Frank-M. Raddatz: Das Drama des Anthropozäns

Page 1

Das Drama des Anthropozäns Frank-M. Raddatz

„Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht. Die kulturelle Neuordnung wird allein durch die unhintergehbare Tatsache, dass das Klima wie die Weltmeere nicht an den nationalen Grenzen Halt macht, die globale Zukunft bestimmen.“

Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns

Wendungen


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 2

18.02.21 16:2


Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 3

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 4

18.02.21 16:2


Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns Mit einem Gespräch mit Antje Boetius und Hans-Jörg Rheinberger

Wendungen

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 5

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 6

18.02.21 16:2


Die Frage, warum ausgerechnet das Theater, das sich gerne als Seismograf preist, als mit unzähligen feinen Antennen ausgestattete, stets auf der Höhe der Zeit agierende Apparatur, mit dem Themenfeld der ökologischen Krise(n) seine Schwierigkeiten hat, ist leicht zu beantworten. Der Kosmos, den die Bühne eröffnet, ist vornehmlich sozialer Natur. Menschen geraten in – wodurch auch immer bedingten – Konflikten aneinander und verkörpern zugleich die mitunter tragische oder zwiespältige, jedenfalls zumeist nicht für alle Beteiligten gleichermaßen glückliche Lösung des Problems. Genau diese anthropozentrische Lesart der Welt steht in der Ära des Anthropozäns zur Disposition. Das Argument ist von einem stofflichen Ansatz zu unterscheiden, wie ihn etwa der Theaterregisseur Tobias Rausch vorbringt, der bezweifelt, dass sich „Naturphänomene wie zum Beispiel das Artensterben oder

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 7

7

18.02.21 16:2


Fluten, Dürren und Stürme zum bühnentauglichen Stoff machen“ (2019) lassen. Dem widerspricht, dass komplexe Geschehen wie Kriege seit Jahrtausenden von Aischylos, über Christoper Marlowe bis zu Heinrich von Kleist oder Bertolt Brecht dem Theaterspiel als Sauerteig dienen, ohne dass sich ein derartiger Inhalt abnutzt. Zudem besaß das antike Theater durchaus, wie das Tragödienmodell König Ödipus zeigt, die Möglichkeit, Erdbeben oder Pestausbrüche auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, mithin zu subjektivieren. Zwar sind auch heute, wie der Name des anbrechenden Zeitalters besagt, die Verursacher des Anthropozäns in den Reihen der Hominiden zu suchen. Doch existiert momentan noch keine überzeugende theatrale Grammatik, die in Bewegung geratenen planetarischen Parameter – wie die Erderwärmung, den anhaltenden Verlust von Biodiversität, die schmelzenden Polkappen – in dramatische Kontexte zurückzubinden und als Folge von Handlungen bestimmter Figurengruppen darzustellen beziehungsweise in einzelnen psychischen Segmenten der Conditio humana festzumachen. Tektonische Verschiebungen auf dem Kontinent des Wissens bedingen, dass sich im Moment kaum ein Bogen von Euripides’ Tragödien, Shakespeares Königsdramen, den Trauerspielen des 18. Jahrhunderts, dem bürgerlichen und sozialistischen

8

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 8

18.02.21 16:2


Realismus oder dem Epischen Theater zu dem sich verdunkelnden Zeithorizont schlagen lässt, an dem Mächte ihre Regentschaft ankündigen, die vom über zehntausend Jahre herrschenden holozänen Klimaregime aus betrachtet vollkommen unberechenbar erscheinen. Wie Ödipus ist James Watt, als er 1783 das Rätsel der Optimierung der Dampfmaschine löste und das Tor zum Industriezeitalter mit seinem unersättlichen Hunger nach Kohle und fossilen Energieträgern aufstieß, vollkommen unschuldig dem Schicksal auf den Leim gegangen. Wie die antike Tragödie wird auch das Anthropozän von einer „Dramaturgie der Blindheit“ (Foucault 2020: 45) orchestriert. Als eine keineswegs intendierte Folge löst die schottische Erfindung eine katastrophale Entwicklung aus, sodass aufgrund dieses von Aristoteles’ Tragödientheorie hamartia genannten Fehlers die gesamte menschliche Spezies wenige Generationen später irreversibel aus dem holozänen Zeitfenster gestoßen wird. Aber man muss nicht auf die Antike rekurrieren, um hybride, aus Mensch und Geologie zusammengesetzte Konstruktionen, auf der Bühne zu entdecken. So findet sich in der neuzeitlichen Dramatik an äußerst prominenter Stelle platziert eine anthropogen induzierte Naturkatastrophe. Ein Sturm bespielt das erste Bild von William Shakespeares gleichnamigem Drama.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 9

9

18.02.21 16:2


Auch wenn Klaus Theweleit darauf hinweist, dass The Tempest jeder „Glaube an die Erfaßbarkeit […] durch lückenlose Datenerhebung“ (Theweleit 2020: 195 f.) abgeht, glaubt Rausch, dass die in Bewegung geratenen ökologischen Parameter „ein viel zu abstrakter, nur über statistische Häufungen und naturwissenschaftliche Vermittlungen zu beschreibender Gegenstand [seien], um ihn szenisch anschaulich zu erzählen“. Jede kompetente Beschreibung einer alarmierenden Entwicklung stellt auf der Bühne nichts anderes als einen Botenbericht dar, ganz gleich, ob er von den Schlachtfeldern der Geschichte oder aus der Welt der Wissenschaft stammt. Allerdings verzeichnen die Bühnen gegenwärtig nicht einmal ein vermehrtes Aufkommen von szientifisch grundierten Kassandra-Figuren. Ebenso wenig kann Rauschs Befund: „Eigentlich fehlt alles, was in Begriffen des Theaters als ‚Vorgang‘, ‚Konflikt‘ oder ‚Zuspitzung‘ zu beschreiben wäre“ angesichts der theatergeschichtlichen wie der empirischen Faktenlage zugestimmt werden. Wenn auch (noch) nicht auf der Theaterbühne, geraten die politischen Akteure doch nahezu tagtäglich bei der Debatte aneinander, wie ökologische Zielsetzungen mit ökonomischen Interessen korreliert werden sollen oder können. Dass diese Konfrontationen über kurz oder lang an Schärfe zunehmen dürften, scheint absehbar. Auch eine damit verbundene

10

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 10

18.02.21 16:2


politische Kontinentaldrift rückt immer stärker in den Bereich des Möglichen. Die Klimakatastrophe impliziert Konflikte von historischen Ausmaßen, welche die nächsten Generationen beschäftigen werden. Was heute emittiert wird, existiert noch in mehr als 120 Jahren, da es sich bei der Atmosphäre genauso wie beim Ozean um Speichermedien handelt, sodass die heute angestoßenen Transformationsprozesse Jahrhunderte in Anspruch nehmen werden. Evident geht mit dem anthropozänen Klimaregime ein neues Zeitregime einher, in dem sich die anthropozentrischen Skalierungen als inadäquat gegenüber den realen ökologischen Prozessen erweisen. Mag sich momentan auf der Ebene des Erscheinungsbilds noch nicht allzu viel geändert haben und lässt sich ein geschmolzenes Stück Arktis wohl kartieren, aber nicht betrachten, so handelt es sich überdies bei den anthropozänen Problemstellungen mitnichten um Fragen sinnlicher Evidenz. Diese Schwachstelle jedes Dokumentartheaters basiert auf der unumstößlichen Tatsache, dass der Augenschein seit dem 17. Jahrhundert, seit den Analysen von Astronomen und Physikern wie zum Beispiel Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, Galileo Galilei, längst nicht mehr die Basis des Weltverständnisses ist. Bereits 1931 konstatierte Brecht das Ende des Abbildungsrealismus: „Eine Photographie

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 11

11

18.02.21 16:2


der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute“ (Brecht 1967: 161). Dessen Renaissance resultiert aus dem Umstand, dass das Projekt Geschichte im 20. Jahrhundert an den Sandbänken einer breiten oder unendlichen Gegenwart strandete, die aber erweist sich mit dem Anthropozän als Phase eines historischen Übergangs. Im Anthropozän zeigt sich aufgrund von Simulationen, Messungen und Skalierungen der Wissenschaften, dass die Wetterereignisse nicht länger holozänen Charakter besitzen, sondern durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden und/oder sich verstärken. Nicht die Phänomene haben sich verändert, sondern die Kausalitäten. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass ein Unwetter nicht mehr der Immanenz der Erdgeschichte entspringt, sondern aus der Kreuzung der geologischen Entwicklung mit den Aktivitäten der erfinderischen menschlichen Spezies hervorgeht. Diese Überschneidung der bislang unabhängig voneinander verlaufenden Vektoren macht, so Dipesh Chakrabarty, das Singuläre der heutigen Situation aus, wobei sich sogenannte untypische Phänomene signifikant häufen. Zeigt sich das Anthropozän den Theatertieren als Black Box, resultiert dieser Umstand aus der Tatsache, dass nicht länger wie im herkömmlichen Drama der

12

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 12

18.02.21 16:2


Mensch dem Menschen handelnd Grenzen setzt. Vielmehr bekommt es diese Primatenart im Anthropozän mit einem Amalgam aus geologischen Kräften und einer Entfaltung der in der Wissenschaftsgeschichte gespeicherten Potenzen zu tun. Im seit mehr als 11 000 Jahren andauernden holozänen Klimaregime waren die Rahmenbedingungen stabil, konnten sich Hochkulturen und Zivilisationen entwickeln, Aufschreibesysteme und Wissenschaften entworfen werden. Heute tritt eine anthropogen getriggerte Natur ihre Herrschaft an. In immer kürzeren Abständen muss die im Global Village ansässige digitale Moderne erfahren, dass ihre Immanenz von einem naturwissenschaftlich verifizierbaren Außen perforiert wird, welches nach Ansicht der Theoretiker der Postmoderne, die bis vor Kurzen das Sagen hatten, nicht einmal existiert. Epistemologisch können die Präsenzen der in Bewegung geratenen Sphären kaum mehr als Objekte gefasst werden. Vielmehr haben sie den Status eines Aktanten oder Quasi-Subjekts inne. Wie diese bislang unbekannte Art von Protagonisten in Szene zu setzen ist, gibt der Bühne momentan Rätsel auf. Zwar tragen die planetaren Kräfte seit der Initiative von Lynn Margulis und James Lovelock den griechischen Namen Gaia. Allerdings kommt diese Quasi-Göttin bislang in der jahrtausendealten Theaterliteratur zumindest nicht

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 13

13

18.02.21 16:2


namentlich als Protagonist vor, sieht man einmal von dem lange überfälligen Godot ab, der offenbar gerade seine wirkliche Identität zu erkennen gibt. Im Märchen hilft es mitunter, den wahren Namen des Gegenübers zu kennen. Warum nicht auch bei Kartografierungen im Bereich des Theaters? Für die (Theater-) Kunst, die nicht ist, wenn sie sich nicht – in welchem Kontext auch immer – mit der Realität ihrer Gegenwart konfrontiert, geht es in diesem Fall ums Ganze. „Das Konzept des Anthropozäns enthält die spontanen minima moralia des gegenwärtigen Zeitalters: Es impliziert die Sorge um die Kohabitation der Erdenbürger in humaner wie nicht-humaner Gestalt“, fasst Peter Sloterdijk (2016: 42 f.) zusammen, was die Stunde geschlagen hat. Langfristig dürfte die Zukunft des Homo sapiens, einer Gattung, die biologisch zu der Familie der Menschenaffen zählt, von der Kooperation mit den nicht-menschlichen Spezies, Organismen und Landschaftsformationen abhängen. Auch wenn sich Arbeitnehmerorganisationen und Konzernleitungen hartnäckig dagegen sträuben: Jetzt heißt es nicht nur auf den Theaterschiffen „Umsteuern!“, selbst wenn noch nicht ganz klar ist, was alles auf dem Spiel steht und wohin die Reise geht. Aber dass Gewohntes den Bach runtergehen wird, darf als sicher angenommen werden. Ebenso gilt es, sich

14

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 14

18.02.21 16:2


schleunigst von Gewissheiten und Koordinaten des 20. Jahrhunderts zu verabschieden. Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht. Die kulturelle Neuordnung wird allein durch die unhintergehbare Tatsache, dass das Klima wie die Weltmeere nicht an den nationalen Grenzen Halt macht, die globale Zukunft bestimmen. Wo aber soll oder kann das Theater ansetzen, um diesen einsetzenden, unbedingt geschichtsmächtigen Transformationsprozess zu flankieren oder sogar voranzutreiben? Nachdem der Kosmos der Metamorphose in prähistorischer Zeit verlassen wurde, der Theatergott Dionysos nicht länger zwischen animalischer und menschlicher Gestalt changiert, der Beitrag nichtmenschlicher Mächte zu Wahrheitsoperationen eliminiert wurden, verweigern aktuell Elementargewalten wie das Klimabeben oder die Klimapest ihre Übertragung in theateraffine Ordnungen. Die Blockade wird offenbar dadurch ausgelöst, dass das Theater mit dem neuen Klimaregime ein Jenseits des Anthropozentrismus betritt, in dem nicht mehr die gleichen Regeln und Maßstäbe gelten wie in der holozänen Periode, als der Mensch zumindest temporär das Maß aller Dinge zu verkörpern schien. Zwar ließe sich die anthropozentri-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 15

15

18.02.21 16:2


sche Illusion noch eine Weile aufrecht erhalten, indem das Anthropozän programmatisch durch das Kapitalozän ersetzt wird. Allerdings wird diese bereits von Bertolt Brecht vorgenommene Besetzung der Rolle der bösen Buben mit der Profitgier nicht ausreichen, die nötigen Transformationen einzuleiten, um die dynamisierten Sphären zu beruhigen. Anstatt den Homo oeconomicus für das ökologische Desaster verantwortlich zu machen, wäre im öffentlichen Raum zu diskutieren, inwieweit ihm überhaupt Zurechnungsfähigkeit attestiert werden kann. Vielleicht kann das Theater ohnehin nicht mehr leisten, als die Analysen der Erdsystemkunde zu repetieren. Solange es die Prognosen und Tatbestände nicht in Szene setzen kann, bleibt ihm nur, mit den Händen in der Hosentasche an der Seite zu stehen und zuzuschauen, wie mehr oder minder verzweifelte Wissenschaftler versuchen, eine abgestumpfte Öffentlichkeit wachzurütteln. Für das Theater kommt es darauf an, statt mit Ignoranz zu reagieren oder das Ende vom Lied zu pfeifen, unter anthropozänen Bedingungen den Kreis auszuschreiten, der mit der humanen Existenzform gegeben ist.

* * * 16

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 16

18.02.21 16:2


Baptiste Morizot beruft sich in seiner Philosophie der Wildnis auf den französischen Anthropologen Philippe Descola, um die herrschende Weltauffassung als die „unfreundlichste Kosmologie“ (Morizot 2020: 8) einzustufen. Einen weitaus glücklicher gestimmten Gegenentwurf bietet, so Claude Lévi-Strauss, der Mythos an, den diese Gallionsfigur des Strukturalismus mit der indigenen Bevölkerung Amerikas eine „Geschichte aus jener Zeit“ nennt, „als die Menschen und die Tiere noch nicht voneinander geschieden waren“ (Lévi-Strauss nach Morizot 2020: 16). Dem überragenden Ethnologen des 20. Jahrhunderts scheint unter dieser Prämisse keine Situation tragischer, verletzender für Herz und Geist als die einer Menschheit, die mit anderen, auf ein und derselben Erde lebenden Gattungen koexistiert, […] und mit denen sie nicht kommunizieren kann. Man begreift, daß die Mythen es ablehnen, diesen Makel der Schöpfung für angestammt zu halten; daß sie in seinem Auftreten vielmehr das Ur-Ereignis der Entstehung eines „Wesens“ des Menschen und seiner Hinfälligkeit erblicken (Lévi-Strauss 2019: 201). Der Mensch und seine Spaltung – zugleich Angehöriger einer biologischen Spezies zu sein, welcher sich die Natur als etwas Externes darstellt – gehen aus diesem

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 17

17

18.02.21 16:2


anthropologischen Bruch hervor. Diesen Abgrund versucht der Mythos auf symbolischer Ebene zu heilen beziehungsweise zu überbrücken, während ihn der Monotheismus befestigt und vertieft. Durch die Verwendung des Attributs „tragisch“ legt Lévi-Strauss eine Spur zum Theater und dessen Glücksversprechen. In Die Bakchen führt Theatergott Dionysos als Stier einen Dialog mit dem thebanischen König Pentheus, wie auch von der rätselaufgebenden Sphinx berichtet wird, dass sie problemlos mit dem Wanderer Ödipus in einen tödlichen Disput kommt, ohne dass Sophokles allerdings diesen Dialog fixiert hätte. Jenen kommunikativen oder anthropologischen Bruch revozieren auch die hybriden Satyrn, Mischwesen aus Mensch und Tier, die bei den alljährlichen Dionysien in Athen nicht fehlen dürfen. Das Theater hatte es sich in seinen Anfängen zur Aufgabe gemacht, den Riss zu heilen, der zwischen Mensch und Tier sowie zwischen dem Menschen und seiner eigenen Tierhaftigkeit verläuft. Nach dem Tod der Tragödie gerät diese Funktion aus dem Blick, sodass Heiner Müller in den 1980er Jahren einen Bogen zwischen dem „Auszug aus der Tierwelt“ (Müller Werke 8: 268) und jenen annihilierenden Aktivitäten schlagen kann, die auf die „Zerstörung des Planeten“ (ebd.) zielen, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich, aber nicht nur, im

18

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 18

18.02.21 16:2


Kontext militärischer Konfrontationen diskutiert wurden. Die anthropologische Fraktur gebiert in dieser Logik ein Paradox: Die Emanzipation von evolutionären Bindungen mündet in eine unfreundliche Kosmologie, die nach Heilungsversuchen im Bannkreis der Tragödie in eine zerstörerische, zur Auslöschung ihres ökologischen Apriori neigende wie ihre Mitwelt negierende Zivilisation führt. Nach dem Scheitern des geschichtlichen Projekts im 20. Jahrhundert, das davon ausging, dass allein durch Umstrukturierung des ökonomischen Bereichs die geschichtlichen Verhältnisse grundlegend revidierbar wären, wirft die anthropozäne Bedrohungslage grundsätzliche anthropologische Fragestellungen auf. Ihnen muss sich die Bühne stellen. Diese Situation erfordert aber, wie der Rekurs auf die Tragödie zeigte, dass das Theater in diesem Kontext Singuläres einzubringen hat. Nicht in der Dauerfokussierung auf das soziale Feld, sondern in dessen Erweiterung besteht die Kernaufgabe des 21. Jahrhunderts. Postuliert Nicolas Bourriaud die Erzeugung von sozialem Kitt, da die relationale Kunst Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht, trägt eine anthropozäne Bühne in doppelter Weise zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. So kann die Aktivität jeder Bühne, die in irgendeiner Form vermittelt, dass es sich bei Natur um kein Luxusgut, sondern um

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 19

19

18.02.21 16:2


das Apriori von jeglicher Form der Zivilisation handelt, als Intervention gelesen werden, den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie zu beruhigen. Ein Konflikt, der falls eine Transformation hinsichtlich unserer Haltung gegenüber dem Erdplaneten blockiert bleibt, über kurz oder lang die Gesellschaft zerreißen wird. Desweiteren geht es im Sinne der Parole Donna J. Haraways: „Macht euch verwandt!“ (Haraway 2018: 15) darum, Brücken zwischen dem Homo sapiens und den nichtmenschlichen Akteuren zu bauen, was für die Kunst heißt, Annäherungen zu ermöglichen. Dabei rückt jenes von Morizot extrahierte Wissen ins Zentrum der Bühne, „dass wir in allererster Linie Lebewesen sind und erst dann Menschen. Ein Lebewesen, das das Gemeinsame im Unterschiedlichen sucht, die Schnittmenge, anhand derer sich unsere besondere Animalität erst bestimmen lässt: unsere menschliche Art und Weise, Lebewesen zu sein“ (Morizot 2020: 82 f.). Diese Umwertung der Werte intendiert einen radikalen Haltungswechsel. An die Stelle der Illusion einer Autonomie unserer Gattung muss eine symbiotische Praxis gegenüber dem undurchschauten und hochkomplexen Geschehen auf dem Planeten und seiner Bewohner treten. Dafür aber ist das Theater künstlerisch prädestiniert. Seit jeher destruiert dieses Medium Verkennungen und Verblendungen, verhandelt das Menschenbild seiner Epoche. Im Licht des Anthro-

20

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 20

18.02.21 16:2


pozäns sieht es sich vor die historische Herausforderung gestellt, die ontologischen Grenzen und Hierarchien zu revidieren, die das Zoon politikon gegenüber den eigenen wie den anderen Exponenten des Bios errichtet hat. Universalgeschichte, für die Heiner Müller als Ausweg aus der anthropologischen Sackgasse plädiert, kann vor diesem Horizont nur heißen, eine planetarische Kultur zu begründen. Zu ihren vorrangigen Eigenschaften gehört die globale Anstrengung, die Erderwärmung zu regulieren, macht das Klima doch bekanntlich nicht an den nationalen Grenzen Halt, und neben den Angehörigen unserer eigenen Art Tiere, Pflanzen, Landschaften als unverzichtbare Partner auf Augenhöhe anzuerkennen.

* * * Versandete das Projekt Geschichte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, setzte es überraschend und unter vollkommen veränderten Bedingungen nur wenige Wochen nach der Jahrtausendwende im Februar 2000 in Cuernavaca, Mexiko, erneut ein. Der 1995 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Atmosphärenchemiker Paul Crutzen startete ein mehrere Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende umfassendes historisches Projekt, als er bei der Jahrestagung des International GeosphereBiosphere Programme zwar nicht mit dem Schuh,

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 21

21

18.02.21 16:2


aber mit dem geologischen Fußabdruck des Menschen auf den Tisch haute und den Begriff des Anthropozäns in die erdgeschichtliche Debatte einführte. Damit fand nicht nur der Ringkampf, in dem die Postmoderne die Moderne in einen anhaltenden Würgegriff nahm, ein abruptes Ende, sondern schlug die Todesglocke für das seit bald 12 000 Jahren für Stabilität sorgende Holozän. Neun Jahre später veröffentlichte Dipesh Chakrabarty mit The Climate of History seine Thesen zu der Kreuzung von Menschen- und Naturgeschichte. Bruno Latour resümierte 2015 in Kampf um Gaia: Jetzt „kommt Geschichte wieder in Gang“ (Latour 2017: 250), denn schließlich „führt das Anthropozän die Geschichte wieder zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit“ (238). Selbst die begrifflichen Alternativen, die für den naturwissenschaftlich grundierten Terminus Anthropozän vorgeschlagen werden, liest er als Evidenz der Wiederkehr der Geschichte […]: das „Anglozän“ (der Beitrag Englands und der Vereinigten Staaten am CO2Ausstoß ist immer noch höher als der der Schwellenländer); das „Kapitalozän“ (Jason Moore, Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital [2015]), nicht zu vergessen das entzückende „Chthuluzän“, das Donna Haraway in Staying with the Trouble (2016) vorschlägt. (ebd.: Fußnote 78)

22

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 22

18.02.21 16:2


Den verschiedenen Theoriebildungen mit unterschiedlichen Akzentuierungen ist gemein, dass sie begrifflich versuchen, ein zu großen Teilen noch unausgelotetes geschichtliches Phänomen zu fassen: Soll die Spezies langfristig überleben, muss ihre Existenzweise mit dem Habitat korreliert werden, welches die Erde ihren Bewohnern gewährt. Der Modus, in dem Geschichte reaktualisiert wird, differiert insofern grundlegend von früheren Entwürfen, als dass der Eintritt in das planetarische Zeitalter davon bestimmt sein wird, Technologien und Formen des Wissens zu entwickeln, die mit den ökologischen Sphären kompatibel sind, anstatt sie weiter zu destabilisieren. Die Erde beziehungsweise der Zielhorizont einer Bewahrung des bereits in Auflösung befindlichen holozänen Zustands löst als absoluter Referent religiöse oder geschichtsphilosophische Entwürfe ab, die mit utopischen oder metaphysischen Überschüssen in Form eines zu erreichenden Telos operierten: „In diesem Sinne ist GAIA ebensowenig ein Produkt des Zufalls wie der Notwendigkeit. Was bedeutet, daß sie sehr dem ähnelt, was wir schließlich als die Geschichte selbst wahrnehmen“ (187). Auch wenn die Menschheit an den Entwicklungen, die zum Holozän führten, keinen Anteil hat, handelt es sich aus Sicht sämtlicher Hochkulturen und Zivilisationen um ein erdgeschichtliches Apriori. Koordinaten wie der Erd-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 23

23

18.02.21 16:2


planet, die Geologie, die Evolution, die Entwicklung und der Zusammenhang der ökologischen Sphären und der historische Prozess mitsamt seinen Kulturräumen, Erfindungen, Kulturtechniken und Speicherformaten bilden im Anthropozän ein zusammenhängendes Feld, das zukunftsfähige Perspektivierungen samt einem umfassenden Paradigmenwechsel fordert. Ganz oben auf der kulturgeschichtlichen Agenda steht, auch wenn das im Bewusstsein vieler politischer Akteure noch nicht angekommen ist, die Verabschiedung anthropozentrischer Positionen. So werden beispielsweise Skalierungen notwendig, die weit über die im Bereich der menschlichen Geschichte verwandten Maße hinausgehen. Bereits Walter Benjamin hat im letzten Abschnitt seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte aus dem Jahr 1940 auf die enorme Diskrepanz zwischen kosmologischer und historischer Zeit verwiesen: „Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens“, sagt ein neuerer Biologe, „stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.“ (Benjamin 1974: 703)

24

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 24

18.02.21 16:2


Obwohl heute das Alter des Sapiens etwa fünf Mal so lang, auf etwa 250 000 Jahre, angesetzt wird, tritt die Diskrepanz zwischen den zeitlichen Maßgaben der Biosphäre und den Zeit- und Operationshorizonten unserer Spezies deutlich hervor. Benjamin versucht den fehlenden Vermittler zwischen den Skalierungen mit einem Rückgriff auf theologische Motive zu überbrücken: „Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht“ (ebd.). Eine metaphysisch konnotierte Verlegenheitslösung, die gegen die Intention ihres Verfassers veranschaulicht, dass sich ein planetar fundamentierter Geschichtsbegriff im Gegenteil gerade nicht anthropozentrisch begründen lässt. Angesichts der kosmologischen Skalierung steht die Bühne vor dem Problem, Perspektivierungen zu veranschaulichen, die das Zeitregime seiner menschlichen Protagonisten irreversibel sprengen und relativieren. Das Theater hat den anthropozentrischen Bannkreis bereits in der Spätmoderne überschritten. In Heiner Müllers post-revolutionärem Drama Der Auftrag (1979) gewinnt die Divergenz unterschiedlicher Zeiten mittels des Relais der Landschaft, „die

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 25

25

18.02.21 16:2


keine andre Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten“ (Müller Werke 5: 33), eine prägnante Kontur. Die Menschheitsgeschichte stellt nunmehr nur eine Momentaufnahme in dem kosmologischen Zusammenhang der „Big History“ (David Christian) dar, in der das Leben auch ohne menschliche Zuschauer oder Akteure weiter prozessieren wird.

* * * Bereits in den 1960er Jahren rückte Müllers Produktionsstück Der Bau die kosmologischen Grenzen des Geschichtsbegriffs in den Blick. Ist der Horizont des Kommunismus für Brecht noch unhintergehbar, wissen Müllers Protagonisten, dass er nur eine temporäre Phase der Tiefenzeit darstellt: Und morgen ist wieder ein Tag und übermorgen, ein Tag kraucht dem andern nach, ein Jahr stürzt ins andre und keine Uhr, die rückwärts geht, Zeit. […], einmal schlingt sie uns doch, sie scheißt auf vorn und hinten, morgen ist ihr gestern heute schon, weiß schwarz, in zehn Milliarden Jahren platzt sie selber, die Zeit hat bessre Zähne. (Müller Werke 3: 374 f.)

26

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 26

18.02.21 16:2


Die auf Arbeit basierte Geschichte besitzt als Instrument der Sinnstiftung nur bedingten Charakter. Ab Mitte der 1970er Jahre wird in dieser Logik die Landschaft zu einer der Geschichte opponierenden Kategorie der Müller’schen Imagerie. Der Anblick eines postindustriellen Settings löst während einer Amerikareise eine Art Epiphanie aus: Meine Grunderfahrung in den USA war die Landschaft, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Gefühl für Landschaft, für den Raum. Die eigentliche amerikanische Dimension ist ja nicht die Zeit, sondern der Raum. Wir sind ziemlich weit durchs ganze Land gekommen: Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada, Mississippi. Eine Dampferfahrt ins MississippiDelta, verrottete Bohrtürme, ganze Industrieanlagen, die halb im Sumpf steckten, verrostet, und dann am Ufer die verkommenen alten Plantagenhäuser. Das war schon seltsam, dieser Kapitalismus mit Rändern. In Europa hat er keine Ränder mehr, oder es ist da ganz schwer, die Ränder zu sehen. In Amerika sind die Ränder das Lebendige, überall gibt es noch nicht besetzte Landschaft, auch sozial noch nicht besetzte Landschaft. Landschaften, die nicht domestizierbar sind (Müller Werke 9: 222 f.).

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 27

27

18.02.21 16:2


Absurderweise beruht das postdramatische Theater, soweit es sich von der Müller’schen Écriture herleiten will, auf dem Missverständnis, dass die Implementierung der Landschaft in die Texte Gegenwartshorizonte affirmiert und verabsolutiert, während sie stattdessen ihre Grundspannung aus einer Skalierung der Erdzeit bezieht, die nicht in menschenzentrierter Geschichte als Operationszusammenhang aufgeht. Deswegen kann auch von einer Verabschiedung des Dramas im Spätwerk keine Rede sein, was Stücke wie Der Auftrag (1979), Anatomie Titus Fall of Rome (1984) oder der Monolog Wolokolamsker Chaussee I (1984) offenkundig belegen. Vielmehr führt die inspirierende, nahezu transzendente Landschaftserfahrung formal zu gravierenden Umbrüchen der Müller’schen Textur: Das amerikanische Zauberwort ist „Space“. Zum Beispiel der Grand Canyon: da sind Dimensionen von Landschaften gegeben, bei denen man als Betrachter nicht mehr im Zentrum steht. Und das gilt sicher auch für meine eigenen Texte, wenn sie inszeniert werden. Das konventionelle Theater, besonders das europäische, ist doch immer noch an der Zentralperspektive orientiert. Aber dieses Ordnungsprinzip erfaßt die Texte nicht, weil die nicht mehr aus der Zentralperspektive geschrieben sind. (Müller Werke 11: 367 f.)

28

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 28

18.02.21 16:2


Landschaft wird sowohl in poetologischer wie poetischer Hinsicht zu einem Kristallisationspunkt der Müller’schen Schreibbewegung: „Meine Texte sind eine autonome Landschaft, diese Landschaft kann man weiter ausbreiten und ausbauen“ (Müller Werke 11: 698). Auch strukturell wird diese antipodische Kategorie zur Geschichte in die Theatertexte integriert. Ob im Triptychon Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten oder in Bildbeschreibung, der Schilderung eines Geschehens in einer „Landschaft zwischen Steppe und Savanne, […] am Horizont ein flaches Gebirge, rechts in der Landschaft ein Baum“ (Müller Werke 2: 112), die zudem wie eine Anmerkung erläutert, eine Landschaft jenseits des Todes darstellt, gewinnt der geologische Topos für die Bühnenliteratur konstitutive Bedeutung. Vor diesem Horizont findet in Der Auftrag eine politische Aufladung der erdgeschichtlichen Komponente statt. Müller nimmt poetisch den von Dipesh Chakrabarty 2009 mit dessen Essay The Climate of History diskursiv in die Debatte eingebrachten Kreuzungspunkt von Geschichte und Geologie poetisch vorweg und verschmelzt das traditionelle historische Subjekt mit der Landschaft. Der Revolutionär Sasportas sagt:

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 29

29

18.02.21 16:2


Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste (Müller Werke 5: 40). Den topografischen Exponenten des Erdplaneten wird durch den Zusatz des menschlichen Hybrids eine revolutionäre Kontur verliehen. Der Landschaft wird damit der Status eines Subjekts oder Aktanten zugebilligt. Dieser Status wurde den topologischen Präsenzen in Müllers Universum bereits Anfang des Jahrzehnts eingeräumt, allerdings mit einer vollkommen unterschiedlichen Ausrichtung. Während in Der Auftrag ein Amalgam aus Mensch und Landschaft entsteht, befinden sich die Elemente Mensch-Tier/Landschaft 1972 in der dramatischen Bearbeitung des russischen Bürgerkriegsromans Zement von Fjodor Gladkow, der in den Jahren 1920/21 spielt, noch auf Kollisionskurs. In das Stück einmontierte Prosapassagen lassen Mythos und Realgeschichte überlappen. In der als „Herakles 2 oder die Hydra“ betitelten Einlassung durchquert der Protagonist einen Wald, um ein Untier zu erlegen. Allmählich beginnen sich die anfangs eindeutigen Grenzen zwischen dem Jäger, der Umwelt und dem anima-

30

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 30

18.02.21 16:2


lischen Counterpart mehr und mehr aufzulösen: „Der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen, das ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der Wind sein Atem“ (Müller Werke 4: 426). Einer „Personalunion von Feind und Schlachtfeld“ (427) ausgesetzt, verschwimmen allmählich die Unterschiede zwischen Subjekt und Objekt: Im Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterienkulturen nicht, der Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unterscheiden waren in dem vorläufig Schlacht benannten Zeitraum aus Blut Gallert Fleisch (ebd.). Erschien der Protagonist anfangs noch aus einem Guss, transformiert er sich im Laufe des Geschehens in eine im permanenten Umbau begriffene Assemblage: „in dauernder Vernichtung immer neu auf seine kleinsten Bauteile zurückgeführt, sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in dauerndem Wiederauf-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 31

31

18.02.21 16:2


bau, manchmal setzte er sich falsch zusammen, linke Hand an rechten Arm, Hüftknochen an Oberarmknochen, in der Eile oder aus Zerstreutheit“ (427 f.). Mit der ständigen Re-Formulierung und Re-Strukturierung des Subjekts verliert zugleich die begriffliche Trennung in die Kontrahenten Heros, Tier, Wald an Evidenz. Schließlich erweist sich auch die Annahme einer durchgehenden Identität als spekulativ, wenn nicht illusionär. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, […] war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. (Müller Werke 4: 425 f.) Die Auflösung der Dichotomie Natur-Kultur lässt die Zwiespältigkeit des Homo sapiens als ein biologisches Wesen hervortreten, dem die Natur etwas Äußerliches ist und womit er sich zugleich selbst fremd ist. Diese

32

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 32

18.02.21 16:2


Aporie bestimmt das Narrativ des Konflikts. Der Text löst das grundlegende Paradox nicht auf, lässt aber konsequent die Annihilation der Naturhaftigkeit mit der Selbstauslöschung in eins fallen. Zum einen scheint es unmöglich, dauerhaft in ein Zeitalter der Symbiose zwischen Mensch und Erde einzutreten, da die planetarische Existenz von der ontologisch grundierten Feindschaft zwischen Jäger und dem zu erlegenden Tier bestimmt ist, das wiederum Teil eines größeren Settings, eben der Landschaft, ist. Zum anderen bremst die „Angst vor dem Sieg, der nur durch die gänzliche Vernichtung des Tieres erkämpft werden konnte, das sein Aufenthalt war, außer dem vielleicht das Nichts schon auf ihn wartete oder auf niemand“ (428), jeden dialektischen Prozess aus. Die Kulturalisierung oder De-Naturisierung des Menschen findet ihre Grenze an dessen evolutionärer Verfasstheit. Gegen diese unauflösbare Verwobenheit menschlicher und nicht-menschlicher Akteure unter der Prämisse der Gewalt bringt der Autor das Paradigma der Maschine in Stellung. Im 17. Jahrhundert machten René Descartes oder Thomas Hobbes die Auffassung populär, dass sowohl das Universum wie der Mensch ihr Modell in der Maschine besäßen. Letzterer leitet einen der Haupttexte der politischen Philosophie mit einem Plädoyer für die Gleichsetzung biologischen und artifiziellen Lebens ein:

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 33

33

18.02.21 16:2


Die Natur […] wird durch die Kunstfertigkeit des Menschen, wie in vielen anderen Dingen, so auch hierin nachgeahmt, daß sie ein künstliches Tier erschaffen kann. Denn da ja das Leben nur eine Bewegung von Gliedern ist, deren Beginn in irgendeinem Hauptteil liegt, warum können wir dann nicht sagen, daß alle Automaten (Maschinen, die sich durch Federn und Räder bewegen, wie es eine Uhr tut) ein künstliches Leben haben? (Hobbes 2005: 5) Der Prosablock „Herakles 2“ endet mit der Erkenntnis des menschlichen Protagonisten, dass er als eine kognitive Apparatur seine Hardware permanent in Zusammenhang mit der Geschichte umschreiben kann. Damit lässt sich das als Konflikt konzeptualisierte Verhältnis Natur-Kultur in eine Kollision von Tier versus Maschine übersetzen: [I]n dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und daß er ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode. (Müller Werke 4: 428)

34

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 34

18.02.21 16:2


Auch wenn sich dieser Pfad nach der amerikanischen Landschaftserfahrung in zeitlich folgenden Entwürfen verliert, wird er doch nie vollends aufgegeben. Der Topos der „Einheit von Mensch und Maschine“ (Müller Werke 8: 290) macht im zumeist in Interviews niedergelegten kommentierenden Teil des Werks noch lange Karriere. Mehr als ein Jahrzehnt und etliche poetologische Brüche später bekennt sich der Autor zur Idee eines transhumanistisch basierten Fortschritts: WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist nach GERMANIA und ZEMENT der dritte Versuch in der Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution, das mit der Einheit von Mensch und Maschine zu Ende gehen wird, dem nächsten Schritt der Evolution (der die Revolution vorrausetzt und Drama nicht mehr braucht). (Müller Werke 5: 247) Der Entwurf der Revolution als Überarbeitung der Evolution, welche die defizitären Momente der Naturhaftigkeit des Menschen behebt, macht sichtbar, wie verquer sich das Verhältnis von Natur- und menschlicher Geschichte für Müller darstellt. Unterirdisch blockiert die Evolution die Entwicklung der historischen Prozesse, bis ihr in Der Auftrag der Status einer

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 35

35

18.02.21 16:2


Wirkmacht zugeschrieben wird, mit der ein politisches Bündnis eingegangen werden kann oder muss, wie es wenige Jahre später Michel Serres in Der Naturvertrag fordert.

* * * Unbestreitbar existiert in Müllers Werk ein Strang, der in transhumanistische Positionen mündet. Parallel eröffnet die amerikanische Epiphanie ein planetarisches Denken, das den Topos der Landschaften politisch kontextualisiert. 1986 buchstabiert Müller in einem Text über Robert Wilson die „Weisheit der Märchen, daß die Geschichte der Menschen von der Geschichte der Tiere (Pflanzen, Steine, Maschinen) nicht getrennt werden kann außer um den Preis des Untergangs“ (Müller Werke 8: 290). Damit wird die anthropozäne Kernthese präskribiert, die Michel Serres zu Beginn der 1990er Jahre in Der Naturvertrag mit der Losung „Tod oder Symbiose“ (Serres 1994: 62) fasst und die Peter Sloterdijk eine „Kohabitation“ (Sloterdijk 2016: 42) mit den nichtmenschlichen Erdbewohnern fordern lässt. Die bereits in „Herakles 2“ verklammerten Elemente Mensch, Tier, Maschine werden nicht länger als ontologisches Gegeneinander gefasst, sondern als ein Verbund, dem eine gemeinsame Sprache fehlt.

36

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 36

18.02.21 16:2


Die beiden gegenläufigen Argumentationslinien einer transhumanistischen Zukunftsvision und einer an der Kategorie der Landschaft orientierten symbiotischen Beziehung zum Erdplaneten bleiben unverbunden. Eines der beiden losen Enden findet sich 1994 allerdings noch artistisch verknotet. Auf dem orphischen Pfad pflanzt der Autor eine letzte, wenn auch pessimistisch gestimmte, lyrische Wegmarke. Explizit nimmt das Gedicht „Traumwald“ das Sujet des Waldes wieder auf und rekurriert auf tradierte Märchenmotive: Kind, Tier, Pflanze, die von Müller im Kommentar zu Wilson emblematisch angeführt wurden.

TRAUMWALD Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum Er war voll Grauen Nach dem Alphabet Mit leeren Augen die kein Blick versteht Standen die Tiere zwischen Baum und Baum Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier Der Fichten mir entgegen durch den Schnee Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt Die letzte Tagesspur ein goldner Strich

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 37

37

18.02.21 16:2


Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich. (Müller Werke 1: 298) Zwei Jahre vor seinem Tod begegnet der Autor in einer Traumlandschaft seinem Kindheits-Ich, das ihm die letale Botschaft nicht nur über-, sondern auch leibhaftig beibringt. Die Kritik zeigt Verbindungen zu Jesus auf, mit dessen Ableben ebenfalls das Motiv des Lanzenstichs verbunden wird, zu Parsifal und Richard Wagner, zu Charles Baudelaire und Hugo von Hofmannsthal. Trotz der intertextuellen Bezüge tauchen die Zeilen des poetischen Ingeniums in ein düsteres Licht. Die „[n]ach dem Alphabet“ aufgereihten und erfrorenen Tiere mit ihren „leeren Augen die kein Blick versteht“ stellen einen Zusammenhang zwischen deren Schockstarre und dem Schreiben her. Motive, zu denen die Dichtung gemeinhin eine exklusive Verbindung unterhält, werden als leblos und nichtssagend erfahren, womit deren Versagen ins Licht tritt. Plausibel in der als Folge von 1989 einsetzenden und akuten Schreibhemmung des Autors, die Ursache der Verfrostung anzusetzen, welche die Möglichkeiten blockiert, im symbolischen Feld mit den animalischen Gegenübern in einen lebendigen Austausch zu kommen.

38

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 38

18.02.21 16:2


Doch führt die ästhetische Logik, die den Traumwald durchherrscht, bei dem es sich zugleich um einen „Todeswald“ handelt, „der zum Sterben winkt“, auf eine andere Spur. Aufgrund des europäischen, in Griechenland entwickelten alphabetischen Prinzips werden die Tiere einer Ordnungsstruktur unterworfen, die sie archiviert, listet und als reine Zeichen fixiert, sodass sie schließlich als tote Gegenstände beziehungsweise wie auch die Bäume – „Spalier / Der Fichten“ – als Ressource geführt werden. Die epistemologisch auf einer strikten Trennung von Objekt und Subjekt basierte Kultur schlägt keine Brücke eines wie auch immer gearteten Verstehens mehr zu dem animalischen Gegenüber, obwohl die menschliche Spezies selbst einer Familie der Säugetiere angehört. Diesen Mangel an Empathie, der die ehemals vitalen Beziehungen verstummen ließ, wirft das Kindheits-Ich dem Autor vor, der somit als Schreibender versagt hat. Ebenso unnahbar, weil gut gerüstet, wendet sich das Kind gegen den Künstler, der sich als unfähig erwiesen hat, den Austausch beziehungsweise die Kommunikation zu den nicht-menschlichen Erdbewohnern, wie sie die Märchen und Mythen transportieren, aufrecht zu erhalten oder erneut in Gang zu setzen. Romantisch kostümiert „in Rüstung Harnisch und Visier / Im Arm die Lanze“ fügt das Kind als Strafe dem poetischen Subjekt – mit „Stoß und Stich“ – die

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 39

39

18.02.21 16:2


tödliche Verletzung zu, das ebenso zu Fall kommt wie bereits die Tiere ihres Lebens verlustig gingen – „zwischen Baum und Baum / Vom Frost in Stein gehaun“. Weil keine poetischen Taten folgten, stellt sich, was 1986 noch als Appell formuliert werden konnte, acht Jahre später als Unvermögen der (eigenen) Dichtkunst mit fatalen Folgen dar. In den 1970er Jahren hatte Rolf Dieter Brinkmann noch das Sprechen der animalischen Gegenüber vernommen: „Die Tiere waren unruhig. […] / […] Sie redeten“ (Brinkmann 2005: 12), um dann ein ähnlich finsteres Menetekel zu entwerfen: „Die Tiere brannten aus und starben zwischen / den Häusern.“ Zwischen den Häusern, also in Zusammenhängen einer um die menschlichen Primaten zentrierten Kultur, werden die nicht-menschlichen Erdbewohner ausgelöscht. Müllers Variation des Grundmotivs verschiebt den Fokus auf die Position des Autors angesichts des Vorgangs. Damit setzt dieses hermetische Denkmal eine beklemmende – „voll Grauen“ – Bedeutungsschicht frei: Das Schreiben, und womöglich die westliche Kunst insgesamt, kann dem kategorischen Imperativ der anthropozänen Kunst, eine kommunikative Beziehung zu den nicht-menschlichen Erdbewohnern zu stiften, wenn überhaupt, nur unzureichend nachkommen. Diese Unfähigkeit, im Sinne von Lévi-Strauss auf die Welt der Märchen und My-

40

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 40

18.02.21 16:2


then als einem lebendigen Kommunikationsgeflechts zu rekurrieren beziehungsweise einen Austausch mit den nicht-menschlichen Erdbewohnern aufrecht zu erhalten, lässt das symbolische Feld vom Märchen- zum Alptraumwald mutieren. Als Befund gelesen, lässt sich somit die Unfähigkeit, die Beziehung zu den nicht-menschlichen Erdbewohnern mit artistischen Mitteln zu gewährleisten oder zu bewahren, als grundlegendes Problem nicht nur der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Ökonomie identifizieren, sondern insbesondere der Kunst. Während der „Hydra“-Text den Dualismus zwischen Mensch/Kultur-Natur ontologisch verortet, legt „Traumwald“ den Finger in die artistische Wunde: Dem poetischen Ingenium will es unter den aktuellen Bedingungen nicht gelingen, im symbolischen Feld soziale Beziehungen zu den nicht-menschlichen Erdbewohnern aufzunehmen. Offenbar ist es den Mächten des Imaginären nicht gegeben, belastbare Gegenentwürfe in Szene zu setzen und die Verwertungslogik, die das nicht-menschliche Leben auslöscht, theatral auszuhebeln. Authentisch kann die Sensibilität den ruinösen Umgang mit dem Planeten nur begleiten, indem sie den desolaten Zustand – immense Verluste an Biodiversität inklusive – zur ästhetischen Erfahrung gerinnen lässt. Tatsächlich erheben sich, während eines der größten Artensterben der Erd-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 41

41

18.02.21 16:2


geschichte stattfindet, im künstlerischen Bereich, wenn überhaupt, nur äußerst vereinzelte Stimmen, die diesen Vorgang überhaupt registrieren. Was für das Schreiben gilt, trifft auch auf das Theater zu. Statt an den dramatischen Veränderungen der Biosphäre zu partizipieren, starrt auch die Bühne mehr oder minder teilnahmslos in eine im Namen der Effizienz – „Spalier / Der Fichten“ – abgetötete Landschaft. Kein Gesamtkunstwerk vermag mehr eine jener Mythen aufzurufen, die, wie der Friedrich Nietzsche der Geburt der Tragödie hoffte, eines Tages den Horizont einer von Abstraktionen dominierten und verformten Kultur umstellen werden, um eine gegenüber dem Geist der Naturbeherrschung komplementäre Funktion auszuüben. Stattdessen präsentiert „Traumwald“ mit dem finalen Tod des Dichters den Anachronismus einer Ontologie, die auf der strikten epistemologischen und juristischen Trennung zwischen dem Menschen und den Millionen weiteren Spielarten des Lebens basiert. Proklamierte der Autor acht Jahre zuvor mit einer Bloch’schen Geste die Rückgewinnung der Potenzen des Märchens, präsentiert sein lyrischer Solitär eine Eiszeit zwischen Mensch und Tier, die das Imaginäre er- und umfasst hat. Offenbar lässt sich der Extrakt des Mythos beziehungsweise das Wissen – die Weisheit – der Märchen, die eine Kommunikation mit den außer-

42

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 42

18.02.21 16:2


menschlichen Naturmächten unterhalten, nicht voluntaristisch in artistische Entwürfe umsetzen. Stattdessen erschließt das Sonett „Traumwald“ ex negativo eine Lichtung des Anthropozäns und macht zumindest den Verlust fühlbar. Der Gehalt ist eindeutig: Das „Band zur Natur“ (A. v. Humboldt) ist gerissen und kann auch von gutwilliger Kunst nicht als intakt beschworen werden, selbst wenn sich die Auslagerung der Natur aus der Kultur, die Ausblendung der evolutionären Voraussetzungen des menschlichen Daseins angesichts des anthropozänen Bedrohungshorizonts als historische Sackgasse immer deutlicher erweist. Führte Müllers Perspektivierung der Landschaft als posthumaner Kategorie zu Höhen, die ein Jenseits des Anthropozentrismus erschließen, zeugt der Tod des Dichters im Traumwald von der Aufgabe für die Kommenden. Unter Androhung des Todes beziehungsweise um den „Preis des Untergangs“ werden Kunst und Theater mit der Funktion betraut, das Habitat des Traumwalds zu dekolonisieren und das Mensch-Tier-Verhältnis zu vitalisieren. Von da aus lohnt es, exemplarisch die vielgestaltigen Beziehungen zwischen Kultur und Natur in den Blick zu nehmen, die den dramatischen Landschaften zugrunde liegen.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 43

* * * 43

18.02.21 16:2


Das 1804 publizierte Schauspiel Wilhelm Tell eröffnet einen Disput, der tief in das unterirdische Geflecht von Kultur und Natur führt. In der ersten Szene kommt Friedrich Schiller auf einen den Tieren eigenen Sinn zu sprechen, der ihnen erlaubt, die meteorologischen Vorgänge zu entziffern, noch bevor sie eine für den Menschen verifizierbare Gestalt angenommen haben. Über die innige Verbindung der unterschiedlichen Spezies mit dem sphärischen Geschehen herrscht Übereinstimmung zwischen dem Hirten Kuoni, dem Fischer Ruodi und dem Alpenjäger Werni: RUODI:

Der Sturm, ich mein, wird da sein, eh wir’s denken. KUONI:

’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen Mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde. WERNI:

Die Fische springen, und das Wasserhuhn Taucht unter. Ein Gewitter ist im Anzug. (Schiller: Wilhelm Tell, 1. Aufzug, 1. Szene) Ihre Einhelligkeit geht verloren, als der Hirte behauptet, dass die Kuh Lisel dem Universum Pierre Bourdieus entsprungen sei. Der Wiederkäuer beherrscht einige Tastenläufe auf der Klaviatur der „feinen Un-

44

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 44

18.02.21 16:2


terschiede“ (Bourdieu), da er um jenen Mechanismus weiß, wie sich durch die Zurschaustellung von Objekten Distinktionsgewinne einstreichen lassen. Das Rind fährt zwar keinen Porsche, ist aber in der Lage, eine Beziehung zwischen einem als Zierde angelegten Schmuck und seiner Stellung in der schicht- beziehungsweise gruppenspezifischen Rangordnung herzustellen. RUODI:

Wie schön der Kuh das Band zu Halse steht! KUONI:

Das weiß sie auch, daß sie den Reihen führt, Und nähm ich ihr’s, sie hörte auf zu fressen. RUODI:

Ihr seid nich klug! Ein unvernünftiges Vieh – Wer diesem kontroversen Motiv folgt, stößt auf den abtrünnigen Ulrich von Rudenz. Analog zur braunen Lisel bewirken und bezwecken dessen modische Attribute eine Differenzierung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie, wie Freiherr von Attinghausen, sein Onkel und Verfechter einer unabhängigen Schweiz, bemerkt: „Ich kenne dich nicht mehr. In Seide prangst du, / Die Pfauenfeder trägst du stolz zur Schau“ (2. Aufzug, 1. Szene).

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 45

45

18.02.21 16:2


Dass ausgerechnet diesen „naturvergessenen Sohn der Schweiz“ (3. Aufzug, 2. Szene), der nach eigener Aussage „alle Bande der Natur / Zerriss“ (3. Aufzug, 3. Szene), ein animalisches Accessoire schmückt, wirft ein instruktives Licht auf den Dispens zwischen Hirten und Fischer. In der Tat wäre es unerklärlich, wenn ein Säugetier durch eine ihm angelegte Applikation, an der Welt der menschlichen Ordnung partizipieren sollte. Die Pfauenfeder beleuchtet, dass die Kausalität gerade in gegenläufiger Weise verläuft. Die Evolution selbst implementiert eine Sensibilität für das Auffallende, Prunkende. Eine vielgestaltige genetische Veranlagung, mit der Funktion Aufmerksamkeit zu erregen, lässt sich im Tier- wie im Pflanzenreich aufzeigen und phänomenologisch aus Kontexten der Reproduktion der Spezies leicht entfalten. Die Knotenpunkte von Natur und Kultur sind in diesem Politkrimi Schillers, der übrigens im „Dritten Reich“ ab 1941 von der Bühne verbannt wurde, komplex geschnürt, da sie mit dem Sujet der Anerkennung verknüpft sind. Ihre Logik umfasst sowohl Mensch wie Tier und kulminiert schließlich in einer Eskalation der Narration entlang einer Konfliktlinie, die signifikant durch die symbolische Aufladung von Gegenständen definiert ist. Denn aus dem Gebot nicht nur Würdenträgern, sondern auch ihnen zugeordneten Dingen, die Reverenz zu erweisen, geht die stücktragende Narration hervor.

46

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 46

18.02.21 16:2


Und dieses ist des Landvogts Will’ und Meinung: Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehn, Man soll ihn mit gebognem Knie und mit Entblößtem Haupt verehren (1. Aufzug, 3. Szene). Die Unterwerfungsgeste, die dem Hut von Österreich gezollt werden soll, sattelt auf einer Motivkette, die von einem animalischen Gespür für die Wirkung an Reizen, selbst wenn sie artifiziellen Charakter besitzen, zu einer Ökonomie der Aufmerksamkeit führt, wie sie die Mode antreibt. Symbole, Farben, Tonfolgen erhöhen und repräsentieren sowohl bei Mensch wie NichtMensch den Rang ihrer Eigentümer beziehungsweise Träger. Die Logik der Anerkennung ist mitsamt ihren politischen Implikationen in der Tiefe der Evolution verankert. In Schillers dramatischen Kosmos ist die Beziehung der Protagonisten zur gesellschaftlichen Ordnung zugleich – wenn auch indirekt – mit ihrer Stellung zur Natur verflochten. Schillers dramatische Figuration lässt jene unscharfe Grenze hervortreten, die dem Anthropologen Philippe Descola zufolge in indigenen Kulturen zwischen der Tierwelt und dem Kosmos der Menschen verläuft. Zwischen einem nicht-menschlichen Erdbewohner, der seinen Selbstwert aus einem durch menschliche Arbeit hergestellten Gegenstand bezieht, und einem Humani-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 47

47

18.02.21 16:2


den, der sich Produkte der Tierwelt als Zierde und Zeichen seiner Würde anlegt, existiert keine prinzipielle, sondern eine graduelle Differenz. Diese ontologische Überlappung der menschlichen und nicht-menschlichen Wirklichkeit wird durch die auf eingehende Beobachtungen gestützte Erfahrung des Alpenjägers verifiziert: Das Tier hat auch Vernunft, Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen, Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn, ’ne Vorhut aus, die spitzt das Ohr und warnet Mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht. (1. Aufzug, 1. Szene) Die Intelligenz – „Vernunft“, „klug“ – spannt ein Feld auf, an dem sowohl Mensch wie Tier partizipieren, was wiederum so verwunderlich nicht ist, ist doch die Spezies der Hominiden ebenfalls ein Kind der Evolution. Veranschaulicht wird die gemeinsame Sphäre in dreierlei Hinsicht. Die Tiere kennen sowohl Arbeitsteilung, operieren in ihren sozialen Beziehungen mit der Kategorie der Anerkennung wie sie sich darüber hinaus, verglichen mit dem Menschen, in Bezug auf die Schwankungen und Veränderungen der Atmosphäre durch eine Feinfühligkeit auszeichnen. Ihre

48

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 48

18.02.21 16:2


Welt ist sowohl auf die planetarische Sphäre geöffnet wie auf das symbolische Feld und bringt differenzierte Organisationsmuster in die Wildnis ein. Derart perspektiviert, lässt sich die politische Bühne Schillers ganz im Sinne Heiner Müllers – „Wichtig, das Tier zu kennen, das wir sind, bevor es aufhört“ (Müller Werke 8: 271) – als anthropologischer Theaterentwurf identifizieren. Existiert eine Äquivalenz zwischen einem Requisit, das einer Kuh Selbstbewusstsein verleiht, mit einem Ding, dem gesellschaftlich Anerkennung gewährt wird, verschwindet die Dualität Natur-Kultur zugunsten eines Verhältnisses, das selbst noch die Moderne beziehungsweise Teilbestände ihres Mobiliars als Verlängerung evolutionärer Programmierungen transzendiert. „Kultur ist die Fortsetzung der natürlichen Evolution mit anderen Mitteln“, resümiert der Literaturwissenschaftler Kyung-Ho Cha in seinem Aufsatz „Psychologie als Überlebensstrategie“ über Friedrich Nietzsche. Achtzig Jahre nachdem Wilhelm Tell die Szene betritt, wird die Verflechtung gesellschaftlicher Konventionen mit animalischen Präskriptionen in dessen Text Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile auf das philosophische Podest gestellt. Die „gesellschaftliche Moral“ (Nietzsche KSA 3: 36) besitzt einen evolutionären Unterbau der Kultur be-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 49

49

18.02.21 16:2


ziehungsweise einen harten evolutionären Kern, der sich dekodiert, indem „das thierische Gleichnis“ (37) zu den von den Moralisten unterschiedlicher Epochen empfohlenen Regularien des zwischenmenschlichen Verkehrs aufgezeigt wird: [M]an will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten „chromatischen Function“), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). (36) In der von Nietzsches These eröffneten Sicht, werden beispielsweise die etwa dreihundert mit Handorakel und Kunst der Weltklugkeit (1647) betitelten Sentenzen des in der Passage nicht erwähnten Jesuiten Baltasar Gracián über Techniken der Verstellung als basale Umgangsformen der Eliten auf Strategien der Thierwelt (ebd.) zurückgeführt. Wie Schiller attestiert auch Nietzsche dem Tier Intelligenz:

50

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 50

18.02.21 16:2


[A]uch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Thiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich „objectiv“ nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntniss. (37) Eine Parallelisierung, wonach zivilisatorische Ideale und ethische Routinen aus dem Gebot der Selbsterhaltung erwachsen, das Mensch und Tier gemein ist: „Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen“ (36). Aus dem Gewebe eines generellen Ineinanders von Natur und Kultur lässt Nietzsche insbesondere das Theater erwachsen. Die Fröhliche Wissenschaft, ein Text der 1880er Jahre, führt die Genealogie des Schauspielers, die „Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung“ (608) auf evolutionäre Dispositionen zurück: Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben, […] welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder an-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 51

51

18.02.21 16:2


ders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt (ebd.). Während Nietzsche bei seiner Engführung von Kultur und Natur den Akzent auf die Praktiken der Täuschung und Selbstdisziplinierung legt und damit die Genese der Mimesis in den Blick rückt, operiert Schiller mit Dispositionen, die zwischen Anerkennung und Aufmerksamkeit oszillieren. Bänder, Pfauenfedern und anderer Schmuck, also die Produktion von Luxusgütern beziehungsweise die Idee von Luxus entspringt einer in der Evolution verankerten Logik der Aufmerksamkeit, welche die Reproduktion der Spezies gewährleisten soll. Das von Schiller und Nietzsche skizzierte Panorama induziert, das die konsumistischen Ideale des „Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk) biologisch grundiert sind und Begierden bedienen, die nur temporär durch Aneignung eines Gegenstands gestillt werden können. Ist die Genese des Anthropozäns an den in sich unendlichen Verfügungsraum gebunden, wären Kapitalismus und Konsum als treibende Faktoren des Anthropozäns hinsichtlich ihrer Verankerung in der biologischen Vorgeschichte der Spezies zu analysieren.

52

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 52

18.02.21 16:2


Zugleich trennt Natur und die Kapitalisierung der verschiedensten Facetten des Begehrens ein Abgrund, den Gertrude Stein phänomenologisch begründet: „Was die Menschen von den Tieren unterscheidet ist Geld. Alle Tiere haben die gleichen Gefühle und die gleichen Gewohnheiten wie Menschen. Wer viele Tiere um sich herum hat weiß das. Aber was kein Tier kann ist zählen, und was kein Tier kennt ist Geld“ (Stein 2004: 15). Das Speichermedium Geld hält sowohl den Stoffwechsel mit der Natur aufrecht, mit dem Karl Marx die Verwandlung von Rohstoffen und Naturressourcen in Waren veranschaulicht, wie es die Kapitalisierung jeglichen Begehrens beschleunigt. Die evolutionär grundierte Ökonomie des Wünschens und Begehrens, die sich bei Schiller noch auf Bänder und Pfauenfedern kapriziert, liegt prinzipiell der Produktion von Luxusgütern zu Grunde und verleiht der Bourdieu’schen Kosmologie des Sozialen eine geradezu ahistorische Konstanz. Sie definiert zugleich den irrationalen Kern des Homo oeconomicus. Die konsumistische Falle, in der die Bewohner der kapitalistischen Wohlfühlzonen im Anthropozän sitzen, die es ihnen schwer macht, entschlossene Schritte gegen das ökologische Desaster zu unternehmen, basiert demnach auf biologischen Mechanismen, welche die Ökonomie, anders als Karl Marx glaubt, als Wunschmaschine konzipieren.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 53

53

18.02.21 16:2


Lenkt Schillers Text das Augenmerk auf den Sachverhalt, dass zwischen dem Horizont einer Kuh und dem eines SUV-Fahrers eine enge Verwandtschaft besteht, so macht diese Konvergenz unter anthropozänen Bedingungen einsichtig, warum vierrädrige Objekte, die dafür sorgen, dass die gesetzlich verankerten Klimaziele gefährdet werden, offenbar ungebremst den Alltag erobern dürfen. Der Drang zum Erwerb dieser Produkte ist eben nicht durch deren Gebrauchswert veranlasst. Vielmehr ist die Aussicht auf narzisstische beziehungsweise Aufmerksamkeitsgewinne im Spiel, deren Akkumulation als erstrebenswerte Option im Genom angelegt ist. Angesichts des ökologischen Bedrohungshorizonts kollidiert die Intention, die Bedingungen des Holozäns weitgehend zu restituieren, mit dieser Schaltung der Conditio humana, welche die Reproduktion der Spezies sichern hilft. Um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bahnen, kommt der Reflexion evolutionärer Koordinaten entscheidende Bedeutung zu. Schillers Drama beweist, dass diese unabdingbare Reflexion, die mit einer Tiefentransformation einhergeht, prinzipiell in der Matrix des Theaters angelegt ist, sodass ihm eine zentrale Funktion bei der Umwertung der Werte im Sinne einer Emanzipation von biologischen Konditionierungen zugewiesen ist.

54

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 54

18.02.21 16:2


Diese Divergenz zwischen Vernunft und Instinkt wirft ein zwiespältiges Licht auf die notgezwungen naturnahen indigenen Gesellschaften, denen sich das Interesse der ökologischen Literatur momentan vermehrt zuwendet. Denn die Frage des Anthropozäns lautet nicht nur, was von Gemeinschaften, die Adlerfedern und Pantherfellen ein großes symbolisches Kapital zusprechen, in Bezug auf die Natur gelernt, sondern auch wie die Loslösung von evolutionären Koordinaten geleistet werden kann. Bestimmte auf der horizontalen Ebene die Divergenz dionysisch-apollinisch das Kraftfeld der antiken Bühne, wird die anthropozäne Szene durch vertikale Vektoren bestimmt, die sowohl in prähistorische Kulturräume weisen wie in die Technosphäre der globalen Zivilisation. Mit der gleichen Dringlichkeit, mit der sich das Theater der Reflexion und Neu-Konzeptionierung seiner schamanistischdionysischen Wurzel zuwenden muss, um seinen aktuellen geschichtsphilosophischen Ort auszuloten, ist es nötig, eine Allianz mit der Technik zur „Verbesserung des Planeten“ (Brecht BFA 3: 16) zu erkunden. Diese pointierte Wendung stammt aus Brechts Lehrstück Der Ozeanflug (1928/29) beziehungsweise Der Flug der Lindberghs:

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 55

55

18.02.21 16:2


Aber es ist eine Schlacht gegen das Primitive Und eine Anstrengung zur Verbesserung des Planeten …/…/ Jetzt nämlich Laßt uns bekämpfen die Natur Bis wir selber natürlich geworden sind. Wir und unsere Technik sind noch nicht natürlich Wir und unsere Technik Sind primitiv. (ebd.) Stellte in der von der christlichen Religion dominierten Vergangenheit das asketische Ideal den heroischen Versuch dar, die evolutionären Koordinaten zu verschieben beziehungsweise sich von ihnen zu lösen, verknüpft auch die zitierte Passage den planetarischen Zielhorizont mit einer Denaturierung des Menschen. Wenn die Technik dazu dient, die als primitiv charakterisierte Ausstattung der Spezies Sapiens zu optimieren, wird zugleich langfristig die Entwicklung von Operatoren und Prozessoren angestrebt, welche ein Äquilibrium zwischen den planetarischen Bedingungen und Produktionsweisen und Maschinen anstrebt. Noch aber befinden sich sowohl der Mensch wie seine Apparaturen in einem Zustand, der weit von diesem doppelcodierten, sowohl als „natürlich“ wie als „das / Unerreichbare“ (24) bezeichneten Ideal entfernt ist.

56

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 56

18.02.21 16:2


Wenn unter anthropozäner Prämisse zur Verbesserung des Planeten sämtliche Verfahren tauglich erscheinen, welche die derzeitige parasitäre Existenzweise ablösen und mittels derer sich ein symbiotisches Verhältnis zum Planeten aufbauen lässt, können Technologien, die in Einklang mit der Ökosphäre und der Diversität der Arten stehen, demnach sowohl als natürlich wie als noch zu erreichend klassifiziert werden. In Brechts Zeitalter befindet sich die Technik dagegen noch auf einem unzureichenden Niveau: Die technische Noosphäre, ein Begriff, der auf den Vorsokratiker Anaxagoras und dessen Geistbegriff zurückgeht, kollidiert mit den terrestrischen Konditionen, statt mit ihnen zu harmonieren. Dieser Argumentation nach wäre also zu klären, ob das Digitale die Möglichkeit bietet, den Basiskonflikt Technologie versus Erdsystem in eine weniger konfrontative Beziehung aufzulösen. Dem frühen Brecht entzifferte sich die Divergenz natürlich/unnatürlich in einem auch gegenwärtig durchaus erhellenden, explizit antiromantischen Licht. Proklamierte Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert eine Coincidentia oppositorum im Unendlichen, drängt das neue Klimaregime, in dem „die Anhäufung von Kohlendioxid in der Atmosphäre die Geschichte vom Schicksal der Erde umzuschreiben begann“ (Ghosh 2017: 16), auf den Zusammen-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 57

57

18.02.21 16:2


fall des Gegensatzes Kultur-Natur in einer durch die Kreuzung von historischer und geologischer Skalierung definierten historischen Epoche.

* * * Zeichnet sich mit dem aufziehenden Anthropozän die Grenze des Anthropozentrismus ab, rücken Gesellschaften in den Fokus, die bereit waren, Naturkräften und deren Präsenzen ein Eigenleben zuzugestehen. Die westlichen Wissenschaften mitsamt ihren Erfindungen haben in Neuzeit und Moderne der Entzauberung der Welt gewaltige Schübe verliehen, sodass prähistorische Ordnungen aus dem Blick einer am Fortschritt orientierten Geschichte gerieten und als Exotika in Museen landeten. Die gegenwärtige Affinität des anthropozänen Diskurses zu indigenen Kulturen beruht auf der Übereinstimmung, dass in einem mythisch strukturierten Kosmos weder die Natur noch ihre Exponenten als tote Dinge erfahren werden. Aus medientheoretischer Sicht wird die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt vertieft, als Philipp II. in Spanien eine überbordende Bürokratie aufbaute, die in der Lage war, die koloniale Wirklichkeit unter den Aspekt Einfuhr/Ausfuhr von Gütern und weiteren Datenerhebungen zu erfassen. Als „flächendecken-

58

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 58

18.02.21 16:2


den Kosmographen“ bezeichnet Friedrich Kittlers Schüler Bernhard Siegert diesen neuzeitlichen Aufzeichnungsapparat in seiner Untersuchung Passagen des Digitalen. Rein epistemologisch argumentiert dagegen der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro, der wissenschaftliche und schamanistische Logik scheidet. Geht erstere davon aus, dass „ein Subjekt ein unzureichend analysiertes Objekt“ (de Castro 2019: 52) sei, betrachtet letztere ein „Objekt als ein unzureichend interpretiertes Subjekt. Hier muss man wissen wie man personifiziert, denn man muss personifizieren, um zu wissen“ (ebd.). Man muss nicht amazonische Urwälder aufsuchen, um für dieses Verfahren anschauliche Belege zu finden. John Muir, ein amerikanischer Vordenker der Ökologiebewegung, der 1892 mit dem Sierra Club eine der ältesten und mit 2,4 Millionen Mitgliedern eine der größten Naturschutzorganisationen der Vereinigten Staaten gründete, pflegte ein geradezu intimes Verhältnis zu einzelnen Baumarten: Die meisten Kiefern haben eine Gleichförmigkeit des Ausdrucks […]: Wie schön ihre typische Turmgestalt auch sein mag, sie bietet nur wenig Spielraum für nennenswerte Individualität. […] Die Zuckerkiefer jedoch ist so frei von konventionellen Formen und Bewegungen

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 59

59

18.02.21 16:2


[…]. Nicht zwei gleichen einander. Und obwohl sie ihre gewaltigen Äste stets in scheinbar extravaganten Gebärden hinausschleudert, umgibt sie eine Ruhe und Majestät, die jede Möglichkeit des Grotesken oder womöglich Malerischen in ihrem Ausdruck ausschließt. Wild und unkonventionell im Erwachsenenalter, ist die Zuckerkiefer in ihrer Jugend ein bemerkenswert artiger Baum: Überaus vorschriftsmäßig befolgt sie strikt die Sitten der Kiefern: schlank, aufrecht, die nadelreichen biegsamen Äste exakt an Ort und Stelle. Ein vergnügliches Studium [!] bietet die Abfolge der Übergangsformen von der vorsichtigen Adrettheit der Jugend zur kühnen Freiheit der Reife. Mit fünfzig oder sechzig Jahren beginnen die scheuen, modischen Formen aufzubrechen. Spezialisierte Zweige treiben an den unvorstellbarsten Stellen aus und biegen sich unter den großen Zapfen, womit sie dem Baum augenblicklich einen individuellen Charakter verleihen. (John Muir 2013: 137 f.) Schon seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert ist dem ökologischen Denken eine Affinität zum Schamanismus als „der Enthüllung eines Maximums an Intentionalität“ (de Castro 2019: 51) eingeschrieben. Wenn in der aktuellen Anthropozändebatte Begriffe wie Symbiose (Serres), Kohabitation (Sloterdijk),

60

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 60

18.02.21 16:2


Sympoiesis (Haraway) dazu aufrufen, die Entitäten der Natur als Akteure, Aktanten oder Rechtssubjekte anzuerkennen, wird damit zugleich der Diskurs in eine Richtung geöffnet, die „nicht nur den anthropos, sondern die gesamte Gemeinschaft der Existierenden einbezieht, die mit ihm verbunden ist und der gegenwärtig eine Nebenfunktion zugewiesen wird“ (Descola 2011: 18). Die Ausstattung der Objekte mit Intentionalität bewirkt eine epistemologische Re-Konzeptualisierung der Dinge, die insbesondere den zentralen Referenten des anbrechenden Zeitalters betrifft, wie eine Charakterisierung Latours deutlich macht: „Galileis Erde konnte sich drehen, aber sie hatte weder einen ‚Kippunkt‘, noch ‚planetarische Grenzen‘, noch ‚kritische Zonen‘. Sie bewegte sich, aber sie verhielt sich nicht. Mit anderen Worten: Sie war noch nicht die ERDE des Anthropozäns“ (Latour 2017: 109). Die Verschiebung der Perspektive beleuchtet den zuvor toten Gegenstand als einen Aktanten, der über ein noch kaum ausgelotetes Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten verfügt. Da es sich bei der in Bewegung geratenen Erde weder um ein selbstständiges Subjekt noch um ein lebloses Objekt handelt, führt Latour den Terminus Quasi-Subjekt als Bezeichnung für sie und ähnliche Entitäten ein, „die mit dem, was wir sind und tun,

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 61

61

18.02.21 16:2


nicht mehr ohne Verbindung sind“ (112). Zugleich nähert die Verwandlung in ein Möglichkeitsfeld das traditionelle Ding dem Begriff des Subjekts an, ohne „darum zu vergeistigen, was leider keinen Geist hat, um uns in einer etwas weniger entzauberten Welt wohler zu fühlen“ (110). Angesichts dieses Horizonts gewinnt Latours paradoxe Parole: forward to the past! (ebd.) ihre Evidenz, denn epistemologisch führt die partielle Aufhebung der strikten Subjekt-Objekt-Trennung in eine Zukunft, die Kontaktflächen zu prähistorischen Formen des Erkennens aufweist. Eine Korrespondenz der einsetzenden, die Post- und Spätmoderne abschließenden Ära zu Kulturformen, deren symbolische Ordnung auf animistischen Wirkzusammenhängen basiert, ist unabweisbar. Markiert das Verblassen der Mythen den Übergang von einer animistischen zu einer wissenschaftlichen Betrachtung der Natur, wirkt sich die Auflösung der alten Subjekt-Objekt-Beziehung zugunsten von Aktanten, Quasi-Subjekten, Wirkungsmächten unweigerlich auf den Ort der Kunst in einer planetarischen Kultur aus. Diese tektonische Verschiebung lässt ebenso die nicht-menschlichen Protagonisten der Mythen und antiken tragischen Vorlagen in den Blick geraten, wie die Bühne des 21. Jahrhunderts sich fragen muss, wie sie das Feld des

62

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 62

18.02.21 16:2


Sozialen erweitern kann, um „diplomatische“ (Latour 2010: 262 ff.) beziehungsweise gesellschaftliche Beziehungen jenseits des anthropozentrischen Bannkreises aufzubauen.

* * * In den literarischen Traditionen hallt das magische Zeitalter bis heute nach. Die Echoräume erstrecken sich von Ovids Metamorphosen, in welchem die Bäume und Pflanzen, Tiere, Flüsse und Quellen aufgrund von vorhergehenden Taten ihre besondere Gestalt annahmen, bis zur Personifizierung von Naturphänomenen, biologischen Wesen, Dingen oder Körperteilen wie in Nikolai Gogols Groteske Die Nase oder Franz Kafkas Die Verwandlung. Aufgrund seiner Abstammung aus Kult und Ritus ist das Intentionale der außermenschlichen Welt in die DNA des Theaters eingespeist. Descola argumentiert, dass die Kulturen, vor dem strikten Bruch in Subjekt und Objekt, primär mit dem Instrumentarium der Metamorphose operieren und das „Unglück“ der logoszentrierten Zivilisationen gerade aus dem Umstand resultiert, dass sie über „kein geistiges Äquivalent für die Metamorphose“ (Descola 2011: 426) verfügen. Die Metamorphose ist das zentrale Relais, der mythisch strukturierte und ins ökologische Habitat ein-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 63

63

18.02.21 16:2


gebettete Gesellschaften mit den Kreisläufen und Prozessoren der Natur verschaltet. Offenbart das Anthropozän eine Ära, in der alles mit allem zusammenhängt (A. v. Humboldt), stellt ihre Kunst einen Resonanzraum jenes Weltalters dar, „in dem sich alles in alles verwandelte. […] die Götter schufen nichts – allein schon die Vorstellung einer Schöpfung schien ihnen befremdlich und unpassend. Die Götter waren nur Meister der Verwandlung“ (Calasso 2020: 266). Im Kontext der griechischen Antike stellt die Etablierung des Logos zugleich einen Gegenentwurf zu einer mythisch verfassten Kultur und ihren Techniken dar. Wenn Platon gegen Homer zu Felde zieht, richtet sich, so der italienische Kulturhistoriker Roberto Calasso, seine Attacke insbesondere gegen das Reich der Metamorphose: „Dies ist das der Philosophie feindliche Reich, das Reich unbezähmbarer Kräfte, dessen Zeugen – die Dichter – aus dem Staat ausgeschlossen werden sollen“ (Calasso 1991: 353). Es handelt sich, um „den großangelegten Versuch, eine ganze Erkenntnisform zu untergraben“ (ebd.), denn mit Dichtung auf der einen und sokratisch-platonischer Philosophie auf der anderen Seite, geraten „zwei feindliche Erkenntnistypen“ (ebd.) aneinander. Epistemisch erweisen sich die Identitätslogik der Wissenschaft und das Denken in Verhältnissen mythischer Transformation als unvereinbar:

64

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 64

18.02.21 16:2


Die erste, mit Notwendigkeit erzählende Form ist die, in der sich die Erkenntnis überall dort zeigt, wo wir auf Mythen stoßen – und es gibt keine Zivilisation, die nicht auch eine Erkenntnis dieses Typs umfasste. Im Gegenteil, die prädikative Erkenntnis tritt („a ist b“) erst sehr spät und nur an wenigen Orten auf, zu denen auch das antike Griechenland gehört. Der letztliche Gegensatz wäre also dieser: auf der einen Seite eine Erkenntnis, die wir heute algorithmisch nennen würden – eine Kette von Sätzen, von Zeichen, die durch das Verb „sein“ verbunden sind; auf der anderen Seite eine metamorphische Erkenntnis. (Calasso 1991: 352) Die Metamorphose war jene Operation, mit der sich der Mensch als Spezies, als Erdbewohner neben anderen begriff, dessen Kultur in die Kreisläufe der Natur und die kosmologischen Zyklen eingebunden ist. Unter dieser Prämisse dechiffriert sich die Kollision mit dem philosophisch-wissenschaftlichem Denken in linearen Kausalitäten zugleich als Entkoppelung von den planetarischen Zyklen. Parallel schränkte der aufkommende Anthropozentrismus das soziale Feld ein, das sich nicht länger auf außer-menschliche Akteure erstreckt, sondern allein die menschliche Spezies fokussiert.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 65

65

18.02.21 16:2


Der Sophist Protagoras (490–411 v. Chr.) gab im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Athen mit der Formel: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge!“ die Marschroute vor. Seine Maxime plädiert für den Abbruch des gesellschaftlichen Verkehrs mit den nichtmenschlichen Protagonisten und wird sich in die Matrix des westlichen Zivilisationstyps ätzen. Dagegen finden sich noch ein Jahrhundert später in Asien Positionen, welche die menschliche Spezies als eine unter vielen taxieren. Der Taoist Zhuangzi verwirft in der Parabel Der Frosch im alten Brunnenloch ausdrücklich anthropozentrische Perspektivierungen: „Um die Zahl aller Dinge zu bezeichnen, redet man von Zehntausenden, und der Mensch ist nur eben eines davon. Wenn man ihn also vergleicht mit den Myriaden von Wesen, ist er da nicht wie die Spitze eines Härchens am Leibe eines Pferdes?“ (Zhuangzi 1972: 180) Ähnlich beschreibt der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould die Stellung der Humaniden, wenn er die Evolution mit einem Busch vergleicht und ein Ästchen den Menschen verkörpert. Würde dieser Zweig abknicken, hätte sich am Gesamtbild nichts Wesentliches verändert. Auch die Devise des Protagoras bleibt nicht unwidersprochen. In König Ödipus, jener Modelltragödie, die Bruno Latour grundlegend für das Anthropozän hält, wird der Protagonist, der das Rätsel der Sphinx

66

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 66

18.02.21 16:2


löste, indem er alles auf den Menschen zurückführte, sich schließlich die Augen ausstechen, die Polis verlassen und fortan heimatlos übers Land ziehen. Doch gegen Ende des Jahrhunderts wird sich der Anthropozentrismus durchsetzen, der Sturz der attischen Tragödie und die Umwandlung ihrer „Kultbühne“ (Klaus Heinrich) in den Schauplatz dessen vollzogen, was Nietzsche das „bürgerliche Schauspiel“ (Nietzsche KSA 1: 94) nennt. Die Tragödie, welche die Riten der ruralen Räume, die an Fruchtbarkeits- und Erntefeste gekoppelt sind, in das symbolische Feld der Polis transferiert, zeugt selbst von einem Prozess des Übergangs. Die aufkommende wissenschaftliche Kultur kulminiert mit Platon, dessen Denken sich nicht nur gegen die Sophisten wendet, sondern ebenso gegen die Dichtung und insbesondere gegen die Tragödien. „Im Staat ist der Dichter derjenige, der sich in alles verwandeln kann. ‚Wunderbare Wesen‘, an denen freilich nichts ‚Gesundes‘ ist“, kommentiert Calasso und fährt fort: „Im Dichter kann man das schamanische Erbe erkennen, ein Echo aus der Zeit der Metamorphosen.“ (Calasso 2020: 324) Mit der Durchsetzung der um den Logos zentrierten Parameter, die sich für Nietzsche in der Gestalt des Sokrates verkörpern, vergeht jenes Erkenntnisinstrument der Metamorphose, das aus einer begriffslosen Welt stammt. Der Philosoph mit dem

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 67

67

18.02.21 16:2


Hammer bilanziert: „Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus“ (Nietzsche KSA 1: 147). Mit der Tragödie verliert die Natur ihre gewichtigste Stimme im symbolischen Haushalt. Dionysos und sein Gefolge werden in Geheimkulte an den kulturellen Rändern gedrängt. Symptomatisch für diese Erosion beziehungsweise diesen Paradigmenwechsel ist der Bericht Plutarchs, dass zur Zeit des Tiberius (14–37 n. Chr.) ein ägyptischer Steuermann namens Thamus vor der griechischen Küste eine Stimme gehört habe, die ihm befahl, zu verkünden: „Der große Pan ist tot!“ Pan, ein Hirtengott, halb Mensch, halb Ziegenbock, zählt zum Gefolge des Tragödiengottes Dionysos und war insbesondere für Tanz und Musik, Fruchtbarkeit und Ekstase zuständig. In der anschließenden christlich dominierten Kultur werden die bocksfüßigen Satyrn – „der Satyr, das fingirte Naturwesen“ (Nietzsche KSA 1: 55) –, die einst den Bocksgesang der Tragödie anstimmten, als Sinnbild des Teuflischen und Bösen verfemt und exilieren in den Untergrund der Kultur. Im Zuge dieses Prozesses wird auf der Bühne das soziale Feld eingeschränkt – die epistemisch entkernte Tragödie wird zum Drama. Die Aktanten besitzen in dem rein zwischenmenschlichen Kosmos des Sozialen keinen Ort mehr. Fortan ist die Bühne auf das gesellschaftliche Kräfteparallelogramm und die Trajektori-

68

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 68

18.02.21 16:2


en der Macht fokussiert, die sie in komplexen Handlungsgefügen szenisch aufbereitet. Dagegen stemmen sich ein bis zu Hölderlin rückverfolgbares Projekt der Renaissance der Tragödie und Re-Installation des Mythos, das im 20. Jahrhundert zu einem Exzentriker des Theaters wie Antonin Artaud oder dem dionysischen Erben des Brecht-Throns Heiner Müller führt. Letzterem zufolge „handelt Theater von den Schrecken/ Freuden der Verwandlung in der Einheit von Geburt und Tod. Das macht seine Notwendigkeit aus“ (Müller Werke 8: 177). Der planetare Kurswechsel taucht sowohl Geschichte wie ästhetische Techniken der Bühne in ein neues Licht und stellt zugleich mit der Re-Etablierung und Re-Konzeptualisierung der außermenschlichen Akteure die Konstruktion einer zukunftsfähigen Theaterarchitektur wie die theatrale Logik vor immense Herausforderungen.

* * * Erschien es im antiken Mythos und somit auch im Radius der Tragödie durchaus plausibel, wenn zum Beispiel Flüsse als Akteure auftraten, lautet gegenwärtig für das Theater die kardinale Frage, in welcher Form jenseits romantisierender Strategien oder einer Neo-Mythisierung die Rückkehr der Naturmächte auf

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 69

69

18.02.21 16:2


der Bühne denkbar ist. Mit dem Begriff des Aktanten hat die zeitgenössische Epistemologie in kategorialer Gestalt eine Verwandtschaft mit den Protagonisten destilliert. Auch wenn der Mythos verstummt ist, verleiht die Literatur, wie Ovid, Gogol, Kafka oder der Prosaeinschub „Herakles 2“ von Heiner Müller zeigen, dem Aktanten von der Antike bis in die Gegenwart weiterhin ein Gesicht. Künstlerisch zertifizieren diese symbolischen Konstruktionen ihre Triftigkeit durch die Qualität der Kompositionen auf der Ebene des Ausdrucks. Anders als wissenschaftliche Wahrheitsoperation unterliegen sie nicht Kriterien wie Kohärenz, Überprüfbarkeit, Widerspruchsfreiheit und dergleichen. Im Straßenbau sollte eine Überführung, die diesen Kategorien nicht genügt, besser nicht realisiert werden. Dagegen kann sie im Reich der Kunst in unbekanntes Territorium führen wie Salvador Dalís Gebrochene Brücke veranschaulicht, die ganz offenkundig ins Jenseits ragt. Die Unterschiede zwischen der ästhetischen und der wissenschaftlichen Zugangsform zur Welt sind evident. Für Nietzsche wie Calasso resultiert die Havarie der mythenbasierten Tragödie gerade aus dieser unterschiedlichen Verfasstheit von Wissenschaft und Kunst. Wie aber gestaltet sich deren Spannungsfeld nach der Einführung der Kategorie des Aktanten?

70

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 70

18.02.21 16:2


Wird das Objekt der alten Epistemologie durch seine Aktivität definiert – also nicht länger nicht als (Roh-) Stoff, sondern Quasi-Subjekt –, lässt sich das vormals tote Ding sowohl mit künstlerischen wie mit wissenschaftlichen Verfahren als Wirkmacht erfassen und beschreiben. Auch wenn die Kunst ihren Eid auf das Uneindeutige und eine undurchschaute Komplexität ablegt und alles allzu Offensichtliche ihrer Dignität abträglich scheint und es dem wissenschaftlichen Denken im Gegenteil darum geht, Spannungen und Widersprüche aufzulösen und in eindeutig Verifizierbares zu übertragen, können sowohl Wissenschaft wie Kunst auf dasselbe Quasi-Subjekt referieren. Dessen zwei Seiten müssen sich nicht decken, aber überlappen womöglich. Sie stehen einander in jedem Fall nicht länger aus systematischen Gründen unvereinbar entgegen wie in der Ära von Mythos und Tragödie. War der tragische Aktant mythisch verfasst, stammt ein Großteil der Kenntnisse über dessen hybride Nachfahren unserer Gegenwart aus den Laboren, Versuchsanstalten, Satellitenprogrammen und Simulationsprozessen der wissenschaftlichen Kammern. Der scharfe Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst schmilzt im Licht der anthropogen induzierten Aktanten, was mit einer Annäherung der divergenten Pole einhergeht. Als Aktant perspektiviert, kehrt der mythologisch grundierte

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 71

71

18.02.21 16:2


Akteur des tragischen Theaters als hybrider Exponent im Anthropozän auf die wissenschaftlich-dionysischen Tanzplätze zurück. Bei dieser Kombination von Wissenschaft und Dionysischem handelt es sich keineswegs um eine Synthese oder Aufhebung der Gegensätze, sondern um ein durch die drohende Menschheitskatastrophe verklammertes Amalgam oder eine Assemblage des Heterogenen voller innerer Differenzen. Das anthropozäne Theaterkunstwerk lässt sich somit strukturell als ein Nachfolgemodell von Nietzsches Perspektivierung des attischen Dramas einordnen, das seine Schubkraft ebenfalls von zwei gegenläufigen Polen bezog. Nicht der alte Mythos, aber sein epistemisches Substrat und die Wissenschaft bilden unter der Prämisse des Aktanten im künstlerischen Bereich eine neue Allianz heraus, wobei die Nähe der Wissenschaft zum Apollinischen und des Artistischen zum Dionysischen offenkundig ist. Bei dieser Bühne des Anthropozäns, die von humanen Protagonisten und hybriden Quasi-Subjekten gleichermaßen bespielt wird, handelt es sich demnach um ein Kraftfeld, das seine Spannungen, Interferenzen und Rückkopplungseffekte aus den vielfältigen Perspektivierungen der Aktanten bezieht. Situiert auf der Grenze von Kunst und Wissenschaft, ist die anthropozäne Bühne selbst hybrider Natur und bietet sowohl

72

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 72

18.02.21 16:2


hochwertigen mytho-poetischen Beschwörungen der Akteure wie wissenschaftlichen Vorträgen über deren mittlerweile hybrides, weil anthropogen modifiziertes Wesen Raum. Tektonisch auf der Kreuzung von Erdgeschichte und einer ins Globale erweiterten okzidentalen Kultur gebaut, szenisch entlang der Formel „Wissenschaft meets Kunst“ entwickelt, begegnen sich auf der Bühne des Aktantentheaters Schauspieler und Wissenschaftler auf Augenhöhe. Ästhetisch betrachtet, handelt es sich bei lyrischen beziehungsweise poetischen Zeugnissen und bei analytisch konzisen Sprachdokumenten um verschiedene Textsorten, die an keinen bestimmten Sprecher gebunden sind. Epistemologisch lässt sich dieses Vorgehen mit Michel Foucault begründen: „Die Wissenschaft, die objektive Erkenntnis ist nur ein möglicher Fall […], mittels derer man das Wahre zum Ausdruck bringen kann“ (Foucault 2020: 23). Der französische Philosoph spricht im Kontext der Tragödie König Ödipus vom „Ritual der Wahrheitsmanifestation“ (21) mit dem Ziel, „aus dem Verborgenen, dem Unsichtbaren, dem Unvorhersehbaren heraus das Wahre selbst aufscheinen zu lassen“ (ebd.). Den künstlerischen wie den wissenschaftlichen Wahrheitsmanifestationen ist gemeinsam, dass sie das Publikum, sowohl emotional wie kognitiv, metaphorisch wie diskursiv mit einer Kosmo-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 73

73

18.02.21 16:2


logie Bekanntschaft schließen lassen, in der nicht länger die humanen Akteure, sondern die nicht-menschlichen Quasi-Subjekte das Sagen haben. Auf dem Thron der Shakespeare-Zeit hat mittlerweile Erdmutter Gaia Platz genommen, und der Bühne obliegt es, die Zuschauer in deren ureigenem Interesse mit dem neuen Regime vertraut zu machen.

* * * Die industrialisierte Staatengemeinschaft tut sich nicht zuletzt deswegen schwer, angemessen auf die ökologische Misere zu reagieren, weil sie mit Hilfe der Wissenschaft die Erde einer Verwertungslogik unterworfen und das Ensemble heterogener Wirkmächte als Verfügungsraum orchestriert hat. Zugleich taucht sie damit den Weltinnenraum des Kapitals in ein Fluidum unendlicher Langweile. Leben, so bereits die Überzeugung der Poètes maudits, beginnt dort, wo die Komfortzone endet. Der Charakter der Gesellschaft des Spektakels mag zwar immer wieder Sensationelles offerieren, ist aber im Kern als Manifestation der Massenkultur durch und durch banal. Dessen Trivialitäten verbieten sich dem anthropozänen Kunstwerk – die abgenutzten und sie affirmierenden Sprachformeln der Wegwerfgesellschaft eingeschlossen. Der transportierte Inhalt darf nicht un-

74

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 74

18.02.21 16:2


abhängig von Art und Weise seiner Präsentation betrachtet werden. Verbindlichkeit beansprucht in diesem Kontext ein später Satz Heiner Müllers: „Theater muß schön sein. […] es muß schön sein, sonst ist es nicht fremd. Das Fremdeste in unserer Realität ist Schönheit. Und das ist die größte Provokation.“ (Müller Werke 12: 802 f.) Die Ästhetik des Fremden, auch der Verfremdung, wendet sich auf der anthropozänen Bühne gegen die Konzepte des Gewöhnlichen und scheinbar Selbstverständlichen, als Ideologien des Rohstoffs und bedenkenlosen Vernutzung im symbolischen Raum. Schließlich haftet sowohl dem zentralen Referenten des eintretenden planetarischen Zeitalters der Erde sowie der reflektierenden Existenz in einem Milliarden Jahre währenden Uni- oder Pluriversum nichts Alltägliches an. Gerade die Singularität unseres Planeten, der zu anderen uns bekannten vergleichbaren physikalischen durchs Weltall rotierenden Körpern, als einzig bekannter Leben hervorgebracht hat, kann nicht als eine Vorratskammer von Ressourcen klassifiziert werden, wie es der dominierende Homo oeconomicus propagiert. Wird das anthropozäne Kunstwerk als etwas entworfen, das unverbrauchte Perspektivierungen eröffnet, eine Sensibilität für den quasi-transzendieren Charakter unseres Sterns erweckt, den Rätselcharakter des Daseins modelliert und als planetare Plastik in Szene setzt, unbekannte Assoziations-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 75

75

18.02.21 16:2


ketten an der Schwelle einer kulturellen Transformation in Gang setzt und mit den konditionierten Schaltungen der Synapsen spielt, demaskiert sich jede Einbettung in eine breite, weil konsumistische Gegenwart. „Ich fühle Luft von anderen Planeten“ (Arnold Schönberg), lautete die Losung der klassischen Avantgarde. Ihr setzt die planetarische Avantgarde – gerahmt und beflügelt von dionysischer Intensität – ein Entdecken und Erkunden, ein Erforschen und Erkennen, eine Fokussierung und Konzentration, ein Oszillieren zwischen mythischen und hybriden Aktanten entgegen, weil ihr der eigene Himmelskörper und dessen Prozesse in Vergangenheit und Gegenwart keinesfalls banal oder selbstverständlich erscheinen. Die Kunst ist aufgefordert, eine Verbundenheit zum Aktanten Erde zu erzeugen, die jene Transformation begleitet und befeuert, um eine Kultur zu generieren, die weder in ausbeuterischer Weise mit der Erde, ihren Landschaften und den nicht-menschlichen Erdbewohnern noch mit den Mitmenschen umgeht.

* * * Grundsätzlich lässt sich das Anthropozän unter zwei vollkommen unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Prämissen perspektivieren. So kann das anthropozäne Zeitalter als unbeabsichtigter Nebeneffekt des

76

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 76

18.02.21 16:2


menschlichen Erfindungsgeistes klassifiziert werden. Der Wunsch nach schnellerer Verfertigung von Waren, beschleunigten Transportmitteln etc. führt nicht nur in bis dahin historisch einmalige Komfortzonen, sondern zeitigt erstaunlicherweise, weil keineswegs beabsichtigt, zunehmend Momente einer ökologischen Krise mit planetarischen Ausmaßen, deren Bekämpfung absehbar immer mehr Mittel verschlingen wird, falls sie überhaupt möglich ist. Die auf europäischer Technik basierten Zivilisationen operieren trotz ihrer permanenten Akkumulation von Wissen und eines weit gefächerten Netzes von Universitäten und wissenschaftlichen Instituten gleichsam blind bezüglich der Auswirkungen ihres Handelns. Erst unter dem faktischen Druck der Veränderung der ökologischen Parameter entsteht allmählich die Einsicht, die Folgen der Handlungen mit in die Kosten-Nutzen-Rechnungen einzubeziehen, was wiederum erhebliche soziale Verschiebungen und damit verbunden Konflikte auf dem politischen Feld mit sich bringt. Die herkömmliche Lesart der Thematik geht von einem Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie aus, sodass jede Konzilianz in Umweltfragen wie zum Beispiel die Einführung einer Besteuerung von CO2, falls nicht überraschend Einsparpotenziale entdeckt werden, sich in Form der Verteuerung von Produkten und Dienstleistungen nie-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 77

77

18.02.21 16:2


derschlägt. Damit wird eine Erhöhung von gesellschaftlichen Spannungen induziert, die wiederum Einfluss auf die Zusammensetzung der Parteienlandschaft nehmen und die Gesellschaft zu zerreißen drohen, werden sie nicht frühzeitig und vorausschauend politisch reguliert. Vor diesem Horizont bietet sich der Green Deal als eine Synthese wie aus alten hegelianischen Zeiten an, in der ökonomische und ökologische Vernunft profitabel zusammenfließen. Die Naturzerstörung ist in diesem Fall ein in die wirtschaftlichen Operationen einzupreisendes Element, das den planetarischen Realitäten Rechnung trägt, in der Regel zu Ungunsten der sozial Schwachen. Bruno Latour zögert nicht, die Weltlage vor Ausbruch der Corona-Pandemie – die Trump-Regierung in den USA, das großflächige Aufkommen des Populismus, eine zunehmende Präferenz nationaler anstatt multikultureller Optionen – in Das terrestrische Manifest 2018 als Gegenreaktionen auf die anwachsende Bedeutung der politischen Ökologie zu identifizieren. Wird das Anthropozän dagegen als Symptom betrachtet, also die Zerstörung des ökologischen Habitats durch anthropogen getriggerte Faktoren wie die Erderwärmung, Versauerung der Meere, Vernichtung von Biodiversität usw. nicht als unerwarteter Nebeneffekt des technischen Fortschritts bewertet, eröffnet sich

78

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 78

18.02.21 16:2


den Interpreten der anthropozänen Gemengegelage ein noch kaum beschrittenes Terrain. In diesem Sinne spekuliert beispielsweise Michel Serres, der „Vordenker des Anthropozäns“ (Hans-Jörg Rheinberger), in seinem Grundlagenwerk Der Naturvertrag, ob in die „Umweltverschmutzung“ evolutionäre Impulse eingehen: „Nun habe ich aber häufig bemerkt, daß viele Menschen, in Nachahmung bestimmter Tiere, die ihre Nischen und Höhlen mit Duftmarken abgrenzen, damit sie ihnen erhalten bleiben, die Gegenstände, die ihnen gehören, markieren und kennzeichnen, indem sie sie verdrecken“ (Serres 1994: 60). Auch wenn das Beispiel im 21. Jahrhundert kaum noch zu überzeugen vermag, ist die prinzipielle Überlegung, dass das ökologische Desaster „keinesfalls aus versehentlichen Verfehlungen, etwa wie ein Unfall, hervorgeht, sondern tieflie­ gende Intentionen und eine ursprüngliche Motivation zu erkennen gibt“ (ebd.), durchaus ernst zu nehmen. Sind also angesichts der planetarischen Naturzerstörungen noch nicht identifizierte evolutionäre Triebfedern im Spiel, die sich bislang der Reflexion entziehen und dadurch angemessene Reaktionen sowohl im politischen wie im ästhetischen Bereich blockieren? Um diese These zu verfolgen, soll sie um die Grundüberlegung ausgeweitet werden, dass es derselbe Mensch ist, der den Menschen ausbeutet, der auch

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 79

79

18.02.21 16:2


die Natur unterwirft und exploitiert. Es ist dieselbe Logik, die im Rahmen der Geschichte für anhaltende Eskalation, Genozide, Katastrophen wie dem Zweiten Weltkrieg mit um die siebzig Millionen Toten, Vorräte von atomaren, biologischen, chemischen Massenvernichtungswaffen und alle Arten von gesellschaftlichem Gefälle sorgt, die das Verhalten der hochgerüsteten Zivilisationen gegenüber den ökologischen Habitaten bestimmt. Derart perspektiviert, zeigt sich das Anthropozän als kritisches oder gar finales Stadium eines über viele Jahrtausende und einige Jahrzehntausende andauernden, unablösbar an die Erfahrung der Gewalt gebundenen Prozesses, wenn nicht als Ausdruck derselben. Einer Gewalt, die keineswegs nur die Signatur der historischen Zeit trägt, wie die folgende Familienaufstellung des Hauses der Atriden aus dem mythologischen Geschlecht der Tantaliden belegt:

ELEKTRATEXT Tantalos, König in Phrygien, raubt die Speise der Götter, schlachtet Pelops, seinen Sohn, setzt ihn den Göttern vor. […]. Die Götter verfluchen sein Geschlecht. Niobe, Tochter des Tantalos, hat zwölf Kinder. Sie prahlt vor den Göttern mit ihrer Fruchtbarkeit. Apollon und Artemis töten die zwölf Kinder mit zwölf Pfeilen. Zeus verwandelt die schreiende Mutter in ihr eigenes Standbild. Im

80

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 80

18.02.21 16:2


Frühsommer weint der Stein. Thyestes, Sohn des Pelops, bricht die Ehe seines Bruders Atreus. Atreus erschlägt die Söhne seines Bruders und bewirtet ihn mit ihrem Blut und Fleisch. Thyestes tut seiner eigenen Tochter Gewalt an. Ihr Sohn Aigisthos tötet Atreus. Agamemnon, Sohn des Atreus, nimmt Klytaimnestra zur Frau, sein Bruder Menelaos ihre Schwester Helena. Helena wird von Paris verführt, folgt ihm nach Troja, der Trojanische Krieg beginnt. Zum ersten Kriegsopfer bestimmt ein Seherspruch lphigenie, Tochter Agamemnons und der Klytaimnestra. Klytaimnestra widersetzt sich, Agamemnon gehorcht, Iphigenie legt ihren Hals unter das Beil. Klytaimnestra teilt mit Aigisthos, dem Sohn des Thyestes und Mörder des Atreus, Macht und Bett. Klytaimnestra und Aigisthos töten Agamemnon, nach seiner Heimkehr aus zehn Jahren Krieg, im Bad mit Netz Schwert Beil. Elektra, zweite Tochter Agamemnons, rettet Orestes, ihren Bruder, vor dem Schwert des Aigisthos und schickt ihn nach Phokis. Zwanzig Jahre lang, Magd unter Mägden im Palast der Mutter, wartet sie auf seine Heimkehr. Zwanzig Jahre lang träumt Klytaimnestra den gleichen Traum: eine Schlange saugt Milch und Blut aus ihren Brüsten. Im zwanzigsten Jahr kehrt Orestes heim nach Mykene, erschlägt Aigisthos mit dem Opferbeil, nach ihm seine Mutter, die mit entblößten Brüsten vor ihm steht und um ihr Leben schreit. (Müller Werke 1: 197 f.)

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 81

81

18.02.21 16:2


Eine Ansammlung monströser Untaten, die vorrangig die Mitglieder der eigenen Familie betreffen, vernetzt die Generationen. Die Massaker sind keineswegs auf Menschen beschränkt. Die Tragödie Aias des Sophokles thematisiert ausdrücklich die Identität jener Gewalt, der sowohl Menschen wie Tiere zum Opfer fallen. Aias, einer der griechischen Helden vor Troja, fühlt sich betrogen, weil ihm die Waffen des gefallenen Achill verweigert und stattdessen Odysseus zugesprochen werden. Aus Wut über die Kränkung will er die griechischen Heerführer erschlagen, metzelt aber – in seinem Amoklauf verblendet – eine Schafherde und peitscht den Bock, den er für Odysseus hält, zu Tode. Auch Herakles schneidet nicht nur Gesandten die Nasen und Ohren ab und zeichnet sich in Schlachten aus, sondern sein Ruhm speist sich insbesondere aus der Bezwingung nicht-menschlicher Ungeheuer, wie zum Beispiel der eigenhändigen Erwürgung des gefürchteten Nemeischen Löwen, dessen abgezogenes Fell er fortan triumphal trägt. Die Anwendung von Gewalt macht weder vor Menschen noch vor Tieren oder etwa vor Landschaften Halt. So wird der vornehmste der griechischen Flussgötter Acheloos von dem Halbgott zur Strafe im Zweikampf unterworfen, weil er es wagte, dessen spätere Ehefrau Deianeira zu freien. Diese archaischen Gewaltexzesse gegen die außermenschli-

82

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 82

18.02.21 16:2


che Natur sind durchaus kein hellenisches Alleinstellungsmerkmal. Der babylonische Gilgamesch-Epos schildert die Tötung des Baumgottes Humbaba durch den Titelhelden und dessen Freund Enkidu. Das literarische Monument aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. weist in die Zeit der Sumerer und auf den Bau der Stadtmauer von Uruk mehr als tausend Jahre zuvor zurück. Die akkadischen Zeugnisse sprechen wie ihre Pendants aus der griechischen Heroenzeit eine eindeutige Sprache: Gewalt im Umgang mit Seinesgleichen wie mit den Präsenzen der Natur sind an der Tagesordnung. Die „Blutspur der vergessenen Ahnen“ (Heiner Müller) führt insofern hinter den Vorhang, den die Erzählungen der Mythen bilden, als die Existenz wie die Praxis der Gewalt von deren Narrativen und Überlieferungen vorausgesetzt wird. Wer auf noch frühere Kulturstufen rekurriert, stößt auf schamanistische Gesellschaften, die mit Flora und Fauna verkehren und denen daher ein Leben im ökologischen Gleichgewicht attestiert wird. Diese kulturelle Formationen, die einmal einen Großteil der Erde bedeckten und denen es, wie Philippe Descola schreibt, „nie in den Sinn gekommen ist, daß die Grenzen des Menschseins an den Toren der menschlichen Gattung haltmachen“, und „nicht zögern, zum Konzert ihres sozialen Lebens noch die bescheidensten Pflanzen, die

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 83

83

18.02.21 16:2


unbedeutendsten Tiere einzuladen“ (Descola 2011: 17), sollen jenseits der Dichotomie Kultur versus Natur errichtet worden sein. Geschichtsphilosophisch legt diese anthropologische Logik nahe, dass die Gewalt virulent wird, nachdem sich diese im Einklang mit der Natur lebenden Gemeinschaften auf den Weg machen, Städte zu gründen, Schriftsysteme zu entwickeln und eine Zivilisation aufzubauen. Diese geradezu rousseauistisch konnotierte (Re-)Konstruktion der Gewalt aus hochkulturellen Kontexten evoziert das geradezu tragische Axiom, dass jeder Fortschritt in puncto Naturbeherrschung, um diesen in die Jahre gekommenen Terminus Theodor W. Adornos anzubringen, zugleich das Aggressionspotenzial vervielfacht, weil sie die Leiblichkeit, als Potenzial der inneren Natur verstümmelt. Allein archäologische Funde widersprechen der Plausibilität dieser Argumentation. Auf allen Kontinenten – mit der Ausnahme Afrikas – wurden vor etwa 10 000 Jahren sämtliche Großtiere ausgerottet. Zwar ist der einzelne Mensch den eliminierten Arten in vielerlei Hinsicht unterlegen, aber einer entwickelten Technologie der Jagd haben ansonsten unbezwingbare Prädatoren (zu) wenig entgegenzusetzen. Zweifelsohne wurde die Gewalt offenbar bereits vor den uns bekannten mythischen Überlieferungen systematisiert. (Ob auch das Verschwinden der Neandertaler vor etwa 60 bis

84

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 84

18.02.21 16:2


40 000 Jahren auf den Homo sapiens zurückgeht, kann in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden.) Yuval Noah Harari konstatiert: Schon vor Zehntausenden von Jahren, als unsere Steinzeitvorfahren sich von Ostafrika aus in alle Winkel des Planeten ausbreiteten, veränderten diese die Flora und Fauna auf jeder Insel, auf jedem Kontinent, auf denen sie sich niederließen. Alle anderen Menschenarten auf der Welt, 90 Prozent der großen Tiere Australiens, 75 Prozent der großen Säugetiere in Amerika und rund 50 Prozent aller großen Landsäugetiere des Planeten trieben sie in den Untergang – und das alles noch bevor sie das erste Weizenfeld bestellt, das erste Metallwerkzeug geformt, den ersten Text geschrieben, die erste Münze geprägt hatten (Harari 2019: 119 f.). Offenbar scherten sich die notgezwungen naturverbundenen Jägerkulturen nicht um die Lotka-VolterraGleichung, die zwei Sinuskurven – die Populationen der Räuber und ihrer Beute in der freien Natur – um einen konstanten Mittelwert schwingen lässt. Ähnlich eindeutig Dirk Steffens und Fritz Habekuß: Wann immer homo sapiens einen neuen Lebensraum erreicht, beginnt er umgehend einen Vernichtungsfeldzug.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 85

85

18.02.21 16:2


[…]. Die ersten Menschen in Australien löschten den gewaltigen Donnervogel genau so aus wie das nashorngroße Wombat Diprotodon, den tonnenschweren Waran, das Riesenkänguru und die übrige australische Megafauna. In Eurasien starben nach der letzten Eiszeit Wollnashorn, Mammut, Höhlenlöwe, Riesenhirsch und viele andere aus. In Nordamerika wurden Mastodon, Kamel, Pferd und Riesenfaultier ausgerottet, in Südamerika alle Rüsseltiere und das bis zu anderthalb Tonnen schwere Riesengürteltier (Steffens/Habekuß 2020: 47 f.). Wie auch immer sich die Prozesse der Ausrottung im Einzelnen gestaltet haben, wer davon ausgeht, dass sich die Vernichtung von Biodiversität erst mit dem Anthropozän eine planetarische Gestalt gegeben hat, findet bei den indigenen Gesellschaften keinen Nullpunkt der Annihilation. Für Harari stellt dementsprechend das Anthropozän unter dem Aspekt der Ausrottung „kein neues Phänomen der letzten paar Jahrhunderte“ (Harari 2019: 119) dar. Angesichts der systematischen Liquidation ganzer Arten bleibt wenig Spielraum, rückblickend den Umgang mit der außermenschlichen Mitwelt zu romantisieren und ihm das Attribut friedvoll zu verleihen. Auf den Pfaden einer von Rousseau geprägten Kulturkritik ist dem Phänomen der Gewalt nicht beizukommen. Die Gewalt wird

86

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 86

18.02.21 16:2


mitnichten von der menschlichen Spezies in das Evolutionsspiel eingebracht, sondern, wie Dirk Steffens und Fritz Habekuß konstatieren: „Hunger, Seuchen, Gewalt – das sind die Werkzeuge der Natur“ (Steffens/ Habekuß 2020: 41). Entwürfe von Kunst oder Theater, die dem Zusammenhang von Gewalt und Anthropozän nachgehen, kommen nicht umhin, sich auf anthropologisches Gelände zu begeben. Denn mit dem Verhältnis zur Gewalt steht die Gestalt des Menschen selbst zur Debatte. Anthropologisch gestellt, lautet die Frage: Was bestimmt die Spezifik der von der menschlichen Spezies ausgeübten Gewalt? Und unterscheidet sie sich von dem anderer Fleischfresser? Wer den Blick unter dieser Prämisse auf frühe mythologische Erzählschichten richtet, stößt auf das Motiv des Opfers, dem Motor ganzer prähistorischer Narrative. „Töten“, so der Philosoph Christoph Türcke, „das tun auch Tiere. Gelegentlich auch ihresgleichen. Aber rituell töten, in feierlicher Versammlung an einem bestimmten Ort nach einem festgelegten Schema: das ist ein spezifisches, exklusives Merkmal des Menschen“ (Türcke 2008: 62). Im Anschluss konzipiert Türcke eine Opfertheorie entlang der psychoanalytischen Figur des traumatischen Wiederholungszwangs. Angesichts von Kriegsheimkehrern aus dem Ersten Weltkrieg, die Nacht für Nacht von ihren Kriegserleb-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 87

87

18.02.21 16:2


nissen heimgesucht wurden, hatte Sigmund Freud seine Deutung der Träume als verschlüsselte unbewusste Triebregungen erweitern müssen. Erlebte Schrecken und Schocks, die im Schlaf reproduziert werden, sind fortan als – wenn auch unzureichende – Versuche zu betrachten, das Erlebte zu verarbeiten und zu heilen. Der Mechanismus der Verdrängung des Materials kommt dabei nicht länger zur Anwendung. Vielmehr wird die permanente Konfrontation mit den Wunden und den Ereignissen, die den Reizschutz des Bewusstseins durchschlugen, als Praxis gewertet, den Horror zu bewältigen und ihn dadurch loszuwerden. Indem er Freuds Analyse auf die Frühmenschen überträgt, entschlüsselt Türcke das Phänomen des (Menschen-) Opfers: „Es ist der in eine Form gebrachte Wiederholungszwang. Um den Naturschrecken loszuwerden, von dem sie befallen wurde, befällt sich die Hominidenhorde noch einmal selbst“ (ebd.). Ursprüngliche Rituale wurzeln in traumatischen Gewalterfahrungen durch unberechenbare und übermächtige außermenschliche Kräfte und dienen ihrer Besänftigung, Heilung und Abwehr. Von hier aus spannt Türckes an der Grenze von Psychoanalyse und Philosophie angesiedelter Essay den Bogen zu Schutzräumen und magischen Verfahren, die grundieren, was einmal Theater heißen soll. Mittels

88

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 88

18.02.21 16:2


mimetischer Formen wird das erlittene Grauen rituell nachgespielt und dadurch antizipierend bearbeitet. Die Sphäre des Scheins erzeugt Freiräume, welche die lebensbedrohende Realität versagt. Mittels der Kategorie des Traumas lässt sich eine erste Schicht von Kulten identifizieren, die den Humus bilden, auf denen das spätere Theater sattelt. Den Übergang vom Opferritus zur Tragödie hat René Girard in Das Heilige und die Gewalt beschrieben. So überzeugend diese Darstellung eines traumatischen Kerns der kulturellen Aktivitäten wirkt, die der Mensch erfindet, um sich von seinem Opferstatus aufgrund gewaltsamer Übergriffe durch nicht-menschliche Mächte mit Hilfe der symbolischen Formen zu lösen, bedarf sie doch einer Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung, um mit den Tatsachen in Übereinstimmung gebracht zu werden. Denn längst ist der angeblich hilflose und verängstigte Homo sapiens ein Vertreter jener räuberischen Art, der es bereits in prähistorischer Zeit auf den meisten Kontinenten gelingt, einem Bedrohungszusammenhang aus nicht-menschlichen Wesen effektiv entgegenzutreten. Nur inwiefern lässt sich die menschliche Gattung überhaupt als räuberische Art taxieren? Nichts scheint in einer Gegenwart evidenter, in welcher der Mensch einen der größten Verluste von Biodiversität verantwortet, die der Planet jemals durchlebte. Aller-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 89

89

18.02.21 16:2


dings ist die Geschichte unserer Spezies keineswegs linear oder naturwüchsig. Im Gegenteil: In ihren aufrechten Gang hat sich signifikant noch eine weitere Transformation eingeschrieben, die nicht nur bis ins anthropozäne Heute nachwirkt, sondern es geradezu konstituiert. Die menschliche Gattung erfährt auf ihrem Weg in die Geschichte eine Metamorphose, wie sie keine andere Tierart durchmacht: „Vom Früchte und Wurzel sammelnden, durch Raubtiere bedrohten Primaten zu einem omnivoren, also auch Fleisch fressenden Tier, einem Zweifüßer, der in Gruppen Vierfüßer jagt, die oft größer sind als er“, bilanziert Roberto Calasso (2020: 143) diese Verwandlung. Die Ausrottung des Großwilds steht am Ende einer äußert langen operativen Kette, die sich über Jahrzehntausende zieht. Wird die Ablösung von Instinktgebundenheit und evolutionären Vorgaben von den gängigen anthropologischen Theorien in der Regel als Freiheitsgewinn verbucht, buchstabiert sich dem italienischen Mythologen dieser Bruch als Beginn einer vom Wiederholungszwang bestimmten Geschichte der Gewaltanwendung. Gerade weil die menschliche Spezies gelernt hat, über das Gewaltpotenzial frei zu verfügen, es sowohl gegen Tiere und Landschaften wie gegen Seinesgleichen einzusetzen, ist er in der Lage, den Naturzusammenhang zu verlassen. Die unbequeme

90

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 90

18.02.21 16:2


Botschaft lautet: Der Mensch ist Mensch, weil er sich eines Wissens bemächtigt hat, das ihn befähigt, die Gewalt ohne Hemmung einzusetzen. Entwirft Türcke eine Mimesistheorie, nach der traumatisierte Hominiden in Schutzräumen, ihre Erfahrung, Beutetier zu sein, nachspielen und sich dadurch zum Subjekt ihrer verstörenden Schicksals aufschwingen, löst sich der Mensch nach Calasso bereits vor 50 000 Jahren von dieser Determination. Technische Errungenschaften erlauben den menschlichen Kreaturen sich auf der Höhe der gewalttätigen Fertigkeiten sukzessive von den evolutionären Koordinaten zu lösen und weiträumig logistisch zu operieren. Dieser Freiheitsgewinn, der die Befreiung von einem immensen Druck bedeutet, der auf den Hominiden lastet, verwandelt den Gejagten in den Jäger. Der Mensch wird Mensch, indem das Opfer die Gewaltausübung durch den Täter kopiert. Diese Simulation gelingt, weil unsere Spezies eine Technologie entwickelt, die den Menschen aus dem Naturzusammenhang heraussprengt. Unter dem Schutzschirm der zuvor im Tierreich unbekannten Fernwaffen, verändert der Homo sapiens seine Stellung in der Evolution. Diese Techno- oder Noosphäre ermöglicht menschliche und nicht-menschliche Erdbewohner systematisch zur Strecke zu bringen. Sie macht den Menschen zum tötenden Tier schlechthin. Die Errichtung dieser ersten

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 91

91

18.02.21 16:2


Technosphäre erweist sich als anthropologischer folgenreicher Eingriff, die Verbänden von Homo sapiens ermöglicht, Tiere, Landschaften und Artgenossen zu beherrschen, was die Option ihrer Vernichtung beziehungsweise Ausrottung einschließt. Der Mensch, der diese auf der Opferlogik errichtete Bühne bespielt, ist das Produkt eines Assimilationsvorgangs und durchläuft eine ebenso singuläre wie fundamentale Metamorphose: Ein Beutetier übernimmt die Identität des ihn jagenden Raubtiers. Damit ist der Mensch selbst das Produkt einer Verwandlung und damit deren Gültigkeit unauflösbar verbunden. Bei dieser Transformation eines Primaten, der hauptsächlich Pflanzen frisst und sich mitunter vom Fleisch kleiner Tiere und von Kadaverresten ernährt, die Prädatoren übrig gelassenen haben, in das Mitglied eines systematisch mit Fernwaffen ausgerüsteten Jagdverbands, und damit in die gefährlichste Spezies des Planeten, handelt es sich um die zentrale anthropologische wie kulturgeschichtliche Zäsur. Ein Zusammenhangs zwischen menschlicher Gewalt in Form des Kriegs und der Natur als Ausdruck des Planetarischen wird bereits 1977 von Paul Virilio beobachtet: „Krieg ist Angriff, weil er eine permanente Vergewaltigung der Gastlichkeit der Erde und deren Durchdringung beinhaltet“ (Virilio 1980: 115 f.).

92

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 92

18.02.21 16:2


Die Frage der politischen Kunst im Anthropozän gewinnt vor diesem Horizont singuläre Kontur. An die Stelle der Ausbeutung der Natur wie des Menschen kann nur eine planetarische Kooperation respektive ein genereller Haltungswechsel treten, wenn dieser Wandel als Abkoppelung von der Geschichte der Gewalt verstanden und perspektiviert wird. Ist der Mensch das von der Gewalt traumatisierte Wesen, welches diesen Grundschock unter einem permanenten Wiederholungszwang unendlich, aber auf steigendem technischem Niveau reproduziert, heißt eine anthropozäne Kultur auszubilden, das Soziale von der Logik der Gewalt zu entkoppeln. Kulturelle Strategien einer derartigen De-Traumatisierung zu entwickeln, wäre demnach die zentrale Herausforderung eines zukunftsfähigen, also geschichtsmächtigen symbolischen Raums. Bei dem bluttriefenden Heros, den Mythen und Epen besingen, den modellhaft Schauspieler auf die Bühne als Protagonist von Tragödien und Dramen mitsamt unzähligen Variationen von Kollisionen darstellen, bei dem scheinbar unveränderlichen Subjekt, das die Spiele von Macht, Gewalt und Liebe und alle sonstigen Akte der Komödie des Lebens feiern, handelt es sich also mitnichten um ein naturwüchsiges Exponat der Evolution. Vielmehr hat ein auf Veränderung an-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 93

93

18.02.21 16:2


gelegtes Theater des Anthropozäns die Struktur der Conditio humana unter dem Aspekt der Transformation in ein jagendes und tötendes Tier zu dechiffrieren. Noch liegt deren Konstanz dem Phänomen zugrunde, dass sich an der durch die Gewalt konstituierten Determination kaum etwas geändert hat. Auf diesem stabilen, weil traumatischen Kern basiert zum Beispiel die Attraktivität permanenter Gewaltdarstellungen in den Medien. Heiner Müller kommentiert diesen Umstand für die Theaterbühne mit durchaus negativer Konnotation dahingehend, dass noch immer „Shakespeare unsere Stücke schreibt“. Der Ehrgeiz des Zukunftstheaters kann nur darin bestehen, Georg Büchners verzweifelte Frage aus Dantons Tod: „Was ist das, was ins uns lügt, stiehlt, hurt und mordet?“ in anthropologischen wie anthropozänen Zusammenhängen zu beantworten. Dafür ist es unumgänglich die Verwandlung in ein tötendes Tier, „das Ereignis der Ereignisse“ (Calasso 2020: 144) in der Biografie der menschlichen Spezies, als unbedingt politischen Vorgang zu verstehen. Aus der Herausforderung, menschlichen und nicht-menschlichen Erdbewohnern ein dauerhaftes Habitat auf dem Planeten zu stiften, was ohne enorme tektonische Veränderungen des symbolischen Raums und Aufarbeitung des traumatischen Kerns der Gewalt unmöglich ist, leitet sich die anthro-

94

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 94

18.02.21 16:2


pologische Funktion einer (dionysisch-)revolutionären Bühne ab: die Bewältigung der Traumata, die mit der Verwandlung in das tötende Tier, das heißt mit der endlosen Geschichte der Gewalt gegeben sind. Um die Auf- und Verarbeitung dieses zutiefst traumatischen Vorgangs, der aller Geschichte vorausgeht, in das Zentrum seines Wirkens zu stellen, muss das anthropozäne Experimentallabor die Laufrichtung der Tragödie umkehren und angesichts ihrer Mechanismen ein Jenseits der Gewalt situieren. Michel Serres postuliert in diesem Zusammenhang das Ideal einer Liebeskultur, die sich auf den gesamten Planeten erstreckt: Wir vermochten den Nächsten zu lieben – manchmal – und den Boden – oft; wir haben mühsam gelernt, die früher so abstrakte Menschheit zu lieben, der wir heute häufiger begegnen; und jetzt müssen wir die Liebe zur Welt um uns herum lernen und lehren – oder die zu unserer ERDE, die wir fortan als Ganzheit betrachten können. (Serres 1994: 86) Dieses christlich grundierte Postulat kollidiert mit dem unter anderem von Bruno Latour favorisierten Ansatz, dass die monotheistische(n) Religion(en) für die ökologische Misere mitverantwortlich sind. In der Tat lassen sich deren naturfeindliche Ausrichtung und ihr

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 95

95

18.02.21 16:2


forcierter Anthropozentrismus kaum bestreiten. Auch in der Moderne sind kaum Tendenzen erkennbar, die einen derartigen Haltungswechsel wahrscheinlich machen. Im Gegenteil lässt sich – das Problem der Dialektik der Aufklärung (Adorno, Horkheimer) – trotz aller humanistischen Propaganda, der durch Weltkriege, den Holocaust, Gulags, Geno- und Ethnozide definierte historische Geschichtsverlauf kaum als Ausweitung eines Altruismus interpretieren. Dem Verfasser von Der Naturvertrag ist aber insofern zuzustimmen, dass einen Vertrag nur unterzeichnen kann, wer bereit ist, den Vertragspartner anzuerkennen und ihm Rechte einzuräumen. In diesem Sinne ist ein neuer Nomos der Erde zu entwerfen, der die Biodiversität, den Erhalt der Landschaften, die Sphären unter den Schutz des Gesetzes stellt. Statt sich mit der Gewalt und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, will Serres das Gesetz auf die Liebe satteln: „Es gibt nichts Wirkliches außer der Liebe, und kein Gesetz, das nicht durch sie entsteht.“ (Serres 1994: 87) Ein Axiom, das auf keinerlei Beleg gründet und kaum mit der notwendigen Anbindung des Gesetzes an die Exekutive in Übereinstimmung gebracht werden kann. Als Vertreter des Realitätsprinzips erweist sich in diesem Zusammenhang Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in seinen Jugendjahren selbst Anhänger einer allumfas-

96

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 96

18.02.21 16:2


senden Liebesphilosophie war. Die Phänomenologie des Geistes seziert jene Mechanismen, welche die Gesellschaft konstituieren, und macht die Logik der Gewalt für die Gestalt des Sozialen verantwortlich. Im Abschnitt „Herr und Knecht“ werden die Anwendung und die Androhung von Gewalt beziehungsweise die Todesfurcht die Menschen als jene Triebfedern identifiziert, die den Einzelnen dazu bringen, sich zu unterwerfen und Herrschaft zu akzeptieren. Die Herren wiederum können nur denjenigen anerkennen, der sich ihnen widersetzt und der Todesdrohung trotzt. Die hier skizzierte Konstellation macht unmittelbar evident, dass weder Tiere noch Pflanzen oder Landschaften der Systematik der Gewalt etwas entgegenzusetzen haben. Sie sind schonungslos der Vernichtung respektive Ausbeutung preisgegeben und gemäß der Logik der Anerkennung rechtlos, es sei denn, es wird ihnen eine Fürsorge zuteil, die sie aber selbst nicht durchsetzen können. Das Anthropozän beginnt diese basalen Koordinaten zu verschieben. Indem die ökologischen Sphären immer unwirtlicher werden, entfachen sie eine Art Gegengewalt, welche die Existenz der menschlichen Spezies bedroht. Das Anthropozän lässt sich mithin als Reaktionsbildung auf die menschliche Praxis der Gewalt dechiffrieren. Unter den Bedingungen des Anthropozäns gewinnt ein Naturver-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 97

97

18.02.21 16:2


trag an Plausibilität, weil der Planet das Motto Brechts aus der Heiligen Johanna der Schlachthöfe: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“ bewahrheitet und – wissenschaftlich zertifiziert – zum Gegenschlag ausholt. Indem die Gewalt des Menschen als Einwirkungen auf das planetarische System an der Kreuzung mit den erdgeschichtlichen Kräften potenziert zurückkommt, kommt tatsächlich, so die Beobachtung Bruno Latours, „Geschichte wieder in Gang“ (Latour 2017: 250) und kann vollkommen legitim von einer „Wiederkehr der Geschichte“ (238, siehe Fußnote 78) gesprochen werden. Da das Klima nicht an den nationalen Grenzen Halt macht, sondern im neuen Klimaregime „lokale Aktivitäten globale Wirkungen“ erzeugen, ist eine Notwendigkeit sowohl für Multikulturalismus wie eine anthropozän konnotierte Universalgeschichte präskribiert. Nur ein über nationale Grenzen operierendes Miteinander eröffnet einen Ausweg aus dem planetarischen Krisenszenario. Wenn die Vorgänge, die mit der Entwicklung von in der Natur unbekannten Fernwaffen und der Transformation zum Jäger vor etwa 50 000 Jahren einsetzte, von der Logik der Gewalt bestimmt werden, die seitdem gegen Menschen, Tiere, Landschaften angewendet und technologisch stetig weiterentwickelt und ausgebaut wird, erreicht diese Entwicklung mit dem Anthropozän

98

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 98

18.02.21 16:2


einen Umschlagpunkt. Bewirkt der Mensch als geologische Kraft ein Amalgam aus historischer und Erdgeschichte, wird er nur dauerhaft unter diesen neuen Rahmenbedingungen operieren, wenn er sich von der Gewalt lossagt, die ihn für eine Zeit zum Herrscher des Planeten machte. Damit gelangt jene Gestalt, die aus der Verwandlung des Homo sapiens von einem Beutetier in die gefährlichste Spezies der Welt hervorging, im anthropozänen Regime geschichtsphilosophisch an ein Ende: Die prägende Konditionierung der Gattung Sapiens wird von dem erdgeschichtlichen Apriori unserer Existenz falsifiziert. Dieses Feld einer sowohl anthro­pologischen wie kulturgeschichtlichen Re-Konzeptualisierung macht einen wesentlichen Punkt jenes Programms aus, dass der Hamburger Soziologe Frank Adloff durch das Anthropozän gegeben sieht: „Der Planet braucht die Menschen nicht, aber die Menschen benötigen das nicht-menschliche Leben auf dem Planeten – und dazu bedarf es heuristischer Dezentrierungen.“ (Adloff 2020: 118) Ob es dem erfindungsreichsten aller Tiere gelingen wird, sich ein weiteres Mal einer Transformation zu unterziehen, ist ungewiss. Doch mit dem unausweichlichen Umbau der Technosphäre allein ist es nicht getan. Für das Theater eröffnet die Herleitung des Anthropozäns aus der Menschwerdung des Menschen durch die

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 99

99

18.02.21 16:2


Verfügung über die Gewalt eine Rückkopplung, die es auf seine eigene jahrtausendealte Tradition verweist. Der Stoff, aus dem hybride Stürme, anthropogen indizierte Überflutungen, neue Pandemien wie die anderen anthropozänen Symptomlagen gewebt sind, wird in Form des gewaltanwendenden und gewalterleidenden Menschen in unzähligen Tragödien und Dramen beschrieben. Unter den neuen Prämissen, diese Lingua franca der Gewalt sowohl der zwischenmenschlichen Interaktionen wie der Kommunikation mit den außermenschlichen Präsenzen auf der Bühne neu zu buchstabieren, ist ein Gebot der Dringlichkeit, die den aktuellen Gegenwartswahn als Verblendung transparent macht.

100

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 100

18.02.21 16:2


Literatur Frank Adloff: „‚It’s the end of the world as we know it‘: Sozialtheorie, symbiotische Praktiken und Imaginationen im Anthropozän“, in: Frank Adloff/Sighard Neckel (Hg.): Gesellschaftstheorie im Anthropozän. Frankfurt am Main/New York 2020 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften I.2. Frankfurt am Main 1974 Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß (1931). Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt am Main 1967 (hier Band 18) Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden (BFA). Frankfurt am Main/Berlin 1988–2000 (hier Band 3) Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 2005 Roberto Calasso: Die Schrecken der Fabeln, in: ders.: Die neunundvierzig Stufen. Essays. München 1991

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 101

101

18.02.21 16:2


ders.: Der Himmlische Jäger, Berlin 2020 Dipesh Chakrabarty: The Climate of History: Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2), S. 187–222. Chicago 2009 David Christian: Big History. Die Geschichte der Welt – vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit. München 2018 Eduardo Viveiros de Castro: Kannibalische Metaphysiken. Leipzig 2019 Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. Berlin 2011 Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden. Berlin 2020 Amitav Ghosh: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. München 2017 Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 2019 Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main 2018 Thomas Hobbes: Leviathan. Hamburg 2005 Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin 2017 ders.: Das Parlament der Dinge. Berlin 2010 Claude Lévi-Strauss: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen mit Didier Eribon. Zürich 2019 Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen. Stuttgart 2020 John Muir: Die Berge Kaliforniens. Berlin 2013 Heiner Müller: Werke 1. Die Gedichte. Frankfurt am Main 1998 ders.: Werke 2. Prosa. Frankfurt am Main 1999 ders.: Werke 3. Die Stücke 1. Frankfurt am Main 2000 ders.: Werke 4. Die Stücke 2. Frankfurt am Main 2001

102

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 102

18.02.21 16:2


ders.: Werke 5. Die Stücke 3. Frankfurt am Main 2002 ders.: Werke 8. Schriften. Frankfurt am Main 2005 ders.: Werke 9. Eine Autobiographie. Frankfurt am Main 2005 ders.: Werke 11. Gespräche 2. Frankfurt am Main 2008 ders.: Werke 12. Gespräche 3. Frankfurt am Main 2008 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden. München/Berlin/New York 1988 (hier Band 2 und 3) Tobias Rausch: „Schauspiele jenseits des Menschen“, in: nachtkritik. de. www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17246:staging-nature-theatermacher-tobias-rausch-ueber-die-schwierigkeit-die-natur-auf-die-buehne-zu-bringen&catid=101&Itemid=84 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Schauspiel. Stuttgart 2014 Michel Serres: Der Naturvertrag. Frankfurt am Main 1994 Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert? Berlin 2016 Dirk Steffens/Fritz Habekuß: ÜBER LEBEN – Zukunftsfrage Artensterben. München 2020 Gertrude Stein: Geld. Berlin 2004 Klaus Theweleit: Warum Cortés wirklich siegte. Technologie­ geschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Berlin 2020 Christoph Türcke: Philosophie des Traums. München 2008 Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Berlin 1980 Zhuangzi, alte Schreibweise: Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Übersetzung Richard Wilhelm, Düsseldorf/ Köln 1972

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 103

103

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 104

18.02.21 16:2


Anthropozäne Kartografierungen Antje Boetius, Hans-Jörg Rheinberger und Frank-M. Raddatz im Gespräch

Frank-M. Raddatz:

Für Kunst und Theater, die sich mit dem Anthropozän konfrontieren wollen, ist es wichtig, sich ein Bild über die Wissenschaft zu machen. Schließlich beruht das meiste, das wir über den globalen ökologischen Bedrohungshorizont wissen, auf deren Forschungen und Modellen. Für mich war es ein Schock, als mir der Physiker HansPeter Dürr in einem Interview Ende der 1980er Jahre

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 105

105

18.02.21 16:2


erklärte, dass eine Stoffgruppe wie die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) entwickelt wurde, weil sie für uns ungiftig ist, die aber freigesetzt in die Atmosphäre aufgrund von vollkommen unberechneten Interdependenzen im Erdsystem seine schädliche Wirkung entfaltet – in dem Fall das Ozonloch. Das Treibhausgasproblem heute verifiziert ebenfalls die These des lange aus dem Fokus geratenen Alexander von Humboldt, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt. Heute sprechen wir vom Netz des Wissens, das Humboldts Vorstellung viel näher kommt als die traditionelle Aufteilung der Naturwissenschaft in Einzeldisziplinen. Hans-Jörg Rheinberger:

Dieses Motto des alten Humboldt, dass „alles mit allem zusammenhängt“, lässt mich ein wenig schmunzeln. Denn darum, wie die Dinge zusammenhängen, dreht sich schließlich das ganze wissenschaftliche Unternehmen. Michel Serres schreibt 2010 in Biogée, seiner eigenwilligen Autobiografie: Meine Hoffnung ruht auf der gegenwärtigen Entwicklung des Wissens. Einfach und leicht basierten unsere alten Wissenschaften auf der Analyse, die trennt und zergliedert. Eine Zergliederung, die die Subjekte von ihren Objekten trennt. Schwierig, global und vernetzt setzen die neuen Wissenschaften vom Leben und von der Erde,

106

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 106

18.02.21 16:2


Kommunikationen, Interferenzen, Übersetzungen, Distributionen und Übergänge voraus. Begreifen wir mit Empedokles die Dringlichkeit einer Vereinigung von Weisheit und Wissen, und zwar unter Strafe der kollektiven Auslöschung. (Serres 2010: 81 f. [aus dem Franz. von H.-J. R.]) Ich finde diese Differenzierung der beiden Begriffe Wissen und Weisheit eine ganz wunderbare Umdeutung der Kategorien, die bei Kant Vernunft und Verstand heißen. Unser Wissen kann und darf, wenn es auf das Große und Ganze bezogen wird, nicht auf den Verstand reduziert werden. Antje Boetius:

Ich denke nicht, dass wir in der Forschung per se interdisziplinärer oder systemischer geworden sind. Es gab schon immer – von den alten Griechen bis heute – Denkerinnen und Denker, die sich Systemfragen, Vernetzungsfragen, grenzübergreifende Fragen gestellt haben, also auch jenseits der Aufgabe agiert haben, die Grenzen des Wissens innerhalb eines Felds zu erweitern. Die Erdsystemforschung war ursprünglich disziplinübergreifend, hat sich dann aber in viele Teilbereiche aufgeteilt. Allein in der Mikrobiologie der Erde existieren mittlerweile unglaublich viele Subdisziplinen. Ein Feld wie die Geochemie ist an sich schon

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 107

107

18.02.21 16:2


interdisziplinär und umfasst nun auch wieder etliche Subdisziplinen. Diese Ausdifferenzierung entstand in einer Zeit, in der Lynn Margulis, James Lovelock und andere die Grenzen der biologischen, geologischen, chemischen Disziplinen erweitert oder aufgelöst haben, was dazu führte, dass sie in ihren Wissensgebieten lange umstritten waren. Man kann derzeit sagen, dass die sich nähernden Katastrophen wie Klimawandel und Artenverlust mehr Systemforschung in der Wissenschaft generieren, mittlerweile sogar bis in die Gesellschaftswissenschaften hinein. H.-J. R.:

Grundsätzlich stehen wir, wenn ich es richtig sehe, vor keiner völlig neuen Situation. Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen haben, auch wenn sie etwas gröber gestrickt waren, ihre Zeit gehabt. Historisch gesehen war das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Disziplinbildung. Seit dem 20. Jahrhundert findet in dieser Hinsicht ein Revisionsprozess statt, der immer noch anhält. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es – auf die Lebenswissenschaften bezogen – zwei Hybridwissenschaften, die man in dieser Form im 19. Jahrhundert gar nicht kannte. Sowohl die Biochemie wie die Biophysik waren und sind Disziplinen, die die Biologie mit den Leitwissenschaften der Zeit rückkoppelten. Elemente davon verbanden sich später ihrerseits zur

108

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 108

18.02.21 16:2


Molekularbiologie, unter Einbezug einer dritten biologischen Disziplin: der Genetik. Und dieser Prozess hält an. Das 20. Jahrhundert ist wissenschaftshistorisch gesehen ein Jahrhundert, das durch die Suche nach disziplinären Grenzüberschreitungen charakterisiert ist. Zugleich sind aber die Wissenschaften, soweit sie am Experiment festhalten, immer auf Reduktion angewiesen. Experimente funktionieren nicht und liefern keine signifikanten Ergebnisse, wenn die Parameter nicht reduziert werden. Die entscheidende Frage ist: Wie werden die experimentell gewonnenen Daten epistemologisch rekonfiguriert und miteinander in Beziehung gesetzt? Wie wird diese Reduktion – ich nenne sie jetzt mal ontische Fragmentierung – epistemisch wieder aufgefangen, rekontextualisiert und in einen neuen Zusammenhang gestellt? Wir benötigen für den Fortschritt der Erkenntnis diese beiden gegenläufigen Bewegungen: zum einen die Entgrenzung der Disziplinen, um der Komplexität immer differenzierter nachgehen zu können, und zum anderen eine planvolle Reduktion bei der experimentellen Forschung. Die Humboldt’schen Worte: „Alles hängt mit allem zusammen“ stellen nur die eine Seite der Medaille dar. A. B.:

Im Zeitalter des Anthropozäns müssen wir nun dazu die Frage stellen, inwiefern sich die Forschung verän-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 109

109

18.02.21 16:2


dert, wenn der Mensch als geologische Kraft und Naturgewalt verstanden wird. In dieser neuen Ära zeigt sich insbesondere, dass alles mit allem zusammenhängt, weil der Mensch mittlerweile zumindest auf der Zeitschiene von ein paar Hunderten von Jahren mit allem in Wechselwirkung steht. Das lässt sich sowohl für die Frage der Gegenwart sagen wie auch dafür, wie wir die Zukunft denken. Dabei gilt aus meiner Sicht: Entwicklung der Wissenschaft lässt sich nicht unabhängig von geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachten. Zum Beispiel hat ein Chemiker wie Fritz Haber an den Grenzen des Wissens geforscht und fundamentale Entdeckungen über die Fixierung von Stickstoff als Düngemittel gemacht. Seine Intention war aber nicht, einen Beitrag zur Welternährung zu leisten, sondern er schrieb darüber, wie er die Soldaten der deutschen Armee stärken wollte, damit sie den Ersten Weltkrieg gewinnen könnten. Analog können wir heute eine Reaktion der Naturwissenschaften auf den aktuellen gesellschaftlichen Kontext beobachten, nämlich die beginnenden Auswirkungen des Klimawandels. Unter dieser Prämisse wird klar, dass wir Naturwissenschaftler die Wirkung des Menschen mitzudenken haben und auch die Optionen seines zukünftigen Handelns. Für Prognosen, wie sich

110

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 110

18.02.21 16:2


das CO2 in der Atmosphäre entwickelt, müssen also bei Fragen von Klima und Natur ökonomische und politische Entscheidungen berücksichtigt und abgebildet werden. Das ist eine riesige Herausforderung. Und dann ist auch die Reaktion der Natur – zum Beispiel der Wälder, der Ozeane, der Bodenmikroben auf die möglichen Pfade, welche die Menschheit einschlägt – in die Modelle einzubeziehen. Um es verkürzt zu sagen: Wie gelingt es uns, eine Verknüpfung des Wissens so herzustellen, dass wir die möglichen Zukünfte simulieren und abbilden, um die Menschheit in den Leitplanken des Erdsystems steuern zu können? Wir brauchen die Antworten, um den Pfad zu verlassen, der ins Chaos führt. H.-J. R.:

Der Begriff der Kulturtechnik, der in den Medien- und Kulturwissenschaften der letzten zehn, fünfzehn Jahre prominent geworden ist, bezieht sich sowohl auf die Wissenschaften wie auf die Künste wie auch auf andere gesellschaftliche Praktiken. Unter Kulturtechnik werden in allen diesen Bereichen mehr oder weniger geregelte Verfahren subsumiert, die sich historisch entwickelt haben und die in ihren Eigenarten nicht unabhängig von den spezifischen gesellschaftlichen – zeitlichen und räumlichen – Konstellationen verstanden werden können, in denen sie praktiziert wurden

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 111

111

18.02.21 16:2


und werden. Diese Kontexte des praktischen, verkörperten Wissens darf man auf keinen Fall ausblenden. Nur wurden die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen Wissen generiert und umgesetzt wird, von der Wissenschaftsphilosophie der letzten 150 Jahre regelrecht verdrängt. Es braucht daher unbedingt eine reflexive Ebene, auf der Kategorien für ein Verständnis dessen entwickelt werden können, wie dieser Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beschaffen ist. Bislang wurde zumeist davon ausgegangen, dass es genügt, sich auf einzelne Parameter zu konzentrieren, die von Interesse sind und die man im Natursystem vermessen will. Aber das Anthropozän belehrt uns eines Besseren: Es bedarf dringend einer zusätzlichen Anstrengung, um die Interaktionen unserer Gesellschaften mit der sie umgebenden Welt kategorial adäquat zu erfassen. Diese entscheidende Aufgabe kann nur durch eine Allianz aus den Wissenschaften selbst, der Wissenschaftsphilosophie, der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftssoziologie geleistet werden. A. B.:

Im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft kommt es auch auf die Kommunikation an. In der Klimawandelforschung beschäftigen wir uns mit den Konsequenzen der Konzentration eines Moleküls in

112

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 112

18.02.21 16:2


der Atmosphäre – und so kommunizieren wir Naturwissenschaftler eben Emissionsraten und Mengen des Treibhausgases CO2. Der Klimaökonom Ottmar Edenhofer hat ein effektives Bild dafür gefunden: Er vergleicht die Atmosphäre mit einer Mülltonne, in die wir kostenfrei CO2 emittieren. Irgendwann ist die Tonne voll, und dann wird es schmutzig. Das bereichert die chemische Vermessung einer uns zuträglichen Konzentration von CO2 in der Atmosphäre von unter 450 ppm mit einem eingängigen Bild unserer Verhaltensnormen. Das ist für eine Disziplin wie die Atmosphärenchemie vollkommen neu. Mit dem Anthropozän stellt sich also die Frage: Wie gelingt der Transfer von einer Naturerkenntnis, die sich für die Forscher als Zahlenwerk darstellt, zu einer Übersetzung, die Menschen verstehen lässt, wie sie mit ihrem Handeln zusammenhängt? H.-J. R.:

Das demonstriert auch die jetzige Covid-Krise. Die numerischen Verhältnisse wie zum Beispiel die Reproduktionszahl oder die Wocheninzidenz sind Anhaltspunkte, sie alleine reichen aber nicht, um das eigentliche Problem für alle dingfest und greifbar zu machen. F.-M. R.:

In der Epistemologie ging man lange vom SubjektObjekt-Verhältnis als Grundlage des Erkennens aus.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 113

113

18.02.21 16:2


Auf der einen Seite der reflektierende oder forschende Mensch, auf der anderen das tote Ding aus der Natur. Bruno Latour versteht die Erzeugung von Wissen als ein Netzwerk, das aus Objekten Aktanten werden lässt, also Wirkmächte, die ihre Umwelt verändern, eine Geschichte haben, Speichermedien mit nicht exakt zu bestimmenden Archiven sind. Nicht nur das Wissen, auch die Vorstellung von der Struktur des Wissens ändert sich. H.-J. R.:

Der Wissenschaftsanthropologe Yehuda Elkana spricht von veränderlichen „images of knowledge“. Die Bilder, die wir uns vom Wissen und den Wissenschaften machen, sind weitaus holzschnittartiger als das, was sich im Labor abspielt, und sie können leicht zur Karikatur werden. Am Beispiel der Entwicklung der Genetik im 20. Jahrhundert lässt sich sehr schön verfolgen, wie drei solcher Wissensbilder in der zeitlichen Folge einander abgelöst haben. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde das Gen als das Atom des Lebens interpretiert, also eine deutlich reduktionistische Sicht. In der zweiten Hälfte ging die molekulare Genetik zum Bild der Information über. Gene übertragen Information von einer Generation auf die nächste, und sie geben Information an die Zellen weiter, um den Stoffwechsel aufrecht zu erhal-

114

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 114

18.02.21 16:2


ten. Heute sind die Genkarte und das Gennetzwerk die dominierenden Wissensbilder. Es wird also von vielfältigen Beziehungen, von einem Viel-Punkte-System auf der molekularen Ebene ausgegangen, und es wird nicht mehr alles auf einen einzigen Punkt zurückgeführt. Unter den einzelnen Bildern konnte jeweils eine Menge an Wissen akkumuliert werden. Sie waren nicht einfach nur aus der Luft gegriffen, nicht einfach nur Ideologeme, die heute mal gebraucht werden und morgen wieder verschwinden, sondern sie erwiesen sich bezüglich der Möglichkeiten des wissenschaftlichen Zugriffs auf die Phänomene durchaus als tauglich, vor allem reflektierten sie die jeweiligen Zugriffsmöglichkeiten. Aber es verändern sich eben die Zugriffsmöglichkeiten mit den zugehörigen Wissensbildern im Lauf der Zeit ganz massiv. Oder werfen wir einen Blick auf die Biologie insgesamt. Wenn wir uns die Entwicklung der Evolutionstheorie von Darwin bis heute ansehen, haben wir am Anfang die Konkurrenz als Faktor, der alles andere überstrahlt, den „Kampf ums Dasein“. Dann werden die Zufallsbewegungen, wird die Drift als Faktor im Evolutionsgeschehen immer prominenter. Schließlich – denken wir an Lynn Margulis – gewinnt die Symbiose mit ihren vielfältigen Formen des Zusammenwirkens für das Verständnis der biologisch evolutionären Vor-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 115

115

18.02.21 16:2


gänge an Bedeutung. In solchen Prozessen der Wissenschaftsentwicklung wird, was auf einer frühen Stufe erkannt wurde und prominent war, nicht einfach weggeworfen; es existiert weiter, wird rekontextualisiert und in seiner relativen Bedeutung neu gewichtet. Es handelt sich nicht um Ablösungsprozesse ein für allemal. Die sich wandelnden Modelle und Bilder erfordern eine ständige Rekalibrierung von früherem Wissen. Es kann vormals prominentes Wissen aber sehr wohl marginalisiert werden. F.-M. R.:

Bei Serres oder Latour wird deutlich, dass die Wissenschaften um den Preis des Überlebens gefordert sind, Lösungen für Probleme zu finden, die vor 200 Jahren noch vollkommen unbekannt waren. Wenn man vom Netz des Wissens spricht, hat das Netz kein Zentrum. Aber mit dem Anthropozän besitzen wir einen verbindlichen Referenten, an dem wir uns orientieren müssen, nämlich die Beziehung zwischen Mensch und Erdplaneten, zumindest seiner Oberfläche. A. B.:

Darauf reagiert die Wissenschaft auch, indem sich Forschungsschwerpunkte verändern, die Simulation in der Erdsystemforschung an Bedeutung gewinnt und die Wissenschaft ihre Aufgabe der Risikoabschätzung wahrnimmt. Das ändert ihr Kommunikationsverhal-

116

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 116

18.02.21 16:2


ten. So wird versucht, die politischen Entscheidungsträger anzusprechen, und überlegt, mit welchen Strategien die Zivilgesellschaft besser informiert werden kann, Stichwort: „mündige BürgerInnen“. Aber durch die anthropozäne Problemlage entsteht dennoch kein neues Zeitalter des Wissens oder wird das Forschen und Wissen ganz neu strukturiert. Jedoch mittels der Simulation können wir heute ganz anders mit Daten umgehen, als wir das geschichtlich jemals konnten. Datenbasierte Zeitreisen und Prognosen gewinnen an Bedeutung als Leitplanken für das Handeln. H.-J. R.:

Die erste Industrialisierung in den westlichen Ländern in Europa, dann etwas später in Amerika am Ende des 18. und dann im frühen 19. Jahrhundert ging zunächst mit einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen für große Teile der Bevölkerung einher. Die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen, waren Hygiene- und weitere medizinische Maßnahmen, die in den Jahrhunderten zuvor nicht nötig gewesen waren, weil sie in dieser Dringlichkeit das Leben gar nicht bestimmten. Die Hygienebewegung im 19. Jahrhundert hat, was an aktuellen Umweltveränderungen vor sich gegangen ist, einigermaßen – mehr schlecht als recht, aber immerhin – im Zaum halten können. Mit dem Anthropozän

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 117

117

18.02.21 16:2


heute haben wir eine vergleichbare Problemlage, nur in einer ganz anderen Größenordnung. Jetzt geht es nicht nur um konkrete Luft, die wir real einatmen, oder den städtischen Müll, der uns umgibt; wir sind vielmehr mit Emissionen und den dadurch verursachten Veränderungen in planetaren Dimensionen konfrontiert. A. B.:

Dabei sind wir selbst abhängig von diesem vernetzten System, sodass Verluste an Natur unsere Lebensqualität verschlechtern. Diese Kausalitäten sind zu Teilen in Raum und Zeit entkoppelt, mit der Folge, dass wir die Konsequenzen nicht unbedingt am eigenen Leib spüren, sondern Menschen auf anderen Kontinenten oder zukünftige Generationen. F.-M. R.:

Das erinnert mich an ein Gedicht von Brecht, das solch einen Haltungswechsel angesichts des Todes formuliert, wo das Ego als verbindlicher Referenzpunkt verabschiedet wird: ALS ICH IN WEISSEM KRANKENZIMMER DER CHARITÉ Aufwachte gegen Morgen zu Und eine Amsel hörte, wußte ich Es besser. Schon seit geraumer Zeit

118

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 118

18.02.21 16:2


Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts Mir je fehlen kann, vorausgesetzt Ich selber fehle. Jetzt Gelang es mir, mich zu freuen Alles Amselgesanges nach mir auch. (Brecht 2007: 1564 f.) A. B.:

Wir sind heute mit fundamentalen normativen Fragen konfrontiert. Wir müssen zu Haltungen finden, in denen auch das nicht-menschliche Leben zählt. Im Augenblick argumentieren wir mit dem Erhalt der Gegenwart, die wir kennen, manchmal schon mit den Chancen der nächsten Generationen von Menschen. Aber wir brauchen mehr Regeln dafür, wie wir unsere Leitplanken in Bezug auf den Planeten gestalten. Am Beispiel Atmosphäre: Der Mülleimer für CO2 ist deswegen randvoll, weil ihn die westliche Welt in den letzten zwei Jahrhunderten gefüllt hat. Die Gestaltung der Zukunft können wir daher nicht anderen Playern in die Schuhe schieben. Klimafragen sind also auch Gerechtigkeitsfragen. Die Menschheit braucht eine Zukunftsvision, wie eine andere Form des Zusammenlebens zu gestalten wäre, und die hat ganz wesentlich etwas mit Richtig und Falsch, Gut und Schlecht, zu tun.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 119

119

18.02.21 16:2


H.-J. R.:

Letztlich geht es um ethische Fragen, die nicht von der Wissenschaft abkoppelbar sind. Die Ausbildung solcher Haltungen muss von einer dezidierten Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Ansätze, die wir heute haben, begleitet werden. Nur wenn diese Aufgaben zusammen vorangetrieben werden, und zwar so massiv wie möglich, eröffnen sich Chancen, die heute noch außerhalb unseres Denkhorizonts liegen. A. B.:

Sicherlich müssen wir die Wissenschaften und Disziplinen noch mehr vernetzen, weil wir eine Menge Innovationsprozesse brauchen, um eine Carbon-neutrale Zukunft zu bauen, die gleichzeitig wesentlichen Ungleichgewichten der Lebenschancen entgegensteuert. Dabei sind die Reorientierung auf gesellschaftliche Werte und ein Verständnis von Gemeinwohl sowie dem Zusammenhang mit planetarer Gesundheit wichtige Elemente. Die Forschung, die Indikatorik und Prognosen dazu können die Natur- und Technikwissenschaften nicht allein leisten, sondern nur im Zusammenspiel mit Ökonomie und Soziologie. Dabei sind die technischen Lösungen im Umbau des Energiesystems schon evidenter als die politischen, sozialen und ökonomischen.

120

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 120

18.02.21 16:2


H.-J. R.:

Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir aus dem Desaster gelernt haben, das die Atomwirtschaft angerichtet hat. Jetzt kaufen sich die Konzerne mit ein paar Milliarden aus ihrer Verantwortung, sodass es bei der Regierung liegt, Wege zu finden, diese gigantische Menge an hochradioaktiven Abfällen so zu entsorgen, dass sie nicht zukünftigen Generationen das Leben unmöglich macht. Und jetzt suchen die Verantwortlichen den Dialog mit der Bevölkerung – jetzt. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass einfach nur Technik gemacht wurde, weil man es machen konnte, und dabei Vorsicht und Voraussicht außer Kraft gesetzt wurden. A. B.:

Das gleiche droht bei dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Auch in diesem Zusammenhang wird die Forderung an den Staat laut, den Umbau zu finanzieren. Er soll den Ausstieg aus der Kohle bezahlen, den Einstieg in neue Infrastrukturen und die zunehmenden Schäden durch den Klimawandel. Mich wundert da immer mehr, warum die Transformation bei uns nicht viel mehr unternehmerische Impulse freisetzt, warum die Blockade so groß ist. Wir müssen uns doch alle fragen: Wie wichtig ist uns die Zukunft? Kann das Ziel, auf das die Gesellschaft hinarbeitet, mehr sein als die

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 121

121

18.02.21 16:2


Sicherung der Rente? Wie weit dürfen diese Ziele wegliegen? Jahrhunderte oder auch darüber hinaus? Was ist uns das Überleben von Korallenriffen wert? Oder das des Eisbären? F.-M. R.:

Wenn wir über normative Kataloge sprechen, die Verhandlungen neuer Haltungen, wird das ohne philosophische oder geschichtliche Entwürfe kaum gehen. Die Frage ist: Woher bezieht die Gesellschaft im Anthropozän ihre normativen Instruktionen? Das ist derart fundamental, dass damit große Auseinandersetzungen – über Gut und Böse, über Wahr und Falsch – verbunden sind. Zugleich führt die Frage, welche Opfer unsere Wohlfühlzone glaubt, sich leisten zu können, in das Zentrum des politischen Theaters. Auf der Bühne geht es immer darum, Haltungen zu verhandeln, neue Menschenbilder zu entwerfen bzw. Transformationen des menschlichen Selbstbilds einzuleiten, ethische Kontradiktionen auszuloten. H.-J. R.:

Ich sehe die Künste als Seismografen der Gesellschaft. Die Künstler versuchen, für diese Entwicklung Formen zu finden, in die zwar auch wissenschaftliche Perspektivierungen eingehen, die zunächst aber an andere Erfahrungskanäle appelliert, über die wir als Menschen verfügen und in denen wir unser Leben leben. Da hat

122

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 122

18.02.21 16:2


das Theater, wie auch alle anderen Künste, eine ganz wichtige Funktion. A. B.:

Wenn die Wissenschaft, als ein Teil der menschlichen Kultur, die Künste und in Folge die Politik in eine Richtung sprechen, können sie sich verstärken und Dinge bewegen. Für die Beschäftigung in und mit sich selbst, wie es derzeit oft noch der Fall ist, haben wir leider keine Zeit mehr. Ich meine auch, es gibt Bewegung. Wenn man auf die letzten zwanzig Jahre schaut, haben die Medien, die Kultur, die Politik, die Zivilgesellschaft dennoch den Klimawandel auf Platz eins der großen Themen gesetzt. Selbst in Zeiten von Corona zeigen aktuelle Umfragen in Europa, dass die Bekämpfung des Klimawandels als globale Herausforderung vorne steht. Das bedeutet, die Gesellschaft ist unterwegs. H.-J. R.:

Ja, das Bewusstsein hat sich verändert. In den 1960er Jahren, als ich Schüler war, wurde uns in Bezug auf die Umwelt mitgegeben, dass man keine Blechbüchsen wegwerfen und das Zeitungspapier nicht in den Müll werfen, sondern bündeln und separat der Wiederverwertung zuführen soll. Heute müssen ganz andere Formen des Umgangs mit der Umwelt gefunden werden. Da wird der Bildungsbereich ganz entscheidend.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 123

123

18.02.21 16:2


Es geht darum, ein Dispositiv zu entwerfen, mit dem Kinder vom Kindergarten bis ins Gymnasium befasst werden, um die Probleme überhaupt als solche wahrzunehmen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die das Bildungssystem zu leisten hat, und da stehen wir erst am Anfang. A. B.:

Es wird bald sehr auf die Jugendlichen und Kinder ankommen, die bereits mit der Problematik des Klimawandels und den Verlusten der Biodiversität in der Schule konfrontiert werden. Wir sollten uns fragen, was wir heute als Gesellschaft unternehmen können, damit wir und die kommende Generation, die die nächsten entscheidenden dreißig bis fünfzig Jahre gestalten muss, darin bestärkt werden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. F.-M. R.:

Momentan besitzt die Gesellschaft nur quantitative Maßstäbe, aber die Qualitäten werden nicht benannt. Was ist denn zum Beispiel Lebensqualität? A. B.:

Leider können wir kaum mehr fühlen, welche Umwelt uns guttut. Das hängt damit zusammen, dass der Mensch sich anders als die meisten Tierarten schnell an ganz unterschiedliche Umwelten anpassen kann.

124

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 124

18.02.21 16:2


H.-J. R.:

Bei den Indigenen Nordamerikas reichten aber ein paar pathogene Keime und Alkohol, um ganze Populationen auszulöschen. Die Flexibilität geht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn ein Parameter zu viel kippt, dann ist es aus. A. B.:

Aber im Gegensatz zu vielen Tiere und Pflanzen, die nur in einem sehr eng gefassten Habitat existieren können, ist der Mensch fähig, sich extremen Umweltveränderungen anzupassen, nicht nur aufgrund unserer Biologie, sondern vor allem aufgrund unserer Technik. Wir bezahlen für diesen Vorteil vielleicht damit, dass wir über keinen Automatismus verfügen, in dem eine Umwelt, die gut für uns ist, sich so in unsere DNA einschreibt, dass wir sie entsprechend achten. Das ist ein Prinzip, das anders als durch reinen Bedarf erlernt werden muss. Wenn wir uns fragen, was eine ökologische Pädagogik vermitteln soll, dann brauchen wir ein Wissen, Kompetenzen, Sinne, die uns sagen, wie sich eine gesunde Umwelt anfühlt, wie sie riecht usw. Es wird gerade erforscht, wie eigentlich die Natur beschaffen sein soll, die geschützt werden muss. Aber damit das zu einem individuellen und kollektiven Verständnis wird, müssen wir das sicher von Kindesbeinen an lernen. Deswegen wäre es gut zu

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 125

125

18.02.21 16:2


klären, wie genau diese Natur aussieht, die uns enger mit ihr verbindet. F.-M. R.:

Ich denke, es ist auch wichtig, einen anderen Umgang mit der Zeit zu entwickeln. Das Anthropozän fordert uns auf, unsere Handlungen mit Voraussicht auf ihre Auswirkungen zu regulieren. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 umfasst das Leben einer Generation, die aufgefordert ist, ihre Lebensweise mit Blick auf die kommenden umzustellen. H.-J. R.:

Im Mittelalter wurden Kathedralen über mehrere Generationen hinweg geplant – die Gesellschaft bewegte sich in langen Zeiträumen. Die feudale Gesellschaft hat sich über Jahrhunderte in ihren Binnenstrukturen nicht wesentlich verändert. Mit der Neuzeit trat eine unglaubliche Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, sodass Veränderungen der Lebenswelt im Laufe einer Generation sinnlich erfahrbar wurden. Dagegen ließ sich die Natur als dasjenige abgrenzen, was objektiv – da es im Grunde immer gleichblieb – erforscht werden konnte. (Vgl. dazu Mannheim 1980) In der Wissenschaft ging es darum, die ewigen Gesetze herauszufinden, welche die Dinge beherrschten. Hatte man die Kausalitäten einmal erkannt, ließen sich die Dinge nutzbar machen. Geschichtlich sind wir

126

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 126

18.02.21 16:2


aber längst an einen Punkt gekommen, an dem wir begreifen müssen, dass der Planet, auf dem wir leben, selbst eine historische Größe ist, die sich mittlerweile auch in Generationszeiträumen, also in weniger als einem halben Jahrhundert, signifikant verändern kann. Das muss als Dimension erst einmal in den Köpfen der Menschen ankommen. Das ist keine einfache Aufgabe, denn beim Zeitbewusstsein handelt es sich um ein unglaublich komplexes Gefüge. Nicht nur, dass es insgesamt sehr vielfältig ist, sondern auch, weil es in unterschiedlichen Dimensionen spielt: die persönlichen Erfahrungen, die geschichtlichen Erfahrungshorizonte und nun auch evolutionäre Koordinaten aufgrund einer Beschleunigung von Veränderungen der Natur, die es in der bisherigen Geschichte der Spezies so bisher nicht gegeben hat. A. B.:

Als entscheidend stellt sich für mich dar, ob es uns bei den Menschen gelingt, von den kleinsten soziologischen Einheiten bis hin zur Nation, dem Kollektiv, der Öffentlichkeit die Investition in etwas ganz Langlebiges, in eine ferne Zukunft, in der man nicht mehr sein wird und auch die Enkel nicht, attraktiv erscheinen zu lassen. Einen solchen Gemeinschaftssinn haben wir ja gar nicht. Dabei kommt nicht nur uns, sondern auch dem Verhalten von Bevölkerungen, die sich gerade

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 127

127

18.02.21 16:2


von weniger als vier Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr in Richtung zehn Tonnen bewegen, eine Schlüsselrolle zu. H.-J. R.:

Man sieht in der aktuellen Pandemie Dinge, die vor einem halben Jahr jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten waren. Zum Beispiel, dass man mit der Hälfte der Fliegerei auskommen kann, weil sich viele An­ gelegenheiten mühelos durch Konferenzschaltungen von zu Hause aus erledigen lassen. Wird das Homeoffice bleiben? Dass dadurch CO2 eingespart wird, ist evident. A. B.:

Leider bringen alle Corona-Lockdown-Maßnahmen bis Ende des Jahres 2020 nur sieben Prozent Einsparung an CO2-Emissionen. Die achtzig oder neunzig Prozent, die noch zu schaffen sind, stecken vor allem in industrieller Produktion, Mobilität und Haushalt und zunehmend im Digitalen. Aber nun zurück zur Frage der Transformation und danach, ob die Kunst, das Theater diese beschleunigt. Ich frage mich überhaupt, ob es Beispiele in der Menschheitsgeschichte gibt, wo ohne Katastrophen, Krisen und gigantische Verluste, allein aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft, eine Transformation stattgefunden hat.

128

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 128

18.02.21 16:2


F.-M. R.:

Das Theater ist immer in die historischen Kämpfe der Zeit eingelassen und versucht, von Lessing über Schiller bis Brecht und Müller Transformationen in Gang zu setzen und zu befördern. Selbst wenn Beckett mitten in der Fortschrittseuphorie ein „No go!“ beschwört, zeitigen seine ästhetischen Innovationen Grenzüberschreitungen! Auch das Anthropozän besitzt ein enormes Konfliktpotenzial. Bruno Latour sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Trump-Regierung und der Klimakrise. Wahrscheinlich hat eine große geschichtliche Verschiebung der tektonischen Platten, auf denen unsere Realität sattelt, schon begonnen, und die Wissenschaften, die Philosophie und die Kunst müssen lernen, diese Entwicklungen zu beschreiben und fassbar zu machen. Die Leitplanken, die es unbedingt braucht, fallen nicht vom Himmel. Sie können nur Schritt für Schritt generiert werden. H.-J. R.:

Wenn man zum Beispiel an die Dramen von Lessing denkt und an die Art von Sensibilität, die plötzlich auf der Bühne erfahrbar wurde, die es bei Molière in dieser Form überhaupt noch nicht gab, oder an die Konzeption des Theaters als moralische Anstalt durch Schiller und durch Brecht in der ersten und Dürren-

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 129

129

18.02.21 16:2


matt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, um nur bei deutschsprachigen Dramatikern zu bleiben, verfügt die Bühne über eine lange Tradition, solche Veränderungen zu begleiten, wenn nicht gar zu antizipieren. Es wäre also an den Theaterleuten, ein Gespür dafür zu entwickeln, was man in der anthropozänen Situation auf die Bühne bringen kann, das die Menschen auch bewegt. Auch wenn nur fünf Prozent der Bevölkerung ins Theater gehen, ist es ein wichtiger Faktor. Das ist auch bei anderen kulturellen Einrichtungen nicht anders.

130

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 130

18.02.21 16:2


Literatur Bertolt Brecht: Die Gedichte. Frankfurt am Main 2007 Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main 1980 Michel Serres: Biogée. Brest 2010

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 131

131

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 132

18.02.21 16:2


Biografie Frank-M. Raddatz gründete 2019 mit der Meeresbio­ login und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Antje Boetius und der Präsidentin der Humboldt-Uni­ versität zu Berlin Sabine Kunst das Theater des An­ thropozän. Zahlreiche Publikationen mit und zu Heiner Müller wie zu Ästhetik, Politik und Literatur des Theaters. In den letzten Jahren insbesondere zu Fragen einer an­ thropozänen Bühne. Als Dramaturg arbeitete er u. a. mit Frank Castorf, Dimiter Gotscheff, Janis Kounellis, Einar Schleef, Tadashi Suzuki, Theodoros Terzopoulos. Er lehrt an diversen Universitäten, zurzeit an der Humboldt-Uni­ versität zu Berlin.

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 133

133

18.02.21 20:1


Wendungen

Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Hannes Aechter Umschlagillustration: Tanja Ebbecke Printed in Germany ISBN 978-3-95749-340-8 (Hardcover) ISBN 978-3-95749-358-3 (ePDF) ISBN 978-3-95749-359-0 (EPUB)

Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 134

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 135

135

18.02.21 16:2


Z-RADDATZ_DDdA_Inhalt_DRUCK.indd 136

18.02.21 16:2


Das Drama des Anthropozäns Frank-M. Raddatz

„Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht. Die kulturelle Neuordnung wird allein durch die unhintergehbare Tatsache, dass das Klima wie die Weltmeere nicht an den nationalen Grenzen Halt macht, die globale Zukunft bestimmen.“

Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns

Wendungen


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.