Christel Hoffmann / AGORA Theater (Hrsg.)
Marcel Cremer und die AGORA
EIN LESEBUCH ZUM THEATER DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEMEINSCHAFT BELGIENS
Marcel Cremer wurde 1955 im kleinen Eifeldorf Crombach geboren. Die Familie hatte einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, der Vater arbeitete als Waldarbeiter und war politisch aktiv – als Bürgermeister und als Mitglied im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Nach dem Abitur an der Bischöflichen Schule in St. Vith begann Marcel Cremer sein Studium der Niederlandistik, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Lütticher Universität, das er mit einer Arbeit über den deutschen Dramatiker und Regisseur Heiner Müller erfolgreich abschloss. Während seiner Studienzeit war er Schauspieler und Regisseur im politisch engagierten Studententheater um Robert Germay. Er inszenierte u. a. „Die chinesische Mauer“ von Max Frisch und die absurde Komödie „Herr Peter Squenz“ von Andreas Gryphius. Im August 1980 gründete Marcel Cremer mit dreißig jungen Menschen auf einem verwahrlosten Fußballplatz in St. Vith sein eigenes Ensemble, aus dem unter seiner künstlerischen Leitung und Regie das AGORA Theater erwuchs. St. Vith ist eine Stadt in der belgischen Eifel und liegt im Dreiländereck Belgien/Deutschland/
Marcel Cremer und die Agora
Bildnachweis Porträtfoto auf innerer Umschlagklappe: © AGORA Theater Inszenierungs- und Probenfotos: © Nicolas Bomal, Valérie Burton, Willi Filz, Inês Heinen Illustrationen: © Pierre Doome, Sabine Rixen
Marcel Cremer und die Agora Ein Lesebuch zum Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Herausgegeben von Christel Hoffmann und dem AGORA Theater © 2020 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Layout: Kai Pohl Printed in Germany ISBN 978-3-95749-281-4 (Paperback) ISBN 978-3-95749-292-0 (ePDF) ISBN 978-3-95749-293-7 (EPUB)
Marcel Cremer und die Agora Ein Lesebuch zum Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens
Herausgegeben von Christel Hoffmann und dem AGORA Theater
Vorwort 1987 war ich 17 Jahre alt und hatte mich mit Leib und Seele dem Kampfsport verschrieben. Als künftiger Dan-Träger wurde ich als möglicher Leiter einer der neuen Hap-Ki-DoSchulen gehandelt, die an vielen Orten Belgiens entstanden. Für mich, einen Landjungen aus Ostbelgien, versprach diese Perspektive eine Aufwertung des Selbstgefühls, die Erfahrung eigener Wirksamkeit und einen Ort, an dem ich wahrgenommen werden könnte – jenseits der biografischen Schablonen meiner Herkunft. Zu der Zeit war ich mit Petra verbunden, meiner ersten großen Liebe. Fast gönnerhaft gab ich ihrem Wunsch nach, mit ihr ein Theaterstück des AGORA Theaters zu besuchen. Während sie diese Einladung formulierte, erinnerte ich mich an meine früheren Schuljahre. Besuche von Aufführungen des AGORA Theaters waren für Schüler in Ostbelgien zu dieser Zeit keine Seltenheit. In meinen Erinnerungen saß ich während der Vorstellungen in den letzten Reihen und spielte Skat mit meinen Freunden. Bis die Veranstaltung endlich vorbei war. Als wir die Turnhalle betraten, in der das Theaterstück spielen sollte, fühlte ich mich zuerst wie zu Hause. Sport – das kannte ich. Trotzdem war ich irritiert: Theater braucht doch eine Bühne? Hier gab es nur einen links und rechts von Stuhlreihen umgebenen Steg. Der Aufbau erinnerte mich an eine Modenschau. Doch schnell wurde mir etwas anderes bewusst. Mir gegenüber saßen Menschen, die mich ebenso sahen wie ich sie und die auf das, was bald zu sehen sein würde, warteten, ja es erwarteten. Menschen, die meinem Zusehen zusahen, meine Erwartung spiegelten. Die Inszenierung begann mit dem Auftritt der Spieler. Irritiert lauschte ich Texten und sah eine überwältigende und – ja – gewalttätige Bilderflut. Später lernte ich die Verbindungen verstehen, die mir plötzlich so bedeutsam erschienen. Texte von Pablo Neruda, Nâzim Hikmet, Bertolt Brecht und anderen jeweils durch ihre Exilsituation definierten Autoren wurden gesprochen. Und dann 5
als Höhepunkt die – wie man im digitalen Zeitalter sagen müsste – in Echtzeit durchgeführte Schlachtung eines Huhns auf der Bühne. Im Hintergrund, am Kopfende des Stegs liefen auf einer Leinwand derweil Dokumentaraufnahmen von der Entmachtung Allendes in Chile, vom Militärputsch in Griechenland, von der Machtübernahme des Militärs in der Türkei. Ich habe nichts davon zuordnen können; aber ich habe etwas davon verstanden. Trotzdem versuchte ich zuerst, diese eben auch „kriegerischen“ Bilder in mein Kampfsport-Ethos zu übertragen. Ein paar Tage später hörte ich im ostbelgischen Radio eine Sendung, in der Marcel Cremer – der Regisseur dieser Inszenierung – scharf angegriffen wurde. Der Tenor lautete: Das darf man nicht machen, das darf Theater nicht. Ich war beeindruckt von dieser Aufregung, dieser Wirkung, und in meinem jugendlichen Idealismus fühlte ich mich aufgefordert, den mir unbekannten Autor eines mir immer noch nicht verständlichen Stücks zu verteidigen. Ich griff zum Hörer und rief die Radiohotline an, um an der öffentlichen Diskussion über das Stück teilzunehmen. Ich war nervös, weil ich dachte: Hier, in der ländlichen deutschsprachigen Region Belgiens kennt fast jeder jeden. Ich war mit Landwirten aufgewachsen. Meine Kindheit fand auf dem Dorf statt. Das Töten von Tieren gehörte zu meinem Erfahrungsinhalt. Also wusste ich, die ganze Aufregung um den Schlachtvorgang musste etwas mit dem anderen Kontext zu tun haben, in dem er stattgefunden und gleichzeitig gezeigt worden war: mit dem Theater. Ich weiß bis heute nicht, wie ich zu dieser Entscheidung des AGORA-Gründers Marcel Cremer stehe, diese Aktion im Stil des Wiener Aktionismus zum Zentrum einer politisch aufgeladenen Inszenierung zu machen. Aber ich weiß, dass die Aufregung um diese inszenatorische Entscheidung mir die Differenz zwischen der Bühne des Theaters und der Bühne der Realität deutlich gemacht hat: Das „zweckentfremdete“ Schlachten eines Huhns auf der Bühne als Beitrag zur geistigen Nahrung wird im Gegensatz zum Schlachten eines Huhns 6
in der modernen Massentierhaltung als sinnlos, ja sadistisch und tierquälerisch deklariert. Auch erinnere ich mich nicht mehr, welche Worte mein 17-jähriges Selbst im Radio gefunden hat, um diese empfundene Ungerechtigkeit auszudrücken. Bemerkt aber habe ich ihn, das heißt, ich habe ihn auf dem Theater gesehen. Das Stück hieß „Algunas Bestias“ und einer der Spieler des AGORA Theaters war Roland Schumacher. Er war mein Lehrer an der Schule, an der ich zu dieser Zeit mein Abitur machte, und sprach mich wenige Tage nach dem Anruf im Radiostudio an, um mir mitzuteilen, dass Marcel Cremer sich gerne mit mir treffen würde. Meine erste Begegnung mit dem Menschenfänger, dem Mann, der begeistern, führen und verführen konnte. Und großartiges Theater auf die Bühne gebracht hat. Am 17. Mai 1987 fand dieses erste Treffen in seinem Heimatdorf Crombach statt. So bin ich zur AGORA gekommen. Und wie viele davor und danach damit zu einer davor nie erahnten und bis heute nicht vollendeten Zukunft. Marcel Cremer war Gründer, Denker, Regisseur und Autor dieses AGORA Theaters. Eine ungeheure Fülle an Macht und Möglichkeiten, die wir heute, auf der Basis seines Erfolgs, vielleicht auf mehrere Schultern verteilen können. Seine Geschichte steht für sich selbst: Er inszenierte 36 Stücke mit der AGORA. Diese führten zu 3500 Aufführungen in über dreißig Ländern und zu zahlreichen Preisen und Auszeichnungen. Durch das Prinzip learning by doing entwickelte Marcel über diese vielen Produktionen hinweg die Methode des „Autobiografischen Theaters“, die mittlerweile im deutschsprachigen Theater und bei theaterpädagogischen Ausbildungszentren auf immer breiteres Interesse stößt. Der Tod Marcels im Jahr 2009 war in doppelter Hinsicht ein Einschnitt. In einem Bild zusammengefasst: Im Moment seines Todes fingen wir – das Ensemble des AGORA Theaters – an, nicht mehr nur on the road, sondern auch in der Sicherheit eines Baus aus Steinen zu leben. Das Unwahrscheinliche wurde wahr. Zeitgleich mit dem Tod des Gründers wurde seine Gründung institutionalisiert. Das AGORA Theater bekam 7
„ein Zuhause“ im 2009 eröffneten Kulturzentrum Triangel in St. Vith und eine Basisförderung, die der Institution AGORA eine langfristige, davor nie dagewesene finanzielle Absicherung bot. Nach und mit der Trauer kam die Frage: Was tun? Ich erinnere mich an den ersten Workshop, den ich zusammen mit Viola Streicher nach Marcel Cremers Tod gegeben habe. Der Strohhalm, an den wir uns klammerten, waren seine Worte. Fetzen und Fragmente, in denen er den sich permanent verändernden Prozess seiner Arbeit mit uns festzuhalten versucht hatte. Um noch einmal auf die Kultur meiner ostbelgischen Herkunft zu kommen: Beim Skat heißt es „Wer schreibt, der bleibt“. Hier wurden die niedergeschriebenen Momentaufnahmen einer Arbeitsweise, die davon lebte, sich ständig zu erneuern, zu unserer Berechtigung, nach seinem Tod weiter zu arbeiten, weiter als Theater zu existieren. Viele von uns, vielleicht besonders ich, der durch das Ensemble mit der Leitung des Theaters beauftragt wurde, haben diese Phase zunehmend so erlebt, dass aus verinnerlichten (Grund-) Sätzen in der Praxis Worthülsen werden konnten. Regeln, die wir selbst als Spieler als enorm produktiv erlebt hatten, liefen manchmal Gefahr, zu sterilen Gesetzen zu verkommen. Prinzipien wurden zu Dogmen und die AGORA zur Institution, deren Aufgabe darin bestand, diese zu verteidigen. „No dog’s ever pissed on a moving car“. Das war Marcel Cremers Lieblingszitat aus einem Interview mit Tom Waits, den er sehr verehrte. Dieses fahrende Auto gibt ein Bild davon, warum er die Terminologie, die „AGORA sei in/eine Bewegung“, so wichtig fand. Die von mir, von uns als die einzig wahre Form der Bewegung definierte und verschriftlichte Form seiner Methode geriet in Gefahr ein Auto mit Motorschaden zu werden und zum Stillstand zu kommen. Das Kuriose – oder vielleicht auch gar nicht so Kuriose – daran ist, dass dieses Festhalten und Umsetzen funktioniert hat. Wir blieben erfolgreich mit den Stücken, die wir puristisch strikt nach unserem Verständnis seiner mit uns erarbeiteten Methode entwickelten. Doch Theater ist aktuell. Die Arbeit des The8
aters ist alltägliche Arbeit, weil ihr brennender Mittelpunkt die Fragen des Tages sind. Persönlich formuliert: Gerade weil ich – und andere – durch Marcel Cremer zu Theatermachern geworden waren, stellte sich immer drängender die Frage: Machen wir noch ein Theater, dass 17-Jährige zu einem solchen Erlebnis führen kann, wie es mir als 17-Jähriger ermöglicht wurde? Die Antwort lag und liegt nahe: Ja, aber nicht ohne in Bewegung zu bleiben. Was also tun? Die AGORA existiert bereits. Sie kann nicht zwei Mal gegründet werden, so wie niemand zwei Mal geboren werden kann. Obwohl: Ist nicht das Theater der Ort, an dem diese Frage immer wieder gestellt wird? Was heißt Veränderung, wenn wir die Texte und Erfahrungen der Vergangenheit mitund ernstnehmen? Die AGORA will sich nicht neu gründen, aber muss sich immer wieder neu finden und erfinden. Egal, wie sicher, gewachsen und vom Ensemble getragen unsere Grundsätze auch sein mögen, so können wir uns doch nie auf sie allein verlassen, wenn es um das Finden von Bildern und Themen sowie das Sprechen auf dem Theater im Hier und Jetzt geht. Diese Geschichte macht uns aus, sie verbindet uns mit einer möglichen Zukunft. In einem immer noch andauernden Prozess mussten und müssen wir Methode und Mittel unserer Theaterarbeit neu befragen. Wir konnten und können dabei erleben, dass viele Aspekte, z. B. die Mittel der Autobiografischen Methode, aktueller denn je sind. Mit aus der Gegenwart und den Möglichkeiten und Erfahrungen neuer Ensemblemitglieder hergeleiteten Veränderungen kombiniert, kann das Erbe Marcel Cremers unsere Arbeit auch heute erfolgreich leiten. Vielleicht kann ich das Ergebnis dieses Prozesses für mich bis heute mit folgendem Motto zusammenfassen: Wir brauchen die Wurzeln, aber wir suchen den Flug. Von wo aus – welchem Ort, welcher Geschichte – und mit wem – welchem Zuschauer – wir sprechen, wer wo und wie für wen spricht: Dies sind Fragen, die zu stellen wir mit Marcel Cremer gelernt haben und die unsere aktuellen Produktionen an unsere Zeit stellen. 9
Noch heute denke ich oft an Marcel Cremers letztes großes Projekt: „Wanted Hamlet“. Ein Stück um oder zu Hamlet – allerdings auch ein Stück ohne Hamlet. Natürlich haben wir Shakespeare gelesen. Aber mit der Produktion versuchten wir herauszufinden, welche Fragen sich aus der Lektüre des Klassikers für uns, für unsere Gemeinschaft, für unsere Zeit ergeben. Die Frage, die sich immer in den Produktionen des AGORA Theaters stellt, ist die nach unserem Leben. Als ein Leben mit anderen. Ich erinnere mich gut an eine der wesentlichen Sentenzen Marcel Cremers: „Alle Figuren der Weltliteratur stecken in jedem einzelnen Menschen.“ Ich kann nicht sagen, dass es mich überrascht, aber doch, wie froh ich bin, dass die Gründungsenergie, die Bildungskraft, ja die Engstirnigkeit von Marcel Cremer (also letztendlich er selbst) uns die AGORA gegeben hat. Heute bin ich – auf Zeit – verantwortlich für dieses Theaterensemble. Zusammen mit allen seinen alten, neuen, bleibenden, engagierten, spielenden und organisierenden, zufriedenen und manchmal auch unzufriedenen Mitgliedern. Das AGORA Theater ist ein Raum, der immer wieder neu entsteht. Hannah Arendt, die für unser Ensemble in jüngster Zeit zum zentralen Gegenstand einer Produktion geworden ist, hätte vielleicht gesagt: ein Raum der Erscheinung. Arendt hat diese politische Kategorie mit Blick auf die Ästhetik des Theaters, der Kunst insgesamt, entwickelt. Wir sind überzeugt davon, dass wir mit den ästhetischen Mitteln unserer Arbeit auch in die andere Richtung arbeiten: die Fragen der politischen Gegenwart in den Blick zu bekommen. Welche Möglichkeiten schafft Veränderung? Wohin genau unser Weg in den nächsten Jahren führt, wissen wir noch nicht. Weder wir als Theaterensemble noch die Gesellschaft als Ganzes. Aber ich bin überzeugt davon, dass das von Marcel Cremer mit dem Ensemble der AGORA Geschaffene und Erreichte in seinem Reichtum und Potenzial uns ermöglicht, die Fragen der Zeit zu erkennen. Wir tragen dazu bei, die Mittel zu entwickeln, sich diesen Fragen zu stellen. 10
Dieses Buch ist der Versuch, Kontingenz mit Kontinuität, Erinnerung mit Geschichte, Tradition mit Veränderung und Treue mit Verrat als Diskursangebot aus dem AGORA Theater heraus auf die Agora unserer Gesellschaft zu bringen. Christel Hoffmann hat in einer über zwei Jahre dauernden Aufarbeitung aus Marcel Cremers Tagebuchaufzeichnungen, Inszenierungsmitschriften, Briefen, Vorträgen und Reden eine beeindruckende Auswahl getroffen. Ihr Textbeitrag gibt ausführlichen Einblick in das Wirken eines Gründers, Poeten und Regisseurs. Die von ihr ausgewählten Texte führen die Leser bei der Lektüre – und für Christel Hoffmann war es immer entscheidend, dass dieser Band ein „Lesebuch“ sein sollte – in die Begegnung mit einem poetischen, politischen und polemischen Menschen. Sie erleben ihn in der Darstellung seiner theaterpraktischen Aktivität, ebenso wie als zweifelnden Menschen oder an seinem Ensemble verzweifelnden Regisseur. Diesen Texten unseres Gründers sind in einem ersten Teil vier Texte vorangestellt, die sich mit Inszenierungen und Reflexionen der heutigen AGORA beschäftigen. Drei Texte von Sebastian Kirsch, Susanne Winnacker und Luna Ali, die ihre Außensicht auf zwei der aktuellsten Inszenierungen der AGORA mit den Lesern teilen: „Animal Farm – Theater im Menschenpark“ und „Hannah Arendt auf der Bühne“. Inszenierungen, die ohne die mitunter schmerzhafte, aber unglaublich wertschätzende Befragung unseres Theaterhandelns durch Felix Ensslin und Ania Michaelis nicht entstanden wären. Claus Overkamp, der „Heute: Kohlhaas“ 2011 als erster Regisseur inszenierte, der nicht aus dem Ensemble selbst stammt, war für diese Öffnung der Wegbereiter. Den Übergang zum Hauptteil dieses Buches bildet der Beitrag zum Thema „Collectif!“, der auf Anfrage von Jean Debevfe, Marianne Hanse und Didier de Neck – den Gründer*innen des Théâtre de la Galafronie aus Brüssel – anlässlich der „Royale Révérence“, einer dreitägigen „Beerdigungsfeier“ des Theaters, im April 2018 entstanden ist. 11
Welche Agora – welchen Raum der Solidarität und der Auseinandersetzung – brauchen wir in Zukunft? Zukunft braucht und hat immer eine Geschichte. Ohne den Gründer Marcel Cremer und ohne die vielen Ensemblemitglieder, die – zum Teil von Beginn an – für die Kontinuität und Geschichte des AGORA Theaters stehen, gäbe es uns nicht. Und ohne Impulse von außen können wir nicht überleben. Für diese Impulse, diese Öffnung stehen in den letzten Jahren die Inszenierungen durch Regisseure, die wir neu zur AGORA eingeladen haben. Das Theater geht eben immer weiter. Neben den oben erwähnten, in diesem Band besprochenen Inszenierungen stehen dafür – neben Stückentwicklungen innerhalb der Theaterpädagogik wie dem internationalen Jugendprojekt „Identity“ – z. B. Inszenierungen wie „König Lindwurm“, ein Solostück des Ensemblemitglieds Viola Streicher, die als langjährige Lebensgefährtin von Marcel Cremer und seine Erbin auch den Impuls und die Textrechte für diesen Band gegeben hat. Oder die Inszenierung von Slavoj Žižeks „Die drei Leben der Antigone“. Oder die Bearbeitung von Hannah Arendts Fabel über die „Weisen Tiere“, eine Inszenierung für sehr junge Zuschauer – und, in der Tradition unseres Theaters, für jeden anderen Zuschauer auch. Die anachronistisch anmutende Entscheidung, den kleinen Ausblick auf die Theaterpraxis der AGORA heute, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte in der Gegenwart entwickelt, den Reflexionen des Gründers Marcel Cremer voranzustellen, ist – davon bin ich überzeugt – ganz in dessen Sinne: Wir reflektieren, mit der Hilfe der Leser, das Angebot des Wirkens in seiner Zeit, um uns der Frage nach der eigenen Wirksamkeit heute zu stellen. Es ist sozusagen die autobiografische „Ich-Geschichte“ des AGORA Theaters, die am Anfang eines jeden künstlerischen Prozesses unseres Theaters steht. Kurt Pothen, Künstlerischer Leiter des AGORA Theaters
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No dog’s ever pissed on a running car Das AGORA Theater in der Nachfolge von Marcel Cremer
Ein Chor liest Sloterdijk „Theater im Menschenpark“ lautet der Untertitel der Adaption von „Animal Farm“, der ersten Arbeit des AGORA Theaters mit Regisseur, Theoretiker und Kurator Felix Ensslin. Und es scheint, dass damit auch die zwei Hebelpunkte genannt sind, von denen aus das Ensemble Orwells klassische Stalinismus-Parabel so weit verrückt, dass Raum wird für etwas ganz Neues. Denn zum einen wird Orwells Tierfarm hier mit Rekurs auf Peter Sloterdijks seinerzeit heftig skandalisierter Rede „Regeln für den Menschenpark“ (1997/1999)1 ins Zeitalter der Biokybernetik transportiert: Die Katzen, Pferde, Schweine und Hennen, die Orwell noch als symbolisch aufgeladene Fabeltiere taugten – unter dem Vorzeichen biotechnologisch aufgerüsteter Lebensmächte sind sie zum Körpermaterial für genetische Optimierungsprogramme geworden. Zum anderen wird Orwells Geschichte von der umgeschlagenen Revolution aber auch für eine Selbstbefragung des AGORA Theaters genutzt, wie es 1980 durch den Regisseur und Autor Marcel Cremer im belgischen St. Vith gegründet wurde. Immerhin berief sich das Theater zu Beginn auf Slogans wie „Keine Arbeitsteilung!“ und „Alle machen alles!“, die dennoch nicht verhindern konnten, dass sich auch in diesem Fall irgendwann klare Leitungsfunktionen und institutionelle Ungleichheiten etablierten. Zumindest „ein bisschen“ (Ensslin)2 kann auch die AGORA darum als eine Animal Farm betrachtet werden. Insgesamt dient Orwells zu Kalter-Kriegs-Zeiten durch zahllose Klassenzimmer gegangene Parabel damit vor allem als Assoziationsgrundlage für eine überbordende szenische Collage, die den ikonografischen Vorrat vergangener Revolutionen und Revolten mit Memes und Snippets der heutigen „Kontrollgesellschaften“ (Deleuze) zu komplexen Schichtbildern verdichtet. In diesem Essay will ich nun gar nicht erst den Versuch machen, all die Fäden nachzuzeichnen oder nachzuerzählen, die diese Arbeit zieht. Stattdessen werde ich meine Überlegungen an den beiden genannten Zentren orientieren und dabei zu sagen versuchen, was aus meiner Sicht der besondere Clou dieser „Animal Farm“ ist. 14
„Du bist jetzt hier. In der Maßnahme brauchen wir Kapital und Intelligenz, keine Revolution. Deshalb hat Jones euch hierhergebracht.“ Im Medizinerkittel und mit strenger Mine unterweist Daniela Scheuren ihre sechs Mitspieler (Karen Bentfeld, Galia De Backer, Catharina Gadelha, Roger Hilgers, Joé Keil, Eno Krojanker), die sich zuvor, teils mit Hundemaske, Hühnerkopf oder Krokodilschwimmreifen bestückt, als Enkel der Orwell’schen Fabeltiere zu erkennen gegeben haben. Auf psychologisch dialogisierende Charaktere verzichtet die Inszenierung zwar, schemenhafte Figurenumrisse lässt sie nichtsdestoweniger erahnen, die wiederum eingeflochten sind in die weit ausgreifende Textund Zitatcollage. Es ist etwa die Rede von der Studentin und Youtuberin Chica (De Backer), die an einer Masterarbeit über die Geschichte kommunaler revolutionärer Gruppen schreibt und als Nachfahrin jener Henne gilt, die sich auf Orwells Farm einst gegen den Verkauf ihrer Eier wehrte. Oder von Squealer (Krojanker), Nachkomme des gleichnamigen Orwell’schen Schweins, das dort als Propagandaminister fungierte: Immer noch betätigt sich Squealer als Aktivist, der sich in Erinnerungen an frühere Gruppenreisen nach China ergeht, obschon er zwischenzeitlich aus der Politik aussteigen wollte. Aber auch Scheuren hat sich in einem langen Eröffnungsmonolog als Nachfahrin der Katze aus „Animal Farm“ eingeführt, genauer: als eine Davongekommene, die den Glauben an den politischen Umsturz gegen den an Biochemie, Neurologie und Genetik eingetauscht hat. Denn: „Die Geschichte hat dieses Stück schon lange abgespielt. Anstatt den Menschen zu befreien, sollten wir ihn überwinden, im Menschenpark den Menschen züchten.“ Dieser von Scheurens Katze geäußerte Satz könnte nun zugleich durchaus programmatisch über dem gesamten Abend stehen. Denn nicht zuletzt wird hier spürbar, in welchem Ausmaß der durchschnittliche Alltag des 21. Jahrhunderts tatsächlich schon längst von einem Willen zur „Überwindung“ – und 15
eben nicht zur Befreiung – geprägt ist, der indes keineswegs erst auf dem Niveau der biotechnologischen Optimierung beginnt. Vielmehr gilt weit allgemeiner: „Wer sein Potential steigern will, muss lernen, sich zu kontrollieren.“ (Scheuren) Folgerichtig kommt in dieser „Animal Farm“ eine regelrechte Revue diverser Überwindungs- oder auch EnhancementTechniken auf die Bühne, die sich gleichsam wie Attraktionen des kontrollgesellschaftlichen Menschenparks ausnehmen. So lassen schon die kühl-medizinische Laboratmosphäre der ersten Szenenbilder an die Pillen und Psychopharmaka denken, die als Alltagssupplemente heute in der Tat ein Massenphänomen darstellen. Die Inszenierung führt in diesem Sinn aber auch diverse Techniken physischer Selbstoptimierung und Selbst-Überwindung vor – Squealer-Krojanker etwa demonstriert minutenlang seine Bodybuilding-Übungen. Und noch die klobigen Virtual-Reality-Brillen, mit denen die Spieler des Öfteren über die Bühne stolzieren wie retrofuturistische Robocops, sind Medien eines Enhancements, das in diesem Fall physische und zelebrale Bindungen an aktuale raum-zeitliche Koordinaten zu überwinden verspricht. Solche Hinweise deuten an, dass sich das Ensemble insgesamt einer ausgesprochen körperbetonten Spielweise bedient, die nicht zuletzt auch zahlreiche musikalische und tänzerische Szenen ermöglicht. Dennoch ist diese „Animal Farm“ auch eine extrem gewitzte Relektüre der Sloterdijk’schen „Regeln für den Menschenpark“ – interessanterweise nicht trotz, sondern gerade mit ihren Qualitäten als teils schon akrobatischem Körpertheater. Um die dramaturgischen Raffinessen des Abends nachvollziehen zu können, kommt man nicht um einen genaueren Blick auf Sloterdijks „Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus“ herum. Mag also Chica auch einmal den selbstironischen Satz ausstoßen: „Jetzt lasst doch die Dramaturgenscheiße, das ist doch nur Theorie!“ Etwas ausführlicher soll es jetzt trotzdem um Sloterdijks Lagebestimmung selbst gehen, die sich im Übrigen, zwanzig Jahre später und unter dem Eindruck einer Entwicklung, die 16
jüngst mit den in Japan hergestellten „Chimären“, Mäusen mit menschlicher Bauchspeicheldrüse, einen neuen Höhepunkt gefunden hat, sehr aufschlussreich liest. In der Hauptsache konzentriert sich Sloterdijks Rede auf Heideggers „Brief über den Humanismus“ von 1947 sowie auf einige Notate Nietzsches zur Sesshaftwerdung des Menschen (und seiner Haustiere); im Schlussteil geht es zudem um Platons Dialog „Politikos“. Sloterdijk arbeitet zunächst heraus, dass die Tradition des klassischen Humanismus, die er bei den Römern – genauer: bei der römischen Rezeption der griechischen Philosophie – beginnen lässt, letztlich ein eminenter Zähmungs- und zugleich Züchtungsversuch des Menschen war, den man hier getrost im Singular stehen lassen kann. Dieser Versuch war an die Schriftkultur im weitesten Sinn gebunden und definierte Menschwerdung als Zur-Sprache-Kommen und letztlich als Alphabetisierung – darum etwa die Rolle des Briefeschreibens bei humanistischen Ikonen wie Cicero, der sich mittels der Schrift vor den Verführungen der römischen Unterhaltungsindustrie mit ihren blutigen Massenspektakeln zu bewahren versuchte. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die humanistische Verherrlichung der Schrift als zähmender, zentrierender und überhaupt hominisierender Macht letztlich nur die andere Seite einer Enthemmung darstellte, die in den Gladiatorenspielen und Löwenkämpfen der Römer historisch einen ersten drastischen Ausdruck fand. Anders gesagt, war der Humanismus die Konstruktion eines falschen Dualismus, durch den humanisierende Medien der Zähmung (das „gute Buch“) und dehumanisierende Medien der Enthemmung (klassischerweise das Theater) wie Höhe und Tiefe gegeneinander ausgespielt wurden, obwohl sie letztlich nur zwei Seiten einer Medaille waren. Heidegger diagnostizierte nun in seinem „Brief über den Humanismus“ klar die historische Gewalt des humanistischen Zähmungs- und Hominisierungsversuchs, den er als die Vorherrschaft eines in seiner Bestimmung immer schon 17
vorausgesetzten Menschen über eine zum Objekt degradierte Welt und auch über sich selbst auffasste. Zugleich schloss er daran die Frage, was menschliche Enthemmungskräfte noch zu bändigen vermag, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung diskreditiert ist. Heideggers Lösung blieb indes in seltsamer Weise hinter seiner Diagnose zurück. Denn seine berühmten Formulierungen von der Sprache als dem „Haus des Seins“, dem der Mensch als dessen „Hüter“ und „Hirte“ verpflichtet sei, wiederholten und übersteigerten letztlich noch einmal die initiierenden Gesten des Humanismus, vor allem die ontologisch strikte Absetzung des „Sprachwesens“ Mensch vom Tier. Und zugleich vermochte Heidegger mit seinem Beharren auf der Exklusivität des Menschen die Formation jener Kräfte nicht richtig zu erfassen, die im 20. Jahrhundert und in der epochalen Krise der humanistischen Schriftkultur mit immer ausgefeilteren Technologien beginnen sollten, Mensch-Tier-Relationen jenseits ihrer kategorialen Trennung zu bebauen und zu bewirtschaften. Von ebendieser Entwicklung zeugen heute Phänomene wie die besagten japanischen „Chimären“ – und eben diese Entwicklung hat auch die Katze des „Theaters im Menschenpark“ im Blick, wenn sie von der „Überwindung“ des Menschen spricht. Laut Sloterdijk war nun nicht Heidegger, sondern bereits Nietzsche ein Theoretiker dieser anderen Kräfte und Technologien. Denn wenn Heidegger letztlich bei der ontologischen Trennung eines auf das sprachliche „Haus des Seins“ verpflichteten und darum „weltbildenden“ Menschen und seinen sprachlosen („weltarmen“ bzw. „weltlosen“) tierischanorganischen Umwelten stehenblieb, so forschte Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert der Gewordenheit dieser Trennung selbst nach. In diesem Sinn führt Sloterdijk einige Nietzsche-Stellen an, die nach der Rolle und dem Status von „vorgeschichtlichen“ Techniken fragen, die die Schere zwischen Mensch und Tier überhaupt erst öffneten. Diese Techniken richteten mithin jene seinsgeschichtlichen Plätze und Verteilungen allererst ein, die Heidegger als vorausge18
setzte Wesensbestimmungen akzeptierte. Die Ebene, auf der sie operieren, kann darum selbst nicht mehr mit Heideggers Seinsgeschichte erfasst werden; vielmehr begleiteten sie den Einzug ins sprachlich verfasste „Haus des Seins“ wie den Prozess der Sesshaftwerdung überhaupt. Es handelt sich um buchstäblich vor-geschichtliche „Anthropotechniken“ (Sloterdijk), die Nietzsche folgerichtig als Techniken der „Domestikation“ bezeichnete, und von heute aus liegt ihr entscheidender Aspekt darin, dass sie gewissermaßen spiegelbildlich zu den gegenwärtigen genetischen und biokybernetischen Techniken verfahren: Arbeiten diese daran, die humanistische Trennung zu überwinden, so dividierten jene Mensch und Tier überhaupt erst auseinander. Auf die kürzeste Formel gebracht, lässt sich Sloterdijks Rede also folgende Überlegung abgewinnen: Heidegger lieferte zwar eine berechtigte Humanismuskritik, blieb aber nichtsdestoweniger ein sehr „humanistischer“ Theoretiker – ein Denker eines immer schon sesshaften Seins-Hauses, seines Raums, seiner Sprache und seiner Technik. Nietzsche dagegen war ein Theoretiker, der die technologisch grundierte Gewordenheit dieser Sesshaftigkeit zu befragen und damit ein umfassenderes Feld zu denken begann. Heute aber sind wir in einer Situation, in der Technologien an einem Auszug des Menschen aus dem Heidegger’schen Haus der Sprache arbeiten – seiner „Überwindung“ – und insofern kommuniziert unser Moment in eigentümlicher Weise mit der von Nietzsche thematisierten Schwelle. Denn in dem Maß, wie die bindenden (und übrigens auch die zerstreuenden) Energien und Effekte der humanistischen Schriftkultur endgültig zu verblassen scheinen, tritt der Bereich dieser anderen, gleichsam tieferliegenden Domestikationstechniken in seiner ganzen Relevanz neu hervor: All die neuartigen Steuerungsverfahren, von der Biokybernetik bis hin zu diversen Affektmächten sind hier zu situieren, die sich in den zwei Jahrzehnten seit Sloterdijks Rede in der Tat in schwindelerregender Weise ausdifferenziert haben. 19
Unter diesem Gesichtspunkt wird nun nachvollziehbarer, warum die Inszenierung verschiedenste Techniken der Selbstoptimierung in der geschilderten Weise auffächtert. Sie spielt gewissermaßen eine Skala von „Anthropotechniken“ durch, deren Pole das archaisch anmutende Muskeltraining und das neueste digitale Gadget sind. Das ist aber noch nicht alles. Denn insgesamt überlagert dieser Theaterabend die Orwell’sche Parabel mit der Sloterdijk-Rede so raffiniert, dass man wohl von einem dramaturgischen Geniestreich sprechen kann. Kurz gesagt, wird dabei die alte Stalinismus-Geschichte jenem Koordinatensystem zugeordnet, das noch mit Heidegger gedacht werden kann, während die „neue“, biotechnologisch überarbeitete Animal Farm dann den Schritt zu Nietzsche markiert. Diese Verklammerung ist möglich, weil Orwells Tierfarm genau wie Heideggers Seins-Haus ein definiertes Oben und Unten kannte: eine vertikale Achse, entlang derer sich einerseits die Kräfte der Unterdrückung und des Aufstands bündelten, um die sich aber andererseits auch all die doppeldeutigen Gesten gruppierten, von denen die Annalen vergangener Revolutionen überquellen: Verrat und/oder Treue, Subversion und/oder Affirmation, Dogma und/oder Häresie. Der Menschenpark hingegen öffnet seine Pforten gemeinsam mit dem Auszug aus diesem Raum, und selbst wenn dieser Park Organisatoren und Manager wie die Katze kennt, so sind diese doch alles andere als die geliebten oder gehassten Despoten der vertikal organisierten Welt. In Orwells Originalparabel stand die Katze mit ihrer Wendigkeit übrigens für die Mafia, die unter jedem Herrn ihr Auskommen findet. Diese doppelte Bezugnahme strukturiert den gesamten Abend und wird bereits im Doppelplakat zur Inszenierung prägnant verbildlicht. Denn einmal sieht man dort einen (gesprungenen) fünfzackigen Stern hinter einem Mikrofon – die klassische Variante eines revolutionären „Zur-Sprache-Kommens“ im „Haus des Seins“. Und einmal prangt dort, vor dem gleichen Stern, eine Spritze – das biopolitische und letztlich 20
auch drogistisch grundierte Feld des Menschenparks. Dass Heidegger damit zugleich zum Philosophen des Mikrofons und Nietzsche zu dem der Spritze erklärt wird, ist im Übrigen eine der subtilsten philosophischen Pointen des Abends. Insgesamt macht diese zweipolige Anlage es nun möglich, dass man beim Zuschauen permanent zwei Modelle gegeneinanderhält, beständig die „alte“ und die „neue“ Animal Farm im Kopf gegeneinanderführt, ohne dass diese auf der Bühne durchgängig ausgespielt werden müssten. Vielmehr öffnet sich in der doppelten Bezugnahme ein Zwischenraum, in dem sich dann auch all die collagierten Szenen auffalten können, die dem Abend seine eigentümliche Form geben. Allerdings stellt sich an diesem Punkt auch eine besonders heikle Frage: Geht nämlich, wie man vielleicht vermuten könnte, diese „Animal Farm“ am Ende einem neuen falschen Dualismus auf den Leim, einem Dualismus eben zwischen Mikrofon und Spritze, zwischen Heideggers Sprachwesen und Nietzsches „Übermensch“? Ich werde im Folgenden argumentieren, dass der besondere Clou der Inszenierung darin liegt, diesen Dualismus zu vermeiden, der bei genauem Hinsehen wieder nur die klassisch humanistische Oppositionsbildung wäre. Um die Lösung zu erkennen, die sie stattdessen findet, muss man sich aber ihrer zweiten wichtigen Geste zuwenden, der Bezugnahme auf die Geschichte des AGORA Theaters also, und auch der spezifischen Ästhetik, die sie dabei entwickelt. Dass die Inszenierung zumindest bis zu einem gewissen Grad die Gleichung zwischen „Animal Farm“ in ihren beiden Ausprägungen und dem AGORA Theater ziehen kann, liegt zunächst einmal daran, dass diese Theatergründung eine jener egalitären Nachgeburten von 1968 war, die eine seinerzeit bereits verlorene Revolutionshoffnung in anderer Form fortzuführen suchten. Mit dem Scharnierdatum ’68 verknüpft, lässt sich die Geschichte dieses Theaters in beide Richtungen hin diskutieren: Einerseits ging es hier noch einmal um einen Aufstand der Söhne gegen die Väter und die mit ihnen verknüpften 21
Ordnungen und Hierarchien, um einen Aufstand, der sich noch einmal in dem hier von Orwell und Heidegger her gedachten Machtraum artikulieren konnte, obwohl er dies gewissermaßen schon auf dessen Austrittspforte tat. Andererseits bezeichnet das Datum ’68 darum aber auch die immer vehementere Entfaltung einer anderen Machtform, die noch viel raffinierter funktioniert, da sie die mit den Vätern verbundenen Souveränitätsprinzipien scheinbar mühelos zu umlaufen weiß. Es ist eben der Raum, der in „Animal Farm“ als Spritzenraum erscheint (nicht zufällig ließe sich von 1968 her auch eine ganze Kulturgeschichte der Droge und der Pharmaerzeugnisse schreiben). Wo es sich in dieser Inszenierung selbst befragt und mittels biografischer Materialien seine eigene Geschichte zum Thema macht, setzt das AGORA Theater sich darum zunächst einmal dem Erschrecken darüber aus, dass dem Abschütteln der verhassten Väter neue, seinerzeit nur undeutlich abzusehende Regierungsformen folgten, neue Monstren der Macht, und, bezogen auf die Institutionengeschichte, letztlich auch die Einführung der ubiquitären Unternehmensform. Die Inszenierung macht dieses Umkippen nun aber nicht nur zum Thema, indem sie Lebensgeschichten der AGORAMitglieder oder Berichte über den institutionellen Wandel der Bühne als Material der szenischen Collage verwendet. Vielmehr integriert und bearbeitet sie auch diese Thematik auf der Ebene der Spielform selbst, indem sie die sogenannte Autobiografische Methode des AGORA-Gründers Marcel Cremer aufnimmt und kritisch überprüft. Cremer entwickelte diese Methode als künstlerisches Arbeitsprinzip, das auf dem Grundsatz fußt, dass für eine Theaterinszenierung die „Arbeit mit der Biographie (…) zentraler als das Heranbilden von Handwerklichkeiten“3 ist und folglich sogenannte Ich-Geschichten die Eckpfeiler der Proben seien: „Wo in diesen Texten bin ICH als Kind angesiedelt?“, oder: „Wann bin ICH Woyzeck oder Marie begegnet?“4 Es überrascht nicht, wenn der speziell in Fragen der Psychoanalyse überaus versierte Ensslin in der Arbeit mit dem Ensemble vor allem die Authentifizierungsver22
sprechen und Identitätsbehauptungen zu problematisieren scheint, die solche Formulierungen enthalten. Das heißt, dass hier – zusammen mit dem egalitären Ansatz – zwar offensichtlich der Gedanke beibehalten wird, dass mit einem Selbst zu arbeiten ist, das als solches immer in ein Außen eingefaltet ist. Was aber preisgegeben wird, ist die Vorstellung der „eigenen“ Geschichte, eine Vorstellung, in der sich im Übrigen auch noch immer der Gedanke des Eigentums und sogar des Kapitals verbirgt. (Immerhin liest man bei Cremer einmal, „dass der größte Reichtum eines Menschen seine Biographie, sein Erfahrungsschatz und seine Geschichten sind“5.) Durch diesen kritischen Eingriff wird an keiner Stelle etwas denunziert – weder, wenn auf der Bühne bestimmte von Cremer entwickelte Übungen und Gemeinschaftsspiele mit augenscheinlicher Ironie und Distanz vorgeführt werden („Augen zu gut, Augen auf schlecht“), noch selbst dann, wenn die Spieler sich im Sprechchor über ihr eigenes Theater lustig zu machen scheinen: „Ha, ha, ha – wir sind Agora. Gewerkschaftsfrei, sozial gut drauf, im Kreis machen wir die Augen auf!“ Stattdessen ermöglicht die theatrale Selbstbefragung plötzlich ein anderes, letztlich sehr fragiles Spiel, dessen allmählichem Zustandekommen sich im Verlauf des Abends auf der Bühne regelrecht zusehen lässt. Man könnte es vielleicht so beschreiben, dass im kritischen Durcharbeiten der geteilten Geschichte an die Stelle der Ich-Geschichten nicht etwa WirGeschichten, sondern Und-Geschichten treten. Und nur dieser Übergang von Ich/Wir zum Und ermöglicht am Ende auch die konnektive Ästhetik, die seltsam zwingende Logik, mit der sich die scheinbar assoziativen Elemente hier aneinanderfügen: Eine biografische Erzählung über das erlittene Berufsverbot und eine Prozession mit einer Einsteinpuppen-Monstranz und ein Videoloop von Eminem und ein chorisch vorgetragener, gereimter Exkurs über Benjamins Unterscheidung von Symbol und Allegorie. Das bedeutet aber letztlich, dass Ensslin mit dem AGORA-Ensemble eine genuin chorische Theaterform gefunden hat: Man wird in dieser „Animal Farm“ 23
Zeuge, wie sich ein Chor zusammenfindet, der gemeinsam die Geschichte des AGORA Theaters, die Orwell’sche Parabel und die Sloterdijk-Rede überprüft und neu liest. Mit dem Chor ist nun in meinen Augen auch das entscheidende Stichwort gefallen, um die Frage zu beantworten, ob die Inszenierung mit ihrem Pendeln „zwischen Mikrofon und Spritze“ selbst einem falschen Dualismus erliegt oder nicht. Inwiefern? Aus theatertheoretischer Sicht ist zunächst auffällig, dass eine simple Gegenüberstellung dieser beiden Embleme auch ein langes und extrem hartnäckiges Missverständnis über die beiden Figurentypen illustrieren könnte, die in den Anfängen der europäischen Theatergeschichte das griechische Theater prägten: den Protagonisten und eben den Chor. Denn ein zähes und fast schon trivialmythisches Vorurteil über das antike Theater ordnet den vermeintlich handlungsmächtigen Protagonisten immer wieder den Logos, das Wort – mithin das Mikrofon – zu, während der Chor dann regelmäßig als rauschhafte Gruppenfigur erscheint und als Logos-ferner Statthalter „dionysischer“ Raserei gewissermaßen mit Spritze ausgestattet wird. Für diese hochideologische Lesart geben sich aber die antiken Stücke in keiner Weise her. Und auch der Sloterdijklesende Chor dieser „Animal Farm“ ist offensichtlich alles andere als eine bacchantische Drogengemeinschaft jenseits des Logos. Anders ausgedrückt, wird der Chor dieses Abends letztlich als zweiseitiges Und-Wesen sichtbar: Relationalität der Körper, Relationalität des Sprechens (und Denkens). Auf dieser Ebene ist damit jeder Dualismus durchkreuzt. Des Weiteren lässt sich aus theaterspezifischer Perspektive hinzufügen, dass die Fehlvorstellung eines Protagonisten, der exklusiv über den Logos verfügt, tatsächlich der Heidegger’schen Bemühung äquivalent ist, die Bewohner eines sesshaften Seins-Haus als weltbildende Sprach-Wesen kategorial von vermeintlich welt-armen oder sogar welt-losen Entitäten zu unterscheiden. Auf der anderen Seite wiederum findet sich zwar auch bei Nietzsche manchmal das Komplement dieser Bemühung, nämlich die verkürzte Sicht des Chors 24
als dionysisch-rauschhaftem Wesen. Nietzsches Frage, welche Techniken die Einsetzung des Heidegger’schen Sprach-Wesens allererst ermöglichten, weist aber nichtsdestoweniger den richtigen Weg: den Weg hin zu einem Raum, der sich unterschwellig zur protagonistischen Logik und ihrem Logos verhält und der dennoch und gerade nicht ohne Sprache und Denken sein kann. Und tatsächlich – dieser Raum eines anderen Logos-Gebrauchs entspricht bei näherem Hinsehen exakt jenem Ort, an dem die antiken Theaterstücke einst den Chor ansiedelten, der dort nicht von ungefähr so gut wie nie als
rein „menschliche“ Gestalt begegnet, sondern immer wieder diverse Hybridbildungen kennt: prä-protagonistische Kopplungen von Menschen, Tieren, Göttern, Landschaften; all jene Mischformen also, die in den heutigen Ausformungen des Menschenparks ihre bizarre Wiederauferstehung erleben. Der aus meiner Sicht neuralgische Punkt stellt sich darum folgendermaßen dar: Der von Nietzsche angedeutete Prozess, der den Logos exklusiv an ein menschliches Sprachwesen band, das den gleichsam „chorischen“ Hybridbildungen enthoben scheint, hinterließ auf ebendieser chorischen Seite 25
zugleich eine gigantische Lücke. In diese Lücke konnten im Folgenden diverse Regierungsformen und (Bio-)Politiken eindringen – und zwar umso widerstandsloser, als es sich hier ja angeblich um ein Reich der Sprachlosigkeit handeln sollte, das heißt um ein Reich ohne eigene Artikulationsformen und Ausdrucksmöglichkeiten. Nach der historischen Niederlage der Schriftkultur und dem Aufstieg diverser kontrollgesellschaftlicher Technologien indes steht dieses chorische Feld in einem völlig neuen, ungeahnten Ausmaß der Bebauung offen: einer wirtschaftlichen Ausbeutung, die z. B. die Gene als Kapital entdeckt hat, einer neuen, klassenmäßigen Aufteilung, die z. B. darüber entscheidet, wer Zugang zu bestimmten biotechnologischen Optimierungen haben wird und wer nicht, und natürlich auch diversen neuartigen Formen politischer Überwachung und Steuerung. Der entscheidende Einsatz dieser „Animal Farm“ liegt für mich deswegen darin, dass sie das zum Spielplatz biokybernetischen Programmierens verkommene chorische Feld als Ort von Sprache entdeckt, das heißt als Ort von Aushandlung, von Diskurs, von mühevoller Arbeit am Selbst und natürlich auch von Streit. Protagonisten hingegen kennt die Inszenierung nicht, und deswegen redet sie auch an keiner Stelle einer Rückkehr zu einem vertikalen Souveränitätsmodell das Wort, das mit Heideggers Seinsgrund im 20. Jahrhundert noch einmal einen besonders tückisch angelegten Schlupfwinkel gefunden hatte. Sie legt nahe, dass Gegeninstanzen zur Kontrollgesellschaft in der Arbeit am Chor gesucht werden müssen – und können. Sebastian Kirsch 1 Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 2000 2 Vgl. Sascha Wolters’ Zeitungsartikel „Selbst ein bisschen Animal Farm“, in: GrenzEcho, 31. Juli 2017, S. 4 3 Marcel Cremer: Der unsichtbare Zuschauer, St. Vith 2006, S. 14 4 Ebd., S. 25 5 Ebd., S. 14 26
Hannah Arendt auf DER BÜHNE – eine Be-Schreibung „Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“ Hannah Arendt
Es ist eine mutige Tat, ein Stück über Hannah Arendt zu erarbeiten – für Kinder. Radikal ist die Tatsache, dass es überhaupt gewagt wird. Das ist gut. Auch, dass es schlicht ist, beruhigend, aber Schlichtheit ist keine ästhetische Konsequenz aus der Entscheidung, Kinder ab zehn Jahre ebenso anzusprechen wie Erwachsene. Die Zuschauerinnen – egal welchen Alters – werden nicht dekonzentriert. Der Fokus bleibt immer auf den Worten, die Urteile hörbar zu machen, aber niemanden zu verurteilen. Das ist klug. Obwohl – niemanden? In erster Linie spielfreudig; dann: unaufgeregt und klar, nur teilweise zärtlich. So kommt die Inszenierung daher. Sie möchte nicht mitnehmen, sie legt dar: eine mögliche Biografie, etwas, das so oder so gewesen sein könnte; Konsequenzen, die jeweils für den einen entstehen, für den anderen aber nicht. Ideen, die eine hat und die nur existieren können, wenn eine andere sich auf sie einlässt, zumindest auf sie reagiert. Täte sie das nicht, wäre alles vorbei. Kein Spiel, keine Wahrheit, kein Zweifel, keine Lüge, keine Gesellschaft. Erwachsenen genügt das meist nicht, für sie funktioniert das oft nicht. Schon beim Zuschauen hört man die Warnungen, die sie aussprechen werden. Diese Versuche sind zu plan, zu platt, zu gemütlich. Bestätigung oder Widerlegung? Die Kinder waren vollständig in den Bann gezogen und eifrig dabei bis zum Schluss. Insofern gibt es hier dann doch ein Urteil über etwas. Gleich gesagt und mit dem Wunsch, das Wesentliche vorwegzunehmen: Diese Inszenierung ist nicht nur mutig und nicht nur radikal (das Wühlen nach der Wurzel der verhan27
delten Dinge würde ihr vermutlich gleich den Garaus machen); nein, diese Inszenierung ist tief wie das Gute. Doch interessanterweise erzeugt sie diese Tiefe nicht ästhetisch auf der Bühne. Im Gegenteil, sie wuchert assoziativ – wie es eben Worte, das Handwerkzeug Hannah Arendts, tun. Aber sie wuchert streng an der Oberfläche, sichtbar wie ein Pilz. Fabel und Geschichte – kann das zusammengehen? Man darf sich fragen, wer oder was der Wolf ist. Zu Beginn eingeführt – durch das Heulen der Stimmen –, aber dann bricht sich das Heulen in Sprache: Der Wolf wird besprochen und ausgestattet mit den Insignien der Macht. Benannt und besprochen, bleibt der Wolf dennoch abstrakt, er nimmt (noch) keine Gestalt an. Später wird klar, der Wolf kann in jedem stecken. Ein Widerspruch, denn die „alte“ Hannah sagt im Stück: „Der Wolf bleibt draußen, das machen Aristoteles und ich so.“ Steckt er nun potenziell in allen Menschen? Oder ist er identifizierbar, um ausgeschlossen zu werden? Unklarheiten. Sie verführen die kleine Hannah immer wieder dazu, mit großer Souveränität gegenüber der großen Philosophin die Rolle eines Agent provocateur einzunehmen: Sie fragt und fragt und nervt und fragt und freut sich, dass das Fragen nervt, also Aufmerksamkeit schafft. Einmal ihr zugewandt, kann die „alte Hannah“, die Philosophin, der „kleinen Hannah“, ihrem jüngeren Spiegelbild, nicht entkommen. Der Zwang zur Aufmerksamkeit gegenüber der „kleinen Hannah“ nervt sie genauso, wie die „kleine Hannah“ die unverständlichen Worte der Philosophin nerven. Die Abwehr durch Antworten führen zu einer Verbindung, die „alte Hannah“ gibt schließlich auf, immer noch genervt. Eine Antwort führt zur nächsten, bis sie ihren Widerstand gegen das junge Mädchen aufgibt und sich ihr zuwendet. Die kleine Hannah steigt mit einem kleinen Fuchs zusammen aus dem Kopf der großen Philosophin, um sich ihr gegenüberzusetzen. (Er ist für die „kleine“ Hannah ein Freund, für die „alte“ Hannah sicherlich nicht – nur. Die eine kuschelt mit ihm und spricht als das kleine Spielwesen, die andere ar28
beitet sich an Fuchs Heidegger ab. Tiere sind wichtig, weil sie nicht nur Metaphern und nicht nur Fabelwesen sind. Epiphanie der ungeteilten Wesen. Wie Menschen mit Tieren umgehen, so gehen sie auch mit sich selbst um. Soll der Fuchs die Szene grundieren? Ohne als „Plüschtier“ oder „Kuscheltier“ thematisiert und damit banalisiert, also dem Raum der Deutung entzogen zu werden? Diese Gaukelei gelingt der Inszenierung glücklicherweise nicht. Erwachsenenlogik! Jenseits der Realität, die Plüschtiere für Kinder haben können. Also dann die Fabel: ein Tier, das sich entschuldigt („Es tut mir leid, Hannah, Politik interessiert mich einfach nicht“). Wenn Fuchs das sagen kann, kann daraufhin die „kleine“ Hannah ihn nur in dieser Erwachsenenlogik herumwerfen wie ein Ding. Der Wolf erscheint anders. Kein Plüschtier, sondern menschliche Maske. Er hat und zeigt eine Gestalt, die jene der Menschen ist. Die „kleine“ Hannah fragt die „alte“ Hannah: „Hast du dir Geschichten über den Wolf ausgedacht?“ Die Antwort ist klar und vermeintlich eindeutig: „Nein.“ Die Philosophin hat über den Wolf nachgedacht und ihn so zur Metapher verwandelt. Wolf: etwas, das jederzeit in jedem erscheinen kann. Böses und böse Möglichkeit in jedem: etwas, das man also aktiv ausschließen muss. Das braucht nicht unbedingt Horror oder Terror: Wolf sein heißt, die Differenz zu verstehen. Zwischen unpolitischem und daher ungesellschaftlichem Da-Sein, bloß Sein, einerseits, und Selbst-, also AndersSein andererseits. Die Differenz soll man hören und denken, will man zum Wolf nicht werden. Diese kleine Stunde beginnt mit vielen Setzungen, mit sehr viel Klarheit: 1. Der Raum ist ein schmuckloses Viereck, gerade klein genug, um die Nähe der Zuschauer*innen zu ermöglichen. 2. Die Spieler*innen haben alle mehr oder weniger das gleiche an, ein Mann muss also nicht notwendig Mann sein, eine Frau nicht notwendig Frau. 3. Nur das Kind (die „kleine“ Hannah) trägt ein Kleid. 4. Der Musiker ist direkt neben der Bühne installiert, so 29
kann er „als Anderer“ die Bühne betreten, er trägt die gleichen Sachen wie die Spieler*innen; er ist aber ein Spezialist für Töne, die keine oder nicht nur Worte sind und versucht nie, etwas Anderes zu sein. Dann die Musik: Sie wird mit vielen Funktionen versehen, die alle transparent und sichtbar sind. Es wird nie versucht, mit dem Einsatz von Geräuschen, Tönen oder Melodien zu manipulieren, etwas zu verstecken oder zu übertünchen. Lieder wie das von den Nazis angeeignete „Der morgige Tag ist mein“ von John Kander stehen so im erzählerischen Raum herum, überall möglich und doch immer eigenartige Fremdkörper. Beliebig entfaltet sich ihre akustische Realität im Raum, mal hierhin, mal dorthin gelehnt. Stimmt ja auch. Nicht nur für dieses Lied. Was kann die Melodie dafür, dass es ein schrecklicher, ein ungeliebter Ohrwurm ist? Wer wäre dafür verantwortlich? Dem Traum und der Flucht stellt die Inszenierung anfangs eine Gegenwart gegenüber. Der 4. Dezember 1974. Das ist der Tag, an dessen Abend Hannah Arendt gestorben sein wird. Das Theater der Verhandlung, das später thematisiert wird, ist von Beginn an vorweggenommen. Die „kleine Hannah“ verhandelt mit der „großen Hannah“ vor allem eins: „Versteh mich nicht zu schnell.“ Während die „alte“ Hannah im Begriff ist, aus dem holografischen Universum auszutreten, beharrt die „kleine“ Hannah auf ihre Unverwechselbarkeit. Sie tut dies in Worten und die „alte“ Hannah will ihr zeigen, dass Worte zwar unsichtbar sind, aber man etwas Reales mit ihnen machen kann, ja muss. Die bilderlose Inszenierung wird kein Grauen erzeugen, keine Illusion, keinen faulen Theaterzauber, hinter der die Spieler*innen zu verschwinden gedenken. Damit Worte eine Identität gewinnen, muss man sie sagen, schreiben, malen, hören – und Sagen, Schreiben, Malen, Hören ist Handeln. Und: „Handeln kann man immer!“ Behauptete Gegenwart als Raum und Zeit für das Spiel. Um in dieser Inszenierung – ihrem Arrangement von Fabel 30
und Metapher, Raum und Geschichte – die Möglichkeit zu schaffen, die Bedeutung der Vergangenheit zu erzählen (ist Aristoteles als gegenwärtiger Freund der „alten“ und später auch der „jungen“ Hannah ebenfalls dabei), bedarf es der Verhandlung. Verhandlung vermittelt durch Worte Referenzen, bzw. Themen. Thematisiert wird die Konfrontation Hannah Arendts mit dem Nationalsozialismus, ihre Verwundung durch die Faschisten. Sprechchöre machen deren Judengesetze hörbar, herausgeschrien und mit einheitlicher Wucht vertreten.
Die junge Hannah fragt später nach: „Wo gehen wir hin?“ Der Chor hat bereits geantwortet, bevor die Frage gestellt wurde: „Wir gehen nach Osten.“ Ein Kind aus dem Publikum hat mitgehört und versucht zu helfen. Leise sagt es: „Osten“. Ich lese das als Zeichen dafür, dass es ganz und gar dabei ist. Es denkt mit und will auch mit handeln. Ich erlebe, dass die Spieler diesen Beitrag ignorieren. Ich erlebe durch diese Distanz der Spieler zu dem Kind im Publikum eine andere Dimension des Stückes. Plötzlich gibt es die Behauptung, nicht die Verhandlung. Illusion und nicht Adresse. Bisher haben die Spieler in der Inszenierung diese Distanz nicht aufgebaut. Es 31
ist vielleicht nur eine Unachtsamkeit, ich finde sie schade, in meinem Empfinden relativiert das den Ansatz und für einen kurzen Moment verliert die Inszenierung ihre Glaubwürdigkeit für mich. „Es gibt mich, weil du mich siehst!“ Verhandelt die Inszenierung nicht über das ganze Stück diese Idee? Ich löse mich nicht von dieser Beobachtung und bin der Meinung, dass es nicht dadurch „Mitmachtheater“ wird, dass der Aufmerksamkeit des Kindes mit einer kleinen Geste der Anerkennung begegnet würde, mit einer an es gerichteten Wahrnehmung, um seine Existenz und Sprache zu bezeugen. Eroberte Geschichte kann Geschichten schreiben oder erzählen. Nicht eroberte Geschichte bleibt Information. Wer erobert? Wer entzieht? Vielleicht will ich die Frage stellen, ob Information zu lebendigem und wirksamem Wissen werden kann, wenn sie in der Form von Geschichten greifbar, hörbar, spürbar, also: begreifbar gemacht wird. „Natalität“. Gegen das Heidegger-Fuchs-Wort vom „Sein zum Tode“ hat Hannah Arendt die Idee der „Gebürtlichkeit“ gestellt. Im Kinderbuch von Marion Muller-Collard scheint mir diese Idee immer wieder das ganze Geschehen und die narrative Struktur voranzutreiben. Gerade die „kleine“ Hannah wird illustriert mit der Möglichkeit, in Momenten der Unsicherheit oder Angst die Anderen beim „Wort“ zu nehmen, an Anfänge und die Möglichkeit, von Neuem zu beginnen, zu glauben. Wenn man die neueren Entwicklungen unserer Zeitgeschichte beobachtet, könnte man Hannah Arendts unverdrossenen und unbeirrbaren Glauben an Neuanfänge – an „Gebürtlichkeit“ oder „Natalität“ – vielleicht sogar hellsichtig nennen. Als ihren Blick auf die kommende Zeit, die vielleicht unsere Gegenwart ist. Immer wieder kommen „Kinder“, „Andere“ und daher „Fremde, die alles, aber auch wirklich alles verändern“. Mir scheint, dass die Inszenierung von „Hannah Arendt auf dem Theater“ diesen Beweggrund des Arendtschen Den32
kens nicht wirklich zu fassen bekommt, ihn vielleicht nicht aufgreift. Die „junge“ Hannah ist vielleicht nicht nur Spiegel und Erneuerung der Biografie der „alten“ Hannah. Im Stück gibt es eine Szene, in der alle Wolfsköpfe tragen. Einer nimmt die Maske ab, um sich zu rechtfertigen und in meinen Ohren damit nochmals die Ambiguität jeder gesellschaftlichen Realität zu behaupten. Dies folgt im Stück der „Money“-Szene, einer Art Beschreibung dessen, was Kapitalismus eigentlich ist, und der Gefährdung, die jedem Menschen durch den „Wolf“ droht, der in jedem stecken kann. Vielleicht wollte man durch dieses Ende vermeiden, einem „billigen“ Opportunismus zu huldigen, einer falschen Alternative, einer naiven Anschauung. So schien es mir in der Wahrnehmung des Stückes. Fehlte dem AGORA Theater der Mut, mit etwas – einer Hoffnung, einer Ahnung, einer Bewegung in der Zeit – zu paktieren, von der noch niemand wissen kann, wohin sie führt, ob sie überhaupt irgendwohin führt? Also der Mut zum Bekenntnis zur Arendtschen „Gebürtlichkeit“? Ich würde mir wünschen, dass das AGORA Theater sich auf die Suche nach einer ästhetischen Form für diese Frage macht. Der Suche nach einer Form auch für das Unerkennbare und Neue, für die Einbrüche der Zukunft, am besten, ohne sich „gemein zu machen“: Eine Aufgabe, die dem AGORA Theater noch bevorsteht. Meiner Meinung nach. Susanne Winnacker
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Die Sprache bei ihren Worten nehmen Der erste Blick: Ein Quadrat in der Mitte, zwei Tische an den Seiten, an dem einen stehen Instrumente, an dem anderen Technik, drei bewegbare Wände, drei Sessel. Alles in schwarz und grau gehalten. Der Anfang: düsteres, deutsches Sprechtheater. Aber auch – die Sprache, das Spiel: „Ich werde heute den Wolf spielen“, sagt die kleine Hannah. Wen spiele ich, frage ich mich. Der Anfang heißt den roten Faden finden. Hier wird „Hannah Arendt auf der Bühne“ gespielt.
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Ein zweiter Blick verrät: Der Anfang, ein lockeres Aufwärmen. Es wird sich gedehnt, es werden Denkerposen geprobt. Der Anfang beginnt mit Sprechübungen. Das Wort „Freiheit“ hallt durch den Raum. Am Anfang, das erfahren wir am Ende, werden wir in der Agora gewesen sein. Der Marktplatz, in der Mitte der Polis, der Gemeinschaft, die uns zu dem machen wird, was wir gewesen sein werden, in der wir frei sprechen, frei von Herrschaft, frei von Gewalt. Hier gibt es keinen Wolf. „Der Wolf bleibt draußen“, sagt die große Hannah.
Mein dritter Blick ist nach Außen gerichtet. Wir sitzen im Theater am Pavillon hinter dem Hauptbahnhof in Hannover, jener Stadt, in der Hannah Arendt geboren wurde. Der Platz vor dem Pavillon ist der Weißekreuzplatz mit einem Mahnmal, das an die Toten an Mauer und Stacheldraht erinnert. Ein Platz, der noch einige Jahre zuvor von sudanesischen Flüchtlingen besetzt wurde, die für ihr Aufenthaltsrecht gekämpft haben, deren Besetzung gewaltsam geräumt wurde. Geflohen waren sie vor einer Diktatur. Eine Diktatur, die im Juli 2019 in die Knie gezwungen wurde.
Am Anfang Das Stück „Hannah Arendt auf der Bühne“ beginnt mehrfach. Der erste Anfang ist der Einlass: Wir sehen die Spieler beim Aufwärmen. Der zweite Anfang ist die Festlegung der Figuren: Die Schauspieler diskutieren, wen sie heute spielen werden, was es überhaupt heißt zu spielen. Sich selbst könne man z. B. nicht spielen. Der dritte Anfang ist die Schaffung der Grundlage: Hier, darauf können wir uns einigen, wird Theater gespielt. Theater heißt Worte sehen, nicht nur hören. Worte in Aktion. Die Aktion auf der Bühne einerseits, die Aktion in uns andererseits. Das Schauspiel einerseits, unser Denken andererseits. Denn wir, das sagt die große Hannah gleich zu Beginn, wir, jeder Einzelne in diesem Raum, entscheiden über die Bedeutung der Worte, die wir gleich zu sehen bekommen werden. Wer A sagt, … Hannah Arendt starb im Alter von 69 Jahren im Jahr 1975 in New York. Freunde sagen, sie sei beim Schreiben, an ihrem Tisch sitzend gestorben. Das dritte Kapitel der „Kritik der politischen Urteilskraft“ beginnend, über das Urteil, da hätten sie die Lebensgeister verlassen. Ihr Tod war ein großer Verlust, wenn ich mir vorstelle, was sie in diesem Kapitel alles hätte schreiben, was ich alles hätte lernen können. In jenem Buch ging es um die „Bedeutung von Worten“. Das erste Kapitel befasste sich mit dem Denken, das Zweite mit dem Wollen. Aber bei „Hannah Arendt auf der Bühne“ ist Hannah Arendt am Anfang des Stücks noch nicht tot, auch wenn der Tod ihr vorauseilt. Sie sitzt auf einem Sessel und denkt nach. Unweit von ihr entfernt, sitzt da eine zweite Schauspielerin, die die kleine Hannah spielt, sie spielt die große Hannah beim Denken, sie macht sie nach. Kinder neigen zur Nachahmung, denke ich. Die große Hannah mag nicht gerne gestört werden, die kleine Hannah will wissen: „Wie ist es dazu gekommen, dass ich sie geworden bin?“, entsetzt über die Ernsthaftigkeit der großen Hannah. 35
So beginnt die Geschichte, die keine Geschichte ist, eine Geschichte, mit Worten, die schon immer da waren, die nun neu aneinander gesetzt werden, um zu erzählen. Was zu erzählen? So viel ist sicher: Hier wird nicht erzählt, um des Erzählens willen, das wäre langweilig. Hier wird erzählt, um gehört zu werden, behauptet die große Hannah. Damit es eine Welt gibt. Denn, so sagt die große Hannah auch: „Erzählen heißt handeln.“
Das Theaterstück geht an die Anfänge Arendt’schen Denkens und zugleich eben an den eigenen Anfang: die Agora. Beschrieben wird die Agora in einem selbstironischen Rap als der Marktplatz, die Mitte der Polis, der Stadtgemeinschaft. Hier treffen freie Männer aufeinander. Sie denken gemeinsam nach, parodiert durch die zwei Hannahs in Denkerposen, diskutieren das Leben der Gemeinschaft, sie finden Regeln und Gesetze des Umgangs. Die Agora stellt das Zentrum dar, das über die Peri36
pherie bestimmt. Hier hat der Wolf zwar keinen Zutritt, aber auch Kinder, Sklaven und Frauen nicht. Im Publikum wird aufgehorcht: Ein Stück für Kinder ab zehn – und das Grundkonzept grenzt sie aus? Es stellt sich die Frage, wie das AGORA Theater mit diesem Widerspruch (einerseits treffen sich freie Menschen, andererseits beruht dieses Treffen auf der sozialen Ausgrenzung anderer) lebt, arbeitet. Während die Arbeitsweise des AGORA Theaters von der antiautoritären 1968er-Bewegung inspiriert ist, war sie jedoch auch, wie das eigene Kollektiv reflektiert, von einem neoliberalen Arbeits- und Individualisierungsethos durchzogen. In diesem Spagat, zwischen Utopie und kapitalistischer Marktlogik, behauptet sich das AGORA Theater seit vierzig Jahren oder um es in den Worten der großen Hannah auszudrücken: „Ich streite ja auch mit mir selbst. Ich bin nicht immer meiner Meinung.“ Womit die Agora/das AGORA Theater zum Austragungsort der Uneinigkeit mit sich selbst, aber auch mit anderen wird. Denn eine künstlerische Arbeitsweise, die das Individuum wie das Kollektiv in Verhandlung treten lässt, drängt sowohl die Performer als auch das Publikum, sich in das Geschehen einzudenken. Hier treten zwei Ideen in Verbindung: Die Agora setzt Freiheit für die einen voraus, während sie sie anderen entzieht. Die Freiheit der freien Männer Griechenlands beruht auf der Unfreiheit ihrer Frauen, ihrer Sklaven. Somit ist die Agora im alten Griechenland eben nicht nur ein physischer Ort, sondern auch immer Idee, Ideal. Als Ideenraum ist die Agora fähig aus der Zeit zu treten, so wie sie über den physischen Raum hinausgreifen kann. Das Theater ist die Repräsentationsform der Agora als Ideenraum. Das Theater löst die Sprache von der Schrift, befreit sie aus ihrer physischen Begrenztheit, das Theater wird so zum Verhandlungsort. Hier tritt die Sprache selbst auf die Bühne. Wenn wir behaupten, Theater sei Gegenwartsbewältigung, Theater sei „moralische Anstalt“, dann, weil dem ein Verständnis menschlichen Handelns zugrunde liegt: Wir sind nicht nur soziale Wesen, sondern auch politische. Von die37
ser Verantwortung können wir uns nicht losschreiben, wie es der Fuchs mit seiner Agoraphobie tut. Nur ist Öffentlichkeit, wie es Hannah Arendt verstand, in unserer Zeit durcheinandergeraten, wenn ich an die sozialen Medien denke, in der private und intime Erfahrungen öffentlich geteilt werden. In der darauffolgenden Szene versteckt sich eine Reflexion dieser Entwicklung: Der Fuchs und der Wolf sind sich einig. Aktivismus, ohne auf die eigene Gesundheit zu achten, ist gefährlich. War Self-Care noch vor einigen Jahrzehnten ein revolutionärer Akt schwarzer Feministinnen wie Audre Lorde, so ist Self-Care mittlerweile durch die kapitalistische Marktlogik einverleibt worden und liefert uns ihr zugleich aus. Denn der Rückzug ins Private, auch in semi-öffentliche Räume wie die sozialen Medien, bedeutet, dass der Wolf in die Agora treten kann. Auch wenn diese Szene kurz ist, berührt sie eine Grundfrage unseres derzeitigen politischen Aktivismus: Wie schütze ich mich vor einem Burnout, wenn die Herde, die es zu löschen gilt, endlos erscheinen? Ist nicht eine gesunde Aktivistin eine effektive Aktivistin? Und gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie viel Individuum verträgt kollektivistisches Denken? Wie überlebe ich in einer Welt, die nach meinem Ende trachtet, mit dem Wissen, dass Überleben immer auch an ein Kollektiv gebunden ist? … muss auch B sagen, … Wenn der Wolf in die Agora eintritt, dann treten die Schauspieler aus der Agora aus. Eine bedrückende Stimmung nimmt überhand. Die Schauspieler treten an die Kante des hellgrauen Quadrats in der Mitte, an die Grenze der Agora, und rufen laut mit tiefer Stimme: „Jude. Jude. Jude.“ Die kleine Hannah fühlt sich angesprochen. Wie auch nicht, denn ihre Mutter begegnet ihren Sorgen mit einer einfachen Widerstandsformel: Wirst du als Jüdin angesprochen, dann antworte als Jüdin. Die kleine Hannah versteht, sie wird Jüdin geworden sein. In dieser kurzen, sich zweimal wiederholenden Szene wird die Macht von gesellschaftlichen Kategorien sprachlich auf den 38
Punkt gebracht. Nicht nur bin ich, wer ich sein werde – das Ich als ein Prozess –, sondern ich bin auch die, zu der mich andere machen. Meine Freiheit liegt jedoch in der Art und Weise, wie ich die Zuschreibung beantworte. Aber die Maschine wurde bereits in Gang gesetzt, es folgt eine Verordnung auf die andere. Ihr Zweck ist anfangs Raub, der Raub der Menschlichkeit, und er endet in Mord. Wie lässt sich der Schrecken, der Massenmord, der in Hannah Arendts Leben dazu geführt hat, dass sie ein Jahrhundertwerk verfasste, erzählen? Der Rückgriff auf die Sprache, auf Sprachbilder ‑– die zwei Hannahs zählen Gegenstände auf, die zurückgelassen werden: „Bücher, Bücher in Kisten, in Koffern.“ Spätestens beim Wort Koffer durchkreuzt das Gedächtnis ein Bild von den Koffern in Auschwitz-Birkenau. Vielleicht lässt sich Grauen nur in Bildern erzählen, frage ich mich. Weil Sprache irgendwelche Koffer meint, das Bild mir aber jene Koffer zeigt. Innehalten wünsche ich mir, aber das Theater geht weiter. Der Wolf tritt auf, ohne Scham verkündet er, dass diese Maschine ohne sein Zutun funktioniere. Denn das Gesetz lässt sich umschreiben und die Bürokratie setzt das Gesetz um. Wenn es einmal hieß „Du sollst nicht töten!“, so heißt es unter der Vorherrschaft des Wolfs „Du sollst töten!“. Manchmal wird der Wolf jedoch auch angeklagt. Dann flüchtet er meist in einen Dschungel aus Ausreden. Es scheint, als lägen diese Worte für ihn bereit, als lägen die Worte bereit, durch seinen Mund ausgesprochen zu werden: „Ich habe gehorcht. Ich bin den Gesetzen gefolgt. Ich hatte keine Wahl.“ Aber an diesem Abend werden keine Ausreden geduldet: Es ist immer möglich zu handeln. Und so erzählt ein Schauspieler eine Geschichte von einem Mitglied der Heimattreuen Front, der einem jüdischen Mädchen bei der Flucht geholfen hatte. Es sind eben jene Geschichten, die uns daran erinnern, dass hier erzählt wird, um gehört zu werden. Das Stück spielt mit der Zeit: mit Gleichzeitigem, Unchronologischem, aus der Zeit Gefallenem. Hier wird eine Vergangenheit in die Gegenwart gebracht. Es ist diese einzigartige 39
Fähigkeit, die es dem Denken ermöglicht, sich in eine Suchbewegung zu begeben, offen in alle Richtungen. Das AGORA Theater macht einen Umweg, geht vor, um dann wieder zurückzugehen: In welchem Zustand ist die Agora heute? Die Mitte der Stadt kann heutzutage gekauft werden, Wohnungen können dort besessen werden und Büros. Dort gibt es die besten Schulen für die besten Kinder. Diese Kinder werden ausgebildet, um im Parlament unsere Angelegenheiten zu regeln. In der Mitte der Gesellschaft herrscht das Denken, dass Wahlen ausreichen würden, um den Wolf im Zaum zu halten. Hier ist jeder seines Glückes Schmied. Wer es selbst nicht schafft, ist auf die Barmherzigkeit der anderen angewiesen, die für ihn sorgen werden. Aber reicht das? Die kleine Hannah macht sich Sorgen. … kann aber auch wieder mit A beginnen … Auch wenn „Hannah Arendt auf der Bühne“ einem klassischen Sprechtheater gleicht, erschafft es durch die Sprache einen Ideenraum, der mich an viele Grenzen führte, über einige hinweg, vor anderen stehe ich noch. Nach der Aufführung beginnt direkt das Nachgespräch mit einer siebten Klasse aus Hannover. Es werden Eindrücke gesammelt: Handeln ist immer möglich, auch aus einer Minderheitenposition heraus. Ein Mensch ist immer ein Mensch. Auch wenn Hitler nicht direkt benannt wurde, so war klar, um welche Zeit es ging. Lange diskutieren wir über die Rolle von Wolf und Fuchs. Ist der Wolf nur der Vertreter einer Meinung? Oder repräsentiert er nicht ein System, das Ohnmacht schafft? Oder ist er das heutige „Geldsystem“? Diejenigen, die nicht gehandelt haben? Behindert er das freie Denken? Und der Fuchs? Der Fuchs, sagt eine Schülerin, ist die schweigende Mehrheit, die Angst hat. Es ist erschreckend und zugleich ergreifend, wie Jugendliche dieses höchstkomplexe Stück in einfachen Worten wiedergeben, ganz klare Schlüsse ziehen können. Ein Schüler stellt fest, dass wir vielleicht erst verstehen müssen, wann wir selbst als Fuchs oder Wolf handeln. 40
Das Gespräch endet mit der Frage, warum dieses Stück eigentlich für Kinder inszeniert wurde. Die Antwort gibt Hannah Arendt selbst: „Der Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.“ … Hannah … Während ich hier sitze und schreibe, gehen Menschen weltweit auf die Straße. In Chile, Ecuador, Haiti, Irak und Libanon, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Agora, sie ist keine Idee, sie ist materielle, physische Kraft. Nehmen wir Beirut: Hier tragen sich die Proteste seit Monaten im Stadtzentrum zu. Der Stadtkern, Märtyrerplatz genannt, steht an „normalen“ Tagen leer. Parkplätze umrahmen ihn und Hochhäuser umsäumen ihn, Autos durchfahren ihn. Auch wenn die Agora im neoliberalen Zeitalter als Konsum-, Wohn- und Arbeitsraum von den wenigen Wohlhabenden genutzt wird, bleibt sie der Marktplatz der Polis. Sie zurückzuerobern, die Agora in ihrer eigentlichen Funktion wiederzubeleben, ist das erste Ziel. Mohammad Al Attar, ein syrischer Dramatiker, schrieb als Kommentar zu den anhaltenden Protesten in jenen Ländern: „As the son of the crushed Syrian revolution, I don’t have any advice to give to my friends who are protesting everywhere. I can only say that when we took over the streets of Syria against the tyrant and his backers; we knew for the first time the true meaning of dignity, and we felt new and priceless love for each other … Despite all what happened to us later; God knows it is what made us true human beings.“ Es ist genau jenes Gefühl, ein Mensch zu sein, zu spüren, dass ich ein Mensch bin, wenn ich Arendts Worte lese, höre oder sehe. Auch wenn ihr Schreiben von Zeit zu Zeit sarkastisch daherkommt oder sie sich geirrt hat, so sind die Grundpfeiler ihres Denkens eben die Erinnerung an jenes Gefühl: „Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als 41
Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren.“ Denn Menschsein heißt, eine Welt mit anderen Menschen zu teilen. Die derzeit stattfindenden Revolutionen können nicht, sondern müssen im Kontext des neoliberalen, sich global erstreckenden Kapitalismus gelesen werden. Diese Revolutionen sind die Reaktion auf den global zunehmenden Autoritätsgebärden in der Türkei, in den USA, Großbritannien, Indien oder Brasilien. Und zugleich sind sie die Kontinuität früherer Protestwellen und Revolutionen. Denn Menschen beweisen einander immer gegenseitig, dass es Hoffnung auf einen Neuanfang gibt, dass immer und überall Handeln möglich ist. Luna Ali
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Die Gründer sind tot, lang lebe das Gründen Marcel Cremer gründete 1980 das AGORA Theater. Wie viele andere Menschen in jener Zeit verstanden sich Marcel und seine Mitgründer als Kollektiv in der Kontinuität der egalitären und autoritätskritischen Impulse, die nach 1968 den Wunsch nach einer kollektiv gestalteten Welt, realisierbar erscheinen ließen. Doch 1980 hatten sich diese Wünsche bereits zu Schattengewächsen gewandelt, während die Sonne der Individualisierung und marktorientierten Liberalisierung immer stärker strahlte. Der berühmte Ausspruch Margaret Thatchers: „There is no alternative“ wurde zur neuen Maxime jener und auch unserer Zeit. Diese Staatsraison der Alternativlosigkeit hat heute paradoxerweise nicht nur die „Alternative für Deutschland“ und ähnliche Gruppierungen in unterschiedlichen Ländern aufs Parkett gerufen, sondern zu einer Art Mimikry des Aktionismus geführt. So können wir heute Bewegungen erleben, wie etwa die „Identitären“, die mit den Mitteln der Intervention, des Teach-ins oder Happenings, nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern durch die Verwendung dieser Mittel gleichzeitig den Versuch unternehmen, sich die Geschichte der Linken und Praktiken linker Aktionen als Ort und Organ des Protests und der Aufklärung anzueignen. So aufgegriffen, wendet sich die Motivation, eine „andere Welt“ zu schaffen, ins Gegenteil des ursprünglich Erstrebten. Hannah Arendt versteht Freiheit als Begriff, der nur dann verstanden werden kann, wenn man ihn vor dem Hintergrund kollektiven Handelns versteht. Kollektiv heißt dabei nicht: identisch. Sondern im Gegenteil: Weil die Handlungen Verschiedenster an einem Ort zusammentreffen, eröffnet sich dort, durch die gesteigerte Unvorhersehbarkeit der Konsequenzen, ein Ort der Freiheit. An diesem kann eine unentschiedene Zukunft gestaltet werden, in einem ästhetischen, also von vornherein unentschiedenen Sinn. Diesen Ort nennt sie, mit Rückgriff auf die Geschichte der griechischen 43
Stadtdemokratien, „Agora“. Im Gegensatz dazu setzte die in den 1980er Jahren ihren Siegeszug beginnende Orientierung „geistig moralischer Wenden“ das seine eigenen „Gewinnabsichten“ maximierende Individuum auf den Thron der Handlungsmacht. Stichworte wie „Modernisierung“, „Dritter Weg“, „Risikogesellschaft“ etc. dienen seither als Wegmarken gesellschaftlicher Notwendigkeit – unter Ausschluss jeglicher Vorstellung echter Alternativen und wirklicher Differenz. Der Ruf nach der Verantwortung des Einzelnen einerseits und die konsequent durchgeführte Delegitimierung kollektiver Organisationsformen wie beispielsweise Gewerkschaften und selbstverwalteter, egalitär orientierter Theater andererseits ersetzte die Utopien und Hoffnungen, die selbst noch im Moment ihres Verlustes die Kraft entfalteten, Gründungen wie die des AGORA Theaters zu inspirieren. Gleichzeitig waren diese Art Gründungen Versuchsanordnungen – sicher ohne Absicht der Gründer – in der sich das neue, heute „neoliberal“ genannte Arbeits- und Individualitätskonzept erprobte, das der post-fordistische, sich nach 1989 zunehmend globalisierende Kapitalismus, brauchte. Selbstinitiiert, flexibel, die Befriedigung im Prozess erlebend und nicht von einem wie auch immer gearteten Resultat abhängig zu sein: So übten die selbstverwalteten Gründungen der 80er Jahre im soziokulturellen Bereich die neuen Arbeitssubjektivitäten ein, die der „symbolproduzierende“, „postindustrielle“, auf „immaterieller Arbeit“ beruhende Kapitalismus brauchte. Das AGORA Theater ist eine dieser hybriden Kunst- und Politikmonster. Eine der Übungsplätze einer zunehmenden Individualisierung einerseits und einer Aufrechterhaltung protestförmiger Potentiale andererseits. Die zunehmend im Wettbewerb um Drittmittel zu organisierende zentrale künstlerische Arbeit, die unsere Gruppen im Kern definiert, blieb als Hort des Narratives künstlerischer Freiheit innerhalb eines Systems erhalten, das diese Gruppierung dafür bezahlte, eine Art notwendiges Übel zu sein. Notwendig, weil selbst „There is no alternative“ ein Narrativ ist und daher vermittelt werden muss, und sei es im 44
Modus der Kritik. Ein Übel, weil niemand, vor allem keiner, der an der Macht ist, noch an ein Theater als „moralische Anstalt“ glaubt. Also an das Theater als Veränderungskatalysator in einer der Veränderung bedürftigen Welt. 2009 ist Marcel Cremer gestorben. Sein Tod fiel in eine Zeit, in der die Politik letztlich bereits beschlossen hatte, die inzwischen renommierte Gruppierung AGORA Theater auf Dauer zu stellen. Dieses Danaergeschenk – und dessen war sich Marcel Cremer bewusst – diente natürlich auch dazu, durch Strukturförderungen und Salärs Bestandteil der Staatsraison zu werden. Die Institutionalisierung des AGORA Theaters lebte von der Legitimität, die Marcel Cremer geschaffen hatte; aber dadurch, dass er genau zu dem Zeitpunkt starb, als diese Institutionalisierung und Förderung begannen, konnte dem Theater diese Legitimität auch nach dem Ableben des Gründers nicht entzogen werden. Vielen ähnlichen Gruppen und soziokulturellen Gründungen der 80er und späteren Jahre erlebten und erleben es, dass nach dem Tod der Gründer*innen oder Übergabe an die nachfolgende Generation, die Politik die Kürzungen der Förderung damit begründet, dass diese ja an Können und Charisma der Gründer*innen gebunden gewesen sei. In den ersten Jahren nach 2009 war es innerhalb der AGORA ein kollektiver Wunsch, das Erbe, die Errungenschaften, das von Marcel Cremer mit uns Geschaffene zu bewahren und weiterzuführen. Das hat auch sehr gut funktioniert. Die Krisen kamen erst, als nach einigen Jahren kluge und offen sprechende Menschen innerhalb und außerhalb der AGORA, Fragen zu stellen begannen, ob es nicht eher um die Realisierung des Erreichbaren gehen sollte als um die Bestätigung des Erreichten. Ob es möglicherweise nicht vor allem um den Geist einer Gründung, einer Geschichte gehen sollte. Das erste Stück der AGORA 1981 war „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Es wurde von Marcel Cremer nicht zufällig gewählt, sondern sollte den Mangel einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte spürbar machen, 45
jenseits der wohlfeilen Vorstellung, die deutschsprachigen Belgier gehörten zu den ersten Opfern des Nationalsozialismus. Wenn nun der Gründer stirbt, wenn die Gründer in Pension gehen, wenn Neue dazukommen oder schon früher Dazugekommene weitermachen wollen, dann stellt sich oft die Frage nach der Treue zum Errungenen, nach der Kontinuität. Paradoxerweise kann man vielleicht mit den Worten aus „Animal Farm – Theater im Menschenpark“ des AGORA Theaters sagen: „Verrat ist Treue und darum Pflicht.“ Was heißt das? Nun, der Gründer der AGORA, wie auch viele weitere Initiatoren anderer Kollektive im Bereich soziokultureller Arbeit, haben aus einem entgegengesetzten Impuls heraus mit ihrer Arbeit angefangen. Nämlich, um Veränderung zu ermöglichen oder herbeizuführen, um die geltenden Ideologien zu dekonstruieren, um das Bestehende infrage zu stellen. Von diesem Standpunkt aus kann jeder Versuch einer Kontinuität, die sich auf Errungenschaften, Methoden und Erreichtes bezieht, selbst als Verrat verstanden werden. Nicht die Gründer selbst und auch kein Anderer konnten im Moment des Beginnens wissen, wohin ihre Handlungen führen würden. Die Konsequenzen ihres Handelns waren unabsehbar. Vielleicht also geht es bei der Frage nach Kontinuität jeweils um die Frage nach der passenden, heute notwendigen Form der Neugründung. Also darum, nochmals und immer wieder die Risiken und Unvorhersehbarkeiten auf sich zu nehmen, die im Moment des Anfangens sich am Horizont als unerkennbar abzeichnen? Vielleicht geht es darum, zu begreifen, dass es auch im Hier und Jetzt darum geht, jene Mängel zu zeigen, die uns buchstäblich angehen, unsere Zeit heimsuchen, wie einst der Geist des Vaters Hamlet heimsuchte? Diese Heimsuchung verlangt nur eines: den Mut zu handeln. Etwas anzufangen, ohne wissen zu können, wo es endet. Es geht, immer wieder, immer neu, um eins: um Anfänge. Kurt Pothen, Felix Ensslin, Ania Michaelis
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Schlachte nie ein Huhn auf der BĂźhne Ein Lesebuch mit Gedichten und Texten von Marcel Cremer
Einleitung Zu den nachhaltigsten Begegnungen nach 1989 zählt für mich die Bekanntschaft mit Marcel Cremer und mit dem AGORA Theater. In Ostberlin hatte ich mich bemüht, als Dramaturgin am Kinder- und Jugendtheater Brechts Theaterauffassungen durchzusetzen und mich in der Gewissheit um die Vergeblichkeit dieser Versuche Ende der 70er Jahre vom Berufstheater getrennt. Nach dem Fall der Mauer lernte ich Marcel Cremer als gleichgesinnten Theatermann kennen. Ja, das war das Theater, wie ich es mir immer vorgestellt hatte! Die einzigartigen Aufführungen seines Ensembles und der demokratische Umgang miteinander beeindruckten und begeisterten mich. Seither blieb ich diesem Theater verbunden, in dem ich meine künstlerische Heimat fand. So ist es mir ein Bedürfnis, nach dem frühen Tod Marcel Cremers das aus meiner Sicht Aufhebenswerte aus seinem Nachlass für eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten und herauszugeben. Denn seine Arbeit als Regisseur, seine Gedanken und Visionen, die er in Tagebüchern, Artikeln und Reden notierte, gehören meines Erachtens nicht ins Archiv. Sie bieten reichlich Stoff in der gegenwärtigen Debatte der freien Theater um deren Fortbestand und Funktionsweise in unserer heutigen Zeit. Die Geschichte dieser freien Gruppe um Marcel Cremer mit dem sinnstiftenden Titel AGORA (griech. öffentlicher Platz), zu Hause in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, ist mit der Entwicklung der freien Szene in Westdeutschland vergleichbar – die Ähnlichkeiten in den Grundpositionen sind auffällig. Marcel Cremer entdeckte seine Leidenschaft für die darstellende Kunst im Studententheater an der Universität Lüttich, wo er sein Studium mit einer Examensarbeit über Heiner Müller abschloss, den er auch persönlich kennenlernte. Danach trat er seinen Dienst als Lehrer am Bischöflichen Gymnasium in St. Vith an. Hier versammelte er 1980 interessierte junge Leute „auf der grünen Wiese“, wie er selbst sagte, um die bäuerliche Umgebung zu beschreiben, wo er vorhatte, Theater zu spielen mit Spielern und mit Zuschauern. 48
Zeitgleich wuchs die Anzahl der freien Gruppen in vielen deutschen Städten, die sich von den Gründungen nach 1968 in ihrem Selbstverständnis unterschieden. Sie verfolgten keine unmittelbaren politischen Ziele für die Bewusstseinsbildung und „Organisierung der Lohnarbeiter im Sinne einer sozialen Umwälzung“ mehr, sondern strebten danach, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. „In allen gesellschaftlichen Bereichen werden Alternativen zu den herkömmlichen Formen der Produktion und Reproduktion praktisch langgegangen. In dieser Zeit und in diesem Kontext entsteht auch die freie Theaterszene, die anderes Theater, für anderes Publikum in anderen Produktionsweisen entwickelt. Diese Szene wächst bis zum Ende der 70er Jahre bundesweit auf 700 bis 800 Gruppen an, die ein eigenes System mit selbstorganisierter Ausbildung (Workshops), Spielstätten und Produktionskollektiven ausbilden. Dabei sind Selbstorganisation, absolute Souveränität in künstlerischen und organisatorischen Fragen und Kollektivität wesentliche Prinzipien.“1 Für ein Theater, das mit einem breiten Publikum kommunizieren wollte, gewannen die künstlerischen Ausdruckmittel, die Ästhetik des Theaters mehr Gewicht. „Alternatives Theater wird mehr und mehr Lebens- und Überlebenshilfe für Macher wie Zuschauer, für Animateure wie Animierte.2 Der Untertitel „Lebensraum durch Lebenstraum“ des Handbuch zur Praxis des Freien Theaters, verfasst 1983 von Rainer Harjes, könnte auch von Marcel Cremer stammen, zum Beispiel wenn er davon spricht, dass ihn das Theater nicht immer glücklich mache, aber dass es ihm beim Überleben helfe. Um den selbstgestellten Anspruch zu erfüllen, einerseits die gesellschaftliche Relevanz der behandelten Themen zu wahren und andererseits ein hohes künstlerisches Niveau in den Aufführungen zu erreichen, suchte auch er nach geeigneten Arbeitsmethoden, die er in Workshops erprobte und seit 1987 auch auf dem Festival in St. Vith im Austausch mit gleichgesinnten Gruppen aus den benachbarten Ländern suchte. 49
Trotz seiner Selbstständigkeit, über alle Arbeitsabläufe selbst zu entscheiden, verstand sich das AGORA Theater zur damaligen Zeit als Teil einer politischen Bewegung, die für die Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien stritt und sich gegen das „Heim-ins-Reich“-Denken bestimmter Kreise wandte. Die Suche nach der eigenen Identität in Folge der wiederholten Wechsel der Staatsbürgerschaft und die Auseinandersetzung mit verdrängter Geschichte haben in diesem Teil Belgiens einen realen Boden, auf dem auch das AGORA Theater fußt und auf dem es sich zu einem mehrsprachigen künstlerischen Zentrum in Europa entwickelte. Einst eine Grenzregion steht es heute nicht nur geografisch inmitten der Europäischen Union. Die vorliegende Sammlung von Texten, in denen Marcel Cremer seine Ideen notiert, Erlebnisse erzählt, Überlegungen und Arbeitsschritte beschreibt, auch persönliche Zweifel schildert, ist kein Lehr-, sondern ein Lesebuch. Man kann es durch-, vor- und zurückblättern, sich an den Gedichten erfreuen und einem der trefflich formulierten Gedanken zustimmen, ihn bezweifeln oder überschlagen. Ausgewählt habe ich die Texte aus seinen zwölf Tagebüchern, die eine Vielzahl seiner Gedichte und Ideenskizzen zu Inszenierungen enthalten; aus Programmheften, die das methodische Vorgehen in den Proben schildern, aus seinen Reden und Aufsätzen sowie Begrüßungsworten zu den Arbeitstreffen in St. Vith, die seine politische Einstellung und seine Haltung als Künstler wiedergeben. Um die poetische Kraft dieser Texte nicht in einzelne Kapitel zu pressen, die vielschichtigen Aussagen dennoch zu fokussieren, habe ich sie durch vorangestellte kurze Verse des Autors zu bündeln versucht. Was ein Theater tun muss Für den Theatermann Marcel Cremer ist die Bühne nicht nur der Ort der Freiheit, sie muss hier auch behütet und verteidigt werden. Wenn das Theater auch nicht in der Lage sei, die Welt zu verändern, so solle es sie doch wenigstens verbessern. 50
„Wenn die Bühnenbretter nicht die Welt bedeuten, so sind sie der Ort, an dem wir die Welt deuten.“3 Er sieht seine Aufgabe als Künstler darin, die Menschen von ihren Ängsten zu befreien und für gesellschaftliche Vorgänge zu öffnen. Er will seine Stimme erheben gegen das Vergessen und Nachrichten aus der Vergangenheit für die Gegenwart aufbereiten, „gegen gelenkte Werte und gesteuertes Denken“ und das hervorbringen, „was unter der Last des Alltags begraben ist“.4 Für Cremer ist die künstlerische Kommunikation zwischen den Spielern und den Zuschau-Spielern integraler Bestandteil der Inszenierung. Sie ist eine unerschöpfliche Quelle seiner Inspiration. Suche nach dem Du Ich kenne keinen Regisseur, der sich so intensiv mit dem Verhältnis zum Zuschauer im Theater befasst hätte, wie Cremer, der eine so innige Beziehung zu ihm einging, ohne ihm nach dem Munde zu reden oder gar seine Wünsche zu erfüllen. Er suchte das vertrauensvolle Gespräch mit ihm, denn er wollte wissen, „was uns bewegt, wenn wir uns vom Leben bewegen lassen“. Dabei ging es ihm nicht um ein reales Abbild der Wirklichkeit. Er zeigte Menschen mit ihren Nöten, Außenseiter, oft skurrile Typen in zugespitzten theatralen Situationen, die durch die besonderen künstlerischen Räume, die er aufbaute, ihre reale Bodenhaftigkeit erhielten. Auf engstem Raum trafen sich Spieler und Zuschauer zum Erfahrungsaustausch, in dem die individuelle Sicht und Erfahrung angesprochen und im gemeinsamen Erlebnis erweitert oder sogar verändert werden sollte. „Mein Ich und mein spielerisches Du verschmelzen mit dem betrachtenden Du. Das Wir der Masse ist unfruchtbar, anonym, Herde. Es gibt nur das eine ehrliche Wir, Auge in Auge, ganz privat, ganz nah.“5 Sicher plagten ihn auch Zweifel, verließ ihn manches Mal der Mut vor diesem selbstgestellten Auftrag. Wenn er hin und wieder mit seinem Beruf als Regisseur haderte, die Suche nach dem Du blieb sein Lebensinhalt. Sie ist der Anker in seinem persönlichen Leben und in der Theaterarbeit, in der er diese 51
Beziehung zwischen dem Ich und dem Du zur Methode des Autobiografischen Theaters ausarbeitete. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass im Laufe der Zeit der Zuschauer ebenfalls in der Probenarbeit eine immer größere Rolle spielte, selbst wenn er nur unsichtbar anwesend war. Die Arbeitsmethode Die Autobiografische Methode, die zum Markenzeichen des Regisseurs wurde und die er sowohl im Probenprozess als auch in vielen Workshops praktizierte, war für ihn kein „abgeschlossenes System“, sondern eine Wegbeschreibung, die die Richtung vorgab und als Orientierung in der Arbeit diente. Sie entstand aus den Bedingungen einer freien Gruppe, die jeden zur Mitarbeit einlud, der Lust und Interesse am Theaterspielen hatte. Folglich musste zunächst ein Ensemble für ein bestimmtes Inszenierungsprojekt gebildet werden. Das gelang am ehesten an einem fremden und abgeschiedenen, zumeist geschichtsträchtigen Ort, an dem man in der Findungsphase einer Inszenierung gemeinsam lebte und arbeitete. Obwohl sich über die Jahre dadurch ein Stammensemble entwickelte, wird dieses Format beibehalten, weil es ohne Ablenkung die schöpferische Improvisationsarbeit intensiviert. Natürlich beginnt die Arbeit nicht im luftleeren Raum. Im Unterschied zum Biografischen Theater, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten in der westeuropäischen Theaterlandschaft sehr verbreitet hat und die persönlichen erzählten Geschichten von Amateuren als Recherchematerial oder als Texte auf der Bühne benutzt, sind für Marcel Cremer diese Erzählungen seiner Spieler lediglich eine stoffliche Grundlage für die künstlerische Gestaltung, zumal er sie stets an ein Thema bindet. „Natürlich gehen wir mit einem Thema weg. Es wäre furchtbar, wenn jeder mit etwas anderem ankommen würde.“6 Im Gepäck hatte er den Zugriff auf ein Thema, der für ihn nicht nur eine politische, sondern immer auch eine ästhetische Entscheidung war. 52
Und ich möchte behaupten, dass seine Anschauung vom Theater auf seinem Menschenbild beruhte. Er nahm an, dass der größte Reichtum des Menschen seine Biografie ist, die immer auch die Gesellschaft, in der er lebt, spiegelt. Ja, er ging sogar davon aus, dass alle Gestalten der Weltliteratur im Inneren eines Menschen verborgen sind, die zu entdecken und freizusetzen sind. Dieser Beziehungsreichtum ist latent vorhanden, aber im Leben verdeckt, im Alltag vergessen – er soll in einer „Findungsphase“ der Proben wieder zum Vorschein kommen. Ausgangspunkt können verschiedene Gegenstände sein, z. B.: ein Stock, ein Stein, ein Spielzeug, ein Foto, manchmal ein Lied oder ein Gedicht des Autors, wenn er ein eigenes Stück plant. Bei einem vorgegebenen Text beantwortet jeder Spieler die Frage, wie er bei welchen Sätzen andocken kann, mit denen in Improvisationen gespielt wird, wobei dann viele neue Texte in die Aufführung einfließen. Jeder Spieler muss mit geschlossenen Augen herausfinden, was dieses Material in ihm auslöst, welche Geschichten dadurch zutage gefördert werden. Als Bedingung ist gesetzt, dass keine „offenen Wunden“ zur Sprache kommen, sondern die Geschichte der „Narben“ erzählt wird. Denn sie sind für ihn „positive Zeichen der Überwindung“, auch wenn sie in den Körper eingeschrieben bleiben. „Es geht also darum, dass ich Brücken baue zu meiner Vergangenheit und dass es mir gelingt, über diese Brücke die Geschichte ins Jetzt zu transportieren.“7 In dieser Phase ist Marcel Cremer Teilnehmer wie jeder andere auch, denn er will keine therapeutischen Effekte erzielen, sondern erreichen, dass der Spieler der zu schaffenden Figur individuelle Züge verleiht und sich das gewählte Thema zu eigen macht. Bereits in dieser frühen Phase arbeitet er, nun in seiner Funktion als Regisseur, mit Distanz und Nähe, was ja, bekanntermaßen, eine Grundlage für das Theaterspielen generell ist. Hat der Spieler die Nähe gewonnen, ist er bei sich selbst angekommen, ist er in der Lage, Distanz aufzubauen, damit eine Figur entstehen kann. Sie entwickelt sich durch Verfremdungen vom Ich zum Du, zunächst durch Verfrem53
dung des eigenen Namens als Ansatz für eine fiktive Figur, dann im Spiel mit dem Partner und schließlich sogar mit dem vorgestellten Zuschauer. „Das biographische Theater ist ein Theater der Erfahrung. Grundlage der Veräußerung sind intensive Phasen der Sensibilisierung, des körperlichen Erlebens und der unverstellten Begegnung.“8 Auf diese Weise wird die individuelle Geschichte zum Spielmaterial der Gruppe und der Urheber gewinnt durch die gemeinsam durchlebten Stationen Abstand zu ihr, d. h., er gewinnt die Souveränität, aus der Distanz das Verhalten seiner Figur zu zeigen. Das Kriterium dabei ist, den Beziehungsreichtum eines gespielten Menschen sichtbar und deutbar zu machen. Die vorgestellte Anwesenheit des Zuschauers soll die Spieler zusätzlich motivieren im lustvollen Spiel mit ihnen direkt zu kommunizieren. „Die Formel heißt: Wenn ich weiß, wer ich bin, bin ich fähig, auf der Bühne ein anderer zu sein, eine andere Identität anzunehmen. Und wenn ich fähig bin, diese andere Identität anzunehmen, weil ich stark genug geworden bin, auch Schmerzen zu ertragen, Schmerzen einer anderen Identität oder einer Verwicklung, einer Auseinandersetzung, die manchmal eine Kampfposition ist, dann kann da wahrhaftiges Theater entstehen. Und das ist immer gesellschaftsbezogen.“9 Epische Spielweise Was bedeutet für Marcel Cremer „wahrhaftiges Theater“ – ein Begriff der in der heutigen Fachsprache kaum noch vorkommt? Der Spieler soll nicht so tun „als ob“, obwohl er eine Rolle spielt. Der Spieler führt nicht die Rolle vor, er schlüpft auch nicht wie in der psychologischen Spielweise in sie hinein, er zeigt vielmehr im konkreten Handeln die Gedanken und Gefühle einer Figur. Das hat er in den Proben vom Ich zum Du durch die künstlerische Mitwirkung der Partner und die potenzielle Anwesenheit der Zuschauer erfahren und erarbeitet, sodass er bewusst sich selbst und die Rolle in ein sichtbares Verhältnis bringen kann. Und der Zuschauer braucht den 54
gespielten Menschen als Mittler, denn erst die erlebte Differenz zwischen Darsteller und Rolle versetzt ihn in die Lage mit seiner Fantasie, eigene Bilder zu entwerfen und mit seinen Gedanken und Gefühlen dazwischenzukommen, also aktiv mitzuspielen, ohne in der Identifikation mit der Bühnenfigur zu versinken. Auch hier ist der Schlüssel das Prinzip Distanz und Nähe, gewöhnlich herbeigeführt durch den „Bruch“. Spielvereinbarung Als mobiles Ensemble musste das AGORA Theater sich die Bühne selber schaffen, Räume bauen. Ohne feste Spielstätte aus der Not geboren, war es zugleich die künstlerische Absicht, das angestrebte Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Zuschauer entstehen zu lassen. Der künstlerisch gestaltete Ort wird zum Treffpunkt, an dem man sich versammelt, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Damit sich der Zuschauer direkt angesprochen fühlt, wird er eingangs mit seiner Rolle als Mitspieler bekannt gemacht. Das geschieht oft bereits beim Betreten der Raumbühne, in die er sich hineinbegibt und damit auch in eine fiktive Welt. Beispielsweise: „In ‚Jubiläum‘ von George Tabori, einem Stück über aktuelle Naziumtriebe auf einem jüdischen Friedhof, hefteten die Spieler den Besuchern einen Judenstern an die Brust, bevor sie den Friedhof betraten. Dadurch bekamen die Besucher für die Dauer des Stückes eine Identität.“10 Und in der Inszenierung von „Prinzessin Bammel“ versammelten sich dreijährige Kinder um einen großen Tisch. In „Der kleine rote Prinz“ begrüßte der Narr mit einem Trompetensignal die Gäste. Er führte sie in einen verlassenen Schlosshof und bat sie, auf den Tribünen Platz zu nehmen. In der Inszenierung „Der Mann, der die Bäume pflanzte“ überraschte das Publikum durch sein vorzeitiges Erscheinen die „Bühnenarbeiter“ mitten beim Aufbau der Bühne. Es musste, da es nun schon da war und im Halbrund der Traversen sitzen blieb, unterhalten werden. Als Touristen bestiegen die Kinder im „Schwimmenden Nest“ nach Tschingis Aitmatow einen alten Fischerkahn, 55
um während eines Schulausflugs die Geschichte von drei Fischern zu hören, die sich im Sturm verirrten und die dem Jungen mit dem letzten Schluck Wasser, den sie ihm überließen, das Leben retteten. Und in einem alten Dorftanzsaal erzählte die Enkelin in „Pferd aus Blau“ die Geschichten des Großvaters vor seinem leeren Schaukelstuhl. Der besondere Ort Die Suche nach dem besonderen Ort, an dem das Stück spielen sollte, nahm im Probenprozess breiten Raum ein. Der Regisseur sah darin auch den Grund für die lange Probenzeit, die oft neun Monate dauerte. Erst wenn der Ort für die Sätze und die Handlung klar seien, entstünde das Stück. „Nur über den Ort erklärt sich die Inszenierung“.11 „Aber auch im klassischen zweigeteilten Raum gibt es zahlreiche Mechanismen, um das Wir-Gefühl zu erzeugen. Es setzt aber zuerst beim Inszenieren und dann beim Spielen voraus, dass der Zuschauer sichtbar und präsent ist, dass nicht nur für ihn, sondern auch mit ihm gespielt wird, dass er nicht durch die Bühne unterhalten wird, sondern sich von der Bühne mit ihm unterhalten wird. Deshalb heißt Inszenieren, diesen Dialog vorzubereiten. Das Ziel ist, den Besucher vom anonymen, unbekannten Zuschauer zum sichtbaren Mitspieler zu machen. Die traditionelle Theaterauffassung, auf der Bühne entsteht Kunst, auf die das Publikum blickt, tut dies nicht oder nur ungenügend. Die Frage beim Inszenieren von Theater lautet: Wie kriege ich den Zuschauer auf die Bühne? Wie sorge ich dafür, dass er lebendig und präsent ist und bleibt? Wie verhindere ich, dass er im Dunkel des Zuschauerraums oder in der Anonymität des Publikums verschwindet?“ 12 Der Spielplan Die Stücke der AGORA lassen sich weder thematisch noch stilistisch miteinander vergleichen. Dennoch kennzeichnet sie ein innerer Zusammenhang, der sich aus ihrer Theaterauffassung und aus ihrer Arbeitsweise des Autobiografischen Theaters 56
ergibt, wobei die Gruppe keinen Unterschied zwischen den Produktionen für Kinder oder für Jugendliche und Erwachsene macht. An beiden Spielplänen lässt sich die Entwicklung des Ensembles und seines künstlerischen Leiters ablesen und dramaturgisch auf die Formel bringen: Im Verlauf seiner Geschichte verliert der Text in den Inszenierungen seine Vorrangstellung. Er wird nicht interpretiert, sondern mit anderen Künsten, der Musik und der bildenden Kunst vor allem, zu Bildern montiert, wodurch er zu neuer Souveränität und Wichtigkeit gelangt, weil nun auch mit den Wörtern gespielt wird und sie als Metaphern im Bild zur Wirkung kommen. Nicht künstlerischer Ehrgeiz, um originelle Lösungen zu präsentieren, bestimmt die Suche nach der Sprache der Bilder, sondern die Mühe, „das Unvorstellbare vorstellbar zu machen“. Die 80er Jahre – das Spiel ist unsere Waffe Mit dem politischen Bekenntnis: Wo kommen wir her? und: Wer sind wir? erfolgte die Auswahl der Stücke von der Gründungspremiere mit der „Ermittlung“ von Peter Weiss über den ersten Auschwitzprozess in Frankfurt bis hin zur Aufführung von George Taboris „Jubiläum“. Das Ensemble verstand sich als Teil einer politischen Bewegung, die gegen die Verdrängung der deutschen Vergangenheit in diesem Landstrich und die gleichberechtigte Anerkennung als deutsche Minderheit im belgischen Staatsgefüge kämpfte. Zeitgleich begann eine zweite Spielplanlinie mit Aufführungen für Kinder, denn von den insgesamt 37 Inszenierungen richtete sich annähernd die Hälfte auch an junge Zuschauer. Zu ihnen sprach der Autor vor allem als Erzähler und Poet. Bereits die zweite Inszenierung der Gruppe galt diesen Zuschauern. Martha, die Wandertaube, lässt sich im gleichnamigen Stück durch nichts und niemanden und von keiner Grenze aufhalten. In „Der Zauberpinsel“ verhelfen zwei Vögel, dargestellt als kauzige Marionetten, einem armen Waisenjungen zu einem Pinsel, der die Zauberkraft besitzt, den gemalten Figuren augenblicklich reale Gestalt zu verleihen. Das erregt 57
die Begehrlichkeit des Kaisers und seiner Hofschranzen. Sie bringen den Pinsel an sich – und den Jungen ins Verlies. Doch da die Herrschenden im Märchen weder malen können noch Zaubersprüche kennen, lassen sie ihn frei und für sich arbeiten. Als Gegenleistung fordert der Junge für alle Kinder das Recht, malen und schreiben zu lernen. Während diese Erstlinge im Wesentlichen noch der klassischen Form einschlägiger Märchenadaptionen folgten, erscheint die nächste Produktion für Kinder „Schnarchen Steine nachts?“ wie ein dramaturgisches Probestück ihrer künftigen Theaterarbeit für dieses Publikum. Das bezeugte der Autor auch selbst: „Ich möchte versuchen, die Entwicklung des Kindertheaters in der Agora zu verdeutlichen anhand der drei Eigenproduktionen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben: angefangen beim ‚Zauberpinsel‘ über ‚Schnarchen Steine nachts?‘ bis zum gegenwärtigen Stück ‚Schräge Vögel‘. Im ‚Zauberpinsel‘ erzählen wir noch eine lineare Geschichte, auf der Bühne agieren Figuren statt Menschen, wir betonten das Märchenhafte, Fabulöse. Am Ende des Stückes stand mit dem Schlusslied und mit dem Happy End eine deutliche Aussage … Bei ‚Schnarchen Steine nachts?‘ haben wir die lineare Geschichte bereits zerstückelt, obwohl sich eindeutig ein roter Faden durch das Stück schlängelt, haben wir mit Brüchen agiert. Wir sind im Sinne des epischen Theaters von Brecht verfahren. Wir sind aber bereits weggegangen von einer einzigen Ebene auf eine doppelte: Einerseits handeln auf der Bühne Fabelwesen, also Steine und Küken; andererseits waren diese Figuren, es waren keine Charaktere, auch Kinder einer Rasselbande. Das Thema, das dort im Mittelpunkt stand, und zwar das Einander-Kennenlernen, ist ein Thema, das uns dann auch bei ‚Schräge Vögel‘ nicht losgelassen hat. In ‚Schräge Vögel‘ wird keine Geschichte erzählt, es ist eine Bilderfolge.“13 Mantel und Kuckuck, eben jene schrägen Vögel – entfernte Verwandte von Estragon und Wladimir – haben ihr Domizil in einem Müllcontainer aufgeschlagen. Inmitten einer trostlosen, 58
kaputten Stadtlandschaft sitzt Kuckuck angekettet vor dem Fernsehapparat und mampft Kartoffelchips. Sein Mitbewohner kommt mit einem alten Kinderwagen voller Gerümpel, das schon zu irgendwas zu gebrauchen sein wird. Eine aufgehängte Gießkanne eignet sich als Wasserleitung, aus einer alten Wanne kann man Fische angeln, die Leiter in Apfel- und Apfelsinenbäume verwandeln und Gute-Nacht-Geschichten durch zerbrochene Fenster wieder einfangen. Selbst der Container lässt sich – eins, zwei, drei – in einen Flieger umbauen. Alles kein Problem, wenn es nur zwischen den beiden nicht so kompliziert wäre, denn obwohl beide Sehnsucht nach einem Freund haben, finden sie schwer zueinander, brauchen sie diese Spiele mit dem Krempel, um endlich wie die Schwalben fliegen zu können – vorbei an bunten Landschaften (im Diapositiv, gezeichnet von Kindern).14 Die fantasievolle Umfunktionierung, von bekannten Alltagsgegenständen, kindlichem Spielverhalten abgelauscht, bisher Requisit, gewinnt immer mehr an Symbolkraft. Die 90er Jahre – die Welt in Bildern In diesem Jahrzehnt trat verstärkt neben den Regisseur auch der Theaterautor Marcel Cremer auf die Bühne, nicht mit vielen Worten, sie hielt er vorrangig in Gedichten in den Tagebüchern fest, sondern mit sprechenden Bildern. Durch die parabolische Wiedergabe gesellschaftspolitischer Vorgänge, in denen das Individuum sich verhalten und entscheiden muss, erreichten seine Inszenierungen eine gleichnishafte Gültigkeit, die Zeit und Stunde überdauern und im Gedächtnis der Zuschauer haften bleiben. Gegen die gängigen Realismusvorstellungen setzte er einen gesteigerten Realismus – ein Verweis auf Heiner Müller sei mir an dieser Stelle gestattet –, d. h., die Figuren agierten in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang. Den Regisseur bewegte die Frage: Wie und mit welchen Mitteln kann ein Bild entstehen, das der Zuschauer nicht nur versteht, sondern das ihn auch, im wahrsten Sinne des Wortes, trifft, weil es ihn betrifft? Der Zuschauer ist freier, „seine Identität dahinein zu 59
projizieren. Und nicht etwa weil er glaubt: Ich bin genau so, sondern weil er glaubt: Ich bin absolut anders, aber irgendetwas gibt es da, was mit meinen Erfahrungen übereinstimmt … Die Realität wird aufs Spiel gesetzt, indem es die Realität ins Spiel bringt. Spielerisch die Wirklichkeit aufs Spiel setzen; damit hantieren, um sie handhaben zu können.“15 Exemplarisch war in diesem Sinne die Inszenierung „Irgendwo“ nach „Das Märchen vom Wünschen“ von Arthur West 199316: „Die Menschen in ‚Irgendwo‘ bahnen sich ihren Weg durch die Geschichte. Verfolgt von den drei heillosen Königen erleben sie das ständige Nebeneinander von Macht und Ohnmacht, Furcht und Mut, Hoffnung und Verzweiflung, Aufbegehren und Fügsamkeit. Vertrieben sind sie, heimatlos geworden und dennoch beständig auf der Suche nach einem Zuhause. Das einzige, was sie bei sich tragen, sind ihre Koffer und Stäbe. Mit verbundenen Augen auf lange Stöcke gestützt, suchen sie durch das Inferno den Weg, sich zu retten, indem sie sich aneinander festhalten, um dann doch wieder übereinander herzufallen. Denn, so die Botschaft, Gewalt und all das, was der Mensch dem Menschen antut, kommt nicht bloß von außen, es steckt auch in jedem drin. Wer das nicht akzeptieren kann oder sich nicht darauf einlassen will, wird diese Aufführung ablehnen, zumal auch die Ästhetik der Bilder und Szenen beileibe nicht in dem gewohnten Rahmen bleiben. Sie rühren nicht zu Tränen, berühren höchstens, manchmal bis zur Schmerzgrenze, z. B. wenn sich das Feuer in die Seiten eines Telefonbuches frisst, aus dem anfangs die Spieler mit freundlicher Geste den Zuschauern französische und ihre eigenen Namen zugerufen hatten, dann mit nassen Telefonbuchseiten ihre Gesichter bedecken, auf diese Weise sich maskierend, wodurch sie namenlos werden. Ihre langsamen Bewegungen mit dem Kopf setzen sich auf der Leinwand fort, um menschliches Empfinden zu vergrößern. Gegenüber der Grausamkeit der Wirklichkeit, die das Theater mit seinen Abbildern kaum einzuholen vermag und die dem heutigen Menschen schon beinahe alltäglich erscheinen, 60
weil sie ihm täglich per Bildschirm vor die Augen kommen, war mit dieser Aufführung eine Wirkung intendiert, die auch vor der Verletzung der Theaterkonvention nicht Halt machte, um nicht seiner die Grausamkeit verschönenden Ästhetik und seiner gemilderten, weil nur gespielten, Darstellung zu erliegen. Bewusst durchbrach Marcel Cremer die Fiktion und trieb die Handlung bis zur Schmerzgrenze des Erträglichen, und nahm auch Empörung, sogar Ekel als Reaktion in Kauf. In Cremers Inszenierungen sprachen von nun an vor allem Metaphern und Chiffren, um Assoziationen im Zuschauer auszulösen, die er, aufgrund seiner Erfahrung, für sich zu Bildern des Krieges, der Flucht, der Gewalt zusammensetzte. Besonders beeindruckend war eine Vorstellung am konkreten Schauplatz in der belgischen Grenzregion um St. Vith – auf Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Diese Wanderung der Zuschauer unter dem nächtlichen Himmel von Szene zu Szene riss die Erde auf und die unvorstellbare Vergangenheit wurde plötzlich zum vorstellbaren Jetzt.“17 „Irgendwo“, „Pilgrims“ und „Woyzeck“ bezeichnete Marcel Cremer als „Trilogie des Unterwegsseins“, was keineswegs bedeutete, dass sie ihre Herkunft leugneten. „Ich brauche diese Gegend mit ihrem Klima, ihrer Landschaft, mit ihren Kirchtürmen und ihren Stacheldrahtzäunen, mit ihrer verzwickten historischen Situation. Die Stücke müssen hier entstehen. Wir sind ein Teil der Gegend mit dem starken Bewusstsein, wenn wir nicht da wären, wäre diese Gegend ärmer, d. h., man hat mit uns zu rechnen. Und das Gespräch mit den Nachbarn kann sehr wohltuend sein und Bedeutung haben für die Kunst, die wir da erzeugen.“18 So gehört auch der „Stumme See“ 1992 in diese Landschaft. Einige Menschen treffen sich zufällig aus sehr unterschiedlichen Gründen an einem See: Ein älterer Mann, eine Käferforscherin, eine jugendliche Tramperin und ein Fernsehteam. Das Anfangsbild zeigt vor einem, an ein Segel erinnernden weißen Hintergrund eine mit Nessel bespannte Schräge, darauf eine 61
Tuba. Ein alter Mann mit Strohhut verstreicht grüne Farbe, die reichlich unter der Tuba hervorquillt, zu einem Kreis als Ufer. Auf der Suche nach dem seltenen gelben Spuckkäfer malt die Forscherin blaue Fußspuren um den See, spritzen Spuckkäfer ihren gelben Saft auf Land und Leute, färbt die ChemieSeife der Tramperin den See blau, und das grelle Orange der Fernsehleute vollendet die anarchisch-bunte Landschaft, untermalt von der Sprache der Klangbilder, erzeugt auf verschiedenen Instrumenten, den Figuren zugeordnet, die die Worte beinahe überflüssig machen. Im versöhnlichen Schluss wächst aus dem Gemälde ein kleines weißes Haus aus dem Bühnenboden, aus dessen Schornstein Rauch aufsteigt, zu deuten als das Haus des Großvaters, das der See wieder freigibt. Für „Prinzessin Bammel“ wurde ein intimer Raum gebraucht, der dreijährige Kinder nicht einschüchtert oder erschreckt, weil die Spieler zu laut sind. Also setzten sie sich an einen Tisch und behaupteten, diese Fläche müsse ihnen reichen. Darauf waren Kühe auf der Weide, ein kleines Karussell, das sich dreht (Stabpuppentechnik), man kann auf diesem Tisch auch richtig Tee kochen und mit einem Telefonhörer, namens Kabel, einem Wortverdreher, sprechen. Von Prinzessin Bammel lugt zunächst nur der Kopf hervor, und ihr komischer Hut passt ihr besser als die schwere Krone. Auch Koffer, der Reimeschmied aus dem Radio, tritt wie sie erst später mit dem ganzen Oberkörper in Erscheinung. Die Spieler bleiben Teil dieser Landschaft, obwohl auch sie am Schluss davonfliegen wollen. Mit „Prinzessin Bammel“, in deutscher und in französischer Sprache inszeniert, schaffte es die AGORA nach jahrelangem Kampf in der belgischen Theaterszene Fuß zu fassen. Zuvor beachtete kaum einer diese deutsche Truppe in der belgischen Provinz. Nun – 1997 – auf dem jährlich stattfindenden Theaterfestival in Huy, auf dem herausragende belgische Aufführungen prämiert und von Veranstaltern eingekauft werden, errang „Prinzessin Bammel“ den ersten Preis „für die große Kreativität im Umgang mit Sprache für kleine Kinder“. Mehr als 200 Auftritte folgten. 62
Seither gehört auch im allgemeinen Bewusstsein die AGORA zur belgischen Theaterfamilie, alle Inszenierungen werden zweisprachig einstudiert, wobei ihr das „Kunststück“ gelang, die eigene Originalität zu wahren, aber auch das Französische als zu ihr gehörig zu integrieren. Die Zweisprachigkeit ist inzwischen etwas Alltägliches, da Ensemblemitglieder aus allen Landteilen, namentlich aus Brüssel, engagiert sind. Die Inszenierung in der französischen Sprache ist keineswegs nur eine Kopie der deutschen Fassung. Rhythmus und Klang der anderen Sprache setzen naturgemäß neue Akzente und bieten den Spielern durch die Auseinandersetzung mit diesem Text die Gelegenheit neue Facetten ihrer Figuren zu entdecken.
„Prinzessin Bammel“
Das neue Jahrtausend – die Gestaltung von Heimat Um die Zuschauer zu verunsichern und zu desillusionieren griff Marcel Cremer in seinen Inszenierungen der 80er und 90er Jahre oft zu drastischen Mitteln. Diese Haltung des Tabubruchs als „Bürgerschreck“ gab er angesichts der Terroranschläge vom 11. September 2001 und der verlogenen Begründung des Irakkriegs auf. Das Mittel war untauglich geworden, denn er wollte nun vor allem der gesteuerten Meinungsma63
nipulation entgegentreten und gegen die Falschaussagen und Lügen Stellung beziehen. Diese bewusste Irreführung der Öffentlichkeit durch die Bush-Administration, die als Begründung für den Irakkrieg herhalten musste, war für ihn der Anlass, seine bisherigen Inszenierungen zu überdenken. „Bürgerschreck gibt’s nicht mehr, da ist keine Ideologie mehr, die die Welten trennt und Pro und Contra ausgelöst hat. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Zuschauer wollten wir immer erreichen, auch wenn er sich manchmal geschlagen oder angespuckt fühlte. Die Absicht war, die Fiktion zu durchbrechen. Die dadurch entstandenen Reibungen sind weg, von ihnen ist keine Energie mehr zu beziehen. Angesichts der allmächtigen, nicht fassbaren Widersacher stelle ich so viel Energielosigkeit fest, die dazu führt, dass man sich gegenseitig klein macht. Das muss verhindert werden. Man darf sich mit diesen Übergrößen nicht arrangieren und woanders die Konflikte suchen, damit das Leben spannend und abwechslungsreich bleibt. Das ist unmoralisch. Die Kreuzritter von heute haben Namen und Adresse. Wir haben also genug zu tun. Es geht um Gestaltung von Heimat. Wir sind so heimatlos geworden. Darauf darf man sich nicht einlassen. Wenn wir hier nachgeben, dann sind wir nicht mehr auf der Suche nach einem Irgendwo. Dann sind wir auf dem Rückzug, den ich ganz stark in der Kunst spüre: Rückzug in die Klassik, in die Psychologie, in die Intimität, in die Seele, in die Häuslichkeit, in das kleine Glück.“19 „Der kleine rote Prinz“. Eingeladen, an einem europäischen Theaterprojekt zum Thema Zeit in Berlin 2000 teilzunehmen, beschrieb Marcel Cremer seine Anfangsidee: Er könne sich ein Gemälde vorstellen als Symbol eines eingefrorenen Augenblicks. Die Zeit davor und die Zeit danach und Farben könnten ihn inspirieren. „Wie im ‚Stummen See‘ wurden Farben das wesentliche Mittel für die Erzählweise der Geschichte. Der See, zunächst eine weiße Fläche, verfärbt sich je nachdem, wie die einzelnen Figuren mit ihm umgehen. Die den Personen zugeordneten 64
verschiedenen Farben zeigen nicht nur ihr Verhältnis zur Natur, sie geben auch Auskunft über ihr Temperament und ihr Verhalten. Da aber der See am sicheren Ort ist – still ruht der See – gewinnt der Zuschauer die Zuversicht, dass seine Verschmutzung und Nutzung durch den Menschen vorübergehender Natur ist. Die Harmonie einer Landschaft bleibt davon letztendlich unberührt. Das ist im ‚Kleinen roten Prinzen‘ ganz anders. Die Farbe wird zum expressiven Ausdrucksmittel, vielfach gebrochen im Spektrum menschlicher Gefühle zwischen Sehnsucht, Liebe, Leidenschaft, Hass, Machtbesessenheit, das nicht nur die Menschen aus nächster Nähe umtreibt, vielmehr die Welt zerstören kann. Dabei beginnt alles ganz friedlich wie im Märchen … Im Verlauf der Geschichte findet der kleine rote Prinz in seinen roten Cowboystiefeln gefallen an der Macht. Er erhebt sich, das Bodentuch kleidet ihn wie ein Königsmantel und befiehlt seinen Untertanen. Da aber kein Volk da ist, soll es ihm gemalt werden. Die Schwestern skizzieren die Köpfe einzelner Zuschauer. Gönnerhaft winkt der König den Bildern zu. Aber die Untertanen winken nicht zurück. Er verlangt, sie zu töten, begibt sich auf den Turm und unter Trommelwirbel ergießt sich ein großer Eimer voll roter Farbe auf die Bühne. Die Schwestern, über und über mit roter Farbe begossen, so dass sie nichts mehr sehen können, wischen und verwischen auch die gemalten Zuschauerköpfe. Sie erwischen den Narren und lassen auch sein Gesicht mit Farbe erblinden. Der Prinz sitzt allein auf seinem Schaukelpferd, einsam klingt sein Ruf nach seinem Vater, während die Schwestern verloren am Boden in der Farbe hocken und ihre Mutter vermissen. Da endlich steht die Königin auf, nimmt Lappen und Wasser und befreit den Prinzen von der Krone und wischt ihm die Farbe aus den Augen.“20 Sehen lernen sollten auch die Zuschauer in dieser immer undurchschaubarer werdenden globalisierten Welt, in der auch die Feindbilder in ihren Umrissen nebulöser und kaum noch fassbar sind. Wie die Theaterarbeit fortan mit dem Le65
ben verbinden, um den Zuschauer gemäß der eigenen Maxime „auf die Bühne zu holen“? Marcel Cremer griff zu dem bisher schon praktizierten Mittel der Verfremdung, das den gedachten und gemeinten Zuschauer einschloss, und handhabte es konsequent auf den unterschiedlichen Daseinsebenen von Realität und Fiktion bei den „Kreuzrittern“. „Der Betrachter wird aus seiner identifikatorischen Position der Bewunderung vertrieben und sieht sich plötzlich einem Problem gegenüber, für das es keine individuelle Lösung gibt.“21 Schon der Titel „Die Kreuzritter“ mit dem historischen Verweis assoziiert „Kriegshelden“, die mit höherem ideologischem Auftrag missionarisch ihre Verbrechen verbrämen, damals wie heute. Vorlage für die Form der Inszenierung war die sogenannte Event-Kultur, die mit oberflächlicher Unterhaltung, mit „viel Gesang und Musik“ das Publikum anlockt, hier allerdings mit einem konträren Inhalt: Die Leiterin des Hospizes „Sankt Johanna“, Mama Zara, hat das Publikum zu einer Benefizveranstaltung eingeladen, um im Namen Gottes und für die gute Sache Spenden einzuwerben. In der bekannten Dramaturgie eines Nummernprogramms führt sie die von ihr erfundenen Heilmethoden vor, die geeignet erscheinen, die kriegsversehrten Patienten wieder kriegstauglich herzustellen. Die erste Nummer ist die Tränentherapie. Sie verfolgt den Zweck, dass die Patienten ihre Gefühle kennen lernen. Mit der Rhythmustherapie sollen gruppendynamische Prozesse ausgelöst und die Konzentration angeregt werden. In der Gummitherapie werden den Patienten Porträts verwundeter Soldaten gezeigt, die sie mit Hilfe von einfachen Haushaltsgummis, die sie über ihr Gesicht spannen, nachstellen. Geschichten erzählen, um die grauenhaften Kriegserlebnisse zu vergessen, sollen sie anhand der Fotos über die ehemaligen Kameraden berichten. Während der Therapie Ausdruckstanz, die helfen soll, im Körperkontakt Aggressionen zu überwinden, kommt es beinahe zu einer Vergewaltigung. Die Kugeltherapie ist ein „Spiel“. Da diesen Soldaten der Heldentod 66
nicht „vergönnt“ war und sie sich deshalb als „minderwertig“ empfinden müssen, werden in einer lustigen Nummer mittels roter Klebestreifen Schussverletzungen markiert. Anhand der „Finalschüsse“ erläutert die Oberschwester die verschiedenen Arten zu sterben. Als Belohnung fürs brave Mittun dürfen die Kranken Mama Zara ebenfalls mit roten Streifen bekleben. Die sechste Therapie ist auf höchstem technischen Niveau: die Traumtherapie. Einer der Patienten wird in Schlaf versetzt. Ein Film zeigt in einer Montage Kriegsbilder quer durch die Zeiten, in der auch die grünen Bilder des „sauberen Kriegs“ vorkommen. Man möchte sagen, hier heiligte buchstäblich der Zweck die Mittel, dabei fällt auf, dass es gebräuchliche Theatermittel sind, wie sie auch in Schauspielschulen gelehrt werden: Stimm- und Körpertraining, Ausdruckstanz, Geschichten erzählen und analysieren, sich in Rollen verwandeln, Sterben glaubhaft darstellen und musikalische Unterweisung. Dass das Theater mit sich selbst spielt, ist auf heutigen Bühnen nicht mehr ungewöhnlich, die Aufführung der „Kreuzritter“ bietet ein Beispiel, zu welchem Zweck man das tun kann. Auch die motivische Adaption klassischer Dramen ist längst gebräuchlich und dennoch ist Marcel Cremers Zugriff auf Shakespeares „Hamlet“ und seine dramaturgische Bearbeitung einer Betrachtung wert. „Wanted Hamlet“ entstand in enger Beziehung zu den „Kreuzrittern“. Das beginnt bereits mit der Entscheidung, den Ort des Geschehens in den wilden Westen zu verlegen, der von einer machtgeilen Gangsterbande beherrscht wird. Marcel Cremer bezeichnete „die größte Tragödie der Weltliteratur“ als das „wichtigste Absatzprodukt der globalen Unterhaltungsindustrie, das alle Theaterformen und -strukturen bedient“.22 Also nahm er sich die Freiheit, sich in einer eigenen Lesart und nach seinem Gusto diesen „Warenartikel“ anzueignen. Er schlägt sich auf die Seite der Figuren, die nicht, wie in dem berühmten Stück nach einem Autor suchen, sondern sich dem allabendlichen Bühnensterben widersetzen. Sie rebellieren gegen das Gefängnis der Wor67
te des Autors Shakespeare, aus denen sie sich vergeblich zu befreien versuchen. „Sie wollen ihre eigenen Autoren sein, sich gestatten, sich selbst zu formulieren.“23 Bewaffnet mit ihren Gitarren, weiß uniformiert, treten die sieben Spieler aus ihren weißen Zelten um zwischen Country-Liedern über das jeweilige Einzelschicksal jeder Figur chorisch zu berichten: „Wir sind …“. Beziehungslos agieren sie nebeneinander, ein Miteinander finden sie nur im Tode. Hamlet schildert in einem Monolog, in welcher Umgebung er aufwuchs, mit sieben Monaten, sieben Jahren und als Jugendlicher. „‚Wanted Hamlet‘ ist die Suche nach der Identität von H. ‚Wanted Hamlet‘ sucht in dessen Kindheit und Jugend nach den Gründen seines Seins und Nichtseins …Wir dechiffrieren sein Schicksal. ‚Wanted Hamlet‘ ist eine Reflexion über H. ‚Wanted H‘ ist die Frage nach Bedeutung und Verantwortung der Kunst für das Leben.“24 Diese Konzeption mutet wie die Kurzfassung seiner Arbeitsmaximen an, wobei die Suche nach der eigenen Identität immer mehr ins Zentrum seines Schaffens rückte. Wenn er meinte, dass „Hamlet der Zwillingsbruder Shakespeares in der Fiktion“ sei, so möchte ich ergänzen, dass es da auch noch einen dritten Bruder gab – Marcel Cremer –, der auf die Frage, warum er „Wanted Hamlet“ inszeniert habe, antwortete: „Der Junge wollte immer Cowboy sein. Der Mann wollte einmal Hamlet sein. So kam es zustande.“25 „Heimat ist der Augenblick, in dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen.“26 Auch meldete sich in diesem seinem letzten Lebensjahrzehnt der Dichter stärker zu Wort, der seine Poesie inniger mit seiner eigenen Biografie auch auf der Bühne verband. Bereits als Kind und auch später – ein Leben lang – schrieb Marcel Cremer Gedichte, eine Auswahl aus seinen Tagebüchern ist in diesem Lesebuch erstmalig veröffentlicht. Aus vielen spricht die enge Verbundenheit mit seiner Heimat, aber auch sein gebrochenes Verhältnis zu ihr. Davon zeugt die Liebe zum Wald einerseits, den er öfter mit seinen Spielern als inspirierenden Ort am Anfang einer neuen Inszenierung 68
besuchte, und anderseits sind da die „Unglücksraben“ im Urteil der Dorfbewohner, die Symbol und Ausdruck für die teils unbarmherzige Härte des bäuerlichen Zusammenlebens sind, das weit entfernt ist von jeder ländlichen Idylle. Diese freien schwarzen Vögel, die zu „Sündenböcken“ gemacht und als vogelfrei erklärt werden, schilderte der Autor in Gedichten und Liedern als Sinnbild für Spießertum und unterschwellige Gewalt in dörflicher Enge sogar in zwei seiner Stücke: „Die Rabenfrau“ und „Die Rabennacht“ 2002. Doch dieses Dorf steht vor allem für eine barbarische Welt, in der der Einzelne sein menschliches Empfinden bewahrt und gegen die brutale Tristesse, egal an welchem Ort er sie in Cremers Stücken antrifft, aufbegehrt und sich in aller Bescheidenheit dagegen wehrt. Hier mag auch die Lebensgeschichte seines Großvaters für Marcel Cremer prägend gewesen sein, den die Politik mal auf die eine, mal auf die andere Seite schlug. Er sah in diesem Einzelschicksal, wie sich das Europa zweier Weltkriege wie in einem Brennglas spiegelte, wie äußere Umstände ein Menschenleben tiefgreifend beeinflussen. „Vielleicht habe ich in den Stücken, die ich mit meiner Gruppe entwickle, letztendlich nur eine einzige Geschichte zu erzählen: meines Großvater.“27 In dem anrührenden Stück „Das Pferd aus Blau“ nahm er das Lebensmotto seines Großvaters: „Zwischen Schaukelpferd und Schaukelstuhl, das ist das Leben“ als Grundeinfall für seine Inszenierung. Der Schaukelstuhl auf der Bühne bleibt leer, aber ein Mädchen, das immer alles verliert: die Brille, den Schal und auch den Großvater, hat eines behalten, seine Geschichten, die es überall fand: „In den Wolken. Am Horizont. Auf dem Felde. Auf der Straße. Im Straßengraben. Unter einem Stein. Unter seinen Schuhen. In seinen Schuhen. Im Kopf …“ Am Ende der Aufführung stehen zwanzig Schauschaukelpferde auf der Bühne, auf denen die Zuschauerkinder schaukeln – ganz sicher mit der ihnen gemäßen zukunftsfrohen Lebenserwartung. „Heute gucke ich mehr nach vorn, weniger, was lasse ich hinter mir. Wie entsteht Zukunft? Welche Chancen lassen sich entdecken?“28 Und er entdeckte diese Chance in einer wahren 69
Geschichte über einen „französischen Schäfer aus der Haute Provence, einem Analphabeten, der durch seine Beharrlichkeit eine ganze Landschaft zum Blühen brachte, indem er beim Hüten der Schafe mit einem Eisen Löcher in den steinigen Boden bohrte und Samen hineinlegte. Hundert Samen am Tag über dreißig Jahre lang. Am Ende seines Lebens war das Leben zurückgekehrt in die Steinwüste. Ein Einzelner kann etwas bewirken“.29 Und er setzte Lehrer Lampe, den die Waldbewohner wegen seiner unorthodoxen Lehrmethoden zu Tode hetzen, 2004 ein Denkmal in „Mein erster Lehrer“. Er kleidete diese Geschichte in die literarische Form einer Tierfabel, wodurch dieses Einzelschicksal für alle Lehrer steht, die sich von den Machthabern nicht domestizieren lassen, ihre Schüler nicht nach deren Willen abzurichten, sondern zu unterrichten und damit Gefahr laufen, Beruf, Ehre oder gar das Leben zu verlieren. Da diese Form aufgrund seiner einfachen didaktischen Vorgänge und seiner moralischen Lehre am Schluss höchstens als Erzählung in einer dramatischen Handlung auf der Bühne gebräuchlich ist, erlaube ich mir, etwas näher zu betrachten, wie Marcel Cremer dieses Genre dramaturgisch behandelt. Den Anstoß gab ihm vermutlich ein Zitat von Martin Luther: „Alle Welt hasst die Wahrheit, wenn sie einen trifft. Darum haben weise hohe Leute die Fabel erdichtet und lassen ein Tier mit dem anderen reden, als wollten sie sagen: Wohlan, es will niemand die Wahrheit hören noch leiden, und man kann doch der Wahrheit nicht entbehren, so wollen wir sie schmücken und unter einer lustigen Lügenfarbe und lieblichen Fabel kleiden.“30 Für Marcel Cremer ist die „lustige Lügenfarbe“ das Spiel mit den Ebenen, die er immerzu bricht, mal handelt die Szene unter Menschen und wechselt in die Tierwelt, und umgekehrt: „Lehrer Lampe ist einerseits ein Hase, andererseits trägt er einen braunen Wollpullover, hat Schuhgröße achtundvierzig und isst gern Möhren, weshalb er den Spitznamen Meister 70
Lampe bekam. Durch die alte verlassene Waldschule treibt der Wind das Herbstlaub – unter ihm kommen zwei junge Frauen zum Vorschein: Viktoria und Katharina, die eine ist heute Krankenschwester, die andere Lehrerin. Um erkannt zu werden, haben sie ihre Kinderbilder mitgebracht. Sie setzen sich wie früher nebeneinander und erinnern sich angesichts der alten Schulbänke an die Namen ihrer Mitschüler. Aber wo bleiben sie? ‚Tot. Erschossen. Alle tot. Und er? … Auf der Jagd erschossen. Fell über die Ohren, mariniert in Rotweinsoße, gebraten, gegessen.‘ Für einen Augenblick sind die Zuschauer in der Tierwelt, die sie bei Katharinas Erzählung über ihre Klasse wieder verlassen können, aber nicht lange. Hundegebell der Treibjagd verwandelt sie in Angsthasen. Der Lehrer riet ihnen damals, durch das Versprühen eines fremden Geruchs die Hunde auf eine falsche Fährte zu locken. Katharina tut es. Ihre Erinnerungen an ihn halten sie fest: Sie spielen Schule, Sprachlehre: Aus zusammengesetzten Worten bilden sie Imperative: Wühl Maus! Lach Möwe! Schaukel Pferd! Schnatter Ente! So geht es fröhlich weiter, bis das verbotene Wort fällt: Platz Hirsch! Das gilt als Beleidigung des Präsidenten des Waldes. Im Naturkundeunterricht wurde es noch schlimmer. Viktoria erzählt, Katharina hält sich die Ohren zu: Es ist die Geschichte über einen Hasen, der einen brutalen Hirsch auf einen vermeintlichen Konkurrenten hetzt, auf sein eigenes Spiegelbild im See. Der Hirsch ertrinkt. Die Vorsitzende des Elternrates Frau Specht verwarnt Lehrer Lampe. Bis zu diesem Moment wechselt die Geschichte zwischen den Erzählungen und dem Spiel der Mädchen. Die Grundstimmung ist heiter, sie wird getragen von der Wiedersehensfreude der beiden Freundinnen, die sich auch über frühere Meinungsverschiedenheiten amüsieren. Nun treten die Gegenspieler selbst im Maskenspiel der beiden Darstellerinnen auf den Plan. Lampe, der seine Eltern und die Hälfte seiner Schüler in der vorangegangenen Jagdsaison verlor, bittet den Hirsch, den Friedensvertrag, in dem man die Jagd auf eine Saison 71
im Herbst festlegte, mit den Menschen neu zu verhandeln. An den alten Gesetzen ist nicht rütteln, er wird abgewiesen und bedroht. Seit diesem Tag ist der Lehrer verändert. Er liest die Nächte durch, trinkt Rotwein und kommt ins Gerede, indem man seine Grenzüberschreitung aus eigenem Willen, ‚zur Schrulle, zum Spleen, zur Nervensache degradierte‘. Seine ehemaligen Schülerinnen versuchen darzustellen, wie einer verrückt wird. Doch Lehrer Lampe gibt nicht auf, er rüttelt vergeblich an den Türen, um die Leute zu warnen. Er lässt auf dem Schulfest ein verbotenes Lied über den tödlichen Frieden singen und wird fristlos aus dem Schuldienst entlassen. Er dreht einen Film über das ‚Reh im Herbst‘, den die Spielerinnen auch dem Publikum nicht vorenthalten. Wieder ist auch ein verbotenes Lied zu hören. Der Hirsch durchbohrt sein Ohr, die Menge tobt. Lampe schleppt sich in seinen Bau, tagelang hat er geweint, Selbstmordversuche unternommen, bis man sich seiner entledigt, indem man ihn in der Fuchsfalle des Bauern fängt, aus dessen Küche am nächsten Tag der Geruch von Hasenbraten übers Feld zieht. Unter den Dielen des Fußbodens finden die beiden Frauen das im Glas mit Alkohol von den Kindern einst verwahrte Ohr und beschließen, es zu beerdigen. Nach jüdischer Sitte wollen sie ihm ein Buch beilegen und entdecken hinter der Bücherwand die Kinderbilder ihrer Mitschüler. Sie reißen die Bücher, die kunstvoll aufgeschichtet die ganze hintere Bühnenwand bedecken, herunter. Sie geben immer mehr Bilder von Kindern frei. ‚Er hat sie versteckt. Vor den Jägern, vor den Hunden.‘ Die Kinder im Zuschauerraum sehen auf eine riesige Wand von Kinderbildern, Foto an Foto von ihresgleichen. Ein unvergesslicher Augenblick. Das Theater macht nicht immer glücklich, aber es hilft mir beim Überleben. Das ist die geringste Formel. Eigentlich will ich auch mehr. Ich will Leben. Ich will Leben gestalten. Ich will Leben erzeugen, dann bin ich existent.“31
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Ich-Geschichten Der Gedanke, dass dieser Lehrer Lampe ein naher Verwandter seines Autors ist, liegt auf der Hand. Nicht nur weil Marcel Cremer von Hause aus den gleichen Beruf erlernt hatte, vielmehr liegt diese große Ähnlichkeit in seinem Verhalten. Dieses „Mein“ im Titel meint ihn selbst. Und der erste Lehrer war er für viele junge Leute, die er um sich scharte, damit sie mit ihm Theater spielten. Zumeist unerfahren in diesem Beruf lernten sie im Zuge einer Inszenierung, sich selbst näher kennen und wie nebenbei auch das nötige Grundwissen für den Schauspielerberuf. Die Methode des Autobiografischen Theaters ist die Lehre eines guten Pädagogen, die beim Tun die „Mitwirkenden“ ermuntert und befähigt, aus sich heraus zu gehen und ihre kreativen Potenzen zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen. Marcel Cremer liebte seine Spieler und sie dankten es ihm mit Zuneigung. Unter jeder Trennung litt er, er empfand sie als Verlust. Selbst in kurzen Notizen in Vorbereitung für seine Workshops hielt er zuerst die Vornamen der Teilnehmer fest. Damit auch der Leser dieses Buches spüren kann, wie eng und vertraut das schöpferische Zusammensein und das gemeinsame Arbeiten verlief, habe ich Ensemblemitglieder gebeten ihre Erinnerungen aufzuschreiben, um einen Eindruck über einzelne Probenprozesse wiederzugeben. Die Begründung für das schöpferische Miteinander im Ensemble ist sicher in autobiografischen Geschichten zu suchen, zumeist waren es Geschichten aus Kindertagen, die man sich anvertraute. Das waren keine individuellen Beichten, sondern Erzählungen, vorgetragen in dem Bewusstsein, sie für die gemeinsame Arbeit zur Verfügung zu stellen. Damit waren sie von Anfang an Teil des künstlerischen Prozesses, an dem auch der Regisseur als Gleicher unter Gleichen mit seinen Erinnerungen beteiligt war. Diese Praxis hielt er auch in seinen zahlreichen Workshops bei, sodass diese kleinen Erzählungen lebendige Zeugnisse sind, über sein Dorf, seine Familie und seine Erlebnisse als Kind. Private Einträge sind in den Tagebüchern 73
rar, es sind vor allem Gedichte, in denen er seine Gedanken und Empfindungen wiedergab. Sie bilden, neben einigen Notizen, vor allem den zweiten Teil des Buches, wobei ich mich davon leiten ließ, ein Bild seiner Persönlichkeit zu entwerfen und davon, welche Rückschlüsse sich auf seine Theaterarbeit erahnen lassen. Zu diesem Bild gehört auch sein harter Kampf um ein eigenes Haus, denn dreißig lange Jahre spielte das AGORA Theater in St. Vith in Schulen. Endlich, im Oktober 2009, konnte es in das neu erbaute Kulturzentrum „Triangel“ als Untermieter einziehen. Zur Eröffnung präsentierte Marcel Cremer eine Reihe seiner Inszenierungen. Es wurde eine Theaterernte der besonderen Art, denn er war bereits schwer krank. Ich erinnere mich, wie er in dem nüchternen Vorraum einen musikalischen Auftakt ausprobierte, um mit einem warmen Klang, anstelle eines Klingelzeichens, die Zuschauer zur Vorstellung einzuladen. Und die St. Vither kamen, vielleicht war sogar Toni unter ihnen. Am Ende der Vorstellung der „Kreuzritter“ erhoben sie sich von ihren Plätzen und spendeten lange Beifall. Dann, als einer der letzten verließ Marcel Cremer den Saal, an der Tür blieb er stehen und schaute zurück. Heute trägt der Saal seinen Namen. Sein letztes Stück, „Der König ohne Reich“, konnte er nicht vollenden. Es kam dennoch erfolgreich zur Welt. Das Ensemble hat die Zeit nicht bloß überdauert, es hat sich ohne ihn auf den Weg gemacht. Es ist wieder unterwegs. Der Standort „Triangel“ ist keine Niederlassung, sondern um es mit den Worten Marcel Cremers zu sagen: „Es ist unser Heimathafen. Da sind wir verankert. Und da lichten wir die Anker, um immer wieder zu neuen Ufern aufzubrechen. Der neue Ort sagt uns, dass wir nicht nirgendwo sind, sondern irgendwo.“32 Christel Hoffmann
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Danken möchte ich vor allem Viola Streicher, Helga Kohnen und Dirk Wiefel für die Transkription der handschriftlichen Texte aus den Tagebüchern und für ihre hilfreiche Begleitung bei der Erarbeitung des Manuskripts. Darüber hinaus gilt mein Dank Daniela Scheuren, Fatma Girretz, Christiane Hommelsheim, Viola Streicher, Katja Wiefel, Roland Schumacher, Matthias Weiland, Tina Jücker und Claus Overkamp für ihre Erinnerungen an die Probenarbeit mit Marcel Cremer, die sie freundlicherweise für dieses Buch aufgeschrieben haben. Die Texte zu den gegenwärtigen Inszenierungen im ersten Teil des Buches verantwortet allein die künstlerische Leitung des AGORA Theaters.
1 Henning Fülle in seiner Korrespondenz mit Christel Hoffmann 2 Henning Fülle: Freies Theater, 2016, S. 190 3 Eröffnungsrede zum Theaterfest 1990. Vgl. S. 84 4 Marcel Cremer in einem Interview mit der Herausgeberin am 5.10.2005 5 Marcel Cremer: Ich lese gerade „Das entfesselte Theater “, Tagebuchnotiz 6 Marcel Cremer: Gespräch mit Emile Lansman, in: Agora Stücke 8–16, S. 8 7 Marcel Cremer in einem Interview mit der Herausgeberin am 5.10.2005 8 Marcel Cremer: Autobiografisches Theater „Mein Ich und mein Du“, Einführung zur Theaterwerkstatt, Frankfurt/Main 1997 9 Marcel Cremer: Autobiografisches Theater, S. 5 10 Tagebuchnotiz zu „Jubiläum“ 11 Marcel Cremer in einem Interview mit der Herausgeberin am 5.10.2005 12 Marcel Cremer: Das Sehen lernen, Referat vor Pädagogen aus Luxemburg im Rahmen des Schultheaterfestivals „Spring auf!“ am 27.5.2004 13 Marcel Cremer: Gutes Kindertheater ist immer auch gutes Erwachsenentheater. Interview mit Werner Keutger, in: GrenzEcho vom 14.12.1991 14 Christel Hoffmann: Irgendwo. Beschreibung der Aufführung, in: spiel – raum – theater, 2006, S. 109 75
15 Benno Besson: Theater spielen in acht Ländern, 1998, S. 142 16 Arthur West wurde 1922 in Wien als Arthur Rosenthal geboren. 1939 emigrierte er nach England und arbeitete dort u. a. als Jugendfunktionär der österreichischen Emigrantenorganisation. In diesem Kontext veröffentlichte er seine ersten Gedichte. Sein Freund Erich Fried war1943 Trauzeuge bei seiner Heirat mit Edith West, deren Namen er annahm. Als freiwilliger Soldat der britischen Armee nahm er an der Landung in der Normandie teil. 1946 kehrte er mit seiner Frau nach Wien zurück, wo er bis zu seinem Tod 2000 lebte, mehrere Gedichtbände veröffentlichte und als kulturpolitischer Redakteur der Volkstimme bekannt war. 17 Christel Hoffmann: Irgendwo. Beschreibung der Aufführung, in: spiel – raum – theater, 2006, S. 110 18 Ebd., S. 111 19 Marcel Cremer in einem Interview mit der Herausgeberin am 5.10.2005 20 Christel Hoffmann: Irgendwo. Beschreibung der Aufführung, in: spiel – raum – theater, 2006, S. 116 21 Bernd Stegemann: Lob des Realismus, 2015, S. 131 22 Marcel Cremer: Wanted Hamlet. A Western W. Shakespeare. Programmheft, 2008 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Siehe S. 265 26 Marcel Cremer: Heimat ist ein Verb, in: Der unsichtbare Zuschauer, 2006, S. 38 27 Gespräch zwischen dem Verleger Emile Lansman und Marcel Cremer, in: AGORA Stücke 8–16, 2009, S. 43 28 Marcel Cremer in einem Interview mit der Herausgeberin am 5.10.2005 29 Marcel Cremer: Der unsichtbare Zuschauer, 2006, S. 243 30 Martin Luther. In Marcel Cremer/Daniela Scheuren: Pädagogische Begleitmappe. Mein erster Lehrer 31 Christel Hoffmann: Mein erster Lehrer, in: spiel – raum – theater, 2006, S. 119 32 Marcel Cremer: Vorwort, in: Agora Stücke 1980 – 2010
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I.
Die der Die ist der
Bühne ist der Ort Freiheit. Bühne der Hort Freiheit.
Auf ein Wort1 Theater ist die Unverschämtheit, in die Stille des Waldes aus voller Brust seine Namen zu rufen. Theatermenschen sind Störenfriede, Schreihälse, Marktschreier, unverschämte Gesellen. Sie suchen sich eine Lichtung, sie stellen sich auf Baumstümpfe, sie steigen auf einen Stapel Holz für den Winter oder einen Hochsitz, oder sie klettern in die höchste Tanne. Diese Orte nennen sie dann „die Bretter, die die Welt bedeuten“ und rufen laut und unüberhörbar: „Ich bin. Hört her, es gibt mich. Ich existiere.“ Sie wecken alle Tiere des Waldes, sie verschrecken Liebespaare, die in sich versunken, im Moos liegen, sie lassen den Jäger fluchen, der auf das Reh zielt, der einsame Wanderer hält einen Moment inne und lauscht. Der Wald hält eine Sekunde den Atem an. Durch den Ruf wird der Wald einen Moment zur Bühne. Durch den Ruf wird die Welt einen Moment zur Bühne, um sofort wieder Welt zu sein. Theater ist ein Schock, ein Schreck, ein Atemanhalten, ein Augenaufschlag, ein Verharren im Augenblick. Dann geht und fließt alles weiter, für Theatermenschen in der Hoffnung, dass der Schrei den Wald verändert hat. Im Wald ist ein Wort unendlich viel mehr als endloses Quasseln, blindes Herumtappen oder nervöses Gegacker. Wir kennen die Waldbesucher, die in Horden, bekleidet mit bunten Anoraks, alles niedertrampeln, das Kofferradio auf volle Lautstärke gedreht, die Zigarettenschachteln und Bierdosen achtlos wegwerfen oder liegenlassen, in die Ameisenhaufen stochern, die blind und orientierungslos herumpoltern und deshalb nichts hören und nichts sehen. Diese Theaterwaldmenschen sind nicht gemeint. 77
Jeder kennt das aus der Kindheit, nachts allein und hellwach in der Stille der Dunkelheit zu sein. Es ist beunruhigend, beängstigend, unausstehlich. Wir hören unseren eigenen Atem, wir drehen uns ständig um, wir zucken zusammen beim Schrei des Nachtvogels. Wir sehnen uns nach der Sicherheit des Schulhofs oder Marktplatzes. Stille ist dunkel. Durch das Rufen unseres Namens durchbrechen wir die Stille. Durch den Ruf entsteht Helle. Das Dunkel ist für den Augenblick bevölkert wie ein Schulhof oder Marktplatz. Es ist das Blitzlicht eines Fotoapparates, das sich öffnet aus schwarzem Dunkel in blinde Helle. Und dazwischen ist für den Bruchteil einer Sekunde etwas zu erkennen. Das ist der Moment des Rufes aus der Stille. Und welch ein Glück, welche Seligkeit, welches Aufatmen, wenn aus dem Dunkel des abendlichen Waldes jemand mit seinem Namen deinen Ruf erwidert. Der Zuschauer. 2002 Stimmen hören Bevor sie verstummen, verhallen, weggetragen werden durch die Zeit und zerfließen im Nichts, haben wir sie eingesammelt. Es sind Worte, Laute, Töne, Klänge, Rhythmen, Melodien und Lieder aus zwanzig Jahren. Es sind die Stimmen unserer Theaterstücke. Es sind die Stimmen derjenigen, die unsere Theaterstücke bevölkerten. Die Stimmen von Pilgern und Wanderern, von Liebenden, von Soldaten und Widerstandskämpfern, von Geschundenen, von Verirrten und Verwirrten, alte und junge, die Stimmen von Wolkenschafen und Regenhunden und die Stimmen der Steine. Sie kommen aus alten Märchen und Fabeln, aus tiefen Wäldern, dunklen Höhlen, aus der Wüste, von Schulhöfen, aus Küchen, von der Straße, von Balkonen, von Weiden, von überall, also auch aus Kellern und Katakomben, aus Kasernen und Gefängnissen und von Friedhöfen, da wo die Stille ewig ist. Es sind die Lieder der Hoffnung und Zuversicht, der Trauer und des Abschieds, der Liebe und Sehnsucht, der ungezwungenen Fröhlichkeit von Kindern. Sie wiegen dich in den Schlaf, oder sie reißen dich aus dem Schlaf. Es 78
sind Rufe in der Stille, Schreie im Sturm, Worte im Lärm. Es sind Stimmen gegen das Vergessen und Vergessenwerden. Es sind Überlebenszeichen, Zeugenaussagen, Nachrichten aus der Vergangenheit für die Gegenwart. Sie erinnern an den Augenblick des Theaters, der gewesen ist. 2000 Für ein mutiges Theater Das Theater kann der Realität in die Augen blicken oder aber ihr den Rücken zukehren. So oder so reagiert es auf sie. Blickt es ihr neugierig in die Augen, sieht es Bosheit, Lüge, Elend, Friedhöfe, aber auch Lebenslust, Farben, Kraft und die Tiefe der menschlichen Seele. Der suchende Blick von Auge zu Auge eröffnet ihm die Wahrheiten, die es benötigt, wenn es wahrhaftiges Theater sein will. Es eröffnet ihm nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist nie eindeutig, einseitig oder endgültig. Die ständige Suche nach ihr ist das Ziel. Die Fragen sind die Antworten. Mutiges Theater predigt keine biblischen Gesetze von der Kanzel, es verschanzt sich nicht hinter dem Katheder und hebt oberlehrerhaft den didaktischen Zeigefinger. Es ballt die Fäuste, es brüllt in den Wind, es stampft mit den Füßen, es prügelt sich mit den mächtigen Medien der Abstumpfung. Deshalb muss es kräftig und wendig sein. Es darf nicht plump und eindeutig sein. Es bewegt sich ständig in der verminten Pufferzone zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge. In dieses Spannungsfeld schickt man kein Trüffelschwein, das ahnungslos und unter höchster Lebensgefahr die Haute Cuisine (derjenigen, die sie sich leisten können) beliefern soll. Es versüßt auch nicht unseren Alltag mit einer Lila Pause, es serviert keine Feierabend-Cola, es schiebt uns keinen faden Kantinenfraß über den Tresen, es bereitet uns keine grätenlosen Fischstäbchen. Es ist keine brotlose Kunst. Stets bereitet es ein neues, unbekanntes Gericht, mit fremden Gerüchen. Ständig probiert es neue Geschmäcke. Das muss nicht jedem schmecken. Aber es hat Geschmack. Keine Bange, es mischt kein Gift. Aber es gibt auch keinen Vorkoster. Jeder Zuschauer überlebt die Entführung in die neuen Ge79
schmackswelten. Höchstens dem Entführer blüht mancherorts Gefängnis oder Tod. Dieses Risiko muss das Theater eingehen, will es den Zuschauer mit einer Tafel voll Phantasie und Magie verzaubern und anregen oder verwirren und aufregen. Nur ein mutiges Theater kann Mut machen. 1991 Alles in Butter Vor einigen Jahren lernte ich eine ältere, sehr kluge Dame aus Bratislava kennen. Zeit und Ort der Handlung sind unwichtig, wichtig war die kleine Fabel, die sie mir erzählte: Ein Frosch fällt in einen Bottich mit Rahm. Dort zappelt er erschrocken herum. Verzweifelt hüpft er etliche Male hoch, in der Hoffnung, den Rand des Behälters zu erreichen und mit einem Schrecken davon zu kommen. Aber immer wieder fällt er zurück in den Rahm, bis er rechtzeitig, bevor ihn seine Kräfte verlassen, erkennt, dass er so lange schwimmen muss, bis der Rahm Butter wird. Er weiß, dass dies eine ungeheure Anstrengung von ihm verlangt. Und so beginnt er kraftvoll und überlegt kreuz und quer durch den Bottich seine Längen zu schwimmen. Hier bricht die Geschichte ab. Wir Theaterleute, und überhaupt die Künstler, gehören zu diesem bedrohten Völkchen der Frösche. Seit es den Storch nicht mehr gibt, sind die Straßen, Mähgeräte und Restaurants seine Hauptfeinde geworden. Berichtet wird auch, dass manche sie mit den Vorderbeinen an die Wäscheleine klammern, ihnen einen Strohhalm in den Schlund stecken und sie aufblasen, bis sie platzen. Der Frosch im Einweckglas, der an der Leiter hochkletternd, den Menschen das Wetter ankündigt, ist nur noch der Bestandteil von Geschichten, die sich die Alten erzählen. Dass die Frösche in manchen Ländern unter Naturschutz stehen, ist eher ein Warnzeichen. Bald wird es Froschreservate geben. Keine Angst! Das deutschsprachige Gebiet Belgiens ist kein Naturreservat. Noch nicht. Und bestimmt nicht für Frösche. Wir können hier einige Tage zusammen strampeln, hüpfen, schwimmen und tauchen auf der Bühne mit unseren Visionen, 80
Träumen, Alpträumen und Illusionen gesellschaftliche Temperaturen messen. Dass wir es tun, zeugt von unserem Optimismus, der in dem Glauben besteht, dass das Jetzt mit all seinen Mängeln veränderbar ist. Frei nach Bert Brecht heißt das, dass die Bühnenschaffenden zuerst fähig sind, die Realität zu sehen, bevor sie und ihre Unzulänglichkeiten darstellbar werden. Ist die Realität als bewegliche Einheit darstellbar, besteht die Hoffnung, sie zu verändern und damit sie zu verbessern. Das ist der innere Antrieb unserer Theaterarbeit. Am pessimistischsten sind jene Theaterwerke, die so tun, als ob es die gesellschaftspolitische Realität nicht gäbe. Sie sind allerhöchstens geschickte Ablenkungsmanöver oder Zeichen der Resignation oder Bestandteile der plastikverpackten Konsumwelt und damit keine Kunstwerke mehr. Der Glaube an die bewegende Kraft der Kunst und damit an die Veränderbarkeit der Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, ist entscheidend. So wie wir uns während der Arbeit an einer Produktion sagen, dass auf der Bühne zuerst einmal alles möglich ist, dass der Raum der Fiktion nicht an die Begrenztheit der Realität gebunden ist, dass wir also die Grenzen der Realität überschreiten können, glauben wir auch daran, dass das, was wir auf den Brettern, die nicht die Welt bedeuten, erschaffen, erleben, leben, ein Teil der Welt ist, an die wir letztendlich glauben. Wenn die Bühnenbretter nicht die Welt bedeuten, so sind sie der Ort, an dem wir die Welt deuten. Das ist unser unverschämtes Recht. Wir dürfen das, weil wir es tun. Wir nehmen es uns. Wir haben es weder von Gott noch von Politiker Gnaden, sondern weil wir an die Macht der Kunst (in uns) glauben. Und wenn sich nun hier in St. Vith über 150 Theaterfrösche treffen, so hoffe ich, dass wir gemeinsam in den Bottich springen und dort so lange herumschwimmen, bis der Rahm zu Butter geworden ist. Mit theatralischem Augenzwinkern Marcel Cremer 1990 81
Künstler sind Optimisten Sie sind es schon deshalb, weil sie sich für diesen Beruf entschieden haben. Sie sind es, auch wenn sie pessimistische Kunst machen. Selbst indem sie durch das öffentliche Kundtun eine Diskussions- und Konfliktbereitschaft signalisieren. Mitunter kann das unreflektierte und überschwängliche Hinausjubeln eines Lebensoptimismus, der sich nicht an der Realität messen kann, beim Zuschauer, Hörer oder Betrachter eine berechtigte Skepsis verursachen, die in der Frage mündet, welches Waschmittel oder welche Seifenblasen möchte man uns verkaufen. Martin Luther sagte, er würde auch noch einen Tag vor dem Weltuntergang einen Baum pflanzen. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre meinte über den Optimismus des Prager Schriftstellers Franz Kafka: Jemand sitzt mit der Angel in der Badewanne und will einen Fisch fangen, den es nicht gibt. In der Hoffnungslosigkeit oder Unvernunft beider Beispiele spiegelt sich vielleicht am besten der Optimismus der Künstler. Auf jeden Fall besteht der Optimismus der Künstler darin, dass sie vernünftige, also denkende und deshalb womöglich handelnde Menschen vor sich haben, von denen sie hoffen, dass sie sie öffnen können für das Neue und Unbekannte. Unsichere und verschreckte Menschen haben Angst vor dem Fremden und Unbekannten. Solche Menschen benötigen ständige Abgrenzungen und Eindeutigkeiten. Sie rufen nach Gesetzen und Reglementierungen und wollen vom Künstler immer wieder Bekenntnisse. Ihre Angst vor der Vergangenheit verbaut ihnen und oft auch anderen den Weg in die Zukunft. Sie wollen ständig alles Mögliche, mehr noch das für sie Unmögliche, ausgrenzen, mundtot machen oder ins Exil abschieben. Wer keine Kultur hat, hat keine Identität. Die Menschen von Ängsten befreien und öffnen für gesellschaftliche Prozesse ist die vorrangige Aufgabe der Kunstschaffenden und Kulturträger. Nur mit mutigen und offenen Menschen ist unsere Gesellschaft umzugestalten oder zu retten. 1993 82
Das Medium Theater Das Medium Theater darf keine Seifenblase für einige der Welt Entrückte sein, die sich der Realität für wenige farbenfrohe Momente entziehen; es darf ebenfalls nicht zur reservierten Spielwiese für Intellektuelle werden. Es muss ein Teil des öffentlichen Lebens sein. Daher auch der Name Agora, nach dem öffentlichen Platz in der griechischen Polis benannt, auf dem sich Freie und Unfreie trafen, um Handel zu betreiben, Gauklern und Zauberern zuzuschauen, politischen Reden zuzuhören und Nachrichten auszutauschen. Theater hat neben dem Unterhaltungswert, den es besitzt, die Aufgabe, sich mit der uns umgebenden Wirklichkeit auseinanderzusetzen, Neugestaltungsmöglichkeiten anzubieten. Es darf kein Ort der Flucht in eine schillernde Bühnenfiktion sein; es muss durch gespielte Modelle die oft so komplex und kompakt scheinende Wirklichkeit öffnen und damit antastbar machen. Es darf nicht lähmen, es muss aktivieren. Die AGORA ist ein MOBILES Theater; neun von zehn Auftritten sind Gastspiele. Die AGORA ist eine FREIE Gruppe, also kein in sich geschlossenes Ensemble, sondern offen neuen Mitarbeitern und Ideen gegenüber. Die AGORA ist STAATLICH ANERKANNT: Der belgische Staat, die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens und die Provinz Lüttich subventionieren sie. Die AGORA ist INTERNATIONAL tätig, die bisherigen Tourneen führten in die BRD, in die Niederlande, in die ČSSR, nach Dänemark, Luxemburg und Österreich. Die AGORA hat WERKSTATTcharakter, ständig wird nach neuen Formen und Ausdrucksmitteln gesucht. Die AGORA macht VISUELLES Theater, das nicht nur vom gesprochenen Wort, sondern auch von der Musik, dem Spiel mit dem Requisit und der Bühne, dem Licht und nicht zuletzt dem Körpereinsatz lebt. 1987 Feuerlöscher überall Im 19. Jahrhundert brannten weltweit annähernd 1200 Theatergebäude ab, von denen die Hälfte völlig vernichtet wurde. Einige Beispiele: 1817 Nationaltheater Berlin, 1823 National83
theater München, 1826 Royal Theatre London, 1853 Opernhaus Moskau, 1865 Chinesisches Theater in Kanton (1370 Tote), 1866 Opernhaus Cincinnati, 1881 Ringtheater Wien (450 Tote), 1887 Opéra-Comique Paris, 1892 Metropolitan Opera New York, 1900 Théâtre Français Paris. Nur wenige Theater, damals im wesentlichen Holzbauten, haben die Zeit der Öl-, Kerzen- und Gasbeleuchtung überstanden. Noch heute ist es unter Theaterleuten verpönt, auf der Bühne zu flöten aus Angst von damals heraus, man könne eine leise zischende, undichte Gasleitung überhören. Doch selbst mit der Einführung des elektrischen Lichts brannten beispielsweise 1903 das Theater von Chicago (581 Tote) und 1928 ein Madrider Theater (68 Tote) wegen elektrischer Kurzschlüsse ab. Da hat der Mensch den Feuerlöscher und den Beruf der Theaterfeuerwehr erfunden. Und seitdem fürchten Theaterleute den Feuerlöscher und den Feuerwehrmann mehr als das Feuer. Beim Anblick eines Feuerlöschers zucke ich unweigerlich zusammen und denke an Feuerschutzbestimmungen, Notausgänge, Notbeleuchtung, schwer entflammbare Stoffe, feuerfeste Sitze, statische Auflagen der Bühnenkonstruktionen, verbotene Pyroeffekte und eiserne Vorhänge. Als die AGORA 1985 mit dem Stück „Aquarium“ in Wien gastierte, zwang die dortige Theaterfeuerwehr uns, Styroporverkleidung der Bühne aus sicherheitstechnischen Gründen zu entfernen, obwohl sich in einem Bühnenbecken 5000 Liter Wasser befanden. Während der Aufführungen von „Soldaten“ saßen regelmäßig uniformierte, mit Feuerlöschern bewaffnete Feuerwehrleute in der ersten Zuschauerreihe und bewachten die Bühne, weil in der letzten Szene eine brennende Fackel geschwenkt wurde. Bei „Schräge Vögel“ sind oft Feuerwehrleute durch die Diaprojektionen gelaufen und sorgten so für unbeabsichtigtes Schattentheater. Wenn wir Brechts „Baal“ spielten, war es den dünnbekleideten und ständig hinter der Bühne das Kostüm wechselnden Darstellerinnen zu verdanken, dass den 84
Feuerwehrleuten ein in einem alten Ölfass loderndes Feuer nicht sonderlich auffiel. Bei „Algunas Bestias“ reichte ein Huhn, um von zahlreichen Feuereffekten abzulenken. Aber lassen wir das. Bei jedem Gastspiel bekomme ich heute noch schwitzende Hände, wenn kurz vor der Vorstellung die lokale Feuerwehr sich nach den Sicherheitsvorkehrungen erkundigt und ich mit ihr den Rundgang durch die Bühnenbauten mache. Während in früheren Zeiten Diktatoren und Generäle die Feinde der Künstler waren, in den sechziger Jahren Polizisten und Politiker, dann Pädagogen und Kritiker, sind es heute Feuerwehrleute. Feuerwehrleute waren es, die den berühmten deutschen Regisseur Claus Peymann aus dem Burgtheater vertrieben haben. Und doch müssen die Theaterleute wissen, dass Flucht nichts nützt. Sie sind überall. Außer in St. Vith, da gibt es kein Theaterhaus und folglich auch keine Theaterfeuerwehr. St. Vith ist bis jetzt eine theaterfeuerwehrfreie Zone geblieben. Wer weiß, wie lange noch. Flucht ist vergeblich. Theaterleute müssen sich den Gefahren stellen, die sie bedrohen. Lassen sie es mich erklären. Spätestens seit dem 11. September 2001 sind Feuerwehrleute für die Menschen nicht mehr ein wandelndes Zeichen für Bedrohung, sondern Helden, Märtyrer und Vorbilder. Nach neuesten Umfragen spielen Kinder nicht mehr Cowboy und Indianer. Auch Star Trek und Jurassic Park sind out. Sie spielen Feuerwehr. Die Hitliste der zukünftigen Berufe bei Kindern wird nicht mehr angeführt durch Lokomotivführer, Computerchipspezialisten, Tänzerinnen, Rennfahrer oder Fußballprofis, sondern von Feuerwehrmann und Feuerwehrfrau. Die Leitbilder sind nicht mehr Michael Schumacher, Harry Potter, Robbie Williams und Madonna, sondern Feuerwehrleute. Schlussfolgerung: Die Zuschauerräume werden bevölkert von potentiellen Feuerwehrmännern und Feuerwehrfrauen. Das dürfen Theaterleute nicht ignorieren. Fleißige Kollegen aus den Niederlanden haben als Reaktion schon FeuerwehrTheater-Stücke geschrieben und erfolgreich vermarktet. An85
dere Gruppen integrieren bereits den Feuerlöscher in das Bühnenbild, um so möglichen Repressionen oder Verboten zu entgehen und den potentiellen Feuerwehrmann im Zuschauerraum direkt anzusprechen … Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn ein Theaterclown auf die Bühne rennt und ruft: „Es brennt! Es brennt!“, halten sie den inneren Feuerlöscher griffbereit. Vielleicht brennt es wirklich. 2002 Die Schere im Kopf Trotz der unzähligen Variationen an rein unterhaltsamen Darbietungen, die – sei es im Fernsehen, sei es im Film, auf Video oder auf der Bühne – dem Konsumenten die Uniformität des Denkens, Fühlens, Erlebens und Verhaltens überstülpen, kann das Medium Theater mehr leisten. Es kann dazu beitragen, die organisierte Vereinheitlichung des menschlichen Lebens zu entlarven … wenn es sich der Überzeugung hingibt, dass menschliche Existenz reichhaltiger sein kann als das alltägliche Abspulen vorprogrammierter Schemen. Es ist dies ein Theater, das desillusioniert um aufzubauen. Ein Theater, das den Einzelmenschen aus seiner alltäglichen Behäbigkeit entreißt, das den Mut hat, den Finger in die offene Wunde zu legen. Es ist dies ein Theater, das sich gegen das Wiederkäuen ferngelenkter Werte, aufgepfropfter Verhaltensweisen und gesteuerten Denkens wehrt. Es regt an. Es provoziert. Es bringt den Zuschauer dorthin, wo das eigentliche Leben beginnt: die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, mit seiner Umgebung, mit seinen Vorstellungen und Erwartungen vom Dasein. Allen Produktionen, die das 2. Internationale Theaterfest zu einem vielfältigen Menü zusammenstellt, ist gemeinsam, dass sie sich dem Leben verschrieben haben. Sie beschreiten den Weg der Kontroverse. In ihnen spiegelt sich die kritische Auseinandersetzung mit der menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wie ein Blitz aufzuckt in dem Wettergebräu, in dem alles grau erscheint, so bringen Phanta86
sie, Kreativität und Schaffensfreude durch ihre Kraft wieder das zum Vorschein, was unter der Last des Alltags begraben liegt. Allen gemeinsam ist die Vorstellung, dass menschliches Leben mehr sein kann als das alltägliche Sich-Abfinden mit der geistigen, moralischen oder gesellschaftlichen Monokultur, welche die Fäden denjenigen überlässt, die die Ohnmacht des Individuums verwalten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen als Theatermacher oder als Zuschauer entsprechenden Mut zur offenen Auseinandersetzung und viel Freude an der Reichhaltigkeit kultureller Kreativität vor dem Hintergrund eines Theaterfestes, das sich gegen die Schere im Kopf zur Wehr setzt. 1988 Endspiel Drinnen im Theater ist Theaterfete bei fetzigem Disco-Sound. Das Theater feiert. Sich. Draußen vor dem Theater verblutet ein querschnittsgelähmter Penner, einer jener „Raindogs“, die Tom Waits in seinen Balladen besingt, im Rollstuhl. Kurt und Roland und Barbara rufen Krankenwagen und Notarzt. Herzstillstand. Stundenlang sind Leute und Theaterleute vorbeigelaufen, haben ihn übersehen, die Situation falsch eingeschätzt, waren betrunken oder in Eile oder haben die Hilfe verweigert. Erlangen, 11. 7.1993, 3 Uhr morgens, während des ARENA-Festivals Das Festival begann mit einer Co-Produktion zwischen ARENA- Studenten der Theaterwissenschaften und dem Stadttheater Erlangen. Beckett – Endspiel. Eigentlich eine Raum-Installation. Vielleicht eine bühnenarchitektonische Leistung. Eine Symbiose zwischen Raumschiff Enterprise und Rundkuppel einer Kathedrale. Für Reisende oder Gläubige ist wenig Platz. Schauspieler als Staffage, Mumien, beweglicher Dekor. Nebensache. Inszenierte Menschenverachtung. Tödlich. Wenn kein Theater im Schauspieler stattfindet, kann kein Theater im Zuschauer stattfinden. Wenn auf der Bühne weder 87
Theatermenschen noch Theaterkünstler noch Theaterhandwerker am Werk sind, sondern Endspiel-Soldaten aus Pappmaché stumm und reglos Literatur exerzieren, fällt das Theater schon bei der geringsten Zuschauerregung zusammen wie ein Kartenhaus. Wenn das Theater eine fest umrissene Erwartungshaltung an den Zuschauer hat, kann es ihn nicht öffnen für Realitäten. Wenn das Theater sich hinter Tüll und Kulisse versteckt, kann es nicht berühren. Wenn das Theater sich reduziert auf den Protest am Theater, reicht es über den eigenen Tellerrand nicht hinweg. Wenn das Theater um das Theater sich in den Mittelpunkt spielt, hat das Theater keine Chance. Wenn drinnen die Theaterkünstler mit ihren Eitelkeiten, mit ihren Bühnenwehwehchen, mit ihrem Weltschmerz, mit ihren großen Gefühlen, mit klärenden Worten zu ihrem Bühnengestammel, mit kopfigen Gehversuchen, mit dem Dechiffrieren des Genius beschäftigt sind, stirbt draußen das Leben. Wen wundert’s also. Wer den Schauspieler verachtet, verachtet den Zuschauer. Wer den Zuschauer verachtet, verachtet den Menschen. Ein solches Theater ist mörderisch. Es produziert Blindheit vor dem obdachlosen Krüppel, der in seinem Blut ersäuft. Fragen an den Theatermenschen Wenn der Politiker am Ende einer Spielzeit nach der Saalauslastung und dem Etat fragt, kommt der Theatermensch nicht umhin zu antworten. Wenn eine gewisse Zeitung danach fragt, wie es um die psychologische Verfassung des Spielers X steht oder wie denn nun die Sache mit dem auf der Bühne geköpften Huhn war, antwortet der Theatermensch nichts, sondern schlägt fluchend die Tür zu. Wenn der Kritiker sich über das Verhältnis zwischen Textauthentizität und gegenwartsgerechter Adaptation der Szene Y erkundigt, antwortet der Theatermensch schmunzelnd irgendetwas. Wenn der Zuschauer nach der Premiere sagt, dass es wieder einmal wunderschön gewesen ist, muss sich der Theatermensch höflich dankend 88
im gleichen Augenblick viele Fragen stellen. Wenn das Kind dem Theatermenschen mit staunendem Blick ans Hosenbein zupft und fragt, ob sein Stein genau wie Kiesel auf der Bühne nachts schnarche, so ist das schon eine Antwort. Wenn der Spieler wortgewaltig eine Geste, einen szenischen Moment oder einen Geistesblitz erklären will, antwortet der Theatermensch ihm: Geh auf die Bühne und spiel es! Wir probieren es. Wenn ein Mensch den Theatermenschen auf der Straße anspricht und sich nach der letzten Inszenierung erkundigt, antwortet dieser ihm mit sachte drängendem Unterton: Geh hin, schau es dir an! Machen wir nicht so viel Theater ums Theater. Mit Papier und Tinte ist dieses so einmalige Medium nur unzulänglich zu erklären. Die Fragen, die die Realität dem Theater stellt, werden am ehesten durch das Erlebnis der Aufführung beantwortet. 1989
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II.
Wenn wir ERINNERUNGEN spielen, teilen wir sie mit dem Zuschauer. Das befreit uns und ihn aus der EINSAMKEIT.
Theater ist das Rendezvous zwischen dem Zuschauer und dem Spieler zu einer vereinbarten Zeit an einem vereinbarten Ort. Beide wissen, worum es geht. Es ist das erste Treffen zwischen zwei Verliebten, die sich über eine Zeitungsannonce kennen gelernt, dann Briefe geschrieben und schließlich verabredet haben. Sie werden sich zum ersten Male sehen. 2000 Das Ziel des Theaters ist und bleibt den Zuschauer zu suchen wo auch immer ihn zu finden ihn zu untersuchen ihn zur Rede zu stellen ihn infrage zu stellen ihn zu stellen ihn auf die Bühne zu bitten mit ihm
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das Überleben zu proben zu spielen immerzu das ewige Leben im Augenblick. 2009 Die Lüge (der Betrug, die Illusion) des Theaters ist nicht die Behauptung, dass etwas Reales geschieht, sondern die Tatsache, dass es gestern geschah, heute geschieht und morgen geschehen wird mit der Behauptung, es sei einzigartig. Wenn also die Worte, der Ort, das Licht, die Handlung und die Spieler die gleichen sind, so ist das Einzigartige die Zeit mit dem Zuschauer. Dann ist das Theater keine Lüge, wenn es sich versteht als einzigartige Begegnung mit dem Zuschauer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. 2001 Wir können ihn umarmen
drücken zwicken zwacken anlächeln ihm die Zunge herausstrecken ihm den Arsch zeigen ihm in den Arsch treten 91
selbst ins Gesicht schlagen ihn streicheln auslachen beschimpfen anbrüllen mit ihm tanzen mit ihm weinen/lachen mit ihm trauern mit ihm flirten ihn überrollen verstören in den Schlaf wiegen aufschrecken aus dem Schlaf das alles aus gutem Grund, versteht sich, aber wir dürfen ihn nicht ignorieren, den Zuschauer. 2002 Es gibt Theaterleute, die suchen beim Probieren von Anfang an den Zuschauer. Sie versuchen sich genau vorzustellen, was er sehen und hören möchte. So vergessen sie herauszufinden, was sie zu sagen haben von sich selbst. So können sie nichts – etwas Ungesagtes, ein Geheimnis – von sich finden und deshalb dem Zuschauer nichts (Neues) sagen. 2001
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Der Adler ist unser hoffnungsvoller Optimismus. Unsere Kunst macht ihn lebendig für einige Augenblicke. Dann schwebt er durch unseren Kopf, schwingt sich empor in Höhen, wo die Luft ganz dünn ist. Wir betrachten alles aus ungeahntem Abstand, wir können uns entscheiden zwischen Himmel und Erde und nie war die Freiheit so groß, zu gehen oder zu bleiben. Jeder Zuschauer hat einen Adler. In seinem Kopf. Das ist mein hoffnungsvoller Optimismus. Und wenn diese Illusion aufhört und er nun/nur ausgestopft ist mit gläsernen Augen, gibt das Theater sich selbst auf. Es versagt hat seine Bilder nicht im Kopf und anderswo. Es hört auf. Dann. Also: Das Theater ist der tote Adler, der lebendig ist. Wenn ich es will. Sonst nicht. 1999 Es gibt keinen Führerschein für das Theater. Wenn es heiß ist, soll es erfrischen. Wenn es kalt ist, soll es erwärmen. Wenn es dunkel um mich ist, soll es mir ein Licht reichen. 93
Wenn die Sonne mich blendet, soll es mir einen Schatten zeigen. Wenn alles grau ist, soll es mir die Farben des Regenbogens malen. Wenn grelle Farben mich blind machen, soll es die eine herausfiltern, die ich sehen will. Wenn es laut und hektisch um mich ist, soll es der Ort der Stille sein. Wenn Friedhofsstille mir Angst macht, soll es ein Lied pfeifen, das die Angst vertreibt. Wenn böse Träume mich verfolgen, soll es mich wecken und mich mit beiden Füßen auf den Boden der Tatsachen stellen. Wenn die Füße schwer sind wie Blei, soll es mit mir davonfliegen. Wenn ich einsam bin, soll es mir Gesellschaft leisten. Wenn die Masse mich erstickt, soll es der Ort sein, wo ich atmen kann. Wenn ich tot sein will, soll es mein Leben retten. Wenn ich meine Puppe, meine Katze oder einen Opa verloren habe, soll es trösten. Wenn ich das große Los gezogen habe, soll es ein Ständchen spielen. Wenn Kriegstrommeln geschlagen werden, soll es das Lied vom Frieden singen. Das alles und noch viel mehr erwartet der Zuschauer vom Theater. Wenn nun wir, die Theatermenschen, unsere Aufgabe darin sehen, dem Zuschauer seine Wünsche zu erfüllen, sind wir immer falsch. Wie sollen wir wissen, wie es jedem Einzelnen von euch geht, wenn ihr ins Theater kommt? Wir können es nicht wissen. Aber: Ihr sollt wissen, dass es uns mit dem Leben nicht anders geht als euch. Wenn wir, die Theatermenschen, auf der Bühne sagen, was uns bewegt, wenn wir uns vom Leben bewegen und berühren lassen, dann können wir unsere Zuschauer bewegen und berühren. Das ist die Vertrauensebene, auf der im Theater die Begegnung stattfinden kann zwischen euch und uns. 2001 94
Und ich werde immer sein auf der Seite derjenigen, die klein sind die in der Minderheit sind die vertrieben werden die Unrecht haben die hässlich sind oder schwarz, rot oder gelb oder gefleckt die sprachlos sind und ohne Sprache die kein Haus haben und kein Dach ßber den Kopf ohne Stimme ohne Pass und blind sind sie und ich bin unter ihnen. Immer 1999
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III.
Ihr alle, meine Kunst ist radikaler, weil ich in meiner Erziehung mehr Prügel bekommen habe.
Ich habe einen schönen Beruf. Mein Vater hat mich zur Arbeit erzogen. Dafür bin ich ihm dankbar, und ich liebe ihn deshalb. „Zuerst die Arbeit, dann das Spiel“ hat er oft, auch im Zorn, zu mir gesagt. Bis ich herausgefunden habe, dass Spielen Arbeiten sein kann. Ich spiele Theater, und es ist meine Arbeit. So habe ich ihn überwunden, ohne ihn aufzugeben. Ich habe einen schönen Beruf. 1999 Ich hab einen wunderschönen Beruf. Ich erzähle öffentlich mich. Ich spiele vor allem mein Leben. Ich zeige mein Innerstes. Ich denke laut. Ich bin ich und es gibt so viele, die sind da, wenn ich erzähle, spiele, zeige, denke. Ich bin nicht einsam. Und es sind alle da, die was zu sagen haben. 96
Und du, die du mir außerdem sagst, dass du mich liebst! 1999 1. 1. 1994, 1 Uhr 45 Ich bin der erste Schlittenhund im Gespann. Der Leithund. Ziehen ist die Lebensaufgabe. Die einzige mit den anderen Schlittenhunden. Ich kenne den Weg. Durchs Tal und über das Gebirge. Durch die Fjorde, die Eiswüste, den Schneesturm. Der erste Schlittenhund hat keine Stapfen, in die er treten kann. Wenn die anderen ausruhen, findet er im Kopf den Weg des nächsten Tages. Das Feuer, an dem er sich mit den anderen wärmt, ist das Feuer, an dem er sich mit der anderen wärmt, ist das Feuer in seinen Augen und in seiner Seele, es ist die Glut, die ihn am nächsten Tag vorantreibt. Bleibt er stehen, verbrennt er seine Pfoten, und alle anderen erfrieren im ewigen Eis. Er kann keine Kinder zeugen, er darf keine private Liebe haben, so gerne er sich in zwei Augen verlieren möchte. Seine Liebe muss der Weg sein. Diese Liebe muss ständig alle tragen und alles. Seine Last ist und endlich und endlos. Sie ist alles. Sie ist nie greifbar. Sein Weg ist sein Ziel. Oft genug ist der Weg sein Hecheln im Schneesturm. Vom Weg ist die Last nicht mehr spürbar hinter ihm Spürbar sind nicht die anderen Schlittenhunde. Sichtbar ist nichts von ihm, hinter jeder Schneewehe kann 97
die Untiefe oder der Abgrund sein. Last und Weg und Gefahr und Ziel sind in ihm. In ihm bündelt sich die ganze Kraft zum einzigen Sinn. Er spürt dann nicht seine Füße, nicht den Gurt, nicht das Gewicht, nicht mehr seinen Körper. In seinen Augen hechelt seine Zunge seinen letzten Atem. Nichts sieht er sonst und niemanden und niemand ihn. Weit weg von seinen Augen und seinen Atem schlägt sein Herz und es pumpt die Kraft, die ihn nicht stehen bleiben lässt. Wo er auch den Gedanken, einfach stehen zu bleiben, in seinen Augen trägt. Theater ist eine Form von alkoholisiertem Zustand. (ohne Alkohol) Man traut sich was. Man lässt es laufen. Es entsteht eine Freiheit, die die Disziplin des Alltags verbietet. Es ist alles ein Ausnahmezustand. Eine Form des Feierns. Des sich Gehen-Lassens. Auch: Leckt mich am Arsch. Auf jeden Fall eine Freiheit, die man sich sonst verbietet. Sich diese Freiheit zu nehmen, ist die einmalige Chance des Theaters. Wo sonst? 2002 98
Wir Theaterleute können den Zuschauer beschimpfen, anhimmeln, mit ihm spielen, für ihn, ihm die Zunge rausstrecken, oder eine lange Nase machen, ihn anbrüllen, zur Rede stellen, beleidigen, bestrafen, ärgern, liebkosen, umarmen, mit ihm flirten, ihn trösten, ihm zurufen: Erwache! Stell dich nicht so an. Glotz nicht so romantisch. Buh! Ich umarme Euch alle! Ihr armen Kleinen! Ihr Großkotzer! Ja! Es ist schlimm! Du bist schuld! Wir sind schuld! Wir packen es, gemeinsam! Ich weiß auch keine Lösung! Erwartet nicht eine Rede, gar eine Antwort! Helft mir! Versteckt euch ja nicht im Dunkeln! Ihr Feiglinge! Wenn ihr Scheuklappen habt, muss ich noch lange kein Blatt vor den Mund nehmen. Ihr Voyeuristen, soll ich mich ausziehen? Sagt was! Tut was! Steht endlich auf und tut was! Ich will euch alle umarmen. Kommt wir spielen ein Spiel. Das sind die Regeln! Das ist sportlich! Jetzt ist die Spielzeit. Hier. Jetzt. Aber ihr versteht mich sowieso nicht. Ihr denkt doch schon ans Essen danach oder auch an den Treff oder ans Hotel, oder an Sex oder an die Aufgaben für morgen. Oder daran wie ihr die Miete morgen bezahlt oder das Heizöl! Meint ihr, ich nicht. Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb. Lustig ist das Zigeunerleben! Kein schöner Land. Ein Vogel wollt’/nee! Leben und leben lassen! Lasst mich mein Ding hier machen, ich lasse euch ja auch in Ruhe. Ich hat’ einen Kameraden! Ausländer raus! Ausländer rein! Huhu! Hier bin ich. Ich hab ein neues Kostüm! Seid ihr überhaupt nüchtern? 2003 Ich möchte Theater machen Ich möchte Theater machen, das nicht erschüttert ist, wenn ein Handy klingelt. Ich möchte Theater machen, das sich nicht fürchtet vor den Kindern, die die hehre Kunst zerstören. 99
Ich möchte Theater machen, das nicht die Nase rümpft, wenn ein Zuschauer hustet. Ich möchte nicht Theater machen, das mit sich beschäftigt ist, während draußen das Leben geht. Ich möchte nicht Theater machen, das den Ort des Theaters aufteilt in Kunst und Konsument. Ich möchte Theater machen, das sich nicht in die Hose scheißt, wenn die Saaltür aufgeht. 2004 19. 5.1994, nach der Korbach-Woche, vor den Luxemburg-Tagen Ich bin Joshua. Ich krieche durch das Ofenrohr. Ofenrohre sind wie Leitplanken: Leitplanken tauchen plötzlich, meistens in Kurven, aus der Erde auf, bleiben eine Zeitlang oben und verschwinden dann wieder in der Erde. Mit den Ofenrohren ist es genauso, nur umgekehrt: Du kriechst in sie hinein, bist völlig im Dunkeln der Erde, und tauchst am anderen Ende wieder auf, wenn dir keine Leitplanke den Weg versperrt hat. Das einzige Mittel des Schauspielers gegen die Unmoral der Welt ist, sie darzustellen/sie zu spielen. 100
Köln, 30.9.2000 Was soll ich sagen? Was schreiben aus? Es macht so mutlos, so lustlos, raubt die Spannung, nimmt die Kraft. Wenn ein Bäcker schlechte Brötchen backt, sagen es ihm die Kunden oder sie bleiben aus. Auf einer Bäckerfachmesse kann man es ihm gar beweisen. Geld zurück. Er kriegt Berufsverbot, weil er mit schlechten Nahrungsmitteln Menschen vergiftet. Fahrlässige Tötung womöglich. In der Theaterkunst gibt es keine Bewertungskriterien, sie ist schon lange kein Nahrungsmittel mehr. Allenfalls süßsaure Drops, die die Zähne verkleben, dafür bunt. Chemie. Liegengebliebene Kamellen vom Rosenmontagszug. Wie gerne würde ich zur Bäckerinnung gehören. Gehören tue ich zur Theaterinnung. Diesem Großkaufhaus, das jedweden Mist in Plastik ausstellt und ihm Menschen als Nahrungsmittel anbietet. Wir vergiften Menschen mit plastifizierter Ratlosigkeit, grellem Lichtgeflacker, schlechtem Geschmack, dilettantischem Gegröle, nur Schein kein Sein, inhaltlosen Hülsen, das alles platt und holprig, lieblos ausgestellt oder auf einem Wühltisch geschmissen. Ausverkauft. Aller Werte. Alle Menschlichkeit. Jenseits von Moral und Unmoral. In einem Nebel des Assoziativen wartend. Und meine Geliebte schleppt mich mit. Und ich bin dabei. Und es ist meine Berufsgattung. Ich bin es. Eines Tages. Bäume werde ich pflanzen. Eigentlich mag ich keine Pflanzen, die so kurzlebig sind wie Inszenierungen: Alle diese Knollen, die gerade mal einen Sommer überleben. Alle Sträucher, die beim geringsten Bodenfrost verschnupfen und eingehen. Theater ist wie Klatschmohn. Der geringste Windhauch löst Panik aus. Ein Regenschauer wirft alle Blüten zu Boden. Wir können ihn in seiner roten Pracht bewundern, einen Augenblick lang, und wenn wir wollen, dass der Augenblick haften bleibt im Kopf, gehen wir schnell weiter, bevor der Regen kommt.
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Freitag, 9.6. 1991 Villach-Eindrücke Ich bin immer sicherer, dass ich Theater mache, weil ich vor nichts mehr Angst habe als vor dem Allein-Sein. Und doch zeigt es mir so oft, dass ich es bin. In Villach, beim Spectrum ’91, bin ich so oft durch die Flure des Theaters geirrt, ziellos, eine Zigarette auf die andere rauchend, auf und ab, mich mit Details ablenkend, unfähig, mir unsere Vorstellungen anzusehen, den Ton im Ohr, die Stimmen, die Klänge, an ihnen ausmachend, ob die Aufführung lief oder nicht. Auf der Suche wonach? Ich glaube, es ist die Suche nach einem festen Punkt gewesen, an dem ich meine Arbeit orientieren kann. Weshalb kann ich die eigenen Aufführungen so oft nicht ertragen? Vielleicht, weil ich nicht ertragen kann zu sehen, wohin es sich bewegen soll. Jedes Gespräch mit einem pensionierten Feuerwehrmann, der das Ende der Aufführung abwartet, oder mit Walter über seine grelle Frisur, die ihn, den unsicheren, warmherzigen Techniker der AGORA, so brutal entstellt, ist ein willkommenes Alibi. Vielleicht sollte man auch Theaterstücke machen über pensionierte Feuerwehrleute oder grelle Frisuren und nicht über die sogenannten wichtigen Dinge dieser Welt. Vielleicht nehme ich alles zu wichtig. Diesen Punkt gibt es nicht. Vielleicht zählt nur die Suche nach ihm. Wer glaubt, ihn gefunden zu haben, verliert ihn bereits aus den Augen, oder zumindest das, wovon er glaubt, es könnte der Punkt sein. Vielleicht ist es auch die ewige Suche, möglicherweise nur Chimären als Wegweiser, die so schrecklich müde macht, alles oft so hoffnungslos erscheinen lässt. So quält, so wütend macht, so langweilt, einen derart verstummen lässt, dass man nicht mehr weiß, wer man ist. 16.10.1991 Ein Spiegel-Beitrag hat mich gefesselt. Über den italienischen Fotografen Oliviero Toscani, der die Benetton-Werbung macht. Mit Motiven wie Soldatenfriedhof, Pater küsst Nonne zärtlich, ein zerknittertes Neugeborenes 102
noch an der Nabelschnur, roter-blauer-grüner-gelber Panzer auf dem Tian’anmen-Platz in China und der Aufschrift „United Colors of Benetton“ schockiert er die Öffentlichkeit. Diese Aufnahmen waren spannender als die gesamte letzte Theater-heute-Ausgabe mit Heiner Müllers gescheiterten Wort- und Bild-Chiffren in Berlin oder den Jungstar-SlapstickQuatsch und allen anderen Weltentrücktheiten der TheaterOberliga-Szene samt ihrer Wende-Windungen. Wir Theaterleute sollten uns für die Werbebranche interessieren und von ihr lernen. Zwischen dem Produkt auf der einen Seite und dem Käufer auf der anderen Seite entsteht durch die Ästhetik der Werbung ein funktionierendes Spannungsverhältnis; das heißt, dass fesselnde Neugierde auf das Produkt, das niemand benötigt, bei demjenigen geweckt wird, der es nicht benötigt. Der Fotograf Toscani lässt die unausweichliche Realität (auch historische Realität) des Soldatenfriedhofs (im Golfkrieg), Neugeborenen, der Panzer zusammenprallen mit der unausweichlichen oder fiktiven Realität des Produkts. Die provokative Ästhetik entsteht durch die Verknüpfung von scheinbar Zusammenhanglosem. Und was tut das Theater, insbesondere jenes Theater, das diejenigen meinen, die da nie hingehen oder diejenigen, die Inszenierung für Inszenierung ihr Abonnement absitzen? Es verwässert die Ebenen, entrückt in Welten der Literatur, jenseits von Gut und Böse, schläfert unser eh schon von Alibis bewohntes Gewissen ein und befriedigt die snobistischen Allüren derjenigen, die verächtlich auf diejenigen herabschauen, die Wochenende um Wochenende zum Fußballstadion pilgern. Es ist nicht mehr Katalysator, Spannungserzeuger, Ort aktiven Sehens, Platz für Auseinandersetzungen und Reibungen oder Brücke zwischen Welten. Es ist das Produkt, das im Grunde niemand benötigt. Es ist nicht Mittel, sondern Ziel. Jeder Weg würde an ihm vorbeiführen, wenn nicht nach dem Vorbild der EG-Agrarpolitik die Paläste, in denen es residiert, künstlich subventioniert wären. An gewissen Gesetzen der freien Marktwirtschaft, die ja in Ost und West gleichsam die 103
Menschen zu den zehn Geboten des Lebens auserkoren haben, kommt es nicht vorbei. Oder ist die hochdotierte Theaterkultur im Grunde ein maroder VEB, den die öffentliche Treuhand lieber heute als morgen von ihren Führungsstalinisten befreien sollte. Lernen wir bei Toscani! „Theater, das das Leben spiegelt, nicht sich selbst.“ (Kenneth Tynan, engl. Theaterkritiker)
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IV.
Inszenieren ist: Du träumst Bilder und sie entstehen in den Köpfen der Schauspieler.
April 2006 Es gibt Schauspieler. Sie sind die Sonne. Es gibt Schauspieler: Sie sind der Mond. Die Sonne sieht nicht den Mond. Diese Schauspieler glänzen. Sie strahlen. Aber sie sind blind für den Zuschauer. Der Mond sieht die Sonne. Dieser Schauspieler blickt dich an. Seine Kraft durchdringt den Zuschauer. Er hat ein Geheimnis. Du verbrennst nicht an ihm. Du verglühst nicht an ihm. Er lebt durch dich, den Zuschauer. Du erlebst dich neu mit ihm. 20.5. 1999 Wenn „die Bretter, die die Welt bedeuten“ den Bodenkontakt zur Welt verlieren oder aufgeben oder nicht mehr aushalten, hören sie auf, die Welt zu bedeuten. Sie sind dann morsch und marode, können keine Menschen mehr tragen und nicht deren Worte oder Wortlosigkeiten. Sie sind dann lebensbedrohlich. Man muss sie herausreißen und verbrennen, bevor sie jemanden in die Tiefe/ins tiefe Loch reißen. 105
Vorgestern in Köln, 6.2.1999 Schauspielschule ausgebildete Schauspielerin fragte mich, warum ich lieber mit nicht an der Schauspielschule ausgebildeten Schauspielern arbeite. Ich antworte ihr: Ich arbeite gerne mit Schauspielern, auch mit ausgebildeten. Ich arbeite gerne mit Spielern, auch mit Schauspielern. Ich arbeite gerne mit Menschen, auch mit Spielern. Ich spiele gerne, auch Theater. Eine
an der
Probebühne Eine junge, neugierige, also sehr begabte Schauspielerin fragt den Regisseur, nachdem sie dort schon wochenlang probierten und es nicht weiterging: „WAS IST THEATER? Ich weiß es nicht mehr.“ Der Regisseur sagte: Schreib auf einen Zettel, was dir hier am wenigsten gefällt. Sie nahm ein Stück Papier und schrieb: Dass wir es so kalt haben. Dass es so staubig ist. Dass der Ofen so laut ist. Dass das Klo verstopft ist. Die Kaffeemaschine so langsam. Die Gespräche so lang. Die Stühle voller Spreizel. Der Tanzboden so versifft. Die Kollegen so launisch. Und ich das jetzt schreiben muss, obwohl ich hungrig bin. Der Regisseur sagte: Stell dich an deinen Ort und erzähle uns, weshalb es hier so angenehm ist. Zieh den Hut der M. an, die eine Schauspielerin ist. Die Spielerin fing an, zuerst zögernd, dann immer kräftiger. Wir haben einen Ort, der uns gehört. Er hat seinen eigenen Charakter, manchmal ist er warm, und er schmeckt nach Theaterluft und da ist ein Ofen und ein Klo und eine Kaffeemaschine. Wir haben intensive Gespräche und Stühle zum Sitzen und einen Tanzboden und temperamentvolle Kollegen. Und Zeit zum Schreiben. Der Regisseur: Das war Theater. Der Hut war das Theater. Mit dem Hut auf dem Kopf hast du Theater gespielt. Du hast nicht die Wahrheit gesagt. Du hast gelogen. Und 106
doch waren diese Lügen voller Wahrheit. Sie haben viel über uns gesagt. Das Theater ist also eine Lüge. Wie geht es dir jetzt? Schauspielerin: Ich habe den Hunger vergessen für einige Zeit. Regisseur: Gut! Du kannst es auch andersherum machen. Danach bist du hungrig. Und du weißt, was dich satt macht. Oder woher dein Hunger kommt. Oder weshalb andere hungrig sind. Wenn du gut lügst, wenn du gut Theater spielst über die Wahrheit, kannst du all das erfahren über dich und die Welt. Die Welt gehört dann dir mehr als du denkst. 1998 Ich mag die Künstler, die neben ihrer radikalen Kunst egal was jobben um sich das Leben zu verdienen. Ich mag nicht die Künstler, die egal welche Kunst machen, um sich das Leben mit Kunst zu verdienen. 2000 Spielregeln2 Jeder Spieler verpflichtet sich für die Dauer von drei Jahren. Jeder Akteur identifiziert sich mit der Aussage des Stückes, nicht nur mit seiner Funktion. Jeder soll wenigstens zwei Aufgabenbereiche in der Gruppe übernehmen. „Kunst, und insbesondere das Theater, ist immer staatsfeindlich. Es ist das Spiel des Narren gegen den König.“ (Claus Peymann) Theater ist immer politisch, auch oder gerade wenn es nichtpolitisches Theater ist. Von der eigenen Arbeit überzeugt 107
sein und gleichzeitig offen anderen Formen gegenüber. Dem anderen zuhören und zuschauen bei den Proben ist wichtig, weil wir das gleiche vom Publikum erwarten. Der Name AGORA ist gleichzeitig Programm: Die AGORA war in den Städten der griechischen Antike der allen zugängliche Platz. Freie und Unfreie, Alt und Jung, Arm und Reich trafen sich dort. Er war Treff für Jahrmärkte, Handel, einen nachbarschaftlichen Plausch, politische Reden, Feste, Informationsübermittlung und Gaukler. Theater ist Leben auf der Bühne. „Das Sehen lehren“ (Bert Brecht) und lernen. Mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Fragen suchen und formulieren helfen. Für Kinderstückstrukturen werden Positivmuster verwendet, für Erwachsenenstücke Negativmuster. Während das Kind dadurch produktive Kräfte entwickeln kann, provozieren, aggressieren, ängstigen wir den Erwachsenen, um das Gleiche bei ihm zu erzielen. Unser Theater ist trotzdem optimistisch, weil wir an die Individualität des Zuschauers glauben, die ihn befähigt, die Welt zu verändern. Inszenieren heißt, von hundert Ideen neunzig gute zu verwerfen, um die zehn besten zu verwenden. Die Identifikation aller Beteiligten mit der Produktion ist unerlässlich. Das ist nur bei einem kollektiven Probensystem gewährleistet. Ein kollektives Probensystem funktioniert nur dann, wenn künstlerische Ideen nicht abgestimmt werden, sondern der Leiter im Zweifelsfalle die Autorität seitens der Gruppe für Entscheidungen besitzt. Zuschauer sein heißt: Sehen, hören, riechen, fühlen und denken. Eine gute Inszenierung muss mehrschichtig sein: sie ist ein See, in dem der Zuschauer planschen, schwimmen oder tauchen kann. In einer Pfütze kann man nur planschen. Eine noch so gute Idee muss von der Gruppe verworfen werden, wenn sie nicht zufriedenstellend verwirklicht werden kann.
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V.
Ich wünsch mir oft so sehr dass mir jemand MUT macht. Aber ich muss dann zuerst denjenigen MUT machen, dass sie mir MUT machen.
Wisst ihr ihr sollt euch ja nur einem Moment interessieren für mich einen Moment dann kümmere ich mich schon wieder um euch wie immer das ganze Jahr ein Leben genügt nicht um sich zu kümmern um euch. 2006 31.12.2003, 21 Uhr 40 Ich komme nach Hause spät in der Nacht die Füße brennen der Kopf im Halbdunkel taste zur Küche ich trinke Wasser aus dem Hahn lasse fallen in den Sessel mich schnür auf die Schuhe atme einmal tief die Lunge hustet aus die letzte Zigarette ich sammle Worte bleiben sollen sie öffne mein Buch 109
taste den Stift auf dem Tisch zünde an die Kerze und es stehen im Raum alle und blicken mich an aus großen Augen stumm von denen verabschiedet ich mich gerade. Ich blicke in die Augen allen lösche dann das Licht ziehe aus mich und geh zum Bett Rückt ein wenig Gute Nacht Stille ist
jenseits des Lärms im nächtlichen Wald die Angst vor der Dunkelheit verlieren, bis jemand seinen Namen ruft irgendwann in der Nacht und man aus voller Brust „Ich“ erwidern kann. 2002 Es gibt so Tage da schwankt alles es kann kippen dahin oder dorthin das geschieht nicht weil du es nicht zulässt du ackerst 110
machst deine Arbeit tust was zu tun ist In der Umgebung die dir vertraut ist auf eine Art die dir verhasst wird oder du gewöhnst dich an die üblichen Verspätungen an den Sekt danach an die Wenn und Aber und dann doch na klar an die Autobahnschilder und Baustellen an die Mühen der Ebene sagst Ja und Amen zu alldem und allem anderen und zu dir der du so wirst Tag um Tag Wie du bist. 2000 Ich sitze da regungslos aus Zeitvertreib vor dem Wasserhahn. Langsam endlos langsam bildet sich ein Tropfen im Hahn. Er nimmt Form an langsam bis er ein Tropfen ist, so wie man ihn kennt. Dann fällt er er ist ganz aufgelöst beweglich wie eine Tänzerin 111
und fällt bis er im Becken zerspringt in tausend Stücke und zerhüpft über die Ränder, ins Nichts 2000 In Ruhe sollen mich lassen alle,
die mich/ich kenne. So vieles hätte ich zu sagen und ständig höre ich zu. Übe mich in Geduld bis jemand auch mich fragen wird, wie es mir geht ohne schon auf die Schulter zu klopfen im Vorbeigehen. Ich kann so vieles geben aber sie wollen immer alles Das enttäuscht dann sie und mich. Lasst mich in Ruhe leben oder sterben Lasst mich in Ruhe! Ich will nicht was ich nicht können will und nicht kann. Lasst mich los! Bitte! Ich hab euch nichts getan und so kann ich nichts tun
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Weder für mich noch für euch. Loslassen! Wegschwimmen oder wegtreiben. Einfach gehen. Nicht einfach. Aber gehen! Los! Drauflos ohne Ende eines Wegs! Von mir aus durch Maulwurfgänge! 1998 1.11.2004, nach Telefonat mit Bert D. Gar so gerne würde er gehen den Weg mit uns hätte er Beine zum Gehen. Gar so gerne würde er singen auf dem Weg unser Lied hätte er noch seine Stimme. Gar so gerne würde er winken den Menschen die tun ihre Arbeit am Wegrand könnte er noch heben die Arme. Gar so gerne würde er schauen mit uns die Farben die gebiert die Sonne würde nicht erlöschen das Licht seiner Augen. Gar so gerne würde er lauschen dem Wind in den Pappeln mit uns würden nicht taub seine Ohren. Also lasst
nicht jammern uns über den steinigen Weg nicht klagen uns über trockene Kehlen nicht fluchen uns über die Hitze des Mittags 113
nicht weinen uns über den Wind im Gesicht nicht verachten uns die, die verharren bei sich. Lasst gehen uns/unseren Weg gemeinsam. Ich möchte einen Film machen über die AGORA, über meine Heimat, über mich als Künstler. Ich sehe brennende Objekte auf Feldern: Sonnenschirme, Schränke, Wäscheleinen oder Wäsche. Ich höre meine Stimme: Abschnitt aus Buch über Heimat, Kommentare, Großvater und Musik, Geräusche, Irgendwo-Momente des Wanderns, Stock weg, Training. Vielleicht rückt auch die Feuerwehr aus. Vielleicht brennen auf einem Feld Heuböcke, ein Schuppen, ein Baum, ein Tier. Ein Foto kann brennen. Von mir? 2006
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VI.
Ein Blick ist mehr als ein Wort. Ein Augenblick ist mehr als immer. Ein Wort ist mehr als zwei.
Worte das Theater, diese Kunst des Augenblicks, ist schon vergangen, wenn wir drüber nachdenken, reden oder schreiben. Im Gegensatz dazu bleiben Bilder, Skulpturen, Noten, Worte, auch wenn wir über sie nachdenken, reden oder schreiben. Sie überdauern den Augenblick, Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende. Die Gedanken, geschriebenen oder gesagten Worte vergehen, werden ersetzt, ergänzt, ihnen wird widersprochen, sie werden oft wertlos. Die Künste bleiben fest, unersetzlich, einmalig. Der Akt des Schaffens ist vergangen. Das Resultat ist die Kunst. Im Theater ist der Akt des Erschaffens auch das Resultat. Es ist im Augenblick. Und schon vorbei. Wenn wir darüber nachdenken, reden oder schreiben, ist es vergangen. Umso vorsichtiger müssen wir unsere Worte wählen, damit sie den Augenblick nicht auslöschen aus den Gedanken. Worte sollen bewahren, nicht vernichten. Worte sollen beleuchten, nicht auslöschen, verbrennen. Worte sollen drehen und wenden, nicht zerquetschen. Worte sollen erklären, nicht zerreden. Sonst erzeugen Worte nur Wortlosigkeit (Stummheit). 2000 9. 8. 1995, fast 3 Uhr Sie schätzen die Worte nicht. Wer tiefgründige also vielfarbige Bilder machen will, muss die Worte darunter hören, sie nicht zukleistern, nicht Worte ersetzen durch Regenbogenfarben, sondern sie weiterführen. Das szenische Bild 115
ist die Fortführung des Satzes mit anderen Ausdrucksmitteln. Es ist nicht die Arroganz, zu behaupten, Bilder sagen mehr als Worte. Sie sagen Worte. Sie malen Worte. Sie komponieren Worte. Sie geben ihnen Raum und Licht und Körper von Spielern. Ich kann spüren, dass sie erfüllt sind von Worten, die fähig sind, Geschichten zu erzählen aus Zeiten und Unzeiten, sie an Land zu ziehen und wieder zu beatmen. So leben sie. Dagegen steht der flapsige Umgang mit ihnen. Oft mörderisch. Oft selbstzerstörerisch. Sie machen dann aus Gedanken Belanglosigkeiten. Sie degradieren Lebensinhalte zu Anekdoten. Sie fassen das Zusammenleben von Menschen zusammen, sie reduzieren deren Gewicht, deren Offenheit und Neugier, deren Zuneigung und Hingabe, deren Schutzlosigkeit auf Berichtform, Ich-Sicht. Aus diesen Stammeligkeiten sprießt das Nichts. Es wuchert dann der Stammtisch, es hallt das Echo schwach das Wort, und es stirbt im Raum, es knallt gegen eine Wand, zerplatzt, zerläuft, verblasst oder verfliegt Und ich gehe meines Weges. Lautlos! Dann!
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Wortlos gehen die Worte die Treppe hinab über die Wiese in den Bach der sie trägt ins Tal wo er stehen bleibt im Weiher der verschlammt und sie versinken dann für immer, Wortlos, kein Weinen, kein Aufschrei, kein Strampeln. Weg. 1999 Keine Worte Wieso finde ich in meinem Buch keine Worte für die Glücksmomente die es auch gibt? Oder ist es so dass Worte nichts erfinden können, höchstens finden.
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Also sind Worte immer der Widerhall dessen was es gibt oder nicht geben darf oder soll. Was nicht ist, kann nicht in Worte gehüllt werden. Der luftleere Raum, die Schwerelosigkeit des abgenabelten Astronauten oder verschwundenen Tauchers im Weltall ist kein Ort für Worte. 1994 Und schreien wirst du
die Wörter an die Wand mit dem Pinsel weil sie nicht verstummen dürfen in dir. 2000 118
VII.
Wie kann ich ohne Namen leben? Findet mir einen Namen Gebt mir einen Namen. Ich möchte heiSSen wie ein Wochentag An dem jeder lacht.
Workshop Erde (Sommerworkshop 1996) Zentral für unsere gemeinsame Arbeit sehen ist das Material ERDE: Ich möchte dich bitten, von einem Ort, der dein Zuhause ist oder war, 2–3 kg gesäuberte Erde mitzubringen. Sicherlich hängt an dieser Erde eine Geschichte, in der du vorkommst. Damit werden wir arbeiten. 24. 7. 1994, nach dem InED-Sommerworkshop Lorca zwinkert Das Wasser schlägt seine Trommel aus Silber. Die Bäume weben den Wind und die Rosen färben ihn mit Duft. Eine Spinne unermesslich macht dem Monde einen Stern. Die Mondfrau tanzt derweil im Teich mit mir. 119
Fünfzig Theaterübungen und fünfzig Geschichten über Menschen, Begegnungen mit Menschen wechseln sich ab. Alle/ vielleicht wirklich auch die Übungen haben den Titel Marcel C, Werner W, Arthur W. Scheinbar gibt es keinen Zusammenhang. Und doch stellt der aufmerksame Leser bald fest, dass sich die Übungen aus den biografischen Notizen ergeben. Es ist die Spannung zwischen Realität und Fiktion. Die Biografien sind der Quell für die Übungen. Die Quelle wird zum Bach, zum Fluss, aus dem wir trinken, in dem wir schwimmen können. 2009 Gibt es innere Narben? Der menschliche Körper hat Narben. Im Laufe der Jahre werden es immer mehr. Diese Narben erzählen Geschichten. Geschichten von Wunden, die uns das Leben beigebracht hat. So werden wir mit der Zeit immer reicher an Geschichten, die wir dem Zuhörer oder Zuschauer erzählen können. Das ist die Aufgabe des Theaters. Leider sind viele Theater damit beschäftigt, Knutschflecken und Pickel zu erzählen. 2004 Sonntag, 12.2. 1993 Übung über die Subjektivität der Wahrnehmung Wir stehen im Raum vor einer breiten Fensterfront. Zuerst schließen wir die Augen. „Wir werden jetzt fünf Minuten schweigend die Augen öffnen. Danach schließen wir alle die Augen, und mit geschlossenen Augen benennen wir das, was uns am meisten ins Auge gefallen ist in diesen fünf Minuten. Nur eine Sache. Wir entscheiden uns.“ Wir haben fünf Minuten schweigend geschaut. Wir schließen die Augen und benennen das, was uns am meisten ins 120
Auge fiel: der bunte Schulbus, die Elster, die ziehenden Wolken, die Mutter, die ihr Kind über den Gehweg zerrt (mehrmals), der Wind in der Birke, jemand hat gesehen, wie ein Maulwurfhügel sich von innen bewegt und aufgestoßen wird, das unsichtbare Polizeiauto, aber das Blaulicht spiegelte sich an einer Fassade und die Sirene war zu hören, die Ampel, die von Rot auf Grün schaltet, einer fischt Flaschen aus dem Mülleimer … Eine junge Frau sagte: die Heizkörper am Boden vor der Glasfront. Ihr war kalt. Sie hat die ganze Zeit auf die Heizkörper gestarrt. Sie war so mit sich und ihrem Körper, den kalten Füßen und Händen beschäftigt, dass sie blind war für das Leben da draußen. Sie hat nichts erhalten und sie hat sich nichts genommen von dem großen Reichtum des Lebens. Sie wird keine Spielerin für die Bühne und für den Zuschauer. Der Blindenspaziergang Eine Übung, die ich oft mache und die immer wieder ganz neu ist, ist der Blindenspaziergang. Über eine gewisse Zeitspanne gehe ich mit den Teilnehmern, die Hand in Hand eine Kette bilden und blind sind, durch ein riesiges Gebäude, durch eine Landschaft, womöglich auch durch eine Stadtlandschaft. Das kann eine halbe Stunde dauern, das kann aber auch vier Stunden dauern. Das ist etwas, was ich oft an den Anfang eines Workshops setze, aber einer Arbeit, wo die Teilnehmer sich noch nicht kennen. Wo keine Vertrauensbasis da ist, wo man auch noch nicht weiß, welche Hand halte ich. Wichtig für mich ist, dass ich einschätzen kann, dass die Kette nicht reißt. Das wäre fatal. Bisher ist nie eine Kette gerissen. Und es ist erstaunlich, was die Teilnehmer im Abschlussgespräch über sich erzählen. Wie sie sich verändert haben, wie sie, ohne dass sie es bemerkt haben, eine Gruppe, eine Kette geworden sind, Glied einer Kette und gleichzeitig die Kette. Wie diese Mechanismen der Gruppe da funktionieren, wie diese Kette ganz klein wird, wenn es gefährlich wird, wenn es auf einmal Berg und Tal wird, wie sie sich verlängert, wenn die Anschlussflächen es erlauben, wie das Gehör stark geworden ist. Das Gehör steigert sich in ei121
ner Viertelstunde schon um fünfzig Prozent. Wie auf einmal die Teilnehmer Geräusche wahrnehmen, die sie seit Jahren nicht mehr wahrgenommen haben. Also, wie da ein Verwandlungsprozess anfängt, ganz schnell nicht durch den Kopf registrierbar, eingrenzbar, berechenbar, sondern einfach so. Also dieser Umstieg vom Alltagsbürger in die Reduzierung auf mich selbst mit einer möglichen Öffnung zum Künstlerdasein. Das Provozierende bei dieser Übung ist, ich bin der Sehende. Ich höre immer wieder: Ist das die Funktion des Regisseurs? Aha, der leitet 25 Blinde, er sieht, wo es lang geht, und den anderen bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen. Das ist eine berechtigte Frage. Jemand, der sich diese Frage nicht beantwortet, sollte diese Übung nicht machen. Derjenige, der denkt, ich bin der Sehende und das sind die Blinden, darf überhaupt keine Kunst praktizieren, und er sollte auch kein Kunstpädagoge sein. Ich finde es immer wertvoll, wie die Blinden mir, dem Sehenden, schildern, was ich übersehen habe, weil ich sah … Ich sehe mit den Augen weniger und höre sehend weniger als diejenigen, die blind sind. Das, was diejenigen, die nicht geschaut haben, in sich gespürt haben an Landschaften und auch ganz realistisch gehört haben, habe ich nicht gehört. Ich stelle immer wieder fest, dass dieser Verwandlungsprozess bei mir nicht stattgefunden hat. Das ist ärgerlich für mich. Weil ich die Verantwortung für die Gruppe habe, passiert in mir etwas anderes. Es interessiert mich nicht aus der Pädagogik heraus, was die Teilnehmer wahrgenommen haben, um es womöglich zu bewerten, sondern aus reiner Neugier, und für mich ist es wichtig, diese Neugier auch zu haben, wenn ich sie nicht hätte, würde ich diese Übung nicht machen. 1992 Nichts Wir sind im Trainingsraum. Die 18 Studenten blasen Luftballons auf. Jeder seinen. Sonst ist der Raum leer. Der Ballon ist euer letzter Besitz. Sonst habt ihr alles verloren. Etwas bleibt. Eine Sache. Ein Mensch. Was ihr wollt. Wenn ich es schaffe, 122
euren Ballon zum Platzen zu bringen, habt ihr das Letzte, was euch geblieben ist, verloren. Ein Kampf auf Leben und Tod bricht aus. Nach einer Stunde ist der Kampf vorbei. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Über die Hälfte der Ballons habe ich zerplatzt. Beim anschließenden Gespräch stellt sich heraus, dass die Überzahl im Ballon ihr oder ein Kind gesehen hatten, die anderen den Partner, einen Freund, den Hund, die Katze oder den Hamster, die es zu beschützen galt. Die anderen die Puppe aus der Kindheit, einen Abschiedsbrief, die Erinnerung, den Mut, einen Wunsch und die Luft zum Atmen. Die einen haben sich, als der Ballon platze, stumm an den Rand des Raumes gesetzt und zugeschaut, wie die anderen ihren Ballon verteidigten. Andere haben den Mitspielern geholfen, wenn der eigene Ballon zerplatzt war, dadurch behielten sie etwas, ein Geheimnis. Der mit dem Abschiedsbrief hat aus der Haut des geplatzten Ballons eine kleine Luftblase gemacht: ein Fragment seines Briefes. Eine Frau hatte ihren Ballon unter den Pullover gestopft, er war ein werdendes Kind. Er zerplatzte sofort. Viel besser vermochten diejenigen ihre Ballons zu verteidigen, die sie immer wieder hochstießen. Ein junger Mann, der kampflos seinen Ballon verloren hatte, wurde nach der Identität des Ballons befragt, kreidebleich. Nichts. Er war nichts. Er ist sofort geplatzt. Fast von selbst. Ein Spieler muss etwas haben, um das es sich zu kämpfen lohnt, für das es sich zu spielen lohnt. Einen inneren Antrieb. Eine Kraft. Wenn du nichts zu verlieren hast, auch nicht den Mitspieler, hast du nichts, was du mitteilen kannst, was du teilen kannst, was du einem Zuschauer schenken kannst. Es gibt keinen Grund, auf die Bühne zu treten. Du musst etwas haben. Etwas kann zu schwer sein. Das werdende Kind. Aber ein Gewicht musst du haben, sonst bist du unsichtbar. Ein Ballon kann alles sein, sogar ein Ballon. Das ist das Erste und das Letzte. Die Geburt und der Tod. Dazwischen liegen die Welt und das ganze Leben. Und wenn es nichts gibt, nicht einmal die Lust am Spiel, dein Spielzeug, den Ballon, den es 123
zu verteidigen lohnt, dann geh nach Hause. Du hast auf der Bühne nichts verloren, weil du auf der Bühne nichts zu verschenken hast. Du bist eine leere Sprechblase. Von dir geht kein Funken Hoffnung aus. Du bist stumm. Wortlos. 1993 (überarbeitet 2006) 12.2. 1993 Zwei Workshop-Momente von Worriken 1. Übung: Luftballons im Bauch, ist letzter Besitz, Planet zerstört, eine Gefahr ist geblieben, sie versucht alles zu zerstören. Bei dem Gespräch im Anschluss stellt sich heraus, dass die Überzahl der Teilnehmer im Ballon ihr Kind oder ein anderes Lebewesen gesehen hatten, das sie zu beschützen suchten. Ein junger Lehrer, nach der Identität des Ballons befragt, wurde kreidebleich „Nichts! Er war nichts. Ich habe nichts gefunden, das mein letztes Besitztum, mein Überlebenspartner hätte sein können. Ich wollte mein Auto nennen und habe mich erschrocken. Ich habe bisher um nichts kämpfen müssen, alles ist mir in den Schoß gefallen. Ich habe nichts. Es war nichts.“ Bei allen Identitätswechseln, die Ballons schon in meiner Theaterarbeit unternommen haben, war mir bis dahin nicht bewusst gewesen, dass ein Ballon auch nichts sein kann. Ein Ballon kann alles sein, sogar ein Ballon. Darüber hinaus kann er nichts sein. 2. Miniaturinszenierung ausgehend von Trainingsmomenten: Alle sind Hühner, in ihren Bäuchen haben sie ihren Luftballontraum. Das unruhige Huhn wird übermütig, es will Mme. Bovary sein. Es geht leichtsinnig mit seinem Traum um. Er zerplatzt. Er steht hilflos/allein/nackt da, während die anderen sich zurückziehen. An diesem letzten Workshop-Tag bin ich der einzige Zuschauer, sitze mit meinem Trainingsballon vor den Spielern, die viel Kraft ausströmen. Manche Momente sind trotz ihrer Bruchstückartigkeit schon wahrhaftig. Der Ballon zerplatzt wie vorgesehen und sehr eindrucksvoll spielt der Spieler sein Entsetzen, seinen zerplatzten Traum. Ich hatte das Verlangen, 124
ihm meinen Traum zu schenken. Ich wurde als Zuschauer dadurch zum wichtigen Element der Inszenierung. Da brach ein Mitspieler aus dem Szenario aus und schenkte dem Einsamen mit der Geste der Humanität, Christlichkeit oder des warmen Herzens den eigenen Ballon. In diesem Augenblick verschloss sich das Stück mir, dem bis dahin teilnehmenden Zuschauer. Ich wurde mit meinem Ballon überflüssig. Ich war unnütz. Die Bühne hatte, indem sie alles sagte, sich mir verschlossen. Es ging nicht mehr um mich. Es ging um Moral oder Theater. Das Theater zelebrierte eine vollendete Botschaft oder sich selbst. Es war mir dadurch abhandengekommen. Durch seine fragende Ästhetik war ich gefordert, durch seine antwortende Ästhetik schlug es mir die Türe vor der Nase zu. 26.1. 1993 Workshop-Erlebnis Die Übung: Alle sitzen im Kreis am Boden. Wir werfen uns das Wort „Raindog“ zu, rhythmisieren es, spielen damit, kauen und kneten es. Wir konzentrieren uns, schließen die Augen und lassen dem Wort die Möglichkeit, aus unserm Innern über die Lippen nach außen zu kriechen, wo es sich klanglich voll entwickeln soll. Eine Studentin berichtet mir nachher, dass sie mit Erstaunen festgestellt hat, dass das Wort für andere noch gar nicht hörbar war, obwohl es für sie schon laut und deutlich da war. Sie sagte es zwar schon, aber es war noch immer in ihr drin, sie hatte es noch nicht über ihre Lippen gelassen. Ich erklärte ihr, welche Hürden ein Wort, eine Botschaft, eine künstlerische Mitteilung nehmen muss, bevor sie für andere, für Zuschauer/Zuhörer vernehmbar sind, bevor sie einen anderen erreichen. Ich erklärte ihr durch ihr Erlebnis, dass der Weg von Innen nach Außen, vom Ich zum Du ein langer ist, dass er sich aufteilt in verschiedene Etappen. Das Wort zeigt in mir eine unüberhörbare Präsenz, dann erst setzt es die Lippen in Bewegung, dann erst entsteht ein Hauchen und Flüstern, also ein bewusstes Sprechen, und 125
daraus kann dann hörbar, identifizierbare Sprache entstehen, ein Sagen, Rufen oder Brüllen, eine vernehmbare Botschaft. Das sind die Hürden, die der Schauspieler immer wieder nehmen muss. Davon hängt es ab, was im Volksmund „Ausstrahlung“ genannt wird. Und es hilft nicht, das Wort schnell und leichtfertig zu sagen, ohne es vorher im Innern zu formulieren. Von der Ehrlichkeit und Gründlichkeit eines solchen Entstehungsprozesses hängt die Glaubwürdigkeit einer theatralischen Mitteilung ab. Nur so kann wahrhaftiges Theater entstehen. Matthias Weiland erinnert sich: Der Zuschauerspieler Meine erste Begegnung mit Marcel Cremer geht zurück auf das Frühjahr 1994. Es war keine persönliche Begegnung mit ihm, aber bereits bei dieser „Premiere“ hatte ich eine Rolle: Ich war Zuschauer. Zuschauer einer Werkstattpräsentation unter seiner Leitung am Ende der Theaterwoche Korbach. Zuschauer, aber nicht im Wortsinn, sondern auf eine doppeldeutige, fast paradoxe Weise, die mir völlig neu war. Zeuge und gleichzeitig Beteiligter eines Ereignisses war ich, das ich bis dahin unter dem Begriff Theater gekannt hatte. Obgleich äußerlich passiv und unbeweglich, bewegte mich, was ich dort sah, wühlte mich auf in meinem Innern, sodass ich mit der Zeit das Gefühl bekam, am Geschehen vor mir unmittelbar beteiligt, nur durch mein Schauen und Hören und Dasein zu einem Mitspieler geworden zu sein. Was dort auf der „Bühne“ passierte, war gefährlich, rief nach mir, weckte mich auf, provozierte mich, forderte mich heraus, wollte etwas von mir, fragte mich und stellte mich infrage. Marcel benutzte in seinen Werkstätten oft Textmaterialien, die von den Teilnehmern stammten oder vom Veranstalter vorgegeben waren, und reduzierte diese auf einzelne Sätze oder Wörter im Verlauf des kreativen Prozesses einer Werkstatt. Er arbeitete zusätzlich immer auch mit Gegenständen oder Materialien, die häufig zur alltäglichen Lebensrealität 126
der Teilnehmer gehörten. Das konnten ein Kleidungsstück, ein Schlafsack, ein Paar Schuhe oder ein Kuscheltier sein. Im vorliegenden Fall hatte jeder der Teilnehmer eine schlichte Liegematte aus Bast, wie sie in jedem Ein-Euro-Shop zu kaufen ist. Zu Beginn der Präsentation verbargen sich die Spieler in einer Reihe hinter ihren Matten stehend. Das wirkte wie ein Vorhang und auch komisch, da man nur die Hände der Teilnehmer, die die Matten hielten, sah. Plötzlich war ein leises Flüstern zu hören und das ganze Bild geriet in Bewegung. Das Flüstern schwoll an und bald kroch durch die Ohrmuscheln der Zuschauer das Wort „Laboratorium“, das die komplette Aktion wie ein roter Faden durchzog und den visuellen Eindruck einmal dialektisch durchkreuzte, ein anderes Mal rhythmisch stützte und weitertrieb. Der Bastmattenvorhang lichtete sich und die Spieler, gleichsam in einer kollektiven Bewegung, flossen, schoben, drückten und pressten ihre Körper langsam in eine Form, die ich als „Menschenbaum“ oder „Körperbaum“ bezeichnen würde. Die Geburt dieser Vision erzeugte in mir eine Ekstase, die gleichwohl von einer aufrüttelnden Ambivalenz durchflochten war: Einige Zeit vor jenem Ereignis hatte ich die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau besucht. Dort war ich von einem Miniaturmodell, das die Ankunft eines Transports, die Selektion an der Rampe, bis hin zur Vergasung der Opfer in den Gaskammern nachstellte, beeindruckt gewesen. Diese Erfahrung, die ein Teil meines Gedächtnisses geworden war, verband sich mit der vor mir ablaufenden, sinnlichen Konkretheit einer theatralen Aktion und für einen kurzen Moment bekam ich eine leise, sehr leise Ahnung von dem Grauen, das sich im Innern der Gaskammern abgespielt haben muss und für das es keine Zeugen gibt. Wie war das möglich? Erfüllt von Schaudern und Faszination, erklärte ich mich zum Novizen einer Kunst, die es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatte, im Zuschauer eine neue, eine revolutionäre Wirklichkeit zu erzeugen. Das hat mein Leben verändert. Er hat mein Leben verändert. 127
Aspekte des Autobiografischen Theaters der AGORA 1. Die Arbeit mit privaten Geschichten Unsere Geschichten verändern sich im Laufe der Arbeit. Sie wandern vom Bauch zum Kopf, d. h., um mit einer emotional erlebten Geschichte arbeiten zu können, muss ich eine Distanz zu ihr aufbauen, ich muss sie von einem anderen Standpunkt aus sehen. Wenn ich meine Geschichte zum ersten Mal erzähle, ist es noch eine ganz private Geschichte. Ich muss mich dazu überwinden, sie mitzuteilen, sie öffentlich zu machen. Wichtig ist, dass die Geschichte einige Zeit (ein Jahr, zwanzig Jahre, einige Wochen, ein Tag) zurückliegt: Wenn ich noch emotional in der Geschichte drin bin, kann ich sie nicht für die Theaterarbeit verwenden. In unserem nächsten Kinderstück „Wolkenschaf und Regenhund“ geht es um ein schwarzes Schaf. In unserer ersten Probenwoche in Frankreich hat jeder Schauspieler und der Regisseur eine „schwarze-Schaf-Geschichte“ aus seiner Kindheit oder Jugend erzählt. Mit diesen „schwarze-Schaf-Geschichten“ werden wir weiter arbeiten. Aus den zehn Geschichten wird eine „schwarzeSchaf-Geschichte“ entstehen, die wir auf der Bühne zeigen werden. 2. Der Regisseur wird im Laufe der Zeit zum Betrachter, zum ersten Zuschauer. In der ersten Probenphase, der Ich-Phase der Theaterarbeit, ist Marcel Teil der Gruppe. Er steht nicht außerhalb, sondern beteiligt sich aktiv an den Theaterübungen. Der Kreis ist wichtiger Bestandteil unserer Theaterarbeit, immer wieder bilden wir einen Kreis vor oder nach den Übungen. In der ersten Phase steht Marcel mit den Schauspielern im Kreis. In der Du-Phase, in der es konkret um die Findung der Rolle, der Figur geht, wird er zum ersten Zuschauer der Gruppe. Der Kreis öffnet sich allmählich, da Marcel jetzt aus ihm heraustritt, um ihn von außen zu beobachten. Er entfernt sich jedoch dadurch nicht von der Gruppe, sondern durch das Hinaustreten 128
aus dem Kreis wird ihm eine andere Perspektive ermöglicht. In der dritten Arbeitsphase öffnet sich der Kreis ganz. Es wird konkret am Theaterstück gearbeitet, Szenen werden aufgrund der vorangegangenen Improvisationen entwickelt und gefestigt. Der Zuschauer rückt immer näher, er wird spürbar und immer wichtiger. Marcel ist in dieser Phase der Stellvertreter aller Zuschauer. Da die Ich-Phase und die Du-Phase nun abgeschlossen sind, geht es jetzt hauptsächlich um den Zuschauer. Marcel übernimmt dessen Funktion, er sagt, welche Bilder ihn erreichen, ihm etwas mitteilen und welche Bilder zu privat noch beim Schauspieler stehengeblieben sind, sodass der Zuschauer keinen Zugang zu ihnen findet. 3. Worte wichtig machen, indem ich sie rar mache Das ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit mit den Geschichten. „Ein Augenblick ist mehr als immer. Ein Blick ist mehr als ein Wort. Ein Wort ist mehr als zwei.“ (…) 6. Der Zufall als kreatives Moment Die ersten Proben zum „Weißen Dampfer“ fanden in Frankreich am Meer statt. Die Gruppe hatte dort ein Haus zum Arbeiten gemietet. In einem Arbeitsraum standen Schemel. Diese hat die Gruppe in den Probenprozess eingebaut. Jeder Schauspieler hatte sich seinen Schemel mit Seilen auf den Rücken gebunden, und sie sind zum Strand gewandert. Am Strand hat jeder Schauspieler sich einen Ort ausgewählt, sich auf seinen Schemel gesetzt und zu den Klängen der Wellen musiziert. Allmählich wurde der Schemel zum Ort, zum Zuhause des Schauspielers und der Figur: Mit seinem Schemel markierte jeder seinen Platz im Raum, in der Gruppe, im Verhältnis zu den anderen Figuren des Stücks. Die Schemel sind jetzt mit auf der Bühne. Sie sind Stuhl, Requisit und Zeichen der Verhältnisse unter den Figuren zugleich. 129
7. Die Rollenbiografie: vom Schauspieler-Ich zum Du der Figur Eine der Aufgaben an jeden Schauspieler: Schreibe die komplette Biografie deiner Figur. Die Lücken, d. h. im Fall von „Der weiße Dampfer“: Was nicht in der Erzählung von Aitmatow gesagt wird, musste jeder Schauspieler ganz privat füllen. Diese Aufgabe taucht in veränderter Form in der Bearbeitung eines jeden Stückes auf. Sie findet ihre Fortsetzung in einem Verhör: Regisseur und Schauspieler stellen einem der Schauspieler Fragen zu seiner Biografie. „Wann wurden Sie geboren?“, „Welchen LKW fuhren Sie denn durch Kirgisien?“, „Weshalb wurden Sie Priester?“, „Der Mann auf dem Foto ist der Vater?“, „Was schriebst du denn über Melanie in dein Tagebuch?“ usw. Oft werden in dieser Übung die Lücken einer Rollenbiografie aufgedeckt; der Schauspieler erhält somit wichtige Hinweise, an welchen Aspekten er zu arbeiten hat, um wirklich glaubhaft mit seiner Bühnenfigur zu verschmelzen. Andere Schauspieler werden wiederum in ihrer Figur bestätigt, z. B. Gerd, der den Oroskul im „Weißen Dampfer“ spielt, hat eine Schreinerausbildung gemacht. Als er als Oroskul, Förster und Herr der Wälder, über Holzarten, Qualitäten, Nutzungsmöglichkeiten befragt wurde, konnte er genauestens auf alle Fragen antworten, da er den Verhörenden in dem Bereich weit voraus war. (…)
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VIII.
Nichts bleibt, wie es ist. Im Gepäck haben wir die Erinnerung. Wir werden neue Grenzen überschreiten, neue Kontinente betreten, uns neue Wege ebnen. Wir hören nicht auf, die Nase in den Wind zu halten, die Segel zu setzen und die Welt zu bereisen.
„Ich arbeite weiter mit dem Material, das ich habe und bin. Ich bin ein Allesfresser von Gefühlen, Menschenwesen, Büchern, Ereignissen und Schlachten. Ich würde die ganze Erde aufessen. Ich würde das Meer austrinken.“ Pablo Neruda Warum? Gefragt wird im Inszenierungsprozess: Wo ist meine Geschichte in einem Text, einem Stück. Es interessieren nur die Textstellen, in denen die eigenen Geschichten der Beteiligten Ensemblemitglieder enthalten sind. Alle anderen Seiten eines Buches werden zugeklebt und nicht bearbeitet. 2009 Der
dritte
geeignet?
Es
Zuschauer Oder: Ist das für einen Dritten ist die Ergänzung des Prinzips von Ich und Du
zum Wir. Phase: Ich-Phase, der erste Zuschauer: Wir erzählen uns biografische Geschichten. Wir öffnen sie zum ersten Mal für einen festen Kreis von Akteuren (zu denen zu dem Zeitpunkt der Regisseur auch gehört). Der Kreis ist geschlossen. Im Mittelpunkt steht ausschließlich das Ich, die Ichs. Ich bin mein/ dein Zuschauer. Phase: die Du-Phase, Versuche künstlerischer, spielerischer Umsetzung. Der Regisseur ist der von allen legitimierte erste allgemeingültige Zuschauer, aber nach dem Ich das
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legitimierte Du. Die persönlichen Geschichten verfremden, vermischen sich, verdichten sich meist reduktiv. (Überprüfung auf einen dritten Zuschauer) Phase: Er, der dritte Zuschauer ist das öffentliche Publikum. Sie ersetzen den Regisseur/zweiten Zuschauer. Er wird überflüssig. Der Dialog findet statt zwischen dem ersten und zweiten Zuschauer. Die eigentliche Wir-Phase: zwischen Bühnen-Ichs + -Dus auf der einen Seite und den Wirs (Zuschauer). 2000 19.11.1992 Zeit ist Fläche. Die Zeit im Theater hat mehr zu tun mit Raum, Raumaufstellung und Choreografie des Raums als mit dem Ticken des Uhrzeigers. Der offensichtliche Grund ist, dass aus dem Nacheinander einer Handlung, das Nebeneinander von Bildern geworden ist. Körper – Bewegung – Bild Die Quelle jeder künstlerischen Arbeit ist das private Ich. Jeder Mensch trägt unzählige Bilder, Geschichten und Gefühle mit sich. Künstlerisch aktiv sein, heißt, diese Eindrücke auszudrucken und gegebenenfalls auszudrücken. Jeder Theatermensch trägt alle Figuren der Weltliteratur mit sich herum; jeder besitzt in sich ein Gretchen und eine Maria Stuart, einen Hamlet oder einen Woyzeck. Oft sind diese Figuren in uns verloren gegangen oder sie wurden verschüttet. Theatralisch aktiv werden heißt also, in die inneren Kammern des Ich hinabzusteigen und die Figuren ans Tageslicht zu befördern, mit denen wir uns auseinandersetzen wollen. So werden diese Figuren aus dem Ich zu unserem künstlerischen Du, mit dem wir auf der Bühne einen Dialog führen können. Das bewusste Spannungsverhältnis zwischen Ich und Du ist eine Voraussetzung für einen produktiven künstlerischen Vorgang. Indem auf der Bühne Menschen agieren, die von ihrem Ich etwas mitteilen, können menschliche Verhältnisse für einen Zuschauer sichtbar werden, die wahrhaf132
tig sind. Sie sind wahrhaftig in dem Sinne, dass dieses Theater dem Zuschauer Wege zum Menschsein eröffnen und ihn nicht von seinem Menschsein ablenkt. Dieses Theater sucht die Auseinandersetzung mit der Realität, es lenkt nicht von ihr ab. Dieses Theater muss nichts erfinden, es begnügt sich damit zu finden. Die Realität hat alles, was die Kunst benötigt. Dieses Theater sucht: im Ich, in Räumen, in Blicken, in Berührungen, in Klängen, in der Sprache, in Objekten. Es bewegt sich im Raum. Es ist ständig auf der Suche. Es ist hellhörig und scharfsichtig. Es greift nach jedem Impuls. Es versteckt sich nicht in Dunkelkammern, weil das Leben es bedrohen würde. Es ist neugierig auf alles, was es umgibt. Nichts ist unwichtig. Es versucht all das zu hören und zu sehen, was wir im Alltag überhören und übersehen. Weil es im Gewöhnlichen das ungewöhnliche entdeckt, kann es Perspektiven verschieben, Gewohnheiten auflösen, Sprache dechiffrieren und Verhaltensmuster infrage stellen. Überhaupt stellt es mehr Fragen, als es Antworten gibt. Brief an Gitta Martens, Workshop in Remscheid, 1996 Fragen für den Anfang der Arbeit Wo kommst du her? Warum bist du hier? Wen hättest du mitgebracht? (unsichtbaren Zuschauer) Was kannst du außer Theater? (für Gruppe zum Überblick) Was ist in deinem Rucksack? Nimm etwas raus und wirf es weg. Was würdest du am ehesten wegwerfen? (Tu es!) Zeig uns eine Narbe, und erzähl uns ihre Geschichte bis zur Wunde. Sing ein Lied deiner Kindheit! Nimm das Telefonbuch, wähle blind jemand heraus. Ruf ihn an! Er ist dein Zuschauer. Geh durch die Stadt. Finde jemand, der sich deine Geschichte anhört. (Du wirst mit einer anderen Geschichte wiederkehren.) Hau deinen Stab. Er ist das Theater. Welches Theater bringst du mit? Erzähl einen Witz, den du nicht vergessen kannst. Finde deinen Baum, er ist dein Du. Finde deinen Stein, er ist dein Gesicht (Auge). Erinnern: Etwas zum ersten Mal gemacht. 2004 133
Ich
Spieler in der AGORA, wahrscheinlich Ich weiß nicht, ob alle auch gute Zuschauer sind. Wenn sie zuschauen im Probenprozess, stellen manche keine Fragen, sondern geben Antworten, sie sagen nicht, was sie gesehen haben, sondern was sie noch nicht gesehen haben. Sie sagen nicht, was sie bekommen haben, sondern was ihnen fehlt. Sie benehmen sich plötzlich wie Onkel und Tanten, die auf Besuch sind und den Kindern, die ein Konzert gegeben haben, auf die Schulter klopfen mit dem Duktus: „Fleißig proben, dann wird das noch was.“ Manche sagen nichts, wo doch das Nichts-sagen mehr verletzt als das Falsche sagen oder die falschen Worte haben, sie sagen aber anstatt und (Was noch? Wie weiter? Wohin?) zu sagen. Die besten Spieler sind auch dadurch die besten, dass sie gute Zuschauer sind (oder werden). 2004 habe nur gute
die besten.
Bitte, sagt nicht immer, ihr wollt den Text wiederholen. Es ist kein Text. Es ist die Sprache der Personen, die ihr sucht. Es sind Personen, die ihr sucht. Es sind Personen, die wir in euch suchen. 1991
Eine Figur ist in mir angesiedelt. Sie ist da verborgen. Sie ist da geboren. Sie hat da ihre Quelle ihren Ofen ihr Bett ihr Zuhause Sobald sie öffentlich wird, verlässt sie dieses Zuhause. Sie wächst oder bewegt sich
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aus mir heraus. Weil sie mich verlässt, muss ich mich öffnen. Öffnen können. Offen sein: neugierig hellhörig wissbegierig weitsichtig Und dann kann es passieren, dass sie die Luft nicht verträgt, nicht die Sonne, nicht den Lärm, nicht den Stress, das Lampenfieber die Schminke die fremden Hotelbetten die Mitspieler die Zuschauer dann ist sie nicht. Die Figur. 2007 „K“ nach Motiven aus dem Roman „Der Prozess“ von Franz Kafka Konzept des Stückes: Gemeinschaftsproduktion der Bühnenakteure unter Leitung von Marcel Cremer, U 1986 Warum Kafka? Während der Arbeit an unserer Produktion tauchten immer wieder Momente auf, die uns zwangen, auf diese Fragen einzugehen. Einmal war der eine, dann der andere wieder beunruhigt, so dass wir uns zusammensetzten, diskutierten, meist sehr aufgewühlt, wissend, dass morgen die gleichen Fragen wieder in anderem Kostüm auftauchen. Er zwang uns zu einer fortwährenden Infragestellung, und er begleitete uns unsere 135
Gewissen erforschend. Wir kamen/kommen zu Feststelllungen, die immer wieder neu belegt, befestigt und vertieft werden mussten/müssen. Mit der ersten Aufführung wird dieser Prozess nicht beendet sein. So lange dieser Prozess nicht beendet ist, lebt unsere Inszenierung. Warum ist K so verzweifelt, unsicher, anfällig, sensibel? Er stellt sich Fragen. Er findet keine Fragen. Er findet nicht die richtigen Fragen. Erfindet keine Antwort auf seine Fragen. Er findet viele Antworten auf seine Fragen. Er kann sich nicht entscheiden. Er bleibt deshalb untätig. Unglücklich. Die Suche nach Fragen ist identisch mit der Suche nach Antworten. „Vor dem Gesetz“: Die Tür stand offen, warum trat der Mann vom Lande nicht ein. Niemand verbot es ihm. Warum bleibt er ausgeschlossen? Der Mensch, der auf dem Lande bleibt, stellt keine Fragen. Er schirmt sich ab. Er tritt auf der Stelle. Mächte, Autoritäten, Schemen, Mechanismen sind Ersatz für Fragen und Antworten. Wir stellen mit Kafka mehr Fragen, als wir Antworten geben. Wir möchten Fragen suchen helfen. Kafka ist der Ausdruck einer „metaphysischen Not“. Deshalb ist er ewig aktuell, heute aktueller denn je. Aus dem Unglücklichsein Kafkas und seiner Protagonisten können wir lernen. Lieber unglücklich als unbewusst. Mit unserer Arbeit lernen wir Kafka kennen. Viel Staub muss weg. Seit dem begleitet er uns, klopft leise an und steht oft im Zimmer, ohne dass wir es bemerkt haben. Mit unserer Arbeit helfen wir uns das Leben zu formulieren. „Wo ist der Richter, den er nie gesehen hatte?“ Wir glauben an die Individualität des Zuschauers. Wir wollen sie ihm bewusst machen. Wir ertragen das Unglücklichsein, das Ungewisse, das Warten, das Leben, indem wir es spielen, spielerisch bewältigen. 1986
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Unterwegs zu Kafka Mai 1985: Der Drang, etwas von Kafka szenisch zu bearbeiten, erwacht wieder. Ich lese einige Kurzgeschichten, Erzählungen. Seine Ks sind aktueller denn je. Leider! Ich spreche in der Gruppe hie und da davon. Edmund, Jürgen und Harald sagen zu. Wir wissen, dass es wieder gesellschaftskritisches, also politisches Theater ist. Unsere Zeit hat keinen Raum für die Oper und den Schwank. Zuerst muss eine Menge vom Tisch. Wir wollen keine Seifenblase und keinen Fluchtweg inszenieren, sondern uns mit unserem Stück der umkippenden Gegenwart entgegenstemmen. August 1985: Eine Woche Frankreich-Seminar. Wir kapseln uns ab. Kleines Nest und Wohnwagen im Zentralmassiv in der Nähe von St. Nectaire. Wir lernen uns und Kafka kennen; das Projekt läuft definitiv an. Wir lesen laut, still, zusammen auf engem Raum, am Strand zwischen den Menschentrauben, jeder für sich in den Wäldern, bis die Dunkelheit des Abends uns unterbricht. Mir war in der Dämmerung mulmig zumute: unbekanntes, felsiges Gelände, ich dachte an den langen Abstieg, Spuren von Wild, nicht eindeutig identifizierbare Geräusche um mich herum (dieser Unsicherheitsfaktor ist im Nachhinein im Stück aufgenommen worden): Schritte, Rascheln, das Rauschen des Baches, das Zirpen der Heuschrecken, ein Stein löst sich und stolpert den Hang hinab. Wo sind die anderen? Ich trete überhastet den Rückweg, Rückzug an. Harald war es nicht anders ergangen, Jürgen und Edmund haben konzentriert auf Lichtungen gelesen. Abends interpretieren wir gemeinsam. Der französische Rotwein schmeckt. Am anderen Tag: Viel Sonne und Sport. Wir sind durch ein kleines Dorf gelaufen, enge Straßen, steil bergauf, bin schon lange nicht mehr so außer Puste gewesen. Unsere Körper erholen sich. Wir beschließen für Diskussionen: Jeder kann sie abbrechen. Das ist die Notbremse, damit sie nicht wegen ihrer selbst geführt werden und sich in Details verlaufen. Bühnenbildideen orientieren sich an folgenden Kriterien: Kann Kafka auf ihnen atmen, zu viert auf- und abbaubar, finanzierbar. 137
Aus einem Ballspiel entwickeln sich Parodien auf das Militär. Wir haben einen Mordsspaß. Tagesmarsch mit Stationen für Improvisationen in den Wäldern: Thema Verhör. A, B, C verhören mich. Wir gehen auseinander, jeder konzentriert sich eine halbe Stunde allein, indem er auf seinem Musikinstrument spielt. Jeder sucht sich ein Angriffs- bzw. Verteidigungskonzept. Sie nähern sich, stehen vor mir, eine Wespe stört aufdringlich. Damit ist das Thema (von keinem in Erwägung gezogen) da: Wespenmenschen. Mit drei Wespen wird man fertig, ein Schwarm ist tödlich. Harald geht weg. Jürgen und Edmund fragen nicht koordiniert, mein Konzept scheint aufzugehen, ich beleidige sie. Edmund wirft mir Feigheit vor, ich reagiere ungewollt heftig, wollte die Ruhe bewahren, wundere mich über mich selbst. Ich beginne wieder, Mundharmonika zu spielen, spreche dazwischen: „Wenn ich in die Sonne schaue, lässt meine Musik mich den Stachel der Wespe vergessen. Redet leise, damit eure falschen Fragen meine Melodie nicht verderben. Die Harmonika ist der Qualm gegen alle Wespen, die mich stören. Geht!“ Wir fühlen uns danach sehr leicht. Der Rucksack hat kein Gewicht mehr. Abstraktes Wissen über Kafka wird persönlich. Heute regnet es – fünf Minuten. Wir schwimmen im Gebirgssee. Abends Improvisationstraining: Die Angaben erhält jeder im Wohnwagen, dann wird nicht mehr gesprochen. Wir gehen schweigend, jeder einen Satz Kafkas im Kopf, zu einem einige km entfernt gelegenen, von Wald umsäumten Feld. Jeder sucht sich seine Ecke, entfacht um sich herum fünf Kerzen und beginnt, auf seinem Instrument zu spielen: Die anderen sind außer Hörweite, der Himmel voller Sterne, im Kopf der Kafka-Satz, ich bin konzentriert, entferntes Abendimprovisationstraining: Die Angaben erhält jeder im Wohnwagen, dann wird nicht mehr gesprochen. Wir gehen schweigend, jeder einen Satz Kafkas im Kopf, zu einem einige km entfernt gelegenen, von Wald umsäumten Feld. Jeder sucht sich seine Ecke, entfacht um sich herum fünf Kerzen 138
und beginnt, auf seinem Instrument zu spielen: Die anderen sind außer Hörweite, der Himmel voller Sterne, im Kopf der Kafka-Satz, ich bin konzentriert, entferntes und nahes Zirpen, Falter werden vom Kerzenlicht angezogen und verschmoren, Käfer krabbeln neugierig näher. Ich spiele leise Harmonika. Jeder besucht in langen Zeitabständen jeden, auf seinem Instrument spielend. Gespräch zwischen den Instrumenten: „Wie ein Hund, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Eine Riesenheuschrecke bewegt sich zeitlupenartig wie hypnotisiert auf die Kerze zu, betastet sie. Die Kerzen brennen eine nach der anderen ab. Wir gehen schweigend weg. Und es scheint doch, als redeten wir miteinander. Um fünf Uhr fallen wir tot in die Betten. Ende August 1985: „Der Prozess“ wird als Stückvorlage benutzt. September 1985: Wir teilen unsere Produktion ein in reale und Alptraumphasen, um Kafkas Denk-, Sprach- und Handlungsidee gerecht werden zu können. Die Übergänge müssen fließend sein. Der Auslöser des Alptraums muss für den Zuschauer rational erfassbar sein; dann erst kommt der Schwenk ins Traumhafte. Zwischen beiden Ebenen wird hin und her gependelt, sie sollen nachher nicht mehr einwandfrei unterscheidbar sein und Fragen aufwerfen: Wer sind A, B, C? Arbeiter? Beamte? Geheimpolizei? Henker? Haben sie einen Auftrag? Von wem? Oder sind sie Einzelfiguren, die ein böses Spiel mit K treiben? 17. September 1985: K ist kein Selbstmordkandidat. Er besitzt einen Fallschirm, er kann ihn benutzen. Vielleicht landet er (irgendwo), um sich wieder in ein Flugzeug zu setzen (setzen zu müssen). Er hat den ersten Schritt gewagt und kann nun nicht mehr zurück, er ist unterwegs, ein Ziel ahnend, es nie erreichend. Seine Gegner sind ihm voraus, sie lassen sich ab und zu zurückfallen, um ihm seine Unterlegenheit, Hoffnungslosigkeit zu demonstrieren. Auch sie kennen das Ziel nicht. 139
20. September 1985: Wir entscheiden uns nicht, Definitives wird hinausgeschoben. Noch allzu viele Möglichkeiten locken, wir improvisieren, trainieren, diskutieren weiter. Der Raum ist noch nicht fassbar. Es wird wieder einmal sehr spät. Ende September 1985: Das Spielkonzept wird festgelegt: Wir integrieren die technischen Installationen ins Bühnenbild (Tonanlage, Lichtanlage, Diaprojektor), ins Spiel. Sie sind Elemente des Spiels, der Manipulation, Symbole der Macht, Unterdrückung, symbolisch. Der Bühnenort ist ein Teil einer großen Lagerhalle. Die Sprache ist wieder ein Ausdruckselement u. a. Oktober 1985: Improvisationstraining in einer Turnhalle: Thema „Gruppe gegen Individuum“, Startposition: Volleyballspiel drei gegen einen. Der eine entscheidet, wann er wechseln möchte; gesprochen werden soll möglichst wenig. Das reicht. Ich starte gegen Edmund, Harald und Jürgen. Wechsel Edmund, Wechsel Harald. Wir spielen regelwidrig, schlagen den Ball nicht übers Netz, spielen unter uns, foppen ihn. Licht aus – Bedrohung im Raum – es ist stockfinster – absolute Stille – plötzliche Geräusche des Balls – leises Surren – Klagelaute – gellender Schrei – Ruhe – Licht an – Licht aus – Licht an – Licht aus – Bedrohung – Harald flüchtet: die Seile hoch, Klettergerüste, Licht an. Wir zerreißen seine Stückunterlagen. Jürgen wird abgekapselt – wir drei haben den Ball – bewerfen ihn – geben ihm mehrere Bälle, nehmen sie ihm weg – er wehrt sich, liegt am Boden – wir beschimpfen ihn – er liegt zusammengekauert, er ist uninteressant geworden. Ich hole mitgebrachtes Essen, gebe Harald und Jürgen davon. Wir essen – auch das von Edmund, lachen, schmatzen unanständig, grinsen. – Er beschäftigt sich mit einem Ball … Fünf Stunden sind vorbei und es ist kalt. Für heute genug. 11. Oktober 1985: K ist nicht bloß Opfer. Er ist ein passiver Täter, er kennt das System bis zu einem bestimmten Grad, er hält die Spielregeln ein, wird dadurch schuldig, korrupt. Er ist nicht der junge Galeriebesucher, der über seine Untätigkeit und das Schicksal der Kunstreiterin weint. Warum benutzt er den unbewachten Ausgang nicht? 140
Oktober – November – Dezember 1985: Training – Text wird definitiv festgelegt – Improvisationsübungen mit Text – Warten auf das Aluminium, damit der Bau der Bühne endlich beginnen kann. Anfang Januar 1986: Konkrete Arbeit am Bühnenbild: Kälte, Schnee, Nachtarbeit, mehr Schwierigkeiten als erwartet, nicht einkalkulierte Verzögerungen, Helmuth kennt Gott sei Dank das Material und hilft meistens aus der Patsche. Gearbeitet wird abends und nachts (weil nur dann Halle und Maschinen frei sind). Am Ende hat jeder von uns sechs (auch Olivier war dabei) über hundert Arbeitsstunden hinter sich. Wir sind total geschlaucht. Januar 1986: Wir laufen der Zeit hinterher. Wie immer! „Der neue Prozess“ von Peter Weiss gelesen. Parallelen: die Organisation, ihre Vertreter, die Schuld Ks, Einsatz und Deutbarkeit von Licht. Unterschiede: Er reduziert die Ebene des Irrealen oder Absurden (manchmal auf Bühnenbildangaben und Szenenwechsel), die politische Betrachtungsweise ist vorrangig, die metaphysisch-surreale steht oft im Abseits. Januar 1986: Nehmen wir Musik ins Stück? Wir verzichten, beschränken uns auf im Stück verwendete, sprachliche und lautliche Elemente zur Verstärkung des Spiels; insbesondere auf der irrealen Ebene sollen sie eingesetzt werden. Januar 1986: Kostümbesprechung bei Margret. Es wird ein Festessen daraus. Wir erklären ihr unser Vorhaben, lernen deutlich zu sein, stellen Schwachstellen fest, die unklar sind und ausgebessert werden müssen. Die Gespräche mit Nicole und Lucy wirken ähnlich. Es sind die ersten zaghaften Schritte in die Öffentlichkeit. Januar 1986: Wir haben über Plakatmotive diskutiert. Ein Tisch voller Skizzen. Wir entscheiden uns: K ist gefangen in einer Glühbirne, A, B, C betrachten ihn neugierig von einem Fenster aus. Wichtig: das Licht muss zwiespältig sein: Weißes Licht aus der Glühbirne, gelbes Licht aus dem Fenster. Ich muss an meine französische Riesenheuschrecke denken. Erwin erhält den Auftrag. 141
Januar 1986: Pierre und Helmuth liefern Masken und Requisiten ab. So sollte alles sein. Wir sind froh. Wir sind nach der Improvisations- und Herstellungsphase nun mitten in der konkreten Probenphase. Die verschiedenen Ausdruckselemente (Spieler, Licht, Sprache, Ton, Bühnenraum) wachsen zusammen. „Algunas Bestias“ Ein poetisches Plädoyer für Menschenrechte mit Gedichten von P. Neruda, B. Brecht, Y. Ritsos, N. Hikmet, F. G. Lorca, U 1988 Die Inszenierung eines Alptraums Die mit vielen Farben kaschierten Wegweiser sind von Machthungrigen aufgestellt und an ihren finanziellen und nationalistischen Interessen orientiert. Die Scheuklappen, die wir uns willig überstreifen, sind die ach so unabkömmlichen Produkte aus der heilen Welt des Konsums, die die Medien uns verkaufen. Wir traben nicht mehr gemächlich dahin; der Leistungsdruck unserer Sporen hat das trojanische Pferd längst schon in Galopp gesetzt. Die Richtung ist eingeschlagen. Die Umleitungen der Rüstungsstopp-Konferenzen verzögern lediglich die Ankunft, führen aber, vorbei an Friedensdemonstrationen und noch grünem Grün, bombensicher zurück auf die alte Route. Es gibt keine Insel, kein Buch und keine Höhle mehr, in die wir uns zurückziehen können. Unsere Wegwerfgesellschaft wirft sich selbst weg; die Coca-Cola; Bierbüchsen- und Papptellermentalität verwertet die letzten menschlichen Werte. Das intelligenteste aller Tiere, die Krone der Schöpfung, setzt seine Intelligenz zu seiner eigenen Vernichtung ein. Das ahnungsvolle Schaf blökt noch einmal, ehe es zum Schlachthof geführt wird. Die menschliche Seele hat das Wettrennen mit dem menschlichen Hirn verloren. Der Science-Fiction-Roman „1984“ von Orwell wird demnächst Gegenwart. „Apocalypse Now“. Geblendete müssen zuerst wieder sehen lernen. Das Einzelschicksal ist erst dann wieder möglich, wenn der Mensch die ferngelenkten Steuermechanismen seiner Seele, seines 142
Gefühls und seines Verstandes demontiert. Wütende Ohnmacht muss individuellem Denken und Handeln weichen. Es ist sinnlos, auf der Friedenswelle reitend, das Lied vom Frieden vor sich hin zu trällern, wenn tiefere Strömungen der Gewalt die Meere bewegen. Die naive Formel vom Inseldenken und das rührselige Flashback vom verlorenen Paradies versüßt den Todestrank, den der Henker uns reicht. Wir können nicht Henker einstellen und Henkerbeile fertigen lassen, um Arbeitsplätze zu sichern. Wir können nicht Stricke und Fahnen herstellen, in denen wir dann ersticken. Wir können nicht die Menschheit und Menschlichkeit an die Wand stellen, weil wir einem Befehl Folge leisten mussten. Es ist unmöglich, Augen und Ohren zuzuhalten und gleichzeitig abzudrücken. Die junge Generation ist Gott sei Dank um die Erfahrung des Krieges ärmer. Allerdings geht man meistens leichtfertiger um mit dem, was man nicht besitzt. Eine Erfahrung ist ohne Bewusstsein nicht zu vermitteln. Und noch! Kultur, Literatur, Theater haben seit jeher einen schweren Stand gegen Verrohung, Barbarei und Trostlosigkeit. Dennoch können sie den elektrischen Draht entladen, sind sie die Spalte in der Mauer, durch die ein Hoffnungsschimmer in den Kerker fallen kann. Wenn das Buch brennt, brennen seine Gedanken. Seit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain ist die Gewalt unter uns geblieben. Das Thema der Unterdrückung feiert 1983 wieder einmal Jubiläum. Es galt also, auf der Bühne ein uraltes Phänomen so zu interpretieren, dass der Weg zur Bewusstwerdung nicht schon durch die Wiederholung verbarrikadiert war. Ich stellte zu allererst fest, dass Geschichtsbücher und Menschenklischees den Blick verwässert und so den Pfad der Bewältigung überwuchert haben. Die Theaterfiktion muss die Realität entlarven können. Wir geben keine bekannten Antworten, sondern formulieren die Fragen um. Die abstrakte Idee des Weltfriedens wird ad absurdum in Bühnenrealität verwandelt. Wir sind ausgegangen von Träumen, Alpträumen, Unterbewusstem, geistigen Momentaufnahmen, Visionen und haben sie verarbeitet zu Bildern, die wir verstärkten mit litera143
rischen und historischen Texten. Wort, Licht, Ton, Bewegung und Gegenstand werden zu Symbolen. Die Bühnenausstattung ist bewusst karg und gleichzeitig funktionell, der szenische Hintergrund, ein aus Jutesäcken zusammengeflicktes Tuch, ist im Verhältnis zum Menschen überdimensional hoch, die Szenenfolge konstruiert keine in sich geschlossene Fabel, es sind Kurzausschnitte, die immer wieder abgeblendet werden und nur mit einem dünnen roten Faden verbunden sind, der auf ein Ende zusteuert, das nicht mehr offen, sondern geschlossen ist wie die Realität, auf die es sich bezieht. Es ist das radikale und definitive Ende, das höchstens einige Maulwürfe und Würmer überleben. Es ist ein Ende ohne Ohnmacht, weil niemand mehr ohnmächtig sein kann, ein Ende ohne Klagelieder, weil niemand niemandem sein Leid mehr klagen kann. Der Mond wird vielleicht noch von einigen gespeicherten Computerhirnen bevölkert, die seine Oberfläche vermessen und abstecken; sowieso hat er dann spätestens das Mystische, Phantastische und Romantische verloren, das die Dichter ihm verliehen haben, weil kein menschliches Auge ihn mehr sieht. Aus dem Programmmheft zu „Soldaten“, 1983 Unterwegs zum Stück Als wir im Juli ’88 in dem kleinen Dorf Verzy mitten in der Champagne eintrafen, goss es in Strömen. Auf einmal blinzelt die Sonne; wir ziehen los, erkunden die Umgebung, durch wilde Eichenwälder, plötzlich wieder dichter Regen. Landschaft und Regen werden eins. Wir flüchten nicht. Wir werden nass bis auf die Haut. Wir, die Landschaft und der Regen werden eins. Es geht los! In den folgenden Tagen unseres Frankreich-Seminars wird zuerst klar, was unser Stück nicht sein soll: kein Realismus, kein didaktischer Wink mit dem Zeigefinger, keine Umsetzung westlichen Demokratieverständnisses auf andere Kulturen. Wir suchen eine poetisch-aggressive Formel. Dann: Improvisationen zum Thema, Skizzen zum möglichen Ablauf der Handlung, Grundsatzdiskussionen zum Inhalt, Rotwein, unsichtbares Theater, Bühnenräume erfinden, 144
morgens beim Aufstehen schon Trommeln, Bewegungsrhythmen. Das Thema weckt Aggressionen. Ein Bremsmechanismus muss gefunden werden. Vertrauensspiele. Die Strapazierfähigkeit der inneren Federung wird spielerisch getestet. Aufgabenstellung: Ein Spieler läuft mit voller Kraft blind und in Begleitung eines sehenden Spielers auf einen Abgrund zu, der durch eine gespannte Kordel dargestellt ist. Dem Begleiter steht lediglich das Wort „Stopp“ zur Verfügung. Nach einer ersten spielerischen Phase wird die Kordel durch die anderen Mitspieler und dann durch eine Böschung ersetzt. Es passieren noch immer Pannen. Edmund weigert sich strikt, die Übung in dieser Phase fortzusetzen. Er hat recht. Wir versuchen es später noch einmal. In der Dämmerung des letzten Abends unseres Frankreich-Aufenthalts ziehen wir Flugdrachen, die wir in den Vortagen aus Ästen, Schnüren und Tüchern hergestellt haben, zu einer Waldlichtung. Jeder hat sein Rhythmusinstrument. Wir sprechen nicht mehr. Die Lichtung wird zur Kultstätte: rhythmische Bewegungsabläufe mit Drachen, Wind, Wald, Mond, Trommeln. Züngelnde Farben. Glimmendes Holz. Rauchfahnen. Improvisation mit Texten als alternative Form der Deutung. Bewusstmachung von Poesie durch Verfremdung. Sprachmechanismen dechiffrieren auf diese Art. Übung: Wir sitzen mit verbundenen Augen in einem großen Raum. Das Gedicht „Totengeläut“ von Lorca dient als Textunterlage. Jeder benutzt Silben, Wörter, Sprachfetzen und Zeilen als Kommunikationsmittel mit anderen. Tonschwingungen und Sprachmelodien entstehen. Während alle versuchten, den dem Inhalt gerechten Tonfall zu entwickeln, benutzte Gerhard die Melodie von Wagners Hochzeitsmarsch. Eine verfremdete und befremdend-absurde Stimmung entstand, die dem Gedichtinhalt entsprach. Ein fremder Ton wehte wie ein Papier durch ein leeres Dorf. Improvisationen setzen nur dann kreative Prozesse in Gang, wenn die Teilnehmer von der Methode überzeugt sind, sich mit all ihrer Phantasie und Kraft hineinwerfen, wissend, dass das 145
Geschaffene im Stück (so) nicht sichtbar sein wird. Je näher es auf den Aufführungstermin zugeht, umso mehr wird der Regisseur dabei vom Mitspieler zum Beobachter und Bewerter. Wir legten die Dauer des Stückes auf neunzig Minuten fest. Diese zeitliche Einheit wurde (manchmal mehrmals pro Tag) für Aktionsblocks benutzt: Text, Musik, Interaktionen, physischer Einsatz. Beispiel: Ein-Kilometer-Lauf – rhythmische Musik – zehn Liegestützen – Tanzimprovisation – Gedicht flüstern – dreißig Stabkampfpositionen im Takt – Gedicht brüllen – Schuhe ausziehen, auf einen Haufen werfen – Ballspiel – Augen verbinden: Schuhe suchen – laut durcheinander reden – mit verbundenen Augen zwanzig Streichhölzer das eine am anderen entfachen – Tanz in Zeitlupe – Ende. Varianten dazu waren, dass einmal der Schnellste, dann der Langsamste das Tempo bestimmte, bis wir einen Gruppenrhythmus fanden. Diese Übungen mit grundverschiedenen und stets ändernden zeitlichen Abläufen dienen den Akteuren, die während der Aufführung rund um die Uhr auf, hinter und unter der Bühne agieren, als Konditionstraining. Das Huhn: Das Stück erzählt keine lineare Fabel, es ist eine Bilderfolge: Bewegung von Farben, Schatten, Lauten, Musik, Rhythmus, Tanz, Tuch und Wind. Leitmotivische Funktion erhält ein Huhn: Huhn auf der Bühne, Huhn im Film, Ei, Küken, Legefabrik, Fressmechanismen. Das Huhn als Symbol: der Mensch als Zuchttier, der Missbrauch der Dritten Welt als Brutstätte für unsere Konsumgüter, Hackordnung, Stumpfsinn, gackernde Unschuld, der vergewaltigte Mensch, der brennende Mensch, die verbrannte Seele, die verbrannte Poesie. Vera wird Vegetarierin. Natur und Unnatur. Der Winter hat den Frühling umgebracht. Die Sprache und ihre vollendetste Form, die Poesie, werden verdrängt durch die Un-Sprache: Schreie, Tritte, Schläge, Bajonett, Schüsse, Folter. Konzentration – Kamera läuft: Der Film hat diverse Theaterfunktionen: beweglicher Hintergrund, Schattenwirkung, laufende Farben, tanzend Lichtquelle, Zusammenspiel von 146
Bühnenaktionen und Zeitlupe oder Nahaufnahme, Brechung der traditionellen Sehgewohnheiten. Er wirkt nicht nur bereichernd, er trägt das Stück mit. Algunas Bestias: Wir haben unser Stück nach dem Titel eines Gedichtes vom chilenischen Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda benannt, der unter Allende Minister für Kultur war, der dessen Sturz und Ermordung durch die Militärs zwar überlebte, aber während der Unzeit der Junta unter mysteriösen Umständen starb. Algunas Bestias: Einige Tiere. Unser Stück zeigt den Kampf der Nachttiere gegen die Tagtiere, den Menschen als tollwütiges Tier, das, seiner Instinkte beraubt, zubeißt und tötet. Pablo Neruda, der von den Falangisten während des spanischen Bürgerkrieges ermordete Federico Garcia Lorca, der von der türkischen Junta ins Gefängnis geschleppt und später an den Folgen der Folter gestorbene Nazim Hikmet, der ins Konzentrationslager verschleppte Grieche Jannis Ritsos, der von den Hitlerfaschisten ins Exil getriebene Bert Brecht. Es ist eine Autorenfamilie: Sie wurden Opfer von Militärdiktaturen, ihre Worte wurden verbrannt, sie sind Volksdichter, sie schrieben Literatur gegen die Verödung der Seele und gegen die Ausdörrung der menschlichen Natur. Sie sind repräsentativ für das von Militärdiktaturen vergewaltigte Wort. Rita wird ihre Gedichte vortragen. Percussion: Die Musik orientiert sich an Elementen aus der Folklore Lateinamerikas, Afrikas, Griechenlands und stilisiert sie. Während die Percussions Rhythmen Gruppe, Aufmarsch, Masse, Kraft und Tanz tragen, verfremdet der Chor Momente des antiken Chors; er wirkt bisweilen religiös-pathetisch, während die Flöte für das Leise, Singulare, Wehmütige und die Trauer steht. Formen und Farben: Pierre ist der eine logische Teil im Verhältnis zwischen Maler und Regisseur. Er beobachtet unser Training und unsere Proben unaufhörlich mit dem Zeichenstift in der Hand. Seine Skizzen stellen die Bühnenbewegung heraus, neue Handlungsmotive und Bilder entstehen. Es besteht eine kreative Wechselbeziehung, wir verstehen uns schnell, 147
und wir sind uns schnell einig. Masken und Drachenentwürfe stammen aus seiner Feder, Tuchmotive, Kostümideen, Farbzusammenstellungen. Kostüm und Requisit schmücken nicht nur Spieler und Bühne, sie müssen miteinander verwachsen. Der private Drache: Das Zusammenwirken von Musiker, Maler, den Spielern und dem Regisseur entscheidet darüber, ob eine Bühnenproduktion scheitert, eine Ruine ist oder zu einem Gesamtkunstwerk zusammenwächst. Ein jeder ist mit seiner letzten Faser verantwortlich für das Ganze. Ein jeder muss in einer alten Legende seinen Drachen finden, den er zu seinem Teufel, Gott, Kampfpartner oder Widersacher erklärt. Unsere Bühnendrachen – abstrahierte Tiermotive: Fisch, Stier, Vogel, Insekt und Qualle – stehen für den Mythos, die Urzeit, die Musik des Windes. Sie bilden eine Symbiose mit ihren Trägern. Wir haben heute den Kontakt zu den Drachen, die Erinnerung an sie und damit auch die Kraft, die die Urvölker aus ihnen schöpften, verloren. Die Ordnung von Fressen und Gefressen werden, von Leben und Lebenlassen ist durcheinander gerüttelt. Sogenannte Werte der Zivilisation oder Werte der sogenannten Zivilisation diktieren das Leben und verurteilen ganze Völker zum Tode. Wir fressen uns von innen heraus selbst auf. Ikarus stürzt nicht mehr ins Meer, weil er übermütig zu nahe an der Sonne geflogen ist, heute kriecht er durch verseuchten Schlamm, bis er in einer Öllache ersäuft. Pervertierter Mythos. Perverser Tod. Algunas Bestias. Wir wollen nicht schöne Kunst mit einem hässlichen Thema machen. Eine brutaler werdende Realität verlangt ein radikales Theater. Nach monatelangen Diskussionen in der Gruppe sind wir bereit, eine bestimmte Schuld auf uns zu laden, um gegen schreiende Unmoral und Doppelmoral zu protestieren. Wir beschließen, Theatergesetze zu durchbrechen, damit der Zuschauer begreift, wie ernst es gemeint ist … Wir beschließen, das echte Huhn im Moment des Todes nicht durch eine Attrappe zu ersetzen. Wir wollen nicht, dass der Zuschauer fragt, wie wir das machen. Wir wollen, dass der Zuschauer sich fragt, warum wir das machen. 148
Auf Einladung des Leiters der Studiobühne der Universität Köln, Franke, gastierte die Gruppe am 13. März 1988 in Köln. Tierschützer alarmierten die Polizei. Polizeikommissar Jülich legte den Angeklagten in der Studiobühne Köln dar, dass die beabsichtigte Tötung des Huhns ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz sein könnte … Kurz vor der Theateraufführung teilte Kommissar Jülich dem Angeklagten Franke mit, dass die Staatsanwaltschaft Köln ein Ermittlungsverfahren einleiten werde, wenn die Henne getötet werde … Dem Huhn wurde während der Aufführung artgerecht mit einem Beil der Kopf abgeschlagen … Die Angeklagten werden „per Gesetz wegen öffentlicher Tötung eines Wirbeltieres und Verstoßes gegen das Tierschutzgesetzes kostenpflichtig verurteilt“. 1988 Brüllen gegen den Wind Kunst darf zuallererst einmal alles. Sie muss zuerst einmal alles wollen. Nichts darf unmöglich sein, alles erlaubt. Wer ängstlich mal nach rechts und mal nach links schielt, wer sich selbst Scheuklappen aufsetzt, wer sich widerstandslos einschnüren lässt, wer sich selbst Handschellen anlegt, wer taub, blind und stumm zugleich ist, sollte nicht mit ihr umgehen. Wer mit Kunst die Welt verändern und neue Lebensräume schaffen will, muss Tabus brechen, Gesetze umstoßen, Gewohnheiten entlarven, Traditionen beenden, Normen sprengen, Grenzen überwinden. Indem Kunst sich an Grenzen orientiert, hört sie auf, Kunst zu sein. Sie wird zum Abklatsch der Wirklichkeit, in der sie sich befindet, und damit überflüssig. „Algunas Bestias“. Unsere Inszenierung hat, mehr als alle vorherigen, vor Augen geführt, wie mächtig Kunst sein kann, wie dünn die Wand zwischen Bühnenfiktion und Realität sein kann, wie direkt Theater einen Widerhall in der Wirklichkeit haben kann. Von Ende Februar bis Ende Mai haben wir Algunas Bestias genau zwanzig Mal im In- und Ausland gespielt, weitere Aufführungen in Belgien, Luxemburg, Spanien, Dänemark, der ČSSR und der Bundesrepublik Deutschland 149
werden stattfinden. Noch keines unserer Stücke hatte eine derartig kontroverse Resonanz: Zustimmung, Ermutigung, Ablehnung, Beschimpfung, lebhafte Diskussionen, anonyme Zuschriften, Drohungen, nachdenkliche Betroffenheit, Leserbriefe in Zeitungen und Zeitschriften, Klatschspalten in Boulevardblättern, Buhrufe und Ovationen. „Algunas Bestias“ ist ein Plädoyer für die Menschenrechte. Wir haben das Thema ernst genommen und nicht versucht, auf seinem Rücken fromme, gut zu vermarktende Ästhetik zu machen. Nach achtmonatigen Überlegungen waren die Menschenrechte uns ein Huhn wert. Nach der Kölner Aufführung im März, bei der drei radikale Tierschützer die Darbietung brutal störten und die Schauspieler bedrohten, haben wir die Huhnköpfszene aus dem Stück genommen. Drei Gründe waren ausschlaggebend: 1. Ein gerichtliches Verfahren wegen Verstoßes gegen den Tierschutzparagrafen, der das „unnütze Töten von Wirbeltieren“ verbietet. 2. Der psychologische und physische Druck gegen die Akteure. 3. Wir veranstalten keine Happenings, sondern spielen Theater. „Algunas Bestias“ ist seit der sechsten Aufführung ein verändertes, vielleicht anderes Stück. Es geht seitdem trotzdem erfolgreich seinen Weg über die Bühnen. Kunst ist Brüllen gegen den Wind. 1988 „Jubiläum“ Premiere: 1990 Oktober 1989 Ich bin Gast der „Szenischen Ernte“, einem slowakischen Theaterfestival in Martin. Dort treffe ich Olga Lichardovà, eine kleine, sehr lebendige, ältere Dame aus Bratislava, Jüdin. Sie meinte, ich sähe Kafka ähnlich, und ich solle nicht grinsen, sie habe ihn in seinen letzten Lebensjahren gekannt: seine Krankheit, sein Hüsteln, er hat sie auf den Schoß genommen und Geschichten erzählt, seine Beerdigung. Seine Nichte ist 150
ihre Freundin. Wir hatten damals noch K (eine Bearbeitung vom „Prozess“) auf dem Spielplan, und ich war K. Sie erzählte mir, dass ihre Geschwister und Freunde im KZ ermordet wurden. Von ihr erfuhr ich, dass der belgische König Balduin das KZ Auschwitz besucht hat und sich dort demonstrativ einen Judenstern anheften ließ. Das, was sie über Warschau und Treblinka und Lidice berichtete, erschütterte mich so sehr, dass sie mir ihren jüdischen Lieblingswitz von der Weinstube in Tel Aviv erzählte. Nachher bin ich dann auf den jüdischen Friedhof von Martin gegangen, wo die Blätter der Kastanienbäume verbrannt wurden. Wir sollten jedem Zu„Jubiläum“ schauer einen Judenstern anheften. Und sie sagte noch, dass sie die Inszenierung gerne sehen würde. Also, beeilen wir uns! Ich bin gespannt. Dienstag, 16.1. 1990, 24 Uhr Tabori – „Jubiläum“ Alles muss neu überdacht werden. Zu viel Theater, zu viel Stoff. Im Vordergrund muss der nackte Raum stehen. In ihm Särge, das Zuhause der Toten mit Kaffeemaschine, Radio, Plattenspieler, Puppen, Licht, Wasser. Auf diesem Friedhof dann Theaterrequisiten: Stühle, Eingangsportal, Rondell und Synagoge angedeutet. Auf ihm leben Tote, hausen zwei Clowns, Penner, Totengräber, Bestatter. Wir können in unserer alten Hal151
le spielen. Echte Wände werden besprüht. Die Beleuchtung hängt an den kleinen Ständern. Weshalb gibt es Otto, den zweiten Deutschen, der nur wegen seines schwulen Freundes da ist, nicht mehr? Wurde er vergessen? War er eine Chimäre? Haben die Penner ihn verjagt? Existiert er nur noch auf Fotos? Haben die Clowns ihn ersäuft? Ist es denn ein Stück „frei nach Tabori“? Sind die Clowns die eigentlichen Nazis? Nazi-Clowns? Mit großer Pauke oder Wirbeltrommel? Wenn sie den Toten Nägel in die Särge hauen? Wenn sie der Puppe ein Loch in den Kopf bohren? Wenn sie mit dem Totenschädel spielen? Wenn sie weinen? Wenn sie den Sarg hereinbringen? Wenn sie Helmuths Boxkampf gegen Jürgen fortführen und im Blut enden lassen. Ich sehe auch die Toten vor der beschmierten Wand stehen, wenn sie mit Wasser beworfen werden und die Wand sich rot färbt. Ottos Sarg kann voll mit Briefen sein. Das Stück als Palette, ein Puzzle oder besser sich auf Kreidepapier überdeckende und ergänzende Muster der Geschichte: die Opfer, die Konsumtäter, Real-Dias-Ton-Zitat, die bösen Clowns. – Die Clowns ziehen wie bei einer Tombola einen Brief aus dem Sarg. Den Abschiedsbrief Ottos an Helmuth, der schon tot ist, oder Judenwitze: – Sollen die Clowns nicht Clowns bleiben? – Sollen die Schauspieler sich am Ende nicht vor Publikum ausziehen (KZ-Uniformen schon drunter)? – Benötigen wir überhaupt Dias? – Wenn die Clowns Mizzi bestrafen, werfen sie Briefe über den Sarg. Konstruktive Misstrauens-Fragen nach der letzten Probe: 1. Nazis und Juden sind zuerst einmal Menschen, die morgens frühstücken. 2. Bevor ich die Normalität verfremde, muss ich sie darstellen. Bevor ich sie darstellen kann, muss ich sie in mir spüren. 3. Ihr denkt euch zu viel aus. 4. Die KZ-Aufseher mochten ihre Hunde, überhaupt Tiere. 5. Tritt ein Nazi anders als ein Jude in eine Hundescheiße? 152
Montag, 12.2.1990 Ich bin nicht aufgestanden. Die Kraft war nicht da. Ich war sehr erschrocken. Keine Luft. Lindsay Kemp im Bett gelesen und geschaut. Es geht so nicht weiter. Ich habe den Schülern nichts mitzuteilen. Als Ehemann tauge ich nichts. Mit dem Theater drei Tage fremdgegangen. Ich weiß nicht, ob Tabori da ist? Ich habe den Eindruck, ihn gefunden und wieder verloren zu haben. Das Stück war sichtbar, aber Tabori war nicht da. Es war so holprig. Die Bilder so verzerrt. Die Figuren so unbeholfen. Alle gehen in Wartestellung. Ich konnte nicht inszenieren. Ich war auf einem Flugmeeting, fummelte an einem Funk- oder Steuergerät herum, ein kleiner Hubschrauber setzt sich in Bewegung, unbeholfen fällt er von einem Luftloch ins nächste, unfähig Eigendynamik zu entwickeln. Ich steuere immer verbissener, gebe schließlich schwitzend auf. Das Ding stürzt ab. Der Spieler muss der Pilot der Figur sein, nicht der Regisseur. Sie haben mich fertiggemacht. Kurt, die rote Nase mit schwarzem Zylinder und weißen Beinen ist die Ausnahme. Er lebt, ansonsten nur Leichen. Diese rote Nase ist vielleicht der Woyzeck-Partner, das Alter Ego, der andere Woyzeck. Nicole war eine Stunde lang schauen und ist dann kommentarlos gegangen. Das beunruhigt mich. Ich muss meine Kraft wiederfinden. Im Augenblick bin ich im Niemandsland, kann weder hierhin noch dorthin. Sie geben mir weder Pass noch Fallschirm. Die Füße frieren ohne Schuhe. André Heller kann mich nicht trösten. Zehn Brüder sind wir gewesen. Mittwoch, 21. 2.1990 „Und wenn ihr nicht begreift, in welchem Stück ihr hier spielt, dann fresst einen Judenstern.“ Alles probte unkonzentriert, oberflächlich, immer zu Späßen aufgelegt, peinlich. Als ob’s eine Durchlaufprobe für die Beleuchtungstechnik sei. Einige Stunden vorher hatte ich die Judensterne, die wir im Stück verwenden, an die Spieler verteilt. Jeder hat nur einen erhalten, obwohl wir 350 für die Zuschauer haben anfertigen lassen. Er muss wertvoll werden. Alle sehen gleich aus, wie ein 153
Ei dem anderen, also jeder anders. Jeder soll seine private Geschichte haben, wenn auch nicht mit der Realität vergleichbar, aber doch viel, dass eine Verständigung sichtbar wird. Von Annäherung sprechen, wäre anmaßend. Dieser gelbe Stern, der das Plakat ist, die Zuschauer, das Stück, seine Botschaft, die Vergangenheit, über die wir reden, verdient Respekt und Ehrfurcht. Wer auf ihm herum trampelt oder Theater auf seine Kosten macht, ist unmoralisch. Kunst ohne Griff für die Realität ist unmoralisch und verantwortungslos, ohne Griff und unbegreiflich. Überflüssig. So nun die drei Wochen vor Ende einer Inszenierung, die Premiere schon im Auge, verdienen die Spieler viel Behutsamkeit. Sie scharen sich immer näher um den Regisseur, der alle gleich stark liebt, alle versteht, auf alles eine Antwort weiß, Zweifel beseitigt und Sicherheit ausstrahlt. Wenn logischerweise bei der Suche nach dem Ich der Rolle der Blick die großen Zusammenhänge verloren gehen kann oder im Nebel der zerfressenen Fingernägel und schlaflosen Nächte verschwindet, muss der Regisseur mit seiner Stimme, seinen Worten den Weg weisen. In ihm wüten dieselben Zweifel gleichsam stärker und mächtiger, und er darf sie nicht zeigen. Bis zur Premiere wird er zum Spieler. Es ist die einsamste Zeit eines Regisseurs. Noch gehört ihm die Inszenierung, und unaufhaltsam arbeitet er darauf hin, diese Inszenierung in die Hände der Spieler zu legen, damit sie sie dem Publikum schenken können. Dafür benötigen sie viel Kraft, die der Regisseur ihnen schenken muss. Ich suche noch nach dieser Kraft. Es wird wieder wehtun. Donnerstag, 15.3. 1990 Ich hatte mich vom letzten Wochenende erholt, bin wieder nüchtern. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Gruppe so schwer werden könnte. Es war alles erschreckend unproduktiv. Und ich habe mich – eine sentimentale Trotzreaktion – besoffen, war lustlos, in alle Frauen der Welt verliebt, hätte nach Hanau, Brühl, Fellbach, München, Göppingen, Bratislava oder egal wohin verschwinden können. Am liebsten nach Eupen. 154
Das Ganze mischte sich mit der entsetzlichen Gewissheit, dass am 17. wieder alles weg ist, alles im Stück, in der Inszenierung. Der Regisseur arbeitet darauf hin, nicht mehr gebraucht zu werden. Noch gehört mir, dem Regisseur als einzigen Zuschauer, das Stück. Am Samstag übergeben die Spieler es dem Zuschauer, die damit machen, was sie wollen. Sie werden dafür bezahlen. Und dann werde ich wieder überflüssig herumstehen, Belanglosigkeiten von mir geben, unandächtig abwesend zuhören, wenn die einzelnen Bilder erklärt und gedeutet werden und ich mich mit viel Anstrengung erinnern müssen, dass (auch) das damit gemeint war. Vielleicht. Alles ist gesagt, steckt in der Inszenierung. Was sollen da noch Worte. Ein wortgewaltiger Epilog in irgendeiner Kneipe würde die Bilder verdrängen oder zurückstellen. Ich werde schweigen. Und bis dahin muss ich bei den Spielern sein, muss verhindern, dass sie so nahe vor der Premiere und unsicher geworden, unproduktiv werden und nur noch Inszeniertes wiederkauen wollen. Sollen sie sich wieder dicht um mich drängen, ein letztes Mal, ich werde mit gewissenloser Sicherheit alle Fragen beantworten, ohne Antworten zu geben. Jetzt ist wieder die Zeit, in der ein Regisseur ein großer Schauspieler sein muss. Mit der letzten Kraft, die ihm bleibt, vermittelt er (selbst wieder alles infrage stellend, alles hätte auch ganz anders gemacht werden können) Selbstsicherheit, Zuversicht. Ich bin noch gespannt darauf, wer von den Regie treibenden Freunden dieses oder jenes anders gemacht hätte, so, wie wir es aufgrund vieler produktiver Fragen verworfen haben. Und besonders fürchte ich mich vor belanglosem, saftlosem Händeschütteln, vor kumpanenhaftem Auf-die-Schulter-Klopfen oder dem ermutigend gemeinten Daumen nach oben. Alle diese Gesten, die noch nicht einmal die Zeit zu einem Danke oder einem freundlichen Blick lassen, sind die vernichtendsten Kritiken. Ich freue mich auf Ratlosigkeit, Entsetzen, stummes Dasitzen, vorzeitiges Verlassen des Saales, tiefe Blicke oder ein hingereichtes Bier, das ich nicht trinken möchte. Und ich werde tiefes Alleinsein und innige Liebe spüren, wenn die Spieler alles 155
gegeben haben und mit ihren Zuschauern feiern. Sollen sie im Glück ersaufen, am Sonntag werden wir aufatmen und an die nächste Vorstellung denken. Und dann werde ich Georg T. schreiben. Und Arthur W. 29.5.1990 Ich denke zurück an die Jubiläum-Aufführung in Korbach. Abschlussveranstaltung der Theatertage. Die Theatertage endeten ohne Applaus. Die erste Jubiläum-Aufführung ohne Applaus. Bedrückendes Schweigen. Viele weinten still in sich hinein. Nur zögernd verlassen die Friedhofsbesucher das Schlachtfeld voller Laub. Eine Zigarette rauchend, wage ich mich mitten unter sie. Einem Mädchen, das nach innen gewendet, auf seinem Grabstein sitzt, nehme ich den vergessenen Stern ab: „Es ist vorbei.“ Sie blickt mich sehr unsicher von unten herauf an. Die anschließende Gesprächsrunde war das Mitteilen von Betroffenheit (vor allem bei den Jugendlichen); oft versagten Stimmen, wenn Privates an alle verteilt wurde. Was soll ich antworten? Vom Regisseur wird man beruhigende Worte oder gar Antworten auf die Arbeitsmethodik erwarten. Auf einmal hatte ich das Wort, und ich konnte nur spontan und planlos versuchen, genauso privat zu antworten. Welche ganz persönliche Erfahrung hinter dem gelben Stern verborgen ist, wie ich sie an die Spieler herangetragen habe. Wie wir in der Gruppe lange Stunden darüber gesprochen haben, wo unsere Verantwortung liegt, bis wir zu der Schlussfolgerung gekommen sind, dass die KZ-Toten unseren Friedhof durch ein Dia der Ausschwitz-Öfen verlassen, während die Friedhofbesucher wieder zu Zuschauer werden, während sie durch die Schleuse das Freie suchen. Es darf nicht so weit kommen, dass die Opfer uns trösten müssen. Woher bezieht dieser Künstler/Lebenskünstler seine Energie? Die Gegenwart kann nicht nur von der Vergangenheit zehren, wenn die Zukunftsperspektiven fehlen. Ein Ausruhen im Jenseits ist keine befriedigende Antwort. Ein gebrochener Finger ist ein erstes Zeichen dafür, alles zu schmeißen, einfach krank zu sein, entbehrlich zu sein. Welche Verantwor156
tungen treiben ihn vor den Vorhang? Immer wieder, wo doch alles zu Singende schon x-mal gesungen ist? Vielleicht ahnte er, dass solche wie ich im Publikum sitzen, die Trost suchen, Verbündete, Mitleidende, die es zu beruhigen gilt. Trotz aller Widrigkeit bin ich den Weg mit ihm gegangen, und es war sehr leicht. „Tout est permis.“ Das soll nicht nur der Titel sein für Improvisationsübungen, sondern auch für die zukünftigen Bestimmtheiten. Solange die Träumer die bürgerlichen Bühnen überleben, ist noch Hoffnung. George. Fast schon zum Denkmal erkaltet. Aber in den bleichen, dünnhäutigen Adern fließt noch Blut. Wo sind die Nachfolger/ Jünger/Talente, wenn verseuchte Tauben seinen Oberkörper verunzieren? Denkmäler schweigen nicht. In Gips oder Eisen gegossen oder Stein gehauen, ersticken Stimmen. Vergangenheit. Mord durch Vergangenheit. Und doch habe ich es nicht geschafft, heute Morgen über mich zu schreiben. Ungarn, Pécs, Notizen Und haben wir keine Skrupel, beim Inszenieren Zufälligkeiten des uns umgebenden Alltags für die Bühne zu berücksichtigen. Sie gehören zur Realität, die wir sowieso erreichen wollen. Sie sind die ganz gegenwärtigen Ängste und Glücksmomente, auf die es letztlich auch beim archaischsten Klassiker ankommt. Sie betreffen und treffen uns auf direktem Wege. Sie sind privatestes Umfeld. Sie sind hier und direkt spürbar. Also lassen wir sie den Zuschauer spüren. Wie tief das Wasser ist, in das der Zuschauer springen soll und welche Temperatur es hat, obliegt der Verantwortung des Regisseurs. Er sollte nie vergessen, dass ein Kopfsprung in ein zehn Zentimeter tiefes Becken meistens mehr und eher Verletzungen hinterlässt, als der gleiche Sprung in ein zu tiefes Wasser, in dem Nichtschwimmer ertrinken können. Schauspieler sind Rettungsschwimmer, die ihr Handwerk vom Regisseur gelernt haben. Die ungarischen, polnischen, finnischen und ukrainischen Zuschauer haben uns gesagt, dass unsere Theatersprache in157
ternational ist. Sie orientiert sich nicht am Sprachduktus einer Kulturnation, sie ist die Umsetzung von Gedanken und Gefühlen, Bewusstsein, Unterbewusstsein in bewegliche Bilder. Wie wichtig es war, Musik und Szenen kontrapunktisch in „Jubiläum“ einzusetzen, hat sich wieder einmal gezeigt. Die Reaktion des Zuschauers ist spontaner, Tiefenschichten sind schneller erreichbar, Unzumutbares eher unfassbar, die ganz private Sphäre des Einzelnen eher zu enthüllen. Wenn die Toten in die Gaskammern ziehen, darf kein Nazigebrüll diesen Gang untermalen, sondern „Sag zum Abschied leise Servus“ von Peter Alexander muss diesen Akt kommentieren und die Grausamkeit durch die Unüberwindbarkeit von Lied und Aktion unterstreichen. Das Bild eines hungernden Kindes in Biafra wäre zu kommentieren durch „No milk today“, die Geburt von siamesischen Zwillingen durch „Wir wollen niemals auseinandergehen“. Das ist kein Zynismus, sondern das Aufeinanderprallen von der Realität der Wirklichkeit und der Realität des gedankenarmen Kulturkitsches. So rütteln wir zwei Welten durcheinander, die sich ansonsten nicht berühren. Wir tasten auf unverschämte Art und Weise zwei inhärente Innenbereiche des Zuschauers an, die er ansonsten verbissen voneinander abschottet in der Hoffnung, sich selbst vor der Verantwortung drücken zu können. Geben wir ihm die Möglichkeit, sich zu verantworten. Die gerade stattfindende Aufführung muss im Bewusstsein der Spieler gleichzeitig Premiere und Abschlussvorstellung sein, weil der Zuschauer einzigartig ist. 1990 „Jubiläum“ in Paderborn Ein schon etwas betagter Herr, höchstwahrscheinlich Oberstudienrat, in Begleitung seiner Gattin und einigen Studenten, tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Sein Blick irrt zwischen dem Kassenpersonal und seinen Begleitern herum: Er ist eine beachtliche Strecke angereist, um „Jubiläum“ zu sehen, muss sich aber in eine Warteliste eintragen, weil alle Plätze verkauft sind. Es wird eng, kaum noch Hoffnung. Er 158
hatte unsere Inszenierung vor einigen Wochen gesehen, war begeistert, betroffen, er leitet eine Schultheatergruppe und ist ein fanatischer Verfechter des engagierten Theaters, er will eine Aufführung an seiner Schule haben, weil sie wichtig ist. Empört wendet er sich an mich: „Ich vernehme gerade, dass zehn Franzosen, die kein Wort Deutsch verstehen, im Saal sind, und wir sollen draußen bleiben müssen!“ Mir soll niemand mehr, kein Theaterkritiker, Spieler, Regisseur oder Zuschauer sagen, dass die Theaterbesucher eh vom Thema überzeugt seien, infolgedessen das politische Theater überflüssig und überhaupt das Medium Theater infrage zu stellen sei. In der belanglosesten privaten Krisensituation kann der Faschismus aus uns herausbrechen. Auch (oder gerade?) bei den sogenannten Intellektuellen, die oft Wissen mit Überzeugung verwechseln. 1990 16.6.1990, Hanau Ich gehe drei Mal pro Woche schwimmen, und ich rauche zwei Pakete pro Tag. Alle sagen mir, ich soll mit dem Rauchen aufhören, und dabei hab ich Angst, dass ich nicht mehr schwimmen gehe. Samstagnacht, 9.6. 1990 Werter George Tabori!3 Das ist nun schon der wiederholte Versuch, Ihnen zu schreiben. Bisher ist es immer daran gescheitert, dass das Leben mit seinen Forderungen sich dazwischengeschoben hat und dann nach all den Nichtigkeiten, in die wir uns letztlich einreihen, die Kraft fehlte zu diesem Schritt, mit dem ich mich an Sie persönlich wenden möchte. Obwohl Sie und Ihr Theater mir bereits seit einigen Jahren über Zweitinformationen oberflächlich bekannt und sehr sympathisch waren (ich sah in Ihnen immer einen Verbündeten derjenigen, die zur sogenannten Freien Szene/Vogelfreien Szenen gehören), so habe ich Sie erst durch unsere Inszenierung von „Jubiläum“ näher kennen, schätzen und bewun159
dern gelernt. Vielleicht sind sie derjenige, von dem man sich wünscht, dass er sein Vater sei, ohne unverschämter Weise zuerst gefragt zu haben, ob der ernannte Vater diese Vaterschaftsrolle auch wahrnehmen kann und will. Mit demjenigen, der von den etablierten Häusern als enfant terrible des literarischen Sprechtheaters mitunter verschrien ist und vermarktet wird, obwohl er lediglich die berechtigte Hoffnung nicht aufgibt, dass er mit seinen Bühnenwelten die reale Welt infrage stellt und hinterfragen kann, dass der nackte Schauspieler zuerst einmal vor seinem Spiegelbild erschrecken muss, bevor er irgendeine Rolle finden oder erschaffen kann, dass der Regisseur zuerst einmal die Stückvorlagen „nicht ernst nehmen“ darf, bevor er sie (vielleicht) begreifen und greifen kann, dass es aufgrund bestimmter Inszenierungs- und Darstellungsweisen möglich ist zu verhindern, dass der Zuschauer am Ende der Vorstellung das Erlebnis (in sich) totklatscht, mit diesem Menschen möchte ich Kontakt aufnehmen. Ich möchte diesen Regisseur/Schauspieler/Autor/Juden GT kennenlernen, und möchte mich beeilen mit diesem Brief, weil ich den vorgeschobenen Biografien, die behaupten, George Tabori altere nicht, keinen Glauben schenke. Gerade blicken Sie mich ziemlich müde und allein aus der Mai-Ausgabe von „Theater heute“ an. Wir sind eine Freie Gruppe mit Namen AGORA in Belgien. Wir lernten Ihr Stück kennen, indem wir zuerst einmal feststellten, was es heißt, mit nackten Füßen über Gras, Kies und Stoppelfelder zu laufen, wir lernen Stücke kennen, indem wir zusammenleben (mit all den Konflikten, die sich daraus ergeben). Wir lernten „Jubiläum“ kennen, indem wir in einem alten Haus am Rande der Vogesen touristische Reisegesellschaft spielten, die einen KZ-Besuch absolviert, wir lernten „Jubiläum“ (und die Telefonszene) kennen, indem elf Spieler in einem abgeschlossenen Klo Atemnöte spürten. Wir lernten das Stück kennen, indem wir lernten, Judenwitze zu erzählen und darüber zu lachen. Um dann immer wieder die Worte von GT betasten, spüren, um in ihnen schwimmen und tauchen zu 160
lernen. Ich denke, dass es möglich und wichtig ist, von einem Stück betrunken zu werden, und dann am nächsten Morgen, noch nicht ganz nüchtern, weiter zu schwitzen. Vorgeschobenes N. B.: Der Weg zu „Jubiläum“ führte über Kafka und unserem Stück „K“ (nach dem „Prozess“). Während der Spielzeit lernte ich O., eine sehr alte Dame, kennen, die als Achtjährige auf Kafkas Schoß Geschichten von ihm hörte (so wie T. immer Geschichten erzählt). Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich auf einmal einen Judenstern einer Ermordeten in Händen. Auch das ist Stück geworden. Ich wäre glücklich, wenn Sie die Zeit fänden, unsere „Jubiläum“-Inszenierung zu sehen und mit uns zu reden und wenn Sie mir die Möglichkeit gäben, mit Ihnen zu arbeiten, um Sie kennenzulernen und von Ihnen zu lernen. Ich komme gerne nach Wien oder Berlin oder anderswo. „Irgendwo“ U 1993 Irgendwo konnte nur entstehen, weil es noch keine Handys gab. Wir hatten unendlich viel Zeit. Wir spielten mit der Langsamkeit. Wir konnten stundenlang hocken an einem Ort.
Stundenlang zuhören und horchen in uns hinein, tagelang wandern stumm und so konnten Worte entstehen, ganz tief innen drin. Dann kamen die Handys, und als sie kamen, musste Irgendwo gehen nach Nirgendwo. 161
2008 Sonntag, 7.10.1991 an Arthur West Gedankensplitter zu einem geplanten internationalen Projekt Arbeitstitel: Vertriebene-Getriebene-Auswanderer-VerirrteVerwehte-Exilanten-Flüchtlinge Ich sehe eine Gruppe Menschen, eine große Familie oder eine Gruppe Gleichgesinnter auf der Flucht. Ich sehe ausgetretene Schuhe und Koffer, mit dem, was bleibt (vielleicht sind sie voller Schuhe), was vielleicht wichtig ist, weil es übriggeblieben ist. Bald weht der Wind (Welcher Wind?) sie hierhin, bald dorthin. Wohin? Es ist (für mich) (noch) kein Ziel zu erkennen. Welche Heimat suchen sie? Welches gelobte Land? Haben sie eine Heimat (im Herzen)? Oder sind sie derart verfolgt, dass sie getrieben sind? Wie stark wirkt die Flucht? Lässt sie Raum, Luft für die Suche nach neuen Orten? Welche Werte oder Ideale verbindet die Gruppe? Wo ist ihre Stärke, Kraft, Eigendynamik? Was lässt sie nicht resignieren? Für mich ist wichtig, dass sie nicht resignieren, weil ich nicht resignieren möchte. Sie sollen mir nicht lehrstückartig eine Antwort servieren, aber ich möchte aus ihrem Tun Kraft oder Mut tanken können. Ist es möglich, dass ihr Los ist, dass sie ständig unterwegs sind? Ist der Sinn des Wegs der Weg? Ist es wichtig Atlantis im Kopf, im Bauch, im Herzen zu haben, oder ist Atlantis wichtig? Lässt die Flucht Zeit für die Suche? Ich kann mir vorstellen, dass der Wind zu einem beherrschenden Element der Bühne wird. Ich denke da natürlich an die Dynamik der Szenen. Aber wichtiger ist, woher der Wind kommt? Welcher König hat welchen Gott um diesen Wind gebeten? Oder ist der Wind das Instrument der Gottlosigkeit? Oder ist er das Reiterheer des fremden Königs? Ist er der Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit? Oder sind es die Stürme des Lebens, die dem einen heftig, dem anderen weniger heftig ins Gesicht blasen? 162
Vorfreude auf A. West Rücksicht, der Rhythmus der Tage ist erholsam, ich bin erleichtert und voller Gedanken. Wir haben über das KünstlerSein gesprochen, über den Suff in Künstlerkreisen. Ich denke: Ich spiele den Mord, also werde ich nicht zum Mörder, ich spiele den Selbstmord, also begehe ich ihn nicht, ich glaube an die Kunst und daran, dass sie mich und andere und die Welt bewegt, also muss ich keine Bomben werfen und kein Terrorist werden. Ich spiele ständig mein Ich oder die andere Seite meines Ichs, und nach dieser schweren und kreativen Arbeit
„Irgendwo“
schütte ich einen Eimer Schnaps oder einen Schnaps in mich hinein, um wieder nüchtern zu werden, um mich auf mein Ich zu reduzieren. Ich mache mich klein und leicht, auch wenn es danach oft sehr schwer wird, weil ich mich verliere. Ich lebe und feiere Momente der Disziplinlosigkeit, weil diese schauspielerische Arbeit so viel Disziplin von mir verlangt. Ich weiß, dass das Beständigste in mir die Unbeständigkeit ist, dass ich nur lebe, wenn ich mich bewege, dass ich sterbe und mein Bild der Welt und die Welt, wenn ich verharre, erstarre, erfriere zu Gewohnheiten, eine Überzeugung einbetoniere und sie 163
nicht schon morgen wieder über die Burgmauern werfe, um sie mir womöglich wieder zu erkämpfen. Der Suff ist die Feier über einen errungenen Sieg oder das Zurückschrecken ins Private, das Sich-unsichtbar-Machen, Feierabend haben. Ihr könnt mich jetzt alle und ich kann mich mal. Ich beschütze mich vor mir selbst. Ich werde eindimensional, weil ich nicht trunken, sondern betrunken bin. Genug. Ich habe mit A. über unser Märchen gesprochen, ich inszeniere es und eigne mir es dadurch an, bevor ich es dem Zuschauer, also ihm zurückgebe. Ich möchte es nicht international, sondern mit der AGORA machen, auch anstelle des sogenannten Ostbelgien-Stückes. Ich habe diese Lösung auf der Hinfahrt überlegt, weil sie entlastet und zu einem befriedigenderen Resultat führt: 1993 ist ganz dazu da, um sich darauf zu konzentrieren, mehr Aufführungen als in der internationalen Variante sind möglich, das Ostbelgien-Stück, eine Auftragsarbeit, ist weg, ich habe mehr Luft. Ich möchte Film dabeihaben, es bietet sich für wunderschöne Improvisationen mit Objekten an, es wird stark choreografisch, Sprache über Band, ich höre Wal-Musik, ich höre viel Percussion, ich höre das Wiegenlied klar und von Kinderstimmen auf einer großen leeren Bühne, ich sehe Tücher und Fackeln, den Gesamttext im Programm abgedruckt, den Briefwechsel zwischen Arthur und mir. Ich möchte im Oktober ein ganz langes Interview mit Arthur haben, und ein Termin ist vereinbart und eine große, klare, verblüffende und poetische Bilderwelt wird sich auftun. 1992 Brief an das Ensemble 1992 Liebe(r) Nach ereignisreichen Wochen mit 18 Auftritten in gut einem Monat melde ich mich vor unserer Frankreichfahrt mit einigen Informationen, die für den erfolgreichen Ablauf unserer gemeinsamen Zeit wichtig sind. In manchen Dingen sind es auch ganz einfach Gedankenstützen. 164
Zeitpunkt: 22.–28. Februar, Abfahrt vom AGORA-Büro am 22. Um 10 Uhr. Diejenigen, die am Vortag in St. Vith anreisen, sollen sich ganz zwanglos bei einem Mitspieler einquartieren. Elsass-Adresse: Gerard Rebmeister, Foyer Rural, 67370 Ittlenheim, Tel. 88699141. Der Unkostenbeitrag: 5000 bfr oder 250 DM. Er wird bei Alfred entrichtet, der vor Ort dann alles mit französischem Geld zahlt. Das Gepäck wird am Morgen vor der Abfahrt in den AGORA-LKW geladen. Schlafsäcke sicherheitshalber mitbringen. Zur Erinnerung: Jeder sucht sich im Arthur-West-Text die zwei Stellen, die ihm wichtig sind. Die Auswahl soll ganz privat sein und sich nicht an irgendwelchen „germanistischen“ Kriterien orientieren. Ich bin sicher, dass du deinen Telefonpartner bereits kontaktiert hast. Ich bin riesig gespannt auf deine Wasser-oder-Feuer-oderWind-Telefonbuch-Schlaflied-Miniaturszene. Ein Tuch zum Verbinden der Augen wird beim Arbeiten wichtig sein. Bitte die Kassette nicht vergessen. Denkt neben der leichten Arbeitskleidung für die Arbeit im Raum auch an wetterfeste Kleidung für draußen. Wichtig: Besorge dir einen alten, dunklen, langen (wenigstens bis zum Knie, lieber länger) Mantel und einen alten Koffer. Beide Sachen sind billig beim Roten Kreuz oder bei der Heilsarmee oder auf Flohmärkten oder in Second-HandShops zu ergattern oder bevölkern vielleicht schon den einen oder anderen Theaterfundus. Beides werden für unsere Arbeit wichtige Requisiten sein. Ich freue mich darauf, dich dann spätestens wiederzusehen. Ich freue mich auf die Arbeit mit dir. Ich denk an dich.
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St. Vith, 4.1.1993 Lieber Arthur! Liebe Edith! Hier herrscht für unsere Verhältnisse eisige Kälte. Es sind so um die 18 Grad unter Null. Alles ist hart gefroren, ich habe trotz doppelter Wollstrümpfe ständig Angst, dass mir die Füße wegfrieren. Langsam bekomme ich etwas Luft vom letzten Jahr, das mich aufgrund der vielen Projekte sehr beansprucht hat. Verzweifelt suche ich nach Energie und einem Termin, die fürs Schwimmen und damit für den Wiederaufbau der physischen Energien geeignet wären. Aber ich blicke hoffnungsvoll in die Zukunft, auch mit Euch beiden, auch mit Deinem Märchen, lieber Arthur, das seit einigen Tagen ganz konkret in den Köpfen vieler Menschen angesiedelt ist, weil wir mit der konkreten Arbeit an einer Inszenierung begonnen haben. Das erste Treffen der Märchen-Gruppe war sehr schön, harmonisch, von gegenseitigem Respekt und viel Neugier geprägt. Es war ein beeindruckender Haufen, der sich da zusammengefunden hat, um gemeinsam diese lange Wegstrecke zurückzulegen. Ich bin sicher, dass ich mit diesen Menschen eine sehr sensible und vielschichtige Symbiose werde finden können zwischen einer Spielgruppe, die unterwegs zu neuen Ufern ist und dem Menschenhaufen aus dem Märchen, der nach langen Wegen und Irrwegen und Enttäuschungen neue Perspektiven findet. Die Teilnehmerliste habe ich dem Brief beigefügt: Du wirst feststellen, dass Du ein fester Bestandteil der Gruppe bist, nicht nur Deine Worte. Mit Kurt, der bei diesem Projekt enger noch als die anderen mit mir zusammenarbeitet und mir darüber hinaus auch sehr nahe steht, habe ich vor einigen Tagen zwischen 19 Uhr und 4 Uhr im Märchen herumgewühlt. Wir haben von Zeile zu Zeile und seitenweise dem Text alle möglichen Fragen gestellt. Wir haben uns sicherlich auch mancherorts verirrt. Aber um 4 Uhr morgens waren wir weder müde noch betrunken. Hauptfragen waren in dieser Nacht: Ist Hans im Glück? Ist Hans Arthur? Ist Hans Jesus? Ist Hans ein marxistischer 166
Held? Weshalb hat Hans keine leiblichen Eltern, die für seinen Werdegang von Wichtigkeit sind? Wer ist diese, Hans so nahe stehende Rosa? Ist Rosa Arthur? Ist Hans Marcel oder Kurt oder …? Ist die Gruppe eine Theatergruppe? Ist die Gruppe die Hoffnung, du die Hoffnung in eine Theatergruppe? Du wirst Dir leicht vorstellen können, dass wir beide bei dieser Gelegenheit so manchen Kopfsprung in uns vertraute und unvertraute Tiefen und Untiefen gemacht haben. Wir sind noch zu keiner gemeinsamen Schlussfolgerung gekommen. Das ist insofern auch konzeptionell wichtig für die Arbeit mit der Gruppe, weil die Inszenierungsarbeit unter dem Motto steht: Aus Arthurs Geschichte wird unsere Geschichte. Aus einer Biografie wird eine Autobiografie. Wo entdecken wir uns in dieser Geschichte? Die erste Übung zum Treffen war: Singe Rosas Schlaflied auf Kassette. Wir haben uns dann alle Variationen und Stimmen angehört. Die zweite Übung heißt: Wähle dir aus dem Kassettenhaufen blind eine heraus, versuche die Stimme wiederzuerkennen, rufe den/die Betreffende/n in der Zeit bis zur nächsten Probe an, und bereite eine kleine nonverbale Szene von der Dauer des Liedes vor, die aufbaut auf das Element Feuer, Wind oder Wasser. Mit diesen Kurzszenen werden wir dann das nächste Mal arbeiten. Mit diesen kurzen Bildern werden wir dann auch allesamt für eine Woche nach Frankreich verschwinden, uns dort abkapseln, nach einer Gruppen-identität und nach den Tiefen des Märchens suchen … Und: Uraufführung ist am Freitag, dem 8. Oktober 1993. Das teile ich Dir auch jetzt schon mit, damit Du und Edith wisst, welche Oktoberreise Ihr beide dieses Jahr unternehmen werdet. Du wirst verstehen, dass es mir mehr als ein Herzenswunsch ist, Euch dann in meiner/unserer Nähe zu haben. In diesem Sinne bist Du jetzt schon mein ständiger Begleiter und Weggefährte in diesem neuen Jahr. Und ich bin sicher, dass beim Gehen, bei dieser langen Wanderung durch die Jahres167
zeiten die Füße auch wieder zur Körperwärme finden. Ich bin bei Euch. Ich umarme Euch. Euer Marcel St. Vith, 30.4.1993 Die Übung Jeder geht in seiner Stückkleidung mit Mantel, Stab und Koffer zwei Stunden durch eine Stadt. Ihr nehmt keinen verbalen Kontakt zu anderen Menschen auf. Ihr erwidert keine Kontakte. Ihr seid allein unterwegs. Sofort nach der Heimkehr schreibt ihr eure Eindrücke auf. Crombach, 8.6.1993 Lieber Arthur Es ist höchste Zeit, dass ich Dir schreibe. Einerseits ist es so, dass ich mit der Arbeit zeitlich im Rahmen bleiben will, andererseits möchte ich Dir auf diese Art und Weise schreibend/ redend gegenüber sitzen. Ich suche also bewusst Deine Nähe, die mir jetzt spätestens fehlt. Nähe kommt nicht von allein, Nähe will erzeugt, also gesucht sein. Ein Grund liegt mit Sicherheit darin, dass wir jetzt in eine Phase der Arbeit eintreten, wo Entscheidungen gefällt werden, die für die Uraufführung und die Nachfolgeaufführungen unabdingbar sind. Dass ich dabei die letzte Instanz bin, ist nicht neu, aber jedes Mal ist es ein letztendlich einsamer Prozess, auch oder weil er von Vielen getragen wird. Ein wesentlicher Grund meiner Kontaktsuche zu Dir ist auch die Tatsache, dass wir bis zum jetzigen Zeitpunkt Dein Märchen immer mehr privatisiert haben, über diese private Suche nach Querverbindungen zur eigenen Person und Existenz natürlich eine Bühnensprache entwickelt haben, die nicht mehr unbedingt von Außenstehenden, also im Oktober vom Zuschauer, dechiffriert werden kann. Da ich als Regisseur aber gleichsam der Anwalt des Zuschauers, in diesem Falle auch des zuschauenden Autors, bin, muss ich ab jetzt Wege 168
und Möglichkeiten finden, diese bis jetzt auf gebauten, der eigenen Identität entspringenden, Energien zu bündeln und zu einem mit einem roten Faden verschnürten. Paket zu machen, dessen Gewicht tragbar ist. Eine wesentliche Entscheidung ist gefallen: Die Bühnenmaterialien reduzieren sich auf das, was ein einzelner tragen kann, dies natürlich im Einklang mit Menschen, die unterwegs sind: ein Wanderstab, ein Koffer mit Inhalt, Sonntagskleidung oder Ballkleidung, einen Hut, einen Mantel, Schuhe, einen Schal und einen Matratzenschoner. Diese „Requisiten“ beherrschen auch das Spiel. Zu einem früheren Augenblick des Probierens hatte ich den Spielern gesagt, bzw. als Aufgabe gegeben: Suche Dir nach ganz privaten Erwägungen und Gründen, die Du vor der Gruppe offenbarst, zwei Momente aus dem Märchen, die Dir persönlich am wesentlichsten sind. Das ist auch geschehen. Aus diesem Grunde lege ich Dir eine Kopie des Textes bei, in der diese Stellen gekennzeichnet sind. Diese Arbeit war auch sehr spannend. Nun habe ich eine Große Bitte an Dich. Würdest Du bitte diese Textpassagen in chronologischer Reihenfolge auf Kassette sprechen. Mit Deiner Stimme würde ich dann in der Gruppe/mit der Gruppe weiterarbeiten. Es ist in meinen Augen auch ganz wichtig, dass es Deine Stimme ist. Es muss nicht eine Aufnahme mit Studioqualität sein. So! Heute geht es weiter mit dem Brief an Dich. Gestern Abend sind mir die Augen zugefallen. Heute Morgen habe ich den Kameramann, der gerade aus Spanien nach Brüssel heimkehrte, telefonisch erreichen können. Du weißt, dass ich in Zusammenhang mit „Algunas Bestias“ schon mit ihm zusammen gearbeitet habe. Er ist gebürtiger St. Vither, den es regelmäßig in alle Welt verschlägt. Am nächsten Montag treffen wir uns. Heute Nachmittag habe ich den Verantwortlichen vom Eupener „Schlachthof“ gesehen; dieser ehemalige „Schlachthof“ wird irgendwann zum alternativen Kulturzentrum umgebaut, im Oktober direkt am Anschluss in St. Vith werden wir dort 169
spielen, im Juli werde ich dort vier Tage mit der Gruppe arbeiten können. Du weißt das jetzt vor den Spielern, die schon alle gespannt sind, ob das gelingt. Wie ich Dir bereits mitteilte, suchen wir nach einem beweglichen Raumkonzept. Wir können das direkt dort probieren und besser noch, Du hast die Möglichkeit, Dir beide „Fassungen“ anzusehen. Es tut sich allerhand im Hause AGORA. Ich hoffe, Du wirst den Text auf Kassette sprechen. Es ist auch so, dass Du auf diese Art und Weise sehr nahe bei uns bist. Ich hoffe, Dich mit meinem Angebot, mit meiner Unverschämtheit nicht in Bedrängnis zu bringen, insbesondere wenn ich Dir noch mitteile, dass ich Deine Stimme am liebsten und besten bis zum 30. Juni bräuchte, weil wir dann in eine intensive Arbeitsphase treten. Ich bin aber nun so gespannt auf Deine Antwort, dass ich versuche Dich anzurufen. Bis gleich. Ich bin schon wieder an der Schreibmaschine. Du und Edith wart nicht da. Es ist ja auch schon 21 Uhr 30, und dann seid Ihr irgendwo unterwegs. Ich bleibe also freudig gespannt auf Deine Antwort. Ich habe Dir eine Kopie der überarbeiteten Gesprächsfassung zwischen uns beiden beigelegt. Ich möchte auf jeden Fall Auszüge, am liebsten das ganze Gespräch im Programm abdrucken. Wir haben Gelder für ein umfangreiches Programm vorgesehen. Ich glaube aber, dass mitunter in der jetzigen Fassung vielleicht noch Wendungen oder Passagen sind, die Du überarbeiten möchtest. Das kann auf diese Weise geschehen. Das hat auch Zeit bis Ende Juli. Dann muss ich zur Druckerei. Lieber Arthur! Liebe Edith! Ich gehe nach unserem letzten Telefongespräch davon aus, dass Ihr beiden für die Uraufführung im Oktober unsere Gäste in Belgien seid. Wir erwarten Euch beide am Donnerstag, dem 7. Oktober, und Ihr würdet bleiben bis zum Mittwoch, dem 13. Oktober. Wir werden hier alles vorsehen, damit Ihr Euch wohlfühlt und Euch eine angenehme Unterkunft besorgen, auch dafür sorgen, dass Euch nach Wunsch eine Begleitung zur Verfügung steht. Ich werde auch dafür sorgen, dass Dir die 30 000 bfr an Honorar/Entschädigung/Aufführrechten (wie auch immer) zur Verfügung 170
stehen, damit kein finanzieller Engpass entsteht. Bitte bestätige mir nochmals diese Übereinkünfte, damit ich planen und organisieren kann. Aber wir haben ja noch etwas Zeit. Ich hoffe, Euch beiden geht es gut. Ich hoffe, Ihr seid bei guter Gesundheit. Ich bin sicher, ich bin dann genauso aufgeregt wie Ihr. Es kribbelt schon. Mit festen Umarmungen Lieber Arthur! Joshua mein Sohn hat dir eine Geschichte geschrieben von seinem Kampffisch der schillert in allen Farben im Aquarium. Geschickt hat er sie ins Hospital nach Wien und du warst schon tot. Als ich es ihm sagte hat er geweint weil Papas Freund nun nie mehr kommt. Sein Kampffisch ist am Tag danach gestorben. Er hat ihn unter der Eiche neben der schwarzen Katze mit den weißen Pfoten, dem erstickten Raben den zwei Eichelhähern und den anderen Fischen begraben. 2000 171
Sonntag, 29.8.1993 Wir haben uns heute Abend den „Irgendwo“-Film, die Materialien, die Kladde, Rohform, keine Auslese der Bilder, kein Schnitt, alles Gedrehte angeschaut. Es war der widerlichste Abend seit langem. Ich weiß nicht, wie gut oder schlecht die Menschen das Film-Material fanden. Darum geht es nicht. Seit Wochen, Monaten, einem Jahr nehme ich diese Menschen ernst, rede mit jedem, tröste jeden, schimpfe mit jedem, schaue jedem in die Augen, von Du zu Du, ganz nah, baue das ganze Projekt auf diese Privatisierung des Theaters auf, ganz autobiografisch, jeder einzelne ist nicht ein Schauspieler, sondern die Geschichte, meine auch, um die es so viele Monate geht, und dann das, was heute passiert ist. In meinen Augen eine der direktesten Formen von Faschismus, die mir vor Augen hält, dass alles jederzeit machbar, passierbar ist. Alle haben sich gegenseitig fertiggemacht, ausgelacht, dass, womit wir einen Zuschauer erreichen wollen, ist nach innen explodiert. Jeder brachte dem anderen mit mathematischer Genauigkeit Wunden bei, ein sichtbarer Schmerz, ein Riss in den Bauch, in Zeitlupe in einem schmerzverzerrten Gesicht widergespiegelt, der Bauchschuss auf einem Schlachtfeld oder Stoppelfeld, löst Gelächter, Ironie und Zynismus aus. Und da nicht Stopp. Das Opfer ist der nächste Täter, und so weiter. Keinerlei Betroffenheit beim Spucken. Ich meine jetzt nicht zuerst „Claudia“ in Nahaufnahme als Opfer. Das wurde dann doch verstanden, als Kurt sagte: „Haben wir jetzt einen Stummfilm.“ Die Identifikation mit dem Opfer ist nachvollziehbar. Ziemlich einfach. Aber die Täter unter sich, die Spuckenden, wie sie kämpfen, Kraft/Spucke sammeln, sich konzentrieren, Anlauf nehmen, sich ihres Speichels entledigen und die Gesichter sich dann in Selbstzufriedenheit beruhigen, fast hinlegen zum Schlaf, diese total privaten Momente, wurden lediglich kommentiert mit Gelächter, Hohn, Ironie, ein Opfer/Täter beißt dem anderen die Zunge ab. Selbstzerfleischung, keine Rührung, Auseinandersetzung, Selbsthilfe, kein privates Wort, Selbstmord einer 172
Gruppe, Entblößung, ohnmächtiges trinkendes Lachen über die Nacktheit des anderen, der kein Fremder, sondern der Weggefährte und Sitz/Trink-Nachbar ist. Was haben wir irgendeinem Zuschauer mitzuteilen? Ich war nur gelähmt, innerhalb unserer Gruppe, in die ich alles, was meinem Sohn fehlt, investiere. Was tue ich hier? Ich sollte endlich nochmals die Pflanzen gießen! Offener Dialog An vier Abenden im Herbst 1997 haben wir „Irgendwo“, die szenische Adaption von Arthur Wests „Märchen vom Wünschen“ im kleinen ostbelgischen Weisten als Stationentheater aufgeführt. Der Weg führte die Zuschauergruppen durch die Eifellandschaft entlang der ehemaligen Eisenbahnstrecke St. Vith–Gouvy. Sie wurde 1916 unter deutscher Militäraufsicht von russischen und polnischen Kriegsgefangenen errichtet, 1944 durch die alliierten Streitkräfte zerstört. Bunker, Viadukt, Bahnschacht, Wegkreuze und Abwassertunnel waren Stationen der Zuschauer, aber auch die „Luftschlösser“ Pierre Doomes. Der belgische Objektkünstler hat die „Luftschlösser“ mit AGORA-Spielern konzipiert und auf sechs Anrainerfeldern hiesiger Landwirte errichtet: dünne, weißgetünchte Stäbe und Stangen, durch Draht miteinander verbunden, waren das Material. Endstation des Wanderweges waren ein Stall und eine Scheune in Weisten. Es war Theater, das seinen Ort weder im Theatersaal noch auf der Bühne suchte. Weil es den Tempel verlassen hatte, öffnete sich auf eigentümliche Art und Weise die Realität. Der Raum war der Weg, die Landschaft, der Himmel, der Wind, die Witterung, das Dunkel der Nacht, die Spuren der Geschichte. Die Grenzen zwischen Spiel und Realität verschwammen. Spieler und Zuschauer waren gleichermaßen Grenzgänger und Wanderer durch die Jahreszeiten und Zeiten. Am Weg gab es auch die Neugierigen, die Vorwitzigen, die Gaffer und … die dumpfen Knechte der im Märchen vorkommenden Unheiligen der Fluten, des Sturmes und des Feuers, diese vermummten 173
Wegelagerer, die die Zuschauer erschreckten und bedrohten, die in einer Nacht vier Installationen blindwütig zerstörten; diese jungen Exemplare der zukünftig ewig Gestrigen, eine Mischung aus Angst und Dummheit: Angst davor, dass das Fremde das Vertraute bedroht, Dummheit, die die eigene Neugier und Lust auf das Ungewöhnliche zerstört. Sie spielten auf eigenartige Weise unwissend in der Inszenierung mit, in der es um Bedrohung und Vertreibung durch den Faschismus geht. Sie haben die Inszenierung nie bedroht. Sie haben Solidarität der Zuschauer untereinander, der Zuschauer mit den Spielern, der Landwirte und der Hiesigen mit der AGORA gefördert. Sie haben den Dialog über Form und Inhalt verschärft. Ihre zerstörerische Reaktion auf „Irgendwo“ hat eine Haltung aller provoziert: kompromisslos und schonungslos. 2002 Irgendwo Auslaufmodell. Ehemaligentreffen. Hallo Arthur! Was sollen wir tun? Was machen wir noch hier? Du hast dich aus dem Staub gemacht. Rechtzeitig. Ich laufe dir und mir hinterher. 2002 Es fehlt mir nicht nur die Kraft. Ich will sie woanders. Es fehlt mir auch die Lust. Leider macht es mich müde. Es fehlt mir die Liebe letztendlich, nicht jedem mehr schenken will ich sie, weil verweigert wird sie mir, wenn ich ungenau sie verteile, wenn ich nur verteile so viel, dass ich selbst nicht verhungere. Beenden will ich den Weg, solange er noch ein Ort ist. 2007
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Gedanken zu „Irgendwo“ Ich möchte hier an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt Irgendwo beenden. Solange Irgendwo noch ein Weg ist, kann man ihn beenden. Ist es einmal eine gedankliche Reise im Sofa oder eine emotionale Traumreise im Bett, reicht ein Schlag mit den Händen, dass die offenen Augen erkennen, da ist gar kein Weg (mehr). Die Erstarrung der Bewegung, das hat die Lava mich gelehrt, ist die Erinnerung an die Bewegung. Manche errichten dann Museen. „Bedenken möchte ich unseren Weg, solange er noch unser Ort ist.“
„Irgendwo“
Die Stäbe. Sie sind nicht mehr zum Wandern. Sie erinnern an die Wanderschaft. Sie sind nur Zeichen. Sie verweisen darauf, dass wir gewandert sind, eine Zeit lang, dass wir im Innersten gehen können, wenn wir wollen, dass das Theater, das wir tun, Teil einer Reise ist, auch wenn die tatsächliche Reise hier beendet ist. Der Stab zeigt auch, dass wir zusammen gingen eine Zeit und nun nicht mehr. Und es gibt junge, blutjunge und alte, uralte Stäbe. Und jeder, der in der AGORA ist, soll einen Stab haben, seinen Stab, den er geschlagen mit der Axt. Und jeder soll nun entscheiden, ob er seinen Stab an 175
einem Stein oder Baum zerschlägt oder verbrennt oder schleudert in den Abgrund oder ins Meer oder zersägt zu Holz für den Ofen oder wirft in den Müll oder trägt in den Wald oder mitnimmt ins Grab oder mitnimmt zu sich nach Hause ihn, wo er bleibt ein Zeichen der Reise. Es kommen keine Stäbe ins Lager. Für Stäbe (von früher) gibt es einen Rundbrief, in dem nachgefragt wird, was mit dem Stab geschehen soll. 2007 Christiane Hommelsheim erinnert sich: Die Inszenierung entstand unterwegs Die Inszenierung „Irgendwo“ war eine Sammlung von Szenen, die aus der Auseinandersetzung der Gruppe mit dem „Märchen vom Wünschen“ von Arthur West entstanden ist. Die Premiere war eine Bühnenfassung, doch die meisten Aufführungen fanden in Form von Stationen-Theater statt. Die Zuschauer bewegten sich von Station zu Station durch an die Orte angepasste szenische Situationen. In den 15 Jahren, die die Inszenierung auf dem Spielplan war, bewegten wir das Stück durch einen Schlachthof, eine Kiesgrube, diverse Friedhöfe, Sportplätze, auch mal ein Schloss, den Potsdamer Platz in Berlin, durch Kuhställe, diverse Kirchen, die Stadt St. Vith, über Bahnhöfe und einmal für zwölf Minuten durch eine stadionartige Großveranstaltung zum 50. Jahrestag des Endes der Zweiten Weltkriegs, als Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Das interessanteste Stück entstand unterwegs bei den Aufführungen. Irgendwo entpuppte sich im Kontakt mit den Orten, im Kontakt mit den Zuschauern und der Zeit, in der wir uns bewegten. Wir spielten beispielsweise am 12. September 2001 – über Nacht stand das Material im Kontext des 11. Septembers und musste wie auch sonst überprüft werden. Je länger wir spielten, desto falscher kam es mir vor, die sogenannte Bühnenfassung zu spielen. Es kam mir merkwürdig aufgesetzt vor „aufzutreten“, wenn nicht vorher der Bühnenraum durch andere Orte, andere Räume, die wir bespielten, als Ort relativiert wurde. 176
Wir waren ewig unterwegs. Vom anfänglichen Probenprozess erinnere ich mich vor allem an mein ganz privates Erleben. Die Erfahrung, ewig unterwegs zu sein, war zentral. Endlose Wanderungen in der Natur und das Gefühl, in einer großen Gruppe von 15 Spielern mit mir alleine zu sein, in einer Art Hassliebe zu meinen Reisegefährten. Alleine kommst du nicht weit. Freiheit durch den Rückhalt der Gruppe. Begrenzung durch das Gefüge der Gruppe. Aus diesem Thema entstanden immer wieder neue szenische Situationen der Solidarität, der Abhängigkeit, des Friedens, des Verrats. Mensch-Sein in all seinen berührenden und abstoßenden Seiten erforschten wir am eigenen Leib mit großer Ausdauer. Der Weg, der Koffer, das Telefonbuch. Das war unser Ausgangsmaterial. Die Telefonbuchseite mit ihren langen Listen von Namen und jeder einzelne Name, das einzelne Gesicht. Ich erinnere mich daran, wie der Blickkontakt, das wortlose Blicketauschen unglaublich wichtig waren, auch wenn ich es nicht immer verstand. Doch je öfter ich es machte, desto weiter wurde mein Blick. Ich habe Marcels Entscheidungen am Anfang der Inszenierungsarbeit nicht immer verstanden. Doch AGORA heißt Beziehung. In Beziehung gehen. Irgendwo kommen wir an. Ein neuer Ort. Ein neuer Spielort. Ich bin neugierig und lasse den Blick sofort fast stöbernd schweifen auf der Suche nach möglichen Angeboten des Ortes an uns. Dann suche ich Marcels Nähe, will spüren, was er sieht, oder hören, was er weiß über den Ort oder, wie es dazu kam, dass wir jetzt mit fast zwanzig Personen hier arbeiten werden. Mut. Marcel machte mir Mut, Dinge zu tun, zu denen ich mehr Stabilität brauchte als nur meine eigene. Dazu brauchte ich ihn als jemand der hundertprozentig hinter mir steht, z.B. in meiner Entscheidung, auf einem Altar im Abendkleid mit verbundenen Augen zu tanzen und unter tösender Stockschlagmusik Stück für Stück immer mehr Körperteile aufzugeben, erst ein Fuß, dann das Knie, dann das ganze Bein, immer im Versuch, weiter zu tanzen, mich aufzubäumen, bis ich keuchend auf dem Altar lag in der Stille. So schnell, wie es 177
nötig gewesen wäre, konnte ich nicht ermessen, was das dann für ein Bild ergibt, was das dann bedeutet oder was die Leute dabei vielleicht erleben. Habe ich dann den Altar entweiht? Oder habe ich einen Scheiterhaufen aus ihm gemacht? Oder eine Arena mit Gladiatoren? Und weiß Marcel das? Oder hat er einfach nur Mut, es auszuprobieren, und die Bereitschaft, mit der Wirkung zu leben und umzugehen? Ich hatte ihn durch ihn. Schließlich war es ja nicht er, sondern ich, die es machte und somit in der Verantwortung stand. Kritik. Immer wieder kritisierten Zuschauer Marcel, was er denn von uns Spielern da verlange. Oder Zuschauer fragten: Wieso macht ihr sowas? Wir mussten uns oft dafür verteidigen, dass wir keine hörigen Schafe seien und dass die Ideen genauso aus der Gruppe kamen wie von Marcel. Aber das Thema Mitläufer – wann fühle ich mich stark?, wozu stehe ich? – war zentrales Material des Stücks. Insofern musste es auftauchen. Arthur West. Widerstand kann man nicht oft genug üben. Irgendwo war immer auch ein bisschen Widerstand dabei: für uns und für die Zuschauer auch. Arthur fand unseren Ansatz, alle Themen des Faschismus am eigenen Leib durchzuarbeiten, zwar menschlich nobel, doch er sagte auch: Es gibt sie trotzdem auch außen, diese Kraft, die uns auseinandertreibt, gegen die wir Widerstand zu leisten üben sollten. Wie würden wir „Irgendwo“ heute spielen? Wasser. Fluss. Ich möchte den Fluss mit Stock und Koffer durchqueren, um zu der Zuschauergruppe zu gelangen. Marcel hatte zunächst ein wenig Angst um mich und ging selber ins Wasser. Er hätte alles, was wir gemacht haben, auch selbst gemacht. Ich habe den Fluss überquert und das Publikum hat mir aus dem Wasser geholfen und sich irgendwie gefreut. Oft habe ich diese Schwelle erlebt, an der wir uns etwas Außergewöhnliches ausgedacht haben und die zu dieser besonderen Berührung mit dem Zuschauer führt. Und wieder ziehen wir weiter. In diesem Stück habe ich in jeder Aufführung uns Spieler neu gesehen. Große Nähe, große Fremdheit. Plötzlich finde ich mich wieder, wie ich auf einem 178
großen Sportplatz ein Grab schaufle. Wir bereiten die Szene vor. Es ist Mittag, die Sonne scheint. Ich denke: Jetzt ist das Theater am schönsten! Nicht wenn die Leute auf einen mit Fackeln erleuchteten Sportplatz kommen. Ein anderes Theater in jeder Phase des Tages. Kurz haben wir uns versteckt, als die Polizei vorbeikam. Es hat nichts genützt: Jürgen musste mit. „Nehmt eure Personalausweise mit …“ Das letzte Mittel solcher Interaktionen war das Wort „Theater“. Und wenn ich es im äußersten Notfall benutzte, kam es mir vor wie eine Niederlage. Wir haben das Theater mit dem Wort Theater verraten … Oder auch nicht, denn bei den Polizisten löste das Wort nicht gerade Erleichterung aus. Das Fragezeichen war noch genauso groß. Der Theaterraum war der Ort für den Schlussteil, wo sich alle trafen. Zuschauer und Spieler. Ein geflüstertes „Wie wars bei dir?“ hinter dem Vorhang, wenn Zeit dafür war. Ich glaube, wir sollten das eigentlich nicht, sollten ganz „drin“ bleiben, aber für mich war genau das „Drin-Sein“: diese Momente der Begegnung nicht nur mit den Zuschauern, sondern auch zwischen uns. Ich bin irgendwann, nach etwa zehn Jahren, abgebogen, habe die „Irgendwo“-Gruppe verlassen, doch die Beziehung ging weiter. Wir, Marcel und ich, waren erst ratlos, wie wir das anstellen sollten. Er sagte streng zu mir: „Du weißt ja, dass du nicht mehr Mitglied der AGORA bist, wenn du in keiner Inszenierung mehr dabei bist!“ Ich sagte: „Ich weiß. Aber du und ich, wir sind ja zum Glück weiterhin Freunde.“ „Woyzeck“ U 1995 1.6.1990 Ich werde die Kraft finden, den „Woyzeck“ zu machen. Laufen wird er. Gehetzt vom Kläffen der Jagdhunde. Getrieben von innerer Unruhe. Ziellos wird das sein. Bis es ihm gelingt, die Entscheidung zu fällen. Indem er Marie umbringt, geht er ins Wasser. Ich sehe ihn über die Stacheldrahtzäune der Eifel 179
springen, sich seine Uniform zerreißend, sich blutige Wunden reißend. Hatz. Hetzjagd. Im Film wird er verfolgt vom stummen Lachen von urigen Eifelköpfen. Der Ton ist das wütende Kläffen von tollwütigen Hunden, vermischt mit seinem Herzklopfen bis an die Decke und einem Atem, der immer unrhythmischer wird. Er flüchtet in eine Kirche, in der eine Totenandacht monoton daher gebetet wird. Alle, die er schon vorher sah, drehen sich um. Im offenen Grab liegt Marie, dann F. W. selbst. Die Arbeit auf dem Schlachtfeld hat sein Innerstes zerstört. Unter zerschossenen Helmen liegen Puppen, nur noch Köpfe, Rumpf und Gliedmaßen liegen überall verstreut. Der Rumpf spricht noch den Text, der in die Mechanik eingegeben wurde. W. sammelt das Blut aus den Köpfen, sammelt es in einer Schüssel, in der er sich selbst zu ertrinken sucht. Währenddessen Karnevalsmusik. Besoffene die mitgrölen, geiles Lachen, Verrat auf Band. Im Film durchläuft er sein Leben, das gemessen an dem, was Norm(alität) ist, genauso überflüssig und störend ist. Er durchläuft immer wieder die vier Jahreszeiten: Zäune, Baumallee, karge Vennlandschaft, in Zeitlupe lässt er sich in die Jahreszeiten fallen. Immer wieder. Im Himmel, der brechtisch leer ist, kreisen die Raben. Seine Verbündeten. Woyzeck oder wie durchlebt einer die Isolation oder wie zerbreche ich einen Zerbrechlichen oder wie treibe ich jemanden in den (Wahn)Sinn oder die poetische Rekonstruktion einer Nichtbiografie oder wohin läuft einer, der das Ziel schon überschritten hat oder „Da läuft der Verrückte schon wieder“ oder „Warum bremst niemand den Verrückten?“ oder „Knallt doch den Verrückten ab“ oder „Machen wir uns die Finger nicht schmutzig, an dem, der ein uneheliches Kind mit einer kleinen Hure zeugte!“ oder „Lasst deshalb die Hunde los!“ oder das Verhältnis zwischen ihm und mir oder was denkt einer, der zum letzten Mal eine Rolle spielt oder 180
wie tut er das oder was denkt Laura, wenn er ihr ein Salatblatt vom Teller klaut und gierig in sich hineinkaut ohne Schelm im Nacken, richtig unmanierlich hungrig auf gerade dieses Blatt oder im Namen des Vaters und des Sohnes und schon machen alle das Kreuzzeichen: Das als letzte Kraftprobe, als letztes Zeichen in der Totenandacht dafür, dass er Macht hat und existiert und nur zu wollen bräuchte und damit die Wut auf den verstoßenen Verführer noch steigernd. Sein Tagebuch ist sein Kopf, der so schmerzt, weil er so voll ist. Aber aus vielen Puppenleichen hat er seinem Waisenkind einen Gefährten gemacht, oder alle stupiden Worte zu einem Gedicht verwandelt. 18.8. 1990 Woyzeck-Fantasien, Petra im Arm, Eupen. Er läuft mir andauernd über den Weg. Bühne: Woyzeck und Marie Zuerst ist er zu einer Nutte gegangen. Auge in Auge verwandelt sie sich in seine Geliebte. Schließlich findet er bei ihr die Geborgenheit seiner Mutter. Woyzeck wird zum Kind am Rockzipfel der Mutter. Schließlich spielt er mit seiner Puppe. Er drückt sie fest an sich. Die Puppe stellt ihn selbst dar. Er hatte sie aus Puppenwracks zusammengesetzt. Sie könnte blind sein. Er könnte ihr die Augen ausgestochen haben. Blut sickert heraus, er hält sie schluchzend in seinen Armen. Bühne: Schlussszene, Woyzeck und Marie Ein Schlachtfeld: zerschossene Helme, darunter brennende Kerzen, drum herum unzählige Puppengebeine: Arme, Beine, Rumpf. W zieht einen Puppen- Kinderwagen hinter sich her. Drinnen befindet sich eine Wanne. Aus Blech. Er geht von Helm zu Helm, hebt sie hoch, darunter befinden sich jeweils ein geschorener Puppenkopf, er trennt die Schädeldecke ab, schüttet das Blut in die Wanne. Er benetzt zwei Finger mit Blut, löscht die Kerze, legt den Kopf an die Stelle zurück und stülpt den Helm wieder drüber. Er könnte genauso gut Fallen geleert und wieder aufgestellt haben oder Pilze vom Waldboden sorgfältig getrennt haben. 181
Die Wanne voll Blut ist der Teich, indem er sich nachher, von Jagdhunden in die Enge gehetzt, ertränkt. Er schüttet das Blut aus der Wanne über sich und fällt um, regt sich nicht mehr. Marie erscheint als Rote-Kreuz-Schwester: Haube oder Kopftuch, weißer Kittel, nichts darunter mit einem Rollstuhl. Sie entkleidet Woyzeck, verschmiert dabei mit Blut. Sie zerrt den leblosen W. mit äußerster Kraftanstrengung in den Rollstuhl, wo er nackt zu atmen beginnt. Marie nimmt das Kopftuch, ihre langen blonden Haare fallen herunter. Sie setzt W. eine Blindenbrille auf, nachdem sie dem Nackten das Kopftuch als Serviette umgebunden hat. Sie fährt ihn weg. Film: Raben, Schweine, Hunde Die Raben sind Woyzecks Wegbegleiter, wenn er in der Natur ist. Von ihnen bezieht er seine Visionen, Träume, Alpträume. Er beobachtet sie, liegt auf dem Rücken, sieht sie ihre Kreise ziehen. Er klettert in die Bäume und isst ihre Eier. Die Schweine füttert er. Es sind Mast/Zuchtschweine. Massenzucht. Sie blicken ihn aus ihren kleinen Augen an. Ihre Köpfe verschwimmen mit den Gesichtern von Bürgern, Menschen, Bewohnern. Ihr Grunzen bereitet ihm Alpträume. Sie quieken, schreien, beißen sich, schmatzen. Diese Geräusche sind oft die Stimmen des Stücks. Die Jagdhunde füttert er. Ihr Gebell verfolgt ihn, treibt ihn querfeldein über die Zäune, bis er außer Atem stolpert, sich die Hose und die Haut aufreißt. Es sind die Soldaten. Bis er plötzlich/Zeitlupe/über einen endlosen Soldatenfriedhof läuft, geräuschlos, schwebend. Er ist gehetztes Stück Wild, sie treiben ihn in eine Kirche. Film: Totenandacht Woyzeck ist von der Hundemeute in eine Kirche geflüchtet. Kleine, alte Kirche, nicht pompös, weiß gekalkt. Ungefähr fünfzig Rosenkranz betende Menschen: Männer rechts, Frauen links. Viele alte Leute, auch Kinder. Woyzeck knallt das Kirchenprotal hinter sich zu. Draußen Hundegebell. Man hört sein Herz schlagen, Krankenhausaufnahmen, seinen unruhigen Atem. Die kleine Kirchengemeinde hat sich stumm umgedreht. Starre Blicke. 182
Die Totenandacht geht weiter, vor dem Altar steht ein blumengeschmückter offener Sarg. W. geht langsam nach vorne. Er erkennt, dass er selbst im Sarg liegt. Er dreht sich erschrocken um, die Betenden tragen rote Clownsnasen. Unter ihnen befindet sich auch Marie, im weißen Kleid, mit einem Kleinkind im Arm. Sie trägt keine Clownsnase. Sie weint. Die Nahaufnahme der weinenden Marie verschwimmt mit dem Gesicht der Muttergottes, die Wachstränen weint. Wir erkennen schließlich, dass W. der Muttergottes Wachs einer Kerze über das Gesicht tropfen lässt. Die mit Wachs zulaufende, in ihm erstickende Mutter Gottes erscheint im Stück immer wieder. Ich hab Büchners „Lenz“ und „Woyzeck“ gelesen. Beide sind sehr verwandt, es kann nichts anderes sein als die Ratlosigkeit des Autors. Beide sterben für uns die Frage hinterlassend, waren sie wahnsinnig? Wohin sind sie ihr Leben lang gerannt? Der Inszenierungsschluss für W ist noch präziser geworden. W zwingt M das Blut aus der Wanne zu trinken. W badet darin. Der Faden (Stimmen von Band: Leute, Tiere … retrospektiv) reißt. Die Wanne kippt über W. Er liegt blutverschmiert. M bringt den Rollstuhl (ihre Stimme auf Band: die Erzählung der Großmutter vom Kind) W: Marie! M: Was ist? W: Wir wollen gehen, ’s ist Zeit. M: Wohin? W: Weiß ich’s? (M fährt den Rollstuhl mit W. nach draußen) Es ist auch die Geschichte einer rastlosen, zum Scheitern verurteilten Liebe, die dem Leben nicht standgehalten hat, die das Leben zerquetscht hat. Die Geschichte von zwei Liebenden, die erst im Tod zusammenfinden. 1991 Erster Weihnachtstag 2000, Treffen mit Pierre Ihm geht es auch so. Was du einmal gemalt, geschrieben, inszeniert hast, 183
gehört zu dir, zu deiner Biografie. Du wirst es nie mehr los. Aber da trägst du es mit dir im Gepäck. Es lässt dich nicht mehr los: du führst es an der Hand oder es dich. Die Geschichte einer Puppe Die Eltern haben sie der vierjährigen Petra T. geschenkt. Zum Geburtstag. Es war ihre Lieblingspuppe, bis Petra T. aus dem Puppenalter heraus war. Mit 18 Jahren kam Petra T. zur AGORA. Sie brachte die Puppe mit zu „Jubiläum“. Das behinderte Mädchen Mizzi schleppte diese und andere Puppen Nacht für Nacht auf den Friedhof, auf dem sie mit anderen Toten wohnte. Dort schnitt sie der Puppe mit einer Schere die Haare, bis sie kahl war und erstach dann mit der Schere die Puppe. Petra T. starb am 30. August 1991 bei einem Autounfall. Marcel C. bewahrte die Puppe mit anderen Erinnerungsstücken auf dem Speicher auf. Marcel C. wird, seitdem er ihn als Student gelesen hat, Franz W. nicht mehr los. Also beginnt er ihn zu inszenieren. Zur ersten Probe bringt er wie alle Spieler eine wichtige Puppe aus der Vergangenheit mit. Es ist die Puppe, die dem spastischen Mädchen Mizzi und Petra T. einst gehörte. Die Puppe sagt: „Auf der Welt ist kein Bestand. Wir müssen alle sterben. Das ist uns wohl bekannt.“ Altklug. (Später sagen viele Kinder diese Sätze im Stück.) Deshalb beschließt Marcel C., die Puppe umzubringen. Er bindet ihr ein Seil um den Hals, befestigt das Seil an einem Heizkörper und wirft sie aus dem offenen Fenster. Da baumelt sie ein Meter über dem Boden. Sie grinst spöttisch wie eh und je. Noch nicht einmal der Kopf ist abgesprungen. Die kühlen blauen Augen sind offen. Marcel C. lässt sie fotografieren. Seitdem blickt sie von allen Woyzeck-Plakaten. Sie ist Franz W. Die Inszenierung war ein Skandal. Sie musste nach nur dreißig Aufführungen abgesetzt werden. Marcel C. setzte die Puppe Woyzeck auf das oberste Bücherregal in seinem Büro 184
in Crombach. Da saß sie. Hinter seinem Rücken. Ihm im Nacken. Marcel C. flüchtete eines Tages nach Köln. Er war da schon ein Jahr, da saß sie eines Tages auf der Nackenlehne des Sofas, schmuddelig wie eh und je, mit ihrem spöttischen kalten Blick. Im Rausch hat Marcel C. ihr eines Nachts eine Schere derart in den Bauch gestoßen, dass sie nun aufgespießt auf dem Tisch dalag. Drei Tage lang. Dann hat Marcel C. die Schere benötigt. Nun sitzt sie wieder auf der Nackenlehne des Sofas. Die Puppe. Woyzeck. 2000 Freitag, 25.6.1999, Frankfurt Letzten Dienstag haben wir den „Woyzeck“ gespielt. Zum letzten Mal. Franz W. hat mich drei Jahre begleitet. Ich lief ihm nach. Er lief mir nach. Wir haben uns angebrüllt und umarmt. Viele Blicke ausgetauscht, und ich wusste dann, er ist mein Bruder. Nun ist er fort für immer, und ich bin ihn nicht los. Wenn die Premiere eine Geburt ist, ist die Dernière ein Tod. W. ist zu früh gestorben. Wir hatten uns noch so viel zu sagen, längst war nicht alles ausgesprochen. Ich hatte nicht Abschied genommen. Und es tut weh.
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IX.
Wenn zwei eine Wolke betrachten, dann ist die Wolke für den einen ein Hexengesicht, Für den anderen ist die Wolke ein Buckelwal. Während die beiden darüber streiten, wer Recht hat, zieht die Wolke weiter und der Himmel ist wieder blau.
Was ist Kindertheater? Kindertheater ist ein rundes Tuch auf dem Boden der Turnhalle. Kindertheater ist der Fingerhut des „Tapferen Schneiderleins“, der zuerst zum Mus-Becherlein und dann zum Trauring der Prinzessin wird. Kindertheater, das sind ein paar Leute, die nichts tun als eine Geschichte zu erzählen, und sich doch plötzlich verwandeln in einen Baum oder in einen Hund. Kindertheater, das sind bunte Seidentücher, aus denen man die ganze Welt machen kann, Bach und Wiese und den Zauberer und die Königin der Sternschnuppen dazu. Kindertheater ist immer Musik, oft ein regelrechter Soundtrack. Kindertheater sind Puppen und Menschen, und Licht und Masken und Trommeln und Pfeifen und Kängurus und fliegende Geparden und zehn kleine Negerlein und ein Welttheater im Koffer. Kindertheater ist Freundlichkeit und Wärme und Lust und Zuneigung und das im doppelten Sinne: Um nicht über die Köpfe der Kinder hinwegzuspielen, neigt man sich herunter, aber das ist gleichzeitig auch ein Verneigen vor der großen Kraft der kindlichen Fantasie, ohne die man all das Wunderbare gar nicht machen könnte. Kindertheater zeigt Kindern, dass ihre Köpfe nicht nur zum Aufsammeln von Lernstoff, Videobildern und Pommfritz taugen. Kindertheater ist ein Spiel mit Spielregeln, die das Kind leidenschaftlich und mit großem Ernst akzeptiert. Kindertheater ist Kunst, die das verborgene Fühlen der Kinder modelliert. Kindertheater ist Theater … 1985 186
Sophie L. Die Idealisten Kind und Spieler Kind träumt sich in viele Berufe, begreift sie im Ernste des Spiels. Es fehlt ihm die Kenntnis, die Reife. Es kennt keinen Weg, nur ein Ziel. Die Spieler auf dem Theater, die so voller Kenntnisse sind, vermögen alles zu spielen, aber am wenigsten ein Kind. Hand in Hand gehen die Idealisten Und suchen ihr Land, Als ob sie den Weg schon wüssten sehnsuchtsvoll Hand in Hand. Sie sind sich die besten Berater, dies sei der Ort, das Theater. 2007 Christels Kühlschrank heisst Edgar. Das „g“ wird hart gesprochen Wie ein „k“. Er brummelt leise vor sich hin: Unverständliches Zeug. Aber zufrieden. Er hat ein krankes Bein und er zittert leicht. Wenn du dich nach seinem körperlichen Wohlbefinden erkundigst und ihn untersuchst, stöhnt er laut und ungeduldig, bis du ihn in Ruhe lässt in seiner Ecke. 1998 187
Helga erzählt folgende nicht kopierbare Geschichte: Der schwerbehinderte Andreas verliert immer mehr den Kontakt zu den ihn umhegenden Menschen. Sein Kontakt ist eine andere Stimmlage seiner Stimme, die er vorher in den Kühlschrank sperrt, um sie dann stundenlang zu suchen. Er findet sie nach einem närrischen Versteckspiel immer wieder. In der Zwischenzeit ist er gewachsen, immer in der Gefahr, dass seine Stimme erstickt. Das ist wahrhaftiges Theater, voller Risiken, die das Theater spannend, weil lebensnah und lebensbedrohend machen. Die Stimme auf Eis. Die Stimme im Kühlschrank. Die erstickende und erfrierende Stimme. Wenn Kunst (Wilson) sich diesem Risiko nicht aussetzt, sondern sich teuer verkauft, wird sie unweigerlich Konsum, Genuss ohne Geschmack, Cola, Disco, Selbstzweck, Handlanger des Kapitals. Sie feiert sich selbst, ohne Widerspruch und ohne Chance zu widersprechen. Also ab von Hamburg nach Belgien, ohne wesentliche Zwischenfälle. Schöner Schein. Da verblasst selbst „Der Club der toten Dichter“ zu einem Märchen, weil noch andeutungsweise, nein, deutungsweise, sich Werte verlieren. Wo sind die Bezugspunkte, wo ist der Ansatz, die Vene, der Nerv, der Einstich, die Nadel. Fressen wir also, ohne zu kotzen. Die Fliege, die gestern zu Boden ging, kreist wieder um die Lampe. Eintagsfliege. Wo bleibt die Zukunft? Jetzt. 1990 Gutes Kindertheater ist immer auch Erwachsenentheater4 Wir sahen sehr schnell ein, dass es eine kreative Wechselwirkung zwischen Kinder- und Erwachsenentheater gibt. Das gilt sowohl für die formalen Mittel, die man auf der Bühne braucht, als auch für die Inhalte, die wir vermitteln. Und es gilt ebenfalls für die Schauspieler, die sowohl von dem einen als auch von dem anderen lernen konnten: Es ist also nicht einseitig … Wir erkannten sehr schnell, dass Kinder das ehrlichere Publikum sind, dass wir diesen kleinen Zuschauern gegenüber mehr Verantwortung zu übernehmen haben. Und wir 188
sahen immer deutlicher, dass es im Grunde genommen kaum Unterschiede zwischen Kinder- und Erwachsenentheater gibt. „Gutes Kindertheater ist immer auch Erwachsenentheater“ ist eines unserer künstlerischen Leitmotive geworden. Wir erkannten, dass die Themen der Erwachsenen auch die Themen der Kinder sind. Das ist ausnahmslos der Fall. Die Arbeitslosigkeit des Vaters, der Tod der Großmutter sind Themen, die die Erwachsenen und die Kinder gleichsam berühren. Lediglich die formalen Mittel, die diese Themen über die Rampe bringen, sind unterschiedlich. Wir machen dann ehrliches Kindertheater, wenn wir uns nicht herablassen in die buntchaotische Welt der Kleinen und Interesse mimen, Drops, bunte Luftballons und rote Nasen verteilen, wenn wir die Kleinen nicht abservieren oder abspeisen mit dem, was der Konsum oder andere Medien wie das Fernsehen, sowieso bieten, womit sie vollgestopft werden. Diejenigen, die am häufigsten auf die Mittel hereinfallen, sind ohnehin inkompetente Kritiker oder ängstliche Pädagogen oder am Zuschauer uninteressierte Veranstalter. Wenn der Saal tobt, ist die Welt in Ordnung. Dabei wird dann vergessen, dass bei dieser Lautstärke dem einzelnen Zuschauer keine Möglichkeit geboten wird, die Inhalte, die vermittelt werden, zu hinterfragen. Das ist Betrug am Publikum! Da wird Ohnmacht erzeugt! Im Kindertheater ist das umso schlimmer, weil es sich bei den Kindern um Minderjährige handelt, die Volljährigen für eine gewisse Zeit anvertraut wurden. Das ist sozusagen Verführung Minderjähriger! Die Kindertheatermacher müssen die Kinder als Persönlichkeit ernst nehmen und nicht automatische versuchen, die Wertmaßstäbe, die Weltsicht und die Lebenserfahrung der Erwachsenen auf die Kinder zu übertragen … Ich möchte versuchen, die Entwicklung des Kindertheaters in der AGORA zu verdeutlichen anhand der drei Eigenproduktionen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben: angefangen beim „Zauberpinsel“ über „Schnarchen Steine nachts?“ bis zum gegenwärtigen Stück „Schräge Vögel“. Im „Zauberpinsel“ erzählen wir noch eine lineare Geschichte, auf der Bühne agierten Figuren statt Menschen, wir betonten das 189
Märchenhafte, Fabulöse. Am Ende des Stückes stand mit dem Schlusslied und dem Happy End eine deutliche Aussage. Dieses geschlossene Ende löst einen Konflikt zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß auf. Bei „Schnarchen Steine nachts?“ haben wir die lineare Geschichte bereits zerstückelt, obwohl sich eindeutig ein roter Faden durch das Stück schlängelt, haben wir mit Brüchen agiert. Wir sind im Sinne des epischen Theaters von Bert Brecht verfahren. Wir sind aber bereits weggegangen von einer einzigen Ebene auf eine doppelte: Einerseits handeln auf der Bühne Fabelwesen, also Steine und ein Küken, andererseits haben diese Figuren, es waren keine Charaktere, auch Kinder einer Rasselbande. Das Thema, das dort im Mittelpunkt stand, und zwar das Einander-Kennenlernen, ist ein Thema, das uns auch bei „Schräge Vögel“ nicht losgelassen hat. In „Schräge Vögel“ wird keine Geschichte erzählt, es ist eine Bilderfolge. Im Mittelpunkt steht die Beziehungskiste zwischen Kuckuck und Mantel. Die beiden sind keine Figuren, sondern Menschen. Es sind zwei Erwachsene mit einem kindlichen Verhalten, zum Beispiel, wenn es um Besitzansprüche geht. Diese Menschen sind aber nicht eindeutig. Der Zuschauer entscheidet sich nicht gegen einen und für den anderen; beide sind recht widersprüchlich, so dass der Zuschauer immer wieder dazu angespornt ist, das Verhältnis der beiden zueinander und zum Leben im Laufe des Stücks zu untersuchen und in Frage zu stellen … Manche Szenen brechen bereits ab, wenn sie beginnen. Es handelt sich um eine sehr locker gesponnene Geschichte, und oft wird eine Seite umgedreht, bevor der Zuschauer Zeit hat, diese Stelle zu Ende zu „lesen“. Das haben wir auch sehr bewusst getan, um Freiräume zu schaffen für die Fantasie der Zuschauer. Und die Tatsache, dass dieses Stück so oft weitergespielt wurde in Schulen und auf Spielplätzen, gibt uns recht. Wir haben also kreative Prozesse in Gang gesetzt, die von den Kindern weitergeführt wurden … Es gibt natürlich eine Reihe von Grundsätzen, die sich von Beginn an bis jetzt bestätigt oder vervollkommnet haben. 190
So haben wir beispielsweise bei diesen drei Inszenierungen konsequent die Nähe zu Publikum gesucht. Ich sage bewusst „Nähe zum Publikum“, um auch den Gedanken des Mitspieltheaters, das wir nicht handhaben, beiseite zu schieben. Wir untersuchen in unseren Stücken immer intensiver die Beziehungen zwischen den Menschen, und von Anfang an haben wir immer einen kreativen Bühnenraum gesucht, der viel Platz für die Schauspieler bietet … Alle unsere Inszenierungen haben eine starke Objektbezogenheit. Objekte sind immer die Partner der Kinder, ob es sich nun um eine Puppen oder Gebrauchsgegenstände aus der Küche handelt. Kleine Kinder führen diese Objekte häufig zum Mund, sie schmecken sie. Schmecken diese Objekte den Kindern, dann werden sie auch akzeptiert, manchmal so sehr, dass sie mit der Zeit ganz aufgegessen werden. Kinder haben Objekte zum Fressen gern. Die Bühnenobjekte sind auch die Vertrauten der Spieler. Sie haben eine eigene Identität, oft ein wirkliches Bewusstsein und eine eigene Sprache. Mitunter verselbständigen sie sich. Der Spieler tritt dann andächtig in den Hintergrund. Wenn wir Objekte mehrschichtig verstehen, wechseln sie dabei ständig ihre Identität. In diesem Sinne kann ein Stuhl alles sein, sogar ein Stuhl. Auf einem wallonischen Kindertheaterfestival in Huy sah ich einen Achtjährigen, der einen Stuhl an einem Seil durch ein Café zog, mit ihm sprach und ihm immer wieder in unterschiedlichen Tonlagen sagte: „Du bist mein Gefangener.“ Der Stuhl wurde also zur Person. Wir betrachten es als sehr wichtig, dass die Bühnenmittel des Kindertheaters auch die Mittel sind, die die Kinder in ihren Freiräumen benutzen. Aus dem Interview von Werner Keutgen mit Marcel Cremer für das Grenz-Echo vom 14.12.1991 7.1.2000, Köln, Marie (eine Kneipe) Der Regisseur findet einen Prinzen. Der Prinz ist nackt. Der Regisseur erkennt ihn an der Krone. Er kleidet ihn an. Dann findet er eine Prinzessin. Sie sitzt weinend im Garten. Er führt 191
sie zum Prinzen ins Schloss. Die beiden fallen sich in die Arme und küssen sich. Der Regisseur führt sie ins Schlafgemach. Dort lieben sie sich und essen dann Butterkekse und Popcorn im Bett. Der Regisseur verhungert indes. Wie der Regisseur so verhungerte, kam ein Kind daher. Es sagt zum Regisseur: Du siehst blass aus und bist sehr mager. Hast du Hunger? Ja, sagte Regisseur mit schwacher Stimme. Ich hab einen Butterkeks, wir können ihn teilen. Da musste der Regisseur weinen. Vielleicht magst du lieber Popcorn. Hier. Nimm! Der Regisseur weinte umso bitterlicher. Ich habe sonst nichts, sagte das Kind, aber du, hast du vielleicht eine Zigarette für mich? Der Regisseur blickte das Kind mit nassen Augen an. Schon gut, sagte das Kind, ich weiß, ich bin zu jung. Der Regisseur reicht ihm wortlos eine blaue Zigarette, gab ihm Feuer und schob sich selbst auch eine zwischen die Zähne. Da rauchten sie beide. Und tauschten Blicke aus dabei. Weißt du, sagte das Kind, zu Hause bei Mama und Papa darf ich das nicht. Sie sagen, das macht die Vorhänge gelb und die Luft schlecht. Wenn die Luft schlecht ist und die Vorhänge gelb, besucht uns niemand mehr in unserm Schloss. Daraufhin beschloss der Regisseur, sich in Zukunft mehr dem Kindertheater zu widmen. Die unglaubliche Geschichte Die traditionelle Märchenidylle ist tot. Die Fragen, mit denen wir uns – auch im Kindertheater – zu befassen haben, sind seit Grimm und Co. anders geworden. Angesichts der Tatsache, dass Kinder mehr noch als wir Erwachsene unter von uns Erwachsenen zu verantwortenden toten Flüssen, überdüngten Feldern und mörderischen Straßen zu leiden haben, ist es unmoralisch, den Kindern eine biotopische Theaterwelt vorzugaukeln, es sei denn dieses Theaterbiotop ist ein gewollter Hinweis auf das, was außerhalb der Theatermauern vor sich geht. Wir streuen den Kindern keine Sandmännchen-Körner in die Augen. Wir ängstigen die Kinder auch nicht mit schockierenden Nachrichtenbildern oder realistischen Momenten des Alltags. 192
Wir erzählen ihnen glaubwürdig eine unglaubliche Geschichte, z.B. von lebendigen Steinen. Einen Stein betrachten, ist wie auf dem Rücken liegen und in die ziehenden Wolken schauen. Wir erzählen eine märchenhafte Fabel, die Freiräume für die kindliche Phantasie schafft. Wir gehen der Sache auf den Grund: In der Steinkruste und in der Eierschale klopft und atmet etwas. Wir schauen mit den Kindern hinein. Wir erzeugen kindliches Staunen, das nicht von der Welt ablenkt, sondern auf das Leben neugierig macht. In diesem Sinne verschmelzen in unserem neuen Kinderstück die Arbeitsmethode der AGORA – das auf der Bühne eingesetzte Objekt soll in den verschiedenen Tiefenebenen lebendig und zum Partner des Schauspiels werden – und die Botschaft zu einem harmonischen Ganzen. 1988 „Schräge Vögel“ U 1990 Dienstag, 17.7.1990, 18 Uhr Roland ist vom Baum gefallen. Abschürfungen am ganzen Körper. Jod und schmerzstillende Mittel: Jetzt schläft er. Die knorrige Akazie, über hundert Jahre gegen den Mistral kampferprobt, hat nicht auf sich herumspielen lassen. Ende vom Anfang der ersten Improvisationsübung an den „Schrägen Vögeln“. Ich klettere auf einen anderen Baum. Prompt Abschürfungen von der furchigen Rinde. Nun soll ich vom untersten Ast springen. 2,20 Meter über dem Boden (ich habe später nachgemessen). Über eine halbe Stunde habe ich mich nicht getraut. Eine lächerliche Höhe, ich weiß. Die Ratio hat das auch schnell eingesehen. Unten lauern die anderen, grinsen, schüttelnd den Kopf, verstehen das Problem. 2,20 Meter. Weshalb soll ich springen? Weshalb jetzt? Ich kann mich abseilen? Was wird von mir erwartet? Ich erinnere mich an den ersten Kopfsprung vom Rande des Schwimmbades. Ich muss es nicht tun. Weshalb sitze ich dann noch oben. Soll ich diese Lächerlichkeit nicht hinter mich bringen. 193
Auf einmal war ich unten. Ich hab mich erinnert an Schauspieler, denen ich sage: „Versuch es.“ Ich hab mich erinnert an den Zuschauer, dem wir unsere Stücke zumuten, das sind auch Sprünge von 2,20 Meter (oder mehr, eher weniger). Ich weiß, dass sie aufgefangen werden. Er muss dieses Vertrauen haben in sich und uns. Er muss im Innersten wissen, dass wir ihm nur Zumutbares zumuten. Und er muss spüren, dass die Ängste, Schrecken und Windungen der halben Stunde ihm letztendlich Einsichten und Kraft vermitteln. Diese Verantwortung dürfen wir nie aus dem Auge verlieren.
„Schräge Vögel“
Gedanken und Erinnerungen von Roland Schumacher Mitte Juli 1990: Vier „schräge Vögel“ (Marcel, Pierre, Gerhard und ich) auf dem Weg in unser Probenquartier in der Abgeschiedenheit des kleinen Ortes Brazis in der Nähe von Toulouse. Im Unterschied zu den abertausenden urlaubshungrigen Südfrankreichfahrern führen wir neben Sonnencreme und Proviant für die ersten Tage am Probenort vor allem eine erste Stückvorlage, einige Requisiten und kleine Instrumente 194
mit uns im Gepäck und freuen uns auf fünf Tage konzentrierter und ungestörter Arbeit. Doch bereits am ersten Tag erfährt unser Arbeitsprogramm eine unerwartete Wendung: Im Verlauf der ersten Improvisationsübung stürze ich vom Baum und trage am ganzen Körper schmerzhafte Schürfwunden davon. „Die knorrige Akazie, über hundert Jahre gegen den Mistral kampferprobt, hat nicht auf sich herumspielen lassen. Ende vom Anfang der ersten Improvisationsübung“, schreibt Marcel in seinen Aufzeichnungen. Von den drei Freunden mit Jod und schmerzstillenden Mitteln versorgt, verbringe ich die nächsten Stunden flügellahm im Bett. Doch dadurch steht der Arbeitsprozess nicht still. Die in Marcels ersten Stückvorlage erwähnte Baumruine als Ort der Handlung ist durch den Absturz ordentlich ins Wanken geraten. Gleichzeitig reift der Gedanke, dass die beiden „schrägen Vögel“ Kuckuck und Mantel sich wohl eher in einem häuslich eingerichteten Müllcontainer als auf einer Baumruine unfallfrei werden bewegen können. Trotz ihrer Verwandtschaft zu Wladimir und Estragon werden sie zugunsten eines Müllcontainers auf die Baumruine verzichten müssen. Der autobiografische Arbeitsansatz, sich dem Stück und den Figuren über Ich-Geschichten anzunähern, wird erst in späteren Inszenierungen heranreifen. Dennoch versucht Marcel, den Spielern mit anderen Mitteln bei der Findung ihrer Figur behilflich zu sein, so u. a. in Form eines „Verhörs“, dem er uns Spieler am nächsten Probentag unterzieht und in dessen Verlauf mein Mitspieler Gerhard den Satz „Zeit ist der Abstand zwischen Hunger und Baguette mit Ketchup“ fallen lassen wird, ohne direkt ermessen zu können, wie hilfreich ihm und uns dieser Satz im Verlauf der weiteren Stückentwicklung und Figurenfindung noch werden wird. Am 1. Dezember 1990 fand die Uraufführung des Stückes statt, das wir bis zur Dernière rund neunzig Mal aufführen durften, so u. a. auch bei vielen Gastspielen in Deutschland, Dänemark, Luxemburg, der Schweiz, Italien und der Slowakei. 195
Mittwoch, 25.7.1990, Frankreich – Flash-backs „Zeit ist der Abstand zwischen Hunger und Baguette“, formulierte Gerhard spontan und traf den Nagel auf den Kopf. Es geht primär darum, dass die zwei Stadtstreicher, Heimatlosen, Exilanten, Aussteiger mit der Zeit ringen, sie in den Griff kriegen wollen. Kein Warten auf den mächtigen, unbekannten Godot zwar, aber es wird passieren, wobei es offenbleibt. Konkret hegt und pflegt Kuckuck Kuckucks-Uhr, obwohl sie nicht tickt, Mantel wartet seit immer darauf, dass sein mit Wecker ausgerüstetes Fischfrühwarnsystem den Fisch in der Wanne ankündigt. Die Verbindung von Zeit und kreativem Prozessen ist offensichtlich. Wie werden es die Kinder sehen? Wir sind so konkret im Stück drin und auf der Suche nach der Definition der Rollen, dass es dringlich ist, über Improvisationen Abstand zu finden. Über den Abstand finden wir die Nähe. Die Seele der Rolle schwebt in der Ferne, dort müssen wir sie suchen, nicht im Hut von Mantel. Der Weg zur Liebe führt über die Sehnsucht, die dann wächst, wenn Abstände von 1200 Kilometer und mehr zurückzulegen sind. Das geliebte Gesicht drückt sich dann am festesten ins Kissen neben dir. Über den konkreten Nutzen von Improvisation und das Resultat von sich daraus logischerweise ergebenden „Pannen“. Wir benötigen für eine Übung am Stück einen Briefkasten. Gerhard findet ein ausgedientes Vogelhaus, das er mit großer Mühe am Baum befestigen kann. Im Verlauf der Übung fällt es mit der kleinsten Berührung immer wieder zu Boden, am Ende, ohne dass jemand auch nur in seine Nähe kam. Solcherlei Pannen oder Ärgernisse sind bei Improvisationen in Wirklichkeit Zeichen, die wir sehen und verstehen sollen. Es sind reale Zufälligkeiten, denen wir einen logischen Zusammenhalt und damit einen Sinn geben können. Voraussetzung ist, dass wir sie durch unseren ersten Ärger hindurch sehen. Im Stück wird Kuckuck seine, eine Kuckucksuhr, Kuckucks Uhr, haben. Wenn Mantel auch nur in ihre Nähe kommt, lässt sie sich von der Wand fallen. An ihrer eigenen Kette baumelnd, wird Kuckuck sie jedes Mal retten. 196
Zum Stück „Schräge Vögel“ habe ich ein grobes Raster entworfen, ganz kurze Skizzen, einige Notizen, nicht mehr, und dann haben wir uns getroffen, das heißt, die zwei Spieler und ein Maler, der unsere Projekte begleitet. Er ist seit der ersten Probe dabei und skizziert, er arbeitet mit der Gruppe, wir arbeiten nie mit Video, immer nur mit seinen Skizzen, weil wir festgestellt haben, dass Skizzen eines Malers eigentlich so viel Fantasie, Freiraum geben für die Arbeit an der Figur, während das beim Video nicht der Fall ist. Ein Video ist immer eingrenzend, enttäuschend im Prinzip, die schlechte Kopie von etwas, während die Skizze eines Malers sehr viel Fantasiefreiräume lässt. Der Spieler ist meistens auch erstaunt: Aha, so hast du mich in der Situation gesehen, es gibt ein Gespräch und danach ist es immer verwundernswert, wie anders dieser Spieler auf einmal mit sich umgeht, mit seiner Rolle, die er ja auch noch entdecken muss. Also, der Maler, die zwei Spieler und dann hier bei diesem Projekt drei Pädagogen und zwar aus dem Kindergartenbereich, dem Volksschulbereich und aus dem Behindertenbereich. Die drei sind Mitglieder der Gruppe. Ich habe meine Skizze erklärt, und wir haben uns vor allem Fragen gestellt, bei diesem ersten Treffen überhaupt keine Antworten gegeben. Beispielsweise: Wird es eine Fabel? Stellen wir Vögel auf der Bühne dar? Sind es Menschen? Sind es Kinder? Sind es Behinderte? Ist es ein Ehepaar? Sind es zwei Männer? Alles war noch möglich. Menschen, Tiere, vielleicht sogar Objekte. Alles war offen. Das war ein riesiger Fragenkatalog, und dann haben wir gesagt, wir reden einen Monat nicht darüber. Ihr könnt mit egal wem darüber reden, aber wir zusammen nicht. Und nachher kommt jeder und hat drei DIN-A4-Seiten voll und wir vergleichen. Nach einem Monat ist das dann geschehen, und es haben sich ganz unterschiedliche Geschichten herauskristallisiert. Wir haben uns dann auf diesem Treffen schon auf eine große Richtung geeinigt und zwar: Es ist keine Fabel, und es soll auch keine Geschichte sein, es soll eine Bilderfolge sein, eine 197
Folge von szenischen Bildern und absurden Elementen. Und nachdem dieses zweite Treffen stattgefunden hat, geht es in das, was ich in unserer Arbeit die Isolationsphase nenne. Die Gruppe setzt sich zehn bis 15 Tage ab. Es ist immer ein unbekannter Ort. Wir fahren zusammen zum ersten Male als Gruppe irgendwo hin und entdecken dort eine neue Landschaft, ein neues Haus, uns als Gruppe, uns als Menschen ganz anders auch. Das ist der wirkliche Start. Das andere hat vorher noch zu viel im Kopf stattgefunden. Und jetzt gehts rüber in den Bauch und in die Bewegung. Ich kann auch sagen, das ist die Bewegung hin vom bürgerlichen Ich zum künstlerischen Du. Nach dieser Isolationsphase ist noch nichts klar, noch gar nicht, nur das Volumen ist intensiver geworden. Umrisse. Schattenhafte Bilder sind da. Einen Gedanken, den wir hatten bevor wir zu dieser Frankreich-Fahrt aufbrachen, war z. B.: Die zwei Stückfiguren wohnen in einem Baumstumpf, eine Art Baumhaus. Die Idee war uns gekommen, weil verheerende Stürme kurz zuvor unsere Gegend heimgesucht hatten. Und wie der Zufall es ergab, stand natürlich eine wunderschöne, mächtige Esche dort. Ich dachte: Toll, jetzt improvisiere ich mit den beiden zehn Tage in dem Baum. Dann hat der Baum sich gewehrt. Am zweiten Tag fiel Mantel vom Baum und hat sich verletzt. Es war nicht so tragisch, aber für uns war das ein Signal: Der Baum will nicht, also machen wir es nicht. Dann sind wir auf dem Boden geblieben wie die Hühner und haben uns nicht mehr nach oben getraut und haben in den Wäldern und auf den Feldern neue Orte gesucht. Wir haben uns aber noch nicht festlegen können. Nach der Frankreich-Phase sind wir nach Belgien zurückgekehrt. Die Arbeit am Stück hat drei Wochen geruht, bevor wir wieder regelmäßig die Suche fortsetzten. Das ist die Improvisationsphase. Ort füllen mit spielerischen Aktionen, die sich frei um die Geschichte, die entstehen soll, herumscharen, das eine ergibt das andere. Wege testen, wie weit führen sie? Oder ist es gleich eine Sackgasse? Wie weit können wir spielerische Elemente treiben, bis hin zum 198
Unverständlichen? Es ist auch eine Sammelphase. Nach der kommt dann eine erste Entscheidungsphase. Aufgrund der Improvisationen entscheiden wir uns für einen Ort, in diesem Fall für einen Müllcontainer auf Rädern. Wir haben probiert und festgestellt: An diesem Ort und um den Ort herum kann man leben und an ihm kann man das, was wir sagen wollen, sagen. Mittlerweile blieben auch wieder nur drei Wochen bis zur Premiere. Monatelang bleibt alles offen, bis wir fixieren. Schließlich kommt die Öffnungsphase dazu, wo wir zuerst einmal der gesamten Gruppe erlauben, zu den Proben hinzuzukommen. Die bringen ihre Freunde mit, ihre Kinder, ihre Großeltern, das ist uns egal, jeder darf. Wir kündigen diese Proben mitunter auch in der Presse an. Jeder darf halt hereinplatzen. Das ist für mich auch ganz interessant und schwierig, weil, bis dahin bin ich der einzige Zuschauer. Ich denke, der Regisseur ist ein Zuschauer, und er sollte ein kompetenter Zuschauer sein. Und dann kommen andere Zuschauer-Regisseure und etwas ist noch nicht fertig, da öffnet man sich und wird natürlich auch verwundbar, und man muss schon feststellen: Wie kräftig ist mein Stück? Können wir uns mitunter wehren? Können wir uns durchsetzen? Oder gehen wir auf Vorschläge ein? Dann kommt die Premiere, das ist das erste Mal, dass wir uns sagen, die Inszenierung ist jetzt gut genug in dem Sinne, dass wir dafür zehn Mark Eintritt verlangen können. Es kommen zahlende Zuschauer. Und dann läuft das Stück mit ständigen Änderungen, mit Umdeutungsphasen, Umänderungsphasen, die Erstarrungsphase ist, wenn uns nicht nichts mehr einfällt, dann setzen wir das Stück ab. Das ist die letzte Aufführung, wo wir bei uns spüren, jetzt fangen wir an, es zu spielen, wie es ist. Dann können wir uns und, ich denke, damit auch den Zuschauern nichts Neues mehr geben. Ich denke, ein Zuschauer spürt das. Es fällt mir schwer, auf die Frage zu antworten: Wie reagieren die Kinder darauf? Weil ich auch nicht darauf antworten kann: wie reagieren die Erwachsenen darauf? Ich glaube, da entsteht der erste Irrtum, dass man versucht die Kinder als 199
Publikumsmasse zu sehen oder als zeitliche Blocks, so sechs, acht bis neun und dann kommt da eine neue Einheit. Während man bei den Erwachsenen davon ausgeht, das sind schon Individualisten, Persönlichkeiten, die im Zuschauerraum sitzen, und es ist ganz selbstverständlich, dass jeder es ganz privat und ganz anders sieht. Da haben wir auch lange gebraucht, bis wir mal über diese Hürde hinweg waren. Also, die Kinderreaktion gibt es nicht. Und wir wollen sie auch nicht, diese uniformen Antworten im Kinderpublikum: „Seid ihr alle da?“ „Ja!“ Wir wollen uns auch wehren mit solchen Stücken. Es ist für uns zur Enttäuschung geworden, wenn uniforme Reaktionen kamen. Wo alle klatschten, wo alle lachten oder weinten. Nein oder Ja brüllten. Bewusst sind die Figuren so gestaltet, dass sie nicht schwarzweiß gemalt sind, sondern dass sie gute und schlechte Eigenschaften haben. Die Kinder sollen sich von Situation zu Situation für oder gegen den einen oder den anderen entscheiden müssen, d. h., es gibt ganz differenzierte Stellungnahmen auch verbaler Art. Das Stück ist so angelegt, dass das möglich ist und nicht stört. Eine schöne Anekdote, die wir beobachtet haben: Ein Knirps von sieben oder acht Jahren geht mit seinem Vater nach der Aufführung nach Hause. Der Vater hält eine zerknüllte Cola-Dose in der Hand. Beide kommen an einem Container vorbei. Der Kleine zerrt den Vater zurück und sagt: Du, Papa, da wohnen die. Da darfst du sie nicht reinwerfen.5 Notizen am Rande Mantel heißt so, weil er einen langen Lodenmantel trägt, aus dem er allerhand Nützliches hervorzaubern kann. Kuckuck heißt so, weil er irgendwann, ohne zu fragen, bei Mantel eingezogen ist. Kuckuck: Was ist Zeit? Mantel: Zeit ist der Abstand zwischen Hunger und Baguette mit Ketchup. Weil beide auf etwas Bestimmtes warten, hat die Zeit des Wartens einen Sinn. Sie füllen das Warten mit Inhalten. 200
Obwohl Kuckuck und Mantel verwandt sind mit Wladimir und Estragon, warten sie nicht auf Godot. Als Mantel in den Apfelbaum kletterte, befahl ihm Kuckuck, sofort von seiner Leiter zu steigen. Kuckuck ist von der Leiter gefallen, weil er Angst vor dem Hinaufsteigen hatte. Kuckuck und Mantel sind Erwachsene, denen wir kindliche Gesten und einen fantasievollen kindlichen Geist gegeben haben. Sie sind keineswegs kindisch. Kuckuck will, dass Mantel ihm die Geschichte von den Schwalben und Spatzen zum hundertsten Male erzählt. Er befiehlt der Geschichte, seinen Kopf zu verlassen. Sie fliegt aus dem offenen Fenster nach draußen. Kuckuck winkt ihr nach. Mantels Zeigefinger will nach rechts, aber seine Füße sträuben sich noch. Sind Kuckuck und Mantel Spatzen, die jahrein, jahraus in ihrem Container ausharren, bis die Zeit sie vergessen hat, oder sind sie Schwalben, die mit anderen Zugvögeln in den Süden ziehen? Die beiden haben gute und schlechte Eigenschaften und Angewohnheiten: Sie sind Menschen, keine Figuren, keine Abstraktionen, keine personifizierten Beispiele von Tugend und Untugend. Die Gegenstände, die die beiden im Laufe der Zeit um sich herum versammelt haben, sind nicht charakterlos: Die Kuckucksuhr hat noch nie richtig getickt, der Wohncontainer muss die Klappe halten, damit die beiden nicht auf die Nase fallen; die Leiter träumt davon, ein Baum zu sein, die rostige Wanne ist Mantels Anglerparadies, der Briefkasten ist das Zuhause für Kuckucks Träume von Freundschaft und Verständnis. Auf jeden Fall sind die schrägen Vögel: sonderlich verrückt, Randerscheinungen, mit Vorsicht zu genießen, aber nicht ungenießbar, wie du und ich mit manchem Tick, Traum, Wunsch, Gedanken von dir und mir. 1990 Das Sehen lernen Ich stehe an der Frittenbude. Ich sehne mich nicht nach einem Restaurant. Ich war noch nie im Restaurant. Wie könnte ich mich also danach sehnen. Ich gehe auch nicht hin. Ausgeschlossen. Man erzählt, da sitzt man. Man sitzt an Tischen. 201
Man isst mit Messer und Gabel. Es soll sogar ein Restaurant in der Stadt geben, da isst man mit Stäbchen. Unvorstellbar. Unmöglich. Ich esse mit den Händen. Ein Bekannter hat mir erzählt, kaum saß er am Tisch, kam noch jemand, den er nicht kannte, fragte, ob er sich hinzusetzen dürfe, mein Bekannter schaute zu den anderen Tischen hinüber, die sind alle besetzt, was blieb ihm da übrig, als Ja zu sagen. Ein Wildfremder. Am selben Tisch. Ich stehe lieber. Warum auch lange sitzen. Geht schneller so. Im Stehen kann man keine Fritten mit Messer und Gabel essen. Da müsste man ja drei Hände haben. Mit Stäbchen ist ganz unmöglich. Fritten mit Stäbchen essen. Das fehlt gerade noch. Ich gehe nicht ins Restaurant. Auch nicht, wenn’s regnet. Auch nicht im Winter. Nie. (innerer Monolog eines Mannes, der noch nie im Theater war) Werte Zuhörerinnen und Zuhörer! Schultheater ist Theater während der Arbeitszeit. Die Kinder und Jugendlichen sind dann Schülerinnen und Schüler, die Erwachsenen sind Lehrerinnen und Lehrer. Ihr gemeinsamer Arbeitsplatz ist die Schule, ihre Arbeit das Lernen oder Lehren. Theater am Abend oder am Wochenende ist Theater während der Freizeit. Durch die unterschiedlichen Zeiten sind die Voraussetzungen und Aufträge für das Theater anders. Dieser Situation müssen Theaterschaffende, Theaterveranstaltende, Theaterbegleitende und Besuchende sich bewusst sein. Während ihrer Arbeitszeit lernen die Schülerinnen und Schüler alles in allem das Leben immer besser zu begreifen: Das Wissen wird erweitert, Zusammenhänge werden sichtbar, die Welt wird zur Umwelt. Bei diesem Prozess sind Herz und Verstand, Leib und Seele gefordert. Körper und Geist sind in ständiger Bewegung. Für die Kinder hat die Schule eine doppelte Funktion: Dort leben sie, und dort lernen sie leben. Die Schule bereitet sie nicht nur auf die Gesellschaft der Erwachsenen vor, sie bringt ihnen nicht ein kompaktes Regelwerk der Erwachsenen bei, sondern signalisiert ihnen, dass sie ein lebendiger Teil der Gesellschaft sind. Die Schule ist ein dy202
namisches Versuchsfeld, eine lebendige Forschungsstätte und als solcher Teil des gesellschaftlichen Prozesses. Kinder und Jugendliche leben dort und lernen dort das Leben. Geht also das Theater in die Schule oder findet während der Schulzeit statt, hat es automatisch einen doppelten Auftrag: Die Schülerinnen und Schüler sehen Theater, und gleichzeitig lernen sie Theater sehen. Wird dieser doppelte Auftrag missachtet, entstehen Irritationen und Überforderungen: Zum einen soll es in diesem Fall den tristen Schulalltag für eine Stunde vergessen machen, es ist ein kurzes Verschnaufen, eine willkommene Abwechslung, bevor es mit dem Unterricht weitergeht, es ist ein buntes Geschenk in der Weihnachtszeit, es soll zum Lachen bringen, weil es ja sonst nichts zum Lachen gibt, die Theaterschaffenden, eigentlich Arbeiter wie die Schüler, werden dann zu Pausenclowns, Entertainern, Spaßmachern, Witzbolden und Zotenreißern. Oder zum andern ist es Unterricht mit anderen Mitteln, es soll sprachliches oder literarisches Wissen vermitteln, es ersetzt den Aufklärungsunterricht, Bertolt Brechts „Galilei“ ist die Fortführung des Physikunterrichts, Aschenputtel erläutert die Gebrüder Grimm, Jean Gionos „Mann, der Bäume pflanzte“, mutiert zum Naturkundelehrer, Tanztheater erweitert den Sportunterricht um einen motorischen Aspekt, Shakespeare doziert über das Elisabethanische Zeitalter Englands. Die Theaterschaffenden werden dann zu Hilfspädagogen oder Ersatzlehrern und nicht zu Unrecht von den Lernenden der Kumpanei mit den Lehrenden bezichtigt. Wenn die Schülerinnen und Schüler in der Schule leben (und das tun sie mitunter vierzig Stunden in der Woche) und dort gleichzeitig das Leben lernen, müssen die Theaterschaffenden, die Veranstalter und die begleitenden Pädagogen wissen, dass sie dort Theater sehen und gleichzeitig Theater sehen lernen. Theater ist eine einmalige und besonders sensible Form der Kommunikation. Theater hat ein Regelwerk, das man begreifen muss, wenn die Kommunikation funktionieren soll. Das müssen Theaterschaffende und Theaterbetrachtende wissen. Dieses Regelwerk wird auch die Vereinbarung zwischen Büh203
ne und Zuschauerraum genannt. Wenn wir Schülerinnen und Schüler ins Schultheater stecken, ohne dass dieses Regelwerk oder diese Vereinbarung bekannt sind, ist es, wie wenn wir Kindern ein Spiel schenken ohne Gebrauchsanweisung oder es ihnen allein überlassen, die Gebrauchsanweisung zu begreifen. Es ist, wie wenn wir einem Kind eine Apfelsine reichen und es allein lassen damit, obwohl es noch nie eine Apfelsine gesehen hat: Es isst sie mit der Schale und verdirbt sich den Magen, es wirft sie in die Ecke, weil sie bitter schmeckt, oder es benutzt sie als Ball zum Spielen. Bleiben wir beim Ball. Es wäre, als würden wir Kindern einen Ball zuwerfen und ihnen sagen, spielt Fußball, ohne dass sie die Ausmaße des Spielfeldes kennen, ohne dass sie eine Vorstellung von der Spielzeit haben. Sie rennen unkoordiniert und chaotisch hinter dem Ball her, sind bald ausgepumpt, sie greifen ihn mit den Händen und kein Schiedsrichter ist da, das Handspiel abzupfeifen, sie lernen weder Steilpass, Fallrückzieher, Flanke, Kopfball noch Abseitsfalle, der Begriff Fairplay ist ihnen fern, und bald schlagen sie sich die Nasen blutig, verfluchen den Ball und lassen ihn achtlos am Spielfeldrand liegen. Indem sie es aber in Begleitung (eines Trainers und Schiedsrichters) spielen, spielen sie, und sie lernen es spielen. Immer besser. Je besser sie die Regeln kennen, umso größer ist der Genuss am Spiel. Um jedem Irrtum vorzubeugen: Schultheater soll nicht das ABC des Theaters an ABC-Schützen vermitteln. Schultheater (wie jedes Theater) benutzt das A–Z des Theaters, weil es sich an ganzheitliche Persönlichkeiten richtet. Die Ausmaße des Spielfeldes mögen im Gegensatz derer der Erwachsenen geringer sein, die Spielzeit mag kürzer sein, die Tore kleiner, damit der kleine Torwart nicht jedem Ball ohnmächtig hinterher schauen muss, aber das Regelwerk ist das gleiche wie bei den Erwachsenen, und auf dem Spielfeld wird mit dem gleichen Herzblut gekämpft. Oder im kulinarischen Wortschatz: Kinder haben Anrecht auf eine vollständige Mahlzeit. Ich bin gegen Theater, das ihnen Häppchen, Leonidas Pralinen, Gummibärchen oder einen Big Mac von McDonald’s verkauft. 204
Mit den Kindern ins Theater gehen ist, wie mit ihnen ins Restaurant gehen: Wir entscheiden uns für ein Restaurant, wir reservieren einen Tisch, wir ziehen uns um, wir sind rechtzeitig da, und vor allem, wir sind hungrig. Wer nicht hungrig ist, stochert lustlos im besten Essen herum, wackelt unruhig auf seinem Stuhl hin und her und ärgert sich darüber, dass nicht aufgestanden wird, bis alle aufgegessen haben. Wir sind hungrig, wir wählen ein Gericht aus und sind neugierig auf einen neuen Geschmack. Vorsicht! In manchen Restaurants gibt es die Seite mit Kindergerichten. Meistens steht da: Nudeln mit roter Sauce, Fritten mit Ketchup oder Mayonnaise, Fischstäbchen mit Purée, Knackwürstchen mit Kartoffelsalat, dazu oft eine Cola oder süße Limonade gratis. Vorsicht! Wer ins Restaurant geht, um dort zu essen, was er immer isst, soll sich den Weg sparen. Wer ins Theater geht in der Hoffnung, Altvertrautes, Bekanntes, Abgelutschtes oder Wiedergekäutes anzutreffen, dem fehlt die wichtigste Voraussetzung: Hunger auf Neues, Unbekanntes, Fremdes. Um diesen Konflikt zu entgehen verkaufen manche Theaterleute den Kindern und Jugendlichen lieber Fischstäbchen. Ich vertrete die Auffassung, ihnen Fisch anzubieten und ihnen zu erklären, wie man die Gräten vom Fleisch trennt. Frischer Fisch ist viel gesünder als Fischstäbchen. Er enthält viele lebensnotwendige Stoffe, weil in ihm das Lebewesen sichtbar ist, und deshalb erzählt er uns auch mehr über das Leben im Gegensatz zum Fischstäbchen, dessen Herkunft und Identität bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist. Die Voraussetzung ist aber immer Hunger, Hunger auf Neues. Ins Theater gehen ist, etwas zum ersten Mal tun. Erinnern wir uns: An unseren ersten Kuss, an den ersten Fisch, den ich mit einer selbst gebastelten Angel im Bach gefangen und wieder ins Wasser geworfen habe. Als ich das erste Mal mit dem Auto des Vaters fuhr und mein erstes Auto überholte (es war ein LKW und das Überholen nahm kein Ende), wie wir zum ersten Mal einen fremden Raum betreten haben, der Erste morgens am Strand sein, und der Sand hat noch keine 205
Spuren, das erste Mal einen Menschen sehen, mit dem ich bis dahin nur telefoniert habe, die erste Zigarette (vergessen wir das), zum ersten Mal einen Rochen berührt haben, zum ersten Mal durch einen See geschwommen sein, die erste eigene Wohnung, das erste Mal durch Island gewandert und dort am reißenden Bergfluss zum ersten Mal meine Unterhosen mit Wasser und Sand gewaschen habe (das ist noch nicht so lange her), als wir den ersten toten Menschen gesehen haben, als ich den ersten Sarg getragen habe, als ich zum ersten Mal Vater geworden bin, als ich meine ersten Buchstaben für meinen ersten Lehrer geschrieben habe, meine erste Inszenierung, mein erster Sprung vom Sieben-Meter-Brett, meine erste Banane gegessen, zum ersten Mal in Wasser geschwommen, das tiefer war als ich groß war, als ich zum ersten mal eine Schnecke zertreten habe, mein erstes selbstverdientes Geld, mein erstes Mal im Gefängnis, meine erste Lehrerstunde, meine erste Kuh mit der Hand gemolken (die Handgelenke tun mir jetzt noch weh, wenn ich daran denke), das erste Mal allein in Urlaub, zum ersten Mal gebeichtet, die erste heilige Kommunion verbunden mit der ersten Armbanduhr. Wir hören nicht auf, etwas zum ersten Mal zu tun. Ich halte gerade zum ersten Mal dieses Referat in diesem Wortlaut. Wir können uns erinnern, also auch nachvollziehen, wie es ist etwas zum ersten Mal zu tun, und doch ist es ständig anders, weil wir etwas anders zum ersten Mal erleben. Wir kennen das Grundgefühl, und doch wissen wir nicht, was passiert. Ich habe Büchners „Woyzeck“ schon zwanzig Mal auf der Bühne gesehen, und doch war jede Inszenierung als Erlebnis anders. Mehrere Stücke des AGORA-Theaters sind von etlichen deutschen Bühnen nachgespielt worden, und doch war es so, als ob ich sie zum ersten Mal sähe. Zu unserem Theaterfest im Oktober in St. Vith laden wir regelmäßig ein Stück ein, auf der Bühne interpretiert von zwei unterschiedlichen Theatern, um festzustellen, wie grundlegend anders es dann ist. Selbst eine und dieselbe Inszenierung zum zweiten Mal sehen, ist zum ersten Mal, weil wir es anders sehen. Dafür gibt es vier Gründe. 206
Ich sitze als Zuschauer nicht mehr am gleichen Platz, mein Blickwinkel ist neu. Ich habe vorher etwas anderes erlebt, ich bin anders, älter, ich bin nicht der gleiche, ich bin ein anderer. Links und rechts von mir und mich herum sitzen andere Zuschauer. Am deutlichsten ist der Unterschied zwischen Abendaufführungen mit Erwachsenen und Schulaufführungen mit Schülern. (Da unterscheidet sich am wesentlichsten Theater von Film:) Die Spieler spielen zum ersten und einzigen Male dieses Stück so, weil auch sie sich verändert haben, für dich, und du dich verändert hast mit allen Zuschauern, die auch alle anders sind. Jede Theateraufführung ist einmalig. Wunderbar. Spannend. Aber es können auch Komplikationen entstehen, weil es das erste Mal ist. Dadurch ist alles einmalig, neu, anders, fremd. Kinder sehen Aschenputtel, sie kennen es vom Erzählen der Eltern, sie haben es selbst gelesen, sie haben die ZeichentrickFassung von Walt Disney im Fernsehen gesehen. Nun kommen sie ins Theater, und alles ist anders. Sie sind enttäuscht. „Die haben das nicht richtiggemacht.“ Die Enttäuschung entsteht, weil sie nicht wissen, dass etwas Fremdes sie erwartet. Und deshalb können sie sich auch nicht darauf freuen. Wie uns allen kann das Fremde auch den Kindern Furcht einflößen oder Ablehnung erzeugen. Es ist wie mit dem fremden Geruch oder Geschmack im Restaurant. Die gleiche Situation andersherum: Lehrpersonen begleiten Kinder ins Theater. Es ist wieder Aschenputtel. Sie kennen die Gebrüder Grimm, sie haben Bettelheim gelesen und wissen um die Tiefenpsychologie die zwischen den Zeilen und unter den Worten steckt. Sie machen sich zur Aufgabe, es zu wissen und es zu sehen und es dann den Kindern zu erklären. Das ist die selbstauferlegte Überforderung der Erwachsenen gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern, und daraus erwachsen die Ängste, es nicht oder nicht besser zu verstehen. Diese Komplikationen entstehen nicht, wenn Kinder und Erwachsene ins Theater gehen im Bewusstsein, etwas Fremdes zum ersten Mal gemeinsam 207
zu sehen und zu erleben, um es gemeinsam zu begreifen. Der Reichtum der Erwachsenen ist, dass sie aufgrund ihrer längeren Biografie viel mehr zum ersten Mal erlebt haben. Das nennt man auch Erfahrung. Die Gefahr kann aber sein, dass sie es mit der Zeit vergessen haben oder noch gefährlicher, dass sie denken, sie haben schon genug oder alles zum ersten Mal erlebt, sodass es für ein ganzes Leben reicht. Diese Gefahr existiert aus anderer Sicht auch bei Theatermachern und besonders Spielern, die oft wochenlang, manchmal zweimal am Tag, etwas zum ersten Mal machen. Ich kenne die Gefahr sehr gut, weil ich pro Jahr über hundert Mal ins Theater gehe, manchmal drei Stücke am Tag sehe, und mich dann instinktiv ganz nach hinten oder an den Rand des Zuschauerraums setze, um rechtzeitig flüchten zu können. Dann bin ich nicht bereit und nicht vorbereitet für ein erstes Mal. Es ist in Paderborn. Ich arbeite dort mit deutschen und französischen Spielern an einem Stück über den Ersten Weltkrieg. Wir machen Mittagspause. Mit dem Produktionsleiter gehe ich ins Restaurant. Wir haben wenig Zeit. Der Kellner bringt uns die Speisekarten. Mein Freund sagt ihm: Haben Sie etwas, was schnell geht? Wir haben vierzig Minuten. Wortlos nimmt der Kellner uns die Speisekarten aus den Händen und sagt dann: Meine Herren, der Imbiss ist um die Ecke. Wir hätten es wissen müssen. Als Theatermenschen. Wir wollten schnell etwas zwischendurch essen und haben verkannt, dass in diesem Restaurant ein Koch dieses Essen, diese Nahrung zum ersten und einzigen Mal für uns zubereitet. Wir haben das und den Ort verkannt, und der Kellner hat uns zu Recht an den richtigen Ort verwiesen. Um in Theaterworten zu reden, wir haben die Vereinbarung nicht eingehalten. Worauf fußt im Wesentlichen die Vereinbarung im Theater? Sie fußt im Wesentlichen auf der Tatsache, dass sich Zuschauer und Spieler bewusst, mit großer Neugier und gut vorbereitet in einem Raum treffen, um sich dort zu begegnen. Das Theater ist der Anlass oder der Grund für diese Begegnung an einem gemeinsamen Ort, auch wenn dieser Ort oft zweigeteilt ist in 208
Zuschauer- und Bühnenraum. Bei Raumbühnen, wie wir sie häufig im AGORA Theater konzipieren, wird diese Grenze verwischt oder aufgehoben, um bewusst das Wir-Gefühl zu stärken. Das ist zum Beispiel der Fall in „Der Mann, der die Bäume pflanzte“, „Der kleine rote Prinz“ oder „Das schwimmende Nest“, wo die Zuschauer in einem Boot sitzen mit den Spielern. Aber auch im klassischen zweigeteilten Raum gibt es zahlreiche Mechanismen, um das Wir-Gefühl zu erzeugen. Es setzt aber zuerst beim Inszenieren und dann beim Spielen voraus, dass der Zuschauer sichtbar und präsent ist, dass nicht nur für ihn, sondern auch mit ihm gespielt wird, dass er nicht durch die Bühne unterhalten wird, sondern sich von der Bühne mit ihm unterhalten wird. Deshalb heißt Inszenieren, diesen Dialog vorbereiten. Das Ziel ist, den Besucher vom anonymen, unbekannten Zuschauer zum sichtbaren Mitspieler zu machen. Die traditionelle Theaterauffassung, auf der Bühne entsteht Kunst, auf die das Publikum blickt tut dies nicht oder nur ungenügend. Die Frage beim Inszenieren von Theater ist: Wie kriege ich den Zuschauer auf die Bühne? Wie erzeuge ich, dass er lebendig und präsent ist und bleibt? Wie verhindere ich, dass er im Dunkel des Zuschauerraums oder in der Anonymität des Publikums verschwindet? Einige Beispiele: „Der stumme See“ war ein Spiel mit Farben um das Thema: Wem gehört der See? (Oder die Welt?) Dem alten Mann, der schon immer dort lebt, der Käferforscherin, die dort eine einmalige Spezies entdeckt hat, dem TVTeam, das für diesen See werben will, oder der Tramperin, die zufällig dort vorbeikommt, sich dort erfrischt, um dann weiterzuziehen. Am Einlass lag ein weißes Tuch aus. Die Besucher wählten eine Farbe und drückten dann ihren Fingerabdruck auf das Tuch. Dadurch wurden sie als Person wahrgenommen. Im Stück bereitet die Tramperin das bunte Tuch auf der Bühne aus, und jedes Mal ging ein Raunen durch die Zuschauer, die sich auf der Bühne wiederentdeckten. In „Jubiläum“ von George Tabori, einem Stück über aktuelle Naziumtriebe auf einem jüdischen Friedhof hefteten die Spieler den Besu209
chern einen Judenstern an die Brust, bevor sie den Friedhof betraten. Dadurch bekamen die Besucher für die Dauer des Stückes eine Identität. In „Mein erster Lehrer“, dem jüngsten Stück der AGORA, treten die zwei erwachsenen Spielerinnen auf die Bühne, die eine verlassene Schulklasse ist und weisen sich den Zuschauern aus mit zwei großkopierten Fotos aus ihrer Kindheit, als sie das Alter der meisten Besucher hatten. In „Der Mann, der die Bäume pflanzte“ wird der Zuschauer zuerst als Zuschauer wahrgenommen, um ihm dann mitzutei-
„Der stumme See“
len, dass kein Theater stattfindet, weil die Spieler noch nicht angereist und die Techniker beim Aufbau sind, verbunden mit der Hoffnung, sich eine Stunde zusammen zu beschäftigen. Im Schultheater ist es umso wichtiger, weil dort das Sehen gelernt wird, dass die jungen Zuschauer präsent sind, dass sie wach sind, dass ihnen mitgeteilt wurde, es geht nur mit euch, weil es um euch geht, dass sie dieses Wir-Gefühl spüren. Dieses Wir mündet in der Aussage, dass wir uns gegenseitig achten, beachten und betrachten, damit diese einmalige, aber auch zerbrechliche Kommunikation stattfinden kann. Wir, die Theaterschaffenden, die Theaterveranstaltenden und begleitenden Pädagoginnen und Pädagogen haben trotz 210
aller Widrigkeiten viele Möglichkeiten zu entscheiden, welchen Stellenwert das Theater, diese einmalige Form der Kommunikation in der Schule hat: Ist es das Brot, die Butter aufs Brot, die Wurst auf die Butter aufs Brot oder der Senf auf die Wurst auf die Butter aufs Brot? Zum Abschluss: Eine Frau hat sich in einem Schnellimbiss eine Suppe bestellt. Sie stellt die Suppe auf den Tisch und holt sich an der Theke einen Löffel und eine Serviette. Als sie zum Tisch zurückkehrt, sitzt dort ein Schwarzer, der ihre Suppe löffelt. Sie zuckt zusammen, will aber nicht gleich unhöflich sein und setzt sich auf den Stuhl gegenüber dem Schwarzen. Vielleicht ist es ein fremder Brauch oder eine alte afrikanische Tradition? Der Schwarze ist seelenruhig ihre Suppe. Sie zieht den Teller zu sich und beginnt zu essen. Da zieht der Schwarze den Teller in die Mitte des Tischs, und sie essen gemeinsam die Suppe. Der Schwarze fragt, ob sie noch einen gemischten Salat mag. Sie bejaht, er holt den Salat und stellt ihn in die Mitte des Tisches. Beide essen gemeinsam den Salat. Danach steht der Schwarze wortlos auf und verlässt zügig das Lokal. Da bemerkt die Frau, dass ihre Handtasche fehlt. Sie rennt aus dem Lokal. Haltet den Dieb! Haltet den Dieb! Aber der Schwarze ist bereits im Dunkel der Stadt verwunden. Sie rennt aufgeregt zurück ins Lokal und sieht an einem anderen Tisch die Tasche an der Stuhllehne und auf dem Tisch ihre Suppe. Ich wünsche uns allen viel Appetit auf Theater.6
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„Der kleine rote Prinz“ U 2000 Anfang Dezember 2003 ZDF-Dreharbeit „Roter Prinz“ in St. Vith Neue Variante zu „Aschenputtel“ In einem Land waren alle Mädchen und jungen Frauen verliebt in den Prinzen, den zukünftigen König. Der suchte seine Gemahlin, und so wurden festliche Bälle am Hofe veranstaltet. Die Schönste sollte seine Frau sein. Alle jungen Frauen kauften sich wunderschöne Kleider, die ärmeren auf Raten, die Eltern machten Schulden, die Ärmsten gingen ins Leihhaus und gaben ihr letztes Hab und Gut als Pfand. Denn es war im Reich das höchste Ziel einer jeden jungen Frau, Gemahlin des hübschen Prinzen zu werden, der einmal König sein soll. Auf einem Ball hat der Prinz sich in eine junge Frau verliebt, die war aber sofort verschwunden. Dabei hatte sie einen Schuh verloren. Nun ließ der Prinz im ganzen Land die junge Frau suchen, zu der der Schuh gehörte. Viele junge Frauen ließen sich die Zehen brechen, damit der Schuh passte, andere ließen sie gar abhacken, wieder andere ließen sich die Fersen beschneiden. Manche Wunden verheilten, vernarbten nicht mehr. Das Stück ist die Kür. Die Miss-Wahl. Der Super-Star. Wir haben dann eine Schar verkrüppelter Frauen. Gescheiterte Existenzen. Was passiert mit der Siegerin? „Der kleine rote Prinz“ 212
Daniela Scheuren erinnert sich Mit dem Ende des Aschenputtel-Märchens fängt unser Stück an. Wir erzählen und spielen die Zeit nach dem Märchen. Einige Jahre sind nach der Hochzeit ins Land gezogen. Aschenputtel war nun die neue Königin. Deshalb musste sie nie mehr zu Fuß gehen. Ihre Füße schwollen an, weil sie die meiste Zeit im Bett verbrachte. Der König erkannte sie nicht mehr, weil der Schuh ihr nun nicht mehr passte. Im ganzen Königreich ging er sie suchen. Und eines Tages war auch der Stuhl leer, in dem er immer saß. Er war fort. Seitdem lebt Aschenputtel, die Königin, mit ihrem Sohn, den Zwillingstöchtern, der verstorbenen Stiefmutter und dem Hofnarr im Schloss. Alle anderen haben das Schloss und das Königreich verlassen. Die Königsmutter verbringt die meiste Zeit damit, ihren Sohn zum König zu erziehen. Wie gehen diese fünf Menschen miteinander um? Kann die Zeit die Wunden heilen, die das Märchen ihnen geschlagen hat? Können sie ihr Leben gestalten? Können sie das Gegeneinander im Märchen verwandeln in ein Miteinander im Jetzt und Hier? Ist ihr Schloss eine Ruine, in der die Geister der Vergangenheit herumspuken, oder ist es ein Ort, in dem das Leben aufs Neue blüht? Vertreiben, verspielen und verlieren sie dort ihre Zeit, oder finden sie Zeit für sich und die anderen? Gelingt es ihnen, ein gemeinsames Bild der Zukunft zu malen? Welches Blut fließt durch die Adern dieser Menschen? Ist am Ende wieder Blut im Schuh? Das sind die Kernfragen, mit denen sich unser Stück befasst: „Neben dem Spiel mit Zeit, Worten und Klängen ist es ein Spiel mit Farben. In einem verwunschenen Schloss, das der Zuschauer betritt.“ (Marcel Cremer) Unsere Arbeitsweise – das wird mir heute klar – war wieder und wieder und erneut die Auseinandersetzung mit der dialektischen Frage: Was mache ich aus dem, was war? Die Frage nach einer Entscheidung, die keine Gewissheit gibt auf den Ausgang. Diese Fragen aus der Arbeit mit Marcel C. begleiten mich bis zum heutigen Tag. Dieses Stück und die 213
Arbeit daran verbildlichten diese Arbeitsweise in fast wörtlicher Art und Weise. Die Fragen wurden Bilder. Unser erster Zugang zum Stoff war also wie sehr häufig die Arbeit mit einer autobiografischen Ich-Geschichte. Es waren die Fragen: „Wo bin ich im Märchen verankert?“ und „Wo gibt es zwischen meiner Geschichte und diesem Märchen Berührungspunkte, Schnittstellen, gemeinsame Erlebnisse/Bilder von Liebe, Verlust, Blut, Schmerzen?“ Irgendwie ging es in jedem Prozess immer um alles, um das ganze Lebensprogramm. Nur immer anders gewichtet und klar verortet. Als wäre alles in jeder Geschichte enthalten. Durch Mark und Bein ging es immer. Drunter ging es nicht in der Arbeit mit Marcel. Das war der Deal. Somit war unsere Aufgabe für den ersten Probenblock, das Märchen gut zu lesen und eine private Geschichte aus unserer Kindheit oder Jugend mitzubringen, die sich an einer konkreten Textstelle des Märchens festmachte. Wie häufig in unseren Arbeitsprozessen erzählten wir uns diese Geschichte mit verbundenen Augen an eigens für die Geschichten gefundenen Orten im Haus, in der Natur oder auf dem Gelände, die die Zuhörenden besuchten und umringten. Das erste Erzählen war immer der fragilste und verletzlichste Moment eines Prozesses. Darum wurde dieser Moment vorbereitet und in achtsamer und liebevoller Manier wertgeschätzt. Ich glaube, dass bereits zu Beginn bei Marcel die vage Idee da war, das Stück in irgendeiner Art und Weise mit Farben zu erzählen. Somit sollten wir auch gleich für einen zweiten Schritt des ersten Probenblocks ein szenisches Bild, eine Szene zu unserer Ich-Geschichte, mitbringen, die mit Farben und einer selbstgewählten Musik körperlich, tänzerisch oder sprachlich umzusetzen war. Ich erzähle die Geschichte darüber, wie ein Exfreund mir in einer Nacht auf einem Fußballplatz betrunken aus einem Streit heraus einen Finger ins Auge gestochen hatte und ich eine Woche lang nichts mehr sehen konnte, weil die Netzhaut verletzt war. Da das andere Auge nicht aufhielt, war ich wie blind. Ich habe also mit roter flüssiger Farbe 214
zu Musik mir selbst die Augen ausgestochen, die Farbe rann wie Blut oder Tränen an meinem Gesicht herunter, und ich habe mir große, selbst gemalte Augen auf die Augen geklebt und bin blind umhergegangen und -getanzt. (Die Geschichte bezog sich auf die Stelle im Märchen, an der die Tauben den Stiefschwestern zur Strafe die Augen auspickten). Dieser Moment kam in verwandelter Form später ins Stück. Der Kollege, der später den kleinen roten Prinz spielen sollte, erzählte eine Geschichte darüber, wie er als zehnjähriger Junge zum Kindergeburtstag eines Mädchens eingeladen war, in das er verliebt war. Die Mutter hatte ihn ganz in Rot gekleidet, mit roten Schuhen und rotem Anzug. Alle Kinder beäugten ihn. Er hatte sich so geschämt. Da kam das Mädchen und flüsterte ihm etwas sehr Liebevolles ins Ohr. (Der Bezug zum Märchen war die Begegnung von Prinz und Aschenputtel auf dem Ball im Märchen). Alle haben dann später diesen Geburtstag am Hof des jungen Prinzen gespielt. Marcels Geschichte handelte von seinem stark verletzten Fuß nach einem Autounfall, von dem er glaubte, als er aus der Narkose erwachte, er sei sicher amputiert. Doch das war er nicht! Es ging ums mühsame Wieder-gehen-Lernen und das zeitgleiche Gehen-Lernen seines einjährigen Sohnes. (Der Bezug war hier die Textstelle: „Blut ist im Schuh.“) Wir arbeiteten viel mit roter Farbe und verschiedenen Schuhpaaren. Auch eine Szene übers Gehen- und Tanzen-Lernen der ans Bett gefesselten Aschenputtel entstand. Der Sohn, „der kleine rote Prinz“, brachte es ihr bei. Für den zweiten oder dritten Probenblock schrieb Marcel bereits den Fortlauf des Märchens in Prosaform, literarische Bruchstücke entstanden. Er schrieb als Erstes die beiden poetischen Monologe zu den Schwestern und zu dem Werdegang Aschenputtels, die Claudia als Aschenputtel sprach. Die Monologe blieben das textliche Kernstück der Geschichte. Robs Texte sind fast ganz aus den Improvisationen entstanden und kamen fast gänzlich von ihm. Er war das Kind, und das brauchte eine eigene Sprache. Inspiriert war Marcel von Robs 215
humorvoller und kindlicher Sprache, die dadurch entstand, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist und weil der Kollege einfach viel Talent und Humor hat. Ines und ich hatten oft eher tänzerische Aufgaben ohne Sprache. Wie beispielsweise den Ball mit den 22 roten Schuhpaaren tanzend als „Schwestern-Duett“ zu entwickeln. Der Narr hatte keine Stimme, keinen Text, im Stück! Doch war er Diener, Spielgefährte, Soldat und Hund des Prinzen. Um neue Ideen und weitere Substanz für die Figuren zu entwickeln, hatten wir irgendwann die Aufgabe, eine Rollenbiografie aus persönlichen und aus erfundenen Elementen zu schreiben. Ines und ich wurden beide bei Marcel vorgeladen und ins Kreuzverhör genommen. Da wir unsere Zwillingsschwesterbiografie unabhängig voneinander geschrieben hatten, war dies sehr witzig und zwang uns zu improvisieren. Somit wurde ich die, die fünf Minuten älter war, die „Stärkere“ also. Marcel sagte immer: „Wenn die eine furzt, wird die andere rot!“ Ines wurde tatsächlich immer schnell rot. Das Rot-Werden war auch Teil ihrer autobiografischen Geschichte. Es ging darum, „schön oder nicht schön“ zu sein. Wir haben natürlich auch mit verschiedenen Farben gearbeitet. „Körperteile bewegen Farbe und bewegen sich durch Farbe, Füße gehen durch Farbe etc.“ Wir hatten literweise Farben und riesige weiße Papierbögen, mit denen wir den ganzen Raum ausklebten. Später nähten wir ein riesiges weißes Bodentuch. Wir hatten unglaublichen Spaß dabei! Ich erinnere mich an eine sehr lange Improvisation, die etwas sehr Apokalyptisches hatte. Jeder hatte einen Topf mit Farbe. Jeder hatte seinen szenischen Moment, der auf der Ich-Geschichte beruhte, und durfte diesen weiterentwickeln. Wir waren einsam gemeinsam auf der Fläche. Ich ließ blau-schwarze Farbe von der Decke aus einer Flasche in mein Gesicht tropfen wie Tränen. Eine Spielerin war nackt, sie wischte sich den Körper bunt und die ganze Fläche farbig. Obwohl sie alles sauber waschen wollte, wurde die Fläche immer „blutiger“. Sie war immer die, die putzte und wischte. Fußspuren, Körper, Klänge 216
und Farben malten die Geschichten einsamer Figuren in den Raum. Wir probierten viel auf großen Papierflächen, die sich veränderten. Wir waren also zu einer Musik alle gemeinsam auf der Fläche und es entstanden non-verbale, farbige, szenische, bewegte Bilder, Begegnungen und Stimmungen. Es gab einige Improvisationen, in denen Rob uns herumkommandierte, Dinge für ihn zu machen, zu malen und entstehen zu lassen. Da ist unglaublich vieles entstanden und die Not des Prinzen bekam eine Form. Es waren urkomische und sehr poetische Momente dabei. Mehr und mehr schälte sich aus Bruchstücken von Improvisationen, Stimmungen, Figurenzeichnungen und Musik eine Geschichte heraus, die an einem verlassenen Ort stattfand, einem Ort, den das Volk verlassen hatte und den das ans Bett gefesselte einstige Aschenputtel, die Königin (sie konnte nicht mehr laufen und tanzen) und ihr Sohn, der kleine rote Prinz, bewohnten. Ihnen zu Diensten waren die einstigen Stiefschwestern und der Hofnarr, der Vasall und Spielgefährte des unglücklichen und verwöhnten kleinen roten Prinzen war. Der Ort war eine Art Schloss/Schlosshof, in dem die Zuschauer wie Besucher Platz nahmen. Ein weißer unbeschriebener Ort, der sich im Lauf des Stücks mit Farbe und Geschichte füllte. „Rot“ war die Farbe des Stücks, des Herzblutes, der Liebe, des Blutes im Schuh, des Blutvergießens, die Farbe der Schuhe. Es war die Farbe des vaterlosen Jungen, der König werden sollte, obwohl er so gerne Schuhverkäufer werden wollte, und dann aus reinem Unglück und reiner Willkür zu einem Tyrannen wurde. Der Junge ließ sich Untertanen malen – die Schwestern skizzierten auf der Fläche Porträts der Zuschauer – und weil diese Zeichnungen seinen Gruß nicht erwiderten, ließ er den großen Topf roter Farbe von der Decke über sie herniedergießen, und sie wurden von den Schwestern „ausgewischt“. Wichtig war Marcel, in der Inszenierung den märchenhaften Charakter zu wahren. Obwohl Rob eine Art walisische Nationalhymne sang, waren Ort und Zeit unbestimmt. Da der Vater das Land verlassen hatte, lagen alle Erwartungen auf 217
dem kleinen roten Prinzen als zukünftigem König, der wollte aber lieber Schuhverkäufer werden und seine Mutter heiraten. Wichtig war Marcel auch, dass alles ein „Kinderspiel“ mit Farben blieb, das zu weit getrieben wurde, und somit steht die Mutter am Ende aus ihrem Bett auf und wischt allen „Kindern“ die Farbe aus Augen und Gesicht, während die mutterund vaterlosen Kinder nach den selbigen rufen. Schön war das alles! Es war eine inspirierende und verändernde Arbeit, und wir waren wirklich ein märchenhaftes Ensemble. Marcel liebte Geschenke. Zum Abschluss des ersten Probenblocks malten wir ein Bild für jeden von uns und schnitten ein Viereck aus dem Bild. Auf die Rückseite des Vierecks schrieben wir jedem etwas zu seiner Geschichte. Gestern, beim Stöbern in den Unterlagen, fand ich Marcels Satz für mich und meine Geschichte:„Der Weg ins Licht / ist ein weiter Weg, / sagte das Mädchen, / und schon war es unterwegs“. Er hängt nun über meinem Schreibtisch. Danke Marcel! Geschichten zur Zeit – Festival Berlin 20007 Für Eva Bal vom Speelteater Gent, Hans van den Boom von Steel aus Den Haag und Judit Benedek vom Regionteatern Kronoberg aus Växjö in Schweden Es gibt Menschen, das wissen wir Theaterleute, die uns bedrohen. Hätten sie das Sagen (gehabt), gäbe es heute immer noch nicht das Rad, auch nicht den Dieselmotor, die Glühbirne, das Flugzeug, die beweglichen Lettern, die Windmühlen und vieles mehr. Es sind Ewig-Gestrige, Zu-spät-Kommer, Mit-Läufer, Fähnchenim-Wind, Duck-Mäuser, Aus-Sitzer, Angst-Hasen, Arsch-Lecker, Schön-Färber, Farb-Lose, Stiefel-Lecker, Leise-Treter, DrückeBerger, Tritt-Brett-Fahrer, Weg-Gucker, Zement-Köpfe, KleinGeister, Moral-Apostel, Schein-Heilige. Sie sind die schweigenden Fürsprecher Biedermänner oder Brandstifter. Das wissen wir. Es gibt Theatermenschen, das sollten wir Theatermenschen wissen, die andere Theaterleute bedrohen. Hätten sie das Sagen (gehabt), gäbe es heute nicht Stücke von Shakespeare, 218
Büchner und Dario Fo, nicht die Worte von Kafka, Neruda, Ritsos, Hikmet und Celan oder die Klangsprache von Jandl, auch nicht den Jazz oder die Choreografien von Pina Bausch oder die Musik von Pousseur und Stockhausen, auch nicht die Beatles, weder Brel noch Gainsbourg, nicht die Bilder von Magritte und Picasso oder die Installationen von Beuys. Es gäbe nicht Handkes „Publikumsbeschimpfungen“, Taboris „Jubiläum“, Brechts „Baal“ und Valentins „Tingeltangel“. Und weil sie oft das Sagen haben, gibt es Viele und Vieles nicht oder nicht mehr. Weil die Artigen das Sagen haben, gibt es viel Entartetes oder Unartiges nicht. Ich zähle zu den Unartigen. Ich gehe pinkeln. Die Pissoire sind besetzt. Also pinkel ich stehend in eine Kloschüssel auf einen Spritzer Scheiße, der da hängt, in der Hoffnung, ich kann ihn wegpissen. Manchmal ist das das ganze Theater. Oder ein böser Blick zum Drängler an der Kasse. Oder das Augenzwinkern zu einem Fremden, der gerade kopfschüttelnd dasselbe gesehen hat wie ich. Oder die feste Umarmung eines Freundes vor einem Abschied für lange oder für immer. Es ist die Sekunde des Absprungs ins kalte Wasser. Es ist der Augenblick, der vorbei ist, wenn ich ihn aufschreibe. Oder ein Luftzug, ein Schauder, ein Schon-vorbei-ach-schade. Ein Seufzer. Eine Schnecke, die die Autobahn überqueren will. Der Tod einer Eintagsfliege am Fliegenfänger. Ein Splitter im Finger. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Und ich habe nur das. Es ist wenig oder viel. Nehmen wir es uns nicht gegenseitig. Lassen wir es uns nicht nehmen. Ein Traum Ein kleiner Junge wird wach. Der kleine Junge ist 44 Jahre alt. Er ist nassgeschwitzt. Er hat geträumt, dass es vom Himmel blutet und so sehr die Menschen den roten Regen wegwischen wollen, ertrinken sie im Blutregen, der nicht aufhört. An seinem Bett sitzen eine Frau mit einem gütigen Gesicht, ein Mann mit einem gütigen Gesicht und es steht da jemand, von dem er nicht sieht, ob es Mann oder Frau ist. Niemand 219
von der Familie, vielleicht ein Arzt oder Lehrer oder jemand vom Ausländermeldeamt. Die Frau mit dem gütigen Gesicht reicht dem Jungen eine Tasse mit Milch. „Weißt du, sagt sie, in den Träumen ist diese Tasse eine Flasche oder eine Maus oder einen Teich oder ein Elefant. So sind die Träume. Sie sind falsch. Jetzt bist du wach, und es ist eine Tasse mit Milch. Trink die Milch. Und der Mann mit dem gütigen Gesicht fragt den Jungen mit warmer Stimme: „Erinnere dich, erzähl den Traum. Wo war der Traum schön? Sei ganz ruhig!“ Während der Junge erzählt runzelte sich die Stimme des Mannes zu besorgten Falten, und er blickt mit seinem gütigen Gesicht in das gütige Gesicht der Frau. Beide gehen wortlos weg. Die dritte Person die nicht zur Familie gehört (oder doch, es sind Cousin und Cousine), nimmt die Hände des jungen unter der Bettdecke hervor, schlägt auf die Finger so, dass es gerade noch nicht wehtut, und sie sagt dem Jungen: „Man schläft mit den Händen über der Decke, und wenn nicht, wirst du eines Tages wach und deine Hände sind abgehackt und das Bett ist ganz blutig.“ 2000 Gegen das Schweigen8 Das fand ich in meinen Unterlagen. Fast hätte ich es weggeworfen. Ich erinnere mich: Ich war damals in der Preis-Jury. Was war das damals eine Arbeit, die Kolleginnen und Kollegen vom Kinder- und Jugendtheater davon zu überzeugen, sich politisch zu äußern. Die Flugzeuge aus dem Westen flogen über Dortmund in den Osten und alle waren mit ihrem Theater beschäftigt. Dortmund, 7.5. 1999 Das Kinder- und Jugendtheater „Duško Radović“ ist am 23. April 1999 um 2:30 Uhr durch eine NATO-Bombe zerstört worden. Wir nehmen diese Tatsachen zum Anlass, uns zum Krieg der NATO-Staaten gegen Jugoslawien zu äußern. 220
Wir fordern die Einstellung aller Kampfhandlungen, insbesondere der Bombardierung durch die NATO. Wir fordern die Beendigung der Verfolgung der Kosovo-Albaner durch die serbische Armee. Wir fordern die sofortige Wiederaufnahme von Verhandlungen unter der Oberhoheit der Vereinten Nationen. Wir fordern die Einhaltung der Menschenrechte durch die NATO und die jugoslawische Regierung. Wir erheben die Stimme gegen den Krieg. Wir brechen mit unseren Worten das Schweigen zu diesem Krieg. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 15. Kinder- und Jugendtheatertreffens NRW in Dortmund „Der Mann, der die Bäume pflanzte“ U 2001 Die Geschichte: Im letzten Jahrhundert lebte im Süden Frankreichs in der Haute Provence ein Mann namens Elzeard Bouffier. Er hütete dort seine Schafe, nachdem seine Frau und sein Kind an einem unbekannten Fieber gestorben waren. Deshalb hat er sich in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen. Die Berge sind nur noch dürftig bewachsen, weil die Menschen in den früheren Zeiten die Bäume gefällt hatten, um Holzkohle zu gewinnen. Am Ende sind auch sie in die Städte gezogen. Wenn Elzeard mit seinen Schafen in die Berge zog, nahm er eine lange Eisenstange und in einem Lederbeutel hundert Samen einer Baumart mit. Mit der Eisenstange schlug er Löcher in den steinigen Boden, und in jedes Loch legte er einen Samen. Jeden Tag hundert Löcher für hundert Samen. Das tat er Tag um Tag, 38 Jahre lang, bis zum Ende seines langen Lebens. So hat er seinem Leben nach dem Tode von Frau und Kind wieder einen Sinn gegeben. Viele Hektar prächtiger Wälder sind gewachsen, die der französische Staat unter Naturschutz stellen ließ. Lange Zeit haben die Menschen geglaubt, die Wälder wären wie ein Naturwunder von alleine gewachsen, bis man entdeckte, dass dieses Wunder der unermüdlichen Arbeit eines einzigen Menschen zu verdanken war. 221
Das Stück ist ein Plädoyer für die Natur, die der größte Reichtum der Menschen ist. Die Biografie von Elzeard Bouffier zeigt dem kleinen und großen Zuschauer, dass man Rückschläge und Niederlagen überwinden kann und dass ein einzelner fähig ist, die Welt zu verändern. Die Inszenierung zeigt augenzwinkernd, dass es außerhalb des kleinen und großen Theaters das Leben gibt, für das wir uns einsetzen sollen. Der Mann, der die Bäume pflanzte lebte im Süden Frankreichs in der Haute Provence Der Mann, der die Bäume pflanzte hat 173 375 Bäume zum Wachsen gebracht. Der Mann, der die Bäume pflanzte hat eine verdorrte Steinwüste zum Leben erweckt. Der Mann, der die Bäume pflanzte ist 92 Jahre alt geworden. Der Mann, der die Bäume pflanzte hat Frau und Kind verloren. Der Mann, der die Bäume pflanzte hat seinen Lebensmut wieder gefunden. Der Mann, der die Bäume pflanzte hat eine Hobelbank, die „Mammut“ heißt. Der Mann, der die Bäume pflanzte arbeitet mit Holzspänen und anderen Fundsachen. Der Mann, der die Bäume pflanzte hat in einem Baumstamm einen Granatsplitter gefunden. Der Mann, der die Bäume pflanzte sagt uns, dass wir die Welt gestalten können. Der Mann, der die Bäume pflanzte ist eine Geschichte über das Reden und Schweigen. Der Mann, der die Bäume pflanzte ist eine Schmunzelgeschichte über das Theater. Der Mann, der die Bäume pflanzte ist ein Augenzwinkern über Schauspielerei. Der Mann, der die Bäume pflanzte ist eine Hymne an die Theatertechniker. 222
Der Mann, der die Bäume pflanzte ist eine Raumbühne ganz aus Holz. Der Mann, der die Bäume pflanzte macht jedem Zuschauer ein Geschenk. Der Mann, der die Bäume pflanzte sagt nach jeder Aufführung „Tschüs, bis morgen!“ Der Mann, der die Bäume pflanzte ist Theater für alle ab sieben Jahre. 2006, in Gedanken an G. Giono 7500 Bäume, die ich gepflanzt bisher Ein Mann muss einen Baum pflanzen. Er muss auch einen Baum fällen. Es entscheidet sein Leben, ob er aus dem Baum einen Wanderstab macht, eine Statue schnitzt oder seinen Gott, eine Tür oder … Meine Helden sterben, verlieren den Kopf und Haus und Hof und das, was sie am meisten lieben damit ich leben kann und lieben kann immer unendlich dich.
223
X.
Geh nie in den Wald, um die Feder des Raben zu suchen. Du wirst sie nicht finden. Und sonst auch blind sein.
Weihnachten, allein im Wald Es ist so still, dass dein Schritt und dein Atem dir in den Ohren dröhnen. Du verharrst. Der Nebel tropft so schwer ist er. Er biegt die Äste der Tannen. Er drückt die Totengräser zurück in die Erde. Kein Hauch. Die Singvögel schweigen im Unterholz. Die kahlen Laubbäume stehen starr. Sie warten. Ein einziger Rabe fliegt weit entfernt durch den graunassen Himmel dicht über den schwarzen Silhouetten der nackten Bäume von links nach rechts quer durchs Bild. Sein Flügelschlag geht schwer. Er wälzt die Nebel beiseite. Du hörst sein Herz schlagen und die Flügel. Sein Blick ist entschlossen. So fliegt er geradewegs durch eines deiner Augen in dein Herz sein Nest. Am selben Abend fiel der erste Schnee. 2000 224
„Rabennacht“ U 2002 Das Stück Fünf Frauen und fünf Raben. Das sind fünf Rabenfrauen. Seltsame Mathematik. Die fünf Frauen sind die Verbündeten, die Kundschafter, Botschafter. Die Stimmen. Die Übersetzer der Sprache der Raben. Sie sind schräge Vögel wie die Raben. Überhaupt: Wer sich mit Raben einlässt, muss einen Vogel haben. Das sollten wir zuerst zur Kenntnis nehmen, bevor wir den fünf Frauen Gehör schenken bei ihren rabenhaften Geschichten: vom Großvater mit der gebrochenen Nase. Vom Jungen mit den abstehenden Ohren. Vom anderen Jungen, der auf dem Schulhof die Kacke eines Schafes aß. Vom kleinen Wolf, der nie lachte. Vom Fuchs, der auf seine alten Tage dem Dorf einen letzten Besuch abstattete. Von der Esche am Weg, die Holz wurde für den Winter. Von der Beerdigung des Mannes mit dem roten Auto, der nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt war. Von den Menschen, die Schutzschilde aus Stahl bauten gegen Stein-Eier. Die Geschichten sind so schräg, wie die Musik der fünf Frauen blechern ist. Wie kamen die fünf Frauen zu ihren Raben? Das ist die falsche Frage. Richtig heißt es: Wie kamen die fünf Raben zu den Frauen? Die Raben sind scharfe Beobachter, kundige Kommentatoren, genaue Kenner des menschlichen Verhaltens. Sie haben den Menschen tausende Jahre studiert. Das mussten sie, sonst wären sie längst ausgerottet. (Die Jagdsaison auf Raben ist vielerorts immer noch ganzjährig.) Raben nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie sagen offen, was oft verschwiegen, verdrängt oder höchstens gebeichtet wird. Die Raben sind vaterlandslose und gottlästernde Gesellen. Sie lassen sich auf dem eingerosteten Wetterhahn der Kirche nieder und blicken auf das Dorf, wo sich das Leben bewegt von der Kirche, in die Schule, in die Kneipe, in die Kirche auf den Friedhof. Sie blicken auf die Menschen, die 225
klein sind wie Zwerge, Gartenzwerge, eingesperrt im eigenen Garten. Regungslos durch den Jägerzaun auf die Straße oder die Kollegen im Garten gegenüber blickend. Die Daseinsbestimmung des Gartenzwerges ist es zu stehen, jeder an seinem Ort, jeder in seinem Garten, regungslos standzuhalten den Witterungen des Lebens. Die Daseinsbestimmung des Raben ist es, zu fliegen über die Lande durch die Zeiten. Sie sind sagen-hafte, fabel-hafte Vögel, stets in Gefahr, vom Himmel geschossen zu werden. Das wissen sie.
„Rabennacht“
Deshalb haben sie sich verbündet mit fünf weiblichen Exemplaren der menschlichen Spezies, um menschliches Verhalten zu deuten (Der Mensch nennt die Folgen seines Verhaltens oft Schicksal), um menschliche Gewohnheiten augenzwinkernd zu kommentieren, um einige wenige Geschichten, nennen wir sie ruhig Anekdoten bei einer kurzen Rast vor dem Weiterflug zu erzählen. Der Rabe weiß, dass der Mensch ihn beobachtet. Der Mensch sollte wissen, dass der Rabe ihn beobachtet. Die Zukunft von Mensch und Rabe sind miteinander verknüpft. Der Rabe weiß das. Deshalb das ganze Theater. Clever. Nicht! 226
Es ruft der mächtige Kolkrabe in der Abenddämmerung von der ältesten Silberpappel am Weg. Die Blätter verstummen, der Wind wenn er seine Stimme erhebt. Der Abend hält den Atem an. Weit ist zu hören sein Ruf auf den Höhen in den Tälern und aus allen Wäldern fliegen sie her lassen sich nieder auf der ältesten Silberpappel am Weg und sie rufen mit ihm so lange bis alle beisammen sind aus allen Wäldern der Höhen und Täler. Dann halten inne ihre Rufe. Alles schweigt. Es formt sich ein einziger Gedanke. Sie fliegen los. Gemeinsam. Auf dem Weg des mächtigen Kolkraben. In die Canyons der amerikanischen Großstädte wo nachts das Blut fließt in die Gullys in die Lawinentäler der Alpen in die Überschwemmungsgebiete am Ganges in die Flüchtlingslager Ruandas in die Krankenlager Lateinamerikas in die Slums von Mexiko bis Rio wo sie durchwühlen die Müllberge nach Leichen. Und sie fliegen über Gletscher und Vulkane 227
und alle Meere dieser Welt über alle Wälder und Savannen und alle Flüsse dieser Welt über Wüsten aus Eis und Sand und alle Berge dieser Welt durch Orkane und Taifune auf allen Stürmen dieser Welt. Sie fliegen zu den Kriegsfeldern in Afghanistan zu den Leichenbergen aus Kuh und Schaf in Großbritannien zu den Massengräbern in Jugoslawien zu Karambolagen auf Autobahnen zu vergessenen Flugabsturzstellen durch die Straßen Palästinas, wo sie hastig Körperteile picken von Mauern aus Stein. Auf ihrem Weg finden sie die geschundene Leiche eines Kindes im Wald den abgestürzten Wanderer in den Bergen die aufgeknüpfte Ehebrecherin am Weg aufgeblasene Wasserleiche im Fluss den zerstückelten Liebhaber im Müllsack den erfrorenen Bettler unter der Brücke die vergewaltigte Nutte im Straßengraben das verhungerte Kind im Arm der toten Mutter das verwesende Baby im Müllkorb am öffentlichen Park. Und wenn sie zurückkehren im Morgengrauen auf die älteste Silberpappel am Weg haben sie unsere Welt umrundet. Sie reinigen ihr Gefieder und alle fliegen sie heim ihre Höhe oder in ihr Tal. 228
Im nächsten Jahr kehren sie wieder wenn der mächtige Kolkrabe ruft. Weil die Raben den Bauern die Saatkörner vom Acker fraßen verbreiteten diese: Die Raben plündern die Nester der kleinen Singvögel. Die Raben hacken den neugeborenen Lämmern die Augen aus. Die Raben riechen nach Kadaver. Die Raben rauben den Toten die Seelen. Die Raben bringen die Pest ins Land. Die Raben vergiften die Brunnen. Die Raben verderben unsere Kinder. Die Raben verdunkeln den Himmel. Die Raben sind Tod und Verderb. Die Raben sind Unglücksvögel. Schwarzes Gesindel. So wurden die Raben die Vogelfreien unter den freien Vögeln. Giftköder wurden ausgelegt die Bäume gefällt in denen sie nisteten. Die Leute des Landes bewaffneten sich. Die Jagdsaison auf Raben war ganzjährig. Ihre Leichen wurden auf Stangen gehängt und an Scheunentore genagelt zur Abschreckung. In die Bäume, in denen sie sich sammelten wurden Sprengladungen befestigt und nach der Explosion übersäten tausende tote Raben den Boden. 229
Längst gab es keine Abschussprämie mehr. So wurden die Leichen verbrannt. Und kein Rabe trübte den Himmel mehr. Rabenfrei. Das Land ist rabenfrei jubelten die Leute. Tag um Tag und Jahr um Jahr saß der Rabe in der Fichte windzerzaust am Weg vom Wald ins Dorf darunter verwittert die Bank. Und Tag um Tag frühmorgens und am späten Nachmittag hielt der Mann mit dem roten Auto neben der Bank unter der Fichte er öffnet das Seitenfenster trinkt hastig drei Bier aus der Büchse drei am frühen Morgen drei am späten Nachmittag die leeren Büchsen wirft er ins dürre Gras neben der Bank unter der Fichte dann fährt er fort am frühen Morgen in den Wald am späten Nachmittag ins Dorf mit seinem roten Auto. Und vorvorgestern am späten Nachmittag kam das rote Auto nicht mehr. Da flog der Rabe zum Wald. Da baumelte der Mann an einem Ast. Der Rabe hackte mit dem Schnabel ihm das linke Auge aus das rechte und flog fort. 230
„Mein erster Lehrer“ U 2004 Vorbemerkung zum Stück Zwei junge Frauen, Veronika und Katharina, kehren zurück in ihre alte Dorfschule. Veronika ist heute Krankenschwester und Katharina Lehrerin. Damals saßen sie in einer Schulbank. Die Schule ist mittlerweile verlassen. Laub bedeckt den Fußboden. Schulbänke, die langsam vor sich hin rosten, und die riesige Bücherwand zeugen noch von den lebendigen Zeiten der kleinen Waldschule. Beide erinnern sich an ihre Schulzeit und ihren damaligen Lehrer, den sie Meister Lampe nannten … Das Stück bewegt sich auf den zwei Ebenen der Fabel und des Realismus. Die Darstellerinnen verkörpern reale Menschen. Lediglich in der Dialogszene zwischen Hirsch und Hase tragen sie Tiermasken. „Mein erster Lehrer“ ist ein Stück über den Mut zum Widerstand. Gewidmet allen Lehrerinnen und Lehrern, die den Kindern beim Leben und Überleben helfen. Davignac, Mai 2005 D. ist ein Bergdorf in den Limoges. Chirac ist einige Kilometer von dort geboren. Es war sein Wahlkreis. Im Zweiten Weltkrieg ist die SS-Kampftruppe „Drittes Reich“ dort durchgezogen, heftig bekämpft von den Partisaneneinheiten. Daraufhin haben sie ganze Dörfer niedergemäht: Kinder, Alte, Frauen und vor allem junge Männer. Hélènes Onkel war dabei. Er hat das Dritte Reich überlebt. Davignac ist ein kommunistisches Dorf. Hélènes Vater war über vierzig Jahre der Maire. „Mein erster Lehrer“ ist ein Stück über Widerstand. Deshalb hat H. es eingeladen. Der Dorfsaal war brechend voll: Kinder, Alte, Frauen, Männer und Jugendliche, die an Theaterateliers teilgenommen haben. Es war eine große Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum, Volkstheater im guten 231
Sinne, das Théâtre Populaire. Wir alle waren sehr glücklich. Zwischen zwei Gewittern mit heftigem Niederschlag haben wir abgebaut, die Bücher verstaut. Die schwarze Dorfkatze streunt um den Saal. Die geschorenen Schafe blicken bewegungslos mich an. Ein Maikäfer fliegt gegen meinen Kopf, fällt zu Boden, stellt sich tot, später brummt er weiter. An der Rückwand des Saales ziehen Ameisen eine Straße. Die Limousinenherde weidet mit den Hintern gegen den Regen.
„Mein erster Lehrer“
Überall Feiern zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Die Mächtigen treffen sich in Moskau und verschwinden wieder schnell. Wir spielen „Mein erster Lehrer“. Gestern Abend: Ich habe den Hausmeister gemacht: raus, rein, Handys aus. Katja Wiefel erinnert sich im Interview mit Dirk Wiefel Wie ist bei Marcel die Idee zu dieser Fabel und zu der Inszenierung entstanden? Da gibt es sicherlich Einiges, was Marcel dazu bewogen hat. Bei den ersten Proben zu „Rabennacht“ in den Ardennen waren wir Zeugen einer Treibjagd. Ich vergesse nie das Rufen und 232
Klopfen der Treiber und das Hundegebell. Das ging mehrere Tage lang. Und immer wieder Schüsse. Da sind wir auch den Jägern begegnet, die das erlegte Wild fein säuberlich in einer Reihe präsentierten. Auf die Wunden hatten sie grüne Tannenzweige gelegt: Weidmannsheil. Marcel hatte mit seiner Videokamera alles gefilmt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sie fast immer dabei. Gemeinsam sind wir zum Schlachter gefahren, um die Weiterverarbeitung zu filmen. Der Geruch von Blut und totem Wild hing noch die ganzen Proben in unseren Kleidern. Später wurden Teile dieser Aufnahmen bei „Mein erster Lehrer“ als Super-8-Film auf eine mit Tierhaut bespannte große Trommel projiziert. Dazu wurde das Jägerlied „Im grünen Wald, dort wo die Drossel singt“ eingespielt. Ebenfalls waren die Schüsse in der Inszenierung immer wieder zu hören. Die Jagd wurde zum Thema. Marcel kannte dieses Lied aus seiner Kindheit. Er erzählte, dass seine Mutter es immer beim Spülen gesungen hatte. Wiedergefunden hatte er es auf der Schallplatte „Auf, auf zum fröhlichen Jagen“. Diese hatte er in einer Wette mit mir gewonnen. Marcel wettete gern um Musik. Welche Aufgaben hat euch Marcel für die ersten Proben gegeben? Da waren die Fragen zur Ich-Geschichte: In welchem Moment in der Geschichte finde ich mich wieder? Wann in meinem Leben war ich der Hase? Wann in meinem Leben bin ich einem Hasen begegnet? Mir war völlig klar: Ich erzähle die Geschichte meiner Eltern, die Anfang der 90er Jahre als Lehrer in Sachsen ihre Arbeit verloren. In Sachsen war die Entlassungswelle enorm groß. Es wurde besonders gründlich gesäubert. Marcel und ich stritten darüber, ob ich die Geschichte schon erzählen könnte. Eine Geschichte, die noch eine Wunde und keine Narbe ist, hatte im Probenprozess nichts verloren. Wir wollten uns ja nicht gegenseitig unsere Wunden lecken. Wir wollten mit unseren Geschichten spielen. Er war der Meinung: nein, ich natürlich: ja. Später taucht im Text auf: 233
V K V K V K V K
Wo kommst du her? Aus dem anderen Land. Ich komme aus dem anderen Land. Du kommst aus dem einen Land. Ich komme aus dem anderen Land. Aus dem einen. Mein Land gibt es nicht mehr. Wo ist es? Verschwunden. Fell über die Ohren, mariniert in Rotweinsoße, gebraten, gegessen. Von dem einen Land.
„Mein erster Lehrer“
Mit welchen Materialien seid ihr in die Proben gestartet? Kurz vor Probenbeginn von „Mein erster Lehrer“ probten wir einige Tage mit dem ganzen AGORA-Ensemble „Irgendwo“. Kurt hatte sich im Wald für eine Szene in einem Laubhaufen versteckt. Wir sahen ihn nicht und dann ist er einfach aus dem Laubhaufen herausgesprungen. Solche Sachen findet immer Kurt. Das war eine Überraschung und Inspiration für unsere bevorstehenden Proben und es wurde der Anfang des Stücks: Veronika und Katharina tauchten aus dem Laub auf. 234
Gestartet sind Marcel, Viola, Daniela und ich mit „Mein erster Lehrer“ im braunen Herbst, in der deutschen Eifel bei Prüm. Es war bitterkalt und überall lag das braune Laub der Buchen. Das Laub haben wir in allen erdenklichen Facetten während der Proben bespielt und es wurde Teil unserer Bühne. Gerd und Pascal haben säckeweise Blätter aus dem Wald geholt und getrocknet. Marcels Wunsch war, dass es am ersten Probenabend Hasenbraten geben sollte. Viola und ich aßen eigentlich beide kein Fleisch. Aber da war auch immer die Frage: Wie weit seid ihr bereit mitzugehen? Also aßen wir Fleisch. Daniela schmorte feinsten Hasenrücken, natürlich mariniert in Rotweinsoße. Marcel fand es köstlich. Für mich roch und schmeckte einfach alles nach Treibjagd – nach toten, wilden Tieren. Wie ist deine Rolle entstanden? Marcel hat mal gefragt, welche Tiere wir in der Klasse von Meister Lampe wären. Hasen waren wir nicht. Marcel war der Hase. Viola war ein Eichhörnchen und ich eine Füchsin. Wir haben natürlich keine Tiere auf der Bühne imitiert. Es gab Charaktereigenschaften, die Marcel in uns und den Tieren entdeckte und mit unseren Figuren auf die Bühne brachte. Viola wurde Veronika, die Kinderkrankenschwester. Katja wurde Katharina, die Lehrerin. Für beide wurde der Beruf zur Berufung. So wie ihr Vorbild, ihr erster Lehrer. Sabine hatte für eine Szene Stabfiguren aus Pappmaché gefertigt: die Kinder der Waldschule. Füchsin und Eichhörnchen waren dabei. Sie trugen unsere Kostüme. Wie kam es zum Schlussbild? Unser Bühnenbild war der Klassenraum einer alten Dorfschule. Ein Lehrer- und fünf ansteigende Schülerpulte standen auf einem alten Holzboden. Alles war mit Laub bedeckt. Wir hatten die Möbel auf dem Dachboden der Dorfschule in Deidenberg gefunden. Die Rückwand war eine Bücherwand, gestapelt aus echten Büchern. Pierre hatte allem eine Patina 235
gegeben. Alles sah aus, wie die moosigen Stämme der Buchen aus der Eifel. Am Ende rissen wir die Bücher herunter. Dahinter waren zahlreiche Kinderbilder zu sehen. Marcel gab uns den Auftrag, alle AGORA-Menschen um Kindheitsbilder zu bitten. Auch Freunde und Familie wurden gefragt. Menschen, die uns wichtig waren, gingen so mit uns auf die Reise. Es waren so viele Kinderbilder, wie Zuschauer im Saal saßen. Nach dem ersten Probenblock stand das Bühnenbild bereits fest. Ein Bücherregal war von Anfang an vorgesehen. Es sollte eine Geheimtür geben. Irgendwas sollte dahinter versteckt sein. Deshalb hatten wir schon einige Bücher bei den Proben als Hintergrund gestapelt. Im Spiel sind die Bücher zum wiederholten Male umgefallen. Da ist Marcel aufgestanden und gegangen. Und wir bauten alles wieder auf. Als Marcel nach einigen Stunden wiederkam, erzählte er uns, er habe „Warten auf Godot“ gelesen. Und er stellte uns seine Idee vom Schluss vor: eine Bücherwand, die jedes Mal von uns eingerissen wurde. Das war für ihn die ehrlichste Lösung. Gemeinsam überlegten wir, wen oder was Meister Lampe dahinter verstecken könnte. Schnell war uns klar, dass es die Kinder waren, die der Lehrer unterrichtet hatte. „Er hat sie versteckt, vor den Jägern und den Hunden.“ Meister Lampe war ein fürsorglicher Lehrer, der seinen Schülern mit Geduld, Empathie, und Liebe begegnete. Er hat sie eigenständiges Denken gelehrt. Er hat sie zum Handeln aufgefordert und ihnen gezeigt, wie man lebt und überlebt. Dafür standen die Bücher. „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen.“ So kam es, dass wir später vor jeder Vorstellung immer eine Stunde lang Bücher aufstellen mussten. Insgesamt haben wir 65 Mal gespielt, manchmal auch Doppelvorstellungen, einmal sogar drei Mal an einem Tag. Das war ein körperlicher Kraftakt. Marcel sagte: „Erst muss man den Schlitten den Berg hinaufziehen, um hinunterfahren zu können.“
236
XI.
Ich habe viele Tiere gemalt. Auch Katzen. Schwarze. Gelbe. Gefleckte. Aber eine Haifischkatze nie. Auf so eine Idee muss erstmal einer kommen.
„Die Haifischkatze“ U 2005 am Theater Marabu in Bonn Ein kleiner Junge, der dazu viel zu klein war, hatte im Kino den weißen Hai gesehen. Seitdem hatte er Alpträume. Nachts wurde er schwitzend wach in seinem Bett. Das Bett schwankte wie ein Boot mitten im dunklen Ozean, und der kleine Junge musste sich festhalten, um nicht in den dunklen Ozean geschleudert zu werden. Tief im Wasser lauerte der weiße Hai auf ihn, um ihn mit seinen spitzen Zähnen zu schnappen und zu zerfleischen. Wenn das Boot ganz heftig schwankte, und der kleine Junge Angst hatte, hinausgeschleudert zu werden, schrie er so laut, dass die Eltern wach wurden und das Licht in seinem Zimmer anknipsten. Dann erst war der Spuk vorbei. Und so ging es Nacht für Nacht. Und niemand wusste Rat. „Was sollen wir tun?“, fragte der Vater. „Wir können ihn zu uns ins Bett nehmen“, antwortete die Mutter. „Dafür ist er schon zu groß“, antwortete der Vater. Und beide wussten keinen Rat, und Nacht um Nacht erwachten die beiden vom Schrei des kleinen Jungen, der wieder mutterseelenallein auf seinem Boot im dunklen Ozean unterwegs war. Eines Tages nach der Schule kam der Vater von der Arbeit. Unter seinem Arm trug er einen verschnürten Karton. „Junge ich habe eine Überraschung für dich.“ Der Junge war verwundert, weil es war nicht sein Geburtstag und auch nicht Weihnachten, und auch die Schulnoten waren kein Anlass für eine Überraschung. „Ich war in der Tierhandlung“, sagte der Vater. „Oh, ein Tier“, rief der Junge. Er riss den Karton auf, und hinaus hüpfte eine Katze. „Eine Katze für mich.“ Er freute sich riesig. „Es ist eine besondere Katze“, sagte der 237
Vater. „Sie ernährt sich ausschließlich von Haifisch. Mäuse verachtet sie. Es muss Haifisch sein. Wenn du deine Nase an ihr Maul hältst, kannst du den Haifisch riechen.“ Der Junge schnupperte am Maul der Katze. „Tatsächlich.“ Und obwohl er nicht wusste, wie Haifisch riecht, musste das der Geruch von Haifisch sein, weil es stank fürchterlich. Von nun an nahm der kleine Junge seine Katze nachts mit ins Bett. Sie hatte ein Kissen neben seinem Kissen. Bevor er fortan einschlief, roch er noch einmal am Maul der Katze. „Du riechst nach Haifisch“, sagte er leise. Dann schlief er ein. Und er schlief bis zum Morgen. Heute ist der kleine Junge ein großer Junge. Die Katze hat er immer noch. Sicher ist sicher. 2003 Ein kinderloses Ehepaar Aber es bleibt in der Schwebe, ob sie ein Kind haben oder nicht. Das Bett ist multifunktional: Spielwiese, anderer Raum (Küche), Boot. Sie wollen dem Kind zu Hilfe eilen, Paddel, Feder unterm Bett, damit es schwimmt, eventuell Hydraulik, damit es hochfährt, Angst, dass etwas unter dem Bett ist. Vielleicht ist Claus das Kind, und die beiden besitzen eine Katze (kein Kind). (1) T: Du hast Schuld – Cl: Du hast Schuld (x 5) – T: Du – Cl: Nein, du! (x 5) – T: Du – Cl: Du – Wer hat ihm das Geld fürs Kino gegeben? Ich nicht. Du. Nein du. Wer lässt ihn immer allein vor der Glotze. (usw.) (2) Weshalb? – Deshalb! – Weshalb? (x 10) (wie Kinder) Deshalb! – Wir müssen unsere Beziehung überprüfen (= Brüche, siehe „Warten auf Godot“) – Meine Beziehung zu dir ist in Ordnung. – Deine Beziehung zu mir ist nur in Ordnung, wenn meine Beziehung zu dir in Ordnung ist. – Weshalb? – Deshalb! (3) Wir könnten nochmals beten. – Beten? – Zu Gott! – Weshalb? – Damit er dem kleinen Jungen sagt, er soll nachts nicht schreien. – Weshalb? – Damit wir schlafen können. – Niemand, auch nicht Gott, kann Träume verbieten. Träume sind 238
frei. Und wenn er schreien muss, schreit er. Das ist gut so. – Das ist nicht gut. – Doch! So wissen wir, dass er da ist, dass er lebt, dass er nicht erstickt ist oder ertrunken oder aufgefressen vom Weißen Hai. – Wir sollten trotzdem beten. – Ich habe nicht mehr gebetet, seitdem ich klein war. Wie geht das? Liebe Oma Crombach, lieber Oma Neundorf, lieber Opa Crombach, lieber Onkel Rudi, lieber Vater, liebe Mutter, die ihr im Himmel seid. – Wo? – Im Himmel! Warte! Überredet Gott, dass er den kleinen Jungen Hai schlafen lässt, nachts sanft in den Schlaf wiegt (oder den Weißen Hai zu löschen aus seinem Gedächtnis). – Das ist gut. Und du meinst, das funktioniert? (Beide probieren es) Sie muss lachen. – Du störst. – Sie muss lachen – Was ist los? – Ich habe mich erinnert an ein Gebet aus meiner Kindheit. Mein Papa hat es erfunden: „Lieber Gott da droben. Du wohnst so weit oben. Ich bin hier unten. In der Welt, der bunten. Denk du an mich. Dann denk ich an dich.“ Beide lachen. – Das hat keinen Zweck. – Das hat keinen Zweck. (4) Und wenn er bei uns im Bett schläft? – Zu groß zu eng zu … (5) Wir können ein Buch über Haifische kaufen. Wir gehen ins große Aquarium. Da gibt es Fische mit spitzen Zähnen, kalten Augen … (So lange, bis er Angst hat.) 2003 Tag vor der Premiere von „Zwei unzertrennliche Feinde“, Brotfabrik Bonn Es trafen sich auf dem rostigen Spielplatz im letzten Viertel am Rande der Stadt unter der Wäscheleine voll Wäsche das rote Mädchen mit dem bunten Hut 239
und dem frischen Gang, das schwarze Mädchen mit der schwarzen Brille und den schrillen Tönen, der kleine Junge mit den traurigen Augen, dem schnellen Schläger und den Federn des Häuptlings und der große Junge mit dem schlaksigen Gang, der glänzenden Beule an der Stirn und dem Stern des Sheriffs. Das rote Mädchen verteilt Papierschnipsel der Tageszeitung von gestern, die kleinen an die kleinen Zuschauer die großen an die großen, und die einen hatten dürfen Platz nehmen vor der Platte aus Stein. Der kleine Junge mit den Federn des Häuptlings und der große Junge, mit dem Stern des Sheriffs spielten dann um ihr Leben. Das schwarze Mädchen sang indes auf dem Klettergerüst alle Lieder, die sie wusste so laut sie konnte bis den beiden die Luft ausging und den Zuschauern der Atem stockte. Dann war es mucksmäuschenstill einen Augenblick bevor die Zuschauer aufstanden und klatschten. Das rote Mädchen mit dem forschen Gang ging durch die Reihen 240
und die Zuschauer warfen in ihren bunten Hut Münzen, Knöpfe, Murmeln, Perlen, Scherben, Kekse, Bonbons, eine Wäscheklammer, einen Korken, einen Nagel, einen Stein, eine Kastanie, einen Tannenzapfen und eine Plastikblume aus dem Knopfloch. So wurden sie reich, das rote Mädchen, das schwarze Mädchen, der kleine Junge mit den Federn des Häuptlings und der große Junge mit dem Stern des Sheriffs. Und es war manchmal im Hut, ganz selten einmal in hundert Jahren eine rabenschwarze Feder des Raben, der dann aus der Kastanie abhob lautlos und seiner Wege flog. 2001 Tina Jücker und Claus Overkamp vom Theater Marabu erinnern sich
Marcel brauchte zum Arbeiten eine bestimmte Umgebung, eine bestimmte inspirierende Atmosphäre, die den gedanklichen und emotionalen Kosmos des jeweiligen Projekts anreicherte und Zufälle ermöglichte. Ausgangspunkt der Inszenierung „Die Haifischkatze“ war eine Kurzgeschichte, die in einem Workshop bei Marcel entstanden ist. Darin schenken Eltern ihrem Kind eine Katze, um seine Alpträume zu verjagen, die es bekam, als es den Film „Der weiße Hai“ gesehen hatte. Also verbrachten wir den ersten Probenblock im Mai 2004 in St.-Aygulf am Mittelmeer, weil man nur am Meer einem Hai begegnen kann. Außerdem hatten wir ein Haus mit Pool angemietet, um dem Wasser nah zu sein. Bei Marcel gehörten Theater und Leben immer zusammen. 241
Wir beginnen am ersten Tag mit hundert Fragen zu einem Stück, das es noch nicht gibt. Wir sitzen zu dritt und stellen uns der Reihe nach unsere Fragen, die wir dann aufschreiben: Wie heißt die Katze, die das Kind von den Eltern bekommt?, Wie heißt das Kind?, Gibt es das Kind überhaupt? usw. Am nächsten Tag beantworten wir unsere Fragen wieder reihum. Über die Beantwortung der Fragen hat Marcel auch immer wieder Fragen an unsere private Beziehung gestellt und Theater und Leben in Beziehung gesetzt. Am nächsten Tag improvisierten wir in einem alten Doppelbett, das wir mitgebracht hatten und das nun neben dem Pool stand, während Marcel im Pool auf einem aufblasbaren Delfin hockte, dem er Haifischzähne aufgemalt hatte. Es folgten Improvisationsaufgaben: Einer will schlafen, der andere nicht. Jeder nimmt ein Objekt mit ins Bett. Usw. Irgendwann ging es nicht mehr voran. Marcel brach die Übung ab und schlug etwas völlig anderes vor. Abends schauten wir dann das Making-of von „Der weiße Hai“. Danach setzte er sich an die Schreibmaschine und schrieb die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden den kompletten Stücktext, den er uns zum Frühstück des dritten Probentags vorlas. Jetzt mussten wir es nur noch spielen. Bei „Das Wasserkind“ haben wir eine erste RechercheWoche in Piesport verbracht, dem Ort, an dem meine (Tinas) Geschichte spielte, die ich im Sommerworkshop erzählt hatte. Wir spazierten durch den Ort. Die Weinkisten, die Kiepe und die Weinflaschen kamen auf die Bühne. Wir trafen uns mit den Nachbarn zu einem „Hochwasser-Geschichten-Abend“. Hier fand er die Lichterkette für das Bühnenbild und den Feuerwehrwitz. Wir liefen durch die Weinberge, lasen die Ortsbiografie und tranken Wein. Aus der Ortsbiografie und einem Zeitungsartikel zu einem Dorfgeschehen entstanden weitere Stücktexte. Wir stellten uns mit Anglerhosen in die Mosel, um das Wasser um uns herum zu spüren. Er fragte sich, wie wir das Wasser auf die Bühne bekommen, und in der nächsten Pro242
benphase standen wir nackt in den Anglerhosen und er befüllte unsere Hosen mit Wasser, bis wir das Gewicht nicht mehr halten konnten. So entstand die Idee, das Wasser in die Stiefel zu füllen. Die Geräusche, die dadurch beim Gehen entstanden, erinnerten weniger an Wasserplätschern denn ans „Kinderzeugen“. So entstand die Idee der Geburt der beiden Kinder aus den Hochwasserhosen, verbunden mit den Geräuschen aus den Gummistiefeln. Ich (Claus) erinnere mich auch an einen sehr kompromisslosen Regisseur, der, wenn etwas die benötigte konzentrierte Atmosphäre einer Probe störte, wie z. B. Gegenstände, die ablenkten oder Energie raubten, sehr ungehalten werden konnte. So schimpfte er bei den ersten Proben zu „Zwei unzertrennliche Feinde“, weil Walter und ich einer Tischtennisplatte zu viel Aufmerksamkeit schenkten, die im angemieteten Probenraum stand. Das änderte sich radikal, als er erfuhr, dass Walter in seiner Jugend professionell Tischtennis gespielt hatte. Diese biografische Tatsache interessierte ihn und von da an war die Tischtennisplatte unsere Bühne für das Spiel zweier unzertrennlicher Feinde. Auch war er persönlich enttäuscht, wenn er Grenzen von Spielern spürte, Grenzen, sich auf Dinge, Situation oder Menschen wirklich einzulassen, etwa wenn jemand Scham zeigte, nackt zu baden oder eine Übung auszuführen. Für ihn, so schien es mir, war die persönliche immer auch eine künstlerische Grenze, die er nur schwerlich akzeptieren konnte. Und jetzt beim Schreiben merke ich (wieder), wie ernst Marcel die Aufhebung der Grenze zwischen Theater und Leben war, wie sehr sein Theater aus dem Leben schöpfte und dort seine Kraft fand. Für Tina und Claus Der Abschied ist ein allgegenwärtiges Thema meiner Inszenierungen: „Woyzeck“, „Das schwimmende Nest“, „Der kleine rote Prinz“, „Zwei unzertrennliche Feinde“, „Strandläufer“, „Der weiße Dampfer“, „Rabenfrau“, „Rabennacht“, „Tau243
sche Klarinette“, „Die versunkene Stadt“, „Irgendwo“. Es ist der Abschied von geliebten Menschen, von der Kindheit, von den Eltern, von der Heimat, vom Leben. Und so begreife ich jetzt, dass ich Menschen, so auch euch beide, kennenlernen, lieben lernen musste, damit ich mich eines Tages von ihnen verabschieden kann. Die Wasserkinder sind erwachsen geworden. Der ihnen das Schwimmen beibrachte, den Fluss erklärte, mit ihnen Stege baute aus Brettern von Weinkisten, der durch Weinberge wanderte mit ihnen und Moseldörfer, der ihnen schenkte Worte für Dinge, der mit ihnen Blicke, Umarmungen und Lieder probte, der mit ihnen gelebt ein, wenn nicht zwei Leben, geht nun irgendwohin, wo Kinder sind, Wasserkinder, Erdkinder, Sandkinder, Wolkenkinder, Wiesenkinder, Blumenkinder, Waldkinder, Windkinder, Sonnenkinder, Regenkinder, Tannenzapfenkinder, Wanderkinder, zur AGORA, wo er zu Hause ist im Wandern durch Zeiten, Dörfer, Landschaften, Länder, Kontinente und kundig im Bauen und Abbauen von Zelten. Die Wasserkinder, erwachsen nun, haben gebaut sich am Fluss ein Haus, in dem sie leben wollen mit ihren Kindern, die nun vom Fenster in den Fluss spucken, kosten von Weinflaschen, warten auf fahrende Schiffe von der Brücke und das Schwimmen lernen wollen und müssen. In ordentlichen Familien packen eines Tages den Koffer die Kinder und gehen ihren Weg. Weil unordentlich sind die Verhältnisse, packe nun ich den Rucksack und ziehe weiter, wohin ich muss. Lebt wohl! 2003
244
XII.
Wenn Der Löwe, der Hirsch und der Hase die Geschichte der Jagd schreiben würden und nicht die Jäger, wäre es eine andere.
„Die Kreuzritter“ U 2005 1.12. 2004, im Hinblick auf das FORUM 2005, wo alle geladenen Gäste für die „Kreuzritter“-Probe sind. Ist es wirklich der vierte Weltkrieg nach 14–18 nach 40–45 nach dem Kalten Krieg in dem wir leben? Der globale Krieg? Der Terrorismus als Virus der Globalisierung? Der erste Krieg im Innern ohne sichtbaren Feind ohne greifbaren Feind deshalb aber es gibt ihn weil wir im (Un)Geist der Globalisierung nicht mehr begreifen können dass es etwas grundlegend anderes gibt als uns selbst. Das was außerhalb existiert ist gottlos, unzivilisiert (wie die Raben) jenseits der Norm jenseits der Menschenrechte jenseits von Gut und Böse. 245
Was würde passieren, wenn ich auf der Bühne eine amerikanische Fahne verbrennen würde. 29.2. 2004 Erstes Treffen der Kreuzritter Viola, Katja, Kurt, Claudia, Eno, Zoé, Mathias, Andreas, Dirk, Sascha Ich frage: Stellt euch mal vor! Wo kommt ihr her? Alle erzählen von ihren Theaterprojekten und Schauspielschulen. Kurt: Ich spiele seit 15 Jahren in der AGORA, und ich habe mein Studium immer noch nicht abgeschlossen. Dirk Wiefel erinnert sich Am 11. September 2001 saß ich bei Marcel im Auto in Richtung Trier, als die beiden Türme des World Trade Center einstürzten. Wir haben es im Radio miterlebt. Am 12. September spielten wir in Trier „Irgendwo“. Bereits wenig später führte der US-Präsident George W. Bush Krieg in Afghanistan und Irak und nannte es den „Kreuzzug gegen den Terrorismus“. Marcel sprach viel über Bushs „monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse“ – so nannte es Bush bei einer Rede. Diese politisch unfassbaren Entwicklungen brachten Marcel zur der Idee, mit uns ein Stück über Kreuzzüge zu machen. Im Juni 2004 begannen die Proben und im April 2005 feierte „Die Kreuzritter“ Premiere in St. Vith. Seitdem wurde es über 200 Mal in ganz Europa aufgeführt. Die Zuschauer werden von Oberschwester Zara zu einer Benefizaufführung begrüßt, bei der Kriegsversehrte live unterschiedlichen Therapien unterzogen werden. Ziel ist es, die Soldaten wieder kriegstauglich zu machen. Dabei helfen ihr zwei Schwestern, die sich um die sechs Kriegsversehrten kümmern. Mama Zara unterstützt den Krieg gegen das Böse und ist wie George W. Bush von Gott berufen. Von Beginn an „spielt“ der Zuschauer, dass er Zuschauer einer Benefizaufführung ist, und wird so zum Teil des Systems, das Mama Zara vertritt. 246
„Wir sind unterwegs nach Jerusalem oder Bagdad oder Washington. Wir werden sehen“, schrieb Marcel in seinem Brief an alle Spieler vor der ersten Probe. Wir fahren in ein wunderschönes Haus in der Nähe von Bouillon in die belgischen Ardennen. Umgeben von Sonne und Wiesen beginnt der Theaterkreuzzug. Für den ersten Probenblock hatten wir Aufgaben von Marcel bekommen – einen „Marschbefehl“. Keiner von uns hatte bisher einen Krieg miterlebt, aber jeder hatte sich schon mal eine Verletzung zugezogen. Mitzubringen war also die Geschichte einer unserer Narben – am besten aus der Kindheit. Außerdem hat jeder einen Helm und ein Kriegslied mit dabei. Jeder Tag beginnt im Kreis, mit geschlossenen Augen, draußen auf den Wiesen. Jeder findet im Garten einen Ort und singt mit verbundenen Augen sein Kriegslied. Marcel singt „Ich hatt‘ einen Kameraden“, das später Eröffnung des Stücks wird. An einem zweiten Ort erzählen wir später unsere Narbengeschichten. Meine Verletzung bekam ich oberhalb des Auges in der ersten Klasse, als mich in der Pause ein Stock beim Krieg-Spielen traf. Marcel entwickelt an diesem Tag eine Übung, bei der die Narben eines Spielers mit dem Kriegslied eines anderen verbunden wurden. So werden aus Narben Kriegsnarben – dies wird später wichtige Basis für unsere Bühnenfiguren. Schon in Boullion erzählt uns Marcel von einem Bild, das später zentral für die Inszenierung wird. Am langen Tisch sitzen alle Patienten mit den zwei Schwestern und Mama Zara und speisen gemeinsam. Die Tischanordnung auf der Bühne zitiert Leonardo da Vincis berühmtes Gemälde, auf dem Jesus vor seiner Kreuzigung seine Jünger um sich schart und mit ihnen das letzte Abendmahl einnimmt. In einer späteren Probe improvisieren Sascha und ich eine Pause, bei der wir den Zuschauern Kuchen servieren. Daraus wird die Tombola-Szene in der Inszenierung, bei der mit viel Humor die Zuschauer gemeinsam mit den Patienten auf der Bühne Kuchen essen und einer Geschichte lauschen. Diese heiter anmutende Situation 247
ist die Vorbereitung für den folgenden harten Perspektivwechsel im Stück. Denn direkt im Anschluss folgt die „Gummitherapie“ und wir Patienten ziehen sechs Gummibänder über unsere Köpfe und deformieren so unsere Gesichter. Kurt hatte schon bei der ersten Besprechung aus Quatsch einen Bürogummi über sein Gesicht gezogen und so eine schreckliche Entstellung herbeigeführt. „Die Gummis, das ist Theater, ohne Theater zu machen!“, sagte Marcel. „Wenn ihr die Gummis tragt, braucht ihr gar nichts mehr zu machen.“ Mit den verzerrten Gummigesichtern kommt ein Patient nach dem anderen nach vorne und erzählt am Mikrofon seine Kriegsnarbengeschichte. Dabei wird ein Großbildfoto hochgehalten, das entstellte Gesichter von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zeigt. Die historischen Fotos der „Gueules cassées“ bilden zusammengenähte zerfetze Gesichter von Überlebenden ab, die damals der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Wir hatten uns passend zu unserer Kriegsnarbengeschichte das Bild ausgesucht. Wenn wir die Fotos zeigen, kann plötzlich niemand mehr der Grausamkeit des Kriegs entkommen. Es ist „ein Zitat aus der Realität, ein Foto von realen Menschen. Das Spiel wird zur Realität.“ Marcel sagt: „Ich muss den Zuschauer beschützen. Das ist meine erste Aufgabe. Denn wir sind vorbereitet, der Zuschauer nicht.“ Durch die vorherige Kuchenpause mit Humor können die Zuschauer den grausamen Anblick gerade noch ertragen, ohne genötigt zu werden. Unsere Figuren erhalten nun nach den Kriegsnarbengeschichten und den Fotos einen entscheidenden Baustein: einen Tick. Jeder Patient bekommt eine Verhaltensstörung, eine Marotte zugeordnet, die oft irgendwie zum Wesen der jeweiligen Spieler passt. Die Ticks sind erstmal geheim, sollten in und außerhalb der Proben benutzt werden. „Der Tick ist nicht Facette der Figur, sondern darüber entsteht die Figur. Sie definiert sich über den Tick“, erklärt Marcel später. Mir sagt er, ich solle alles ganz langsam machen. Immer etwas zu spät zu Gesprächen oder zum Essen kommen. Langsam hinsetzen, 248
langsam essen. So entsteht meine Figur. Mein erster Text im Stück lautet später: „Ich bin Daniel. Seitdem ich am Kopf verletzt wurde, brauche ich mehr Zeit. Diese Zeit schenkt mir Mama Zara.“ Marcel reduziert unsere Ticks und es entstehen glaubhafte Patientenfiguren, die der Zuschauer liebgewinnen kann. Am Ende stimmt der Zuschauer darüber ab, welcher Patient wieder in den Krieg geschickt wird. Heute ist Donald Trump Präsident und wir spielen immer noch: „Die Kreuzritter“. Gott sei Dank.
„Die Kreuzritter“
Juli 2008 „Kreuzritter“-Tour im Auftrage der CCAS. Zehn Spielorte in zehn Tagen. Zehn Mal Koffer ein- und auspacken. Es geht an die Kräfte. Heute spielen wir zum sechsten Mal. Am meisten geht an die Kraft, dass wir heute Abend gegen die Kirmes des Ortes anspielen. Es ist in Brassal, ein Kaff in der Nähe von Albi, von wo aus die Albigenser damals ihren mörderischen Kreuzzug gegen die Ungläubigen begannen. Brassal hat eine Brücke aus dem zwölften Jahrhundert, die über den Strom führt. Und sonst schein es besiedelt von Alten über siebzig, die auf dem Dorfplatz einen Bingo-Wettbewerb ausgetragen 249
haben und dabei allerhand Gerätschaft, die die Kaufleute gesponsert hatten, gewinnen konnten. Nun werden sie gefüttert mit Sachen vom Grill. Die Dorf-Fanfare spielt auf, und danach macht noch eine Zwei-Mann-Combo Unterhaltungsmusik. Gegen Grill und Fanfare und Kirmes spielen wir an. Heute. Gestern gegen eine Million Fliegen und Mücken. Vorgestern gegen eine regionale Weinprobe. Davor gegen eine Anreise der Zuschauer von über 500 Kilometer, gegen Stromkreise, die zusammenbrachen, gegen mangelnde Dunkelheit für die Filmprojektion, gegen den Lärm des Kindersportplatzes, gegen Dreijährige, die durch die Ränge liefen, gegen die Hochzeitsgesellschaft, gegen den Lärm der Swimmingpools, gegen Ignoranz und Uninformiertheit. Tour de France. Tour de Force. Und dann das Wunder. Als ich uns schon aufgegeben hatte und mich angefreundet hatte mit dem Gedanken, mit sechs Einheimischen in den Kreuzzug zu ziehen, hörte ich Lärm aus dem Zentrum. Zwischen den Häusern tauchten sie auf, eine Prozession von Zuschauern, an die hundert und lärmend und gut gelaunt strömten sie zu uns, und wir spielten glücklich für sie. Rede an den Zuschauer Ich will niemandem seinen Glauben absprechen, aber ich bin froh über jeden, der denkt. Die Aufführung ist eine gemeinsame spielerische Übung im Denken. Die Aufführung ist ein Gedankenspiel, das beginnt mit der Behauptung: Sie sind Gast einer Benefizveranstaltung zugunsten des Hospizes Saint Jeanne, das traumatisierte Gotteskrieger wieder tüchtig macht für den nächsten Kreuzzug. Dieses Spiel habe ich mit den Spielern ausgedacht. Nicht ausgedacht haben wir uns Mama Zara, die Schwestern Klara und Violetta und die Patienten Albert, Conrad, Daniel, Emile, Mirko und Serge. Sie mussten wir nicht erfinden. Für sie finden sich unzählige Vorbilder in der Vergangenheit und Gegenwart, in der Politik, in der Kirche und in der Wirtschaft. Wir haben sie aufgespürt und sichergestellt. Wir stellen sie zur Rede. Wir bringen sie auf die 250
Bühne. Wir führen sie vor. Wir entblößen sie. Wir spielen mit ihnen. Und Sie, werte Zuschauer, laden wir ein, mitzuspielen. Durch das Spiel können wir diese Figuren entlarven. Durch das Spiel können wir erfahren, dass das Hospiz die Hölle ist, ein Gefängnis, eine Irrenanstalt. Die Patienten sind Laborratten. Wenn wir als fühlende und denkende Mitmenschen und nicht als Gläubige dieses Spiel spielen, können wir gemeinsam verhindern, dass sich unsere Welt in ein Hospiz verwandelt, in dem wir ruhig gestellte Patienten sind. Das ist unser Optimismus. Oder anders gesagt: Mama Zara hat eine Benefizveranstaltung inszeniert, die sich an gläubige Menschen richtet. Ich habe eine Theaterveranstaltung inszeniert, die sich an denkende Menschen richtet. Das ist das doppelte Spiel. Sie sind gläubiger Gast und denkender Mitspieler. Diese Freiheit bietet auch das Leben, obwohl da oft und viel gepredigt wird, es gäbe nur das Ja oder Nein, das Dafür oder Dagegen, die Wahrheit oder die Lüge, die Zivilisation oder Barbarei, die Opfer oder Täter. Die willigsten Täter fühlen sich immer zuerst als Opfer. Ihre finale Tat ist ihr und das Leben anderer zu opfern. Und wenn Sie am Ende der Vorstellung Beifall klatschen, dann nicht Mama Zara, den Schwestern und Patienten, sondern den Spielern, die zusammen mit Ihnen dieses Spiel gespielt haben. 2005 1.10.2008, 20 Uhr 18 Gleich brechen die †-Ritter auf nach Minsk. Es ist große Unruhe in mir vor diesem Abenteuer. 25 Stunden Zug über Berlin, Warschau, Brest nach M. Was erwartet uns dort? Gerade sind Präsidentenwahlen. Sind wieder Massendemonstrationen in der Hauptstadt? Wie wird unser Stück aufgenommen? Werden die Weißrussen merken, dass Mama Zara Lukaschenko ist? Sind wir vielleicht deshalb eingeladen? Sollen wir die Wahl zur Traumtherapie fälschen? Wer sind unserer Zuschauer? Wie weit kann ich mich aus dem Fenster hängen, ohne die Gastgeber zu gefährden? Sind wir als Gruppe stark genug, um 251
diesen Kreuzzug zu bestehen? Sind wir warm genug angezogen? (Der Wetterdienst spricht von vier Grad.) Was teilen wir den Zuschauern mit, was ist das überhaupt für ein Volk? Gebeutelt und überfallen von Napoleon, Stalin, Hitler, dann die tödliche Wolke von Tschernobyl und jetzt L, aber reden wir nicht davon, ohne uns zu vergewissern, dass es nicht schadet. Und hoffentlich hat jeder seinen Reisepass. An einem Abend, der Tag nach der Aufführung, stehe ich mit einem Wodka in der Hand und einigen Wodkas im Bauch mit anderen Theatermenschen vor dem Staatlichen Puppentheater und blicke auf den gegenüberliegenden Präsidentenpalast. Es ist verboten, ihn und die Soldaten, die ihn bewachen, zu fotografieren. An jeder Seite ist ein Soldat postiert. Ich trinke meinen Wodka. Wortlos verlasse ich die Gruppe und überquere langsam die Straße Richtung Soldat. Er sieht mich. Ich gehe langsam weiter. Ich beginne zu weinen. Nun stehe ich vor ihm. Er blickt mir regungslos in die weinenden Augen. Nichts. Ich weine. Er fragt mich etwas in Russisch. Ich frage ihn in Englisch, ob er Kinder hat. Er sagt, er hat zwei Kinder. Ich sage, ich habe zwei Kinder. Ich stelle mich mit Vornamen vor und reiche ihm die Hand. Er nimmt die Hand aus seiner steifen Haltung und meint zu mir „Anton“. Wir reden über unsere Kinder. Ich sehe, wie sich im Hintergrund eine Palasttür öffnet. Ein Soldat tritt heraus und bewegt sich in unsere Richtung. Ich verabschiede mich und gehe über die Straße zum Theater. Was war das? 2008 Wir sind zurück. Ich kann meine Gefühle und Eindrücke noch nicht sortieren. Wir haben es geschafft. Ausverkauftes „National Belarusian Theater“. 700 Zuschauer. Am Ende Standing Ovation. Auch in den Tagen danach wurden die Spieler noch auf der Straße angesprochen und um Autogramme gebeten. 2008 252
Ach ja! Im Haut Jura, dort in den Bergen, wohin ich mich mit den Workshop-Teilnehmern zurückgezogen hatte, saßen wir abends beim Essen, als zwei Wanderer, ein Ehepaar, Lehrer, uns fragte, was wir hier täten. Und so erzählten unsere Leute vom Atelier, von den Übungen im Wald bei jedem Wetter und die beiden davon, dass sie auch Theater mögen und im Anschluss an die Berge nach Avignon zum Festival führen. Schon vor zwei Jahren seien sie da gewesen und hätten auch belgisches Theater im Théâtre des Doms gesehen. Ein Stück mit dem Titel „Les Croisés“ und sie erzählten begeistert, dass sie ein Stück Kuchen gewonnen hätten. Vor den Zuschauern ist man nirgends sicher. Auch nicht im tiefsten Tal und nicht auf dem höchsten Berg, nicht in der Wüste aus Sand und nicht im dunklen Dickicht. Er findet dich. 2009
253
XIII.
Zwischen Schaukelpferd und Schaukelstuhl da lebt der Mensch.
„Das Pferd aus Blau“ U 2006 Mandrin, Vogesen, Dezember 2005 Ausfahrt „Das Pferd aus Blau“ mit Alex, Daniela, Katja, Kurt, Pascal, Roland, Dirk, Roger, Viola und mir. Wir sind auf dem Friedhof von Mandrin. Es ist so ungepflegt wie das ganze Dorf. Die Stätten der Lebenden sind zu erkennen an den Stätten der Toten. Ich erzähle meine Geschichte für zwei Soldaten des Ersten Weltkriegs. Der eine, Maurice Roman, Corporal des vierten Bataillons vom 22. Regiment der Alpenjäger starb durch eine deutsche Kugel am 3. September 1914. Der andere, Albert Grandhomme, Infanterist 297. Bataillon, starb am 25. Oktober 1918 in Belgien. Die beiden sind dicht neben der Friedhofsmauer beerdigt. Es gibt keine Angaben von Familienangehörigen. Der eine starb einige Tage nach Kriegsbeginn. Der andere starb einige Tage vor Kriegsende. Das widerspricht dem französischen Kriegslied, in dem drei Tamburins aus dem Krieg heimkehren und des Königs Tochter verschmähen, weil es auf der eigenen Erde viel schönere Mädchen gibt. Auf dem Rückweg fand ich neben der Kirchenmauer in einem Holzverschlag in einer zerrissenen Plastiktüte die morschen Knochen eines Menschen: Schädeldecke, Gebiss, Kiefer, Arm, Rippen, Bein. Zum ersten Mal in meinem Leben.
254
Das Stück Die Zuschauer nehmen Platz in dem kleinen Dorfsaal „Zum Pferd aus Blau“. Auf der einen Seite des blauen Tanzparketts eine Guckkastenbühne. Auf der anderen Seite sitzt auf einer Empore die Ballkapelle. Der Saal hat viele Hochzeiten erlebt. Hier wurde gefeiert, gesungen, getanzt, gespielt und diskutiert. Auf diesem überdachten öffentlichen Platz trifft sich das Dorf. Heute spielt die Dorfkapelle für die jüngsten Zuschauer. Und es wird eine Geschichte erzählt.
„Das Pferd aus Blau“
Eine junge Frau des Dorfes erinnert sich an die Zeit, die sie mit ihrem Großvater verbracht hat und an seine Geschichten vom geheimnisvollen „Pferd aus Blau“. Sie erzählt: Es war einmal ein Mädchen. Das hatte einen Großvater. Der hatte viele Geschichten. Er fand sie überall. Es waren alles Geschichten von Pferden. Er kannte sich gut aus mit Pferden. Er hat Pferde gesammelt. Ein Leben lang. Und Geschichten von Pferden. Und in jeder Geschichte kam das Pferd aus Blau vor. „Das Pferd aus Blau ist die Mutter aller Pferde“, hat der Großvater gesagt. 255
Das Mädchen verlor ganz viele Sachen. Die Brille, den Schal, einen Schuh. „Du würdest noch deinen Kopf verlieren, wenn er nicht angewachsen wäre“, hat der Großvater immer gesagt, wenn sie etwas verloren hatte. Und dann haben die beiden gesucht. Die Brille, den Schal oder den Schuh. Bis sie es gefunden hatten. Dann hat das Mädchen den Großvater verloren. Eines Morgens war der Schaukelstuhl leer. Auch am Abend war er leer. Und am nächsten Morgen war er leer. Er blieb leer. Aber die Geschichten vom Großvater hat das Mädchen nicht verloren. Die Erinnerung an die Welt des Großvaters und der Kleinen wird lebendig. Einer der Musiker tritt auf die Tanzfläche und schlüpft in die Rolle des Großvaters. So verwandelt sich das Tanzparkett mal in den siebten Himmel, mal in ein Wohnoder Spielzimmer, mal in die Weide aus Blau, die Weide der alten ausgedienten Pferde. 2006 Gedanken zum Pferd 1. Ist das Pferd aus Blau die weiße Maral Kuh? Das Pferd aus Blau ist der Gedanke an das Pferd aus Blau. Das Pferd aus Blau ist die Sehnsucht nach dem Pferd aus Blau. Ein Schaukelpferd ohne Reiter ist sehr unvollkommen. Eigentlich ist es erst dann ein Schaukelpferd, wenn es schaukelt, wenn jemand mit ihm schaukelt. Durch die Schaukelbewegung erhält es seine Daseinsberechtigung. 2. Wann ist die Zeit der Schaukelpferde? Wenn ich noch nicht gehen kann. Mein Leben bewegt sich zwischen Schaukeln im Bauch und Schaukeln im Sarg, wenn er zu Grabe getragen wird. Wir schaukeln ein Leben lang. Wenn ich gehen kann, wird die Lehne vom Schaukelpferd entfernt. Die Wiege ist ein Schaukelbett. Auf dem Rummelplatz ist eine Schiffschaukel. Schiffe schaukeln auf den Wellen. Oben auf der Fichte schaukelts ganz schön, wenn der Wind sie hin und her bewegt. Am unteren Ast der Fichte hängt die Schaukel. Manchmal sitze ich gerne im Schaukelstuhl, auf dem Schoß von meinem Opa. 256
Hochhäuser schaukeln oben bis zu zwei Meter hin und her. Wenn nicht, wären sie starr und würden brechen. Wer nicht schaukelt, ist starr. Wer starr ist, zerbricht. Schaukeln von links nach rechts nach links nennt man Schunkeln. Rhythmisches Schaukeln im Bett, auf dem Teppich oder im Gras zu zweit nennt man Bumsen. Rhythmisches Schaukeln im Ballsaal heißt Tanzen. Manche schaukeln sogar beim Beten. Wackeldackel sind mit Schaukelpferden verwandt. Wir schaukeln ein Leben lang. 2005
„Das Pferd aus Blau“
Wunderschnell. Buckelwale. Graue Wale. Weiße Wale. Wildenten. Wisente wandern in die weite Welt. Flusswärts. Wasserwärts. Wiegen, 257
wogen winden sich. Wildes Pferd aus Blau. Warmes Pferd aus Blau. WeiĂ&#x;es Pferd aus Blau. Wunderschnell. Wiegenlieder singen alte Zeiten. 2006
258
XIV.
Ich will nicht sterben Jeden Abend Ich will nicht sterben Am Ende der Welt Für den König von Dänemark. Ich will nicht sterben FÜR KEINEN KÖNIG DIESER ODER JENER WELT.
„Wanted Hamlet“ U 2008 Ich habe natürlich zehn schöne Geschichten – aber ich möchte lieber eine neue erzählen. Das wurde mir bei der Arbeit am Hamlet bewusst als ich mich fragte: Warum mache ich überhaupt den „Hamlet“? Und eines feststellte: In der Kindheit war jeder Junge mal ein Cowboy, und jeder Regisseur macht irgendwann den „Hamlet“. Und deshalb „Wanted Hamlet“. Ich kann mich erinnern, dass ich in meiner Kindheit vom Sherif rüber gewechselt bin zum Outlaw, zum Indianer, zum Banditen. Ich wollte auf einmal nicht mehr das Gesetz vertreten, vielleicht weil ich spürte, dass dieses Gesetz korrupt ist und Werte vertritt, die unhinterfragt existieren. Ich wollte lieber zu der anderen Seite gehören, zu den Bedrohten, den Indianern oder zu denen, die das Gesetz neu formulieren. Auch Hamlet erhebt sich über das Gesetz, entscheidet selbst, was Recht und Unrecht ist – und geht natürlich an dieser Hybris am Ende, so muss es in der Tragödie auch sein, zugrunde. In dieser Kinderzeit habe ich viel gelesen und mich sehr für Opfer, auch für christliche Opfer, Märtyrer interessiert, habe auch angefangen mich da zu engagieren und dann meine ersten Gedichte geschrieben. Das geht alles zusammen: Ich, der Indianer oder ich der Jesse James und gleichzeitig derjenige, der anfing Gedichte zu schreiben – also zu be-schreiben und nicht nur zu machen. Und diese Energie, über das Beschreiben verändern zu wollen und zu können, führte natürlich gleich 259
ins politische Engagement – und daher machte es keinen Unterschied zwischen ästhetischem und politischem Engagement. Das war noch eins. Wir haben uns immer als politisches Theater verstanden, ohne jemals diese Bezeichnung zu gebrauchen, und uns immer zu Themen der Zeit geäußert … „Wanted Hamlet“ ist natürlich in der Folge der „Kreuzritter“ zu sehen. Was das genau wird, ist jetzt, 14 Tage vor der Premiere noch nicht abzusehen. Aber als momentan einziger Zuschauer bei den Proben, sozusagen als Anwalt der Zuschauer, sehe ich, dass die Welt regiert wird von einer Gangsterbande, einer Mör-
„Wanted Hamlet“
derbande … Michael Moore in „9/11“ hat das ja auch schon ähnlich gesagt. Und wenn wir noch weitergehen, können wir sagen, da hat sich eine Clique an die Macht geputscht, das sind nicht die Gewählten, die Amerika und die Welt regieren. Genau hier haben wir Hamlet, unseren Hamlet und Claudius und die ganze dänische Mörderbande positioniert. Indem ich das sage, und es als Western inszeniere, indem ich einen Dialog mit dem Zuschauer darüber anfange, einen lustvollen Dialog, stelle ich mich diesem Thema und verstecke mich nicht in einer ästhetischen Luftblase und blicke weg… Für mich ist Theater im schlechtesten Falle etwas, das mir hilft zu überleben. Im besten Fall ist es ein Mittel zur Veränderung. Und dazwischen bewege ich mich in meinem Beruf und 260
indem ich eine Gruppe habe, die AGORA – und mit solchen Themen in den öffentlichen Raum gehe und eine ästhetische Behauptung aufstelle, bin ich optimistisch. Das reicht mir … 2008 Frage: Warum haben Sie „Wanted Hamlet“ gemacht? MC: Der Junge wollte immer Cowboy sein. Der Mann wollte einmal Hamlet sein. So kam es zustande. 2008 Hamlet ist schon über 9000 Mal inszeniert worden. Das heißt: Es gibt schon über 9000 Blickwinkel auf Shakespeares Hamlet. Jede Inszenierung ist ein einzigartiger Blickwinkel. Es ist nicht der Versuch, Hamlet zu erklären. Auch die Vorrede hier ist nicht der Versuch, Hamlet zu erklären. Am Ende der Tragödie sterben alle, das sei vorausgesetzt. Und wir haben in unserem neunmonatigen Probenprozess ergründet, was zu Hamlets Tod und dem seiner Familie und Freunde und Widersacher geführt hat. Unser Fokus ist Hamlet mit sieben Monaten, sieben Jahren, 17 Jahren. Viel älter wurde er nicht. Vaterlos und mutterlos wuchs er auf in einer Diktatur namens Dänemark. Unser Dänemark ist der Wilde Westen, Nordamerika oder die USA, wie Sie wollen, das beherrscht wird von Gesetzlosen. Das ist unser Blickwinkel, den wir Ihnen heute Abend anbieten. Wir laden sie ein, mit uns auf diese Reise in den Wilden Westen zu gehen. Viel Vergnügen. 2009 Shakespeare ist eine globale Unterhaltungsindustrie, die alle Theaterformen und -strukturen bedient. H ist die größte Tragödie der Weltliteratur, also das wichtigste Absatzprodukt dieser Industrie. Die Figuren aus dem Drama H wollen sich dem allabendlichen Todesurteil, ihrem vom Autor vorgeschriebenen Schicksal widersetzen und befreien. Vergeblich. Sie rebellieren gegen das Gefängnis der Worte. Vergeblich. Sie 261
wollen ihre eigene Autoren sein, sich gestalten, sich selbst formulieren. Sie protestieren gegen das landläufige Bild, gegen den Missbrauch ihrer wahren Identität und gegen die Jahrhunderte lang vermarkteten Vorurteile: die geknickte Blume Ophelia, die machtgeile Gertrude, der grübelnde Intellektuelle H. Die Figur H der Geist, der Vater, der Sohn, der Mörder und das Mordopfer, das personifizierte Drama, kämpft diesen Kampf der Selbstbefreiung am verzweifeltsten, weil H ist der Zwillingsbruder Shakespeares in der Fiktion, das Du im Jenseits. Niemand im Jenseits steht dem Autor näher als H. Wanted ist die Suche nach der Identität von H. Wanted H sucht in dessen Kindheit und Jugend nach Gründen seines Seins und Nichtseins. H das Baby, dem man die Muttermilch verweigert. H das Kind, das vaterlos aufwächst, weil dieser wieder eine europäische Großstadt auf seinem Raubzug ausplündert. H, der Jugendliche, der zusieht, wie ganze Länder in Schutt und Asche gelegt werden. Wanted H ist die Tragödie vor der Tragödie. Wir dechiffrieren sein Schicksal. Wanted H ist eine Reflexion über H. Wanted H ist die Frage nach Bedeutung und Verantwortung der Kunst für das Leben. Der Sohn, der das Erbe des Vaters antritt, obwohl er es nie antritt, mutiert zu einem Westernheld, der den Horizont der Macht überschreitet, der wandelt auf dem Grat zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit, ein Getriebener und Gesuchter gleichzeitig. Der Prinz von Dänemark ist ein outlaw. Dänemark ist ein Gefängnis. Ein Ort der Gesetzlosigkeit. Der Sittenlosigkeit. Es ist der Westen. Der wilde Westen, der von einer Gangsterbande regiert wird. Unmoralisch. Machtgeil. Korrupt. Deshalb war es lediglich eine Frage der Zeit, bis die Burg Elsinore geschleift und die Twin Towers gesprengt wurden. H ist ein Monolog. Ein innerer Monolog. Ein lautes Schweigen vor dem finalen Duell. H ist ein Drama voller Heckenschützen, Meuchelmörder und Auftragskiller, voller Blutrache. Außer Tod geschieht nichts. Keine Bewegung. Nur der Gang des unausweichlichen Schicksals. Die Wege zum Gift, zur Klinge, zum Wasser oder zum Galgen sind unausweichlich. Henker und Gehängte sind 262
gleichermaßen Verbrecher. Die Figuren begegnen sich nicht, außer zum Sterben. Sie sind einsam. Sie sind aus dem Boden gewachsen wie Pilze, und sie verschwinden wieder im Boden. Da H und alle anderen Figuren des Dramas H sich nicht oder nicht frei entscheiden können, gefangen sind in sich selbst, kann allein der Zuschauer sie und ihn befreien. Das ist die Hoffnung. Die Befreiung durch den Zuschauer. 2008
„Wanted Hamlet“
Ein Mensch tritt auf die Bühne. Vielleicht ist es ein Spieler. Er betrachtet die Zuschauer. „Bald werde ich sterben. In einer Stunde bin ich tot. Ihr werdet sehen. Ihr seid die letzten Lebenden für mich. Hoffentlich verbringen wir eine gute Zeit zusammen. Ich wollte schon lange sterben. Aber ich habe Angst davor. Vor dem Alleinsein. Nach dem Tod ist man für immer und ewig allein. Das ist meine Angst. Deshalb ist es so gut, dass ihr da seid. Ich hoffe, es ist keine Überrumpelung. Ich weiß, wir sind im Theater. Da ist nichts Ewigkeit und alles Augenblick. Sie bringen sich gegenseitig um und verbeugen sich am Ende gemeinsam. Heute nicht. Heute ist es anders. Niemand wird sich verbeugen. Doch. Ihr könnt Euch verbeugen. Vor mir. Wenn ich so daliege. Wenn ihr wollt. Wenn ihr noch da seid. 263
Sagt mir wie. – Rasierklinge? – Tabletten? – Pistole? Gebt mir einen Tipp!“ 2006 Viola Streicher erinnert sich Zu Beginn der ersten Probe in Frankreich gab es keinen Text und kein Thema. Kiloweise weiße Kleidungsstücke in allen Formen und Größen waren das Spielmaterial, das einen enormen Aufforderungscharakter hatte, uns ständig umzuziehen, zu verkleiden. Jeder wählte ein weißes Kostüm, sofort entstanden Spiele, Beziehungen, Konstellationen, Gruppenbilder. Wir fuhren in den Kostümen nach Dieppe. Der Ausflug wurde zu einem Walk-act: Vor der Eisdiele, am Brunnen, am Strand gab es Aufsehen, öffentliches Interesse von und Begegnungen mit der Bevölkerung. In dieser weiß gekleideten Schauspieltruppe sah Marcel eine Verbindung zu der Schauspieltruppe, die im „Hamlet“-Text auftaucht. Das Theater im Theater: Sie spielen den Königsmord nach, entlarven so den Brudermord an Claudius. Marcel entschied sich nach dieser Woche für „Hamlet“. „Hamlet“ als Western. Bei der Recherche über die Wesensmerkmale des Westerns, über den Charakter des Cowboys im Wilden Westen stellte er Parallelen her. Wie verhalten wir AGORA-Spieler uns im Vergleich zu der Shakespeares Schauspieltruppe in „Hamlet“ zur Macht? Wofür oder wogegen sind wir? Zur nächsten Probe hatten alle Spieler eine Szene aus „Hamlet“ vorbereitet. Ich erinnere mich vor allem an Katjas Vorschlag zu Ophelia. Bekannt ist, wie Ophelia aus Liebeskummer verzweifelt im Blütenmeer des Flusses ertrinkt bzw. sich umbringt. Katja verkörperte jedoch eine Ophelia, die sich weigerte, ihr Leben aufgrund der unerfüllten, viel zu kurzen Liebesbeziehung zu Hamlet zu beenden. Sie lehnte sich mit ihrem szenischen Vorschlag gegen den ihr von Shakespeare geschriebenen Selbstmord auf. Sie skandiert wütend 264
mit einem Rocksong ihre Lust auf den nie erlebten ersten Sex. Inspiriert von dieser Ophelia-Szene schrieb Marcel zunächst für sie und später für alle Figuren aus „Hamlet“ Monologe in der Wir-Form. Wir sind Hamlet, wir sind Ophelia, Laertes, Claudius, Polonius, Rosencrantz und Guildenstern, Gertrude. Marcel hat mit dieser Entscheidung den Fokus von der Beschäftigung mit den Figuren verschoben auf eine Beschäftigung über die Figuren. Die literarische Figur, die sich auflehnt gegen das ihnen zugeschriebene Schicksal der Tragödie. Auf der Bühne wollen sie nicht sterben. Im Text müssen sie sterben. Und mit einem Augenzwinkern zeigten wir, dass es uns, den Spielern, Spaß macht, das Sterben zu spielen. Mir schrieb Marcel einen Text zu Gertrude, in dem ihre Lust, ihr Begehren, ihre Machtbesessenheit reflektiert wird. In meinem szenischen Vorschlag dazu renne und springe ich in einer aus weißer Wäsche gebauten Koppel. Außerhalb der Koppel stehen verteilt Menschen mit Hasenmasken. Sie locken mich an und ziehen mir rote Bänder aus meiner Kleidung, schränken meine Bewegungsfreiheit ein, bis sich mein Versuch, mich aus den Fängen zu befreien, auf ein Springen auf der Stelle reduziert. Dann fällt über Band der Gnadenschuss. Daraus entstand eine weitere Szene, in der wir alle das Sterben, das Erschossen-Werden, das Fallen bis zur Erschöpfung wiederholen, bis ganz am Ende keiner mehr aufsteht, um erneut erschossen zu werden. Den Schlusstext sprechen die Frauen in drei Sprachen in der Ich- Form: „Ich bin Hamlet. Ich bin nichts. Eine Erfindung meines Autors. Er hat mit seiner Erfindung ein Theater gebaut. In Stratford. Ich bin seine Erfindung. Und er erfand mir einen Geist, der mein Vater ist. Mein Vater ist ein Geist. Mein Vater ist eine Erfindung. Ich hatte keinen Vater. Nie. Ich habe keine Mutter. Mehr. Ich bin nichts. Ich bin nicht. Ich bin Hamlet. Mein Autor gab mir die Waffe. Mit ihr werde ich ihn töten, meinen Autor. Ich gebe ihm den Gnadenschuss. Ich verspeise ihn mit Leib und Seele. Ich verlasse das Gefängnis seiner Worte. Die Erfindung sagt ihrem Erfinder Adieu. Die Puppe zerschneidet die Fäden, die sie führen.“ 265
Die Aufforderung, sich gegen die Autorität, gegen die Fremdbestimmtheit, gegen das System, gegen den König dieser oder jener Welt aufzulehnen, richtet sich an den Zuschauer. Der einzige Originaltext aus Shakespeares „Hamlet“ ist der von Horatio, dem einzigen Überlebenden der Tragödie. Dieser wurde von einem Zuschauer, den eine Spielerin auswählte, am Ende der Inszenierung laut vorgelesen. Ihr, die Zuschauer, seid Horatio! Sie sind Horatio. Sie überleben den Abend nicht wir. Sie Horatio die Überlebenden Zeugen der Bluttat waten durch Lachen aus Blut und Leiber worin die Sonne am Mittag brütet Maden. Sie Horatio bezeugen die alte Zeit. Sie Horatio zeugen die neue Zeit. Sie brechen das Schweigen erlösen aus Stummheit und Blindheit Worte voll Wahrheit. Sie Horatio Sie die Überlebenden Sie die Lebenden Sie die Liebenden die lieben die Spieler die spielen das Stück für Sie. 2008 266
27.1.2008, Kalk Nein. Das Theater ist nicht gescheitert an der Realität.9 Es hat sich ihr verschlossen. Es hat sich eingesperrt in einen Raum während draußen das Leben tobt. Es hat nicht weggeschaut. Es hat nicht hingeguckt. Es war mit sich beschäftigt. Schon wieder einmal. Ich bin auf dem Weg zur Halle in Kalk. Kalker Hauptstraße. Immer mehr Polizei. Eine Hundertschaft. Helme. Dann ein Mikrofon. Jemand redet vor einigen Hundert Demonstranten. Die Versammlung wird von der Polizei abgeriegelt. Damit der Verkehr weiter fließen kann. Seit einer Woche ist es jeden Abend dieselbe Veranstaltung an dem Ort, wo ein 16-Jähriger Marokkaner von einem zwanzigjährigen Deutschen durch einen Stich mit einem Klappmesser ins Herz niedergestochen wurde und am Tatort starb. Er hatte den Deutschen überfallen, angegriffen und ausrauben wollen. Nun wieder Halle Kalk. Hamlet. Als Solo mit Fabian Hinrichs in der Regie von L. Chétouane. Spärliche Zuschauer. Kahle Bühne. Hinrichs sagt Shakespeare-Worte. Es ist mehr eine öffentliche Probe. Hamlet ist der Schauspieler Hinrichs. Hamlet ist ein Schauspieler, der zögerlich über seinen Beruf reflektiert. Das Theater ist das Thema des Theaters. H. ist nicht ein Prinz, der im Staate Dänemark an den Mauern scheitert. Er ist lediglich ein Schauspieler, der am Schauspiel scheitert. Ich bin im Saal. Mit meinen Gedanken aber schnell wieder auf der Straße, wo ein Mensch einen anderen Menschen niederstach. Schade. Shakespeare hat die ganze Stecherei, in der die Falschen sich niederstechen, auch zwei junge Männer, kaum älter als der Deutsche und der Marokkaner, niedergeschrieben. Und auch wie diese scheitern sie an einer Welt, die ein Irrgarten geworden ist, aus dem es kein Entrinnen gibt. Davor: Hamlet: Mich interessiert, weshalb H. so geworden ist, wie er ist. Was war seine Kindheit? Die Rolle der Mutter? Wo war der Vater? Wer hat ihn erzogen? Wer ist Jorrick? Kann er sich aus der Zwangsjacke der Kindheit befreien? Ist 267
er determiniert durch Ort und Zeit? Welcher Weg führt in die Freiheit? Ende: Show-down. Danach: Der kleine rote Prinz: Was geschieht nach dem Märchen? Aschenputtel heiratet den Prinzen. Der wird König. Sie verlernt das Gehen. Die beiden bekommen einen Sohn. Der König verlässt sie. Der Prinz wächst ohne Vater auf. Er ist das Resultat des Zwistes zwischen den Eltern. Am Ende sagt er: Macht sie alle tot. Beide: Prinzen wachsen ohne Vater auf. Am Ende der Handlung sterben sie durch Gift oder Selbstmord. Beide schicken vorher noch andere in den Tod. Beide konnten sich der Väter nur durch den Tod entziehen. Für beide führt der einzige Weg in die Freiheit gleichsam in den Tod. 2009
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XV.
So wenig wie das Kind weiSS dass es ein Kind ist weiSS der Horizont dass es ihn gibt, wirklich gibt.
Alle reden über ihn. Alle blicken oder starren ihn an, auch mit dem Fernglas. Alle laufen auf ihn zu und doch trifft er niemanden. Immer bleibt er allein. Manche stehen auf ihm sie tun es nicht wirklich er ist dann wieder woanders. Das ist sein Schicksal. Nie ist er hier. Immer nur da. 2004 „Der König ohne Reich“ U 2010 1.1. 2005 Schön, dass ihr da seid! Wie heißt ihr? Haben wir uns nicht schon mal gesehen, im Saturn, im Kino? … Techniker macht Zuschauerlicht aus. Nein! Mach’s wieder an! Ich seh sie nicht mehr! Ich bin dann so allein! Seid ihr noch da? (Er ruft Vornamen? Versucht sie zu erblicken. Ohne euch bin ich nichts. Ein Fußballspieler ohne Fans. Ein Spiegel, in den niemand schaut. Ein Radiosprecher, niemand hat eingeschaltet. Ein Lehrer ohne Schüler. Ein Maler ohne Bild. Eltern ohne Kinder sind keine Eltern, nur ein Paar. Ein König ohne Reich ist kein König, ist arm wie eine Kirchenmaus – die hat wenigstens noch Kirche, auch wenn es da nichts zu essen gibt. 270
Ein leerer Geldbeutel, Geldbeutel? Ist ein Beutel? Wir lassen das Licht an. Ihr seid wirklich. Mich gibt es nicht ohne euch. Nur wenn ihr an mich glaubt, gibt es mich. Wenn ich nicht bin/nicht hier bin, seid ihr umsonst (hier). Nur wenn ich jemand bin/seid ihr wer: Zuschauer. Schon wenn einer hustet, freue ich mich. Handy an: kein Problem. Blitzlicht: kein Problem. Zu spät kommen: OK. Zu früh gehen: Katastrophe, einer ist OK; mehrere, immer mehr, umso weniger bin ich; alle, dann bin ich nichts. ENDE: zusammen etwas machen, erleben = das größte Klatschen, husten: Wir sind nicht allein, einsam. Der König ohne Reich Da kommt der Morgen. Hinterher der Tag. Sie treten aus dem Haus der Nacht. Die schließt die Tür hinter sich. Der Morgen führt den Tag ins Licht. Dann geht er seiner Wege. Der Tag legt sich in die Sonne. Er studiert den Flug der Schwalben. Oder er rudert über den See. Oder er mäht das Gras. Oder verbrennt das Laub. Oder er haut mit einem Stock die Eiszapfen von der Dachrinne. Je nach Lust und Laune und nach Jahreszeit. Meist tut er all das nicht. Und er geht einfach schnell vorbei. Da ruft ihn schon der Abend. Er folgt dem Abend in die Nacht. Sie bettet ihn zur Ruh. Sie flüstert Veilchen in sein Ohr. 271
Sie wiegt ihn in den Schlaf. Sie löscht das Licht. Auf der Holzbank der Veranda Sitzen Morgen, Abend und Nacht. Stumm wachen sie über den Schlaf des Tages. 2009 Montagmorgen Der König ohne Reich Eines schönen Morgens wurde er wach, und alles war weg: sein Bett, sein Schlafzimmer, sein Thron, die Königin, seine Frau (seine Frau Königin), der Prinz und die Prinzessin, seine Kinder, sein Schloss, seine Bediensteten, sein Volk, sein ganzes Reich. Nur die Krone war geblieben, weil er abends vergessen hatte, sie abzusetzen. Er blickt um sich. Er rief in alle 4 Himmelsrichtungen. Dann hielt er den Finger in den Wind, und weil es ein schöner Tag war, zog er mit dem Wind los. Es war auch nicht schlimm, wenn der Wind die Richtung wechselte. So zog er in die Welt. Und er wusste nicht, wo die Grenzen seines Reiches waren, wenn er einen Wald durchquerte, einen Fluss durchwatete oder über einen Berg schritt. Und wen er auch fragte, niemand wusste etwas von seinem Reich. Es wurde Abend. (Le roi arrive et avec le soir, la fatigue arrive.) Er wurde schon müde. Da sah er eine verlassene Herberge in der Ferne (le lointain). Er klopfte an die Tür, und es wurde ihm aufgetan. „Guten Abend, bin ich der König. Ich habe mein Reich verloren. Heute morgen, als ich aufwachte, war es fort. Nur die Krone ist mir geblieben, weil ich vergessen hatte sie auszuziehen.“ – „Solche Kronen findet man auf jedem Flohmarkt und in jedem Theater.“ (Alle stehen an der Tür.) „Vielleicht hat er sie einem echten König gestohlen.“ „Das war ein Witz.“ „Setz dich zu uns und iss eine warme Suppe mit uns.“ – „Und wer seid ihr?“ „Ich bin der Bauer ohne Kühe.“ „Ich bin der Kapitän ohne Schiff.“ 272
„Ich bin die Lehrerin ohne Schüler.“ „Ich bin das Kind ohne Eltern.“ „Ich bin der Zoodirektor ohne Tiere.“ „Bei uns bist du richtig. Hier ist ein Bett.“ „Aber vergiss nicht wieder, die Krone abzusetzen.“ „Dann erkälte ich meinen Kopf.“ Der Kapitän gab ihm seine Kapitänsmütze, um ihn zu beruhigen. Dann schlief er ein. Am nächsten Morgen wurde er wach, und alles war weg: sein Bett, die Kajüte, das Schiff, der Hafen, das Meer … 2009
„Der König ohne Reich“
Fatma Girretz erinnert sich Im Frühjahr 2009 hat Marcel einen kurzen poetischen Text geschrieben. Diesen „König ohne Reich“ möchte Marcel nun inszenieren. Sechs Spieler sind dabei. Viola, Kurt, Line, Sascha, Karen und Volker. Zur ersten Ausfahrt wird zudem Katja als Musikerin dabei sein. Wie immer gibt es für die erste Woche Aufgaben an alle Mitwirkenden: eine Ich-Geschichte aus der Kindheit oder Jugend: „Wann war ich der König ohne Reich?“, ein Lied aus der Kindheit sowie einen szenischen Vorschlag: 273
„Auf wen trifft der König unterwegs?“ Soweit alles wie immer, wenn die AGORA ein Projekt startet. Abgesehen von der Krankheit, die Marcel nun seit ein paar Monaten auf Schritt und Tritt begleitet. In einem kleinen belgischen Dörfchen in den Ardennen, fernab vom Alltag, verbringt das Ensemble viel Zeit in der Natur, im Wald und auf Feldern. Sie erzählen sich ihre mitgebrachten Ich-Geschichten zum Thema „Verlust“. Mit den Elementen der Natur gestalten sie spielerisch erste Begegnungen des Königs mit anderen Lebewesen, mit Hunden und Waldwesen, mit einem Kind, einem Rehbock und mit zwei Zöllnern. Volker und Sascha haben passenderweise ihren Szenenvorschlag an eine rot-weiß-gestreifte Wegschranke verlegt. Die zweite Arbeitswoche verbringen meine Kollegen ähnlich abgeschottet in der deutschen Eifel. Neben Katja ist nun auch Sabine als Malerin dabei, sie wird die Proben skizzieren und soll das Plakat entwerfen. In einer Improvisation von Line und Kurt taucht plötzlich eine schwarze Katze auf, die fortan beharrlich um sie herumstreicht. „Ich möchte eine Katze in dem Stück“, entscheidet Marcel. Und der Werbekalender des Versicherungsmaklers Lenz und Reusch gibt dem Zöllnerduo seinen Namen. Auch machen sie eine letzte gemeinsame Wanderung durch die sommerliche Eifel. Dass es die allerletzte mit Marcel werden würde, haben sie wohl alle intuitiv schon gespürt. Bevor Marcel mir im September vorschlägt, seine Assistentin zu werden, haben er und die sechs Spieler also schon Einiges zusammen erlebt. Wir treffen uns einige Male in Köln. Dazu nehmen wir uns viel Zeit. Ich frage, Marcel erzählt. Ich notiere, was zu tun und organisieren ist bis zu den Proben. Auch treffen wir gemeinsam Céline, die ihr Interesse angemeldet hat, für die AGORA ein Bühnenbild zu entwerfen. Einen Bühnenbildner gibt es schon: Pierre, der langjährige Freund und Weggefährte Marcels. Jedoch kann sie eventuell an der Requisite mitarbeiten. So erhält auch sie gleich eine Aufgabe: eine fahrbare Schranke für die Zöllner zu bauen. 274
Kurz vor den Oktoberproben wird plötzlich klar, dass wir ohne Marcel beginnen müssen; er muss zur Behandlung. So diktiert er mir seinen Aufgabenkatalog. Eine seiner szenischen Aufgaben an uns: „Der König trifft auf fünf andere Könige, die seit jeher zusammen unterwegs sind“; das Ganze mit Bewegung und einer Portion Humor. Als Marcel und Viola am Freitagnachmittag unangekündigt vor uns stehen, ist die Freude – und unsere Erleichterung – groß. Wir zeigen ihnen die entstandenen Vorschläge. Marcel schmunzelt. Und entscheidet sich für Lines Vorschlag zur Weiterarbeit. Ein dreister Pulk, diese fünf Könige, die unseren etwas naiven König ohne Reich hänseln, ihm frech seine Krone vom Kopf stibitzen und sie sich über ihn hinweg weiterreichen! „Ist die schön, wie die glänzt. So beautiful. Amazing. Que bella …“ Ausgehend von den schon gesammelten Inspirationen hat Marcel an dem Stücktext weitergedichtet. Aus den flüchtigen Improvisationen der ersten beiden Wochen sind Szenen und Dialoge entstanden, die Katze ist zur dauerhaften Wegbegleiterin des Königs geworden, die Herberge füllt sich mit Menschen, die den Geburtstag des Königs feiern und ihm ein Ständchen darbringen. Auch an dem Bühnenbild haben Marcel und Pierre weitergearbeitet und können uns eine konkretere Idee präsentieren: Eine kreisrunde Arena soll entstehen, in der Zuschauer und Spieler gleichermaßen Platz finden. „Der Kreis ist die Welt. Der Weg ist, durch die Welt, durch das Leben gehen. Leben ist Bewegung.“ Am Ende dieser Probeneinheit sind wir szenisch sowie musikalisch einen großen Schritt weitergekommen. Und alle sind wir zuversichtlich. Zu Beginn der Novemberproben markieren wir mit weißem Klebeband einen großen Kreis auf dem schwarzen Holzboden. Ab sofort finden alle Szenen nur noch im Kreis statt. Eine erst noch sehr provisorische Collage entsteht aus den Szenen und szenischen Ansätzen der vorherigen Einheiten. So starten wir zum ersten Mal „von vorne“ und arbeiten uns durch das entstehende Stück durch. Den Prolog zum Stück möchte Marcel sprechen, rein zufällig zeichnen wir ihn auf 275
dem Loopgerät auf. „Da kommt der Morgen. / Hinterher der Tag. / Sie treten aus dem Haus der Nacht. / Die schließt die Türe hinter sich (…)“ Zu einer der Begegnungen des Königs, die das Ensemble aus den Wäldern der belgischen Ardennen mitgebracht hat, schreibt Marcel folgenden kurzen Satz: „Er (der König) traf auf einen eitlen Bock, um den herum drei Rehe tanzten. Das ganze war ein Ballett.“ Von Kurt, Viola, Karen und Line wünscht er sich nun: „Es soll schön sein. Ich weiß nicht, was es soll, aber es soll schön sein. Das reicht mir.“ Eine herrliche Improvisation entsteht: Um den „eitlen Bock“, der mit geschwellter Brust im Mittelpunkt der Arena mit Kusshänden um sich wirft, tänzeln anmutig die drei „Rehe“ und bestäuben sich mit wohlriechenden Düften. „Wenn ich ein Vöglein wär“, eines der mitgebrachten Lieder, wird nun im Kreis gesungen zu unserem provisorischen Schlusslied. Es war das Lied, das Marcels Mutter so gerne gesungen hat. Am Ende der Woche sind wir um eine erste Collage reicher. Und wir werden einige Fragen und viele Erkenntnisse in die nächste Einheit mitnehmen. Auch außerhalb der Probeneinheiten inspiriert sich Marcel gerne in und an der Natur für seine Theaterarbeit. Daran ändert auch sein Gesundheitszustand nichts. Ganz im Gegenteil. Oft nimmt er mich mit auf seine Spaziergänge durch den nahegelegenen Königsforst. So auch an einem herbstlichen Tag Ende November. Auf einem seiner Spaziergänge hatte Marcel eine vom Sturm umgeknickte Fichte gesehen, die er sich gut als stacheligen „Einbaum“ für die jodelnden Wikinger vorstellen kann. Forschen Schrittes eilen wir durch den Wald und finden den Baum kurz vor der Dämmerung wieder. Ein wenig stolz und aufgekratzt spielt Marcel einen der rudernden Wikinger mit seinen Trekkingstöcken. Als am 10. Dezember mein Telefon klingelt, ahne ich nichts Böses. Viola. Marcel sei im Krankenhaus. Zwei Tage später starten wir die Dezembereinheit. Ohne Marcel. Wir proben und tauschen uns aus, wir arbeiten viel, 276
intensiv und gewissenhaft. Das, so spüren wir intuitiv, ist Marcels Wunsch. Das ist unser bescheidener Beitrag für sein Wohlbefinden, der einzige, den wir zurzeit leisten können. Während das Ensemble in St. Vith weiterarbeitet, bin ich am 18. Dezember zu Gast in Köln-Merheim. Das sterile Zimmer am Ende des Gangs hat Viola dekoriert und fast wohnlich eingerichtet. So häuslich man ein Krankenhauszimmer einrichten kann. Mein erster Blick fällt auf die Blumen am Fenster und die zwei riesigen Islandfotos an der Wand am Fußende des Bettes. Im Bett Marcel, schmal mit großen Augen, blass. Das Atmen fällt ihm schwer. Zunächst hören wir uns die mögliche Schlussmusik an. Sie gefällt ihm sehr! Dann berichte ich Marcel sehr ausführlich von der Woche und von dem, was entstanden ist. Reden und Schweigen wechseln sich ab. Mittlerweile ist die Sonne weitergewandert und scheint durchs Fenster direkt auf Marcels Bett. Wie sehr er die Sonnenstrahlen genießt, die seine Nasenspitze kitzeln. Dann muss ich los, zum Abschied ein Kuss, eine Umarmung, ein Blick. Fast schon aus der Tür heraus drehe ich mich noch einmal zu Marcel um, Marcel, der mich nicht aus den Augen gelassen hat. „Danke. Danke, Marcel. Danke für alles.“ Er erwidert meinen Blick. Etwas erschöpft lächelt er mich an und mir nach, während die Tür leise hinter mir ins Schloss fällt. Zurück in Belgien werden wir, die „AGORA ohne Marcel“ ein paar Stunden lang reden, sehr offen und ehrlich, mitunter zögerlich und ängstlich, doch auch mutig und entschlossen. Am Ende des Abends entscheiden wir einstimmig, dass wir weitermachen werden. Gleich am nächsten Morgen machen wir uns wieder an die Arbeit. Am 20. Dezember klingelt das Telefon. Viola. Marcel ist heute Morgen gestorben. Auf Marcels Anraten hin verschieben wir die Premiere des Stücks auf Mai. Bis dahin bleibt vieles zu tun. Jedoch hat Marcel uns das Grundgerüst dagelassen, auf dem wir auf- und weiterbauen werden. So behutsam wie möglich gehen wir mit dem Textfragment um; Einiges muss jedoch ergänzt und umgestellt werden. Neue Szenen müssen 277
noch improvisiert, Übergänge erst gefunden werden. Am 20. Mai 2010 ist es soweit. Zu den letzten Noten des Schlussliedes propellern die Ahornsamen über die Köpfe der Zuschauer auf den Boden. Black. Wir haben es geschafft. „Der König ohne Reich“ ist Marcels Abschiedsgeschenk an uns, seine AGORA.
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XVI.
Die Lyrik geht an Orte, ohne Worte. Erst wenn sie angekommen sind da Worte. Vorher werden sie wortlos unsäglich. (nach Rilke-Lektüre)
„Was ist ein Dichter?“, fragt das Kind den Dichter. Er legt den Stift beiseite, steht auf vom Arbeitstisch und sagt zum Kind: „Komm wir gehen nach draußen.“ Sie gehen spazieren. „Sieh dort, die Wolken am blauen Himmel, bald wird es regnen. Noch ist die Sonne da. Die Schwalben fliegen schon tief. Die gelben Blumen ahnen noch nichts vom Regen. Und dem Schornstein von der Fabrik ist es egal, ob es regnet oder schneit, er bläst seinen grauen Rauch unentwegt in den blauen Himmel. Dort hinten eilt ein Krankenwagen zum Haus am Waldrand, vielleicht ist der alten Frau etwas passiert. Die Elstern schackern unentwegt. Sie machen sich lustig über alles um sie herum. Sicher sehen sie uns, wie wir so die Straße lang gehen. Da ein Blitz, ein Donner, ein Gewitter. Die ersten dicken Regentropfen. Schnell ins Häuschen der Bushaltestelle. Sofort füllt sich die Regenrinne. Das Netz der Spinne wird durchlöchert. Ein dicker Käfer zappelt auf dem Rücken. Die Kühe stehen regungslos auf dem Feld. Sie haben aufgehört zu kauen. Die Tropfen perlen ab von ihnen. Die Blitze krachen. Dann ist es vorbei. Der Regenbogen spannt sich vom Wald, da wo der Krankenwagen steht, über das Dorf hinüber zur Fabrik mit dem langen Schornstein, der weiter grauen Qualm in den Himmel bläst. Der Regen hört auf. Durch die Augen und die Nase und die Ohren und den Mund ist das alles in mich hineingegangen geradewegs in meinen Kopf und mein 279
Herz. Manchmal ist es so viel, dass ich fast platze. In mir drin versuche ich es zu ordnen. Bevor das alles platzt, muss es raus. Dann setze ich mich an mein Schreibpult und schreibe ein Gedicht, ein Lied, eine Erzählung oder sogar einen Roman. 2006 Regen ist dann und nur dann Regen wenn er fällt.
Regen ist zwischen Himmel und Erde. Vorher ist er Wolke, nachher Pfütze. Das alte Jahr ist im Regen ersoffen. Sparen wir uns also unsere Tränen. 2007 Der Junge, der das Weinen verloren hat Alle sind ratlos. Als Baby so laut geschrien, gebrüllt. Ganze Nächte. Mittelohrentzündung. Die ersten Zähne. Auch noch mit vier Jahren. Wo hat er sein Weinen verloren? Wir müssen es da suchen, wo es verloren ging. Vielleicht produziert er keine Tränen mehr. Sie sind zum Arzt gegangen. Er hat ihn untersucht. Es fehlt ihm nichts. Zwiebeltest. Tränen kommen. Aber das ist nicht Weinen. Mutter zum Vater: Du bist schuld. Du hast ihm das Weinen untersagt. Du hast immer gesagt, wenn er hinfiel, nicht weinen, aufstehen und weitergehen. Du hast gesagt, ein echter Mann zeigt keine Tränen. So ein Blödsinn. Aber vielleicht weint er heimlich. Im Verborgenen. Nachts, wenn alle schlafen. Im Dunkeln. Wenn er allein durch den Wald geht. Wir müssen ihn beobachten. Es ist so lange her, dass er nicht mehr weint, dass manche sich nicht mehr erinnern. Es gibt welche, 280
die weinen ständig. Wenn sie an die Robbenbabys denken, die erschlagen werden. Dann starb zuerst die Oma, dann der Opa. Er hat als einziger nicht geweint. Alle haben am Sarg geweint. Es hat geregnet in Strömen. Und wir dachten, der Regen sei Tränen. Aber es war nur Regen. Der Himmel hat geweint, nicht er. Später wurde sein Teddybär vom Auto überrollt und der Kopf war ab. Selbst da hat er nicht geweint. Wir müssen ihn zum Weinen bringen. Wie? Mit trauriger Geigenmusik. Ich könnte eine Herdplatte anlassen. Er verbrennt sich die Finger. Dann wird er weinen. Jeder weint, wenn er sich die Finger verbrannt hat. Riskier das, dann ist es aus zwischen uns beiden. Wir sperren ihn in einen dunklen Schrank. Da habe ich als Kind immer geweint. Wir erzählen ihm eine traurige Geschichte, z. B. vom Kind und dem Schneeball und der Kuh. Wir erzählen ihm eine traurige Geschichte mit Geigenmusik. Wir zeigen ihm Bilder von Kindern, die weinen. Wir können ihm vorweinen. Er hat wahrscheinlich vergessen, wie es geht. Im Kino weinen alle. Wir gehen ins Kino. Wir probieren es mit der Tränentherapie. Wir mischen Tränen unter die Milch. Das wirkt wie Medizin. Wie ist die Aufführung? Vielleicht merken sie irgendwann, dass er auch nicht lacht. Vielleicht hat er kein Mitleid. 2008 Ich kannte einmal einen kleinen Jungen mit abstehenden Ohren. Mit dem Schatten meiner Flügel berührte ich seine Ohren, wenn er zur Schule ging. Auf dem Schulhof hänselten ihn alle Gretel und alle Hanse schossen Steinchen und Kirschkerne nach seinen Ohren, die so ab281
stehend waren. Da stand er dann stumm mit hochrotem Kopf und hängenden Armen im Schatten der Linde. Und der Schleim aus der Nase lief in seinen Mund. Wie er so stand, kam die kleine Marie, reichte ihm eine Handvoll Gänseblümchen, die sie gepflückt hatte auf der Kuhweide ihrer Eltern, bevor die Kühe sie fraßen. Er steckte sie wortlos in den Ranzen, dass es niemand sah. Er war schlecht in Kopfrechnen und Diktat. „Du Esel“, rief der Lehrer und zog ihn an den Ohren zur Tafel, wo er hinknien musste neben dem Eimer mit dem Schwamm. Zu Hause trocknete der Junge die Gänseblümchen in alten Telefonbüchern. „Wir müssen uns entscheiden“, sagte die Mutter, wenn sie mit dem Waschlappen Schmalz aus seinen Ohren wusch. „Es ist zu spät“, sagte der Vater. „Das ist nun eine richtige Operation.“ Nachts lag der kleine Junge mit den abstehenden Ohren wach. Er dachte an den dunklen Tannenwald, worin Wolf und Bär wohnen. Und so nahm er sich ein Herz und ging eines Tages nach der Schule in den dunklen Wald. Im finstersten Dickicht sah er die funkelnden Augen vom Wolf. „Kannst du mir ein Ohr abbeißen?“, fragte er den Wolf. „Nichts leichter als das“, erwiderte dieser. „Bück dich.“ Und der Wolf biss ihm das eine Ohr ab, so geschickt, dass es kaum blutete. Der kleine Junge bedankte sich beim Wolf und ging weiter. Auf der Lichtung traf er den Bär, den er höflich bat, ihm das andere Ohr abzubeißen. Der Bär richtete sich auf und schlug mit seiner Tatze das andere Ohr vom Kopf. Er war dabei so ungeschickt, dass er ein Stück der Kopfhaut mit samt den Haaren abriss. Es blutete heftig. Der Bär entschuldigte sich und reichte dem Jungen Moos, das solle er auf die klaffende Wunde pressen. Da hörte das Bluten auf und nach einigen Wochen vernarbte die Wunde. Da ging der Junge zurück in sein Dorf. 2002 282
Ich hatte ihn gewarnt. „Bleib aus dem Dorf. Du weißt, was dort passiert. Leg dich in deinen Bau und warte ab, dass sich deine Augen schließen für immer.“ Aber seine Krankheit war schon so fortgeschritten, dass er meine Stimme nicht mehr erkannte. Er lief los. Ich begleitete ihn und ließ mich auf dem eingerosteten Wetterhahn der Dorfkirche nieder. Es war ein brütend heißer Spätseptembertag. Die Ernte war eingefahren. Das Dorf döste, so als erholten sich alle von der Feldarbeit, bis zum Winter. Kein Windhauch. Kein Wölkchen am Himmel. Kein Traktorengeräusch. Bis zu dem Zeitpunkt, wo er in der Nähe eines Gänsegeheges gesehen wurde. Großes Geschrei brach los. Im Nu war das ganze Dorf in Aufregung. „Er ist im Dorf!“ „Die Tollwut!“ „Die Tollwut ist im Dorf!“ Die herbeigerufenen Dorfpolizisten sollten sicherheitshalber die Gänse erschießen. Obwohl die Gänse keinerlei Spuren eines Kampfes oder einer Verletzung trugen, erschoss ein Bauer sie mit seiner Flinte, nachdem die Polizisten mit ihren Dienstpistolen mehrfach daneben gezielt hatten. Im Unterdorf sah ich, wie er einem dicken Jungen folgte. Dieser lief schreiend in den Kuhstall. Vom Geschrei des Jungen und der herbeieilenden Nachbarn erschreckt, lief er zum nahen Dorfbach, wo es sich in der Kanalröhre versteckte, die von der Straße zum Bach führte. Die Röhre wurde von den Bauern oben und unten verriegelt, so dass er in der Falle saß. Im Nu versammelte sich die versammelten sich die Männer des Dorfes an der Röhre. Frauen, Kinder und Alte mussten fernbleiben. Die Hofhunde wurden eingesperrt. Der Wirt brachte zwei Kasten Bier. Alles redete durcheinander. Von Vergasung war die Rede. Und dass man alle ausrotten müsse. Ich hatte ihn gewarnt. Ein Traktor mit einem Wasserfass auf der Karre näherte sich. Während oben das Wasser in die Röhre gelassen wurde, lauer283
ten unten die Bauern, bewaffnet mit Flinten, Mistgabeln und Knüppeln. Nichts geschah. Er hatte dem Druck des Wassers widerstanden. Ein zweiter Traktor mit einem Güllefass näherte sich und mit Hochdruck wurde die zähflüssige Gülle ins Rohr gepumpt. Warten. Alles hielt den Atem an. Nach einer Zeit wie eine Ewigkeit schob die Gülle ihn rückwärts aus der Röhre. Die Gülle hatte ihn gerade halb aus der Rohre gedrückt, als ein Bauer vorsprang und ihm die Mistgabel durch den Rücken in den Leib bohrte. Der Schmerz krümmte und drehte ihn mit der Mistgabel im Leib. Er verbiss sich in den Stiel der Gabel. Mit ihren Knüppeln haben die Bauern dann so lange auf ihn eingeschlagen, bis sich nichts mehr regte. Er wurde in eine alte Düngertüte gesteckt und den Polizisten überreicht. Die Polizisten gaben den Bauern und dem Güllefass einige Geldscheine: die Kopfprämie. Nach und nach beruhigte sich alles und ging auseinander. Nur ein Junge, vielleicht 14 Jahre alt, blieb noch eine Weile zurück. Regungslos vor der Röhre, aus der noch immer die zähflüssige Gülle quoll. 2002 Im Wald ist schlechte Stimmung. Es geht das Gerücht um, der Bär habe eine Todesliste. Die Stimmung wird nicht besser. Da geht der Hirsch zum Bären und fragt: Stimmt es, dass du eine Todesliste hast? Das stimmt, sagt der Bär. Steh ich auch drauf?, fragt der Hirsch. Ja, du stehst drauf, sagt der Bär. Am nächsten Tag liegt der Hirsch mit gebrochenem Genick neben der Eiche. Die Stimmung wird schlechter. Geht der Wolf zum Bären und fragt: Hast du eine Todesliste? Ja! Sagt der Bär. Steh ich auch drauf? Der Bär sieht nach und sagt: Ja, du stehst auch drauf. Am nächsten Tag liegt der Wolf aufgeschlitzt im Unterholz. Die Stimmung bleibt schlecht. 284
Geht der Hase zum Bären und fragt, ob er eine Todesliste hat. Ja, sagt der Bär. Steh ich auch drauf?, fragt der Hase. Der Bär sieht nach und sagt, ja, du stehst auch drauf. Kannst du mich streichen, fragt der Hase. Ja, sagt der Bär, kein Problem. Danke Bär, sagt der Hase und geht. 2007 Es gibt einen Wald, in dem leben alle Tiere. Zusammen. Da wohnt auch ein Hase (der von allen „Lümmelmann“ genannt wird), weil er ein Lümmel ist. Er hat die Angewohnheit, alle Tiere nachzumachen, besonders die großen. Das ist ärgerlich. Manche lachen darüber. Andere ärgert das. Vor allem die großen. Tagtäglich beklagen sich Tiere beim König, dem Löwen. Der Löwe verspricht, die Sache zu untersuchen. (Wer weiß, vielleicht würde es ihm auch passieren, denkt er sich.) Er legt sich auf die Lauer. Er sieht den Tiger, und tatsächlich, hinter dem Tiger her tigert der Hase wie der Tiger. Aha! Die Affen hangeln durch die Bäume, schreien wild, schneiden Grimassen und tatsächlich, unten sitzt der Hase, hüpft herum und äfft die Affen nach. Der König der Tiere tritt hervor und ruft den Hasen zu sich: Hase! Herkommen! Pfötchen zeigen! Löffel spitzen. Das hört sofort auf. Du bringst alles durcheinander. Noch einmal, dass ich was Schlechtes höre, und du bekommst drei Monate Waldverbot. Gut! Versprochen! Der König geht und versteckt sich im Gebüsch. Der Hase sitzt auf der Lichtung. Ein Reh hüpft vorbei. Der Hase hüpft hinter dem Reh her! Das Reh wackelt mit dem Schwänzchen. Der Hase wackelt mit dem Schwänzchen, blickt scheu nach links und rechts, macht einige Sprünge und schlägt scheu die Augen, genau wie das Reh. Der König tritt hervor: Hase! Herkommen! Der Hase: Sofort! Da bin ich! Weiß schon! Pfötchen! Löffel! König: Hiermit erteile ich dir drei Monate Waldverbot, und 285
wage es nicht, die Regel zu brechen, du weißt, was dann passiert. Der Hase hüpft aus dem Wald. Er sitzt am Waldrand, wo die Jäger lauern und fürchtet sich. Fürchterlich. Der Igel kommt vorbei. Der Hase zum Igel: Du musst mir helfen. Ich will in den Wald und darf nicht. Ich hefte mein Schwänzchen an einen Stachel, mache mich klein und du ziehst mich in den Wald, niemand wird es sehen. Der Igel zeigt ihm einen Vogel und geht. Da steht die Kuh auf dem Feld. Hase: Hey! Kuh! Du musst mir helfen. Ich will in den Wald. Du hast braune Flecken auf deinem weißen Fell. Ich hänge mich an einen Flecken, ich bin auch braun! Niemand wird mich sehen. Die Kuh sagt Nein, weil sie noch nie in den Wald gegangen ist. Und Angst vor ihm hat und auch schon lange nicht mehr über Zäune springt. Da kommt der Bär. Hase: Hey! Bär! Wir sind doch gute Freunde. Bär mit tiefer Stimme: Ja! Das stimmt, du bist mein bester Freund. Hase: Du musst mir helfen! Bär: Sicher helf ich dir! Wir sind alte Freunde! Hase: Bist du dicker geworden, Bär? Bär: Nein! Wie kommst du darauf? Hase: Du hast so Lappen unter den Armen! Bär: Ich hab immer Lappen unter den Armen! Hase: Dann hilf mir, du trägst mich in den Wald. Bär: Na klar! Hase: Gut! Ich klemm mich unter den linken Lappen von deinem Arm. – Gesagt! Getan! Der Bär geht in den Wald. Der König erscheint. K: Bär! Bist du bist du dicker geworden? B: Nein! K: Was ist das für ein Lappen unter unterm rechten Arm! B: So ein Lappen! Nichts Besonderes! K: Und was ist das für ein Knubbel unter dem linken Arm? B: (klopft mit Tatze 2 x auf Knubbel!) Das ist nichts, das ist ein Foto von meinem besten Freund, dem Hasen! Er zeigt dem König das „Foto“! 286
Liebe Gäste! Herzlich willkommen auf dem zwölften Theaterfest. Ich begrüße zuerst alle Hasen, sie sind die Theaterleute, die tigern wie Tiger und Affen nachäffen. Ich begrüße Sie in unserem Wald, in dem alle Tiere leben dürfen! Ich warne alle vor falschen mächtigen Bärenfreunden mit großer Tatze. Ich freue mich auf das tigern und äffen eine Woche lang. Wir werden niemanden beim König verpfeifen. Und wir wissen, dass kein Bär uns helfen kann. Wir wissen, dass nur wir selbst uns helfen können gemeinsam mit den Zuschauern. Guten Abend, liebe Zuschauer! Ohne euch sind wir einsam! Vielleicht ihr auch ohne uns! Und so leben wir eine Woche lang gemeinsam im Wald, in dem alle leben können. 1999
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XVII.
Wie kann ich gleichzeitig Mit dieser Gegend So verwurzelt sein und doch in einem so heimatlos. Bin ich der Baum? Bin ich das Blatt vom Baum?
Willkommen auf der Grünen Wiese Hier AGORA, das Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Guten Tag. Sie wollen zum zwanzigsten Internationalen Theaterfest? Das ist eine gute Entscheidung. Aha Sie kommen zum ersten Mal. Nein. Es gibt hier keinen Bahnhof. Nein. Auch keinen Hafen. Und auch keinen Flughafen. Wenn Sie zu uns wollen, brauchen Sie ein Auto, ein Rad oder ein Pferd, wenn Sie nicht gut zu Fuß sind. Ja, Sie müssen schon wollen. Nein, fragen Sie in St. Vith nicht nach dem Theater. Fragen Sie nach dem Chiroheim. Oder der MG. Oder der BS. Da warten wir auf Sie. Seit über zwanzig Jahren sozusagen. Und jetzt kommen Sie. Schön. Am Kreisverkehr mit dem blauen Hirsch biegen Sie ab in die Klosterstraße, da ist das Chiroheim. Nein der Hirsch ist nicht echt. Und fahren Sie ganz langsam durch die Hauptstraße, sonst ist sie schon zu Ende, bevor Sie es gemerkt haben. St. Vith ist eine ganz kleine Stadt. Unsere kleine Stadt. Wo die Deutschsprachige Gemeinschaft ist? Wo Belgien ist, wissen Sie? Gut. Ziehen Sie auf der Landkarte eine Linie von Trier nach Aachen, nach Maastricht, nach Liege, nach Luxemburg und wieder nach Trier. In der Mitte liegt die Deutschsprachige Gemeinschaft. Zuerst müssen Sie dunkle Fichtenwälder durchqueren oder ein einzigartiges Hochmoor überwinden. Nein. Es ist ungefährlich. Keine Wegela288
gerer. Keine Bären. Keine Wölfe. Aber seien Sie dennoch vorsichtig. Vielleicht ist ein Wildwechsel. Na was schon? Rehe, Keiler, Hirsche. Nein. Die Hirsche sind nicht blau. Wenn sie durch die Wälder durch sind, bzw. das Hochmoor überwunden haben, liegt vor Ihnen, na sagen wir eine riesige Wiese. Ein endloses Feld. Im Wilden Westen sagt man dazu Prärie. Und darauf gibt es über 200 Dörfer. Mindestens. Und zwei Städte. Unsere Hauptstadt und St. Vith. Die Kirchtürme und die Silotürme sind die einzigen Hochhäuser. Die Felder stehen voller bunter Kühe und Kälber. Nur wenige Stiere. Die Luft ist gesund. Auch das Wasser, das Klima und die Menschen. Nur die Straßen sind schlecht, aber schon besser. Und wenn Sie vom Rad oder vom Pferd steigen oder den Motor abstellen, das Wagenfenster runterkurbeln und einen Moment innehalten, dann hören sie einen der vierzig Musikvereine oder dreißig Chöre oder dreißig Theatergruppen, die gerade proben. Und überall hängen belgische Fahnen. Dann sind Sie in der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Wir nennen sie DG. Deine Gemeinschaft. Und wenn dann noch ein pinkfarbener LKW mit einem großen eingekreisten A Ihren Weg kreuzt, sind Sie so gut wie am Ziel. Nein. Es redet niemand Belgisch. Hier reden alle Deutsch. Alle Belgier reden Deutsch. Nein. Es gibt nur wenige Belgier. Es gibt in Belgien sehr viele Flamen und Wallonen. Viele Brüsseler. Die Hauptstädter sind zuerst Hauptstädter. Das ist hier nicht anders als bei den Wienern, Parisern und Berlinern. Und dann gibt es an die 70 000 Belgier deutscher Sprache. Wir und das Königspaar sind die letzten Belgier. Das nehmen wir ernst. Bierernst. Deshalb die Fahnen. Ja, Sie haben recht. Es ist nicht einfach zu verstehen. Wir müssen uns auch immer wieder erklären. Ja. Wenn Sie hier sind klären wir das. Gute Reise. Und seien Sie pünktlich. Die Eröffnungsrede beginnt 20 Uhr. In der MG. Maria Goretti. Nein. Nicht nach dem Theater fragen. Noch nicht. 2007
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Februar 2003 Oh du mein Eifelland mein Heimatland Es ist so schwer dich zu lieben Du bist so zerrissen Und zerreißt mein Herz mit Die knöchernen Höhen dornige Hecken zerfledderte Fichten Stacheldrahtzäune um dürftige Wiesen so dünn der Krumen so kalt der Wind und nass so schwer die Wälder und dunkel auch tags Kirchtürme wie Lanzenspitzen ragen sie in den zerfurchten Himmel wo sie aufspießen Wolken schwer wie Blei Die Menschen so stumm am Tresen so laut wo sie zerreißen das Maul sich mit glasigen Augen und reißen aus mit bloßen Händen Lunge und Herz aus der Brust. Oh du mein Heimatland So schwer dich zu lieben. Wo ist die Heimat Heimat ist ein Verb. Heimat ist wo ich nicht bin. Heimat ist die Sehnsucht nach Heimat. In der Heimat hört Heimat auf zu sein. Heimat hat keinen Ort. Heimat ist Bewegung. Heimat ist Ankunft und Aufbruch. 290
Heimat sind zwei Brüder. Zwillinge. Der eine will immer gehen, der andere will immer bleiben. So streiten sie ständig untereinander und kommen immer wieder an und müssen immer wieder fort. 2005 Heimat, das sind die Menschen, mit denen ich unterwegs bin und denen wir begegnen unterwegs also: Die sichtbaren Zuschauer. 2005 Manchmal denke ich, eine Flasche Rotwein ist meine Heimat. Für die Zeit, in der ich sie trinke. Am Grund angekommen, bin ich wieder heimatlos. 2005 Eine Geschichte vom 11.11. Der 11. November ist der Tag, als der Erste Weltkrieg offiziell zu Ende ging. Für Deutschland ist es der Tag der Niederlage, für Belgien ist es der Tag des Sieges. Jedes Jahr am 11. November wird in Crombach dieses Tages gedacht. Der Musikverein begleitet dann die Offiziellen, so auch den Kriegerverein, ein kleiner Haufen alter und krummer Kriegsveteranen, der von Jahr zu Jahr auf natürliche Weise kleiner wurde, zum Kriegerdenkmal auf dem Friedhof, wo der Gefallenen gedacht wurde. Unter ihnen war auch mein Opa Peter Hilgers. Am Kriegerdenkmal spielte dann der Musikverein die belgische Nationalhymne. Danach sangen die Alten „Der treue Kamerad“. Meinem Opa liefen dann dicke Tränen die Wangen runter. 2005 291
Donnerstag, 28.2. 1996, 12:30 nachts Mein Opa „Peter H“ war noch in Verdun. Die ganze Zeit. Er hat seinen Ausbildungsdienst in Berlin, Unter den Linden, in der Garde des Kaisers absolviert. Im Krieg Verdun. Meine Mutter hat es mir vor drei Tagen gesagt. Ein Weissager aus dem Dorf in der Nähe von Verdun hat ihm geweissagt, dass er den Krieg überlebt und nach Hause zurückkehrt. Für mich ist er es jetzt. Jetzt weiß ich mehr. Meine Mutter sucht nach Unterlagen. 10.2. 1995, Berlin, Kreativ-Haus Peter H. und Elisabeth H., geborene S., sind meine Großeltern. Beide sind in ihrem ganzen Leben nie verreist. Beide sind schon lange tot. Sie war Bäuerin, sie kannte alle Kühe ihres kleinen Bauernhofes sehr privat. Er war Eisenbahner. Und doch hat er in seinem Leben nie eine richtige Reise getan. Abgesehen vom Ersten + Zweiten Weltkrieg, die ihn nach Frankreich und an die Ostsee führten. Nach seiner Pensionierung, beschlossen meine Eltern, dass sie unbedingt verreisen sollten. Sie wehrten sich lange, willigten dann ein. Mein Vater brachte sie zum Bahnhof nach Lüttich, achtzig Kilometer von zu Hause. Ich durfte mit. Ich war sieben Jahre alt. Ich war noch nie auf einem Bahnhof. Wir betraten das große gläserne Haus und ich wurde ganz klein: dieses Menschengewimmel, alle sprachen Französisch, das ich nicht verstand, ich wusste damals auch noch nicht, dass es Französisch ist, die Durchsagen, die schwarze Lokomotive, der Rauch, ein schriller Pfiff. Der Zug fuhr ab. Ich sah noch einen Arm mit einem Taschentuch aus dem Waggonfenster winken. Ich begann zu weinen, weil ich dachte Oma und Opa 292
müssten nun sterben. Meine Mutter hatte uns erklärt, dass der Tod ein Abschied für immer sei. Ich habe die ganze Heimfahrt geweint. Nach drei Tagen standen Oma + Opa wieder vor der Tür. Er hat die Hitze nicht vertagen. Und sie hatte Sehnsucht nach ihren Kühen. Josefine C., geb. H., ist meine Mutter. Sie ist gütig. Gerecht. Sparsam. Freundlich gegen jedermann. Sie singt sehr gern. Beim Spülen. Backen. Sie sang die Schlager aus dem Radio mit. In der Kirche hörte ich ihre Stimme aus den anderen heraus. Das letzte Radio hatte einen Wettbewerb, bei dem man immer mehr Geld im Jackpot hatte. Der Sprecher sagte ein Wort aus einem Schlager und die Hörer konnten anrufen und mehrere Zeilen aus dem Lied singen, von dem sie annahmen, dass es zum Wort passte. Nie hat meine Mutter den Geldpott gewonnen, aber oft gesungen mit ihrer hohen Stimme. Da war sie sehr aufgeregt. Uns Kindern hat sie das Singen beigebracht. Sie hat uns am Bett keine Gute-Nacht-Geschichte erzählt, aber ein Lied gesungen. Vielleicht auch, weil es schneller ging. Der Tag in der Landwirtschaft war lang, und sie musste oft noch Strümpfe stopfen oder Pflaumen einwecken. Sie mochte nicht, wenn es laut und mit Gebrüll zuging. Wenn wir die Kühe von einem Feld zum nächsten durchs Dorf treiben mussten (Vater, Freddy, René und ich) meinte sie immer: „Brüllt nicht so, dass das ganze Dorf euch hört.“ Sie meinte nicht uns Kinder, sondern Vater, der auf dem Traktor das Wasserfass und den Trog hinter den Kühen herzog und uns Jungen Befehle zurief und die Kühe anschrie, wenn sie in eine Einfahrt oder auf ein fremdes Feld abbogen. Sie hasste Konflikte. Wenn Vater uns Jungen mit seiner Hand erziehen wollte, rief sie: „Nicht auf den Kopf! Nicht auf den Kopf!“ Wenn der geschwätzige Nachbar bei ihr in der Küche sitzen blieb und nicht aufhörte alles besser zu wissen, war sie so geduldig, bis dieser ging. Irgendwann. Einmal zu Ostern musste ich beichten gehen mit allen anderen, obwohl 293
ich nicht gesündigt hatte, nur weil sie keinen Krach mit dem Pastor haben wollte. Ich habe dann einige lässliche Sünden erfunden. Nach dem Essen war sie so erschöpft, da schob sie den Teller von sich weg mit den Unterarmen, verschränkte diese und mit den Worten: „E bessje nejpen“ legte sie den Kopf hinein um unmittelbar einzuschlafen. Die Oma und die Schwester räumten dann den Tisch ab, Vater schlief auf dem Sofa, der Opa in einen Sessel (Zeitung), der Nachbar im anderen Sessel. Wir lasen Bessy-Bücher. Wenn es dann klopfte an der Tür, schreckte sie hoch und war sehr beruhigt, wenn der Tisch leer war, oder sie schimpfte, dass noch alles so da stand wie vorher. Dann wurde schnell alles in das Spülbecken gestellt und nun erst durfte jemand von uns die Tür öffnen. Das wollte sie sich nicht nachsagen lassen. Zu Taufen, Hochzeiten, Jubiläen und Beerdigungen schickte sie Gruß- oder Beileidskarten. Mit den Viehhändlern, zwei gerissenen Brüdern, verhandelte sie den Preis einer Kuh oder eines Kalbes. Sie war unerbittlich und ärgerte sich, wenn mein Vater den beiden ein Stück Vieh ohne ihr Einverständnis viel zu billig überlassen hatte. Die Alten im Dorf sagten, das Theaterspielen hätte ich von ihr. Sie sei sehr gut im Auswendiglernen gewesen und habe immer die langen tragischen Rollen gespielt. „Genoveva oder die weiße Hirschkuh“ hieß so eine Tragödie. Da hätte der ganze Saal geweint. Wurde einer geköpft, haben sie hinter den Kulissen mit einem langen Messer eine Rübe zweigeteilt. Das war das Geräusch. Im Kuhstall bauten in jedem Sommer die Mehlschwalben an den Querbalken der niedrigen Decke ihre Nester. Man hätte problemlos mit der Hand hineingreifen können. Der Stall war dann leer. Wir hatten die Spritzer der Kuhscheiße, die bis zur Decke reichten, mit Wasser weggespritzt und weggekratzt und die Stallwände frisch gekalkt. Es roch dann streng nach Farbe und war angenehm kühl. Im Winter war die stickige Luft der Kühe oft so streng, dass es einem den Atem nahm. Im Winter sammelten sich auch die Katzen des Nachbarn im 294
Stall, jammerten so lange herum, bis meine Mutter ihnen eine Schüssel voll Milch reichte. Mein Opa schimpfte dann auf meine Mutter: „Lass es, sonst sind sie hier mehr zu Hause, als da wo sie hingehören.“ Es waren jämmerliche Figuren. Erbärmliche Exemplare dieser Spezies: struppiges Fell, tränende Augen, einäugig, zerbissene Ohren, eine hinkte, eine hatte keinen Schwanz, alles Inzucht und jedes Jahr wurden es mehr. Sie warfen die Jungen in der Scheune und ließen sich erst mit den Jungen sehen, wenn diese zu groß waren zum Ersäufen. Und niemand im Dorf wollte sie haben. Die eine mit dem grauen verklebten Fell legte sich im Stall hinter das gekippte Fenster auf die Mauer, durch das die Schwalben flogen, um zuerst die Nester zu bauen und dann die Jungen zu füttern, auf die Lauer, und so hat sie eine Schwalbe nach der anderen geschnappt und gefressen. Innerhalb weniger Tage. Die Jungen sind in ihren Nestern verhungert. Meine Mutter hat es zu spät spitzgekriegt. Als die Katze wieder zur Milch kam, ahnungslos, hat meine Mutter sie gepackt, in einen alten Getreidesack gesteckt. Die Katze im Sack war ganz still und ruhig. Sie hat den Sack zugebunden. In dem halben Ölfass, in dem das Regenwasser aus der Dachrinne aufgefangen wurde, hat sie den Sack mit einem Stab zum Treiben der Kühe unter Wasser gehalten. Am Anfang gab es heftigen Widerstand. Luftblasen stiegen hoch. Dann rührte sich nichts mehr. 2006 Neulich in Crombach Meine Mutter flüstert: Geh noch rauf bevor du gehst. Ich gehe ins Schlafzimmer meiner Eltern. Er liegt wach im Bett. Er blickt mich an. Ich bücke mich zu ihm und küsse ihn. Ich setze mich auf die Bettkannte. „Wie geht es dir?“ „Wenn ich das wüsste. Wenn es das Herz wäre, wäre das gut. Aber die Ärzte wissen nichts. Sie sagen mal so mal so. Das ist ganz schrecklich.“ Er weint dicke Tränen. Ich streichle seine Hand. Er greift meine Hand und drückt sie fest, dass ich erschrocken 295
bin. Er lässt sie nicht los. „Weißt du Papa! Jedes Menschenleben hat vier Zeiten. Du bist jetzt in der vierten Zeit angekommen. Das ist die Zeit des Betrachtens, des Blickes über die vergangenen Zeiten. Du kannst auf so viel zurückblicken. Z. B. auf mich, der ich in der zweiten Zeit bin. Wo ich auch bin und arbeite, denke ich an dich. Ich brauche das, es gibt mir Gewissheit und Sicherheit, wenn ich mir vorstelle, du blickst aus der vierten Zeit auf mich.“ „Das ist schön, dass du das sagst.“ Nachmittags hat er den Rasen gemäht. 2002 13.5. 1995, 4 Uhr 22 Lieber Papa! Ich verstehe deinen Schmerz, deine Wut, deine unbändige Selbstzerstörungslust! Wir überleben das. Ich kenn das. Ich bin fast dreißig Jahre jünger als du. Aber lass mich jetzt der Ältere sein. Während du den Schmerz bis in die letzte Faser leidest, geht anderswo schon wieder der Alltag weiter. Die dich ermutigt haben, dir ein schlechtes Gewissen eingeflößt haben, mit dir und dem Moralapostel gespielt haben, sich längst wieder zurückgezogen auf ihre Sessel, Sitze, Positionen. Und dennoch bewundere ich dich, dass du deine Seele preisgibst.
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Es gibt wenige so wie du!/dich! Du bist mein Papa! Elfriede Jelinek sagt, dass in ihrer Kindheit alles passiert ist, was ihr Leben und Schreiben beschäftigt. Gibt es ein Ende dieser Kindheit? Mein Vater ist ausgezogen von zu Hause und eingezogen bei den Schwiegereltern wo meine Mutter aufgewachsen war und Oma und Opa immer noch wohnten. Drinnen herrschte sie: meine Mutter. Draußen herrschte er: mein Vater. Drinnen wurden die Kinder erzogen. Draußen wurden die Kühe erzogen. Manchmal gab es Konflikte zwischen Drinnen und Draußen, wenn er den Gürtel von der Hose löste und uns übers Knie legte, oder wenn sie dem Viehhändler eine Kuh oder ein Kalb verkauft hatte ohne sein Wissen, obwohl sie nachgewiesenermaßen mehr Geld für das Vieh heraushandelte. Leidtragende dieser Grenzüberschreitungen waren immer wir Kinder, weil dann die Eltern eine Weile schwiegen und wir auch, obwohl wir so gerne geredet hätten. Das Schweigen war das Schlimmste. 2006 Ich habe mich erinnert, dass wir Fumsäpfel, das sind kleine saure Äpfel, die wir auf Stöcke spießten, auf die Blechwände vom Schuppen schleuderten oder auf Kühe im Feld. 297
Es roch dann nach Herbst und wir hatten schon die Mützen an. Neulich, das erste Mal seit meiner Kindheit, habe ich wieder zwei Wackersteine gegeneinandergeschlagen. Wenn es ganz dunkel ist (Schuppen, unter Decke …), sieht man, wie die Funken spritzen. Die Steine riechen danach nach Schwefel. Die Kindheit birgt so reiche Schätze. 2006 Es war einmal ein kleiner Junge (mit großen Ohren), der hatte eine kleine Freundin, die war noch kleiner als er. Obwohl die kleine Freundin noch kleiner war als er war ihre Liebe zueinander gleich groß. Das wussten beide, weil sie hatten sich schon geküsst, auf den Mund mit geschlossenen Augen, und doch hatten sie die Farben ihrer Augen gesehen und sie haben geküsst bis beide die Augen öffneten gleichzeitig, ohne dass er vorher geschielt hatte auf das Meer oder sie gedacht hatte an die Mutter die den Abwasch machte hinter ihrem Rücken.
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Da saßen sie eng umschlungen am Meer dass die Wellen an ihre Füße schwappten und der kleine Junge sagte ich werde ein Fisch. Oh ja, erwiderte sie, Ich auch. Und in der Schule studierte sie alle Fische der Weltmeere auch die Säuger, die Fisch heißen aber nicht sind. Und sie lernte Schwimmen Brust Rücken Kraul Delfin Und während er am Strand saß stumm auf die Wellen blickte, die das Meer vor seine Füße warf, die Steine betrachtete einen um den anderen, kraulte sie umher, von links nach rechts und umgekehrt (sie war etwas kurzsichtig) und so sah sie nicht wie er wortlos die Hose auszog und das Band aus Leder löste vom Hals mit dem grünen Auge ins Wasser stieg und losschwamm da hin wo das Meer ganz dunkel ist. 299
Am nächsten Tag fanden den kleinen Jungen mit den großen Ohren Fischer in ihrem Netz. Und sie hat geweint Tag um Tag und die Augen wurden nicht trocken, bis sie begriff eines Tages, dass er ein Fisch geworden war im Netz. 2000 Ich war neun Jahre alt. Es war Mai. Jeden Mittwochnachmittag und jeden Samstagnachmittag gingen die Crombacher und Weister nach Neudorf zum Kommunionsunterricht. Den hatten wir in der Marienkirche mit den Neudorfern und den Galhausenern. An die vierzig Jungen und Mädchen. Wir saßen, Mädchen links, Jungen rechts vorne in den schweren Bänken. Der alte Pastor Reuter, berühmt geworden durch den Satz „Ich begrüße die Crombacher mit ihren Hörnern“, ging vor den Kirchenbänken auf und ab, während er aus dem Katechismus las, oder den Zusammenhang zwischen Himmel, Hölle und Fegefeuer erklärte oder uns die Gesetze und Formeln abfragte. Die Kirche war kühl und hallig. Wir froren an den nackten Beinen. Das Licht war schummrig, nur ein Paar Kerzen brannten. Pastor Reuter war kurzsichtig und schwerhörig. Weil er schwerhörig war, redete er ganz laut. Weil er schwerhörig war, antworteten wir ganz leise, so dass er ganz nahe an uns herantreten musste. Dann erschrak er zu Tode, brüllte uns an, fuchtelte mit den Händen in der Luft und torkelte zum Altar, wo er sich bekreuzigte und in der Sakristei verschwand. Seine Haushälterin, ein fast gleichaltes buckliges Fräulein drosch derweil mit einer Ginsterrute von hinten auf uns ein und obwohl wir uns bückten, erwischte sie unseren Rücken und Kopf. Weil er den Vorgang vom einen zum ande300
ren Mal vergaß, konnten wir ihn wiederholen. Es imponierte den Mädchen, dass wir ohne zu schreien die Rute ertrugen. Draußen vor der Kirche zeigten wir ihnen die Striemen auf dem Rücken. 2007 Der Junge ohne Beine war neun Jahre alt. Er lebte mit seinen Eltern, Großeltern und Geschwistern in einem kleinen Dorf, wo er die Dorfschule besuchte. Es war Juni. Donnerstagnachmittag. Die Stunde für den Überraschungsunterricht. Im Winter für die Jungen Schneeballschlacht, Schneemann bauen oder Rodeln, sonst Nistkästen bauen, Holzboote, die am Bach zu Wasser gelassen wurden, Fußball spielen … Die Mädchen lernten dann kochen, schneidern, häkeln oder stricken. An diesem Donnerstagnachmittag gings nach draußen auf ein großes Feld neben dem Bahndamm: Langlauf für die Jungen um das Feld herum, die Mädchen saßen mitten im Feld und strickten. Sie schauten den Läufern zu, feuerten aber niemanden an. Aber ihre Blicke waren Ansporn genug. Wer schafft die meisten Runden? Die ausgeschiedenen Jungen aus dem Oberdorf feuerten Heinz aus dem Oberdorf an, die aus dem Unterdorf mich. Ich schaffte 19 Runden, Heinz zwei mehr. Am nächsten Morgen wurde der Junge wach. Er sprang aus dem Bett und fiel zu Boden. Seine Beine hatten versagt, so als wären sie leer. Er zog sich an und glitt zur Treppe, die er hinunterrutschte in die Küche. „Oma, ich kann nicht mehr gehen“, sagte er der Großmutter. Sie half ihm auf den Stuhl. Sie redeten mit dem Großvater, der ginge zur Telefonzelle, neben der Kirche, um den Arzt zu rufen. Der kam eine Stunde später und setzte dem Jungen eine Spritze. Am Freitag ging er nicht zur Schulen. Am Samstag spielte er nicht mit den anderen und half auch nicht im Heu, am Sonntag musste er nicht zur Kirche. Aber jeder Tag rutschte er die Treppe hinunter durch den Flur in den Gemüsegarten. Da saß er und schaute den anderen zu beim Spielen und arbeiten. Und wie er im Gemüsegarten saß, saßen alle Mädchen der 301
Schule um ihn herum und strickten. Im Juni werden alle Arbeiten fertig, und so schenkten sie ihm den Schal, die Strümpfe, die Handschuh und die Bommelmütze für den Winter. Aber das träumte er nur. 2009 Soest, Workshop mit Pädagogen, November 2004 Am letzten Tag des Schuljahres nahmen wir die Tintenfässer aus den Holzschulbänken und gingen zum Bach. Je näher wir kamen, umso schneller wurden wir. Jeder wollte der Erste sein. Im Bach wuschen wir die Tintenfässer. Das machte dicke dunkelblaue Wolken im Bach. Die dunkelblauen Tintenwolken jagten die Fische vor sich her. Und mit ihnen zog das ganze Schuljahr fort: die Strafen, das Nachsitzen, die Ohrfeigen, die auf den Wangen brannten, das Knien an der Tafel, die Schläge mit dem Lineal auf die Innenflächen der Hände. Dann blickten wir Herrn Maraite an. Und er lächelte. Die Ferien hatten begonnen. Ich war neun Jahre alt. Sommerferien. Mein Vater hatte mit dem grünen Hanomag eine Wiese gemäht. Der Mähballen bestand aus zwei langen Eisenstangen, die mit scharfen Klingen bestückt waren, und richtungsverkehrt übereinander rutschten. Ich ging über das gemähte Feld, das mit Fröschen übersät war. Viele waren tot, die Gedärme quollen aus den Leibern. Viele lebten noch, der Mähballen hatte ihnen einen Vorder- oder Hinterfuß abgeschnitten. Sie strampelten orientierungslos herum oder wanden sich vor Schmerz im Gras. Ein Schlachtfeld. So begann ich, die verletzten Frösche totzutreten. Ein kräftiger Tritt. Es quakte dann ein letztes Mal, wenn die Luft aus dem Bauch trat. Die beiden Nachbarjungen Norbert und Werner beobachteten mich dabei. Sie lachten mich aus. Sie fingen zwei unverletzte Frösche, jeder einen, und hängten sie mit Wäscheklammern an den Stacheldrahtzaun. Sie stießen Strohhalme durch das Maul in den Bauch. Dann bliesen sie die Frösche auf. Ich flehte, hört auf damit. Der eine 302
stieß mich weg. Der andere blies den Frosch auf, bis er platzte. Dann nahmen sie mich in die Zange und steckten mir tote Frösche vorne und hinten in die Hose. Am folgenden Tag lagen keine Frösche mehr auf der Wiese. Die Raben. 2002 Vom Cowboy zum Indianer An den freien Mittwochnachmittagen oder Samstagen spielten wir Cowboy + Indianer oder Räuber und Gendarm oder Sheriff und Banditen. Wenn es groß daher ging, trafen sich die von Ober- und Unterdorf in der Hasselt, am alten Bahndamm, am Bach oder hinter den Hügeln. Wie beim Fußball wählten zwei Kapitäne die Mannschaften aus. Kraft war wichtig, auch Schnelligkeit, Geschicklichkeit. Manchmal kaufte einer sich mit Süßigkeiten in eine Gruppe ein. Richtig hart und brutal wurde es selten, und nur dann, wenn alte Rechnungen oder Rechnungen der Alten offen waren. Der Krieg war noch keine zwanzig Jahre vorbei, die Spuren auf den Feldern oder im Wald noch sichtbar, Munition, manchmal Waffen, wurden regelmäßig gefunden. Ganz selten spielten wir aber Krieg, wahrscheinlich weil niemand genau wusste, wer die Guten und wer die Bösen waren. Das war der ganzen Gegend auch nach diesem Krieg nicht richtig klar, weil man so oder so zu den Verlierern zählte, insofern man das eigene Leben nicht als Gewinn betrachtete. Außerdem waren die Verluste sehr hoch. Und auch wir Kinder bekamen es durch achtlos hingeworfene Bemerkungen der Erwachsenen mit, wer wen im Dorf denunziert oder wer kollaboriert oder wer sich prostituiert hatte oder als feiger Mitläufer und Kriegsgewinnler galt. In den meisten Fällen führte ich die Cowboys oder die Gendarmen oder die Sheriffs an. Ich war immer auf Seiten des Gesetzes, um Ungerechtigkeit und Unheil zu bekämpfen. Es war bequem. Selbst bei einer Niederlage war man juristisch und moralisch im Recht. Mit den Jahren wurde dieses Recht aber brüchig. Es wurde korrupt oder missbraucht von 303
denen, die es hüten sollten. Die Indianer verteidigten lediglich ihre Heimat, die Banditen waren clever und heroischer als die tumben Bullen. Die Banditen verteilten wie Robin Hood die Beute unter die Armen. Als ich dann noch einen prächtigen Federschmuck zum Geburtstag bekam, den nur Häuptlinge würdig sind zu tragen, war die Wahl klar. Hinzu kam, als Indianer konnte man mit echten Pfeilen schießen, als Sheriff aber nur mit Platzpatronen, die zwar nach Schwefel stanken und Rauch und Krach machten, aber ansonsten harmlos waren. Fortan war ich also auf Seiten der Natur und außerhalb der Zivilisation. Man musste höllisch darauf achten, nicht ausgestoßen zu werden. Das fiel mir leicht, weil ich auch in der Schule eine große Nummer war, sogar meistens die Nummer eins. Dennoch waren die Anfeindungen realer und profunder, und so manche Gehässigkeit verursachte Narben für Gemüt und Seele, die sich über lange Zeit hielten. Obwohl geborgen und in Sicherheit, begann ich ein Außenseiter zu werden. Ich wollte anders sein, eine bedrohte Einzelposition einnehmen, indem ich mich verbündete oder mein Schicksal teilte mit den Verstoßenen, Ausgesetzten oder Aussätzigen. Ich war weniger auf der Seite der Macht als auf Seiten des Rechts, insbesondere des Naturrechts oder des moralischen Rechts, das von den Machthabern regelmäßig mit Füßen getreten wurde. So wurde ich ein Märtyrer, die Heiligengeschichten, die ich verschlang, taten ihres dazu, ein Revoluzzer, ein Querdenker, ein Nein-Sager, einer der das Gegenteil des Landläufigen überprüfte, auch wenn es physikalischen oder mathematischen Gesetzen, sowieso der landläufigen Meinung, widersprach. Die Hexe des Dorfes weckte mein Interesse, oder der tumbe Tor, der im letzten Haus vor dem Dorfausgang wohnte. Ich wurde der Künstler. Und von Anfang an tat es oft weh. Und von Anfang an musste ich mich regelmäßig erholen, in dem ich eintauchte in die schweigende Mehrheit, auch zur Besinnung geschah das. Ein schlechtes Gewissen hatte ich, wenn die schweigende Mehrheit sich verwandelte in eine brüllende, pöbelnde oder rassistische Mehrheit. Und dann musste ich 304
weg und den Künstler wecken. Und dann musste ich weg, und der Häuptling streifte sich seinen Federschmuck über, rieb sich Streifen aus Lehm über die Wangen und ging auf Kriegspfad gegen das Unnatürliche. So begann es. So ist es bis heute geblieben. 2008 Ich war 17 Jahre alt. Mein Bruder und ich verdienten uns das Geld durch Waldarbeit in der Kolonne meines Vaters. Während der Mittagspause schliefen die Erwachsenen. Wir beide streiften durch die Umgebung auf der Suche nach einer Abwechslung. An einem Mittag haben wir einen alten Hochsitz zu Boden gerissen. Am nächsten Tag kam der Förster mit dem Jagdaufseher um mitzuteilen, dass ein Hochsitz ersetzt werden müsse. Mein Vater erledigte das mit uns beiden während der Arbeitszeit. So verging der Tag. Am nächsten Mittag haben mein Bruder und ich ein Bein des Hochsitzes auf Bodenhöhe mit einem Fuchsschwanz angesägt. Ein Protest gegen das sinnlose Töten des Wildes durch die Jäger. Dann plagte uns doch das Gewissen, weil wir uns vorstellten, wie jemand hochsteigt, hinunterstürzt mit dem Hochsitz und sich verletzt oder den Hals bricht. So fuhren wir beide mit unseren Rädern in den Wald, und rissen auch diesen Hochsitz zu Boden. Es war viel Arbeit. 2007 September. Hamlet. Mirwart. Ardennen. Ich bin 19 Jahre alt. Es ist meine Ford-Cortina-Zeit. Der FC war das erste Auto meines Vaters: braunmetallic, große Schnauze wie beim Ford-Mustang. Ich bin damit durch den Osten Belgiens geritten, das Bier oder die Whisky-Flasche in der Hand, drei Freunde im Gepäck, Musik-Kassetten laut aufgedreht. Ich habe den FC totgefahren. Es ist Wochenende. Wir reiten von der Dorfkneipe zum Ball nach Hinderhausen. Kirmesball mit den Shadows. Um Mitternacht schwitzt der ganze Saal zur Musik, als die Tür aufgerissen wird. Herein 305
kommt die Billen-Bande, eine berüchtigte Gruppe von Schlägern aus Amel: die drei Billenbrüder, der älteste war schon wegen Körperverletzung im Gefängnis, und ihre zwei Nachbarn. Der eine trinkt am Tresen das Bier eines Mannes aus. Der zweite schnappt sich eine Frau auf der Tanzfläche. Die anderen hangeln über den Köpfen der Leute an den Stahlspannen, die das Dach zusammenhalten. Von dort springen sie auf die Biertische. Der Mann der tanzenden Frau wird zu Boden geworfen. Der Wirt, ein Holzrücker, schlägt einen zu Boden. Die Brüder stürzen sich auf den Wirt: Zwei halten ihn, der dritte schlägt ihm mit der Faust in den Bauch. Da sind alle losgestürmt und der Saal verwandelt sich in ein Schlachtfeld: Flaschen und Gläser zersplittern an den Wänden, Stühle zerbrechen, Tische werden umgeworfen. Als die Gendarmerie eintraf, waren die Fünf über alle Berge. Das Fest war zu Ende. 2007 Ich bin 21 Jahre alt. Dezember. Lüttich. Habe im Carré mit Theatergruppe getanzt und getrunken. Auf dem Heimweg mit Catherine. Die mit der Nase. Unterwegs kommen wir an „La Meuse“ vorbei, die Buchhandlung der gleichnamigen Tageszeitung. Eine Schaufensterscheibe war kaputt und notdürftig mit einer Spanplatte abgedichtet. Ich schob die Platte beiseite und stieg in den Laden ein und reichte Cathérine einen Stapel Bücher nach draußen. Mit den Büchern gingen wir zu mir in den Cott, einige hundert Meter weiter. Sie legte sich gleich ins Bett. Ich ging mit einer Mülltüte zurück, stieg in den Laden und mit dem Müllsack voll Bücher kam ich zurück. Die Bücher habe ich auf das Bett der schlafenden C. gelegt. Das habe ich nochmals wiederholt; dann graute der Morgen. Ich bin nochmals hin, weil man jetzt endlich die Bücher erkennen konnte. Wir hatten vor allem Physik-, Mathe-, MedizinBücher erwischt. Ich stapelte an die dreißig Comics hoch und wollte damit weg, als aus einem Fenster der Druckerei ein Arbeiter mir hinterherrief. Ohne mich umzudrehen, ließ ich die 306
Comics fallen und rannte kreuz und quer durch das Viertel bis ich mich später erst in meinen Cott wagte. Am nächsten Tag berichtete „La Meuse“ über den Einbruch. Ich selbst hab den Mantel, den ich in dieser Nacht trug, in den folgenden Wochen nicht angezogen und auch einen anderen Weg zur Uni oder zum Carré gewählt, aus Angst, erkannt zu werden. 2007
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XVIII.
Adresse: MARCEL CREMER CROMBACH,49 4780 St. Vith Belgien
Mittwoch, 21.2. 1990 Ich bin mit Nicole ums Dorf gewandert. Überall die ersten Spuren des Frühlings. Mein Vater hat mir eine Baustelle geschenkt, noch im Dorf und doch schon in den Feldern, der Wald nicht weit. Nachdem ich Bühnenbilder und Stücke entworfen habe, in denen sich die Figuren bewegen und atmen können, möchte ich mir/uns ein Haus bauen, in dem man atmen, leben, arbeiten und feiern kann. Pierres Bilder müssen hinein, die Möbel, die ich im Laufe der Zeit links und rechts aufgekauft habe. Dort muss ich alleine sein können und mit Freunden. Es muss meine Insel sein können und mein Grab, es muss eine Kirche sein und ein Festsaal, es muss feste Mauern haben und viel Glas. Dort möchte ich nackt sein, mich mit den Fingern in allen Farben färben und endlos im Wasser tauchen. Es wird mein Theater sein, nur Bühne, jeder, der eintritt ist Spieler, wer es verlässt, hat sich verändert. Es ist Katakombe und Fußballplatz, Telefonzelle und Galerie, Käfig und Wiese. Mein Zuhause. Mein Ort, wohin ich ins Exil gehen kann mit Kafka, Beckett, Brecht und Tabori. Mittwoch, 28.3.1990 Nicole ist schwanger. Sie soll Mutter, ich soll Vater werden. Obwohl nicht geplant und nicht verhindert, freue ich mich im Innersten. Ich kann es bloß nicht, noch nicht zeigen. Ein Kind ist die Stelle, an dem das Theater aufhört. Hoffentlich wird es sich nie bedrohlich vor mir aufbauen, wenn ich mit dem Theater weg muss. Vielleicht wird das, was verbissen und gefräßig nach Leben in Nicoles Bauch herumpaddelt, ein Schauspieler. Zwei Zentimeter. Der/die kleinste Schauspieler(in) der 308
Welt. Am 21. April darf er zum ersten Mal in der „Kleinbürgerhochzeit“ mit Nicole auf die Bühne. Ich stehe hinten im Dunkel des Saales und werde diesen ersten Auftritt kritischschmunzelnd beobachten. Es wird bestimmt chaotisch. Ich, ein Schauspieler-Regisseur-Vater. Unglaublich. Ich kann es nicht fassen. Wo wird mich das hinführen? Ich merke jetzt schon, dass ich das „Schräge Vögel“-Kindertheaterprojekt für Dezember 1990 mit anderen Augen sehe. Die Verantwortung und Liebe nimmt konkrete Formen an. Alles ist noch sehr leicht. Vielleicht bleibt es so. Montag, 9.7. 1990, 20 Uhr 2 Der alte Teddybär starrt mich einäugig an. Am didaktischen Zeigefinger des Schulmeisters baumelt das Küken. Der Sektkorken klemmt zwischen Arm und Faden der Marionette. Das Kuhhorn balanciert im Kronleuchter. 24 Uhr 23: Ich wohne in diesem Zimmer. 9.10. 1990 Seit langem noch einmal Spaziergang mit Nicole hinter das Haus. Herbstlich bunte Bäume: die Blätter tanzen. Die Luft befreit sich von der Schwüle des Sommers. Die ersten Nebel kriechen aus den Bächen. Mitten auf dem Feld ein einziger Löwenzahn. Die dicke Nachbarin und ihr kleiner Gatte melken die verbliebenen Kühe. Sie ruft uns laut lachend einige Worte nach, während wir uns auf den Weg zu einer Voruntersuchung machen. Der Arzt behält Nicole im Krankenhaus: es sind die Wehen. Ich fahre die gepackten Koffer holen. NATOPanzer hinter jeder Straßenbiegung. Fahrzeugkolonnen sind nicht gefahrlos zu überholen. MG-Nester und Funkposten. Mitten in der Eifel wird der Krieg im Irak gespielt. 23 Uhr 40: Joshua schiebt sich in diese Welt. Gott sei Dank: Er brüllt gleich los. Dieses kleine Leben: nackt und blutverschmiert mit lauter Stimme. Am nächsten Morgen sind die Soldaten fort. 309
Für Joshua und Katharina, die ich beide sehr liebe. Ich stehe am Atlantik, oder ist es der Ärmelkanal, da wo Normandie und Bretagne sich treffen. Vor mir ein endloser Strand voller Steine. Je näher ich zum Wasser gehe, umso kleiner werden die Steine, bis sie nur noch Sandkörner sind. Die Steine haben alle Farben. Ebbe und Flut haben sie geschliffen, wahrscheinlich seitdem es die Welt gibt, und Ebbe und Flut spielen wie zwei Kinder mit ihnen, bis sie Sand sind. Und in dieser Zeit macht die Erde neue Steine, so dass die Steine nie aufhören zu sein. Die Erde und der Mond, die Eltern der beiden Kinder Ebbe und Flut haben sich dieses Spiel ausgedacht. Und auch wenn die Kinder älter werden, sie spielen dieses Spiel mit den Steinen auch morgen, so wie sie es heute spielen und gestern gespielt haben. Ebbe und Flut hören nie auf, Kinder zu sein von Erde und Mond. (Ich hebe einen Stein auf, weil ich bin ein Geschichtenerzähler.) 2004 Für Joshua Der Baum heisst Birke. Sie ist kräftig. Du darfst sie berühren. Auch an ihren Zweigen zupfen. Nicht so heftig! Jetzt hast du den Wind geweckt. Der rümpft die Nase, weil er hinausweht über die Gräser durch die Schlehenhecke mitten in die Sonnenblumen. Er rüttelt am Scheunentor, wirbelt den Qualm, der aus dem Kamin steigt und schaukelt die Telefondrähte, auf denen die Schwalben Gleichgewicht üben, bevor er zur Birke zurückkehrt. 310
Du rümpfst noch immer die Nase. Der Wind wohnt in der Birke. Wünsch ihm eine gute Nacht. 1991 Ich fahre mit meinem Sohn zum Wald. Auf dem Weg dorthin hat jemand eine tote Saatkrähe auf eine lange Stange gespießt. Zur Abschreckung für alle Saatkrähen, dass sie die Saat nicht stehlen. Solcherlei Kreuzigungen begleiten meine Wege und Joshua meinte ich soll jetzt nicht hinsehen, es sei abscheulich. Das hat mich getröstet. 1999 Die Firma In der Volksschule fragte die Lehrerin die Kinder, welche Berufe die Papas haben. Es gab da Bauern, einen Metzger, einen Bäcker, einen Traktorverkäufer, einen Wirt. „Und dein Papa, Joshua?“, wurde mein Sohn gefragt. Der ist Theaterregisseur, und er konnte nicht erklären, was ein Theaterregisseur macht, im Gegensatz zu den Vätern, die Milch, Brot, Bier und Landmaschinen verkaufen. Ich informierte ihn über den Beruf des Regisseurs, und mein Sohn antwortete, dass ein Regisseur den Schauspielern sagt, was sie tun, alle zusammen. Das hat niemanden überzeugt. Dein Papa hat keinen richtigen Beruf. Theater ist kein Beruf. Das spielt man nach Feierabend, am Wochenende und sowieso im Winter, wie es hier Brauch ist. Mein Sohn ist sehr bedrückt nach Hause gekommen. Und ich sagte ihm, erzähle ihnen folgendes. Mein Papa hat eine Firma. Die Firma heißt AGORA. In der Firma arbeiten zwan311
zig Leute. Die machen Theaterstücke. Wenn das Theaterstück fertig ist, laden sie es in den LKW der Firma und fahren damit fort. In fremden Städten bauen Sie das Theaterstück auf, spielen es und bekommen dafür Geld. Mit dem ganzen Geld kommen sie nach Hause, und damit können sie Brot kaufen, Milch und Bier beim Wirt oder einen Rasenmäher. So haben alle was vom Theater, das mein Vater verkauft. Seitdem ist mein Sohn der Sohn des größten Firmenbesitzers von Crombach. (Die Firma aus Luft und Fantasie) 1999 Crombach, 25.12.1995, Kneipe Ein kurzes Gespräch Er (Karl, KFZ-Mechaniker, Auto-Fan), Ich Er: Du weißt, ich komm nicht in dein Theater. Versuch nicht, mich zu überreden. Ich unterstütze, was du machst. Das reicht. Damals, mit dem Lehrer Hirtz, das war Theater, wo ich hingehen konnte. Ich: Glaubst du, dass man mit einem Auto von vor zwanzig Jahren noch ein Rennen gewinnen kann? Er: Nein! Ich: Siehste! N. B.: Er ist nicht in die Aufführung gekommen, aber wir verstehen uns seitdem besser. Ich kann das sagen, weil er mir meinen Wein bezahlt hat, ohne zu fragen, trinkst du nicht doch lieber ein Bier?! Ein kurzes Gespräch Ich, Pastor
St. Vith, Kneipe, Rathaus
Er: Oh, du trägst ein rotes Barett! Ich: Es kann nicht jeder ein schwarzes tragen. Er: Bist du ein Kommunist? Ich: Ich trage ein rotes Barett! 1999 312
Gestern Nacht habe ich erfahren, dass der schielende Felix gestorben ist. Er ist 43 Jahre alt geworden, der Herzinfarkt hat ihn im Wald überrascht. Er ist Holzrücken gewesen, der Vater wollte es so. Er hat geschuftet Tag und Nacht und am Wochenende wie ein Gaul. Schon vor Jahren hat er die Pferde verkauft. Mit mächtigen Maschinen riss er nun ganze Wälder zu Boden. Er roch jetzt nicht mehr nach Pferd und Harz und Schweiß, sondern nach Maschinenöl. Am Dorftresen war er ganz selten Gast, nur an besagten Feiertagen. Dann spendierte er eine Runde Bier mehr als die anderen, als wollte er sich entschuldigen für seine häufige Abwesenheit und den Reichtum, den er erlangt hatte. Alle prosteten ihm zu und er wusste, er war beliebt. So lächelte er unverdrossen und die öligen Finger passten nicht zu seinem teuren Sonntagsanzug. Jetzt liegt er im Sarg. Wäre ich nicht hier, würde ich mit fünf anderen Nachbarn ihn in seinem Sarg zu Grabe tragen und zwischen den gefalteten Händen in den Poren und unter den Fingernägeln
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wäre noch Öl, und Bier würden wir trinken am Tresen nach dem Begräbnis. 1999 Montag, 23.4. 1990 „Kleinbürgerhochzeit“ mit meinen Crombachern Ich habe die letzten zehn Tage überlebt. Ich möchte sie nicht noch einmal durchmachen und auch nicht missen. Letzte Aufführung von der „Kleinbürgerhochzeit“ mit meinen Crombachern (dem einzigen Dorf auf Erden mit 280 Einwohnern, das zwanzig Schauspieler hat), weil den Musikern die Lust-Luft ausgeht und viel Liebeskummer im Raum schwebt, außerdem einige Schwangerschaften. Brecht auf dem Dorf. In meinen Augen die augenblicklich einzige Möglichkeit, den armen B. B. aufzuführen, ohne ihn zu verraten, ihm Sauerstoff zu geben, damit er das muffige Museum „Berliner Ensemble“ und den ästhetischen Manierismus der westdeutschen Theater, alles Orte der Leblosigkeit, kulturelle Bankinstitutionen mit Managergehälter, überleben kann. „Derbes Theater“ im guten Sinne frei nach Peter Brook mit Amateuren, die dort leben, dort Bürger sind und gleichzeitig gut genug, um Abstand von sich selbst zu nehmen, um sich selbst in der Rolle zu finden und in Frage zu stellen. Das Stück hineininszeniert in alte Dorf Säle, in denen ansonsten Hochzeiten stattfinden, ein trinkendes Publikum zuerst zu verführen und dann mit den Brüchen des Stücks auf die eigene Realität zurückzuführen, Dialekteinschübe zu bringen in Momenten größter Authentizität, um dann durch Ästhetik wieder rückzukoppeln. Mein eigener Hochzeitsanzug von damals für den Bühnenbräutigam, weil (und damit) mich das ganze etwas angeht. Billig-Schlager live von einer Drei-Mann-Combo, die sonst auch dieses Repertoire nicht besser und nicht schlechter auf Hochzeiten spielt. Die Gäste allesamt Verwandte, Freunde, mehr Hochzeitsgäste als Theaterbesucher, brachten immer wieder Geschenke mit. Eine feiernde Theaterfamilie, die auch bereit war, den Familienkrach in Kauf zu nehmen.
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XIX.
Wenn ich zu lange sitze an einem Ort, verwandelt sich der Wind in Durchzug, der mich krank macht.
Ich habe ein Haus eine Wohnung ein Auto ein Theater und doch kein Zuhause. 2003 Meine Heimat Ein voller Aschenbecher. Da links grast eine schwarz-weiße Kuh mit rosa Augen. Daneben hält Max eine Hand hoch. Der braune Hirsch blickt gleichgültig ins leere Wasserglas. Die nackte Puppe starrt bewegungslos an die Decke. Die Blechdosen platzen fast vor Schreibzeug. Das Weinglas kommt an meinen Mund. Danach die Zigarette auch. Joshua steht verlegen vor dem Dom. Der Rabe von Katharina fliegt das Fenster hoch. Züge kommen an fahren fort von Deutz. Die Musik singt vom Sonntag im April. Die Hand hält den Stift. Der schreibt ins Tagebuch. Schwarze Buchstaben auf weißes Papier. Das Blatt bewegt sich dabei. 315
Der Schatten des Kopfes auch. Bald hat der schwarze Stift den Schatten vom Kopf erreicht. Dann ist es wieder so weit. Zigarette aus. Wein weg. Buch zu. Jetzt. 2002 Meine Kleidung riecht nach Rauch so als hätte ich sie ewig nicht gewechselt oder immer getragen oder als hätte ich nur diese. Klebt an mir wie eine Haut, die immer mehr verblasst, Risse kriegt wie offene Wunden und alles flicken hilft dann nichts mehr. Ich bin ein Bettler geworden, ein Wegelagerer und selbst die Worte sind kein Ort mehr. Und da fahre ich mit dem Auto von dem einen in das andere Land und vom anderen Land wieder in das eine. In dem einen Land schlafe ich im Gästezimmer meines Hauses, alle anderen Orte sind besetzt. So bin ich ein Gast in meinem Haus in dem Raum, in dem früher übernachteten meine Gäste. In dem anderen Land schlafe ich nun nicht mehr allein in meiner Wohnung, die belegt ist mit Gästen, die ich nicht eingeladen. So bin ich nicht hier nicht dort zu Hause. 316
Und du bist wieder im Krankenhaus. Nicht sein möchte ich im Krankenhaus und doch nur bei dir, die du bist mein Zuhause. 2006 In Bahnhöfen spüre ich Heimat. Sobald ich ihn betrete, die Reisenden die Gleise die Züge sehe, spüre ich sie. Dort, wo niemand verweilt. Dort, wo alle warten auf ihren Zug, der sie bringt zum Ziel/an ein fernes Ziel. Dieses Ziel ist nicht die Heimat. Es ist ein Ort fern der Heimat damit sie wachsen kann in Gedanken und im Herzen, bis sie schmerzt, so stark ist sie, so weit, so nah, dass fliegen die Gedanken auf du davon und zerspringt dir dein Herz. 2006 Ich frage mich
was tragischer ist: wenn jemand ohne Fragen 317
durchs Leben läuft oder wenn jemand von der Autobahnbrücke springt weil er keine Antwort gefunden hat. 1994 November 1996, Leogang, Abbau Ein Fuss kommt mit dem Auto zu mir ins neue Haus. Er sagt mir ’nen Gruß vom anderen Fuß. Der kommt etwas später. Weil er kommt zu Fuß. Meine Gegend ist viel unterwegs. In Europa. Sie ist unstet. Heimatlos. Vaterlandlos. Nirgendwo hält sie es lange aus. Die Gründe sind vielfältig. Sie wird nicht müde vom Wandern. Nur die Menschen, die sie bewohnen, sind müde von dem ewigen Hin und Her. Und Kreuz und Quer. Gerne würden sie bleiben. Wenigstens einige Jahrzehnte im selben Land. Es ging von Österreich nach Luxemburg nach Frankreich, nach Preußen, nach Verdun, nach Belgien, nach Großdeutschland und wieder nach Belgien. Keine Verschnaufpause für die Menschen. Und nun will die Gegend wieder weg. Nach Luxemburg? Oder nach Deutschland? Oder in die Einsamkeit? Wer weiß? Weil die Gegend es nicht weiß, habe ich die Gegend verlassen. Ich brauche einen Ort. Weil auch ich bin viel unterwegs. Vielleicht besucht die Gegend ja mich, da wo ich weile und verweile. 2009 10.2.2009 Ich bin geboren und aufgewachsen in einer Gegend, die einen unsteten und rastlosen Charakter hat. Wie anders lässt sich erklären, dass diese Gegend sich im letzten Jahrtausend 318
in halb Europa herumgetrieben hat: Frankreich, Österreich, Luxemburg, Preußen, deutsches Kaiserreich, Nazideutschland, Belgien. Weshalb ist diese Gegend, meine Heimat, ständig unterwegs, habe ich mich gefragt, bis ich merkte, dass es andersherum ist. Ganz Europa und die Welt sind ständig unterwegs. Nicht meine Gegend. Sie hockt regungslos immer an derselben Stelle. Sie ist im letzten Jahrtausend ständig sitzen geblieben. Sie hat sich geduckt. Kleingemacht. Und hat sie einmal den Finger gehoben oder gar das Maul aufgerissen, bekam sie gleich einen Schlag in den Nacken oder eins mit dem Lineal auf die Finger. Und mehr als einmal wurde ihr auch richtig der Arsch versohlt. So hat sie gelernt zu schweigen, nicht nach links und nicht nach rechts zu schielen. Fleißig zu lernen, Punkte zu sammeln, Klassenbester zu sein und sich ansonsten aus allem herauszuhalten. Nachdem meine Heimat ein Jahrtausend die Lieder der unterschiedlichsten Könige auswendig gelernt und nachgesungen hat, sollte sie endlich anfangen, eigene Lieder zu singen. Die Narren, geübt im Spiel gegen die Könige, singen gerne diese anderen Lieder, die Lieder des Volkes. Berlin, 2.12.1993, 1 Uhr 30 Theatermenschen sind Müllkippen. Regisseure mehr noch als die Schauspieler. Die Zuschauer kommen hin, laden ihre Ängste ab, ihren Frust, den sie in Kopfschütteln oder Wegschauen artikulieren, die Ängste schütteln sie oft durch den Schluss Beifall ab. Einerseits wird vom Künstler erhofft oder erfragt, dass er unbekannt, unbequem, untugendhaft, unsäglich, undefinierbar, Ur-Mensch ist: Das ist das Prickeln, das ist seine Magie, Anziehungskraft; anderseits wird er deshalb verdammt, verflucht, verachtet, verhöhnt oder vertrieben. Es ist die ganze Doppelmoral des Eifelers, die sich dann spiegelt, der nach Lüttich (klammheimlich) zum Puff fährt auf einer Reise übers Wochenende, zum anderen nimmt er das Gebetbuch mit. Diejenigen, die so laut über die Nutten schimpfen, sind ihre besten Kunden, oder viel ärger noch, es sind die319
jenigen, die das Geld und die Reisepläne stets und ständig seit einem Jahrzehnt unter dem Kopfkissen des Ehebettes haben und sich nicht trauen, ein Leben lang. Beim Frühschoppen lassen sie dann literweise den lokalen, im spießigen Denken und Dasein gewachsenen Lokal- oder Regional-Faschismus in sich hineinlaufen, bis sie nach dem Sonntagsfestessen ermattet im Sofa wegschlummern. Der Film „Wie im Himmel“ ist wieder ein Film über mein Dorf und sein Verhältnis zu mir. So viel Schmerz ist verborgen in den Menschen; sie verdrängen ihn sie verstecken ihn sie ersäufen ihn. So viel Sehnsucht ist in diesen Menschen, Sehnsucht nach Verwirklichung und Wahrheit, so viel Lust, so viel Lust auf Leben so gerne würden sie berührt sein und doch verdammen und vertreiben sie diejenigen, die die Wahrheit sagen und die Lust lieben an der Berührung. 2006 24. 12.1990 Theater muss einen Ort haben Ein Theater muss sein Zuhause haben. Einen Ort. Eine Landschaft. Ein Klima. Eine Heimat zum Atmen. Wo es Gesten entdecken kann und Gesichter, Körper, Menschen. Für manche ist das der Nil mit seinem roten Ufer Sand oder die öffentliche Feuerstelle in einem verlassenen afrikanischen Dorf 320
oder die kalifornische Steppe oder eine kirgisische Jurte oder eine westliche Glitzermetropole. Meine Heimat ist die zerstückelte Landschaft der Eifel, zerfurcht mit Stacheldrahtzäunen wie die Gesichter der Alten. Die Alten, die nach innen reden der feuchte Nebel, die schwarzen Wälder, die Kirchtürme die beißende Schnapsfahne des benachbarten Kriegsinvaliden. Hier möchte ich mir und meinem Theater ein Haus bauen. Crombach, Nacht nach R + J, 1999 Gespräch mit dem neuen Kulturminister in Eupen Heute war ich mit anderen Kulturverantwortlichen, die auf die gerechtere Subventionierung der hiesigen Kunst drängen, zu einem Gespräch bei unserem neuen Kulturminister Bernd Gentges in Eupen. Es war ein offenes Gespräch, beseelt von dem Gedanken, dass Kultur ein wichtiges Standbein für demokratische Prozesse ist, dass es nicht politisches Kurzzeitdenken geht, sondern um Perspektiven für unsere Gesellschaft, um eine optimistische Vision für unsere Gemeinschaft geht. Dieses Treffen war ein Lichtblick, eine Hoffnung, die Form haben kann und wird, wenn wir, die Künstler, diese Hoffnung in uns tragen und nicht nur darauf aus sind, unsere Schäflein ins Trockene zu bringen. Sicher, wir brauchen ein Dach über dem Kopf. Aber es sollen keine Bauten sein aus Stein, in denen die Kunst versteinert in versteinerten Köpfen, in denen die Suche dem schnellen Ziel geopfert wird, in denen Weihrauch die Gedanken verhüllt, in denen Geld und Zahlen über Gut und Schlecht entscheiden, in denen gepredigt wird und nicht Dialog geübt wird. Diese Häuser müssen immer eine AGORA sein, öffentliche Plätze, tout public, zugänglich und 321
offen für jeden, der den Dialog führen will, der neugierig ist auf das Fremde, auf neue Geheimnisse, unbekannte Formen, Worte, Klänge, Farben und Bewegungen. Mit dem Optimismus, dass dies der Wunsch der neuen Politik und der Künstler ist, habe ich dieses Treffen verlassen. Mit großer Aufregung also und mit der Gewissheit: das werde ich mit aufbauen, daran werde ich arbeiten, auch für alle meine Mitarbeiter, die aufopferungsvoll nun schon zwanzig Jahre im Regen stehen, sich kalte Winde und manchmal üble Gerüche um die Nase haben wehen lassen müssen, dass sie einen Ort kriegen.
4.3.2004, Brüssel, Kolloquium des Goethe-Instituts Deutsch-belgische Theaterbeziehungen „Belgien gibt es nicht.“ Podium: Hubert Roland (Universität Neu-Löwen), Jacques De Decker (Brüssel, Regisseur, Übersetzer), Kai-Theater (Antwerpen), Hugo De Greef, ich Schwelgen in Namen: Bodo Strauß, Peymann, Zadek, Brecht, Müller, Engelsburger, Tabori, De Keersmaker, Van Ven, Wekwerth, Peter Stein (leider kann ich nicht alle finden). Dem war nichts hinzuzufügen, oder es hätte ewig so weitergehen können. 1978 hab ich Heiner Müller in Ost-Berlin besucht. Wir kamen bei einigem Wodka zu folgenden Schlussfolgerungen: Denkmäler sind dazu da, dass Trunkenbolde an ihre Füße pissen und die Tauben auf ihre Köpfe kacken. Die Schubladen der Germanisten und Theaterwissenschaftler sind die Särge der Autoren. Die Universitäten sind ihre Friedhöfe. N. B.: So entstehen Zitate.
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Vorhang auf und alle Fragen offen Thesen für die Zukunft Ich möchte versuchen, zehn Fragen aufzuwerfen. Vielleicht sind es zehn Thesen oder zehn kulturphilosophische Gedankensplitter, auf keinen Fall zehn Gebote. kulturpolitische
1. Künstler sind Optimisten: Sie sind es schon deshalb, weil sie sich für diesen Beruf entschieden haben. Sie sind es auch, wenn sie mitunter pessimistische Kunst machen. Selbst indem sie mitunter sagen, die Welt sei sinnlos, ist das Formulieren schon eine optimistische Geste, weil sie durch das öffentliche Kundtun eine Diskussions- und Konfliktbereitschaft signalisieren. Mitunter kann das unreflektierte und überschwängliche Hinausjubeln eines Lebensoptimismus, der sich nicht an der Realität messen kann, beim Zuschauer, Hörer oder Betrachter eine berechtigte Skepsis verursachen, die in der Frage mündet: Welches Waschmittel oder welche Seifenblase möchte man uns da verkaufen? Vielleicht lässt sich der Optimismus des Künstlers an zwei Beispielen versinnbildlichen. Martin Luther sagte, er würde auch noch einen Tag vor dem Weltuntergang einen Baum pflanzen. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre meinte über den Optimismus des Prager Schriftstellers Franz Kafka: Jemand sitzt mit der Angel in seiner Badewanne und will einen Fisch angeln, den es nicht gibt. In der Hoffnungslosigkeit oder Unvernunft beider Beispiele spiegelt sich vielleicht am besten der Optimismus der Künstler. Auf jeden Fall besteht der Optimismus der Künstler darin, dass sie vernünftige, also denkende und deshalb womöglich handelnde Menschen vor sich haben, von denen sie hoffen, dass sie sie öffnen können für das Neue und Unbekannte. Unsichere und verschreckte Menschen haben Angst vor dem Fremden und Unbekannten. Solche Menschen benötigen ständig Abgrenzungen und Eindeutigkeiten. Sie rufen nach Gesetzen und Reglementierungen und wollen vom Künstler immer wieder Bekenntnisse. Ihre Angst vor der Vergangenheit verbaut ihnen und deshalb auch oft anderen den Weg in die Zukunft. Sie 323
wollen ständig alles Mögliche, mehr noch, für sie das Unmögliche ausgrenzen, mundtot machen oder ins Exil abschieben. Wer keine Kultur hat, hat keine Identität. Die Menschen von Ängsten befreien und öffnen für gesellschaftliche Prozesse, ist die vorrangige Aufgabe der Kunstschaffenden und Kulturträger. Nur mit mutigen und offenen Menschen ist unsere Gesellschaft umzugestalten oder zu retten. 2. Kultur machen ist brüllen gegen den Wind: Kultur machen ist schwimmen gegen den Strom. Kultur machen, ist unbekannte Pfade gehen, nicht geteerte Straßen. Die Frage nach der zeitgenössischen Kunst ist immer die Frage danach, ob der Hut von Joseph Beuys ein Kunstwerk oder ein Hut ist. Es ist in Bezug auf die Skulpturenausstellung in den Eupener Parkanlagen die Frage danach, ob die mit bunten Decken überzogenen Decken überzogenen Heuhaufen Heu sind oder Kunstwerke. Die Tatsache, dass Beuys Hut im Museum hängt und folglich nicht mehr getragen werden kann oder die Heuhaufen im Eupener Park langsam vermodern und nicht geerntet und ans Vieh verfüttert werden können, enthebt sie ihrer ursprünglichen Funktion und macht sie zu etwas Besonderem, weil es sie in ihrer ursprünglichen Funktion in Frage stellt. Allein die Frage nach dem, was Kunst ist und sein soll, ist schon wichtig genug. Zeitgenössische Kunst ist immer umstritten und streitsüchtig. Sie fordert zum Streiten heraus. Die Bühne, der Tanzboden, die Staffelei, Noten und Gedichte sind Orte der künstlerischen Kompromisslosigkeit. Nur wenn sie sich erfolgreich ideologischen, politischen oder marktwirtschaftlichen Scheren, die sie beschneiden wollen, widersetzen, sind sie Orte der Wahrhaftigkeit, Orte, an denen gesellschaftliche Utopien erprobt werden können. Orte an denen Träume geboren werden können. Die Tatsache, dass eine streitbare, unruhige, stürmische und drängende, mitunter provozierende Kultur erwünscht, erlaubt und unterstützt wird, ist ein Beweis für demokratische Glaubwürdigkeit einer Gesellschaft, in der auch das Streiten, Diskutieren, Streiken und Demonstrieren legale Mittel der freien Meinungsäußerung, also Zeichen und 324
nicht Bedrohungen der Demokratie sind. Die wirkliche Gefahr für demokratische Prozesse sind diejenigen, die all diese Ausdrucksformen behindern oder verbieten wollen. In diesem Kontext werden auch die noch offenen Fragen nach den Kulturzentren in Eupen und St. Vith immer drängender. 3. Kunst und insbesondere das Theater ist das Spiel des Narren gegen den König: Der Narr, also der Künstler, ist der einzige, der dem König, also dem Politiker, die Wahrheit sagen darf, weil er der Narr ist. Künstler sind dazu da, den Politikern oder der Gesellschaft, die sie repräsentieren, den Spiegel vorzuhalten. Die Narrenkappe bewahrt sie vor dem Beil des Scharfrichters. Dennoch wird von einigen Narren berichtet, die über die Burgmauer in den Wassergraben geschleudert wurden. In der Regel haben sie aber ihre Könige überlebt. Heute danken politische Monarchen kaum mehr ab, noch seltener werden sie geköpft. Sie werden wiedergewählt oder auch nicht. Die Künstler überleben also die Politiker immer häufiger. Künstler sind in einem bestimmten Sinne Politiker ohne Mandat, die die Politiker mit Mandat überleben. Dafür sind Künstler lebenslänglich in der Opposition … Weil die Kunst, insbesondere die darstellenden Künste, vom kreativen Augenblick auf der Bühne lebt, ist sie oft zeitlos. Viele Politiker denken, entscheiden und handeln oft in zeitlich begrenzten Kategorien, Wahlperioden, was dann erklärt, weshalb ihr Denken und Handeln begrenzt ist. Aus der Unvereinbarkeit der Funktionen und der Interessen der Künstler und Politiker entsteht aber in einer demokratischen Gesellschaft der Optimismus, dass sich beide Berufe ständig ergänzen in der Gewissheit, dass sie sich nie annähern. 4. Die Kunst zwischen dem Dasein für Minderheiten und der Solidarität von Mehrheiten: Künstler sind stets und ständig die Anwälte von Minderheiten oder Machtlosen. Sie sind schon deshalb solidarisch mit ihnen, weil sie selbst machtlos, sinnlos und überflüssig sind, in dem Sinne, dass sie kein Brot backen, keinen Stahl kochen, keine Straße teeren und kein Geld drucken. Stattdessen können sie lediglich Träume, Alp325
träume, Wünsche, Fragen und Utopien verkaufen, die bekanntlich keinen festen Marktwert haben. An zwei Beispielen aus der AGORA-Geschichte möchte ich verdeutlichen, wie der scheinbar unüberbrückbare Konflikt zwischen Minderheit und Mehrheit sich automatisch auflösen kann. Auf der einen Seite unterliegt gerade das politische Theater dem Vorwurf, dass es sowieso nur die schon Überzeugten und politisch Bewussten erreicht, in diesem Sinne also überflüssig ist. Das folgende Beispiel soll diese landläufige Meinung in Frage stellen. Anlässlich einer Aufführung von George Taboris „Jubiläum“ auf einem internationalen Festival in Deutschland war ein Veranstalter zugegen, der die Inszenierung der AGORA schon anderenorts gesehen hatte. Er war mit einigen Kulturverantwortlichen gekommen, um diese von einer Aufführung in ihrer Stadt zu überzeugen. Bei diesem Veranstalter handelte es sich um einen geschichtsbewussten, von der Vergangenheitsbewältigung überzeugten Menschen, der die Gefahren des Neo-Faschismus sehr wohl erkannt hatte. Er war ein Humanist und ein Intellektueller. Als er feststellen musste, dass die Aufführung ausverkauft war, er sich auf eine Warteliste eintragen und einer französischen Besuchergruppe den Vorrang lassen musste, ließ er sich hinreißen zu der Bemerkung: „Wie, die Franzosen, die kein Deutsch sprechen, dürfen in die Vorstellung und ich soll draußen bleiben?“ Ein kleiner Engpass, die Gefährdung eines Sitzplatzes im Theater, eine minimale Bedrohung seines Daseins haben ihn dazu veranlasst, diese erschreckende Aussage zu tun. Das Beispiel demonstriert, dass wir so oder so die Richtigen erreichen. Selbst wenn wir wirklich nur die Intellektuellen, also nicht die eigentlichen Täter, erreichen, können wir diese Intellektuellen stärken, indem wir an ihnen rütteln, indem wir ihre Überzeugungen hinterfragen, indem wir ihre Schwächen und Anfälligkeiten sichtbar machen … Auf der anderen Seite gibt es auch Berührungspunkte zu den Mehrheiten, die unsere Vorstellungen nicht besuchen. Als vor sieben Jahren unser LKW in einer Kurve die Schwerkraft verlor und Schrott war, stand die AGORA vor unüberbrückbaren finanziellen Problemen, die 326
zum einen dadurch gelöst wurden, dass die Politiker des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft uns sehr unbürokratisch Gelder zukommen ließen, und zum anderen ein Spendenaufruf in der Bevölkerung dazu führte, dass viele Einzelpersonen und Vereinigungen uns aus dem finanziellen Fiasko heraushalfen. Als der Neunjährige auf unserem Bürotisch sein Sparschwein leerte und der Opa von nebenan uns einen 1000-FrankenSchein in die Hand drückte, spürten wir eine Solidarität, die über das Zuschauerdasein hinausragte. Die gleiche Solidarität spüren wir bei den Mehrheiten, die unsere Aufführungen nicht besuchen, wenn wir beispielsweise auf einem Festival mit einer Inszenierung einen Preis erringen … 5. Künstler müssen Menschen lieben: Eine häufige Gretchenfrage insbesondere von Politikern an die Künstler ist, auch weil jeder weiß, dass sie heimatlose Gesellen sind: „Liebst du dein Vaterland?“ Diese Frage ist zum einen leicht und zum anderen schwer zu beantworten. Ich beantworte zuerst den leichten Teil der Frage: Ich liebe meine Frau, meinen Sohn und die Menschen, mit denen ich arbeite. Darüber schöpfe ich die Kraft, um mit dem Zuschauer in ein glaubwürdiges, ehrliches und vertrauensvolles Verhältnis zu treten. Ich rede auch ständig vom Zuschauer im Singular, nie vom Publikum als Anonymus. Weil ich dem Zuschauer als Individuum und Mitmenschen vertraue, ziehe ich es vor, ihn zu überschätzen, statt ihn zu unterschätzen. Eine Inszenierung muss dem Vergleich zwischen einem See und einer Pfütze standhalten: In einer Pfütze kann ich einige Zeit ungezwungen herumtrampeln, bis sie leer ist. In einem See kann ich schwimmen und tauchen, ohne dass ich ihn je gänzlich ergründen kann. Ein Kopfsprung von einem Sieben-Meter-Brett in eine Pfütze ist tödlich. Ich habe das Vertrauen in den Zuschauer, dass er ein Schwimmer ist, selbst wenn ich um das Risiko weiß, dass er in einem See ertrinken kann. Nun zum schwierigen Teil der Frage: Das Vaterland ist das Land des Vaters und seines Vaters. Auch in diesem Zusammenhang kann ich antworten, dass ich meinen Vater und seinen Vater, insofern ich mich an ihn erin327
nern kann, liebe. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die ihre Väter und deren Vaterländer leugnen … Wer als Künstler die Vaterländer mehr als die Väter liebt, wer als Künstler Ideologien und Systeme mehr liebt als den Menschen wird zum Zyniker und sollte seinen Beruf schleunigst an den Nagel hängen. 6. Fragen zum Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft: Wie überflüssig oder wichtig ist Kunst? Wie notwendig ist Kunst im Angesicht der Krisen, die unsere heutige Zeit rütteln? Hört Kunst nicht auf, Kunst zu sein, wenn sie sich marktwirtschaftlichen Gesetzen beugt? Verliert Kunst nicht ihren Standort für Utopien und ihren gesellschaftlichen Modellcharakter, wenn sie ein Zahnrad der Marktwirtschaft wird? Verlangt eine aufwachsende kulturelle Gemeinschaft – wie die unsere – nach Glitzerkultur und Hofkultur, die ihr gut zu Gesicht stehen, oder ist die Kultur ein Ort, an dem sich gesellschaftspolitische Fragen und Probleme am deutlichsten artikulieren können? Menschen mit geschichtlichem Bewusstsein wissen, dass dort, wo die Kunst keine Werte hinterfragen und keine Werte formulieren durfte, dass dort, wo die Kunst beschnitten oder verwahrlost wurde, die Gesellschaft und das sie tragende politische System aus dem Gleichgewicht gerieten und der Verrohung und der Verdummung der Menschen der Weg geebnet wurde. 7. Die Kulturträger als Botschafter unserer Gemeinschaft: Wir stellen regelmäßig auf unseren Gastspielreisen durch die europäischen Staaten fest, dass mit Belgien oder der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens viel Unwissenheit und viel Klischeevorstellungen verbunden sind … Die Künstler können sich mit ihrem Kunstschaffen erfolgreich dagegen wehren, dass unsere Heimat reduziert wird auf Wanderwege, dunkle Fichtenwälder und kulinarische Wochenenden. Mit unserem Kunstschaffen machen wir anschaulich, dass wir kein von der Folklore lebendes Minderheitsvölkchen von Herrgottschnitzern und Blechbläsern sind, dass hier nicht Eingeborene, sondern Europäer leben, dass es hier nicht nur eine Landschaft, sondern eine Kulturlandschaft zu besuchen gibt. Wir können 328
durch lebendige, bunte in vielen Kunstformen sich artikulierende Kultur zeigen, dass unsere Gemeinschaft weder Insel noch Biotop noch Freizeitpark noch Wildgehege ist. (…) 10. Warum wurde Crombach auf einmal mit C geschrieben? Weil Napoleon es wollte! Weshalb gab es ein Dorf, das einen eigenen Wald hatte? Weil Maria Theresia es so wollte! Weshalb wurde unsere Gegend nach dem ersten Weltkrieg als Kolonie behandelt? Weil General Baltia es so wollte! Weshalb durfte mein Großvater während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr bei der Eisenbahn arbeiten? Weil Hitler es so wollte. Weshalb kam mein Volksschullehrer aus der Provinz Luxemburg? Weil Unterrichtsminister Buisseret es so wollte! Weshalb bin ich Kunstschaffender in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien? Weil ich es so will! Zu mir, von mir, über mich:10 Ich bin Belgier. Das ist keine Tatsache, sondern ein Programm angesichts der historischen Vergangenheit dieser Gegend, aus der ich stamme. Unser Eck hat zehnmal die Nationen gewechselt, und weil ich überleben will, sage ich: Ich bin Belgier. Mein Vater war Waldarbeiter, meine Mutter Bäuerin, das hat meine Theaterarbeit mehr beeinflusst als Brecht, Stanislawski, Grotowski oder Mnouchkine zusammen. Theater mache ich, weil ich ständig auf der Suche nach der Antwort bin, wer ich denn nun bin. Und der Dialog mit den Schauspielern und mit dem Zuschauer sagt mir immer wieder, wie groß oder klein und wer ich gerade bin. Meine ureigenste Lust, das zu tun, was ich gerade tue, und die Neugier, andere Menschen und deren Biografien und Geschichten kennen zu lernen. Diese Neugier ist die Voraussetzung für die theatralische Arbeit. Diese Arbeit tue ich im Bewusstsein, dass das Theater von allen Künsten die gleichsam privateste und öffentlichste Form ist. Der private Moment ist meine Neugier auf die Geschichte der anderen, und deswegen glaube ich, dass ich ein sehr reicher Mensch bin. Mein Weg zum Theater: Vom Kühemelken habe ich derart Schmerzen in den Handgelenken gekriegt, außerdem konnte 329
mein jüngerer Bruder das besser, außerdem muss die Kuh etwas gegen mich gehabt haben, weil sie den Eimer mit einem geschickten Tritt umwarf, gerade wenn er voll war. Schließlich sorgte ich dafür, dass die Eimer regelmäßig umkippten, wenn sie voll waren, bis mein Vater gesagt hat: „Du machst das nicht mehr.“ In dieser Zeit habe ich dann angefangen, meine ersten Gedichte zu schreiben, in denen volle, leere und umgekippte Milcheimer, also mein Glück und mein Unglück, meine Freude und mein Schmerz enthalten waren. Daraus ist die Lust gewachsen, Realität zu gestalten. Die Entscheidung, keine Kühe mehr zu melken, war die Entscheidung, das Melken darzustellen; aber gleichzeitig sind mir deshalb diejenigen, die mich mit Milch versorgen oder mit Brot, sehr geschätzte und gleichberechtigte und zugleich wichtige Partner und Freunde im Kampf ums Überleben. Mein schönstes Theaterprojekt: Das, woran ich gerade arbeite, weil diese Ungewissheit und die Neugier auf den ersten Zuschauer ganz elementar für mein Leben sind. Mit drei Schauspielern reden und handeln und arbeiten wir gerade, was sehr privat ist, und bald ist es öffentlich für jemanden, den ich nicht kenne. Ich wünsche mir aber ganz konkrete Menschen als Zuschauer: das sind meine Eltern, die dann ins Theater gehen, wenn ich etwas inszeniert habe, das ist mein sechsjähriger Sohn Joshua, weil ich ihm nur das schenken kann, und das ist mein Nachbar Toni, der nie ins Theater geht. Toni schweißt uns zwar immer die abenteuerlichsten Bühnengebilde zusammen, und er erkundigt sich nach einer Tournee immer danach, ob sie den Zuschauern gefallen haben, und er kann wunderschön auf Frühschoppen damit prahlen, aber wenn ich ihn frage: „Kommst du zur Premiere?“, antwortet er dann immer: „Nach dem Pflügen oder nach dem Melken, wenn dann noch Zeit ist …“ Mein Wunsch für die Zukunft: Dass Toni in mein Theater kommt. 1993
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XX.
Ich liebe dich und alle Worte reichen nicht es dir zu sagen.
Glück ist die Umarmung einer Frau eine helle Sekunde einer Theaterimprovisation die Vereinigung zwischen Zuschauer und Inszenierung eine Fahrt in den Regenbogen ein gemeinsames Lied eine Eifersucht ein Blick oder Händedruck während des Aufbaus eine Fahrt in die Sonne ein Glas Wein im Bett ein Zigarillo aus deiner Dose Kerzen zum Geburtstag Woyzeck und Marie und die Träne auf meiner Zunge. Das alles zusammen mit dir ist Liebe. 1991 seit zehn Minuten der 30. 3.1994 Ich bin dann einfach losgefahren. Es war eine gefährliche Nacht. Eine Nacht, in der Unfälle passieren, der Leichtsinn und Irrsinn einen erfasst, Lichter in die Irre führen, das Glück sich selbst aufs Spiel setzt,
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der Kopf, nichts zu sagen hat und deshalb Kopflosigkeit schaltet und waltet. In einer solchen Nacht sollte man eingemauert sein. Ein kleines blondes Mädchen sammelt die Blätter der Kastanienbäume. Von den Kastanienbäumen regnet der Wind die Blätter durch den Park. Das kleine blonde Mädchen verharrt, als es den Blätterregen sieht. Für einen Augenblick Für eine Ewigkeit. Dann schwebt es wie ein Kreisel durch den Park, indem es die eingesammelten Blätter verstreut und mit glühenden Wangen lässt es sich fallen auf den Teppich aus Kastanienblättern. Dort liegt es still für die Ewigkeit. 1991 Mein armer Liebling! Du bist so weit weg. Ich weiß nicht wo. Ich weiß, dass du rufst. Aber ich höre nichts. So sehr ich auch in die Nacht lausche. 332
Ich sehe tausende Bilder und höre viele Stimmen wirr durcheinander. Wo bist du? Ich habe keine Adresse mehr für meine Briefe. Heißt tot sein, keine Adresse mehr für die Briefe haben? Bleibt nur die Erinnerung an unsere Dreihundertundneunzehn? Ich schlafe nicht ein. So ganz allein. Ich habe Theater gemacht, um nicht allein zu sein. Deshalb hatten wir uns so lieb. Jetzt liege ich wieder wach im Bett Ohne dich und jemand. Der Unfall war gestern. Bis morgen früh dauert es eine Ewigkeit. Meine Zeit ist verloren. Ich habe dich verloren. Gib mir ein Zeichen. Versuchs. 1991 In fünf Sekunden werfe/schenke ich dir einen Blick. In fünf Minuten gebe ich dir einen Kuss. In fünf Stunden liebe ich dich. In fünf Tagen gehe ich mit dir in die Sauna. In fünf Wochen fahre ich mit dir ein Wochenende weg. In fünf Monaten ziehe ich mit dir in eine neue Wohnung. In fünf Jahren mache ich mit dir eine Weltreise. In fünfzig Jahren wünsche ich mir 333
zu meinem Geburtstag eine neue Badehose. 2007 Nachttraum – hellwach11 Der Mann im Einbaum trifft die Frau auf dem Stamm der Fichte, die der Sturm entwurzelt und über den reißenden Bach geworfen hat. Sie tanzt auf dem Stamm einen Fuß im Schuh, den anderen nackt. Und sie trommelt mit beiden Händen auf den Unterleib, dass es im ganzen Walde hallt. Als er schwimmt im Einbaum unter sie hinweg treffen sich ihre Augen einen Augenblick und es sagen die einen „Nimm mich mit!“ und die anderen „Halt mich fest!“ Er fasst einen Ast der Fichte, der Strom reißt den Einbaum fort und das Gewicht der beiden bricht den Stamm der Fichte durch. Beide versinken im Wasser. Sie umklammern sich. Nein! Sie ertrinken nicht. Sie umarmen und küssen sich und tauchen nicht mehr auf. 1999
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Der Pfad zwischen Glück und Unglück ist schmal Der Pfad zwischen Glück und Unglück ist schmal. Oft überwuchert. Die Wurzeln der Bäume sind Stolpersteine. Er ist überdacht mit Ästen und Blättern, dass kein Licht durchdringt. Dann wieder wirft die Sonne Strahlen auf das Laub und die Schatten spielen mit ihm. Da wo kaum durchzukommen ist, wird das Grün modrig, der Boden feucht und träge. Du bist gebückt, betrachtet die Füße beim Gehen. Schlamm quillt zwischen den Zehen. Du schwitzt und Nadeln, Moos und Hände kleben auf der Haut. Du hörst dich atmen. Hände und Arme schützen das Gesicht oder schieben das Geäst beiseite. Du verharrst vor dem schwarzen Gefieder eines Vogels. Verstreute federn, die Flügel sind noch ganz. Welcher Kampf hat da stattgefunden? Du gehst weiter unbeirrt und ist das Glück links das Unglück rechts vom Pfad du weißt es nicht die Pflanzen sehen gleich aus links und rechts die Füße beschleunigen den Schritt ohne dass der Kopf es ihnen gesagt hat Du läufst Das Herz pocht die Äste schlagen dich. Die Angst ist auf deinen Fersen. Atemlos stehst du vor dem See 335
Du reißt Hemd und Hose vom Leib Du stürzt darin Hals über Kopf ins Wasser. Mit kräftigen Schlägen schwimmst du los. Du atmest tief ein und aus. Alles ist klar. Du schwimmst in das Zentrum des Sees. Dahin, wo das Ufer unerreichbar ist. Nur Wasser. 1999 Wenn ich fliege mit wachem Auge über die Lande trage ich mit mir im Gefieder dein Bild. Und nichts sonst begleitet meinen Flug damit die Kraft groß ist die Flügel weit sich spannen können und regelmäßig ist ihr Schlag der die Luft schneidet auch da wo sie dünn ist oder schwer. Und wenn die Sonne strahlt leuchtet dein Auge auf meinem Schnabel und einen Augenblick sind wir uns ganz nah so als wäre ich schon da Auge in Auge mit dir die ich liebe. 336
Und es beschwingt meinen Flug die Musik aus dem Norden die uns umhüllte als wir uns liebten das letzte Mal. Wie ich dich lieben (möchte) Wie wir uns lieben Auf Heu (das kratzt) und Laub, das tanzt in Büchern aus Worten im Himmel aus Küssen in Wolken blau und blass an roten Ampeln im Auto das fährt über die Autobahn auf dem Rücken der gelben Kuh lautlos nicht stumm voller Vergnügen lustvoll quietschend lachend, weinend, rauschend, trinkend Auge in Auge bis zur Leblosigkeit tags und nachts in hinteren Bühnenvorhang aus schwarzem Samt im warmen Schlamm im lauen Sommerregen durch Jahreszeiten so oder andersrum im Stall aus Kuh selbst in der Krone des Ahorns überall und immer immer wieder ein Leben lang im Teich nachts immer auch der Mond 337
in ihm badet und die Sterne Laternen 1999 Wenn ich jemandem zuhören
und es auf mich fließen lassen kann wie eine Dusche, bin ich verliebt. Wenn ich jemanden zuhören kann, und nach zehn Minuten weiß ich, wo er hin will und ich schweige und warte ab. Ist es Freundschaft. Wenn ich jemanden zuhören kann, zehn Minuten und ich weiß, was er sagen will und ihm die Antwort vorschlage, will ich zu dir. 1999 Du bist meine Freundin. meine Frau. meine Liebe. mein alles mein einzig + allein mein Stern meine Insel blaue Blume weiße Blüte meine Zehe aus den Strümpfen mein Zuhause meine Nahrung mein Licht 338
So aber viel mehr freue ich mich auf dich 2002
meine Luft du bist mein. und du fragst wer das ist der so reich ist. Ich gehöre dir Kapitalismus + Kommunismus in der Liebe! 1999 Köln Liebe Viola! Du hast recht: Wir sind ein schönes Paar. Wir sind das Paar. Es gibt nur uns beide. Ich bin bereit, alles aufzugeben, auch mein Leben. „Ich sterbe … (gemaltes Herz) … vor Glück!“ wollte ich sagen, als ich die Ohrfeige bekam. Ich bin mit Ohrfeigen aufgewachsen. Und manche Menschen hasse ich deshalb, andere liebe ich ihretwegen. Du darfst das, weil du alles darfst, weil wir uns heute gesagt haben, ICH LIEBE DICH. 1999
Frankfurt
Ich habe nicht Sehnsucht nach anderen Frauen. Ich suche jemanden der hat 339
Sehnsucht nach mir. Ich habe Sehnsucht nach Frau und wenn du es dann bist so bist du es, und nicht die Nachbarin die schöne Freundin nicht die junge Mutter nicht die Schwester oder Witwe, nein es bist jetzt du allein mit mir zu zweit wir. 2006 Du, dir will ich schreiben das grösste Lied das weiteste Gedicht das breiteste Theater die kürzeste Trilogie den dümmsten Roman den längsten Einkaufszettel den dicksten Zweiteiler aller Zeiten den lautesten Laut den leisesten Paukenschlag den riskantesten Spickzettel in Geheimschrift das geheimste Geheimnis aller Geheimnisse den süßesten aller Liebesbriefe die liebste aller Süßigkeiten und damit es sich wieder ereignet Haus- und Telefonnummer. 2006
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Ikarus – Köln – März 2001 Viola! Liebste! Und wenn mal jemand dich fragt: „Sag mal, eine Regieassistentin, muss die wirklich immer Kaffee kochen?“, dann kannst du antworten: Eine Regieassistentin kümmert sich um das Wohlergehen des Regisseurs und der Spieler, sie tröstet, wenn es mal laut war. Sie erinnert an gemeinsame Versprechen. Sie fragt die drei Männer, wie es so ist auf der Insel ohne Frau. Sie massiert die Seelen, sie macht Rückenwind beim Abflug, sie winkt beim Überflug, sie leckt Wunden bei Abstürzen. Sie sammelt die Federn wieder ein. Bei ihr schüttet der Regisseur sein Herz aus, bei ihr flucht er laut über Flauten, Luftlöcher, missratene Flugstrecken, mit ihr freut er sich über die ersten Hopser von Ikarus + Dädalus, auch wenn so noch keine Ozeanüberquerung zu machen ist und das Labyrinth im Kopf noch lange nicht entknotet. Schonend sagt sie I + D, dass zwar der Wind in den Segeln zu spüren war, der Weg nach Griechenland aber noch weit ist. Mal ist sie die Mutter, wenn die Männer ganz klein sind, mal ist sie Freundin, wenn die Männer wild mit den Flügeln flattern oder die Krankenpflegerin, kleine Schwester, und sie ist noch vieles mehr und das alles heißt: Kaffee kochen, ständig Kaffee kochen, Kaffee muss jederzeit griffbereit sein. Danke! Liebste! Von ganzem Herzen! Merheim, Mittwochnacht Schlaflose Nacht Noch nie war ich dem Tod, ich meine meinem eigenen Tod, so nahe. Es macht Angst. Es ist die Angst vor der Nichtigkeit. Dass alles, wofür man gelebt hat wofür man gekämpft hat was man geliebt hat, mit einem selbst verschwindet, 341
nicht im Nichts, sondern in der Nichtigkeit. Dass das Gesagte, Getane, Gedachte und Gelebte verkommt zur Anekdote, zur Fußnote oder zur leeren Hülse, wo ich doch will, dass das eigene Leben im Tod wird zur Kraft für die folgenden. Ehrenvoll wäre ein gemeinsames Essen mit den Freunden. Ich verteile, was ich nun nicht mehr benötige für meine Reise an die Freunde für ihre Reise. Sie packen es in ihre Rucksäcke, und es ist ihnen Proviant auf ihrem Weg durch das Leben. 2008 3.9. 2009 Ich bin sehr dünnhäutig. Der Rücken schmerzt. Die Nacht gibt keine Energie. Immer wieder werde ich wach, weil die Haut durch die Tabletten so gereizt ist und ich mich immer wieder drehen und wenden muss. Tagsüber bin ich dann schläfrig. Seit einer Woche schmerzt die Lunge. Ich habe mich bei einer Wanderung im Wald wohl erkältet. Ich schleppe mich durch die Zeit, versuche mich abzulenken, weil ich weiß, dass das Wesentliche, meine Gesundheit, nicht herstellbar ist. Ich rette die Zeit bis zur ersten Untersuchung Anfang Oktober. Hoffentlich kann ich mein Gewicht von sechzig Kilogramm halten. Es ist ein Teufelskreis, wenn zuerst die Energie für Bewegung und dann der Hunger fehlt. Ich muss vorsichtig sein. Öffentliche Auftritte bereiten mir viel Mühe, kosten Energie. Ich bin immer froh (Buchpräsentation in Huy oder Fest in St. Vith), wenn es glücklich geschafft ist, wenn ich funktioniert habe, und dann ist es ein Glück, wieder in den vier Wänden zu sein. Ich bin nicht wirklich in meinem Körper, weil ich ihn manchmal glaube verloren zu haben. Was ist mein Gewicht? Sechzig Kilogramm? Bleibt es so, oder versuche ich weiterhin zuzunehmen. Sind die vorübergehend oder sind sie ein Teil von mir. Bin ich krank? Gesund? Chronisch krebskrank? Ich finde nirgends eine verbindliche Aussicht, auch nicht im Kran342
kenhaus, obwohl mein Grundvertrauen in Merheim und die in die Onkologie bestehen bleibt. Gestern wollte ich wieder ein wenig sterben. Nicht wirklich. Nicht aktiv. Aber plötzlich erlebe ich, wie ich einschlafe, ohne wieder aufzuwachen. Es ist kein Weggehen. Eher ein Weggleiten. Oder weggetragen werden. Auch nicht von jemanden wie dem Wind z. B. Es passiert von allein. Ohne Aufregung. Ohne Geräusch. Wie eine Farbe, die verbleicht. Schneller halt. Neulich im Königsforst, als ich durch den Beginn des Herbstes in die Abendsonne wanderte, war es ein aktives Gehen ins Jenseits. Jetzt ist es Ohnmacht. Ich habe keine Macht über die Situation. Ich kann nichts steuern. Ich bin im Bett, das am Ast hängt. Der Wind bewegt es hin und her. Einmal wird es sich loslösen und zu Boden gleiten. Vielleicht ist das es? Ich bin auch nicht mehr umgeben von Menschen. Zunehmend allein. Nicht im Stich gelassen. Nein. Es ist auch keine selbstgewählte Isolation. Es ist so, weil die anderen in dem was sie tun für mich unerreichbar oder unverständlich oder unmöglich sind. Die Nähe ist für beide ein Hindernis. Umarmungen und Schulterklopfen schmerzen. Die Stimmen sind oft zu laut oder schrill, der Rhythmus ist zu tempogeladen. Ich komme nicht hinterher. Ich will es auch nicht. Ich habe keine besten Freunde mehr, weil ihre Nähe mir weh tut oder nicht guttut. Ich bin dünn und dünnhäutig. Leicht umzurennen. Nur mein Blick ist ganz klar. Ich habe sogar den Eindruck, dass sich immer mehr und besser sehe. Und doch habe ich dann keine Worte für das Gesehene. Ich will es nicht in Worte fassen, festhalten auf Papier. Es ist mir lieber, es gleitet mir aus den Augen, es fliegt vorbei, nach einem Augenaufschlag ist es weg. In Gedanken begleitet es mich noch ein wenig. Dann lässt es mich in Ruhe. So gewinnt es kein Gewicht, unter dem meine Schultern schmerzen. Es berührt kurz und flüchtig. Es rempelt nicht an. Es albert nicht rum. Poltert nicht um. Macht keinen Krach. Keine Faxen. Es labert einen nicht zu. In der Flüchtigkeit ist ein großer Respekt, dem anderen nicht zu nahe zu treten oder ihm gar auf die Füße zu treten. Es hat etwas von einem Tanz im wehenden Gewand. 343
Die Hände streifen sich im Dahingleiten. Es ist wirklich und auch nicht. Wie die Hände sich so berühren, das geschieht, dahinter steht keine Entscheidung, kein Wille, keine Absicht. Ich möchte nicht ständig Entscheidungen treffen. Die Dinge des Alltags passieren in einer großen Logik ohne Entscheidungen oder Absprache. Das ist gut. Es kostet keine Mühe. Das ist leicht oder doch zumindest erträglich. Natürlich berühren die Füße den Boden und da ist die Schwerkraft. Aber bei den ganz selbstverständlichen Dingen ist sie nicht schwer und verlangt keine Kraft. Nachmittags waren Roland und Kurt zu Besuch. Ich wollte es den beiden mitteilen, oder besser, Viola und ich wollten es den beiden mitteilen. Nicht dem einen oder dem anderen, sondern beiden. So war es offizieller und doch im engen Kreis. Ich habe den Nachmittag genossen, weil so vieles abfiel. So viele Ängste um das Morgen, die Feier der AGORA, die Veröffentlichungen, das Theaterfest, Personalentscheidungen, Mieten usw. sind in guten Händen. Ich konnte über mich reden. Über den vielleicht plötzlichen Tod. Wir mussten nicht tapfer sein. Wir konnten auch gut weinen. Ich bin guter Dinge, dass ich am 21. und am 22.8. und im Oktober meinen Mann stehen kann. Das ist die Hauptsache. Und ich möchte die Arbeit am „König ohne Reich“ mit der neuen Equipe beginnen. Dann habe ich meinen Ort in der AGORA. Danach habe ich meine Mutter angerufen. Das war wichtig, auch dass sie nicht traurig wird oder verzweifelt. Ich habe meine Stimme gestärkt und bin mutig ins Gespräch gegangen. Es war auch zu Ende, als mich die Kraft verließ. Bei ihr in Crombach ging die Haustürglocke, und auch wenn sie mit dem Papst höchstpersönlich verbunden wäre, da hält sie nichts, sie muss sofort öffnen. Wahrscheinlich sei es Papa, meinte sie, er habe drei Pfadfinder mit ihren Rucksäcken nach Gouvy zum Bahnhof gefahren. So konnte sie sich gut von mir trennen. Ich hab ihr das früher oft verübelt, dass sie mitten im Satz, auch bei wichtigen Themen, das Gespräch abbrach, um an die Türe zu eilen. Heute hat es gestimmt. 344
Mittwochmorgen, 3 Uhr 30 In mir ist ein dunkles Tier. Es hockt in meiner Brust. Es krallt sich fest will bleiben dort Die rechte Lunge ist sein Ort. Ich hab es auf dem Schirm gesehen. Es ist ein feister Wurm. Wenn nachts ich schlaflos lieg Bett die Stille ist so laut da hör ich wie es leise nagt in/an meiner rechten Brust. Mit seinen Zähnen beißt er nachts die Federn von den Flügeln ab ich hör es knistern hör es kaun. Es frisst sie auf mit Haut und Haar. So gerne würde fliegen ich auf und davon und in die Höh nur fort von diesem Ort. Denn dieses Tier fliegt mit mir fort ich kann ihm nicht entfliehen. Am Morgen fällt es in den Schlaf den es geraubt mir in der Nacht und wenn ich atme ein und aus schnarcht es in meiner Brust. 2008 Wie ist das mit dem Sterben? Ich hoffe, es gelingt, es so zu gestalten, überhaupt zu gestalten, dass die Kraft und Energie des ganzen Lebens in diesem Schlussmoment verströmen können, verströmen über den Globus und als Energie das Leben der Überlebenden (Tiere, Pflanzen, Menschen, Mineralien) befruchten. Stimmt der letzte Moment des Lebens nicht, ver345
pufft die Energie oder verwandelt sich gar in negative Kraft. Wenn Tiere geschlachtet werden, gerade auch Tiere der Massenhaltung, die dem menschlichen Leben am nächsten kommen, wird großer Wert daraufgelegt, jeglichen Stress zu vermeiden, der den Geschmack des Fleisches verderben würde. Die Tiere müssen ruhig in den Tod gehen, das Licht ist gedämpft, kein Krach, keine Hektik. Sie sind ahnungslos und deshalb ruhiggestellt. Wir sind aber leider von Ahnungen geplagt, wir wissen um das Ende. Und nun stelle man sich folgendes Ende vor: festgezurrt zwischen Schläuchen in einem Hospital oder gefoltert über Monate in Abu Ghraib oder mit Macheten werden dir in Ruanda die Gliedmaßen vom Körper getrennt oder in einer U-Bahn schlagen und stoßen Rechte dich in den Tod und du verkümmerst wie eine Pflanze, ohne Sonnenlicht und Wasser mangels Perspektive in der Hoffnungslosigkeit oder du verbrennst auf irgendeinem Scheiterhaufen irgendeiner Inquisition. Du wirst deiner Energie beraubt. Man raubt dir deinen Tod und damit dein Leben und all die Kraft dieses Leben. Du bist dann ungenießbar. Du wirst irgendwo verscharrt. Wie wichtig ist es also, das Sterben zu gestalten im Einklang mit dem Leben. So wirst du unsterblich, weil die Seele einfach wegfliegt. N. B.: Mir fällt jetzt ein, dass die Schächer Präsident Lumumba gefoltert, umgebracht, seine Gliedmaßen und den Kopf abgetrennt und verbrannt und verstreut haben. Der Zustand des Kongos zeigt, dass seine Energie vernichtet wurde. 2009 Nacht vor dem Auftritt, Bergheim Liebe Viola! Der Tag des Todes Du trägst mich durchs Dorf. Ich bin nackt. Sie stehen an den Straßen oder lauern hinter Gardinen. Auf dem Friedhof legst du mich in den Sarg. 346
Der Sarg wird ins Grab gelassen. Alle gehen. Abends kehrst du ans Grab zurück, wo du auf den Knien weinst. Davon werde ich wach. Es ist stockfinster. Ich rufe deinen Namen. Immer wieder. Lautlos! Stumm! Es sind stumme Rufe. Die Luft geht aus. Ich ersticke. 1999 Warum tue ich das immer wieder wo ich weiss dass der
Schmerz
immer grösser wird.
Jeder Abschied reißt mir aus der Seele ein Stück von mir, und noch eines. Ich spüre wie leicht ich werde immer leichter bis nichts bleibt als eine Feder die aus den Wolken fällt. Und Sie schauen hoch alle mit denen ich gespielt und gelebt auf der Bühne Sie sehen keinen Vogel der davon fliegt nur Wolken. 347
Die Sonne blinzelt Sie schützen den Blick sehen ratlos sich an. Der Regen kommt und schnell streifen sie über das Gefieder des Raben. 1999 Aufbruch „Eines schönen Morgens wurde er wach, und alles war weg: sein Bett, sein Schafzimmer, sein Thron, sein Schloss, seine Frau Königin, seine Diener, sein Volk, sein ganzes Reich. Nur die Krone war ihm geblieben, weil er abends vergessen hatte, sie abzusetzen. Er blickte um sich. Er rief in alle vier Himmelsrichtungen. Dann hielt er den Finger in den Wind, und weil es ein schöner Tag war, ging er los mit dem Wind.“ So beginnt das neue Stück der AGORA. Es ist unsere 37. Inszenierung. Wir haben 34 Länder unserer Erde bereist. Einige dieser Länder gibt es schon nicht mehr. Wir haben 3500 Mal vor über 900 000 Zuschauern gespielt. Es ist der Start ins dreißigste AGORA-Lebensjahr. Und doch geht alles von vorne los. Es herrscht dieselbe Aufregung. Dieselbe Neugier. Wir werden wieder alles neu verstehen lernen und begreifen, denn die Erde hat sich unermüdlich weitergedreht. Nichts bleibt, wie es ist. Im Gepäck haben wir die Erinnerung. Manche nennen sie Erfahrung. Wir werden neue Grenzen überschreiten, neue Kontinente betreten, uns neue Wege ebnen. Unser neuer Spielort, das Kulturzentrum Triangel wird ein Hafen sein. Von dem wir immer wieder aufs Neue aufbrechen und in den wir nach unseren Reisen zurückkehren. Wir hören nicht auf, die Nase in den Wind zu halten, die Segel zu setzen und die Welt zu bereisen. Der schönste Tag 348
ist der gerade anbrechende. Wir sind gespannt, wohin uns dieser Tag, unsere neue Spielzeit, f체hrt. Wir freuen uns auf viele Begegnungen. 2009 Gedanken 체ber den Tod Wenn ich irgendwann gehe f체r immer dann ist es, wie wenn ich auf Gastspiel fahre und ewig spiele irgendwo. Ewig und drei Tage. Die drei Tage sind die Zugabe und der nicht enden wollende Applaus. Was am Tag nicht verbrennt was die Nacht nicht verschluckt die Erinnerung verliert die Verdauung ausscheidet die Hoffnung verspricht die Verzweiflung verl채sst was bleibt wird verpackt zu Geschichten 349
die erzählt werden Jahre später an warmen Öfen in kalten Wintern der Nachfahren der verstorbenen Generationen zum Gedenken an was die Vorfahren uns ließen als Gedächtnis. 1999
Wir trinken zusammen den Augenblick So lange bis er ewig ist.
„Heute: Kohlhaas“
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1 Marcel Cremer: Begrüßungsworte zur Eröffnung des Theaterfestes und der 6. Spurensuche, 2002, in St. Vith. (Unter dem Titel „Spurensuche“ findet seit 1992 alle zwei Jahre an verschiedenen Orten das Arbeitstreffen der deutschen freien Theatergruppen statt.) 2 Diese „Verkehrsregeln“ hat Cremer im Laufe der Jahre modifiziert, um ihm selbst eine größere Entscheidungsmöglichkeit einzuräumen. 3 Dieser Brief an Georg Tabori wurde nicht abgeschickt. 4 Interview veröffentlicht im GrenzEcho, Nachdruck in: Fundevogel. Zeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur Nr. 99, 1992 5 Marcel Cremer: Der Weg vom bürgerlichen Ich zum künstlerischen Du. In: Horst Forester (Hg.): Theoretische Grundlagen theaterpädagogischer Praxis in der kulturellen und ästhetischen Bildung, Wolfenbüttel 1992 6 Referat vor Pädagogen aus Luxemburg im Rahmen des Schultheaterfestivals „Spring auf!“ 27. Mai 2004 7 Anlässlich der Jahrtausendwende veranstaltete das Kinder- und Jugendtheaterzentrum im Mai 2000 eine europäische Theaterwoche für Kinder in der Akademie der Künste, Berlin. Sieben künstlerisch sehr unterschiedliche Theatergruppen hatten zum Thema Zeit eine Uraufführung erarbeitet, die sie nach zwei gemeinsamen Workshops präsentierten. Im Fachgespräch nach der Aufführung von „Der kleine rote Prinz“ kam es zum Eklat. Eva Bal (Speelteater/Kopergietery, Gent), Hans van den Boom (Stella, Den Haag), Judit Benedek (Regionteatern Blekinge Kronoberg, Växjö) glaubten in der Inszenierung eine inzestuöse Beziehung zwischen dem Sohn und der Mutter zu entdecken und drohten mit der sofortigen Abreise. 8 Nach der Zerstörung des größten Kinder- und Jugendtheaters Belgrads wandten sich serbischen Künstler an die deutsche ASSITEJ mit Bitte um Beistand. Ihr Hilferuf blieb bei „Augenblick mal!“ zunächst ungehört. Auf dem Theaterfestival in NRW initiierte Cremer dieses Protestschreiben. 9 Dieser Beitrag bezieht sich auf einen Besuch der „Hamlet“-Inszenierung von Laurent Chétouane 2009. 10 Marcel Cremer, in: SPOT – Theater in NÖ, Nr. 64, Juni 1997 11 Eine CD mit den meisten hier abgedruckten Gedichten widmete Marcel Cremer 1999 Viola Streicher.
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Luxemburg. Häufige Wechsel der nationalen Zugehörigkeit waren die Folge. Die Gegend wurde im Laufe der Geschichte wiederholt zum Schlachtfeld und die Stadt Weihnachten 1944 von Bomben vollkommen zerstört. Cremers Inszenierungen tragen die Spuren dieser Geschichte. Das Ensemble gastiert in ganz Europa in deutscher, französischer und niederländischer Sprache. Innerhalb von dreißig Jahren sind 36 Stücke unter seiner Regie entstanden; als Autor und Co-Autor hat er zwanzig Bühnenwerke und zahlreiche theatertheoretische Texte verfasst. Er war Sonderbeauftragter der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens im Bereich Theater und hat als Dozent und Referent im Bereich der Theaterpädagogik unzählige Theaterworkshops im In- und Ausland geleitet. Als Begründer und künstlerischer Leiter des Internationalen TheaterFests in Belgien hat er seit 1986 den Austausch der freien Theaterszene ermöglicht und gefördert. Cremer arbeitete als Gastregisseur an diversen Theatern in Deutschland, u. a. mit dem Marabu Theater in Bonn, der Comedia in Köln, dem Theaterhaus und dem Theater Grüne Soße in Frankfurt am Main. National wie international wurde er für seine Arbeit als Regisseur und Autor vielfach ausgezeichnet. 2006 und 2007 gastierte die AGORA mit dem Stück „Die Kreuzritter“ auf dem Internationalen Theaterfestival in Avignon. Marcel Cremer verstarb im Dezember 2009 in Köln. 2010 erhielt er posthum den Parlamentspreis im Bereich Literatur für sein Buch „Der unsichtbare Zuschauer“.
Marcel Cremer war ein Grenzgänger. Nicht nur als Gründer und Leiter des AGORA Theaters, einer freien Gruppe in St. Vith, die als herausragende Institution der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens vorbildhafte Wirkung für ein interkulturelles Theater hat. Auch als Regisseur schuf er großartige Inszenierungen für Erwachsene und Kinder gleichermaßen, die die Zuschauer begeisterten, aber auch provozierten. Er entwickelte eine eigene Arbeitsmethode – das Autobiografische Theater –, die er auch in Workshops vermittelte. Christel Hoffmann, Wegbegleiterin von Marcel Cremer (1955–2009), gibt Einblick in sein nach wie vor aktuelles Werk. Tagebuchaufzeichnungen, Gedichte, Briefe, Reden und Manifeste, zu einem aufschlussreichen Lesebuch kompiliert, zeigen Kämpfe, Rückschläge und Erfolge eines leidenschaftlichen Theatermachers. Anhand einzelner Inszenierungen wird darüber hinaus gezeigt, wie das Erbe von Cremer vom AGORA Theater, das 2020 sein vierzigstes Jubiläum feiert, weitergeführt wird: in einer offenen künstlerischen Auseinandersetzung, die die eigenen Wurzeln nicht leugnet und doch in die Zukunft weist.
ISBN 978-3-95749-281-4
9 783957 492814 >