Wolfgang Engler Die andere Wahrheit
„Interesse versus Engagement: eine der großen Konfliktlinien unserer Zeit, ein Dauerthema im 21. Jahrhundert.“ Wolfgang Engler
Wolfgang Engler Die andere Wahrheit
Wendungen 1
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Inhalt 7 Der Auftrag 10 Leibhaftiges Denken 13 Produktiv gleich profitabel? 16 Hyperkommodifizierung und das Ende der Entfremdung 22 Das Janusgesicht der Moderne 27 Das Problem 32 Marktmoderne 38 Planmoderne
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46 Hybridmoderne 52 Die drei Modernen im Vergleich 57 Die Unterbrechung denken I: „Systemrelevanz“ 61 Die Unterbrechung denken II: „Evidenzbasierte Politik“ 64 Interesse und Engagement 71 Cleaner und Verfemte. Etablierte und Außenseiter 78 Die Dinge des Lebens Anmerkungen 91
Biografie 95
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Impressum 96
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Der Auftrag Ein Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, „Das Nest“, 1974 geschrieben, handelt von Kurt, einem Berufskraftfahrer, der mit seiner Frau Martha so einigermaßen über die Runden kommt. Nun erwarten sie ihr erstes Kind. Das macht Anschaffungen erforderlich, und sie wollen nicht geizen. Der Sprössling soll es gut haben vom ersten Tag an. Auf seinen Vater ist Verlass. Der hält sich aus allem heraus, denkt nur an die Arbeit, das wird schon. Der kleine Stefan kommt zur Welt und gedeiht. Und Kurt schiebt Woche für Woche Überstunden, wird unruhig, wenn er einmal nicht an die Reihe kommt. Dann erteilt ihm sein Chef einen „Spezialauftrag“. Für eine Sonderzahlung soll er ein paar Fässer mit Flüssigkeit in einem nahe gelegenen See entsorgen. Ohne näher nachzufragen erledigt er den Job. Wenig
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später erscheinen Frau und Sohn am selben Ort, um baden zu gehen. Kaum im Wasser, beginnt das Kind fürchterlich zu schreien. Es wird erst krebsrot, dann bläulich am ganzen Körper, sein Zustand verschlechtert sich rapide, es muss ins Krankenhaus. Kurt hat eine giftige Lauge in den See geschüttet, das wird ihm klar, als er davon erfährt, und das sagt er Martha, seiner Frau. Die nennt ihn einen „Mörder“, kündigt ihm die Ehe. Im Innersten beschämt, verzweifelt, wünscht er sich aus der Welt. Bald gibt es gute Nachrichten aus der Klinik. Dem Sohn geht es besser, er wird das Säurebad ohne Folgeschäden überstehen. Martha, wieder gnädig gestimmt, möchte vergeben, vergessen. Aber für ihren Mann gibt es kein Weiter-so. Er stellt den Chef zur Rede, „vergorener Wein“ lautet dessen Ausflucht. Die freche Lüge noch im Ohr, geht er zur Polizei, zeigt sich und seinen Arbeitgeber an. Die Sache macht die Runde. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft kommt auf ihn zu, verspricht Unterstützung. Und Kurt überlegt, selbst Mitglied zu werden. „Die Gewerkschaft, das sind viele.“ Vorhang. Ein Lernprozess mit beinahe tödlichem Ausgang, ausgeklügelt, realitätsfern, aufs Ganze gesehen, so will es scheinen. Hier wird einer im engsten Kreis von den
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Folgen seines ebenso blinden wie schädlichen Tuns eingeholt, unabweisbar, schmerzhaft. Lernt gleichsam hautnah. Durchstößt den Kokon, der ihn einschloss in seine kleine Welt aus Mann und Frau und Kind. Macht den Vorfall öffentlich, übernimmt Verantwortung. Geht infolge des Kurzschlusses von Handlung und Handlungsfolgen womöglich als ein anderer daraus hervor. Ein Sonderling, ein Sonderfall, kontrafaktisch zu den Verlockungen der Moderne, schadlos Schaden anrichten zu können, unentdeckt zu bleiben, ungreifbar; das Unheil baden andere aus, irgendeiner, irgendeine. Aber vielleicht ist das inzwischen unser Fall – trotz (oder aufgrund) der immer noch weiter ausgreifenden Verlängerung und Verzweigung der Handlungsketten, hinter der die Akteure in Deckung gehen können. Vielleicht stehen wir an einem Wendepunkt und es fällt nicht mehr so leicht, sich ins Dickicht der ‚abstrakten Gesellschaft‘ zu verkrümeln. Mögen viele weiter davon träumen, ungeschoren davonzukommen, wenn sie sorglos ihren Privatfisch schwimmen lassen. Aber da ist noch eine andere Wahrheit, eine konkrete, die unter die Haut geht, die alle Tricksereien, alle Versteckspiele nicht gänzlich zum Schweigen bringen können. Eine Wahrheit, die es schwer hat, ins Bewusstsein vorzudrin-
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gen, das Wort zu ergreifen. Plötzlich erscheint sie an der Oberfläche, und die Tarnung fliegt im Handumdrehen auf: „Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.“1 Und nun? Antreten zum Moralappell? Je suis Kurt – zumindest so lange, bis auch uns der Schlag trifft und wir endlich sehen, wer wir sind? Was hat es auf sich mit der späten Einsicht, die Kroetz seinem Protagonisten zuschreibt und die er uns zur näheren Prüfung unterbreitet?
Leibhaftiges Denken Betrachten wir den (fiktiven) Akt der Bewusstwerdung einmal aus der Nähe. Wir haben es hier in keiner Weise mit einer Kopfgeburt zu tun, im Gegenteil. Das Denken hat Kurt in seine missliche Lage gebracht, einseitiges, folgenblindes Denken. Er denkt viel, zu viel, denkt weg vom Ausgang seines Tuns, denkt diesen gleichsam zu, verwehrt, denkend, seinem Instinkt, der ihm hätte sagen können, sagen müssen, dass da etwas faul ist an der Sache, jede Mitsprache bei der Ausführung des Anschlags. Denkt an all denen zielsi-
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cher vorbei, die die bräunlich rote Flüssigkeit, die er ins Wasser laufen lässt, buchstäblich ausbaden müssen, macht „dabei kein verängstigtes Gesicht, eher triumphierend, selbstverständlich“. Denkt den See in dem Moment als Neutrum, das sich nicht wehren und dem er antun kann, was ihm beliebt. Derart schirmt er sich von allem ab, was die Erledigung seines fischigen Auftrags im letzten Augenblick durchkreuzen könnte: vom Leben im See, von künftigen Badegästen, von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut. Geht, nur mehr die Prämie im Kopf, bedacht zu Werke und macht sich aus dem Staub. Kurt, kein Zweifel, ist ein Kind der Moderne. Je suis Kurt! Doch dann trifft ihn der Schmerz mit einer Wucht, die die Kreatur in ihm aus der Fesselung befreit. Von Weinkrämpfen geschüttelt, schlägt er sich vor die Brust, greift, willens, sich aufzuhängen, zu einer Leine, lässt davon ab, nimmt eine Rasierklinge zur Hand, da tritt Martha mit der guten Botschaft in die Wohnung, die ihn nicht tröstet: „Mir graust vor mir, Martha.“ Sein Leib übernimmt die Führung, arbeitet sich zu dieser Selbsterkenntnis durch, gegen den Widerstand des Kopfes. Es folgen Taten: Warnschild am See, (erweiterte) Selbstanzeige, Tuchfühlung mit der Gewerkschaft.
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Lange schien es ihm vernünftig, von seiner Vernunft keinen Gebrauch zu machen. Als er zum ersten Mal vernünftig denkt, denkt er, von Schuld gepeinigt, unter Schmerzen. Damit, mit Schuldgefühlen, waren Eingriffe in die Umwelt – Jagen, Roden, Graben etc. – während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte eng verbunden. Archaische Opferriten und Opfermythen haben darin ihren Ursprung, desgleichen Erzählungen von menschlicher Hybris, von einer Urschuld des Menschen, als der zum homo faber wurde, seine Umgebung mit Faustkeil, Speer traktierte, mit Pfeil und Bogen. Erdverbundene Fraktionen des Produktionsprozesses, Bergleute etwa, bewahrten dieses Erbe, heutige Erntedankfeste weisen zurück in eine Zeit, in der die Menschen, von Mächten umgeben, die unerforschlich waren, stärker als sie, um den guten Ausgang ihrer Sache fürchten mussten. Marx übersetzt „Arbeit“ als „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“, und das wird sie bleiben, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. Mit der Zeit verblasste die konkrete, stoffliche Erfahrung des Arbeitens immer mehr, für immer umfänglichere Teile des „Gesamtarbeiters“. Die weitaus meisten, die
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diesem Moloch zuzurechnen sind, vollziehen irgendeine seiner weitläufigen Unterfunktionen, ohne sich dabei auch nur im Geringsten zu ‚beflecken‘. Welche Schuld sollte der Fallmanager einer Versicherungsgesellschaft angesichts des Unrechts verspüren, das ein x-beliebiges Unternehmen der Erde antat, als es sachfremd, zerstörerisch in diese eingriff? Sollte es Geschädigte geben, die den Verursacher verklagen, wird er an seinem Platz das Seine tun, um Schaden von seiner Firma abzuwenden; das ist ihm aufgetragen, das allein, mag dabei ein ganzes Ökosystem zugrunde gehen. Schadensabwicklung nach den Maßgaben der Moderne, auf dem Verfahrensweg, auf dem kein Jota Schuld sich einmischt. ‚Seine‘ Firma? Warum denkt, handelt der Zahlenfuchs auf diese Weise, obwohl ihm kein einziger Bürostuhl gehört? Worauf beruht seine Bindung an fremdes Eigentum und was bewirkt sie?
Produktiv gleich profitabel? Kroetz’ Versuchsanordnung versammelt alle Elemente, um eine Geschichte zu erzählen, die lange vor Kurt begann und die noch immer währt. Es ist die Geschichte einer großen Verkehrung, einer großen Ungerechtigkeit und einer leisen Hoffnung.
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Da ist der Fuhrunternehmer, der seinen Schnitt machen will, machen muss, ist er doch nicht allein auf seinem Feld. Konkurrenten sitzen ihm im Nacken. Um möglichst gut abzuschneiden, entsorgt er Abfälle seiner Firma zu geringen Kosten in die Umwelt: hundert Mark für den Fahrer, ein paar Mark für den Diesel. Lässt sie entsorgen. Von Kurt, seinem Angestellten. Der ist anstellig, weil er nur leben kann, wenn er Arbeit findet und leistet, die für den Arbeitgeber profitabel ist. Das geschieht, wenn Kurt während längerer Zeit für diesen tätig ist, als er benötigt, um den Gegenwert all dessen zu erwirtschaften, was ihm als Lohn zuteilwird. Das ist das Geheimnis der „Ausbeutung“, auch der gut entlohnten. Auf Kurt passt das hässliche A-Wort gar nicht so schlecht. Ihm gehört nichts von dem, womit er täglich in seiner Arbeit umgeht. Dieser Umstand hängt mit einer Enteignung zusammen, der man einen in die Irre führenden Namen gab: „ursprüngliche Akkumulation“. ‚Graue Vorzeit‘, meint man da, längst vergangen, abgetan. Tatsächlich ereignet sich dieser Vorgang, der das moderne Privateigentum geschaffen hat, stets von neuem, wenn sich Geld in Kapital verwandelt, sich Land, Bodenschätze, Wälder, Seen, ganze Stadtquartiere unter den Nagel reißt, Zugang nur denen gewährt, die dafür zahlen.
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Kurt steht da hintenan. Seine Dienste werden nicht besonders gut entlohnt. Das macht ihn gefügig, Arbeiten nach Dienstschluss zu übernehmen, schlechte Arbeit, schädliche. So wird er korrumpierbar, zum Mitgefangenen der wohl größten Tatsachenverdrehung seiner, unserer Welt, die darin besteht, produktiv, fruchtbar, nützlich etc. nur das zu nennen, was sich rechnet, Profit abwirft. Marx hat sich in seinen „Theorien über den Mehrwert“ seitenlang damit herumgeschlagen, Exempel für Exempel, ohne das vermeintliche Wunder gänzlich zu entzaubern. Eine Prostituierte, die einen Bordellbesitzer reich macht, ist produktiv, hingegen unproduktiv, sofern sie auf eigene Rechnung anschafft. Dieselbe wundersame Erhebung in den Adelsstand der produktive Klasse ereignet sich für Schriftsteller, Forscher, Lehrer, Ärzte, sobald sie vom Zauberstab des Kapitals berührt werden. Bis zu dieser Erweckung fristen sie ihr Dasein als ökonomisch unfruchtbare Mitglieder der Gesellschaft oder gar als Parasiten, die von der Allgemeinheit, den Steuern der wahrhaft Produktiven, ausgehalten werden. Man mag dem Kapital getrost zugestehen, dass es die Welt buchstäblich umgegraben, Wunderwerke geschaffen hat, von deren bloßer Möglichkeit die
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Alten keine leise Ahnung hatten; man mag dem Dreigestirn aus Privateigentum, Konkurrenz und Profitmotiv darüber hinaus bescheinigen, dass es die Arbeit technisch beflügelt, kooperativ und im Ergebnis dessen unermesslich ertragreicher gemacht hat, als sie es je in der menschlichen Geschichte war: Die Definitionsmacht über das zu erlangen, was intrinsisch produktiv ist, an und für sich, bleibt dem Vielfraß verwehrt. Wäre es anders, fielen Maßstab und zu Messendes in eins, gäbe es kein das Kapital transzendierendes Kriterium, um zu entscheiden, ob eine Praxis, das, was sie hervorbringt, den Menschen und der Erde tatsächlich zugute kommt oder ob das nicht der Fall ist. Jeder, der seinen Verstand gebraucht, seine Sinne sprechen lässt, weiß um diesen essenziellen Unterschied. Würde die Profitmaximierung sämtliche produktive Tätigkeiten kannibalisieren, versiegten schließlich deren Quellen und sie käme zum Erliegen.
Hyperkommodifizierung und das Ende der Entfremdung Kurt, nach seiner schmerzhaften Erfahrung, hat ein Gespür für diese Differenz. „Private Vorteile, öffentliche Laster“ lautet sein Fazit, seine neue, andere
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Wahrheit in Umkehrung des Untertitels von Bernard Mandevilles berühmter Bienenfabel aus dem Jahr 1714, als der Kapitalismus noch eine Utopie war: „Privat Vices, Publick Benefits“. Er streckt seine Fühler zur Gewerkschaft aus. Die Gewerkschaft, na ja. Deren Funktionäre verteidigten seit je und hartnäckig Industrien, Arbeitsplätze, deren Profitabilität unverkennbar destruktive Züge trug: Rüstung, Kohle, Schwerindustrie, und sie hüllten sich in Schweigen, wenn ruchbar wurde, dass systematischer Betrug die Geschäfte blühen ließ. Seit Kroetz sein Stück schrieb, ging es rapide abwärts mit den Mitgliedszahlen, mit der Arbeitersolidarität. Für viele Kapitalismuskritiker ein Symptom mehr für den finalen Triumph des obsiegenden Sozialmodells, für das ‚Schweigen der Lämmer‘, mögen diese noch so rabiat geschoren werden. Der Hauptstrom heutiger Kapitalismuskritik kommt dementsprechend kleinlaut, resignativ, letztlich affirmativ daher. Die Analyse der Verhältnisse führt nicht länger zur Aufdeckung von Widersprüchen, die über sie hinausweisen, schon gar nicht zur Identifizierung sozialer Akteure, die sie zum Tanzen bringen, vielmehr und auf leisen Sohlen zur Bekräftigung des krud Gegebenen: Zersplitterung des Sozialen, Isolation der
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Individuen, konkurrenzbetonter Habitus, ausweglose Komplizenschaft mit dem Modus Operandi neoliberal verfasster Gesellschaften. Mitunter schlägt dieser Gestus in eine bizarre Feier des ‚Siegers der Geschichte‘ um, in eine nachholende, desto innigere „Identifizierung mit der versagenden Instanz“, wie Freud das nennen würde. Mag die Arbeitskraft auch keine Ware wie alle anderen sein oder doch nur um den Preis einer Selbstgefährdung des Systems: Der Mensch im Hintergrund arbeitet unablässig an seiner Verwertbarkeit, der seiner Umstände, seiner Habe, und das ist gut so, rational, denn damit fährt er glänzend. Der Spalt genuin kritischen Bewusstseins schließt sich, was bleibt, ist der Tunnelblick, aber besser der, als die ewige Rückschau auf angeblich glücklichere Zeiten. Dem homo consumens gehört die Zukunft, niemandem sonst, und dessen Herrschaft tötet den Schmerz: „Das Vordringen der Kommodifizierung beseitigt die Entfremdung. Voraussetzung für die Entfremdung ist, dass wir uns einer Dichotomie zwischen uns als ontologischen Wesen und uns als wirtschaftlichen Agenten bewusst sind. Aber wenn die wirtschaftliche Handlungsmacht in uns selbst liegt, wird die Ordnung der Dinge so vollkommen internalisiert, dass es keinen Widerspruch mehr gibt.“2
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Es sei ein Irrtum zu glauben, die Individuen sträubten sich gegen Verhältnisse, in denen nur zählt, was einen Preis hat, sich vermarkten lässt. Sie kommerzialisieren ihre Freizeit, verwandeln ihr Auto aus totem in produktives Kapital, um für Lyft oder Uber zu fahren. Sie vermieten ihre Wohnung oder ihr Privathaus an Touristen. Sie fahren Essen aus. Sie hüten für ein paar Stunden die Kinder fremder Leute und empfinden die bis in den letzten Winkel ihres Lebens vordringende Vermarktlichung „als befreiend und sinnstiftend“.3 Keine Spur von Zwang: „Die Wahrheit ist, dass wir uns bereitwillig, ja sogar begierig an der Kommodifizierung beteiligen, weil wir uns durch die lange kapitalistische Sozialisierung in kapitalistische Rechenmaschinen verwandelt haben.“4 Die Wahrheit dieses hyperkommodifizierten Menschen ist abstrakt, verdrängt, was die kommode Stimmung trübt und allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz nicht aufhören will, von innen her an ihm zu nagen. Auch in den oberen Ständen. Dabei ist das Leiden der vom Glück Verfolgten an der Pflicht zum Glücklichsein so elitär wie manifest. Die Ich-Erzählerin in Julia Decks Roman „Privateigentum“ wird aus heiterem Himmel davon überfallen. Sie ist mit ihrem Mann in ein schmuckes, geräumiges
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Haus am Rand von Paris gezogen. Hier ist alles auf dem neuesten ökologischen Stand: Baumaterialien, Energieversorgung, Kanalisation. Das zum guten Leben Nötige bieten Geschäfte des gehobenen Bedarfs ganz in der Nähe feil. Will man zur Arbeit oder zum Shoppen in die Innenstadt, kann man auf das Auto verzichten. Der Nahverkehr der kleinen Siedlung ist bestens getaktet. Keine Viertelstunde, und schon ist man da. Die Frau, Anfang fünfzig, steht in ihrer Küche, liest einen Zettel, den ihr Mann hinterlassen hat. Er würde sich um das Abendessen kümmern, steht darauf, und dann passiert es: „Tränen stiegen in mir auf. Eine Minute später schluchzte ich vor Glück und dankte dem Himmel, dass er mir den besten Ehemann geschickt hatte, den eine Frau je gehabt hat. Ich habe lange geweint. An einem bestimmten Punkt wusste ich nicht mal mehr genau, warum ich eigentlich weinte. Ich betrachtete unser Wohnzimmer, das Parkett aus Massivholz, die schneeweißen Wände, die Fensterfront, die auf den von duftenden Buchsbäumen umsäumten Garten hinausging. Wir hatten von unserem Wohnzimmer aus noch nie so viel Himmel gesehen. Ich dachte, dass wir wirklich Grund hatten, glücklich zu sein, es sprach einfach alles dafür.“5
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Solche Trauerepisoden kehren anfallsartig wieder, grundlos nur dem Anschein nach. Sie weint, weil es, genau genommen, keinen Grund gibt, nicht zu weinen, weint, weil alles perfekt ist und jeder Eingriff, jede Veränderung die schöne Ordnung der Dinge nur stören würde. Für den realen Menschen mit seinen Ticks, seinen spontanen Einfällen ist da kein Platz. Die Rundumversorgung hat das Unvorhersehbare, das Ereignis, ausgesperrt und das Leben seines Reizes, seiner Würze beraubt. Kurt erkennt sich in dem, was er getan hat, wieder, als ein sich selbst entfremdetes Wesen, und genau das befähigt ihn, aus dem entfremdeten Dasein auszusteigen. Decks Ich-Erzählerin erkennt sich in dem Leben, von dem sie immer geträumt hat, nicht mehr wieder. Heulen vor Glück, Mal um Mal, da stimmt etwas nicht. „Wir machen einen Strich unter unser Privateigentum“, erklärt sie zum Ende hin. Das Paar verkauft das Haus, verlässt die Siedlung, mischt sich wieder unter die Leute in der Stadt. „Als Mieter hat man weniger Sorgen.“ Das dürfte sich als Irrtum erweisen – in einer Metropole wie Paris. Aber das wäre eine andere Geschichte mit einem anderen Widerspruch.
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Das Janusgesicht der Moderne Kurt hat für ein derart abgehobenes, spitzfindiges Leid kein Sensorium. Er trägt sein eigenes Bündel, seit er sich in die Augen sah und erkannte, als einen, der für ein paar Mark mehr zu allem bereit war, ein Dealer ohne Gewissen. Aber handelte er, mehr noch sein Chef, der wusste, was er tat, verlangte, nicht nach dem Drehbuch der modernen Welt, von Soziologen verfasst? Als Gesellschaftswesen, Ferdinand Tönnies’ klassischer Unterscheidung von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ ganz entsprechend? „Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleibend trotz aller Verbundenheiten. Folglich finden hier keine Tätigkeiten statt, welche aus einer a priori und notwendigerweise vorhandenen Einheit abgeleitet werden können […] Sondern hier ist ein jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen.“6 Allein mit allen auf dem von der Gesellschaft selbst vorgezeichneten Egotrip – liefert das die Erklärung, womöglich die Rechtfertigung für Kurts Willfährigkeit?
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„Gesellschaft“ – das ist heute mehr denn je der Inbegriff für lange, weit verzweigte, funktional ausdifferenzierte Handlungsketten sowie die Spezialisierung ihrer Glieder. Dieses derweil weltumspannende Interdependenzgeflecht ermöglicht im Prinzip ein harmonisches Zusammenwirken der Funktionen, so wie bei einem gesunden Organismus, eine „organische Solidarität“, wie Émile Durkheim das nannte.7 Die im Vergesellschaftungsprozess liegenden Chancen für ein friedfertiges, gedeihliches Zusammenwirken vieler erkundete in Durkheims Nachfolge vor allem Norbert Elias.8 Infolge dauerhafter und wechselseitiger sozialer Abhängigkeiten sehen sich die Akteure Elias zufolge veranlasst, ihre Triebe und Leidenschaften zu zügeln, gesellschaftliche Zwänge in Selbstzwänge zu verwandeln. Das wieder bewirke eine Wandlung des Intellekts. Um im gesellschaftlichen Kontext Prestige-, Macht- oder Aufstiegschancen zu wahren, werden die Individuen gezwungen, über ihren rein persönlichen Horizont hinauszudenken, die Fernwirkungen ihres Tuns zu antizipieren, die Fähigkeit zur Langsicht zu entwickeln. Zurückhaltung, Mäßigung, Triebverzicht, einst Privileg der Oberschichten, erfassen nach und nach die gesamte Gesellschaft, all ihre Untergruppen, wodurch sich das Risiko erhöhe, mit seinem Verhalten sozialen Anstoß zu erregen, andere zu beleidigen oder
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zu kränken. Das „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen“ sei der Preis, den der Prozess der Zivilisation von den Menschen fordert. Einen Automatismus, der sicherstellt, dass sich das zivilisatorische Potenzial moderner Vergesellschaftung tatsächlich entfaltet, gebe es nicht. „Die Zivilisation ist niemals vollendet und immer gefährdet.“9 Die Zivilisation sei selbst ein Teil der Gefahr, die es zu bannen gelte, wegbereitend für den Horror des 20. Jahrhunderts, konterte Zygmunt Bauman: „Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar.“10 Hier sein Kontra in Kürze: „Die wachsende physische und psychische Distanz zwischen dem eigenen Handeln und dessen Folgen bewirkt nicht nur, daß moralische Hemmungen wegfallen, sondern verschleiert auch die moralische Tragweite des Handelns und befördert auf diese Weise das Auseinanderbrechen von individuellen ethischen Grundsätzen und den sozialen Konsequenzen der Handlung. Indem die meisten sozial signifikanten Handlungen durch eine lange Kette komplexer Kausal- und Funktions zusammenhänge vermittelt sind, rücken moralische Probleme aus dem Blickfeld, denn es bietet sich nur selten die Gelegenheit zu Überprüfung und bewusster moralischer Entscheidung.“11
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Auch hier gibt es keinen Automatismus. Es bedarf zusätzlicher Bedingungen, politischer, ökonomischer, kultureller, damit sich die in die Vergesellschaftungsdynamik eingebaute Spannung von Hemmung und Enthemmung zerstörerisch entlädt und zum Äußersten führt, zum Umschlag von Zivilisation in Barbarei. Moderne Vergesellschaftung, das offenbart die Kontroverse, besitzt ein Janusgesicht. Sie verbindet die Menschen und entfernt sie voneinander, macht sie einander gewogen und infiziert sie mit dem Bazillus seelenloser Indifferenz; sie zügelt den Egoismus und entfesselt ihn. Der Andere wird zum Ko-Akteur und verliert, als fremder Anderer, sein Gesicht; ein potenzielles Opfer. Indem die Einzelnen mit ihren Spezialfunktionen gleichsam verwachsen, überblendet ihr kleinteiliger Funktionsstolz die langfristigen, unter Umständen destruktiven Folgen ihres Tuns. Je länger diese Praxis währt, desto höher stapeln sich die Handlungslasten in der Umwelt, wo andere Akteure ebenso verfahren, wodurch sich der Schaden immer weiter fortpflanzt, sodass schließlich ganze Teilsysteme der Gesellschaft vor dem Kollaps stehen. Die Weltfinanzkrise von 2008/09 liefert das jüngste Beispiel für einen solchen Überlauf. Auf individueller Ebene übersetzt sich die Ambivalenz der Moderne in den Streit zweier Wahrheiten, einer
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abstrakten und einer konkreten. Beide begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Von Waffengleichheit kann keine Rede sein. Unter den obwaltenden Verhältnissen geschieht alles, um die abstrakte Wahrheit, die die Funktionslogik des Systems zur Norm erhebt, zum Sieg zu führen: Maximiere deinen Ertrag, den der funktionellen Einheit, der du angehörst, und vermeide alles, das dich ‚weich‘ werden lässt, sodass du am Ende den Ansprüchen von Außenseitern größeres Gehör schenkst als den Forderungen aus deiner sozialen Echokammer. Die konkrete Wahrheit hat es schwer, dagegen anzukommen und ihre eigene Sprache zu führen. Ist sie doch in jeder Hinsicht das negative Abziehbild der abstrakten. Sie berichtet von dem, was man nicht vermag, nicht zu tun bereit ist, weil man die ausgrenzende Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdinteresse, Insidern und Outsidern, auf der das Spiel beruht, nicht mitmacht. Sie ist die andere Wahrheit, die es trotz aller Bekehrungsversuche noch immer gibt, die von minderer Güte, die Wahrheit der Schwachen, der Zauderer, der Versager. Manches spricht für eine Auflösung dieser Konstellation, für eine Umgruppierung der Kräfte. Das lange Unwahrscheinliche ist eingetreten. Wir alle werden von den (ökologischen) Folgen unseres Handelns, mehr
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noch des Handelns unserer Vorgänger eingeholt, unausweichlich und auf lange Sicht. Die abstrakte Wahrheit war lebensfeindlich seit je, im Ansatz falsch, jetzt kann man das spüren, und plötzlich sieht sie alt aus. Ihr Widerpart rekrutiert tagtäglich neue Anhänger. Sich in einer Welt nicht irre machen, nicht korrumpieren zu lassen, die es genau darauf anlegt; jedes Sandkorn so zu betrachten, als spiegele es das ganze Universum – so, überheblich, unvernünftig, spurt man aus dem Mainstream aus.
Das Problem Die Unterscheidung von Selbst- und Fremdinteresse ist eine zulässige, sinnvolle, sachlich gebotene Unterscheidung. Gesellschaftliche Individuen bleiben wesensmäßig voneinander getrennt, auch wenn sie miteinander verbunden sind. Der Andere existiert unabhängig von mir, ist eine Realität für sich. Seine und meine Interessen können konvergieren, müssen das aber nicht. Darüber, wie es sich konkret verhält, liegt ein Schleier der Ungewissheit; zu unterstellen, dass dieser sich auf Anhieb in wechselseitiges Wohlgefallen auflöst, wäre unklug. Klarheit bringt erst der Praxistest, wiederholte Interaktion. Die dabei gesammelten Erfahrungen entscheiden über Abbruch oder Fortsetzung derselben.
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Agiert der Andere als Teil einer funktionellen Einheit, der Regelfall im ökonomischen Kontext, verkompliziert sich die Sache, weil nun zweierlei in Betracht zu ziehen ist: funktionelles und privates Fremdinteresse. Allgemein ist davon auszugehen, dass sich der Andere das funktionelle Interesse zu eigen macht und mir als sein eigenes präsentiert: „Das ist ein gutes Angebot, da würde ich auch zugreifen.“ Derart verleiht er der Interaktion von sich aus einen persönlichen Anstrich, der mich allerdings kaum darüber hinwegtäuschen wird, dass er als Funktionär agiert. Der Andere kann den ihm auferlegten Auftrag aber auch dadurch zu erreichen versuchen, dass er einen Interessenkonflikt zwischen sich als Person und der funktionellen Einheit inszeniert, für die er tätig ist. „Ich dürfte Ihnen diesen Vorteil eigentlich gar nicht offerieren, tue das aber aus Sympathie zu Ihnen.“ Jetzt sind wir zwei, die Heimlichkeiten miteinander teilen. Der Andere hat sich aus der Deckung gewagt, reicht mir als Individuum die Hand und wartet, dass ich einschlage. „Aber das ist doch nur ein Trick mehr, um mich mein Selbstinteresse vergessen zu lassen, darauf fällt doch niemand, der bei Verstand ist, rein“, wird man erwidern, und vielleicht auf einen deutschen Spielfilm verweisen, der im Jahr 1975 in die Kinos kam: „Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat“, wie immer diese auch kaschiert sein mögen.
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Das stimmt, aber nicht jeder, der so denkt, hat, wie diese, Glück im Unglück, in Gestalt eines mit allen Wassern gewaschenen Bankfachmanns, der einem aus der Patsche hilft, wenn man zu spät bemerkt, dass es der lange Arm der Bank war, der die hilfreiche Hand, in die man einschlug, führte. Auf dem weiten Feld ökonomischer Transaktionen geschieht alles, von der Finte bis hin zum geschäftsmäßigen Betrug, um unser Misstrauen einzuschläfern. Hier mausert sich die Unterscheidung von Selbstinteresse und Fremdinteresse zu einer das Fremdinteresse aus dem Selbstinteresse ausschließenden Unterscheidung. Und das ändert alles. Denn nun wird zwischen beiden eine unsichtbare Mauer hochgezogen, die Diesseits von Jenseits trennt und nach außen hin erlaubt, nicht selten fordert, was im Inneren strikt verboten ist: andere um des eigenen Vorteils willen zu täuschen, zu schädigen, zum Ding zu machen. Kurt ist in diesem Pandämonium ein eher kleines Licht. Er handelt fahrlässig, nicht vorsätzlich. Die Handlungskette, in die er eingeschaltet ist, ist überschaubar: der Chef, er selbst, der See. Er muss niemanden hinters Licht führen, um seinen Zweck zu erreichen. Der Einzige, den er bei seiner Tat antrifft und der ihn hätte davon abbringen können, ist der See als Leben voller
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Leben. Aber der kommt ihm in dieser Eigenschaft, als satisfaktionsfähiger Dritter, überhaupt nicht in den Sinn, nicht über die Lippen. Der Kraftfahrer unterhält ein instrumentelles Verhältnis zur Welt und das ist zum Geringsten seine Schuld. Er, seine Frau, Menschen in deren sozialer Lage machen im Allgemeinen nicht viel Worte, wenn ihr Seelenleben ins Spiel kommt oder wenn sie sich über Dinge verständigen, die jenseits ihrer praktischen Belange und Bedürfnisse liegen. Sie ziehen die große Welt in ihre kleine hinein, und was da nicht hineinpasst, nicht übersetzbar ist, bleibt außen vor. Kroetz war mit diesem Milieu vertraut, ein guter Beobachter. Ein kleiner Auszug aus einem Gespräch von Kurt und Martha soll die Welterfassungsweise seiner dramatischen Personen verdeutlichen: 12 Martha Tust dich nicht schonen, Kurtiman, das is es.
Laßt keine Mark aus, die man kriegen kann. Kurt Bestimmt ned. Pause Kurt Alles da! Fehlt dir was? Martha Was denn? Kurt Es gibt viel, was man einer Frau bieten kann. Martha Du tust, was du kannst. Kleine Pause
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Kurt
Andere verdienen mehr wie ich.
Martha Ich bin zufriedn. Kurt
Oder sie ham das gleiche, aber ohne Überstundn. Mehr daheim! Lächelt Martha Wie es der Mann herkriegt, is seine Sach. Hauptsache, es ist da. Kurt lacht, nickt Und es is da! […] Martha Du machst es schon, da bin ich sicher. Kurt Und wie! Ein Beamter hat die Sorgn natürlich ned, keine Krisenanfälligkeit, immer das gleiche, ganz egal, was passiert, das is der Unterschied. Martha Jeder kann nicht Beamter sein. Kurt Nein. Pause Kurt Die Gastarbeiter, sagt der Chef, die springen jetzt einer nach dem andern über die Klinge. Kleine Pause Verstehst? Entlassungen. Martha Du bist doch kein Gastarbeiter! Kurt Gott sei Dank ned. So wie Kurt sich nach oben und nach unten abgrenzt, grenzt er sich auch nach außen ab, zur Mitwelt, zur Umwelt. Er führt kein Zwiegespräch mit dem See, bevor er ihn vergiftet, wozu auch, da kommt doch nichts zu-
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rück? Das aber müsste er, müssen wir an seiner Stelle, um das Kardinalproblem moderner Gesellschaft mit heutiger Dringlichkeit aufwerfen zu können: Wie vermittelt man zwischen Selbst- und Fremdinteressen so, dass beide gleichberechtigt zum Zuge kommen und der lange unsichtbare, reaktive Dritte, das Erdsystem, dabei nicht zerstört wird und uns abwirft? „Moderne Gesellschaft“, da denkt man intuitiv an Kapitalismus. Das liegt nahe, weil diese als kapitalistische auf die Welt kommt. Aber dieser Erstling ist nicht die ganze Auskunft der Moderne, die in drei Ausformungen existiert: als Marktmoderne, als Planmoderne und als Hybridmoderne. Sehen wir zu, welcher Mittel sich diese Modelle bedienen, um das Problem der Moderne in den Griff zu bekommen: einen gesellschaftlichen Nexus zu erzeugen, der die Fliehkräfte der funktionellen Einheiten, deren Egoismus, so zügelt, dass die zivilisatorischen Bestrebungen die Oberhand über die dezivilisatorischen gewinnen.
Marktmoderne Privateigentum, Konkurrenz, Profitmotiv: Das ist die Troika kapitalistischer Vergesellschaftung, der die Verselbständigung der Funktionen und Glieder naturnotwendig eingeschrieben ist.
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Das Privateigentum zieht eine Grenze zwischen dem, worüber man verfügt und worüber man nicht verfügt. Die Unverfügbarkeit über fremdes Privateigentum eröffnet einen Raum, in dem die Privaten ihre Kräfte miteinander messen, den Raum der Konkurrenz. In ihr besteht, wer profitabel wirtschaftet, seine Kosten deckt, einen Gewinn erzielt, diesen reinvestiert und folglich wächst. Die Triebfeder dieses Kräftemessens, bei dem nur der besteht, der größer, stärker wird, ist der Eigennutz. Diesem ist im Prinzip jedes Mittel recht. Daraus resultiert ein latenter Krieg aller gegen alle, der jederzeit ausbrechen kann und tatsächlich ausbricht, sobald die Risiken, zum Nachteil anderer zu prosperieren, kalkulierbar werden. Wer in diesen Raum hineinhört, vernimmt das Hintergrundrauschen der Raubzüge, der gewaltsamen inneren und äußeren Landnahmen, die den modernen Kapitalismus erzeugt haben und weltbeherrschend werden ließen. Die Beute wurde im Recht codiert mit dem Ziel, das Privateigentum unangreifbar und unsterblich zu machen.13 Es geht an dieser Stelle nicht um Moral. „Wir erwarten unser Essen nicht von der Wohltätigkeit des Fleischers, Brauers oder Bäckers, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe und
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sprechen mit ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.“14 So zu denken fühlt sich Adam Smith berechtigt, weil er zugleich an einen Mechanismus denkt, der die Eigenliebe wider Willen auf tugendhafte Pfade leitet, dem allgemeinen Wohl verpflichtet: an den Markt. Folgen wir ihm ein Stück des Weges und denken den Markt wie er, wie die Ordoliberalen, als Markt mit „vollständigem Wettbewerb“, ohne Privilegien, ohne sich verfestigende Monopole, so dass Selbst- und Fremdinteresse einander ‚fair‘ begegnen, gleichberechtigt, und nur der ‚gesunde‘ Egoismus die Ernte einfährt. Und indem wir so denken, denken wir den Kapitalismus als Marktmoderne, den Markt selbst als erste, epochale Antwort auf das Moderneproblem, wesensmäßig voneinander getrennte, selbstsüchtige Akteure auf fruchtbringende und zivile Art und Weise zusammenzubinden. Diese Geschichte ist hinlänglich erzählt, weitgehend als Erfolgsgeschichte, und eine solche wurde sie infolge der Zivilisierung des Lohnarbeitsverhältnisses, der Herausbildung einer bürgerlichen Form der Lohnabhängigkeit in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Nationen. Dass dieser Fortschritt zu Lasten des ‚unsichtbaren Dritten‘ ging, der Erde, fiel dabei unter den Verhandlungstisch, an dem einzig Kapital und Arbeit saßen.
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Nun sitzt die Malträtierte, Anwälte zur Seite, mit am Tisch, fordert Entschädigung für das ihr Angetane und meldet weitergehendere Ansprüche die Zukunft betreffend an. Gesenkte Köpfe, Schuldeingeständnis und dann die Flucht nach vorn: „Der Markt löst die Probleme, die der Markt verursacht.“ Und das tut er nach Maßgabe seiner Möglichkeiten. Gravierende Umweltschäden zeugen eine florierende Umweltindustrie. Die filtert Schadstoffe aus der Luft, dem Trinkwasser, renaturiert Flüsse, recycelt Wertstoffe. Der Handel mit Verschmutzungsrechten (was für ein Wort!) spornt, bei ‚sportlichen‘ Grenzwerten, notorische Umweltsünder zur ökologischen Inventur ihrer Produktionsverfahren an. Nachhaltige Land-, Bau-, Energiewirtschaft, Wachstum ohne Leiden, ja, was denn sonst? Geoengineering nicht zu vergessen, Sammelwort für die Zukunftsmärkte des Anthropozäns: Beeinflussung der Sonnenstrahlung durch den Transport reflektierender Partikel in die Stratosphäre, großflächige Abdeckung der Wüsten, Eisendüngung der Meere, Klimafarming, direkte Eingriffe in das Wetter durch künstliche Wolken. Die Spirale der Vermarktlichung dreht sich unablässig weiter, Hiobsbotschaften treiben sie nur weiter an. Die Polemik des Marktes gegen sich selbst, seine Fehlfunk-
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tionen, aus denen er zusätzliche Nahrung zieht, sodass er sich stets noch verjüngt statt zu vergreisen, das ist das Geheimnis seines Erfolgs! Ganz falsch lag Mandeville nicht mit seinem „Private Vices, Publick Benefits“; in seiner Zeit ein Aufreger, wie unmoralisch, wie abgrundtief zynisch! Dreihundert Jahre später hätte er der Marktmoderne vielleicht ein anderes Aperçu gewidmet: Private Vices, Private Benefits. Ad infinitum? Ihr Janusgesicht verliert diese Moderne bei alldem nicht. Es sind und bleiben in Konkurrenz verstrickte, auf ihren Profit bedachte Privateigentümer, die die Sünden von ihresgleichen ‚aufarbeiten‘, wobei sie, sobald ihnen die Möglichkeit dazu wird, neue Sünden begehen. Statt die Jauche heimlich in den See zu kippen, wird sie heutzutage gesammelt, verfrachtet, verschifft und oftmals unter Mitwirkung lokaler Autoritäten dort entsorgt, wo keiner genau hinsieht. Die Folgen baden dann, ganz wie bei Kurt, die Ortsansässigen aus. ‚Schmutzige‘ Unternehmen auf Standortsuche kartografieren die Erde, unterteilen sie in Zonen und siedeln sich gezielt dort an, wo sie mit politischem Entgegenkommen sowie mit der Duldsamkeit der dort lebenden Menschen rechnen können. Geringer Bildungsgrad,
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wenig Streit- und Kampfeslust, Bevorzugung rechter Parteien, Gewöhnung an Umweltschäden über Generationen hinweg – so sehen ihre Präferenzen aus.15 Wenn sich strengere Vorschriften zum Ausstoß von Schadstoffen durch Lobbyismus nicht verhindern lassen, fügt man sich nach außen hin und hintertreibt das intern generalstabsmäßig ohne Rücksicht weder auf die Endverbraucher noch auf die Atemluft. Platzt der Coup, faselt man verniedlichend von „Schummelsoftware“. Geldfabriken boten den Regierenden nach dem Crash der Finanzindustrie ihre Dienste bei der Evaluierung und Abwicklung der Schäden an, bekamen den Zuschlag mit der Folge, dass etliche von ihnen zu einer Größe heranwuchsen, die sie im neuerlichen Krisenfall in dieselbe privilegierte Lage versetzt wie die Bankrotteure: too big to fail. Künstlicher Verschleiß von Produkten mittels Vermodung oder Death Dating, auch das kein Dienst am Kunden, und damit endet das Sündenregister der Marktmoderne noch lange nicht. Kein Grund, sie zu verdammen, kein Grund, sie zur letzten Auskunft der Geschichte hochzujubeln. Sie züchtet den gesunden Egoismus und den kranken. Sie baut das Fremdinteresse in das Selbstinteresse ein, wenn sich das rechnet, und schließt es daraus aus, wenn sich das besser rechnen könnte.
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Das Interesse der Allgemeinheit inklusive Erde bleibt daher in der Schwebe, und das kann nicht so weitergehen, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist, weil das dann niemand mehr erleben würde. Also doch Moral als Ausweg: Menschlichkeit statt Eigenliebe? Vom Ich zum Wir? Es gab da einmal eine Idee, die kam voller Zuversicht daher, als prinzipielle Lösung des Moderneproblems, als andere, höhere Wahrheit, mit der Geschichte selbst im Bund. Hatte der Kapitalismus die Produktion doch in einer Weise vergesellschaftet, die diese mit den beschränkten Eigentumsverhältnissen kollidieren ließ, Krisen, Katastrophen heraufbeschwor, die die Ge sellschaft als solche in die Pflicht rief, als hauptsächlichen Veranstalter des Produktions- und Lebensprozesses. Und so geschah es in einem Teil der Welt, einen Staat lang.
Planmoderne Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den administrativen Sozialismus aus der Moderne auszuschließen. Sie gingen naturgemäß von jenen aus, die diese zuvor in den liberalen Kapitalismus eingeschlossen hatten. Die-
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ser Platzmangel in der Moderne ist künstlich, hausgemacht. Wohl standen die Gesellschaften des ehemaligen Ostens denen des Westens an funktionaler Differenzierung sichtlich nach, weil deren Architektur infolge der Verstaatlichung des Privateigentums eine alles überwölbende Entscheidungsebene vorsah. An die ‚Substanz‘ der Moderne, lange, weitverzweigte Handlungsketten, Spezialisierung ihrer Glieder, wechselseitige Abhängigkeit der Individuen wie der funktionellen Einheiten, knüpfte man jedoch an oder schuf sie, wo sie nicht gegeben waren, mittels Industrialisierung und Kollektivierung aus sich heraus. Und damit handelte man sich auch das Problem der Moderne ein, nur dass es sich hier auf umgekehrte Weise stellte: soziale Großeinheiten zu konstruieren, die den Ehrgeiz ihrer Untergliederungen, das allgemeine Wohl zu befördern, wachriefen, ohne dass diese den ihnen vorab zugewiesen Platz verließen und aus der Reihe tanzten. Statt den Egoismus in tugendhafte Bahnen zu lenken, ging es darum, die Tugend geschmeidig zu machen, sodass sie Eingang in die Herzen der Menschen fand und diese aus freien Stücken taten, was sie bis dato nur unter der Knute oder dank des stummen Zwangs des Marktes zu tun bereit gewesen waren. Verlassen wir die ideologische Zone (‚Kapitalismus‘ versus ‚Kommunismus‘, ‚Freiheit‘ versus ‚Zwang‘)
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und wenden uns der Planmoderne zu, ihren Leistungen und Tücken. Planung ist der Marktmoderne keineswegs fremd. Unternehmen antizipieren die Trends der für sie relevanten Märkte und setzen sich auf dieser Grundlage langfristige Ziele bezüglich Investitionen, Beschäftigung, Ausbildungsplätzen. Regierungen stützen sich auf Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, um Klarheit über erwartbare Einnahmen, Ausgaben, über die Gestaltung ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu gewinnen. Forschungsinstitute, bald der Arbeitgeber-, bald der Arbeitnehmerseite zugeneigt, versorgen die Akteure mit Prognosen. An Wissen fehlt es nicht, nur erlangt dieses Wissen keine Verbindlichkeit. Genau darauf hob die Planmoderne ab. Sie konzen trierte Planung und Ausführung in einer Hand, der des Staates. Dabei hatte die Planung stets beides im Blick, das große Ganze und die Einzelheiten, die Entwicklung von Produktion und Konsumtion, von Preisen, Löhnen, Mengen auf Jahre hinaus und auf kurze Sicht. Der Staat, der Eigentümer der Betriebe war, verfügte auch über das Betriebsergebnis, den Gewinn. Ob dieser in das Unternehmen zurückfloss, das ihn erwirtschaftet hatte, oder in eines, das wachsen sollte, oder einer Neugründung zugutekam, hing von den Schwerpunkten der gesellschaftlichen Langfristplanung ab.
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Wirtschafts-, Struktur- und Regionalpolitik emanzipierten sich von ökonomischen Sonderinteressen in der Absicht, wirtschaftliche Gefälle einzuebnen und annähernd gleiche Lebensverhältnisse im ganzen Land zu schaffen. Das sprach für die systematische Missachtung des Rentabilitätsprinzips. Dagegen sprach die Entmutigung des ‚Gewerbefleißes‘. Wer Jahr um Jahr effizient produzierte, kostensparend und mit Überschüssen, zog daraus kaum Vorteile, stand Seite an Seite mit Minderleistern und wurde überdies auch noch geschröpft. Die ‚Faulen‘ waren aus ihrer Ruhe nicht zu vertreiben. Wer die Planziele riss, war vor schmerzlichen Sanktionen sicher. Einschränkung der Produktion, die Schließung von Werken, Entlassungen, all das verbot sich. Jeder war insofern seiner Sache sicher. Am besten fuhr, wer die eigenen Kapazitäten herunterrechnete, den Zuwendungsbedarf möglichst hoch veranschlagte. Wer damit durchdrang, hatte wenig Mühe, den Plan zu erfüllen bzw. zu überbieten, mit Bedacht, um ein Geringes, um staatlicherseits keine Begehrlichkeiten zu wecken. Nach dieser Maxime verfuhren die Betriebe, und so blieb es nicht aus, dass sie sich der zuweisenden Instanz gegenüber und ebenso untereinander wie Konkurrenten verhielten, die eines einte: Leistungszurückhaltung.
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Wer seine Karten offenlegte, anspruchsvolle Ziele anvisierte, war der Dumme. Diese Dummen als Vorbilder auszurufen, als ‚Helden der Arbeit‘, verfing nicht, auch nicht in ihrer anarchischen Gestalt, wie Volker Braun sie in seinem Theaterstück „Die Kipper“ zeichnete. Dort nimmt der Held, Paul Bauch, die öde Arbeit sportlich, eilt von einem Rekord zum nächsten und bemerkt nicht, dass die anderen sich von ihm abwenden. So war die neue Tugend nicht zu pflanzen. Negative Helden wie Balla in Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“, zu Schandtaten jederzeit bereit, um ihren Schnitt zu machen, taugten da schon besser zur Einfühlung in die Geheimnisse des sozialistischen Erfolgs. Was verstimmte, war deren als frommer Wunsch durchschaubare Bekehrung zu redlichen Planerfüllern. „Jeder liefert jedem Qualität“, titelte „Neues Deutschland“ in seiner Ausgabe vom 12. Februar 1979 und berichtete über eine Initiative aus dem Volkseigenen Betrieb NARVA, der die DDR mit Glühlampen versorgte. Wäre es so gewesen, hätte die Planmoderne der Marktmoderne vielleicht tatsächlich die Stirn geboten. Aber so war es nicht. Die Ausklammerung des Fremdinteresses aus dem Selbstinteresse, Wirtschaften auf Kosten, zum Nachteil anderer reproduzierte sich im administrativen Sozialismus, und dagegen war kein Kraut gewachsen.
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Auch die Liebe nicht, auf die Peter Hacks in seiner Komödie „Die Sorgen und die Macht“ von 1958 anspielt. Darin liefern die Beschäftigten einer Brikettfabrik denen einer Glasfabrik ausgesprochen miese Qualität, weil sich das für sie auszahlt. Im Verlauf der Handlung lernt der Brikettier Fidorra die Glasarbeiterin Hede kennen und lieben, und stimmt, als die Parteigruppe seines Werks beschließt, künftig gute Kohle für weniger Lohn ans Glaswerk zu liefern, der Liebe wegen für diesen Beschluss. Von ihm, dem Draufgänger, hatte man das am wenigsten erwartet, andere, bislang Zögernde, schließen sich ihm an, woraufhin die Arbeit in der Brikettfabrik reorganisiert wird: neue Messinstrumente, strikte Qualitätskontrolle, weniger Kies für die Arbeiter, die nun kaum die Hälfte des Bisherigen verdienen. Man muss nicht mit jedem Marsmenschen solidarisch sein, sagt der geläuterte Fidorra, aber bis Mecklenburg sollte die Solidarität schon reichen. Vorderhand kosteten die Individuen die sozialen Freiheiten der neuen Ordnung bis zur Neige aus. In Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin“ von 1961, der Kollektivierung der Landwirtschaft gewidmet, gibt es ein Nachspiel. Agitatoren bestürmen die letzten Mittelbauern im Dorf, ein Ehepaar, der Genossenschaft beizutreten, um endlich Erfolg melden zu können. Der
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Mann weigert sich, greift zum Strick, wird rechtzeitig abgeschnitten, zuletzt gehen sie in die LPG und wissen, was zu tun ist: Treibern Gleich geh zum Vorstand, Treiber
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Und hol mir einen Krankenschein. Das Herz Macht nicht mehr mit. Mein Rheuma wird auch schlimmer.16
Und so fehlte es dem Generalunternehmer, dem Staat, eklatant an Mitteln, seine Betriebe technisch-technologisch zu erneuern, viele, bei weitem nicht alle, liefen auf Verschleiß, aber das genügte, um dem unsichtbaren Dritten eine Wunde nach der anderen zuzufügen. Saurer Regen fiel vom rauchigen Himmel, Flüsse trugen Schaumkronen aus Gift, die Sonne schien fahl herab, aber das Leben hing an dieser Arbeit, und so sah man zerknirscht, ohnmächtig zu, wie die Planmoderne ‚den Bach runterging‘. Dass die Obrigkeit mit den hier eingestreuten Werken, deren Autoren, so hart ins Gericht ging, hat einen Grund, der noch nicht genug Beachtung fand: Sie fühlten sich davon in die Enge getrieben, weil sie einfach keine Lösung für dieses Problem, für das Pro-
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blem schlechthin der neuen Ordnung wussten. Eine sich ausweitende, darauf fixierende Debatte hätte die Wunde nur immer klaffender gemacht. Ratlosigkeit als Dauerthema: So kann man unmöglich regieren. Die Reformen der 1960er Jahre, der Einbau von Elementen der Marktmoderne in das Planungsregime, schafften das Dilemma nicht aus der Welt. Deren Kern bestand darin, den Betrieben Teile des Gewinns zur eigenen Verwendung zu überlassen. Das sollte einen echten Anreiz setzen, effizient zu wirtschaften, die gewinnträchtigeren Unternehmen befähigen, umfänglich in ihren produktiven Apparat zu investieren, noch erfolgreicher zu werden, Teile des kumulierten Gewinns an ihre Belegschaften auszuschütten, was freilich Mitarbeiter anderer Betriebe magisch angezogen hätte. Soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit wären die Folge gewesen, begleitet von einem Machtgewinn der funktionellen Einheiten, einem Zuwachs an Selbstbewusstsein, in eigener Regie zu handeln. Das konnte den ganzen Bau erschüttern, der „Prager Frühling“ offenbarte diese Konsequenzen mit aller Deutlichkeit – hier half nur Härte, die kam zum Einsatz und erstickte für Jahrzehnte jede öffentliche Debatte über einen Systemmix unter staatlicher Aufsicht. Just dieses Konzept machte dann doch Furore.
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Hybridmoderne Zur selben Zeit, als der administrative Sozialismus in Ost-Mitteleuropa endgültig erstarrte, in den 1980er Jahren, öffnete sich das Reich der Mitte für Reformen. Kaum waren sie in Gang gekommen, drang der Nachwuchs, drangen Studenten, junge Leute, öffentlich und in großer Zahl auf Veränderungen, die über die Wirtschaft hinausgingen. Die Führung zögerte eine Weile, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken, entschied sich dann aber dafür und ließ Panzer rollen. Das war das Erwartbare, siehe Prag 1968. Was nach der Niederschlagung der Revolte im Juni 1989 geschah, durchkreuzte die Erwartungen. Der Reformeifer schlief nicht ein, nahm jetzt erst richtig Fahrt auf und veränderte binnen weniger Jahre Land, Menschen und Lebensweisen so tiefgreifend wie kaum je zuvor in der chinesischen Geschichte. Repression und Innovation gingen dabei Hand in Hand. Dass die Innovation nicht auf der Strecke blieb, bis heute anhält, war zum einen der schieren Größe des Landes geschuldet: Es konnte sich zum Westen hin öffnen, ohne befürchten zu müssen, von diesem im Handstreich überrollt, übernommen zu werden. Zum anderen lenkte die Kommunistische Partei den Kapitaltransfer von Anbeginn in Bahnen, die genau das Umgekehrte bewirkten, dafür sorgten, dass die poten-
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ziellen Übernehmer übernommen, benutzt, teilweise regelrecht ausgeschlachtet wurden. Das Stichwort lautet „Konkubinenwirtschaft“: „Die ‚Konkubinenwirtschaft‘ besticht durch ihre einfache Konstruktion. Hersteller, die in der freien Wildbahn der Marktwirtschaft einen großen Bogen umeinander machen, lassen sich in China eine chinesische Muttergesellschaft aufzwingen, mit der sie ein Gemeinschaftsunternehmen aufbauen. Welchen Spielraum sie von der zentralen Plankommission bekommen, hängt davon ab, wie hoch die Investitionen in China sind, das Eintrittsgeld in den chinesischen Markt. Vom ersten Tag an buhlen die Ausländer um die Chance, ihren chinesischen Partner verwöhnen zu dürfen, um langfristig eine einflussreiche Position am Hof zu ergattern. Dabei riskieren sie viel. Die Konglomerate, die auf diese Weise entstehen, suchen in der modernen Wirtschaft ihresgleichen. Der chinesische Kapitalismus hat eine der wirkungsvollsten Methoden hervorgebracht, mit Hilfe von fremdem Geld und dem Know-how von Global Playern die eigene Position zu stärken.“17 Der Markt, der sich hier auftat, war riesig, viel zu verlockend, um sich diesem Diktat zu entziehen. Hier konnte man nicht nur, hier musste man dabei sein, und
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so liefen sich die Investoren wechselseitig den Rang ab, akzeptierten, dass Kapitaltransfer auf Technologietransfer hinauslief, und hielten selbst dann still, wenn die chinesischen Mutterunternehmen ihre Produkte einfach kopierten, erst Massenware, dann Hightech, und damit weltweit Handel trieben. Der Export florierte, spülte über die Jahre Billionen Devisen in die Staatskasse, was den Regierenden erlaubte, Staatsbetriebe, Infrastrukturen zu modernisieren, eigene Forschungskapazitäten aufzubauen, soziale Sicherungssysteme zu schaffen, die mit dem ungeheuren Umbruch halbwegs Schritt hielten. Strenge Kapitalverkehrskontrollen verhinderten den Abfluss von Gewinnen in die Herkunftsländer, nötigten die Unternehmen, sie dort zu investieren, wo sie entstanden waren. „Selten hat die Wirklichkeit das Klischee des agilen marktwirtschaftlichen Weltkonzerns, der den müden, planwirtschaftlichen Staatskonzernen Beine macht, so sehr auf den Kopf gestellt.“18 Ob Teilmärkte weiter wachsen, stagnieren oder schrumpfen, unterliegt nicht dem freien Spiel der Kräfte, sondern makroökonomischer Steuerung, staatlichen Zielvorgaben für die langfristige Entwicklung des Riesenreichs. Auch die ökologische Problematik, Umwelt, Klima, findet dabei zunehmend Beachtung. Dass Unternehmen ihre Produktion herunterfahren
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oder zeitweise einstellen müssen, wenn der Smog in den Großstädten wieder einmal die Luft verpestet, ist Ausdruck eines Ad-hoc-Regimes, und dasselbe gilt für Fahrverbote für Kraftfahrzeuge mit geraden bzw. ungeraden Endziffern auf dem Nummernschild. Automobilproduzenten vorzuschreiben, welche Modelle welcher Antriebsart in welcher Stückzahl sie in den kommenden Jahren auf dem chinesischen Markt verkaufen können und welche nicht, gehört dagegen eindeutig in den Bereich strategischer Entscheidungen. Neue Mopeds und Kleinfahrzeuge sind bereits seit Jahren mit Elektroantrieb ausgestattet. Was die Selbstverpflichtung der Autokonzerne vermag, weiß man in Westeuropa. Für das laufende Jahrzehnt stellen die chinesischen Planungsbehörden den gesamten Energiesektor auf den Prüfstand. Eine politische Ökologie, die staatlichem Handeln nur „polizeiliche Maßnahmen“ zutraut, die sich die Rettung des Erdsystems allein von molekularen Kämpfen um die Elemente Wasser, Boden, Luft erwartet,19 greift zu kurz, ist weder politisch noch ökonomisch hinreichend fundiert. Gilt alle verbleibende Hoffnung folglich dem Maßnahmenstaat? Das wäre ebenso einseitig, auch wenn man mit Blick auf die Gegenwart, insbesondere auf die
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Corona-Krise, schwerlich verkennen kann, dass der eine Zukunft hat. Viele ‚Entwicklungsländer‘ lagen diesmal im Westen, wie man der Pandemie beikommen kann, zeigten asiatische Staaten, darunter China, und dies nicht allein, ja nicht einmal vorrangig aufgrund durchgriffiger autoritärer Machtstrukturen. Hier kommt die geistige Kultur des globalen Ostens ins Spiel, eine im Vergleich zum globalen Westen ausgewogenere Ich-Wir-Balance, die die Individuen auf Kooperation statt auf Konkurrenz hin orientiert. Individualität profiliert sich nicht kurzfristig gegen das Gemeinwohl, findet ihre Erfüllung vielmehr darin, „dem Gemeinwohl und damit mehr als dem je eigenen Selbst zu dienen. Dies bedeutet nicht weniger Wettbewerb, sondern eine andere Art und Weise desselben […] Der Andere muss nicht unterworfen und ausgeschaltet, aber nach sozial und kulturell verträglichen Regeln integriert werden.“ Abgesehen davon „gehen aus Chinas jungen Generationen die größten und am besten ausgebildeten Mittelschichten der Welt hervor, die nicht nur über das höchste Arbeitsethos verfügen, sondern auch zu demokratischeren Integrationsformen neigen, umso mehr, wenn sie von außen durch eine Entspannungspolitik unterstützt werden […]“20 Unterstützt werden würden, muss mal leider ergänzen.
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Gefestigt, selbstbewusst, wie der administrative Kapitalismus derzeit wirkt, kann er ins Wanken geraten, und das aus demselben Grund, der auch die Wirksamkeit seines ökologischen Regimes begrenzt: Er setzt eine Gesellschaft der Individuen frei und verwehrt dieser zugleich die aktive Mitgestaltung an der Gesellschaft, damit auch an deren Umwelttauglichkeit. Großprojekte werden ohne Konsultation mit den davon Betroffenen geplant und durchgezogen, Proteste im Keim erstickt. Die Sorge, die ‚Harmonie‘ von Führung und Volk könnte neuerlich von unten aufgekündigt werden, der Wille, dem zuvorzukommen, koste es, was es wolle, bilden die Ultima Ratio politischen Handelns. Der Westen ist derzeit und absehbar nicht in der Verfassung, um über einen Kollaps des chinesischen Modells zu spekulieren. Versteht man Krisen als Bewährungsproben im Streit der Systeme, dann führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass das chinesische Modell die jüngste Probe in jeder Hinsicht besser bestanden hat als die westlichen Staaten. China geht gestärkt, bestätigt aus der Krise hervor, als Weltmacht Nummer eins, die „offenen Gesellschaften“ dagegen sichtlich geschwächt, verunsichert. Zu viel Ressortgeist, Kompetenzgerangel, leere Versprechungen, zu wenig Gemeinsinn, Tatkraft, Mut; Stresstest vergeigt.
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Im Ursprungsland der Pandemie Stolz und Zuversicht, im Westen Zweifel am eigenen Können, Scham über das Systemversagen. Mit sich selbst verstärkenden Effekten dieser gespaltenen kollektiven Seelenlage ist zu rechnen. Wie man aus einer Krise herauskommt, entscheidet (mit) darüber, wie man die nächste bewältigt, und diesbezüglich sind die Aussichten für Gesellschaften wie die unsere alles andere als ermutigend.
Die drei Modernen im Vergleich Rein auf ihre Problemlösungskompetenz gesehen macht die Hybridmoderne im Vergleich zu ihren beiden Vorläufern keine so schlechte Figur. Die Marktmoderne bekommt die funktionellen Einheiten des Vergesellschaftungsprozesses nicht wirksam genug zu fassen. Die gehören Privaten und die verbitten sich politische Einmischungen, die die Eigentumsgrenze überschreiten. Überhaupt schwächt das dieser Gesellschaftsform innewohnende Rationalitätsprinzip, Rechenhaftigkeit in allen Lebenslagen, die Bereitschaft zur Kooperation, die wichtigste Ressource, um globale Herausforderungen zu bestehen. Auch, gerade deshalb verschiebt sich die die geopolitische Machtbalance unaufhaltsam von West nach (Fern-)Ost. Dass
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der ‚zweckrationale‘ Westen sich zu Tode siegen könnte, sah der Philosoph Helmuth Plessner schon 1935 voraus, wobei er den Blick seinerzeit primär auf Japan richtete: „Nur um den Preis seiner Mechanisierung und Instrumentalisierung erobert der Europäismus die Welt. Diese seine Übertragbarkeit auf nichtchristliche Kulturen wird ihm zum Schicksal. Äußerlich dadurch, dass er sich Konkurrenz auf Konkurrenz großzieht, innerlich dadurch, dass die Leistungen europäischen Geistes von ihm unabhängig werden.“21 Die Planmoderne zeichnete sich durch umfassende politische Eingriffschancen in das Handeln der Subeinheiten aus. Aber sie entwickelte keine Mechanismen, um diese Einheiten füreinander und für die Bedürfnisse des reaktiven Dritten aufzuschließen. Privatismus ohne Privateigentum, ohne Ersatz für dessen Antriebskräfte, das war das Grundübel, und das zehrte an der Substanz. Die Menschen lebten von Arbeit, deren destruktive Folgen sie sahen, spürten, erlitten, je suis Kurt, und die sie doch ertrugen. Die naturwidrigen Verhältnisse zu skandalisieren war heikel, riskant, rief die Staatsgewalt auf den Plan. Die ging mit Umweltprotesten unnachsichtig um, aus Gründen des Machterhalts, aber auch, weil es an Ressourcen, den Übelstand wirksam zu bekämpfen, ganz entschieden fehlte.
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Die Hybridmoderne findet Wege, die funktionellen Einheiten des Gesamtprozesses auf Ziele zu verpflichten, die jenseits des Horizonts selbst des ‚gesunden‘ Egoismus liegen. Dabei kommt ihr der kooperative Habitus der Individuen zustatten, der auf Problemlösung ausgerichtet ist. Nur verschmäht die Führung ausgerechnet dieses ‚Kapital‘, unterbindet aus Furcht vor ‚Weiterungen‘ Proteste im Ansatz und hält Schadensmeldungen unter der Decke. Das Vermögen zum Umsteuern konzentriert sich somit letztlich auf das politische System, auf die Machtspitze, die allerdings ganz erhebliche Ressourcen zum ökokompatiblen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Bewegung setzen kann. Gemessen am Problemdruck erweisen sich die drei Modernen in unterschiedlichem Grad als Mängel wesen. Der Durchbruch zu ökologischer Kompatibilität sozialer Großsysteme erfordert, beides zusammenzudenken, zusammenzuführen: Kämpfe vor Ort um das ‚Recht‘ der Erde, geführt von Menschen, die sich territorialisieren, die Rückkopplungsschleifen aus Handlungen und Handlungsfolgen nachzeichnen und ihren Widerstand in den politischen Raum hinein verlängern. Letzteres verweist sie auf die Nationalstaa-
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ten, die auf längere Sicht wichtigsten Resonanzräume für eine erfolgreiche Repolitisierung der Ökologie. Ohne diese Territorialisierung hängt das ganze ‚Projekt‘ in der Luft. Zu meinen, aktivistische Minderheiten könnten die Regierungen in absehbarer Zeit in eine Lage manövrieren, in der diesen wenig mehr zu tun bleibt, als die Beschlüsse der ‚Basis‘ einfach nur zu exekutieren,22 ist naiv, verkennt die Eigenlogik, die Materialität des genuin Politischen und damit den wahren Ernst der Lage. Den Druck auf die Entscheidungsträger immer noch drückender machen, das Parteiensystem durcheinanderwirbeln, Wahlen zu Plebisziten über Zukunftsentwürfe auszurufen – nur so kann es gelingen, der großen Verwüstung sowie der großen Ungerechtigkeit, die mit ihr einhergeht, ein Ende zu bereiten. Denn ungerecht im höchsten Maße ist es, dass all jene ungeschoren davonkamen, die den größten Teil der Verantwortung für den nachlässigen Umgang mit ‚Mutter Natur‘ tragen: die Begründer der Moderne und ihre längst verblichenen Nachfahren. Die wahrhaft Gebeutelten sind die noch gar nicht Geborenen. Unter den heute Lebenden trifft es jene mit besonderer Härte, die sich weder Zeit noch Räume kaufen können, um den Schlamassel noch einigermaßen
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komfortabel auszusitzen. „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch […] In diesem Sinne sind Risikogesellschaften gerade keine Klassengesellschaften; ihre Gefährdungslagen lassen sich nicht als Klassenlagen begreifen, ihre Konflikte nicht als Klassenkonflikte“, schrieb Ulrich Beck in seinem Klassiker der Ökoliteratur.23 Er sah das Neue der menschheitlichen Situation, schenkte dem darin sich reproduzierenden Alten aber zu wenig Beachtung. Die Schmerzen sind nicht gerecht, nicht gleichmäßig über die soziale Welt verteilt, waren es nie. Marx bestimmte soziale Klassen als große Menschengruppen, die sich durch ihre Stellung im Produktionsprozess voneinander unterscheiden, gemäß Besitz oder Nichtbesitz der sachlichen Produktionsbedingungen. Heute können wir ein Kriterium hinzufügen, das Klassen bildet, verfestigt, voneinander separiert: die Verfügung über ökonomische Reserven, dank derer Menschen die Auswirkungen der ökologischen Krise (noch) auf Abstand halten können. Resistenz gegenüber versus Ausgeliefertsein an Notlagen ökonomischer, viraler, ökologischer Art, das macht den Unterschied. In der Zone, wo sich beide Klassenlagen überlappen, lebt man schon heute in der Zukunft, die uns allen blüht.
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Die Unterbrechung denken I: „Systemrelevanz“ Im Begriff „Systemrelevanz“, so wie er in der CoronaPandemie aufkam, kündigt sich die Auflösung der heiligen Trinität aus Moderne, Gesellschaft und Kapitalismus an, die doch noch kürzlich wie aus einem Guss geformt schien. Diesem epochalen Vorgang auf die Spur zu kommen, muss man sich nur in die Weltfinanzkrise von 2008/09 zurückversetzen. Da ging es, wie derzeit, um die Rettung des Systems, um Priorisierung: Was muss zuerst geschehen, was kann warten. Den Einsturz des finanzökonomischen Tragwerks der Marktmoderne um jeden Preis abzuwenden stand ganz oben auf der politischen Agenda; whatever it takes. Selbst die größten Kapitalismuskritiker hätten sich dem nicht entziehen können, es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Wie man weiß, wurde die Weltfinanzindustrie im Wesentlichen zu ihren eigenen Bedingungen gerettet, was alles andere als selbstverständlich war. Der Hochfrequenzhandel lief weiter, einige der Too-big-to-failBanken wuchsen seit 2008, statt auf ein abwicklungsfähiges Format zu schrumpfen, die Marktmacht der drei großen Rating-Agenturen nahm weiter zu, desgleichen die Verschuldung der Unternehmen im Verhältnis zu deren Wirtschaftsleistung. „Too much finance“, so war
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es vor der Krise, so ist es noch immer.24 Das „System“, das seinerzeit gerettet wurde, war, offensichtlich genug, der „(Finanz-)Kapitalismus“, „relevant“ alles, was dazu beitrug, als unverzichtbar angesehen wurde, inklusive die Überwälzung der gigantischen Bankschulden auf die Staaten, deren Bürger. Auch in einem anderen Kompositum, „Systemkritik“, vertreten sich „System“ und „Kapitalismus“ gegenseitig, zumindest seit der administrative Sozialismus das Zeitliche segnete. Das System ist der Kapitalismus, der Kapitalismus das System, Inbegriff zugleich für die Moderne, für das Auseinanderziehen von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, letztlich für „Gesellschaft per se“. Das änderte sich gleich zu Beginn der Corona-Krise.25 Diese hebelte die Voraussetzung schlechthin aller Selbstverständlichkeiten, das Und-so-Weiter allen Handelns und Erlebens urplötzlich aus. Weiter, ja, aber nicht so. Prüfen, Verwerfen von Üblichkeiten, Verbindlichkeiten, Verabredungen. Die Gegenwart zog ihren Zukunftsschatten ein. Von Tag zu Tag griff die Krisenpolitik auf immer entferntere Vorhaben zu und legte sie still. Die Systemrelevanz der Tätigkeiten zog einen Trennstrich zwischen denen, die jenseits der Routine weitermachen (mussten), und Millionen anderer, die
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zwangsweise pausierten. Was seit der Flüchtlingskrise den Menschenrechten geschah, widerfuhr nun den Bürgerrechten in Form von äußeren und inneren Grenzschließungen, der Aufhebung von Reisefreiheit, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, durch Ausgangssperren, Leben in der Quarantäne unter polizeilicher Kontrolle, digitales supervising als moralische Bürgerpflicht; Hauptsache gesund. Fantasien radikaler Umweltaktivisten vom Durchregieren unter Anleitung der Experten wurden im Kampf gegen den unsichtbaren Feind ohne nennenswerten Widerspruch verwirklicht. Der Ausnahmezustand rechtfertigte umfassende Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Unternehmen, die nichts mehr produzierten, erhielten „Überbrückungshilfen“, oft in Milliardenhöhe, Einkommen ohne Arbeit wurden staatlich garantiert, Sozialtransfers weiter gezahlt, ohne deren Empfängern eigens auf den Zahn zu fühlen. Kündigungsschutz für Mieter, die in Verzug geraten: im Eilverfahren durchgewinkt. Bedarf und Bedürftigkeit entschieden auch über Weiterführung oder Abbruch der Geschäfte. Liquidität über den Tag hinaus garantierte in der jetzigen Lage nur mehr die öffentliche Hand durch das Versprechen unbeschränkter Gewährleistung von Zahlungsfähigkeit: whatever it takes.
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Da war es wieder, das Generalversprechen staatlichen Krisenmanagements, und es war kein Revival. Die Welt stand still, die gewohnte Ordnung auf dem Kopf, das „Leben“ dominierte alles, der Markt geriet zur Nebensache. Man muss diesen Stillstand, die Unterbrechung, denken, das, was darin aufblitzte. Gab es diesmal doch ein anderes Synonym für das zu rettende „System“: „kritische Infrastruktur“. Dazu zählte, was die Aufrechterhaltung des elementaren gesellschaftlichen Lebensprozesses sicherte – um jeden dafür zu entrichtenden Preis. „Produktiv“ gleich „profitabel“? Mitnichten. Jetzt vertraten sich „System“ und „Gesellschaft“ gegenseitig; die gesellschaftliche Relevanz entschied über die zu ergreifenden Maßnahmen, deren Priorisierung. Der Reißverschluss, der „System“ und „Kapitalismus“ (gleich „Moderne“, „Gesellschaft“) so lange zusammengebunden hatte, begann sich zu öffnen. Wer wollte ernsthaft daran zweifeln, dass er sich in Zukunft noch weiter öffnet. Was im pandemischen Ausnahmezustand seinen Anfang nahm, die Auflösung alter Allianzen, wird sich beschleunigen, wenn die ökologische Dauerkrise den beherrschenden Platz wieder eigenommen hat, den der Plagegeist ihr zwischenzeitlich streitig machte. Man könnte diesen Scheidungsprozess mit offenem Ausgang via „kulturelle Aneignung“ die Zeit der Post-
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moderne nennen, wodurch dieser Begriff dreierlei gewönne: Fassbarkeit, Inhalt, Perspektive.
Die Unterbrechung denken II: „Evidenzbasierte Politik“ Es gab da einen zweiten Begriff, der in der CoronaPandemie Furore machte und aufhorchen ließ: „evidenzbasierte Politik“. Er kündigte eine Neujustierung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und gesellschaftlicher Konsensbildung an. Während der Weltfinanzkrise von 2008/09 war davon keine Rede. Seinerzeit stand die (ökonomische) Wissenschaft am Pranger. Sie hatte die Signale ignoriert, die den Crash ankündigten, die Überhitzung der Finanzmärkte mit ihren fahrlässig-optimistischen Prognosen weiter befeuert. Bei der Abwicklung der Krise stützte sich die Politik in ihrer Not und mit bekannten Folgen daher lieber auf Expertisen aus dem Zentrum des Bebens als auf die Ratschläge der Versager. Das Corona-Krisenmanagement stand dagegen von Anfang an im Zeichen einer engen Allianz von Politik, Wissenschaft und Massenmedien. Seither bestimmen Zahlen, Verlaufskurven, Prognosen die Nachrichtenlage, gibt es keine politische Maßregel ohne Rückgriff auf diese ‚harten Fakten‘. Die Spezialisten
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können sich irren, untereinander uneins sein, aber niemand versteht das Virus besser als sie und so müssen sich die Entscheidungsträger auf die einen oder die anderen Berater stützen, wenn sie elementare Freiheiten beschränken. Wenn die von ihnen erlassenen Verordnungen ihr Ziel verfehlen, ist das ärgerlich, aber kein großes Unglück. Die Prognosen der Fachleute greifen nicht allzu weit voraus, sie lassen sich binnen weniger Wochen verifizieren bzw. falsifizieren. Dann gibt es eine neue, verlässlichere Faktenlage, an die sich die Maßnahmen anpassen lassen, und die besten ‚Wahrsager‘ bekommen in der nächsten Runde größeres Gewicht. Dieser Korrekturmechanismus, das ‚Fahren auf Sicht‘, sichert auch die Tuchfühlung von Politik und Bürgern, erleichtert die Konsensbildung über unumgängliche, zeitlich befristete Einschnitte und Opfer. Die Krise der Ökosysteme wird die Praxis evidenzbasierter Politik auf Dauer stellen (müssen). Deren Regeneration setzt fundiertes Wissen über Rückkopplungsschleifen, Belastungsgrenzen, die Abdrift in chaotische Verläufe und anderes mehr voraus. Man weiß, dass die Weltmeere mit CO2 annähernd gesättigt sind und auch das Absorptionsvermögen der Wälder zunehmend kritisch wird, und man weiß, dass der
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schnellstmögliche Ausstieg aus der Kohle die größte Entlastung bewirkt. Gesicherte Erkenntnisse wie diese machen einen Pfadwechsel unter wissenschaftlicher Anleitung und Begleitung alternativlos. Je weiter die Modelle jedoch in die Zukunft greifen, desto riskanter in sachlicher wie sozialer Hinsicht werden die darauf gegründeten Entscheidungen. Szenarien über den Zustand unserer Erde in der Mitte oder zum Ende des 21. Jahrhunderts werden eben erst dann abschließend verifizierbar oder falsifizierbar sein, wenn diese Zäsuren in greifbare Nähe rücken. Ein auf derart langfristige wissenschaftliche ‚Zeitreisen‘ eingeleiteter politischer Pfadwechsel ist ein Pfadwechsel auf Kredit, in hohem Maße risikobehaftet. Wäre den düstersten Vorhersagen über das Abschmelzen der Polkappen und Gletscher zu trauen, müsste jetzt mit der Umsiedlung weiter Territorien, der gezielten Schrumpfung der Megametropolen begonnen werden. Ganz abgesehen von den gigantischen Kosten dieser Umsiedlung: Wie überzeugt man die davon Betroffenen, wenn die „Wahrheit“ erst sichtbar wird, wenn sie selbst nicht mehr am Leben, ihre Kinder Greise sind? Wie motiviert man sie zu solch immensen Opfern ohne jegliche persönliche Belohnung und mit der bescheidenen Aussicht auf das geringere Übel? Könnte eine ökologische Pädagogik von Kindesbei-
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nen an einen generationsübergreifenden, auf die Zukunft gerichteten Konsens generieren, der belastbar ist, Gegenwartsinteressen überstimmt?
Interesse und Engagement Dass Menschen nach uns kommen, morgen und in ferner Zukunft, bildet den zumeist unbewussten Bezugsrahmen für die Sinnhaftigkeit unseres persönlichen Daseins. Entfernen wir diesen Rahmen, wird vieles von dem, worauf wir unsere Energien, unseren Ehrgeiz richten, fraglich, weil seiner Anschlussfähigkeit beraubt. Wir, die meisten von uns, fürchten, was wir nicht abwenden können, den Tod, was unserer Tatkraft indessen keinen Abbruch tut. Hingegen fürchten wir nicht oder doch nicht genug, was wir durchaus abwenden können, das Verschwinden der Menschheit, und bleiben untätig. Warum ist das so?26 Eine durchaus erwägenswerte Antwort auf diese Frage gibt der Katastrophenfilm. Ein verheerendes Erdbeben kündigt sich an. Die Magmakammer eines Vulkans steht kurz vor der Eruption. Der Golfstrom versickert, gleich wird es auf der Nordhalbkugel bitterkalt. Einige wenige bemerken das. Warnen. Malen die Folgen aus. Finden kein Ge-
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hör. Teils verstellen handfeste ökonomische Interessen rechtzeitigem Handeln den Weg, Touristen, die nun in Scharen ausbleiben, Unternehmen, die umgehend schließen müssen, um deren Mitarbeitern Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit zu bringen. Teils ist es die Sorge vor um sich greifender Panik und Gesetzlosigkeit, die Entscheidungen hinausschiebt. Die Verantwortlichen wiegeln ab, spielen die Gefahr herunter, ziehen in Zweifel, was die Experten vermelden: dass es fünf vor zwölf ist, und warnen ihrerseits vor „Apokalyptikern“. Und verschärfen die Lage. Schon zittert die Erde, sinken die Temperaturen. Noch immer keine Reaktion. Und dann beginnt der Horror. Der Boden reißt kilometerweit auf, ein pyroklastischer Strom ergießt sich über weite Landstriche, der Ozean friert zu, die Flüsse finden keinen Zulauf und New York versinkt im Wasser. Verletzte, Tote, deren Zahl stets noch steigt, Verzweifelte in großen Kolonnen auf der Flucht. Blamierte Autoritäten, die sich vor die Brust schlagen: Hätten wir doch nur gehandelt, als noch Zeit dazu war, das Schlimmste zu verhindern. Der Grund, der sie zögern ließ, kam bereits zur Sprache: die Rücksichtnahme auf unmittelbar sich aufdrängende Interessen. Alles, was in den Fokus eines Interesses rückt, Sachen, Personen, Erkenntnisse, er-
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scheint in ganz besonderem Licht, dem der möglichen Besitzergreifung, und das verschattet Eigensinn und Eigenleben. Dinge, die ich besitzen will, werden mir undurchsichtig, schrieb einst Paul Valéry, ich habe vergessen, wo genau. Aufgeschlossenheit, Empfänglichkeit für das An-sich der Welt nehmen Schaden, wenn wir ihr interessiert begegnen, als potenzielle Besitzer. So dachte auch Immanuel Kant, als er „interesseloses Wohlgefallen“ zum Spezifikum der ästhetischen Welterfahrung bestimmte. Darüber lässt sich trefflich streiten, aber dass „Interessiertsein“ und „Rezeptivität“ nicht gut miteinander ‚können‘, zeigt sich klar im Englischen, wo interest „Vorteil“, „Aktien“, „Zinsen“ aufruft. Etymologisch auf „inter“ („zwischen“) und „esse“ („sein“) zurückgehend, funkt das Interesse gleichsam dazwischen, wenn Gefahr im Verzug ist, und besteht auf Erledigung des Nächstliegenden. „Privat geht vor Katastrophe“, hieß das früher. Früher? Zu denken gibt auch die älteste Bedeutungsschicht dieses Wortes im Deutschen: „durch Versäumnis erwachsener Schaden“. Der Interessierte verpasst etwas, womöglich das Wesentliche. Ja, wenn die Interessen nicht wären, dann gings ruckzuck mit der Welterrettung. Erinnern wir noch einmal an Kurt, den Kraftfahrer. Der denkt zu viel, ja, zu viel an der Richtschnur allein
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seines Interesses, ‚versäumt‘ die Bedürfnisse der anderen wie die des Sees und richtet blindlings Schaden an. Seine innere Wandlung vollzog sich dann auch folgerichtig in der Nacht des Interesses, im Schockerlebnis, als er nur mehr eines wollte: verschwinden, und zwar ganz. Kommt sie so zur Welt, die andere, konkrete Wahrheit, plötzlich, wie aus dem Nichts, per Kaiserschnitt? Das mag im Einzelfall so sein. Im Allgemeinen bahnen sich neue Einsichten, Einstellungen, Haltungen den Weg ins Freie vor dem Hintergrund einer Vorgeschichte, in der Altes und Neues miteinander ringen. Auch wird das Alte nach vollzogenem Durchbruch neuer Üblichkeiten nicht einfach ad acta gelegt, sofern gute Gründe dagegensprechen. Seine Interessen formulieren, zwischen Selbst- und Fremdinteresse zu unterscheiden, das behält seine Berechtigung. Gesellschaftliche Verhältnisse, die dem den Boden entziehen könnten, sind kaum vorstellbar. Nur macht sich jetzt ein neuer Modus der Weltbeziehung geltend und stellt die Vorherrschaft des Eingewurzelten infrage: das Engagement. Das aus dem Französischen in viele Sprachen eingewanderte Wort meint: Pflichtgefühl, Einsatz, Enthusiasmus, Mitwirkung, Anstrengung, Kampf, Eifer, Hingabe, Bindung.
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Der engagierte Mensch stellt seine Person in den Dienst überpersönlicher Belange, relativiert seinen privaten Vorteil, riskiert Ärger, Nachteile, wenn die Mehrheit anders ‚tickt‘, interessengeleitet, darauf bedacht, dass sich auszahlt, was man tut. „Handelst du noch im Bann deiner Interessen oder engagierst du dich schon?“, diese Frage könnte eines Tages die Standardfrage ablösen, die Menschen, die sich kennen, aber länger nicht gesehen haben, einander stellen, um über die anfängliche Verlegenheit hinwegzukommen: „Was machst du denn so?“ Eines gar nicht so fernen Tages, möglicherweise, wenn dieser Tag ein sommerlicher ist, die Sonne bereits in der Morgenstunde unerbittlich auf der Haut brennt, und man begreift, dass das Heil nicht in der Flucht liegt. Dass der Großteil der Engagierten zu den ökonomisch gut Gestellten zählt, zu den Besitzenden, die ihre ‚ordinären‘ Interessen wohl zu wahren wissen, dämpft die Hoffnung auf einen Durchmarsch der neuen Menschen, der „Erdverbundenen“, wie Bruno Latour sie beinahe zärtlich nennt. Alleingänge, auch gemeinschaftliche, führen nicht zum Ziel. Ebenso wenig eine politische Ökologie, die um die sozialökonomische Spaltung unserer Gesellschaften einen Bogen macht oder, schlimmer noch, die in ihre Interessen verstrickten Menschen zu „Feinden“ der Zukunft erklärt. So
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bliebe das Engagement eine Angelegenheit aktivistischer Minderheiten. Das gesellschaftliche Engagement muss mit Überzeugung und Umsicht vorantreiben, was das Corona-Regime notgedrungen auf die politische Tagesordnung setzte: die Herauslösung produktiver Unternehmungen aus dem Klammergriff profitgetriebener; die Ausweitung der Allmende; die Bereitstellung öffentlicher Güter. Dies alles zu Nutz und Frommen des reaktiven Dritten, seiner Treuhänder, die letztinstanzlich festlegen, was ‚jetzt‘ noch geht und was nicht mehr. Damit bei dieser schroffen Wende möglichst viele mitkommen, mitmachen, müssten jene am meisten von ihr ‚profitieren‘, die am schlechtesten dafür gerüstet und deshalb voller Argwohn sind. Das ist die Sollbruchstelle des neuen Klimaregimes. Wird diese nicht versorgt, droht massiver Widerspruch, Widerstand der Übergangenen, sowie, in Reaktion darauf, Ersetzung von Überzeugung durch Bevormundung, ökologischer Autoritarismus von unten nach dem Muster des ‚viralen‘ von oben. Das wiederum legte einem reaktionären Autoritarismus von oben und unten die Spur, der dem progressiven mit ‚Volkes Stimme‘ einheizt: „Die Interessen von Greta Thunberg können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat.“ Auch Kurt käme dann ins Grübeln, würde bei allem guten Willen darauf pochen, dass er auch handfeste Interessen verfolgt.
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Die Unterscheidung von Interesse und Engagement lokalisiert eine der großen Konfliktlinien unserer Zeit. Diese Konflikte zu entgiften, auflösbar auszufechten, müssen die Konfliktparteien Verständnis für das Berechtigte der jeweils anderen Seite entwickeln. Oft genug ist das nicht der Fall. Wenn Landwirte gegen Gesetzesvorhaben für nachhaltige Agrarwirtschaft protestieren, weil diese in ihren Augen zu weit gehen, formiert sich Gegenprotest, der deren kompromisslose Umsetzung bzw. noch viel weitergehendere Maßnahmen fordert. Streiten Bergarbeiter für ihre Zukunft, droht ihnen die Besetzung ihrer Anlagen, begleitet von der Diffamierung als „Kohlenazis“, woraufhin sie gegen diese „Spinner“ in Rage geraten. Interessen, die aufgrund ihrer ökosozialen Unverträglichkeit nicht länger auf die hergebrachte Art befriedigt werden können, müssen abgefunden werden. Den Gesetzgeber mit Maximalforderungen zu bestürmen ist die alte, lobbyistische Methode. Vorschläge aus der Gesellschaft, von den Kontrahenten selbst erarbeitet, wären der bessere, in die Zukunft weisende Weg der Konfliktaustragung. Streitfälle wie die genannten, Interessen versus Engagement, das wird zum Dauerthema im 21. Jahrhundert.
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Einmal in der Welt, sieht man dem Engagement seine Genese nicht mehr an. Diese vollzieht sich teils in aufsteigender, teils in absteigender Linie. In aufsteigender Linie nimmt es seinen Ausgang vom Erschrecken, vom Schock, setzt sich in den Eingeweiden fest, arbeitet sich hoch zum Kopf, der gleichsam Inventur macht, und mündet in Handlungen, die einem weniger selbstbezogenen Muster folgen. Absteigend vertieft sich der Impuls vom Kopf, der jetzt die ‚Wahrheit‘ weiß, zum Grollen in der Magengrube, weil alles seinen alten, falschen Gang geht, sodass man für seine Wahrheit streiten und dieser endlich Taten folgen lassen muss. So oder so: Es wird Streit geben und es braucht Streit, Streit um der Sache willen, und ausgerechnet der kam aus der Mode.
Cleaner und Verfemte. Etablierte und Außenseiter Geteilte Erfahrungen schweißen zusammen. Man versteht sich ohne viel Worte und manchmal fällt man ins Erzählen und versteht sich wortreich. Wer eine Erfahrung nicht teilt, wird bei dem Versuch, von außen in sie hineinzugelangen, irgendwann an Grenzen stoßen. Aber ohne solche Versuche können wir weder
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Verständnis noch Empathie füreinander entwickeln. Deshalb sollte man diese Versuche nicht entmutigen. Aber genau das geschieht, und es geschieht zu oft, um darüber hinwegzusehen. Man nabelt Sinnprovinzen vom allgemeinen Kommunikationszusammenhang ab, erklärt sie für autonom und verwehrt Unbefugten, nicht Eingeweihten den Zutritt. Die derart Abgewiesenen fühlen sich berechtigt, ebenso zu verfahren. So wächst das Misstrauen, sich über die Barrieren hinweg überhaupt noch verständigen zu können, und die Bereitschaft, es zu wollen, sinkt. Halb lustlos, halb argwöhnisch spielt man mit den Worten herum, sucht nach einem geheimen Sinn, einer versteckten Absicht darin, achtet mehr darauf, wer etwas sagt und wie es gesagt wird, als auf das Gesagte selbst, was dadurch gleichsam zu Boden fällt, und verstrickt sich und andere in endlose Querelen über die Legitimität von Äußerungen. Ist es nicht an der Zeit, davon abzulassen? Die Diskurse zu entbürokratisieren. Auf die Vorlage von Ahnenpässen und Berechtigungsscheinen zu verzichten. Versuchsweise davon auszugehen, dass gemeint wird, was gesagt wird. Dass, wer etwas vorbringt, respektable Absichten damit verbindet. Auf einen Missstand hinweisen will. Einen Vorschlag unterbreitet, wie dem abzuhelfen sei. Seinen Dissens zu bereits im Raum ste-
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henden Positionen zum Ausdruck bringen möchte. Ist das so abwegig, dass es die Mühe nicht lohnt, darauf einzugehen – zumindest in all jenen Fällen, in denen wir es mit Individuen zu tun bekommen? Bei Repräsentanten, Funktionsträgern liegt die Sache anders, da sind wir vorgewarnt und auf der Hut. Aber es gibt doch Grenzen des Diskurses, wird man insistieren, und dabei an vom Recht gesetzte Grenzen denken. Diese sind zu respektieren, wobei wir die Rechtsmechanik aus purem Eigeninteresse nicht überstrapazieren sollten. Dasselbe Recht, das mich heute vor verbalen Übergriffen schützt, verschließt mir vielleicht schon morgen den Mund. Unterhalb der Rechtsschwelle öffnet sich ein weiter Raum zulässiger Äußerungen. Ihn einvernehmlich zu beschränken, sind die im Clinch miteinander liegenden Kombattanten gänzlich ungeeignet. Tatsächlich fallen die Grenzen des Diskurses mit den Bedingungen zusammen, die ihn möglich machen: Rede und Gegenrede ohne Ende. Wer das Wort in der durchscheinenden Absicht ergreift, es anderen abzuschneiden, diese mundtot zu machen, sobald das in seiner Macht liegt, stellt sich außerhalb des Diskurses. Wer zugleich mit der Meinung die Person infrage stellt, die sie vorbringt, grenzt Opponenten aus. Jemanden für
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Überzeugungen haftbar zu machen, die dieser fiktiven Sprechern zuweist, heißt schöpferische Freiheiten gleich mit zu verhaften. All jene hingegen, die dem Diskurs das letzte Wort zugestehen, bewegen sich innerhalb seiner Grenzen, wie schroff oder ungehobelt sie sich im Eifer des Gefechts auch immer äußern und gebärden mögen. Selbst wer ‚austickt‘, schreit, weil er weiter keine Argumente hat, verbleibt, wenn sonst nichts geschieht, diesseits des Diskurses, kann in diesen wieder eintreten, sobald er sich beruhigt. Im Zweifelsfall lieber eine Äußerung, die ihre Adressaten verstört, kränkt, empört, durchgehen zu lassen, als diese mitsamt Autor zu skandalisieren, ist ein Ausweis kommunikativer Reife und eben keine Kapitulation vor dem „Feind“. Vielleicht ist hier der Platz, um noch einmal auf Norbert Elias’ Zivilisationstheorie zurückzukommen. „Zivilisation“, so wie er diesen Ausdruck gebraucht, ist kein Kampf-, sondern ein Prozessbegriff. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verwandlung sozialer Fremdzwänge in Selbstzwänge des Verhaltens. Im Zuge dieser Transformation zügeln Menschen ihre Aktionsimpulse stärker als zuvor, planen die absehbaren Folgen ihrer Äußerungen in diese ein und reagieren empfindlich, wenn andere sich Freiheiten herausnehmen, die
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sie sich selbst versagen. In der Vergangenheit waren es die um kulturelle Distinktion bemühten Oberschichten, die diesen Prozess vorantrieben und beaufsichtigten. Heutzutage geht das Bestreben um kulturelle Hegemonie aus der urbanen, akademischen Mitte der Gesellschaft hervor. Politische Korrektheit, die #MeToo-Bewegung, gendergerechte Sprache verweisen unzweideutig auf diese soziale Herkunft und leiteten nach Jahrzehnten der Lockerung der Umgangsformen eine neue Phase der Formalisierung des Ausdrucksverhaltens ein. Was gestern noch erlaubt war, toleriert wurde, gilt nun als anstößig, als übergriffig, und die anschwellende Empörung festigt das Regime der Selbstzwänge. Die Zivilisation macht Fortschritte und wie jeder Fortschritt so hat auch dieser seinen Preis: das Anschwellen der Krampfadern. Austeilen, Attacken parieren, einstecken können, unverzichtbare Eigenschaften, um am verbalen Schlagabtausch Gefallen zu finden. Davon ist eines geblieben: die Angriffslust. Andere zur Strecke bringen, um sich selbst einen Schutzwall errichten, der einen unangreifbar macht – wie soll das gehen, wenn diese Praxis üblich wird? Nun, indem aus Nachrichten allzeit Tatbestände, aus Sendern Täter und aus Empfängern Opfer werden können. Da nimmt man sich doch besser in Acht und überlässt einer Instanz in seinem Inneren die
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Aufsicht über die Worte. Wer denkt, dass das unseren sprachlichen Austausch zum Versiegen bringen könnte, irrt. Worte, kaum ausgesprochen, werden begutachtet, manche passieren ohne Befund, über anderen flattert ein rotes Tuch. Die werden ausgiebig kommentiert, mit Gebrauchsanweisungen versehen, aus dem Verkehr gezogen, zu Sprachruinen, der Anfangsbuchstabe genügt und jeder, der sich auskennt, weiß Bescheid: bis hierhin und nicht weiter. Andere nehmen gerade diese Worte eigens in den Mund, speien sie, im Wissen um die aufreizende Wirkung, den Cleanern genüsslich vor die Füße und geben sich dadurch untereinander als Verfemte, Verfolgte zu erkennen. Ungebremster Redefluss, Diskurse auf totem Gleis; wer zuerst lacht, lacht vielleicht zum letzten Mal so herzhaft-unbefangen, wo bleibt da nur der Witz? Es ist nicht schwer zu verstehen, was die Polarisierung, die affektive Aufladung der Diskurse veranlasste. Wenn Teile der Gesellschaft über lange Zeit hinweg in der Aufmerksamkeitsökonomie den Kürzeren ziehen, mit ihren Themen und Anliegen nicht durchdringen, dann machen sie, die Außenseiter, eben ihren eigenen Laden auf und fordern die Etablierten heraus, bestreiten, schleifen deren Privilegien. Das schmälert deren symbolisches, soziales, ökonomisches Kapital, da re-
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agieren sie gereizt, nur zu verständlich, denn das ist frustrierend. Und nicht aufzuhalten, denn sofern die Veränderung des Verhältnisses von Etablierten und Außenseitern auf Gleichheit zielt, befinden sich alle Trümpfe in den Händen der Frondeure. Das Gleichheitsprinzip rechtfertigt auch eine umgekehrte Privilegierung, so lange, bis je nach relativem Gewicht der Gruppen Parität erreicht ist: gleiche Rechte, gleiche Chancen für alle. Aus der Unterprivilegierung das Recht auf sachlich, sozial und zeitlich unbegrenzte Vorrechte abzuleiten, läuft dem Egalitarismus zuwider. „Ihr habt lange genug geredet, verkrümelt euch, jetzt reden wir!“ „Antiegalitäre Emanzipation“, ein Widerspruch in sich, deshalb kein Phantom, vielmehr ein politisches Faktum mit hoher Ausbreitungsgeschwindigkeit. Und hohem Erregungspotenzial. Man liefert sich Scharmützel, Grabenkämpfe entlang falsch gezogener Fronten, wartet auf Ermüdungsbrüche im gegnerischen Lager. Die Kräfte nicht weiter zu verschleißen sollte im Interesse aller liegen, die sich dem Grundsatz gleicher Freiheit verpflichtet fühlen. Wenn wir diesen geistigen Boden verlassen, verlieren wir den Maßstab, um Fortschritte von Fehltritten, Querschlägen zu unterscheiden. Dann heben unsere Wortgefechte ab, weil sie das Ziel aus den Augen verlieren, das uns im Streit ver-
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binden könnte. Dann werden die Worte zu vergifteten Pfeilen und die Rüstung wird zur Grundausstattung im öffentlichen Raum.
Die Dinge des Lebens Können Worte, was man Blicken zutraut: töten? Sie können gleich diesen den sozialen Tod eines Menschen herbeiführen, und wer den einmal gestorben ist, wird nur noch unter großer Kraftanstrengung zu sich selber finden. Die deutsch-türkische Schriftstellerin Deniz Ohde hat eine Figur erschaffen, die alle Stationen dieses aus Worten gefertigten Dramas durchlebt, durchleidet.27 Sie versetzt sie in eine an einen Industriepark grenzende Siedlung nahe Frankfurt am Main. Dort malocht ihr Vater, der eine Frau geheiratet hat, die aus der türkischen Provinz mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland aufgebrochen war. Gesprochen wird zu Hause wenig und wenn, dann in einem Jargon, der jeden Gedanken an einen Ausbruch aus dieser Enge im Keim erstickt. „Sei still“, bekommt das Mädchen zu hören, wenn es auch nur den Anschein erweckt, mehr zu wollen, als sich in seine Lage zu fügen. „Sprich lauter“, heißt es in der Schule. Denn das Kind ist schüchtern, traut sich nichts zu, redet leise, den
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Blick schamhaft gesenkt. Die Lehrer haben diese verstockte Schülerin zeitig abgeschrieben, zwei Klassenkameraden aus eher kleinbürgerlichem Milieu, die einzigen, mit denen sie näheren Umgang hat, bestärken sie in ihren Skrupeln. Dabei ist sie geistig rege, absolviert den Schulstoff, Lesen, Schreiben, Rechnen, daheim in ihrem Zimmer, löst Aufgaben weit über das vorgegebene Pensum hinaus, zeigt das aber nicht. Die äußere Abwertung, auf die sie ringsum stößt, ist in eine innere übergegangen, und die verschließt ihr den Mund. Irgendwann gibt sie auf, dagegen anzukämpfen, vernachlässigt die Schule, sitzt tagsüber vor dem Fernseher; eine, die versagt, wie aus dem Lehrbuch. Dann gibt sie sich doch noch einen Ruck, entschließt sich, die verkorkste Schulkarriere wieder aufzunehrum men, Realschulabschluss, dann das Abitur. „Wa wollen Sie Abitur machen“, fragt der Rektor der Abendschule, und die Betonung liegt auf „Sie“. „Auch dafür musste es also einen Grund geben. Ich schwieg. Sagte dann: ‚Ich will studieren‘, wie eine Frage, das letzte Wort mit zischendem Frikativ, als hätte ich es noch nie vorher ausgesprochen.“ Ihre Freundin aus alten Kindheitstagen hat da ihre Zweifel: „Sophia sagte, ich solle mir gut überlegen, ob die Uni wirklich das Richtige für mich sei.“
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Später, sie studiert bereits, sitzt sie in einer Prüfung einem Professor gegenüber, das Thema ist Sprechakttheorie, und sie soll ein Beispiel für einen fehlgeschlagenen Sprechakt geben. Jetzt hätte sie, als Beispiel par excellence, ihr Leben erzählen können, stattdessen spult sie ab, was sie bei Austin und Searle, Autoritäten auf diesem Gebiet, gelesen hat, und plötzlich verlassen sie die Worte wie einst auf der Schulbank: „Ich saß im Büro des Professors und gab Antworten – dabei hätte ich ihn fragen wollen: Welcher Sprechakt ist das? Habe ich jetzt wirklich etwas gesagt, habe ich angemessen über Sprechakte gesprochen oder habe ich einen ganz anderen Akt vollzogen, habe ich abgeliefert, was Sie von mir verlangen, damit Sie mir eine Note geben, finden Sie das alles nicht auch unerträglich, wie soll ich sprechen, wie ist darüber zu sprechen, hier in Ihrem Büro, in diesem Rahmen, mit dieser Beisitzerin, die sich Notizen macht zu meinen Versuchen, auf Suggestivfragen zu antworten, in diesem Rahmen, der doch etwas anderes bedeutet als die Fragen, die Sie mir stellen, in dieser Ruhe hinter doppelten Türen, auf diesen gepolsterten Sitzen, in die ich tief einsinke, ich hätte sprechen wollen, aber brachte kein Wort heraus, und mir sind die Tränen gekommen wie einem unsinnigen Kind.“
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Was der Ich-Erzählerin zustößt, reicht weit über jene Art von Kränkung hinaus, die man heute mit ‚fehlschlagenden‘ Sprechakten verbindet: böse Worte, die auf dem Index von Cleanern stehen und Alarm auslösen. Die ‚tödlichen‘ Sprechakte ihrer Welt kommen unschuldig daher, sie treffen und verletzen ohne Vorwarnung, aber desto sicherer. Eine ganze Tradition steht für sie ein, die der sozialen Ungleichheit von alters her, und beglaubigt sie als die einzig angemessenen, korrekten. Hier wird mit der bitteren Wahrheit gelogen, „Werde, was du bist!“, und das macht es so außerordentlich schwer, seine eigene Wahrheit zu entdecken. Ohdes Alter Ego befreit sich aus dem ihr zudiktierten Leben, bricht in ein eigenes auf. Warum gelang ihr, was so vielen anderen in der gleichen Lage nicht gelang? Der Roman, in dem sie auftritt, lässt das im Ungefähren. Einen anderen zeitgenössischen Autor, J. D. Vance, treibt genau diese Frage um, und zwar am Leitfaden des eigenen Werdegangs. Der stand unter einem denkbar schlechten Stern. Die Mutter, drogensüchtig, stets mit einem Bein im Gefängnis, hat kaum Zeit für ihn, der Vater abgängig, Männer kommen und gehen, Abstürze, Gezeter, Gewalt, wie auch sonst in der Nachbarschaft, hier in Middletown, Ohio. Die Heran-
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wachsenden lernen zeitig, ihre Fäuste zu gebrauchen, um sich durchzusetzen, und ernten dafür auch noch Lob. Die Schule ein Kampfschauplatz mit gelegentlicher Unterweisung durch eine missmutige Lehrerschaft. Nur die Großmutter, grob, vulgär, aufbrausend auch sie, nimmt sich des Jungen an, zwingt ihn zurück in die Schule, haut ihm die Hefte um die Ohren, die er vollschmiert, trichtert ihm förmlich ein, was sie an Kenntnissen erworben hat: Wenigstens einer muss es schaffen, hier herauszukommen. Die von Wutanfällen begleiteten Lektionen fruchten. Der schon halb Verwahrloste reißt sich zusammen, schließt die Schule inklusive High School ab, studiert, trifft auf Menschen, die ihn fördern, schafft den Sprung nach Yale, wo er Jura studiert, wird ein erfolgreicher Investor, schreibt ein Buch darüber, einen Bestseller, der verfilmt wird;28 ein amerikanischer Traum. Ein Traum, der immer öfter platzt, das ist dem Autor wohl bewusst, und so fragt er: „Wie viel von unserem Leben, von dem Guten wie dem Schlechten, sollen wir unseren persönlichen Entscheidungen zuschreiben, und wie viel davon ist einfach das Erbe des Milieus, der Familien, der Eltern, die für ihre Kinder nicht da waren? […] Wo hört die Schuldzuweisung auf, wo beginnt die Anteilnahme?“29
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Die Macht der Verhältnisse und die Verantwortung des Einzelnen – Vance schlägt sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite, rechtfertigt und klagt an, argumentiert eben noch wie ein ‚Linker‘, um im nächsten Augenblick neoliberale, neokonservative Töne anzuschlagen. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, vielmehr eine Stärke seines Berichts. Die meisten denken so wie er, wechselweise deterministisch und moralisierend, und in diesem Dualismus steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit; ein Thema für sich. Manchmal scheint es Vance, er habe die schicksalsblinde Fügung überlistet, als er sein Leben against all odds doch noch in den Griff bekam: „Ich wusste, dass jemand, der aufwächst wie ich, es eigentlich nicht so weit bringen durfte, und ich gratulierte mir dazu, dass ich es jeder Statistik zum Trotz geschafft hatte. Ich war besser als meine Herkunft, besser als Mom und ihre Sucht und besser als die Vaterfiguren, die mich im Stich gelassen hatten. […] In gewisser Hinsicht ist Mom diejenige unter den Geschwistern, die im statistischen Spiel verloren hat.“30 Aber kann man die Dinge des Lebens so betrachten? Menschliches Handeln vorhersehbar, berechenbar zu machen, auf Jahre hinaus – die moderne Industriegesellschaft hat diesen Ehrgeiz treibhausmäßig gezüchtet.
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Risikomanagement, prospektive Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozialpolitik, Sozialhygiene, Kriminalitätsbekämpfung – das und anderes mehr spornte die Wissbegier an, schuf gänzlich neue Wissenszweige, förderte Erkenntnisse zutage, die auf den ersten Blick befremdlich wirken, anmaßend, bedrohlich, so wie das Fazit, das Émile Durkheim aus seiner bahnbrechenden Untersuchung über die gesellschaftlichen Ursachen der Selbstmordneigung zog: „Ihre Opfer vom nächsten Jahr leben bereits; die meisten von ihnen nehmen schon am kollektiven Leben teil und sind demzufolge seinem Einfluss ausgesetzt.“31 Wer sind diese Unglücklichen? Kennt man sie schon, da sie doch mitten unter uns umhergehen? Nein, denn was allein sich bestimmen lässt, ist die Selbstmordrate und die Faktoren, die diese beeinflussen: Geschlecht, Alter, soziale Lage, Wirtschaftskrisen, Religiosität, Jahreszeit … Jeder Selbstmord ist der Akt eines Einzelnen, im ‚Wesentlichen‘ aber eine „kollektive Krankheit“, deren Auslöser außerhalb des Individuums, außerhalb seines Bewusstseins liegen. Versteht man die überpersönlichen Auslöser dieser Krankheit, wird sie in Grenzen heilbar. Hier war ein Exempel auf die Leistungsfähigkeit und den Nutzen soziologischen Denkens statuiert, das Schule machte.
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Man musste Durkheims Methode nur auf andere Phänomene (Einbrüche, Krankheiten, Verkehrsdelikte etc.) übertragen, Marker zu Rastern zusammenfügen, die dann als Suchmaschinen funktionieren. Mittels Predicitive Policing, auf „alle 19-jährigen Bäcker mit schwäbischer Mundart“32 angesetzt, grenzt die örtliche Polizei den Kreis der Personen drastisch ein, die aufgrund früherer Fälle von Mehldiebstahl für künftige infrage kommen könnten, und geht schon mal in Stellung. Abertausende ausgewerteter und hochgerechneter Krankheitsverläufe ermächtigen Ärzte, ihren Daumen über schwerkranken Patienten zu senken, kostspielige Therapien ‚vorsorglich‘ einzustellen, noch ehe diese aufgegeben haben. Schöne neue Welt, kein Fantasieprodukt, reale Praxis und durchaus praktikabel, auch unter löblichen, präventiven Maßgaben. Je weniger die ‚Fälle‘ miteinander interagieren, und das ist bei Selbstmördern, Dieben, Kranken mehr oder weniger zu vernachlässigen, desto höher liegt die Trefferquote der Prognosen. Was aber, wenn der Todkranke sein ‚Verfallsdatum‘ ignoriert, einfach weiterlebt, wie in einer Erzählung von Franz Werfel,33 wo einer, seine Lebensversicherung im Kopf, den Tag um jeden Preis erreichen will, ab dem die Begünstigte davon profitiert?
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Dann wären die Ärzte besser beraten gewesen, ihrer Intuition statt Algorithmen zu vertrauen. Die Statistik ficht das nicht an; Unbestimmtheiten sind ihr Element. Diese im großen Ganzen bestimmbar, handhabbar zu machen, ist der Zweck der Übung. Für diese Bestimmungszwecke kommen Menschen als Bündel von Eigenschaften in Betracht. Diese Bündel werden aufgeschnürt, einige Merkmale, die mehrere, viele betreffen, herausgegriffen und zu einem Merkmalsset zusammengefügt. Dieses Set enthält die abstrakte Wahrheit über seine ‚Spender‘, und so nimmt es nicht wunder, dass es bei der Wiederannäherung an die konkreten Individuen seine Aussagefähigkeit Schritt für Schritt verliert. Es hat Attribute herausgefiltert, weiß aber nichts von der ‚Substanz‘. Menschen sind keine Summe von Eigenschaften, sondern verschmelzen diese auf eine je einmalige Art und Weise zu einem höchstpersönlichen Ganzen. Darin besteht ihre konkrete Wahrheit, die sie weniger denken als vielmehr sind. Dass diese der abstrakten widerspricht, ist geradezu unsere Erwartung, wenn wir etwa an Menschen denken, die rein statistisch gesehen zum Verbrechen disponiert sind und sich, wenn sie straffällig werden, nun auf die Statistik, sprich auf die ‚Umstände‘ berufen.
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Mögen ihre Verteidiger sie darin bestärken, der Staatsanwalt wird das nicht gelten lassen, der Richter, beides im Blick, auf lediglich mildernde Umstände erkennen. So will es die Freiheitshypothese, auf der unser aller soziale Urteilskraft beruht. Niemand überlistet die Wahrscheinlichkeit, wenn er eine ihm zugemutete Straftat nicht begeht, denn die hantiert mit anderen Formaten, unpersönlichen. Und so triumphierten weder Kurt noch die beiden weiblichen Romanfiguren, die hier zu Wort kamen, noch J. D. Vance über die Statistik, als sie begannen, ihrer Wahrheit, der konkreten, nachzugehen, nachzuleben. Sie waren an einem bestimmten Punkt ihres Lebens einfach empfänglich für deren Botschaft: Lass dich nicht unterkriegen, lass dich nicht verführen, lass dich von denen nicht irre machen, die dich ‚zur Vernunft‘ bringen wollen. Dass unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen deterministische Deutungen menschlichen Handelns moralischen Erwägungen gegenüber einiges an Plausibilität voraushaben, wissen die am besten, die es am schwersten haben.
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Wie nun weiter in der „neuen Normalität“ (noch eine Wortschöpfung aus dem vergangenen Jahr)? Im Krisenmodus, so viel scheint gesichert. Der Führungsanspruch der Wissenschaft ist unüberhörbar. Bilden künftig ‚gesicherte Erkenntnisse‘ statt ökonomischer Interessen die Leitplanken politischen Handelns? Wird der Primat der Politik auf dem Rechtsweg eingehegt? Der Einspruch des Bundesverfassungsgerichts gegen das Klimaschutzgesetz der deutschen Regierung lässt erahnen, wohin die Reise geht: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthält eine allgemeine staatliche Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Das Grundrecht schützt nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es schließt auch die staatliche Pflicht ein, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. […] Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet.“34 „Die Möglichkeiten, von grundrechtlich geschützter Freiheit in einer Weise Gebrauch zu machen, die di-
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rekt oder indirekt mit CO2-Emissionen verbunden ist, stoßen an verfassungsrechtliche Grenzen, weil CO2Emissionen nach derzeitigem Stand im Wesentlichen unumkehrbar zur Erwärmung der Erde beitragen, der Gesetzgeber einen ad infinitum fortschreitenden Klimawandel aber von Verfassungs wegen nicht tatenlos hinnehmen darf.“35 Wissenschaftlicher Kapitalismus mit rechtlichem Flankenschutz als höchstes und zugleich letztes Stadium dieser Gesellschaftsformation? Vollzieht sich so der Übergang zu einer durchgehend von den ‚Bedürfnissen des Lebens‘ her konzipierten Vergesellschaftung? Wir werden sehen …
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Anmerkungen 1 So beschloss Uwe Johnson den dritten Band seiner Jahrestage. 2 Branco Milanovic: Kapitalismus Global. Über die Zukunft des Systems,
das die Welt beherrscht, Berlin 2020, S. 273. 3 Ebd., S. 215. 4 Ebd., S. 274. 5 Julia Deck: Privateigentum, Berlin 2020, S. 20f. 6 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der
reinen Soziologie, Darmstadt 1979 (zuerst 1887), S. 34. 7 Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisa-
tion höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1893). 8 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und
psychogenetische Untersuchungen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1939). 9 Norbert Elias: „Vielleicht habe ich etwas von dem gesagt, was eine Zu-
kunft hat“. Gespräch mit Wolfgang Engler, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt am Main 2005, S. 367 – 388. 10 Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holo-
caust, Hamburg 1992, S. 27.
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11 Ebd., S. 39. 12 Franz Xaver Kroetz: Das Nest, in: Ders.: Weitere Aussichten. Neue Texte,
Berlin 1976, S. 235f. 13 Die ganze Geschichte bei: Katharina Pistor: Der Code des Kapitals. Wie
das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, Berlin 2020. 14 Adam Smith: Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des
Reichtums der Nationen, Erster Band, Berlin 1976 (zuerst 1776), S. 21f. 15 Siehe das Kapitel „The ‚Least Resistant Personality‘“ in Arlie Russell
Hochschilds Buch Strangers In Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right, New York 2016. 16 Heiner Müller: Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande, in:
Ders.: Werke 3, Die Stücke 1, Frankfurt am Main 2000, S. 287. 17 Frank Sieren: Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte
Deutschland verändert, Berlin 2005, S. 250f. 18 Ebd., S. 256. Vom selben Autor: Die Konkubinenwirtschaft. Warum west-
liche Unternehmen in China scheitern und die Chinesen an die Weltspitze stürmen, München 2008 sowie: Geldmacht China. Wie der Aufstieg des Yuan Euro und Dollar schwächt, München 2013. 19 „Im alten Regime gibt es nur Polizeimaßnahmen; im neuen findet man
sich durchaus in einer Kriegssituation wieder.“ Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017, S. 402. 20 Hans-Peter Krüger: „Der geistig-kulturelle Umgang mit der Covid-
19-Pandemie und ihrer Wirtschaftskrise als Testfall“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, 2021, S. 89f. 21 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbar-
keit bürgerlichen Geistes, zitiert nach Krüger, ebd., S. 92. 22 Den „Staatsapparat von einem Befehlsorgan zu einer Serviceabteilung“
zu degradieren, davon träumt Latour in: Kampf um Gaia, a.a.O., S. 466. 23 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Frankfurt am Main 1986, S. 48.
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24 Gerhard Schick: „Die große Verdrängung. Corona und die unbewältig-
te Finanzmarktkrise“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1, 2021, S. 95 – 104. 25 Ich beziehe mich nachfolgend auf Überlegungen aus meinem Buch
Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen, Berlin 2021, speziell auf das Schlusskapitel: Postskriptum: Die offene Gesellschaft geht viral. 26 So fragt, um eine Antwort verlegen, Samuel Scheffler: Der Tod und das
Leben danach, Berlin 2015, S. 152. 27 Deniz Ohde: Streulicht, Berlin 2020. 28 James David Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und
einer Gemeinschaft in der Krise, Berlin 2017. 29 Ebd., S. 267. 30 Ebd., S. 257, 268. 31 Émile Durkheim: Der Selbstmord, Frankfurt am Main 1983 (zuerst
1897), S. 379. 32 David Gugerli: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt am
Main 2009, S. 57. Die Praxis ist weit weniger harmlos als dieses kon struierte Beispiel. Die Dokumentation Pre-Crime von Monika Hielscher und Matthias Heeder zeigt das eindrucksvoll. 33 Franz Werfel: Der Tod eines Kleinbürgers (1927). 34 Zitiert nach: Joachim Müller-Jung: „Im Namen der Freiheit“, in: Frank-
furter Allgemeine Zeitung vom 6. Mai 2021. Dort finden sich umfängliche Auszüge aus dem Urteil. 35 Ebd.
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Biografie Wolfgang Engler ist Soziologe und Publizist. Bis 2017
war er Professor für Kultursoziologie und Ästhetik der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin und ebendort von 2005 bis 2017 Rektor. Er war außerdem langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Wolfgang Engler hat zahlreiche Publikationen zum Umbruch im Osten, zum Wandel moderner Erwerbsgesellschaften sowie zu diversen sozial- und kulturgeschichtlichen Themen veröffentlicht. In seinen jüngsten Arbeiten diagnostiziert er eine Krise der offenen Gesellschaften des Westens und fragt, was diese lernen müssen, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.
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Wolfgang Engler Die andere Wahrheit © 2021 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Hannes Aechter Druck und Bindung: druckhaus köthen Printed in Germany ISBN 978-3-95749-363-7 (Hardcover) ISBN 978-3-95749-381-1 (ePDF) ISBN 978-3-95749-382-8 (EPUB)
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Wolfgang Engler Die andere Wahrheit
„Interesse versus Engagement: eine der großen Konfliktlinien unserer Zeit, ein Dauerthema im 21. Jahrhundert.“ Wolfgang Engler
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