Arbeitsbuch 2020: Stück-Werk 6 – Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt

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Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt

EUR 24,50 / www.theaterderzeit.de

Nora Abdel-Maksoud Katja Brunner Martina Clavadetscher Björn SC Deigner Alexander Eisenach Thomas Freyer Nino Haratischwili Wolfram Höll Oliver Kluck

Arbeitsbuch 2020 • Heft Nr. 7/8

Thomas Köck Dirk Laucke Anne Lepper Wolfram Lotz Enis Maci Maria MilisavljeviĆ Mehdi Moradpour Jakob Nolte Ewald Palmetshofer

Bonn Park Sasha MarianNa Salzmann Ferdinand Schmalz Clemens J. Setz AkiN E. Şipal Nis-Momme Stockmann Miroslava Svolikova

Stück 6


8.–29.5.21 stuecke.de Veranstalter

GefĂśrdert von


SCHAUSPIEL KOELN PREMIEREN UND AUSBLICK 2020/21

WARTEN AUF GODOT (EN ATTENDANT GODOT)

VON SAMUEL BECKETT IN DER ÜBERSETZUNG VON ELMAR TOPHOVEN REGIE: JAN BOSSE PREMIERE: 04 SEP 2020 • DEPOT 1

DIE HERMANNSSCHLACHT VON HEINRICH VON KLEIST REGIE: OLIVER FRLJIĆ PREMIERE: 05 SEP 2020 • DEPOT 2

NORA

VON HENRIK IBSEN DEUTSCH VON HINRICH SCHMIDT-HENKEL REGIE: ROBERT BORGMANN PREMIERE: 24 OKT 2020 • DEPOT 1

STEFKO HANUSHEVSKY ERZÄHLT: DER GRO E DIKTATOR EIN STÜCK VON STEFKO HANUSHEVSKY, PETSCHINKA UND RAFAEL SANCHEZ MONOLOG REGIE: RAFAEL SANCHEZ URAUFFÜHRUNG: 30 OKT 2020 • DEPOT 1

SCHWARZWASSER

VON ELFRIEDE JELINEK REGIE: STEFAN BACHMANN DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG: 12 SEP 2020 DEPOT

WUT

VON ELFRIEDE JELINEK REGIE: ERSAN MONDTAG PREMIERE: 25 SEP 2020 • DEPOT 1

UTOPOLIS KÖLN

VON RIMINI PROTOKOLL (HAUG/KAEGI/WETZEL) IN PLANUNG: SEP / OKT 2020 • IN DER STADT

ALL FOR ONE AND ONE FOR THE MONEY (AT) VON RICHARD SIEGAL / BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL URAUFFÜHRUNG: 20 NOV 2020 • DEPOT 2

DIE BLECHTROMMEL

VON GÜNTER GRASS IN DER BÜHNENBEARBEITUNG VON OLIVER REESE MONOLOG REGIE: MARIE SCHLEEF PREMIERE: 29 NOV 2020 • DEPOT 2

NEW OCEAN SEA CYCLE

VON RICHARD SIEGAL / BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN NEUBEARBEITUNG CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: 03 OKT 2020 • DEPOT 1

DIE WALKÜRE

FREI NACH RICHARD WAGNER EINE PERFORMATIVE INSTALLATION VON T.B. NILSSON & JULIAN WOLF EICKE URAUFFÜHRUNG: 22 OKT 2020 • OFFENBACHPLATZ

JUGEND OHNE GOTT VON TINA MÜLLER NACH ÖDÖN VON HORVÁTH REGIE: BASSAM GHAZI PREMIERE: 23 OKT 2020 • DEPOT 2

ÄNDERUNGEN IM SPIELPLAN VORBEHALTEN. ALLE AKTUELLEN INFOS ZU DEN PREMIEREN 2020/21 FINDEN SIE AUF WWW.SCHAUSPIEL.KOELN

DON KARLOS

VON FRIEDRICH SCHILLER REGIE: JÜRGEN FLIMM PREMIERE: 18 DEZ 2020 • DEPOT 1

FRÜCHTE DES ZORNS VON JOHN STEINBECK REGIE: RAFAEL SANCHEZ PREMIERE: 19 DEZ 2020 • DEPOT 2

DIE JUNGFRAU VON ORLEANS

VON FRIEDRICH SCHILLER REGIE: PINAR KARABULUT PREMIERE: FEB 2021 • DEPOT 1

METROPOL

NACH DEM ROMAN VON EUGEN RUGE IN DER THEATERFASSUNG VON ARMIN PETRAS REGIE: ARMIN PETRAS URAUFFÜHRUNG: FEB 2021 • DEPOT 2

ATEMSCHAUKEL

VON HERTA MÜLLER IN EINER FASSUNG FÜR DAS THEATER VON BASTIAN KRAFT REGIE: BASTIAN KRAFT URAUFFÜHRUNG: MÄR 2021 • DEPOT 1

REICH DES TODES

VON RAINALD GOETZ KOOPERATION MIT DEM DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS REGIE: STEFAN BACHMANN DÜSSELDORFER PREMIERE: APR 2021 KÖ LNER TERMIN FOLGT • DEPOT 1

TRIPLE

METRIC DOZEN / LIEDGUT / MY GENERATION VON RICHARD SIEGAL / BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: APR 2021 • DEPOT 1

(NOCH OHNE TITEL)

VON IBRAHIM AMIR REGIE: MORITZ SOSTMANN URAUFFÜHRUNG: APR 2021 • DEPOT 2

EINE INSZENIERUNG REGIE: LUCIA BIHLER PREMIERE: MAI 2021 • DEPOT 1

SAISON DER WIRBELSTÜRME

NACH DEM ROMAN VON FERNANDA MELCHOR AUS DEM MEXIKANISCHEN SPANISCH VON ANGELICA AMMAR REGIE: MINA SALEHPOUR URAUFFÜHRUNG: MAI 2021 • DEPOT 2


Online-Programm auf Youtube und HAU3000 / www.hebbel-am-ufer.de


Arbeitsbuch 2020


INTERNATIONALES SOMMERFESTIVAL KAMPNAGEL 12.–30. AUGUST 2020

L A I SPEICTION ED

TANZ, THEATER, PERFORMANCE, MUSIK, BILDENDE KUNST UND DISKURS AUF DEN BÜHNEN, IM FESTIVAL AVANT-GARTEN, IN DER STADT ANALOG UND DIGITAL U.A. MIT FLORENTINA HOLZINGER NESTERVAL GOB SQUAD JAHA KOO KIM NOBLE MARLENE MONTEIRO FREITAS OONA DOHERTY YAN DUYVENDAK LIGNA

VORSCHAU SPIELZEIT 2020/21 DER NEUE PRAGMATISMUS

L E G A N P K AMPMNAGEL.DE KA

SPIELZEITERÖFFNUNG 23.09.– 04.10.2020

HANNAH HURTZIG / MOBILE AKADEMIE BERLIN: SCHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHTWISSEN: KÖRPERPOLITIKEN, VIREN UND ANSTECKUNG JOANA TISCHKAU: PLAYBLACK CHRISTOPH FAULHABER: #PARASOCIAL PATRICIA CAROLIN MAY: KONTROL [UA] SKILLS: ARIEN AUS STEIN [UA]

OKTOBER PEREL: LIFE [UN]WORTHY OF LIFE LAURENT CHETOUANE: OP. 131 : END/DANCE JOSEP CABALLERO GARCIA / QUEERPRAXIS: WHO´S AFRAID OF RAIMUNDA [UA] SHE SHE POP: HEXPLOITATION MABLE PREACH: ESCAPE THE ROOM, FIGHT THE POWER MAX CZOLLEK: TAGE DER JÜDISCH-MUSLIMISCHEN LEITKULTUR

NOVEMBER ÜBERJAZZ FESTIVAL // AUSSTELLUNG: RECHTSRADIKALE REALITÄTEN IN DEUTSCHLAND BURNING ISSUES: PERFORMATIVER KONGRESS ZU GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT IN KULTUR UND MEDIEN

DEZEMBER SASHA WALTZ & GUESTS: ALLEE DER KOSMONAUTEN URSINA TOSSI: SHE_REVENANTS [UA] SAŠA ASENTIĆ & COLLABORATORS: TANZ IN DER DDR: WAS BLEIBT?

JAN BIS MÄRZ ANDREW TAY & STEPHEN THOMPSON: MAKE BANANA CRY SERGE AIMÉ COULIBALY: WAKATT QUEER B-CADEMY EUN-ME AHN: DRAGONS BORIS CHARMATZ: INFINI KAINKOLLEKTIV: IST DAS EIN MENSCH? ORCHESTERKARAOKE // REVOLUTIONARY SOUQ


Stück 6 Werk Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt Herausgegeben von Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski


Keren Levi „Unmute“, Foto: Eti Steinberg

Verbündet euch!

Spielzeit 2020/21

Mit The Agency, Antje Pfundtner in Gesellschaft, Keren Levi, Morgan Nardi & Kathrin Spaniol, Rotterdam Presenta, subbotnik, She She Pop, Iggy Lond Malmborg, kainkollektiv, Pan Pan, Marlin de Haan, pulk fiktion, Ingo Toben u. a.

Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

fft-duesseldorf.de


EDITORIAL

Für Dramatikerinnen und Dramatiker ist dies tatsächlich die Frage aller Fragen: Wie lässt sich heute überhaupt noch für die Bühne schreiben? Nach der ästhetischen Wende ins Postdramatisch-Performa­tive, nach kollektiver Autorschaft, Rechercheprojekten, Bürgerbühnen, Roman- und Filmadaptationen und neuen Formaten, bei denen nicht unbedingt ein niedergeschriebener Text im Mittelpunkt steht? Wie lässt sich ein zeitgenössisches Stück für die Bühne gestalten? Für Schauspielerinnen und Schauspieler? Für Körper im Raum, die Träger eines performativen Sprechaktes werden? Wie überführe ich das, was Welt heißt, Leben, Geschichte oder Zukunft, in einen Sprechtext? Wie organisiere ich Handlung, Szene, Sprache? Wie das Unverfügbare? Das Rätsel? Die Lücke? Was ist Realität, was Fiktion? Was mein Eigensinn, Ton, Stil? Ähnlich wie Wolfram Lotz in seiner oben zitierten Ham­ burger Poetikvorlesung 2017 wollen wir uns in ­dieser sechsten Ausgabe der Reihe „Stück-Werk. Neue deutsch­­ sprachige Dramatik“ in 25 Porträts junger Dramatikerin­ nen und Dramatiker aus dem deutschsprachigen Raum auf die Spur des zeitgenössischen Schreibens begeben, dessen Spielfeld sich seit Erscheinen der letzten Ausgabe

in dieser Reihe vor über zehn Jahren grundlegend ­verändert hat. Auch, weil uns in unserer Weltwahrnehmung, wie Kathrin Röggla in ihrem Einleitungsessay schreibt, die theatrale Deutlichkeit gerade gehörig abgeht? Was läuft da ab hinter der Wand? Wie übersetze ich ­dieses Tuscheln, das ich nur an­nähernd verstehe, für ein Theaterpublikum? Sprache, schreibt Röggla, sei ein „Hochrisikobereich, ­voller Verheißung und Ansteckungskraft, ein Abgrund und ein Rettungsboot“. Und gerade deshalb ist der Umgang mit ihr im Theater ein Ringen, ein Kampf, ein Fanal, ein Feuerwerk, eine Explosion. Im Kontext des erweiterten Autorenbegriffs ist in diesem Sinne nicht nur eine neue, diversere Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern auf den deutschsprachigen Bühnen herangewachsen, die Entwicklungen der letzten Jahre haben auch in ihren Texten formal wie thematisch produktiven Widerhall gefunden. „Stehen wir“, fragt sich Röggla“, sogar möglicherweise „am Beginn eines neuen Sprachhungers, einer neuen Bezugnahme auf die Sprache, die in ihrer sinnlichen und politischen Kraft verstanden wird?“ Mit seinen 25 Porträts wird auch dieses „Stück-Werk“ ein Stückwerk bleiben, einen Ausschnitt präsentieren aus der vielfältigen Landschaft des zeitgenössischen Schreibens für die Bühne – als Standortbestimmung, Werkstattbericht und Handbuch. Bühnensprache, sagt Röggla, sei das Mittel, uns Zukünftigkeit zu verschaffen. Reden wir also über neue Dramatik. Jetzt! Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski

EDITORIAL

„Liebe Leute, ich finde es auch ein wenig seltsam, dass ich gerade jetzt den Wunsch gehabt habe, über das Schreiben von Theaterstücken zu sprechen. In einer Phase, in der ich mehr als jemals zuvor das ­Gefühl habe, es nicht mehr zu können, es wirklich nicht mehr zu wissen, wie es gehen könnte für mich, in Z ­ ukunft.“ Ist die Lage der zeitgenössischen Dramatik wirklich so dramatisch?


INHALT

KATJA BRUNNER, geboren 1991 in Zürich, studierte Literarisches Schreiben am

­ iteraturinstitut Biel/Bienne und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. L 2010 entstand ihr Stück „von den beinen zu kurz“, das am Theater Winkelwiese in Zürich ­uraufgeführt wurde und in der deutschen Erstaufführung durch das Schauspiel Hannover 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann. Im gleichen Jahre war sie mit ihrem Stück „die hölle ist auch nur eine sauna“ zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen und wurde in der Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt. 2014/2015 war sie Haus­autorin am Luzerner Theater und im Sommer 2015 Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. Im Februar 2018 wurde Katja Brunner für ihre Arbeit der Förderpreis des Kulturpreises des Regierungsrates Z ­ ürich verliehen. Außerdem publiziert sie regelmäßig in diversen Printmedien und tritt gemeinsam mit der Musikerin Sophie ­Aeberli als Loretta Shapiro auf Festivals auf. Ein Porträt von Ulf Frötzschner SEITE 26

MARTINA CLAVADETSCHER, geboren 1979 in Zug, studierte Germanistik,

Lingu­istik und Philosophie in Fribourg und Berlin. Sie arbeitet als Autorin, Drama­tikerin und Radio-Kolumnistin. In der Spielzeit 2013/2014 war Martina Clavadetscher Haus­ autorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Stück „Umständliche Rettung“ ge­wann sie 2016 die Essener Autorentage „Stück auf!“ und erhielt kurze Zeit später eine Einladung zum Heidelberger Stückemarkt. Nach ihrem Prosadebüt „Sammler“ (2014) war sie mit ihrem ersten Roman „Knochenlieder“ (2017) für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2018 war sie zu den Tagen der deutschsprachi­gen ­Literatur in Klagenfurt eingeladen. 2020 ­erscheint ihr aktueller Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“. Ein Porträt von Simone von Büren SEITE 30

BJÖRN SC DEIGNER, geboren 1983 in Heidelberg, ist ­Dramatiker und Hörspielmacher, arbeitet zudem als Sounddesigner und Komponist für Hörspiel- und Theater­ produktionen. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Vor und während seines Studiums erhielt er verschiedene literarische Förderungen, darunter Einladungen zu Festivals für junge Theaterautoren wie Interplay Europe (Athen) und World Interplay (Queensland/Australien). Sein Stück „In Stanniolpapier“ wurde 2018 zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin eingeladen, mit „der Reichkanzler von Atlantis“ erhielt er eine Einladung zum Heidelberger Stückemarkt 2019. Ein Porträt von Erik Zielke SEITE 34 ALEXANDER EISENACH, geboren 1984 in Ostberlin, ist ­Regisseur und Autor. Er studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Paris. Seine erste Regie führte er am Centraltheater Leipzig, wo er unter anderem bei Sebastian Hartmann und Sebastian Baumgarten assistierte. 2013/2014 war er Mitglied des Regiestudios und 2015/16 des Autorenstudios am Schauspiel Frankfurt und brachte dort bereits eigene Texte zur ­Uraufführung. Seit 2014 arbeitete Eisenach als freier Regisseur, unter anderem am Schauspiel Graz, am Düs­seldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Theater in Berlin. Von 2017 bis 2019 war er Hausregisseur am Schau­spiel Hannover. Seither ist er wieder als freier Regisseur und Autor tätig, unter anderem am Berliner Ensemble, am Schauspiel Graz und an der Volksbühne in Berlin. Für die Inszenierung seines Stücks „Der kalte Hauch des Geldes“ wurde Eisenach mit dem Kurt-Hübner-­Regiepreis 2016 ausgezeichnet. Ein Porträt von Jakob Hayner SEITE 38

Editorial SEITE 7 Hinter der Wand. Über Sprache und Zeitgenossenschaft von Kathrin Röggla SEITE 142 Impressum SEITE 144 Autorinnen und Autoren

der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Mit ihrem zweiten Stück „Kings“, entstanden am Ballhaus Naunynstraße in Berlin, wurde sie 2014 zum Festival Radikal jung eingeladen. Arbeiten am ­Maxim Gorki Theater in Berlin, am Neuen Theater Halle sowie am Münchner Volkstheater folgten. Mit „The Making-of“ (Maxim Gorki Theater, Berlin 2017) war sie 2017 erneut bei Radikal jung dabei. Im gleichen Jahr wurde sie in der Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt und mit dem Kurt-Hübner-Preis für Regie ausgezeichnet. „Café Populaire“ (Theater Neumarkt, Zürich 2018) wurde 2019 zum Schweizer Theatertreffen, zu Radikal jung und zu den Autorentheatertagen Berlin eingeladen. Für das Stück erhielt Nora Abdel-Maksoud 2019 den Hermann-Sudermann-Preis. Ein Porträt von Theresa Schütz SEITE 22

SEITE 18

NORA ABDEL-MAKSOUD, geboren 1983 in München, studierte Schauspiel an


2020 / 2021 · Eine Auswahl

Dorian Brunz

DIE HOCHHAUSSPRINGERIN

BEACH HOUSE

Konzert Theater Bern · Regie: Sophie Bodamer

Schauspiel Leipzig / Deutsches Theater Berlin · Regie: Philipp Preuss

Ibrahim Amir NOCH OHNE TITEL Schauspiel Köln · Regie: Moritz Sostmann

Michel Decar NACHTS IM OZEAN Anhaltisches Theater Dessau · Regie: Michel Decar

Isobel McArthur STOLZ UND VORURTEIL* (*ODER SO) Nach Jane Austen Burgtheater (Kasino) Wien · Regie: Lily Sykes

Mark Ravenhill DER STOCK ETA Hoffmann Theater, Bamberg · Regie: Matthias Köhler

Julia Schoch DIE JURY TAGT Hans Otto Theater, Potsdam · Regie: Catharina Fillers

Ella Road DIE LABORANTIN Staatsschauspiel Dresden · Regie: Adrian Figueroa

Sibylle Berg UND SICHER IST MIT MIR DIE WELT VERSCHWUNDEN Maxim Gorki Theater, Berlin · Regie: Sebastian Nübling

Alexander Eisenach

Tuğsal Moğul WIR HABEN GETAN, WAS WIR KONNTEN Deutsches Schauspielhaus Hamburg · Regie: Tuğsal Moğul

Dennis Kelly THE REGRESSION (Arbeitstitel) Berliner Ensemble · Regie: David Bösch

René Pollesch NUMBER FOUR Deutsches Theater Berlin · Regie: René Pollesch

Maya Arad Yasur

ETERNAL PEACE (Arbeitstitel)

THE EXITEERS (Arbeitstitel)

Schauspiel Frankfurt · Regie: Alexander Eisenach

Landestheater Schwaben, Memmingen · Regie: Sapir Heller

Thomas Melle MASS FÜR MASS Nach William Shakespeare Thalia Theater Hamburg · Regie: Stefan Pucher

Ulrike Syha

Thomas Freyer STUMMES LAND Staatsschauspiel Dresden · Regie: Tilmann Köhler

Magdalena Schrefel

DAS INSTITUT (Arbeitstitel)

EIN BERG, VIELE

Oldenburgisches Staatstheater · Regie: Felicitas Braun

Schauspiel Leipzig · Regie: Pia Richter

www.rowohlt-theater.de

Foto-Copyright: Thomas Aurin

Julia von Lucadou


20/21 PREMIEREN AUG – DEZ August

MELISSA KRIEGT ALLES

November

DER ZAUBERBERG

von René Pollesch nach Thomas Mann Regie: René Pollesch Regie: Sebastian Hartmann Uraufführung, Deutsches Theater Deutsches Theater

CORPUS DELICTI

ein digitales Klassenzimmerstück nach dem Roman von Juli Zeh Regie: Robert Lehniger Oktober

AUTOREN(THEATER)TAGE 2020

mit drei Festival-Uraufführungen und zehn neuen Kurzstücken Deutsches Theater und Kammerspiele

MARIA STUART

von Friedrich Schiller Regie: Anne Lenk Deutsches Theater

ZDENĚK ADAMEC

von Peter Handke Regie: Jossi Wieler Deutsche Erstaufführung, Kammerspiele

FRÄULEIN JULIE

nach August Strindberg Regie: Timofej Kuljabin Kammerspiele Dezember

DIE KATZE AUF DEM HEISSEN BLECHDACH von Tennessee Williams Regie: Jette Steckel Deutsches Theater

WOYZECK INTERRUPTED

von Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri nach Georg Büchner Regie: Amir Reza Koohestani Uraufführung, Deutsches Theater MERCEDES von Thomas Brasch Regie: Charlotte Sprenger Box

deutschestheater.de

Foto: Julia Baier

September


THOMAS FREYER, geboren 1981 in Gera, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Sein Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“ gewann 2006 den Förderpreis des Theatertreffens. Die Hörspielfassung des Stücks wurde im selben Jahr mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Ebenfalls 2006 erhielt ­Thomas Freyer den ­Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, verliehen in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover, und im Oktober/­November 2006 war er Teilnehmer der Werkstatt „Neue Dramatik“ am Theater Ulm. 2007 wurde er mit dem Förderpreis des Schiller-Gedächtnis-Preises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet sowie 2017 mit dem Förderpreis des Lessingpreises des Freistaates Sachsen. Ein Porträt von Tilmann Köhler SEITE 44 NINO HARATISCHWILI, geboren 1983 in Tiflis, Georgien, ist Schriftstellerin und

WOLFRAM HÖLL, 1986 in Leipzig geboren, ist Autor und Hörspielregisseur und lebt in Biel. Er hat ­Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literatur­institut Biel und Theater an der Hochschule der Künste Bern studiert. Sein Stück „Und dann“ wurde 2013 am Schau­ spiel Leipzig uraufgeführt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Mülheimer Drama­tikerpreis 2014. In der Spielzeit 2014/15 war Höll Hausautor am Theater Basel, wo im Mai 2015 sein Stück „Vom Verschwinden vom Vater“ uraufgeführt wurde. 2015 erhielt er den Lessing-Förderpreis des Freistaates Sachsen sowie den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Für „Drei sind wir“ wurde Wolfram Höll der Mülheimer Dramatikerpreis 2016 verliehen. Ein Porträt von Lena Schneider SEITE 56 OLIVER KLUCK, 1980 in Bergen auf Rügen geboren, hat die Berufe des Wasserbauers

und Lokomotivführers erlernt und arbeitet seit einem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig als freier Schrift­steller und Dramatiker. Mit seinem dritten Stück „Das Prinzip Meese“ wurde Kluck 2009 zum Berliner Stückemarkt eingeladen, die Uraufführung erfolgte 2010 am Maxim Gorki Theater in Berlin. Weitere seiner Werke kamen an Bühnen in Graz, Rostock und am Burgtheater in Wien zur Uraufführung, wurden zudem ins Spanische, Tschechische und Polnische übersetzt. Sein Stück „Froschfotzenlederfabrik“ wurde 2014 vom SWR unter der Regie von Leonhard Koppelmann als Hörspiel eingerichtet. Kluck erhielt unter anderem den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker 2010 und den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft für Dramatiker 2011. Mit Ersan Mondtag und Laura Naumann teilt er sich eine Kolumne auf Deutschlandfunk Kultur. Ein Porträt von Erik Zielke SEITE 62

THOMAS KÖCK, geboren 1986 in Steyr/Österreich, studierte Philosophie und Lite-

raturtheorie an der Universität Wien und der Freien Universität Berlin sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Seit 2012 schreibt er neben Hörspielen und Prosa haupt­sächlich Theatertexte; seit 2017 tritt er auch als Regisseur seiner Texte in Erscheinung und entwickelte mit dem Musiker Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance Konzert­performances. 2016 rief er gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren den Blog nazisundgoldmund.net gegen rechts ins Leben. Köck erhielt zahlreiche Stückaufträge und Stipendien, war unter anderem 2015/16 Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Für seine an vielen Bühnen gespielten Theaterstücke wurde er mehrfach ­ausgezeichnet, unter anderem mit dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis 2015, dem Kleist-Förderpreis 2016, dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2018 sowie 2018 und 2019 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis. Ein Porträt von Anja Nioduschewski SEITE 66

INHALT

Regisseurin. Nach einem Studium der Filmregie an der staatlichen Schule für Film und Theater in Tiflis studierte Haratischwili von 2003 bis 2007 Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg. In der Folge schrieb sie zahlreiche Theaterstücke, die sie als Regisseurin oft auch selbst uraufführte. Ihre dramatischen Texte wurden mehrfach ausgezeichnet: unter anderem 2008 mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts sowie dem Rolf-Mares-Preis, 2010 mit dem Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis, 2015 mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und dem Anna-Seghers-Preis, zuletzt mit dem BertoltBrecht-Literaturpreis 2018 und dem Schiller-Gedächtnispreis 2019. Seit ihrem Romandebüt „Juja“ 2010 ist Haratischwili zudem als Prosa-Autorin bekannt geworden. Ihre Romane „Das achte Leben (Für Brilka)“ und „Die Katze und der General“ wurden für das Theater adaptiert. Ein Porträt von Barbara Müller-Wesemann SEITE 52


DIRK LAUCKE, wurde 1982 in Schkeuditz, nördlich von Leipzig geboren und wuchs in

Halle an der Saale auf. Er studierte Psychologie an der Universität Leipzig und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Laucke schreibt für Theater, Film und ­Hörspiel und führt gelegentlich auch Regie. Sein erster Roman „Mit sozialistischem Grusz“ erschien 2015. Für sein drittes Stück „alter ford escort blau“ erhielt er 2006 den Kleist-­ Förderpreis für junge Dramatik. Das Stück wurde für die Mülheimer Theatertage 2007 ­nominiert, Laucke selbst wurde in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres 2007 gewählt. 2009 erhielt er den Förderpreis zum Lessingpreis des ­Freistaates Sachsen. 2010 folgte der Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und 2011 die Verleihung des Georg-Kaiser-Förderpreises des Landes Sachsen-Anhalt. Ein Porträt von Thomas Irmer SEITE 72

ANNE LEPPER, geboren 1978 in Essen, studierte Philosophie, Literatur und

­ eschichte in Wuppertal, Köln und Bonn, gefolgt von Promotionsstudien in Bamberg und G Essen sowie einem Studium des literarischen Schreibens an der Hochschule der Künste Bern. Mit ihrem Debütstück „Sonst alles ist drinnen“ gewann sie in der langen Nacht der neuen Dramatik 2009 an den Münchner Kammerspielen den Publikums- und Förderpreis. Mit nachfolgenden Arbeiten wurde sie unter ­anderem 2011 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens und 2016 zum Heidelberger Stückemarkt einge­laden. 2012 wurde Lepper in der Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt, 2013 erhielt sie den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und 2017 den Mülheimer Dramatikerpreis. Ihr Jugendstück „Maxim“ wurde 2019 mit dem Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugenddramatikerpreis ausgezeichnet. Ein Porträt von Jan Hein SEITE 78

WOLFRAM LOTZ, geboren 1981 in Hamburg, wuchs im Schwarzwald auf. Er studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik und Prosa. 2011 gewann er mit „Der große Marsch“ unter anderem den Kleist-Förderpreis sowie den Publikumspreis des Berliner Stückemarkts und wurde in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Nach dem Erfolg von „Einige Nachrichten an das All“ erhielt er 2012 den Dramatikerpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft und 2013 den Kasseler Förderpreis für Komische Literatur. „Die lächerliche Finsternis“ wurde 2015 zum Berliner Theatertreffen und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Im selben Jahr erhielt Wolfram Lotz den Nestroypreis für das Beste Stück und wurde zum Dramatiker des Jahres gewählt. Ein Porträt von Gunnar Decker SEITE 82 ENIS MACI, geboren 1993 in Gelsenkirchen, hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Kultursoziologie in London studiert. Ihr erstes Stück „Lebendfallen“ verfasste sie im Rahmen einer Schreibwerkstatt am Maxim Gorki Theater in Berlin, uraufgeführt wurde es 2018 am Schauspiel Leipzig. 2017 erhielt Maci zudem das Hans-Gratzer-Stipendium für ihren Stück­ entwurf von „Mitwisser“, mit dem sie 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen wurde. In der Spielzeit 2018/19 war Enis Maci Hausautorin am Nationaltheater Mannheim und Stipendiatin der Villa Concordia. 2018 und 2019 wurde sie in der Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt und erhielt 2019 den Literaturpreis Text & Sprache des ­Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Ein Porträt von Jan Hein SEITE 86 MARIA MILISAVLJEVIĆ, geboren 1982 in Arnsberg, studierte Englische Kulturwissenschaften, Englische Literatur und Kunstgeschichte. 2005 gründete sie in Passau die TheaterTruppe, mit der sie auch ihre ersten eigenen Texte wie „Annas Fest“ ins­ze­nierte, hospitierte an verschiedenen Theatern in Deutschland und London und promovierte über das Autorentheater am Londoner Royal Court Theatre. Von 2011 bis 2015 war sie Regieund Dramaturgieassistentin am Tarragon Theatre in Toronto. Seit 2013 ist sie dort International Playwright-in-Residence. Mit ihrem Stück „Brandung“ gewann Maria Milisavljević 2013 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatik. 2016/17 nahm sie an der Autorenwerkstatt „Infiziert!“ am Schauspielhaus Wien teil sowie 2017/18 an der Autorenwerkstatt „Welt/ Bühne“ am Residenztheater München. Ihr Stück „Beben“ wurde für den Mülheimer Dramatikerpreis 2018 nominiert sowie mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2017 und dem Else-Lasker-Schüler-Stückepreis 2017 ausgezeichnet. Ein Porträt von Andrea Vilter SEITE 90


MEHDI MORADPOUR, geboren 1979 in Teheran, seit 2001 in Deutschland lebend, ist Autor, Dolmetscher und Übersetzer für Farsi (Persisch) und Spanisch. Er studierte zunächst Physik und Industrietechnik in Nur und Qazvin, Iran, sowie ab 2004 Hispanistik, Soziologie, Amerikanistik, Arabistik in Leipzig und Havanna. 2014 bis 2016 besuchte er den Lehrgang Forum Text der uniT Graz. Für „mumien. ein heimspiel“ bekam er 2015 den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz und für „türme des schweigens“ den exil-DramatikerInnenpreis 2016 der Wiener Wortstaetten verliehen. Im selben Jahr wurde sein Musiktheaterstück „chemo brother“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Er erhielt 2017 den Christian-­Dietrich-Grabbe-Preis für „reines land“ sowie 2018 den Preis des Eurodram-Netzwerks für „ein körper für jetzt und heute“. Ab der Spielzeit 2020/21 ist Mehdi Moradpour als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen tätig. Ein Porträt von Rieke Süßkow SEITE 96

JAKOB NOLTE, geboren 1988 in einer niedersächsischen Kleinstadt, schreibt alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist: Prosa, Dramatik, Lyrik, Hörspiele, E-Mails. Zeichnen kann er auch, wie seine Cartoons auf vitadiminutiva.de beweisen. Bis 2014 studierte er an der Berliner Universität der Künste Szenisches Schreiben – in einem Jahrgang mit unter anderem Bonn Park, Katja Brunner, Konstantin Küspert und Michel Decar, mit dem er als Autorenduo Nolte Decar einige Theaterstücke veröffentlichte. Neben mehrfach prämierter Dramatik, die zu Zusammenarbeiten mit Regisseuren wie Marco Štorman („Ge­spräche wegen der Kürbisse“, „No Future Forever“) und Jan Bosse („Don Quijote“) führte, erschienen bereits die beiden ebenfalls mehrfach prämierten Romane „Alff“ (2015) und „Schreckliche Gewalten“ (2017), letzterer für den deutschen Buchpreis nominiert. Zudem inszeniert er zusammen mit Moritz Löwe auch noch eigene Hörspiel­texte für den Rundfunk. Ein neuer Roman erscheint im Frühjahr 2021 im Suhrkamp Verlag. Ein Porträt von Mirka Döring SEITE 100 Lehramt Philosophie und Psychologie. In der Spielzeit 2007/08 war er Hausautor am Schau­ spielhaus Wien. 2008 wurde er zum Nachwuchsdramatiker des Jahres ernannt. Nach zwei Nominierungen (2008 mit „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ und 2010 mit „faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete“) gewann er 2015 mit seinem Stück „die unverheiratete“ den Mülheimer Dramatikerpreis. Die Uraufführungsinszenierung von Robert ­Borgmann am Wiener Akademietheater wurde außerdem zum Berliner Theatertreffen 2015 eingeladen. 2016 folgte eine Einladung zum Schweizer Theatertreffen mit ­„Edward II. Die Liebe bin ich“. Von 2015 bis 2019 war Ewald Palmetshofer Dramaturg am Theater Basel und wechselte zur Spiel­ zeit 2019/2020 mit Intendant ­Andreas Beck als Dramaturg ans Residenztheater München. 2018 wurde ihm der Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis verliehen. 2019 wurde er mit dem Gert-Jonke-Preis geehrt. Ein Porträt von Christoph Leibold SEITE 104

BONN PARK, geboren 1987 in Berlin, wuchs in Berlin, Korea und Paris auf, studierte s­ lawische Sprachen und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, später Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Regie an der Züricher Hochschule der Künste. Parallel dazu entwickelte er erste Arbeiten als ­Regisseur und Autor an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, wo er hospitierte, und drehte Filme. Sein erstes abendfüllendes Stück „Die Leiden des jungen Super Mario in 2D – erster Teil der Superstartrilogie Gut&Böse“ wurde 2011 mit dem Innovationspreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet und in der Folge viele seiner Texte, die er auch selbst inszenierte, prämiert, unter anderem mit dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis 2015, dem Jugendjurypreis der Essener Autorentage 2016 und dem ersten Preis des Stückemarkts beim Berliner Theatertreffen 2017. Seine Inszenierung seines Stücks „Drei Milliarden Schwestern“ an der Volksbühne Berlin wurde mit dem Friedrich-Luft-Preis 2019 ausgezeichnet und Park von Theater heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt. Ein Porträt von Peter Laudenbach SEITE 110 SASHA MARIANNA SALZMANN, geboren 1985 in Wolgograd, studierte Lite-

ratur, Theater und Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschafts­magazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater in Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Sie gewann 2009 den exil-DramatikerInnenpreis der Wiener Wortstaetten für ihr Stück „Weißbrotmusik“, 2012 den Kleist-Förderpreis für ­„Muttermale Fenster blau“ sowie für „Muttersprache Mameloschn“ 2013 den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage. 2017 erschien ihr Debütroman „Außer sich“, der es im gleichen Jahr auf die Shortlist zum Leipziger Buchpreis schaffte sowie mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2019 wurde Sasha Marianna Salzmann der Kunstpreis Berlin in der Sparte Darstellende Künste verliehen. Ein Porträt von Paula Perschke SEITE 114

INHALT

EWALD PALMETSHOFER, geboren 1978 in Linz, studierte in Wien Theologie und


FERDINAND SCHMALZ, geboren 1985 in Graz, aufgewachsen in Admont in der

Obersteiermark, studierte Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien und absolvierte den Lehrgang Forum Text in Graz. Gleich mit seinem ersten Stück „am beispiel der butter“ erhielt er 2013 den Retzhofer Dramapreis, wurde 2014 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert, zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt und mit dem Wiener Dramatik Stipendium ausgezeichnet. Sein zweites Stück „dosenfleisch“ eröffnete 2015 in einer Inszenierung des Burgtheaters Wien die Autorentheater­tage am Deutschen Theater in Berlin. Erneute Einla­dun­gen nach Mülheim folgten mit „dosenfleisch“ (2016) und „der thermale widerstand“ (2017). Ebenfalls 2017 wurde ihm der Kasseler Förderpreis Komische Literatur verliehen. Im gleichen Jahr gewann er den Ingeborg-Bach­mann-Wettbewerb in Klagenfurt. Sein Stück „­ jedermann (stirbt)“ wurde 2018 mit dem Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie Bestes Stück ausgezeichnet. Ein Porträt von Christoph Leibold SEITE 120

CLEMENS J. SETZ, geboren 1982 in Graz, studierte zunächst Mathematik und Germanistik in Graz. Seit 2007 ist er als freier Schriftsteller und Übersetzer tätig. Bereits sein erster Roman „Söhne und Planeten“ schaffte es 2007 auf die Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Zahlreiche Auszeichnungen folgten, so etwa der Preis der Leipziger Buchmesse 2011 für seinen Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“, der Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 für seinen Roman „Indigo“, der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2015 für seinen Roman „Die Stunde zwischen Frau und ­Gitarre“. 2019 wurde ihm der Berliner Literaturpreis verliehen, verbunden mit einer Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität Berlin. 2020 erhielt­ ­Clemens J. Setz den Heinrich-von-Kleist-Preis. Seine Stücke „Vereinte ­Nationen“ und „Die Abweichungen“ wurden 2017 und 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Ein Porträt von Dorte Lena Eilers SEITE 124

AKIN EMANUEL ŞIPAL, 1991 in Essen geboren, studierte Film an der Hochschule

für bildende Künste Hamburg. Für sein erstes Theaterstück „Vor Wien“ gewann er 2012 den bundesweiten Wettbewerb „In Zukunft“ , für „Santa Monica“ erhielt er 2013 den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal war zudem als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie den Internatio­nalen Hofer Filmtagen, dem Festival des Films du Monde de Montréal, dem Internationalen Kurzfilm­ festival Hamburg oder DOK Leipzig eingeladen waren. In der Spielzeit 2016/17 war Şipal Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Seit der Spielzeit 2017/18 ist er Gastdramaturg und Hausautor am Theater Bremen. Ein Porträt von Simone Sterr SEITE 128

NIS-MOMME STOCKMANN, geboren 1981 auf Föhr, studierte Sprache und

Kultur Tibets in Hamburg, Medienwissenschaften im dänischen Odense und machte eine Ausbildung zum Koch, bevor er an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studierte. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik und Prosa. Von 2009 bis 2012 war er Hausautor am Schauspiel Frankfurt. Mit „Der Mann der die Welt aß“ gewann er 2009 den Haupt- und Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts und erhielt den Werkauftrag beim Berliner Stückemarkt. „Kein Schiff wird kommen“ und „Tod und Wiederauferstehung meiner Eltern in mir“ wurden 2010 und 2013 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Weitere Preise folgten, so die Wahl zum Nachwuchsdramatiker des Jahres in der Kritikerumfrage von Theater heute 2010, der Förderpreis des Friedrich-Schiller-Gedächtnispreises 2010, der Friedrich-Hebbel-Preis 2011 und der Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014. Sein Debütroman „Der Fuchs“ (2016) schaffte es auf die Shortlist der Leipziger Buchmesse und des aspekte-Literaturpreises. Ein Porträt von Judith Gerstenberg SEITE 132

MIROSLAVA SVOLIKOVA, geboren 1986 in Wien, studierte Philosophie in Wien und Paris, bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien und Szenisches Schreiben beim Dramaforum von uniT Graz. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet: 2015 gewann sie mit „die hockenden“ den Retzhofer Dramapreis, 2016 wurde ihr für „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ das Hans-Gratzer-Stipendium verliehen. Ihr Stück „Europa flieht nach Europa“ eröffnete 2018 die Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin. Im gleichen Jahr gewann sie für „Der S ­ precher und die Souffleuse“ den Autor*innenpreis der österreichischen Theaterallianz. Einladungen zum Austrian Cultural Forum New York und zum Goethe-­ Institut Tokio sowie eine Nominierung für den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarkts 2020 folgten. Sie betreibt das Kunstprojekt „YYY!“. Ein Porträt von Margarete Affenzeller SEITE 136


stetig neu erfindet

Wie sich das

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Puppentheater Magdeburg

stetig neu erfindet

BEW E G U N G X

BEWEGUNG

Wie sich das

Puppentheater Magdeburg

Theater der Zeit

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IN

»ENSEMBLE IN BEWEGUNG« RICHTET DEN BLICK AUS UNTERSCHIEDLICHEN PERSPEKTIVEN AUF DIE GROSSE LUST AM KÜNSTLERISCHEN UND STRUKTURELLEN „UMBAU“, DIE DAS PUPPENTHEATER MAGDEBURG IN DEN VERGANGENEN 30 JAHREN PRÄGTE. EIN LEBENDIGES BILD DIESES IN DER STADTGESELLSCHAFT FEST VERWURZELTEN UND ZUGLEICH INTERNATIONAL VERNETZTEN PUPPENTHEATERS – UND EINES UNGEWÖHNLICHEN ENSEMBLES ZEICHNET DIESER SAMMELBAND MIT: BEITRÄGEN VON REGISSEUR*INNEN, SPIELER*INNEN UND MITARBEITER*INNEN VERSCHIEDENER ABTEILUNGEN /// INTERVIEWS MIT DEM AKTUELLEN LEITUNGSTEAM /// KULTURPOLITISCHEN AUS- UND RÜCKBLICKEN /// JOURNALISTISCHEN RECHERCHEN

Theater der Zeit

www.puppentheater-magdeburg.de | service | 5403310 | 20


In deiner Arbeit ist eine Sehnsucht, aber diese ­unbedingt folgen willst, dann tu’s. Aber besch und kein ­Leben. Lass andere damit in Ruhe. da spiele ich mit meinem einen großen Zeh am anderen herum. Und kurz denke ich, es könnte

in irgendeinem Scherbenpalast, in irgendeiner verfickten Luft,

Morgens, wenn ich allein dalieg, immer noch so völlig besoffen, in irgendeiner Bettwäsche, ­ in irgendeinem Wohnzimmer,

„Vom Verschwinden des Autors und dem anschwillenden Theater“ (Rede 2010)

Das sich nicht mit dem Gängigen zufriedenstellen lässt, und das auch nicht immer das Neue schöpfen muss. Nis-Momme Stockmann

dem Produkt. Der Suche wieder genauso viel Liebe widmet wie dem Ergebnis.

Ontologien und politische Diskurse ­zulässt, hineinlässt. Das dem künstlerischen Prozess, der Arbeit wieder dieselbe Liebe und Aufmerksamkeit schenkt wie

eigenen Rhythmus vorgibt, der auch ruhiger sein darf, der auch meditativ sein darf, der auch alternative Dramaturgien, Ideen, Wahrnehmungshorizonte,

Ich will ein Theater sehen, das anschwillt, das meditiert, das flexibel ist, das in seinen Strukturen nicht dem Tempo der Welt hinterherhechelt, das seinen

auch der große Zeh eines ­geliebten Menschen sein. Jakob Nolte „Vita Dissoziativa“


Das Theater braucht dieses Stück nicht, man kann es nicht abonnieren, es ­ ewinnt keine Nachwuchstheaterpreise, g es trägt nicht dazu bei, den Lebens­ unterhalt des Autors zu sichern. Dieses Stück bietet keine Sicherheit, dieses Stück hat nur eine Ebene. Alles in ihm ist gemeint wie geschrieben. Es gibt keine Überraschungen, keine Kreativität, kein ­revolutionäres Aufbegehren. Oliver Kluck „Das Prinzip Meese“

Sehnsucht, die ist nicht lebbar. Wenn du ihr wer dich nicht. Dann ist es eben ein Traum Nino Haratischwili „Georgia“


HINTER DER WAND ÜBER SPRACHE UND ZEITGENOSSENSCHAFT VON KATHRIN RÖGGLA

Hören Sie auch dieses Flüstern? Diese kleine Besprechung hinter der Wand? Das geht jetzt schon eine ganze Zeit so. Zu gerne hätte man gewusst, was die beiden da besprechen. Nachdem es so laut war, nachdem eine ganze Weile gebrüllt wurde – Sätze, von denen wir auch nichts verstanden haben –, diese Stille, das heißt, diese nur spürbare Unterhaltung, als ob etwas verabredet würde. Wäre es Theater, wäre es eine Szene von Philippe Quesne. Ist es aber nicht. Wir wollen ­verstehen, wollen wissen, was da vor sich geht. Nicht etwa, weil unser Leben davon abhängt, es ist die soziale Neugier, das Grundinteresse an dem, was rund um uns passiert, was im Theater auf den Punkt gebracht wird, indem unser historischer Standpunkt fasslich gemacht wird. Zur Kenntlichkeit entstellt. D ­ iese theatrale Deutlichkeit geht uns in Zeiten der Kontaktsperre gerade ab, und vielleicht deswegen sitzen wir jetzt da und rätseln über Beckett-Figuren oder darüber, warum jemand Hamlet oder nicht Hamlet sein könnte, wir starren ­auf den fehlenden Text, könnte man sagen, und die nebenan machen einfach weiter. Es heißt, alle kehren jetzt zurück nach dem großen Lockdown. Zurück in die Städte, in die Straßen, zurück in die Museen und in die Theaterhäuser, in die Cafés und Schulen, in die Bildungseinrichtungen, auf die Sportplätze und möglicherweise auch an den Arbeitsplatz. Auch wir kehren zurück und wundern uns gleichzeitig, wohin man alles zurückkehren kann. Aber, um ehrlich zu sein: Wir finden den Weg nicht recht. Irgendwie müssen wir vorher abgebogen sein und erkennen

unsere Umgebung nicht wieder. Einige haben Angst, andere glauben, sie hören ein Echo aus anderen Zeiten, die dritten malen den Teufel an die Wand, und wiederum andere behaupten, einfach dageblieben zu sein – business as usual – sie hatten vermutlich gar keine Wahl. Der Streit ist sicher. Um Ressourcen, ­pol­itische Kommunikationsformen, Rechtsgüter. Und er wird auf allen möglichen Plätzen, an unterschiedlichsten Orten und in diversen Situationen ausgetragen werden. Und nicht nur, weil der öffentliche Raum ­derzeit nicht garantiert ist, kommt in diesem Streit sprachlichen Mitteln eine besondere Rolle zu. Es ist der Grundstrom der Mündlichkeit, auf dem unsere Gesellschaft immer noch beruht, wie Alexander Kluge sagte – ­jegliche Streitabwicklung läuft über Sprache. Was alles sonst noch über Sprache läuft, kann als ungesichert gelten, sie ist ein Hochrisikobereich, voller Verheißung und Ansteckungskraft, ein Abgrund und ein Rettungsboot, sie ist – das wissen wir von William S. Burroughs – eine virale Struktur. Das Gerücht gehört zur Sprache wie die rhetorische Floskel oder der Gerichtsakt. Auch deswegen ist es vermutlich so reizvoll, sie in eine feste dramatische Form zu überführen, sich ihr in Klippklappdialogen oder Beckett’schen Leer­ stellen zu nähern, mit Diskursrasanz, epischer Breite oder grotesker Mehrspurigkeit, manchmal enervierender Geschwätzigkeit. Bühnensprache generiert Erin­ nerung und weckt Hoffnung, sie ist das Mittel, uns Zukünftigkeit zu verschaffen. Ohne Sprache verliert das Theater sein historisches Bewusstsein, das wissen

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ten ändern sich. Oder? Stehen wir am Beginn eines neuen Sprachhungers, einer neuen Bezugnahme auf die Sprache, die in ihrer sinnlichen und politischen Kraft verstanden wird? An Endpunkten haben wir zumindest wahrlich keinen Mangel. Absurderweise hängen wir in der Gegenwartsdramatik angeblich gleichzeitig im ersten Akt fest. Aber tun wir das wirklich? Der erste Einspruch gegen diesen Allgemeinplatz lautet, dass sich gegenwärtig geschriebene dramatische Texte durch eine kaum zu fassende Vielfalt auszeichnen, weil sie nicht

STEHEN WIR AM BEGINN EINES NEUEN SPRACHHUNGERS, EINER NEUEN BEZUGNAHME AUF DIE SPRACHE, DIE IN IHRER SINNLICHEN UND POLITISCHEN KRAFT VERSTANDEN WIRD? nur längst über alle medialen Grenzen gehen, sie kommen auch aus unterschiedlichsten Zusammenhängen, ob aus der Spoken-Word-Tradition, aus dem Perfor­ mativen, dem Abgelauschten, der Beobachtung, der Erzähltradition, dem Serienknall, dem Auseinander-­ Dividierten, den vielen postdramatischen Schulen, dem Brechterbe oder entstammen dem Social-MediaTakt. Die Wege der Texte ins Theater sind dabei so divers, dass etwas Theatertext zu nennen manchmal wie eine hilflose oder geradezu leichte Geste wirkt. Sie erinnern nur in dem Maße an die Situation und Tradition der Bühne, wie es andere künstlerische Mittel auch machen, so man sie denn überhaupt als Mittel bezeichnen möchte – freihändig und in größtmöglichem Überschwang. Wieder einmal hat sich das Theater in den letzten dreißig Jahren neu erfunden, auf drastische Weise. In diesem Prozess rückt der Text langsam wieder in den Vordergrund, situiert sich aber auf andere Weise als vor dreißig Jahren. Er ist nicht mehr organisierender Mittel­ punkt eines genau beschreibbaren Geschehens, wird nicht mehr als getrennte Instanz von anderen künstlerischen Mitteln verstanden. Die Allianz zwischen Figur und Sprache ist oftmals zerschlagen, eine Entpsychologisierung fand statt, was nicht nur an der Episierung

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KATHRIN RÖGGLA

wir von Heiner Müller, der die Kraft der Utopie als einen Akt beschrieb, der Geschichte ins Weiße ihrer Augen zu sehen. Ich habe diesen kryptischen Satz nie wirklich verstanden, denn das Weiße im Auge der Geschichte kann ja nur diffuser Materialkörper sein, ist Verweigerung von Sinn, aber vielleicht geht es genau darum: Sprache nicht als Festlegung eines Sinns zu begreifen. „Jetzt kommt diese Gegenwartsdramatikerin mit Müller, ausgerechnet“, werden Sie sagen, wo der doch so historisch ist! Aber wie man in Zeiten der Krise das Vertraute braucht, so braucht man auch das Unvertraute, die Problemsteller und das Rätsel. Und das alles sind für mich Heiner Müllers Texte. Sie sehen mich fremd an, zumal aus einer historischen Situation, die ich nicht kennengelernt habe. Doch Abstände zu messen ist ein literarischer Gestus, es hilft, nicht nur die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, sondern auch die eigene historische Standortbestimmung vorzunehmen; und was brauchen wir mehr in Zeiten, die plötzlich als Epochenwende bezeichnet werden nach dreißig Jahren „Ende der Geschichte“. Ein anderer Müllersatz, die Literatur müsse dem Theater Widerstand leisten, „sonst ist es nichts“, hat seine Reise durch meine Theaterbiografie gemacht. Ich habe ihn sozusagen durchdekliniert. Mal habe ich ihn sofort verstanden, dann habe ich ihn für sinnlos erachtet, weil das Theater als der eine Block weg war, sich ausdifferenziert hatte in viele Formen; ich habe den Satz umdrehen müssen, das Theater hat sozu­ sagen gegen sich selbst Widerstand geleistet. Später war er wieder ganz da, einleuchtend, aber anders als zuvor, vielleicht als nicht ganz so eindeutige Gegensetzung von „die Literatur“ und „das Theater“. Die ganze Zeit hindurch allerdings war ich von der Sehnsucht nach der starken formalen sprachlichen Setzung bestimmt, das heißt, Sprache als Form, mehr noch Formierungsinstanz und nicht als Vehikel zu begreifen. Lange Zeit schien das gar nicht so selbstverständlich, sie ist sozusagen unter den Tisch des Bühnengeschehens gefallen, war am besten authentisch, schnell improvisierbar oder biegbar, modellierbar – dabei ist sie Musik, sie ist Bild, sie ist Tanz, sie ist Gespräch, sie ist Erzählung, sie ist clash oft the worlds, sie ist witzig, grotesk und meint es bierernst. Der hauptsächliche Reiz der letzten Jahre lag ­hingegen oft in der Kürzung, als wäre sie geschwätzig und man müsse sie unterbinden, ihr Luft verschaffen, Lücken, als würde sie nicht über diese verfügen. Sie musste in jedem Fall kleiner als die Inszenierung werden, als gäbe es da eine Konkurrenz. Kann nicht beides, Theater und Literatur, größer bleiben? Es mutet seltsam an, für Bühnensprache werben zu müssen, was vielleicht auch nicht mehr notwendig ist, denn die Zei-


des Theaters liegt. Etwas spricht sich durch die Figuren hindurch, das monströs wirken kann. Vielleicht ist die gerade politisch so virulente Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv der basso continuo der Gegenwartsdramatik. Deutlich wird, dass im biopolitischen Regime – einem regulatorischen Regime, das sich in scheinbar entpolitisierter Weise in technokratischen Formen äußert, welche wiederum von rechts­ populistischen Spaltungsversuchen attackiert werden, in der einkassierten Zukünftigkeit einer breiten Gegenwart, die sich gerade aufzulösen scheint – Sprache als Kampfplatz übrig bleibt. Sie gehört nicht mehr den Sprechenden alleine, sondern geht immer über diese hinaus, ist immer schon „gesprochen“, ist immer schon Parteinahme, wird immer schon usurpiert, werden die Sprechenden immer auf eine übergeordnete, oft identitäre Perspektive festgelegt in Debatten, die selten jemanden unbeschädigt entlassen. Deutlich wird das bei vielen Themen, ob bei der Frage zur gendergerechten Sprache oder identitätspolitischen Verwerfungen, oder, wie man jetzt gesehen hat, im postkolonialen Diskurs, dem, wie im Fall eines Achille Mbembe, Anti­ semitismus vorgewor­fen wird. Vielleicht müssten wir uns hier, zumal wir über dramatische, also ästhetische Sprachformen nachdenken, eigentlich über Dichte, also Textdichte unterhalten, denn an ihr zeigt sich der Wandel besonders deutlich. Hätte man sie früher eher innertextlich begriffen, durch Metaphern und semantische Verdichtung erzeugt, tritt sie heute mehr in der Frage der Bezüge, der räumlichen Situierung, die der Text organisiert, auf. Wenn die Rahmen übereinandergelegt werden, wenn Vielsprachigkeit nicht mehr nebeneinander läuft, ­sondern Gleichzeitigkeit vorherrscht. Vielleicht ist die Übersetzung von Komplexität, die einer heutigen Welterzählung zukommt (die auch in jeder privat anmutenden Situation steckt), ihr besonders heikler ­Auftrag? Die sprachliche Organisation der Szene hat sich verändert, und Handlung ist sicherlich ihr wunder Punkt, weil ihr traditionelles, in anderen Medien durchaus noch weitergeführtes Verständnis im Theater ­weniger und weniger greift. Wie viele Gegenwarts­ dramatikerinnen und -dramatiker liefern einen Cliffhanger-Abend mit zwei Handlungstwists, die uns aus Hollywood so vertraut sind und die uns einen Theaterabend als „spannend“ in einem gewissen Sinn bezeichnen lassen würden? Es ist eine andere Spannung, die im Theater erzeugt wird, und der Grund dafür liegt nicht nur an der Einfallslosigkeit der Dramatikerinnen und Dramatiker oder an dem neuen Verhältnis von Text und Inszenierung. Es ist auch das Bedürfnis nach einem theatralen Realismus, das im Theater in den vergan­ genen zehn Jahren heftig diskutiert wurde, egal, ob

man die Rede auf einen „strategischen Realismus“, also einen nicht absolut, sondern auf Probe gesetzten Realismus brachte, oder vom „agentiellen Realismus“ der Materie im Rahmen einer Anthropozändebatte gesprochen wurde, so, als könnte man diese beiden Begriffe in einer Debatte unterbringen. Handlung ist auch mein Kernthema, die Krux und der notwendige Stolperstein meiner Arbeit, und die Textarchitektur, seine Bewegung eine eminent wich­ tige Fragestellung. Mich hat an der theatralen Szene immer die Leerstelle interessiert, die fehlende Handlungseinsicht, die eine politische Reaktion erschwert, also die Problematik, die man mal als organisierte ­Verantwortungslosigkeit, mal als Versteckspiel über ­Bande bezeichnet, so wie sie sich in einer Gesellschaft, die sich durch das Vorherrschen systemischer Gewalt auszeichnet, zeigt. Insofern bin ich anfällig für die damit einhergehende Ohnmachtsproblematik, wie sie auch Fernsehserien wie „Black Mirror“, die im Antho­ logieprinzip zahlreiche von Medien und Technik bestimmte Dystopien entwirft, zum Thema gemacht haben. Das Nicht-Handeln-Können der Figuren inmitten eines narrativen Settings hat einen Reiz, der natürlich nicht unschuldig ist, weil er immer bestätigen muss, was er kritisiert. Und das möchte ich ja nicht. Und dennoch wirkt das realistische Basisprogramm, nämlich die Welt zur Kenntlichkeit zu entstellen, um sie zu ändern, für mich gerade für die Bühne aufgrund ihrer eigenen Spektakelhaftigkeit heute problematisch. Wenn die Behauptung der spektakulären Szene wie eine Negation der existierenden Wirklichkeit wirkt, zu vordergründig und der Ablenkung dienend, wenn die Erzählung den komplexen sozialen Raum zu sehr auf das Hier und Jetzt reduziert, in dem er gar nicht Platz hat, wird sie unwahr, das heißt, sie wird kein Möglichkeitsraum für gesellschaftliche Veränderung. Meine Antwort darauf ist verbunden mit dem Gedanken der zerrissenen oder fehlenden Szene, wie es Theaterkompanien wie Forced Entertainment zeigen. Hier sind Ort und Zeit nicht mehr einfach zu organi­ sieren und vertragen jede Menge Indirektheit. Mein Projekt, das Theater mit dem Indirekten zu injizieren, bis es sein Drama herausgibt, welches es im Spektakel verkauft hat, lebt freilich ebenfalls von der Lust am Spektakulären. Seine Sprache ist allerdings so konkret wie möglich, seine Erzählformen sind so direkt wie möglich, seine Erfahrungsräume so spannungsreich, wie es die Szene erlaubt, der Stoff muss von überall herkommen können und ist gleichzeitig spezifisch, ­banal wie Herrschaft befragend. Realismus benötigt Schwer­ kraft. Die gilt es zu organisieren, was gar nicht so einfach ist. Doch das realistische Begehren der Gegenwartsdramatik ist so groß, dass diese Arbeit ­daran zu sehr

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weiß man hinterher vielleicht, warum Theater“, so formulierte es Heiner Müller 1995 in „Theater ist Krise“. Jetzt haben wir diese Situation, es fühlt sich nicht nach Chance an, sondern mehr nach Senatswarteschlange für Soloselbstständige, dazu ein Drama für die Häuser und freien Gruppen. Die Pause ist nun nach ein paar Monaten vorüber. Angeblich. Von vielen Bühnen wurde sie für Digitalisierungsprozesse genutzt, um schnell ins Netz zu können, wenn wieder nötig. Die Zukunft ist weiter ungewiss, das zumindest wissen wir jetzt wieder. Vielleicht hätten wir Dramatikerinnen und Dramatiker diesen Zustand auch anders nutzen können, wäre dieses Flüstern nebenan nicht gewesen, das jeden Moment wieder in Gebrüll umschlagen kann, und wer

DIE ZEITGEISTFALLE WIRD GERADE IN ZEITEN DER AUSGERUFENEN EPOCHENWENDE SICHTBAR. IN IHR STECKT DAS UNUNTERBROCHENE SCHREIBEN, DAS IMMER NOCH ALS TUGEND IN EINER PRODUKTIONSGESELLSCHAFT GILT, DIE NACH WIE VOR BLOSS KEINE PAUSE MACHEN DARF. kann schon sagen, was dann passiert? Ja, der Streit ist uns sicher. Immerhin haben einige jetzt angefangen, es zu übersetzen. Sogar in verständliche Äußerungen. Sie wissen, dass das Theater der Ort ist, an dem der politische Streit symbolisch ausgetragen werden kann und dass ­Literatur der momentane Nukleus eines geschlos­senen Theaters ist, ein Speicher, der gegenwärtig sein kann, ein Versprechen für das wiederkommende Theater. Andere haben eine Gegensprache entwickelt, die durch die Mäuselöcher kann und durch die Wände läuft, ins Freie oder in eine Solidarität, und wiederum andere haben sich plötzlich im Mäuse­geflüster selbst reden hören. Wir werden das alles zusammen brauchen.

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KATHRIN RÖGGLA

unterschiedlichen Lösungen führt. ­Der Weg von Milo Rau zu René Pollesch ist unglaublich weit, genau wie der von Maxi Obexer zu Felicia Zeller oder von Wolfram Lotz zu Miroslava Svolikova zu Maria Milisavlević. Die Szene insgesamt ist unübersichtlich. Und krankt an schlechten Bedingungen für die Schreibenden. Sie sind nach wie vor exterritorial, gehören nicht wirklich ins Theater, werden oft schlechter bezahlt als ­Regisseure, weil die erhofften Tantiemen gering sind. Sie sind Modeereignisse wie so vieles am Theater, ­werden schnell abgeschrieben und noch schneller vergessen. Fremdgängerinnen, Fehl-am-Platz-Seiende organisieren sich in anderen Arbeitsgruppen, zusammen mit Regie und Schauspiel in Arbeitsteams, in ein Kollektiv, einen Zusammenhang. Insofern wird es nicht verwundern, dass sich in diesem Jahr eine Dramatiker*innen­ vereinigung nach dem Modell des ensemble-­netz­werkes gegründet hat, auf Inititiative von David Gieselmann und Ulrike Syha, die mehr Einbindung der Dramatik an den Bühnen, mehr Gedächtnis und größere Reich­ weiten jenseits von Uraufführungen fordert. Das ist zu unterstützen, denn das Prekarisierte meiner Kollegenschaft ist erschütternd, wenn es doch erstaunlich viele Big Names gibt, Vielbeschäftigte und Vielgespielte, die sich von einem Auftrag zum nächsten hangeln. Das Erstaunliche ist, dass beide Seiten ein hohes Tempo aufweisen müssen. Für die einen ist es rein ökonomisch notwendig, viel zu schreiben, und für die anderen ist es wichtig, um den Platz an der Sonne zu halten, denn Sichtbarkeit ist nur dem vergönnt, der sich stets präsent hält. Die Öffentlichkeit ist radikal vergesslich. (Wer einmal durch alte Theater der Zeit-Hefte blättert, wird dies sofort verstehen.) Dazu kommt: Wer würde heute schon drei Jahre an einem Stück schreiben? Wenige, denen mein Respekt gehört. Vielleicht braucht es das auch nicht, werden Sie sagen, denn Theater soll ja so etwas wie Zeitgeist sein. Es soll sich zumindest auf der Höhe der Zeit bewegen, es wird insgesamt mehr und mehr als der Ort der schnellen Reaktion auf aktuelle Debatten begriffen, was Dramatikerinnen und Dramatiker vor schwer zu lösende Probleme stellt. In volatilen Diskurszeiten wie diesen ist das leicht zu verstehen, denn so schnell wie die tagesaktuelle Position verfliegt, ist ihr gar nicht beizukommen. Die Zeitgeistfalle wird gerade in Zeiten der ausgerufenen Epochenwende sichtbar. In ihr steckt das ununterbrochene Schreiben, das immer noch als Tugend in einer Produktionsgesellschaft gilt, die nach wie vor bloß keine Pause machen darf, wie sich im hektischen Aktivismus der meisten Bühnen während der Quarantäne zeigte. „Ich glaube, die einzige Möglichkeit, was eine Antwort sein könnte, wäre, ein Jahr lang – es muss aber ein Jahr sein – alle Theater der Welt zu schließen – und dann


WER LACHT MIT WEM WORÜBER? NORA ABDEL-MAKSOUD VON THERESA SCHÜTZ

Das Theater von Nora Abdel-Maksoud ist vor allem eines: furioses Schauspielertheater. In ihren Texten entwirft sie die vermutlich schrulligsten Antiheldinnenund Antiheldenfiguren der Gegenwartsdramatik: Zum Beispiel Rufus, der letzte verbliebene Patient in einem privatisierten Sanatorium in Muddasloch, um den das 2015 am Neuen Theater Halle uraufgeführte Stück „Mad Madams“ kreist. Er vereint drei Persönlichkeitsabspaltungen: den notgeilen Straßenkämpfer Man at Arms, den linken Wissenschaftler Dr. Orko und den depressiven Marshall Bravestarr, der vom Sanatoriums­ personal totgepflegt wird – eine Paraderolle für die Schauspielerin Stella Hilb, die im Fatsuit und mit ­dünner Resthaarperücke in einen schizo-kollektiven Widerstand gegen die geldgierigen Sanatoriums­ erbinnen zieht. Ein anderes Beispiel ist Svenja in „Café ­Populaire“, Hospizclown aus der Kleinstadt Blinden, die zunehmend von ihrer „klassistischen Abspaltung“, dem rechtspopulistischen Don, in Beschlag genommen wird. In der Uraufführung am Züricher Theater Neumarkt 2018 gibt Eva Bay das privilegierte Akademikertöchterchen mit Hang zu Political-CorrectnessScherzen. Die beiden Schauspielerinnen Stella Hilb und Eva Bay gehören von Beginn an zur festen „Arbeitsfamilie“ von Nora Abdel-Maksoud: „Das Bestechende an einer Arbeitsfamilie ist, dass man die Kolleginnen und Kollegen, die ja auch manchmal Freundinnen und Freunde sind, so wahnsinnig gut kennt. Da gibt es bereits zu Probenbeginn einen Vertrauensvorschuss, der alle ent-

spannt.“ Und tatsächlich spürt man, wie Nora AbdelMaksoud zahlreiche ihrer Figuren den beiden förmlich auf den Leib schreibt, wissend, zu welchen spielerischen Raffinessen und vor allem zu welcher Komik sie in der Lage sind. Zu ihrer Arbeitsfamilie gehören außerdem noch die Bühnenbildnerin Katharina Faltner und die Dramaturgen Nora Haakh und Tobias Herzberg. Nora Abdel-Maksoud, Jahrgang 1983, ist in München geboren und studierte Schauspiel an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam. Erste Erfolge als Theaterschauspielerin feierte sie 2013 in der Inszenierung „Verrücktes Blut“ von ­Nurkan Erpulat am Berliner Ballhaus Naunynstraße. Dort entstand im Rahmen von „Dröhnende Fragen auf scheppernde Antworten“ auch ihre erste Arbeit als Regisseurin und Autorin. „Hunting von Trier“ bildet den Auftakt für eine Reihe von Texten, in denen sich Nora Abdel-Maksoud kritisch mit dem Kunstbetrieb, ins­besondere der Filmbranche auseinandersetzt. „Die Schauspielschule hat mich nachhaltig trauma­ tisiert: Frauenrollen entsprachen entweder einer Fünfziger-Jahre-Idee von Weiblichkeit, waren nackte, kreischende Vergewaltigungsopfer oder aber die laszive Verführerin.“ Ausgehend von ihrer Diplomarbeit zur Rolle der Frau im Filmgeschäft entwickelte Nora AbdelMaksoud gemeinsam mit Nora Haakh „Hunting von Trier“ als schwarzhumorigen Roadtrip fürs Theater: Bei einem Casting für einen Film über eine Riot-­Kompanie erschießt Schauspielerin Lenni K aus ­Versehen den Regisseur Lars von Trier. Gemeinsam mit ihrer Spiel-

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NORA ABDEL-MAKSOUD Nora Abdel-Maksoud. Foto Jan Krattiger

partnerin Patti flüchtet sie. „Wir brauchen neue Heldinnen“, sind sich beide einig. „Mädchen fehlen die Idole! Auf den deutschen Theaterbühnen stirbt das 800. Gretchen, und im Fernsehen sehen die die scheiß­verdamm­ te – ich hasse die so – Heidi Klum!“ Doch ihr Trip zementiert eher die Verhältnisse: Brigitte Bardot, Sexsymbol und Stilikone der sechziger Jahre, erklärt ihnen: „Spiel die Nutte mit Inbrunst, das ist deine Aufgabe!“, die von ihnen kritisierten, figurgewordenen „Seh­gewohnheiten“ kontern: „Wenn ich eure Töchter nicht erwische, dann erwische ich ihre beste Freundin in der Kita. Die will dann nur noch Pink tragen und Prinzessin Lillifee sein. Es bräuchte schon einen verdammt großen Krieg, eine verheerende Seuche, irgendetwas wirklich Existenzielles, um mich auszurotten.“ Und am Ende treffen sie im Filmstudio auf den quicklebendigen Lars von Trier, der auf sie gewartet hat, um das Finale des vermutlich „wahrhaftigsten Dogmafilms aller Zeiten“ zu drehen. An „Hunting von Trier“ lassen sich bereits eine Reihe

von Merkmalen studieren, die für alle Stücke von Nora Abdel-Maksoud symptomatisch sind: ein extrem schnelles Dialogtempo, mehrere (von Frauen gespielte) Antiheldinnen und -helden mit clownesken Zügen, Referenzen an die Popkultur der 1950er bis 1990er Jahre (zumeist sind populäre Rock-, Punk- oder Popsongs zur Szenenkommentierung eingebaut), schwarzer Humor, in die Alltagssprache oder den Dialekt ­einzelner Figuren eingeflochtene feministische, postkoloniale oder antirassistische Diskurse sowie verschiedene Formen von (Herrschafts-)Kritik inklusive der Problematisierung ihrer sofortigen Vereinnahmung durch das kapitalistische System. „Hunting von Trier“ kritisiert klischierte Frauen­ bilder, Sexismus in der Kreativbranche und strukturelle Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern zum Beispiel hinsichtlich Besetzung und Bezahlung – und es nimmt damit 2012 bereits vorweg, worauf sich seit gut zwei Jahren sowohl die MeToo-Bewegung als auch

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das ensemble-netzwerk und der Verein Pro Quote Bühne mit ihren Protesten und Reformbemühungen beziehen. Auch in ihren Stücken „Kings“ (2014) und „The Making-of“ (2017) manifestiert sich Nora AbdelMaksouds Empörung über den Kunstbetrieb, von dem sie selbst ein Teil ist. So dekonstruiert „Kings“ nicht nur virulente Künstlermythen (wie den des männ­ lichen Geniekults), sondern hinterfragt unter­­anderem am Beispiel der Figur Pino, einem Akade­mikerkind mit Künstlerinnen-Ambitionen aus Sulzbach an der Hecke, auch den je eigenen privilegierten Standpunkt, der einem den Zugang zu dieser Sphäre überhaupt erst ermöglicht. „The Making-of“ inszeniert – wie der Name verrät – Hintergrundmaterial zur Verfilmung des „Fledermausmann“-Stoffs in Bottrop-Kirchhellen durch die Regisseurin Gordon. Sie hat 13 Jahre am Theater gearbeitet und nun den Sprung in die Filmbranche gewagt, um endlich einmal Geld zu verdienen. Im Cast befinden sich die Tochter des Produzenten für die Hauptrolle des Feldermausmannes, Gloria, eine feministische Performancekünstlerin mit Alkoholproblem, die sich in der Rolle des „Mädchens“ von einem Schakal lecken lassen soll, sowie der namenlose „Instinktspieler“ eben jenes Schakals. In einem rasanten Tempo wird hier nicht nur die Filmindustrie als „patriarchale Kapitalismusmaschine“ dekonstruiert, sondern es wird auch gezeigt, wie der Markt Emanzipationsbewegungen wie den Feminismus einfach in sich aufzusaugen vermag, um ihm damit den Stachel der Kritik zu nehmen. Inzwischen hat Nora Abdel-Maksoud acht Stücke geschrieben und auch alle selbst zur Uraufführung gebracht. Dabei besitzt sie das Privileg als eine der wenigen Frauen im deutschen Theaterbetrieb, die künstlerische Arbeitsweise der Autorenregie – wie man es unter anderem von Armin Petras / Fritz Kater oder René Pollesch kennt – verfolgen zu können. Ein gewisser nachteiliger Effekt ist allerdings, dass ihre Stücke – mit Ausnahme von „Café Populaire“ am Schauspiel Stuttgart – bislang quasi nie nachgespielt wurden, vermutlich, weil Text und Inszenierung der Urauf­ führung im Hinblick auf Ensemble, produzierender ­Institution und ästhetischer Handschrift einfach sehr eng miteinander verwoben sind. Obwohl sie für ihre beiden künstlerischen Begabungen bereits Preise wie den Kurt-Hübner-Preis für Regie 2017 oder den Hermann-Sudermann-Preis für Dramatik 2019 sowie drei Einladungen zum Festival junger Regisseure Radikal jung mit „Kings“ (2014), „The Makingof“ (2017) und „Café Populaire“ (2019) erhalten hat, bieten ihr die Theater „Stand heute – nach wie vor am liebsten die Studiobühne an, den Werkraum oder die Kammer. Nicht die große Bühne“.

THEATERSTÜCKE HUNTING VON TRIER UA 13. Oktober 2012, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, Regie Nora Abdel-Maksoud KINGS UA 7. Mai 2014, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, Regie Nora Abdel-Maksoud DIE GESCHICHTE VON BUFFALO JIM UA, 8. Mai 2015, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Nora Abdel-Maksoud MAD MADAMS UA 30. Oktober 2015, Neues Theater Halle, Regie Nora Abdel-Maksoud SIE NANNTEN IHN TICO UA 20. April 2016, Münchner Volkstheater, Regie Nora Abdel-Maksoud THE MAKING-OF UA 13. Januar 2017, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Nora Abdel-Maksoud CAFÉ POPULAIRE UA 27. April 2018, Theater Neumarkt, Zürich, Regie Nora Abdel-Maksoud THE SEQUEL UA 23. November 2018, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Nora Abdel-Maksoud JEEPS UA Dezember 2020, Münchner Kammerspiele, Regie Nora Abdel-Maksoud Vertreten durch schaefersphilippen Theater & Medien, Köln.

Während „Hunting von Trier“, „Kings“ und „The Makingof“ vor allem Kritik an den Strukturen von Kunstinstitutionen üben, reicht die Gesellschaftskritik in Stücken wie „Sie nannten ihn Tico“ (2016), „The ­Sequel“ (2018) und „Café Populaire“ (2018) noch weiter. Ersteres nimmt das Genre des Roadtrips wieder auf und schickt den todkranken Sozialarbeiter Pancho, seinen Schützling Lefty, der davon träumt Gameshow-Moderator zu werden, sowie ein Baby mit schwarzen Haaren, das sie

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Suhrkamp Theater Verlag Ur- und Erstaufführungen 2020/21 – EINE AUSWAHL MAREN ADE

WOLFRAM HÖLL

NEBRASKA

WHO CARES?

UA: Dezember 2020 Badisches Staatstheater Karlsruhe

UA: Mai 2021 Theater Oberhausen

UA: Mai 2021 Münchner Kammerspiele

SIVAN BEN YISHAI

MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB

UWE JOHNSON

ANNA-SOPHIE MAHLER / ANNE JELENA SCHULTE

TONI ERDMANN

WOUNDS ARE FOREVER

GESINE SCHMIDT

UA: Juli 2021 LA BOHÈME Staatsschauspiel Dresden Leipzig Ost // Träume

(Selbstporträt als Nationaldichterin)

Ein Musik theaterprojekt

THOMAS KÖCK

UA: Januar 2021 Nationaltheater Mannheim

ANTIGONE. EIN REQUIEM

UA: April 2021 Schauspiel Leipzig

eine rekomposition nach sophokles

DOMINIK BUSCH

DEINEN PLATZ IN DER WELT

CLEMENS J. SETZ

FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN

ÖEA: September 2020 Burgtheater Wien

UA: September 2020 Theater Bielefeld PAMELA CARTER

SCHAUINSLAND UA: April 2021 Theater Freiburg

DRITTE REPUBLIK. EINE VERMESSUNG teil drei der kronlandsaga

ÖEA: September 2020 Schauspielhaus Graz

ANNIE ERNAUX

ERINNERUNG EINES MÄDCHENS

CRISTIN KÖNIG

LILA UND FRED

UA: Januar 2021 Münchner Kammerspiele AKIN EMANUEL ŞIPAL

MUTTER VATER LAND UA: November 2020 Theater Bremen RAFAEL SPREGELBURD

UA: März 2021 Residenztheater München

UA: November 2020 Theater WalTzwerk, Ferlach

Z.B. PHILIP SEYMOUR HOFFMAN

DER PLATZ

KONSTANTIN KÜSPERT

DEA: September 2020 Staatstheater Kassel

NATHAN

UA: März 2021 Theater Dortmund ELENA FERRANTE

MEINE GENIALE FREUNDIN 1-4 SEA: November 2020 Luzerner Theater

Nach G. E. Lessing Mit Texten von Antigone Akgün

MIROSLAVA SVOLIKOVA

UA: September 2020 Theater Regensburg

UA: September 2020 Schauspielhaus Wien

ANNALENA UND KONSTANTIN KÜSPERT

GI3F (GOTT IST DREI FRAUEN)

UA: Februar 2021 Theater Erlangen

UA: Januar 2021 ETA Hoffmann Theater Bamberg

RAND

GRNDGSTZ

PHILIPP GÄRTNER

GOLD

UA: November 2020 Stadttheater Gießen

INGRID LAUSUND

DER GEFLÜGELTE FROSCHGOTT

RAINALD GOETZ

REICH DES TODES

UA: September 2020 Deutsches Schauspielhaus Hamburg ÖEA: Mai 2021 Burgtheater Wien NOAH HAIDLE

BIRTHDAY CANDLES

ICH BIN EIN MENSCH JETZT UA: Februar 2021 Schauspiel Frankfurt

UA: Münchner Kammerspiele ENIS MACI

DIE MARQUISE VON O…. – FASTER, PUSSYCAT! KILL! KILL!

GABRIELE TERGIT

EFFINGERS

UA: Dezember 2020 Münchner Kammerspiele

Nach Heinrich von DSE: April 2021 Deutsches Theater Berlin Kleist und Russ Meyer UA: November 2020 PETER HANDKE Theater Bremen

ZDENĚK ADAMEC

BATAILLON

Eine Szene

UA: August 2020 Salzburger Festspiele DEA: Oktober 2020 Deutsches Theater Berlin Tschechische EA: Januar 2021 Theater am Geländer, Prag

ÖEA: April 2021 Schauspielhaus Wien

AUTOS DEA: April 2021 Theater Dortmund

www.suhrkamptheater.de

PETER TURRINI

SCHUBERTS REISE NACH ATZENBRUGG UA: Staatstheater am Gärtnerplatz, München PAT TO YAN

EINE KURZE CHRONIK DES KÜNFTIGEN CHINA DSE: November 2020 Staatstheater Saarbrücken

NORA ABDEL-MAKSOUD

im Müll gefunden haben und Abu ­nennen (und sich als das uneheliche Kind eines rechten Politikers herausstellt), auf die Reise. Sie ziehen durch ein politisch und medial verkommenes Deutschland, in dem „das große Fasten“ herrscht, wo Kürzungen im Sozialwesen den Wenigen noch mehr und der Mehrheit noch weniger bescheren. Wir lernen nicht nur skurrile, von Angst ­zerfressene Typen kennen, sondern vor allem auch ihre Weisen der Anfeindung gegenüber „Schwarzkopf“ Abu. Da kann einem das Lachen auch mal in der Kehle ­stecken bleiben. „The Sequel“ ist die Fortsetzung von „The Makingof“ und problematisiert die politische Indienstnahme von Kunst und Kultur für neurechte Propaganda. Mit einer hohen Gage lässt sich Gordon für einen weiteren Fledermausmannfilm gewinnen. Angelehnt an George Orwells Klassiker heißt er: „1984 – oder die Freiheit zu sagen, dass ein Fledermausmann ein Fledermausmann ist“. An die Stelle des Großen Bruders tritt eine Verschwörung avantgardistischer Intellektueller, deren Ismen-„Neusprech“ und „Gutdenken“ von einigen ­Bürgerinnen und Bürgern zunehmend als „totalitäres System einer Political-Correctness-Diktatur“ empfunden werde. Besetzt ist unter anderem Matteo, die überall eine Diskriminierung wittert, sodass Szenen nicht stattfinden können, weil sich erst mal endlos beieinander entschuldigt werden muss. Sie ist darauf angesetzt, aus dem Bottroper Kunstprofessor Winston einen TWEM („toter weißer europäischer Mann“) zu machen. Und das soll der schwäbelnde Fledermausmann aufhalten. In „The Sequel“ wird sich auf so ­vielen verschiedenen Ebenen über so viel lustig gemacht, dass man als Zuschauerin auch mal aus dem Auge verliert, wer gerade satirisch aufs Korn genommen wird. Und so lacht das Publikum im rasanten Szenenwirbel schnell mal über AfD-nahes Akademikerund Genderdiskurs-Bashing genauso heftig wie über ­rassistische Altherrenwitze und die Kritik an ­ihnen. Nora Abdel-Maksouds jüngstes Stück „Café Populaire“ inszeniert einen Klassenkampf zwischen der ­Bildungsbürgerin Svenja, ihrer rechtspopulistischen ­Abspaltung Don, der Altlinken Püppi und Aram, dem Vertreter des Dienstleistungsproletariats. Wer wird neuer Besitzer des Gasthofs Zur Goldenen Möwe? Aram oder Svenja? Püppi entscheidet sich für Aram, der sich daraufhin selbst als Mitglied einer distinguierten Mittelschicht outet, die nicht möchte, dass das eigene Kind in eine „frühdurchmischte Kita“ geht. Das ist der Zynismus des vermeintlich liberalen Kleinbürgertums, dem es hier an den Kragen geht. Am Ende richtet sich Svenja ans Publikum: „Warum man hier (im Theater) so gut Witze über Arme machen kann? Weil sie sich die Karten eh nicht leisten können.“ Das sollte sitzen.


DIE RACHE DER SPRACHE KATJA BRUNNER VON ULF FRÖTZSCHNER

„Katja Brunner hat mich zutiefst gepackt. Sie ist skrupellos, aber feinfühlig. Ihre Sprache ist gewaltig, rabiat, schamlos, hoch artifiziell. Es ist dünnes Eis, auf das sich die Autorin begibt – sie betritt es nicht nur, sie liegt unter diesem Eis, wirklich mitten im See.“ So formulierte es Schauspielerin und Jurymitglied Wiebke Puls beim Mülheimer Dramatikerpreis 2013 anlässlich des Stückdebüts von Katja Brunner „von den beinen zu kurz“, mit dem sie den Wettbewerb gewann. Dieses, ihr erstes, mit gerade 18 Jahren verfasstes Stück steht in vielem exemplarisch für das Schreiben der 1991 ­geborenen Autorin. So entdeckt man Katja Brunner weniger über die einzelnen Geschichten und deren Handlung, sondern vielmehr in ihrem stets furchtlosen Zugriff. Ihrem rigorosen Blick auf Themen entkommt man nicht, sondern stürmt mit ihr durch die schier atemlosen Sätze, dabei ständig neue Möglichkeiten der Abzweigung und „Umwege“ entdeckend, um dann immer tiefer in einen Sog zu geraten, der keinen Ausweg zulässt. Man erhofft sich kein Ende, sondern sucht nur noch Errettung. Katja Brunner ist bereits heute eine der bemerkenswertesten Schweizer Autorinnen. Ihr geht es vor allem darum, Wahrnehmung zu schärfen und dominante Narrationsmuster aufzubrechen. In ihrem ersten Stück greift sie sich eines der großen Tabus, die sexuelle ­Gewalt eines Vaters gegenüber seinem eigenen Kind, und wagt einen abgründigen Blick in die Beziehung zwischen Täter und Opfer. Dabei verlässt sie hochriskant die Opferrolle des Kindes, hinterfragt das herkömm-

liche Opfer-Täter-Schema, um die Perspektive des Kindes zu erforschen. Unerwartete Erklärungsversuche und schockierende Rechtfertigungen zu den Abläufen des Geschehens vermeiden so nicht nur Klischees und ­einseitige Schuldzuweisungen, sondern steigern den Schmerz dieses Erfahrens ins fast physisch Unerträgliche. Fieberhaft folgt man Diagnosemustern, nicht zuletzt, weil sie unser Wissen und damit nicht nur Verunsicherung und Betroffenheit, sondern auch unsere Mitschuld in stete Erwägung ziehen. Jede Ahnung wird dadurch zum lautlosen Schrei. Und so ist es weit mehr als ein Blick auf das Verhältnis von Opfer und Täter. Katja Brunner führt mit höchster Präzision Schnitte in alles Bekannte und moralisch Aufgeräumte, in unser geordnetes diesbezügliches Bescheidwissen. Nichts führt heraus aus dieser Kata­ strophe, umsonst greift man um sich nach Erlösung, selbst Mitleid oder die Möglichkeit des Verzeihens ­verschwinden unter einer nahezu unendlichen Hilf­ losigkeit. Bei aller Wut und aller Verzweiflung bleibt aber eines immer deutlich auffällig: Katja Brunner liebt ihre Figuren, gibt auf sie acht und verleiht ihnen stets große Würde. Selbst dort, wo sie ihnen zuweilen böse und schamlos ironische und sarkastische Auftritte verschafft. Die Konstruktionen unserer Weltverhältnisse, die ­Fragilität vieler gesellschaftlicher Zusammenhänge be­nötigen solche Empathie, um überhaupt erträglich zu sein. Und so erwächst am Ende dann doch eine Chance für ein Erkennen.

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Katja Brunner. Foto Maya & Daniele

In ihrem Stück „geister sind auch nur menschen“ greift sie ein weiteres hochbrisantes, oft verdrängtes gesellschaftliches Thema auf, den Umgang mit dem Alter. Den Frauen und Männern eines Altersheimes gibt sie ihre Stimmen wieder, um von den Nöten und Träumen zu erfahren in einem letzten, mit Demütigungen vollgestopf­ ten Teil ihres Lebens. Es ist eine Wutrede, einem Exorzismus gleich, in seiner Groteske dennoch würdevoll und dabei hochkomisch. Eines der jüngeren Stücke, „Die Hand ist ein einsamer Jäger“, stellt gleichsam in einer Art Manifest den weiblichen Körper in den Mittelpunkt, sexuelle Übergriffe, Selbsthass, trau­ matische Schwangerschaften und Essstörungen, thema­tisiert die Verniedlichung und Erniedrigung des sich als weiblich identifizierenden Subjekts durch Über- wie durch Entsexualisierung. Die Autorin Gerhild Steinbuch schrieb dazu: „Für mich ist es auch ein Text über zurichtende Blicke und über die Rück­ eroberung des Blickes auf den eigenen Körper in seiner Gesamtheit anstelle eines Hinstarrens auf mikroskopisch vergrößerte, auszumerzende Makel. Es ist auch ein Text, der die Herrschaft des sogenannten männ­ lichen Blickes und der zugehörigen Welterzählung ausstellt und im Sprechen dekonstruiert.“ Ein dezidiert politisches Stück somit, das sich ohne moralischen Impetus klar positioniert und abfordert, sich zu positionieren: „Es sind Texte, die sich mit mir solidarisieren, die mich ermächtigen – und die mich treten, wenn ich mich anschicke, biegsam zu sein“, so Steinbuch.

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KATJA BRUNNER

Katja Brunners Herangehensweise, ihre Weltsicht sind es, die ihre Arbeiten immer wieder neu ausrichten: Sie bricht festgefahrene Interpretationsmuster auf, bemüht sich dabei wahrlich gnadenlos um ein Verständnis für jeden Einzelnen und packt sich selbst kräftig am Genick. Dabei misstraut sie dem politischen Zweck eines Kunstwerks, findet, dass Theater ein von der Tagespolitik unabhängiger Raum sein sollte. Gleichwohl möchte sie streitbare Inhalte zur Verfügung stellen, will für gesellschaftliche Mechanismen, Sichtweisen und Zusammenhänge Bewusstsein erzeugen. In „Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer“, urauf­ geführt 2014 am Luzerner Theater, geh  es um die Mög­ lichkeiten der Trauer nach dem Suizid eines Kindes, um die durchaus absurden Versuche, solcherart Gescheh­ nisse in vernünftige Konventionen und Rituale des alltäglichen Lebens zu integrieren. Mit einer „womöglichen Zielsetzung“ eröffnet sie die großen Gedankenmonologe und Dialog­ versuche gleich eingangs: „den aggregatzustand der eigenen trauer zu ändern. ist er fest,ist er ein stein im bauch, der vom herzen her in den bauch hängt, das herz schwer macht und lang zieht, länger als es gerne sein möchte. ist er flüssig, wohnt er im blut und verteilt sich überall hin, haltlos durchdringt er kapillaren, venen, usw bis in die hinterste und dürftigst durchblutete ecke des körpers. ist er gasförmig, ist die trauer zwar aus dem körper draussen, dafür in der luft.“


KATJA BRUNNER PACKE THEMEN AN WIE EIN SPIELENDES KIND, WELCHES EINEN BESONDEREN GEGENSTAND SO LANGE DREHT UND WENDET, BIS ES DIESEN FÜR SICH IN SEINER FORM UND IN SEINEM URSPRUNG GÄNZLICH ERLEBT UND AUFGESOGEN HAT, UM IHN DANN NEU ZU MODELLIEREN. Dass Katja Brunners Texte so unmittelbar betroffen machen und ergreifen, rührt von ihrer eigenwilligen sowie eindringlichen Sprache. Ihre gnadenlose und dabei hochpoetische Direktheit hakt sofort ins eigene Spracharchiv. Mit oft sanfter Subversion konstruieren sich Spracherfindungen, und so meint man, in einem fort Wortneuschöpfungen zu begegnen und möchte diese sogleich mit dem eigenen herkömmlichen Vokabular austauschen. Es bohrt und zerrt und reißt. Vielleicht ist es das, was Katja Brunner selbst die „Rache der Sprache“ nennt. Sie sucht nach Sprachflüssen gegen jede Regulierung, eine „sprachexperimentelle aufwieglerische Textpraxis gegen unterschwellige

­ ormen“. In einem neuen Text, dessen Uraufführung N im nächsten Jahr am Schauspiel Leipzig geplant ist, ­versucht sie im Betrachten von Diskursfronten die Sprache als Verwundungsgewalt zu erforschen. Die Sprache des Staats als verknöcherte, versteinerte, ­bürokratische Gewaltzufuhr. Katja Brunner möchte dabei den Wörtern eine ­Dimension geben, die dem Anlass und der Größe einer Bühne gerecht wird, eine Mündlichkeit des geschriebenen Textes schaffen, der diesen Anspruch dringend fordert. Ihre Vorstellung von einer „Lyrizität von Theatertextsprache“ lässt sie fragen: Was ist ein Sprechtext, welchen Raum und welchen Körper verlangt er? Es ist vor allem die große poetische Fähigkeit, die sprachliche Fantasie und Virtuosität, die Regis­ seur­innen und Regisseure faszinieren und herausfordern. Heike M. Goetze erkennt bei Katja Brunner ein außerordentliches Talent, ein Thema jeweils wie ein spielendes Kind anzupacken, welches einen besonderen Gegenstand so lange dreht und wendet, bis es diesen für sich in seiner Form und in seinem Ursprung gänzlich erlebt und aufgesogen hat, um ihn dann neu zu modellieren. Durch dieses „Unfug treiben“ entstehen die Texte vor allem in einer starken Körperlichkeit. Marco Štorman wiederum liest die Texte als im hohen Maße gesellschaftspolitisch relevant, aufrüttelnd und als ein hochpoetisches Drängen. Sie würden das Jetzt aufbrechen und hinter die scheinbare Ordnung unserer Zeit schauen. Dabei sind sie für ihn zuallererst Musik. So geht es weniger um ein Bändigen und Entschlüsseln ihrer Vielstimmigkeit, sondern vielmehr ­darum, mitzuentdecken, sie zuzulassen und somit ein Teil von ihnen zu werden. Es ist also weniger die Handlung, die interessiert, als vielmehr ihre Folge: die Angst, die Wut und die Sehnsucht. Am Herzen liegt Katja Brunner zudem die inten­ sive Zusammenarbeit mit anderen Autorinnen und ­Autoren. Eines dieser weitreichenden Projekte ist das

TANZPAKT Dresden Resident*innen 2020 Caroline Beach & Ernst Markus Stein, Katja Erfurth, Cindy Hammer & Jared Marks, Fang Yun Lo & Cheng Ting Chen, Rosalind Masson & Florence Freitag, Lotte Mueller, Maria Chiara de’Nobili, Nora Otte & David LeThai, Irina Pauls, Johanna Roggan & Benjamin Schindler, Isaac Spencer & Franz Ehrenberg, Anna Till & Barbara Lubich

www.hellerau.org

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In Kooperation mit Villa Wigman für TANZ e.V.


Institut für chauvinistische Weiterbildung, das sie gemeinsam mit Daniela Janjic, Gerhild Steinbuch, Darja Stocker und Ivna Žic gegründet hat. In dessen Statuten heißt es: „Das Institut befasst sich mit Versatzstücken patriarchaler Macht, die gefühlt das Zeitliche gesegnet haben. Es tritt in Aktion zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen traurigem weißem Mehrheitsmann und pluraler Gesellschaft. Es ist ein tröstendes Taschentuch mit Bildungsauftrag. Das Institut untersucht aus verschiedenen Perspektiven, literarisch und performativ, wie die Abwehr überholter Muster und Strukturen das Leben vieler zu einem Krampf reduziert. Das Institut lacht.“ Dabei geht es dezidiert um die künstlerische Suche nach Formen feministischer Kunst, allerdings flexibel in den jewei­ ligen Möglichkeiten, wie eine solche auszusehen ­vermag, wie sie wirkt, was sie kann und welche Zielgruppe sie hat. Das Institut ist dabei, laut ihrer ­Kollegin Ivna Žic, ein Netzwerk für Texte, aber auch für g ­ emeinsame Gespräche, die über das Gespräch ­hinausgehen sollen: ein Netz als Handlungsort und -raum, aus dem Veränderung hervorgehen soll, sprach­lich, agierend, strukturell. Ein Netz, um sich gegenseitig zu bestärken, auch wenn nicht immer

VON DEN BEINEN ZU KURZ UA 31. März 2012, Theater Winkelwiese, Regie Antje Thoms ÄNDERE DEN AGGREGATZUSTAND DEINER TRAUER UA 21. März 2014, Luzerner Theater, Regie Marco Štorman DIE HÖLLE IST AUCH NUR EINE SAUNA UA 8. Oktober 2014, Theater Rampe, Stuttgart, Regie Marie Bues GEISTER SIND AUCH NUR MENSCHEN UA 8. Mai 2015, Luzerner Theater, Regie Heike M. Goetze MAN BLEIBT, WO MAN HINGEHÖRT, UND WER NICHT BLEIBEN KANN, GEHÖRT HALT NIRGENDS HIN ODER EINE ARGLOSE BEISETZUNG UA 24. November 2016, Luzerner Theater, Regie Christina Rast ICH SCHLIEF MIT GOTT UA 10. Juni 2017, Staatstheater Mainz, Regie Marco Štorman DEN SCHLÄCHTERN IST KALT ODER OHLALAHELVETIA UA 10. Dezember 2017, Schauspielhaus Zürich, Regie Barbara Falter DIE HAND IST EIN EINSAMER JÄGER UA 23. Mai 2019, Volksbühne, Berlin, Regie Pınar Karabulut DIE KUNST DER WUNDE UA 9. Januar 2021, Schauspiel Leipzig, Regie Katrin Plötner Vertreten durch henschel Schauspiel Theate­rverlag, Berlin, und schaefersphilippen Theater & Medien, Köln.

alle mit einer gleichen Stimme sprechen. Ein Pingpong, ein Dialog. Denn der Dialog ist eine der Grundfesten von Katja Brunners Schreiben. „Ich bin fürs Beben und fürs ­Zittern, denn sie subvertieren ungemein.“

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KATJA BRUNNER

AM HERZEN LIEGT KATJA BRUNNER ZUDEM DIE INTEN­SIVE ZUSAMMEN­ ARBEIT MIT ANDEREN AUTORINNEN UND A ­ UTOREN. EINES DIESER WEIT­ REICHENDEN PROJEKTE IST DAS INSTITUT FÜR CHAUVINISTISCHE WEITERBILDUNG, DAS SIE GEMEINSAM MIT DANIELA JANJIC, GERHILD STEINBUCH, DARJA STOCKER UND IVNA ŽIC GEGRÜNDET HAT.

THEATERSTÜCKE


JENSEITS DER GRENZEN DES MENSCHLICHEN MARTINA CLAVADETSCHER VON SIMONE VON BÜREN

„Meine Texte sind meine wilden Kinder“, sagt Martina Clavadetscher. Wild sind ihre Texte in der Tat, auf ganz unterschiedliche Weise. Sie zeugen zuallererst von einem unkonventionellen, entfesselten Denken, das die Gesetzmäßigkeiten hinter Phänomenen und Verhaltensweisen zu ergründen sucht und bestehende Kategorien hinterfragt. Die Schweizer Autorin, die in Fribourg Germanistik und Philosophie studiert hat, stellt einiges auf den Kopf, in der Art, wie sie denkt und wie sie das Gedachte in Metaphern und eigen­ williger Sprache vermittelt. Intellektuell verdichtet verhandelt sie philosophische Grundfragen nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung, Wissenschaft und Glauben, Materie und Geist, Freiheit und Sicherheit, nach den Grenzen des Menschlichen und dem Ende der Welt. Bibelstoffe, mittelalterliche Legenden und literarische Werke wie Ovids „Metamorphosen“, Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Robert Louis Stevensons „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ fließen ebenso ein wie wissenschaftliche Phänomene. Viele ihrer Figuren sind nicht-menschlich. Da gibt es die personifizierte Angst, die über ein stilles Europa herrscht; Hunde, die für Chaos plädieren; Engel oder Untote. Es gibt einen selbstoptimierenden Roboter und die „Muttermaschine“, die in „Der letzte Europäer“ (2017), einem Auftragswerk des Theaters Neumarkt in Zürich, die simulierte Realität eines an Apparate an­ geschlossenen „dummen, weißen Manns“ kontrolliert.

Und immer wieder gibt es Spielzeugpuppen oder fremdgelenkte puppenhafte Figuren, deren „Menschsein bloße Verkleidung ist“, wie die Mutter im Monolog „Milchdieb“ (2015): „Im Moment bin ich eine Gestalt, die eine Erwachsene spielt. Etwas Mutterhaftes ist erkennbar. Da ist eine Ähnlichkeit, die ich mir an­trainiert habe. Wenn andere Menschen da sind, lebe ich als Simulation.“ Das Ausloten dieser oft unscharfen Grenze zwischen Mensch und Engel, Maschine oder Tier zieht sich als Motiv durch Clavadetschers Texte. Derselbe Gegensatz von natürlich und künstlich prägt auch die abstrakten Welten, virtuellen Realitäten und simulierten Räume, in denen die Stücke angesiedelt sind. In „Der letzte Europäer“ ist die Welt „geordnet nach Gedanken, / Sauber gestaltet wie eine Parkanlage“ und „in allen Farben, Formen, Gerüchen abrufbar“. Der letzte Europäer ist ein in ihr an „Schläuche, Sonden, Kabel, Bildschirme“ angeschlossenes „Zuchtexemplar“, das sich diese Welt aufgrund des verfügbaren „Angebots“ komponiert: „Süße Kinder, Autos, Berge, Fußballszenen, Kochrezepte, Hasen, Handys, Superhelden.“ Auch das Kurzstück „Auf Granit“ (2020) spielt in einem von Angst regierten „ab- und eingeschlossenen Raum“. Dass oft nicht klar ist, ob Figuren in diesen abgeschotteten Anlagen eingesperrt sind oder sie sich diese als Schutzzonen eingerichtet haben, ob es um Sicherheit oder Freiheit geht, ist ein typisch schweizerischer Topos, worauf Clavadetscher in ihrer Vorbemer-

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Martina Clavadetscher. Foto Ingo Höhn

In mehreren Stücken bezieht Clavadetscher das Thema Fremd- und Selbstbestimmung auf das Sterben. So etwa in „My Only Friend, the End“ (2014), in dem Jugendliche mit dem Selbstmord eines Freundes ringen. Oder in ihrem neusten Stück „Anleitungen zur Sterblichkeit“, in dem eine zusammengewürfelte Gruppe in einem alten Bus der Amalfiküste entlang nach Pompeji reist: Eine alte Frau, die vor ihrem ExitTermin noch einmal Urlaub machen wollte; ein CEO, der seine Krankheit verdrängt; ein verbitterter Blogger, der nicht wagt, sich das Leben zu nehmen, und ein todes­ mutiges Mädchen, das im Alleingang die Welt umsegeln will. Und dann ist da noch der legendäre Zauberer Houdini, der den Tod nur als einen weiteren Trick betrachtet und selber schon längst an einem Blinddarmdurchbruch gestorben ist. Wer kontrolliert das Sterben? Wer steuert den Bus? Die Frage nach der (Erzähl-)Macht verbindet sich auch mit dem GenderThema als einem offenkundigen Anliegen in Clavadetschers Stücken wie auch in ihrem für den Schweizer Buchpreis nominierten Roman „Knochenlieder“ (edition bücherlese, 2017). Oft stehen spezifisch weibliche ­Erfahrungen wie Fremdbestimmung, Diskriminierung und Mutterschaft im Zentrum: Der Monolog „Auf dem Rücken“, 2019 am Kunstmuseum Basel aufgeführt, ist aus der Perspektive von Egon Schieles Modell und ­Geliebter Wally Neuzil geschrieben: „Da liegt mein ­Alles – auf meinem Rücken. ICH bin das. Waldburga Neuzil! Aber darunter steht sein Name.“ Und in „Frau

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MARTINA CLAVADETSCHER

kung zu „Auf Granit“ anspielt: „Jede Beziehung zu einem Land, insbesondere jene zum Heimatland, gleicht einer unglücklichen Liebesbeziehung.“ Zentral geht es immer wieder um die Frage, wer wen kontrolliert. Oft wird auf der Metaebene problematisiert, wer wem welche Rollen zuschreibt, wer die Geschichte erzählt. Insbesondere geschieht dies in dem von der biblischen ­Erzählung über ­Sodom und Gomorrha inspirierten Stück „Umständliche Ret­ tung“, das 2017 am Schauspiel Essen uraufgeführt zum Heidelberger ­Stückemarkt eingeladen und mit dem Essener ­Autorenpreis ausgezeichnet wurde: In einer maßlosen, im Müll erstickenden Stadt „jenseits des Jordans zu einer unbekannten Zeit“ kursieren Weltuntergangsszenarien und mysteriöse Rettungsfantasien. Einer Mikrobiologin, die zu Forschungs­ zwecken in dieser Stadt ist, wird die Rolle des rettenden Engels zugeschrieben. Doch als sie sich ausgerechnet mit einem vorbestraften Kriminellen einlässt, greift eine Bewohnerin ein, die sich ­selber als die Auserwählte sieht: „Ich erzähle es so, wie ich es will.“ Von ihr bedrängt, versucht die Wissenschaftlerin sich an die Fakten zu halten, merkt aber: „Da tippt jemand in meinem Schädel herum! … Tipp, tipp … Gibt es einen Kontrollraum. Hinter diesem Raum, meine ich.“ Die Figuren wehren sich gegen ­Rollen, die sie nie gewählt haben und lehnen sich auf gegen den Lauf der Handlung.


Ada denkt Unerhörtes“ (2018), das vom Leben der britischen Mathematikerin Ada Lovelace (1815–1852) ausgeht, wird eine „ungeheuer begabte“ Frau von ihrer Mutter daran gehindert, ihre Ideen über geflügelte Dampfmaschinen und intelligente Automaten zu verfolgen. Emanzipatorisch ist das Stück insofern, als dass sich Adas Visionen im zweiten Teil in Form einer künstlichen Intelligenz manifestieren, die als genderneutrales ES beginnt, aber immer deutlicher weibliche Züge annimmt und sich über die Forscher, die sie erfunden haben, hinwegzusetzen beginnt. Wild sind Clavadetschers Theatertexte nicht ­zuletzt auch als Vorlagen für die Regie – durch ihre Räume, Figuren und Bühnenanweisungen: „FRAU BERGER drückt einen Knopf. Etwas Wesentliches passiert mit dem Bus“; „Laute Musik. Alkohol. Eine Feier zwischen den Körperteilen im Labor“; oder „Totaler Ausbruch und Wandlung“. Clavadetscher erwartet von Dramaturgie und Regie, „dass sie sich dem Wider­ ständigen stellen, sich daran erfreuen, Lösungen finden, mutige Entscheidungen treffen“. Eine Mischung aus Nähe und Distanz zum Theaterbetrieb hat ihr Schaffen stets geprägt. 2013/14 war sie im Rahmen des Schweizer Dramatikförderformats Stück Labor eine Spielzeit lang als Hausautorin am Luzerner Theater tätig. Aber obwohl sie die Bühne während des Schreibens immer im Auge hat, braucht sie die physi-

sche Nähe zum Theater nicht unbedingt: „Ich denke gerne gemeinsam mit Dramaturginnen und Dramaturgen über Themen nach, aber Schreiben geht am besten allein im stillen Kämmerlein. Danach bin ich froh über das Feedback einer kreativen Dramaturgie und von meinem Lektor beim Verlag Felix Bloch Erben.“ Clavadetscher schreibt auch Prosa. 2018 wurde sie nach Klagenfurt zum Bachmann-Wettbewerb einge­ laden, ihr zweiter Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ erscheint im Sommer bei weissbooks. Am meisten hat sie bisher aber doch fürs Theater geschrieben. An der dramatischen Form interessiert sie „das Potenzial, sich zu verwandeln, vom Geschriebenen zum Gesprochenen und zum Gelebten“ – diese Transformation schlummert wie ein unsichtbarer Kern in ihrem Innern. „Die getippten Gedanken, die in die Realität schlüpfen und sich als etwas Materielles behaupten,“ wie sie es beschreibt, verbinden sich mit den nichtmenschlichen Figuren und simulierten Räumen, die im Live-Moment der Aufführung voll Atem, menschlicher Körperlichkeit und Stimme sind. Diese fundamental mit dem Theater verbundene Metamorphose von Gedachtem in von Körpern ge­ spro­chene Sprache in einem tatsächlichen Raum widerspiegelt Dualitäten, die in Clavadetschers Texten überall aufscheinen: Geist und Materie, Gedanke und Körper, Glaube und Wissenschaft: die Mikrobiologin,

THEATERSTÜCKE DREI FRAUEN UA 18. November 2006, Luzerner Theater, Regie Sophie Stierle

DER LETZTE EUROPÄER UA 25. Februar 2017, Theater Neumarkt, Zürich, Regie Katharina Cromme

GEMEINSAM UA 26. April 2009, Schauspielhaus Hamburg, Regie Sophie Stierle

UMSTÄNDLICHE RETTUNG UA 28. April 2017, Schauspiel Essen, Regie Thomas Ladwig

DELIVER MY HEART! UA 24. April 2013, Südpol Luzern, Regie Sophie Stierle

FRAU ADA DENKT UNERHÖRTES UA 27. September 2019, Schauspiel Leipzig, Regie Katrin Plötner

MY ONLY FRIEND THE END UA 14. März 2014, Luzerner Theater, Regie Samuel Zumbühl

AUF GRANIT UA (ursprünglich geplant) 7. Mai 2020, sogar theater, Zürich, Regie Ursina Freuel (wegen Corona verschoben)

MILCHDIEB, EIN JECKYLL-HYDE-MONOLOG UA 17. Januar 2015, Luzerner Theater, Regie Marc Wortel GRAU ZU GOLD ZU GLUT – EIN MONOLOG ZU NERO UA 17. Mai 2016, Theater Trier, Regie Julia Wissert

ANLEITUNGEN ZUR STERBLICHKEIT frei zur UA Vertreten durch den Verlag Felix Bloch Erben, Berlin.

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die für einen Engel gehalten wird; oder die zur Salzsäule erstarrte Frau Lots aus dem Alten Testament, kombiniert mit der Erklärung eines chemischen Prozesses nach einem Vulkanausbruch: „Das Salz verklumpt, es bleibt auf der Oberfläche liegen. / Es ersetzt die Form. / Der tierisch-­ menschliche Körper kristallisiert. / Er erstarrt in gespenstigem Weiß. / Er wird, was er bleibt. Ewiges Salz.“

Bleibt als letztes großartiges Wildes Clavadetschers Sprache. Eine Sprache, die eigene Bilder schafft, neue Wörter erfindet, mit Begriffen spielt und sich in den stets zuerst handschriftlich notierten Monologen zu einer explosiven poetischen Kraft verdichtet. Es ist eine Sprache, die über Rhythmus zum Gesprochenen drängt und sich lustvoll auf Experimente einlässt, etwa auf Schweizer Mundart in der Textcollage „Gedächtnis­ palast“, oder auf das Spiel mit Wortfragmenten und ­einzelnen Silben: „Blütennein. So. Birkenhier. Genau. Bergso. Gegenwiesen. Kein. Keinbäume. Birk­gegen. Da. Auf. Genaugranit. Auf. Alles. So.“ („Auf Granit“). „Die Sprache ist mein Kern“, heißt es in „Grau zu Gold zu Glut“, einem Monolog „für und über eine Schauspielerin, die verbrennt“ (2016). Das trifft zu auf all diese Texte, in denen sich Kategorien, Zeit und Raum auf­ lösen, in denen „das Meer kippt und die Welt abdreht“, in denen Figuren „wie geostationäre Satelliten in der Dunkelheit des Alls schweben,“ „ihr Leichtes im Windschatten zentrieren“; „dem Festgesetzten entsegeln“, mitten aus sich selbst herausschlüpfen und sich zu „einem Häufchen Blei auf Papier“ zusammenkratzen. Es ist eine eigenwillige, starke, poetische Sprache, mit der uns die Autorin wirbelnde „Denkaufgaben“ (Daniele Muscionico, NZZ) stellt und in den Wörtern die „Spitzfindigkeiten“ sucht, die „die Kanten der Welt zurechtschneiden“.

Buchverlag Empfehlungen

DIALOG

Neue Dramatik aus aller Welt Von New York bis Seoul, von Südamerika bis Europa. Mit der Reihe DIALOG hat der Verlag Theater der Zeit eine Plattform zur Erstveröffent­ lichung von Theaterstücken zeitgenössischer Dramatiker aus dem In­ und Ausland geschaffen. Präsentiert werden sowohl ausgewählte Autoren­ gruppen als auch einzelne Autoren, darunter Lutz Hübner und Fritz Kater. Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Hübner / Nemitz. Vier Theaterstücke

Fritz Kater. 5 morgen. 5 stücke

Falk Richter. FEAR und andere Theaterstücke

Lutz Hübner. Frau Müller muss weg und andere Stücke

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MARTINA CLAVADETSCHER

BLEIBT ALS LETZTES GROSSARTIGES WILDES CLAVADETSCHERS SPRACHE. EINE SPRACHE, DIE EIGENE BILDER SCHAFFT, NEUE WÖRTER ERFINDET, MIT BEGRIFFEN SPIELT UND SICH ZU EINER EXPLOSIVEN POETISCHEN KRAFT VERDICHTET.


DIE GEBURT DER NEUEN DRAMATIK AUS DER THEATERMUSIK BJÖRN SC DEIGNER VON ERIK ZIELKE Mit einem Knall hat Björn SC Deigners Auftritt auf der großen Bühne der neuen Dramatik begonnen. Sein Stück „In Stanniolpapier“ gehörte 2018 zu den prämierten Texten der renommierten Autorentheater­ tage, im Zuge derer es am Deutschen Theater in Berlin von Regisseur Sebastian Hartmann – dem Haus durch regelmäßige Arbeiten verbunden – zur Uraufführung gebracht werden sollte. Allzu oft wird für die Urauf­ führungen noch unbekannter Autoren der Regie­ nachwuchs verpflichtet, der dann auf den Nebenspielstätten in kurzer Probenzeit Theaterabende zustande bringen soll – häufig ohne große Wirkung. Hartmann mit dieser Aufgabe zu betrauen, kann man also durchaus als Auszeichnung verstehen, gilt er doch als feste Größe im Theater und als begehrter Regisseur. Dennoch führte die Arbeit zum Streit, einige Medien bemühten sogar die Formulierung Theaterskandal. Will man den Sachverhalt mit wenigen Worten erklären, lässt sich die Gemengelage so zusammenfassen: Sebastian Hartmann ist bekannt für einen starken Regiezugriff, der vor dem Text nicht zwingend haltmacht, sondern vor allem eigenen künstlerischen Ideen folgt. Bei den Autorentheatertagen handelt es sich um ein Uraufführungsfestival. Das Deutsche Theater wollte haben, was nicht recht zusammengeht: eine Uraufführung, die die Ehrung eines Dramatikers bedeutet, und einen Regieauftrag für Hartmann. Nun blieb von Deigners Text – erwartbar – nicht viel übrig, Verlag und Dramaturgie sollten vermitteln. Letztlich ging die Aufführungsgeschichte mit etwas Aufregung,

aber ohne Einschränkungen über die Bühne: Lediglich den Begriff Uraufführung verbaten sich Autor und ­Verlag. Das nennt man Offenlegung der Produktionsbedingungen. Eine Lösung, die im besten Fall ein ­Problembewusstsein schafft. Auf Hartmanns Inszenierung von „In Stanniolpapier“ wurde auch deshalb ein besonders kritischer Blick gerichtet, weil in dem Stück eine sensible ­Thematik verhandelt wird. Deigners Textkomposition kreist um Missbrauch, Prostitution, Gewalt – und auch um die Deutungshoheit über das eigene Leben. Dafür hat er eine Form dokumentarischen Schreibens entwickelt, die weit von dem abweicht, was dem Publikum üblicherweise in dem Genre als Fortsetzung des Journalismus mit theatralen Mitteln angeboten wird. Auf Anregung und Vermittlung der Regisseurin Anna Berndt hatte er vielstündiges Interviewmaterial einer Frau aus dem Rotlichtmilieu erhalten – im Text mit dem Figurennamen Maria bedacht –, die ihre eigene Biografie schildert. Sprachlich verdichtet, neu sortiert, stark komprimiert – letztlich dramaturgisch zu einer spielbaren Collage gefügt – erzählt „In Stanniolpapier“ das Leben einer Frau auf dem Westberliner Straßenstrich der 1980er Jahre. Themen wie sexueller Missbrauch im eigenen Umfeld und rücksichtslose Brutalität der Freier werden nicht ausgespart, und dennoch ist Deigners Sprache unsentimental, direkt, prägnant. Ohne Sexarbeit zu verklären, zeichnet diese Maria kein rein negatives Bild von den eigenen Erlebnissen, die im extremsten Fall bis zur versuchten Tötung durch einen

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Björn SC Deigner. Foto Niklas Vogt

sche Genauigkeit einen die Bühnentexte, die sonst kaum Überschneidungen aufweisen: Das dokumentarisch-erzählende „In Stanniolpapier“, die bissige Satire auf erzreaktionäre Umtriebe in „der Reichskanzler von Atlantis“, das hei­tere Kammerspiel mit Science-FictionAnleihen rund um Raumfahrtver­ suche in „Mission Mars“, der kurze, an Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ erinnernde Dialog „Spieler und Tod“ und „Die Polizey“, Abrechnung mit den Schattenseiten der Staatsgewalt wie auch Auseinandersetzung mit einer literarischen Vorlage, lassen Experimentierfreude erkennen – und ein entsprechendes Talent. Hier ist ein Autor angetreten, sich wirklich auszuprobieren und nicht schon früh auf eine einmal bewährte Masche zu setzen. Zugute kommt ihm auch, dass die Arbeit an Hörspielen und Theatermusiken ihn nicht der Autorentretmühle anheimgibt, drei oder vier Stücke pro Spielzeit schreiben zu müssen. „ich spüre eine innere Ungehaltenheit. die Unruhe. ich bin wie eine Taschenuhr in der es sich ständig gegeneinander dreht. mein Blick ist unruhig. ich spüre etwas kommen. es ist eine Gefahr in diesem Reich.“ Mit diesen Worten beginnt der Auftritt des Titelhelden in „der Reichskanzler von Atlantis“. Björn SC Deigner hat sich mit diesem 2018 verfassten, im Folgejahr uraufgeführten und zum Heidelberger Stückemarkt eingeladenen Stück der seit einigen Jahren öffentlich wahrgenommenen und mittlerweile vom Verfassungsschutz observierten Reichsbürgerbewegung angenommen. Das komische Potenzial des Stoffes liegt auf der Hand, aber Deigner macht es sich nicht leicht. Er arbeitet genau die sprachlichen Eigenheiten der Bewegung aus, die Traditionslinien bis in

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BJÖRN SC DEIGNER

vermeintlichen Freier gehen. Diese Ambivalenz zwischen Selbstbejahung und Reflexion der eigenen traumatischen Biografie ist nicht immer leicht zu verstehen, aber sie gibt doch eine Ahnung davon, dass ein einfaches Urteil unmöglich bleiben muss. Mittlerweile wurde das Stück am Theater Bonn in der Regie von Matthias Köhler nachgespielt, also gewissermaßen im eigentlichen Sinn uraufgeführt. Björn SC Deigner, 1983 in Heidelberg ge­ boren, hat früh seinen Weg zum Theater eingeschlagen. Schon nach dem Abitur erhielt er erste Förderungen für seine literarischen Versuchsarbeiten. Es folgte ein ausgedehntes, fast zehnjähriges Studium der Angewandten Thea­ terwissenschaft in Gießen. Neben fruchtbaren Begegnungen mit Kollegen bleibt aus dieser Zeit die Freiheit, sich selbst vor allem als Theaterkünstler, nicht aber ­ausschließlich als Autor zu verstehen. Gemeinsam mit ihm hat auch der Regisseur Bastian Kraft die Gießener Theaterschule absolviert. Für zahlreiche Theatermusiken zu Krafts Inszenierungen – etwa am Schauspiel Frankfurt, Thalia Theater Hamburg und Deutschen Theater in Berlin – trägt Deigner die Verantwortung. Seine Kompositionen und Sounddesigns stellen atmosphärische Unterstützungen dar, die sich niemals in den Vordergrund drängen, sondern eher die Regie und die dramatische Vorlage wie selbst­verständlich verstärken. Neben der Theatermusik hat er sich zudem auch dem Hörspiel verschrieben – als Autor, Komponist oder Regisseur. Sicher ist es dieser sehr musikalische Zugang zum Theater, der der Handvoll abendfüllender Stücke aus seiner Feder gemeinsam ist. Ein starkes Formbewusstsein in s­ einer Verwendung von ­Sprache und rhythmi-


protofaschistische Zeiten werden deutlich – allerdings nicht didaktisch vermittelt, sondern spielerisch und ins Werk verwoben, das von des Reichskanzlers Allmachts­ fantasien erzählt, mehr noch sein Scheitern an der eigenen geistigen Verfasstheit ausstellt, insbesondere wenn unverhofft die Steuereintreiberin Frau Semmerling vor der Tür steht. Die Frage, ob so der richtige Umgang mit den schlimmsten Auswüchsen des offensichtlichen Rechtsrucks aussieht, drängt sich auf. Aber es sollte einleuchten, dass diesen pathologischen ­Gedankengebilden wohl am ehesten mit absurder ­Komik künstlerisch beizukommen ist. Und so tritt auch der Geist von Hennoch Kohn auf, wie in reichsbürgerlichen Kreisen tatsächlich Helmut Kohl genannt wird, bei dem eine jüdische Identität geargwöhnt wird. ­Mitunter bleibt einem also auch das Lachen im Halse stecken. Nicht weniger rechercheintensiv verlief die Arbeit an „Mission Mars“, einem im europäischen Weltraum­ programm angesiedelten Kammerspiel in Slow-­Motion, das ebenfalls 2018 verfasst wurde und im ­Januar 2020 am Oldenburgischen Staatstheater zur Uraufführung gekommen ist. Wo könnte sich der ­strapaziöse Charakter zwischenmenschlicher Beziehungen anschaulicher ­offenbaren als unter den widrigen Umständen der Raumfahrt? Alex, Christian, Ulf – ausgewählt zur Reise gen Mars – sind einander unter diesen extremen ­Bedingungen ausgesetzt: der Allgegenwart der jeweils anderen wie der ewigen Gleichförmigkeit. Wann wäre wohl eher die Gelegenheit zu philosophischer Weltbetrachtung als bei ­einigem Abstand zur Erde? Doch auch hier bleibt die Gefahr der Phrase. Und so verstrickt sich das kosmisch-komische Personal in bitteren Dialogen. Bei Deigners „Spieler und Tod“, das noch einer Uraufführung harrt, handelt es sich vor allem um eine dramatische Fingerübung. Unbescheiden heißt das Zweipersonenstück im Untertitel auch „Etüde“. Die beiden titelgebenden Figuren treten in einen nachdenklichen, zuweilen amüsanten Dialog. „mir tut’s schon weh wenn ich mir einen Spreißel zieh aus dem Daumen. / warum soll Sterben so viel einfacher sein.“ Bemerkenswert ist auch hier das musikalische Gespür des Autors, die Arbeit mit Wiederholung und Variation. Björn SC Deigners neuestes Stück „Die Polizey“ wird im Oktober 2020 in Bamberg zur Inszenierung kommen. Das – über weite Strecken wortgewaltige – Chorstück sucht die Auseinandersetzung mit Friedrich Schillers gleichnamigem Dramenfragment und lässt die kritische Institutionsgeschichte der Polizei zur ­Literatur werden. Geschickt kompiliert Deigner histo­ rische Fund- und Schiller’sche Versatzstücke. Lose miteinander verwoben ergeben die Szenen einen tat-

sächlich erschreckenden Eindruck: der Polizist als Spion, die polizeiliche Gemeinschaft vernebelt von Suff und Korpsgeist. „und Pflicht ist Gesetz / und ­Gesetz ist ein Messer / das schneidet schärfer durch / Fleisch als jedes Metall“, so klingt der Polizistenton zwischen militärischem Drill und krimineller Energie. Die szenischen Wiedergaben von der Einspannung der Ordnungspolizei für die ­faschistische Tötungsindustrie, der bekannt gewordenen Mitgliedschaft bundesrepublikanischer Polizisten im Ku-Klux-Klan, dem völligen Versagen angesichts des Rostock-Lichtenhagener Pogroms fügen sich, nuancenreich erzählt, zu einem erstaunlichen, auch abgründigen Gesamtbild. Nun ist Deigner sicher kein Vertreter eines neu­ aufgelegten Agitproptheaters und sein „Polizey“-Stück keine Tendenzliteratur. Er sucht Stoffe, die eine gesellschaftliche Relevanz beanspruchen können – keineswegs nur tagesaktuell, sondern über die eigene Fabel hinausweisend. Einen Vorwurf muss sich der Drama­ tiker bestimmt nicht machen lassen: dass sein Theater nur um sich selbst kreisen würde. „Die Polizey“ ist als Auftragswerk für das ETA Hoffmann Theater in Bamberg entstanden, nach der Uraufführung von „der Reichskanzler von Atlantis“ immerhin die Ahnung einer kontinuierlichen Zusammenarbeit, die ihm zu wünschen ist.

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THEATERSTÜCKE IN STANNIOLPAPIER keine UA 22. Juni 2018, Deutsches Theater Berlin, Regie Sebastian Hartmann DER REICHSKANZLER VON ATLANTIS UA 13. Oktober 2019, ETA Hoffmann Theater, Bamberg, Regie Brit Bartkowiak MISSION MARS UA 10. Januar 2020, Oldenburgisches Staatstheater, Regie Kevin Barz DIE POLIZEY UA 11. Oktober 2020, ETA Hoffmann Theater Bamberg, Regie Daniel Kunze SPIELER UND TOD frei zur UA Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & Medien, Frankfurt am Main.


VOLKSBÜHNE

Premieren 2020 / 21

TRAURIG UND GEIL IM TAURERLAND nach Euripides und Stefanie Sargnagel Lucia Bihler 11.09.2020 | Premiere

Die Orestie

nach Aischylos Thorleifur Örn Arnarsson 01.10.2020 | Premiere

Mourning becomes Electra

Sisyphos (AT)

Marius Schötz Januar 2021 | Premiere

Ödipus

nach Sophokles Alexander Eisenach Februar 2021 | Premiere

DIE SCHUTZBEFOHLENEN

von Elfriede Jelinek Stefan Pucher März 2021 | Premiere

von Eugene O’Neill Pınar Karabulut 16.10.2020 | Premiere

Nachspielzeit 2019 / 20

come as you are (jokastematerial oder der kapitalismus wird nicht siegen) von Fritz Kater Armin Petras

Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus

Illustration: Hannah Göppel & Silke Herwig

04.12.2020 | Uraufführung

Metamorphosen [overcoming mankind] nach Ovid & Komplizen Claudia Bauer Januar 2021 | Premiere

Der Kaiser von Kalifornien

Alexander Eisenach 27.08.2020 | Uraufführung

Forecast

Ari Benjamin Meyers April 2021 | Uraufführung

Werkschau

Sasha Waltz & Guests Mai 2021

www.volksbuehne.berlin 37

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Iphigenie.


MAN HAT UNS DER TRAGIK BERAUBT ALEXANDER EISENACH VON JAKOB HAYNER

Um in jenen Tagen der staatlich verordneten Kontaktbeschränkungen Alexander Eisenach zu treffen, muss man Berlin in nördlicher Richtung verlassen. Der menschenleere Zug rast an ebenso menschenleeren brandenburgischen Dörfern vorbei – mit den grauverputzten niedrigen Häusern, in die sich die Bewohner trotz der ersten sonnigen und warmen Tage nach dem Winter zurückgezogen haben. Es erinnert an den Film „In My Room“ von Ulrich Köhler, in dem das Verschwinden der Menschen zum Spiegel des Innenlebens des Prota­ gonisten wird. Die soziale Distanzierung als Verwüstung der Landschaft der Seele, eine Folge modernen Wirtschaftens ohne Rücksichten. Ist hier noch jemand, der die Bewegung kontrolliert? Oder rast der Zug immer weiter? Die Eisenbahn findet sich bei Karl Marx und Walter Benjamin als Symbol des Fortschritts. Während Marx noch die Wohltaten sah, die mit dem Ausgang aus dem Feudalismus einhergingen, hatte Benjamin Verheerungen und Katastrophen vor Augen. Der Kapitalismus erlöst nicht, er verschuldet immer weiter. Doch ganz ohne den Benjamin’schen Griff zur Notbremse hält der Zug in Waren an der Müritz und entlässt einen auf den leeren Bahnsteig. Eine Gruppe Jugendlicher hält sich am anderen Ende des Bahnhofsvorplatzes auf, neben der geschlossenen Bierstube. Für solche Bilder braucht es in Mecklenburg-Vorpommern kein Virus. Die Region ist dünn besiedelt. Gäste kommen vor allem wegen der Landschaft. Doch die durften nun auch nicht mehr anreisen.

Mit seinem Autokennzeichen müsse er inzwischen ­aufpassen, erzählt Eisenach. Mit der Brille und dem braunen Haar, den Jeans und Sneakern fällt er sonst nicht groß auf. Die neuen virusbedingten inner­deut­ schen Grenzen verlaufen zur See hin – SchleswigHolstein und Mecklenburg-Vorpommern haben sich ab­geschot­tet, selbst Menschen mit Zweitwohnsitz sind nicht mehr erwünscht. Als deutlich wurde, dass die Theater vorerst geschlossen bleiben, hat sich der Theaterautor und -regisseur mit Frau und Kind aufs Land zurückgezogen. An der Berliner Volksbühne inszenierte er die Uraufführung seines neuesten Stücks „Der Kaiser von Kalifornien“. Premiere sollte am 19. März sein, man war bereits in den Endproben, als die Schlie­ ßungen aller Kultureinrichtungen verkündet wurde. Was hält einen dann noch in der Großstadt, selbst wenn man im beschaulichen Prenzlauer Berg wohnt? Die Premiere wurde verschoben. Wann sie stattfinden kann, ist zu dem Zeitpunkt unklar. Das ist schade, sagt Eisenach. Alle Beteiligten hätten ein sehr gutes Gefühl mit der Inszenierung gehabt. Doch wirkt er weder ­unnötig betrübt noch beunruhigt. Theater ist zwar wichtig, aber vielleicht auch nicht das Wichtigste in der Welt. Auf der großen Bühne der Volksbühne zu inszenieren, sei immer ein Traum von ihm gewesen. Der 1984 in Ostberlin geborene Eisenach ist am nördlichen Stadtrand groß geworden. Erst im Plattenbau, später sind die Eltern in ein Vorstadthäuschen gezogen. Doch das Theater am Rosa-Luxemburg-Platz zog ihn schon als

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Alexander Eisenach. Foto Claudia Balsters

hier entlangwalzten. Dazu die lichten Wälder mit den hohen Buchen und robusten Kiefern. Sein erstes Stück 2011 im Leipziger Centraltheater war „Der Waldgänger“, erzählt Eisenach. Inspiriert sei es von Ernst Jüngers „Der Waldgang“, aber auch von „Der kommende Aufstand“ des Unsicht­ baren Komitees gewesen. Als Student der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Leipziger Universität begann er am Theater zu hospitieren und assistieren. Prägend für ihn war vor allem der damalige Intendant Sebastian Hartmann. An Jünger und dem Unsichtbaren Komitee interessierte Eisenach die Geste der radikalen Absonderung. Jünger, der deutsche Reaktionär und Konservative einerseits und das französische Autorenkollektiv, das zum kommunistischen Umsturz aufruft, andererseits. Verlasst die Städte, geht einen anderen Weg. Interessiert habe ihn das, aber auch irritiert, sagt Eisenach, diese Berührungspunkte. Er halte es eher mit dem Akzelerationismus. Einem Konzern wie Monsanto komme man nicht mit selbstgepflanzten Karotten bei. Das Einrichten vorläufig autonomer Zonen laufe Gefahr, zum beruhigenden Ersatz für ­wirkliche Erfolge zu werden, heißt es in dem 2013 ­veröffentlichten „Beschleunigungsmanifest für eine ­akzelerationistische Politik“ von Nick Srnicek und Alex Williams. Beschleunigen und entschleunigen, so sind wir doch wieder bei der Frage des Fortschritts. Ebenso wie Stadt oder Land. Das Alte umstürzen oder bewahren.

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ALEXANDER EISENACH

Jugendlicher in den Bann. Dort wurde ein widerstän­ diger Gestus gepflegt, der vom Intendanten Frank Castorf selbst ausging. Das habe man als Jugendlicher aufmerksam wahrgenommen. Und wenn man dann noch Literatur mochte und Ideale hatte, kam man an der Volksbühne nicht vorbei. Und nun – ungefähr zwanzig Jahre später – steht er selbst auf dem Spielplan des legendären Hauses. Nur Frank Castorf ist nicht mehr da, der inszeniert inzwischen im Theater am Schiff­ bauerdamm. Das Berliner Ensemble ist Eisenach keineswegs unbekannt. In Berlin ist es gewissermaßen seine Stammbühne. 2017 brachte er hier seinen NoirThriller nach Heiner-Müller-Vorlage „Die Entführung Europas“ zur Uraufführung. Mit „Stunde der Hochstapler“ folgte 2019 sein zweites Stück am Haus, wieder in eigener Regie. Und als der Intendant dringend noch jemanden für die Eröffnung des Kleinen Hauses suchte, sprang er mit „Felix Krull“ nach dem Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann ein. Eigentlich ist es ungewöhnlich, dass ein Autor und Regisseur an zwei Theatern einer Stadt arbeitet. Aber die Volksbühne hat ihren eigenen Reiz, das konnte auch am Berliner Ensemble letztlich überzeugen. Am Autofenster fliegt die Endmoränenlandschaft vorbei, die den Nationalpark Müritz und die Umgebung prägt. Sandige Hügel und klare Seen, die Überreste der Eismassen, die sich vor über zehntausend Jahren


Das sind die politischen Widersprüche, mit denen man sich durch die permanente Revolution des Neoliberalismus konfrontiert sieht. Wir fahren durch Ankershagen, dem Heimatort von Heinrich Schliemann. Der Archäologe entdeckte die Ruinen von Troja. Vor dem Heinrich-Schliemann-Museum in Ankershagen steht eine Kinderrutsche, die als Holzpferd gestaltet ist. Doch dieses Trojanische Pferd ist zurzeit unbenutzbar, rotweißes Plastikband verwehrt notdürftig den Zutritt.

IN EISENACHS NEUESTEM STÜCK „DER KAISER VON KALIFORNIEN“ IST ES DIE SOGENANNTE URSPRÜNGLICHE AKKUMULATION, WIE ES MARX IM 24. KAPITEL DES „KAPITALS“ NENNT. AM ANFANG DES KAPITALISMUS STANDEN NÄMLICH NICHT FLEISS ODER HANDEL, SONDERN DIE GEWALTVOLLE SCHEIDUNG DER PRODUZENTEN VON IHREN PRODUKTIONS­MITTELN – DIE BRUTALITÄT DES PRIVATEIGENTUMS.

Die Frage, worauf unsere Zivilisation gebaut ist, zog den obsessiven Leser der „Ilias“ aus Ankershagen in die Ferne, er starb in Neapel. Die Frage ist nicht nur eine archäologische, sie ist ebenso eine literarische und künstlerische. Sie beschäftigt auch Alexander Eisenach. Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, die berühmte Reise flussaufwärts zu den Quellen des Grauens, hat er direkt nach „Der Waldgänger“ in Leipzig inszeniert, das war 2012. Er begann, selbst Texte für die Bühne zu schreiben. Zunächst kleine Szenen und Monologe. Mit „Schwarz­ taxi Inside“ schrieb er 2013 einen Text über Liebe und Verbrechen – im Medium der Erinnerung. Immer wieder kommt er in seinen Texten auf die historischen Ursprünge der Gegenwart zu sprechen. In Eisenachs neuestem Stück „Der Kaiser von Kalifornien“ ist es die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, wie es Marx im 24. Kapitel des „Kapitals“ nennt. Am Anfang des Kapitalismus standen nämlich nicht Fleiß oder Handel, sondern die gewaltvolle Scheidung der Produzenten von ihren Produktions­mitteln – die Brutalität des Privateigentums. Diese Scheidung reproduziert sich auf jeder Stufe der Ent­wicklung, so Marx, sie bilde die mitgeschleppte Vor­geschichte des Kapitals. Seine ersten Stücke brachte Eisenach 2014 in Frankfurt am Main zur Aufführung, das waren „Fauser, mon amour“ und „Das Leben des Joyless Pleasure“. ­Zusammen mit Ersan Mondtag und Johanna Wehner war er Teil des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt, das Clara Topic-Matutin zur Förderung junger Thea­ termacher leitete. Sie ermunterte ihn, sich weiter an eigenen Texten zu versuchen. Und so entwickelte Eisenach seinen Stil, der in der geschickten Kombi­ nation von Elementen des Genrefilms wie Krimi oder Western, Auszügen von kritischer Philosophie und Theorie sowie Zitaten aus der Literatur besteht. So begegnen sich Privatdetektive, Marx, mysteriöse Schönheiten, Heiner Müller, Gangster und Giorgio Agamben in einem Thrillerplot. Auf eine Psychologie der Figuren im klassischen Sinne verzichte er, sagt Eisenach. Ihm gehe es mehr um eine Konfrontation von Widersprüchen, die auch die Konventionen des Genres sprenge. Deswegen führe er gern selbst Regie bei seinen Texten. Das könne sonst zu Missverständnissen führen. Sein erster großer Erfolg war der Finanzwestern „Der kalte Hauch des Geldes“, 2016 von ihm selbst am Schauspiel Frankfurt zur Urauf­führung gebracht und im gleichen Jahr mit dem Kurt-Hübner-­ Regiepreis ausgezeichnet. Im Jahr darauf inszenierte Marco Štorman am Theater Bonn „Der Zorn der Wälder“, eine Mischung aus Hard-Boiled-Krimi und Sozialutopie nach Henry David Thoreau, der sich in die ­Abgeschiedenheit der Natur flüchtete. Wieder ein Waldgänger.

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THEATERSTÜCKE DER GOLDENE FLEISS UA 6. März 2016, Schauspiel Frankfurt, Regie Daniel Foerster DER KALTE HAUCH DES GELDES – EIN FINANZWESTERN UA 11. November 2016, Schauspiel Frankfurt, Regie Alexander Eisenach DER ZORN DER WÄLDER UA 10. Februar 2017, Theater Bonn, Regie Marco Štorman DIE ENTFÜHRUNG EUROPAS – ODER DER SELTSAME FALL VOM VERSCHWINDEN EINER ZUKUNFT UA 21. Oktober 2017, Berliner Ensemble, Regie Alexander Eisenach STUNDE DER HOCHSTAPLER UA 13. Dezember 2019, Berliner Ensemble, Regie Alexander Eisenach DER KAISER VON KALIFORNIEN UA (ursprünglich geplant) März 2020, Volksbühne Berlin, Regie Alexander Eisenach (wegen Corona verschoben) Vertreten durch den Rowohlt Theaterverlag, Hamburg.

derne Welt / Das Gold kann nichts dafür, nur / Die moderne Welt / Und ihre Geschwindigkeit / Und ihre Maschinen / Und ihre Hoffnung“, heißt es in „Der ­Kaiser von Kalifornien“. Natur und Technik lassen sich kaum mehr trennen. Und der Rhythmus des Kapitals treibt immer weiter. Die Stücke von Eisenach kreisen um das Verhängnis der Geschichte. Bisher ist kein noch so ­zartes Pflänzchen des Fortschritts auf unblutigem Grund g ­ ewachsen. Auch mit der literarischen Technik der C ­ ollage und Montage, des unbekümmerten Entreißens, Verfremdens und Neuarrangierens, scheinen s­ eine Texte zu sagen, dass Fortschritt ­ eine Frage des Gebrauchs des Vorhandenen ist. Man muss sich nicht auf eine Seite schlagen, man kann auch die Gegen­sätze selbst zum Ausgangspunkt machen.

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ALEXANDER EISENACH

Eisenach blickt auf den kleinen Teich, der zu dem Grundstück gehört, das er mit seiner Frau und Schauspielerfreunden erworben hat. Der Geschmack der ­älteren Voreigentümer ging eher Richtung klassische Parkanlage. Für Eisenach muss es nicht ganz so ­ordentlich sein. Auch hier dürfen die gewohnten ­Erzählstrukturen der domestizierten Natur aufge­ brochen werden. Die Büdnerei in Lehsten besteht aus mehreren kleinen Backsteinhäuschen, die sich zweistöckig eng aneinanderdrängen. Hier hausten früher die Landlosen, erzählt Eisenach, die dann Dienst bei dem Gutsherrn tun mussten. So war das mit der so­ genannten ursprünglichen Akkumulation auf dem ­Lande. Die Idylle kommt erst mit der industrialisierten Landwirtschaft, wenn die Maschinen den Menschen ersetzt haben. Und dann kommen auch die Künstler aus Berlin. Eines der Ge­bäude ist lang gestreckt. Darin verbirgt sich ein kleiner Theatersaal – mit Bühne und Bar. Der wird auch für Konzerte genutzt. „Die ­Büdnerei ist für uns ein ­utopischer Ort, an dem wir Kreativität und Austausch leben und fördern, an dem wir die Natur entdecken“, heißt es auf der Internetseite. Ferien­ wohnungen werden auch vermietet. Nur zurzeit nicht. So bleibt man eher unter sich, das geschlossene Café wird für die Kinder als Schule genutzt. Zum Frühstück oder Kaffee­trinken trifft man sich im Garten. Neben ausführlichen Spaziergängen gibt es auf dem Grundstück genug zu tun. Und das selbst gebackene Brot gelingt täglich besser. In der Abendsonne gehen wir am Waldrand entlang, vor uns der Acker. Wie es mit dem Theater weitergeht? Die Frage scheint weit entfernt. „Der Kaiser von Kalifornien“ wird aufgeführt werden. Irgendwann. Ein neues Stück hat Alexander Eisenach auch schon im Kopf. Eine Science-Fiction-Geschichte, in der sich die gegenwärtigen Probleme der Menschheit spiegeln. Man merkt, dass er sich nach der Schule für ein ­Studium als Drehbuchschreiber beworben hat. Und dass er Filmemacher wie Quentin Tarantino schätzt, die sich die Freiheit des Erzählens nehmen – auch um das h ­ istorisch Verbürgte mittels Fantasie zu unter­laufen. ­Geschichte gegen den Strich zu bürsten, das war auch ein Schlagwort von Benjamins später Schrift „Über den Begriff der Geschichte“, in der er mit dem herkömmlichen linearen Fortschrittsbegriff abrech­nete. Des­wegen glaubte er aber nicht, dass die Geschichte an ihrem Ende sei. Der Griff zur Not­ bremse oder doch die Flucht nach vorn? „Die Räder der Mühlen sind der Motor unseres Herzens / Und unser Herz ist eine Fördermaschine irren Bluts / Wir pumpen Hoffnung / Wir erschöpfen im Glück / Man hat uns beraubt / Man hat uns der Tragik beraubt / Gewinn und Verlust / Kennen keine Tragik / Die mo-


Fünf Fragen an Edith Draxl und Peter Waterhouse

ADVERTORIAL

Was macht für Sie ein gutes Stück aus?

neu beginnen. Ich würde sagen: Es gibt keinen Gedanken. Fang an zu denken. Niemand kann Schönheit festhalten. Edith Draxl: Ein gutes Stück weist ein stimmiges Zusammenspiel Wer sie macht, herstellt, macht ohne Ende. Schönheit kann von Form, sprachlicher Gestaltung und Inhalt aus. Grundsätzlich nicht gelehrt, aber sie kann beschrieben und mit der Urteilskraft geht es dabei weniger um die Frage, welche Geschichte erzählt beurteilt werden. Szenisches Murksen kann gelehrt werden. wird, sondern vielmehr darum, wie sie erzählt wird. Die RevolutioWer weiß, was er tut, irrt sich. Wer zuhört, findet. Wer sucht, nen und Entwicklungen in der Geschichte des Theaters waren findet nicht. Wichtig: Viel lesen. Immer wieder dieselben immer stärker mit der Entwicklung neuer Formen als neuer InhalBücher, dieselben Sätze. Es gibt te verbunden. Ein gutes Stück keine selben Bücher und Sätze. verändert den Blick von ZuschauDen Impulsen, den Einfällen, den er*innen, Leser*innen auf die Welt, DRAMA FORUM Stoffen misstrauen. Es gibt etwas uniT GmbH bringt neue Gedanken hervor und Kleineres. Aus fast nichts kommt Jakominiplatz 15 / 1. Stock schreibt sich im Kopf von Rezidie Wirkung. 8010 Graz pient*innen weiter. Es geht nicht Steiermark, Österreich um eine journalistisch recherchierte Worauf legen Sie Wiedergabe von Wirklichkeiten, office@uni-t.org bei der Förderung sondern um ein Hervorbringen und dramaforum.at Vergegenwärtigen. von Dramatiker*innen Peter Waterhouse: Das „gute Stück“ besonders wert? lässt sich ausmachen (well-made play, Edith Draxl: Das jeder Autor, jede Autorin die eigenen Stimmen easily seen). Besser ist das Stück, das sich gar nicht oder schwer hört und die der anderen. Wir geben nichts vor, wir verstehen uns ausmachen lässt, das die Kriterien nicht erfüllt, den Anschauunals Begleiter*innen. gen und Ansichten sich verschließt, der Erfahrung widerspricht, Peter Waterhouse: Aufmerksam werden auf jedes Wort; aufMühe macht, mehr und mehr Mühe macht, dich plagt und keine merksam werden darauf, dass die Sprache spricht und eine SingRuhe gibt. stimme hat, wenn sie nicht für einen Zweck manipuliert wird. Politik ist nur möglich ohne Propaganda. Wie lehrt man szenisches Schreiben? Welche jungen Stimmen Edith Draxl: Wir verstehen uns nicht als Schreibschule. Literarifehlen im Moment im Theater? sches Schreiben kann nicht gelernt werden. Die künftigen AuEdith Draxl: Die weiblichen Stimmen fehlen und die Stimmen der tor*innen müssen zunächst einiges mitbringen. Es braucht die Migrant*innen. Das Theater im deutschsprachigen Raum ist viel innere Notwendigkeit zu schreiben. Um es etwas pathetisch mit zu weiß und männlich. Die jüngeren Autor*innen brauchen aber nicht Rilke zu formulieren, müsste man jede Person, die Autor, Autonur das Studio, sondern auch die große Bühne. Zu fragen ist auch, rin werden möchte, auffordern: „Gehen Sie in sich. Erforschen wie lange man ein junger Autor, eine junge Autorin ist. Vielleicht Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in ist das Adjektiv jung überflüssig, denn jenseits der ersten Präsender tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt …“ tationen geht es um die Qualität einer Arbeit und nicht ums Alter. (Rainer Maria Rilke, „Briefe an einen jungen Dichter“) Wenn es Natürlich entwickelt man sich weiter, aber doch hoffentlich auch klar ist, dass man schreiben muss, dann stellt sich die Frage, ob die Autor*innen, die nicht mehr als jung angesehen werden. man auch ein Leben leben möchte, in dem das Schreiben Platz hat. Um wieder Rilke sprechen zu lassen: „… wenn Sie mit einem starken und einfachen ,Ich muß‘ dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.“ (Rilke, „Briefe an einen jungen Dichter“) Und dann sollten die jungen Autor*innen auch noch Lesende sein, denn nur dann ist man in der Lage, die eigene Arbeit auf einer soliden Basis zu reflektieren. Darum geht es vor allem, um das Nachdenken über die eigene und über fremde Arbeiten, um ein künstlerisches Gespräch über und mit Texten. Das beeinflusst ganz automatisch die eigene Textproduktion. Warum es nicht geht: eine Form einzulernen, Tricks zu lernen, sich Techniken anzueignen. Und ein Letztes: Jeder, der für das Theater schreibt, muss sich auch mit dem Medium auseinandersetzen. Er muss das Medium nicht bedienen, aber er muss es kennen. Peter Waterhouse: Wenn das Vergessen gelehrt werden könnte, es wäre eine der wichtigsten Lehren im Forum Text. Das Vergessen ist eine der wichtigsten Lehren. Aber wir können sie nicht lehren. Nach dem schönen, erkenntnisreichen, beflügelnden Gespräch: Es lässt sich nicht wiederholen, es geht verloren, das Gesagte wird vergessen. Alle müssen wieder unroutiniert

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Wieso braucht das Theater dramatische Texte? Edith Draxl: Was ist ein dramatischer Text? Ich glaube, das Theater braucht Texte, die für die Bühne geschrieben sind. Romane und Filme haben eine eigene Logik, der man in den im Moment so beliebten Adaptionen am Theater selten gerecht wird. Romane werden in einer theatralen Adaption oft nur auf die Handlung reduziert, das ist meistens zu wenig. Beim guten Film geht es um das Bild, auch etwas, das schwer fürs Theater zu übersetzen ist. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Ich glaube auch, dass man auf diese Stoffe oft weniger aus künstlerischen Erwägungen zurückgreift, sondern vielmehr aus Gründen des Marketings.

Welche Texte das Theater braucht ist offen. Nur ein Text, der das Theater künstlerisch herausfordert, seine Übersetzungen befragt, ist ein relevanter Text. Peter Waterhouse: Wir brauchen dramatische Texte, um das Ich zu verwerfen (zu entwerfen?). Edith Draxl und Peter Waterhouse, Leitung DRAMA FORUM in Graz.


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SO: THIS IS OUR MOMENT. SPIELZEIT 2020 / 2021 PREMIEREN GLAUBE LIEBE HOFFNUNG Ödön von Horváth & Lukas Kristl / Regie: Eva Lange MUTIG, MUTIG Lorenz Pauli & Kathrin Schärer / Regie: Dominique Enz MEIN ZIEMLICH SELTSAMER FREUND WALTER Sibylle Berg / Regie: Liljan Halfen DER SCHNAPS ERKENNT DIE TRAURIGKEIT / UA Anna Morawetz / Regie: Anna Laner DER NACKTE WAHNSINN Michael Frayn, Ursula Lyn / Regie: Dominik Günther DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL nach dem gleichnamigen Film von Václav Vorlíček & František Pavlíček / Regie: Stephanie Rolser HANNAH! DAS ERWACHEN EINES POLITISCHEN BEWUSSTSEINS / UA Christian Franke / Regie: Christian Franke SOUNDTRACK EINES LEBENS / UA von und mit Ben Knop & Michael Lohmann /Szenische Einrichtung: Katharina Birch BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER Max Frisch / Regie: Milena Mönch MENSCH. LASS UNS EIN WUNDER SEIN. / UA Regie: Carola Unser AMSTERDAM Maya Arad Yasur, Matthias Naumann / Regie: Eva Lange DAS STÜCK ZUR ZEIT Autor*in noch unbekannt / Regie: Laura N. Junghanns HAIR Gerome Ragni, James Rado, Galt MacDermot, Nico Rabenald / Regie: Carola Unser

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SCHNAUZE VOLL VOM SCHWEIGEN THOMAS FREYER VON TILMANN KÖHLER

weil uns das Maul das allzu voll uns wurde mit der Zeit nicht dichthält mehr weil uns der ungesagte Rest mit jeder Stille mehr und mehr zwischen die Zähne quillt das Weggelassene Verpasste schon am Kinn herunterläuft uns vor die Füße tropft das Unverdauliche Aus: „Stummes Land“ (2020)

Eltern, die fressen, um nicht zu sprechen. Der volle Mund, der nicht mehr sprechen muss, weil er nicht mehr sprechen kann. Deutsche Geschichte des Ausblendens, die sich wiederholt. Eltern, die sich in den Konsum retten, um die innere Leere zu füllen. Und ­Kinder, die an dem Schweigen zerbrechen, gewalttätig werden gegen sich oder gegen die anderen, die sich freischießen wollen. Darauf trifft man in „Stummes Land“, dem neuesten Stück von Thomas Freyer. Es sind Motive, die sich auch durch seine bisherigen Theatertexte ziehen. Genauso wie das Verstummen, das Verdrängen, das Überspielen. Kinder, die auf ehrliche ­Antworten, auf ehrliche Gefühle warten, die im letzten Mittel durch Gewalt das Schweigen der Eltern durch-

brechen wollen. Was seine Eltern mit ihren Kindern vereint, ist das Nicht-Dazugehören. Sie sind Zaun­ gäste einer mechanischen Gesellschaft, staunende Betrachter, die gerne Teil wären, aber nie Teil werden oder sich sogar bewusst separieren. Sie bleiben immer Ausgestoßene, Vergessene. Meine erste Begegnung mit Thomas Freyer hatte ich auch in einer vergessenen Region, in Gera, der Stadt, in der wir beide unsere Jugend verbrachten. Eine ehemalige rote Bezirkshauptstadt, die in den 1990er Jahren ein Drittel ihrer Bevölkerung und den Titel der Großstadt verlor. Wir trafen uns 1998 in der TheaterFabrik des Theaters Altenburg-Gera. Einem Ort, geprägt von Mario Portmann, später Ulrike Hatzer, in dem es Jugend­ lichen ermöglicht wurde, selber Theater zu erfinden, teils komplett autark als Schauspieler, Regisseurin oder Autor. Heute würde man sagen, ein Vorläufer der Bürgerbühnen, aber in seinem Ansatz viel autonomer und radikaler. Für Thomas war es eine „Insel der Möglichkeiten für alle, die sich sonst in der Stadt nirgendwo zugehörig fühlten“ und ein Ort, an dem „die Frage nach dem Inhalt immer extrem im Vordergrund stand und die Ästhetik sich dem anpasste“. Das hat ihn sehr geprägt. „Dass es einen Grund dafür geben muss, das zu machen, das Theater.“ Dem angehenden Dramatiker Thomas Freyer ­begegnete ich wieder während seines Studiums für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Eine Ausbildung, die es ihm ermöglichte, sich

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Thomas Freyer. Foto Matthias Horn

nach der Wende versuchten, Kontinuität vorzutäuschen, aber spürbar jeden Halt verloren hatten: „Eine ganze Nachwendegeneration ist mit Eltern aufgewachsen, die sich nicht mehr gebraucht fühlten. Durch unsere Eltern wurde transportiert, dass man zu dieser Gesellschaft nicht wirklich dazugehört, einen minderen Wert hat. Es sind Eltern, unter denen es wenige gibt, die ganz offen über ihre Diktaturerfahrungen in der DDR sprechen. Die selbiges von ihren Eltern wiederum sagen, die von der Zeit des Nationalsozialismus nicht viel redeten. Das Gefühl, dass eine normale Auseinandersetzung, ein normales Befragen der Eltern nicht möglich ist, weil die sich in einem Maß entwertet fühlen, dass es schwierig ist, sich auf Augenhöhe zu bewegen oder kritische Fragen zu stellen. Ein Fragen eigentlich gar nicht möglich ist, weil die Kränkungen aus der Zeit noch so tief sitzen.“ Thomas wurde überrascht von dem überbordenden Erfolg des Stückes. Ausgezeichnet beim Stückemarkt des Theatertreffens 2006, die Hörspielfassung mit dem Prix Europa bedacht, Stückabdruck in Theater der Zeit, mit dem Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI versehen und mit der Fördergabe des Schiller-Gedächtnis-Preises geehrt. Ab diesem Moment war auf einen Schlag aus dem sich herantastenden, experimentierenden, jungen Dramatiker ein Nachwuchsautor geworden. Plötzlich musste sich jeder Satz, der geschrieben wurde, an diesen Preisen messen, wurde geurteilt, wurde aus „aufstrebend“

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THOMAS FREYER

vier ­Jahre mit dem Schreiben beschäftigen zu können, ­deren verfrühten Konkurrenzdruck und das seinerzeit dort vermittelte Autorenbild er jedoch kritisch sah: „Ausgebildet wurde ein Autor, der nicht im Theater arbeitet, der nicht auf die Proben geht, der zu Hause schreibt und dann übel gelaunt zur Premiere kommt und sich nicht verwirklicht sieht.“ Ganz anders sollte es bei un­ serer ersten Stück­ entwicklung sein. Ausgangspunkt dafür war der Erfurter Amoklauf im Jahre 2002, bei dem ein Schüler gezielt Lehrer erschoss und der mit siebzehn Toten endete. Durch die geografische und biografische Nähe zu dem Geschehen bewegte uns ­beide das Ereignis sehr. Thomas schrieb die ersten Szenen, die wir mit den Schauspielern Cornelia Rosenkranz, Elisabeth Heckel und Thomas Braungardt probierten und die ihre eigenen biografischen Geschichten einbrachten. Thomas dramatisierte sie, entwickelte sie weiter und kam jeden Tag mit neuen Szenen, die wieder verworfen und neu entwickelt wurden. Stück für Stück entstand so „Amoklauf mein Kinderspiel“, dass mit kritischem Blick auf den unausgesprochenen Generationskonflikt der Nachwendezeit blickte. Das Unausgesprochene, Unaufgearbeitete, das sich freischießt, war schon damals ein Grund­ thema, eine auf den ersten Blick unerklärliche Wut, die bei genauerem Hinsehen auf einen reichen Boden an Ursachen zurückreicht. Eine gewaltvolle Fantasie aus den Erfahrungen mit der Generation der Eltern, die


schnell „überschätzt“. Nicht selten haben diese Reaktionen auf seine Stücke mehr über die Rezensenten erzählt als über seine Texte, wurde eine „Ostalgie“ hineingelesen, die nicht den Texten immanent war, sondern die durch den biografisch formatierten Blick des Betrachters hinzugefügt wurde. Das nächste Stück „Separatisten“ musste viele dieser Schwankungen und widersprüchlichen Urteile über sich ergehen lassen. „Separatisten“, dass vielleicht wie kaum ein anderes Stück Auskunft gibt über den inneren Zustand der ostdeutschen Nachwendegesellschaft, die sich nach Mauern sehnt, ohne zu wissen, was sie darin eigentlich noch verwirklichen soll, außer die heimelige Vorstellung der Reanimation von einem Gestern, dass nie existiert hat. Es wäre spannend, „Separatisten“ heute noch mal auf einem Spielplan zu sehen in diesem neuen Europa und dieser

­ euen Welt der Grenzen und Mauern. Leider widern spricht das der derzeitigen Aufführungspraxis des Theaterbetriebs. Thomas Freyers Arbeiten sind oft eng verbunden mit einem persönlichen, biografischen Kontext, ohne dass dieser im Vordergrund steht. Am deutlichsten war das für mich bei seinem vielleicht persönlichsten und tieftraurigen Text „In den Nächten liegen wir stumm“. Ein Requiem, ein verzweifelter Versuch über das Abschiednehmen und trotzdem Weitergehenmüssen. Immer sind es Texte, die einen in Diskussionen bringen zwischen den Generationen, die einen über Themen sprechen lassen, über die man normalerweise einvernehmlich schweigt. „Korrekturen 09“, die Vor­ stufe zu „Im Rücken die Stadt“, war die warmherzigverständnisvolle Erzählung von drei Generationen und ihrem so unterschiedlichen, unausgesprochenen

THEATERSTÜCKE AMOKLAUF MEIN KINDERSPIEL UA 28. Mai 2006, Nationaltheater Weimar in Koproduktion mit Theater an der Parkaue, Berlin, Regie Tilmann Köhler SEPARATISTEN UA 30. April 2007, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Tilmann Köhler UND IN DEN NÄCHTEN LIEGEN WIR STUMM UA 7. November 2008, Schauspiel Hannover, Regie Tilmann Köhler

MEIN DEUTSCHES DEUTSCHES LAND UA 27. November 2014, Staatsschauspiel Dresden, Regie Tilmann Köhler FROSCHKÖNIG UA 20. Juni 2017, Theater Heidelberg, Regie Natascha Kalmbach KEIN LAND. AUGUST UA 20. Januar 2017, Staatsschauspiel Dresden, Regie Jan Gehler

KORREKTUREN 09 UA 30. Mai 2009, Szenische Lesung, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Tilmann Köhler

DAS BLAUE WUNDER Zusammen mit Volker Lösch und Ulf Schmidt UA 26. Januar 2019 Staatsschauspiel Dresden, Regie Volker Lösch

IM RÜCKEN DIE STADT UA 30. Januar 2010, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Nora Schlocker

LETZTES LICHT. TERRITORIUM UA 13. Februar 2020, Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie Jan Gehler

DER GESTIEFELTE KATER Frei nach den Brüdern Grimm UA 24. November 2010, Landestheater Eisenach, Regie Rainer Fiedler

GERTRUDE UA (ursprünglich geplant) 24. April 2020, Theater Junge Generation Dresden, Regie Jan Gehler (wegen Corona verschoben)

DAS HALBE MEER UA 8. April 2011, Staatsschauspiel Dresden, Regie Tilmann Köhler

STUMMES LAND UA (geplant) 2. Oktober 2020, Staatsschauspiel Dresden, Regie Tilmann Köhler Vertreten durch den Rowohlt Theaterverlag, Hamburg.

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PREMIEREN SEPTEMBER BIS NOVEMBER 2020 MUSIKTHEATER SUMMERNIGHTDREAMERS nach Henry Purcell und Benjamin Britten Regie Andrea Schwalbach 3. Oktober 2020 PAGLIACCI (DER BAJAZZO) von Ruggero Leoncavallo | Regie Andrea Schwalbach 17. Oktober 2020 OVER MY HEAD I HEAR MUSIC Ein Gospel-Fest mit Chaz’men Williams-Ali November 2020

SCHAUSPIEL ERNST IST DAS LEBEN (BUNBURY) von Oscar Wilde | Regie Christian Brey 19. September 2020 DER MOND BRAUST DURCH DAS NECKARTAL Lieder und Texte aus dem romantischen Exil Regie Holger Schultze 25. September 2020 ÖDIPUS von Sophokles | Regie Alexander Charim 10. Oktober 2020

TANZ OSCILLATION Choreografie und Konzept Iván Pérez 7. November 2020 | Uraufführung

JUNGES THEATER NAMASTEMYCLASS 12+ FI*T-IN SISTERS (Johanna Dähler und Daniela Ruocco) 17. September 2020 | Uraufführung SATELLITEN AM NACHTHIMMEL 10+ von Kristofer Grønskag | Regie Yvonne Kespohl 24. September 2020 ORPHEUS. OHNE ANGST 12+ mit Musik von Christoph Willibald Gluck u. a. Regie Natascha Kalmbach 30. Oktober 2020 | Uraufführung MIO, MEIN MIO 10+ nach Astrid Lindgren | Regie Markolf Naujoks 8. November 2020 OX & ESEL 5+ von Norbert Ebel | Regie Natascha Kalmbach 29. November 2020

THOMAS FREYER

Umgang mit der nahen Vergangenheit. Diese deutschdeutsche Vergangenheit, die so viele satt haben, nicht mehr sehen wollen, aber die diese Gesellschaft so tief geprägt hat. Sein für das Staatsschauspiel Dresden geschriebenes Stück „Das halbe Meer“ nahm 2011 viel von dem vorweg, was die folgenden Jahre in Sachsen passierte. Es spielt auf einer Insel und handelt von gescheiterten Utopien, von Fremdenangst und schließlich blinder Gewalt gegen jede Fremdheit. Eine Parabel über das braune Gebräu, das seit Jahren unter den schön re­ novierten Fassaden brodelte, lange bevor es sich in Pegida herauskristallisierte. Parallel zu den Proben an „mein deutsches deutsches Land“ im Herbst 2014, ein fiktives Stück über die seltsamen Pannen bei der Aufklärung einer rechtsextremen Terrorserie, begannen in Dresden die rasch wachsenden Pegida-Demonstrationen. Es war erschreckend, wie nah plötzlich der Text an dieser Stadtgesellschaft und Landespolitik war, die tatenlos zusah oder sogar heimlich applaudierte, als der öffentliche Raum von xenophobem, empathielosem und gewaltverherrlichendem Gedankengut vereinnahmt wurde. Und es thematisiert die auch aktuell brennende Frage, wie eng Teile des deutschen Sicherheitsapparates von rechtsterroristischen Strukturen durchsetzt sind. In Thomas Freyers Stücken bekommt man Einblick in die Gründe der Demokratiemüdigkeit, in die soziale Unwucht und die Verlorenheit eines großen Teils dieser Gesellschaft. Sie erklären nicht, sie urteilen nicht, sind nicht moralisch, nicht effektheischend. Sie drängen sich nicht in den Vordergrund. Man muss seinen Figuren wirklich zuhören wollen, sie fordern einen Zuschauer, der sich einlassen will. Sie sind leise Psychogramme einer Nachwendedemokratie, und sie beschreiben sehr genau deren Verletzlichkeit und Gefährdung. Thomas Freyer zeichnet seine Charaktere mit Humor, aber ohne sich über sie lustig zu machen. Mit Kritik, aber ohne pädagogisch zu verurteilen, immer mit großer Liebe und Hingabe für die gezeigten Figuren. Oft war es für mich überraschend zu sehen, wie gerade Schauspieler und Schauspielerinnen mit einem langen Berufsleben auf seine Texte reagierten. Wie tief Ursula Werner sich mit der Verkäuferin Anita in den „Separatisten“ verband, wie Ulrich Anschütz diesen Text und seine Figur Günther liebte, wie Ruth Reinecke die Mutter in den „Korrekturen 09“ verkörperte, wie hoch emotional Hannelore Koch und Albrecht Goette sich in „Das halbe Meer“ mit ihren Figuren verbunden fühlten. Für mich war es faszinierend, wie ein junger Autor so nah an die Gefühlslage einer anderen Generation anknüpfen kann, ohne es erlebt zu haben. So zu schreiben, dass sich diese Schauspieler mit ihrer


MAN MUSS SEINEN FIGUREN WIRKLICH ZUHÖREN WOLLEN, SIE FORDERN EINEN ZUSCHAUER, DER SICH EINLASSEN WILL. SIE SIND LEISE PSYCHOGRAMME EINER NACHWENDEDEMOKRATIE, UND SIE BESCHREIBEN SEHR GENAU DEREN VERLETZLICHKEIT UND GEFÄHRDUNG. Biografie in diesen Texten widergespiegelt sahen und das Gefühl hatten, etwas Sinnvolles, ganz Persönliches, aber gesellschaftlich Relevantes auf der Bühne zu erzählen. Meine Vermutung ist, dass diese Fähigkeit zur Erfindung sehr persönlicher Figuren auch zu tun hat mit seiner Herkunft. Aufgewachsen in Gera-Lusan, war er geprägt von den kruden Nachwendejahren in einer sterbenden, schrumpfenden und sich selbst aufgebenden Totenstadt. Eine Region, die innerhalb kürzester Zeit nahezu alle Arbeitsplätze verlor, die optisch geprägt war von den drei Industrieschloten an der Autobahn und den Uran-Pyramiden von Ronneburg und die diese Wahrzeichen und mit ihnen ihre Identität verlor – genauso wie die Menschen, die mit dem Verlust der Arbeit ihre Identität verloren und diese Leere notdürftig mit dem Konsum in den billig hingeklotzten Konsumkästen zu stopfen suchten. Heran wuchs eine junge Generation, die ziel-, halt- und zukunftslos in die tumbe Gewalt und in den Hass gegen alles, was anders war, abdriftete. Von diesen verges­ senen Orten gibt es einen geradlinigen Weg zu Demokratiemüdigkeit, Pegida, AfD, NSU und brennenden Asylunterkünften. Es ist die Frage, ob man heute deren Geschichten noch erzählen darf, angesichts der Empathielosigkeit und Kälte, mit der unsere selbstmitleidige Gesellschaft nach wie vor den täglichen Tod an den europäischen

Außengrenzen ignoriert. Kann man auf diese Menschen noch mit Wärme schauen? Oder kann man sie nur noch ausstellen in ihrer Selbstbezogenheit, ihrem Selbstmitleid und ihrer Borniertheit? Dieser Auseinandersetzung stellte sich Thomas Freyer mit „kein Land. August“ und auch mit seinem zuletzt uraufgeführten Stück „letztes Licht. Territori­ um“. In dunkler Poesie spiegelt und verschmilzt er die Abgehängten unserer westlichen Gesellschaft mit den Geflüchteten aus Kriegsgebieten. Er legt bloß, dass wir einem Scheingefecht der Schwächsten der Gesellschaft beiwohnen. Und dass dies in eine unausweichliche Katastrophe führt, solange wir nicht die grundsätzliche Ungerechtigkeit, die stetige Umverteilung von unten nach oben beenden. Wieder sind es die Ausgeschlossenen, Vergessenen in den ignorierten Orten, die selbst als Opfer zu Tätern werden. Eine nicht enden wollende Spirale der Gewalt, solange wir als Gesellschaft uns weigern, Neues zu denken. An seinen Theaterstücken kann man ablesen, wo wir gesellschaftlich gerade stehen und auch warum. Wie ein Seismograf nimmt er Stimmungen auf und kann sie in eine rhythmische, knappe und ungeheuer bildhafte Sprache verwandeln. Die Texte von Thomas Freyer müssen gesprochen werden. Auf dem Papier sind sie spannend, aber ihre Größe, ihre Vieldeutigkeit, ihre Musikalität erhalten sie erst auf der Bühne. Erst im Aufeinandertreffen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern beginnen sie wirklich zu blühen. Spürbar ist das auch wieder in seinem neuesten Stück mit dem Arbeitstitel „Stummes Land“, das im Herbst am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wird. Die vergessenen Toten, die in „letztes Licht. ­Territorium“ noch vor den Mauern der westlichen Welt die Erde füllten, fliegen in „Stummes Land“ nun auf uns zu, durchbrechen unsere abgestumpfte Realität, sind nicht weiter verdrängbar. Sie schlagen wie Bomben in das Unausgesprochene, Unverhandelte, das Unverarbeitete, das den Nährboden bildet für den breiten gesellschaftlichen Rechtsruck der letzten ­Jahre. Er verknüpft die Kontinuität von Rassismus mit der Selbstbefragung seiner Generation, warum man vom fragenden Kind zum schweigenden Erwachsenen wird. Wie schnell hat man selbst die Schnauze voll von dem fatalen Schweigen, das man den eigenen Eltern noch zum Vorwurf machen konnte. Das Porträt basiert in Teilen auf der Laudatio, die anlässlich der Verleihung des Lessing-Förderpreises des Freistaates Sachsens 2017 an Thomas Freyer gehalten wurde.

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Koproduktion mit der hmt Rostock / 17.10.2020 CABARET / Musical von John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff / Fassung Chris Walker / Übersetzung Robert Gilbert RAPUNZEL / Weihnachtsmärchen von Peter Dehler nach den Gebrüdern Grimm / Ab 5 Jahren / 20.11.2020 DIE 39 STUFEN / Komödie von John Buchan & Alfred Hitchcock / Bearbeitung von Patrick Barlow / Übersetzung Bernd Weitmar / 16.01.2021 JUGEND OHNE GOTT / Schauspiel nach Ödön von Horváth / 20.03.2021

ATELIERTHEATER QUALITYLAND / Von Marc-Uwe Kling / Szenisch eingerichtete Lesung OLEANNA – EIN MACHTSPIEL / Schauspiel von David Mamet / Übersetzung Bernd Samland BILDER DEINER GROSSEN LIEBE / Romanbearbeitung von Robert Koall / Nach Wolfgang

Herrndorf / 19.09.2020 SKY IS THE LIMIT / Klassenzimmerstück von Lorenz Hippe und Cédric Pintarelli / Ab 12 Jahren DER PROZESS / Schauspiel nach Franz Kafka / Koproduktion mit der hmt Rostock / 24.10.2020 DER KLEINE PRINZ / Schauspiel nach Antoine de Saint-Exupéry / Ab 6 Jahren / 29.11.2020 DIE MARQUISE VON O. / Schauspiel nach Heinrich von Kleist / 09.01.2021 FRÄULEIN JULIE / Tragödie von August Strindberg / 23.04.2021

KLEINE KOMÖDIE WARNEMÜNDE HEUTE ABEND: LOLA BLAU / Musical für eine Darstellerin von Georg Kreisler WER KOCHT, SCHIESST NICHT / Solostück von Michael Herl / 30.10.2020 FRIVOLE LIEDER / Musikalische Zeitreisen / Folge 4 / Mit Mario Lopatta und John Carlson EIN ABEND FÜR GEORGETTE DEE / Musikalische Zeitreisen / Folge 5 / 30.01.2021 OFFENE ZWEIERBEZIEHUNG / Komödie von Franca Rame & Dario Fo / Übersetzung von Renate Chotjewitz-Häfner / 21.03.2021 Änderungen vorbehalten

www.volkstheater-rostock.de

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GROSSES HAUS HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI / Schauspiel von Bertolt Brecht /

2021

PREMIEREN

2020


Zuerst riecht es nach Essen, fettiges Fleisch rostbratangefertigt am Stock, ölt die Nase, dann denke ich, stimmt nicht, kocht die Revolution, kocht sie ihre eigenen Kinder, wahrscheinlich nicht, höchstwahrscheinlich nicht, höchstwahrscheinlich ist das Menschengeruch, der ausströmt und triefend über dem Boden hängt. Sasha Marianna Salzmann „Hurenkinder Schusterjungen“

Aber wenn ich nicht erzähle / Dann Schmerzes. Wolfram Lotz


werde ich zu einem Roboter des „Einige Nachrichten an das All“

das größte schwergewicht ist das chaos. Und die gewissheit, dass sich dieses spielwerk wiederholt … und wiederholt … endlos und auf identische art. Mehdi Moradpour „mumien. ein ich bin ein einfacher blauer tetrisstein, und ich lebe die weisheiten meiner ahnen und urahnen. Miroslava Svolikova „Rand“

heimspiel“


AUS DER SICHERHEIT HERAUS ENTSTEHT KEINE KUNST NINO HARATISCHWILI VON BARBARA MÜLLER-WESEMANN „Ihr Blick auf die Welt ist kritisch und fragend, leidenschaftlich und manchmal voller Wut, aber nie denunziatorisch.“ Dieser Satz stammt aus einem Essay für den Band „Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute“ (Theater der Zeit), in dem ich vor gut zehn Jahren die Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili porträtiert habe. Sie war damals 27 Jahre alt und mit neun ver­ öffentlichten Theatertexten und zwei Förderpreisen bereits keine Unbekannte mehr. 13 Theater­stücke, vier Romane und etliche Auszeichnungen ­später sprechen wir erneut miteinander. Aufgewachsen in Georgien, einem Land, das bis in die jüngste Vergangenheit von Kriegen und Gewaltherrschaft erschüttert worden ist, lebt sie seit ihrem Regiestudium in Deutschland. Welcher der beiden Kulturen verdankt sie ihre Kreativität? Sicher beiden, aber am ehesten vielleicht dem Raum dazwischen, der Lücke. Und wie vertragen sich die drei Professionen? Für sie als Mutter von zwei kleinen Kindern bedeutet Regieführen einen organisatorischen Kraftakt, schreiben kann sie dagegen an jedem Ort und zu jeder Zeit. Schreiben sei überhaupt die intensivste Form der Suche nach Welt, nach Erkenntnissen, die helfen, das Leben zu verstehen. Worin liegt der Reiz, dies auf Deutsch zu tun? Sie sagt, in der Fremdsprache werde sie spielerischer und experimentierfreudiger, andererseits könne sie so die Themen, die ihr zu nah kommen, auf Abstand halten. Shakespeare, Dostojewski, Bulgakow, Philip Roth, diese großen Namen fallen, wenn man Haratischwili nach ihren Vorbildern fragt. Auch Marina Zwetajewa

gehört dazu, jene russische Dichterin, der sie 2007 mit ihrem Stück „Ich, Du, Marina. Fragment einer Nacht“ ein berührendes Denkmal gesetzt hat. Das Motto ihres zweiten Romans „Mein sanfter Zwilling“ zitiert einen Brief der Dichterin. „Der Körper des anderen ist eine Mauer, die einen hindert, seine Seele zu sehen. Oh, wie ich diese Mauer hasse.“ Sind nicht auch antike Mythen eine ihrer Inspirationsquellen? Mythen verhandeln Menschheitsfragen von zeitloser Brisanz. Nach Hans Blumenberg („Arbeit am Mythos“) verweisen sie auf das Irrationale in der menschlichen Psyche: Der Mensch versuche, den Schrecken, dem er ausgesetzt sei, in Geschichten über den Schrecken umzuwandeln, in der Hoffnung, ihn so zu bannen. Während der mythische Kern erhalten bleibt, verändern sich in der neuen Erzählung Ausgestaltung und Interpretation je nach der Lebenswirklich­ keit. „Es geht immer um einen selbst. Ich nehme fremde Geschichten, um meine zu finden“, so Haratischwili anlässlich der Uraufführung von „Elektras Krieg“ (2012). In ihren Romanen und Stücken begegnet man vielen Spuren mythischen Ursprungs, und ungeachtet ihrer Transformation wird die Quelle immer erkennbar. In „Liv Stein“ (2009) zum Beispiel deuten bereits der Titel und der Prolog auf Ähnlichkeiten zwischen dem Schicksal der Protagonistin und Niobe hin, die wegen ihres übertriebenen Mutterstolzes von den Göttern bestraft und in eine Marmorstatue verwandelt wurde. In „Mein und dein Herz (Medeia)“ (2007) ist Medea vor allem die kompromisslos Liebende, und der handlungsscheuen

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Nino Haratischwili. Foto Steffen Baraniak/G2 Fotografie

zu verschwinden und sie ihr Eigenleben führen zu lassen, heißt, sich dem Prozess des Schreibens ganz auszuliefern: „Ich mag das Feuerwerk der Fantasie, durch das neue Welten entstehen“, lautet die schlichte Erklärung dazu in einem Radioporträt. Ihre Geschichten korrespondieren mit der subjektiven Wahrnehmung der Figuren sowie der ­Kontingenz ihrer Wirklichkeit und folgen den Prinzi­ pien einer offenen Dramaturgie: Hauptund Nebenhandlungen sowie ­epische und dialogische Sequenzen stehen gleichberechtigt nebeneinander. In der linearen Zeitstruktur treiben Zeitsprünge das Geschehen voran, während ­poetische Intermezzi, in denen die Zeit nahezu stillsteht, auf eine ­weitere Seinsebene hinzudeuten scheinen. Gegenüber dem Vorwurf, sie neige zur Melo­ dramatik, verteidigt Haratischwili ihre Kunst, die es ohne Einfühlung und Emotionen nicht geben könne: „Der Grat zwischen Pathos und Kitsch ist schmal, aber Pathos bedeutet auch Leidenschaft.“ Auf jeden Fall sucht sie die großen, Welten erkundenden Erzählungen, allerdings ohne den Anspruch, die ganze Welt erklären oder belehren zu wollen. Was es heißt, trotz allen Bemühens in einer neuen Gesellschaft nie wirklich anzukommen, das hat Haratischwili glücklicherweise selbst nicht erfahren müssen. Gleichwohl ist Migration zu einem ihrer Lebensthemen geworden, weil es immer wieder Momente gibt, in denen auch ihr das Anderssein gespiegelt wird. Das Stück „Die Barbaren. Monolog für eine Auslän­ derin“ (2017) ist nach einem persönlichen Erlebnis ­entstanden. Auf der Bühne steht Marusja, eine

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NINO HARATISCHWILI

Elektra wird in „Elektras Krieg“ die tatkräftige Polyxena aus Troja zur Seite gestellt. So wie Philomele in Ovids „Metamorphosen“, ihrer Zunge beraubt, einen Teppich webt, um ihren Vergewaltiger anzuklagen, bewahrt auch die Familie Jaschi im Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ die erlittenen Kata­ strophen in einem Teppich, bis es in der fünften Generation Niza, der Erzählerin, gelingt, den Geschichten hinter den Fäden und Mustern des Teppichs ihre Sprache zurück­ zugeben. Es gibt Mythen, die dem Menschen als Orientierung dienen und solche, die ihm schaden, ihn zerstören können. Zu den letzteren gehört der Mythos Stalin. Dass er mit dieser Geschichte entzaubert wird, auch das verdanken die Jaschis der Erzählerin. Wie fast im gesamten bishe­ rigen Werk Haratischwilis sind es Frauen, die im Zentrum des Geschehens stehen. Geleitet von ihrer kraftvollen, radikalen Weiblichkeit bestimmen sie den Fortgang der Geschichte; als ­Opfer wie als Täterinnen sind sie zugleich beklagensund bewundernswert. Bereits 2010 erschien der erste Roman, „Juja“. In der Hochzeit der Postdramatik sorgte dieser Gattungswechsel in der Szene für Befremden, für Haratischwili hingegen kam er einem Befreiungsschlag gleich: Mit weniger Auftragsarbeiten, weniger Vor-­ gaben seitens des Theaterbetriebs bot sich hier die Chance, „zusammenzusetzen, was auseinanderge­ fallen war“, wie sie es in ihrer Dankesrede zum BertoltBrecht-Literaturpreis 2018 formulierte. In eine Geschichte einzutauchen, als Autorin hinter den Figuren


THEATERSTÜCKE Z UA 25. Februar 2006, Thalia Theater, Hamburg, Regie Nino Haratischwili

DREI SEKUNDEN UA 10. November 2011, Kammerspiele im E-Werk Freiburg, Regie Grete Linz

LE PETIT MAÎTRE. EIN LIEBESSTÜCK UA 1. Juni 2007, Staatstheater Kassel, Regie Jette Steckel

WIR OHNE UNS UA 31 März 2012, Junges Schauspielhaus Hamburg, Regie Anne Bader

MEIN UND DEIN HERZ (MEDEIA) UA 24. Februar 2007, Kampnagel, Hamburg, Regie Nino Haratischwili

KOKORO UA 19. Mai 2012, Saarländisches Staatstheater, Saarbrücken, Regie Nino Haratischwili

GEORGIA UA 21. September 2007, Lichthof Theater, Hamburg, Regie Nino Haratischwili

ELEKTRAS KRIEG UA 9. September 2012, Junges Schauspielhaus Hamburg, Regie Klaus Schumacher

LIV STEIN UA 14. Februar 2009, Theater Heidelberg, Regie Nino Haratischwili

HERBST DER UNTERTANEN UA 11. April 2014, Lichthof Theater, Hamburg, Regie Nino Haratischwili

ALGIER UA 5. Juni 2009, Lichthof Theater, Hamburg, Regie Nino Haratischwili

DAS LAND DER ERSTEN DINGE UA 14./27. November 2014, Deutsches Theater, Berlin / Slovenske Narodne Divadlo Bratislava, Regie Brit Bartkowiak

DIE ZWEITE FRAU UA 9. Oktober 2009, monsun theater, Hamburg, Regie Nina Pichler SELMA, 13 UA 28. Juni 2008, Fleetstreet Hamburg, Theater­ akademie Hamburg, Regie Nina Mattenklotz ZORN UA 13. Februar 2010, Deutsches Theater Göttingen, Regie Felix Rothenhäusler RADIO UNIVERSE UA 7. April 2010, Kampnagel, Hamburg, Regie Nina Mattenklotz

SCHÖNHEIT UA 7. Oktober 2016, Oldenburgisches Staatstheater, Regie Isabel Osthues DIE NACHT AUS PAPIER UA 21. Januar 2017, Deutsches Theater, Berlin, Regie Jette Steckel DIE BARBAREN. MONOLOG FÜR EINE AUSLÄNDERIN UA 27. Januar 2017, Burgtheater Wien, Regie Barbara Frey LÖWENHERZEN UA 6. September 2020, Consol Theater, Gelsenkirchen, Regie Andrea Kramer

DAS JAHR VON MEINEM SCHLIMMSTEN GLÜCK UA 19. November 2010, Lichthof Theater, Hamburg, Regie Nino Haratischwili DAS LEBEN DER FISCHE UA 30. April 2011, Deutsches Theater Göttingen, Regie Nino Haratischwili

Vertreten durch den Verlag Felix Bloch Erben, Berlin, und den Verlag der Autoren, Frankfurt am Main.

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premieren

schauspiel SPIELZEIT 2020—21

PREMIERE | 12. SEPTEMBER 2020

DER STURM

VON WILLIAM SHAKESPEARE | FASSUNG VON JOACHIM LUX PREMIERE | 18. SEPTEMBER 2020

DER ZERBROCHNE KRUG VON HEINRICH VON KLEIST

DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG | 20. SEPTEMBER 2020

Z.B. PHILIP SEYMOUR HOFFMAN

VON RAFAEL SPREGELBURD | DEUTSCH VON KLAUS LAABS PREMIERENTERMIN WIRD NOCH ANGEKÜNDIGT

MEDEA

VON EURIPIDES | DEUTSCH VON HOLGER TESCHKE URAUFFÜHRUNG | 6. NOVEMBER 2020

WELCOME TO PARADISE LOST

VON FALK RICHTER | INSPIRIERT VON »DIE KONFERENZ DER VÖGEL« VON FARID UD-DIN ATTAR URAUFFÜHRUNG | 28. NOVEMBER 2020

DER GOLDENE SCHWANZ

EINE ASCHENPUTTEL-VARIANTE VON REBEKKA KRICHELDORF NACH DEN BRÜDERN GRIMM PREMIERE | 29. NOVEMBER 2020

KASIMIR UND KAROLINE VON ÖDÖN VON HORVÁTH

URAUFFÜHRUNG | 29. JANUAR 2021

DORIAN GRAY, HINTER DEN SPIEGELN VON THOMASPETER GOERGEN NACH OSCAR WILDE UND LEWIS CARROLL URAUFFÜHRUNG | 30. JANUAR 2021

PENSION SCHÖLLER

IN EINER FASSUNG VON THOMAS JONIGK – FREI NACH DEM LUSTSPIEL VON WILHELM JACOBY UND CARL LAUFS URAUFFÜHRUNG | 25. MÄRZ 2021

P(A)INOCCHIO

STÜCKENTWICKLUNG VON LILY SYKES NACH CARLO COLLODI UND WALT DISNEY URAUFFÜHRUNG | 12. MAI 2021

AKTION BEUYS

EIN JOSEPH BEUYS-PARCOURS DURCH WERK UND AUE ZU KASSEL AUS ANLASS SEINES 100. GEBURTSTAGS PREMIERE | 29. MAI 2021

HERAKLES

NACH EURIPIDES | FASSUNG VON JOHANNA WEHNER PREMIERE | OPEN-AIR SOMMERTHEATER | 19. JUNI 2021

DIE UNENDLICHE GESCHICHTE

VON MICHAEL ENDE | FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON THOMASPETER GOERGEN WWW.STAATSTHEATER-KASSEL.DE KARTEN:0561.1094-222

NINO HARATISCHWILI

­ einigungskraft osteuropäischer Herkunft. 1993 ist sie R als „Gastarbeiterin“ voller Hoffnung nach Deutschland gekommen, aber ihre Liebe für das neue Land, seine „Eingeborenen“ und seine Sprache wurde nicht erwidert. Und daher hat sie die große Hilfsbereitschaft, mit der 2015 die Flüchtlinge willkommen geheißen wurden, fassungslos gemacht. Aus dem anfänglichen Unverständnis ist Hass auf die „Barbaren“ geworden, wie sie die Geflüchteten nennt. In dieser bitterbösen Farce bleiben die Ressentiments und klischeelastigen Vorurteile unwidersprochen, und das Publikum ist eingeladen, den Sinn hinter dem Tabubruch selbst zu erkunden. Weiterhelfen kann eine Hommage Haratischwilis an den zwischen Expressionismus und Naturalismus angesiedelten Dichter Hans Henny Jahnn (FAZ, 7. April 2019). Tief beeindruckt von dessen Drama „Medea“ erklärte die Autorin: „Aus der Sicherheit heraus entsteht keine Kunst, kann keine Kunst entstehen. Wir – die auf der Bühne stehen und die, die unten im Zuschauerraum sitzen – müssen den Abgrund unter unseren Füßen spüren, denn nur so können wir uns vielleicht befreien. Jahnns ‚Medea‘ ist genau dieser Abgrund. Das Stück zwingt uns, in das Gesicht der Barbaren zu blicken, nämlich in unser eigenes.“ Lessing, Schiller, Brecht, im Namen dieser geistigen Giganten werden bedeutende Preise ausgelobt, und Haratischwili hat sie erhalten. 2017 war es zwar „nur“ das den Lessingpreis begleitende Stipendium, aber auch dessen Vergabe setzt Aufklärerisches voraus. „Theater … sollte dem vertrauen, was es kann, wenn es gelingt, den Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit, seiner Verletzlichkeit, in seiner Grausamkeit, in seiner Schönheit zu zeigen. Und zwar mit allen Sinnen.“ Dieses Credo hätte Schiller ebenso gefallen wie die Tatsache, dass der Urheberin 2019 der Schiller-Gedächt­ nispreis zuerkannt wurde. Am Namensgeber des zuvor erhaltenen Brecht-Literaturpreises, der die reflektierende Distanz zwischen Spieler und Figur, Handlung und Bühnensituation als konstitutiv für das (epische) Theater erklärt hatte, habe sie sich regelrecht abarbeiten müssen. Es waren vor allem die Parabeln und Lehrstücke des großen „Gegenspielers“, die ihr als Reibungsfläche dienten und sie darin bestärkten, ihren ganz eigenen künstlerischen Zugriff zu finden. Dass auch mit ihm die Veränderbarkeit der Welt reflektiert werden kann, davon zeugt beispielhaft das Ende von „Das achte Leben“, wenn die leeren Seiten „alle Brilkas dieser Welt“ einladen, am Entwurf einer zukünftigen Welt mitzuschreiben. Angetrieben vom eigenen Erleben, in alle Richtungen zu recherchieren und das Entdeckte zu benennen, damit es seinen Schrecken verliert, das ist im besten Sinn politisch und vor allem zutiefst ­humanistisch.


DER LÜCKENBAUER WOLFRAM HÖLL VON LENA SCHNEIDER

I Wenn Wolfram Höll anfängt zu schreiben, ist da zunächst ein Bild. Etwas, so nennt es Wolfram Höll, das durch einen hindurchgegangen ist. Für das man Filter war. Die ­Sache mit den Schildern zum Beispiel. Als er das erste Mal in Kanada war, im Vorfrühling, der Schnee fast weggeschmolzen, waren da überall Schilder an den Häusern: „A vendre“. Zu verkaufen. Eine ganze Stadt im Ausverkauf? Später erst erfuhr er den profanen Grund: Mietverträge kann man in Kanada nur einmal im Jahr lösen, alle am gleichen Tag. Die Schilder, Bilder eines Lebens auf Zeit, haben später Eingang in das Stück „Drei sind wir“ gefunden. Ein Text über ein Paar, das sich nach Kanada absetzt. Begleitet von ihrem Kind, an einem seltenen gene­ tischen Defekt erkrankt. Das Kind trägt den Namen der Jahreszeit, in der es geboren wurde, in der es sterben wird: Frühling. Am Anfang von „Drei sind wir“ steht eine Geburt, am Ende ein Tod. Oder ist es doch anders: Steht am Anfang der Tod und am Ende das Bewusstsein, dass das Leben weitergeht, weitergehen muss, auch wenn in ihm eine schmerzliche Lücke klafft? So oder so: Das Paar in „Drei sind wir“ ist nicht ­allein. Sie sind zu dritt. Bilden ein Beziehungsgewebe, dicht, aber porös. Scheinbar Bekanntes, Sprichwörtliches („familiäre Verstrickungen“) wird bei Wolfram Höll auf dem Papier in neuer Form Realität: als Ver­ strickung der Wörter. Das ist hochkomplex und doch völlig frei von jedem Ballast. Die Sprache von Wolfram

Höll ist leicht. Sie schwebt. Sie atmet. Als er den Mülheimer Dramatikerpreis für „Drei sind wir“ erhielt, sagte der Autor Patrick Savolainen in seiner Laudatio: Hölls Sprache zeigt sich, indem sie sich nicht zeigt. Dann wird es Winter das Jahr wird alt wird kalt im Winter sind da wir und er nur wir und er wir er im Winter II Das Motiv der Leerstelle zieht sich in verschiedensten Formen durch alle vier bisher erschienenen Theatertexte von Wolfram Höll – „Und dann“ (UA Schauspiel Leipzig 2013), „Vom Verschwinden vom ­Vater“(UA Theater Basel 2015), „Drei sind wir“ (UA Schauspiel Leipzig 2016) und „Disko“ (UA Schauspiel Leipzig 2019). Die Lückenhaftigkeit ist sogar ganz ­haptisch der erste Eindruck, wenn man seine Stücke liest. Da reißt das Weiß des Papiers zuweilen regelrechte Abgründe in den Text. Mal nur einen Tab lang als Atempausen, mal beherrscht sie als unbezwing­ bare, mitunter schrecklich beredte Stille ganze Seiten. Und so will es passend scheinen, dass auch ein

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Wolfram Höll. Foto Max Zerrahn

Das Kind, aus dessen Perspektive „Und dann“ erzählt wird, kann das, was mit der Mauer 1989 verloren ging, nicht beim Namen nennen, hat nur Fetzen dieser Vergangenheit zur Hand, die es nicht einzuordnen weiß. Plattenbauten, blaue Halstücher, Panzerparaden blinken im Text auf – Letztere als unhandliches, unverdautes Wortungetüm: „Panzerparadenlangenstraßenparade“. Eine Mutter gibt es nicht – oder vielmehr: nur als Projektion. Der Vater tüftelt an einem Projektor, der alte Familienaufnahmen auf einem Super-8Film auf die Wand des gegenüber­ liegenden Plattenbaus wirft. Dort ­erscheint dann die Mutter, jeden Abend. Sie ist / immer gleich und doch / verschieden / sie ist / wie in unserer Erinnerung / sie ist / unsere Erinnerung. III „Und dann“ ist ein Stück über Trauer, ohne dass das Wort einmal fallen müsste. Dennoch, oder gerade ­deswegen, ist es ein Text, der ungemein traurig macht. Man meint, die Leerstellen – den sich im Zimmer verschließenden Vater, die abwesende Mutter, den politischen Kontext, in dem die Paradenstraßen einst ihre Aufgabe hatten – beinahe körperlich selbst zu spüren. So unmittelbar, wie es sonst eher Musik vermag. „Und dann“ schafft ein Gefühl, ohne es zu nennen. Über Rhythmus. Die Texte von Wolfram Höll lesen sich ein wenig wie Orchesterstücke. Die Sprechenden stehen auf dem Papier nebeneinander: Man hat es immer mit mehreren

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WOLFRAM HÖLL

­ espräch mit Wolfgang Höll in Zeiten der Corona­ G pandemie eine Lücke aufweist: Der Autor bleibt unsichtbar. Er geht zum Gespräch spazieren. Skype bleibt ohne Bild, der Autor bleibt Klang. Dass Wolfram Höll, geboren 1986 in Leipzig, heute im schweizerischen Biel lebt, kann als Zufall gelten. Hier studierte er Litera­risches Schreiben, fand einen Job als Regisseur und Dramaturg beim Schweizer Radio. Seine Eltern waren beide Philosophen, Bücher „ex­ trem präsent“. Die Großeltern wiederum hatten nicht studiert. „Bei uns stand auch kein Klavier rum, keine Geige.“ Was er aber mitbekam: „Ein textpositives Verhalten.“ Kein bürgerlicher oder gar großbürgerlicher Kontext; eine DDR-Biografie. Die Familie lebte im Plattenbau. Schon der Text, mit dem Wolfram Höll sich einen Namen machte, trägt eine Leerstelle im Namen. „Und dann“. Ja, was dann? Das Stück wurde 2012 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen und 2014 mit dem Mülheimer Theaterpreis ausgezeichnet. Die Lücken, die der Text umreißt, haben viele Formen. Eine hat die Größe des Landes, in dem Wolfram Höll geboren wurde. „Und dann“ listet unter den Figuren – neben einem Vater, zwei Kindern und vier Plattenbauten – „eine Mauer, die keine mehr ist“. Auch „Und dann“ hatte mit einem Bild begonnen: drei Findlinge im Hof der Plattenbausiedlung, wo er als Kind lebte. In „Und dann“ werden die Steine zur Chiffre für Verlust. Keine Findlinge – „Verlierlinge“.


Stimmen parallel zu tun. In „Und dann“ sind es bis zu sechs, in „Disko“ acht. Partituren? „Für mich hat das auch viel mit Auf- und Abtritten zu tun“, sagt er. „Nicht unbedingt nur mit einer zeitlichen Abfolge wie in Partituren.“ Das Papier als Raum. Und Wolfram Höll betritt diesen Raum mit Bedacht. Kein Wort, keine Silbe zu viel. Dabei hilft ihm die Schreibmaschine, auf der er seine Texte schreibt. „Man geht anders mit dem Papier um, mit der Aufteilung des Papiers. Man ist konzen­ trierter dabei, schreibt nichts einfach so hin.“ Als Wolfram Höll anfing, Theatertexte zu schreiben, wollte er schreiben wie Botho Strauß. „Was nicht funktioniert hat.“ Dennoch wurde er mit einem straußhaften Text am Literaturinstitut in Biel angenommen. Das erstaunt ihn noch heute. Ausgerechnet Strauß’ verplauderte „Trilogie des Wiedersehens“ nennt er neben den Klassikern von Tschechow, Büchner und Shakespeare als prägendes Leseerlebnis. Dass aus Wolfram Höll ein Minimalist und kein Strauß-Exeget geworden ist, liegt auch an dem kanadischen Autor Daniel Danis. Bei Danis wollte er Dialoge schreiben lernen, stattdessen sagte der ihm: „Mach erst mal das, was du wirklich kannst, dann sehen wir weiter.“ Und Wolfram Höll kann nicht realistisch. Er kann ­musikalisch. Weil die Form von Hölls Texten so deutlich anders ist als die konventioneller Stücke, wurden sie oft miss-

THEATERSTÜCKE UND DANN UA 4. Oktober 2013, Schauspiel Leipzig, Regie Claudia Bauer VOM VERSCHWINDEN VOM VATER UA 7. Mai 2015, Theater Basel, Regie Antje Schupp DREI SIND WIR UA 20. Februar 2016, Schauspiel Leipzig, Regie Thirza Bruncken DISKO UA 9. Februar 2019, Schauspiel Leipzig, Regie Ivan Panteleev NEBRASKA UA 15. Mai 2021, Theater Oberhausen, Regie Elsa-Sophie Jach Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

WORTE SIND HIER TEILS NUR SILBEN, SIND LAUTE. BUMS. TSCHICK. KLATSCH. BAM. LA. DA. DADA. WORTFETZEN WIE NICHT ENDEN WOLLENDE SCHLÄGE. verstanden. „Und dann“ erhielt 2012 den Hörspielpreis – was ihn zunächst „ein bisschen beleidigt hat“. Denn: „Ich schreibe dafür, dass Kostüme, Bühne, Licht dazukommen. Dafür lasse ich extra Platz.“ Das Theater gefällt ihm ja gerade wegen seiner Lückenhaftigkeit: weil der Text nur durch Schauspieler, Zuschauer, Regie vollständig wird. Je deutlicher die Regiehandschrift, desto besser. Nicht oft finden Theater überhaupt den Mut zu seinen Texten. „Und dann“ und „Drei sind wir“ wurden nach den Uraufführungen zweimal nachgespielt. Die anderen Stücke warten noch. IV 2019 wurde „Disko“ uraufgeführt. Eine Zäsur. Hierin geht Wolfram Höll in der Form noch einen wesentlichen Schritt weiter. Sprache ist hier Rhythmus pur – und performt so den Titel: die Beats einer „Disko“. Neben die acht Spalten für die Sprecher tritt auf dem Papier ein Grundbeat, der in Dauerschleife von eins bis acht zählt. Worte sind hier teils nur Silben, sind Laute. Bums. Tschick. Klatsch. Bam. La. Da. Dada. Wortfetzen wie nicht enden wollende Schläge. Man muss den Text auf der Bühne sehen, um die Dialoge herauszuhören. Größ­ tenteils ist der Effekt beim Lesen: Hier wummt, prasselt, hackt Sprache ineinander. Die hier sprechen – Single, Helferin, besorgter Bürger, Flüchtling etc. – sprechen meist nicht miteinander. Und doch im selben Takt. Selten dringt, was sie sagen, zu den anderen durch. Und doch bilden sie einen Chor, nein: einen Sound. Disko-Sound. Natürlich ist „Disko“ kein Party-Stück. Dafür sorgt schon die Ausgangssituation, unverhohlenes Bild für die zweigeteilte „Wir schaffen das“-Gesellschaft nach 2015. Drinnen Tanzende, die sich amüsieren. Draußen

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Pegida-Quatsch.“ In der Reflexion über Pegida und AfD hat er eine Lücke ausgemacht, die ihn umtreibt. „Es gibt eine Diskursebene, die ist das Dafür oder Dagegen, da haben mir verschiedene Positionen gefehlt. Natürlich ist das Bild des besorgten Bürgers nur eine Verhüllung von plumpem Rassismus – aber mir hat eine Autorenkollegin aus Leipzig mal gesagt, dass sie sich als Frau auf der Straße jetzt anders fühlt als zuvor. So eine ganz konkrete Beschreibung hat in dem momentanen Pro und Contra keinen Platz. So etwas müsste sagbar sein.“ „Disko“ also als der Versuch, jenseits eigener politischer Überzeugungen diese Grauzonen im Diskurs um „die Flüchtlingskrise“ wieder sichtbar zu machen. Das Single Helferin Besorgter Bürger Neona Dazwischen. Das Aber. Das Resultat: eine Sprache, wie Du musst Bums von Stroboskoplicht durchsetzt. Und am Schluss meldet sich der Autor selbst zu Wort, spannt einen Bogen nicht Bums Tschick von 1989 zu Pegida und AfD, zu dem „Blödsinn von Volksverrätern und Lügenpresse“. flie- Bums Eine Facette, die in den anderen Stücken so nicht zu spüren war und auch im Skype-Gespräch hier hen Bums Tschick das erste Mal aufflammt: Ungeduld, sogar Zorn. Die Pegida-Demonstranten, die für sich in Anspruch Ich weiß Bums nehmen, die Tradition der Montagsdemonstrationen von 1989 fortzuführen, sie machen Wolfram Höll was du durch- Bums Tschick wütend. Er weiß, dass dieser Zorn angesichts seiner eigenen privilegierten Situation (er lebt in der echten gemacht Bums Schweiz, nicht der Sächsischen, hat eine Festanstel lung) nicht unbedingt gerecht ist. Aber muss er das hast Bums Tschick als Künstler sein? „Was mir bei dem AfD- und Höcke Thema aufstößt, ist, dass man es sich in der ostdeutEine ein- Bums schen Opfermentalität gemütlich macht. Wenn sich das umschlägt in Aussagen wie ‚Merkel ist ein Volkszige Be- Bums Tschick verräter‘, da raste ich innerlich aus. Man muss sich schon daran halten, dass es bestimmte demokratische rüh- Bums Grundregeln gibt. Angesichts der hart erkämpften Rechte, angesichts dessen, dass in der DDR Leute rung Bums Tschick für die Demokratie im Gefängnis saßen, ist das ex trem bitter.“ und du Bums Vom melancholischen, retrospektiven Sound von „Und dann“ zu der pulsierenden Ungeduld von „Disko“ – bist Bums Tschick ein weiter Sprung. Hat sich da etwas verändert, jenseits der Form? Statt großer Zartheit Einzelnen gegenüber frei Bums ein umfassender, auch verhärteter Blick aufs Ganze, die Gesellschaft? Plausibel, bremst Wolfram Höll. Und V „verhärtet“ will er nicht gelten lassen. „Disko“ sei mehrWenn ein Text von Wolfram Höll aufhört, ist da ein Klang. stimmiger als die anderen Stücke, natürlich. FragmenBei „Disko“ ist es dieser verstörend kühle Bumstierter, ja. Flapsiger. Tschick-Sound, in dem die Sprecher gefangen sind. Er hat schon überlegt, zurückzuziehen, sagt Wolfram Höll noch, im Hintergrund hört man schon Auf dem Papier ist das ein Flickenteppich mit riesigen Löchern. Zerflatternde Einzelteile. Als Wolfram Höll die Wohnungsschlüssel. Zurück nach Leipzig, Pegidaschon an dem House-Prinzip arbeitete, kam beim Land. Weil da etwas passiert, wo er sich einbringen Schreiben noch das andere Element hinzu: „Der ganze könnte. Nein, er sagt nicht „könnte“. Müsste.

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WOLFRAM HÖLL

welche, die reinwollen: Flüchtlinge. Dazwischen eine Türsteherin. Eine Grenze, die sich einen Moment lang öffnen und dann wieder schließen wird. „Disko“ ist für die Diskothek entstanden, eine Spielstätte des Schauspiels Leipzig. Die Idee für die Form trug Wolfram Höll schon lange mit sich herum: Wie ließe sich der Rhythmus von House-Musik in das Schreiben übersetzen? Was sich auf dem Papier sperrig, geradezu unmöglich liest, ist als Prinzip einfach: Alle vier oder acht Takte kommt ein Element dazu oder eines geht weg. Am Schluss dankt der Autor seinen Quellen: Daft Punk, Justice, Animal Collective, The Weeknd, Kylie Minogue.


PREMIEREN/WIEDERAUFNAHMEN BIS DEZEMBER 2020 SCHAUSPIEL

TANZ

Schäfchen im Trockenen Anke Stelling // Nina Mattenklotz Premiere 29. August 2020, Kleines Haus

Spektrum Máté Mészáros / Unusual Symptoms Wiederaufnahme 22. Oktober 2020, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

JUNGE AKTEUR*INNEN

Woyzeck Georg Büchner / Tom Waits // Klaus Schumacher Wiederaufnahme 5. September 2020, Theater am Goetheplatz

Like a virgin Ein Schmusical / 12+ Nathalie Forstman / Christiane Renziehausen / Thorsten zum Felde Premiere Oktober 2020

SCHAUSPIEL

Trüffel Trüffel Trüffel Eugène Labiche // Felix Rothenhäusler Premiere 12. September 2020, Theater am Goetheplatz

SCHAUSPIEL

Mutter Vater Land Akın Emanuel Şipal // Frank Abt Premiere 5. November 2020, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

In Bed with Madonna Ein Liederabend von Anne Sophie Domenz und Maartje Teussink Wiederaufnahme 17. September 2020, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

düsterer spatz am meer/hybrid (america) Fritz Kater // Armin Petras Premiere 26. September 2020, Theater am Goetheplatz MUSIKTHEATER

Die menschliche Stimme Francis Poulenc // Vivien Hohnholz Premiere 1. Oktober 2020, Theater am Goetheplatz MOKS

C0N5P1R4.CY [Keine Zufälle] von Konradin Kunze und Ensemble / 14+ Premiere 3. Oktober 2020, Brauhaus

MUSIKTHEATER

Papageno erfindet die Zauberflöte Eine kleine Fassung einer großen Oper Wolfgang Amadeus Mozart // Killian Farrell / Michael Talke Premiere 7. November 2020, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

Die Marquise von O. ... – Faster Pussycat! Kill! Kill! Enis Maci // Elsa Jach Premiere 20. November 2020, Kleines Haus SCHAUSPIEL

Ronja Räubertochter Astrid Lindgren // Klaus Schumacher Premiere 22. November 2020, Theater am Goetheplatz MOKS

Das Fundstück Ein begehbares Hörspiel vom Moks-Ensemble / 8+ Premiere November 2020, Brauhauskeller

TANZ

Futuralgia Núria Guiu Sagarra / Unusual Symptoms Premiere 10. Oktober 2020, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

Moby Dick Herman Melville // Alize Zandwik Premiere 5. Dezember 2020, Kleines Haus

TANZRAUM NORD

Momentum Zero Of Curious Nature / Helge Letonja Premiere 16. Oktober 2020, Kleines Haus MUSIKTHEATER / SCHAUSPIEL

Imagine Ein John Lennon-Liederabend von Yoel Gamzou und Tom Ryser Premiere 17. Oktober 2020, Theater am Goetheplatz

MUSIKTHEATER – HALB-SZENISCH

Die Italienerin in Algier / L’italiana in Algeri Gioacchino Rossini // Alice Meregaglia / Martin G. Berger Premiere 11. Dezember 2020, Theater am Goetheplatz


Wi haben Wir da mal was vorbereitet vor reit

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WER HAT ANGST VOR OLIVER KLUCK VON ERIK ZIELKE

Vielleicht ist das alles ein Missverständnis. Oliver Kluck, der bad boy des Theaterbetriebs: der schwierige Typ, der Mann, der seinen Verlag im Stich gelassen hat, der aufbegehrt hat gegen die Bearbeitung seiner Texte, der Nestbeschmutzer. Oliver Kluck, der Exot: der ostdeutsche Schreiberling, der proletarische Autor, der junge Mann von ganz unten, der nur durch die Kunst resozialisiert, ja gerettet wurde. Welche Selbstüberschätzung des Theaters, welche Geringschätzung einer Künstlerpersönlichkeit. Ein sehr grundlegendes Missverständnis besteht darin, überhaupt anzunehmen, Werk und Autor wären untrennbar miteinander verwoben. Im Fall von Kluck tritt nicht der Künstler hinter sein Kunstwerk zurück, sondern – im Gegenteil – das Kunstwerk verschwindet hinter dem Künstler: Das Leben selbst wird zum Kunstwerk. Zweifelsohne gelingt es einigen in Selbstvermarktung geübteren Schriftstellern, die Oberhand bei der Inszenierung des eigenen Künstlerdaseins zu behalten. Aber schnell kann man auch zum Opfer des entstandenen Bildes werden, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Schon nach seinen frühen Erfolgen seit 2009 – dazu zählen Uraufführungen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Burgtheater Wien und am Maxim Gorki Theater in Berlin, aber auch Auszeichnungen, etwa mit dem Förderpreis für junge Dramatik des Berliner Stücke­markts und dem Kleist-Förderpreis – wurde im Theater- und Medienbetrieb ein prägnantes Bild von Kluck konstruiert: das eines aus der Reihe fallenden,

irgendwie anarchischen Künstlers. Mehrfach gab es den Vergleich mit Thomas Bernhard – wodurch bei einem sogenannten Nachwuchsdramatiker ein gehöriges Maß an Erwartungsdruck aufgebaut worden sein dürfte. Wurde über Kluck berichtet, war die Rede vom „Beschwerdebriefautor“, vom wütenden Schriftsteller. Wut? Das greift zu kurz. Allein der Gedanke, ein abendfüllendes Theaterstück wäre einem einzigen emotionalen Affekt gefolgt, hat nicht viel mit dem zu tun, wie sich literarisches Schreiben tatsächlich ereignet. ­Darüber hinaus ignoriert er, dass Kluck ein feiner Beobachter ist, der Umgang mit seinen Figuren auch liebevolle, in jedem Fall aber überaus aufmerksame Züge trägt. Nicht zuletzt will zu dem Bild des wütenden ­Autors mit seinen wutgeladenen Texten nicht passen, dass Humor, der kein bloßer Spott ist, ein wichtiges Element der Kluck’schen Stücke ist. Ein weiteres Missverständnis liegt in der etwas banalen Annahme, aus Oliver Klucks Textwerkstatt kämen allenthalben autobiografische Texte, die dem geneigten Theaterpublikum „authentische“ Lebenseindrücke aus einer erfrischend fremden Welt vermitteln würden. Es gelingt Kluck durchaus, mit seinen Stücken dem bildungsbürgerlichen Theaterpublikum den Spiegel vorzuhalten. Erstaunlicherweise bedienen sie aber auch ein voyeuristisches Interesse an den ­Deklassierten, die dem Theater eher fernbleiben. Tritt in den Theatertexten ein Autor auf, wird Kluck selbst ­dahinter vermutet. Und mehr noch: Wird – wie in dem 2013 am Schauspiel Frankfurt uraufgeführten Stück

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Oliver Kluck. Foto Anne Krauß

Aber was sind das für Texte, die Kluck schreibt? Sie alle zeichnen sich durch ein hohes Tempo und klaren Sprachwitz aus. Verschiedene Motive und Gedankenfetzen fügen sich zu einem Ganzen. Wenn von einer Stückhandlung überhaupt die Rede sein kann, so bleibt diese doch rudimentär. Am ehesten kann von Textflächen die Rede sein, wobei sich mit den Jahren des Schreibens allmählich deutlicher bestimmbare Figuren abzeichnen. Dass in mehreren Stücken auch der Figurenname Ich auftaucht, ist kein Zufall: Kluck bedient sich reichlich aus seinem Umfeld. Er beobachtet und imitiert. Dabei versteht er es, Töne gekonnt abzunehmen. Das Zitat ist sein Mittel. Anders als zahlreiche Kollegen, die die Klassiker, die Popkultur oder Theoretiker zitieren, machen Klucks Texte den Eindruck, alltäglichen Begegnungen abgelauscht zu sein. Zwischen Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig, Kulturkauderwelsch, ­Party-Small-Talk und Mittagspausenkonversationen entspinnen sich Stücke. Roland Schimmelpfennig hat über Klucks „Das Prinzip Meese“ geurteilt: „Ein Text, beim besten Willen nicht zusammenfassbar, schnell, wütend, witzig, verzweifelt.“ Man kann sich sicher darüber streiten, ob Zusammenfassbarkeit überhaupt eine taugliche Kategorie für künstlerische Arbeiten darstellt. Um sich Klucks Schreiben anzunähern, ist ein Blick auf wie­ derkehrende Themen jedenfalls aufschlussreicher. Da wäre zum Beispiel das Motiv der Arbeit, dem sich

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OLIVER KLUCK

„was zu sagen wäre warum“ – nicht nur ein Dramatiker zur Bühnenfigur, sondern auch dessen Vater, nehmen die Mutmaßungen über das vermeintlich „Echte“ hinter dem Kunstwerk überhand. So gleicht die Betrachtungsweise eines Theaterabends plötzlich der einer Fernseh-Talkshow. Klucks Herkunft wurde zum dominierenden Thema der Berichterstattung, das Theater hatte in ihm eine „Marke“ gefunden. Dabei ist er ein kluger Autor, der sein Material literarisch zu bearbeiten und zu verdichten weiß. Anders als die ­Romanessays aus Frankreich, die in den vergangenen Jahren auch hierzulande großen Erfolg hatten und denen ein befreiender, gleichfalls irritierender Exhibitionismus eigen ist, findet er künstlerische Übersetzungen, die einen Abstand zu ihrem Gegenstand erfordern. Das letzte Missverständnis, von dem hier die Rede sein soll, ist schnell widerlegt: Mitunter wird Oliver Kluck als Verweigerer betrachtet, als jemand, der Widerstand gegen das Theater leistet. Aber wie sollte das gehen? Er geht manchmal hart mit dem Theater ins Gericht und doch ist auch das bissigste Theaterstück schließlich nur Literatur und damit vergleichsweise harmlos. Die einzige Art und Weise, dem Theater ein Schnippchen zu schlagen, wäre es, sich ihm zu entziehen. Aber Kluck – Stückauftrag hin oder her – liefert ihm unaufhörlich Material. Er ist ein obsessiver Textarbeiter, der gar nicht anders kann, als jedes vermeintlich abgeschlossene Stück durch ein neues fortzusetzen.


der Autor in verschiedener Weise angenommen hat. Sein Stück „Warteraum Zukunft“, durch die Regisseurin Alice Buddeberg im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen 2010 uraufgeführt und seitdem mehrfach nachgespielt, zeigt die Absurdität des Angestelltendaseins, die Armseligkeit kleinbürgerlicher Existenz, den vermeintlichen Aufstieg. „ja und ich möchte Ihnen sagen, dass Sie für mich zu den Innovativkadern ge­ hören, zu den Mitarbeitern, die unser Unternehmen voranbringen / aber mir gehört doch hier gar nichts.“ Überhaupt gilt Klucks Interesse denjenigen, die den vorbestimmten Weg verlassen, gewissermaßen ihre Herkunft abzulegen versuchen. Er selbst verwendet gern den Begriff „Schichtenmigrant“. „Männer Frauen Arbeit“, als Auftragsarbeit für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg entstanden und dort 2012 zur Uraufführung gebracht, macht unter anderem den Irrsinn der Neubewertung sogenannter ostdeutscher Arbeitsbiografien nach der sogenannten Wende deutlich: „Nicht wenige hatten sich in hochwertige Landesteile abgesetzt, die ersten kommen nun zurück. Von Missverständnissen ist die Rede, von allgemeinen Neuordnungsprozessen, von besonderen Situationen, die keiner habe voraussehen können.“ Im schon erwähnten Stück „Das Prinzip Meese“, für dessen Uraufführung 2010 am Berliner Maxim Gorki Theater Antú Romero Nunes verantwortlich zeichnete, gelingt Kluck das Porträt einer Generation, die Schluss machen will mit der Arbeitsfixiertheit, die nach einem Ausweg sucht, sich verweigert. Thomas-BernhardLektüre statt Überstundenwahnsinn: „Hör mal zu, ­sagte ich zu meiner Thomas Bernhard Leserin irgendwann, da sagt doch diese Sau von Arbeitsminister glatt, dass im Jahre zweitausendfünfzehn Vollbeschäftigung in Deutschland sein soll, dass dann niemand mehr länger als ein Jahr arbeitslos sei. Fürchterlich, sagte die auf meinem Schoß sitzende Thomas Bernhard Leserin, dann können wir ja gar nicht hier am Dienstag-

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vormittag dreizehn Uhr zusammen sein und Thomas Bernhard lesen.“ Ist die Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt für Kluck ohnehin zentrales Thema seines Schaffens, ist es der Schriftstellerberuf insbesondere. Schlicht einen „Anachronismus“ nennt er ihn in „Der Hund des alten Mannes“: „Es sei ja überhaupt nicht mehr zeitgemäß, wie Autoren heutzutage arbeiten. Völlig intransparent sei die Arbeitsweise von Autoren. Gar nicht zu kontrollieren und auf ihren betriebswirtschaftlichen Gehalt zu überprüfen.“ Was die Figurenstimme im Text anachronistisch nennt, das kann man auch als bewährt, er­haltenswert, vielleicht sogar zukunftsweisend bezeichnen. Im selben Stück tritt der titelgebende Hund mit den „morschen Knochen“ von Bertolt Brecht, längst begraben, in Kontakt und erklärt ihm, wie noch lange nach seinem Tod von ihm Gebrauch gemacht wird. Indem Kluck tatsächlich das eigene Schreiben thematisiert wie auch den Versuch, als Schreibender zu überleben, kommt er Brechts Forderung nach Offenlegung der Theatermittel recht nahe. Auch Bernhard taucht mehrmals in Klucks Texten auf. Und schließlich ist da noch die große Auseinandersetzung mit Gerhart Hauptmann in „Baader Panik“, das bisher noch nicht im Theater gegeben wurde, aber durch Leonhard Koppelmann 2019 eine prämierte Realisierung als Hörspiel erfahren hat. Die Figur Hauptmann dekonstruiert nach und nach den Autor Hauptmann – und auch er muss sich die Frage stellen: „Wie viele Leute leben noch heute von meiner Kunst?“ Klucks Stücke kreisen um die Unmöglichkeit, in einer bürgerlichen Gesellschaft als Schriftsteller einen festen Platz zu finden, um die Position zwischen allen Stühlen. Sein Stück „was zu sagen wäre warum“ lässt er mit dem Wortwechsel enden: „ein Künstler, hört! Kann man denn davon leben?“ – „das sollte man auch mal einen Rechtsanwalt fragen, einen Kaufmann oder einen Kulturfunktionär.“ Das sollte man.

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THEATERSTÜCKE ZUM PARTEITAG BANANEN UA 3. Oktober 2009, Theater Chemnitz, Regie Max Claessen

DER UNTERGANG DES HAUSES WUPPERTAAL UA 12. Februar 2012, Schauspielhaus Graz, Regie Christina Rast

DAS PRINZIP MEESE UA 8. Februar 2010, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Antú Romero Nunes

MEIN NAME IST PROGRAMM UA 13. April 2012, Schauspielhaus Graz, Regie Christina Rast

WARTERAUM ZUKUNFT UA 18. Mai 2010, Ruhrfestspiele Recklinghausen / Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie Alice Buddeberg

MÄNNER FRAUEN ARBEIT UA 7. Dezember 2012, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie Markus Heinzelmann WAS ZU SAGEN WÄRE WARUM UA 8. Mai 2013, Schauspiel Frankfurt, Regie Alice Buddeberg

KLUCK-LABOR I UA 16. Oktober 2010, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie Claudia Meyer

FEUER MIT MIR UA 18. Februar 2011, Theater Chemnitz, Regie Max Claessen

DER HUND DES ALTEN MANNES UA 8. Mai 2014, Theater Rampe, Stuttgart, Regie Marie Bues

KLUCK-LABOR III UA 8. April 2011, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie Claudia Meyer

BAADER PANIK frei zur UA

KLUCK-LABOR IV UA 6. Mai 2011, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie Claudia Meyer DER WIEDERAUFBAU DES HAIDER-DENKMALS UA 15. Oktober 2011, Schauspielhaus Graz, Regie Christina Rast ÜBER DIE MÖGLICHKEITEN DER PUNKBEWEGUNG ZUR GESTALTUNG DES REGIONALEN STADTRAUMS UA 18. November 2011, Volkstheater Rostock, Regie Sonja Hilberger DIE FROSCHFOTZENLEDERFABRIK UA 21. Dezember 2011, Burgtheater Wien, Regie Anna Bergmann LEBEN UND ERBEN UA 7. Januar 2012, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie Dominique Schnizer

Vertreten durch den Verlag Felix Bloch Erben, Berlin.

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OLIVER KLUCK

DAS SCHEISSLEBEN MEINES VATERS, DAS SCHEISSLEBEN MEINER MUTTER UND MEINE EIGENE SCHEISSJUGEND UA 30. April 2014 Schauspielhaus Graz, Regie Christina Rast

KLUCK-LABOR II UA 12. November 2010, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie Claudia Meyer


ICH SUCHE KEINE LÖSUNG ICH SUCHE PROBLEME THOMAS KÖCK VON ANJA NIODUSCHEWSKI Wer wird er gewesen sein werden, dieser Thomas Köck? Anders darf man die Frage nicht stellen bei einem ­Autor, dessen Zugriff auf die Gegenwart grundsätzlich im Futur II stattfindet. Der sich in seinen Texten moralisch und politisch „aus einer immer schon vergangenen zukunft“ zum Erben dieser Gegenwart macht. Nicht weil diese so schön wäre. Eher das Gegenteil. „i inhereted a mess“, heißt es in seinem Stück „die zukunft reicht uns nicht! (klagt, kinder, klagt)“, „wir werden gewusst haben dass die katastrophe vor uns gelegen haben wird“ in „paradies fluten (verirrte sinfonie)“, dem ersten Teil seiner Klimatrilogie. Der Zustand der Welt sei eine Schweinerei. Deshalb impft Thomas Köck unserer geschichtsvergessenen, utopielosen Gegenwart mit seinen Theaterstücken unermüdlich das Bewusstsein ein: dass Geschichte immer gerade stattfindet – und leider mal wieder nur vom Kapitalismus (alternativ: Nationalismus) geschrieben wird. Seine Texte durchbrechen dieses Dilemma, in historischen Analogien und Genealogien katapultieren sie sich heraus aus der politischen Lähmung, folgen großen erzählerischen Bögen. Indem sie geschichtsphilosophische Zeitdiagnose in beredte Sprachbilder setzen, werden für seine Protagonisten deren Metaphern, wird Ideengeschichte bewohnbar, können umgekehrt auch Begriffe, Konzepte oder Gegenstände zu handelnden Figuren werden. Diese lyrische Durchlässigkeit ist der Möglichkeitsraum, in dem für Köck die Gegenwart verhandelbar wird. Sein Schreiben ist zudem ein wütendes Dagegenanschreiben, Schimpfen, Verfluchen, eine

­Attacke. Seine Kritik an neoliberaler ökonomischer Ausbeutung und Entpolitisierung schreibt sich durch fast alle seiner Stücke fort, die – analog einer Regieanweisung im zweiten Teil seiner Klimatrilo­gie – durchaus als ein fortlaufender „gescheiterter monolog“ dieses Autors gelesen werden können. Fast wie eine dramatische Umsetzung des Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Satzes „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ hat Köck in seinem aktuellen, „verschollenen“ vierten Teil der Klimatrilogie, dem L ­ ibrettofragment „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ diese Welt schon mal von einer Singula­rität in Form eines kubrickhaften, kugelförmigen, schwarzen Objekts verschlucken lassen. Apokalypse war ursprünglich – lange bevor jemand für seine sozialpolitische Utopie ans Kreuz genagelt wurde und jemand anderes deshalb von vier Reitern faselte – eine Gattungsbezeichnung für Texte, die auf unterschiedliche Weisen das Ende der Welt kommen sahen. In diesem Sinne sollte sie als Gattungsbezeichnung für Köcks eschatologische Abgesänge wieder herangezogen werden – mit der Besonderheit, dass er seit seinem ersten Stück „jenseits von fukuyama“ (2014) eher kein Ende sieht, sondern den nicht enden wollenden Stillstand auf dem „horizontlosen Plateau der Spätmoderne“ kritisiert oder, wie es in dem Stück heißt, das „ewige Wiederkäuen der Utopielosigkeit“. Nicht nur weil Francis Fukuyama 1992 das Ende der Geschichte verkündet hatte, beschränkte sich der ­Ereignishorizont eines nun post-ideologischen, schließ­

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Thomas Köck. Foto Max Zerrahn

das von den historischen ­Sedimentschichten reflektiert wird oder sie aufwirbelt: „quality time / mit den toten aller sorten“. Es ist auch eine Heimsuchung durch Gespenster. Eine Recherche. Er ist ein verzweifelter homo histo­ricus mit „dem glauben in die / vollumfängliche veränderung der welt / anhand der spuren der vergangenheit“. Diese Spuren sind für Köck Risse, Narben, blinde Flecken und die Gräben, Grenzen, die die Ismen in Ko-Union mit dem Kapital gezogen haben. An diesen Wundrändern entlang erzählt er paradig­ matisch seine Klima­trilogie: von ökonomischer Akzeleration, vom Raubbau an Natur und sozialen Strukturen, von der neoliberalen Konditionierung, mit der wir uns freiwillig in Selbstausbeutung und Identitätsfragen verausgaben – und das leider als indi­ viduelle Freiheit miss­verstehen. In „paradies fluten (verirrte ­Sinfonie)“ (2016) schließt er deshalb die imperialistische Frühphase der Globalisierung, die kolonialistische Ausbeutung der indigenen Bevölkerung und der Natur im Amazonasgebiet beim Kautschukabbau, mit deren neoliberaler Endphase heute kurz, und mit jener neuen Spielart der Selbstausbeutung, die er in kurzen Tableaux vivants einer westeuropäischen Familie einfängt, in der jeder für sich mit seinen Träumen mittelständischer oder künstlerischer Selbstständigkeit scheitert. Hallo Theaterprekariat. Mit apokalyptischem Gestus und lyrisch evokatorischer Sprache setzt er hier eine „unruhige materialflut“ in Gang, in der die Begriffe, Werte, Märkte

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THOMAS KÖCK

lich post-politischen, neoliberal durchökonomisierten 21. Jahrhunderts auf die Verwaltung der Agonie, gegen die ein in den noch hoffnungsvollen 1990er Jahren aufgewachsener Thomas Köck hier anschrieb. „Was jetzt passiert, ist die totale Besetzung mit Gegenwart … Die Auslöschung von Vergangenheit, von Erinnerung. Die Aus­löschung der Erwartung, von Zukunft. Das ganze ökonomische Potenzial geht auf Besetzung mit Gegenwart. – Und an der Stelle wird das Theater, wird die Kunst wieder wichtig.“ Diese Sätze Heiner ­Müllers in einem Gespräch mit dem nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka im Jahr 1990 können wie das Programm gelesen werden, mit dem Thomas Köck seine Stücke verfasst. Er schreibt der Gegenwart die Vergangenheit unmittelbar wieder in ihren Text ein und spannt die historischen Kausalketten dabei um den ganzen Globus. Wo Heiner Müller noch einen Fahrstuhl brauchte, um von der Französischen Revolution nach Peru zu gelangen, reicht Köck ein Zeilensprung: „in kollisionen von bildern / oder / von geschichten … verschneidungen / montagen / überlagerungen / collagen / überblendungen / übermalungen / rekompositionen“, wie er es in seiner ­Hamburger Poetikvorlesung 2019 formulierte, die, wie seine Theatertexte stark rhythmisiert ihrem Sound und einem lyrischen Text­ verständnis folgend, sich selbst nachlauschte. Köck hängt sich dafür wie ein Echolot in die Geschichte. Sein lautes Denken ist das Signal, das er aussendet,


und Sperrmüll treiben und so Klima­katastrophe und politische Endzeitstimmung in eins gesetzt werden. Im zweiten Teil „paradies hungern“ (2015) folgt er für nur wenige Stunden drei vereinzelten Menschen, die es nach sozialen Maßstäben eigentlich geschafft ­haben – von der Peripherie ins Stadtzentrum, in eine „aufsteigerwohnung“, als erfolgreiche Kriegs­bericht­ erstatterin –, aber dennoch mit dem Gefühl geschlagen sind, nicht angekommen zu sein, unfähig, ihr Selbstbild in ein vielleicht überholtes Weltbild einzupassen. In „paradies spielen (abendland. ein a ­ bgesang)“ (2017) schließlich setzt Köck den beschleunigten Globalisierungskapitalismus als außer Kontrolle geratenen, rasenden „ewigen ICE der spätmoderne“ samt panischer ­Insassen auf die Gleise, die hier die Geschichten und Figuren verbinden. In einer motivischen Spiegelschau wird der Brandherd Europa sichtbar: mit enttäuschten Hoffnungen gestrandete chinesische Wanderarbeiter in einem Textil-Sweatshop in Italien, der in Flammen aufgeht, und ein nach einem Burn-out-Suizidversuch lebensgefährlich verbrannter Vater in einem Krankenhaus, der für den Sohn zu einer Prometheus-Paraphrase wird. Die Welt draußen: ist schon Eis oder Asche, „eiszeit oder krieg“, wie es dann im vierten Teil „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ (2020) heißt. „Guilty Landscapes“ war der Titel einer Videoinstallation von Dries Verhoeven 2016, in der er europä­ ische Ausstellungsbesucher einzeln vor große Videoscreens führte, auf denen Menschen in Fabriken oder Straßen in Hangzhou, Port-au-Prince, Homs und ­Pattaya zu sehen waren – bis der Betrachter realisierte, dass der Mensch auf der Leinwand seine Bewegungen nachahmte, dass er vis-à-vis, live, ihn anschaute.

ICH SUCHE EINE BESTIMMTE SPRACHE EINE ERZÄHLWEISE EINE KONKRETE FORM DIE ERSTMAL EINFACH SPRICHT DIE SINGEN WILL DIE RUMSCHREIT DIE PÖBELT UND ANECKT DIE NICHT ZUFRIEDEN SEIN WIRD.

In vielen Stücken von Thomas Köck meint man, sich von den Globalisierungsverlierern und Kriegsopfern in einer ebenso direkten Kopplung ertappt zu fühlen. In „atlas“ (2019) von vietnamesischen Vertragsarbeitern, in ­„antigone. ein requiem“ (2019) von den im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen. Aus einer österreichischen Traditionslinie von Theaterautoren heraus betrachtet – zumal genauso sprachbesessenen und mit einer gesunden Aversion gegen das eigene Land ausgestatteten wie Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard – wundert es nicht, dass für den 1986 in einem Dorf bei Steyr geborenen Thomas Köck auch Österreich eine schul­dige Landschaft ist. Zu drei Teilen ist seine sogenannte Kronlandsaga bereits angewachsen, deren Bezeichnung auf die historische Einordnung des heutigen ­Österreichs als Ländereien der Habsburgermonarchie verweist. Hier bedient sich Köck aus dem Geschichtsfundus seines Geburtslandes, befeuert es mit heutigen ökonomischen, politischen, System- und Identitäts­ fragen und versagt es sich nicht, dessen rechts­ nationale, identitäre FPÖ-Clowns abzuwatschen. In „dritte republik (eine vermessung)“ (2018) schickt er eine ­kafkaeske Landvermesserin auf eine surreale, post­historische Odyssee durch die österreichische Provinz, die für Köck eines der „menschenfeindlichsten Gebiete der Geschichte“ ist. In „kudlich (eine anachronistische puppenschlacht)“ (2016) und „kudlich in amerika oder who owns history“ (2020) vollzieht er mit dem real­historischen Reichstagsabgeordneten und Bauern­befreier Hans Kudlich noch einmal nach, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft 1848 die Bauern von der Ausbeutung direkt in die prekäre Abhängigkeit des ihnen kreditgebenden Finanzkapitals führte, und ­landet mit diesem Kudlich im Jahr zweitausendachtzehnhunderteinundsechzig schließlich auf dem Filmset von „Giganten“ in Texas, wo er ihn in hahnebüchenkomische Dispute mit Elisabeth Taylor und Rock Hudson verwickelt, die ihn für James Dean halten und genderoder identitätspolitische Fragen der Jetztzeit wälzen. Köck durchbricht auch hier wie in seinen anderen ­Stücken wieder alle Genregrenzen – ein „carbondemokratischer spaghettiwestern“, in dem eine Marionette und ein Zwerg einen Abriss über den Rohstoffimperialismus zwischen Kohlebergbau und Ölindustrie liefern, über Befindlichkeitsgesellschaft und Infantilisierungsliberalismus streiten und in dem es natürlich auch einen Chor gibt, eines der wohl typischsten Stilmittel von Thomas Köck. In diesem Fall „ein gottverlassener chor in der posthistorischen sierra des todes“. Die Charakterisierungen seiner Chöre sind Marker: Es sind kaputte, ausgebrannte, Zombie-Chöre. Unzufrieden, kalauernd, vorwurfsvoll. Sie stehen gleichsam für Köcks ausgemachtes Desinteresse an psycholo­

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THEATERSTÜCKE DIE ZUKUNFT REICHT UNS NICHT (KLAGT, KINDER, KLAGT!) UA 09. November 2017, Schauspielhaus Wien, Regie Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck

JENSEITS VON FUKUYAMA UA 17. Mai 2014, Theater Osnabrück, Regie Gustav Rueb SPLITTER („7 TODSÜNDEN IN BREMERHAVEN“) UA 13. Juni 2015, Stadttheater Bremerhaven, Regie Moritz Beichl und Greg Liakopoulos

PARADIES SPIELEN (ABENDLAND. EIN ABGESANG) UA 15. Dezember 2017, Nationaltheater Mannheim, Regie Marie Bues

PARADIES HUNGERN UA 24. Oktober 2015, Hessisches Landestheater Marburg, Regie Fanny Brunner

ABFALL DER WELT UA 22. Februar 2018, Badisches Staatstheater, Karlsruhe, Regie Marie Bues

ISABELLE H. (GEOPFERT WIRD IMMER) UA 7. Januar 2016, Pfalztheater Kaiserslautern, Regie Ingo Putz

DRITTE REPUBLIK. EINE VERMESSUNG UA 2. November 2018, Thalia Theater, Hamburg, Regie Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck

PARADIES FLUTEN (VERIRRTE SINFONIE) UA 2. Juni 2016, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Koproduktion Staatstheater Mainz, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Kleist Forum Frankfurt/Oder, Regie Sara Ostertag

ATLAS UA 27. Januar 2019, Schauspiel Leipzig, Regie Philipp Preuss

KUDLICH (EINE ANACHRONISTISCHE PUPPENSCHLACHT) UA 25. November 2016, Schauspielhaus Wien, Regie Marco Štorman

KUDLICH IN AMERIKA ODER WHO OWNS HISTORY UA 11. Januar 2020, Schauspielhaus Wien, Regie Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck

STROTTER EIN POSTAPOKALYPTISCHER SPAZIERGANG Zusammen mit Tomas Schweigen UA 8. April 2016, Schauspielhaus Wien, Regie Tomas Schweigen

OPERA, OPERA, OPERA! REVENANTS & REVOLUTIONS Komposition Ole Hübner, UA (ursprünglich geplant) 17. Mai 2020, Münchener Biennale, Regie Michael von zur Mühlen (wegen Corona verschoben) Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

gischen Bühnenfiguren und bühnenrealistischen ­Arrangements. Seine Stücke sind nicht gesprochener Text, sondern sprechende Texte, die hier laut auf­ treten, die sich rhetorisch verausgaben, Begriffe in ­Bewegung versetzen, um sie ihrer sozialen Gramma­ tiken fremd zu machen. Sie wollen das Theater überfordern, suchen den Widerstand zu einem zu einfachen dramatischen Verständnis, arbeiten für das Theater, indem sie gegen es arbeiten. „ich suche eine bestimmte sprache eine erzählweise eine konkrete form die erstmal einfach spricht die singen will die rumschreit die pöbelt und aneckt die nicht zufrieden sein wird mit

sich und der welt in die hinein sie geworfen wurde und in die hinein sie die welt auch gleich noch wirft ... ich suche keine lösung ich suche probleme“, sagte er in seiner Dankesrede zum Mülheimer Dramatikerpreis 2019. Und: „ich bin angehöriger von sounds“. Sein Sound ist eine Haltung. Köck sagt „sound ist politisch“. Wie das zu verstehen ist, lässt sich vielleicht mit einem anderen großartigen Welterzähler begreifen: mit JeanLuc Godard und seinem Essayfilm „Notre musique“, der in einem assoziativen Bilderstrom menschlicher Gewaltgeschichte der Welt visuell ihren brutalen Sound abnimmt, unsere Musik.

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THOMAS KÖCK

ANTIGONE. EIN REQUIEM UA 26. Oktober 2019, Staatstheater Hannover, Regie Marie Bues


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Eine „Dramaturgie der Peripherie“ hat das Theater Chur in den letzten 14 Jahren entwickelt. Es ist ein Beispiel für die Diskussion über „Theater in der Pro­vinz“, zu deren Aufgaben die Programmgestaltung für ein heterogenes und vielsprachiges Publikum gehört. Ute Haferburg und Ann-­Marie Arioli sowie ihr Vorgänger Markus Luchsinger (†) haben eine Programmdramaturgie entwickelt, die zwischen Tradition, Identität und Innovation vermittelt.

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Marcel Cremer war ein Grenzgänger. Nicht nur als Gründer und Leiter des AGORA Theaters, einer freien Gruppe in St. Vith, die als herausragende Institution der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens vorbildhafte Wirkung für ein interkulturelles Theater hat. Das Lesebuch gibt Einblick in Cremers nach wie vor aktuelles Werk. Darüber hinaus wird die lebendige Auseinandersetzung mit seinem Erbe in der Beschreibung aktueller Inszenierungen des AGORA Theaters gezeigt.

Ulrike Guérot, Robert Menasse und Milo Rau riefen am 10. November 2018 in einem eindrucksvollen performativen Akt gemeinsam mit 30 000 Menschen und in über zwanzig Ländern in ganz Europa die Europäische Republik aus. Was für ein historischer Moment! Ein Kontrapunkt zum Wiedererstarken von Nationa­lismen. Diese Publikation spiegelt die Intention dieses andauernden Projekts mannigfaltig und lustvoll in Bildern, Geschichten und politischen Beiträgen wider.

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PERSPEKTIVEN PREKÄRER GEGENWART DIRK LAUCKE VON THOMAS IRMER

Dirk Laucke gehört mit bislang dreißig uraufgeführten Stücken zu den produktivsten Autoren des deutschen Theaters der letzten 15 Jahre. Im Studiengang Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste wurden seine Anfänge von Oliver Bukowski betreut, der mit seinen Stücken der 1990er Jahre über die ostdeutschen Verlierer der Wiedervereinigung und deren sozialkritisch wie auch grotesk geschilderten Verwerfungen zunächst einen deutlichen Einfluss auf Laucke gehabt haben dürfte. Dieses Feld der sozialen Außenseiter, die sich im Grunde an durchschnittlichen Normen der Leistungsgesellschaft orientieren und dabei scheitern, ist Thema und Material der meisten seiner Stücke, in kleineren Strukturen von zerfallenen Familien, kaputten Beziehungen und deren sozial ­genau erfassten Milieus angelegt sowie mit deren sprachlichen Eigenheiten – auch regional beziehungsweise dialektal – charakterisiert. Laucke betont in dieser Position der sozial Ausgegrenzten die Verbindung mit anderen Minderheiten, die in seinen Stücken immer wieder eine Rolle spielen wie die der Sinti und Roma oder osteuropäischer Einwanderer. „Wir reden von Reisefreiheit, und ich denke an ­Millionen osteuropäische Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter, die sich auf den Weg nach Westeuropa machen, um Erdbeeren, Tomaten und Spargel zu ernten oder in Fabriken, Baustellen und Krankenhäusern zu arbeiten. Die Narration von Reisefreiheit und internationalem Studentenaustausch vergisst einen Großteil der Bevölkerung, der weder zum Vergnügen verreist

und schon gar nicht studiert“, erklärte Laucke im Rahmen des Projekts „Identität Europa“, für das er 2019 den Monolog „Eiserne Liebe“ schrieb. „Meine Perspektive ist eine materialistische, und zu ihr gehört das Konkrete. Deshalb schreibe ich konkret verortbare Geschichten mit ‚realistischen‘ Figuren. Theater ist keine Lehrveranstaltung, und ich habe auch keine Lust, dem Publikum meine Meinung aufzudrängen. Womit wir alle leben können, sind Perspektiven von Charakteren; sie haben Fehler, und das ist gut, denn sie evozieren unser Urteil. Viel stärker als unsere Kognition erregen sie unsere Gefühle – mögen wir sie oder nicht auf­grund/ trotz ihrer Fehler? Das eine ist nicht schlechter als das andere; unsere kognitiven Prozesse laufen stets mit affektiven zusammen.“ Mit „alter ford escort dunkelblau“ gelang Laucke 2008 mit einem mehrfach nachinszenierten Stück der Achtungserfolg und letztlich auch die Setzung seiner Thematik, was unter anderem zu einer Reihe von Stück­ aufträgen führte und den jungen Autor in der Szene der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik etablierte. Das Stück handelt von dem Getränkekisten stapelnden Zeitarbeiter Schorse, der nach der Trennung von der Mutter seines Sohns diesem den Traum von der Fahrt ins dänische Legoland erfüllen möchte – letztlich die doppelte Illusion von Idylle und überschaubarer Welt einer, wie gerade zitiert, realistischen Figur mit Fehlern. Die Idee des Stücks liegt darin, nicht das erwartbare Road-Movie zu werden: Die Reise endet schnell als Autopanne, der Sohn sitzt erst gar

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Dirk Laucke. Foto Karoline Bofinger

nach dem Tod des Bruders mit ihrer Trauer alleingelassen. Die Eltern sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die Schwester ist noch zu klein, der Schulalltag Stress. Doch in ihrer Fantasie ist sie die Superheldin Riot Girl und hat den mächtigen Captain Resistance zur Seite, wenn es mit den von MarvelComic-Figuren inspirierten Fantasiehelden in den Kampf gegen das Böse und Ungerechte geht. Aus der Erfahrung der Fantasiewelten wird Tilla zu einem Mädchen, das sich schließlich auch im Alltag gegen große und kleinere Gemeinheiten besser zu behaupten weiß. Das Stück für Kinder variiert Lauckes Thema der Selbstbehauptung unter widrigen Umständen mit Humor und Mitgefühl, wie er es 2010 schon in „Stress! Der Rest ist Leben“ für ein jugendliches Publikum vorführte, und erweitert auch in diesem Genre die Möglichkeiten des Theaters, wenn er zeitgenössische Figuren der Unterhaltungskultur einsetzt beziehungsweise mit diesem Personal die Kul­tur­ standards bildungsbürgerlicher Erziehung unterläuft. Die Frage nach Traditionsbezügen kann Lauckes Position innerhalb der Gegenwartsdramatik erhellen. In der sozialkritischen Tendenz vieler seiner Stücke ist weniger die direkte politische Analyse oder Anklage zu erkennen, vielmehr wird mit den Figuren aus sozial bedrängten, unterprivilegierten Milieus dieser Ausschnitt der Gesellschaft als ein problematischer Teil des ­problematischen Ganzen geschildert. Bei den Stücken „Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute“ und „Angst und Abscheu in der BRD“ werden die Bezüge zu Bertolt Brecht und Franz Xaver Kroetz nicht nur im Titel signalisiert, sondern greifen auch deren Dramaturgie der Alltagsszenen für ein größeres Panorama der aus den sozialen Widersprüchen und neu-

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DIRK LAUCKE

nicht im Wagen, sondern nur zwei Kollegen und Kumpel. Schorse ist, wie viele, vor allem männliche Figuren in späteren Stücken, ein in den sozialen Verhältnissen Scheiternder, dessen Selbstbehauptung in der Sehnsucht nach Normalität und den Abwehrversuchen voller Illusionen tatsächlich Mitgefühl erregt. Das Motiv der Auto-Mobilität im Kontrast zu dem der Wohnung als Zuhause spielt auch in „Bakunin auf dem Rücksitz“, einem 2010 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführten ­Auftragswerk, eine wichtige Rolle. ­Bakunin, benannt nach dem russischen Anarchisten und Sozialrevolutionär, ist ein Hund im Auto des Immobilienmaklers Steve, der Bakunins Herrchen Jörg mit einem Räumungsbescheid in den Selbstmord getrieben hat. Der Hund wird zum ­Beobachter und Beurteiler der kleinen Welt zwischen Besitzern, Besitzlosen und Leuten, die sich irgendwie dazwischen über Wasser halten wollen. Dafür braucht Laucke in seiner Verknappung und Lebensprallheit kombinierenden Dramaturgie lediglich fünf Figuren um den sprechenden Hund herum. Das Thema der neuen Armut, in der neudeutschen Dramatik eher ein Topos drastischer Außenseiter, rückt mit Lauckes Sicht auf die Gegenwart in die Mitte der Gesellschaft. Die brüchigen sozialen Verhältnisse resultieren schließlich auch in neuen politischen Gemengelagen und Stimmungen, die der Rechtspopulismus für seinen Aufstieg ausbeutet und die von Laucke wiederholt in seinen Stücken behandelt werden, zum Beispiel in „Angst und Abscheu in der BRD“ (2010) und „Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute“ (2014). In „Die größte Gemeinheit der Welt“ (2018), Lauckes erstem Stück für Kinder, fühlt sich Tilla, neun Jahre,


rechten Tendenzen gärenden Gegenwart auf, was zudem eine Spur zu den oft hilflos, aber durchaus nicht ohne eigene Sprache sich artikulierenden Figuren in den bekanntesten Stücken Ödön von Horváths legt. Ein weiterer Aspekt ist Lauckes Nähe zu dem breiten Strom des dokumentarischen Theaters der vergangenen zwanzig Jahre. Dies betrifft zum einen die Arbeit mit recherchiertem Material zu Themen aus den wenig bekannten Randlagen der Gegenwart beziehungsweise wie bei dem Fußballfan-Stück „Ultras“ (2009) aus einem weitgehend in sich geschlossenen Sondermilieu, das für das Theater erkundet wird. Für eine solche Erschließung von Material hat die Kritik in jüngster Zeit auch den Begriff des Recherchetheaters ins Spiel gebracht, was zumindest für die Arbeitsweise Lauckes bei der Entwicklung seiner Stücke, nicht aber

für deren Form und Dramaturgie angeführt werden kann. Das Stück „Silberhöhe gibts nich mehr“ (2008) erarbeitete Laucke zum anderen gemein­sam mit Laien aus dem Hallenser Stadtteil Silberhöhe. Seine Methode, die authentischen Erfahrungen von nach biografischen Gesichtspunkten ausgewählten Laienspielern in deren Sprache auf die Bühne zu bringen, ähnelte dabei der Praxis der Bürgerbühnen. Unzutreffend wäre jedoch, Laucke mit seinem bisherigen Werk als Autor von Dokumentartheaterstücken zu charakterisieren. Von noch größerem Gewicht ist sicher ein Vergleich mit anderen Autoren der neueren deutschsprachigen Dramatik, auch unter dem Aspekt der Generationsunterschiede. Der Bezug zu Oliver Bukowski, Jahrgang 1961, seinem ersten Mentor, wurde eingangs schon erwähnt. Ebenso lassen sich einige Stücke über das Thema der

THEATERSTÜCKE FÜR ALLE REICHT ES NICHT UA 30. Oktober 2009, Staatsschauspiel Dresden, Regie Sandra Strunz

HIER GEBLIEBEN! Mit Reyna Bruns und Magdalena Grazewicz UA 2. Mai 2005, Grips Theater, Berlin, Regie Christopher Maas NEUSTAAT HALLE – POLITISCHE LATE-NIGHT-SHOW Mit Michael Blochwitz und Heiko Aufdermauer UA Oktober 2005, Thalia Theater Halle / Internationale Sommerschule, Regie Dirk Laucke ALTER FORD ESCORT DUNKELBLAU UA 27. Januar 2007, Städtische Bühnen Osnabrück, Regie Henning Bock SILBERHÖHE GIBTS NICH MEHR UA 12. März 2008, Thalia Theater Halle, Regie Dirk Laucke WIR SIND IMMER OBEN UA 14. September 2008, Schauspiel Essen, Regie Henning Bock ZU JUNG ZU ALT ZU DEUTSCH UA 15. Mai 2009, Städtische Bühnen Osnabrück, Regie Jens Poth DER KALTE KUSS VON WARMEM BIER UA 2. Mai 2009, Stadttheater Heidelberg, Regie Henning Bock ULTRAS UA 18. September 2009, Thalia Theater Halle, Regie Dirk Laucke

STRESS! DER REST IST LEBEN UA 11. Februar 2010, Grips Theater Berlin, Regie Frank Panhans START- UND LANDEBAHN Mit David Richter UA 16. Mai 2010, Theater Osnabrück, Regie Jens Poth BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ UA 8. Oktober 2010, Deutsches Theater Berlin, Regie Sabine Auf der Heyde ANGST UND ABSCHEU IN DER BRD UA 22. Oktober 2010, Theater Oberhausen, Regie Dirk Laucke ALLES OPFER! ODER GRENZENLOSE HEITERKEIT UA 10. Juni 2011, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Regie David Benjamin Brückel EINIGKEIT UND … UA 16. Juni 2012, Theater Heidelberg, Regie Tobias Rausch CARGONAUTEN UA 29. September 2012, Stadttheater Bremerhaven, Regie Jens Poth

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verlorenen Jugend von Fritz Kater, also dem 1964 geborenen Armin Petras, mit den Themen Lauckes in Verbindung bringen. Dabei fällt jedoch auf, dass für die Welt von Lauckes Stücken die große Zeitenwende von 1989 kaum noch eine Rolle spielt. Seine Figuren leben, handeln und sprechen in einem „Danach“ als ihrem „Jetzt“. Als symbolisches Beispiel sei der ehemalige NVA-Panzerfahrer ­Heiner aus „Für alle reicht es nicht“ (2009) angeführt, der seinen entwaffneten Panzer (ohne Kanone) für Spaßfahrten anbietet, um über die Runden zu kommen. Nicht die jüngere deutsche Vergangenheit oder etwa eine p ­ roblematisierte Sicht auf diese ist das ­Thema, sondern hauptsächlich die prekäre Existenz in der Gegenwart. Es ist eine Perspektive auf die Gegenwart, die von Lauckes Herkunft aus Halle und Leipzig immer noch stark geprägt ist – wie bei seinem um

­ enige Jahre älteren Prosa-­Kollegen und Landsmann w Clemens Meyer –, die aber die kritische Sicht auf die Gegenwart nicht mehr allein in den Enttäuschungen der ostdeutschen Nachwendezeit wurzeln lässt, sondern längst auf eine Gesamtsicht ­deutscher Befindlichkeiten und Nöte erweitert hat. Sein jüngstes Stück „Nur das Beste!“ (dessen Uraufführung in Freiburg Ende März aufgrund der Coronapandemie nicht stattfinden konnte) handelt von Gentrifizierung nicht nur aus der Sicht der nachteilig Betroffenen, sondern auch ihrer diversen Nutznießer in einem kleinteiligen Beziehungssystem von Freunden und Verwandten, wie es auch für frühere Stücke des Autors typisch ist. Dem von ihm als Posse bezeichneten Stück hat er ein Zitat Helmut Kohls vorangestellt: „Die neue Armut ist eine Erfindung des sozialistischen Jetsets.“

JIMI BOWATSKI HAT KEIN SCHAMGEFÜHL UA 3. Februar 2013, Schauspielhaus Bochum, Regie Christina Pfrötschner

BAMBULE IM HERBST UA 15. September 2017, DNT Weimar, Regie Enrico Stolzenburg

SAMURAI UA 23. November 2013, Theater Heidelberg, Regie Jens Poth

DIE GRÖSSTE GEMEINHEIT DER WELT UA 22. April 2018, Junges Schauspiel Düsseldorf, Regie Christof Seeger-Zurmühlen

SEATTLE UA 2. Februar 2014, Theater Freiburg, Regie Jan Gehler

NUR DIE HARTEN (KOMMEN IN DEN GARTEN) UA 3. Juni 2018, Theater Oberhausen, Regie Florian Fiedler

FURCHT UND EKEL. DAS PRIVATLEBEN GLÜCKLICHER LEUTE UA 8. November 2014, Staatstheater Stuttgart, Regie Jan Gehler

EISERNE LIEBE UA 14. September 2019, TAK Liechtenstein, Regie Katharina Hackhausen als Teil der kollektiven Produktion „Identität Europa“ in acht Monologen aus acht Ländern

KOPFLOHN (NACH ANNA SEGHERS) UA 12. Juni 2015, Staatstheater Mainz, Regie K. D. Schmidt

AMY4EVA UA 23. November 2019, Staatstheater Darmstadt, Regie Ulf Goerke

LUFT NACH OBEN UA 20. November 2015, DNT Weimar, Regie Enrico Stolzenburg

NUR DAS BESTE! UA (ursprünglich geplant) 27. März 2020, Theater Freiburg, Regie Bastian Kabuth (wegen Corona verschoben)

KARNICKEL UA 29. September 2016, Schauspiel Köln, Regie Pınar Karabulut VOM GEFÜHL HER: FUCK U! UA 13. November 2016, Landestheater Altenburg / Gera, Regie Andreas Bauer

Vertreten durch den Gustav Kiepenheuer Bühnen­ vertrieb, Berlin.

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DIRK LAUCKE

THEATERSTÜCKE


„Erinnya“

Clemens J. Setz krank.

stehst du da. Geistes­

skelett“ heraus. Dann

nur sowas wie „Milch­

brächte aber jedes Mal

„Gasteinertal“ zu sagen,

würde man versuchen

Matthias: Das ist so, als

Meine Beine gehören mir nicht das was ich da sehe ist nicht mein Körper das ist ein Anhängsel an einem Denkzentrum dran das hat man im Bauch meiner Mutter so zusammen­ geflickt ich höre eine Stimme; Sie sollte langsam wieder zu Bewusstsein kommen; es ist hell ein monotones hohes Piepen eine kleine Kraftlosigkeit ein Atmen unwillkürlich schnell das ich zu kontrollieren versuche jetzt anhalten Luftgang stoppen es gelingt mir nicht mir ist als atmete ich von aussen Katja Brunner „von den beinen zu kurz“


fast vergessen, dass ich Schulden hab / hier hast du deinen Samen / Vater / wart / hier kommt er / hier / zurück Ewald Palmetshofer „räuber. schuldengenital“

Karl: Entschuldigung / ich schuld‘ dir, Vater, noch / hätt

Da

erscheint sie

sie

erscheint sie

erscheint groß

ganz groß

riesig auf der Fassade auf dem

Plattenbauhaus gegenüber

Wolfram Höll „Und dann“


SIE WILL MEHR ALS ALLES ANNE LEPPER VON JAN HEIN

„Millionen glauben den Zusammenhang / Von Schweiß und Gefühl und Ehrlichkeit / In Wahrheit zählt nur die Kunst des Zitats / In Wahrheit zählt nur der rich­ tige Moment / Am Ende der Etappe / Am Anfang der ­Zukunft“, singt die Post-Punk-Band Fehlfarben in ihrem Song „Die Kunst des Zitats“. Die Kunst des verzerrten Zitats entwickelt Anne Lepper auf eine ganz eigene Weise in ihren Stücken. Sie montiert disparate Fragmente aus Literatur und Philosophie, Film und nicht zuletzt Musik zu flackernden Texturen wilder Bezüge, voller überraschender Sprünge und Wendungen. Grotesk, komisch, erschreckend, unverschämt, frech, romantisch, abgründig: Immer wieder stört und unterbricht sie eine zeitlich lineare Realität durch die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Ihre Stücke sind keine mimetischen Abbilder der Wirklichkeit, es sind hoch artifizielle Konstruktionen, die das Leben in seinen Widersprüchen erst kenntlich zeichnen. Ihre Stücke sind Aufstände, lustvoll und anarchisch. Lepper schätzt den Zwischentitel aus Ernst Lubitschs Stummfilm „Die Austernprinzessin“ (1919): „Während der Hochzeit bricht plötzlich eine Foxtrott-Epidemie aus“. In ihrem kurzen Hörspiel „oh, ist das Morrissey“ (2013) beschreibt sie die Situation an einer Front im Ersten Weltkrieg: Ein Neuankömmling hört zwischen den Zelten seiner Kompanie einen Soldaten singen: „Oh, the weather outside is frightful / But the fire is so delightful / Since we’ve no place to go“, seine Kameraden stimmen ein in den Refrain „Let it snow!“, den Hit von Sammy Cahn aus dem

Jahr 1945. An Leppers Frontlinie ist es ruhig, im Zelt wird Doppelkopf gespielt, auf ausgeschnittene und echte Mädchen masturbiert. Aus dem Unterstand ertönt das Lied „Suedehead“: „Why do you come here why do you hang around“? Ein Soldat fragt: „Oh ist das Morrissey?“ „Ruhe“, befielt der Hauptmann. Die „Blondiehörtruppe“ hört unter der Weide das Lied „Atomic“, der Neuankömmling hat Hölderlin im Tornister. So arbeitet sich Anne Leppers Text quer durch alle Fronten: Die Soldaten singen „Blitzkrieg Bob“ von den ­Ramones, sprechen im Chor einen Eintrag aus Georg Heyms Tagebuch von 1910: „Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack der Alltäglichkeit hat.“ Hitlers Hamburger Rede vom 1. September 1939 wird zitiert – „von da an wird Bombe mit Bombe vergolten“ –, und wenn sich hier ein Soldat erhängt, heißt er Karl Thomas wie der Protagonist in Ernst Tollers Stück „Hoppla, wir leben!“, der als Pazifist aus dem Krieg heimkehrt. Seine letzten Worte vor dem Erhängen stammen aus Tollers politischer Revue. Die Zitate springen bei Lepper durch Zeiten und Räume, sie geben keine Ruhe, sie brechen die scheinbar gegebene Realität auf, um andere, größere Resonanz- und Reflexionsräume zu schaffen. Ernst Bloch schreibt in „Erbschaft dieser Zeit“: „Das Alte plündern, zu Neuem montieren.“ Anne Lepper komponiert ihre ganz eigenen Welten. Das Fundament all ihrer Stücke bildet von Anfang an eine außergewöhnliche Dialogkunst. Es ist Leppers prägnante, knappe Kunstsprache, die bei ihren ersten

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Anne Lepper. Foto schaefersphilippen

Lepper zieht die Geschichte und Geschichten nicht nur zitathaft heran, sondern auch als Folie – wie in ihrem Stück „Seymour“ (2012) Thomas Manns „Zauberberg“. In der Abgeschiedenheit eines Sanatoriums in den Bergen leben fünf dicke Kinder nach den akribischen Regeln einer „Kur“, um abzuspecken und vielleicht wieder zu richtigen Menschen zu werden. Die „Aussortierten“ wollen eisern den Kurerfolg, überwachen sich gegenseitig – und scheitern. Anne Lepper erzählt in ihrer skurrilen Parabel von zweifelhaften gesellschaftlichen Idealen und Regeln, von der Unterwerfung unter die obskuren Regeln eines Heilsversprechens. Staat, Schule und Armee lehren den Einzelnen Fähigkeiten, sagt Louis Althusser in „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, aber „in Formen, die die Unterwerfung unter die herrschende Ideologie sichern“. Er werde als Einzelner angerufen, damit er freiwillig seine eigene Unterwerfung vollziehe. Ein zweiter Bezugspunkt, der in Leppers Werk immer wiederkehrt, ist Adorno. Für ihn ist Autonomie die einzige wahre Kraft gegen das Prinzip der Barbarei. Nur die Autonomie erlaube es einem als Mensch, ein Mensch zu sein, der sich nicht bloß zum Material macht: mit der „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“. Mitmachen hieße einverstanden zu sein mit dem, was ist. „Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft.“ In einer nicht emanzipierten Gesellschaft erlebe der Einzelne immer wieder, „dass die Logik der Geschichte so destruktiv ist wie die

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ANNE LEPPER

Stücken an die Tradition des Volkstheaters denken lässt, an Fleißer, Horváth, Sperr, Fassbinder, Kroetz und Schwab. Sie spielen schmerzhaft Familien- und Heimkonstellationen durch, die kurzen Szenen sind wie Schlaglichter: Sie lassen die Beruhigung durch Dauer nicht zu. Die zen­ tralen Themen sind bereits angelegt: Die Suche nach dem richtigen L ­ eben und dem Glück, der Wunsch nach Veränderung und Entwicklung, die Sehnsucht nach Liebe, das Fort­ gehen, Freiheit, Widerstand und Anpassung, Unterordnung und ­Aufbegehren, ­Erziehung und Unterwerfung, Normalität, Autonomie, Funktionsweisen von Gemeinschaften, gesellschaftliche Regeln, Rollen­ bilder, Todesarten. In „Sonst alles ist drinnen“ (2009) möchte Anne, Mitte dreißig, ihr Leben ändern, raus aus der beklemmenden Normalität mit ihrem Vater und dem gemeinsamen Kind. Ihre Frage lautet: „Ist das mehr als alles?“ Sie zieht eine Tüte über den Kopf und erstickt. In „Käthe Hermann“ (2011) fleht Irmi, K ­ äthes Tochter, die Veränderung wenigstens gemeinsam anzugehen. Vergebens. Irmi hängt sich auf und bleibt hängen, damit alle sehen können, wie das geht, das Leben. In „Hund wohin gehen wir“ (2011) möchte Simon das Heim, in das er als Waise eingewiesen wird, verlassen. Er sagt: „Aber es muss im Leben mehr als alles geben!“ Nach einem Ausbruchsversuch wird er von seinen ­Kameraden blutig zu Tode getreten.


bruchsversuche aus Lebensläufen: unverfroren, offen, schamlos, stur, sich um keine Regeln scherend, sich eigene Regeln schaffend, jenseits der Gesetze. Das gilt auch für die der Bühne, für die hier jeweils forschend radikal neue Formen gefunden werden müssen. Noch immer frei zur Uraufführung ist ihr Stück „Entwurf für ein Totaltheater“ (2015), dem als Folie Maurice Sendaks Kinderbuch „Higgelti Piggelti Pop! Oder: Es muss im Leben mehr als alles geben“ zugrunde liegt, in dem die unzufriedene Hündin Jenny in die Welt aufbricht, um dieses „mehr als alles“ zu finden, das in vielen Stücken Leppers den Horizont bildet. In „Entwurf für ein Totaltheater“ bricht Bonnie auf, lässt alles zurück: Mann, Haus, Kinder. Auch sie will mehr als alles, will ans Theater, muss dafür aber – genauso wie die Hündin im Original – als Vorbedingung Erfahrungen sammeln. Mit Szenentiteln wie „Phoenix Arizona Friday December the Eleventh Two Forty-Three p. m.“, der Information am Filmanfang von Hitchcocks „Psycho“ (1960), setzt Lepper wieder verstörende kulturelle Mar-

THEATERSTÜCKE SONST ALLES IST DRINNEN UA 29. Mai 2010, Münchner Kammerspiele, Regie Jessica Glause HUND WOHIN GEHEN WIR UA (als Hörspiel) 3. März 2012, WDR, Regie Claudia Johanna Leist KÄTHE HERMANN UA 5. Januar 2012, Theater Bielefeld, Regie Daniela Kranz SEYMOUR ODER ICH BIN NUR AUS VERSEHEN HIER UA 8. Januar 2012, Schauspiel Hannover, Regie Claudia Bauer LA CHEMISE LACOSTE UA 6. Februar 2015, Schauspielhaus Düsseldorf, Regie Alia Luque ACH JE DIE WELT UA 8. Mai 2015, Theater Dortmund, Regie Andreas Gruhn MÄDCHEN IN NOT UA 26. Mai 2016, Nationaltheater Mannheim, Regie Dominic Friedel ENTWURF FÜR EIN TOTALTHEATER frei zur UA Vertreten durch schaefersphilippen Theater & ­Medien, Köln.

Menschen, die sie zeitigt“, sie „reproduziert das Äquivalent des vergangenen Unheils“. Das erklärt die ­T­odesarten in Leppers Stücken. Ihrem Drama „Mädchen in Not“ (2015) legte sie als Handlungsfolie Ernst Lubitschs irrwitzigen Stummfilm „Die Puppe“ (1919) zugrunde, frei nach Motiven von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Ihr Stück spielt – neben zahlreichen disparaten literarischen Anspielungen – mit Motiven des Films, verkehrt sie, dreht sie um. Hier sind es die Männer, die sich zu Puppen haben machen lassen, um eine Frau davon zu überzeugen, wie schön es doch mit echten Männern ist. Eine Intrige, die schlecht für sie enden soll. Leppers Stücke sind direkte Angriffe auf vermeintlich geltende Ordnungen und Regeln, höchst subjektive Infragestellungen von Konventionen, Aus-

ANNE LEPPERS STÜCKE ENTSTAMMEN KEINER SCHULE, SIE GEHORCHEN KEINESFALLS DEM BETRIEB. SIE SIND SINGULÄR. SIE VERDANKEN SICH EINER NOTWENDIGKEIT, EINER WUT UND EINER LUST. SIE SIND EINE EINZIGARTIGE HOMMAGE AN DAS THEATER, SEINE KRAFT UND SEINE EINFACHHEIT. STÜCK FÜR STÜCK ENTWIRFT SIE SCHON MIT WENIGEN SÄTZEN IHR EIGENES THEATER.

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Ab 28 | 08 | 20

DIE PANNE Friedrich Dürrenmatt Regie: Cilli Drexel

Ab 11 | 09 | 20

DER TRIP ROUSSEAU Dominique Ziegler Deutschsprachige Erstaufführung Regie: Robin Telfer

Ab 22 | 10 | 20

ALL YOU CAN BE! Eurydike und Orpheus Max Merker und Aaron Hitz Uraufführung Regie: Max Merker

Wieder ab 20 | 11 | 20

ROMEO UND JULIA William Shakespeare Regie: Veit Schubert

Ab 22 | 01 | 21

FAUST I Johann Wolfgang von Goethe Regie: Nis Søgaard

Ab 05 | 03 | 21

DIE JAHRESZEITEN Nach dem gleichnamigen Roman von Peter Bichsel in einer Bühnenbearbeitung von Deborah Epstein Uraufführung Regie: Deborah Epstein

Ab 29 | 04 | 21

DIE MITWISSER Eine Idiotie Philipp Löhle Schweizer Erstaufführung Regie: Katharina Rupp

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www.tobs.ch (Änderungen vorbehalten)

ANNE LEPPER

ker in den Plot. Unter solchen Vorzeichen des Unheimlichen steht das ganze Stück. Bonnie flieht, nur um sogleich im nächsten Abhängigkeitsverhältnis zu landen. Sie läuft in die Hände eines singenden Polizeichors, der das Land regiert und willkürlich zum Rechtsstaat erklärt hat. Bonnie begibt sich in den Dienst dieses Staates. Worin dieser besteht, ist unsicher: Sie ist für die Verteilung von Wurstbroten zuständig. Aber nach Hause will Bonnie nicht, sie bleibt weiter einsam auf der Suche. Zwei Stücke hat Anne Lepper auch für Jugendliche geschrieben. In „Ach je die Welt“ (2015) erinnern die Schüler Christopher, Tobias und Marc an die jungen Detektive in „Die drei Fragezeichen“. Die Autorin lässt sie nach ihrem entführten Hund fahnden, wieder quer durch die Zeiten und Filmzitate – Motive aus Fritz Langs „Metropolis“ oder Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ –, und macht sie zugleich zu Staffelläufern eines kulturellen Erbes, die in entscheidenden Lebensfragen Filmszenen von Lubitsch oder Hitchcock konsultieren. Ihr Jugendstück „Maxim“ wurde 2019 mit dem Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugenddramatikerpreis ausgezeichnet. Anne Leppers Stücke entstammen keiner Schule, sie gehorchen keinesfalls dem Betrieb. Sie sind singulär. Sie verdanken sich einer Notwendigkeit, einer Wut und einer Lust. Sie sind eine einzigartige Hommage an das Theater, seine Kraft und seine Einfachheit. Stück für Stück entwirft sie schon mit wenigen Sätzen ihr eigenes Theater, eine eigene, befremdliche Welt mit irritierenden Gesetzen, die unsere Welt in ihrer Fragwürdigkeit schmerzhaft, schön, komisch, unheimlich und frappierend zur Kenntlichkeit zeichnet. Für das Schauspiel Stuttgart schreibt sie gerade ein Auftragsstück, es trägt den Arbeitstitel „Der gemischte Frauen­ chor“. Durch die Textur klingt Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ aus seinem „Siebenkäs“. Und ganz im Hintergrund flackert eine Dystopie: Hugo Bettauers Roman „Die Stadt ohne Juden“ (1922) und der gleichnamige Stummfilm von Hans Karl Breslauer (1924): Wien ohne Juden. „Wir können zufrieden sein, alles, was fremd war, hat die Stadt verlassen“, lautet ein Zwischentitel des Stummfilms. Roman und Film beschreiben die Mechanismen von Fremdenfeindlichkeit und Anti­ semitismus. Die Menschen sehen sich in ihrer Existenz bedroht, haben Angst vor sozialem Abstieg und ­Deklas­sierung und suchen einen Sündenbock. In Don Siegels Film „The Lineup“ (1958) fällt der Satz: „Wenn du außerhalb des Gesetzes lebst, dann musst du ehrlich sein“. Anne Lepper kennt diesen Satz. Sie ist zutiefst ehrlich in ihrem Befragen des Lebens, der Gesellschaft und der Welt.


KOMM, GROSSER WIND WOLFRAM LOTZ VON GUNNAR DECKER

Man braucht nicht lange, um herauszufinden, dass Wolfram Lotz anders ist als andere Autoren. Wie de­ finiert er Realität? Nach einer kurzen Nachdenkpause kommt die Antwort durchs Telefon, gesprochen ­irgendwo bei Colmar im Elsass, dort wohnt er: „Wenn zwei Sätze seltsam zueinander stehen.“ Es gehe ihm darum, schreibend die Welt zu ergänzen. Aber immer, wenn er einen Satz geschrieben habe, überfalle ihn das Gefühl, dass da noch etwas fehle. Und also schreibt er den nächsten und dann den übernächsten. Und so entsteht ein ganzer Text. Manchmal einer, der gar ­keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende hat. Aber Schreiben, wie er es versteht, hat nichts mit ­richtig und falsch zu tun, sondern mit Erkenntnis im ursprünglichen Sinne. Bringt Licht ins Dunkel, wenn ihr denn könnt! Mit Wolfram Lotz lässt sich gut telefonieren. Kein Wunder, denn bei ihm scheint auch Schreiben mit dem Hören zu beginnen. Er lauscht der Welt ihre – mitunter herbe, jedenfalls nie ausrechenbare – Poesie ab. Sein erster großer Theatererfolg war dann auch ein für die Bühne adaptiertes Hörspiel: „Die lächerliche Finsternis“, uraufgeführt 2014 am Akademietheater in Wien. Da wandelt er auf den Spuren von Joseph Conrad und Francis Ford Coppola. Eine literarisch-­ filmische Adaption? Das auch, aber keineswegs nur das. Denn unsere Gegenwart stürzt in diese Herzder–Finsternis-Fabel wie in ein Delirium. Konsequenterweise landet Lotz’ Expedition bei der Bundeswehr am Hindukusch, wo bekanntlich unsere Freiheit verteidigt

wird. Beim Hauptfeldwebel Pellner und dem Gefreiten Dorsch, bei modernen Piraten und Blauhelmen. Im Dunkeln sind wir aufs Hören angewiesen, man sieht sein Gegenüber nicht und doch ist es da. Von diesem magischen Moment lebt auch das Telefonieren, wenn man es so bewusst betreibt wie Lotz: Er ist ganz Ohr, und bis er ganz Mund wird, dauert es eine gute Weile. Der Reflexionsapparat in Lotz arbeitet gründlich. Er kann nur schreiben, sagt er, wenn er sich selbst dazu beauftragt. Wenn ihn jemand anderes dazu be­ auftragt, dann fühlt er sich sofort unfrei. Der Auftragsschreiber verliert seine Autonomie, zerstört den Urgrund, aus dem er schöpft. Das ist jenes tief in ihm Gärende, das Unbestimmte, dem er schreibend in einer Suchbewegung nach Ausdruck entgegentritt. Nun gut, entgegne ich, das klingt aber sehr nach Luxus – schreiben ohne äußeren Zwang? Nein, antwortet Lotz, der Zwang, den er sich selbst aufer­lege, sei größer als jeder, der von außen kommt. Aber er ist frei gewählt, jedenfalls bis zu dem Punkt, wo man dann keine Wahl mehr hat und einfach weitermachen muss. Schreiben, so Lotz, sei eine Forschungsarbeit. Wenn man nicht über sich und die Welt ganz ernsthaft etwas herausfinden will, dann braucht man gar nicht erst anzufangen. Gewiss, ökonomisch sei er ein Idiot, denn ein Autor, der sich gegen Fremdaufträge sträubt, gilt in dem auf Reibungslosigkeit programmierten ­Betrieb als schwierig. Aber das sei gut so. Wie war das denn mit dem „Totaltagebuch“, das er vor zwei Jahren zu schreiben begann? Im vergangenen

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Wolfram Lotz. Foto Carsten Tabel

zogenen Zerstörung der Datei wurde das Geschriebene endgültig ein Teil von ihm. Kein Produkt, das man auf den Markt wirft. Es sei ein intimer Akt nur für sich selbst gewesen. Nach dem übergroßen und – so empfand er dies selbst – allzu schnellen Erfolg von „Die lächer­ liche Finsternis“ brauchte er offenbar so ein Ritual. Die Wiedereinübung des Schreibens „als tägliche Wahrnehmungspraxis“. Es war ein bisschen so wie die Verbannung an einen Ort, an dem es nichts zu beschreiben gibt und an dem man dann anfängt, alles zu beschreiben. Äußeres Geschehen, Alltags­ abläufe banalster Art verwoben sich mit inneren Wahrnehmungen und Reflexionen. Aber immerhin habe er einhundert Seiten aus dem digitalen Konvolut extrahiert. Die will er behalten. War dieses Schreiben nun ein Rausch oder eine Qual? Beides zugleich, sagt Lotz, Rausch und Qual. Er vergleicht es mit einem „Reh im Wald“. Das klingt nicht unbedingt logisch, aber irgendwie ahnt man, was er meint: Es ist die Unlogik des Lebens selbst, zugleich gefährdet und unangreifbar. Er musste dann auch sehr langsam damit aufhören, immer alles zu notieren, sagt er, das sei wie ein Entzug gewesen. Und hat ihm dieser Versuch, alles – ohne jede Struktur – aufzuschreiben, ein Mehr an Klarheit gebracht? In der Einsicht vielleicht, dass man sich schreibend eine Art Schutzwall zu schaffen vermag. Denn über das Dorf, in dem er lebte, stand in den über zweitausend Seiten nichts drin. Gegen Ende des Experiments bemerkte Lotz, dass er, obwohl er jeden Tag alles, was ihm begegnete und was ihm durch den Kopf

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WOLFRAM LOTZ

Jahr, so heißt es, habe er die Datei gelöscht. Ein Akt der Autoaggression des Autors? „Im Gegenteil“, antwortet Lotz, „das Tagebuch war von Anfang an als Selbsterfahrungsprozess angelegt.“ Schreiben als eigene Wirklichkeit, ein „Abtasten der Oberfläche“, um den „Rhythmus des normalen ­Lebens“ in Text zu verwandeln. Aber natürlich klinge die Zerstörung einer wichtigen Textdatei für Außenstehende nach Selbst­ verstümmelung, so wie etwa bei van Gogh, der sich sein Ohr abschnitt. Aber die ­Situation war eine andere. Lotz kam aufs Dorf, aber diese Kleinwelt war ihm, der im Schwarzwald aufgewachsen ist, nicht recht geheuer. Er wusste, er braucht einen Schutzraum – eine Gegenwelt. Also zog er sich ins Schreiben zurück. Während eines Jahres entstanden so 2700 Seiten. Ein einziger Textfluss. Er habe das Schreiben nur unterbrochen, um zu schlafen, zu essen und zwei Stunden am Tag mit seinen Kindern zu spielen. Sonst lebte er im Text, versuchte den alltäglichen Dingen, wie er auf wunderbar paradoxe Weise sagt, „ein Licht abzulauschen“. So beginnt gemeinhin ein Mystiker mit den ­Augen zu hören und den Ohren zu sehen. Was von Anfang an als Experiment gemeint war, sollte nie veröffentlicht werden. Und das Löschen der Datei geschah nicht in einem Anfall von Selbstzerstörung, sondern nachdem er zwei Monate gewartet hatte: ein kontrollierter Akt. Erst als er gelesen hatte, was in diesem Jahr – fast unbewusst – entstanden war, drückte er die Lösch­ taste. Ein Akt des Schamanismus? Mit der selbst voll-


„DIE STÜCKE DER AUTOREN SIND SO SPERRIG UND UNHANDLICH, DASS SIE BEREITS BEIM TRANSPORT IN DIE THEATER PROBLEME VERURSACHEN, WEIL SIE BEISPIELSWEISE NICHT DURCH DIR TÜR PASSEN, SODASS DIE TÜR MIT GEWALT VERGRÖSSERT WERDEN MUSS UND SICH FÜR DIE BETEILIGTEN DIE FRAGE STELLT, WARUM DIE TÜR NUR SO KLEIN WAR, JA: WIE SIE NUR IMMER DURCH DIESE KLEINE TÜR GEHEN KONNTEN.“ ging, notierte, die zeitliche Orientierung zu verlieren begann. War etwas erst gestern oder schon vor einem Monat gewesen? Er wusste es nicht mehr. Na ja, meint er, dieses Zuviel des Schreibens habe ihn dahin gebracht, dass er deutlich spürte, wie sich „ein paar Schrauben lockerten“. Da wurde es höchste Zeit, das Experiment „Totaltagebuch“ zu beenden. Sonst wäre er vielleicht, so wie das Boot bei Conrad und Coppola auf dem Fluss fahrend, immer tiefer in die Wildnis hineingeraten und dabei über jene Grenze hinausgetrieben worden, wo das, was bis eben die Vernunft schien, sich plötzlich als Wahnsinn herausstellt. Diese Grenze interessiert Lotz. Sie ist unsichtbar, aber offenbar gibt es für den, der sie überschreitet, kein Zurück mehr. Gilt das nur für den Einzelnen oder auch für die Menschheit im Ganzen? Mit Lotz geraten wir unweigerlich in Traumlabyrinthe, böse Märchen über das, was unsere Wirklichkeit eben nicht mehr zusammenhält. „Die lächerliche Finsternis“ beginnt dann auch mit dem „Prolog des somalischen

Piraten“ vor dem Hamburger Landgericht. Sich selbst bezeichnet er als „schwarzen Neger aus Somalia“ (das sei ja auch der Presse zu entnehmen) und fügt gleich darauf hinzu: „Der Einfachheit halber spreche ich Deutsch mit Ihnen …“ Zu seiner Person könne er folgende Angaben machen: „Ich wurde ge­boren in der Regenzeit, unter einem Baum, dessen Blüten am ­Morgen duften wie die Blüten keines an­deren Baumes, allerdings am Mittag schon scheu ihre Kelche verschließen vor den Blicken der Menschen und der Tiere.“ Was ist das, fragt man sich irritiert – und der Irritationen bisheriger Wahrnehmungsmuster ist noch längst kein Ende. Lotz spielt mit Klischees, taucht ab ins Surreale. Unterhalb der Oberfläche klingen die Dinge anders, als wenn man nur auf den Schaumkronen der Wellen surft. Er besteht darauf, dass diese seltsame Märchenhandlung sehr wohl politisch sei. Denn der spätere Pirat wächst auf, vor sich das leergefischte Meer, auf dessen Grund die Wut entsteht. Was tun? In einem Vogelbeerbaum sitzend fasst er den Entschluss, „ein Diplomstudium der Piraterie an der Hochschule von Mogadischu zu beginnen“. Dabei benutzt Lotz wie selbstverständlich unsere alltäglichen Wahrnehmungen, exportiert gleichsam unser bürokratisches Bildungssystemlabyrinth: „Ich beantragte mehrere Förderungen und bekam ein monat­liches Stipendium vom Islamistischen Studienwerk Mogadischu, ein kleineres Salär von der Studienstiftung des somalischen Volkes sowie weitere Zuwendungen von der Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung Ostafrika.“ Im Grund- und Hauptstudium lernt er das Entern von Schiffen und andere nützliche Dinge – sein Diplom besteht er „mit einer sehr guten Note“. Und dann lassen wir den Piraten auf Nimmer­ wiedersehen zurück und finden uns in Gesellschaft von Hauptfeldwebel Oliver Pellner wieder, der begleitet vom Gefreiten Dorsch den Hindukusch hinauffährt (kein Gebirge, wie wir aus dem Fernsehen zu wissen meinen, sondern ein „langsam fließender Strom“). Ein Spezialeinsatz, denn die beiden sind ausgeschickt worden, den verrückt gewordenen Oberstleutnant Karl Deutinger, der „im Wahnsinn seine beiden Kameraden Ingo Petrov und Matthias Wenske umgebracht hatte“, zu liquidieren. Der Strom, sagt Lotz, diene auch dem Zweck einer „Reverkomplizierung“ allzu einfacher Erzählungen – wie auch sein Monolog „Die Politiker“, den er gern im Zusammenhang zu „Die lächerliche Finsternis“ sehen würde – vielleicht als eine Art Epilog. Es ist mehr als eine bloße Persiflage auf den gängigen Typus des Parteipolitikers (das wäre billig), sondern zugleich das hartnäckige Umkreisen einer Leerstelle, das schließlich zu einem magischen Akt des Herbeirufens mutiert. Überhaupt: Das Sprechen auf der Bühne von Ritualen der Sinnlosig-

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THEATERSTÜCKE EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL UA 24. Februar 2011, Nationaltheater Weimar, ­Regie Annette Pullen DER GROSSE MARSCH UA 20. Mai 2011, Ruhrfestspiele Recklinghausen (eine Produktion des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken), Regie Christoph Diem MAMA UA 10. Mai 2013, Berliner Festspiele, Theatertreffen, Regie Christoph Mehler / Philipp Preuss DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS UA 6. September 2014, Akademietheater Wien, Regie Dušan David Pařízek MODE UND WIRKLICHKEIT UA 3. November 2015, Theater Paderborn, Regie Katharina Kreuzhage IN EWIGKEIT AMEISEN UA 16. März 2019, Akademietheater Wien, Regie Jan Bosse DAS ENDE VON IFLINGEN UA 16. März 2019, Akademietheater Wien, Regie Jan Bosse DIE POLITIKER UA 30. August 2019, Deutsches Theater, Berlin, Regie Sebastian Hartmann Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & ­Medien, Frankfurt am Main.

und andere nicht. Heinrich von Kleist, den es in „Einige Nachrichten an das All“ verschlagen hat, bemerkt dazu: „Es ist wie mit den Birken: Sie kommen einem schön vor, aber wenn man das einmal begreift, dann begreift man, dass sie auch nichts anderes sind als ein wirres, entsetzliches Wuchern.“ Man versteht eben immer zu viel oder gar nichts. Wo lässt sich in einer durch und durch medialen Realität eine solche von Lotz favorisierte tragikomische Haltung zur Welt noch finden? Man versuche es so, wie der Autor seine Stücke anlegt: mit geschlossenen ­Augen in sich hineinblickend. Irgendwann wird einem da schon jemand entgegenblicken.

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WOLFRAM LOTZ

keit zu trennen, hielte er für falsch. „Murmel, Murmel“ des Dada-Künstlers Dieter Roth ist ihm jederzeit nah. Das Unterlaufen von tradierten Formaten sieht kein Verlag, kein Theater gern. Aber es gehört zur Mission dieses Autors, der es ernst meint mit dem Spiel. „Die lächerliche Finsternis“ wurde als Hörstück geboren. Kluge Inszenierungen, wie die von Wolf E. Rahlfs am Theater der Altmark in Stendal, setzten darum auch auf Hellhörigkeit. Noch die entlegensten Dinge während dieser Dschungelfahrt begannen zu klingen (mittels Tonstudio auf der Bühne live erzeugte Geräusche) – man hörte immer mehr, als man sah. Wichtig war ihm, so Lotz, dass man den Ursprung, zu dem die Reise führt, nicht mit der Natur verwechselt: Es sei eine Innenansicht der Zivilisation. Das ist wie bei Brecht in „Trommeln in der Nacht“ oder „Im Dickicht der Städte“ – keine Flucht ins Exotische, sondern ein Blick in den Bauch von Kapital und Konsum. In seiner „Rede über das unmögliche Theater“ hat Lotz 2009 bereits die Fiktion als einzige schützenswerte Realität des Theaters gefeiert. 2014 stellte er – daraus abgeleitete – „Forderungen an das Theater“ auf. Ein Manifest gegen die Hierarchie und für den Erhalt der Kantinen. Aber eben auch gegen das allzu Naheliegende, das in der Kunst immer falsch sei. Unter Punkt 24 lesen wir: „Die Stücke der Autoren sind so sperrig und unhandlich, dass sie bereits beim Transport in die Theater Probleme verursachen, weil sie beispielsweise nicht durch dir Tür passen, sodass die Tür mit Gewalt vergrößert werden muss und sich für die Beteiligten die Frage stellt, warum die Tür nur so klein war, ja: wie sie nur immer durch diese kleine Tür gehen konnten.“ Mein Lieblingsstück von Lotz bleibt „Einige Nachrichten an das All“, von Christoph Bornmüller vor einigen Jahren kongenial als Nicht-Stück am Volkstheater ­Rostock inszeniert. Der Tod eines Kindes – und das Weltall steht sofort unter Tatverdacht. Zwischen all dem Schrott, der nicht nur den Ausblick ins All zu versperren beginnt, sucht man Worte für die Ewigkeit, die dann mittels einer Apparatur in die Unendlichkeit gefunkt werden. Tröstet das irgendwie? Zwischen ­„Leiter des Fortgangs“ und „Embryo-Gott“ schrillt ein Todesengel immer wieder weckergleich sein „Komm, großer Wind“ dazwischen. Ja, es ist tragisch und ­komisch zugleich. Diese Verbindung, so Lotz, sei wichtig. Er erinnert sich an seinen Großvater, der bei Beerdigungen immer lachen musste. Weil er es lustig fand? Nein, im Gegenteil. Man kann das Traurige nicht vom Komischen trennen, es erwächst ja beides aus der gleichen Existenznot. Schlussendlich berühren „die Enden der Welt sich wieder“. Dazu gehört ein besonderes Talent, etwa so, wie einige Menschen barocke Totentänze schön finden


DENKBEWEGUNGEN ENIS MACI VON JAN HEIN

Ein Björk-Konzert in Luxemburg, November 2019. Unter den Zuschauern auch Enis Maci. „Sprache“, schreibt sie in ihrer Konzertbesprechung, „versagt vor der Erfahrung, wird klein, irritierend handlich, wird Wiederholung, dabei wiederholt gerade Björk sich nie, versagt sich auch dieser Abend der Wiederholung, ein perfektes Theaterstück, an dessen Replizierbarkeit man kaum glauben mag.“ Macis Text ist euphorisch, eine wortgewaltige Beschwörung, eine sprachkritische Anrufung. Und unter der Hand gerät der Text zu einem skizzenhaft umrissenen Entwurf einer Poetologie. Er setzt Wegmarken für ein Theater der Zukunft: Über das Konzert / das Theater schreibt Maci: „Science und Fiction gehen eine Allianz ein, als zwei Seiten einer Medaille, deren Name Notwehr lautet, gegen die Verhältnisse um uns und in uns. Was ist das, das Dritte, das Flüchtige, das Permanente, das Dings, aus dem alles gemacht ist, was zählt: Verhältnisse, Beziehungen, Umwälzungen? … Die Bühne ist eine grelle Umarmung, eigentlich aber: Wohnort eines unerklärlichen Einzellers, der weder Pflanze noch Tier ist.“ Sie erlebt „eine Musik, eine Show, die sich allen Erzählund Genre- und Kontigenzzwängen verweigert“. Björk singt vom „Matriarchal Dome“, „den man gemeinsam weben möge, in der besseren Welt – man kann auch befreite Gesellschaft sagen“. Und Maci ergänzt: „Darum geht es auch: revolutionäre Rituale, Versuchsanordnungen, Laborszenarien, aggressive Träume eben.“ Enis Maci, geboren 1993 als Tochter albanischer Immigranten in Gelsenkirchen, ist eine der Protagonis-

tinnen und Protagonisten eines genreübergreifenden Schreibens. Ihre Texte sind Hybride, sie verbinden ­Prosa, Essay, poetische Formen, theoretische Reflexionen und persönliche Erzählungen miteinander. Ihr Buch „Eiscafé Europa“ versammelt Essays, in denen sie untersucht, wie Widerstand heute aussehen ­könnte. Es sind collagehafte, nach allen Seiten offene Versuchsanordnungen über Herkunft, Muttersprache, inszenierte Weiblichkeit, das Internet, die medialen Strategien der Identitären Bewegung. „Die Offen­ legung der Quellen bedeutet noch lange nicht die ­Offenlegung der Geheimisse“ heißt ein Text, in dem sie ihre Quellen offenlegt, transparent und hierarchiefrei. Ihre Texte sind Denkbewegungen. Sie bewahren ihre Geheimnisse, sind voller Lücken, in denen man sich einnisten kann. Sie sind subversiv. Ihr Antrieb ist das Verstehenwollen, wie Wirklichkeiten im Erzählen hergestellt werden. Ohne feste Botschaft, ohne Erklärungen. Statt nach Antworten sucht Enis Maci nach den richtigen Fragen. Die Wirklichkeit ist der Tatort, dort beleuchten ihre Texte ein Phänomen von verschiedenen Seiten, entstehen oszillierende Vexierbilder. Als Partituren versteht sie ihre Stücke. Sie interessiert sich für den Transformationsprozess der grafischen Strukturen in Körper und Stimme, für das Verhältnis von Sprechakt zu Text. Ihr erstes Stück „Lebendfallen“ (2017) ist für Maci „ein Abstieg zum Punkt des größten Schmerzes, das Ansprechen gegen ihn, (k)eine Annäherung – eine Expedition“. Vier junge Menschen erzählen einander über

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ENIS MACI Enis Maci. Foto Max Zerrahn

die Anzahl möglicher Lieben, den Volksmund, Schiffbruch und Plattenbauten, Anstand und Scham, die Frage, was ein Vater wissen kann, und Fluchten. Sie erzählen von ihren Erfahrungen des Aufwachsens, Bruchstücke von Familiengeschichten, denen ein ­latenter Schmerz innewohnt. Flucht bedingt ihre ­Existenz. Ihre Suche nach der eigenen Identität steht in deren Schatten. Das Zentrum bildet der gemein­ same Ort, an den ihre Eltern auf unterschiedlichen Wegen gekommen sind. Sie nennen ihn Heimat. Für Enis Maci war die Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds 2011 ein Schlüsselerlebnis. Die Männer, die vom NSU am Blumenstand, im Kiosk, im Imbiss oder im Internetcafé ermordet wurden, hätten ihre Väter sein können. Das Stück wird chorisch durchbrochen von deutschem Liedgut, ein Resonanzraum deutscher Geschichte. In „Lebendfallen“ lautet eine Regieanweisung: „Wir durchbrechen keine vierte Wand. Wir wissen, ein Publi-

kum ist da, jemand schaut zu. Wir akzeptieren das, aber wir müssen es nicht anerkennen.“ Man könnte an Gertrude Steins „Landschaftstheater“ denken. Mit dem Begriff „Landscape Play“ bezeichnete sie Stücke, die jenseits linearer Narration und traditioneller Strukturen quasi die Fahrtrichtung der herkömmlich repräsentativen Kunstform Theater umdrehen. Von der Bühne geht keine konsistente Botschaft aus, Gertrude Stein insistierte auf der eigenen Realität der Texte, auf das freie Spiel mit Worten, Formen, Farben, Bewegungen und Bedeutungen. Sie machte den Zuschauer zum Souverän: Er muss keinem Plot folgen, er fokussiert nach Belieben seine Aufmerksamkeit selbst – wie ein Wanderer bei der Betrachtung einer Landschaft. Gertrude Steins Idee des „Landschaftstheaters“ stellt Enis Maci ihrem zweiten Stück „Mitwisser“ (2018) voran. „Das Erzählen der Fabel ist prinzipiell ein gewalttätiges“, schreibt Maci. Es ist die Landkarte einer verrohenden Welt, die das Stück „Mitwisser“ zeichnet:

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ENIS MACI IST EINE SAMMLERIN, GEFUNDENES MATERIAL IST FÜR SIE EIN ZENTRALER AUSGANGSPUNKT. Drei reale Gewaltverbrechen bilden die Koordinaten. Das Stück ist der „versuch über die kartografie der mitwisserschaft“. Es geht weniger um die Psychogramme der Täter als um das zugrunde liegende System der Gewalt: die Mitwisser, eine Kategorie vor der der Mittäter. In Florida erschlägt der Teenager Tyler Hadley seine Mutter und seinen Vater mit einem Hammer und feiert anschließend im Elternhaus eine Party. Im türkischen Isparta erschießt die 26-jährige Nevin Yıldırım ihren vielfachen Vergewaltiger und wirft seinen abgetrennten Kopf auf den Dorfplatz. Und vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht muss sich der Dinslakener Nils Donath dafür verantworten, als IS-Terrorist in Syrien Menschen gequält und gefoltert zu haben. Das Stück untersucht die Ökosysteme der Mitwisser, die solche Verbrechen zulassen. Diese Ökosysteme leiten sich ab von einem ökonomischen System, dessen Prozesse und Zustände sich mit Metaphern der Biologie begreifen lassen: parasitär und symbiotisch. Die poetische Kartografie „Mitwisser“ ist darüber hinaus vielleicht das erste wirkliche Internetdrama, da es in Struktur und Sprache die Sache selbst ist. Enis Maci ist eine Sammlerin, gefundenes Material ist für sie ein zentraler Ausgangspunkt. Das Sammeln von Spuren ohne festes Ziel geht ihrem Schreiben voraus: „ich hatte sie gesammelt, sie hatten mich gesammelt, in jenen überbelichteten Momenten, in denen ich auseinanderzugleiten drohte“, schreibt sie. Diese überbelichteten Momente, die mit der Wirklichkeit, die über sich selbst hinausweist, konfrontieren, beleuchten weitere Spuren und Assoziationsfelder. Das Verfahren erinnert an den „objektiven Zufall“ („hazard objectif“), über den André Breton in den „Entretiens“ spricht: Aus dem chaotischen Strudel der Wirklichkeit trifft man durch den „objektiven Zufall“ eine Auswahl, die sich ordnet. Er ist eine körperliche Art fortwährender Befragung der Wirklichkeit durch einen empfänglichen, sich einlassenden Blick. Der „objektive Zufall“ ist intuitiv, er hält sich an die Realität und kommt zugleich aus dem eigenen Inneren. Im Flanieren ohne festes Ziel ist er

Katalysator für neue Ideen, er verweist auf das Wunderbare, das Unvorhergesehene, das Flüchtige, das Unwahrscheinliche – die in einem Netz aus Korrespondenzen Verbindungen eingehen. „Es darf nichts als Zufall gelten, wenn man gerade den unvermeidlichen Zufall auf der Spur ist“, schreibt Maci in ihrem Essay „Der Literatur ihr Theremin“. „Autos“ (2018): Eine junge Frau, ein junger Mann. Eine Autofahrt. Eindrücke und Erinnerungen fließen ineinander. Im Radio laufen Berichte, Interviews, Musik. Die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Imagination verschwimmen. Die beiden fahren die „Gastarbeiter-Route“ der 1970er Jahre ihrer Eltern nach. Aus dem Radio klingen die Zeilen, die Olga Hepnarová an verschiedene Zeitungen richtete, bevor sie am 12. März 1973 mit einem Lkw in eine Menschenmenge an einer Prager Straßenbahnhaltestelle raste. Sie war der erste Mensch, der das Auto zum Mordinstru­ ment umfunktionierte. Wer sind Olgas Wiedergänger heute? Selbstmordattentate mit einem Lkw sind nicht

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THEATERSTÜCKE LEBENDFALLEN UA 9. März 2018, Schauspiel Leipzig, Regie Thirza Bruncken MITWISSER UA 24. März 2018, Schauspielhaus Wien, Regie Pedro Martins Beja AUTOS UA 12. Januar 2019, Schauspielhaus Wien, Regie Franz-Xaver Mayr BATALLION UA 24. Januar 2020, Nationaltheater Mannheim, Regie Marie Bues WUNDE R UA 15. Juni 2020, Münchner Kammerspiele, Regie Felix Rothenhäusler WÜST. DIE MARQUISE VON O. … – FASTER, PUSSYCAT! KILL! KILL! UA 5. Oktober 2020, Theater Bremen, Regie Elsa-Sophie Jach Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.


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Spielzeit 2020 | 2021

WIR STEHEN IN DEN STARTLÖCHERN FÜR Ginpuin – auf der Suche nach dem großen Glück

von Barbara van den Speulhof und Winnie Karnofka | ab 4 Jahren

Goldzombies

Jugendstück von Marisa Schwedt

Iphigenie auf Tauris

Schauspiel von Johann Wolfgang von Goethe

Furor

von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

Die Schneekönigin

von Olivier Garofalo und Evelyn Nagel nach Hans Christian Andersen | ab 5 Jahren Vielen Dank für die Förderung der Produktion

Ziemlich beste Freunde (Intouchables)

Komödie nach dem gleichnamigen Film von Éric Toledano und Olivier Nakache in einer Bühnenfassung von René Heinersdorff

Hilfe, die Mauer fällt! Komödie von Karsten Laske

Freie Wahl von Esther Rölz

Der Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete

Kinderstück frei nach Otfried Preußler bearbeitet und erweitert von John von Düffel | ab 5 Jahren

Extrawurst

Schauspiel in zwei Akten von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob

THEATER EISLEBEN

Landwehr 5 06259 Lutherstadt Eisleben www.theater-eisleben.de

ENIS MACI

untrennbar mit dem islamischen Fundamentalismus und militanten Männern verbunden. Welche Verhältnisse bringen solche Taten hervor und machen das Auto zu etwas potenziell Mörderischem, das gerade noch Zeichen sozialen Aufstiegs, für Freiheit, für ein „Es-geschafft-Haben“ war und dessen Blechhaut das Innen vor dem Außen schützte. Das Stück verwebt gesammelte Spuren und reale Fälle: wie die argen­ tinische Ameise, die, anders als der Mensch, ein Exoskelett wie das Auto hat, das als Panzer außen das ­Innere schützt. Das Erzählen als Weben. Ariadnefaden. „Nicht ­umsonst“, schreibt Maci, „kommt Text von lateinisch textere, weben, flechten.“ Ihr Stück „Bataillon“ (2020) ist eine kunstvoll gewobene postapokalyptische ­Zukunftsvision, eine Komposition ausschließlich ­weiblicher Stimmen – von der Antike bis heute –, ein Gegenentwurf zur männlichen Geschichtsschreibung, eine Neuordnung, eine Erinnerung an vergessene und bekannte Frauen, an alternative Konzepte. Ein Hochhaus im Niemandsland, im Inneren eine ganze Welt: Monica Lewinsky, Ada Lovelace, die als erste Programmiererin gilt, Elisabeth Mann Borgese und Penelope. Im Keller sitzen Weberinnen und arbeiten an Tarn­ netzen für einen Krieg, der viele Schauplätze hat: den ­Balkankrieg, den Krieg in Syrien, den Körper der Frau. Die Allianz von Science und Fiction, Notwehr gegen die Verhältnisse, Verweigerung aller Erzähl-, Genre- und Kontingenzzwänge, revolutionäre Rituale, Versuchsanordnungen, Laborszenarien, aggressive Träume – auch in ihren beiden neuen, noch nicht uraufgeführten Stücken folgt Enis Maci ihrer Poetik und entwickelt sie weiter: In „Wüst. Die Marquise von O. oder: Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ (2020) verbindet sie Kleists Novelle von 1808 mit Russ Meyers Kultfilm von 1965, in dem drei Stripperinnen mit ihren Rennautos durch die Wüste rasen und sich holen, was sie wollen: Spaß und Geld. Sein Film wurde zum feministischen Klassiker: Traditionelle Werte und Geschlechterrollen sind verkehrt, die Frauen gelten als die ersten Ver­ treterinnen einer feministischen Revolution im Kino. – Und in „Wunde R“ (2020) geht es um das Feld des ­Körperlichen: der Körper als Gewinde, als Wunde, als Knotenpunkt, als Wunder. Und um Schönheit, die über die Körper hinausweist. Von Heiligen und Wundern, Wunden und Verletzungen ist auch in Enis Macis ­Essays immer wieder zu lesen. Während des BjörkKonzerts erlebt sie bei dem Song „The Gate“ „die ­Wiedereröffnung der vernarbten Wunde als Tor“. Und immer wieder verweist Maci auf Ilse Aichinger, die in ihrer Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis sagte: „Ich fragte wie fast jeder vieles in der Zeit des Heranwachsens. Nach dem Staat fragte ich nicht.“


ÜBER DIESE GESCHICHTE HABE ICH DIE MACHT MARIA MILISAVLJEVIĆ VON ANDREA VILTER

Sie hätte sich selbst wohl nicht primär als Autorin bezeichnet, als sie 2013 mit ihrem Erstlingswerk „Brandung“ auf Anhieb den Kleist-Förderpreis gewann. Mit beeindruckender sprachlicher Kraft schuf Maria Milisavljević damals eine originelle Mischung zwischen Thrillerplot, Dreiecksgeschichte und Migrationsdrama. Aus einer studentischen WG verschwindet auf einem kurzen Einkaufsgang die junge Karla. Zurück bleiben ihr Freund und zwei Mitbewohnerinnen, die sich auf eine zermürbende Suche nach der Vermissten begeben und dabei mehr und mehr auf sich selbst und die Abgründe ihrer Beziehungen zurückgeworfen werden. Schon in diesem ersten Theaterstück übt Milisavljević selbstbewusst ihre Macht über die Geschichte aus. Nachdem sie über 35 kurze Szenen ­hinweg in bester angelsächsischer Well-made-playTradition Suspense aufgebaut hat, lässt sie die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Nonchalance in einer gewissen Ratlosigkeit zurück. Einiges wird zwar auf­ geklärt, anderes dadurch aber noch obskurer, und ein Mörder, falls es ihn gibt, wird nicht gefunden. Stattdessen eine Vergangenheit, die sich in geradezu ­Ibsen’scher Manier unheilvoll in die Gegenwart fortschreibt. Aus Perspektive ihrer eigenen Generation und Herkunft, gelingt Maria Milisavljević mit dieser ­Geschichte einer schuldhaften Verstrickung der Blick über sich selbst hinaus auf gesellschaftliche Zusammenhänge und wieder zurück auf das vollkommen subjektive Empfinden von Liebe und Verlust. „Brandung“ ist ein atmosphärisch dichter, man könnte

s­ agen, im buchstäblichen Sinne dunkel unterspülter Text. Seine Bühnenwirksamkeit verdankt er sicher auch Maria Milisavljevićs Theatererfahrung. Ihr Schreiben ist bei aller Könnerschaft unakademisch. Sie kommt aus keinem der Studiengänge für Szenisches Schreiben, sondern aus der Theaterpraxis. Als Regieassistentin und Regisseurin hat sie in Deutschland, England und Kanada gearbeitet. Die Rolle der Autorin entdeckte sie für sich in der freien Szene. Weil sie für ihre Gruppe von den Verlagen keine Rechte für neue Dramatik bekam, fing sie selbst an zu schreiben und wurde vom Erfolg ihrer „Brandung“ buchstäblich überrollt. Preise und Auszeichnungen häuften sich, und Maria Milisavljević wird seither auch international als Autorin wahrgenommen. Dass sie als Theaterfrau schreibt, ist ihr aber geblieben und entkräftet alle Stimmen, die ihren Stücken die Bühnentauglichkeit absprechen wollen. Ein Punkt, in dem Milisavljević empfindlich reagiert. Sie pocht vehement und sehr zu Recht darauf, dass ihre Stücke für das Theater geschrieben wurden und genau dort ihre Kraft entfalten. Die sprachliche Qualität ihrer Stücke hat keinen kleinen Anteil an ihrer theatralischen Wirksamkeit. Milisavljevićs Sprache ist präzise und extrem beweglich. Zarte, poetische Passagen wechseln unvermittelt zu ruppigem Internet-Jargon, beißendem Sarkasmus oder einem in der zeitgenössischen Dramatik eher seltenen, ganz ironiefreien Pathos. Entscheidend für die Relevanz ihres Schreibens ist aber, dass sich Maria Milisavljević mit den drängen-

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Maria MilisavljeviĆ. Foto Rosa Linda Saal

gen in die Unverbindlichkeit virtueller Welten verabschiedet hat. Maria Milisavljević bringt scheinbar Entlegenes auf eine sehr persönliche und eigenwillige Weise zusammen und bezieht ganz unmittelbar Stellung. Sie weicht der Gegenwart nicht aus, sondern lässt sich von ihr berühren. Dabei zeigt sie, durchaus kunstvoll und zugleich konkret, eine Realität, die aus unterschiedlichsten Erfahrungsebenen zusammengesetzt ist. Fremd, fast befremdlich in ihrer Parabelhaftigkeit, erscheint eine mythologische Landschaft und in ihr eine geheimnisvolle Figur, die durch Selbstsucht und Rationalität bestimmt wird. In einem parallelen Handlungsstrang erleben wir die banalen, in erschreckender Weise bekannten Alltagsszenen und -dialoge einer Gruppe junger Erwachsener – vielleicht eine Berliner WG –, deren subjektive Innenschau sich immer weiter von den Anforderungen ihrer Lebenswirklichkeit entfernt. Vor allem mit sich selbst beschäftigt, wird ihre Realitätswahrnehmung durch die allumfassende Medialisierung mehr und mehr von starken Störgeräuschen überlagert. Ist das im Stück beschriebene Dröhnen Ursache oder Ergebnis einer sich unmerklich in unsere Gegenwart einblendenden Gewalt? Ist es Metapher oder konkretes Kriegsgeräusch? Sicher beides, wenn sich im Text die latente Bedrohung allmählich in einen sehr realen Bürgerkrieg verwandelt, aus dem sich auch die auf Rückzug aus der Verantwortung bedachten Jugendlichen irgendwann nicht mehr heraushalten können. Sie müssen handeln, und das führt zur Katastrophe. Ein Kind wird erschossen. Der Täter und die Mutter des

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MARIA MILISAVLJEVIĆ

den Fragen unserer Zeit auseinandersetzt und diese Aufforderung auch an uns richtet. Der von Beginn an deutlich sichtbare gesellschafts­ politische Impetus in Maria Milisavljevićs Werk hat sich mit den Jahren noch verstärkt. In „Auf ewig unser Ges­tern“, einem Auf­tragswerk für das Münchner Residenztheater, schich­ tete sie 2018 die Erzählebenen so aufeinander, dass sich aktuelle Geflüchteten-Szenarien mit scheinbar aus der Zeit gefallenen Familienszenen, deutschem Liedgut und dem ergreifenden Briefwechsel eines vom Krieg ­getrennten Liebespaars zu einem formal fast lyrisch anmutenden, dabei aber politisch hochbrisanten Text verbinden. Milisavljević sucht und findet mit ihrem palimpsestartigen Verfahren die strukturelle Ähnlichkeit von ­historischer und zeitgenössischer Gewalt und Ausgrenzung und macht sie für ihr Publikum deutlich sichtbar. In „Beben“, mit dem sie 2016 den Heidelberger Stückemarkt gewann, zwingt uns Maria Milisavljević wiederum durch eine suggestive Dramaturgie ein ­gesellschaftspolitisches „Wir“ geradezu auf. In einem Gewebe von Sätzen zeichnet sich eine Dialogstruktur zwar ab, aber sie ist fließend und entsteht allein durch den Wechsel der Perspektiven in einer sich erst allmählich abzeichnenden Handlung. Wer genau spricht in diesem vielstimmigen Text? „Wir. Wer immer und wie viele wir auch sind“ heißt es in der Regieanweisung. Die Autorin will uns involvieren in eine Geschichte, und wir sollen uns identifizieren mit einer Gesellschaft, die sich angesichts immer näher rückender realer Bedrohun-


THEATERSTÜCKE BRANDUNG UA 5. Juni 2013, Ruhrfestspiele Recklinghausen in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie Christoper Rüping BEBEN UA 13. April 2017, Pfalztheater Kaiserslautern, Regie Fanny Brunner AUF EWIG UNSER GESTERN UA 23. Juni 2018, Residenztheater München, Regie Franziska Angerer GESCHICHTEN AUS DEM BAUWAGEN UA 21. Mai 2019, Theater an der Parkaue, Regie Inda Buschmann GETEILT UA 30. November 2019, Deutsches Theater Göttingen, Regie Moritz Beichl DAS SCHAFFEN WIR! ODER: EINER HAT DIE ABSICHT EINE MAUER ZU BAUEN. UA 29. Februar 2020, Junges Theater Regensburg, Regie Maria-Elena Hackbarth TEUFELSBRUT frei zur UA WORTE frei zur UA Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & Medien, Frankfurt am Main.

Opfers müssen mit dem Schrecken der Tat leben. Und im Moment der größten Verzweiflung traut die Autorin sich und ihren Figuren eine unwahrscheinliche und dabei bezwingend einfache Möglichkeit der Erlösung zu. Mit Vehemenz und Pathos plädiert sie dafür, das Prinzip Liebe als Mittel gesellschaftspolitischen Handelns wiederzuentdecken, und zeigt damit den Mut zur Utopie als Widerspruch zum Fatalismus der Vernünftigen. Einen Mut, den man naiv nennen könnte, und das ist der Autorin bewusst. Sie scheint ziemlich unangefochten von der allgegenwärtigen Angst davor, sich angreifbar zu machen, und es liegt etwas altmodisch Aufmüpfiges in ihrer Haltung, wenn sie darauf besteht,

den Kreislauf der Gewalt in ihren Stücken nicht einfach repetieren zu wollen. „Über diese Geschichte habe ich die Macht“, sagt sie und freut sich daran, sie – durchaus gegen zeitgenössische Sehgewohnheiten – zum Guten zu wenden. Ein Move, mit dem sie auch ihren neueren Text „geteilt“ zu einem unerwarteten Schluss bringt. Es ist die Geschichte einer Vergewaltigung, und auch hier erzählt die Autorin aus unterschiedlichen Perspektiven. Zu Wort kommen unter anderem die Frau, der Mann, das deutsche Recht, die Autorin, diverse Internetuser und ein schon verstorbener, zum Winzling geschrumpf­ ter Vater. Es ist nicht ganz leicht, sich zurechtzufin­ den – ganz leicht macht Milisavljević es ihrem Publikum nie. Ihre Stücke spiegeln eine unübersichtliche Wirklichkeit wider, nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell. Ohne Arbeit am Text, ohne Deutungen und Spekulationen geht es bei ihr nicht. Was ist genau geschehen, und wer trägt Schuld? Wer ist berechtigt zu urteilen, und welche Folgen hat die Tat? Es sind weitreichende Fragen, die Milisavljević mit großer dramaturgischer Versiertheit umkreist. Während sie den Fall und seine gesellschaftspolitischen Implikationen analysiert, beobachtet sie mal aus der Ferne, mal aus der Nähe ihre Figuren und zeigt dabei große Empathie. Nicht nur, weil die selbstreferenziell im Stück auftretende Autorin es sich von ihren zynisch auftrumpfenden Gegenspielern verordnen lässt, sondern aus originärem Interesse für alle Facetten des Menschlichen lässt sie in ihrer psychologischen Sondierung der Geschehnisse den Vergewaltiger ebenso zu Wort kommen wie sein Opfer. Und weil es ihr gelingt, ihn zu verstehen, wird er auch für uns verständlich – und seine Tat in ihrer empörenden Normalität umso unerträglicher. Umso über­ raschender erscheint dann auch das gewagte Happy End in Deus-ex-Machina-Manier, das gerade durch seine Abwegigkeit denjenigen gute Laune machen kann, die sich auf das Credo der Autorin einlassen wollen: So unwahrscheinlich das gute Ende (im Stück und in der Wirklichkeit) sein mag, es ist eine Utopie, die in der Kunst nicht nur legitim, sondern manchmal sogar notwendig ist. Man sollte sich allerdings auf keinen Fall darauf verlassen. Wenn Maria Milisavljević in ihren Stücken nach der Möglichkeit gelingenden Lebens sucht, traut sie ihren Figuren (und uns) zwar mehr ­Gutes und mehr Güte zu als viele andere Autorinnen und Autoren ihrer Generation, wahrscheinlich auch mehr, als man realistisch finden mag, aber sie ist viel zu klug, um auf ihre eigenen Glücksbeschwörungen selbst hereinzufallen. Ein Happy End ist bei ihr deshalb auch keine Beschwichtigung, sondern genau das Gegenteil – die explizite Aufforderung zu einem Handeln, das die Kunst in Wirklichkeit übersetzt.

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THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG

ES WAR ZWEIMAL

UND MORGEN STREIKEN DIE WALE

Tanzstück von Sara Angius für Alle und Allerkleinste | Relaxed Performance (UA) [2 plus]

Von Thomas Arzt [12 plus]

SYSTEMFLIMMERN Ein Tanzstück von Muhammed Kaltuk & Franz Kater (UA) [14 plus] X

HAMLET Von William Shakespeare | Deutsch von Angela Schanelec und Jürgen Gosch [15 plus]

WUTSCHWEIGER

GORDON UND TAPIR

Von Jan Sobrie und Raven Ruëll | Aus dem Flämischen von Barbara Buri (DSE) [8 plus]

Puppentheater nach dem Kinderbuch von Sebastian Meschenmoser [4 plus]

SCHULE DES WETTERS: SCHNEE

STRUWWEL

Ein Tanzstück von Lisa Freudenthal | Basierend auf der Bühneninstallation von Guy Gutman, Gabi Kricheli & Tami Lebovits (UA) [7 plus]

WILDE BÜHNE für ein inklusives generationsübergreifendes Ensemble | Frei nach dem Kinderbuch »Der Struwwelpeter« von Dr. H. Hoffmann (UA) [10 plus]

DAS NEINHORN

GULLIVER

Von Marc-Uwe Kling [5 plus]

Eine interaktive Reise nach Motiven von Jonathan Smith | Von der »komplexbrigade« (UA) [12 plus]

Karten: 0341.486 60 16 www.tdjw.de

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petra: wir schaffen uns, / schaffen uns hier etwas neues, / einen neuanfang. / schütteln mit der stadt, / schütteln wir uns all das ab, / was dir den kopf zerbricht. Ferdinand Schmalz „Der Tempelherr“

ALTER EGO Ich bin doppelter Muttersprachler LEHRERIN Man kann nur eine Mutter haben ALTER EGO Quatsch LEHRERIN Dieses unerschütterliche Selbstvertrauen widert mich an AkIn E. Sipal „Mutter Vater Land“


kältemäßig am Klirren. Vorm Adana Kebab dampft

sie. Es riecht nach ... Nach Beton, nach feuchtem.

Abgestandenes Bier, Frittierfett, einmal Fäulnis

süß-sauer. Nach Zuhause.

Und wie ich das denke, wird meine Hand nach hinten

gerissen. Und Lou so, sie sagt ... So heißt sie,

nur Lou, ohne Schnörkel, sie zeigt auf den

Hinterreifen eines Kombis und sagt: „Da ist ein Dirk Laucke „Nur das Beste“

Nur weil ich nicht schreie, heißt das nicht, das ich nicht könnte, zurück und an und raus, von mir aus auch mit. Maria Milisavljević „geteilt“

Alexander Eisenach „Der Zorn der Wälder“

Geschichte abgebrochen.

geopfert. Die Zukunft ist Nacht. Die

ren Weg. Der Ermittler ist tot. Der Täter

Keine Dramaturgie erhellt mehr unse­

Schicksal … Wir tappen im Dunkeln.

steckt. Vernichtung durch Terror ist ihr

einer Zivilisation, die in der Sackgasse

Igel.“

nur den radikalen Bruch mit der Logik

­Möglichkeit der Verbesserung. Es gibt

Es gibt kein Korrektiv mehr. Keine

LUDI Siebenuhrachtundvierzig und die Straße ist


VOM UNTERWEGSSEIN IM DAZWISCHEN MEHDI MORADPOUR VON RIEKE SÜSSKOW

Schaut man sich Mehdi Moradpours Biografie an, wundert man sich nicht über die turbulente Dynamik seiner Texte. Ebenso wie sein Leben vom Unterwegssein geprägt ist – er wuchs in Iran auf und ging mit 21 Jahren nach Deutschland – so ist auch sein Schreiben von einer inneren Unruhe gezeichnet, die beinahe physisch spürbar ist. Seine Suche bewegt sich dabei immer im Dazwischen: zwischen den Welten, den Sprachen und den vermeintlich widersprüchlichen Polen. In „ein körper für jetzt und heute“ (UA Schauspielhaus Wien 2018) nimmt er uns mit auf einen Streifzug durch eine traumartige, apokalyptisch anmutende Landschaft aus „ideologischen trümmern“, weißen Maulbeeren, vor Öl triefenden Robben­kadavern und leer stehenden Rohbauten, der sich immer mehr zu einem reißenden, überbordenden Sprachfluss entwickelt. Plötzlich wird uns beim Lesen der Boden unter den Füßen weggerissen, und wir werden hin- und hergewirbelt – von einer Situation in die nächste. Die zwischenmenschlichen Szenen, in die wir ­hineingesprudelt werden, erlauben uns, kurz zu ver­ weilen. Für Momente erscheint alles wie angehalten. Die F ­ iguren wirken, umgeben von der Gewalt der Metatextebene, in ihren banalen Dialogen beinahe bewegungslos und klein. Dabei gibt es keine klassische Hierarchie. Vielmehr stehen die Pole heilig und profan, laut und leise, groß und klein, Makro- und ­Mikrokosmos stets gleichwertig nebeneinander. Die Figuren sind nicht per se das maßgeblich handelnde

und vorantreibende Element. Vielmehr wirken sie in der ersten Hälfte des Textes noch wie kleine aufploppende Handpuppen, die zwar zutiefst ernst genommen werden, aber ebenso machtlos wie die Leserinnen und Leser in den Strudel des Sprach- und Weltorganismus geworfen sind. Erst im Laufe des Stücks sind die Figuren mehr und mehr für die Dynamik verantwortlich und entblättern ihre Komplexität. Das bedeutet aber nicht, dass sie eine vollständige Souveränität erhalten. Elija, der aufgrund der politischen Situation (in Iran wird Homosexualität strafrechtlich verfolgt und teils sogar mit der Todesstrafe belegt) eine mehr oder ­weniger forcierte Geschlechtsumwandlung vornehmen lässt, verlässt gemeinsam mit seinem Liebhaber Fanis und seiner Cousine Mela das Land als Frau, um in Europa einen ganz neuen Körper zu erhalten, der die Grenzen von Männlichkeit und Weiblichkeit überschreitet, um damit auch die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft zu erschaffen. Sie hoffen auf die Chirurgin Dr. Eva Reisser, doch auch sie wird in ihrer eigenen Notlage (sie benötigt eine neue Leber, um weiterleben zu können) ihrer Souveränität beraubt. Stets fragt das Stück nach den Abhängigkeiten des Menschen von der Natur und was deren Überschreitung bedeuten könnte. Erlösung in einer plötzlichen Selbstbestimmungserkenntnis bietet es nicht. Viel mehr werden wir, kaum dass wir kurz das Gefühl von Stabilität erlangt haben, wieder zurückgeworfen in den dynamischen Sprachstrudel, der sich aber keinesfalls elitär, sondern eher sinnlich-poetisch gebärdet. Nie kommen wir

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Mehdi Moradpour. Foto Max Zerrahn

tioniert, und so wird uns die Rolle der Koautor­schaft zuteil. Auch gibt es im orientalischen Verständnis keine strikte Trennung zwischen Mystik und Naturwissenschaft, wie wir sie aus dem aufklärerisch geprägten Europa kennen. Moradpours große Affinität zu den Naturwissenschaften – in Iran studierte er Physik und Industrietechnik – kommt in seinen Texten immer wieder zum Vorschein. Doch die Beschreibungen von phy­si­ kalischen und ­biologischen Gesetzmäßigkeiten sind keineswegs berechnend oder gar errechnet – sondern sie ent­ wickeln durch ihren assoziativen und intuitiven Charakter, in ihrer Bildlichkeit und Poesie eine rauschhafte, beinahe spirituelle Kraft. Auch hier werden wieder zwei Pole geeint. Man spürt dabei, dass die Architekturen seiner Texte keinesfalls aseptische und geplante Gebilde sind – sie entstehen vielmehr aus einer Suche, die sich Schicht um Schicht in die Tiefe gräbt. Dadurch sind in Moradpours Texten immer mehrere Anfänge zu finden. „ein körper für jetzt und heute“ beginnt mit einer Art Regieanweisung: einer Aufforderung an das künstlerische Team, vor der Probe Körperübungen zu machen, in denen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten immer wieder neu erprobt werden sollen. Im Grunde beschreibt schon dieser „erste Anfang“ die fundamentale Suche des Stücks. Können die Gesetzmäßigkeiten, in denen wir denken, nicht auch überwunden oder

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MEHDI MORADPOUR

i­rgendwo an – stattdessen werden wir mit einem Gefühl der inneren Unruhe zurückgelassen. Moradpours Stücke zeichnen sich durch die Abwesenheit von Erlösung oder gar Erkenntnis aus. Sie werfen Fragen auf – ohne dabei vorgefertigte Antworten mitzuliefern und uns somit das Denken abzunehmen, sie konfrontieren uns vielmehr immer wieder mit neuen Perspektiven und Zusammenhängen jenseits der Zen­ tralperspektive. Im Gespräch erzählt mir Mehdi Moradpour, dass die Zentralperspektive insgesamt eine sehr europäische Konvention sei. Die orientalische Kunst- und Kultur­ geschichte sei eher multiper­ spektivisch: „Es gibt kein Zentrum des Betrachtens“. Der Mensch sei nicht wie im Okzident das zentrale handelnde Element, sondern er sei den Dingen ausgesetzt, die auf ihn einprallen. Dabei sei er nicht prinzipiell passiv, aber sich dennoch seiner Abhängigkeit von der Umwelt bewusst. Moradpours Texte lassen sich nicht auf simple Aussagen zusammenfassen oder reduzieren, sondern bleiben stets ambivalent und mehrdimensional. Sie erscheinen wie komplexe architektonische ­Gerüste, die durch ihre fließende musikalische Komposition in permanenter organischer Bewegung zu sein scheinen. Trotz der starken hermetischen Form des clusterartigen Netzes haben wir genügend Raum, uns als Gegenüber selbst hineinzuflechten. Moradpour weiß, dass Theater nur in Anwesenheit der Betrachtenden funk-


DER KÖRPER ALS KOMPLEXER ORGANISMUS, ABER AUCH SOZIALES GEFÜGE IST DAS GEBILDE, DAS MORADPOUR ­BESONDERS ZU INTERESSIEREN SCHEINT. neu gedacht werden? Es sind immer außenstehende Ordnungen, die, im allgemeinen Verständnis als Wahrheit akzeptiert, unsere Körper und politischen Systeme regulieren. Elijas neuer Körper soll ein universeller sein, einer, der jenseits der Grenzen von weiblich, männlich, aber auch von Mensch, Tier und Maschine liegt. Ein Körper, der Grenzen und Widerstände überwindet. Er wünscht sich einen Körper im Dazwischen, „einen körper ohne ort. aber mit zukunft (…) zwischen hell und dunkel, leer und laut, heilig und viral, hungrig und heiter“, einen Körper als Pforte zu einer neuen, besseren Welt. Nicht ohne Grund ist die Hauptfigur des Stückes nach dem Propheten Elija benannt. Er begreift sich als Märtyrer. Vielleicht könnte dieser neue, universelle Körper auch soziale Ungleichheiten überwinden? Der zweite Anfang des Stücks stellt Zusammenhänge zwischen Mikrobiologie und dem gegenwärtigen Machtsystem her. „die wüste des kapitalismus: der wegbereiter der schmierigen kriegsmaschinerie gegen den terror: der schrittmacher des konsumterrors. die wüste des radikalen monotheismus: das flache paradies: der zubringer zum klebrigen himmelreich. das erdöl: eine fühlende datenbank: ein 600 millionen jahre altes solares muttergestein aus totem plankton: ein degeneriertes wesen aus irdischen bakterien.“ Je nach physikalischer Wahrheit, die von den jeweils vorherrschenden Theorien bestimmt wird, kann auch eine neue gesellschaftliche Ordnung gedacht werden. „der astrophysiker thomas gold aber stellt 1991 eine neue theorie auf, die einen streit um die entstehung des erdöls auslöst. gold behauptet, öl und gas entstehen nicht aus pflanzen und tieren wie wir sie kennen son-

dern aus stoffwechselprodukten von bakterien, die in der erdkruste leben. sie sind druckresistent, verwerten kohlenwasserstoff und lieben die hitze. dieses leben ist demnach unabhängig von sonnenenergie, licht und photosynthese.“ Vielleicht sind die Bakterien die eigentlichen Herrscher dieser Welt. „Eine Frage der Optik“, wie Heiner Müller in seinem Text „Krieg der Viren“ schrieb. Im Gegen­ satz zu uns Menschen sind sie fähig zu jener artenübergreifenden Symbiose, wie Elija sie sich wünscht. Beinahe volksstückartig legen die Figuren in der Simplizität ihrer Dialoge die Absurdität der Gesellschaft offen. Durch Sprachspiele, Wiederholungen und schräge Situationen wird eine Komik erzeugt, die zugleich nie ihre Tragik verliert. Die leicht verfremdeten Dialoge setzen sich unserem alltäglichen Sprachgebrauch ent­gegen und lassen uns immer wieder kurz über Skurrilitäten der deutschen Sprache stolpern, zu der Moradpour sicher einen ungehemmteren Zugang hat, welchen er gekonnt zu nutzen weiß. Durch die leichte Verzerrung und Distanz kommen uns die Protagonisten erstaunlich nahe. Die anfangs wie comicartige Pappschnipsel wirkenden Figuren entwickeln sich zu hochkomplexen Charakteren, mit denen wir mit­fühlen können, gerade weil sie in ihrer Fehlbarkeit an Zugänglichkeit gewinnen. Besonders kommt das in „türme des schweigens“ (2017, frei zur UA) zum Tragen. Ein Stück, dass sich in Form einer Familiengeschichte auf verschiedenen Ebenen – formal und inhaltlich – mit Sprachstörungen auseinandersetzt. Unausgesprochene und vererbte Traumata aufgrund von Gewalterfahrung drücken sich hier im Umgang mit Sprache aus. So gibt es eine ­exzessive Art des Sprechens, ebenso wie Lücken in der Sprache, ein Stottern wie bei Dana sowie die vollständige Abwesenheit der Worte bei dem im Koma liegenden Vater Sperber. Das plötzliche Schweigen des ­Vaters legt nach und nach die eigentliche Wunde der Familie offen. Auch hier entwickelt sich über die Tragik missglückter Versuche, miteinander in Verbindung zu treten, eine eigene Komik in den Dialogen. Das Stück ist im Gegensatz zu Moradpours neueren Stücken figurenorientierter, was im Zusammenhang mit dem Thema absolut Sinn macht. Die Bewegung ist weniger wirbelnd und fließend als vielmehr stockend und in sich selbst gefangen, ebenso wie die Familienkommunikation. Sperber und seine Frau Sepi lernten sich im Widerstand der kommunistischen ­Minderheitenbewegung in Iran kennen. Während Sepi mit Dana schwanger war, wurde Sperber im Gefängnis gefoltert. Jetzt leben sie mit ihren beiden Töchtern in Deutschland und schweigen über ihre Gewalt­ erfahrungen. Doch das Trauma überträgt sich auf die

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DER CHOR DER STAUBFLOCKEN, DIE SEIT DEM MÄCHTIGSTEN VULKANAUSBRUCH DER MENSCHHEITSGESCHICHTE 1815 IM UNIVERSUM HERUM­ WIRBELN, ÜBERNIMMT HIER DIE ERZÄHLPERSPEKTIVE DES MIT ABSTAND UFERLOSESTEN TEXTES VON MORADPOUR.

THEATERSTÜCKE MUMIEN. EIN HEIMSPIEL UA 09. April 2016, Theater Konstanz, Regie Andreas Bauer EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE UA 27. Januar 2018, Schauspielhaus Wien, Regie Zino Wey ATTENTAT ODER FRISCHE BLUMEN FÜR CARL LUDWIG UA 13. September 2019, Theater Bremen, Regie Pınar Karabulut REINES LAND frei zur UA TÜRME DES SCHWEIGENS frei zur UA Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

derem für das Bundesamt für Migration und Flücht­ linge arbeitet, ein wichtiges Thema, das vor allem in seinem ersten und figürlichsten Stück von 2012 „reines land“ im Zentrum steht. Mit seinen Erfahrungen nimmt er in der deutschsprachigen Autorinnen- und Autorenlandschaft, die sich der Wichtigkeit des Themas zwar weitestgehend bewusst ist, aber nur selten Berührungspunkte hat, eine bedeutende Rolle ein. In seinem neusten Text „Attentat oder frische ­Blumen für Carl Ludwig“ (UA Theater Bremen 2019) widmet er sich erstmalig dem Element des Chores. Der Chor der Staubflocken, die seit dem mächtigsten Vulkanausbruch der Menschheitsgeschichte 1815 im Universum herumwirbeln, übernimmt hier die Erzählperspektive des mit Abstand uferlosesten Textes von Moradpour. In der deutschsprachigen Theaterwelt tut man sich schwer, Moradpours Texte einzuordnen. Man ist sich beispielsweise uneins, ob sie der Postdramatik zuzuordnen sind oder nicht. Da Moradpour aber ein Suchender bleibt, entzieht er sich jeglichem Definitionsraster. Diese permanente Suche nach neuen Formen, Perspektiven und Polen sowie das immer wieder neue Befragen von Gesetzmäßigkeiten überschreitet Grenzen und verändert die Form seiner Texte jedes Mal aufs Neue. Was ihnen allen jedoch gemein ist, ist die innere Unruhe und die damit verbundene Boden­ losigkeit in der Sprache, die in ihrer klanglichen und bildlichen Kraft einen ganz besonderen Sog ausübt.

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neue Generation. In diesem Fall stammt die zu unter­ suchende Gesetzmäßigkeit aus der Psychologie: Man spricht von Türmen, die erst umkippen müssen, damit Traumata aus vorigen Generationen verarbeitet ­werden können. Ferner ist der Titel eine Anspielung auf den zarathustrischen Totenkult, bei dem die Türme des Schweigens als Himmelgrabstätten dazu dienen, das Fleisch der Leichname von Vögeln abhacken zu lassen. Teile der Leichen werden somit verdaut und geraten wieder in den Kreislauf der Natur. Die Knochen bleiben als unüberwindbare Erinnerung. Hier wird im Mikrokosmos einer Familie ein universelles und ur­ psychologisches Thema verhandelt, überführt in eine Form, die vor allem körperlich-klanglich spürbar wird. Der Körper als komplexer Organismus, aber auch soziales Gefüge ist das Gebilde, das Moradpour beson­­ ders zu interessieren scheint. „mumien. ein heimspiel“ (UA Theater Konstanz 2016) behandelt unaus­gespro­ chene Traumata, die durch die identitäts­verändern­den Zwänge bei der Flucht, aber auch durch Gewalterfahrungen im sozialen Abhängigkeitssystem eines Asyl­ bewerberheims entstehen. Das Heimmilieu wird hier zu einer Art überdimensionalem Körper, der in seinen sozialen Verflechtungen Schritt für Schritt seziert wird – ebenso wie die Tierkörper, die sich Viv, eine Soziologin, während der Taxidermie fasziniert von innen anschaut. Struktureller Rassismus und andere soziale Schieflagen im deutschen Asylsystem sind für Mehdi Moradpour, der selbst als politischer Geflüchteter nach Deutschland kam, drei Jahre in einem Asylbewerberheim lebte und nach wie vor als Übersetzer unter an-


KONTROLLVERLUST JAKOB NOLTE VON MIRKA DÖRING

So was haben Sie noch nicht gelesen! Wirklich, wenn Sie noch keinen Text von Jakob Nolte gelesen haben, haben Sie de facto noch nie so was wie einen JakobNolte-Text gelesen. Auch nicht, wenn Sie die Plots von Quentin-Tarantino-Filmen kennen. Wenngleich er gerne als der Tarantino des deutschen Literaturbetriebs betitelt wird, was ich total doof finde. Jakob Nolte selbst würde sich daran vielleicht gar nicht stören. Eventuell fände er es bezeichnend, dass er der Taran­ tino des deutschen Literaturbetriebs sein soll – nicht aber der des deutschen Theaterbetriebs, wo er doch so viel mehr und so viel länger fürs Theater geschrieben hat. Die Sichtbarkeit ist eben eine andere. Ob ihm solche Vergleiche mit den Größen des Kunstund Kulturbetriebs schmeicheln oder ihn irgendwie einschüchtern? Vermutlich nicht. In seiner „Vita Dissoziativa“, einem Stück, das, kurz zusammengefasst, von allem handelt, behauptet die Figur Knut Hamsun ganz unverfroren: „Im Übrigen kann jeder schreiben wie ­Elfriede Jelinek. Ich werde es Ihnen beweisen: ,Vater Österreich, du hast die Leichenberge vergessen und sie überraschend Alpenvorland genannt, hast dein ­Leichenvorland übersehen, über Seen Österreichs hängende Nebelbänke übersehen und sie Wolkenstaat genannt, Vater, der Nebel und die Getränke, beides kommt aus Österreich und man sieht nichts mehr, wie durch dichten Zweigelt. Wie dicht vom Zweigelt. Wie ohne Endgeld, dafür aber mit Endlösung. Mit einem Endlösegeld ausgestattet, gestatten: Der Zweigelt, die Lösung, das Lösungswort, der Schüttelreim, der

Trümmertraum, der Kummerbund, der Bund der Kummerer und der Bund unser aller Kummerei …‘“ – hier ­lasse ich mal ein gutes Stück Nolte’scher Jelinek-Textfläche aus – „,… Wie schmilzt deine Galaxie zwischen meinen Zähnen, wie reinigt mich deine Seife, dass ich wieder sehen kann mit meinen schmutzigen Augen über Österreich hinweg, über die Seen, die übersehenen Nebel und Spritzgebäcke. Vater, wir legen keine Leichen mehr in die Auslage, wir essen jetzt alles auf, Vater, wir essen jetzt alles auf, was uns ins Maul kommt und morgen hats gut Wetter.‘ KRONE: Frau Jelinek, was für einen tollen Text Sie schon wieder geschrieben haben! Ich werde ihn Nebelschnur nennen. KNUT HAMSUN: Aber ich war es die ganze Zeit, Knut Hamsun! KRONE: Herr Hamsun? Unglaublich! Und ich dachte wirklich, Sie wären Elfriede Jelinek!“ Wahrscheinlich liegt die Essenz, was Jakob Noltes Werk betrifft, völlig abseits von Tarantino und Lynch und Benn und Bataille und Burroughs und wer sonst noch als Vergleich herangezogen wird, um zu beschreiben, wie Jakob Noltes Texte sind. Sie findet sich jedenfalls nicht bei Elfriede Jelinek. Aber dazu später mehr. Als ich das erste Mal einen Text von Jakob Nolte gelesen habe, dachte ich: So was habe ich noch nie gelesen! Ich glaubte, dass sich so vielleicht ein Hirnschlag anfühlt, also vorausgesetzt, das wäre etwas Gutes, oder dass ich einer anderen stark berauschenden Beeinträchtigung meiner Großhirnhemisphäre

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Jakob Nolte. Foto Tobias Willmann

der „Vita Dissoziativa“, die in kurzen Szenen ein abgründiges und melancholisches, ein grausames und lyrisches Panoptikum unserer Zeit zeichnet. Ich falle in Jakob Noltes Texte und falle aus der Zeit. Etwas aus der Zeit gefallen ist manchmal auch Jakob Nolte selbst, wenn er spricht und Worte wie „heiter“ statt ­„lustig“ sagt. Oder wenn er Kommilitoninnen oder ­Mitbewohnerinnen „blitzgescheit“ ­findet statt „intelligent“ oder „klug“ – da bin ich mir außerdem nicht ganz sicher, ob er nicht genauso absichtsvoll diesen kleinen paternalistischen Gestus einbringt, wie er ihn auch in „Vita Dissoziativa“ besagtem Knut Hamsun unter­ jubelt, der ausführlich über Autorinnen sinniert, die mitsamt ihrer durch eine lebensbedrohende Schreibblockade ausgelösten Amenorrhö zu Sextouristinnen in Jerusalem werden. Oder ob er schlichtweg das Wort schöner findet oder sowieso immer großen Spaß an der ironischen Distanzierung hat. Etwas Anachronistisches hat auch sein Projekt Tegel Media (tegelmedia.net), das er 2017 zusammen mit seinem Freund und Kollegen Leif Randt als OnlinePlattform, Content Channel oder Verlag 2.0 ersponnen hat. Ausgangspunkt war, wenn nicht eine Totalverweigerung, so doch zumindest eine Ablehnung des Smartphones als ständigen Begleiter: „Anstatt sich weiter über Spiegel-Online oder Insta-Stories aufzuregen, wollten wir etwas machen, worauf wir Lust hatten. Dem Medium zugewandt begegnen, Möglichkeitsräume

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JAKOB NOLTE

­ rlegen wäre. Die Worte ergaben Sinn, aber ich hatte e keine Kontrolle über sie. Jetzt kann ich sagen: Jakob Nolte hat mir und meinen sämtlichen bisherigen LeseErfahrungen gehörig den Kopf gewaschen. Wie da ­einer wild und klug und ungestüm und herzzerreißend und morbide und brutal und verschwenderisch und traurig solch irrwitzig komische Geschichten erzählt, in die man regelrecht reinverschwindet, weil man sich von dem teils halsbrecherischen Tempo, von linguistischen Finten, rhythmisch komponierten Wiederholungen und allen sonstigen Kapriolen und Exzessen zwangsläufig mitreißen lässt. Mitreißen zu den Unwägbarkeiten menschlichen Seins wie im Roman „Schreckliche Gewalten“, in dem Hilma Honik eines Nachts zu einem Werwolf wird und ihren Mann zerfleischt, woraufhin sich die beiden Kinder Iselin und Edvart fortan ­alleine durch die Welt sinnsuchen. Mitreißen in die USA der neunziger Jahre, wo wir dank des Romans „Alff“ mit den Protagonisten eines grotesken Highschool-Murder-Mystery-Thrillers erwachsen werden. Mitreißen zu den Ware gewordenen Bewohnern einer niedersächsischen Kleinstadt, die wegen der ökono­ mischen Fehlentscheidungen eines Autokonzerns an eine unbekannte Investorin verkauft wird, die sie irgendwo auf der Welt als Freizeitpark wieder aufbauen will, weswegen 19 000 Container samt Bevölkerung auf einem Frachtschiff als „Die Glücklichen und die Traurigen“ irrfahren. Mitreißen auch auf den tollkühnen Ritt


THEATERSTÜCKE NO FUTURE FOREVER Ein Musiktheaterprojekt mit Jugendlichen UA 3. März 2017, Luzerner Theater, Regie Marco Štorman

HELMUT KOHL LÄUFT DURCH BONN Zusammen mit Michel Decar als Nolte Decar UA 18. Dezember 2013, Theater Bonn, Regie Markus Heinzelmann

DON QUIJOTE UA 20. Juli 2019, Bregenzer Festspiele in Koproduktion mit dem Deutschen Theater, Berlin, Regie Jan Bosse

DAS TIERREICH Zusammen mit Michel Decar als Nolte Decar UA 3. Oktober 2014, Schauspiel Leipzig, Regie Gordon Kämmerer

VITA DISSOZIATIVA frei zur UA

DER NEUE HIMMEL Zusammen mit Michel Decar als Nolte Decar UA 26. Juni 2015, Schauspielhaus Zürich in Koproduktion mit dem Deutschen Theater, Berlin Regie Sebastian Kreyer

GESPRÄCH MIT EINER STRIPPERIN frei zur UA DIE GLÜCKLICHEN UND DIE TRAURIGEN frei zur UA

GESPRÄCH WEGEN DER KÜRBISSE UA 25. Juni 2016, Deutsches Theater, Berlin, Regie Tom Kühnel SÄMTLICHE ERZÄHLUNGEN UA 15. Dezember 2016, Staatstheater Nürnberg, Regie Alice Asper

Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & Medien, Frankfurt am Main, und den Rowohlt Theaterverlag, Hamburg.

erkunden. Wir stellen eine Form von Con­tent zur Verfügung, an die wir glauben und die es sonst so nicht gibt. Ohne Druck und mit Vergnügen teilnehmen an den Erzählformen des Internets“, sagt er. Dass sich beide aus der Vielzahl der Möglichkeiten, progressives Storytelling mit abgefahrener User-Experience zu betreiben, dann für das etwas olle Medium PDF entscheiden, hat gewiss nicht nur praktische Gründe, sondern auch ästhetische. Dem liebhaberischen Publizieren kommt es am nächsten, wenn die auf Tegel Media vertretenen Positionen in Einheiten zusammengefasst werden, die, ja, fast schon liebevoll auf Smartphonedisplaygröße gestaltet, als jeweils ­geschlossenes Ganzes funktionieren. Und so finden sich da literarische Außenseiterformen, von Leuten bespielt, die das Interesse der beiden geweckt haben, erzählt Jakob Nolte: „Ein Regionalkrimi zum Beispiel. Oder ein Kochbuch. Fan Fiction. Auch Texte, die gar nicht den Anspruch haben, journalistisch oder literarisch zu sein, sondern die offenherzig und aufrichtig Anekdoten erzählen. Heinz Helle hat mal einen Text darüber geschrieben, wie es ist, einen Porsche zu ­besitzen. Das finde ich aufregend. Oder das PDF ,Drei Emails aus Südamerika‘. Manchmal bekommt man eine gute Mail und merkt, dass das eine Form des

Schreibens ist, die man extrem gerne liest, die kurzweilig und interessant ist.“ Über die Jahre hat sich so ein Netzwerk an Künstlerinnen und Künstlern gebildet, darunter nicht nur viele Autorenkolleginnen und -kol­ legen, sondern auch Grafikdesigner wie Manuel Bürger oder Cartoonistinnen wie Nadine Redlich. Leute, die zusammen das Medium ausloten – und Spaß dabei haben. Gemeinschaft und Freude sind auch die zentralen Begriffe, wenn Jakob Nolte beschreibt, wie er als Heran­ wachsender zum Theater gekommen ist. „Das war für mich die einzige Kunstform, in der ich eine Fantasie hatte, und über die ich die ganze Zeit nachgedacht habe. Sicherlich auch eine Sehnsucht nach der Gemeinschaft und dem Zusammenarbeiten. Das zieht sich für mich durch. Vom Jugendtheater in Hannover zu Nolte Decar über die Arbeiten mit Marco Štorman, dem ­Musiker Moritz Löwe und jetzt mit Tegel Media oder Jan Bosse. Die Lust am gemeinsamen Erspinnen, ­danach habe ich immer wieder gesucht und suche ich wieder. Fantasie, die nur von vielen kommen kann. Dass es mit den Romanen einen Raum nur für mich gibt, ist eine schöne Ergänzung.“ Zwischen dem einen oder anderen würde er sich nicht entscheiden wollen. „Das beflügelt sich gegenseitig. Immer wenn ich Prosa

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schreibe, freue ich mich: Ah, jetzt explodiert die Sonne, weswegen der Helikopter abstürzt, und die Protago­ nistin entkommt aber trotzdem mit einem Jetski. Gleichzeitig liebe ich es, wenn im Theater Menschen ganz simpel miteinander sprechen. Wenn es Bewegung gibt und Körper, die aufeinander reagieren. Ich mag die formale Enge daran. Meine Form der Dramatik ist eher eine Art Realismus, in dem das, was gesagt wird, Figuren sagen. Daran habe ich am meisten Spaß: an der Herausforderung, gesprochene Sprache zu formen. Und da schaue ich dann eher auf Horváth als auf Jelinek.“ Das Studium hat ihm nicht nur die beispiellose Freiheit zum Experimentieren gegeben, sondern hat ihm Handwerkszeug vermittelt. Grundregeln des dramatischen Schreibens, Dramaturgie, Vorgänge. „Meine ersten wichtigen Theatererfahrungen waren StemannInszenierungen, wo alles zertrümmert wurde. Das war für mich der Status quo. Ich wusste aber gar nicht, wogegen sich das gerichtet hat. Zu wissen, aus welchen Beweggründen, aus welchen politischen und ­ästhetischen Zielen heraus in verschiedenen Epochen Theater geschrieben wurde, warum sich Dramaturgien und Orte verändert haben, war für mich dann total gewinnbringend.“ Bei den vielen kanonisierten Formen des Erzählens interessiert sich Jakob Nolte gerade nicht für das Kaputtmachen. Sondern für die Frage, warum und wie er damit umgehen will – oder eben gerade nicht.

Jakob Noltes Texte entziehen sich Zuschreibungen. Sie sind auch alle sehr unterschiedlich. Manche erzählen konzentriert die Beziehung zweier Figuren, andere schlagen schamlos Haken und kümmern sich nicht, mich als Leserin auf der Strecke zu lassen. ­Wieder ­andere haben die Chuzpe, detailverliebt zu flunkern. Während der Lektüre google ich manchmal norwe­ gische Orte oder Bibelverse, weil ich nicht sicher sein kann, dass es sie tatsächlich gibt. Das ist auf­regend. Hin und wieder fühle ich mich angesichts ausschweifender Exkurse und seitenlanger Erläuterungen auch dümmer als vorher. Aber das ist egal, es ist ein freudund lustvolles, ein zärtliches Sich-Dummfühlen. Ein heiterer Kontrollverlust. Geschenkt von einem blitz­ gescheiten Autor.

JAKOB NOLTES TEXTE ENTZIEHEN SICH ZUSCHREIBUNGEN. SIE SIND AUCH ALLE SEHR UNTERSCHIEDLICH. MANCHE ERZÄHLEN KONZENTRIERT DIE BEZIEHUNG ZWEIER FIGUREN, ANDERE SCHLAGEN SCHAMLOS HAKEN UND KÜMMERN SICH NICHT, MICH ALS LESERIN AUF DER STRECKE ZU LASSEN. WIEDER ANDERE HABEN DIE CHUZPE, DETAILVERLIEBT ZU FLUNKERN.

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JAKOB NOLTE

GEMEINSCHAFT UND FREUDE SIND AUCH DIE ZENTRALEN BEGRIFFE, WENN JAKOB NOLTE BESCHREIBT, WIE ER ALS HERAN­WACHSENDER ZUM THEATER GEKOMMEN IST. „DIE LUST AM GEMEINSAMEN ERSPINNEN, ­DANACH HABE ICH IMMER WIEDER GESUCHT UND SUCHE ICH WIEDER.“


DER RHYTHMUS DES DENKENS EWALD PALMETSHOFER VON CHRISTOPH LEIBOLD

Ein Anruf im April. Tsipp. Immer wieder dieses Geräusch am anderen Ende der Leitung, Tsipp, tsipp, durch den Telefonhörer nicht auf Anhieb einzuordnen, aber irgendwann doch unverkennbar: ein Feuerzeug! Vielleicht spielt Ewald Palmetshofer damit, vielleicht zündet er sich zwischendurch aber auch immer wieder Zigaretten an. Ob er Raucher ist? Keine Ahnung. Aber ein stimmiges Bild gäbe es durchaus ab: dass Palmetshofer erst einmal, tsipp, eine Zigarette anzündet, um nachdenklich einen langen Zug zu nehmen, ehe er spricht. Sein Reden gleicht einem Sich-Vorantasten durch die Sprache, wissend, dass die Worte am Ende meist doch leicht neben der Wahrheit liegen. Trotzdem oder gerade deshalb antwortet er auf jede Frage wie einer, der es so genau nimmt mit dem, was er sagt, wie es eben geht. Denkpausen inklusive. Tsipp. Und schon bald füllen rauchschwadenschwer die Gedanken (und vielleicht auch Zigarettenqualm) Plametshofers Homeoffice, wenn er davon erzählt, was ihn bewegt, während die Theater coronabedingt still­ stehen. Die Theater können nicht spielen. Aber Sie können weiter schreiben. Immerhin. Aber wofür? Ich stelle fest, dass ich diese Kunstform, die davon lebt, dass Menschen gemeinsam daran ­teilnehmen, für selbstverständlich genommen habe. Umso eigenartiger fühlt es sich nun an, für etwas zu schreiben, dessen Existenz im Moment nicht gegeben ist. Ich schreibe eigentlich ausschließlich dafür, dass jemand spricht und dass es ein Gegenüber gibt, zu

dem gesprochen wird – was jetzt nicht geht, weil das Sprechen vor anderen Menschen eine Gefährdung ­darstellt, da Sprache durch Körper geht, mit Nebenprodukten wie Atemluft und Speichel. Zurück zur Prosa also, mit der Sie mal angefangen­ haben? Das ist sehr lange her. Aber bereits bei den Kurz­ geschichten damals ist mir aufgefallen, dass sie nicht für die stille Lektüre geschrieben waren. Ich habe die Texte immer selbst laut gelesen und gemerkt, wie mein Körper zu zappeln angefangen hat, um den Rhyth­mus aufzunehmen. Eigentlich waren das Monologe. Die Prosa war dann schnell vom Tisch. Wobei Ihr Weg Sie nicht schnurstracks zum Theater geführt hat. Sie stammen aus dem Mühlviertel, sind in einem Dorf bei Linz aufgewachsen, haben im Sozial­bereich gearbeitet, mit Obdachlosen zum ­Beispiel, und in Wien ein Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften begonnen, ehe Sie ­unter anderem zur Theologie und Philosophie gewechselt sind. Das lief auch alles gar nicht planmäßig. Ich habe halt studiert und parallel gejobbt, um mir das Studium zu finanzieren, und nebenher auch noch geschrieben. Für die Theologie habe ich mich damals entschieden, weil ich das Gefühl hatte, mir fehlt für die Germanistik und die Theaterwissenschaften das Handwerkszeug, um Themen zu greifen, ich brauchte theoretisches Rüst-

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Ewald Palmetshofer. Foto Priska Ketterer

Wäre Ewald Palmetshofer gerade nicht (wie die meisten Menschen im April 2020) dazu verdammt, allein daheim an seinem Schreibtisch zu brüten, hätte er womöglich im Münchner Residenztheater zu tun. Seit Herbst 2019 ist dort Andreas Beck Intendant. Palmetshofer gehört zu dessen Dramaturgie-Team, wie schon an Becks vorhe­ rigen Stationen, dem Schauspielhaus Wien und dem Theater Basel. Und immer war Palmetshofer dabei auch Hausautor. In Wien entstanden Stücke wie „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ oder „wohnen. unter glas“, in ­Basel die Überschreibungen von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ sowie „König Arthur“ nach Henry Purcell und John Dryden, zum Auftakt am Residenz­ theater „Die Verlorenen“.

Woher rührt die Treue zu Andreas Beck? Andreas Beck hat bereits versucht, junge Drama­ tikerin­nen und Dramatiker ans Theater zu binden, als deren Förderung noch nicht so verbreitet war. Diese Anerkennung, dass es über die Klassikerpflege hinaus ein klares Bekenntnis zur Gegenwarts­ literatur braucht, halte ich für eine zentrale Qualität dessen, wie er Theater denkt. Außerdem habe ich mich bei Beck getroffen gefühlt in meiner Art, für Körper zu denken und zu schreiben. Er hat mir die dafür nötige Nähe zu einem Ensemble ermöglicht. Dass ich die Schau­ spielerinnen und Schauspieler kennenlerne, für die ich schreibe, ist wichtig für mich. Und damit meine ich nicht nur die individuellen Körper, sondern auch das Ensemble als Gesamtkörper. Was durch diese Nähe entstehen kann, war in Nora Schlockers Uraufführungsinszenierung von „Die Verlorenen“ in München zu erleben. Da formierte sich das Stück-Ensemble anfangs zum Chor, der den Text wie eine Partitur interpretierte und dabei zu einer Art Gesamtorganismus verschmolz. Mehrere Menschlein verdichteten sich zum Menschen an sich, der, in die Welt geworfen, sich dem schwarzen Nichts eines womöglich gottlosen Universums gegenübersieht. Was kann der Dramatiker vom Dramaturgen Ewald ­Palmetshofer lernen? Wenn man als Dramatiker Proben besucht, wird man leicht zum Stressfaktor. Als Dramaturg bin ich bei

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zeug. Da war dann die Überlegung: In der Theologie und der Philosophie geht es um zentrale Themen, vielleicht kriege ich das dort. Wobei es bei mir lange gedauert hat zu begreifen, dass diese Werkzeuge auch mir zur Verfügung stehen. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie vom Land. Ich kann mich noch an meine Schulzeit erinnern, da gab es eine Buchhandlung, wo ich immer vor einem dieser Drehständer mit Taschenbüchern stand, Freuds „Traumdeutung“ oder Sartres „Das Sein und das Nichts“ gab es da, solche Schriften. Aber ich habe nie etwas gekauft, weil ich dachte, das ist für jemand anders geschrieben. Bis ich irgendwann begriffen habe: Ich bin damit genauso gemeint.


„ICH GLAUBE EHER, DASS SICH DURCH MEINE STÜCKE DIE FRAGE ZIEHT: WAS IST DER MENSCH? WELCHE GEFÄHRDUNGEN UND VERWUNDBARKEITEN GIBT ES, SICHTBAR ODER VERDECKT? UND WIE DENKEN WIR DAS ZUSAMMENLEBEN VON MENSCHEN DIESBEZÜGLICH?“ ­ tücken, die nicht meine eigenen sind, von der KonzepS tion bis zur Premiere dabei und kann die Spielerinnen und Spieler bei der Arbeit beobachten, ohne dass sie sich durch die Anwesenheit des Autors gehemmt fühlen. Außerdem gibt es als Dramaturg eine Lesearbeit, die ich als Dramatiker nicht so konsequent betreiben würde. Manches Mal kriegt man Sachen einfach vorgelegt: Das wird jetzt gelesen! Das bricht die eigenen Präferenzen auf. Und dann gibt es Glücks­funde. „Vor Sonnenaufgang“ war so ein Fall. Das habe ich im Rahmen einer Recherche als Dramaturg gelesen. Aber dann wurde es Ausgangspunkt für ein neues Stück. Die Auseinandersetzung mit bekannten Stoffen nimmt breiten Raum ein in Ihrem Schaffen. Allerdings scheint mir die Bandbreite der Bearbeitungsarten recht groß. In „Vor Sonnenaufgang“ halten sie sich eng an den Plot von Gerhart Hauptmanns Vorlage, laden ihn aber mit Gegenwart auf. „räuber. schuldengenital“ dagegen verweist zwar auf Schiller, greift letztlich aber nur Motive auf, während die Handlung eigenständig bleibt. Das hat mit verschiedenen Grundideen zu tun. Bei „räuber. schuldengenital“ war irgendwann klar, dass ich über einen Erbschaftsstreit und Generationenkonflikt schreiben will, und über zwei Brüder, die schon zu Lebzeiten bei den Eltern ihr Erbe abholen wollen, nicht nur

im Sinne eines materiellen, sondern auch eines ideellen Vermächtnisses. Dabei stand dann plötzlich das Motiv des Räuberns im Raum, und ich kam an Schiller nicht vorbei. Also habe ich es aufgenommen, und so fanden Motive und Namen Eingang ins Stück. Es war also gar nicht die Ursprungsidee, eine Schiller-Bearbeitung zu schreiben. Ähnlich war es auch bei „hamlet ist tot“, da existierten bereits weite Teile des Stücks, als mir auffiel, es gibt dieses Hamlet’sche Moment des Zauderns in meinem Text. Um die Frage, was von der einen Generation an die Nächste weitergegeben wird, geht es nicht nur in „räuber. schuldengenital. In „Vor Sonnenaufgang“ bricht Alfred Loth das Techtelmechtel mit Helene, die aus der dysfunktionalen Unternehmerfamilie Krause stammt, ab, als er von ihrer familiären Disposition zur Depression erfährt. Das ist auch eine Art Erbe, vor dem er zurückschreckt. Und in „die unverheiratete“ leidet eine junge Frau an einer Art Erbschuldkomplex aufgrund nie aufgearbeiteter familiärer Verstrickung in den Nationalsozialismus. Diese Frage nach dem Vermächtnis früherer Generationen, sichtbar gemacht an Familienkonstellationen – sehen Sie das selbst auch als Konstante Ihres Schreibens? Ich glaube eher, dass sich durch meine Stücke die ­Frage zieht: Was ist der Mensch? Welche Gefährdungen und Verwundbarkeiten gibt es, sichtbar oder verdeckt? Und wie denken wir das Zusammenleben von Menschen diesbezüglich? Das bildet sich manches Mal an Familien ab, manches Mal aber auch nicht. Nur ein ­Beispiel: In „Die Verlorenen“ findet die Beschreibung existenzieller Verwundbarkeit unter anderem in den polyfonen Sprecherinnnen- und Sprecherpassagen statt. In diesen Passagen kommt eine Qualität von Palmetshofers Dramen besonders zur Geltung: die Musikalität seiner Sprache. Er schreibt in einem rhythmisierten Kunstdialekt, der sich von der Mundart ableitet, mit der er in Oberösterreich selbst aufgewachsen ist, und die auch im Gespräch vernehmlich anklingt. Am Telefon, wo man den Autor nur hört, aber nicht sieht, fällt das ganz besonders auf. Das Tsipp, Tsipp des Feuerzeugs struk­ turiert sein Sprechen, ein bisschen wie Taktstriche auf Notenblättern. Selbst vergleicht Palmetshofer seine Stücke auch gern mit Partituren. Dass ich einen Rhythmus für das Sprechen zu finden versuche, hat mit dem Schreiben für Körper zu tun. Das Drama als geschriebener Text versucht sich ja hinter dem Sprechakt unsichtbar zu machen. Der Text

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HAMLET IST TOT. KEINE SCHWERKRAFT UA 22. November 2007, Schauspielhaus Wien, Regie Felicitas Brucker

TIER. MAN WIRD DOCH BITTE UNTERSCHICHT UA 11. September 2010, Staatsschauspiel Dresden, Regie Simone Blattner

WOHNEN. UNTER GLAS UA 9. Februar 2008, Schauspielhaus Wien, Regie Sebastian Schug

RÄUBER. SCHULDENGENITAL UA 22. Dezember 2012, Akademietheater, Wien, Regie Stephan Kimmig

DAS ENDE KOMMT SCHON NOCH UA 17. März 2008, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, Regie Robert Borgmann

DIE UNVERHEIRATETE UA 13. Dezember 2014, Akademietheater, Wien, Regie Robert Borgmann

HELDEN UA 20. März 2009, Theater an der Ruhr, Mülheim, Regie Thomaspeter Goergen

EDWARD II. DIE LIEBE BIN ICH nach Christopher Marlowe UA 26. Mai 2015, Schauspielhaus Wien in Koproduktion mit dem Theater Basel und den Wiener Festwochen, Regie Nora Schlocker

FAUST HAT HUNGER UND VERSCHLUCKT SICH AN EINER GRETE UA 2. April 2009, Schauspielhaus, Wien, Regie Felicitas Brucker SAUSCHNEIDN. EIN MÜTTERSPIEL UA 29. April 2009, Theater am Lend, Graz (eine Produktion der UniT Graz), Regie Dieter Boyer

VOR SONNENAUFGANG nach Gerhard Hauptmann UA 24. November 2017, Theater Basel, Regie Nora Schlocker

KÖRPERGEWICHT. 17% UA 27. Mai 2009, Nationaltheater Mannheim, Regie Torge Kübler

KÖNIG ARTHUR Semi-Oper von Henry Purcell und John Dryden in einer Neudichtung von Ewald Palmetshofer UA 13. September 2018, Theater Basel, Regie Stephan Kimmig

HERZWURST. IMMER ALLES EINE TOCHTER UA 31. Dezember 2009, Schauspielhaus, Wien, Regie Sebastian Schug

DIE VERLORENEN UA 19. Oktober 2019, Residenztheater München, Regie Nora Schlocker

Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & Medien, Frankfurt am Main.­

ist nur die Partitur für eine Aufführung, die das eigentliche Kunstwerk ist. Auf dem Zettel klingt das Stück nicht. Im Sprechakt geht die Sprache durch Körper, und da findet eine Rhythmisierung statt. Das hat auch mit der Ökonomie im Sprechen zu tun – dass manches im Mund einfacher formbar gemacht wird. Der Dialekt kann das besonders gut, er schleift die Sprache ab und ermöglicht dabei ein rhythmisches Sprechen. Ich versuche allerdings, Material zu bauen, das noch rhythmischer ist als die herkömmliche Sprache. Ein Material, das man gut sprechen kann, das aber auch einen Widerstand herstellt und so Denkprozesse sichtbar macht, weil das Hirn schneller ist als der Mund.

Das Sprechen hinkt dem Denken hinterher. Daraus ergeben sich Verknappungen oder auch Beschleunigungen. Außerdem geht es darum zu erforschen, wo Sprache poesieverträglich wird und wo im Sprechen Bilder entstehen, die für die Figuren so etwas wie Wahrheitseffekte sichtbar machen. Dieser Versuch, der Wahrheit näherzukommen – ist das der Punkt, wo der Dialekt ins Spiel kommt? Viele Mundartsprecher sagen, dass der Dialekt direkter ist, ein authentischerer Ausdruck. Ich glaube, mit Dialekt aufgewachsen zu sein und das letztendlich als Erstsprache zu haben, führt dazu,

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EWALD PALMETSHOFER

THEATERSTÜCKE


j­egliches andere Sprechen, das den Dialekt ablegen will, als eine Form von Kompromissbildung zu erleben. Das geht in der Tat mit einem Gefühl des Verlusts einher, der Unmittelbarkeit des Ausdrucks beraubt zu sein. Aber das ist ein Trugschluss, weil dieser Mangel auch im Dialekt erlebbar ist. Letztlich bedeutet Sprechen immer ein Ringen um den richtigen Ausdruck. Man glaubt aber, dass man im Dialekt die Sprache für sich zur Verfügung hat. Die Entfernung vom Dialekt lässt einen dann diesen Mangel stärker spüren. Letztendlich geht es mir aber um die Auseinandersetzung mit dem Mangel im Sprechen an sich. So ähnlich haben die Autorinnen und Autoren des kritischen Volkstheaters Kunstdialekt auch schon eingesetzt. Ja, aber anders als bei diesen ist die Sprachform in meinen Stücken schichtunabhängig gleich. Der Hipster in der Stadt spricht nicht anders als der Pensionist an der Dorftankstelle. Und möglicherweise sind die Daseinsanalysen dieses Pensionisten sogar präziser als die von vermeintlich gebildeteren Leuten. Auch Erika, die Hauptfigur in Ewald Palmetshofers „tier. man wird doch bitte unterschicht“, ist ein Beispiel für die Überlegenheit der Einsichten einer vermeint-

lich sozial unterlegenen Person. Erika ist Aushilfskellnerin in einer Dorfkneipe und wird zum For­schungs­ objekt einer Kommission zur Untersuchung des Lebens auf dem gesellschaftlich abgehängten Land. Stammelnd sucht Erika nach dem eigenen menschlichen Wesenskern, der unter den Zuschreibungen als prototypische Unterschichtsvertreterin verschüttzugehen droht. Erika will sich eben nicht zum Objekt degradieren lassen. Auch wenn die Geschichte ihres Emanzipations­ versuchs mit Brandstiftung endet, während Ewald ­Palmetshofer lediglich mit dem Feuer(zeug) spielt, um tsipp, tsipp nach zündenden Gedanken zu suchen: Die Verwandtschaft zwischen der Figur und ihrem Schöpfer ist unübersehbar. Sie liegt weniger in der gemeinsamen Herkunft aus sogenannten einfachen Verhältnissen, als vielmehr in der stockenden Zögerlichkeit, mit der sich auch Palmetshofer durch seine Antworten bewegt. Da spricht einer, der nicht meint, alles schon zu wissen. Und der gerade deshalb jenen viel voraushat, die mit flotten Antworten vorpreschen. Mit jedem Tsipp scheinen erhellende Gedanke auf. Ganz ähnlich verhält es sich mit Palmetshofers Stücken, die nicht durch grelle Einfälle und steile Thesen zu blenden versuchen, dafür umso länger in der Beschäftigung mit ihnen nach­ glühen. Mehr Schwelbrand als Strohfeuer.

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Neuinszenierungen Spielzeit 2020/21

Pudels Kern…

Pinocchio

Dantons Tod

Kabarett-Programm mit Hund Huhu und Frau Schramm Uraufführung SA 12. SEP 2020 · 19:30 · Gera · Puppentheater

Kinderstück nach Carlo Collodi · Musik von Olav Kröger SO 29. NOV 2020 · 16:00 · Altenburg · Theaterzelt

Oper von Gottfried von Einem Nach dem Drama von Georg Büchner FR 30. APR 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Vater

Märchenstück nach den Brüder Grimm Für die Bühne bearbeitet von Manuel Kressin DO 10. DEZ 2020 · 9:00 · Gera· Großes Haus

Helden wie wir

Corpus

Satire nach dem Roman von Thomas Brussig SA 3. OKT 2020 · 19:30 · Altenburg · Theaterzelt

Ballett von Silvana Schröder in einem Akt Uraufführung FR 29. JAN 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Der Wildschütz oder Die Stimme der Natur

Alles muss glänzen

Komische Oper von Albert Lortzing SO 11. OKT 2020 · 18:00 · Altenburg · Theaterzelt

Schauspiel von Noah Haidle SA 20. FEB 2021 · 19:30 · Gera · Bühne am Park

Des Kaisers neue Kleider

Mein Freund Bunbury

Puppentheater nach dem Märchen von Hans Christian Andersen SA 24. OKT 2020 · 16:00 · Gera · Puppentheater

Musical von Gerd Natschinski FR 26. FEB 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Die Mausefalle (The Mousetrap)

Figurentheater von Frank Soehnle · Uraufführung FR 5. MRZ 2021 · 19:30 · Gera · Puppentheater

Kriminalstück von Agatha Christie SO 8. NOV 2020 · 18:00 · Altenburg · Theaterzelt

Der Wunderkasten Puppentheater nach dem Kinderbuch von Rafik Schami SA 14. NOV 2020 · 16:00 · Gera · Puppentheater

Die Comedian Harmonists Buch von Gottfried Greiffenhagen Musikalische Einrichtung von Franz Wittenbrink FR 20. NOV 2020 · 19:30 · Gera · Bühne am Park

Das Lied von der Erde Eine Sinfonie für Gesang, Tanz und Orchester Nach Gedichten von Hans Bethge Musik von Gustav Mahler FR 27. NOV 2020 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Gespenster Alice im Wunderland Ballett nach dem Kinderbuch von Lewis Carroll Mit dem Kinder- und Jugendballett des Theaters Altenburg Gera SO 14. MRZ 2021 · 16:00 Uhr · Altenburg · Theaterzelt

Liebe macht frei Schauspiel von Manuel Kressin · Musik von Olav Kröger Uraufführung FR 26. MRZ 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Hedwig and the Angry Inch Musical · Buch von Cameron Mitchell Musik und Gesangstexte von Stephen Trask FR 7. MAI 2021 · 19:30 · Gera · Bühne am Park

Nathans Kinder Kinderstück von Ulrich Hub · Nach dem Drama Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing SA 8. MAI 2021 · 18:00 · Gera · Puppentheater

Frankenstein Schauspiel von Sophie Oldenstein Nach dem Roman von Mary Shelley · Uraufführung SO 9. MAI 2021 · 18:00 · Altenburg · Theater

HONK! Musical Comedy in zwei Akten Nach Hans Christian Andersens Das hässliche Entlein Buch und Gesangstexte von Anthony Drewe Musik von George Stiles DI 1. JUN 2021 · 18:00 · Gera · Bühne am Park

Da Vinci Ballett von Silvana Schröder mit Chor und Orchester Musik von Arvo Pärt, Jean Sibelius und Charles Ives Uraufführung FR 4. JUN 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Emilia Galotti Trauerspiel von Gotthold Ephraim Lessing FR 25. JUN 2021 · 19:30 · Gera · Großes Haus

Glück, Tod und Traum

Der Kontrabass

Alpbacher Tanzserenade op. 17 · Ballett in einem Bild Musik von Gottfried von Einem SO 28. MRZ 2021 · 11:00 · Gera · Konzertsaal

Monolog von Patrick Süskind SO 20. JUN 2021 · 18:00 · Altenburg · Theater

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Theaterkasse Gera 0365 8279105 · Theaterkasse Altenburg 03447 585160 · www.theater-altenburg-gera.de

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Schauspiel von Florian Zeller SA 2. OKT 2020 · 19:30 · Gera · Bühne am Park

Rumpelstilzchen


ALLES MERKWÜRDIG WIE IMMER BONN PARK VON PETER LAUDENBACH

In einem Video zu seinem von den diesjährigen ­Mülheimer Theatertagen eingeladenen Stück „Das Deutschland“ erklärt Bonn Park den kleinen Wider­ haken im Stücktitel. Das „Das“ signalisiere die nötige Verschiebung. Keine Frage, wir bewegen uns in „Das Deutschland“ in einem vertrauten Land. Nur dass es sich in etwas Gespenstisches, wie in einer Großaufnahme detailscharf schockgefrosteter Wahrnehmungssplitter Hyperreales und komplett irreal deli­ rierend Albtraumhaftes verwandelt hat. Hallo, Deutschland. Diese Verschiebung ist eine ästhetische Strategie, der man öfter in den rund einem Dutzend Stücken des in Berlin lebenden Dramatikers und Regisseurs Bonn Park begegnet. Sie tragen so vielversprechende Titel wie „Wir trauern um Bonn Park“ (2011), „Die Leiden des jungen Supermario in 2D“ (2011), „(Johnny F) & die unterste Schublade“ (2012), „Das Knurren der Milchstraße“, „Wie es euch Algorithmus“ (2020) oder „Drei Milliarden Schwestern“ (2018), Letzteres inszeniert vom Autor mit P14, dem Jugendtheater der Berliner Volksbühne. Diese Uraufführung auf der großen Bühne war bisher wahrscheinlich Bonn Parks größter Erfolg. In „Das Deutschland“, von ihm 2020 uraufgeführt am ETA Hoffmann Theater in Bamberg, gehe es zwar schon um Deutschland, sagt Bonn Park, aber eben nicht um dessen Abbildung. Und ganz sicher nicht um das beliebte Theater-Nazi-Deutschland, in dem ein paar Dumpfmeierfiguren auf der Bühne mit Alice-Weidel-Beatrice-von-Storch-Alexander-Gauland-Björn-

Höcke-Zitaten für Erbauung und Wohlbefinden des Publikums sorgen. Immerhin sind die Zuschauer ja nicht so dumpfmeierig wie die Bühnen-Nazis. Ohne Frage ein gutes Gefühl. Bonn Park hat eher Irritationen als beruhigenden Mitteilungen im Angebot. Sein „Das Deutschland“ ist auch ganz ohne Nazis der blanke Horror einer Bundesrepublik, in der sozialliberale Eltern ihren Kindern befehlen, sie gefälligst beim Vornamen zu nennen. Draußen lauert die Gefahr, Coca-Cola-Kinder ohne Holzspielzeugeltern werden alle zu Amokläufern! (So viel altmodisches Prenzlauer-Berg-BiedermeierBashing muss schon sein.) Für die Lebensfreude genügt es, dass der Asphalt schön glatt ist und nichts Schlimmes passiert. Am besten, es passiert gar nichts. Sodass sich der Stillstand, „diese fabelhafte Mittel­ mäßigkeit“ bis in alle Ewigkeit ausdehnen kann. Gerade weil der „Tatort“ zuverlässig „so mittel“ ist, genügt er zur Kultur-, Problem- und Emotionsversorgung vollkommen, schließlich ist das ganze Land „so mittel“. Die liebevollen Regieanweisungen deuten einen gewissen Hass auf dieses wohltemperierte, rundum gepolsterte, überbehütungsneurotische bundesrepublikanische Idyll an: „Wir sehen eine Familie in ihrem Ferienhaus, so schön und erstrebenswert, makellos und brillant, vor Neid soll die Welt erblassen (…) Alles merkwürdig wie immer. Die Stimmung ist vielleicht von Zauber in Terror gefallen und niemand hat es bemerkt.“ Bonn Park ist offenbar ein eher aggressiver Dramatiker. Und ein lustiger. Und ein trauriger.

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BONN PARK Bonn Park. Foto Niklas Vogt

Zum Schreiben kam er sehr früh. Als Bonn Park merkte, dass er sich als Schauspieler nicht gut genug findet, fing er an, Theaterstücke zu schreiben. Zum Beispiel eine neue Fassung der antiken „Orestie“. Er hatte gerade Abitur gemacht, das Jugendtheater der Berliner Volksbühne P14, bei dem er angefangen hatte, brauchte Texte und spielte seine trashig-verdrehten Klassikerbearbeitungen („Molière’s Horny“, „Simba, Prinz von Dänemark“). Der junge Mann kam nicht mehr los vom Theater. Beim Schreiben bediente er sich großzügig bei Reclam-Klassikern und Computerspielen, aber ­natürlich auch bei den Regisseuren der Volksbühne: „Gute Künstler klauen und machen dann etwas Eigenes daraus. Ich habe bei allen geklaut“, sagt Bonn Park. Als er bei Frank Castorf hospitiert, ist er so nervös, dass er einfach nicht redet. Das ist nicht die schlechteste Strategie. „Irgendwann hat Castorf von sich aus angefangen zu erzählen, weil ich so still war.“ Zehn Jahre und viele Theaterstücke später sitzt Bonn Park im Sommer 2019 in einem Berliner Biergarten. Seine Revue „Drei Milliarden Schwestern“ hat ihm im Vorjahr einen schönen Überraschungserfolg be-

schert. Theater in Frankfurt, Zürich und Bielefeld haben seine Stücke aufgeführt, einige Nachwuchspreise ließen auf sich warten. Dass er mit über dreißig noch als Nachwuchsautor gilt, dessen Durchbruch bitte demnächst mal anstehen sollte, liegt nicht nur daran, dass Dramatiker im deutschen Theaterbetrieb mindestens bis zum vierzigsten Geburtstag locker als Nachwuchskräfte durchgehen. Es liegt auch daran, dass Bonn Park ein interessanter Außenseiter des Betriebs ist. „Ich fühle mich überhaupt nicht etabliert. Ich werde, glaube ich, immer noch nicht ernst genommen. Vielleicht weil ich asiatisch aussehe, klein und freundlich“, sagt der im gutbürgerlichen Berlin-Wilmersdorf aufgewachsene Sohn koreanischer Eltern. Was das bedeutet, ahnt man ein wenig, wenn in einem seiner Stücke mit großer Penetranz die Frage „Woher kommst du?“ in Endlosschleifen wiederholt wird. Bonn Park hat nicht die geringste Lust, sich zum Opfer zu stilisieren, lieber macht er in seinen Texten sarkastische Witze über die Ignoranz. „Du wächst halt mit Rassismus auf, jeden Tag. Mein Migrationshintergrund ist freundlich

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THEATERSTÜCKE DIE LEIDEN DES JUNGEN SUPER MARIO IN 2D – ERSTER TEIL DER SUPERSTARTRILOGIE GUT&BÖSE 7. Mai 2011 (Szenische Lesung) Theater Heidelberg, szenische Einrichtung: Jan-Christoph Gockel (JOHNNY F) & DIE UNTERSTE SCHUBLADE UA 21. Januar 2012, Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Regie Bonn Park MOLIÈRE’S HORNY UA 18. Mai 2012, Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Regie Bonn Park SIMBA, PRINZ VON DÄNEMARK UA 1. März 2013, Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Regie Bonn Park

DAS KNURREN DER MILCHSTRASSE UA 15. September 2017, Theater Bielefeld, Regie Bonn Park DREI MILLIARDEN SCHWESTERN UA 12. Oktober 2018, Volksbühne Berlin, Regie Bonn Park DAS DEUTSCHLAND UA 17. Januar 2020, ETA Hoffmann Theater, Regie Bonn Park WIE ES EUCH ALGORITHMUS UA (online) 19. Mai 2020, Schauspiel Bochum, Regie Johan Simons WIR TRAUERN UM BONN PARK Eine Tür-auf-Tür-zu-Boulevard Revue frei zur DSE

FLANKUFUROTO (EIN CHINESE NAMENS HANS) UA 12. Juni 2015, Schauspiel Frankfurt, Regie Hans Block TOLERANZIG UA 23. September 2015, Theater Chemnitz / Theater an der Parkaue, Regie Katrin Hentschel TRAURIGKEIT & MELANCHOLIE – ODER DER ALLER ALLER EINSAMSTE GEORGE ALLER ALLER ZEITEN. Fragment UA 10. Juni 2015, Theater Bonn, Regie Mina Salehpour

und nett, ein Diminutiv, mein ganzes Leben lang“, sagt Park. „In Anwesenheit von mir kann man ja Witze über Asiaten machen und sagen, das ist ja bloß ein Spaß. Wenn ich weiß wäre, eine Brille und einen Dreitagebart tragen würde, meine Güte, hätte ich es einfacher.“ Der Interviewer im Biergarten trägt ­übrigens Brille und Drei­tagebart zum weißen Gesicht. Bonn Parks Stücke sind seltsam melancho­lisch, persönlich und gleichzeitig aberwitzig überdreht, grelle Comics und heillos verlorene Sehnsuchtsseufzer: Irgendwo muss es doch sein, das richtige Leben. Die gängigen Theatermoden, also Oldschool-Textflächen, Befindlichkeitsübungen oder die Reste des Pop-Theaters, die gute alte Repräsentationskritik oder aufgeregte Authenti­zitätsdebatten (Dürfen nur Geflüchtete Geflüchtete spielen?), prallen an seinen Texten einfach ab: kein Bedarf. Stattdessen benutzt er das Theater als Gedanken- und Assoziationskettenbeschleuniger,

BAMBI – UND DIE THEMEN frei zur UA

Vertreten durch den henschel Schauspiel Theater­ verlag, Berlin.

ein großes Freigelände, auf dem erst mal alles möglich ist. Oder als ein Gefäß, in das man alle Fragen kippen kann, auf die das Leben keine Antworten hat oder nur die falschen – zum Beispiel all die lästigen Identitätsfragen. Dann sieht Bonn Park aufmerksam dabei zu, was geschieht, wenn all diese Fragen wie in einer lustigen Kettenreaktion explodieren: peng! Schrille Grotesken, Ideen-Overkill und ein buntes Figurenpanoptikum sind ihm auf jeden Fall lieber als saubere Erzählökonomie, ordentliche Figurenpsychologie oder politisch korrektes Statement-Theater. „Ich möchte Theater machen für alle, jenseits dieser eta­ blierten Blase, die sich in ihrem komischen Halb-linksTun immer selber abholt und sich von nichts herausfordern lässt“, sagt Bonn Park. „Ich habe keine Lust, mir im Theater ständig selbst zuzunicken bei Themen und Meinungen, die wir sowieso schon alle in uns haben und mich danach wie einer von den Guten zu fühlen.“

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KIM JONG-UN SPRICHT SCHWEIZER DIALEKT, WÜNSCHT SICH DEN WELTFRIEDEN UND LEIDET UNTER DEPRESSIONEN: „MANCHMAL SETZE ICH MICH EINFACH IN MEINEN ATOMSCHUTZBUNKER UND WEINE, SCHAUE IN DEN SPIEGEL UND SCHMINKE MICH SO, DASS MAN ES NICHT MEHR SEHEN KANN.“ Ich fühle mich manchmal wie im Treibsand der Relevanz­ losigkeit.“ In der Wut steckt die Utopie eines besseren Theaters. Dass es das gibt, hat er bei P14 erlebt, bei dem er angefangen hat: „Ich hätte ohne P14 niemals Theater gemacht. Ich finde, das ist das beste Konzept für ­Jugendtheater, für Theater überhaupt, die Leute werden erst mal ermuntert, zu machen, ohne irgendwelche pädagogischen Vorschriften. Alles beginnt mit Vertrauen und Ideen, niemand wird klein gehalten für sein Alter, Geschlecht oder Sexualität, im Gegenteil.“ Es klingt nach einem hervorragenden Konzept für die Zukunft des Theaters. (Falls es eine Zukunft des Theaters geben sollte.)

Der Text basiert in Teilen auf einem Porträt, das Peter Laudenbach 2019 für die Süddeutsche Zeitung verfasste.

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BONN PARK

Kein Wunder, dass ein Großteil der Theater samt ihren Dramaturginnen und Dramaturgen, ihren Experten für Themen und Meinungen von Bonn Parks gleichzeitig manischer, persönlicher und verspielt postideologischer Kunst ein wenig überfordert sind. Vielleicht auch eine Generationsfrage. Apropos Overkill: Liest man sich durch sein bisheriges Werk, kann einem schwindelig werden. Bei „Wir trauern um Bonn Park“ handelt es sich um eine fiktive Todesanzeige, immerhin mit der beruhigenden Mitteilung, der Verblichene habe zu Lebzeiten Sex gehabt, wie schön für ihn. Im als Auftragswerk für das Schauspiel Frankfurt geschriebenen „Flankufuroto“ hausen die Europäer irgendwo im Erdinneren, Asiaten haben die Weltherrschaft übernommen. In „Das Knurren der Milchstraße“ hat ein winziger außerirdischer Biologe für die Menschheit nur Mitleid übrig: „Ich habe einen Planeten entdeckt, da leben alle in Scheiße und verstümmeln sich gegenseitig in schmutziger Luft.“ Wer würde ihm widersprechen. Selbst diese Systemkritik-Versatzstücke klingen bei Bonn Park nicht nach taz-Artikel, eher wie Comic, Teenage-Tagebuch, gelungener Scherz und blanker Horror. Bonn Parks Personal lebt zwar auf einem Höllenplaneten, aber immerhin gibt es dort gute Musik. In „Das Knurren der Milchstraße“ zum Beispiel eine Band, die Nirvana-Songs covert. Leadsänger ist der nordkoreanische Diktator, „Der fassungslose Kim Jong-Un“, an der Gitarre „Der ernüchterte Donald Trump“, am Bass „Der wütende Bonn Park aus der Zukunft, gefangen im Körper eines 11-jährigen Mädchens“. Kim JongUn spricht Schweizer Dialekt, wünscht sich den Weltfrieden und leidet unter Depressionen: „Manchmal setze ich mich einfach in meinen Atomschutzbunker und weine, schaue in den Spiegel und schminke mich so, dass man es nicht mehr sehen kann.“ Donald Trump verschenkt seine Milliarden, schmilzt alle Waffen ein und ist auch sonst ein guter Mensch. In Bonn Parks Theater sind solche Wunder kein Problem. Aber auch melancholische Galapagos-Schildkröten, Sturmfluten, Reisen zum Mond oder Figuren, die sich mit jedem Satz in ein anderes Tier verwandeln, kommen zu ihrem Recht oder zumindest zu ihrem Auftritt. Dafür, dass in seinem Kopf offenbar jede Menge los ist, ist Bonn Park im Gespräch ein erstaunlich freundlicher und zurückhaltender Mensch. „Mein Stil? Ich würde sagen traurig und lustig und wütend. Außerdem geht es auch immer um alles.“ Etwas unfreundlicher wird er nur, wenn er über ein paar Theatermachthaber spricht, die er nicht mag: „Ich möchte nicht einer dieser abgehetzten, machtbewussten, verpanzerten Theaterfunktionäre werden. Es gibt im deutschen Theater so eine komische Gier nach Mittelmäßigkeit.


DIE ZERSTREUUNG DES SELBST SASHA MARIANNA SALZMANN VON PAULA PERSCHKE „Finde heraus, wer du bist, und schreibe als solcher, doch schreibe nicht nur über dich selbst.“ Sasha Marianna Salzmann

Die Dramatiker*in Sasha Marianna Salzmann ist vieles, vor allem aber Denker*in, feministische Philosoph*in und Analytiker*in. Geboren 1985 in Wolgograd, lebte sie bis 1995 in Moskau, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland zog. Nach einer Zwischenstation in I­stanbul wohnt sie heute in Berlin. Sie studierte Lite­ratur, Theater und Medien in Hildesheim sowie Sze­nisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Seitdem ist sie als Dramatiker*in, Romanautor*in, ­Essayist*in, Kurator*in, Dozent*in und Regisseur*in bekannt.1 Fragt man Salzmann, woher sie komme, sagt sie lachend: „Aus dem Theater“ – und daran besteht kein Zweifel. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautor*in am Maxim Gorki Theater in Berlin. Bis 2015 war sie als Künstlerische Leiter*in des dort angegliederten Studio Я aktiv. Darüber hinaus kuratierte sie dort ­(gemeinsam mit dem Lyriker Max Czollek) Theater- und Diskurs­ festivals, wie 2016 den Desintegrationskongress und die Radikalen Jüdischen Kulturtage, welche 2017 im Rahmen des Berliner Herbstsalons statt­fanden. 1 Mit dem Genderstern wird die Vielzahl von Geschlechts­ identitäten jenseits eines binären Geschlechterverständnisses verdeutlicht. Die hier verwendete Form wurde von Sasha ­Marianna Salzmann selbst gewählt.

Die von ihr gestalteten Formate wurden zu nachhaltigen Plattformen für Fragen nach zeitgenössischen jüdischen Positionen. Gleichzeitig forderten und förderten diese Räume die Emanzipation von konstruierten Fremdzuschreibungen, wie sie jüdische Künstlerinnen und Künstler immer wieder erleben müssen. Auch Salzmanns dramatische Werke handeln von ­marginalisierten Per­ spektiven, Generationskonflikten, Sprache, Migration und Identität(en). Getrieben sind ihre Figuren etwa von der Auflehnung gegen sozial konstruierte Geschlechterrollen und die an diese gekoppelten Erwartungs­ haltungen. Dabei fehlt es dem Textwerk nicht an einer ­Balance aus sprachlicher Härte und Komik. Dies zeigt sich am deutlichsten in Salzmanns wohl bekanntestem Stück „Muttersprache Mameloschn“. Das Gene­ratio­nen­ stück thematisiert die schier unvereinbaren Lebensentwürfe dreier Frauen, die sich mit ihren ­Ansprüchen an die jeweils andere sowie mit ihrer jeweils eigenen jüdischen Identität auseinandersetzen müssen. „Muttersprache Mameloschn“ wurde 2012 in der Regie von Brit Bartkowiak am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt und gewann 2013 den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage. Aber auch ihr 2014 erschienenes Stück „Hurenkinder Schusterjungen (Mein Kopf ist ein offener Koffer aus dem Gott Vater Staat herausfällt aber nicht zerbricht weil er so zäh ist wie Gummi)“ nimmt die Einzelnen in den Blick: Figuren, die zurückgeworfen auf sich selbst in einer Dreier-WG leben und nur selten das Haus verlassen, während draußen vor der Tür das Gebilde Europas in die Krise gerät.

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Sasha Marianna Salzmann. Foto Esra Rotthoff /Suhrkamp Verlag

alle gleichzeitig am Schwanz ziehen. Ich weiß noch, wie du sie ständig von der Straße nachhause brachtest, weil du Angst hattest, dass sie vergiftet werden. Und dein Zimmer stank nach Katzenpisse. Und deine Haare.“ Salzmanns Figuren sind auf der ständigen Suche nach Zugehörigkeit sowie jeglicher Form von Identität, sie sind Reisende und Zurückgelassene. Die Zerstreuung des Selbst wird zum Geleit, wodurch sie lernen müssen, sich immer wieder aufzurappeln und schließlich neu zusammenzusetzen. So ergeht es auch Ali, der Protagonistin in Salzmanns Debüt­ roman „Außer sich“ (2018). Ali, die auch Alissa genannt wird oder einfach als ein „Ich“ spricht, macht sich von Berlin nach Istanbul auf, um ihren Zwillingsbruder Anton zu suchen, den sie schließlich in sich selbst wiederfindet: als ihre zweite mögliche, männliche Identität auf dem Weg zu einem Ich, das sich von Geschlecht, Sprache und Herkunft zu lösen vermag. Salzmanns Zugang ist poetisch, ihre Sprache eindringlich und bilderreich. „Heute war Ali alles egal. Sie drückte sich in das Sofapolster, versuchte, so tief einzutauchen, wie es nur ging, und redete den Wanzen zu, sie mögen sie vollends aussaugen und nichts von ihr zurücklassen. Sie sollten sie auffressen und stückchenweise in die gesamte Stadt tragen. Dann könnte sie einfach hier liegen bleiben, müsste nichts mehr tun, sich nicht mehr bewegen und würde zwischen den Sofapolstern verschwinden wie ein mürber Keks.“ Der Roman wurde bereits in 15 Sprachen übersetzt, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 und wurde mit dem Mara-CassensPreis sowie dem Jürgen-Ponto-Preis ausgezeichnet.

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SASHA MARIANNA SALZMANN

„Wasser­werferautos überfahren Demonstranten. Bullen in weißen Hemden brechen jungen Mädchen die Beine, packen Schulkinder am Hals und verschleppen sie in dunkle Eingänge. Der eine Vollvermummte mit ­Motorradhelm schlägt auf eine alte Frau so lange ein, bis sie sich nicht mehr bewegt und aus ihrer Tasche kullern Plätzchen, auf die sie blutet.“ Vom Zurückgeworfensein, dem Wunsch nach Ankommen, dem NichtReinpassen und der Suche nach einem Verständnis für sich selbst handelt auch das 2016 erschienene Stück „Meteo­ riten“. Unter der ­Prämisse der Ver­ wandlung, inspiriert von Ovids „Metamorphosen“, hat Salzmann hier eine queere Wahlfamilie auf dem Weg zur Selbstbehauptung erschaffen. Den sprachlich stärksten Eindruck hinterlässt das ­Zweipersonenstück „Die Aristokraten“, welches Salzmann als eine Hommage an Sarah Kanes ­„Zerbombt“ ent­ wickelt hatte und das 2016 am Schauspiel Hannover uraufgeführt wurde. Die Figu­ren ­Sascha und Schura leben in einer toxischen Beziehung zueinander, zurückgezogen in einer gemeinsamen Wohnung. Im heftigen Schlagabtausch bearbeiten sie seelische Verletzungen, machen sich gegenseitig Vorwürfe und sind gefangen in einem Loop von Abwertung und Hoffnungslosigkeit. Möglicherweise tobt außerhalb der Wohnung ein Krieg. Doch ähnlich wie in Kanes „Zerbombt“ könnte dies Fiktion und die Kulisse eines inneren Krieges der F ­ iguren sein. „Diese Schreie klingen wie Katzen. Das war so ein Geheul damals, ich dachte, so klingt das, wenn all diese verwaisten Katzen auf einmal losbrüllen. Als würde man sie


2018 wurde „Außer sich“ in der Regie von Sebastian Nübling am Maxim Gorki Theater uraufgeführt. „Heiner Müller sagte einmal, dass man Theaterstücke im Gehen schreibt und Romane im Sitzen“, erinnert sich die Autor*in. So verfasst auch sie ihre Essays und Prosa ausschließlich zu Hause am Schreibtisch. Theaterstücke hingegen entstehen in der Bewegung. Sie schreibt in Zügen, auf Flughäfen oder umrandet von der Geräuschkulisse belebter Cafés. „Muttersprache Mameloschn“ schrieb sie ohne Kopfhörer an diversen Flughäfen. Das dramatische Schreiben für Theater habe etwas mit Rhythmus zu tun und müsse für die darstellenden Körper gedacht werden. Gerade in Bezug auf Essays oder Prosawerke ist Salzmann überzeugt von der Wirkmacht der Wahrhaftigkeit. In der Kunst der Schreibenden liege eine subjektive Wahrheit, welche in ihren Augen schonungslos gezeigt werden sollte. „Ich komme aus einem Land, in dem die Geschichts­bücher ständig umgeschrieben werden. Schulbücher kann man umschreiben, Biologiebücher. Aber Romane kann man nicht einfach umschreiben, man kann sie höchstens verbrennen.“ ­Literarische Wahrhaftigkeit bedeute, schmerzhaft und aufrichtig in sich zu schauen. Wer sich selbst zu kaschieren versucht, verrät sich. Ob sie eine politisch Schreibende ist? In der Skizzierung von politischen Ereignissen trennt Salzmann die eigene Betroffenheit von historischen Fakten, deren Aufarbeitung Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten sei, außerdem gebe es dabei nichts zu sinnieren. Die Kunst solle sich nicht mit den Medien vermischen. Eine politische Haltung allerdings sei für Schreibende wichtig. In der Dramatik hingegen funktioniere das politische Schreiben leichter als in der Prosa, denn Theater sei per se ein Ort des Politischen, allein schon, da es ohne die Präsenz von Körpern nicht existieren kann. Es avanciert zu einem Raum der Aushandlungen und des Echos. Für die Denker*in Salzmann ist auch der Austausch mit anderen Autorinnen und Autoren essenziell. Die moralische Frage, ob man alles schreiben darf, dabei eine wichtige, auch wenn es für sie keine eindeutige oder gar abschließende Antwort darauf geben kann. „Ich glaube, dass Kunst alles darf. Doch diejenigen, die sie schaffen, müssen sich dafür verantworten.“ Das Besondere an Salzmanns Schreiben ist nicht nur die offene Aufrichtigkeit, mit der sie tief in das eigene Selbst (der Figuren und der Autor*in) schaut, wie es sich beispielhaft an dem Auflösungsbedürfnis von Ali abzeichnet. Es ist auch die Lust am Scheitern und die Ehrlichkeit, nur das zu Papier zu bringen, hinter dem sie selbst steht. Sie zieht den Vergleich zur Erziehung: „Du kannst einem Kind nichts beibringen, woran du selbst

nicht glaubst, und wenn du an Geschlecht glaubst, kannst du nicht genderfrei schreiben.“ So einfach ist das. Ein Hindernis gibt es: Sie selbst habe oft das große Bedürfnis, mehr zu sein, als sie ist. Die Stellen muss sie dann in ihren Werken finden und wieder heraus­ nehmen. „Kein Mensch hat gesagt, dass Künstler*innen besser sein sollen als andere. Wenn du dich auf das Risiko Kunst einlässt, dann belehrt sie dich eines Besseren. Das kann eine schmerzhafte Erfahrung sein.“ Die meisten ihrer Gedanken verdankt sie James Baldwin. Lauscht man Salzmanns Erzählungen, scheint es, als ob sie keinen Unterschied zwischen ­berühmten und weniger bekannten Autorinnen und Autoren macht. Sie lässt sich nicht nur von großen ­Literatinnen und Literaten, wie der im vergangenen Jahr verstorbenen Toni Morrison, inspirieren, sondern ist stets offen für das Unbekannte. „Her mit der neuen Dramatik!“ Zu zeitgenössischer Dramatik gehören schließlich nicht nur innovative Textformate, sondern auch die Veränderung in deren Entstehungsprozessen. Salzmann schreibt ihre Texte zwar allein, steht aber in permanentem Austausch mit Verbündeten, die ihr Feedback geben und mit ihren Anmerkungen zu unsichtbaren, wohl aber unverzichtbaren Koautorinnen und -autoren werden. Bündnisse schließen zur Stärkung des Autor*innen-Selbst. Diese Haltung brachte sie in Form eines Programms auf den Weg. Gemeinsam mit Maxi Obexer gründete sie 2014 das Neue In­ stitut für Dramatisches Schreiben (NIDS). „Das Institut soll ein Ort des Austauschs von und für Autorinnen sein, der ihr künstlerisches und ihr politisches Selbstverständnis stärken soll. Hervorgehen sollen dramatische Werke, die relevant sind und innovativ, die also Inhalt und Form auf höchstem Niveau reflektieren“, heißt es da. Mit einem Augenmerk auf migrantische Perspektiven ist das Ziel, Konkurrenzen abzuschaffen, sich gegenseitig zu inspirieren, voneinander zu lernen, Kritik anzunehmen und geben zu können. Entgegen der Vereinzelung und fernab des Geniekults, wie er im Theater oft zu finden ist, denn: „Vielleicht ist das Ego der größte Muskel in einem künstlerischen Körper, und diesen Muskel müssen wir entspannen.“ Das Netzwerk von Salzmanns Verbündeten ist groß und erweitert sich stetig. Wichtige Ratgebende sind Regisseure wie Sebastian Nübling, der sie und ihre Arbeiten von Anfang an begleitet. Dazu kommen ­Autorinnen und Autoren wie Deniz Utlu, Necati Öziri und Max Czollek. Eine besondere Verbindung hegt sie zu der Dramatikerin Sivan Ben Yishai. Ihre Stücke „Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden“ (2017) und „Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight Soldiers Moonsick)“ (2019) wurden von Salzmann im Studio Я des Maxim Gorki Theaters uraufgeführt.

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THEATERSTÜCKE WEISSBROTMUSIK UA 25. September 2010, bat-Studiotheater, Berlin, Regie Nick Hartnagel SATT UA 6. März 2011, Bayerisches Staatsschauspiel, München, Regie Stefanie Bauerochse

HURENKINDER SCHUSTERJUNGEN (MEIN KOPF IST EIN OFFENER KOFFER AUS DEM GOTT VATER STAAT HERAUSFÄLLT ABER NICHT ZERBRICHT WEIL ER SO ZÄH IST WIE GUMMI) UA 5. Januar 2014, Nationaltheater Mannheim, Regie Tarik Goetzke WIR ZÖPFE UA 4. Februar 2015, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Babett Grube

BEG YOUR PARDON UA 25. April 2012, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, Regie Hakan Savaş Mican MUTTERMALE FENSTER BLAU UA 20. Mai 2012, Badisches Staatstheater Karlsruhe / Ruhrfestspiele Recklinghausen, Regie Carina Riedl

METEORITEN UA 15. April 2016, Maxim Gorki Theater, Berlin, Regie Hakan Savaş Mican

FAHRRÄDER KÖNNTEN EINE ROLLE SPIELEN Zusammen mit Deniz Utlu UA 23. November 2012, Ballhaus Naunynstraße, Berlin, Regie Lukas Langhoff SCHWIMMEN LERNEN UA 1. März 2013, Theater Heidelberg, Regie Paul-Georg Dittrich

ICH, EIN ANFANG UA 10. Februar 2017, Schauspiel Frankfurt, Regie Bernadette Sonnenbichler VERSTEHEN SIE DEN DSCHIHADISMUS IN ACHT SCHRITTEN (ZUCKEN) UA 17. März 2017, Maxim Gorki Theater, Berlin / Junges Theater Basel, Regie Sebastian Nübling Vertreten durch den Verlag der Autoren, Frankfurt a. M.

Als Regisseur*in sammelte Salzmann bereits durch studentische Arbeiten am Berliner Ballhaus Naunynstraße Erfahrungen. Aber auch durch die künstlerische Leitung des StudioЯ war sie an den Entstehungsprozessen zahlreicher Inszenierungen beteiligt. Ihre letzte Regiearbeit „Eight Soldiers Moonsick“ wurde zum Festival Radikal jung 2020 am Münchner Volkstheater eingeladen. Das Stück handelt von acht Soldatinnen, die aus ihrer Jugend herausgerissen werden, als sie in den Militärdienst eintreten. Die Arbeit war für Salzmann und ihr Team aufgrund der Thematik intensiv und voller Hingabe. Zuschauerinnen und Zuschauer meldeten später physische Reaktionen wie Schwindelgefühle und Übelkeit zurück. Wissen konnte das vorher niemand. „Ich inszeniere, um ins Unbekannte zu gehen.“ Auch für das Theatermachen gilt also die Maxime: Man sollte sich nicht zu sicher sein. Salzmanns Proberäume sollen zu feministischen Räumen werden, auch wenn sie weiß, dass die Strukturen des Theaters dies eigentlich

nicht hergeben. Auf ein konsensuales Miteinander kommt es an. Nicht nur voneinander zu lernen, sondern auch Wissen weiterzugeben, ist Bestandteil von Salzmanns Wirken. 2019 erhielt sie die Mainzer Poetikdozentur, die sie unter dem Titel „Dunkle Räume“ hielt. 2020 folgte die Ricarda-Huch-Poetikdozentur für „Gender in der literarischen Welt“ an der Universität Braunschweig. In diesem Jahr wird sie dafür unter anderem die Soziologin Sabine Hark zum Thema feministisches Schreiben interviewen. Per Video unterrichten, wie es einige Universitäten aufgrund von Covid-19 anbieten, wird sie nicht. Der persönliche Austausch ist und bleibt ihr wichtig: „Die Studierenden müssen das Gefühl bekommen, dass sie nicht aus diesem Raum rauskommen, ohne dass sie mir etwas über sich verraten haben, was sie eigentlich nicht sagen wollten.“ Sasha Marianna Salzmanns zweiter Roman wird im Herbst 2021 erscheinen.

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SASHA MARIANNA SALZMANN

DIE ARISTOKRATEN UA 20. Oktober 2016, Staatstheater Hannover, Regie Paulina Neukampf

MUTTERSPRACHE MAMELOSCHN UA 9. September 2012, Deutsches Theater Berlin, Regie Brit Bartkowiak


Es muss im Leben mehr Die Welt lässt die Sonne eine Nacht lang los. Der Himmel kippt, das Meer kippt mit. Die Welt dreht ab. Und es war nie einfacher zu verschwinden. Martina Clavadetscher „Anleitungen zur Sterblichkeit“

was wenn der kompass über den die störche und schwalben und wildgänse verfügen mit keinem menschlichen verglichen werden kann Enis Maci „Autos“


als alles geben. Anne Lepper „Entwurf für ein Totaltheater“

DER FASSUNGSLOSE KIM JONG-UN Ich hau so fest auf ­meine Tasten und copypaste das ganze Internet in meine Word-Datei, bis strg und c und v und mein Sinn für Lustiges und Trauriges irreparabel zerstört sind. Und scheinbar ­machen sich alle über mich lustig, denn wenn es stimmt, was Dennis Rodman sagt, und dass das Internet alles ist, dann macht sich alles über mich lustig. Aber das halte ich aus, denk ich mir.

„In Stanniolpapier“

Björn SC Deigner

pochendes geheimnis.

jeder freier hat ein

intimste, was es gibt.

vertraut dir alles an. das

nem fremden, und der

fühlt. im engen auto mit

hab ich mich wohlge­

ging ganz schnell, da

und mit der zeit, das

Bonn Park „Das Knurren der Milchstraße“


DIE BÄDER DENEN, DIE BADEN GEHEN FERDINAND SCHMALZ VON CHRISTOPH LEIBOLD

Eigentlich ist Ferdinand Schmalz ja ein Autor, bei dem man denkt, man müsste ihn unbedingt in einem Wiener Kaffeehaus treffen, auf eine Tasse Melange oder ein Seidl Bier. Natürlich ist das ein Klischee, aber als Mensch von gewisser Leibesfülle wirkt Schnauzbartträger Schmalz wie ein kompakt dimensionierter Wiedergänger des schriftstellernden Wiener Schauspieler-Schwergewichts Helmut Qualtinger und das Kaffeehaus somit wie sein ­natürliches Habitat. In der Öffentlichkeit trägt Schmalz meist weitgeschnittene Anzüge, die auf eine lässige Art altmodisch wirken, fernab des aktuellen Slim-Fit-Schicks, dazu gerne ein zu klein ge­ ratenes Hütchen auf dem Kopf, wahlweise eine rote Mütze. Kurzum, es ist einfach zu schön, sich diesen Ferdinand Schmalz inmitten der gediegenen Geschäftigkeit eines Café Central, Griensteidl oder Bräunerhof vorzustellen, wie er über einem Text brütet und zwischendurch in Zeitungen blättert oder mit Kellnern parliert. Die persönliche Begegnung jedoch muss ent­fallen. Es ist Mitte März 2020. Am Abend vor dem Interview fand die vorerst letzte Vorstellung von ­„jedermann (stirbt)“ am Schauspiel Frankfurt statt. Jan Bosse hat dort die deutschsprachige Erstauf­führung des bisher vielleicht besten Stücks von ­Ferdinand Schmalz inszeniert. Wegen der Coronakrise sind die Theater nun aber dicht. Die Grenzen auch. Ergo: ­Telefongespräch statt Kaffeehauskonversation. ­Annäherung aus der Ferne. Schnell wird sich dabei zweierlei herausstellen: Cafés

zählen eh nicht zu den bevorzugten Schreiborten von Ferdinand Schmalz (so schön die Vorstellung auch ­gewesen sein mag!). Dafür gehört er zu der Sorte von Leuten, zu der man auch fernmündlich einen guten Draht findet. Der Mittdreißiger ist ein Mensch von ­ausnehmend guten Manieren fernab aller qualtinger­ haften Bedrohlichkeit, umgänglich, keineswegs öffentlichkeitsscheu, aber er scheint durchaus zu wissen, wie man sich gegen Vereinnahmung wappnet und wann es klüger ist, sich zurückzuziehen. Nicht umsonst hat er für sich ein Autoren-Alter-Ego geschaffen, eine Kunstfigur, die er nicht nur in das eingangs beschriebene Outfit gekleidet, sondern der er auch einen Künstlernamen übergestreift hat, der das private Ich schützt. Denn eigentlich wurde Ferdinand Schmalz 1985 in Graz als Matthias Schweiger geboren. Der Künstlername passt natürlich perfekt zu dem Stück, mit dem er 2014 bekannt wurde: „am beispiel der ­butter“. Darin dienten ihm die Veränderungen in einem Molkerei­betrieb dazu, exemplarisch dem Wandel unserer spätkapitalistischen Gesellschaft nachzuschmecken, die dabei, nun ja, ordentlich ihr Fett wegbekam. Er schätze es, wenn „das Theoretische haptisch“ ­werde, erläutert Schmalz seinen Ansatz, also allge­meine ­Entwicklungen, die meist nur abstrakt wahrgenommen werden, am konkreten Beispiel anschaulich zu ­machen. Haptisch eben. Greifbar. Und damit auch: be-greifbar. Griffig ist auch die Sprache, die Schmalz seinen Figuren in den Mund legt: ein ebenso saftiges wie

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Ferdinand Schmalz. Foto Regina Laschan

bis 2015 als Laboratorium für zeitgenössische Dramatik führte. Nach dem Studium der Philosophie sowie der Theaterwissenschaften heuerte Schmalz dort als Regieassistent an, schrieb aber auch erste kleinere Theatertexte und stellte alsbald fest: „Regie ist nicht mein Ding!“ Zum einen, räumt Schmalz freimütig ein, habe er selbst genug damit zu tun, den „eigenen Arsch hochzukriegen“. Um als Regisseur ein ganzes Team zu motivieren, fehle ihm schlichtweg die Kraft. Noch wesentlicher aber: „Ich beiße mich gerne in Theorien hinein. Dazu bin ich gerne für mich allein.“ Womit geklärt wäre, weshalb das Kaffeehaus als Schreibort für ihn denkbar ungeeignet ist. Daheim zu schreiben ist auch keine Option, denn da toben mittlerweile zwei Kinder. Also hat Schmalz sich ein Arbeitszimmer in Wien gemietet. Die Notwendigkeit eines solchen Rückzugsorts hat sich mit dem wachsenden Erfolg verschärft. Schmalz kam schnell in die komfortable Lage, dass sich viele Theater für seine Werke interessieren. An sich höchst erfreulich, aber „man wird vom Betrieb schnell aufgesaugt, weil auch die Kommunikation immer schneller wird. Da merke ich, dass ich kämpfen muss für den geschützten Rahmen, in dem der Text wachsen und wuchern kann, und die Figuren nicht sofort dem Licht der Außenwelt ausgesetzt sind. Der Schreibakt ist mir heilig.“ Andererseits ist Schmalz schon auch ein Autor, der gerne auf Proben vorbeischaut, wenn seine Figuren zum Leben erwachen, um etwaige Geburtsfehler zu beheben

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FERDINAND SCHMALZ

k­ antiges Kunstidiom, in dem es wimmelt vor Kontraktionen (etwa: „brauchts“ statt „braucht es“), Verknappungen („ich könnt“ statt „ich könnte“) und einer manchmal fast umständlich anmutenden Satzstellung („stellt halt sonst sie keiner ein mehr“), wie sie für den bairisch-österreichischen Sprachraum charakteristisch ist. Eine satte Sprache, die sich vom Dialekt nährt, wie Bauern vom Schmalzbrot, und doch weit entfernt liegt vom Doppelrahmduktus reiner Mundart. Ein Kunstsprech, der sich zu naturalistischem Dialekt in etwa so verhält wie Halbfett- zu Vollmilch: Der Geschmack ist nach wie vor erkennbar, aber das Süffige fehlt. Soll es auch. Das Schrecklichste, so Schmalz, sei es, wenn aus seinen Texten ­Dialektstücke ­gemacht würden. „Das geht meistens schief.“ Denn dann werden sie gemütlich, leicht konsumierbar. Bleibt indes der kunstvolle Charakter der Sprache gewahrt, stellt sich ein Verfremdungseffekt ein. Und Verfremdung schafft Distanz – ein wichtiger Aspekt im Schaffen von Ferdinand Schmalz. Später mehr dazu. Mit seiner Sprache jedenfalls reiht sich Schmalz ein in die Tradition des kritischen Volkstheaters mit Autoren von Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer über Werner Schwab (ein Grazer wie Schmalz) bis hin zu den Generationsgenossen Thomas Arzt oder Ewald Palmetshofer. Mit Letzteren verbinden ihn die Anfangsjahre am Wiener Schauspielhaus zu Zeiten der Intendanz von Andreas Beck, der das Theater in der Porzellangasse


ABER AUCH HUMOR IST – SO WIE DIE KUNSTSPRACHE VON FERDINAND SCHMALZ – EIN MITTEL, UM DISTANZ ZU SCHAFFEN. SCHMALZ SETZT AUF DIE ENTBLÖSSENDE KRAFT EINES LACHENS, MIT DEM ER ES IM KERN BITTERERNST MEINT. und textlich nachzujustieren. Die entscheidende Frage dabei für ihn: „Wie nah kommt man dem Theater? Aber auch: Wie hält man Abstand?“ Diese Suche nach der richtigen Dosierung von Nähe und Distanz bestimmt aber nicht nur die Arbeit von Ferdinand Schmalz fürs Theater, sie begegnet einem auch als Thema innerhalb seiner Theaterarbeiten – dort allerdings in den größeren Dimensionen einer globalisierten Welt, in der die Abstände im selben Maße schrumpfen wie die Abgrenzungstendenzen wachsen. Zum Beispiel in „der thermale widerstand“ (2016), vordergründig eine Satire auf ein angejahrtes Kurbad, das aus dem langen Kurschatten heraustreten will. Auf dass aus Wassertreten in der Wandelhalle Wellness werde, hat die Verwalterin Kontakt zu einem Softdrink-Riesen geknüpft, der den entsprechenden Umbau finanzieren soll. Wellness als Lifestyle-Trend interessiert Schmalz dabei allerdings nur am Rande, stattdessen wird die Welt der Spas bei ihm zum Sinnbild für die Wohlstandsblase Europa, die unter dem Druck der Flüchtlingswelle und der Woge des Fremdenhasses, die dieser entgegenschwappt, vor dem Platzen steht: Je näher das Unvermeidliche rückt, desto größer offenbar die Bereitschaft der Menschen, sich von einlullenden Badedämpfen den kritischen Verstand vernebeln zu lassen. Klar, Schmalz nutzt das Setting seines Stücks auch, um einzutauchen in komische Kurklinikklischees. Seine Figuren gleichen mitunter wandelnden Witzen. Das reicht vom altgedienten Bademeister, der sich auf die Mund-zu-Mund-Beatmung mit Zunge spezialisiert hat, bis hin zum Badegast, der mit fußdesinfizierungsfetischistischem Furor andere maßregelt. Ein bisschen Badespaß muss sein. Aber auch Humor ist – so wie die

Kunstsprache von Ferdinand Schmalz – ein Mittel, um Distanz zu schaffen. Schmalz setzt auf die entblößende Kraft eines Lachens, mit dem er es im Kern bitterernst meint. Der junge Bademeister zum Beispiel, der in „der thermale widerstand“ den Abschottungstendenzen in der Komfortzone entgegentritt, wirkt zwar wie ein schräger Underdog, ist aber alles andere als eine Witzfigur. Er zettelt die titelgebende Revolte an. Seine Parole: Die Bäder denen, die baden gehen. Also jenen, die nicht obenauf schwimmen. Ein Bruder im Geiste ist Heinar. Auch so ein Außen­ seiter. Der Held in „Der Tempelherr“ will mit seiner ­Familie aufs Land ziehen. Was zunächst wie die Verwirklichung des Traums vom trauten Eigenheim erscheint, entpuppt sich bald als gigantomanisches Großprojekt, das Familie, Freunde und Nachbarn fassungslos macht: Heinar baut einen Tempel. Visionär und Verrückter? Schmalz hält das in der Schwebe, hegt aber unverhohlene Sympathien für solche Randfiguren, „die einen guten Blick auf unsere Gesellschaft haben“. Eine distanzierte Perspektive eben, aus der das populäre Lebensmodell vom Schöner-Wohnen im Einfamilienhaus mit Grillterrasse und Carport doch recht fragwürdig erscheint. Cocooning ist schließlich auch eine Form der Abschottung (woran auch der staatlich verordnete Rückzug ins Private in der Coronakrise nichts geändert hat), und keiner beherrscht diese ­Einigelungs-­ taktik so perfekt wie der Realitätsleugner Jedermann. Im Auftrag des Burgtheaters Wien hat Ferdinand Schmalz Hugo von Hofmannsthals in die (einhundert Salzburger Festspiel-)Jahre gekommenen Dramen­ helden eine Frischzellenkur verpasst, was zugegeben einerseits etwas paradox klingt angesichts einer handlungsbedingt todgeweihten Figur. Andererseits ist ­dieser Jedermann als Bühnendauerbrenner ja wirklich nicht totzukriegen. Womöglich hat Schmalz sein ­Sterben deshalb im Titel seiner Neufassung eingeklammert: „jedermann (stirbt)“. Schmalz zeichnet diesen Jedermann als knallharten Kapitalisten von heute, der seine Umwelt nur durch

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SCHMALZ HEGT SYMPATHIEN FÜR RANDFIGUREN, „DIE EINEN GUTEN BLICK AUF UNSERE GESELLSCHAFT HABEN“.


THEATERSTÜCKE AM BEISPIEL DER BUTTER UA 2. März 2014, Schauspiel Leipzig, Regie Cilli Drexel DOSENFLEISCH UA 13. Juni 2015, Deutsches Theater, Berlin, in einer Produktion des Burgtheaters Wien im Rahmen der Autorentheatertage des Deutschen Theaters, Regie Carina Riedl AM APPARAT UA 12. September 2015, Schauspielhaus Graz, Regie Jan Stephan Schmieding DER HERZERLFRESSER UA 20. November 2015, Schauspiel Leipzig, Regie Gordon Kämmerer DER THERMALE WIDERSTAND UA 17. September 2016, Schauspielhaus Zürich, Regie Barbara Falter SCHLAMMLAND GEWALT UA 22. Dezember 2017, Deutsches Theater, Berlin, Regie Josua Rösing JEDERMANN (STIRBT) UA 28. Februar 2018, Burgtheater Wien, Regie Stefan Bachmann DER TEMPELHERR UA 3. März 2019, Deutsches Theater, Berlin, Regie Philipp Arnold HILDENSAGA. EIN KÖNIGINNENDRAMA UA (ursprünglich geplant) 18. Juli 2020, ­Nibelungensfestspiele Worms, Regie Roger Vontobel (wegen Corona auf Sommer 2022 verschoben)

Vertreten durch den Verlag S. Fischer Theater & Medien, Frankfurt am Main.

aus der Schmalz seine Figuren schnitzt, entwickeln sie rasch ein derart reges Eigenleben, dass sie das Licht der Außenwelt nicht mehr scheuen. Im Gegenteil: Letztlich drängen sie unaufhaltsam auf die Bühne. Man hätte ihnen ihren Auftritt schon in diesem Sommer unbedingt gewünscht.

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FERDINAND SCHMALZ

die getönten Scheiben seiner Limousine wahrnimmt und dabei das Elend der Welt ebenso aus seiner Lustgartenwelt auszusperren versucht, wie er die eigene Sterblichkeit verdrängt. Den Tod jedoch kann kein ­Sicherheitskonzept der Welt fernhalten. Geschickt kreuzt Schmalz existenzielle mit gesellschaftlichen Fragen. Ob er sich dabei als politischer Autor versteht? „Ich glaube, das Problem, wenn man von politischem Theater spricht, ist häufig, dass Diskurse eins zu eins auf die Bühne übersetzt werden. Dann hat die Aufführung oft nicht mehr zu erzählen als das, was auf dem Abendzettel steht. Ich versuche dagegen, an die Wurzeln gesellschaftlicher Entwicklungen ranzukommen.“ Wie geschaffen dafür scheint ein Stoff wie das Nibelungenlied, das tief bis zu den Wurzeln unserer Gesellschaft in germanische Zeiten hinabreicht. Schmalz hat das Epos für die Nibelungenfestspiele im Sommer 2020 in Worms bearbeitet und bei der Beschäftigung damit festgestellt, „dass die Frauenrollen handlungsentscheidend sind. Eigentlich müsste man von Heldinnen-Epik sprechen“. In Brunhild und vor allem Kriemhild begegneten Schmalz zwei Frauen, deren unbedingter Wille zur Selbstbestimmtheit weit über ihre Zeit hinausweist. Und ihnen gegenüber: toxische Männerbünde, deren vielfach beschworene Nibelungentreue einer längst überwunden geglaubten, finsteren Vergangenheit angehört, die bei manch Ewiggestrigen aber nach wie vor anschlussfähig scheint. Kurzum: Wer sich mit den Nibelungen befasst, muss immer auch gegen die Vereinnahmung von rechts anschreiben. Und so ging es für Ferdinand Schmalz hier einmal mehr um das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Er ist tief eingetaucht in den Sagenstoff, auf Tuch­ fühlung gegangen, um sich in entscheidenden Punkten abzugrenzen. Das Ergebnis dieser Auseinander­ setzung ist ein Königinnendrama mit dem Titel „hildensaga“, das von zwei Frauen erzählt, „die sich weigern, Opfer einer außer Rand und Band geratenen Männerwelt zu sein“, wie es in der Ankündigung der Nibelungenfestspiele heißt. Auf ihre Krönung vor dem Wormser Dom müssen die beiden Königinnen nun allerdings coronabedingt noch eine ganze Weile warten: Wie die meisten Festivals fallen auch die Nibelungenfestspiele in diesem Sommer aus, und 2021 ist der Wormser Festspiel­ sommer bereits fix mit einem Stück von Lukas Bärfuss belegt. Deshalb musste die „hildensaga“ auf übernächstes Jahr verschoben werden. Man könnte sich diesen Umstand schönreden, weil Ferdinand Schmalz ja nun zusätzlich Zeit gewonnen hat, in der er mit sich und seinen Charakteren am Schreibtisch alleine sein kann – ganz so, wie er das schätzt. Aber das ist natürlich Unsinn. Allein schon dank der plastischen Sprache,


UMSCHALTSPIEL CLEMENS J. SETZ VON DORTE LENA EILERS

Berlin, 23. März 2020. Wäre dies ein Tagebucheintrag, könnte er so beginnen. Ort, Tag, Monat, Jahr. Koordinaten zur Orientierung. Begriffe und Zahlen zwecks Selbstvergewisserung. Da bin ich. Tada! Aber lässt sich dieser Satz heutzutage so einfach sagen? Vor wenigen Minuten war ein heftiger Gewitter­ regen über der Stadt niedergegangen. Am Himmel über Berlin quellen purpurne Wolken, auf die der backsteinerne Kirchturm vor meinem Fenster wie ein ­Zeigefinger deutet, als wisse allein er, was Sache ist. Suizidal hatte Clemens J. Setz eine solche Licht­ stimmung einmal genannt. Wetterexperten warnen vor einer russischen Kältepeitsche. Ich fröstele und klicke mich orientierungslos durchs Internet. Am Nachmittag hatten wir im Videochat fast zwei Stunden lang geredet. Der bärtige Schriftsteller mit dem Hoody im Splitscreen mir gegenüber sah tatsäch­ lich verdächtig aus wie Clemens Setz. Das muss ­betont werden – denn sicher sein kann man sich bei ihm nie. In „Bot“ etwa, einem 2018 erschienenen Gesprächsband, meint man, ein Interview zwischen der Wiener Publizistin Angelika Klammer und ihm zu lesen, nur dass die Antworten sonderbarerweise an den Fragen oftmals komplett vorbeizielen, als hörte der Interviewte gar nicht richtig zu. „Gespräch ohne Autor“ ist das Buch untertitelt. Der Klappentext verrät, dass der ­Autor als Antwortender seine Anwesenheit verweigert hatte. Statt seiner antwortete eine Art künstliche ­Intelligenz, ein Clemens-Setz-Bot, der Textfragmente aus einem Millionen von Zeichen umfassenden elek­tronischen

Tagebuch von Clemens Setz generiert, das in scheinbar unendlicher Fülle Beobachtungen, Traumsequenzen, Gemütsstimmungen, mittelalterliche Lyrik, ­Mythen, Dadaismen, naturwissenschaftliche Ent­ deckungen und Perversitäten enthält. Ein Setznetz. Weit verzweigt wie das Internet und in seiner inter­ textuellen Komplexität nahezu transhumanistisch. Das kann ja heiter werden, dachte ich am Nachmittag, als sich das Videochat-Fenster öffnete. Aber Clemens Setz (oder sein Avatar) blickte mir ohne jegliches technisches Knistern freundlich entgegen. Lediglich ein leises ­Rauschen war zu hören, als ob es bei ihm in Wien permanent windete. Vielleicht ärgerte sich unser Spitzel auch nur mit einer defekten Klospülung herum. Oder es war der Wind, der durch das All zieht. „Allein“, sagt der Clemens-Setz-Bot in „Bot“, „ist die Verniedlichungs­form von All“. Ich, allein, und das All. Dies ist, denke ich, der Anfang allen Schreibens. Leer wie ein weißes Blatt Papier. Noch nie war die Zeit dafür so günstig. Es ist die Zeit der Ziegen. Gespensterstille draußen, nur das Virus ist zu hören. „It seems like no one is responding, like, ever“, hatte der Bot einmal eine Stimme aus Baltimore sagen hören, als er im Internet dem amerikanischen Polizeifunk lauschte. Die Welt steht still. Entsteht so Setz‘ Literatur? Sein wilder Kosmos, dessen streunende Sprache bereits etliche Preisjurys verführte? Und dem Protagonisten entstammen wie C. aus seinem neuesten Stück „Flüstern in stehenden Zügen“, dessen einziger Kontakt zur Außenwelt eine Kundenhotline

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Clemens J. Setz. Foto Max Zerrahn

tägliche Erfahrung sein mag. Es setzt aber auch voraus, dass die Welt bereits zuvor einem Quellcode unterlag. „Das Feld, vor dem Du stehst, scheint dieselben Proportionen zu haben wie Dein eigenes Leben.“ Wer diesen Satz des großen Kunsttheoretikers John Berger aus „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens“ auf Setz’ Literatur überträgt, muss sich das Feld als schillerndes Computerspiel vorstellen, an dessen „existenziellen Rändern“, wo Programmierfehler plötzlich das „unprogrammierte Nichts außerhalb der bekannten Welt“ sichtbar werden lassen, der ­leidenschaftliche Gamer, wie er in der Zeit kürzlich zugab, besonders gerne wandelt. Für ihn sei der Glitch, also der absichtslose Fehler im Code, das ihn am stärksten umtreibende Beispiel surrealer Poesie in unserer Zeit. „Fehler, Blasen, Verwerfungen im Gewebe der Wirklichkeit“, schreibt er im Suhr­ kamp Logbuch, „weisen darauf hin, dass die Parameter, nach denen wir existieren, alle veränderbar sind.“ Ich bin da, auf der Erde. Dieser von Peter Handke so selbstgewiss rauf und runter zitierte Satz lasse sich, sinniert auch der Bot, vielleicht nur noch in Computerspielen denken. In seinem Theaterstück „Die Abweichungen“, uraufgeführt 2018 am Schauspiel Stuttgart, treibt Setz ein abgründiges Spiel mit solcherart Verwerfungen im Game of Life. Die Geschichte beginnt in einer winzigen Gemeindebauwohnung, in der die Polizei einen grau­ sigen Fund macht: eine Frauenleiche, zusammengefal-

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ist? Clemens Setz im Videochat widersprach: Brecht habe mal behauptet, er könne besonders gut arbeiten, wenn ständig das Telefon klingele. „Man hat als Autor nichts d ­ avon, wenn man nur in seinem eigenen Kopf existiert.“ Der 37-jährige Grazer, das wird in „Bot“ offensichtlich, ist ein Autor des Sehens, ein Schriftsteller, der im Vor­beilaufen (oder -klicken) nahezu manisch Dialoge, Situationen, Bilder aufsammelt und daraus Geschichten, Gedichte und Miniaturen formt. „Einmal sah ich in einer Kirche in Graz, wie eine Glühbirne ausgewechselt wurde.“ Und los geht’s. Wer ihn in einem Interview aufgrund dessen versucht, in eine Reihe mit Adalbert Stifter, Charles Baudelaire, Walter Benjamin, Georg Simmel oder Peter Handke zu stellen, läuft Gefahr, sich zu verzetteln. ­An­gesprochen auf die Praxis des „­Dérive“, des ­ziellosen Umherschweifens der Situationisten, antwortet der ClemensSetz-Bot mit einer Geschichte aus einem kasachischen Zoo, in dem in den achtziger Jahren ein einsamer Elefant ­angeblich gelernt hatte, einige Worte auf Russisch auszusprechen, darunter verschiedene umgangssprachliche Ausdrücke für „Penis“. Folgen Sie niemals dem Storymodus! Dieses aus Computerspielen abgeleitete Verfahren gilt für Setz’ Denken und Schreiben durch und durch. Die Welt wird umprogrammiert, was für ihn als Synästhetiker, der etwa das Wort Strindberg grün-golden liest, eine all-


„FEHLER IM GEWEBE DER WIRKLICHKEIT WEISEN DARAUF HIN, DASS DIE PARAMETER, NACH DENEN WIR EXISTIEREN, ALLE VERÄNDERBAR SIND.“ ICH BIN DA, AUF DER ERDE. DIESER VON PETER HANDKE SO SELBSTGEWISS RAUF UND RUNTER ZITIERTE SATZ LASSE SICH, SINNIERT DER BOT, VIELLEICHT NUR NOCH IN COMPUTERSPIELEN DENKEN. tet in einem Schrank, Putzfrau, „nicht von hier“, offenbar Selbstmord. In den folgenden Wochen kursieren sonderbare Briefe in der Stadt. Eine Kunstgalerie plant eine Ausstellung mit Objekten, die bei Frau Jassem, der Putzfrau, gefunden wurden. Miniaturmodelle, die den Wohnungen der Kunden, bei denen sie einst putzte, akribisch gleichen, bis auf – die Bewohner stellen es nach und nach beunruhigt fest – kleine Abweichungen. In der Wohnung eines Ehepaares ist ein Kind zu viel, in der eines Architekten steht der Schrank mit nie verwirk­ lichten Projektskizzen an einer falschen Stelle. Ein DavidLynch-hafter Effekt stellt sich ein. Hier hat jemand voyeuristisch genau einen Tatort des eigenen Lebens entworfen, ein scheinbares Dokument, bei dem winzige Abweichungen Stollen ins Unterbewusste fräsen. Die Realität wird entsichert. Ein Schwindelgefühl setzt ein. Setz, dessen Alter Ego namens Setz die Vernissage im Stück eröffnet, spricht hier von einer doppelten Wahrheit: der buchhalterischen und der „ekstatischen“. Letztere wurde durch den Filmemacher Werner Herzog geprägt, der in seinen Dokumentationen oftmals jedes Detail erfand, um sie wahrhaftiger zu machen. „Mogeln, um besser sehen zu können, ohne deswegen die Zuschauer zu täuschen“, nannte der französische Film­ kritiker André Bazin dieses Prinzip in einem Text über

den berühmten Meerestier-Dokumentarfilmer JacquesYves Cousteau. Eigentlich unerhört in der Kategorie der Doku. Auch Clemens Setz besitzt Tieren gegenüber eine sonderbare Faszination. Auf seinem Twitter-Account, einem elektronischen Kunstwerk aus Posts, Gedichten, Beobachtungen, Fundstücken aus der Literatur und Retweets – „Jedermanns Fackel“, wie Setz den Blogging-Dienst, Karl Krauss zitierend, nennt – finden sich immer wieder bizarre Tiervideos, besonders in Zeiten des Lockdowns. Ein User namens @umschaltspiel0 postet ein Video aus dem Zillertal, wo sechs Ziegen, als gingen sie shoppen, durch menschenleere Straßen zockeln. Die Beziehung zu Tieren, sagt Setz, sei uns weitgehend unbewusst. Es gebe kaum mehr Tiermythen, mit denen wir unser Leben bereichern könnten. Nur Tiervideos, werfe ich ein. Genau, sagt Setz, C. G. Jung und Elias Canetti würden das eventuell ähnlich sehen. Faszinierend sei aber auch, wie einige Menschen auf Tierbabys reagierten. „Einige fletschen die Zähne und sagen Sätze wie: ,Oh, die sind so süß, ich könnte sie auffressen.‘“ In seinem Stück „Vereinte Nationen“, uraufgeführt 2017 am Nationaltheater Mannheim, berichtet Clemens Setz von einem Paar, Anton und Karin, die mit versteck­ ter Kamera Videos von ihrer siebenjährigen Tochter für ein Stalker-Portal im Internet drehen – indes ohne ­sexuelle Konnotation. Gefragt sind vielmehr Züch­ tigungsvideos, die zeigen, wie sich das Kind den Anweisungen der Erwachsenen widersetzt. Die Tochter, ausgestellt wie ein Tier im Zoo, weiß von den Filmarbeiten natürlich nichts. Leicht ließe sich die Geschichte mit den üblichen kulturkritischen Kate­gorien belegen, nach denen das Internet als Brand­beschleuniger menschlicher Perversitäten diene. Aber was steckt dahinter? Während ich noch durch das Stück blättere, dessen Konstruktion so verdächtig harmlos erscheint wie ein Plot von Ian McEwan, ploppt plötzlich ein neuer Post von Clemens Setz auf Twitter auf. „Hier das wahrscheinlich seltsamste Buch, das ich besitze. ,One Boy’s Day‘, eine soziologische Studie von Barker und Wright.“ Kann er Gedanken lesen? Die Autoren schildern darin in einer Art „manisch-realistischem ­Voyeurismus“ (Setz) die 48-Stunden-Überwachung eines siebenjährigen Jungen namens Raymond Birch. Das Buch stammt aus dem Jahr 1949. Einen ähnlich lüsternen Grusel müssen die Kunden der Stalker-­Videos ver­ spüren. Ein Kind, unschuldig, unbändig, ­unerklärlich, wird ins Bild einer Beobachtung gebannt. Es ist ein feiger Grusel. Der Grusel des unbeteiligten Betrachters. Wenn John Berger in „Warum sehen wir Tiere an“ darüber schreibt, wie der Mensch über die Jahrtausende versucht hat, den unüberbrückbaren Abgrund des Nicht-Verstehens zwischen ihm und den Tieren zu

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THEATERSTÜCKE VEREINTE NATIONEN UA 11. Januar 2017, Nationaltheater Mannheim, Regie Tim Egloff ERINNYA UA 15. November 2018, Schauspielhaus Graz, Regie Claudia Bossard DIE ABWEICHUNGEN UA 18. November 2018, Staatsschauspiel Stuttgart, Regie Elmar Goerden FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN UA Januar 2021, Münchner Kammerspiele, Regie Visar Morina Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

­ eine Sätze sind oft völliger Nonsens, dennoch sei es, S sagt Setz, eben für immer sein Zwitschern, sein poetischer Gesang. Er schreibe gerade an einem Vorwort zu einem Gedichtband von Ernst Herbeck, einem Dichter, der 45 Jahre lang in einer Nervenklinik lebte. Auch Es­ peranto-Dichtung interessiere ihn sehr. ­Dennoch sei die Aura des Wahnsinnigen nicht frei von ­Gefahren. Mit Foucault gesprochen, drücke sich in der Begeisterung für die Abweichung auch eine Macht aus: „Ich bin der Unversehrte. Der Unterschied zu ­meinem Korrekten ist das, was ich genieße.“ Gleich­zeitig stecke in diesem Genuss die Erkenntnis, wie seelen­gefährdend das Normale in unserer staats­tragend wohlgeordneten Autorität sei. So geht es zu, bei C ­ lemens Setz, ein beständiges dialektisches ­Umschaltspiel. In alten Unterlagen aus meiner Biochemie-­ Vorlesung finde ich einen Satz, deren philosophische Dimension ich damals sicherlich völlig ignoriert hatte. „Lebewesen befinden sich nicht im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Erst durch Tod und Zerfall wird das Gleichgewicht wiederhergestellt.“ Eine Literatur, die das Leben beschreibt, ist eine Literatur der Entropie, eine Literatur der Unordnung. Oder, wie es der Setz-Bot über Sagen formuliert: Sagen verschweigen uns deshalb so viel, weil sie es selbst nicht wissen, aber mit genau diesem eingebrannten Hohlraum zu existieren gelernt haben. Ich schaue aus dem Fenster. Der Wetterbericht wird später behaupten, dass am 23. März in Berlin schönstes Frühlingswetter herrschte. Ich klappe den Laptop zu. Der Rest ist Rauschen.

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CLEMENS J. SETZ

­ liminieren, beschreibt er im Grund das zweifelhafte e Bestreben, fremdes, unverständliches Leben zu domestizieren, zu kontrollieren und somit konsumierbar zu machen. Dabei werde der Mensch im kapitalistischen System selbst, wie einst der Ochse vorm Pflug, zum Nutztier. Die Folge? Alle schweigen und starren sich durch Kameras, im Internet ungläubig an. „Sich umgeben zu fühlen von lauter unzugänglichen Gehirnen, von schweigender, vernunftwidriger Natur, wie es bei Albert Camus heißt, ist eines der großen Missverständnisse des 20. Jahrhunderts, an dem wir immer noch leiden“, sagt Clemens Setz. „Eigentlich sagt die Natur uns ständig etwas.“ Aus­halten muss man eben nur, dass sie in Rätseln spricht. Es sind die „riesigen Hinterräume der Kultur“, die man mit Clemens Setz betritt. Echokammern des Menschseins, die im Theater letztmals bei Dimiter Gotscheff zu finden waren. Germanisten in Japan verpassten Setz deshalb die Bezeichnung „Sadomodernist“, was an Figuren liegen mag wie der Mutter aus „Der Trost runder Dinge“, die unbedingt vor ihrem im Koma liegenden Kind Sex mit einem Callboy haben will. Oder der Figur des Wiederentführers aus „Bot“, der es ausschließlich auf Frauen abgesehen hat, die gerade erst nach Jahrzehnten aus ihrem Verlies befreit wurden. Ich stelle mir Clemens Setz, der in Graz auch Mathematik studierte, eher als genialen, etwas verschrobenen Universal­gelehrten vor, der spurensuchend durch das unendliche Spiel des Lebens streift. „Der Poet ist jemand, der nicht wegschauen kann“, zitiert der Bot Werner Herzog. Das trifft auf Setz zweifellos zu. Er sei nicht für Leid, sagt er. Er sei aber auch nicht für die Abschaffung des Trägers des Leids. Militante Tierschützer, das sei das Bizarre, seien oftmals keine Tierfreunde. Sie wollten das Leben am liebsten abschalten. Die Transhumanisten mit ihrer Vision eines Universal Wel­fare State seien die moderne Variante davon. In „Erinnya“ indes, seinem 2018 am Schauspielhaus Graz uraufgeführten Stück, ist es gerade die Technik, die eine psychische Disposition, ein Leiden, lindert. Matthias, die Hauptfigur, ist schwer depressiv. Nur ein kleiner Knopf im Ohr macht es ihm möglich, am alltäglichen Leben teilzunehmen. Vernetzt ist er über diesen Kopfhörer mit einer Crowd, die ihm Sätze und Antworten einflüstert. Eine wahnwitzige Dystopie? Clemens Setz berichtet von einer Bekannten, die durch Psychopharmaka eine komplette Wesensveränderung erfuhr. Für die betroffene Person sei die Medizin, wie die Technik für Matthias, ein Segen gewesen, um wieder ins Leben zurückzufinden. Für die Angehörigen bliebe der Vorgang – ein Mensch wird plötzlich ein anderer – ein ewiges Rätsel. Eines jedoch, in dem im Fall von Matthias auch eine gewissen Schönheit ruhe.


ICH WILL NICHT KLINGEN WIE ... AKIN EMANUEL ŞIPAL VON SIMONE STERR

Zuhören. Bei Akın Emanuel Şipal ist das ein Vergnügen. Es macht Freude, seinen Geschichten zu folgen, ihn erzählen zu lassen von seiner Familie, schwärmen von Literatur, abschweifen in Politik. Als Gesprächspartner macht er es einem sehr leicht: mit seinen klaren Gedanken und schlauen Thesen, die einen mitreißen in den philosophischen Diskurs. Wie aber verdichtet sich dieser narrative Sprachfluss ins Dramatische, das ohne die Kunst des Aussparens und Weglassens nicht auskommt? Auch seine Stücke sind eine Einladung, genau zuzuhören, hineinzuhorchen, zwischen die Zeilen zu lauschen. Dabei hört sich jeder Text anders an. Der ­Autor sucht nicht nach „seiner“ Sprache, er sucht nach dem jeweils richtigen Ton für den Gegenstand seines Erzählens. Er kennt keine Scheu und keine Vorbehalte, schreckt vor keinem Genre zurück. Dachte man bei „Kalami Beach“, das er als Hausautor 2015 für das Nationaltheater Mannheim schrieb, noch, das ist einer für rhythmisierte, artifizielle und sehr lustige Textflächen, sprühte er kurz darauf mit lockerer Hand den Liederabend „Istanbul“ in die Welt, der von Bremen aus den Siegeszug in viele ausverkaufte Häuser der Republik antrat. Sehr ernsthaft und fast klassisch-realistisch wurde er bei „Ein Haus in der Nähe einer Airbase“, ein Stück, das den politisch denkenden Dramatiker offenbarte und mit etwas arbeitete, was es wohl kaum mehr gibt in der zeitgenössischen Dramatik: den psychologisch motivierten Dialog. Der hatte dann eher Seltenheitswert in der Komödie „Shirin & Leif“, einem Stück fürs Große Haus in Bremen, mit dem er 2019,

gemeinsam mit seinem Bruder Edis Arwed Şipal, so richtig auf die Kacke haute und die linksliberalen Vorstellungen von interkulturellem Zusammenleben genüsslich durch den dramatischen Kakao zog. Für einen nicht mal dreißigjährigen Autor sind da schon erstaunlich viele Klänge zusammengekommen, wurde mit Textsorten jongliert und mit Formen experimentiert in einer Neugier und formalen Fülle, die außergewöhnlich ist. Kann man so gar nicht sagen, wie ein Şipal klingt? Gibt es nicht den einen, seinen spezifischen ŞipalSound? „Wenn ich Stücke schreibe, dann verhalte ich mich zu allem, was ich mir reinziehe und zu anderer zeitgenössischer Dramatik, und ich versuche, einen Ton zu finden, der keinem anderen ähnelt. Es wäre mir furchtbar unangenehm, wie etwas zu klingen; wenn ich das bemerke, dann deprimiert es mich und verleidet mir den Spaß an der Auseinandersetzung. Gleichzeitig finde ich nichts schlimmer, als auf einem Ton hängen zu bleiben. Ich schreibe und mache Filme für mich, ich habe immer etwas gemacht mit Bild und Sprache. Aber damit man das aushält, muss man sich entwickeln. Ich will nicht klingen wie Şipal vor zehn Jahren. Ich will überhaupt nicht klingen wie … Ich will, dass es klingt, so wie es dem Kontext, dem Inhalt, dem Verhältnis von Form und Inhalt entsprechend klingen muss. Und ich möchte nicht zu viel darüber nachdenken“, sagt Akın dazu beziehungsweise schreibt es mir. Ich muss mir vorstellen, wie er es sagen würde, denn unser Treffen für dieses Porträt musste aufgrund der

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Akın E. Şipal. Foto Max Zerrahn

zu fassen, mit 360-Grad-Blick auf seine Umgebung zu schauen, nicht einzurasten, beweglich zu bleiben. Als Autor, indem er unterschiedliche Genres bespielt, als Pendler zwischen Deutschland und der Türkei, der die Außen- und Innenperspektive auf seine Heimatländer im Wechsel einnimmt, als Enkel, Sohn und als Vater, das Erbe annehmend, die Geschichte seiner Familie fortzuschreiben. Dabei gibt es sie natürlich, die wiederkehrenden Begriffe und Motive, die Töne, die sich wiedererkennen lassen. Sie haben mit Heimat zu tun, mit Herkunft, mit Familie. Ambivalenzen allesamt. Denn eindeutig ist in Akın Emanuel Şipals Familiengeschichte nichts. Es gibt viele Wurzeln: deutsche, schlesische, türkische. Einen Uropa bei der Wehrmacht, eine Oma, die von Breslau nach Deutschland flieht; es gibt italienische, lettische und jüdische Vorfahren. Was soll da Heimat sein? Gelsenkirchen? Istanbul? Adana? Machen ihn diese familiäre Disposition und die Tatsache, dass sich seine Familien- und seine Lebensgeschichte über mehrere Länder und Kulturkreise erstreckt, zum geeigneten Vertreter des sogenannten postmigrantischen Theaters? Ein sehr widersprüchlicher Begriff, wie er findet. Denn diverse Herkünfte sollten doch selbstverständlich sein. Einfach „direkt loserzählen, ohne groß den Kontext der Flucht- und Auswanderergeschichte erzählen zu müssen“, wünscht er sich, wohlwissend, dass sich das alles nicht so unbeschwert vom Tisch wischen lässt. Die Erfahrung der Marginalisierung gibt es. Daraus einen

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AKIN E. ŞIPAL

Kontaktsperre zu Beginn der Coronapandemie ausfallen. Er würde es mit heller, klarer Stimme sagen, wahrscheinlich würde er ein bisschen zu schnell sprechen, aber mit sehr viel Überzeugung. Töne also. Nicht den einen dramatischen Ton, sondern das Interesse für viele Töne. Sprache als unerschöpflicher Steinbruch, aus dem er alles raushauen kann. Als Kind mochte er Ruinen, assyrische Burgen, römische Säulen, alles, was Geschichte erzählt, aber eben nicht mehr perfekt ist, ein bisschen kaputt, offen, porös, schadhaft und rissig. In so einer Trümmerwelt aus Eindrücken und Geschichten arbeitet er, fängt Dinge an, lässt sie liegen, beginnt in Versen, endet im Dialog. „Wenn ich anfange, habe ich immer die Hoffnung, dass es ­alles sein könnte“, schreibt er. Was beliebig klingt, schärft sich im Prozess des Schrei­ bens zur zwingenden Form und kann dabei vieles werden: Drehbuch, Liederabend, die Chronik seiner Familie, kryptischer Text, sperrige Lyrik oder eine Komödie. „Ich versuche, mich nicht zu identifizieren, sondern zu spielen, verschieben, übersetzen, collagieren, verdichten. Außerdem gibt es so viele gute Sachen; wenn man da an einer Sache kleben bleibt, ist es schade. Dann muss man quasi mit Scheuklappen durch den Rest des Lebens. Das will ich nicht.“ Man glaubt ihm diesen unbedingten Wunsch, offen zu bleiben, sich immer wieder auf null zu justieren, den Begriff von Kunst und den von Autorenschaft für jede Arbeit neu


THEATERSTÜCKE SANTA MONICA UA 1. März 2015, Nationaltheater Mannheim, Regie Tarik Goetzke KALAMI BEACH UA 24. September 2016, Nationaltheater Mannheim, Regie Tarik Goetzke EIN HAUS IN DER NÄHE EINER AIRBASE UA 2. Februar 2018, Theater Bremen, Regie Frankt Abt SHIRIN & LEIF. EINE HOCHZEITSKOMÖDIE MIT MUSIK Zusammen mit Edis Arwed Şipal, UA 26. Mai 2019, Theater Bremen, Regie Selen Kara MUTTER VATER LAND UA 5. November 2020, Theater Bremen, Regie Frank Abt VOR WIEN frei zur UA Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

künstlerischen Ausdruck zu entwickeln ist nicht immer sein Antrieb, aber immer wieder ein starkes Motiv. Das deutsch-türkische Verhältnis spiegelt diese Ungerechtigkeiten wieder. „‚Türke‘ beschreibt im kollektiven Unterbewusstsein in Deutschland und in Europa das, was man nicht sein will“, und Akın Emanuel Şipal bezeichnet es als Lebensaufgabe, mit diesem Label klarzukommen. „Natürlich bin ich manchmal wütend und frage mich: Wo ist die türkische Literatur in Deutschland, wo ist die islamische Philosophie? Wo ist die türkische klassische Musik, die türkische Kunstmusik, die türkische religiöse Musik? Da ist so viel gutes Zeug, und in Deutschland ist kaum was angekommen. Was stört den Transport? Mein Großvater hat sein Leben lang deutschsprachige Literatur ins Türkische übersetzt, alles von Kafka, Hesse, Freud, Jung und viele mehr, über sechzig Bücher. Die Übersetzungen haben alle hohe Auflagen. Letztes Jahr ist er gestorben, und es ist auf Deutsch kein Nachruf erschienen, das Goethe-Institut in Istanbul hat nicht mal kondoliert. Sad story.“ Warum ist der kulturelle Austausch so auf Sparflamme? In aller Vorsicht formuliert er eine These: „In Deutschland sind wir mit unserem brennenden Inter-

esse für politische Missstände andernorts und unserer Obsession mit autokratischen Leadern ein bisschen monothematisch unterwegs, und es könnte sein, dass wir so diversen Ländern, unterschiedlichsten Menschen und Kulturen nicht gerecht werden.“ Wieder kann ich hören, wie Akın das sagen würde. Sehr fein, sehr höflich. Wie bei manchen Gerichten spürt man die Schärfe erst mal nicht. Aber sie wirkt nach. Familie als Motiv, als Quelle für sein künstlerisches Tun und für sein Schreiben. Akın Emanuel Şipal ist fasziniert vom Familienverbund als Speicher von Erfahrungen über die Zeiten hinweg, in den sich Zärtlichkeiten, Gewalttätigkeit, Rituale, Wissen einschreiben und unser Denken und Tun prägen. Von der Schicksals­ gemeinschaft, vom Unausweichlichen, in eine ganz bestimmte, nicht zu verleugnende Geschichte hineingeboren zu sein. „Familien sind unendliche Geschichten, es wiederholen sich immer dieselben Muster. Alte Schlösser mit Gespenstern aus allen Generationen. Jede Familie hat ihr Thema, und das zieht sie durch, bis sie ausstirbt“, heißt es in „Shirin & Leif“, womit sich der Wunsch, ja nicht zu werden, wie die eigenen Eltern, dann auch erledigt hat. Eigentlich sind alle bisherigen Stücke von Akın Emanuel Şipal Familiengeschichten. Das muss nicht zwangsläufig ein autobiografisches Schreiben sein. Bei seinem neuesten Stück „Mutter Vater Land“, das im Herbst in Bremen zur Uraufführung kommen soll, ist es das. Auch wenn das Autobiografische und das Fiktionale darin kunstvoll verschwimmen. Die eigene Familie wird hier zum Gegenstand. Überhöht. Ästhetisiert. Aber doch ganz sichtbar und real. Akın Emanuel Şipal wird zum Chronisten für hundert Jahre Familiengeschichte. Vier Generationen begegnen sich in Szenen, Anekdoten, Tiraden, Träumen und Rachefantasien. Fast hat man das Gefühl, alle bisher angeschlagenen Töne, alle Formen der dramatischen ­Verdichtung, mit denen der Autor bisher gespielt und experimentiert hat, sind in diesen Text geflossen. Wir werden ihm sehr gut zuhören.

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AKIN EMANUEL ŞIPAL IST FASZINIERT VOM FAMILIENVERBUND ALS SPEICHER VON ERFAHRUNGEN ÜBER DIE ZEITEN HINWEG.


X FREILUFT- ODER DRIVE IN-THEATER ALTE FEUERWACHE WEIMAR © ENTWURF & VISUALISIERUNG: ALEXANDER GRÜNER

URAUFFÜHRUNG Falk Richter Chris Kondek Dimitrij Schaad »Five Deleted Messages« URAUFFÜHRUNG Sibylle Berg Ersan Mondtag Benny Claessens »PAUL oder Im Frühling ging die Erde unter« URAUFFÜHRUNG Theresia Walser Judith Rosmair Theo Eshetu »Endlose Aussicht«

URAUFFÜHRUNG Sivan Ben Yishai Marie Bues Niko Eleftheriadis »Ich bin nicht bereit, gerettet zu werden«* URAUFFÜHRUNG Philipp Ruch »Wie sag ich’s meinem rechten Nachbarn?« URAUFFÜHRUNG Lothar Kittstein Stefan Hornbach Swaantje Lena Kleff »Keine Angst –Lockdown!«


EXPERIMENT AM EIGENEN KÖRPER NIS-MOMME STOCKMANN VON JUDITH GERSTENBERG Eine lexikalische Weltoper! Diese Idee begleitet NisMomme Stockmann seit mehr als zwanzig Jahren, seit Beginn seines literarischen Bewusstseins. Diesem ­Autor geht es ums Ganze – immer. Er lacht, wenn er davon spricht. Ob die stündlich anwachsende Sammlung zu dieser Unternehmung, in die Alltagsbeobachtungen, Katastrophen, Lektüren aller Art, poetische, poetologische, wissenschaftliche, gesellschaftspolitische Diskurse als Material einfließen, jemals abgeschlossen wird und in ein aufführbares Werk mündet, ist ungewiss – ja eher unwahrscheinlich –, dennoch wäre es falsch zu glauben, ihm wäre es mit diesem Vorhaben nicht ernst. Es ist ihm sogar sehr ernst. Ich wage zu behaupten, dass alle seine veröffentlichten Texte – Theaterstücke, Prosa, Lyrik, Essays, selbst ­seine Facebook-Einträge – als Einblicke in diesen Arbeitsprozess, als skizzenhafte Zwischenstände dieser einen Lebensaufgabe zu lesen sind, deren Produktiv­ kraft sich der tiefen Sehnsucht nach Kontaktnahme mit – ja was? – mit „Etwas“ verdankt. Das „Ganze“ ist natürlich schwer zu fassen. Das ist Stockmann bewusst, zumal er Teil des Systems ist und dadurch die blinden Winkel zahlreich sind. In seinem vorläufigen, dramatischen Opus magnum „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“ hatte Stockmann sich erstmals wundgerieben in dem Versuch, für unsere Gegenwart eine Form zu finden. „Kapitalismus“ – der Kampfbegriff der Elterngeneration. Seiner wollte er habhaft werden. Ihm wollte er die Maske vom Gesicht reißen. Zu ihm hatte er eine Position –

eine vage. Müdes Lächeln. Gähnen. Das Thema ist durch, schlug es ihm entgegen. Er recherchierte dennoch oder erst recht. „Was nicht neu ist, ist alt und somit wertlos.“ Signifikantes Gesetz des Kapitalismus, dem er sich nicht unterwerfen wollte. Er traf ehemalige Hedgefonds-Manager, die bereitwillig demontierten, wovon sie früher profitierten, wühlte sich in Wirtschaftsund Moraltheorien, folgte Link um Link, um zu begreifen, warum funktioniert, was funktioniert und gleichzeitig eine so zerstörerische Kraft entfaltet. Das Material vermehrte sich wie ein Pilzmyzel und hatte auch die nämlichen Eigenschaften. Verzweiflungsschübe, Selbstüberlistungsversuche, Erschrecken vor den eigenen Lebensirrtümern, ein Emanzipations­ prozess von politischen und philosophischen Illusionen begleiteten die Arbeit zu diesem Text – und flossen in ihn ein. Jahre später wird Stockmann im Prolog eines anderen Stückes („Das Gesicht des Bösen. Und das unerwartet freundliche Gesicht derer, die ihm zuarbeiten“) sein autofiktionales Ich über diesen hybriden ­Versuch den Kopf schütteln lassen, nicht ohne Empathie und nicht ohne im Anschluss den Versuch erneut zu unternehmen. Für die Form, die Stockmann am Ende schließlich gefunden hatte, bediente er sich des Münchhausentricks, in dem der Ertrinkende sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Sie selbst wurde zum (vergeblichen, wie sollte es anders sein) Fluchtversuch aus dem System der Ertragslogik, das unsere ganze Kultur, unser ganzes Denken durchdringt. Der Text verweigerte

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Nis-Momme Stockmann. Foto privat

tens. Das Protokoll dieses Auf- und Ausbruchs – ein gleichzeitiges Hinein- und Hinausstreben, das auch andere Protagonisten Stockmanns antreibt (ja, es sind in der Regel männliche) – liest sich überaus komisch. Offensichtlich verdankt es sich der genauen Kenntnis einer konvulsivischen Innenwelt, der Innenwelt eines leidenden, auch wehleidigen, hochfahrenden, verwirrten, selbstgerechten und auch hin und wieder kitschigen Bewusstseins, das auf einen Sinnzusammenhang hofft, auf ein alles entschuldigendes Gegenüber, einen Verantwortlichen, der nicht zu finden ist. Es begegnet immer nur sich selbst. Wie wir uns alle immer nur uns selbst be­ gegnen. Wie auch Nis-Momme Stockmann ­bezieh­ungs­weise der autofiktionale Erzähler, den er ­vielen seiner Texte einschreibt und mit dem Leser oder Zuschauer in Kontakt treten lässt, immer nur sich selbst begegnet, im Irrlauf durch ­jenes Spiegelkabinett, das sich durch die permanente Reflexion aller seiner Schritte, Wahrnehmungen und Gedanken um ihn herum aufbaut. Es wäre ein Missverständnis, Stockmanns Stücke als „kapitalismuskritisch“ zu verorten. Genauso wenig wie Stockmanns erster und sogleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gesetzter Roman „Der Fuchs“ kein Beitrag zur Klimadebatte ist, obwohl es in der jüngeren Literaturgeschichte sicher keine eindrucksvollere Schilderung einer Flut gibt, in der eine ganze Kleinstadt versinkt. Ich vermute, es geht dem

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NIS-MOMME STOCKMANN

die Anpassung an das Markttaugliche, leistete Widerstand gegen das Kommensurable, dämmte das Entfaltungsausmaß der Auseinandersetzung nicht ein. Pfannenfertig ist Gegenwart nicht zu haben, schrie er. Auch das Scheitern als Akteur des Systems an der ­Distanznahme zum eigenen Gegenstand war ihm eingeschrieben. Weit mehr als dreihundert DIN-A4-Seiten stark war das ­vorgelegte Manuskript, das Addendum aus Prä­am­ beln, Fußnoten, Liedtexte nicht eingerechnet. Das Ganze: eine wilde Mischung aus ­poetischer Parabel, Wutgesang, Musikrevue, Dialogszenen, Essay und Kommentar. Eine energiege­ ladene, lustvollverzweifelte Kampfansage gegen die resig­ native Depression, die sich breitgemacht hatte, weil nicht zu begreifen ist, warum wir aus all unserem Wissen und unserem Unbehagen keine Konsequenzen ziehen. Und deren Urheber den brennenden Wunsch hatte, jene Welt abzuschütteln, die er uns gerade, luzide und so beschreibungssatt, wie es nur wenigen gelingt, vorführte. Ja, Stockmanns hingebungsvolle Zuwendung zum Grau der Wirklichkeit ist bemerkenswert. Inmitten dessen jedoch setzte er eine Farbe: Rot. Der blutige Auswurf eines Mannes, eines ehemaligen Bankers, mit Magengeschwür, der in der Mitte seines Lebens den „Mut zum Pathetischen“ spürt und in den schwarzen Mandelkern der Welt dringen will. Eine Zäsur. Die Möglichkeit, vielleicht, eine andere Perspektive einzunehmen. Das hofft er wenigs-


WAS NIS-MOMME STOCKMANN MACHT, IST JA GERADE DAS: SEIN LEBEN MIT UNS ZU TEILEN. DER PROZESS IST UNABSCHLIESSBAR, EBENSO DER WUNSCH, SICH SELBST ZU ENTKOMMEN UND ZU ENTWERFEN INS OFFENE. Autor um etwas anderes. Es geht darum, sich selbst auf die Schliche zu kommen, der eigenen Konditionierung, sich zu fragen, woher er seine Haltungen bezieht, seine Überzeugungen, was und wie er überhaupt wahrnimmt, woher seine Sehnsüchte herrühren, seine Ängste. Stockmanns Schreiben ist ein schonungsloses Experiment am eigenen Körper. Er wirft sich mit allen seinen Vorurteilen, seinem Rassismus, seinem Begehren und Wünschen, seiner Eitel- und Verletzlichkeit in die Waagschale. Er sucht und reflektiert seine eigene Rolle in der Welt, macht sich angreifbar, auch in seinem Wunsch, der Mittelmäßigkeit zu entkommen. Er schützt seine Flanken nicht. Auch wenn er zuweilen Kritik in seinen Texten vorwegnimmt, sucht er dadurch nicht die Immunisierung. Im Gegenteil. Er traut sich, sein siedendes, zuweilen überschäumendes Hirn zur Schau zu stellen, er traut sich, die Widersprüche, die er lebt, die wir leben, auf die Spitze zu treiben, doppelte, dreifache, vierfache Wahrheiten zuzulassen, die nicht im Entwurf eines Mittelwegs zur Versöhnung gebracht werden können. Und, was heute selten zu finden ist: Er verweigert den Zynismus. Er sucht nach dem Wahrhaften, nach dem reinen Zugang zu Ideen von Schönheit und Liebe und weiß doch um die Vergeblichkeit dieser Anstrengung – auch um den Vorwurf des Kitsches und, weit wichtiger, um die Gefährlichkeit des Pathos des Neuen, das seine Protagonisten manchmal für einige Zeilen im Munde führen. In seinem jüngsten Stück, „Das Gesicht des Bösen“, lässt er die Nornen Urd, Verdandi und Skuld auftreten,

die in der nordischen Mythologie für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen. Unter ihrem Glöckchengeläut krümmt sich die Zeit, und neue Bedeutungshorizonte werden freigelegt. Linearität und Logik sind in Stockmanns Schreiben verblassende Orientierungspunkte. Stattdessen: vertikales Erzählen, in dem sich Schicht auf Schicht legt. Zeitebenen, Realitäts­­ ebenen, Kommentarebenen, mythologische Sehnsüchte, wissenschaftliche Diskurse, ökonomische ­Logik, die nur in ihrer Gleichzeitigkeit zu haben sind. Dieses raffinierte Verknüpfungsverfahren gelingt brillant, weil Nis-Momme Stockmann einer der sprachmächtigsten Autoren seiner Generation ist, der schein­ bar mit verschwenderischer Mühelosigkeit die Spielarten unterschiedlichster Genres aufs Papier bringt, den Rhythmus der Wechselrede blind beherrscht, pointiert und komisch, ebenso Gefühlsäußerungen und Affekte in allen Spektralfarben. So verwebt Stockmann denn auch in seinem schon erwähnten Roman „Der Fuchs“ gleich sieben Erzählebenen, die – wenn man genau schaut – Rückschlüsse auf das Sortiment des Büchereibusses geben, das dem Protagonisten aus dem nordfriesischen Dorf ­Thule (!), Finn Schliemann (!), als Schlüssel zur Welterschließung dient. Ein verzweifelter Versuch – auch von ihm, diesem einzelgängerischen Jungen –, dem Dasein einen Sinn abzutrotzen. Tatsächlich sind Stockmanns Texte das reinste Lesevergnügen. Ein kurzes flüchtiges Reinblättern ­endet schnell in einer stundenlangen Versenkung in den Text, so suggestiv, bildreich, detailstark sind seine Anfangsszenarien – sowohl bei seiner Dramatik als auch der Prosa. Das geht eine Weile. Der Umfang ist jeweils groß. Und dann? Dann verlässt er unvermittelt die Form, löst sie auf, schweift ab, schweift weiter ab, schweift nochmals ab, startet neu, ganz woanders. Und wenn man sich gerade müht, die verlorene Fährte wiederzufinden und herauszukriegen, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte, schaltet sich sein autofiktionales Ich ein und versichert, dass es da nichts zu begreifen gibt. Dass diese Fixierung auf Logik und Verortung, Erwartung und Nutzbarmachung doch eher etwas ist, dass mich als Rezipientin auf mich selbst zurückwirft. Es geht nicht um das Was (na ja, doch, natürlich auch), sondern um das Dass, es geht um das öffentliche Teilen eines Denk- und Kreativ­prozesses, einer schöpferischen Energie, die sich gegen die Verschubladung der Welt sträubt. Es geht also eher um etwas, das eine Bewegung auszulösen vermag, eine Verwicklung und Kontaktnahme mit mir, seinem Gegenüber, das dadurch ins Erleben, ins Leben gezwungen wird. Der runde Schluss, den man in Nis-Momme Stockmanns Texten vergeblich

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DER MANN DER DIE WELT ASS UA 17. Dezember 2009, Theater der Stadt Heidelberg, Regie Dominique Schnizer

DIE KOSMISCHE OKTAVE UA 21. März 2014, Sophiensæle, Berlin, Regie Ulrich Rasche

DAS BLAUE, BLAUE MEER UA 22. Januar 2010, Schauspiel Frankfurt, Regie Sebastian Martin

PHOSPHOROS UA 5. Juni 2014, Bayerisches Staatstheater, München, Regie Anne Lenk

KEIN SCHIFF WIRD KOMMEN UA 19. Februar 2010, Staatstheater Stuttgart, Regie Annette Pullen

AMERIKANISCHES DETEKTIVINSTITUT LASSO UA 6. Februar 2016, Staatstheater Hannover, Regie Lars-Ole Walburg

INGA UND LUTZ UA 8. Oktober 2010, Staatstheater Braunschweig, Regie Alexis Bug

DAS IMPERIUM DES SCHÖNEN UA 31. Januar 2019, Schauspiel Stuttgart, Regie Tina Lanik

DIE ÄNGSTLICHEN UND DIE BRUTALEN UA 12. November 2010, Schauspiel Frankfurt, Regie Martin Kloepfer

DAS HERZ DER KRAKE UA (ursprünglich geplant) 28. April 2020, Deutsches Theater, Berlin, Regie Nora Schlocker (wegen Corona verschoben)

EXPEDITION UND PSYCHIATRIE UA 4. März 2011, Theater Heidelberg, Regie Nis-Momme Stockmann

DAS GESICHT DES BÖSEN. UND DAS UNERWARTET FREUNDLICHE GESICHT DERER, DIE IHM ZUARBEITEN UA (ursprünglich geplant) 10. April 2020, Teatret Svalegangen, Aarhus, Regie Per Smedegaard (wegen Corona verschoben)

DER FREUND KRANK UA 27. April 2012, Schauspiel Frankfurt, Regie Martin Schulze TOD UND WIEDERAUFERSTEHUNG DER WELT MEINER ELTERN IN MIR UA 15. September 2012, Staatstheater Hannover, Regie Lars-Ole Walburg

Vertreten durch schaefersphilippen Theater & ­Medien, Köln.

sucht, muss konsequent verweigert werden. Zu Lebzeiten. Denn was Nis-Momme Stockmann macht, ist ja gerade das: sein Leben mit uns zu teilen. Der Prozess ist unabschließ­bar, ebenso der Wunsch, sich selbst zu entkommen und zu entwerfen ins Offene, ins NichtGewusste und dabei Dinge zu sehen und zu erkennen, die die kühle Vernunft nie verstehen würde. Stockmanns Mittel, ­diesem Wunsch näherzukommen, ist die Sprache. Und er benutzt sie durch und durch performativ, auch in seiner Prosa: verführend, erhellend, überfordernd, ­erschöpfend, sich verhakend, abzweigend, wegdämmernd, irgendwann tritt der Inhalt zurück, die Bilder verblassen, der Klang übernimmt, Musik entsteht. H ­ örbar werden Gesänge, die zu Chören anschwellen, Solostimmen, die sich in Echostimmen ver-

vielfältigen, bis sie sich in der Unendlichkeit verlieren, das Pingpong nie enden wollender Dialoge, serielle Kompositionen, in denen sich die ewig gleichen Repliken minimal verschieben. Das Druckbild ändert sich, wird zur Partitur. Da lässt sich die Weltoper schon erahnen.

PS: „Schade“, bedauerte Nis-Momme Stockmann in unserem letzten Telefonat, „wir haben gar nicht über das Spirituelle gesprochen. Letztlich geht es ja in ­meinem Schreiben nur darum.“

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NIS-MOMME STOCKMANN

THEATERSTÜCKE


DER STERN HAT GESPROCHEN, DIE ERDE BEISST MIROSLAVA SVOLIKOVA VON MARGARETE AFFENZELLER In den Stücken Miroslava Svolikovas geschehen Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte. Regenbögen lassen ihrer Wut freien Lauf, steinerne Mauern beginnen zu sprechen, ein Museumswärter führt als Hologramm durch die Ausstellung, und halb tote Soziologen raffen sich doch noch irgendwie zum Sex auf. Wie soll denn das gehen? Die Regie muss es richten, und sie erlebt angesichts solch steiler Vorlagen mitunter ihre blauen Wunder. Obwohl oder gerade weil Miros­ lava Svolikova in ihren Dramen genaue Vorstellungen vom Bühnengeschehen mitliefert, haben Regisseurinnen und Regisseure alle Hände voll zu tun, wenn sie sich auf eines ihrer Stücke eingelassen haben. Das war bereits beim Erstling „die hockenden“ der Fall, der 2015 beim Retzhofer Dramapreis als Siegertext hervorging und ein Jahr später am Burgtheater Wien (Vestibül) uraufgeführt wurde. Alia Luque hat das Stück inszeniert und eine der frischesten und eigenständigsten Inszenierungen der damaligen Burgtheatersaison vorgelegt. „die hockenden“ beschreibt eine Dorfgemeinschaft, die in einem lethargischen Zustand verharrt und doch auf eine bessere Zeit hofft. Auf eine konkretere Zusam­ menfassung lässt sich das Stück kaum bringen. Und diese Sperre gegenüber dem griffigen Nacherzählen haben sämtliche Svolikova-Stücke eingebaut. Sie verfügen über keine größeren Handlungsbögen, keine sinnfälligen Kausalzusammenhänge, keine Entwicklungen, aus denen man Schlüsse ziehen könnte. Auch wenn am Ende dann doch irgendwie viel „passiert“ ist.

Dinge wurden beobachtet und überlegt, Figuren sind in den absurdesten Konstellationen aufeinandergetroffen. Diese Sprecherinnen und Sprecher sind dabei nicht zwangsläufig aus jenem Material geschnitzt, von dem die klassische Dramenliteratur bevölkert ist, dem Menschen aus Fleisch und Blut. Nein, Svolikova denkt freier und weiter, sie operiert auch mit anderen Wesenseinheiten. Motor in diesen Theatertexten ist ein performatives Sprechen, das sich oft direkt ans Publikum wendet, also ein Sprechen, bei dem die Figuren sich nicht vordringlich gegenseitig involvieren, sondern sich aus vollem Herzen einfach mitteilen. Das SvolikovaDrama bildet Sprechhaltungen ab, die nebeneinanderund/oder gegeneinanderstehen, alle aus ähnlichem Holz wie Elfriede Jelineks Kaskaden, aber im Unterschied dazu in Figurenreden arrangiert. Der Suhrkamp Theater Verlag, bei dem alle bisherigen sieben Dramen Svolikovas verlegt sind – inklusive ihrer Neuübersetzung von Shakespeares „König Lear“ –, hat trotz der Plot-Armut für jedes von ihnen eine anschauliche Synopsis erstellt. Es sind Beschreibungen von Zuständen und Atmosphären, von der Beschaffenheit der Figuren und Situationen – zusammen ergibt all das stets eine abenteuerliche Gemengelage. Man sieht sich zur Behauptung hingerissen, dass nichts von dem, was sich hier „abspielt“, jemals zuvor schon irgendwo geschehen ist. Wo ist jemals „ein Stück Speichel“ aufgetreten, der aufgeladen ist mit schwerem Leben und Geschichte und ob dieser Last schleimt und sabbert? Oder wann hat die Erdkugel jemals als

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Miroslava Svolikova. Foto Max Zerrahn

scheut keine billige Situationskomik, etwa wenn eine Figur zum Publikum vorwurfsvoll „Was schauen Sie so?“ sagt. Oder sie baut entlang von produktiven Wiederholungen (ein häufiges Muster) witzige Missverständnisse ein, in denen am Ende die ganze Tragik sichtbar wird: Im Stück „Gi3F – Gott ist drei Frauen“ (frei zur UA) beispielsweise denkt die Erde, sie hätte noch 2,5 Milliar­ den Jahre vor sich, aber, ups, es sind leider doch nur 2,5 Stunden! Das ist natürlich zum Lachen, aber eben auch sehr bitter. Schon der schwindelerregende Titel von „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ (UA Schauspielhaus Wien 2017) zeigt ­prototypisch, worum es Svolikova geht: Sie setzt abstraktes Denken in konkretes Theater um. Und das wirkt nie schwerfällig, sondern fast immer komödiantisch. Dass der dermaleinst letzte Stern der EU-Flagge im futuristischen EUMuseum im Beisein dreier Praktikanten, also einer „lost next generation“, über die Gesellschaft nachdenkt, das ist als Bauplan für eine politische Komödie ziemlich genial und in seiner Machart einzigartig. Bereits als Kind von acht, neun Jahren, mit den Sprachen Tschechisch, Slowakisch und Deutsch aufgewachsen, hat Miroslava Svolikova Texte geschrieben, dann aber zunächst Philosophie und später an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Gunter Damisch Zeichnen studiert. Ins Dramenfach ist sie, wie sie immer wieder anmerkt, durch eine Ausschreibung eher nur „reingerutscht“. Ein steiler Einstieg, wenn man die letzten fünf Jahre rekapituliert. Die Liste der Preise ist heute doppelt so lang wie die der Werke selbst. Sie

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MIROSLAVA SVOLIKOVA

Ausdruck einer starken Gemütsbewegung einen Gott gebissen? Oder konnte das Böse auf Erden jemals zusammengerollt und weggelegt werden? Solche abstrakten und fallweise auch sciencefictionhaften Ideen sind essenzieller Bestandteil von Svolikovas Stücken. Sie erschließen Gelände jenseits der Realität und fordern so die Regie in überdurchschnittlichem Maß heraus. In den Gehirnen der Regisseurinnen und Regisseure müssen Blitze schießen angesichts der schon im Text angelegten inszenatorischen Spannweite. Man kann aber auch sagen, Svolikova ist eine Theaterkünstlerin, die von der eigenen Lust, Regie zu führen, schon ­einiges in ihre Texte mit hineinpackt. Ihre Stückeinleitungen, Vorworte und Regieangaben haben im Wissen darum, dass Theater jedes Mal neu erschaffen werden muss, allerdings auch eine ironische Note. Oft enden präzise Anmerkungen lapidar mit „oder es ist alles ganz anders“. Svolikova, 1986 in Wien geboren, leitet einerseits ein profundes Gespür für die Funktionsweisen des Theaters an, sie verfügt zugleich aber über genug Sprödigkeit, um sich diese Gesetzmäßigkeiten auch weit genug vom Leib zu halten. Sie steht nicht im Verdacht, Lieferantin abschnurrender Texte zu sein. Und doch gehen, salopp gesagt, die Stücke runter wie Öl. Auch deshalb, weil die Dramatikerin – ähnlich wie ­Jelinek – es sehr gut hinbekommt, Intellekt mit Entertainmentverfahren kurzzuschließen. Zumindest sind Svolikovas Texte von einer Unbefangenheit getragen, die Theaterteams inspirieren. Sie bringt staubtrockene Stoffe mit schrägen Konstellationen zum Fliegen. Sie


hat aber auch Szenisches Schreiben beim Drama­ forum von uniT Graz studiert. Als Autorin zehrt sie vom Wissen um abstraktes Gestalten, wie sie es auch in ihren Zeichnungen umsetzt – und übrigens auch beim elektronische Musik machen. Alle drei Kunstsparten möchte sie weiterhin verfolgen, auch wenn momentan das Schreiben die Überhand gewonnen hat. Diese Switch-Möglichkeit zwischen den Kunstsparten geht beim Schreiben mit einer Wendigkeit und Sicherheit einher. Im Prinzip sucht Svolikova für jeden Stoff eine eigene Form. So könnte man sagen, dass mit den sechs eigenen Stücken bisher auch sechs Genres entstanden sind: eine Dorfpolyfonie („die hockenden“), eine politische Farce („Diese Mauer …“), ein dramatisches Gedicht („europa flieht nach europa“), eine a ­ bsurde Dialogkomödie („Der Sprecher und die Souffleuse“), ein Zukunftsmythos („Gi3F – Gott ist drei Frauen“) und ein philosophischer Splatterporno („Rand“ 2020). Und tatsächlich nehmen sich die Dramen bei aller Verwandtschaft ziemlich unterschiedlich aus. Zum Lachen gibt es aber immer etwas. Und das ist oft der Fallhöhe zwischen dem Verhandlungsgegenstand (Krise der Europäischen Union, Wegbrechen der bürgerlichen Mitte, Weltuntergang) und dem Palaverton der Akteure zu verdanken. So erhebt in „Gi3F“ der Planet Erde kurz vor seinem Kollaps zögerlich die Piepsstimme, als in Wahrheit nur mehr ein unendlich lauter Schrei helfen würde: „ich wollte mich noch einmal melden“. Oder wenn im Stück „Der Sprecher und die Souffleuse“, einer kafkaesk-knackigen Theater-im-Theater-Komödie, König Lear den Stromausfall auf der Bühne inbrünstig als seine Sturm-Szene imaginiert. Oder wenn ein blauer Tetrisstein von der Weisheit seiner Ahnen und Urahnen berichtet, nach der er sich in Respekt vor der Tradition auch in seiner Existenz orientieren möchte. So steht es in „Rand“, dem jüngsten Drama Svolikovas, in dem es um eine Betrachtung der sozialen und politischen Metaphern von Mitte und Rand geht, aber auch um den Begriff der Abgrenzung, wenn eine eifrige Gruppe von Soziologen die fremden Sitten und Gebräuche der Tetris­ steine erkundet und sich vor ihnen in Acht zu nehmen gedenkt. Miroslava Svolikovas Stücke legen also immer Strukturen offen – bei aller theatralischen Fülle, die die Texte anbieten und die jede Ausstattung herausfordern können. Gerade weil wir uns die Sprecherinnen und Sprecher nicht zwangsläufig als das soziale Wesen Mensch und seine psychologisch motivierten Pro­ blemchen vorzustellen haben, ihre Reden also losgelöst von vielen identifikatorischen Assoziationen sind und oft auf mythologischen Grundmustern beruhen, ­treten im geradezu Brecht’schen Sinn Abläufe, Zusam-

THEATERSTÜCKE DIE HOCKENDEN UA 13. April 2016, Burgtheater Wien, Regie Alia Luque DIESE MAUER FASST SICH SELBST ZUSAMMEN UND DER STERN HAT GESPROCHEN, DER STERN HAT AUCH WAS GESAGT UA 12. Januar 2017, Schauspielhaus Wien, Regie Franz-Xaver Mayr EUROPA FLIEHT NACH EUROPA UA 22. Juni 2018, Deutsches Theater, Berlin, Regie Franz-Xaver Mayr DER SPRECHER UND DIE SOUFFLEUSE UA 12. Juni 2019, Theater am Lend, Regie Pedro Martins Beja RAND UA 30. September 2020, Schauspielhaus Wien, Regie Tomas Schweigen GI3F (GOTT IST DREI FRAUEN) UA 22. Januar 2021, ETA Hoffmann Theater, Bamberg, Regie Jakob Weiss ICH BIN EIN MENSCH JETZT UA 5. Februar 2021, Schauspiel Frankfurt, Regie Jessica Glause Vertreten durch den Suhrkamp Theater Verlag, Berlin.

menhänge, Strategien immer offen zutage. Bei Svolikova moderieren die Figuren ihr Gesagtes gelegentlich mit. Sie kündigen etwa den längst überfälligen Höhepunkt des Stücks selber an oder kommentieren sich ein wenig selbstverliebt: „Das ist ein schönes Schlusswort“. Dazu kommt ein klarer, leichthändiger Sprachduktus, der reinzieht. Und das ist vielleicht das eigentliche Wunder an diesen Stücken: Svolikovas bei Paul Celan und Ingeborg Bachmann geschulten, unangestrengten, bildhaften Sprache fehlt jeder Dünkel, jedes Zuviel an literarischer Avance, und doch wummert die Poesie in den einfachsten Sätzen. „ich bin das, was sich unter dem teppich noch bewegt, … ich bin all die leichen, über die man drübergestiegen ist, ohne zu stolpern“, sagt der Speichel in seiner großen Gesellschaftsreflexion im Stück „Die Mauer …“. Bekommt diese Bild­ sprache im Theater Raum, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

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2006 Brecht Der kaukasische Kreidekreis | Langhoff Schauspieler | Brecht Und ein Schiff mit acht Segeln | Brecht Der Augsburger Kreidekreis | Brecht D Ozeanflug | Mendel/Kath Nebensache | Portmann/Staerk Katz und Maus | Goethe Faust. Frühe Fassung | Sinclair/McCarten Ladies Night | Hübner Gretch 89ff. | Peiker/Klinge Wie Findus zu Pettersson kam | Mehring Die Schneekönigin | Platzer Piaf | Richter Electronic City | 2007 Pollack Wie im Himmel | Orff D Kluge | Hübner Nellie Goodbye | Panse Seide | Ibsen Die Frau vom Meer | Stone Sugar – Manche mögen’s heiß | Hub An der Arche um acht | Loher Fremd Haus | Müller Bikini | Shakespeare Was ihr wollt | Epple Konstanzer Totentanz | Walser/Khuon Ein fliehendes Pferd | Enzensberger/Henze El Cimarrón | Brec Herr Puntila und sein Knecht Matti | Reza Der Gott des Gemetzels | O’Neill Hughie | Cooney Außer Kontrolle | O’Casey Das Ende vom Anfang | 200 Liederabend Revolution Number Nine | Schiller Die Räuber | Schiller Der Geisterseher | Schiller Maria Stuart | Ravenhill Der Schnitt | Missmahl Troja-Ithak Konstanz | Miller Tod eines Handlungsreisenden | Fleißer Fegefeuer in Ingolstadt | Churchill Nicht nicht nicht nicht nicht genug Sauerstoff / In weiter Ferne Die Kopien | Aristophanes Lysistrate | Stein/Bock/Harnick Anatevka (Fiddler on the roof) | Hutchinson Mondlicht und Magnolien | Tschechow Drei Schweste | Bulgakow Don Quijote | Wassiljew Im Morgengrauen ist es noch still … | Lem Sterntagebücher | Wyrypajew Juli | Rimskij-Korsakow Mozart und Salier Dostojewski Weiße Nächte | Klavdiev Gehen wir, der Wagen wartet | Drvenkar Der einzige Vogel, der die Kälte nicht fürchtet | Faltz Die verzauberte Zarentocht | Kafka Der Proceß | 2009 Portmann nach Pasternak Doktor Schiwago | Brüder Presnjakow Terrorismus | Schwarz Der Drache | Erdmann Der Selbstmörde Holliger Menschliches Versagen | Buchsteiner Nordos | Wyrypajew Valentinstag | Theobalt Don Camillo und Peppone | Hinkelbein Der letzte Kosmonau Grischkowez Der Planet | Brecht/Weill Die Dreigroschenoper | Müller Türkisch Gold | Bosch/Nix/Strasser König Lindwurm | Shakespeare Macbeth | Pigor Sp & Nik Acht Pfoten im Weltall | Fosse Ich bin der Wind | Higgins Harold und Maude | Lanoye Atropa | Ein Spaziergang für Georg Elser | Richers Das ist Esth | Preußler Das kleine Gespenst | Erlbruch Frau Meier, die Amsel | Ruhl Eurydike | Umseher Hans und Greta | Strawinsky/Ramuz Die Geschichte vom Soldat | 2010 Burgess A Clockwork Orange | Wohlgensinger Kaspartout | Hawemann TülliKnülli-Fülli | Helmig Zombie 6.0 | El Kurdi Angstmän | Schiller Die Räub – reloaded | Jugendclub Wir sind Musketiere | Rese Hoppla, jetzt komm ich! Eine Hans-Albers-Revue | Brecht Die heilige Johanna der Schlachthöfe | Cam Das Missverständnis | Hofmann Noch ist Polen nicht verloren | LaBute In einem finsteren Haus | nach Bizet und Mérimée Carmen | Horváth Glaube Lie Hoffnung | Habermehl Letztes Territorium | Mayenburg Der Stein | Walser/Ott Geierwally | Sophokles/Vekemans Antigone | Andersen Die kleine Meerjungfr | Guglielmetti Janis Joplin – Ein Stück Rock’n’ Roll | Wilson/Waits /Brennan nach Büchner Woyzeck | Burgess A Clockwork Orange | Ibsen Peer Gynt | Claude Honegger Johanna auf dem Scheiterhaufen | Baltscheit Nur ein Tag | Gleichmann Bonnie & Clyde | 2011 Düffel Best of Nibelungen (Die Out-Takes) | Bech Ein Stück für Afrika | Goethe Faust | Auftragskomposition Mord auf dem Säntis | García Lorca Bernarda Albas Haus | Ludlam Das Geheimnis der Irma Ve Jelinek Ulrike Maria Stuart | Brecht Mutter Courage und ihre Kinder | Dumas mit Musik von Verdi Die Kameliendame | Söderberg Gertrud | Kleist Micha Kolhaas | Shakespeare König Lear | Allen Spiel’s nochmal, Sam | Jugendclub 9/11 | Portmann nach Mankell Die rote Antilope | Spieckermann nach Conr Herz der Finsternis | Shakespeare Othello | Kipling Das Dschungelbuch | Vernes In 80 Tagen um die Welt | Liederabend Weil du nicht da bist / kwa saba huko | D’Introna/Ravicchio Robinson & Crusoe | Nach Lindgren Die Brüder Löwenherz | Frabetti Die Reise einer Wolke | Schneider Dreck | 2012 Kokouvi Dz Galley Ein Schritt Voraus | Webster Kamkwatira Explosive Neuigkeiten | Mankell Antilopen | Shakespeare Romeo und Julia | de Bont Mutter Afrika | Brecht D Rundköpfe und die Spitzköpfe | Lausund Benefiz – Jeder rettet einen Afwrikaner | Nottage Ruiniert | Jugendclub Konstanz Identity | Žic Die Vorläufige Bechtel/Kapiri/Mzumara/Spieckermann Welt 3.0 – | Maschinerie Hilfe | Meyerbeer Die Afrikanerin. Grand Opéra in fünf Akten | Kauenhowen/ Nix /Reime nach Hugo Der Glöckner von Notre Dame | Molière Tartuffe | Handke Die Stunde da wir nichts voneinander wussten | Kusz Lametta | Herrndorf Tschick | Petr nach Akin Gegen die Wand | Gollwitz Aus freien Stücken | Linder Der Bären wilde Wohnung | Hauff Das Kalte Herz | Linder/Rottmann/Mezger/Räber/Zic/H Sechs mal Sechs | Gottfridsson Honigherz | Comedian Harmonists Today Comedian Harmonists – Ein neuer Frühling | Büchner Dantons Tod | Dürrenmatt D Besuch der alten Dame | Rottmann Gespräche aus der offenen Wunde | 2013 Mezger Findlinge | Neustein/Overkamp/Schidlowsky Um Himmels Willen, Ikaru | Hornby Nipple Jesus | Schiller Don Carlos | Schreiber Sultan und Kotzbrocken | Rechercheprojekt Der Geruch vom Bodensee | Stemann Werther Fassbinder nach de Vega Das brennende Dorf | Meschenmoser Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück | Frisch Biedermann und die Brandstifter | Kurz D Sonnenwirt | Scholz Der Jude von Konstanz | Gawrisch Mal was Afrika | Zuckmayer Der fröhliche Weinberg | Jugendclub Berlin.1989 | Dorst Parziva Baltscheit Die besseren Wälder | Portmann nach Müller Herztier | Telemann Pimpinone oder Die ungleiche Heirat | Collodi Pinocchio | Schimmelpfennig Ali im Wunderland | Waechter Ixypsilonzett | Nix nach Haentjes und Waechter Schaf Ahoi! | 2014 Hauptmann Vor Sonnenuntergang | Calderón de la Barca D Leben ein Traum | Musik Pärt u.a. Spiegel im Spiegel | Voosen/Kleinehanding nach Hesse Iris | Portmann nach Hilsenrath Das Märchen vom letzten Gedank | Tieck Der gestiefelte Kater | Saisio Fühllosigkeit | Shakespeare Der Sturm | Sartre Das Spiel ist aus | Deutsch-Griechisches Jugendprojekt Utopia in Progre | Walser/Ott Konstanz am Meer. Ein Himmelstheater | Shakespeare Ein Sommernachtstraum | Wehner/Herrmann nach Allende Das Geisterhaus | Kaf Amerika | Gómez Gestern habe ich aufgehört, mich zu töten. Dank dir, Heiner Müller | Twiehaus It takes one to know me – Ein Abend mit Songs von John Cash | Carlson Allwissen | Baum Der Zauberer von Oz | Stamm Agnes | Molnár Liliom | Janosch Oh, wie schön ist Panama | 2015 Barnet Lanza El Cimarró Shakespeare Richard III. | Mayenburg Märtyrer | Hofer Boston Princes – Die Kennedys und Marilyn Monroe | Daubner Che – Die Möglichkeit einer Revoluti | Piazzolla María de Buenos Aires (Tangooper) | Hasenclever/Tucholsky Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas | Hünig/Lippmann My lovely M Singing Club | KassettenKind F:INN Begehbares Hörspiel nach Mark Twain | Letts Verwanzt | Kehlmann Die Vermessung der Welt | Strindberg Der Vater | Zel Einsam lehnen am Bekannten | O’Neill Eines langen Tages Reise in die Nacht | Shakespeare Ein Sommernachtstraum | Offenbach, freie Bearbeitung d Librettos von Pigor Orpheus in der Unterwelt | LaBute Das Maß der Dinge | Lessing Miss Sara Sampson | Mankell Treffen am Nachmittag | Schubert/Büchn Fremd bin ich eingezogen | Euripides Medea | Preußler Die kleine Hexe | Goethe Faust I | Brömssen, Lars-Eric Brossner Die Geschichte vom Onkelchen | na Stoker Dracula | 2016 Köhler Deine Helden – meine Träume | Schwab Die Präsidentinnen | Bernhard Ritter, Dene, Voss | Ende Momo | Kleist Der zerbroch Krug | Kids-Club II Fear of Missing Out | Hebbel Judith | Peterka/Melich Arthur Kitchen – Die ultimative Talent- und Musikshow! | Goldoni Der Diener zwe Herren | Dizaji Spinne | Moradpour Mumien. Ein Heimspiel | Kids-Club Weil du das Größte für mich bist | Ibsen Ein Volksfeind | Schnyder Und wenn s gingen | Kids-Club III Der Fundevogel | Goethe Faust II | Bernhard Die Macht der Gewohnheit | Generationenclub (Un)Schuld und Sünde | Nach Eco D Name der Rose | Nach Shakespeare Shakespeares Könige. Mord Macht Tod | Tanzclub Walk of fame – stürzen oder fliegen | Ruge Restwärme | Tschecho Onkel Wanja | Köhler Helden! Oder warum ich einen grünen Umhang trage und gegen die Beschissenheit der Welt ankämpfe | Beckett Endspie Michelsdatter Schwarz ohne Zucker | Twiehaus nach Kermani I’m glad I found you | Bassewitz Peterchens Mondfahrt | Molière Der Geizige | Frabet Cappagli Der Mond und das Boot | McCarten Superhero | 2017 Bruckner Die Rassen | Dorfman Der Tod und das Mädchen | Fassbinder Angst essen See auf | Euripides Die Bakchen | Brecht Der gute Mensch von Sezuan | Gelardi nach Saviano Gomorrha | Schirach Terror | Behrens Anfall und Ente | Hert Banholzer/Heizmann/Heizmann/Homburger Die Rückkehr des Ilbentritsch | Mahler nach Fellini Alla fine del mare | Kohn Demandez au Président | Schil Wilhelm Tell | Lessing Nathan der Weise | Bulgakow Der Meister und Margarita | Schmidt nach Jensen Adams Äpfel | Kleist Penthesilea | Vekemans Jud | Bechtel/Sabimbona nach Labiche Die Farbe des Lachens | Michelsdatter Gestern ist auch noch ein Tag | Kleist Michael Kohlhaas | Mehring Ein Krani im Schnee – Weihnachtsmärchen | Webber/Rice Jesus Christ Superstar | Lavie Der Bär, der nicht da war | 2018 Merkx Lebenshunger – Lust for Life Jelinek Wut | Akhtar Die unsichtbare Hand | Khemiri Ich rufe meine Brüder | Youzbashi Dizaji Der Hahn ist tot! | Zahner Aby Warburg. Gespräche mit eine Nachtfalter | Schleef nach Wilde Salome | Nix Rut – Die Freundin der Lieblichen | Tabori Mein Kampf | Kassies Das Kind der Seehundfrau | Wyrypaje Betrunkene | Schiller Die Jungfrau von Orleans | Grünauer/Morgenroth/Nix nach Rostand Cyrano de Bergerac | Beckett Warten auf Godot | Bulgako Hundeherz | Zahner Die Reis’ | Yishai Your very own double crisis club | Steinbeck Von Mäusen und Menschen | LaBute Eine Art Liebeserklärung | Küspe Der Reichsbürger | Eberle nach Niemi Erschieß die Apfelsine | Lindgren Die Brüder Löwenherz | Gedeon Ewig jung | Borowski nach Gebrüder Grimm Vo Fischer und seiner Frau | Lorenz Wer hat Angst vorm weißen Mann | Kreisler Geh’n mer Tauben vergiften im Park | 2019 Borchert Draußen vor der Tü Gleichmann nach Lewinsky Gerron | Derksen King A | Vekemans Momentum | Heller/Haugland nach Hašek Der brave Soldat Schwejk | Šagor Patricks Tri | Masteroff/Ebb/Kander nach Isherwood Cabaret | Lygre Ich verschwinde | Fosse Meer | Menasse Die Hauptstadt | Nix Foottit und Chocolat | Aristophan Die Vögel | Brandau Sagt der Walfisch zum Thunfisch | Zuckmayer Katharina Knie | Nix Junge Hunde | Horváth Kasimir und Karoline | Rinke Wir lieben u wissen nichts | Brecht Die Tage der Kommune | Kohn Ngunza – der Prophet | Nix Die Bremer Stadtmusikanten | Nix Herzrasen | Fischer Rudi Rakete Küspert Am Wasser | 2020 Dardenne Zwei Tage, eine Nacht | Zurmühle Wonderful World | Salvatore Stalin | Beckett Glückliche Tage | Silone Wein u Brot | Soyinka König Baabu | Kohn Demandez au Président | Hochwälder Der Himbeerpflücker | Nix Hermann der Krumme oder die Erde ist rund …

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sich / dass man landein­ wärts zieht dort nichts / erzählt von dem was ­hinter einem liegt / dass man sich etwas schneidet aus dem Fleisch / dass ­ es am Strand verfaulen kann / dass die Tage ­später kommen die / in den ­leeren Hütten schlafen saufen und / ihre Panzer auf den Wegen lassen dass die / nichts finden hier als eine abgelegte Zeit

Thomas Freyer

„letztes Licht. Territorium“

hereinbrechende materialfluten darauf entgegen fortissimo treiben wieder / ertrunkene glücksuchende chöre erinnerungen die um die wette rudern / ... und daneben her in alphabetischer ordnung / mit dem gesicht nach unten wortlos / die werte der freien welt Thomas Köck „paradies fluten (verirrte sinfonie)“

dass man nicht umdreht


Svenja: Wir arbeiten zu viel. Wir haben depressive Episödchen, gehen zur Shiatsu-Massage und arbeiten weiter. Warum? Weil wir unsere Arbeit lieben. Sie ist uns edel und heilig. Erst die Arbeit macht uns zu Menschen. Ich denke an meine Arbeit, bevor ich ein­ schlafe und wenn ich aufwache. Bisweilen träume ich von ihr. Ich habe zwei Songs für sie geschrieben und hier habe ich ein Tattoo. Nora Abdel-Maksoud „Café Populaire“


AUTORINNEN UND AUTOREN MARGARETE AFFENZELLER (* 1971) arbeitet seit 1997 im Kulturressort der Tageszeitung der Standard, seit 2008 als Redakteurin, sowie als Korrespondentin für Theater der Zeit. Zudem mehrjährige Jurytätigkeit unter anderem beim Nestroy-Preis, beim Ö1-Hörspielpreis und dem Berliner Theatertreffen. SIMONE VON BÜREN (* 1974) arbeitet als Dramaturgin und Übersetzerin, unterrichtet am Schweizerischen ­Literaturinstitut und an anderen Fachbereichen der Hoch­ schule der Künste Bern und schreibt als freie ­Autorin unter anderem für die NZZ am Sonntag und Theater der Zeit. GUNNAR DECKER (* 1965) ist Autor und Redakteur bei Theater der Zeit. Er veröffentlichte Biografien unter anderem zu Hermann Hesse, Gottfried Benn und Franz Fühmann. 2016 wurde er mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Ende September erscheint im Aufbau Verlag sein neues­tes Buch „Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR“. MIRKA DÖRING (* 1983) lebt und arbeitet in Hamburg und Berlin. Hauptberuflich berät sie Kunden rund um Content-Strategien und KPIs. Als Autorin mit Dramaturgie-Hintergrund schreibt sie nebenbei Texte über Theater und anderes. DORTE LENA EILERS (* 1978) ist Chefredakteurin von Theater der Zeit und Mitherausgeberin des vorliegenden „Stück-Werk 6. Neue deutschsprachige Dramatik“. Im September erscheint im Verlag Theater der Zeit ihr Buch „backstage Tscheplanowa“, ein ausführlicher ­Gesprächs­band mit der Schauspielerin Valery Tscheplanowa. ULF FRÖTZSCHNER ist Dramaturg an der Berliner Volksbühne und Mitglied der Schauspieldirektion. Zuvor war er Schauspieldirektor und Mitglied des Intendanz-­Direkto­ri­ ums am Theater Trier. JUDITH GERSTENBERG (* 1967) ist Schauspieldramatur­­ gin. Zuletzt, von 2009 bis 2019, war sie Leitende Dramaturgin am Staatstheater Hannover. 2021 wechselt sie in das künstlerische Leitungsteam der Ruhrtriennale. JAKOB HAYNER (* 1988) ist Journalist. Seit 2016 ist er Redakteur bei Theater der Zeit und schreibt zusätzlich für diverse Zeitungen und Zeitschriften. Anfang des Jahres ist im Verlag Matthes & Seitz sein Buch „Warum Theater. Krise und Erneuerung“ erschienen.

JAN HEIN (* 1967) ist Dramaturg und Regisseur. Stationen unter anderem: 2001 bis 2005 Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, 2006 bis 2013 am Schauspiel Köln. Langjährige Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thorsten Lensing. Von 2013 bis 2017 war er Chefdramaturg am Schauspiel Stuttgart. Seit 2018 ist er Chefdramaturg der Ruhrfestspiele. THOMAS IRMER (* 1962) ist Theaterwissenschaftler, ­Dramaturg und Publizist. Im Verlag Theater der Zeit erschienen unter anderem die von ihm (mit-)herausgegebenen Arbeitsbücher „Castorf“ (2016) und „Luk Perceval“ (2019) sowie der Backstage-Band „Klaußner“ (2020). TILMANN KÖHLER (* 1979) ist Theaterregisseur, inszenierte unter anderem am Deutschen Theater in Berlin, am Staats­ schauspiel Dresden, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Maxim Gorki Theater in Berlin und an der Oper Frankfurt. 2009 erhielt er den Kurt-Hübner-Regiepreis. PETER LAUDENBACH (* 1964) ist seit 2003 fester Autor beim Magazin brand eins, seit 2006 Berliner Theater­kritiker der Süddeutschen Zeitung und schreibt unter anderem für den Berliner tip und die taz. Letzte Buchveröffentlichung: „Am liebsten hätten sie veganes Theater. Frank Castorf – Peter Laudenbach – Interviews 1996–2017“. CHRISTOPH LEIBOLD (* 1969) arbeitet seit 1999 als ­Kulturjournalist und Theaterkritiker für den Bayerischen Rundfunk (Bayern 2), Deutschlandfunk Kultur, SWR2 sowie Theater der Zeit. Er war und ist Juror bei den Bayerischen Theatertagen und dem Berliner Theater­treffen, des ­Theaterpreises der Stadt München sowie des Bayerischen Kunstförderpreises in der Sparte D ­ arstellende Kunst. BARBARA MÜLLER-WESEMANN (* 1944) war bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Theaterforschung und Dozentin am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. 2003 gründete sie das Körber Studio Junge Regie. Ihr Buch „Theater als geistiger Widerstand. Der Jüdische Kulturbund in Hamburg 1934–1941“ erschien 1997. ANJA NIODUSCHEWSKI (* 1971) ist freie Autorin, Dramaturgin und Kuratorin. Von 2019 bis 2020 war sie Redakteurin von Theater der Zeit. Sie ist Mitherausgeberin des vorliegenden „Stück-Werk 6. Neue deutschsprachige ­Dramatik“. Im Verlag Theater der Zeit erschien das von ihr herausgegebene Buch „Katrin Brack. Bühnenbild/Stages“.

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KATHRIN RÖGGLA (* 1971) ist Schriftstellerin und Vizepräsidentin der Akademie der Künste Berlin. 2020 erhielt sie den Wortmeldungen-Literaturpreis für „Bauernkriegspanorama“, das im Herbst im Verbrecher Verlag erscheinen wird. Die Uraufführung ihres jüngsten Stücks „Verfahren“ ist am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken g ­ eplant.

W E A R E FA M I LY P R E M I E R E N 2020 | 2021

LENA SCHNEIDER (* 1981) ist leitende Kulturredakteurin bei dem Tagesspiegel-Ableger Potsdamer Neueste Nachrichten. Von 2008 bis 2013 war sie Redakteurin bei Theater der Zeit, 2013 bis 2015 Lektorin im Buchverlag Theater der Zeit sowie von 2016 bis 2017 Pariskorrespondentin von Theater der Zeit.

Die Marquise von O… von Heinrich von Kleist 19.9.2020 Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von Edward Albee 9.10.2020 Gift. Eine Ehegeschichte von Lot Vekemans 10.10.2020

THERESA SCHÜTZ (* 1986) ist wissenschaftliche Mit­ arbeiterin im Sonderforschungsbereich „Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ an der Freien Universität Berlin, wo sie zum Thema „­Immersives Theater. Publikumsinvolvierung und Worldmaking“ promoviert. Seit 2013 schreibt sie zudem als freie Autorin für Theater der Zeit.

Uraufführung Arbeiterinnen / Pracujące kobiety von werkgruppe2 31.10.2020 Der Zauberer von Oz von Lyman Frank Baum 7.11.2020

RIEKE SÜSSKOW (* 1990) arbeitet als Regisseurin an Stadttheatern und in der freien Szene. Ihre Uraufführung von Kevin Rittbergers „Iki. Radikalmensch“ am Theater Osnabrück wurde zu den Mülheimer Theatertagen 2020 sowie zum Festival Radikal jung am Münchner Volks­ theater eingeladen.

Bunbury – Ernst ist das Leben von Oscar Wilde 5.12.2020

SIMONE STERR (* 1970) ist Dramaturgin. Sie arbeitete unter anderem an Theatern in Konstanz und Mannheim, bevor sie die Intendanz des Theaters der Stadt Aalen und anschließend des Landestheaters Tübingen übernahm. Seit der Spielzeit 2015/16 war Sterr Leitende Dramaturgin im Schauspiel am Theater Bremen. 2020/21 wechselt sie als Geschäftsführende Dramaturgin an das Theater Oberhausen.

Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili 5.3.2021 Eine Inszenierung in Kooperation mit der Folkwang Universität der Künste 6.3.2021

PAULA PERSCHKE (* 1987) hat Theater-, Film- und Medien­ wissenschaften in Wien und Leipzig studiert. Sie beschäftigt sich mit Theater und Queer-Feminismus und schreibt als freie Autorin für Theater der Zeit, das Missy Magazine, das L-MAG und die Siegessäule.

Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer 29.4.2021 Früchte des Zorns von John Steinbeck 30.4.2021

ANDREA VILTER (* 1966) ist Dramaturgin. Sie arbeitete unter anderem am Residenztheater München und leitete als Chefdramaturgin das Schauspiel des Staatstheaters Wiesbaden. Sie war Mitglied der Jury des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens und des Heidelberger Stücke­ markts. Seit 2016 ist sie Professorin an der weißensee kunsthochschule berlin und arbeitet als freie Dramaturgin.

Bitte beachten Sie wegen evtl. Programm­ änderungen auch den aktuellen Stand des Spielplans unter www.theater­essen.de.

Tickets T 02 01 81 22-200 www.theater-essen.de

ERIK ZIELKE (* 1989) ist seit 2014 als Lektor im Verlag Theater der Zeit tätig. Darüber hinaus arbeitet er als ­Autor, unter anderem für die Zeitschrift Theater der Zeit und die Tageszeitung junge Welt.

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11.05.2020 15:01:44

AUTOREN

Endspiel von Samuel Beckett 4.12.2020


IMPRESSUM

An der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch

Stück-Werk 6. Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt Arbeitsbuch 2020

- Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Dienstherrenfähigkeit -

ist das Amt der/des

Rektorin/Rektors (m/w/d) - Kennziffer: R-2020-HfS

Herausgegeben von Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski © 2020 Theater der Zeit

zum 1. Oktober 2021 zu besetzen.

Die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch verfügt über ein umfassendes und exzellentes Fächerspektrum, in dessen Zentrum die lebendige Vermittlung handwerklicher Kompetenzen in der Tradition der dramatischen Künste steht. Das Studienangebot umfasst die künstlerische Ausbildung in den Studienfächern Schauspiel, Schauspielregie, Dramaturgie, Zeitgenössische Puppenspielkunst, Choreographie (am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz - HZT) und Spiel & Objekt. Hervorzuheben sind neben dem hochkarätig besetzten Kollegium und dem Praxisbezug in der Ausbildung vor allem die Impulse, die für die Studierenden durch Kooperationen mit zahlreichen Kultureinrichtungen Berlins sowie nationalen und internationalen Institutionen entstehen.

Redaktionsanschrift Theater der Zeit, Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany Tel +49 (0)30 4435285-0 / Fax +49 (0)30 4435285-44 Geschäftsführung Harald Müller Tel +49 (0)30 4435285-20, h.mueller@theaterderzeit.de Paul Tischler Tel +49 (0)30 4435285-21, p.tischler@theaterderzeit.de Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Anja Nioduschewski redaktion@theaterderzeit.de

Gesucht wird eine Persönlichkeit, die die Hochschule im Hinblick auf die künstlerisch-experimentelle Forschung, die soziale Relevanz der darstellenden Künste und lnterdisziplinarität weiterentwickelt. Die Entwicklung sollte die Tradition der HfS Ernst Busch und ihren besonderen Stellenwert in der Ausbildungs- und Theaterlandschaft berücksichtigen.

Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Lara Wenzel (Assistenz) Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel

Die Rektorin/der Rektor vertritt die Hochschule nach innen und außen. Die Aufgaben erfordern ein hohes Maß an Kompetenz zur kollegialen Leitung der Hochschule, an Integrations- und Kommunikationsfähigkeit und Verhandlungsgeschick. Es wird ein besonderes Engagement in den Handlungsfeldern Gleichstellung und Diversität erwartet.

Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH 75. Jahrgang; Nr. 7/8 2020 ISBN 978-3-95749-299-9 (Paperback) ISBN 978-3-95749-310-1 (E-PDF) Redaktionsschluss: 1. April 2020 Anzeigenberatung Tel +49 (0)30 4435285-20 www.theaterderzeit.de/media

Zur Rektorin bzw. zum Rektor kann eine Bewerberin bzw. ein Bewerber aus dem Kreis der der Hochschule angehörenden hauptberuflich tätigen Hochschullehrerinnen bzw. Hochschullehrer oder eine externe Bewerberin bzw. ein externer Bewerber gewählt werden.

Abonnements Tel +49 (0)30 4435285-12, per Fax +49 (0)30 4435285-44 abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis EUR 24,50 (print) / EUR 19,99 (digital) Jahresabonnement (10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch) Digital: EUR 75,00 Print: EUR 85,00, ermäßigt EUR 68,00 (außerhalb Dtls. zzgl. EUR 25,00 Porto) Kombi-Abo Digital + Print: EUR 95,00 (außerhalb Dtls. zzgl. EUR 25,00 Porto) Probe-Abo (3 Ausgaben) Inland EUR 18,00 (außerhalb Dtls. zzgl. EUR 10,00 Porto) www.theaterderzeit.de

Externe Bewerberinnen und Bewerber müssen eine abgeschlossene Hochschulausbildung besitzen und aufgrund einer mehrjährigen verantwortlichen Berufstätigkeit in Wissenschaft, Verwaltung oder Kunst erwarten lassen, dass sie den Aufgaben des Amtes gewachsen sind.

Folgen Sie Theater der Zeit auf unseren sozialen Netzwerken www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit www.instagram.com/theaterderzeit/ Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des ­Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Heraus­­ geber. Der Verlag hat sich intensiv darum bemüht, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Sollten Rechteinhaber unberücksichtigt geblieben sein, bitten wir diese, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen. Umschlagabbildung: Foto im Hintergrund von Armin Smailovic

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Die Rektorin bzw. der Rektor wird vom Erweiterten Akademischen Senat gewählt und vom Berliner Senat für eine Amtszeit von vier Jahren bestellt. Die Wiederwahl ist zulässig. § 55 Abs. 4 Berliner Hochschulgesetz (Übernahmeregelung) findet an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch keine Anwendung. Es wird darauf hingewiesen, dass der derzeitige Amtsinhaber sich wieder bewerben wird. Für die Dauer der Amtszeit wird die Rektorin bzw. der Rektor zur Beamtin bzw. zum Beamten auf Zeit ernannt. Die Vergütung erfolgt nach Bes. Gr. W 3 zuzüglich eines Funktionsleistungsbezugs. Soweit die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verbeamtung nicht vorliegen, kommt auch die Begründung eines Dienstverhältnisses in Betracht. Die Hochschule strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Leitungspositionen an und bittet qualifizierte Frauen ausdrücklich um ihre Bewerbung. Auch Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund oder von Menschen mit Behinderung sind ausdrücklich erwünscht. Ihre Bewerbung richten Sie bitte mit aussagekräftigen Unterlagen bis zum 29.07.2020 unter Angabe der Kennziffer an khs@wissenschaft.berlin.de (Bitte eine Gesamtdatei mit Ihren Unterlagen im PDF-Format mit max. 5 MB). Mit der Bewerbung verbundene Kosten können nicht übernommen werden.


SPIELZEIT 2020.2021 PREMIEREN ULYSSES JAMES JOYCE Regie: Sebastian Klink | ab 18. Sep 2020, Vidmar 1 PARADISE CITY (UA) CIHAN INAN Regie: Stefan Huber | ab 26. Sep 2020, Stadttheater NETWORK (SEA) LEE HALL Regie: Johannes Lepper | ab 06. Nov 2020, Vidmar 1 GIRLS & BOYS (SEA) DENNYS KELLY Regie: Jonas Junker | ab 11. Nov 2020, Vidmar 2 FRÄULEIN JULIE AUGUST STRINDBERG Regie: Alexandra Wilke | ab 05. Dez 2020, Vidmar 2 MOMO MICHAEL ENDE Idee & Konzept: vor Ort Regie: Mathis Künzler, Jonathan Loosli | ab 06. Dez 2020, Stadttheater

WIEDERAUFNAHMEN DIE ERPROBUNG ABRAHAMS JÜRG WISBACH DAS ENDE VON SCHILDA (UA) Regie & Konzept: Jürg Wisbach | ab 25. Sep 2020, ARIANE VON GRAFFENRIED & MARTIN BIERI Regie: Annina Dullin-Witschi | ab 05. Feb 2021, Vidmar 1 Stadttheater, Mansarde

DIE SCHMUTZIGEN HÄNDE JEAN-PAUL SARTRE Regie: Sophia Aurich | ab 31. Mrz 2021, Vidmar 2

FREIGÄNGER ANNA PAPST Regie: Anna Papst | ab 30. Sep 2020, Vidmar 2

DIE HOCHHAUSSPRINGERIN (UA) JULIA VON LUCADOU Regie: Sophia Bodamer | ab 01. Apr 2021, Vidmar 1

DER GOALIE BIN IG PEDRO LENZ Regie: Till Wyler von Ballmoos | ab 13. Dez 2020, Vidmar 1

MEIN SOMMER MIT KIM (UA) LUKAS LINDER Regie: Katharina Ramser | ab 21. Mai 2021, Vidmar 1

FRAU VERSCHWINDET (VERSIONEN) JULIA HAENNI Regie: Marie Bues | ab 30. Dez 2020, Vidmar 2 DER GROSSE DIKTATOR CHARLIE CHAPLIN Regie & Bühnenfassung: Cihan Inan | ab 23. Apr 2021, Stadttheater

ONKEL WANJA ANTON TSCHECHOW Regie: Kieran Joel | ab 18. Dez 2020, Vidmar 1 «DA DA DA ... » (UA) ANNA PAPST Text & Regie: Anna Papst | ab 29. Jan 2021, Vidmar +

Karten und weitere Informationen unter +41 (0)31 329 52 52 www.konzerttheaterbern.ch

Foto: Annette Boutellier

schauspiel



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