich schließlich das Problem der Wahrnehmung und der Rezeption des Panoramas. Wie werden Figuren und Figurenkonstellation beschrieben? Welche Bedeutung kommt ihnen in den Besuchsberichten, wie sie in Zeitschriften und anderen Printmedien veröffentlicht wurden, zu? Jeder dieser Punkte hätte sicherlich eine eigene Studie verdient. Da die Figurendarstellung in der Panoramaforschung allerdings noch wenig Beachtung gefunden hat, scheint es mir an dieser Stelle angebracht, einige generelle Überlegungen anzustellen, um das Problemfeld anhand von ausgewählten Beispielen zu umreißen. Polyperspektivische Enthierarchisierung
Ein erster Einstieg mag der historische Vergleich mit illusionistischer Deckenmalerei sein, wie er von zahlreichen Autoren vorgenommen
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Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama
wurde, um anschließend die Spezifizität des Panoramas zu unterstreichen. Dabei werden zumeist die illusionistische Raumerfahrung und das Immersionsprinzip als Vergleichskriterien genannt. So weist Stephan Oettermann auf die Standortabhängigkeit der barocken Illusionskunst hin, die, im Gegensatz zur »demokratischen« Polyperspektive des Panoramas, eher einer feudalistischen Weltordnung entspreche.5 Ergänzend stellen Oliver Grau und Bernard Comment fest, dass die barocke Deckenmalerei den »erdenschweren Betrachter« mit einer »ungreifbaren himmlischen Verheißung« konfrontiere, die ihn stets an seine Unterwerfung unter die göttliche Ordnung erinnere.6 Beim Panorama dagegen tauchten die Betrachterinnen und Betrachter in eine rein irdische Realität ein, die zudem auf Augenhöhe stattfinde und bei der das Objekt der Betrachtung nicht in himmlische Sphären entrückt sei. Ein Aspekt, der in den zahlreichen Vergleichen mit illusionistischer Deckenmalerei allerdings nie genannt wird, das Problem der Figurendarstellung jedoch unmittelbar betrifft, ist die Arbeitsteilung und Spezialisierung bei der Anfertigung des Gemäldes. Im 17. Jahrhundert wurde die Scheinarchitektur von einem sogenannten Quadraturista übernommen, während der Figurista dafür sorgte, dass sich die architektonische Kulisse mit Figuren bevölkerte. Ein vergleichbares Prinzip der Arbeitsteilung gilt auch für die Panoramamalerei des 19. Jahrhunderts. Da das Ausmalen von bis zu 10 000 Quadratmetern kaum von einer einzigen Person in einem finanziell rentablen Zeitraum zu bewältigen war, arbeiteten oft mehrere Maler gleichzeitig an einer Leinwand. Dabei gab es zwei Vorgehensweisen. Entweder teilten sich die Künstler bestimmte Abschnitte der Leinwand, was mitunter zu stilistischen und inhaltlichen Inkongruenzen führte (wenn zum Beispiel der Wind den Rauch aus den Schornsteinen in zwei verschiedene Richtungen blies).7 Oder die Maler spezialisierten sich und übernahmen getrennte Aufgabenbereiche, wobei sich die einen um die Gestaltung der Architektur kümmerten, andere wiederum für die Landschaft oder die Figuren zuständig waren. Gerade in der Figurendarstellung gibt es jedoch fundamentale Differenzen zwischen dem Panorama und der barocken Deckenmalerei. Bei Letzterer wird die Anordnung des figurativen Personals weitgehend von hierarchischen Kompositionsprinzipien bestimmt, geht es doch letztlich um die symbolische Verherrlichung himmlischer Mächte. Die Unterscheidung zwischen Hauptfiguren und Nebenfiguren fällt dabei zumeist leicht. Demgegenüber ist in der
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Polyperspektivische Enthierarchisierung
Panoramadarstellung ein doppelter Prozess der Enthierarchisierung zu beobachten. Einerseits löst sich die Hierarchie zwischen gemalten Figuren und betrachtendem Subjekt auf. Die Besucher:innen des Panoramas sind zwar durch die Plattform von der dargestellten Szene getrennt, befinden sich aber mit dieser auf Augenhöhe. Eine im Panoramagemälde dargestellte Figur ist dem Betrachter und der Betrachterin also nie räumlich übergeordnet. Andererseits sind die Figuren innerhalb des Panoramas auf eine grundlegend verschiedene Weise organisiert. Der in einer zentralen Figur (oder Figurengruppe) kulminierenden Komposition barocker Deckenmalerei steht die additive, sich gleichmäßig (oder vielmehr gleichberechtigt) über die Leinwand erstreckende Organisation der Figuren im Panorama gegenüber. Dabei ist es nicht unerheblich, dass die Figuren oft in Lebensgröße wiedergegeben wurden, um den illusionistischen Eindruck des Vorortseins zu verstärken. Ein Korrespondent des Journals London und Paris (1804) bemerkt zu dem am Boulevard Montmartre ausgestellten Panorama von London, dass durch die Darstellung in natürlicher Größe »man einige unter einem Fenster liegende und auf einer Brücke herumgehende Personen lebend zu sehen glaubte«.8 Anders formuliert: Im Panorama werde ich als Betrachtende und Betrachtender zur Figur, da es mir unmöglich ist, mich außerhalb der dargestellten Realität zu positionieren. Der ausführliche Bericht einer speziell durch das Institut National eingesetzten Kommission weist bereits am 15. September 1800 darauf hin, dass es gerade diese Unentrinnbarkeit des Panoramas ist, seine keinen Vergleich mit einer außerhalb seiner selbst liegenden Wirklichkeit zulassende Beschaffenheit, die den Eindruck vermittle, nicht vor einem Gemälde zu stehen, sondern sich inmitten der Szenerie zu befinden.9 Eintauchend in die Scheinwelt des Panoramas, wird das betrachtende Subjekt selbst zu einer Hauptfigur, der sich sämtliche Figuren des Rundgemäldes unterordnen, womit sie zu Nebenfiguren werden. Eine zusätzliche Eigenschaft des Panoramas mit Konsequenzen für das Verhältnis von Haupt- und Nebenfiguren ist seine Polyperspektive, die an die Stelle der seit der Renaissance die Malerei bestimmende Zentralperspektive tritt. Die Zentralperspektive ordnet nicht nur alle Figuren und Gegenstände eines Gemäldes einem rational konstruierten Fluchtpunkt unter, sie legt auch den Ort fest, von dem aus das Bild betrachtet werden muss. Da jedoch in einem 360-Grad-Rundgemälde ein einheitlicher Fluchtpunkt unweigerlich zu Verzerrungen und disproportionalen Größenverhältnissen führt,
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Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama
Abb. 1: Hendrik Willem Mesdag, Vorzeichnung zur Segmentunterteilung der Leinwand des Panoramas von Scheveningen, Den Haag, 1880/81
muss die Perspektive für jedes der zahlreichen Bildsegmente neu berechnet werden. Damit multiplizieren sich auch die möglichen Betrachtungsstandpunkte (Abb. 1). Je nachdem, wo sich die Betrachtenden auf der Plattform befinden, umfasst ihr Blickfeld einen bestimmten Abschnitt des Panoramas, dessen Figuren und Gegenstände erst durch ihren Blick hierarchisiert werden. Auch wenn im Panoramagemälde mitunter kompositorisch eine Differenzierung zwischen bedeutenden Persönlichkeiten und anonymer Menschenmenge vorgenommen wird (zum Beispiel in Schlachtengemälden zwischen Generälen und einfachen Soldaten), so ist diese Rangordnung nie absolut, sondern stets relativ, weil nicht nur die perspektivische Berechnung, sondern auch das kompositionelle Verhältnis von Motiven und Figuren an das sich kontinuierlich verändernde Blickfeld der Betrachtenden angepasst werden muss. Wie sich bereits bei Barker nachlesen lässt, ist eine entscheidende Neuerung des Panoramas die Einführung des Parameters der Bewegung in die Wahrnehmung der dargestellten Wirklichkeit.10 Mit der Mobilität des Blickes in der Rezeption des Rundgemäldes geht folglich eine variierende Zuordnung von Haupt- und Nebenfiguren einher. Das betrachtende Subjekt befindet sich dabei in der paradoxen Lage, einerseits die Szene als Hauptfigur von der
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Das Dilemma des Schlachtenpanoramas
Plattform aus zu dominieren, andererseits angesichts der Variabilität des Wahrgenommenen einem Gefühl von Desorientierung und Ungewissheit ausgeliefert zu sein.11 Das Dilemma des Schlachtenpanoramas
Problematisch wird dieser Aspekt in Schlachtenbildern, in denen es vornehmlich darum geht, Patriotismus und Nationalstolz zu fördern, indem militärische und moralische Überlegenheit demonstriert und Heldenmythen gepflegt und inszeniert werden. Das Historiengemälde, dessen ästhetische Gestaltungsprinzipien im 17. Jahrhundert in der französischen Akademie skizziert und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also kurz vor der Erfindung des Panoramas, von Denis Diderot endgültig definiert wurden, hatte dafür die passende Erfolgsformel parat. In seinem »Versuch über die Malerei« von 1765 fordert Diderot unbedingte Einfachheit und Klarheit der Komposition. Demnach darf es »keine Gestalt zuviel und kein überflüssiges Beiwerk« geben.12 Zwar habe »jede Handlung [...] viele Momente, aber [...] jeder Künstler verfügt nur über einen Moment, der nicht länger währt als ein Blick«13. Schließlich nimmt Diderot eine scharfe Abgrenzung vor zwischen dem Genremaler, »ein bloßer, einfacher Nachahmer, ein Kopist der alltäglichen Natur«, und dem Historienmaler, dem allein es gebühre, sich zum »Schöpfer einer ideellen und poetischen Natur« aufzuschwingen.14 Für die Komposition bedeute dies nicht nur, dass »jede Einzelheit der Hauptidee untergeordnet ist«,15 sondern auch, dass sämtliche dargestellten Figuren auf eine Hauptfigur hin zu orientieren seien. Vor diesem Hintergrund betrachtet, stehen die Gestalter eines Schlachtenpanoramas vor einem Dilemma. Einerseits wird von einem solchen Panorama unbedingte Naturtreue und Detailgenauigkeit eingefordert, wie sie von Diderot der Genremalerei zugeschrieben werden, andererseits soll es patriotische Werte repräsentieren und propagandistische Ziele verfolgen, die nur durch die der Historienmalerei vorbehaltenen Prinzipien der Idealisierung und Hierarchisierung zu erreichen sind. Dieser Konflikt offenbart sich bereits in Robert Ker Porters vom 17. April 1800 bis zum 10. Januar 1801 im Londoner Lyceum ausgestellten Halbrundpanorama The Storming of Seringapatam.16 Dargestellt ist mit der Belagerung von Seringapatam im Jahre 1799 ein entscheidendes Ereignis im Krieg zwischen der Britischen Ostindien-Kompanie und dem Königreich von Mysore. Beim Betrachten der drei Stiche, die eine verkleinerte Wiedergabe des Panoramas darstellen, wird schnell klar, dass die von
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Diderot geforderte Klarheit von Komposition und Figurendarstellung hoffnungslos im Schlachtengetümmel untergeht. Der Blick irrt orientierungslos durch das unübersichtliche Gewimmel an Soldaten, ohne an einer hervorgehobenen Situation oder in einer herausragenden Figur Halt zu finden. Das war natürlich beabsichtigt, sollte doch dem Publikum das Gefühl vermittelt werden, sich an Ort und Stelle zu befinden und somit das Kriegsgeschehen authentisch nachvollziehen zu können. Damit stellte sich allerdings das Problem, die vorgeblich realistische, objektive Wiedergabe der Schlachthandlung mit den propagandistischen und patriotischen Zielen einer expandierenden Kolonialmacht in Einklang zu bringen. Abgesehen davon, dass eine allzu offensichtliche Idealisierung und Hierarchisierung innerhalb der Komposition die Glaubwürdigkeit einer realistischen Darstellung verringert hätten, gestalten sich entsprechende Maßnahmen als schwierig, da es kein durch das Bildformat angelegtes Zentrum gibt. Im Falle des Seringapatam-Panoramas kommt die Halbrundkomposition allerdings der Forderung nach einer zentralen, hervorgehobenen Heldengestalt entgegen. Und tatsächlich ist am Scheitelpunkt des Halbkreises General Baird positioniert, der sich mit seinem Stab auf einer Felsenerhöhung befindet und heroisch das Geschehen überblickt. Dass die Panoramadarstellung von Seringapatam diese Hierarchisierung jedoch kaum zu vermitteln vermag, wird aus dem Orientierungsplan deutlich, der zum Verständnis des Schlachthergangs unentbehrlich ist (Abb. 2). Dort sind die Umrisszeichnungen der an der Schlacht beteiligten britischen Offiziere eingezeichnet, wobei auf die Kennzeichnung der einfachen Soldaten und der Anführer der Feinde weitgehend verzichtet wurde. Die Namen der durch den Umriss markierten Hauptfiguren werden in der Legende benannt, und ein kurzer Text erläutert ihre heroischen Taten.17 Die Hierarchisierung der Figurendarstellung wird also erst durch den Orientierungsplan wirksam. Drei Stufen sind dabei auszumachen: In einem ersten Schritt markieren die Silhouetten der Offiziere unter Aussparung des restlichen Personals die Helden der Schlacht. Die Zuordnung der Namen zu den jeweiligen Figuren macht diese individuell identifizierbar und hebt sie aus der anonymen Masse des Schlachtengetümmels heraus. Allerdings wirken die aus dem Geschehen herausgeschälten Offiziere nun seltsam zusammenhangslos über die Bildfläche verteilt. Eine sinnstiftende Einheit und ein heroisierendes Narrativ ergeben sich erst aus der textlichen Erläuterung. Darin wird die Bedeutung der Figuren hervorgehoben und ihre Heldentaten
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Das Dilemma des Schlachtenpanoramas
Abb. 2: Robert Ker Porter, The Storming of Seringapatam, Orientierungsplan zum Halbrundpanorama, London, 1800
werden benannt. Die notwendigen Hinweise zur Unterscheidung von Haupt- und Nebenfiguren sind somit aus dem Bild ausgelagert und werden von begleitenden Orientierungsplänen und Erläuterungsblättern oder -broschüren übernommen. Noch frappierender wurde dieses Prinzip der Auslagerung im Schlachtenpanorama von Sedan angewandt. Das von Anton von Werner in einer eigens konstruierten Rotunde am Bahnhof Alexanderplatz in Berlin errichtete Panorama wurde am 1. September 1883 eröffnet, pünktlich zum Jahrestag des deutschen Sieges von 1870 in der Schlacht, die den Deutsch-Französischen Krieg entschied. Trotz aller Beteuerungen von Werners, es handele sich bei den Szenen um eine bis ins letzte Detail wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Ereignisse auf dem Schlachtfeld am 1. September 1870 um 13:30 Uhr, wurden auch hier mithilfe kompositorischer Mittel politisch-propagandistische Absichten verfolgt. Oliver Grau bringt es auf den einfachen Nenner »Authentizität = Illusionswirkung + idealisierte Komposition = Propaganda«.18 Besonders deutlich tritt dies etwa in der visuellen Hervorhebung der Verdienste der preußischen Armee zutage, die zur Folge hat, dass die Leistungen der bayrischen Truppen in den Hintergrund rücken. Oder in der vorteilhaften Darstellung
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Alle oder keiner: Das Verhältnis von Haupt- und Nebenfigur im Panorama
Abb. 3: Anton von Werner und Eugen Bracht, Panorama der Schlacht bei Sedan, Orientierungsplan aus der Souvenirbroschüre, 1883
deutscher Infanterieverbände, die sich heroisch der eher ungeordnet anstürmenden französischen Kavallerie entgegenstellen. Zudem sind die deutschen Offiziere mithilfe fotografischer Porträts als Individuen dargestellt, die sich von ihren in der gesichtslosen Masse untergehenden französischen Kollegen abheben.19 Gleichwohl waren auch die Betrachtenden dieses Panoramas auf einen begleitenden Text angewiesen, der die Orientierung im Rundgemälde ermöglichte, die jeweiligen Offiziere benannte und sie somit erst als Hauptfiguren zu erkennen gab. Der eigentliche Protagonist des Szenarios, König Wilhelm, war im Panorama jedoch abwesend und taucht erst im Orientierungsplan durch die Bemerkung »Standort seiner Majestät des Königs« auf. Selbst unsichtbar, beobachtet und dirigiert er – so wird es jedenfalls suggeriert – von einem fernen Hügel aus das Kampfgeschehen. Anstatt zu riskieren, dass sich die Gestalt des Königs in den Weiten des Panoramas verlieren würde, hatte man es also vorgezogen, seine im wahrsten Sinne des Wortes erhabene Präsenz lediglich symbolisch anzudeuten (Abb. 3). Das Paradox, dass im Schlachtenpanorama alle Anwesenden Nebenfiguren sind, während der Protagonist selbst mit Abwesenheit glänzt, wird durch die das Rundbild begleitenden und ebenfalls in der Rotunde am Alexanderplatz ausgestellten drei Dioramen bestätigt. Nach allen Regeln akademischer Kunst verfertigt, stellen diese Historiengemälde die eigentlichen Protagonisten preußischdeutscher Glorie effektvoll ins rechte Licht. General Moltke erscheint
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aufrecht und bestimmend, geradezu messianisch illuminiert, im Bildzentrum und diktiert den gebeugten französischen Generälen die Bedingungen der Kapitulation. Als monumentales Reiterstandbild in den Vordergrund gerückt, trifft Bismarck auf den durch die perspektivische Verkürzung verzwergten, auf einen Stock gestützten Napoleon. König Wilhelm schließlich erwartet in majestätischer Ruhe und Erhabenheit den gebeugt herannahenden General Raille, um Napoleons Kapitulationsbrief entgegenzunehmen. Was die Kombination der Formate Panorama und Historiengemälde klar erkennen lässt: Will man im Namen nationaler Propaganda eine eindeutige Unterscheidung treffen zwischen siegreichen Helden und Besiegten, so erweist sich das Format Panorama als unzureichend. Die von Walter Benjamin beschriebene panoptische Logik, nicht nur alles, sondern alles von allen Seiten zu zeigen,20 erschwert eine eindeutige Zuordnung von Haupt- und Nebenansichten, ebenso wie sie die Identifizierung einer zentralen Figur nahezu ausschließt. Alle Figuren sind Nebenfiguren
Detailfreudigkeit und topografische Genauigkeit, die das Hauptanliegen historischer Panoramen waren, ließen sich also nicht so einfach mit Idealisierung und nationalem Heldenkult vereinbaren. Zugleich wurde gerade der Anspruch auf Authentizität dazu benutzt, ein patriotisches, ideologisches Narrativ zu stützen und glaubhaft zu vermitteln. Der Orientierungsplan des Panoramas von Sedan lässt keinen Zweifel daran, wer der eigentliche Protagonist des Geschehens darstellt: die Landschaft, in die das Kriegsgeschehen eingebettet ist. Das wird daraus ersichtlich, dass die jeweiligen Ortsbezeichnungen durch Majuskeln, zentrale Setzung und größere Typografie im Vergleich mit den Namen der Kompanien und Offiziere deutlich hervorgehoben sind. Eine Rezension zu dem 1800 in Hamburg ausgestellten Nausorama der englischen Flotte zu Spithead scheint eine solche Degradierung des Figurenpersonals zur Kulissenstaffage zu bestätigen. Dort heißt es: Die Hauptfigur macht das Admiralschiff, und es ist dabei der Moment eines Vorfalls gewählt, da auf dem Admiralschiffe der Englischen Flotte Feuer auskam ... Die Flamme schlägt hoch aus dem Schiffe empor, und die Equipage rettet sich auf alle mögliche Art. Dieß giebt manche interessante Situationen, die mit vielem Ausdruck dargestellt sind.21
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Gerade in Beschreibungen von Landschafts- oder Städtepanoramen ist häufig dem Phänomen zu begegnen, dass die Hauptrollen unbeweglichen Dingen wie Objekten, Gebäuden oder Naturerscheinungen zugeschrieben werden. Das mag einerseits an einem generellen Misstrauen gegen die Figurendarstellung im Panorama liegen, da diese laut zahlreichen Kritikern den Illusionismus empfindlich störte. So ist in etlichen Berichten zu lesen, dass die Unbeweglichkeit der Figuren dem Illusionseffekt entgegenwirke. In dem 1806 erschienenen Dictionnaire des beaux arts schreibt A. L. Millin, dass die lebendige Natur, in all ihren Nuancen und transitorischen Momenten, ein denkbar ungeeigneter Gegenstand der Panoramamalerei sei.22 Millin zufolge gehe es zwar noch an, einen Wasserfall oder ein Boot in weiter Entfernung abzubilden, da diese aus der Distanz betrachtet auch in der Natur unbeweglich wirkten. Das Körpergewimmel einer Schlacht darzustellen sei allerdings gänzlich absurd.23 In ähnlicher Weise äußerte sich Fürst Pückler nach einem Besuch des von Pierre Alaux 1827 ausgestellten Neoramas, einer 360-Grad-Innenansicht der Peterskirche in Rom: »Nur Schlafende und Todte sollte man als Staffage eines solchen Bildes benutzen.«24 Andererseits ging es in Panoramen häufig darum, eine Gegend oder Stadt als Ganzes von einem erhöhten, ungewohnten Standpunkt überblicken zu können. Aus der so geschaffenen Ferne betrachtet müssen menschliche Figuren zwangsläufig klein und sekundär wirken. Liest man die Beschreibungen von Besuchen in Landschaftspanoramen, so fällt auf, dass diese überwiegend einem scheinbar festgelegten Szenario folgen. Einer Wertschätzung der Naturdarstellung folgt die Würdigung der Ausführung architektonischer Elemente, bevor anschließend auf die oft anekdotischen Szenen und die in die Natur- oder Architekturkulisse eingestreuten Figuren eingegangen wird. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür ist das von Johann Friedrich Morgenstern und Johann Karl Wilck gemalte Panorama von Frankfurt am Main, das ab Ende 1810 in einer Rotunde auf dem Frankfurter Rahmhof zu sehen war.25 Da es vermutlich 1816 oder 1817 auf dem Transport in der Nähe von Bamberg verbrannt ist, sind auch von diesem Panorama nur wenige Bildquellen überliefert. Neben dem anamorphen Orientierungsplan hat lediglich eine aus acht Blättern bestehende Vorzeichnung überlebt, die sich heute im Historischen Museum von Frankfurt befindet. Was die Bedeutung der menschlichen Figuren betrifft, sind diese beiden Zeugnisse allerdings höchst aussagekräftig. Während die von Wilck gemalte figürliche Staffage in der planimetrischen Abbildung nur in Form von
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Strichen und Punkten erscheint und somit ihre sekundäre Funktion unterstreicht, ist sie auf der Vorzeichnung schlichtweg nicht vorhanden. In der umfangreichen Begleitbroschüre liefert der Germanist und Kunsthistoriker Bernhard Hundeshagen eine ausführliche Beschreibung des Panoramas, in der er zunächst auf die topografischen und architektonischen Gegebenheiten eingeht, bevor er sich der Figurendarstellung widmet. Aus Hundeshagens detaillierter Schilderung geht hervor, dass die Figuren nicht hierarchisch angeordnet, sondern rein additiv über die Bildfläche verteilt sind. Die Verwendung zahlreicher Binde- und Fügewörter stellt unter Beweis, dass sich die Figurendarstellung letztlich in einer Aneinanderreihung anekdotischer Szenen erschöpft: Die Grenadiere stehen ausruhend, die Füseliere sind im Begriff eine Schwenkung auszuführen, und die Voltigeurs schargiren. Mit besonderem Witz und Laune, sind die umstehenden Zuschauer in einzelnen Gruppen behandelt. So z. B. wie ein alter Vater und Mutter vom Lande mit ihrer Tochter, den Sohn, einen angehenden Grenadier, freundlich begrüßen. Ferner zwei schlichte Bauernburschen ... Endlich ein Bilderhändler, der einem neidischen Kollegen mit der Miene verachtender Belehrung ein Gemälde entgegenhält, während ein Sappeur mit der Axt das sich vordrängende Volk zurückstößt. Nahe dabei [...] erblickt man Gruppen kosender Bursche und Mädchen [...]. Dann folgen die Mägde [...]. Jetzt kommt der Wagen selbst mit der Leiche [...]. Dem Leichenwagen folgen alsdann die Träger [...]. Noch bemerke ich einen Postwagen, der in den Ramhof fährt, und eine große Menge zusammengruppirter Fuhrmannswagen und Kutschen vor dem Weidenhof, im Gedränge von Fuhrleuten und Vorübergehenden.26 Aus dieser Aufzählung lässt sich schließen, dass bildintern, also nach rein kompositorischen Maßstäben, allen Figuren eine gleichwertige Rolle zukommt. Die Gewichtung einzelner Szenen, Gruppen und Figuren wird somit vorwiegend in den Rezeptionsprozess verlegt. Rehierarchisierung um den Preis der Demontage
Abschließend soll noch kurz skizziert werden, wie es um Figurenpanoramen bestellt ist, deren hauptsächliche Aufgabe darin bestand, eine Art Who is who der wichtigsten Persönlichkeiten einer Nation
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Abb. 4: Charles Castellani, Panorama le Tout-Paris, Ausstellungsbroschüre, Exposition universelle de 1889, Paris, 1889
oder einer Epoche zu bieten. Auf der Pariser Weltausstellung von 1889 wurden gleich zwei solcher panoramischer Porträtgalerien ausgestellt: das von Alfred Stevens und Henri Gervex entworfene Panorama de l’Histoire du Siècle, das anlässlich der Jahrhundertfeier der Französischen Revolution bekannte Persönlichkeiten der letzten 100 Jahre zu chronologischen Gruppen zusammenfasste, und Charles Castellanis Panorama le Tout-Paris, das zeitgenössische Berühmtheiten um die kurz zuvor fertiggestellte Pariser Opera Garnier gruppierte. Konnte bereits das Landschaftspanorama aufgrund seiner Detailversessenheit nach Oettermann als »perfekter Katalog alles Sichtbaren« bezeichnet werden,27 so übertrug das Personenpanorama L’Histoire du Siècle dieses enzyklopädische Prinzip auf die Geschichte und sprengte damit endgültig das für die Historienmalerei gültige Gesetz der Einheit von Raum und Zeit. Von Louis XVI. bis Émile Zola vereinte das Rundbild mehr als 640 Persönlichkeiten aus Politik, Militär, Wissenschaft und Kunst, in chronologische Gruppen unterteilt, »friedlich vereint wie im Warenhauskatalog bürgerlicher Geschichtsschreibung«28. Die Porträts wurden auf der Grundlage von Gemälden, Drucken, Büsten und Fotografien erstellt, wobei zahlreiche Zeitgenossen zu diesem Zwecke eigens vor der Kamera posierten.
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Le Tout-Paris schließlich bot einen Querschnitt durch das Pariser Geistesleben. So treffen sich Gustave Eiffel und Émile Zola scheinbar spontan auf der Straße, während Henri Gervex hinter Madame Rubens hereilt, um ihr das fallen gelassene Taschentuch zu reichen (Abb. 4). Der Architekt des zur Weltausstellung fertiggestellten, damals höchsten Bauwerks der Welt und einer der beiden Erschaffer des gigantischen nationalen Epochenpanoramas L’Histoire du Siècle sind in einer Straßenszene vereint, um an das Ausmaß französischer Größe zu erinnern. Allerdings ist auch hier eine Unterteilung in Haupt- und Nebenfiguren nur bedingt möglich. Erst das zur Ausstellung erschienene Begleitbuch erlaubt es, durch Benennung die dargestellten Berühmtheiten zu identifizieren und sie von den Unscheinbaren, von der anonymen Masse, zu unterscheiden.29 Die Aufsplitterung des 360-Grad-Bildes in 22 Tableaus, die über die Seiten der Broschüre verteilt sind, erlaubt es darüber hinaus, Personengruppen zu isolieren und auf ihre interne Anordnung zu überprüfen. Zugespitzt lässt sich behaupten, dass erst die Zerlegung des Panoramas in zahlreiche rechteckige Querformate es dem Auge ermöglicht, Beziehungen zwischen den Figuren zu (re-)konstruieren und bildinterne Hierarchien zu erkennen oder vorzunehmen. Die Hierarchisierung in Haupt- und Nebenfiguren ist letztlich nur um den Preis der Aufgabe des Panoramas erreichbar.
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Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a. M., Wien 1980. Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie, München 1970, S. 163. In Barkers Patent heißt es: »so as to make observers, on whatever situation he (the artist) may wish they should imagine themselves, feel as if really on the very spot.« In: Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie, S. 164. Oettermann, Stephan: »Die Reise mit den Augen – ›Oramas‹ in Deutschland«, in: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Ausst.Kat., V. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Frankfurt a. M. 1993, S. 42. Oettermann: Das Panorama, S. 20. Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2002, S. 46; Comment, Bernard: The Painted Panorama, New York 1999, S. 77. Oettermann: Das Panorama, S. 46 – 47. Im Gegensatz zum Deckengemälde spielte bei Panoramen der wirtschaftliche Faktor eine entscheidende Rolle, da die entstandenen Kosten allein aus den Einnahmen aus Eintrittsgeldern kompensiert wurden. Da das dafür nötige Massenpublikum nur für einen begrenzten Zeitraum mobilisiert werden konnte, durfte die Herstellung allein aus Kostengründen nicht allzu lange dauern. Ebd., S. 117. Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie, S. 165 – 166. Ebd., S. 163.
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Oleksijczuk, Denise Blake: The First Panoramas. Visions of British Imperialism, Minneapolis, London 2011, S. 11. Diderot, Denis: »Versuch über die Malerei«, in: Gaehtgens, Thomas W./ Fleckner, Uwe (Hrsg.): Historienmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 1, Berlin 1996, S. 243. Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Robert Scherkl in seinem Kommentar zu Diderot, in: Gaehtgens/Fleckner (Hrsg.): Historienmalerei, S. 251. Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, S. 138. Porter, Robert Ker: The Storming of Seringapatam, Orientierungsplan zum Halbrund-Panorama, Umrissstich, London 1800, David Robinson Collection, London. Abgedruckt in: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, S. 139. »The center Object is General Baird surrounded by his Staff, and calling this Men to follow Serjeant Graham of the Forlorn Hope, who having snatched the Colours from the Ensign, planted them on the Breach, and as he gave the 3d Huzza of Victory, an Indian with a Pistol shot him through the Heart«. Grau: Virtuelle Kunst, S. 82. Ebd., S. 85. Benjamin, Walter: [Panorama], in: ders.: Das Passagen-Werk, Bd. 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 660 (Q 2, 8). Oettermann: Das Panorama, S. 147. Millin, Aubin-Louis: Dictionnaire des beaux arts, Bd. 3, Paris 1806, S. 39: »[…] il est aisé de concevoir que la nature active et vivante n’est pas faite pour être fixée en panorama dans tout son ensemble, dans toutes ces nuances, et dans les différens accessoires d’un moment transitoire«. Ebd., S. 40 – 41. Oettermann: Das Panorama, S. 124. Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, S. 164 – 165. Hundeshagen, Bernhard: Artistisch-topographische Beschreibung des Panoramas der Stadt Frankfurt und der umliegenden Gegend, Frankfurt a. M. 1911, S. 12 – 14. Oettermann: Das Panorama, S. 105. Ebd., S. 138. Panorama le Tout-Paris. Paint par Ch. Castellani, Exposition universelle de 1889, Paris 1889.
Martin Jehle
When things don’t work out: Zu den unterbrochenen Operationsketten der ungeschnittenen Einstellung Eine grüne Kugel rollt ins Bild und gibt ihre kinetische Energie über einen Hebel an eine kleinere Metallkugel weiter, die in immer engeren Kreisen einen roten Trichter hinunterrollt, schließlich in seinem Loch am Boden verschwindet, sich weiter unten eine kleine Rampe entlang bewegt und einen Dominostein von jenem Tisch stößt, auf dem die Apparatur aufgebaut ist. Ein Faden, der am Dominostein befestigt wurde, entfesselt die potenzielle Energie einer etwas weiter rechts auf dem Tisch platzierten Kugel, so dass der ursprünglich in den Aufbau eingespeiste Bewegungsimpuls ohne Unterbrechung weitergegeben wird. Die Weitergabe aktiviert neue Mechanismen und Kugeln, die zum Teil parallel innerhalb des Bildes in Bewegung versetzt werden und dafür sorgen, dass am Ende des Tisches eine orangefarbene Kugel über eine Brücke auf einen angrenzenden Tisch rollt. Dort ist ein Aufbau eingerichtet, der ebenso wie der erste aus Bauklötzen und mehr oder weniger alltäglichen Gegenständen einen Parcours vorzeichnet, der von weiteren Objekten durchquert wird, bis es zu einem Ereignis kommt, das für die Aufzeichnung einer sogenannten Rube-Goldberg-Maschine1 ausgesprochen ungewöhnlich ist: Eine gelbe Kugel rollt gerade rechtzeitig in eine Lücke, um einer rosafarbenen Kugel zu ermöglichen, über diese Lücke hinweg einen Dominostein anzustoßen, der so platziert ist, dass er den Bewegungsimpuls an eine dritte Kugel weitergeben soll. Der Stein wird berührt, wippt hin und her, bewegt sich jedoch nicht ausreichend, um den Impuls weiterzugeben, und fällt auf die rosafarbene Kugel zurück. Die Kettenreaktion ist unterbrochen, die Maschine steht still und die Aufnahme wird durch einen Schnitt beendet. Die Szene ist in einem YouTube-Video mit dem Titel Rube Goldberg #23 – FAILS2 zu sehen, das unterschiedliche Varianten davon zeigt, wie die Videoaufnahme einer aktiven Rube-Goldberg-Maschine scheitern kann. Im Folgenden wird es darum gehen, die medienlogischen3 Gemeinsamkeiten zwischen diesem Ereignis und den Sequenzeinstellungen des narrativen Kinofilms darzustellen und dabei herauszuarbeiten, inwieweit gerade die Störung im Ablauf der
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When things don’t work out: Zu den unterbrochenen Operationsketten
Rube-Goldberg-Maschine emblematisch für die Bedeutung von Nebenfiguren in den ungeschnittenen Einstellungen des narrativen Kinos aufgefasst werden kann. Anhand filmhistorisch bedeutender Sequenzen und gegenwärtiger Produktionsumgebungen, die bereits auf den Einsatz ungeschnittener, audiovisueller Bewegtbilder jenseits des Kinos in VR-Anwendungen hinweisen, wird untersucht, auf welche Weise Nebenfiguren in den Erzählungen der Filme, aber auch in den Erzählungen von Making-of-Material und Setbericht erscheinen. Unscheinbare Mitglieder der Schauspielensembles oder des Filmteams werden gerade in Momenten des drohenden Scheiterns zu zentralen Figuren, denen für einen kurzen Moment eine besondere Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen der entsprechenden Sequenz zukommt. Dies gilt vor allem für solche Aufnahmen, deren Umsetzung als ungeschnittene Sequenz einen beträchtlichen logistischen und koordinativen Aufwand erfordert. Die eingangs beschriebene Aufnahme einer Rube-GoldbergMaschine wird ohne klassische Bildmontage präsentiert. Die einzelnen Teile der Apparatur wurden, ebenso wie die unterschiedlichen Bälle, nicht separat in Bewegung gesetzt und aufgezeichnet, um aus den entstandenen Aufnahmen anschließend via Bildschnitt eine chronologische Sequenz zu montieren. Stattdessen folgt eine Kamerabewegung dem zu Beginn eingespeisten Bewegungsimpuls, lässt durch wiederholte Rekadrierungen nahe und distanziertere Bilder des Geschehens abwechseln und verbindet auf diese Weise die einzelnen Abschnitte der aufgebauten Maschinerie ohne einen Bildschnitt flüssig miteinander. Dabei kommt es zu einem permanenten Austausch unterschiedlicher Aktanten, die alleine durch die Weitergabe des Bewegungsimpulses und durch die mobile Kamera miteinander verknüpft werden. Ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours hat sich hier ein Netzwerk aus Mittlern4 konstituiert, die an unzähligen Knotenpunkten miteinander interagieren. Die Eröffnung von Touch of Evil
Viele der Sequenzeinstellungen des klassischen Kinofilms lassen sich ebenso wie das Video der Rube-Goldberg-Maschine als Aufzeichnungen eines solchen Netzwerks in Aktion oder anders gesagt: als die Aufzeichnung einer Operationskette5 oder eines komplexen Parcours beschreiben, der von diversen Objekten und vor allem von einem Bewegungsimpuls durchquert wird. Die berühmte Eröffnung von Touch of Evil (1958, Orson Welles) etwa, in der zwei Paare in einer US-amerikanischen Kleinstadt die Grenze nach Mexiko überqueren,
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Die Eröffnung von Touch of Evil
weist zu dem oben beschriebenen Versuchsaufbau erstaunliche strukturelle Ähnlichkeiten auf. Es gibt eine Wegstrecke, die zurückgelegt werden soll, sowie eine große Anzahl menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten: das Auto mit der Bombe; der Mann, der diese platziert; das Paar, das ins Auto steigt und losfährt; das Haus als Hindernis, das (von Auto und Kamera gleichermaßen) umfahren werden muss; andere Autos, die den Weg kreuzen; Verkehrspolizisten, die den Fluss der Bewegungen steuern und zu einer punktuellen Entschleunigung beitragen; unzählige Passant:innen; unter ihnen das zweite Paar, das zu Fuß unterwegs ist; mehrere mobile Verkaufsstände; einige Ziegen und gegen Ende der Sequenz die Grenze nach Mexiko, markiert durch ein paar Bretterverschläge mit der Aufschrift »Customs and Immigrations« sowie einen Beamten in Uniform. All diese Elemente wurden vor Aufnahmebeginn am Drehort so arrangiert, dass sie in einer spektakulären Choreografie von einer mobilen Kamera aufgezeichnet werden konnten, um als Teil einer ungeschnittenen Filmsequenz zu erscheinen. Der Grenzübergang wird nicht als Ort in Fragmenten präsentiert, vielmehr konstituiert er sich als Ereignis innerhalb einer ununterbrochenen Aufnahme.6 Mit Susan und Mike Vargas sind auch zwei der Hauptfiguren des Films in dieser ersten Aufnahme zu sehen. Sie erscheinen jedoch erst nach knapp anderthalb Minuten im Bild und bewegen sich wieder für einige Zeit in den Bildhintergrund, sobald sie den Grenzposten passiert haben. Dazwischen sind sie fast durchgehend parallel zu dem anderen Paar im Bild, das sich mit dem Auto durch die Stadt bewegt. Ähnlich wie die Kugeln in der beschriebenen Rube-Goldberg-Maschine durchqueren die beiden Paare und die anderen Figuren einige Teilstrecken des aufgebauten Parcours simultan und andere sukzessive. Ohne das Wissen um den Star-Status von Janet Leigh und Charlton Heston und ohne Kenntnis über den Fortgang der Geschichte wäre allein anhand des Arrangements der Sequenz nicht zu bestimmen, dass es sich bei den beiden Figuren auf der Leinwand um Hauptfiguren handelt. Die Eröffnung von Touch of Evil mit der Aufnahme einer Rube-Goldberg-Maschine zu vergleichen ist vor allem deswegen produktiv, weil das oben beschriebene Video etwas ins Bild rückt, das in den Sequenzeinstellungen des narrativen Kinos grundsätzlich ausgeschlossen bleibt, sofern die Präsentation eines reibungslosen Ablaufs gelingt. Jener Moment, in dem die Choreografie nicht funktioniert, der Plan nicht aufgeht, die Kamera ihre Bewegung und ihre
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When things don’t work out: Zu den unterbrochenen Operationsketten
Aufnahme stoppen muss, kurz: der Fehlschlag, der das Scheitern der selbst gestellten Aufgabe besiegelt und dafür sorgt, dass anschließend alles wieder auf Anfang gesetzt und von Neuem begonnen werden muss. In einer konventionellen Szenenauflösung ließe sich in einem solchen Fall durch eine weitere Einstellung in anderer Bildgröße aus einem anderen Winkel an die bereits gedrehten Bilder anschließen. Doch sobald der Anspruch besteht, alles in einer Sequenz aufzuzeichnen, gibt es keine andere Möglichkeit als den Neustart und die Wiederholung.7 Ein mögliches Ziel der extrem aufwendigen Arbeitsweise mit langen Einstellungen ist der dokumentarische Gestus der ungeschnittenen Präsentation von Film- und Videobildern, durch den die Wirklichkeit des Geschehens vor der Kamera betont werden kann. Wird statt einer ungeschnittenen Einstellung die Montagesequenz eines Ablaufs präsentiert, liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei der Sequenz nicht um die Aufzeichnung eines Ereignisses am Drehort handelt, sondern vielmehr um dessen nachträgliche filmische Konstruktion: »Bei der üblichen filmischen Auflösung [...] macht sich die Kamera über die Tatsache her, zerstückelt, analysiert sie und setzt sie wieder zusammen; zwar verliert die Tatsache ihre eigentliche Substanz nicht völlig, doch sie wird in eine Abstraktion gehüllt«8. Die Aufnahme kann dann nicht die gleiche spektakuläre Wirkung erzielen, weil es naheliegt, sie als konstruiert und nicht als real aufzufassen.9 Durch die Ko-Präsenz der Aktanten und der Wegstrecken innerhalb einer einzigen Einstellung wiederum erscheint das aufgezeichnete Geschehen als eine direkte Präsentation des Ereignisses und nicht als dessen indirekte Repräsentation. Die Kontinuität der einzelnen Elemente muss dann nicht erst durch Montage (re-)konstruiert werden, vielmehr ist die Wirklichkeit ihres Zusammenspiels sichtbar. Zentrale Voraussetzung für das Gelingen dieses Zusammenspiels ist der reibungslose Ablauf aller beteiligten Elemente bei der Aufnahme am Drehort. Und genau hier gerät, zumindest für die Länge einer Sequenzeinstellung, die gewohnte Dichotomie von Haupt- und Nebenrollen ins Wanken, wie sie durch narrative Setzungen, aber auch durch Paratexte wie Verträge, Filmplakate und Credits im Abspann festgelegt wird. Während Nebenfiguren und ihre Darsteller:innen bereits in konventionell aufgelösten Szenen eines Kinofilms als funktionale Bestandteile »einer Handlung, einer Dramaturgie, eines Tableaus oder einer Struktur«10 in Erscheinung treten, haben die Nebendarsteller:innen in der Sequenzeinstellung
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Die Eröffnung von Touch of Evil
einen ungewöhnlich hohen Einfluss auf das Gelingen des Unterfangens und daher eine Verantwortung, die ihren Auftritten im Film nur selten gegeben ist. Anders als bei einer konventionelleren Inszenierungsstrategie, bei der Momente des Scheiterns meist leicht herausgeschnitten werden können, sind sie in Sequenzeinstellungen nicht weniger für das Gelingen der Szene verantwortlich als die Stars des Films. Diese treten an dieser Stelle nicht solitär in Erscheinung, sondern als Mitglied eines Ensembles, bei dem jedes einzelne Element von entscheidender Bedeutung ist. Der Fehlfunktion des Dominosteins, der in Rube Goldberg #23 – FAILS nicht umfallen will, entsprach bei der Aufzeichnung der Eröffnungssequenz von Touch of Evil angeblich eine Fehlleistung von Dan White, Darsteller jenes Grenzbeamten, der die beiden Paare kontrollieren sollte, die von den USA nach Mexiko gelangen möchten. Da die gescheiterten Versuche bei der Produktion von Kinofilmen, wie bereits erwähnt, spätestens in Schnittraum ausgemustert werden und daher meist unsichtbar bleiben, treten sie nur indirekt durch Berichte von Dreharbeiten in Erscheinung. Hauptdarsteller Charlton Heston hat über die Eröffnung von Touch of Evil folgende Geschichte erzählt: It took all one night to shoot, as indeed it might. And the spooky thing about night-shooting, night exteriors, is that when the sun comes up that’s all, you’ve got to quit. And we were shooting in Venice and we ... Oh, I don’t know, laying the shot was incredibly complicated. The boom work with the Chapmain [sic!] boom was the major creative contribution. The men who ran the boom had a terribly difficult job, but […] it was working well enough to do takes on it, and we did two or three or four takes, and in each take the customs man, who had just one line, would flub his line. […] Cause he’d see this great complex of cars and lights and Chapmain [sic!] booms bearing down on him from three blocks away, and they’d get closer and closer, and finally there they would all be, and he would blow his line.11 Die Anekdote vermittelt deutlich jenen Druck, der sich bei dem Schauspieler Dan White aufgebaut haben muss. Bis zu seinem Auftritt in der ungeschnittenen Einstellung waren nicht nur bereits zwei Minuten vergangen, in denen eine unüberschaubare Anzahl von Akteuren vor und hinter der Kamera verschlungene Strecken zurückgelegt und dabei komplexe Handlungen ausgeführt hatte. White
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musste außerdem dabei zusehen, wie der ganze Aufbau sich langsam auf ihn zubewegte: ein fahrender Kran, der die Kamera über ein Haus bugsiert hatte und sich dann langsam auf Normalhöhe senkte, mehrere Autos, Wagen und Tiere, unzählige Nebendarsteller:innen und nicht zuletzt die beiden Stars des Films, mit denen er gleich ein paar lässige Worte wechseln sollte. Die Bedeutung seines Auftritts konnte White sich aus dem Drehbuch allein nicht erschließen, weil die Funktion seiner Figur im Film weniger aus der Erzählung erwächst als aus der besonderen Ästhetik, die in Touch of Evil anvisiert und umgesetzt wurde. Dass Nebenfiguren und ihre Darsteller:innen plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, ist zwar keine Ausnahme, das punktuelle Heraustreten in den Vordergrund ist sogar ein fester Bestandteil ihrer Funktion. In diesem Fall aber hat sich die sogenannte supporting role durch die gestalterische Sonderform der Sequenzeinstellung maximal intensiviert, so dass sie die Szene punktuell tragen und ihre Fortsetzung garantieren muss, statt sie ausschließlich zu unterstützen. Von Whites Leistung hängt plötzlich die Arbeit des gesamten Filmteams ab. Liefert er nicht, kann er nicht einfach aus der Szene geschnitten werden, wie es bei einer konventionellen Découpage12 möglich wäre. Stattdessen muss alles auf Anfang gesetzt und so lange wiederholt werden, bis die Aufnahme mit ihm gelingt. GoodFellas & Rope – Operationsketten am Drehort
Ein weiteres Beispiel für einen Nebendarsteller, der die komplexe Maschinerie einer mehrere Minuten langen mobilen Kinofilmaufnahme in beträchtlichem Maße gestört haben soll, ist der Komiker Henry Youngman und sein Auftritt in der berühmten Copacabana-Sequenz in Martin Scorseses Film GoodFellas (1990). Im Film selbst ist der reibungslose Ablauf der Sequenz zu sehen, die von einer Straße über den Hintereingang durch die Küche in einen vollbesetzten Nachtclub und bis hin zur Bühne führt. Um die Fehlversuche sichtbar zu machen, ist ein weiteres Mal der Bericht eines Beteiligten erforderlich, diesmal die Schilderung des Bildgestalters Michael Ballhaus: Die Vorbereitungen waren aufwendig, weil es den Gang gar nicht gab. Wir mussten deshalb den Hintereingang bis zur Küche in das echte Lokal bauen. Ich hatte natürlich vor allem Bedenken, weil wir von außen nach innen gingen. Die Sache war schon schwierig genug, da wollte ich nicht auch noch Blende ziehen müssen. Damals gab es außerdem noch keine Fernbedienung
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GoodFellas & Rope – Operationsketten am Drehort
für die Steadicam, mit der man die Blende hätte betätigen können. Weil wir durch das ›getarnte‹ Lokal in die Küche gelangt waren, mussten wir eine Runde durch die Küche drehen und anschließend durch denselben Eingang wieder hinausgehen, durch den wir hereingekommen waren, um im richtigen Copacabana zu landen. Während dieser Runde wurde der Eingang schnell umdekoriert, der Gang abgedeckt, und so kamen wir diesmal ins echte Lokal. Und dann, nachdem wir fast vier Minuten perfekt im Kasten hatten, stand auf der Bühne zum Schluss Henry Youngman – und hatte den Text vergessen!13 Dass ausgerechnet Henry Youngman den Text vergaß, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, schließlich war der Entertainer dafür bekannt, bei jeder Gelegenheit sogenannte one liner zu erzählen, kurze Pointen, die er in Reihe schaltete und mit denen er seit Jahrzehnten seine Auftritte bestritt. Ebenso wie Dan White in Touch of Evil war Youngman zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits ein Routinier mit jahrzehntelanger Filmerfahrung14 und damit im Besitz von Eigenschaften, die bei der Herstellung einer Sequenzeinstellung ausgesprochen hilfreich sind.15 Trotzdem brachte ihn der Druck, als letzter Akteur in einer langen16 und komplexen Aufnahme aufzutreten, aus dem Konzept. Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenfiguren deutet darauf hin, dass in einem Kinofilm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht nur eine einzelne Person zu sehen ist,17 sondern ein mehr oder weniger großes Ensemble. Die (Fehl-)Leistungen von Dan White und Henry Youngman stellen in besonderer Weise die Bedeutung des Zusammenwirkens aller Beteiligten für die Herstellung von Filmaufnahmen heraus. Gerade in einer Sequenzeinstellung ist die gegenseitige Abhängigkeit der Leistungen von Haupt- und Nebendarsteller:innen maximal, so dass die üblicherweise stark betonten und hierarchisch strukturierten Verantwortlichkeiten einer Filmproduktion für die Dauer der Aufnahme deutlich abgeflachter und zudem verwobener in Erscheinung treten. Auch hinter der Kamera kommt es bei der Herstellung einer Sequenzeinstellung zu spezifischen Verschiebungen der Zuständigkeit und der Verantwortung. Während etwa die Innenrequisite zum Gelingen einer auf Montage basierenden Filmaufnahme meist nur einen zwar gestalterisch wichtigen, aber performativ unspektakulären Beitrag leistet, indem vor Beginn der Aufnahme Gegenstände ausgewählt und platziert werden, maximiert die Sequenzeinstellung
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auch ihre Funktion und ermöglicht es, die Operationen am Set als Spektakel zu erzählen. Für die langen Sequenzen in Alfred Hitchcocks Rope (1948) etwa wurden nicht nur, wie später auch bei der Aufnahme der Copacabana-Sequenz in GoodFellas, während der Aufnahme Wände verschoben, sondern es mussten auch andere Gegenstände außerhalb des Bildes bewegt werden. Dies thematisiert der folgende Auszug eines Textes von Hitchcock, der das Erscheinen des Films flankierte: Whole walls of the apartment had to slide away to allow the camera to follow the actors through narrow doors, then swing back noiselessly to show a solid room. Even the furniture was ›wild‹. Tables and chairs had to be pulled away by prop men, then set in place again by the time the camera returned to its original position, since the camera was on a special crane, not on tracks, and designed to roll through everything like a juggernaut. […] Every piece of furniture on the stage – every table, chair, plate, dish, and drinking glass – had to be moved on cue just like the wooden chest. Once, while the characters in the play were eating a buffet supper, Joan Chandler, who played the feminine lead, had to put her wine glass down on a table. But the table was gone. Joan merely put the glass down where the table should have been, one of the crouching prop men (unseen by the camera, of course) raised his hand and Joan’s glass found a resting place in it. Another time an actor had to reach for a plate off the unseen table. Again a prop man moved in, handed the actor a plate, and the action went on.18 Bei der Arbeit mit einer hoch mobilen Kamera wie der hier beschriebenen und ohne die Möglichkeit, das Bild über eine Ausspiegelung live zu verfolgen,19 mag allein die Furcht davor, plötzlich mit einer Hand im Bild zu erscheinen, den Puls der Innenrequisiteure John More und Joe Trusty nach oben getrieben haben. Eine derartige Schlüsselrolle für das Gelingen einer Sequenz fällt der Abteilung für Innenrequisite, deren Mitglieder sich als Nebenfiguren des sogenannten Art Departments beschreiben ließen, selbst bei der Herstellung von Sequenzeinstellungen nur in Ausnahmefällen zu. Meist ist es stattdessen das Kameradepartment, das bei einer langen Kamerabewegung den größten Zuwachs an Leistungsdruck und Verantwortung erfährt. Deutlich komplexer und anspruchsvoller gestaltet sich dann zum Beispiel die Arbeit der Mitglieder der Baubühne, die für die
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Performances der Kameracrew
Bewegung von Dolly und Kamerakran zuständig sind und deren schwierige Aufgabe Charlton Heston in seinen Ausführungen zu der Eröffnung von Touch of Evil skizziert hat. Performances der Kameracrew
Eine große Verantwortung kommt bei der Aufnahme einer Sequenzeinstellungen auch den Schwenker:innen beziehungsweise Operator:innen zu, die bereits bei regulären Aufnahmen mitbestimmen, was sich im Kader befindet und was nicht. Die Operatoren Richard Emmons, Eddie Fitzgerald, Paul Hill und Morris Rosen waren bei Hitchcocks Rope ebenfalls dafür zuständig, dass die Hände der Innenrequisite nicht im Bild erschienen. Je länger eine Sequenzeinstellung dauert, umso stärker hängt ihre konkrete Realisierung von vielen kleinen Entscheidungen der Operator:innen ab, die gegebenenfalls spontan auf das Geschehen am Drehort reagieren und dabei improvisieren müssen.20 Aus genau diesem Grund etwa verzichtete Kameramann Sturla Brandth Grøvlen für die Dreharbeiten zu dem Film Victoria (2015), der zweieinhalb Stunden ohne einen einzigen Schnitt aufgezeichnet wurde, auf einen Operator und führte die Kamera stattdessen selbst. Bei einer klassischen Strukturierung des Kameradepartments hätte Grøvlen jedem der drei Durchläufe, die für den Film erforderlich waren, von einem Monitor aus folgen müssen und hätte, genau wie Regisseur Sebastian Schipper, keine Möglichkeit gehabt, während der Aufnahme einzugreifen. Als Operator hingegen kam ihm die zentrale bildgestaltende Rolle zu. Dass er im Abspann noch vor Schipper genannt wird, unterstreicht die Bedeutung, die ihm und all denjenigen Personen zufällt, die die Kamerabewegungen während einer besonders langen Aufnahme koordinieren. So wie die Performances von Schauspieler:innen in einer Sequenzeinstellung oft mit großen physischen Herausforderungen verbunden sind, weil es bei der Aufnahme darum geht, den aufgebauten Parcours mit all seinen Hürden tatsächlich erfolgreich zu durchqueren, und weil sich die ungeschnittene Einstellung dafür eignet, solche physischen Performances in ihrer profilmischen Wirklichkeit zu präsentieren, so müssen auch die Kameraoperator:innen eine Performance21 zeigen, die ihren Körpern einiges abverlangt. Oft werden die Schauspieler:innen, die selbst Höchstleistungen abliefern, von der Kamera und, sofern keine weiteren Apparate zum Transport der Kamera zum Einsatz kommen, auch von den Operator:innen selbst verfolgt, etwa in der vier Minuten langen Sequenz in Prachya Pinkaews in Thailand produzierten Film Tom Yum Goong (2005), die
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Matthew Thrift für die Webseite des British Film Institute kommentiert hat: In a four-minute take of breathtaking physical and visual athleticism, Jaa fights his way from the ground to the top floor of a hotel, demolishing all in his path with a flurry of Muay Thai manoeuvres. The sequence took a month to film, nailed on the fifth take, and while Jaa barely breaks a sweat, spare a thought for the poor steadicam operator who had to keep up with him.22 Die physische Belastung durch den Einsatz der Steadicam kann mitunter extreme Ausmaße annehmen. Bei der noch etwas längeren Sequenz in dem Film Atonement (2007, Joe Wright), die am Strand von Dünkirchen spielt, war der als Steadicam-Operator ausgebildete Peter Robertson nicht nur mit einer 35-mm-Kamera bepackt, sondern auch mit einem Zoomobjektiv und drei ferngesteuerten Motoren für Blende, Fokus und Zoom. Notwendig waren zudem zwei Geräte für die Übertragung der Videoausspiegelung und ein extra großes Filmmagazin, das die Länge der Aufnahme überhaupt erst ermöglichte.23 Zwar wurde die Apparatur vom Arm der Steadicam gestützt, aber die über 20 Kilogramm Gesamtgewicht lasteten dennoch auf Robertsons Körper, als er damit rund 400 Meter teils zu Fuß und teils auf einem speziellen Gefährt am Sandstrand zurücklegte. Entsprechend kraftraubend waren auch hier die Proben und anschließend die Wiederholungen, die für die Aufnahme notwendig waren: The final take used in the movie was Take 3. We attempted a fourth but my timing was off and I missed my footing on the steps leading up to the bandstand. In a shot such as this, once the camera stops dead the shot is pretty much unusable. I realised, having given my all in the rehearsals (two of which were completed fully loaded with the camera) and three previous takes that I didn’t have enough juice in the tank to complete a fifth. It felt like I had just performed a ten-hour gym session and, in hindsight, I consider myself lucky to have even completed three takes.24 Beim vierten Versuch war Robertson aufgrund der extremen Körperbelastung analog zum eingangs beschriebenen Dominostein das schwächste Glied in der Operationskette; seine physische Erschöp-
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fung machte einen reibungslosen Ablauf der Aufnahme unmöglich. Ein weiterer Durchlauf konnte nicht durchgeführt werden. Warum nach dem dritten Take, der am Ende für den Film verwendet wurde, überhaupt eine vierte Aufnahme versucht wurde, ist nicht bekannt. Die Betrachtung von Nebenfiguren vor und hinter der Kamera, wie sie dieser Text bisher unternommen hat, unterstreicht die Bedeutung intensiver Zusammenarbeit für die Aufnahme einer Sequenzeinstellung. Schon bei konventionellen Filmaufnahmen ist Teamleistung unerlässlich, während sich die Notwendigkeit reibungslosen Zusammenwirkens durch die lange ungeschnittene Aufnahme noch weiter intensiviert. Die schrittweise Digitalisierung der Filmproduktion seit den 1990er Jahren hat die Anzahl derer, die an der Gestaltung einer einzigen Sequenz beteiligt sind, zudem um weitere potenzielle Teammitglieder erweitert. Da es immer einfacher wird, Material aus unterschiedlichen Quellen ohne klassische Bildmontage im Computer zu einer ungeschnitten erscheinenden Sequenz zusammenzufügen, werden zunehmend Aufnahmen miteinander verwoben, die von unterschiedlichen Teams an unterschiedlichen Orten aufgezeichnet wurden. Für ein einzelnes Bild zeichnen auf diese Weise oft mehrere Kamerateams verantwortlich. Außerdem werden neue Arbeitsumgebungen geschaffen, in denen Teammitglieder am Drehort miteinander in Kontakt treten, die in bisherigen Filmproduktionen selten oder gar nicht aufeinandergetroffen sind. Digitale Produktionsumgebungen und das Metaverse
Bei der Produktion der Fernsehserie The Mandalorian (2019 –) etwa wurde ein Filmstudio mit einem 360-Hintergrund aus LED-Panels ausgestattet, auf denen digital produzierte Räume und Landschaften erscheinen, die visuell nahtlos mit den real vor der Kamera existierenden Elementen einer Szene verbunden werden können und so die Aufnahme langer Sequenzen ohne sichtbare Montage ermöglichen. Auch Kamerabewegungen können mit dieser Technologie durchgeführt werden, weil sich der virtuelle Hintergrund in Echtzeit den Positionswechseln der Kamera anpassen kann, so dass es zu einer perspektivisch realistischen Veränderung der Darstellung kommt. Diese Produktionsumgebung, die von den Teammitgliedern »The Volume« genannt wurde,25 und die inzwischen als wichtiges Tool für effektbasierte Dreharbeiten weltweit standardisiert wurde, ermöglicht es Regie- und Kameradepartments, direkt am Drehort mit der Abteilung für visuelle Effekte zusammenzuarbeiten und das Resultat der Kollaboration live zu betrachten und aufzuzeichnen.
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Soll der Berg im Hintergrund rechts oder links erscheinen? Welchen Abstand zu den Figuren im Studioraum sollen die virtuellen Wände haben? Mit den Effektspezialist:innen haben auf einmal Mitglieder des Filmteams einen wichtigen Auftritt am Drehort, die dort bisher selten prominent vertreten waren. In Making-of-Filmen und Setberichten kommen zwar seit vielen Jahren immer wieder die sogenannten Heads of Department zu Wort,26 aber einzelne Visual Effects Artists waren bisher ein Dasein in den Räumen der Postproduktionsstudios gewohnt und wurden vor allem als Teil jener unübersichtlichen Gruppe kenntlich, die ausschließlich in den endlosen Spalten im Abspann effektbasierter Großproduktionen in Erscheinung tritt. Durch das neue Herstellungsverfahren des »Volume« stehen sie plötzlich am Drehort und befinden sich in ständigem Austausch mit dem Kamera- und dem Regiedepartment, um entscheidende Aufgaben vor und während der Aufzeichnung einer Sequenz zu übernehmen. Bezeichnend ist, dass LED-Studios, wie sie in Fernsehserien wie The Mandalorian und Kinofilmen wie The Batman (2022, Matt Reeves) eingesetzt wurden, auf eine Technologie zurückgreifen, die auf der von der Firma Epic Games zunächst für Videospiele entwickelten Unreal-Engine basiert. Die Verbindung der Kamera am Drehort mit den virtuellen, am Computer berechneten Hintergründen und die Beleuchtung der real am Set vorhandenen Schauspieler:innen und Gegenstände durch die LED-Screens und durch zusätzliche Lichtpanels, die an die Bewegungen im Raum angepasst werden muss, erfordern große Mengen an Rechenkapazität. Die Unreal-Engine ermöglicht es, beliebige Objekte live in eine virtuelle, vorproduzierte Umgebung einzufügen. Dies weist bereits in Richtung des sogenannten Metaverse, das gegenwärtig von Mark Zuckerbergs Konzern Meta entwickelt wird und als eine virtuelle Umgebung in Erscheinung tritt, in die Menschen über entsprechende Interfaces eingespeist werden können, um einander in simulierten Räumen für Arbeitsmeetings und Freizeitaktivitäten zu begegnen. Die Anknüpfungspunkte zwischen der Sequenzeinstellung des klassischen Kinos und den digitalen Anwendungen der Virtual Reality sind aber nicht nur arbeitsökonomischer und technischer Natur. Auffallend sind vor allem die ästhetischen Parallelen. Auch hier werden beim Durchqueren virtueller Räume von einer mobilen (und ebenfalls virtuellen) Kamera ungeschnittene Bewegtbilder geschaffen. Bildmontage findet in der virtuellen Realität nur in Ausnahmefällen statt, präsentiert wird vielmehr eine kontinuierliche Darstel-
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lung ohne räumliche und zeitliche Unterbrechungen, in der Avatare sich ebenso bewegen können, wie es die Schauspieler:innen in den Parcours der Sequenzeinstellungen des Kinos bereits vermochten. Auf diese Weise erscheinen die Sequenzeinstellungen des klassischen Kinofilms als entscheidende Referenz für die gegenwärtige und künftige Ästhetik der virtuellen Realität.27 Für eine Betrachtung von Haupt- und Nebenfiguren lassen sich aus der ästhetischen Parallelführung von Sequenzeinstellung und Virtual Reality interessante Impulse gewinnen. Als Hauptfigur erscheint im Metaverse analog zum Computerspiel der eigene Avatar. Entscheidend ist dabei weniger, ob aus der Perspektive des Avatars geblickt wird (First Person), oder ob der Avatar im Bild erscheint (Third Person). Wichtig ist vielmehr, dass die Avatare durch ihre Bewegungen und Raumverlagerungen die Ausrichtung der Kamera bestimmen und deren Bewegungen induzieren. Um den Bogen zurück zu den Videos von Rube-Goldberg-Maschinen zu schlagen und eine Differenz zu akzentuieren: Die Weitergabe des einmal eingespeisten Bewegungsimpulses sorgt in den Goldberg-Maschinen dafür, dass unterschiedliche (menschliche und nicht-menschliche)28 Aktanten sukzessive in den Blick der Kamera genommen werden. Würde sich stattdessen analog zur virtuellen Realität und zu den meisten Computerspielen immer nur eine Kugel im Zentrum der Aufmerksamkeit befinden, dann würde diese Kugel gegenüber den anderen Elementen eine herausragende Stellung einnehmen und ließe sich als Hauptakteur beschreiben. Erst im Moment des Scheiterns29 kommt dem Dominostein in Rube Goldberg #23 – FAILS eine herausragende Bedeutung zu. Durch einen Zoom wird er aus dem Ensemble der gesamten Apparatur herausgelöst und zur Hauptsache gemacht. Für einen Moment wird er dabei ebenso genau betrachtet wie die scheiternden Nebendarsteller in den oben zitierten Setberichten. Sobald die Bewegungen einzelner Akteure verfolgt werden und sobald das Geschehen aus ihrer Perspektive betrachtet wird, treten sie in den Vordergrund. Weil die Herstellung einer ungeschnittenen Sequenz im narrativen Kinofilm eine Frage intensiven Teamworks ist, ist die Sonderrolle, die einzelnen Elementen zukommt, erst dann deutlich zu erkennen, wenn sie den reibungslosen Ablauf der Operationsketten stören und aus dem Netzwerk herausgelöst werden. Die visuelle Darstellung der virtuellen Realität wiederum macht deutlich, dass die Frage nach der Perspektive, aus der heraus auf Figuren geblickt wird, von den entsprechenden Subjektkonstrukti-
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onen abhängt. Das Metaverse hat das Prinzip der sozialen Netzwerke von Facebook geerbt: In der eigenen Timeline ist eine Person (ein Avatar) die Hauptfigur, doch in den Timelines der anderen ist sie zugleich eine Nebenfigur. Es ist daher eine Frage der Perspektive, ob eine Figur als Haupt- oder als Nebensache in Erscheinung tritt. Alle Elemente eines Netzwerks können sich durch ein besonderes Ereignis aus dem Ensemble einer Erzählung beziehungsweise einer Filmproduktion lösen oder durch eine entsprechende Erzählperspektive (auch die von Setberichten) herausgelöst werden. Erst wenn die Aufmerksamkeit durchgehend auf ihnen verweilt, werden diese Elemente zur Hauptsache. Bis dahin sind alle Mitglieder einer Filmproduktion Teil eines Ensembles und damit eines Netzwerks. Sie sind Nebenfiguren, denen das Potenzial für den ganz großen Auftritt bereits latent innewohnt.
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»Rube Goldberg (1883 – 1970) was a Pulitzer Prize-winning American cartoonist, inventor, innovator, and the only person whose name is an adjective in Merriam-Webster’s Dictionary. Rube’s invention cartoons are only a small part of his life’s work, yet they define his career. A Rube Goldberg Machine solves a simple problem in the most ridiculously inefficient way possible.« https://www.rubegoldberg.org/all-about-rube/a-cultural-icon [12. September 2023]. Ein früher filmwissenschaftlicher Blick auf die Aufzeichnung von Rube-Goldberg-Maschinen findet sich bei Elsasesser, Thomas: »›Constructive Instability‹, or: The life of things as the cinema’s afterlife?«, in: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hrsg.): Video Vortex Reader: Responses to YouTube, Amsterdam 2008, S. 13 – 31. DoodleChaos: Rube Goldberg #23 – FAILS, 26. Juli 2012, https://youtu.be/ Yg3nVmYffhs [12. September 2023]. Geprägt wurde der Begriff der Media Logic durch David L. Altheide und Robert P. Snow, vgl. dies.: Media Logic, Beverly Hills 1979. Seitdem hat er Ausdifferenzierungen in unterschiedlichen Disziplinen jenseits der Kommunikationswissenschaft erfahren. Der Begriff beschreibt den Einfluss, den spezifische Charakteristika und die Kontexte eines Mediums, Formats, Kanals etc. auf die entsprechenden Herstellungs- und Rezeptionsprozesse ausüben. Im Fall der Rube-Goldberg-Maschinen und der Sequenzeinstellungen nehmen etwa die ungeschnittene Einstellung und die Interaktion unterschiedlicher Aktanten innerhalb einer Einstellung Einfluss auf die Planung und Durchführung der Produktion, auf ästhetische Entscheidungen sowie auf die Modi der Rezeption, so dass sich zwischen entsprechenden Kinofilmen und YouTube-Videos Gemeinsamkeiten aufzeigen lassen. Latour, Bruno: »Der Berliner Schlüssel«, in: Latour, Bruno/Roßler, Gustav (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 37 – 51, hier: S. 49. Erhard Schüttpelz hat den Begriff Operationskette während seiner Beschäftigung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie und in Rückgriff auf den französischen Techniktheoretiker Marcel Mauss geprägt. In einer Operationskette werden »Formen von Handlungspotential (›agency‹) zwischen den beteiligten Größen aufgebaut, verknüpft und umverteilt«. (Schüttpelz, Erhard: »Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten«, in: Kneer, Georg/Schroer, Markus/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008, S. 234 – 258, hier: S. 237).
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»[T]he camera shows how permeable the border is in the most literal way imaginable – by crossing it. Cutting across the border would not have produced the same effect. The camera’s movement perfectly captures the ineradicable continuity of the spaces.« (Keating, Patrick: The Dynamic Frame. Camera Movement in Classical Hollywood, New York 2019, S. 286) »Ganz am Schluß funktioniert ein Spezialeffekt nicht, jemand vergißt seinen Dialog, oder bei einem Scheinwerfer fliegt die Sicherung heraus, und das Ganze muß noch einmal gedreht werden. Je länger die Einstellung, desto größer natürlich die Gefahr, daß ein solcher Fehler passiert.« (Murch, Walter: Ein Liedschlag, ein Schnitt. Die Kunst der Filmmontage, Berlin 2004, S. 21) Bazin, André: Was ist Film?, Berlin 2004, S. 319. Das Ereignis hätte sich von der Ebene des »Wirklichen« hin zur Ebene der »Imagination« verlagert (ebd., S. 78). Für eine weiterführende Analyse des dokumentarischen Gestus der ungeschnittenen Einstellung vgl. Jehle, Martin: Ungeschnitten. Zu Geschichte, Ästhetik und Theorie der Sequenzeinstellung im narrativen Kino, Marburg 2021, S. 190 – 207. Das Zitat stammt aus dem Flyer zur Tagung »Nebenfiguren« an der Stiftung Universität Hildesheim im Oktober 2022, für die der vorliegende Text entstanden ist. Heston, Charlton: »Interview James Delson with Heston. Reprinted from Take One 3 July/August 1971, 7–10«, in: Beja, Morris (Hrsg.): Perspectives on Orson Welles. Perspectives on Film, New York 1995, S. 63 – 74, hier: S. 67. Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs vgl. Kirsten, Guido: Découpage: Historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs, Marburg 2022. Ballhaus, Michael/Tykwer, Tom/Binotto, Thomas (Hrsg.): Das fliegende Auge, Berlin 2003, S. 161. Dan White und Henry Youngman standen beide im Jahr 1936 zum ersten Mal vor der Kamera, allerdings sind die beiden hier besprochenen Filme gut 40 Jahre voneinander entfernt erschienen, so dass Youngmans deutlich fortgeschrittenes Alter zu seiner Fehlleistung beigetragen haben mag. Zur Eignung ungeschnittener Einstellungen für die Demonstration von Exzellenz und Virtuosität vor und hinter der Kamera vgl. Jehle: Ungeschnitten, S. 20 – 31. Die Sequenz mag bei der Aufnahme vier Minuten lang gewesen sein, im Film allerdings tritt Youngman bereits nach knapp drei Minuten in Erscheinung, kurz darauf folgt ein Szenenwechsel. Es ist keine Seltenheit, dass ungeschnittene Einstellungen deutlich länger beschrieben werden, als sie es tatsächlich sind, vgl. ebd., S. 25 – 28. Selbst Extrembespiele wie Locke (2013, Steven Knight), Cast Away (2000, Robert Zemeckis) und sogar All Is Lost (2013, J. C. Chandor) demonstrieren die Notwendigkeit der Interaktion mit anderen Figuren. Hitchcock, Alfred: »My Most Exciting Picture«, in: Popular Photography 23 (1948), H. 5, https://bit.ly/2OJrcGT [12. September 2023]. »Eine vollständige, nicht auf dem Kopf stehende Ausspiegelung des tatsächlichen Filmbildes bei genauer Wiedergabe der Bildgrenzen wurde allerdings erst 1937 durch die deutsche Firma Arri und ihr Kameramodell Arriflex zur Verfügung gestellt. […] Im Krieg konfiszierte Arriflex-Kameras wurden auch in Hollywood genutzt« (Jehle, Ungeschnitten, S. 86), kamen aber bei den Dreharbeiten zu Hitchcocks Film nicht zum Einsatz. Vgl. ebd., S. 138 – 140. Die Operatoren Richard Emmons, Eddie Fitzgerald, Paul Hill und Morris Rosen waren bei Hitchcocks Rope ebenfalls dafür zuständig, dass die Hände der Innenrequisite nicht im Bild erscheinen. Frieda Grafe hat bereits früh auf den performativen Aspekt von Kameraarbeit hingewiesen. Grafe, Frieda: »Sehen ist besser als machen. Karl Freund, der Bilderhändler«, in: Esser, Michael (Hrsg.): Gleißende Schatten. Kamerapioniere der zwanziger Jahre, Berlin 1994, S. 63 – 77, hier: S. 63. Thrift, Matthew: 16 incredible long takes, 13. Juli 2015, http://bit.ly/3r5suc7 [12. September 2023]. Robertson, Peter: Beach at Dunkirk, http://www.steadishots.org/shots_detail. cfm?shotID=298 [12. September 2023]. Ebd.
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Insider: Why ›The Mandalorian‹ Uses Virtual Sets Over Green Screen | Movies Insider, 11. Juni 2020, https://youtu.be/Ufp8weYYDE8?si=bSrCv__x-TuuShPL, 00:05:01 [14. Januar 2024]. Ein klassisches Beispiel sind die Featurettes zu The Revenant (2015, Alejandro González Iñárritu), in denen neben dem Regisseur und den Schauspielern nacheinander Production Designer Jack Fisk (00:03:24), Kameramann Emmanuel Lubezki (00:04:20), Make-up-Artists Siân Grigg (00:07:48) und Duncan Jarman (00:08:33), Kostümdesignerin Jacqueline West (00:09:24) und Drehbuchautor Mark L. Smith (00:12:06) zu Wort kommen. Die spektakuläre Arbeit des VFXTeams hingegen bleibt unerwähnt, was die ostentativ vorgebrachten Erzählungen von Wahrhaftigkeit und Realismus des Films nicht unnötig kompliziert. Flicks And The City Clips: THE REVENANT Behind-The-Scenes Featurettes, 17. Januar 2016, https://youtu.be/qSiNDcOoay8?si=O7bJsBuzzGqFu8ZR [14. Januar 2024]. Vgl. Jehle, Ungeschnitten, S. 299 – 305. Diese von der Akteur-Netzwerk-Theorie vorgenommene Kategorisierung wird in der virtuellen Realität zunehmend obsolet, weil nicht mehr ohne Weiteres erkennbar ist, ob es sich bei den anderen Avataren um Repräsentanten menschlicher Akteure handelt. Das Scheitern der Choreografie einer Rube-Goldberg-Maschine und einer Sequenzeinstellung erscheint vor dem Hintergrund digitaler Technologien, mit denen ungeschnittene Einstellungen berechnet werden können, als (analoger) Anachronismus. Unterbrechungen des ungeschnittenen Bewegtbildablaufs sind in der virtuellen Realität jedoch ebenfalls denkbar, wenn die Echtzeitberechnung oder -übertragung der Daten eingeschränkt wird, User ausgeloggt oder aufgrund von Fehlverhalten ausgeschlossen werden.
Robin Klengel, Leonhard Müllner (Total Refusal)
Die digitale Masse: NPC, soziale Chiffre und Autonomiebestrebung Einleitung
2023 wurde der Begriff »NPC« (für Non-Player-Character oder seltener Non-Playable-Character) von Langenscheidt in die Endauswahl zum »Jugendwort des Jahres« aufgenommen. Zwei Jahre zuvor brachte Disney mit Free Guy den ersten Blockbuster in die Kinos, in dem das Leben eines digitalen Statisten im Zentrum steht – und landete damit einen der größten Filmerfolge des Jahres 2021. NPCs werden nicht nur in Form von TikTok-Trends kulturell und choreografisch verarbeitet; sie inspirieren auch große Serienproduktionen, werden in Comics und YouTube-Filmen thematisiert und finden als gesellschaftliche Metapher in unterschiedlichen Kontexten alltagskulturelle Anwendung und Vereinnahmung. Auch im deutschsprachigen Common Sense kann heute kaum mehr angezweifelt werden, dass die Figur des NPC die Grenzen seines ersten digitalen Habitats endgültig hinter sich gelassen und auch innerhalb anderer Medien ein Eigenleben entwickelt hat. In seinem Herkunftsmedium, dem Videospiel, zeichnet sich der NPC dadurch aus, dass er eben nicht – oder jedenfalls nicht direkt – von den Spielenden, sondern vom Algorithmus des Spiels kontrolliert wird. Als Teil des Environments nehmen NPCs meist die Nebenrollen in der Geschichte ein, oftmals erfüllen sie als dekorative Figuren vorrangig eine atmosphärische Funktion. »Ambient Human Presence«1 nennt sie der Videokünstler Alan Butler. Schließlich ist es eine ihrer Hauptaufgaben, eine leblose Spielwelt mit dem Anschein digitaler Lebendigkeit zu animieren. Der NPC ist dabei eine Negativfolie zum Avatar, den er als Begleiter, Unterstützer oder Gegner bespaßt, beschäftigt und herausfordert. Er ist die andere, oft passive, reaktive, in Massen auftretende und in Schleifen gefangene Figur, die einzig innerhalb des Sichtkegels des Avatars erscheint und über dessen Blick existiert. Diese digitalen Randerscheinungen ins Rampenlicht zu holen lohnt sich allein schon deswegen, weil sich in der zweifelsfrei ungleichen Beziehung zwischen Avatar und NPC Parallelen zu der Ungleichverteilung von Macht in der spätkapitalistischen Gesellschaft erkennen lassen.
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Die digitale Masse: NPC, soziale Chiffre und Autonomiebestrebung
Ausgehend von diesem Bedeutungsferment hat sich der NPC als Zeichen und gesellschaftliche Metapher selbstständig gemacht. Dabei tritt er in der öffentlichen Debatte als meist abwertend verwendete Metapher auf, während die tatsächliche Erscheinung und Funktion von NPCs weit vielfältiger, komplexer und eigenwilliger ist. Auswege aus diesem Rollen- und Bedeutungskorsett bieten, wie wir besprechen werden, nicht nur der Glitch, also der digitale Rechenfehler, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die fortschreitende Anthropomorphisierung des NPC durch Machine Learning. Mittels aktueller Entwicklungen gelingt es, ein soziales Gefüge nicht nur zu simulieren, sondern Bots glaubwürdiger – und damit menschenähnlicher – zu gestalten. Hierbei wird zu fragen sein, wie weit solche Befreiungsversuche überhaupt von Erfolg gekrönt sein können, ohne die immanent hierarchische Logik und Struktur eines Spiels zu brechen. Schließlich sind Videospiele als soziopolitische Konstrukte den spätkapitalistischen Herrschaftsprinzipien ebenso unterworfen wie hegemonial-medialen Vereinnahmungen. Dem ist eine andere, emanzipative und kritische Lesart des NPCs entgegenzuhalten, die wir in diesem Artikel umreißen wollen. Der NPC als Chiffre und gesellschaftliche Metapher
Wie wohl jede populäre Figur hat sich auch der NPC zu einer eigenständigen Metapher entwickelt, die auch von Menschen verstanden werden kann, die selbst noch nie ein Videospiel gespielt haben. Doch was bedeutet die Chiffre NPC genau? Um diese Frage zu beantworten, nehmen wir die beiden großen filmischen Produktionen der letzten Jahre als Beispiele, in denen NPCs implizit oder explizit eine Hauptrolle spielen: den Film Free Guy (2021) und die Serie Westworld (2016 – 2022). Wir kontrastieren dies mit der Verwendung des NPC-Begriffs als soziale Metapher, sowohl im esoterischen Feld als auch im Kontext der Alt-Right-Ideologie. Free Guy (2021, Shawn Levy) ist vermutlich der erste große Blockbuster, in dem der NPC als Thema direkt verhandelt wird. Die Hauptfigur mit dem vielsagenden Namen »Guy« (Ryan Reynolds) lebt im Videospiel »Free City«, einer an die Open Worlds der Serie Grand Theft Auto (Rockstar, 1997 –) angelehnten Stadt. Jeden Tag nimmt Guy eines von zig identischen blauen Hemden aus einem Kleiderschrank, grüßt stets mit »Don’t have a good day, have a great day!«, und sein Leben verläuft im immer gleichen Loop vom morgendlichen Kaffee bis zum Arbeitsalltag in der Bank. Dabei wohnt er dem Treiben der »people with sunglasses« bei – den Avataren der Spieler:innen, die als
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Der NPC als Chiffre und gesellschaftliche Metapher
bunt gekleidete Individualist:innen Quests erfüllen, mit überdimensioniertem Kriegsgerät durch die Stadt fahren und vor allem Tod und Verderben in die Welt bringen. Das Spiel entwirft eine ZweiKlassen-Gesellschaft, die sich in erster Linie entlang ungleich verteilter Handlungsmacht differenziert: Während die Avatare (scheinbar) alles tun dürfen, verläuft die Existenz der NPCs in unveränderlichen Bahnen. Die NPCs selbst sind sich dieser Klassenteilung durchaus bewusst, nehmen diese aber ohne Widerstand oder Unbehagen hin. Die NPCs im ersten Akt von Free Guy sind retortenhaft und – im Unterschied zu den Avataren – demonstrativ als Figuren ohne Individualität gezeichnet. Sie verfügen kaum über eine eigene Geschichte und haben keine Möglichkeit, sich zu den Avataren in Beziehungen zu setzen. In Referenz zu Marc Augé und seiner Theorie der NichtOrte2 könnte man NPCs in dieser Darstellung schlicht als »NichtPersonen« bezeichnen: profillose Menschen-Dummies, deren zentrale Aufgabe es ist, durch ihre schlichte Anwesenheit eine gewisse Belebtheit des Settings zu generieren. In einer anderen Übertragung könnte man diese Darstellung auch mit dem vergleichen, was David Graeber in seiner Studie Bullshit Jobs als »Lakai« bezeichnet hat: jemand, der die vorrangige Aufgabe hat, jemand anderem das Gefühl zu geben, wichtig zu sein.3 Wie Junzhu Ding analysiert, stellt Free Guy im Folgenden – wie die meisten Filme, die das Thema verhandeln – den Ausbruch aus dieser Rolle ins Zentrum: »[T]he NPC grows from an obscure, flat character to an action figure who saves or destroys the world«.4 Durch die Begegnung mit der weiblichen Hauptfigur wird ein neuer Aspekt in Guys Code aktiviert, wodurch er eine Persönlichkeit entwickeln und sein Geschick selbst in die Hand nehmen kann. Das Aufsetzen einer Sonnenbrille erlaubt es ihm, die Fähigkeiten eines Avatars zu erlangen und mehrere Levels aufzusteigen. Schließlich rettet er das Überleben des Servers – und damit seiner Welt. Dabei wird die Interpretation des zur Hauptfigur ermächtigten NPCs im Film gleich mitgeliefert. »The point is, we don’t have to be spectators to our own lives. We can be whatever we want«, sagt Guy und reproduziert damit den liberalgenerischen Erzähltopos der individuellen Selbstbefreiung: Aus einem Niemand wird ein Jemand. Am Ende steht aber weder die Menschwerdung der NPCs noch deren Ausbruch aus der Spielewelt. Vielmehr werden die NPCs mittels einer neuen AI-Software zu vollständigen Lebewesen gemacht und dürfen in einer techno-utopischen Paradieswelt ohne Gewalt selbstbestimmt existieren.
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Westworld
Die Ausgangslage der Sci-Fi-Western-Serie Westworld (2016 – 2022) ist auf den ersten Blick ähnlich. Hier bevölkern Androiden, sogenannte »Hosts«, eine Wild-West-Welt, in der wohlhabende Besucher:innen (»Guests«) wie in einer Art Vergnügungspark konsequenzenlose Abenteuer erleben können. Zwar handelt es sich bei den Hosts streng genommen nicht um Videospielfiguren, und die Serie basiert auf einem Film aus dem Jahr 1974, datiert also lange vor dem Zeitalter der NPCs. Dennoch waren Open-World-Videospiele für die Gestalter:innen der Serie eine primäre Inspirationsquelle,5 und auch in der populären Rezeption der Serie, in zahlreichen Artikeln, Videos oder Posts,6 wurde im Host die Figur des NPCs erkannt. Aus diesen Gründen kann Westworld als die vielleicht einflussreichste filmische NPC-Darstellung angesehen werden. Am Anfang von Westworld sind die Hosts in sich täglich wiederholenden, erzählerischen Loops gefangen. Unfähig, den Gästen Schaden anzutun, sind sie ihnen weitgehend ausgesetzt, während dem Verhalten der Guests kaum eine Grenze gesetzt ist: Sie dürfen Held:in spielen und den Hosts helfen, können aber auch morden und vergewaltigen. Genauso wie in vielen Games bleiben die Handlungen der Gäste weitgehend konsequenzenlos – und gerade darin besteht der Reiz. Zwar erleben die Hosts jede Szene in vollem emotionalen Umfang, werden allnächtlich aber repariert und kognitiv auf ›Fabrikeinstellung‹ zurückgesetzt. Die Möglichkeit, Erinnerungen anzuhäufen und auf sie zugreifen zu können, ist somit zentraler Dreh- und Angelpunkt in der Selbstwerdung der Charaktere. Im Unterschied zu Free Guy sind die Hosts in Westworld keine Verkörperungen des Durchschnitts. Sie haben Erinnerungen implantiert, sind mit einer Geschichte versehen und wirken sogar derart menschenähnlich, dass die Frage, welche Figur als ein echter Mensch zu betrachten ist, ein zentrales Motiv der Serie darstellt. Der Ausbruch der Hosts ist der zentrale Inhalt der ersten beiden Staffeln, bis es ihnen schließlich gelingt, das purgatorische Spielfeld zu verlassen. Die Macht- und Wissenshierarchie dreht sich dabei immer mehr um. In der vierten Staffel sind es in erster Linie die Menschen, die von einer AI manipuliert werden und nicht wissen, in welcher Realität sie leben, während die Hosts lernen, sich in ihrer Existenz als Simulakren menschlicher Vorbilder zu akzeptieren.
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Der NPC-Begriff in der esoterischen Szene
Der NPC-Begriff in der esoterischen Szene
Die Zweiteilung zwischen echten Menschen und menschenähnlichen Entitäten, deren Hauptaufgabe darin besteht, Ersteren die Realisierung von vielfältigen Erfahrungen zu ermöglichen, erinnert stark an einen NPC-Begriff, wie er in Teilen der esoterischen Bewegung verbreitet ist.7 Diese Verwendung des Begriffs geht auf die selbsternannte Hypnotherapeutin Dolores Cannon (1931 – 2014) zurück. Ihre in esoterischen Kreisen sehr stark rezipierten Bände The Convoluted Universe bauen auf den Aussagen von Menschen auf, mit denen Cannon während ihrer Hypnosesitzungen Gespräche führte. Darin fabulierte einer ihrer Gesprächspartner:innen von der geheimen Existenz sogenannter Backdrop People – Wesen, die zwar wie Menschen aussehen, tatsächlich aber nur eine leere Hülle ohne Seele seien: »Backdrop People [...] do not have a higher vibration or purpose. They teach us lessons by their mere presence, but they are not intended to evolve further.«8 Diese menschenähnlichen Wesen seien in Wirklichkeit eine Art Hologramm, dienten den beseelten Menschen als ontologischer Reibebaum – ein zur Abgrenzung erzeugtes Gegenbild – und ermöglichten in weiterer Folge den Aufstieg auf ein höheres spirituelles Level, die sogenannte New Earth. »Backdrop People are just matter. […] Their job is to populate reality, not to direct it, not to change anything.«9 Anstelle des Begriffs Backdrop People verwenden viele YouTuber:innen und Blogger:innen mittlerweile eher den NPC-Begriff, um über Wesen von geringer »Seelentiefe« und über ihre gegebene oder nicht gegebene Existenz zu spekulieren.10 Ähnlich wie Westworld spricht dieses Konzept von der moralischen Verpflichtung frei, mit den vermeintlichen NPCs Empathie zu empfinden, Verständnis für ihren Standpunkt aufzubringen – oder Energie in die Beziehung zu ihnen zu investieren.11 Schließlich wird der Status der Backdrop People – in Referenz zu der Unterscheidung zwischen Avataren und NPCs – als Teil einer Art unveränderlichen Kastensystems angenommen. Außerdem liefert das Konzept den Mitgliedern der Bewegung ein Erklärungsmodell für den Umstand, dass manche Menschen auf spirituell-esoterische Themen weniger ansprechen – und hilft somit dabei, ideologische Gräben zu vertiefen. Schließlich funktioniert der Begriff der Backdrop People in zwei Richtungen: zur Abwertung aller Menschen, die als solche ausgemacht werden, und zur Selbsterhöhung der Gläubigen als ›Avatare‹, die im alten, hinduistischen Sinne als quasi-göttliche Wesen verstanden werden.
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Die digitale Masse: NPC, soziale Chiffre und Autonomiebestrebung
Das NPC-Meme
Der esoterischen Lesart nicht ganz unähnlich gestaltet sich die Vereinnahmung des NPC-Begriffs seitens der rechtsextremen Alt-Right-Bewegung, wie sich am Beispiel des sogenannten NPC-Memes nachvollziehen lässt. Die Geschichte dieses Memes lässt sich bis ins Jahr 2016 zu einem Post auf 4chan mit dem Titel »Are you an NPC?« zurückverfolgen.12 In dem Post wird die Theorie aufgestellt, die Mehrheit der Menschen sei nicht viel mehr als »walking flesh piles«, getarnt als Menschen, die Trends und Moden folgten und unfähig seien, eigene Gedanken zu formulieren. Schnell entwickelt sich der NPC-Begriff zu einem pejorativen Begriff, »[a] derogatory and dehumanizing term for liberals, progressives or moderates, and more broadly for anybody not in line with alt-right talking points«.13 2018 erhielt das Akronym ein Gesicht in Form einer grauen, vereinfachten Version der häufig in Memes verwendeten Zeichnung »Wojak«. Das Meme funktionierte als semiotische Umkehrung besonders für Trump-Fans, da diese zuvor öffentlich oftmals als »russische Bots«14 denunziert wurden. Mit dem Akronym wurden nun spöttisch »Normies« beschimpft, die sozialen Konventionen folgten. Gleichzeitig diente das NPC-Meme zur rassistischen Diffamierung von People of Color oder Menschen mit asiatischer Abstammung als »not-sentient drones«. Auch antisemitische Bilder, wie das eines von jüdischen Puppenspieler:innen gesteuerten »flesh golems«, wurden durch das Meme reproduziert.15 Während die liberalen und linken »sheeples« als politisch programmiert beschrieben werden, stilisieren sich die (weißen) Alt-Right-Apologet:innen mit der Verwendung dieser Begriffe zu selbstbestimmten und über Geheimwissen verfügenden Hauptfiguren – und versehen sich so mit symbolischer Agency. »Die Frage ist also, wem ich zu dienen beschließe – der ›Programmierung‹ der Propaganda, die mich als NPC steuern will – oder meinen eigenen Zielen«,16 fragt sich der rechte Kommentator Duschan Wegner. In Analogie zu den Hierarchien der Spielewelten formuliert: Es geht hier quasi darum, sein eigener Avatar zu sein. »Da ich kein NPC sein will, führt kein Weg daran vorbei, dass ich (noch) mehr lese, dass ich mir (noch) mehr eingestehe, und dass ich jeden Tag mehr emotionalen Mut aufbringe, als ein NPC es für gewöhnlich tut«,17 schreibt Wegner weiter. NPCs nehmen ihren Status hin, Avatare kämpfen sich hoch: Im neoliberalen Framing eines romantisierten (ökonomischen) Kampfes aller gegen alle erkennt Wegner die klassischen Tugenden Leistung und Selbstdisziplin als erlösende Paradigmen.
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Dabei wird die eigene ›Programmierung‹ geflissentlich ignoriert – und zwar sowohl auf politischer Ebene als auch auf jener, die durch die digitale Umgebung bedingt ist: »Under communicative capitalism users have become increasingly dependent on digital platforms designed to elicit behaviour that is at once irrational and predictable.«18 Hypes wie der des NPC-Memes unterliegen, so argumentieren Rob Gallagher und Robert Topinka, den Logiken eines kommunikativen Kapitalismus, in denen emotionale Affektposts im Sinne der Profitmaximierung begünstigt werden. Somit werden auch Alt-Right-User:innen zu einem Verhalten gelenkt, das von den Plattformen analysiert, vorausgesehen und monetarisiert werden kann. Würden die Verfasser:innen der NPC-Memes ihre eigene Kritik ernst nehmen – vor allem bezüglich der Art und Weise, wie digitale Plattformen soziale Beziehungen formen –, könnte dies womöglich in linker Analyse enden, so die Autoren: Teasing out the critique latent in NPC memes would, perhaps, bring them uncomfortably close to an encounter with progressive, left-wing or even Marxist perspectives on shared experiences of alienation, entailing a reckoning with the limits of individual autonomy under communicative capitalism.19 In der Besprechung dieser Beispiele werden verschiedene Bedeutungsachsen der Chiffre »NPC« deutlich. Ein Dreh- und Angelpunkt findet sich in der Besonderheit und Individualität der Avatare, etwa in Free Guy durch ihre flamboyante Erscheinung, die sich vom Durchschnitt der farblosen NPCs abzeichnen. Auch die Besonderheit der spirituellen Auserwähltheit dient, vor allem innerhalb des esoterischen Felds, als Marker der Selbstüberhöhung gegenüber den profanen Backdrop People. Die vielleicht wichtigste Achse verläuft jedoch entlang der Ebene der Handlungsmacht: Während der NPC in den esoterischen oder rechtsextremen Diskursivierungen durch ein begrenztes Handlungsrepertoire den Zustand der Fremdbestimmtheit verkörpert, können die Anhänger:innen der entsprechenden Bewegungen sich in Abgrenzung als besonders frei konstruieren – und dabei eigene Abhängigkeiten verschleiern. Die Ebene der Handlungsmacht ist dabei eng mit dem Mythos der Meritokratie verknüpft: Wer es nicht schafft, das Prinzip der selbstbestimmten Hauptfigur zu verkörpern, für den hat diese Lesart auch kein Mitleid und keine Empathie, sondern nur Verachtung
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übrig. Eine Erzählung, die auch in den hier skizzierten filmischen Beispielen nicht wirklich gebrochen wird. Schließlich besteht die Heldengeschichte gerade darin, dass die NPCs eines Tages ›aufwachen‹ und zum Main Character werden. Ausgehend von dieser Beobachtung stellt sich die Frage: Müssten wir nicht, angesichts einer gesellschaftlichen Realität, in der gerade das Nicht-aufsteigen-Können, das Festhängen in sozioökonomischen Unausweichlichkeiten, die Verstrickung in gegenseitige Abhängigkeiten und Alltags-Loops soziale Grunderfahrungen ausmachen, ganz anders über NPCs und ihre Bedeutung nachdenken? Was kann die ›Befreiung‹ des NPCs außerhalb anthropomorphisierender Logiken bedeuten? Ist eine repräsentative Verselbstständigung zum Beispiel im Moment des Glitchens möglich? Unter dem Gesichtspunkt des Kontingenzbegriffs, also der Unabsehbarkeit des Verhaltens von NPCs, werden wir zuerst einige Beispiele aus dem Feld der AI beziehungsweise Machine Learning besprechen, um dann über die Unmöglichkeit der Selbstbestimmung digitaler Agenten nachzudenken. Der Wachstumszwang der Spieleindustrie treibt den Detailgrad der NPCs immer weiter voran und fetischisiert dabei ein konventionelles Realismuskonzept. Pionierarbeit leistete hier das Spielestudio Bethesda mit dem Open-World-Rollenspiel The Elder Scrolls IV: Oblivion (2006). Darin werden den NPCs Bedürfnisse wie Hunger und Schlaf implementiert, zugleich aber freigestellt, wie sie diese erfüllen. Um ihren Bedürfnissen selbstständig nachzukommen, simulieren NPCs menschliches Verhalten auf Basis eines eigenen Moralsystems.20 Hungern NPCs, so sind sie gezwungen, sich Nahrung zu beschaffen. Diebstahl ruft die Stadtwache auf den Plan, die Raub mit Gewalt ahndet. Zusätzlich können sich die NPCs mit der Droge Skooma in Abhängigkeit bringen. Ihre Verzweiflung macht aus friedlichen NPCs Mörder:innen, da sie zur Beschaffung der Droge andere Bots zu eliminieren versuchen. In der NPC-Gesellschaft von Oblivion ist der Mangel an Ressourcen und Produktionsmitteln von vornherein in die Simulation der sozialen Struktur eingeschrieben. Die Autonomiesimulation führte zu Chaos und teilweise sogar zu bürgerkriegsartigen Zuständen. Zwar attestiert Laura Savaglia der Radiant AI in Hinblick auf das glaubwürdig gestaltete, an elementaren Bedürfnissen orientierte Verhalten von NPCs revolutionäre Potenziale für die Gestaltung zukünftiger Games; die Technologie war jedoch von so vielen Schwächen geprägt, dass sie sich weniger im Sinne des Gameplays als viel-
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mehr für Forschungszwecke eignete.21 Die Kontingenzdynamik der NPCs resultierte in einer Art eigenem Spiel, das die NPCs miteinander ausführen. Ihr Stehlen, Kämpfen, Töten geriet in Konflikt mit den Questlines der Avatare und machte Oblivion teilweise unspielbar: Das Spektakel störte letztlich die Immersion. Die Good Old-Fashioned Artificial Intelligence (GOFAI), also Modelle, die an die symbolischen Informationsverarbeitungsprozesse unseres Gehirns angelehnt sind, werden in der letzten Zeit von neuronalen Netzwerkmodellen abgelöst.22 Eines der jüngsten Beispiele aus diesem Bereich ist Replica Smart NPC, das mittels Machine Learning die künstliche Nachbildung des Prinzips eines neuronalen Netzwerks ermöglicht. Die Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns wird simuliert, und ein digitales neuronales Netzwerk automatisiert auf dieser Basis Prozesse mittels Mustererkennung.23 In einer Demo des Programms24 ist eine nordamerikanische Metropole zu sehen, in der sich Menschenmassen durch anonyme Straßen bewegen. Large Language Modells (LLMs) verleihen diesen Massen die Fähigkeit, mit den Avataren zu kommunizieren, dabei spontan aus einem unüberschaubar großen Pool an Aussagen und Antworten zu schöpfen und scheinbar spontan aufeinander und ihr Umfeld zu reagieren. Die unzählbaren Sprachoptionen in der Reaktion von NPCs auf Aktionen des Avatars steigern dabei den Grad der Menschenähnlichkeit um ein Vielfaches. Die digitalen Bewohner:innen verfügen somit über ein diversifiziertes Stimmenrepertoire und begegnen dem Avatar mit komplexen, nicht-gescripteten Reaktionen. Mit Beispielen wie Replica Smart NPC wird hier in eine Zukunft verwiesen, in der NPCs die Funktion von Chatbots übernehmen könnten. Die Menschenähnlichkeit erhöht sich somit drastisch, denn das maschinelle Gegenüber wird dadurch als intelligent und in seinen Antworten autonom handelnd erlebt. Was auf dem Spielemarkt erst Zukunftsmusik ist, wird andernorts bereits an NPCs in Videospielen, sozialen Simulationen oder kognitiven Modellierungsmethoden getestet. In einer Versuchsanordnung statteten Wissenschaftler:innen von Stanford und Google unterschiedliche Bots mit LLMs aus und dokumentierten das soziale Treiben der im Rahmen des Versuchs »Generative Agents« genannten NPCs.25 25 dieser »Agents« bevölkern die von der Lebenssimulation Sims inspirierte Sandbox »Smallville«. Sie unterhalten sich, laden sich zu Partys ein und führen Bürgermeister:innenwahlen durch. Sie merken sich die Handlungen anderer NPCs und reflektieren ihr
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eigenes Verhalten, indem sie Pläne erstellen und mit ihrem Nahfeld abgleichen. Die Eigenschaften und Identität der digitalen Charaktere werden dabei nicht nur im Vorhinein gescriptet, sondern wachsen fortlaufend anhand von Inputs. Für einen Eingriff in die Aktivität der »Generative Agents«, um etwa deren Verhalten oder deren Identität zu determinieren, können die User:innen Befehle in ein Textfeld eingeben. Diese werden in dem Forschungstext als »inner voice« bezeichnet, die in natürlicher Sprache auf den Generative Agent wirkt. Auch in den Status von Objekten kann mit Befehlen eingegriffen werden, wie zum Beispiel in einen Ofen, der per Eingabe zu brennen beginnt. Die Agents sind dann dazu angehalten, ein Verhalten zu entwickeln, das auf die jeweiligen Eingaben reagiert – wie etwa den Ofen abzuschalten. Ziel der Stanford-Studie ist es, über diese sogenannten believable proxies sowohl menschliches Verhalten in Hinblick auf Gruppendynamiken als auch generell glaubwürdige Simulationen menschlichen Verhaltens herzustellen.26 Glaubwürdigkeit in Videospielen baut Illusionskulissen, die notwendig sind, um den Effekt der Immersion und den erzählerischen Raum konsistent zu halten. Jede AI ist eine menschliche Programmierungsleistung und baut auf einem vordefinierten Zugriff auf bestehendes Wissen auf. Die Intelligenz von NPCs ist also eine Simulation von Intelligenz: NPCs performen Intelligenz. Die Serie A Plague Tale (2019, 2022) ist hierfür beispielgebend. Die Action-Adventure-Serie handelt von zwei jungen Geschwistern, die sich durch eine von der Pest zerstörte mittelalterliche Gesellschaft schleichen und kämpfen. Die Hauptgegner sind Hunderttausende, in Horden auftretende Ratten, von denen die Figuren verfolgt werden, und denen man fortlaufend entkommen muss. Als Masse manövrieren die Ratten wie von Zauberhand durch den Raum, werden von den Figuren angezogen und vom Licht abgestoßen. Dennoch sind sie nicht intelligent. Eher folgen sie einem für die Spielenden unsichtbaren Gitter, das die Schwärme mit Pfeilen lenkt. Die vorgebliche Intelligenz der Ratten in A Plague Tale beruht dabei auf einem System, dessen Logik sich nicht unmittelbar erschließt und das dadurch fast magisch erscheint. Es ist derselbe Fehlschluss, der auch die Generative Agents aus dem Stanford-Experiment lebendig erscheinen lässt. Stattdessen sind es die riesigen Datensätze der LLMs sowie das ausführliche Training, das die Anwendung der Datensätze erst möglich macht.
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Vom Glitch zur Selbstbestimmung
Clemens Apprich argumentiert: Was sich im intelligenten und oftmals missverständlichen Verhalten heutiger Sprachassistenten zeigt, ist das Unbewusste als general intellect, der von den Nutzer_innen mit Daten aller Art gefüttert und trainiert wird. [...] Insofern ist Künstliche Intelligenz auch weniger künstlich als vielmehr kollektiv. Sie ist [...] abhängig von einer Vielzahl an Techniken, Infrastrukturen und Arbeitsschritten. Intelligenz ist nicht etwas, das im Kopf sitzt.27 Der Begriff der »Künstlichen Intelligenz« setzt, so betrachtet, vor allem einen Wortzauber frei, der Technologie verklärt und ihr mit der Zuschreibung, intelligent zu sein, subjekthafte Wesenszüge suggeriert. Das wird vor allem dann verstärkt, wenn die Wesenhaftigkeit auch digitale Personen abbildet. NPCs jedoch faszinieren in erster Linie durch ihre Menschenähnlichkeit oder generell Wesenhaftigkeit. Viele AI-Diskussionen führen daher weg von der Frage, welche Rolle oder Rollenzuteilung sie außerhalb ihrer Eigenschaft als Illusionsmaschine zugewiesen bekommen. Die immer weiter fortschreitenden Entwicklungen tendieren dabei aber dazu, den menschlichen Kontrollzugriff teilweise sogar zu verstärken. Im Interesse des Spielablaufs sollten die NPCs bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar und vielfältig handeln, gleichzeitig aber auch nicht zu weit ausscheren und etwa die Handlung stören. Auch der eigenwilligste NPC bleibt schließlich eine Hintergrundfigur des Spiels. Autonomes Handeln impliziert, wie bei der Radiant AI, dass die Agent:innen innerhalb des Spiels – Avatare wie NPCs – aufeinander kontingent reagieren können. Da zu viel Eigenleben irgendwann jedoch das Gameplay des Avatars und damit die Immersion der Nutzer:innen stört, liegt es in der Logik des Spiels, dass seine Regeln die Kontingenzlogik einschränken (müssen). Der handlungs- und auftragsfreie Paradieseszustand am Ende von Free Guy, in dem NPCs zwanglos einfach sie selbst sein dürfen, ergäbe (vermutlich) kein gutes Spiel. Vom Glitch zur Selbstbestimmung
Einer der möglichen Auswege aus der Fremdbestimmung der NPCs ist der Glitch – also die Störung der Game Engine durch einen Fehler. Der Glitch ist insofern disruptiv, als er auf den Code selbst zugreift und damit die Intention der Programmierung stört. Der Code ist die Regel, und die Regel kann durch Fehler korrumpiert werden. In ein
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komplexes Rendering übertragen, das menschliche Figuren repräsentiert, kann dies bedeuten, dass eine Figur ihre Rolle punktuell verlässt. Durch einen Glitch geht ein NPC beispielsweise nicht mehr den vorgegebenen Weg, sondern bleibt stehen, schlägt daneben, hält inne, durchbricht Wände oder verschwindet vor den Augen des Avatars. Ist der NPC ein »Lakai« (Graeber) des Avatars, der einzig zur Überhöhung der Spielenden existiert, so setzen Glitches den NPC in ebendieser Funktion potenziell außer Kraft und stören damit die solipsistische Immersion der Spielenden. Durch die Brüchigkeit der Weltkonsistenz im Glitch fallen der NPC und der Avatar damit aus dem Sinneszusammenhang der Welt heraus. Doch welches emanzipative Potenzial liegt in der Fehlerhaftigkeit der digitalen Maschine? Am Beispiel von AI-Bildgeneratoren behandelt Franziska Barth das Phänomen des sogenannten Hand Problems.28 Durch Machine Learning generierte Bilder sind von menschlichen Werken unter anderem dadurch unterscheidbar, dass menschliche Hände nicht korrekt abgebildet werden: Statt einer menschlichen Hand mit fünf Fingern erzeugen Bildgeneratoren häufig monströse, vierfingrige Blobs. Wie kann es sein, fragt Barth, dass die Darstellung von Gesichtern und Details wie etwa der minutiöse Faltenwurf eines Daunenmantels in so einem eklatanten Widerspruch zu dieser Fehlleistung steht? Die künstlich generierte Darstellung der Hände erscheint unnatürlich und deviant, das von einer Maschine erzeugte Bild ist »einer rein anthropologischen Perspektive entrückt«. Genau hier entwickelt die Maschine eine eigenständige Sprache. Verzweifelt wird vonseiten der Programmierer:innen versucht, diese durch Korrekturen zu tilgen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Imitation von Bewegungen. Die beiden Performer:innen Oskar Hoff und Nicole Szymkowski (@loczniki) imitieren seit 2021 virtuos die spezifischen Bewegungsmuster von Videospielfiguren und haben damit einen Trend auf TikTok in Gang gesetzt. Die roboterhaften Performances und Maschinenmenschbewegungen werden von anderen Performer:innen übernommen, millionenfach geteilt und damit ihrerseits zu Memes. Das Referenzmaterial sind dabei meistens Spiele wie Grand Theft Auto: San Andreas (2004) oder Elder Scrolls V: Skyrim (2011).29 Das Bewegungsvokabular von NPCs konnte sich außerhalb des Gaming-Habitats also just in jenem Moment etablieren, in dem NPC-typische Ungenauigkeiten vom technologischen Fortschritt weitgehend eliminiert wurden. Der digitale Bildfehler älterer Spiele wird heute zur Quelle für ein autonomes Audrucksvokabular, das durch nostalgische Affekte im allgemeinen Gedächtnis eingefroren bleibt. 238
Die Repräsentation von NPCs
Die meisten NPCs in zeitgenössischen Spielen werden über Motion Capture animiert, das heißt: durch die Übersetzung der Bewegungen von Performer:innen in ein 3D-Modell mittels Tracking. Trotzdem kommt es auch heute noch dazu, dass NPCs deshalb die Motorik nicht immer exakt nachahmen können. Die Folge sind oftmals ruckartige Bewegungen, die die NPCs weniger menschen- als maschinenartig erscheinen lassen. Brüche, eckige Bewegungen, unnachvollziehbare Gesten bleiben also auch in Zeiten des Motion Capturing immanenter Teil der digitalen Realität. Feine Nuancierungen, die eine Bewegung als maschinell enttarnen, stören die Immersion, die nach Richard A. Bartle primär durch vertraute Bilder und Bewegungen erlangt werden kann.30 In der Wiederholung des Glitches etabliert die Maschine dabei eine Sprache, die sie dem Gewohnten entgegenhält. Der Begriff Eigenleben ist hier keine bloße Rhetorik: Glitches, verstanden als unerwartete, aber nicht zwangsläufig destruktive Vorkommnisse eines (informatischen) Prozesses, verweisen auf die in den Programmen und Geräten angelegte eigene Handlungsmacht und stören, zumindest potenziell und vorübergehend, die Vermittlungs- und Ordnungsabläufe eines Mediums.31 Die Repräsentation von NPCs
Der technologische Fortschritt lässt gerenderte Wesen immer organischer wirken, während zunehmend komplexere Automated Bug Detectors Fehler in der Programmierung frühzeitig erkennen. Gleichzeitig impliziert die Profitorientierung von Videospielen deren Unterwerfung unter marktökonomische Trends, enge Zeitpläne und Lohnkostendrückung, sodass große Firmen ihre neuen Titel oftmals in einem unfertigen Zustand veröffentlichen. Aus der Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Technologie entspringt so eine Dialektik, die den Glitch nach wie vor nicht zur Ausnahme, sondern zu einem immanenten Bestandteil von Games macht. An dieser Stelle kann autonomes Maschinenverhalten entstehen. Rosa Menkman beschreibt den perfekten Glitch als etwas, das einen Kipppunkt schaffe, der zwischen (potenziellem) Versagen und der (potenziellen) Entstehung eines neuen Verständnisses oszilliere:32 »The glitch’s inherent moment(um) [...] helps the utterance to become an unstable articulation of counter-aesthetics, a destructive generativity.«33 Folgt man ihrer Argumentation, so sollte der Glitch als eine ästhetische Form mit kritischem Potenzial begrüßt werden, als »a new critical dialectic that makes room for error within the histories of ›progress‹«. In der Störung eröffnen sich Möglichkeitsräume, in
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denen das enge algorithmische Aktionskorsett von NPCs und deren Beziehungsabhängigkeit zum Avatar ein Stück weit aufgebrochen werden. Das Ziel kann dennoch nicht sein, dass der NPC sich vom Blickregime der Spielenden vollständig emanzipiert. Schließlich werden Games für Spieler:innen konzipiert. Es ist der Avatar, der unwidersprochen im Zentrum des Spielegeschehens steht – und daran wird sich vermutlich nichts ändern. Betrachtet man den Avatar als den Vertreter der Ruling Class im Game-Universum, als den Protagonisten, der stetig aufsteigt, seinen Status bis ins Göttliche steigert und durch Loot und Grind reich wird, dann liegt es nahe, in den NPCs die Arbeiter:innenklasse der Videospielwelten zu erkennen. Schon aufgrund der Tatsache, dass ihr Status in der Regel unveränderlich ist, entspricht er viel eher der Lebenserfahrung der Mehrzahl der Menschen als die individualistischen Aufstiegserzählungen der Avatare. An dieser Stelle greifen Verdoppelungseffekte von physischer Realität und ihrer digitalen Repräsentation. Ist eine Analyse von NPCs in Hinblick auf eine Identifikation mit den Vielen, den Schwachen, den Arbeitenden im Kontext von Entfremdung nicht naheliegender als jene mit den Avatar-Succeedern, für die ein System gebaut wurde, in dem sie nur gewinnen können? Reden wir über die Repräsentation von NPCs – und beleuchten damit den Konflikt mit den Grenzen individueller Autonomie, die der kommunikative Kapitalismus mit sich bringt.
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Butler, Alan: Down and Out in Los Santos, 2015 –, http://www.alanbutler.info/ down-and-out-in-los-santos-2016 [19. November 2023]. Nicht-Orte sind Räume, die wie die meisten Supermärkte, Flughäfen oder Autobahnen weder über Geschichtlichkeit noch über eine singuläre Identität verfügen und mit den Individuen kaum eine Relation eingehen. Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 92. Graeber, David: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, E-Book, Stuttgart 2018, Kap. 2.1.1. Ding, Junzhu: »Autopoiesis Crosses the Human-Machine Boundary. A Brief Analysis of the NPC Image in the Film-Game Integration Movie«, in: Journal of Education, Humanities and Social Sciences 3 (2022), S. 40. »We wanted them [the hosts] to be N.P.C.s, [...] We wanted the video-game equivalent of extras, because in Westworld, the guest is the hero«, sagt etwa Jonathan Nolan, einer der Autor:innen. In: Bissell, Tom: »On the Ranch with the Creators of ›Westworld‹«, in: The New Yorker, 15. Dezember 2023, www.newyorker.com/ culture/persons-of-interest/on-the-ranch-with-the-creators-of-westworld [22. Oktober 2023]. Vgl. beispielhaft: Williams, G. Christopher: »›Westworld‹ Ponders the Lives of NPCs«, in: Pop Matters, 5. Oktober 2016, https://www.popmatters.com/westworld-ponders-the-lives-of-npcs-2495412415.html [22. Oktober 2023] oder Sigl, Rainer: »Die dunkle Videospielzukunft von ›Westworld‹«, in: Der Standard,
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21. Januar 2017, https://www.derstandard.at/story/2000050441454/die-dunklevideospielzukunft-von-westworld [22. Oktober 2023]. Leider gibt es bislang keine uns bekannte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verbreitung des NPC-Begriffs im esoterischen Feld, weswegen eine fundierte soziale Einordnung aussteht. Wir können hier nur anfügen, dass es sich zweifelsfrei um ein relativ junges Phänomen handelt und die ersten Beiträge mit größerer Reichweite etwa aus dem Jahr 2020 datieren. Der NPC-Begriff scheint im englischsprachigen Teil der Bewegung stärker verbreitet zu sein. Cannon, Dolores: The Convoluted Universe. Book Five, Huntsville (AR) 2015, S. 243. Ebd., S. 244. Vgl. beispielsweise: The Alchemist: Non Player Characters Explained (Who are the Backdrop People?), 11. Juli 2023, https://www.youtube.com/watch?v=n8YctEKzsPY [16. Oktober 2023]. So erzählt der YouTuber Jean Nolan auf seinem Kanal: »Some of us [...] might even have relatives that are kind of like backdrop people. [...] And our deep, deep desire to help everyone and bring everyone along can be hindering and unhealthy.« INSPIRED: 5. Juli 2023, https://www.youtube.com/ watch?v=mEXWVKgTRxg [14. Oktober 2023]. Gallagher, Rob/Topinka, Robert: »The politics of the NPC meme: Reactionary subcultural practice and vernacular theory«, in: Big Data & Society, Micropolitics of Online Subcultures (2023), H. 5, S. 1. Dafaure, Maxime: »The ›Great Meme War:‹ the Alt-Right and its Multifarious Enemies«, in: Angles 10 (2020), http://journals.openedition.org/angles/369, S. 12. Gallagher/Topinka: »The politics of the NPC meme«, S. 2. Ebd. Wegner, Dushan: »Bist du ein NPC?«, in: Die Achse des Guten (Achgut), 1. Januar 2023, https://www.achgut.com/artikel/bist_du_ein_npc [14. Oktober 2023]. Ebd. Gallagher/Topinka: »The politics of the NPC meme«, S. 2. Ebd., S.14. Auf einer Skala von 0 bis 100 handeln NPCs entlang ihrer sogenannten responsibility, die ihre Gesetzestreue bestimmt. Hat ein NPC eine responsibility unter 30, neigt er zu Diebstahl, um seine Erfordernisse zu erfüllen. Vgl. Savaglia, Laura: »Artificial Intelligence in Gaming. Creating a Living World and its NPCs«, in: EasyChair (2021), S. 2, https://easychair.org/publications/preprint/pS9z [13. Oktober 2023]. Vgl. Apprich, Clemens: »Secret Agents. A Psychoanalytic Critique of Artificial Intelligence and Machine Learning«, in: Digital Culture & Society 4 (2018), H. 1, S. 1. Ebd. Replica Smart NPCs, Unternehmenswebseite, https://www.replicastudios.com/ blog/smart-npc-plugin-release [2. Oktober 2023]. Park, Joon Sung et al.: Generative Agents: Interactive Simulacra of Human Behavior, 2023, https://doi.org/10.48550/arXiv.2304.03442. Ebd., S. 4. Apprich, Clemens: »Die Maschine auf der Couch«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2019), H. 21-2, S. 27 – 28. Barth, Franziska: »Spielerische Umwuchten«, in: KWI Symposium der NEW NOW Konferenz, Essen 2023, https://www.youtube.com/watch?v=CVdX1F61YUU&t=7s [28. September 2023]. Fuhrer, Margaret: »Dancers and Video Game Characters Merge in the Uncanny Valley«, in: The New York Times, 6. Oktober 2023. Bartle, Richard A.: Designing Virtual Worlds, Indianapolis 2003, S. 320. Vgl. Janik, Justyna: »Glitched Perception: Beyond the Transparency and Visibility of the Video Game Object«, in: TransMissions 2 (2017), H. 2, S. 65 – 82 und Kemper, Jakko: »Glitch, the Post-digital Aesthetic of Failure and Twenty-First-Century Media«, in: European Journal of Cultural Studies 26 (2023), H. 1. Menkman, Rosa: The Glitch Moment(tum), Amsterdam 2011, S. 44. Ebd.
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Disappearing Birdie Coonan: Notizen zur Nebenfigur im Kino der Backstage
Stefanie Diekmann
Disappearing Birdie Coonan: Notizen zur Nebenfigur im Kino der Backstage In bestimmtem Sinne sind sowohl dieser Beitrag als auch die Tagung »Nebenfiguren« und der vorliegende Tagungsband nicht denkbar ohne eine Entdeckung, die mehr als 15 Jahre zurückliegt und mit einem anderen Buchprojekt verbunden war. In dem Projekt ging es um kinematografische Entwürfe theatraler Topografien und um die Beobachtung, dass das westliche Erzählkino spätestens seit den 1920er Jahren weniger Aufmerksamkeit auf die Theaterbühne gerichtet hat als auf jene Vorgänge, die im Bereich der Hinterbühne situiert werden.1 Teil der Beobachtung war zudem, dass in dem abgeschirmten, für das Theaterpublikum unzugänglichen Setting der Hinterbühne, das die Filme für das Kinopublikum zu öffnen versprachen, die Theatergarderobe häufig als ein besonders exklusiver Schauplatz in Szene gesetzt wird und die Figur der Garderobiere oder des Garderobiers, als diejenige Instanz, die damit befasst ist, diesen Schauplatz zu verwalten. Mindere Akteurialiät
In den Narrativen des Erzählkinos von 1926 (Jean Renoir, Nana) bis 2006 (Valeria Bruni-Tedeschi, Actrices – oder der Traum aus der Nacht davor) und darüber hinaus bedeutet »verwalten« unter anderem: andere Filmfiguren in die Garderobe eintreten zu lassen und sie wieder aus der Garderobe zu expedieren; Zutritte zu gewähren oder zu verweigern; Botschaften hinein oder hinaus zu tragen, die Verwandlungen, die in der Garderobe stattfinden (Kostüm, Maske, Insignien, Requisiten), zu begleiten; die Geheimnisse, die mutmaßlich hinter der Garderobentür verwahrt werden (»das Verborgene ist für das westliche Denken wahrer als das Sichtbare«2), zu bewahren; die Interaktionen, die sich dort abspielen, zu beobachten; und in all diesen Handlungen die Theatergarderobe als einen maximal exklusiven Ort zu markieren, der sowohl für den Blick des diegetischen Theaterpublikums als auch für den der meisten Filmfiguren verschlossen bleibt. Tendenziell identifiziert das Erzählkino die Theatergarderobieren also als Instanzen der Blickabwehr – und entwirft sie damit als Komplementär zu jenen Assistenzfiguren,3 deren Fähigkeit, »die
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Upgrade
Kommunikation im Bild und die Kommunikation mit dem Bild«4 zu modellieren, von Wolfgang Kemp in seiner Studie Die Räume der Maler beschrieben worden ist. In dieser Funktion agieren die Hüter:innen der Garderobe situativ, in nicht mehr als zwei, drei, vier Szenen und für die Dauer jener kurzen Momente, die benötigt werden, um mitzuteilen, dass gerade kein Besuch empfangen werde oder dass Madame gleich für den Auftritt bereit sei. Die Aktivitäten der Garderobieren sind transitorisch, beiläufig und (meist) diskret. Aber zugleich haben sie das Potenzial, nicht nur Raumordnungen und Zeitabläufe zu modellieren, sondern auch Einfluss auf die Interaktion zwischen einer Filmfigur und einer anderen zu nehmen, ebenso wie auf diejenige zwischen einer Filmfigur und ihrer Bühnenrolle, und nicht zuletzt: auf die Blickbeziehungen, die aus dem Kinosaal zu den imaginären Topografien des Theaters aufgebaut werden. Garderobieren (und die sporadisch auftretenden Garderobiers) sind interessante Nebenfiguren. Das war die eine Entdeckung, die sich aus dem Projekt über die Kinematografie der Backstage ergab. Die zweite, fast unmittelbar anschließend, war die, dass kaum Literatur existierte, in der diese Figuren eingehender untersucht wurden. Weder die spezielle Profession, die in den kinematografischen Entwürfen der Backstage als Gatekeeper, Türschließerin, Zwischenträgerin, An- und Umkleiderin, als Träger:in des Blickes und als Agentin der Blickabwehr eingesetzt wird. Noch die Nebenfigur im Allgemeinen als eine Instanz der minderen Akteurialität, die in dem irritierenden Modus operiert, bei voller Sichtbarkeit weitgehend unbeachtet zu bleiben.5 Upgrade
Ausnahmen bestätigen die Regel. Hin und wieder, nicht allzu oft, wird die Nebenfigur zu einem Objekt der Aufmerksamkeit, wenn auch kaum in der wissenschaftlichen Literatur, sondern in einzelnen Filmen, Theaterstücken, Aufführungen und Erzählungen. Aber wenn diese Werke eine Ausnahme darstellen, so ist zugleich auffallend, dass die Ausnahmen nach einem repetitiven Muster gestaltet sind und nach einem gleichbleibenden Prinzip funktionieren: demjenigen nämlich, aus der großen Menge der Nebenfiguren, die in Theater, Tanz, Kino, Populärkultur unterwegs sind, eine einzelne zu isolieren und sie anstelle der etablierten Hauptfiguren in den Fokus zu rücken. Am häufigsten geschieht dies im Theater, und im Theater am häufigsten mit Figuren aus den Werken William Shakespeares, der
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Disappearing Birdie Coonan: Notizen zur Nebenfigur im Kino der Backstage
seinerseits bereits mit dem Up- und Downgrading einer Nebenfigur experimentiert, wenn er den Hedonisten Falstaff in Heinrich IV/1, Heinrich IV/2 sowie in Die lustigen Weiber von Windsor auftreten lässt, bis er in Heinrich V nur noch zwei Mal erwähnt wird.6 Tom Stoppards Rosencrantz and Guildenstern (1966), aber auch die fast 100 Jahre ältere Komödie Rosencrantz and Guildenstern von William S. Gilbert (1874) profilieren zwei Nebenfiguren aus Shakespeares Hamlet; Thomas Harwoods The Dresser (Der Garderobier, 1980) aktualisiert König Lear und die Parabel von Herr und Knecht, indem er aus Lear einen alternden Schauspieler und aus dem Narren den Garderobier des Schauspielers macht.7 Die intermediale Karriere der Figur Caliban aus Der Sturm hingegen verläuft primär außerhalb des Theaters (Romanliteratur, Filme, Serien, Spiele, Musik8), während das Drama Ismene, Schwester von (2005, Lot Vekemans) nicht auf eine Tragödie Shakespeares referiert, sondern auf die Antigone des Sophokles, Euripides und anderer Dramatiker, die sich für die Schwester der Titelfigur und für deren Blick auf die Vorgänge vor den Toren von Theben nie besonders interessiert haben. Sowohl Stoppards Rosencrantz and Guildenstern als auch Harwoods The Dresser sind für das Kino adaptiert worden, das zweite Stück immerhin zwei Mal, zunächst in einer Besetzung mit Albert Finney und Tom Courtenay (1983) und knapp 30 Jahre später noch einmal mit Anthony Hopkins und Ian McKellen (2015). Ebenso existiert neben den 101 filmischen Adaptionen von Hamlet, in denen die Priorisierung der Figuren weitgehend unverändert bleibt, auch eine Version mit dem Titel Ophelia (2018, Claire McCarthy), in der die Perspektive auf das Geschehen entsprechend revidiert wird; und dass vergleichbare Modifikationen auch in Bezug auf Romanvorlagen vorgenommen werden können, dokumentieren die Spielfilme Mary Reilly (1996, Stephen Frears; nach Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mr Hyde) und Renfield (2023, Chris McKay; nach Bram Stokers Dracula). Neben den Upgrades der Kinogeschichte existieren die der Serien- und Fernsehgeschichte: Better Caul Saul (2015 – 2022) und Frasier (1993 – 2004) als Spin-offs von Breaking Bad (2008 – 2013) und der Sitcom Cheers (1982 – 1993); oder die Sitcoms Maude (1972 – 1978) und The Jeffersons (1975 – 1985), Schauplätze einer zweiten Karriere für Nebenfiguren aus der Sitcom All in The Family (1971 – 1979) und wie diese von Norman Lear produziert.9 Ein Projekt über die Karrieren vormaliger Nebenfiguren hätte sich mit diesen Fällen gesondert zu befassen, da vieles dafür spricht, dass die Formate des
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Relationalität
seriellen Erzählens für die Auftritte von Haupt- und Nebenfiguren Bedingungen entstehen lassen, die in anderen Medien und Künsten nicht zu finden sind. Dauer ist ein Faktor, die Skandierung der Aufmerksamkeit ein anderer: Für alles, was mit der Nebenfigur angestellt werden kann, hat die Serie (auch: die Sitcom) sehr viel mehr Zeit zur Verfügung als der Film und zugleich andere Spielregeln, die über die Gestaltung von Konstellationen und die kurz- oder langfristige Profilierung einer Figur entscheiden.10 Relationalität
Die Versuche, eine Nebenfigur aus der Position der Marginalität ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu befördern, sind mit unterschiedlichen Akzentsetzungen verbunden. (Die Subtexte sind, um nur ein paar Stichworte zu nennen, feministisch, soziologisch, poetologisch, pathologisch.) Und sie fallen unterschiedlich interessant aus. Umso auffallender muss es erscheinen, dass die meisten bei aller Verschiedenheit durch zwei Parameter gekennzeichnet sind, die sowohl etwas über die Konstitution von Nebenfiguren erzählen als auch über die Logik der Figurenbehandlung, von der ihre Existenz grundiert ist. Die erste Eigenschaft: Die Plots und Zusammenhänge, aus denen Nebenfiguren isoliert werden, um sie für drei Akte, 100 Filmminuten oder die Dauer von sechs Staffeln in den Fokus einer anderen Produktion zu stellen, sind maximal bekannte Narrative und Szenarien. (Teils, wie im Fall von Hamlet oder Dracula, so bekannt, dass eine Kenntnis des Plots die entsprechende Textlektüre nicht notwendig voraussetzt.) Bei Antigone, Hamlet, Lear handelt es sich um Werke des literarischen Kanons, gleiches gilt für Dr. Jekyll und Mr. Hyde und Dracula; während sich die ex post organisierte Verselbstständigung der Tänzerin aus dem Corps de Ballet in Jérôme Bels überaus erfolgreicher Produktion Véronique Doisneau (2004) vor der imaginären Kulisse von Schwanensee entfaltet.11 In dem Dokumentarfilm Why Colonel Bunny Was Killed (2010, Miranda Pennell) erfolgt die Profilierung der Nebenfiguren vor dem Hintergrund der britischen Kolonialgeschichte, in einem anderen Dokumentarfilm, Substitute (2006, Fred Poulet und Vikash Dhorasoo), vor dem einer Fußball-Weltmeisterschaft; das Drama der Protagonistin in The Assistant (2019, Kitty Green) wiederum wäre keines ohne das Wissen um #MeToo, aus dem der Plot dieses Spielfilms seinen Subtext der unfreiwilligen Komplizenschaft bezieht; und wenn das Format der Serie oder Sitcom den Figuren Maude, Frasier oder Saul
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eine dauerhafte Verselbstständigung ermöglicht, ist ihre Karriere doch eine, die zunächst auf der Folie einer anderen Serie oder Sitcom lanciert wird. Konkret bedeutet das: Nebenfiguren sind relational. Und zwar auch dort, wo sie sich scheinbar aus dem Kontext ihrer Marginalisierung emanzipieren. Als Nebenfiguren sprechen sie, wenn sie gefragt werden; sie handeln, wenn sie den Auftrag dazu erhalten; sie sind dort zu finden, wo sie hingeschickt werden; sie figurieren als Teil einer Umgebung oder eines Inventars; und wo sie ohne Aufforderung agieren oder intervenieren, ist dies fast immer als ein Akt der Transgression markiert. Als Hauptfiguren wiederum, zu denen sie von Fall zu Fall gemacht werden, sprechen, handeln, intervenieren sie nur auf den ersten Blick als eigenständige Instanzen, während die unhintergehbare Relationalität ihres Auftritts darin erkennbar wird, dass er auf den Kontext von Hamlet, Lear, Schwanensee, Dr. Jekyll, die WM oder den Skandal (#MeToo) bezogen bleibt. Eine Beobachtung aus Roland Barthes’ Bemerkungen zur Fotografie: dass bestimmte Artefakte dadurch gekennzeichnet seien, dass sie »nicht richtig abbinden«12, ist folglich auch zur Beschreibung jener Figuren zweiter, dritter, vierter Klasse verwendbar, die aus kanonischen oder populären Szenarien ausgelöst und andernorts als scheinbar eigenständige Akteur:innen etabliert werden. Sie binden nicht ab. (Eine potenzielle Ausnahme: die Formate des seriellen Erzählens.) Sie bleiben der Vorlage verhaftet, da ihre zweite Karriere erst durch diese Verbindung ihre Pointe erhält und die perspektivische oder dramaturgische Revision, die durch das Upgrade hergestellt werden soll, außerhalb der relationalen Existenz nicht als solche erkennbar wäre. Protagonismus
Ein zweites Kennzeichen der Upgrades von Nebenfiguren: In den meisten, wenngleich nicht allen Fällen läuft die entsprechende Aufwertung darauf hinaus, ein relativ konservatives Programm der Figurenbehandlung zu aktivieren. Zu diesem Programm gehören die Prinzipien der Psychologisierung, die Ausstattung der Figur mit einer Backstory (inklusive Backstory Wound13), die Idee von Agenda und Motivation sowie die Implementierung einer Entwicklungsdramaturgie, die dem etablierten Schema von Exposition, Konflikt, Krise, Retardierung und schließlich Katharsis oder Katastrophe entspricht. Simpler formuliert: Die Nebenfigur zu einem Objekt der Aufmerksamkeit zu machen, ist in den meisten der vorliegenden Bearbei-
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Protagonismus
Abb. 1: The Drama of Dressing: The Dresser (1983), Screenshot
tungen gleichbedeutend damit, sie zum Zentrum eines Dramas zu machen, das nach eingespielten Prinzipien und aus bekannten Elementen zusammengesetzt ist (Abb. 1). Das lässt sich (im Schnelldurchlauf) an dem Trailer zur ersten Adaption von The Dresser studieren:14 jenem Drama Ronald Harwoods, das davon handelt, wie ein erschöpfter, aber entschlossener Garderobier den ebenfalls erschöpften und sehr erratisch agierenden Prinzipal einer reisenden Theatergruppe an einem Abend im Kriegsjahr 1942 erst auf die Bühne expediert und danach für die Dauer der 272. Vorstellung von König Lear weiter im Spiel hält. Die Handlungen auf und hinter der Bühne sind dabei, den Konventionen des Theaterfilms entsprechend, spiegelbildlich organisiert. Zwei Mal das Spiel von Herren und Knecht (König und Narr), zwei Mal eine Geschichte von Abhängigkeit und Loyalität. Zwei Mal Herrschaftsanspruch, zwei Mal ein Schauspiel von körperlicher Hinfälligkeit; und zwei Mal die Ahnung, dass die Kopräsenz dieser Motive auf kein gutes Ende zusteuert. Was erzählt der Preview über The Dresser und über die Routinen, von denen das Upgrade einer vormaligen Nebenfigur (Lears Narr ist auch der Narr des Prinzipals) bestimmt ist? Deutlich erkennbar ist zunächst: Die Implementierung einer neuen, zweiten Hauptfigur (Lear bleibt in der Figur des gealterten Schauspielers sehr präsent), mit entsprechend viel Screentime innerhalb des Previews. Außerdem: die unabdingbare Relationalität der Handlung und der Mise en Scène,
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da die Interaktionen in der Garderobe als Variationen jenes Dramas konzipiert sind, das sich, geringfügig zeitversetzt, im Off auf der imaginären Theaterbühne abspielt. (Einem interessanten Text über die Organisation des Off folgend, wäre diese imaginäre Bühne als »ein Nebenan« zu bezeichnen.15) Und ebenso: die visuellen Operationen der Singularisierung und Fokussierung einer Figur, deren Pendant in König Lear nur einen einzigen wichtigen Auftritt hat, um im letzten Akt der Tragödie ohne viele Umstände entsorgt zu werden.16 Mit den Operationen der Singularisierung unmittelbar verbunden ist die Dramatisierung von Tätigkeiten, die in einer anderen Perspektive schlicht zur Jobbeschreibung eines Garderobiers gehören würden: Schminken, Frisieren, Ankleiden, die Bereitstellung von Requisiten und der begleitende Smalltalk, kurz: die Präparation des Bühnenschauspielers für dessen Auftritt, und später die gegenläufigen Tätigkeiten, in denen die Bühnenfigur und ihr Darsteller wieder separiert werden. Und als gelte es, einen geordneten Ablauf der dramatischen Aufladung zu sichern, bleibt die Handlung an jenem klassischen Schema orientiert, das sich aus Exposition (Ankunft in der Theatergarderobe), Krise (Zusammenbruch des Prinzipals), Klimax (erster Bühnenauftritt des Prinzipals in der Rolle des Lear), retardierendem Moment (Spielpause) und Katastrophe (kein Spoiler an dieser Stelle17) zusammensetzt. Die Große Szene ist diesem Schema inklusive,18 inklusive der emotionalen Aufladung des Geschehens, die im letzten Auftritt des Garderobiers ihren Höhepunkt erreicht. In den Prinzipien der Aufwertung, der Singularisierung, der affektiven Ausstattung und nicht zuletzt in den großen oder kleinen Dramen um den Status der Nachrangigkeit artikuliert sich die Idee, die Marginalisierung der Nebenfigur einer Logik entsprechend zu korrigieren, in der Komplexität strikt als psychologische Komplexität begriffen wird und die Relevanz einer Figur konstitutiv mit dem protagonistischen Status verknüpft ist. Entsprechend ließe sich »Protagonismus« (offensichtlich: ein Neologismus) als dasjenige Prinzip benennen, das neben dem der Relationalität die Figurengestaltung in The Dresser (und analog in Ismene, Schwester von, in Mary Reilly, in The Assistant und in anderen Projekten des Upgrades) bestimmt. Zu den raren Werken, die sich an Nebenfiguren interessiert zeigen, zum Prinzip des Protagonismus aber eine distanzierte Haltung einnehmen, gehört neben Tom Stoppards Rosencrantz and Guildenstern auch Sophie Linnenbaums The Ordinaries (2022). Anders als Stoppard indes, dessen Stück in keinem Moment mit der
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Professionen
Option der psychologischen Profilierung befasst ist (stattdessen ließe es sich als eine Studie zur Beziehung von On- und Offstage bezeichnen19), gestaltet Linnenbaum eine dezidierte Parodie des protagonistischen Prinzips, das in diesem Film in eine Geschichte von Aufstiegswillen (Hauptfigur werden) und sozialer wie räumlicher Mobilität (raus aus dem Hintergrund, raus aus dem Wohnblock) konvertiert wird. Affektive Ökonomie (»Fühlen Sie noch mal«), mimetisches Begehren (»Mein Vater war eine Hauptfigur!«), der Imperativ der Psychologie (»Emotionen, Emotionen«) sind Motive, die bereits im Trailer verdichtet20 und im Verlauf des Films mit einer Studie der impliziten und expliziten Hierarchisierungen in filmbezogenen Produktionskulturen verknüpft werden.21 Professionen
Die periodische Singularisierung von Nebenfiguren hat Konsequenzen für ihre Beobachtung, insofern das Spotlight, das auf sie gerichtet wird, weitgehend jene Funktionen ausblendet, die sie innerhalb des jeweiligen Handlungszusammenhangs einnehmen. Anders formuliert: Als psychologisch profiliertes Stand-alone absorbiert die Nebenfigur genau jene Aufmerksamkeit, die ansonsten darauf verwendet werden könnte, zu untersuchen, wie sie innerhalb des Betriebssystems agiert, das durch den jeweiligen Film, die jeweilige Inszenierung, Serie, Sitcom oder den jeweiligen (Dramen-)Text konstituiert ist. Die Nebenfiguren sind Teil dieses Systems. Mehr noch: Sie sind vermutlich diejenigen Figuren, die das System am Laufen halten, da sie sich, deutlich mehr als die Hauptfiguren, zwischen verschiedenen Positionen und verschiedenen Stufen der Signifikanz bewegen. Nebenfiguren vermitteln zwischen On und Off; sie verfügen über die Eigenschaft, binnen Sekunden aktiviert und deaktiviert werden zu können; sie verändern ihren Status im Verlauf einer Film- oder Bühnenhandlung mehr als einmal; und sie unterhalten zu den Umgebungen, in denen diese Handlungen angesiedelt sind, eine sehr variable Beziehung, die von der Einfügung in das Dekor bis zum profilierten Auftritt reicht, wenn die Nebenfiguren in Interaktion mit denjenigen treten, die sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befinden. (In der lakonischen Beobachtung Juliane Vogels: »Erst im aktiven Hervortreten wird der Eindruck von ›unwiderruflicher Präsenz‹ und lebendiger Gegenwärtigkeit erzeugt, der […] zum Seinsnachweis taugt.«22)
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Eine Untersuchung von Nebenfiguren, die an diesen Aspekten interessiert ist, könnte sich unter anderem mit den Professionen befassen, die es ermöglichen, ihre Aktivitäten und ihre Funktionen zu plausibilisieren. Die Dresser im Kino der Backstage sind exemplarische Akteur:innen, die als moderne Version von Diener- und Assistenzfiguren23 zugleich Arbeit innerhalb der Filmhandlung und Arbeit innerhalb des jeweiligen Repräsentationssystems verrichten. Wie sich an ihnen studieren lässt, impliziert die simple Aufgabe, Türen zu öffnen und zu schließen, Nachrichten entgegenzunehmen, die Minuten bis zum Auftritt anzusagen, wartend herumzusitzen, heißes Wasser und Handtücher zum Abschminken zu reichen etc. mit Blick auf Raumordnungen auch: Grenzsetzungen geltend zu machen (oder diese aufzuheben), die Aufteilung von Zonen und Sphären präsent zu halten, Blickregime zu befestigen (im Kino der Backstage etwa: außen/innen, zugänglich/unzugänglich, geöffnet/verdeckt), Transitionen zu befördern oder zu verhindern. Und hinsichtlich der Zeitordnungen: Zäsuren zu setzen; Ordnungen des Vorher und Nachher zu evozieren, Repetitionen und Routinen anzudeuten, Zwischenzeiten intelligibel zu machen und narrative Übergänge als raumzeitliche Bewegungen zu modellieren. So betrachtet, gehören die Garderobieren und Garderobiers zu den Professionen, deren Aktivität innerhalb des Erzählkinos immer auch darauf ausgerichtet ist, Abläufe zu befördern und zu sichern und mit den Abläufen die Zusammenhänge, die durch sie konstituiert werden. Dasselbe gilt für die Dienstboten, Sekretärinnen, Angestellten, Handlanger, Personal Assistants, die quer durch die Filmgeschichte agieren (und zuvor, in älteren Versionen der dienenden Profession, durch die des Theaters). Dass in diesen Figuren Rolle und Funktion, erzählte und dramaturgische Dienstbarkeit sowie explizite und implizite Instrumentalisierung verschränkt sind, ist eine der Prämissen, die der Tagung »Nebenfiguren« zugrunde lagen. Und es spricht manches dafür, sie mit der Frage zu verbinden, ob es sich bei diesen Akteur:innen vielleicht um Funktionen handelt, die als Figuren verkleidet sind. Placing Birdie Coonan
Nebenfiguren befestigen Handlungszusammenhänge. Und sie rücken sie auf je spezifische Weise in den Blick. Die simple Beobachtung, dass Raumordnungen auf der Leinwand (oder: auf der Bühne, auf dem Display) stets auch als Blickordnungen konzipiert sind,24 wäre für die Nebenfigur in die Hypothese zu übersetzen, dass ihre
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Placing Birdie Coonan
Positionierung in einer Einstellung oder Szene unmittelbar Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Szenarios haben kann. Das betrifft den Schauplatz (im Kino der Backstage: Garderoben, Korridore, Hinterbühnen, gelegentlich Bühnen oder Auditorien sowie, immer wieder, Räumlichkeiten außerhalb des Theaters). Es betrifft aber auch die Vorgänge, die sich auf diesen Schauplätzen abspielen; die Konstellationen der Filmfiguren, die dorthin gestellt sind; die Beziehungen, die sich zwischen diesen aufbauen; und die Entwicklungen, die vor der einen Kulisse vorbereitet und vor einer anderen fortgesetzt werden. Wenn es in der Geschichte der Dresser eine Figur gibt, an der dieses Potenzial, den Blick auf spezifische Weise zu beeinflussen, besonders augenfällig in Szene gesetzt worden ist, so ist dies Birdie Coonan in Joseph L. Mankiewiczs All About Eve (1950; nach der Kurzgeschichte The Wisdom of Eve von Mary Orr). All About Eve, das wäre voranzustellen, ist ein Film, der in den ersten und in den letzten Minuten innerhalb der Rahmenhandlung ostentativ damit befasst ist, Figuren ins Bild zu holen und sie dann wieder an den Rand (oder gleich ins Off) abzudrängen, den Fokus wiederholt von einer Figur auf eine andere zu verlagern und mithilfe von Positionierung und Repositionierung auch den Blick auf das Geschehen zu verändern. Zudem entwickelt er aus den Zuständen der Unsichtbarkeit, Sichtbarkeit und
Abb. 2: Meeting Birdie Coonan: All About Eve (1950), Screenshot
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Undurchsichtigkeit eine ziemlich intrikate Partitur und kommuniziert bis zum Ende weder eindeutig, auf welche Figur das empathische Interesse eigentlich zu richten wäre, noch in wessen Blick sich die interpretative Autorität innerhalb des Geschehens verkörpert. Vielmehr definiert er die entsprechenden Instanzen situativ. Und involviert dabei mit Birdie Coonan auch eine Figur, die kein Teil des zentralen Dreiecks aus Beobachtung und mimetischem Begehren ist, das von den Hauptfiguren Eve, Margo und Karen gebildet wird. Birdie Coonan ist Garderobiere, genauer: Sie ist die Garderobiere, das Dienstmädchen sowie, von Fall zu Fall, die Vertraute der Schauspielerin Margo Channings und in allen drei Funktionen ein wichtiger Bestandteil der ersten Garderobenszene in All About Eve, die eine ultrapräzise Partitur aus Bewegungen, Gesten, Sätzen, Positionierungen und Ausrichtungen des Blicks darstellt (Abb. 2). In dieser Partitur ist die Mise en Scène der Garderobiere so organisiert, dass sie auf der einen Seite in zahlreichen Einstellungen anwesend ist, auf der anderen Seite jedoch ständig in den Hintergrund oder an den Rand des Frames manövriert wird. Diese Manöver werden nicht weiter auffällig, da der Fokus sich auf das verbale Sparring richtet, das zwischen den anderen Figuren im Zentrum der Einstellungen stattfindet. Und sie werden weiter eskamotiert durch den sehr betonten Wiedereintritt Eves in die Filmhandlung, nachdem die Titelfigur für einige Minuten vor der Garderobentür und damit im Off positioniert war. (»I thought you had forgotten about me.«25) Aufmerksamkeit für die Bewegungen der Garderobiere entsteht erst in dem Moment, in dem sie selbst ziemlich harsch ins Off verwiesen wird. (»I’m sure you must have things to do in the bathroom, Birdie dear.«26) Und sie aktualisiert sich durch ihre Rückkehr ins Bild, die etwas umständlich verläuft und in einer Einstellung endet, die den Schauplatz Theatergarderobe als einen Theaterraum rekonfiguriert: eine Zone als Auftrittsort (Eve), eine Zone als Auditorium (Margo, Karen, Lloyd), dazu ein etwas abgesetzter Stehplatz, auf dem die Garderobiere positioniert ist (Abb. 3). Choreografisch erfolgt also eine Depotenzierung der Nebenfigur, dann eine kurzfristige Ausweisung und schließlich eine Rückführung ins Bild. Mit der Rückführung verbunden ist eine dezidiert randständige Platzierung, die zugleich eine Schließung und eine Öffnung der Szene bedeutet. Denn wenn in dem Moment, in dem Birdie Coonan ihren Stehplatz innerhalb der neuen Raumordnung erreicht hat, der Monolog der Titelfigur beginnen kann, dann wird im selben Zug, durch die Veränderung der Perspektive, signalisiert, dass
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Placing Birdie Coonan
Abb. 3: Placing Birdie Coonan: All About Eve (1950), Screenshot
dieser Monolog als ein Auftritt, Act, Rollenspiel zu betrachten sei, in dem die Titelfigur für den Blick der anderen Figuren performt. Der Garderobiere, die kommt und geht, sich meist im Hintergrund aufhält und mit einem Satz des Ortes verwiesen werden kann, bleibt hier nicht viel mehr zu tun, als am Blick auf die Performance Eves zu partizipieren. Aber sie ist zugleich die einzige Figur, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Szenarios platziert ist, sowohl in der ersten als auch in der zweiten Ordnung des Beobachtens engagiert27 und in eine Position gerückt, die es erlaubt, sowohl den Auftritt auf der anderen Seite der Einstellung zu studieren als auch die Reaktion derjenigen, an die sich Eves Act in erster Linie richtet. »She’s studying you«28, sagt Birdie Coonan etwa zehn Filmminuten später. Als gelte es, ihr Vermögen, die Blickbeziehungen der anderen im Blick zu behalten, noch einmal kenntlich zu machen. Oder als müsste daran erinnert werden, dass die Nebenfiguren, denen nicht viel Macht gegeben ist, den Verlauf einer Handlung zu lenken, immerhin darauf einwirken können, wie dieser Verlauf wahrgenommen wird und mit ihm diejenigen, die sich durch die Handlung bewegen. Sie studiert Dich. Und ich, Birdie Coonan, habe studiert, wie sie Dich studiert, und kann darauf hinweisen, dass die rege Blickaktivität der Figur Eve Harrington als eine Form des Studiums, auch: der Auswertung, zu beschreiben ist.
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Disappearing Birdie Coonan
Der Satz über die Beobachtung der Beobachtenden ist einer der letzten, die das Drehbuch für Birdie Coonan vorsieht. Die meisten hat sie gleich in ihrer ersten Szene, danach hin und wieder einen weiteren, während sie dabei zusieht, wie ihre Zuständigkeiten (Kommunikation, Koordination) sukzessiv von Eve appropriiert werden. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Nicht für Warnungen, die über die Blickverhältnisse in der Konstellation von All About Eve aufklären könnten; nicht für Hinweise, die sich auf den appropriativen Ehrgeiz der Titelfigur richten; und erst recht keine, um sich weiter mit jener Figur zu befassen, die für kurze Zeit in die Position derjenigen gesetzt war, die mehr (und besser) sieht als alle anderen. Nach der ersten Szene (Backstage, Theatergarderobe, Eintritt von Eve in die innere Welt des Theaters) wird die Figur Birdie Coonan noch sechs Mal auftreten. Einmal in einer häuslichen Szene, in der Eve ihr auf dem Weg zum Telefon zuvorkommt und sie auf diese Weise literal von der Kommunikation abschneidet. Einmal, wenn sie über ihre Beobachtungen zweiter Ordnung spricht. Einmal in einer weiteren Garderobenszene, in der Eve eine Aufgabe an sich zieht, die sonst in die Zuständigkeit der sogenannten »Wardrobe Women« fällt.29 Einmal in der spezifischen Funktion der Garderobiere, als sie der Schauspielerin dabei behilflich ist, sich für eine Party anzu-
Abb. 4: Disappearing Birdie Coonan: All About Eve (1950), Screenshot
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Disappearing Birdie Coonan
kleiden, und zwei Mal im Verlauf derselben Party, in jener generischen Funktion der Nebenfiguren, die darin besteht, Objekte (hier: ein Serviertablett, Gläser, ein Pelzmantel) durch eine Einstellung oder von einem Schauplatz zum nächsten zu befördern. In Ausübung dieser Funktion erscheint sie in der Filmminute 55 erst in einem Schlafzimmer, dann auf einer Treppe, auf der mehrere der Filmfiguren Platz genommen haben. Und auf dieser Treppe wird sie zum letzten Mal gesehen werden, bevor sie die Einstellung, etwas umständlich, durch den rechten Bildrand verlässt (Abb. 4). Zum letzten Auftritt von Birdie Coonan wäre Verschiedenes anzumerken. Zum Beispiel, dass er jenen Auftritt evoziert, der die Garderobiere gegen Ende der ersten Flashback-Szene in die Einstellung und damit in die Handlung zurückführt. (Einige Parameter: die Gesprächsgruppe, der Monolog einer jungen Schauspielerin, die mühsame Bahnung eines Weges vorbei an denjenigen, die bereits im Bild installiert sind, finden sich hier wie dort.) Oder die Tatsache, dass der Auftritt diesmal in die entgegengesetzte Bild- und Blickrichtung verläuft (nach rechts, von wo in der frühen Szene der Wiedereintritt erfolgt ist). Oder die, dass die konventionelle Funktion der Garderobiere, Kleidungsstücke bereitzustellen, in dieser Einstellung gänzlich restituiert scheint, die Figur indes vollkommen verstummt ist. All About Eve ist ein sorgfältig konstruierter Film, jede Szene ein klug arrangiertes Tableau und jede Korrespondenz genau kalkuliert. Aber vor und nach allen Details, die den letzten Auftritt von Birdie Coonan kennzeichnen, ist vor allem eines bemerkenswert: die bestürzende Beiläufigkeit, mit der diese Figur aus dem Film von Mankiewicz verschwindet, 80 Minuten vor dem Ende und ohne nach ihrem Abgang auch nur einmal erwähnt zu werden. »Und Rosenkranz und Güldenstern sind tot«30, heißt es in Hamlet, »[M]ein armer Narr ist erhängt”31 in Lear und »Signor Ugarte ist tot”32 in dem Film Casablanca (1942, Michael Curtiz), wenn es darum geht, über den Verbleib der entsprechenden Figuren Auskunft zu erteilen. Es gibt Nebenfiguren, deren Verschwinden nicht zu managen ist, ohne das entsprechende Skript um wenigstens eine Zeile zu ergänzen. Aber für jede Nebenfigur, deren Abwesenheit (Tod, Abschied, Platzverweis) retroaktiv durch einen Satz oder zwei erklärt wird, existieren zehn, 20 oder mehr, die von der Bildfläche oder von der Bühne verschwinden, ohne dass dies kommentiert oder wenigstens durch einen Halbsatz markiert würde. Nebenfiguren, auch das lässt sich aus den sieben Auftritten von Ms Birdie Coonan lernen,
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sind Verbrauchsware. Teil des Betriebssystems, das ja. Figuren von punktueller Signifikanz, das auch. Im Spiel bleiben sie indes gerade so lange, wie das System, das aus einem Plot, Auftritten, Konflikten, Zäsuren und Entwicklungen besteht, der jeweiligen Figur bedarf. Danach treten andere auf (in All About Eve etwa der Theaterproduzent Max, der in genau jener Episode zum ersten Mal etwas mehr Text und Screentime erhält, in der die Garderobiere zum letzten Mal durch das Bild läuft). Und würde eine Figur vermisst oder nach ihrem Verbleib gefragt, wäre dies vermutlich ein Zeichen dafür, dass etwas falsch kalkuliert ist: Sichtbarkeit und ihre Verteilung; dramaturgische Umbrüche und ihre Dauer; die Machinationen, die über die Verlagerung von Aufmerksamkeit entscheiden; all dies in der sehr begrenzten Zeit, in der ein Film die Auftritte und Abgänge seiner Figuren anordnet. Unter den Perspektiven, in denen die dramaturgische Verwendung der Nebenfigur zu studieren wäre, ist dies vielleicht die interessanteste; die melancholischste ist es gewiss. Nicht der erste Auftritt, sondern der letzte; nicht die Einsätze, sondern der Moment, nach dem kein Einsatz mehr erfolgt. Nicht die One-Liner und die Screentime, sondern die zahllosen Akte des Verschwindens, die irgendwann im Verlauf eines Films stattfinden und allenfalls retrospektiv zur Kenntnis genommen werden.33
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Diekmann, Stefanie: Backstage – Konstellationen von Theater und Kino, Berlin 2013. Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989, S. 110 – 111. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler: Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S. 52. Zur Blicklenkung durch nachgeordnete Figuren vgl. v. a. den Abschnitt »Ancilla narrationis«, S. 33 – 38, sowie »Nebenräume und Hinterräume: Diener und Mägde«, S. 51 – 57. Vgl. ebd., S. 35. Einige Publikationen aus den letzten 20 Jahren: Robertson Wojcik, Pamela: »Typecasting”, in: Criticism 45 (2003), H. 2, S. 223 – 249; Willemsen, Paul/ Trummer, Thomas (Hrsg.): Actors and Extras, Brüssel 2009; Segrave, Kerry: Extras of Early Hollywood. A History of the Crowd, 1913 – 1945, Jefferson, London 2013. 1965/66 hat Orson Welles für den Film Chimes at Midnight/Falstaff die einschlägigen Auftritte und Erwähnungen in den Stücken Shakespeares in ein Skript überführt. Ansonsten wird die Figur ihre Karriere vor allem innerhalb der Oper fortsetzen, von einigen Film- und Fernsehadaptionen abgesehen. Tatsächlich ist The Dresser nicht nur die Paraphase einer zentralen Figurenkonstellation aus König Lear, sondern auch die einer Bemerkung André Bazins über den Status der Backstage: »Jedermann weiß, daß [sic] der Schauspieler, der sich – aus Hof oder Garten – ›in seine Gemächer zurückzieht‹, in Wirklichkeit in seine Garderobe geht, um sich abzuschminken«. Vgl. Bazin: »Theater und Film«, in: ders. Was ist Film?, hrsg. v. Robert Fischer, Berlin 2004, S. 162 – 230, hier: S. 191 – 192.
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Die intermediale Karriere dieser Figur, die in Der Sturm als horrible Gestalt gezeichnet wird, ist ein Phänomen für sich. Neben einem sehr umfangreichen literarischen Nachleben (Robert Browning, Arnold Zweig, Arno Schmidt, um nur einige zu nennen) sind Auftritte gleichnamiger Akteure in Comics (The X-Men (1963 –)), Serien (Huntik (2009 – 2011), Penny Dreadful (2014 – 2016)), den Titeln von Musikstücken (Caliban’s Dream) und Bandnamen sowie in Eröffnungszeremonien (Olympische Spiele London 2012) dokumentiert. Joey, der Versuch, 2004 und 2005 eine beliebte Figur aus der Sitcom Friends (1994 – 2004) zu reaktivieren, ist ein anderer Fall, da Screentime und Aufmerksamkeit in dieser Sitcom stets relativ ausgeglichen zwischen den Friends verteilt waren. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Lukas Foerster, »The Ghost, The Voice, The Faceless. Die nicht-sichtbaren Nebenfiguren der Sitcom als Träger kontrollierter Kontingenz« (v. a. die Abschnitte »Sitcom-Visualität« und »Spielmaterial«), sowie Foerster: Sitkommunikation. Zur televisuellen und semantischen Struktur der Multikamera-Sitcom, Berlin 2023. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Christina Thurner, »Vorgerückt aus dem Hintergrund. Jérôme Bels Künstler:innenporträts«, der sich im ersten Teil ausführlich mit der Inszenierung Véronique Doisneau befasst. Barthes: Die helle Kammer, S. 13 – 14. Von Barthes wird die Formulierung verwendet, um die Diffusion zwischen dem Bild als Objekt und dem Bild als Motiv zu beschreiben, die nach seiner Darstellung für die Fotografie kennzeichnend ist. Zum Begriff der Backstory Wound vgl. den Eintrag im Online-Filmlexikon der Universität Kiel: https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/b:backstorywound-5928 [21. Februar 2024]. Die Previews (»Trailer«) der ersten und der zweiten Filmadaption finden sich in mehreren Versionen auf YouTube. Die Anmerkungen beziehen sich auf folgende Version: TheMFort: The Dresser 1983 Trailer, 22. Januar 2016, https:// www.youtube.com/watch?v=tZ7kZGSva4I [21. Februar 2024]; der Trailer zur zweiten Adaption ist u. a. hier abrufbar: DDF: Movie Day: The Dresser | English Full Movie | Drama Comedy, 13. November 2023, https://www.youtube.com/ watch?v=ZWs0oOMLp74 [21. Februar 2024]. Schäfer, Armin: »Nachrichten aus dem Off. Zum Auftritt im barocken Trauerspiel«, in: Vogel, Juliane/Wild, Christopher (Hrsg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin 2014, S. 216 – 232, hier: S. 216 – 217. »[A]nd my poor fool is hang’d«, sagt Lear, in einem Nebensatz, bevor sich sein Monolog wieder dem Tod Cordelias zuwendet. Shakespeare, William: King Lear/ König Lear (zweisprachige Ausgabe), V/3, Stuttgart 1973, S. 232. Kein Spoiler an dieser Stelle. Das Ende von The Dresser gehört nicht zu den geglückten Elementen des Dramas (oder der Filmadaptionen), aber da es von Harwood sowie den Regisseuren Peter Yates (1983) und Richard Eyre (2015) offensichtlich als Pointe begriffen wird, soll es nicht verraten werden. Zu Geschichte und Modellierung der »Großen Szene« vgl. Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2003, zum Gendering dieser Szene und ihrer Akteur:innen v. a. S. 146 – 150. Diesem Gendering korrespondiert die Beobachtung, dass die Figur des Dresser bei Harwood dezidiert als ›effeminiert‹ konzipiert wird. Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (viel mehr als die gleichnamige Filmadaption) ist ein Stück, das keinerlei Anstalten macht, die neuen Titelfiguren mit einem Profil auszustatten. Stattdessen handelt die Revision, der Hamlet in dieser Bearbeitung unterzogen wird, von Konstellationen: den Beziehungen von Onstage und Offstage, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Blick- und Raumordnungen und davon, wie das Verhältnis einer Bühnenfigur zur Bühnenhandlung räumlich organisiert ist. Vgl. Stoppard, Tom: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, London 1973. Der entsprechende Trailer findet sich auf YouTube: KinoCheck: THE ORDINARIES Trailer German Deutsch (2023) Exklusiv, 28. November 2022, https://www. youtube.com/watch?v=Apms0xu_jq0 [21. Februar 2024]. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Fabienne Liptay. »Figurationen im Film.
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Bemerkungen zu Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit«, v. a. die Beobachtungen zum Casting im Abschnitt »L’homme moyen«. Vogel: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, München 2018, S. 13 – 14. Eine besonders interessante Studie zur intersektionalen Markierung von Diener- und Assistenzfiguren (in diesem Fall: in der bildenden Kunst): Murrell, Denise: Posing Modernity: The Black Model from Manet and Matisse to Today, New Haven, London 2018. Vgl. Diekmann: Backstage, S. 43 – 75 (Kapitel »Die zwei Blicke«). All About Eve, 00:12:20. Ebd., 00:12:43. Zum Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 148 – 152, 173 – 179, 188 – 192. All About Eve, 00:34:15. Ebd., 00:29:40. Shakespeare: Hamlet (zweisprachige Ausgabe), V/2, Stuttgart 1984, S. 311. Shakespeare: König Lear, S. 233. (Vgl. Endnote 16) Casablanca, 00:54:00. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Dennis Göttel, »Nationalsozialcharaktermasken: zur Filmografie Rudolf Schündlers«, und die Beobachtungen über das Erscheinen und Verschwinden der Nebenfigur in Abschnitt 2.
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Disappearing Birdie Coonan: Notizen zur Nebenfigur im Kino der Backstage
Verzeichnis der Autor:innen Friedrich Balke ist Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Er leitet das DFG-Graduiertenkolleg 2132 »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug« und ist Co-Sprecher des »College for Social Science and Humanities« der Research Alliance Ruhr; Publikationen u. a.: Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas (hrsg. mit Rupert Gaderer), Göttingen 2017; Mimesis zur Einführung, Hamburg 2018; Durchbrochene Ordnungen. Das Dokumentarische der Gegenwart (hrsg. mit Oliver Fahle und Annette Urban), Bielefeld 2020. Stefanie Diekmann ist seit 2012 Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim und war zuvor Professorin für Medien und Theater an der LMU München. Gastprofessuren u. a. an der Aix-Marseille Université, der Université Paris 8 und der University of Texas in Austin; Fellowships u. a. am IKKM Weimar und am IFK der Kunstuniversität Linz in Wien. Neuere Publikationen u. a.: Die Attraktion des Apparativen (hrsg. mit Volker Wortmann), Paderborn 2020; Artist Meets Archive (hrsg. mit Esther Ruelfs), Wien 2022; in Vorbereitung sind eine Monografie zum Interview im Dokumentarfilm und eine zu Nebenfiguren, die in der Reihe des IFK bei Turia & Kant erscheinen wird. Lukas Foerster lebt in Köln und arbeitet als freier Medienwissenschaftler und Filmkritiker. Studium der Filmwissenschaft und der Japanologie an der Freien Universität Berlin, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zu film- und fernsehwissenschaftlichen Themen. Seine Dissertationsschrift Sitkommunikation. Zur televisuellen und semantischen Struktur der Multikamera-Sitcom ist 2023 bei Kadmos erschienen. Dennis Göttel ist Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor war er Juniorprofessor für Geschichte und Geschichtsschreibung technischer Bildmedien an der Universität zu Köln. Seit 2022 leitet er das DFG-Projekt »Frühgeschichte des Making-of-Films: Produktionskulturen des Kinos in Drehberichten des westdeutschen Fernsehens«. Publikationen u. a.: »Televisuelle Drehberichte zu Viscontis deutscher Trilogie: Produktionsöffentlichkeit und Dekadenz«, in: Jörg Döring und Niels Werber (Hrsg.): Paratexte des Populären, Berlin [in Vorb.]; Im Vorraum. Lebenswelten Kritischer Theorie um 1969 (hrsg. mit Christina Wessely), Berlin 2019. Martin Jehle ist Filmemacher und Dozent für Filmgeschichte, Filmpraxis und Filmästhetik. Als Regisseur, Autor und Kameramann arbeitet er für seine Produktionsfirma Anachrom. Seine Kurzfilme wurden auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und ausgezeichnet. Seine Dissertation Ungeschnitten. Zu Geschichte, Ästhetik und Theorie der Sequenzeinstellung im narrativen Kino erschien 2020 im Schüren Verlag. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit an der Stiftung Universität Hildesheim ist er seit 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg und organisiert den Marburger Kamerapreis und die Marburger Kameragespräche. Wolfgang Kemp ist Kunsthistoriker und lehrte an der Universität Hamburg bis 2011. Veröffentlichungen mit Schwerpunkt auf Narratologie: Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, 1987; Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen, 1996; Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, 1996; Von Gestalt gesteigert zu Gestalt. Hokusais 100 Ansichten des Fuji, 2006. Robin Klengel studierte Kulturanthropologie an der Universität Graz. Er lebt und arbeitet als Künstler und Filmemacher in Wien und Graz. Er ist seit 2018 Gründungsmitglied von Total Refusal und seit 2022 leitet er das Kulturzentrum Forum Stadtpark in Graz. Gemeinsam mit dem Kollektiv veröffentlichte er Texte, u. a.: »Cosplaying Agency – Videospiele als Selbstermächtigungsutopien« in einem Sammelband zu Kritischen Spielstudien, Bielefeld 2024.
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Verzeichnis der Autor:innen
David J. Levin ist Inhaber des Alice H. und Stanley G. Harris Distinguished ServiceLehrstuhls für Germanistik, Film- und Medienwissenschaft sowie Theater- und Performance-Wissenschaften an der University of Chicago. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Ästhetik und Politik der Aufführung in Oper, Theater und Kino. Gastprofessuren führten ihn an die Freie Universität Berlin sowie an die Universitäten ErlangenNürnberg, Konstanz, Oslo und Mainz. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit hat er als Dramaturg und Mitarbeiter für Opern-, Theater- und Ballettproduktionen in Deutschland und den USA gearbeitet, u. a. mit Robert Altman, Ruth Berghaus und William Forsythe. Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich (seit 2014). Sie leitet das Forschungsprojekt »Exhibiting Film: Challenges of Format« (2017 – 2021, 2022 – 2026), das einen Exzellenzbeitrag des Schweizerischen Nationalfonds erhielt. Zu ihren Publikationen gehören die Monografie Telling Images. Studien zur Bildlichkeit des Films (Zürich, Berlin 2016) sowie die von ihr mitherausgegebenen Bücher PostProduktion. Bildpraktiken zwischen Film und Fotografie, Marburg 2023, und Taking Measures. Usages of Formats in Film and Video Art, Zürich 2023; »Der statistische Komplex«, in: Politische Ikonographie heute 50, 2022, H. 3; »Just Numbers. From Extras to Agents of an Uncountable Community«, in: Crisis and Communitas. Performative Concepts of Commonality in Arts and Politics, London 2023. Bettine Menke ist Professorin em. für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Erfurt. Aktuelle Publikationen im Umfeld des Themas des vorliegenden Bandes: »Maschine und Melodram. Wie Tiecks Der gestiefelte Kater das Theater vorführt«, in: Theatermaschinen – Maschinentheater. Von Mechaniken, Machinationen und Spektakeln (hrsg. mit Wolfgang Struck), Bielefeld 2022; »Der komische Chor – das Chorische der ›komischen Person‹«, in: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 98 (2023), H. 2; »Gesture and Citability: Theater as Critical Praxis«, in: Beate Söntgen et al. (Hrsg.): Critical Stances. The Stakes of Form, Berlin 2020; Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden (hrsg. mit Juliane Vogel), Berlin 2018; »On/Off« und »Suspendierung des Auftritts«, in: Juliane Vogel und Christopher Wild (Hrsg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin 2014. Leonhard Müllner studierte Kunst in Linz, Leipzig und Wien. 2023 schloss er seine Doktorarbeit bei Prof. Dr. Helmut Lethen zur Verbindungsachse von Game Studies und Game Art ab. Er ist seit 2018 Gründungsmitglied von Total Refusal und lehrt Erzähltheorie an der Kunstuniversität Linz. Gemeinsam mit dem Kollektiv veröffentlichte er Texte, u. a.: »Cosplaying Agency – Videospiele als Selbstermächtigungsutopien« in einem Sammelband zu Kritischen Spielstudien, Bielefeld 2024. Katja Schneider ist Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Publikationen (Auswahl): Tanz und Text. Zu Figurationen von Bewegung und Sprache, München 2016; »Wie stehen? Ein Vorschlag zur Kombination von Tanz- und Bewegungsanalyse mit Kontextualisierungs- und Referenzialisierungsstrategien«, in: Christopher Balme und Berenika Szymanski-Düll (Hrsg.): Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020; »Choreographien in/der Distanz. Affizierung im Transit«, in: Johanna Zorn (Hrsg.): Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung, Tübingen 2023 (= Forum Modernes Theater, 34,1). Alexander Streitberger ist Professor für moderne und zeitgenössische Kunst am Kunsthistorischen Institut der UCLouvain (Belgien). Als Direktor des Lieven Gevaert Research Centre for Photography, Art and Visual Culture (LGC) ist er Mitherausgeber der Lieven Gevaerts Series. Forschungsschwerpunkte: Sprachtheorie in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Konzeptuelle Kunst, Fotografie und Intermedialität, Panorama und zeitgenössische Bildkultur. Jüngste Veröffentlichungen: Psychical Realism. The Work of Victor Burgin, Leuven 2020; The Grid. Trame, grille, matrice, Brüssel 2023.
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Verzeichnis der Autor:innen
Christina Thurner ist Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Tanzgeschichte und -ästhetik (17. – 21. Jahrhundert), Historiografie, Tanzkritik und Autobiografieforschung. Publikationen mit thematischem Bezug zum vorliegenden Band: Rhythmen in Bewegung. Äußere, eigene und verkörperte Zeitlichkeit im künstlerischen Tanz, Hannover 2017; »Die Stimme erhoben. ›Ich‹ – Sagen und Autorschaft in den Tänzerporträts von Jérôme Bel«, in: Anne-May Krüger und Leo Dick (Hrsg.): Performing Voice. Vokalität im Fokus angewandter Interpretationsforschung, Büdingen 2019. Juliane Vogel ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft, Universität Konstanz. Gastprofessuren an der LMU München, University of Chicago, Johns Hopkins University und NYU; Forschungsaufenthalte am IFK Wien, an der UC Berkeley, am Kulturwissenschaftlichen Kolleg (Konstanz), am Forscherkolleg »Bildevidenz« (FU) und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 2020 wurde ihr der Leibnizpreis der DFG zuerkannt. Sie ist Sprecherin des von der Stiftung Nomis geförderten Forschungsprojekts »Traveling forms« und Leiterin der Forschungsstelle »Formtheorie und historische Poetik«. Publikationen (Auswahl): Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2002; Epiphanie der Form. Goethes »Pandora« im Licht seiner Form- und Kulturkonzepte (hrsg. mit Sabine Schneider), Göttingen 2018.
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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980–2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990–2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977–2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007
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Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
Recherchen 93
Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992–2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig
125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960–2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)
Recherchen 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der Abwesenheit . Texte zum Theater . Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I 163 Charlotte Wegen – Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion . Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 164 Theresa Schütz – Theater der Vereinnahmung . Publikumsinvolvierung im immersiven Theater 165 Benjamin Wihstutz, Daniele Vecchiato und Mirjam Kreuser – #CoronaTheater . Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie 166 Dazwischengehen! . Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik 167 Dramatisch lesen . Wie über neue Dramatik sprechen? 168 Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst . Theater Aktion Performance 169 Wir waren die Müller-Spieler . Hermann Beyer, Michael Gwisdek, Dieter Montag über die Kunst des Schauspielens in der DDR 170 Tropen des Kollektiven . Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater 171 Nebenfiguren
Die Nebenfigur ist keine Nebensache, aber das bedeutet nicht, sie zur heimlichen Hauptfigur zu erklären. Stattdessen gilt das Interesse dieses Bandes der Frage, welche Funktionen Nebenfiguren innerhalb einer Handlung, einer Partitur, eines Tableaus oder einer Szenografie einnehmen und wie die Wahrnehmung des Auftrittskontexts durch ihre Anwesenheit beeinflusst wird. Nebenfiguren werden innerhalb von Konstellationen etabliert und ihrerseits eingesetzt, um Konstellation zu modellieren: als Respondierende oder Kommentierende, als Instanzen der Intervention und immer wieder als Instanzen des Blickes. Sie konstituieren sich relational, sekundär und als Effekt einer Betrachtung, die nicht auf solitäre Akteure, sondern auf eine je spezifische repräsentationale Ordnung gerichtet ist, an der Nebenfiguren durch ihre Auftritte Anteil haben.
978-3-95749-525-9 tdz.de