Theater der Zeit 01/2021 - Das Lachen der Medusa. Feminismus Theater Performance

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Patsy l‘Amour laLove: Die Inszenierung von Geschlecht / Abschied: Jutta Lampe und Peter Radtke Fritz Göttler: Theater trifft Kino / Kolumne Ralph Hammerthaler / Cyberräume von Markus Selg

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Das Lachen der Medusa Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken

Januar 2021 • Heft Nr. 1


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editorial

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inmal begegnete Valie Export, Ikone der feministischen Performancekunst, kurz nach ihrer ­ ktion mit dem Tapp- und Tastkino – einer vor den Bauch geschnallten Box mit Löchern, durch die A Passanten ihre nackten Brüste ertasten konnten –, auf der Straße einem Kollegen aus der Szene der Wiener Aktionisten. „Mei, Valie“, habe dieser abfällig gesagt, „was du so alles treibst!“ Dann habe er gelacht und sei weitergegangen. Das war Ende der sechziger Jahre. Seitdem, würde man als Frau jetzt gerne schreiben, ist viel passiert, doch seltsamerweise sprechen wir 2020 immer noch über die ­gleichen Themen: über Sexismus, stereotype Frauenbilder, strukturelle Ungleichbehandlung. So ist es also kein Wunder, dass auch auf deutschsprachigen Bühnen nach wie vor – und nach #MeToo umso mehr – das Bild der Frau unermüdlich dekonstruiert und neu zusammengesetzt wird. Besonders „hart“ trifft es dabei die Schauspielerinnen an den Stadttheatern, die sich in den auf den Kanon fixierten Institutionen unablässig in die gleichen Frauenrollen gedrängt sehen: Iphigenie, Gretchen, Medea … – die Liste der leidenden, sich opfernden Frauen ist lang. Doch stimmt diese Lesart überhaupt? In unserem Schwerpunkt zu Feminismus Theater Performance hat sich Christine Wahl eine Reihe aktueller Antikenaufführungen von jungen Regisseurinnen vorgeknöpft, um deren Inszenierungen von Weiblichkeit im Umgang mit antiken Frauencharakteren zu analysieren. Zudem sprechen wir mit der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken über starke Frauenrollen in der Theaterliteratur und das Missverständnis von Kunst als Selbstermächtigungslehre. Auch Rebekka Kricheldorf, deren Stück „Der goldene Schwanz“ wir in dieser Ausgabe drucken, hält nichts vom „Kuschelmuschelwohlfühlzeug“ der sogenannten Awareness-Kultur. Viel spannender sei es doch, sagt sie im Gespräch, zu schauen, welche Selbstgewissheiten im eigenen Milieu zu einer gewissen Blindheit führen. Mit einem ähnlich perforierenden Blick auf die eigene Bewegung trat 1976 die anarchofeministische Zeitschrift Die Schwarze Botin an, deren Forderungen, wie Dorte Lena Eilers zeigt, bestens für eine aktuelle Sichtung der jüngsten Premieren der freien Szene taugen, welche mit ihren Verhandlungen identitätspolitischer Diskurse ebenfalls gerne unter Kuschelverdacht steht. Doch siehe da: Dem ist nicht so. Zumindest die ausgewählten Performances von She She Pop bis Vanessa Stern zeigen ein wohltuend struppiges, feministisch-anarchisches Potenzial. Um die öffentliche Darstellung von Geschlecht in seiner vermeintlich skandalösen Variante dreht sich auch die fünfte Folge in unsere Reihe zu Theater und Moral. Die Geschlechterforscherin Patsy l’Amour laLove hat sich der Geschichte des It-Girls Anna Nicole Smith angenommen, die als „Busenwunder“ medialen Ruhm erlangte – daran aber vor aller Kamera-Augen zerbrach. Ein typisches Opfer der Schönheits- und Entertainmentindustrie? Nein, sagt Patsy l’Amour laLove. Anna ­Nicole Smith sei eine Ikone gewesen, gerade auch für die Welt der Tuntigkeit und Travestie, die mit ihren Inszenierungen die Geschlechter seit jeher in Bewegung versetze, ohne das Subjekt mit seinen Wünschen und Tragödien zu negieren. Die Tragödie der Corona-Pandemie – auch damit geht es in diesem Heft weiter. Elisabeth Maier hat in einer groß angelegten Recherche die Lage der 24 Landesbühnen erkundet, die als reisende ­Theater in der Fläche besonders vom Lockdown betroffen sind, mit fantasievollen Aktionen jedoch unermüdlich um Sichtbarkeit ringen. „Theater kann das“, lautet der Slogan des Landestheaters Memmingen. Und: Theater kann sogar auch Kino. Diesen Eindruck gewann man als Zuschauer der in diesem Lockdown neu entstandenen Hybridformate für die Live-Übertragung ins Internet. Fritz Göttler, langjähriger Filmautor der Süddeutschen Zeitung, hat sich den „Zauberberg“ von Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann angeschaut und ihn mit der 3Sat-Aufzeichnung von „Der Mensch erscheint im Holozän“ in der Regie von Alexander Giesche verglichen. Die wunderbare Erkenntnis: Schon lange treiben Film und Theater ein doppeltes Spiel, inspirieren sich gegenseitig und kommen sich nun in einem neuen „Mischmasch“ wieder ganz nah. Wann aber ist die Pandemie endlich zu Ende? Beantworten kann dies auch der bildende Künstler Markus Selg nicht, wenngleich seine neueste Produktion mit Regisseurin Susanne Kennedy ein veritables Orakel besaß. Tom Mustroph sprach mit ihm über seine Cyberästhetik. Seine spektakulären Räume zeigen wir in unserem Künstlerinsert. Verabschieden müssen wir uns von den großartigen Schauspielern Jutta Lampe und Peter Radtke, an deren Leben und Wirken auf der Bühne Patrick Wildermann und Gerd Hartmann erinnern, dabei einen Satz ausgestaltend, den in diesem Heft Ralph Hammerthaler formuliert: „Ein guter Nachruf“, schreibt er in seiner Kolumne, „ist keine schlechte Kunst.“ Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern trotz der widrigen Umstände einen hoffnungs­ vollen Start ins neue Jahr. // Die Redaktion

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Inhalt Januar 2021

thema feminismus theater performance

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Christine Wahl Meine Hobbys sind Lasagne und Cordon bleu Antike Frauenfiguren sind en vogue bei jungen Regisseurinnen – doch wieso trägt ihr Bühnen-Feminismus so oft Behauptungen vor sich her, statt sie performativ einzulösen?

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Dorte Lena Eilers und Christine Wahl Das Lachen der Medusa Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken im Gespräch über starke Frauenfiguren und besseren Sex

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Dorte Lena Eilers Auf sie mit Gebrüll Die freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Etwas Besseres kann ihr derzeit kaum passieren: Über das anarchofeministische Potenzial in den performativen Künsten

künstlerinsert

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Bühnenräume von Markus Selg

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Wie ein Einstieg in den eigenen Kopf Der bildende Künstler Markus Selg über Höhlenmalerei, virtuelle Welten und seine Zusammenarbeit mit Susanne Kennedy im Gespräch mit Tom Mustroph

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kolumne

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Ralph Hammerthaler Leben lassen Verpatztes Timing von Nachrufen

theater und moral #5

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Patsy l’Amour laLove Schlicht Anna Nicole Warum das It-Girl Anna Nicole Smith nicht nur Antworten auf eine bigotte Schönheitsmoral gibt, sondern auch das homowie transsexuelle Subjekt vor der Verflüssigung schützt

protagonisten

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Fritz Göttler Das unsichtbare Dritte Wenn Theater auf Kino trifft: Über die Hybridkunst des Bühnenfilms

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Elisabeth Maier Marktplatztheater bei Minusgraden Die Ungewissheit in der Corona-Pandemie trifft die 24 deutschen Landesbühnen hart – dennoch versuchen sie sichtbar zu bleiben mit fantasievollen Aktionen

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Patrick Wildermann Wandlerin im Birkenwäldchen Die Schauspielerin Jutta Lampe – eine kurze Erinnerung aus traurigem Anlass

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Gerd Hartmann Ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin Zum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettre

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abschied

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inhalt

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look out

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Paula Perschke Leben, nicht verzweifeln! Die Berliner Schauspielerin Vidina Popov kann über furchtbare Dinge lachen und wirft sich mit Wucht ins Unbekannte

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Christine Adam Die Wendigkeit eines Boxers Der Osnabrücker Schauspieler Philippe Thelen verwandelt sich mühelos vom Wirbelwind zum Nervenbündel

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Aarau / Bregenz „Geld, Parzival” (UA) von Joël László in der Regie von Olivier Keller (Bodo Blitz) Gütersloh „Oinkonomy“ (UA) von Nora Gomringer in der Regie von Christian Schäfer (Sascha Westphal) Halle „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ von Annelies Verbeke in der Regie von Niko Eleftheriadis (Lara Wenzel) Mülheim „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ von Lars von Trier und Charlotte Beradt in der Regie von Philipp Preuss (Martin Krumbholz) Tübingen „Wie ein zarter Schillerfalter“ von Peer Maria Ripberger (Elisabeth Maier)

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Dem Kuschelmuschelwohlfühlzeug glaube ich nicht Die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf über ihr Stück „Der goldene Schwanz“ im Gespräch mit Christine Wahl

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Rebekka Kricheldorf Der goldene Schwanz

magazin

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62 Von Thälmann bis Rackete Die Berliner Schaubude veranstaltet eine gelungene Hybridversion ihres Festivals der Dinge Nasen, Pässe und Klagen tauschen Die Tanz-Biennale in Venedig trotzt Corona Bücher Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Falk Schreiber, Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Christian Rakow und Christian Römer, Gunnar Decker

aktuell

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Meldungen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Michel Brandt im Gespräch mit Elisabeth Maier

auftritt 38

stück

was macht das theater?

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Titelfoto Paula Kober in „Mourning Becomes Electra“ von Eugene O’Neill in der Regie von Pınar Karabulut an der Volksbühne Berlin. Bearbeitung Theater der Zeit / Foto David Baltzer

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Bühnenräume von Markus Selg zu „Algorithmic Rituals – The Infinite Self“ (Seite 4/5, Münchner Kammerspiele 2019) und „Oracle“ (Münchner Kammerspiele 2020), beides in der Regie von Susanne Kennedy. Fotos Judith Buss



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künstlerinsert

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Wie ein Einstieg in den eigenen Kopf Der bildende Künstler Markus Selg über Höhlenmalerei, virtuelle Welten und seine Zusammenarbeit mit Susanne Kennedy im Gespräch mit Tom Mustroph

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arkus Selgs Theaterräume sind opulent. In vielen Bildschichten verbinden sie Motive von untergegangenen Zivilisationen, Traumbilder, religiöse Artefakte, Zitate aus der Kunstgeschichte und Computerspiel­ elemente. Zuletzt tummelten sich gar künstliche Intelligenzen in Selgs immersiven Bühnenräumen. Für seine Arbeit erhielt er Ende 2020 den Theaterpreis Der Faust. Aktuell schließt sich für Selg, der im Theater vor allem Räume für seine künstlerische Partnerin Susanne Kennedy ent­ wickelt, ein Kreis: Für das Commons Festival in Tokio baut er sein erstes Theater in der virtuellen Realität, die Produktion heißt „I AM (VR)“. Markus Selg, für Sie muss die Produktion „I AM (VR)“, ein Theater in der virtuellen Realität, doch wie ein Nachhausekommen sein. Ihre Bühnenräume setzen sich oft aus verschiedenen Schichten von Projektionsflächen zusammen, im Grunde genommen sind sie auf die Bühne gebrachte Installationen von VR-Räumen. Wie heimisch fühlen Sie sich jetzt in der VR? Für mich fühlt es sich tatsächlich an, als würde sich damit ein Kreis schließen. Ich baue ja schon immer die Räume zunächst in 3-D im Computer. Bei der Übertragung auf die Bühne geht es dann darum, die virtuelle Welt in die reale zu transferieren, ohne das virtuelle Gefühl zu verlieren. In der Virtual Reality nun kann ich alles eins zu eins umsetzen, es gibt keine physikalischen Beschränkungen mehr. Das ist schon unglaublich. Die schwierigere Aufgabe ist nun aber: Wie bekomme ich die Zuschauerinnen und Zuschauer hinein? Wie erzeuge ich eine Erfahrung im virtuellen Raum – und nicht nur die Räume selbst? Was ist einfacher: Das Virtuelle mithilfe der Theaterwerkstätten ins Dingliche zu übertragen oder Menschen in den virtuellen Raum zu bekommen? Beides ist komplex. Virtuelle Entwürfe ins Materielle zu überführen, verfolge ich ja schon etwas länger. Auf die Frage, wie wir in die virtuelle Welt kommen, kann man mit dem Philosophen Thomas

Metzinger antworten, der sagt, dass wir schon die ganze Zeit dort sind: Die perfekteste Virtual-Reality-Erfahrung, die wir bis heute kennen, sei das menschliche Bewusstsein selbst. Wir sind nicht in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit, sondern unser Erleben wird durch unsere Sinne gefiltert. So entsteht eine dynamische Simulation in unserem Kopf. Und das ist, was auch in der VR passiert. Als würde man in den eigenen Kopf einsteigen. Die menschliche Erfahrung quasi noch einmal gedoppelt. Ähnlich der Höhlenmalerei, in der sich das neue Bewusstsein des Menschen direkt im Innern der Höhle in Form von Bildern widergespiegelt hat. Die Höhlenmalerei war ja eine künstlerische Materialisierung von Bewusstseinszuständen, mit dem Zweck, dass andere Menschen sie teilen konnten, oder? Genau. Der Anfang von Immersion. Dieser gilt schon recht lange mein Interesse, egal ob es sich dabei um Höhlenmalerei handelt oder die komplett ausgemalten Räume von Pompeji, Kathedralen, Panoramabilder, Planetarien oder die begehbare Bühne im Theater. Ich weiß aber nicht, ob ich VR noch als Schritt über das Theater hinaus sehen würde. Die körperliche Anwesenheit und das kollektive Erleben im Theater sind schon sehr besonders. Es sind doch noch sehr unterschiedliche Erfahrungen. Beide aber für mich im Moment die aufregendsten. Wie bauen Sie Ihre Räume? Ist da am Anfang ein Bild, um das sich die nächsten Elemente gruppieren, oder ist erst eine Vorstellung von Raum da, der dann mit Bildelementen gefüllt wird? Das ist ganz unterschiedlich. Da gibt es keine Formel. Manchmal sind schon Texte von Susanne da – bei „Ultraworld“ gab es ein ­altes Ausstellungsposter von mir als Anfang. Darauf ist eine MayaRuine mit davor sitzenden Menschen zu sehen, durch einen Deep-Dream-Filter verfremdet, darunter das Wort „Ultraworld“. Das nahmen wir als Titel und Ausgangspunkt für die Atmosphäre. Mit welchen Programmen bauen Sie Ihre Räume? In Cinema 4-D baue ich die Räume, erst die Körper, auf die ich dann die Texturen lege. So ist dann auch der Prozess mit den


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markus selg

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Werkstätten. Sie bauen die Körper, und auf die Oberflächen werden meine auf Stoff gedruckten Bilder kaschiert. Diese erwachsen aus meiner Sammlung von Bildern und Objekten, die ich hier im Atelier, aber vor allem auf meinen Festplatten habe.

Foto Markus Selg

Eine Art privater Mnemosyne-Atlas also, wie ihn der Kunsthistoriker Aby Warburg einst erdachte? Genau. Meine ersten Computerbilder in den Neunzigern habe ich noch ausschließlich mit den Tools von Photoshop gemalt. Dann kam das Internet, und damit öffnete sich der Rechner nach Außen. Seitdem strömen Unmengen von unterschiedlichstem Bildmaterial herein, welches ich verarbeite. Wie war für Sie der Prozess vom selbst Malen zum Drucken? Von Hand gemalt habe ich überhaupt nur ein paar Bilder. Alle Bilder, die Sie hier im Atelier sehen, sind mit dem Computer gemacht. Manche sehen aber wie gemalt aus, man glaubt förmlich, den pastosen Pinselauftrag zu sehen. Ja, eine Zeit lang habe ich mit dieser Täuschung gespielt, habe Ausstellungen gemacht, die vielleicht wie Ausstellungen aus den 1920er Jahren aussahen. Es war aber alles Simulation. Selbst die Skulpturen, die ich von Hand gebaut habe, wurden vorher am Computer entworfen. Sie kommen aus der bildenden Kunst, haben aber schon früh einzelne Arbeiten zu Installationen gruppiert und ganze Räume inszeniert. In den Jahren 2015 bis 2017 war dieser Übergang am deutlichsten zu sehen – in der Ausstellung „Primitive Data“, die im Grunde ein Raumparcours war, in der Produktion „Medea.­ Matrix“ in der Regie von Susanne Kennedy – einer theatralen Installation –, und in der Ausstellung „The Cosmic Stage“, die den Galerieraum zur Bühne machte. Waren dies die prägendsten ­Jahre für die Entscheidung, stärker dem Theater zu folgen? Es waren auf jeden Fall wichtige Stationen. „Primitive Data“ war eine Ausstellung mit Werken aus den letzten zehn Jahren, aber nicht als Retrospektive, sondern als Parcours über acht Räume realisiert. Am Ende war es ein zusammenhängendes Gesamtwerk. Kurze Zeit später kam dann „Medea.Matrix“. Das war die erste Zusammen­ arbeit mit Susanne, die zu großen Teilen noch in meinem Atelier entstand. Wir saßen zwei Monate lang mit dem ganzen Team vor einem etwa zwei Meter großen Bühnenmodell und haben die ­Videos und den Ton geschnitten wie einen Spielfilm. Im Modell befanden sich 13 verschiedene Projektionsscreens – nur eben in Miniatur. Es war ein spezieller Weg, vom Atelier direkt auf die Bühne. Für so einen aufwendigen Prozess gab es damals auf den Proben keine Zeit. Das ist jetzt anders? Ja, ich habe es sehr zu schätzen gelernt, all dies gemeinsam auf der Probebühne zu entwickeln. Bei „Ultraworld“ sind die meisten Videos während der Proben entstanden. So reagiert alles direkt aufeinander: das Schauspiel aufs Video, das Video auf den Ton und so weiter. Man schafft eine Art Bühnenmetamorphose. Zuletzt kam noch eine neue Klasse von Akteuren, man möchte eher nicht sagen: Objekten, hinzu – künstliche Intelligenzen. Wie kam es dazu?

Markus Selg wurde 1974 in Singen am Hohentwiel geboren. Von 1996 bis 2000 studierte er an der von ihm mitbegründeten Akademie Isotrop in Hamburg. Selg ist vielseitig als Musiker, DJ, Herausgeber, Filmemacher und Multimediakünstler tätig. Als experimenteller Künstler erforscht er die Dynamiken zwischen archaischen Mythen und digitalen Technologien. Er entwirft szenografische Installationen, welche er mit Film, Skulpturen, Performance und Musik zu multi­ medialen Erfahrungsräumen verdichtet. 2016 konzipierte er für die Ruhrtriennale gemeinsam mit der Regisseurin Susanne Kennedy das Stück „Medea.Matrix“. Weitere Zusammenarbeiten entstanden, unter anderem „Coming Society“ (2019) und „Ultraworld“ (2020) an der Berliner Volksbühne sowie „Algorithmic Rituals – The Infinite Self“ 2019) und „Oracle“ (2020) an den Münchner Kammerspielen.

Das hat uns schon länger interessiert. Wir haben in „Algorithmic Rituals“ ganz einfache Roboter benutzt, Staubsauger, die ich zu fahrenden Skulpturen umgebaut habe. In „Oracle“ hatten wir dann eine künstliche Intelligenz als Hauptdarsteller. Das war ein extrem spannender Prozess, der zum Teil magische Aspekte hatte, dem aber auch eine Demystifizierung von KI innewohnte. Auch in dieser Inszenierung, uraufgeführt im Juni 2020 an den Münchner Kammerspielen, absolvierten die Zuschauer einen Parcours, an dessen Ende im dritten Raum tatsächlich ein Orakel wartete. Was war das Magische, was das Demystifizierende? Man hat gemerkt, wie viel der Mensch machen muss, damit es funktioniert. Außer dem Programmieren muss man die KI füttern, ständig Fehler beheben, und es gab jede Menge Ausfälle. Wenn es dann aber funktioniert hat, war tatsächlich etwas im Raum, eine Art Wesen, das Antworten gibt, die niemand von uns in es hineingefüttert hat. Die Besucherinnen und Besucher haben dann auch sehr stark auf das Orakel reagiert, sehr ernst und persönlich. Und wenn das Orakel einen aufgefordert hat, eine ­Frage zu stellen, hat das sofort etwas mit einem gemacht. Wurde dem Orakel auch die Frage gestellt, wann die Pandemie zu Ende ist? Sicher wurde diese Frage gestellt. Ich habe es aber nicht selbst danach gefragt. //


xx Quer durch eine Herde wütender Stiere soll Medeas Weg in die Freiheit führen. Dumm nur, dass sie dabei auf Männer setzt. Unemanzipiert, stereotyp, passiv – so beurteilen viele Schauspielerinnen und Regisseurinnen mittlerweile die Frauenfiguren des klassischen Kanons. Aber stimmt diese Lesart? Darüber sprechen wir in unserem Schwerpunkt zu Feminismus Theater Performance mit der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Einblicke in aktuelle Antikeninszenierungen junger Regisseurinnen sowie in Produk­ tionen der freien Szene untersuchen zudem deren feministisches Potenzial.

„Medea*“ (hier mit Maja Beckmann) in der Regie von Leonie Böhm am Schauspielhaus Zürich. Foto Gina Folly

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feminismus theater performance

Meine Hobbys sind Lasagne und Cordon bleu Antike Frauenfiguren sind en vogue bei jungen Regisseurinnen – doch wieso trägt ihr Bühnen-Feminismus so oft Behauptungen vor sich her, statt sie performativ einzulösen? von Christine Wahl

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aust redet darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält – und Gretchen über Faust. Hamlet sinniert über Sein oder Nichtsein, Ophelia über ihren Beziehungsstatus mit Hamlet. Karl Moor hebt in den böhmischen Wäldern die Welt aus den Angeln,­ Amalia wartet zu Hause auf Karl: Kaum eine Frauenfigur in der Theatergeschichte, die unter feministischen Gesichtspunkten nicht schwer zu wünschen übrig ließe. Entsprechend stark ist der dramatische Kanon im Stadttheaterbetrieb unter Beschuss geraten. Neue Frauen braucht die Bühne, lautet der Branchentenor. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso bemerkenswerter, dass sich in dieser Spielzeit gleich reihenweise junge Regisseurinnen – allesamt zwischen dreißig und vierzig – auf kanonische Protagonistinnen beziehen; und zwar auf die ältesten der Dramengeschichte. Zum Beispiel auf Iphigenie, die auf der Liste der verhasstesten Frauenfiguren seit jeher einen Spitzenplatz belegt, weil sie klaglos bereit ist, sich von ihrem Vater Agamemnon – dem Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg – fürs Vaterland opfern zu lassen. Konjunktur hat aber auch Iphigenies Schwester Elektra, die – durchaus weniger handzahm – im Verbund mit Bruder Orestes ihre Mutter Klytämnestra nebst deren Lover umbringt. Oder Medea, die sogar die eigenen Kinder tötet. Alles Patriarchatsopfer, die da die Bühne von Berlin über Kassel bis nach Zürich bevölkern? Iphigenie lehnt dieses Label – zumindest in der Inszenierung von Lucia Bihler – schon mal unmissverständlich ab. Sie

lässt den „müde gewordenen weißen Mann“ in der Berliner V­olksbühne stattdessen wissen, dass sie „eifrig am Aufstieg des Matriarchats“ arbeite. Bihler scheint die schier unendliche Opferbereitschaft der Agamemnon-Tochter tatsächlich derart gereizt zu haben, dass sie den antiken Plot unter dem Titel „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland“ erst von einem komplett weib­ lichen Cast mit parodistischer Inbrunst verslapsticken lässt und anschließend noch einen einstündigen Iphigenien-Ver­wei­ge­ rungsepilog aus der Feder der Wiener Autorin Stefanie Sargnagel hinterherschickt. Der spielt in der zeitgeistigen Servicehölle eines Callcenters, wo 24/7 Dienst am offenbar dauergeilen Mann zu leisten ist: Ein perverser Unterbelichteter nach dem nächsten ruft an, um der höheren Tochter im weißen Rüschenkleid – „Hallo, Iphigenie hier, was kann ich für Sie tun?“ – abwegige Care-Tätigkeiten abzupressen. Angesichts des hohen Arbeitsaufkommens ist es nachvollziehbar, dass Iphigenie in Bihlers Inszenierung in fünffacher Ausführung auftritt. Aber: Sargnagels Callcenter mausert sich im Zeitraffer zum Emanzipationscamp. Die Auftakt-Trainingseinheit – inspiriert vom Zweizeiler „Ich heiße Tante Käthe und spiele die Trompete“ soll einmal reihum geräuschvoll gefurzt werden – bereitet der einen oder anderen Iphigenie zwar noch Schwierigkeiten. Aber mit der nächsten Übung – der verbalen Entgrenzung des gesellschaftlich akzeptierten Body-Mass-Indexes – klappt es schon besser: „Mein Körper ist wie ein köstlicher Wackelpudding“, ruft eine Iphigenie erfreut über die Rampe. Eine andere bringt die „fette Barbie“ ins Spiel, den letzten Body-Positivity-Schrei aus der Spielzeugindustrie. Wenn es schließlich darum geht, männliche Erwartungen zu enttäuschen, die im Zusammenhang mit angeneh-

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thema

men weiblichen Charaktereigenschaften und züchtigen femininen Betätigungsfeldern stehen, laufen die Iphigenien zur persön­ lichen Höchstform auf. „Andere Menschen machen mich nervös, aber ich weiß mir mit Alkohol zu helfen“, klopfen sie sich auf die Schulter. Oder: „Meine Hobbys sind Lasagne, Cordon bleu und Schweinsbraten.“ Es lohnt sich, bei Lucia Bihlers lustigem Haudrauf-Abend etwas länger zu verweilen, weil er, was den gegenwärtigen Umgang mit dem Theaterkanon betrifft, durchaus prototypischen Charakter hat. Tatsächlich verwendet der Betrieb darauf, diesen Kanon abzulehnen, erstaunlich viel Energie. Keine Ressource wird gescheut, um die emanzipatorische Unzulänglichkeit der alten Stücke vorzuführen und genderpolitisch problematische ­ ­Figuren zu dekonstruieren – die doch eigentlich schon seit Jahrzehnten niemand mehr ernst nimmt. Jedenfalls nicht im mime­ tischen Sinn. Aus sämtlichen Rohren feuert man auf betagte ­Rollenbilder, als hätte es die identitätsskeptischen neunziger und nuller Jahre nie gegeben: die Theater-Ära der postmodernen ­(Kanon-)Dekonstruktion, in der Theatergängerinnen genauso wenig auf die Idee gekommen wären, dass die devoten Gretchens und Ophelias ernsthaft etwas mit ihrem Leben zu tun haben könnten, wie Theatergänger auf den Gedanken, sich mit Hamlet oder ­Agamemnon zu identifizieren. Mit den postmodernen Stil- und Spielmitteln der Ironie, der Fremdtextanlagerung, der Diskurs­ verpoppung oder der Hyperaffirmation wurden nicht nur ­Geschlechterrollenklischees von allen Seiten munter durch den Kakao gezogen, sondern eindeutige Aussagen generell ad absurdum geführt und lieber semantische Mehrdeutigkeiten und Bedeutungsüberschüsse aufgehäuft, die die Synapsenbetriebs­ ­ systeme im Parkett aus den gewohnten Bahnen warfen.

Am didaktischen Nasenring Dekonstruiert wird heute auch, allerdings nicht per se, sondern mit gesellschaftspolitischem Sendungsbewusstsein. Dekonstruktion versteht sich häufig nicht mehr als Überschussspiel, sondern als Komplexitätsreduktionsprogramm mit klarer Vermittlungszielvorgabe: Der männliche Siegertyp wird zum albernen Würstchen verzwergt und die Frauenfigur, die hinter den gegenwärtigen Emanzipationsstandards zurückbleibt, am didaktischen Nasenring über die Bühne geführt, bis auch der Letzten klar ist, dass wir es hier mit einer verwerflichen männlichen Dramatikerfantasie zu tun haben. Paradoxerweise bringt diese Perspektivverengung neben inhaltlichen Plausibilitätsproblemen, Publikumsunterforderung und Langeweile im Parkett nolens volens ein Revival ­genau jener Geschlechterrollenstereotypen mit sich, gegen die ­eigentlich zu Felde gezogen werden sollte: Weibliche Identität ist an solchen Abenden tatsächlich nur ex negativo zu haben, passiv, als große Negation männlicher Zuschreibungen – und damit letztlich als deren Opfer. Auch Bihlers und Sargnagels Iphigenien kommen über die Ansage, keine Iphigenien sein zu wollen, performativ nicht hinaus – und schaffen mit der Ablehnung fremder Kategorien eben noch lange keine eigenen: Die Auskonterung der anorektischen Barbie durch die fette verharrt immer noch im Barbie-Referenzsystem. Von eifriger Arbeit am Aufstieg des Matriarchats kann

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also keine Rede sein – selbst wenn die multiple Volksbühnen-­ Iphigenie in einer finalen Grußadresse „an all die rechtskonservativen Männer“ über die Rampe ruft: „Ich bin euer schlimmster Albtraum, und das spürt ihr. Es lässt euch erschaudern und schlotternd ins Bett pinkeln. … Ich bin immer dreißig Sekunden schneller als ihr, und wenn ihr noch dabei seid, eine meiner ­Anspielungen zu verstehen, habe ich schon den nächsten spon­ tanen Verbalfurz gelassen.“ Wenn’s denn mal so wäre! Wieso trägt der zeitgenössische Bühnen-Feminismus eigentlich so oft Behauptungen vor sich her, statt sie einfach performativ einzu­ lösen? Warum zeigt er mit derartiger Hingabe auf unzulängliche Figuren, statt selbst zulängliche zu schaffen?

I am a free bitch! Dass es durchaus anders geht, demonstriert – ebenfalls in der Berliner Volksbühne, die der Antike in dieser Saison einen ganzen Inszenierungsschwerpunkt widmet – Iphigenies jüngere Schwester Elektra. Der traut man – jedenfalls in der Regie von Pınar ­Karabulut – tatsächlich zu, die handgreiflichste Drohung, die Iphigenie kurz zuvor am selben Ort lediglich ausgestoßen hatte, mit Verve wahr zu machen. Sie lautet: „Ich zerfick’ euch mit meinem Binnen-I“ und passt ziemlich gut zu dieser Figur, die Paula Kober da mit grandioser Abgründigkeit zwischen Daddys Darling, Unschuldsengel und Killerin von Quentin-Tarantino-Gnaden changieren lässt und die nach fast drei pausenlosen Spielstunden blutüberströmt an der Rampe steht, um zu verkünden: „I am a free bitch!“ Ja: Auch dieser Abend ist nicht frei von verbaler Bekenntnishaftigkeit und aktivistischem Empowerment. Bis dahin legt er allerdings einen ziemlich komplexen Weg zurück, der mindestens bis zur Halbzeit zusätzlich auch noch very entertaining ist. Kara­bulut greift nicht auf die antike „Elektra“ zurück, sondern nimmt sich „Mourning Becomes Electra“ vor, Eugene O’Neills 1931 uraufgeführte Psycho-Variante der Atriden-Saga, die im deutschen Sprachraum unter dem Titel „Trauer muss Elektra tragen“ ­bekannt und mit männlichen Frauenfantasien durchaus reich gesegnet ist. O’Neill bricht den Mythos um Inzest, Gattenund Elternmord auf eine US-amerikanische Familiengeschichte herunter. Und Karabulut nimmt die Grobmotorik, in der dort von vermeintlichem Ödipus- zu angeblichem Elektra-Komplex gesprungen wird, als Steilvorlage für eine gnadenlos überbordende Mixtur aus Hollywood-Blockbuster, Gruselschocker, Splatter-­ Movie und gleichzeitiger Parodie von alledem, die in der ersten Hälfte tatsächlich ausschließlich per Video über die Bühne läuft. In Gestalt von Kober als Elektra und Sabine Waibel als deren Mutter Klytämnestra springen hier zwei derart brillante, viel­ schichtige Frauenfiguren souverän-interpretationsoffen und im Übrigen explizit sexpositiv durch die Genres, dass im Parkett sämtliche Körperzellen jubilieren: Da ist er endlich wieder, der ­Bedeutungsüberschuss! Nicht auf die Überfülle, sondern aufs Konzentrat hin arbeitet dagegen eine „Elektra“-Inszenierung, die – wenige Kilometer Luftlinie von der Volksbühne entfernt – am Berliner Ensemble zu sehen ist. Sie stammt von Rieke Süßkow und kommt an der ­Oberfläche wie ein expressionistischer Stummfilm daher, weil sie komplett auf Text verzichtet, Figurenkonstellationen geradezu


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c­ omichaft auf gestisches Material zuspitzt und auf der akustischen Ebene ausschließlich musikalisch an seine Höhe- und Wendepunkte getrieben wird. Hinter den vielen „Elektra“-­ Bearbeitungen, -Interpretationen und -Framings sucht Süßkow gewissermaßen das Substrat, das archaische (Familien-)Muster. Und was ­dabei an den Archetypen, die sie findet, zumindest im Kontext der omnipräsenten Bühnenfrauendebatte durchaus überrascht, ist die Tatsache, dass deren Geschlechtszugehörigkeit lediglich als ein Figurenmerkmal unter vielen erscheint. Noch bemerkenswerter: Süßkow ist nicht die einzige junge Regisseurin, die dem GenderSujet in dieser Hinsicht mit tiefenentspanntem Desinteresse begegnet. Theaterhistorisch betrachtet, scheint zurzeit also auch eine RenéPollesch-geschulte Regiegeneration heranzuwachsen. In dessen Inszenierungen schlagen ja seit jeher Sophie Rois oder Kathrin Angerer die gleichen Diskurspurzelbäume wie Martin Wuttke oder Fabian Hinrichs. Bei gleich zwei aktuellen „Medea“-Inszenierungen – zum einen von Leonie Böhm am Schauspiel Zürich und zum anderen von Johanna Wehner im Staatstheater Kassel – hat die tragische Konstellation jedenfalls nicht in erster Linie (und schon gar nicht vordergründig) mit der Geschlech­ ts­ zugehörig­keit des Personals zu tun. Wehner interessiert sich mindestens ebenso für biografische Zusammenhänge und soziale Positionen als handlungsmotivierende Momente: für die Immigrationsgeschichte Medeas, die allen „die Fremde“ geblieben ist, oder für die Hierarchiegläubigkeit des Ehebrechers Jason, der Medea vor allem um des sozialen Aufstiegs willen verlässt, um sich in eine neue Beziehung mit der Tochter des Staatsoberhaupts Kreon zu stürzen. Und für Wehners Kollegin Leonie Böhm war es – tatsächlich genuin Pollesch-like – sowieso schon immer egal, ob eine Textstelle im Kanon nun Faust oder Gretchen, Kasimir oder Karoline zugeordnet ist. Böhm gräbt sich mit ihren Schauspielerinnen und Schauspielern seit jeher tief in die Gehalte der kanonischen Stücke ein; klopft sie mit ihnen ungeachtet der Figuren­ zugehörigkeit auf Stellen und Motive ab, die ihnen – und den meisten Zuschauern – auch heute noch erstaunlich bekannt vorkommen, und arbeitet dann mit derartiger Präzision und Konsequenz daran, diese Texte auf der Bühne gegenwartsdurchlässig klingen zu lassen, dass ein Großteil des Publikums hinterher ­tatsächlich steif und fest behauptet, keinen „Faust“ gesehen zu ­haben, sondern ein gerade erst geschriebenes Stück. So verhält es sich auch bei „Medea“ in Zürich, die Böhm „Medea*“ nennt und von Maja Beckmann als Monolog spielen lässt – mit dem LiveMusiker Johannes Rieder als Sidekick, der gleichermaßen als

feminismus theater performance

Vielschichtig, interpretationsoffen und very entertaining – „Mourning Becomes Electra“ (hier mit Malick Bauer und Paula Kober) in der Regie von Pınar Karabulut an der Volksbühne Berlin. Foto David Baltzer

­ elegenheitsadressat, guter Kumpel in schwerer Beziehungs­ G krisenstunde und akustischer Handlungsbeschleuniger reüssiert. Böhm und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter suchen im dramatischen Kanon nicht das überkommene Klischee, sondern (wieder) den überzeitlichen Gehalt. Ihre Methode ist nicht die der Dekonstruktion, sondern der individuellen, geschlechtsunabhängigen Zueignung: Ein uralter, aufregend neuer emanzipatorischer Akt von großartiger Selbstverständlichkeit! //

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Das Lachen der Medusa Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken im Gespräch über starke Frauenfiguren und besseren Sex von Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

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rau Vinken, viele Schauspielerinnen, zumal in den auf den Kanon fixierten Stadttheatern, sind es leid, immer wieder die ­gleichen Frauenrollen zu spielen: zu klischeebeladen, zu gestrig, zu wenig emanzipiert, heißt es. Teilen Sie als Zuschauerin diese Kritik? Oder gab es in der letzten Zeit kanonische Frauenfiguren im Theater, von denen Sie fasziniert waren? Zuletzt war ich in Stuttgart in der Oper, in dem Doppelabend ­„Cavalleria rusticana / Luci mie traditrici“ von Pietro Mascagni und Salvatore Sciarrino. In der „Cavalleria rusticana“ fand ich die Figur der betrogenen und ihren Bräutigam verratenden Santuzza faszinierend. Das ist eine Judasfigur, die aus verratener Liebe verrät; Barbara Frey hat das in Stuttgart trostlos brillant inszeniert. Santuzza liebt Turiddu. Dieser aber ist Hals über Kopf in die schöne Lola verliebt, eine verheiratete Frau. „Reize mich nicht, denn ich

bin nicht dein Sklave“, beschimpft Turiddu die verletzte Santuzza. Diese erwidert: „Töte mich! Ich will es dir danken.“ Nun ja, wenn das nicht kitschigste Männerfantasie ist … Hier geht es nicht um Männerfantasien, sondern – die Szene spielt Ostern vor der Kirche – um die Pervertierung des unsere Gesellschaften begründenden und befriedenden Opfers. Genau. Die Frau ist wieder einmal das Opfer. Und das beklagen Schauspielerinnen. Nein, nein! Hier wird ein Mann geopfert. Und das zeigt den heillosen Bankrott dieser Gesellschaft an. Er wird abgestochen, weil Santuzza seine Affäre mit Lola an deren besitzerstolzen Ehemann – reich, erfolgreich – verraten hat. Von ihr, der Entehrten, der vielleicht Schwangeren, der Verstoßenen und Verlassenen, wird er ans Messer geliefert. Statt um Selbstermächtigung geht es um den Blick in die Abgründe, sagt Barbara Vinken – Pınar Karabuluts „Mourning Becomes Electra“ (hier mit Paula Kober) an der Volksbühne Berlin. Foto David Baltzer


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Vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte wäre es doch aber wünschenswert, nicht immer wieder die gleichen patriarchalen Strukturen zu reproduzieren, um zu schauen, wie der Mann reagiert. Schauspielerinnen sehen genau darin die Stereotype: Egal, ob hinterher auch der Mann tot ist oder lebt, zuallererst richtet sich die Gewalt, insbesondere die sexualisierte, gegen die Frau. Ich finde nicht, dass es hier um Stereotype geht. Es geht um ­Analyse. Nehmen Sie den Arachne-Mythos aus Ovids „Metamorphosen“. Er erzählt vom Kampf um die Möglichkeit weiblicher auctoritas – und zwar gegen eine Göttin! Es handelt sich um einen Kampf zwischen zwei Frauen, nämlich zwischen einer hoch­ begabten Sterblichen und einer phallisch identifizierten Göttin: Athene, mutterlos, Tochter des Zeus, eine von Kopf bis Fuß gerüstete Jungfrau. Eigentlich sollte sie die Jungfrauen verteidigen, lässt sie aber, ganz Papakind, regelmäßig über die Klinge springen. Was heißt das jetzt? Stereotyp jedenfalls ist die Sache nicht. Ich finde Arachne auch deshalb eine unheimlich interessante ­Figur, weil sie ihr Handwerk zu einer Kunst macht und es gerade das Gekonnte ist, was die Herrschenden so erfolgreich denunziert. Arachne ist Weberin. Der Teppich, den sie in Konkurrenz zu ­Athene webt, zeigt ziemlich explizite Sexszenen – was Athene ­entsetzt. Sie nennen das in einem Aufsatz „pornografischen Realismus“ – ein interessanter Begriff auch für den heutigen ästhe­ tischen Diskurs. Die Sexszenen jedoch werden, wie fast über­ wiegend in Ovids „Metamorphosen“, aus einer männlichen Gewalt­perspektive heraus dargestellt. Arachne denunziert auf ihrem Teppich den Olymp, die Herrschenden, ihre unendlichen seriellen Verführungen und Ver­ gewaltigungen. Die Götter kommen in der Regel heil davon – ­bestraft werden die von ihnen verführten Frauen. Aber nicht von Zeus, also nicht von Männern, sondern meistens – wie auch Arachne – von Pallas Athene oder Juno, patriarchalisch identifizierten Frauen. Sie würden also sagen: Eben weil unsere Gesellschaft – das hat die #MeToo-Debatte explizit gezeigt – von männlich konnotierten Machtverhältnissen geprägt ist, ist das Aufzeigen dieser Strukturen im Theater nicht gegen die Frauen gerichtet, sondern hat ­einen aufklärerischen Gestus? Im Ernst: Wo kriegen Sie Klügeres über Macht, Sex und Gewaltverhältnisse oder, wie bei Ovid, Sex als Mittel des Krieges heraus als in dieser Literatur? Nirgendwo. Heutzutage lesen viele Leute so, als wäre das, was sie lesen, mimetisch zu verstehen, eins zu eins abbildend. Sie denken, wenn sie von einer Vergewaltigung lesen, hieße das erstens, dass der Autor das Dargestellte genießt und unterschreibt, und zweitens, dass sie damit latent selbst ­Opfer dieser Vergewaltigung werden. Drittens sind sie folglich ­bereits schockiert, weil sie davon lesen. Bei Ovid ist das alles viel raffinierter und nicht auf Einfühlung und Nachmachen angelegt. Er zeigt den Krieg aller gegen alle und besonders den Krieg der Götter gegen die Menschen. Die Götter legitimieren sich gegenüber den Menschen, indem sie behaupten, den Bürgerkrieg niedergeschlagen, das Chaos beendet, schöne Ordnung gestiftet zu haben. Ovid aber zeigt das Gegenteil

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und folglich diese Götterreligion als ideologische Verblendung. Denn die Götter führen Krieg gegen die Menschen. Und das mit den Mitteln des Sexes. Das ist doch eine unglaubliche Einsicht! Ich würde sagen, dass darin das spezifische Können der Literatur liegt: Du kannst etwas wirklich begreifen, ohne dass es dir ideologisch vorgehalten wird. Du wirst widerständig in dem Moment, in dem du die Geschichten liest und anfängst, zu verstehen. Woher kommt Ihrer Meinung nach das identifikatorische Lesen, das ja, wie in den USA, nicht nur zu Triggerwarnungen führt, sondern sogar zu Verboten? Auch im Theater heißt es, man möchte diese und jene Gewaltszene nicht mehr auf der Bühne darstellen, weil sie als verletzend und echt gelesen werden könnte. Es gab natürlich schon immer eine Literatur, die auf Nachahmung zielte: die Exempla, die illustren, glorreichen Vorbilder starker Frauen und tugendhaft heroischer Männer: „prenez modèle“, sagten die Lehrerinnen dann früher, heute vielleicht so etwas wie Kim Possible. Spätestens mit der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert hat sich das geändert. Der Realismus im 19. Jahrhundert führte von den Exempla zu psychologischen Porträts, die uns eine Figur ohne Strahlenglanz lebendig vor Augen stellten. Die waren aber gerade nicht, auch wenn man sich in sie einfühlen konnte und sie Menschen wie du und ich waren, zur Nachahmung ­gedacht. Mit Anna Karenina sollen wir Höhen und Tiefen der Leidenschaft bis zu ihrem verzweifelten Selbstmord durchleben – aber gerade nicht, um ihr nachzufolgen. Natürlich gab es auch immer Literatur, die das einfühlende Lesen oder gar die Nachahmung auf den Arm nahm: die Satire etwa. Von der Hüterin der Macht sollte die Literatur, in der Absicht der Regierenden, zur Hüterin der bürgerlichen Moral werden. Die Literatur wurde nicht mehr der Zensur unterworfen, weil sie die Macht attackiert hatte – Majestätsbeleidigung –, sondern weil sie die Moral gefährdete. Nehmen Sie den Prozess gegen Gustave Flauberts „Madame Bovary“. Als ein „Hohelied auf den Ehebruch“ klagte es der Staatsanwalt an; es gäbe überhaupt keine Vorbilder in diesem Roman, niemanden, der es richtig mache. Und deshalb sei er überhaupt nicht erbaulich und eine Gefahr für die öffentliche ­Moral. Oder Charles Baudelaires lesbische oder nekrophile Gedichte: Würden die jungen Damen und den Rest der Welt auf dumme Ideen bringen, Perversionen entschuldigen. Diese ­beiden großen Prozesse gegen die Literatur wurden vom Staat im Namen einer moralischen Ordnung geführt. Ihnen zugrunde lag die Vorstellung eines imitativen, für Nachahmung anfälligen L ­ esens. Aber vielleicht ahnte der Staat, dass Flaubert in „Madame Bovary“ keineswegs den Ehebruch featured, sondern im wiederholten Ehebruch der Protagonistin dieser Gesellschaft in ihrer brutal schamlosen Unmenschlichkeit den Prozess macht. Ein weiterer Schritt erfolgte durch den performative turn mit seinem Wechsel vom Mimetischen zum Authentischen. Eine Person steht auf der Bühne und erzählt von sich selbst. Vielleicht ebenfalls eine Art role model. Hinzu kommt ein identitätspolitisches Programm, etwa der Kampf um die Gleichberechtigung marginalisierter Gruppen, der ohne Zweifel wichtig, für die Kunst aber nicht ganz unkompliziert ist, droht doch im Überschwang der Aktivitäten die Ästhetik hinter der Ethik zu verschwinden. Man

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sitzt nicht mehr im Theater, sondern wird eingeladen in eine ­Wertegemeinschaft. Im Prinzip entspricht das der geistigen Erbauungsliteratur, die man genauso gelesen hat, wie Sie es eben beschrieben haben: authentisch, nachahmend, identitätsverstärkend, die richtigen ­ Werte vermittelnd und so weiter. Das war nicht die beste Literatur. Die beste Literatur hat etwas ganz anderes gemacht als ethisch, moralisch, identifizierend zu argumentieren. Damit will ich nicht sagen, dass die Welt gut ist und nichts geändert werden muss. Die Frage ist: Wie?!

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­ ieser Frauenfiguren, durch ihr Leiden die brutalen Machtverhältd nisse, in denen sie leben, aufscheinen zu lassen? Sie analysierbar zu machen? Sie uns jenseits der herrschenden Ideologie vor Augen zu stellen? Wenn sie role models wollen, bleibt nur der Arztroman: Krankenschwester heiratet Arzt und wird anschließend Präsidentin. Aber das ist Schrott, das will man nicht lesen: Kitschromane, Rosamunde Pilcher. Welche Rolle finden Sie gut, angebracht, in der Zeit?

Natürlich geht es nicht um Glückseligkeit. In der Kunst schon gar nicht. Es geht darJedenfalls nicht, so sagen es um, komplexe Frauenfiguren viele Schauspielerinnen und zu zeigen, die nicht bloß TöchRegisseurinnen, mit dem Kanon ter sind, nicht bloß Ehefrauen, und seinen passiven Dulderinund deren Konflikte sich nicht nen wie Iphigenie, Gretchen bloß um – wie es Fanny van oder Ophelia. Dannen nennt – „Herzscheiße“ Brecht hat mal gesagt, die Tragödrehen. die des Faust sei es, dass er sich Ist das Private nicht politisch? mit Gretchen in eine KleinbürUnd hat die Bourgeoisie der Aristokratie nicht unter dem gerin verliebt hat. Nicht in eine Frau, die zur freien Liebe fähig Header der moralischen Überlegenheit den Garaus gemacht? ist, sondern eben Gretchen – Schauen Sie mal: Maria Stuart, kleinbürgerlich, eng, bescheuFrauen mit Agens und Charakterstärke – Für Barbara Vinken sind ert, in reaktionären Strukturen die Händel-Opern, Phädra, die spannendsten Frauenrollen in der Antike zu finden, wie in verhaftet. Ich finde das zynisch. Medea – das sind alles starke „Elektra“ (hier mit Laura Balzer) in der Regie von Rieke Süßkow Goethe denunziert im „Faust“ Frauen, herrschende Frauen. am Berliner Ensemble. Foto JR Berliner Ensemble die patriarchalen Strukturen, Die Tragödie hat immer mächwelche letztlich die Kindsmörtige, ja übermächtige Frauen. derin umbringen – woran FrauMan sollte immer schauen: Was heißt Macht, was heißt Stellung, was heißt Privileg, und wie en wiederum beteiligt sind –, und zwar schonungslos: das Wider­ liche, das Liebesunfähige, das nur die eigene Lust suchende werden diese Fragen in den Stücken verhandelt? Das Theater und die Literatur sind nicht dazu da, role models anzubieten. Begehren dieses dummen Typen da auf der Bühne. Ist nicht Faust, der Typ, das moralisch Letzte, was einem unterkommen kann? Es geht der Literatur nicht um die Ermächtigung des Subjekts. Im Gegenteil. In Komödien geht es um die Fähigkeit, mit der Entmächtigung umzugehen; in Tragödien zerbricht man an Klar. Aber warum müssen Schauspielerinnen in ihren Rollen bloß dieser Ermächtigung, weil es Schicksalskräfte gibt, die stärker der Sidekick sein, um den männlichen Kollegen als großen, komplesind als ein Subjekt. Darin liegt vielleicht eine Art Selbsthilfe, aber xen, irgendwie auch unheimlichen Widerling brillieren zu lassen? auf einem fortgeschrittenen Level. Jedenfalls geht es nicht um Machen Sie Medea oder Klytämnestra oder Andromache! Great Omnipotenz, um freie Wahl der Identität. Sondern um Probleme, girls! Die großen Frauenfiguren sind in der Antike zu finden. Identität zu erlangen: um Abgründe menschlicher Schwächen Phädra! Das sind super Rollen, aber das ist Tragödie – nicht eben und Unzulänglichkeiten, bei Männern wie bei Frauen, und um ideal für role models. die Frage, wie man aus der Schwäche, keine feste Identität erlanSelbst die Antike wird im Theater aber gerne identifikatorisch gegen zu können, ohnmächtig zu sein, eine Stärke macht. Aber das lesen. Medea als Nachbarin, die angelehnt an einen authentischen kann nicht gegen die Schwäche entstehen, sondern nur aus der Fall ihre Kinder umbringt und in Blumentöpfen vergräbt – alles Schwäche heraus. Literatur ist keine Selbstermächtigungslehre. Die bringt uns die Werbung bei, um uns in der Erfolgsgesellschaft schon gesehen. Der andere Weg ist, die Rolle zu dekonstruieren. Medea ist ja vor ihrer Rache auch Opfer. effektiv unterzubringen. Jedenfalls haben diese Frauen Agens, sie haben Charakterstärke, sie gehen bis ans Ende ihres Begehrens, sie gehen über die LeiIm Theaterbetrieb sehen viele das anders: Selbstermächtigung – Empowerment – ist zurzeit ein wichtiges Thema, die #MeToo-­ chen ihrer eigenen Kinder. Ich weiß nicht, was Schauspielerinnen im Theater wollen. Heiligen-Rollen? Dann müssen sie Jeanne Bewegung hat auch die Bühnen beeinflusst. #MeToo ist ein interessantes Phänomen, weil es etwas zutage ged’Arc spielen. Aber das geht auch schlecht aus. Effi Briest? Endet fördert hat, was man im Prinzip als ein Moment der Dysfunktion ebenfalls nicht gut. Kann man nicht sagen: Es ist das Privileg


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des Patriarchats lesen kann, als katastrophalen Ausfall der patriarchalen Ordnung: Statt eines funktionierenden republikanischen Patriarchats haben Männer ihre Macht in tyrannische Willkür ­verwandelt; armselig impotent. Ein vollkommen inakzeptables Verhalten. So durfte und darf sich nirgendwo – wirklich nirgendwo – ein halbwegs anständiger Mann benehmen. Sie lesen die #MeToo-Zeugnisse als eine „Dysfunktion“ des Patriarchats? Ist es nicht im Gegenteil gerade das Patriarchat, wie es leibt und lebt, das diese Übertretung zu verantworten hat? Die Männerbünde, die man mit ihm assoziiert, das kumpelhaft-anerkennende Schulterklopfen dafür, wie viele Frauen man flachgelegt hat … Das ist die Brüderhorde, die sich tyrannisch ermächtigt, nicht das Patriarchat! Wenn Sie sich die Geschichte des Patriarchats anschauen, dann hat es sich immer gegen die Übergriffe der mächtigen, übermächtigen Männer auf Frauen, Kinder und Schwache definiert. Frauen werden im Patriarchat gerade davor geschützt: In die Rechte der anderen Männer – also der Väter, Brüder, Verlobten oder Ehemänner – darf nicht eingegriffen werden. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass Männer sich so benehmen, kann man nur aus einer Verwilderung des Kapitalismus begreifen, der schlicht tyrannisch geworden ist. Wo traditionell patriarchale Kräfte herrschen, heißt es: Kind – Junge – so nicht! #MeToo zeigt eher, dass das Patriarchat nicht mehr funktioniert – und vielleicht dringend restauriert werden muss? Reign the idiots in??? Das Patriarchat restaurieren? Das wäre zurzeit im Theater tatsächlich ein unique selling point! Aber im Ernst: Unterm Strich bleibt die passive Frau, nicht die selbstermächtigte. In diesem Punkt muss ich Ihnen etwas für Sie Bizarres sagen: Ich bin nicht für Selbstermächtigung. Weder bei Männern noch bei Frauen. Sondern? Man sollte mit seinen Schwächen und denen der anderen menschlich umgehen, statt ständig sein Ego aufzublasen. Ich finde Selbstironie und Selbstdistanzierung wesentlich interessanter als Selbstermächtigung – und im Übrigen auch viel anziehender, viel charmanter. Eine Schauspielerin oder Regisseurin, die sich täglich mit dem verbrieftermaßen virulenten Typus des narzisstischen General­ intendanten auseinandersetzen muss, kommt mit der Selbst­ ironie wahrscheinlich schnell an ihre Grenzen. Weiß ich nicht, probieren Sie es mal mit Lachen. Aber natürlich: Die Strukturen müssen unbedingt geändert werden! Ich bin absolut für die Machtergreifung der Frauen und dafür, dass die Verherrlichung des männlichen Genies, die in diesen Berufen immer neue Blüten treibt und beklatscht wird, aufhört. Dafür muss man kämpfen, und es ist höchste Zeit, vor allem in der Kulturindustrie, wo das Genie passenderweise immer männlich daherkommt. ­Allerdings ist das nicht allein die Schuld der hochgelobten Genies, sondern eines offenbaren Bedarfs in der Rezeption. Die Muse, auch die von Frauen betriebene Verehrung – das muss endlich ein Ende haben. Todöde! Darüber sollte man Tag und Nacht lachen und Satiren schreiben, das ist zu unterminieren. Aber diese nötige und schwere Arbeit würde ich nicht Selbstermächtigung nennen.

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Die illusionäre Sucht des Publikums danach sollte nicht verstärkt, sondern durchkreuzt oder auch kritisch zurückgespiegelt werden, sodass man sich an die eigene Nase fasst. Was haben Sie denn gegen Selbstermächtigung? Ich sehe das psychoanalytisch: Das Subjekt ist eine Illusion. Die müssen wir – glauben wir – glauben, und die bauen wir deshalb immer neu auf. Dagegen ist Demontage die viel stärkere Strategie. Weil das Subjekt der Neuzeit als männliches konstruiert ist und mit Universalitätsanspruch auftritt, plädiere ich für Abbau, Raumnehmen durch Ironie, Lachen – denken Sie an das Lachen der Medusa! Ich halte diese selbst-dienliche Ego-Psychologie nicht für die beste Idee des Jahrhunderts. Resilienz ist die interessantere und, das lehrt die Literatur, auch die bewährtere Fähigkeit. Mit Schwäche umzugehen ist nicht nur klüger, sondern – um es in ­Ihrer Terminologie zu sagen – auch ermächtigender. Und lustvoller. Na ja. Wir würden uns ähnlich wie Sie auch eher in der Denktradition der postmodernen Dekonstruktion verorten, für die es generell keine festen Identitäten gibt: Das Subjekt ist ein fluides soziales Konstrukt. Heute dominiert aber die Identitätspolitik, in der die ­ethnische, sexuelle, kulturelle oder soziale Identität die zentrale Kategorie bildet, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen. Können Sie erklären, wie es zu dieser identitätspolitischen Wende kam? Das frage ich mich auch – mindestens zweimal am Tag. Bizarrer Essenzialismus. Um noch einmal auf #MeToo zurückzukommen: Sie sagen ja unmissverständlich, dass Übergriffe geahndet werden müssen. Gleichzeitig plädieren Sie aber immer auch für das Spiel der Liebe, der Verführung, der Erotik. Wie kann man dieses Spiel aufrechterhalten? Das hat wieder mit der Ermächtigung, mit Macht zu tun. In den Vorstellungen der Antike – und auch der Moderne – ist der Eros eine Kraft, die das Subjekt außer Kraft setzt, es fesselt, unterwirft, entmächtigt. Eine Macht, die einen ziemlich schafft. Ich finde diese Vorstellung nicht schlecht, weil sie den Eros nicht an ein muskulöses Subjekt bindet, das sich in der Liebe beweist, sondern als ein erleidendes zeigt, das auf Schwäche und Unvermögen gestoßen wird. Ich glaube, wenn wir die Liebe wieder als eine Kraft annehmen würden, die wir nicht in der Hand haben, würde es sowohl um den Sex als auch um Weiblichkeit deutlich besser stehen. //

Barbara Vinken wurde 1960 in Hannover geboren. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin. Nach einem Studium der Kunst- und Literaturwissenschaften in Freiburg, Paris und an der Yale University, New Haven, lehrte sie an zahlreichen Universitäten, u. a. in Konstanz, Berlin, Jena und New York. Vinken veröffentlichte eine Vielzahl an ­Büchern über Mode, Literatur, Feminismus und Pornografie. Zuletzt erschien „Bel Ami. In diesem Babylon leben wir noch immer“ im Merve Verlag (2020). Seit 2004 ist sie Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der LudwigMaximilians-Universität München. Foto Kurt Rade

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Auf sie mit Gebrüll Die freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Etwas Besseres kann ihr derzeit kaum passieren: Über das anarchofeministische Potenzial in den performativen Künsten von Dorte Lena Eilers

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nde Oktober kündigten die Vereinten Nationen ein Waffenembargo gegen mehrere europäische Staaten an, darunter Deutschland. Grund waren massive Verstöße gegen die Pekinger Erklärung, eines der umfassendsten Konzepte zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, das bereits 1995 von 189 UNMitgliedstaaten verabschiedet worden war. In Europa indes, so Bizimungu Jean-Pierre, herrsche völliger Stillstand. In Ruanda etwa sitzen derzeit 61 Prozent Frauen im nationalen Parlament. 31 Prozent sind es im deutschen Bundestag. „Wie kann das sein?“, ruft Bizimungu Jean-Pierre alias Wesley Ruzibiza, unechter UNAbgeordneter und einziger Mann in dieser feministischen Performance. „Wie kann das sein im Jahr 2020?“ Blickt man auf die Geschichte der freien Theater- und Performance-Szene, scheint das Schuldpotenzial zunächst gering. Vom Druck eines für das Abonnement zu spielenden Stücke-­ Kanons befreit und in kleine, agile, mehr oder weniger hierarchielose Produktionskollektive unterteilt, gab es in den vergangenen Jahrzehnten kaum eine Emanzipationsbewegung, kaum eine Minderheit, die in der freien Szene nicht performativ und diskursiv auf die Bühne gebracht wurde. Wer hier Frau sagt, gerät automatisch ins Stottern, geht es doch längst nicht mehr nur um das binäre Geschlecht. Mit Fokus auf kulturelle, ethnische, soziale und sexuelle Differenzen wird entschieden Identitätspolitik ­betrieben. Alles bestens also? Nicht so ganz. Steckt in diesem ­Programm doch eine komplizierte Dynamik, die Feministinnen wie Gabriele Goettle bereits in den siebziger Jahren benannten. Die Journalistin war 1976 Mitgründerin der Schwarzen ­Botin gewesen, einer der spannendsten feministischen Zeitschriften


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West-Berlins, die sich gnadenlos konfrontativ gegen ihre Mitstreiterinnen positionierte. „Wir erwarten nicht, daß unsere Botschaften Inhalt neuen Frauenfühlens werden, wir haben im Gegensatz die Absicht, von unserer Neigung zur Konsequenz den rücksichtslosesten Gebrauch zu machen“, schrieb Goettle angriffslustig in Ausgabe Nr. 1. Die Redakteurinnen und Autorinnen hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die sich soeben formierende Neue Frauenbewegung in Westdeutschland analytisch zu perforieren. Das ­taten sie – solidarisch im Hinblick auf das grundsätzliche Ziel, jedoch kritisch, was Mittel und Praktiken angingen – voller Intellekt, Verve und Ingrimm. Gefühligkeit, Konsens und Identität bildeten in ihren Augen dabei die größten Ärgernisse der feministischen Strömung. „Es fand eine Solidarisierung größten Stils zwischen den anwesenden Leidenden und der anwesenden Krankenschwesterngewerkschaft statt“, verewigte sich die damals dreißigjährige Elfriede Jelinek in diesem Blatt. Die neue Larmoyanz, ergänzte Gabriele Goettle in ihren „Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie“, gehe einher mit einem Zwang zur Harmonie: „Wo sich Emotionalität von Frauen auf andere Frauen bezieht, geschieht das oft in einer Form, die alle Widersprüche harmonisiert. Spontane und aggressive Hervorhebung von Widersprüchen oder gar Intellektualität wird verbeten.“ Nachzuschlagen sind ­diese wunderbar provokanten Sätze in der soeben bei Wallstein erschienenen Anthologie „Die Schwarze Botin“, die nicht bloß retro­spektiv zu lesen ist, sondern auch ein „Aber!“ in die aktuelle Debatte platziert, in der Herausgeber Vojin Saša Vukadinović einen ähnlichen Mangel an aufklärerischer Konflikthaftigkeit verspürt wie damals. Ein Vorwurf, der auch dem Theater nicht fremd ist. Wer Ende November auf nachtkritik.de die Kolumne „Gemeinsame Geschichte(n)“ von Şeyda Kurt las, könnte sich, so ­essenziell die Forderung nach einem konfliktfreien Miteinander in konfliktreichen Zeiten auch ist, zumindest Fragen stellen. „Ich will Szenen, in denen Menschen sich nachhaltige Versprechen ­geben, als Freund*innen und Verbündete“, schreibt Kurt in ihrer Suche nach Solidarität auf der Bühne. Ganz klar: Ohne Solidarität ist eine Zukunft nicht zu haben. Aber ist sie wirklich ohne Konflikte, ohne Widerspruch und mehr noch: ohne einen Blick auf die eigenen Schwächen zu erlangen? Ist der Streit nicht der Weg, um nicht im Symbolischen zu verharren? Und geht es im Theater, statt den Idealzustand zu zeigen, nicht sowieso immer auch um die Schattenseiten der Welt, um diese dialektisch zu befragen? So jedenfalls lautet der Grundvorwurf gegenüber dem politisch engagierten Theater: im Überschwang des Anliegens ein allzu harmonisches Wir-Gefühl zu erzeugen. Wie verhalten sich aber die ersten Pre­mieren der Freie-Szene-Spielzeit dazu?

Gefangen im Genital Gap „Heul doch!“ blafft Nirere Shanel ihre Mitperformerin Lisa Stepf unwirsch an. Diese hatte gerade ihr Leid geklagt, wie schlecht die Frauenquote in Deutschland funktioniere. Die Produktion „Lear-

Ein Abend zwischen Hexensabbat und Ausbeutungsdiskurs – „Hexploitation“ von She She Pop am HAU Hebbel am Ufer Berlin. Foto Dorothea Tuch

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ning Feminism from Rwanda“ der Gruppe Flinn Works in der Regie von Sophia und Lisa Stepf, die kurz vor dem zweiten Lockdown in den Berliner Sophiensaelen Premiere hatte, ist ein ­Beispiel dafür, wie ein kluger, witziger, reflektierter und dennoch entschlossener Umgang mit dem Thema Gleichberechtigung aussehen kann. In blauen Arbeiteroveralls, als ginge es gleich auf den Bau, rütteln und ruckeln Yvette Niyomufasha, Natasha Muziramakenga, Wesley Ruzibiza, Nirere Shanel und Lisa Stepf am wackligen Kartenhaus der Quote, im fröhlichen, mitunter schmerzhaften Vergleich ihrer jeweiligen Länder so manchen Konstruktions­ fehler entlarvend – Missverständnisse natürlich nicht ausgeschlossen. „You have what?“, fragt Natasha Muziramakenga als Moderatorin einer feministischen Sendung auf Radio Byishimo die Anruferin aus Deutschland, die soeben vom Gender-Pay-Gap berichtete: „You have a genital gap?“ Das sei, plaudert die Moderatorin ungerührt weiter, doch völlig normal. Es gebe eben kleine Schwänze und große Schwänze. Sowieso solle sich die Deutsche mit ihrem Zahlenfetisch doch lieber um das innere Parlament ihres Körpers kümmern. Auch das ist angewandter Feminismus. Immer wieder blickt Lisa Stepf in dieser rasanten Entwicklungshilfe unter umgekehrten Vorzeichen – endlich klärt mal ein afrikanisches Land Europa auf – peinlich berührt zu Boden ob der ungeheuren Differenzen zwischen den Staaten. In Ruanda sind weite Teile des Landes ans schnelle Glasfasernetz angeschlossen, Deutschland liegt mit 4,1 Prozent lediglich auf Platz 34 im OECDVergleich. Fakt ist: Während Deutschland Frauen nach der Stunde null im Jahr 1945 zurück an den Herd schickte, entsandte Ruanda nach dem verheerenden Völkermord 1994 viele Politikerinnen dank einer starken Frauenbewegung in die Parlamente. Die Quotenregelung gilt von der Dorfverwaltung bis hin zur Landesregierung. Doch ist eine Quote – kleine Kalenderspruchkunde – eben nicht alles: In Ruanda, berichtet Nirere Shanel, heiße eine Frau, die recht passabel sei, Mukobwajana, ein „Mädchen, das einhundert Kühe wert ist“. Doch komme von dieser, dem Sprichwort sei Dank, selten ein guter Rat. Der Ehefrau sei daher geraten, sich als „Helferin“ niemals gegen ihren „Anführer“ zu stellen. Dem Ehemann freilich sind Fehler bloß Teil seines virilen Naturells. Noch Fragen? Ja. „Wie sind wir als Frauen bloß in diese Geschichte geraten? In diese jahrhundertealte Erzählung, in der das Ausbleiben der Periode die Schwelle zur Hässlichkeit bedeutet?“ Diese hässliche Frage stellen sich She She Pop in ihrer neuesten Produktion „Hexploitation“, die zu Beginn dieser Spielzeit am HAU Hebbel am Ufer in Berlin Premiere hatte. Der Raum im Hau 2 gleicht im Moment dieser Sätze einer geheimnisvollen Unterwasserwelt. Wie zarte Seeanemonen pulsieren an den Wänden riesengroße Vulven. Wer nun glaubt, nur weil es sich um die live abgefilmte und vervielfachte Vulva Fanni Halmburgers handelt, sie und ihre Besitzerin sprächen hier nur von sich selbst, hat nicht nur die ­Szene, sondern auch She She Pop nicht verstanden. Der Abend ist eine brodelnde Mischung aus Hexensabbat und Ausbeutungs­ diskurs, der zwar, wie bei She She Pop üblich, seinen Ausgang im radikalen Exhibitionismus der jeweiligen Gruppenmitglieder nimmt, jedoch nahezu unmittelbar in eine umfassende, Jahrzehnte umspannende Strukturanalyse überkocht. Im Hexen­ kessel sitzen: die pathologisierte Frau um die fünfzig („In den achtziger Jahren wird die Menopause als Östrogenmangel definiert.

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Entwicklungshilfe unter umgekehrten Vorzeichen – „Learning Feminism from Rwanda“ von Flinn Works (hier mit Nirere Shanel und Lisa Stepf). Foto Mayra Wallraff

Das Lachen der Partisanen

Ich bin also krank und werde immer kränker.“); die medizinische Forschung, die ihre Medikamente grundsätzlich am Organismus des Mannes orientiert; eine ziemliche Armada misogyner Dichter und Denker (Rainer Maria Rilke „Die Welke“) und viele Schlechtigkeiten mehr, kombiniert mit schonungslosen Nahaufnahmen von Körperfalten, Hängetitten und schütter werdendem Haar der Gruppenmitglieder. Wer hier Authentizität kreischt, muss auch Brechung rufen, denn der so viel gescholtene Authentizitätsbegriff wird, wie eigentlich immer bei She She Pop, in diesem lectureperformativen Gesamtkunstwerk aus Text, Musik (Santiago Blaum), Video (Benjamin Krieg) und schrägen Kostümen (Lea Søvsø) gekonnt unterlaufen, dabei die Frage nicht aussparend, wie viel man als Frau selbst zur eigenen Demontage beigetragen hat. Verdient um den Feminismus hat sich auch die Gruppe Thermoboy FK gemacht, die, potz Blitz, aus lauter Männern besteht. In ihrer bereits 2018 entstandenen Jane-Austen-Aneignung „Stolz und Vorurteil“, die am 8. Januar nochmals als Stream am Lichthof Theater in Hamburg gezeigt wird, spielen sie all die „wunder­ baren“ Rollen, die ihre Kolleginnen, zumal an Stadttheatern, am liebsten in die Tonne kloppen würden: liebende und daran leidende Frauen. Das Erstaunliche daran: Der Abend ist keine Klamotte, sondern die konzentrierte Adaption eines Romans, der immer auch eine Spur absichtsvoller Dilettantismus beiwohnt. Die Spieler (Malte-Levin Behrens, Florian Brunken, Moritz Brunken, Janis Fisch, Jan Felix Hahn, Dennis Dieter Kopp, Felix Scheer und Jasper Tibbe), deren georgianische Kostüme zwischen Kleid, Hosenrock und Hose changieren (Kostüme Harm Coordes und Jan Felix Hahn), kopieren keine Weiblichkeit. Vielmehr lassen sie Austens gefühlige Sprache wie an einer Wäscheleine vor sich hängen – um sie von allen Seiten zu betrachten. Gerade dadurch entsteht in diesem liebevollen Theater mit Wanderbühnen-Flair, in dem hand­ gemalte Täubchen auf quietschenden Schienen den Himmel durchmessen, so etwas wie Wahrhaftigkeit: Die Konstruktion „Mann“ löst sich nach und nach auf. Da ist es also, das fluide Geschlecht, das eine Lebens- und Liebesgemeinschaft ermöglicht, die nicht mit binären Kategorien hantiert, jedoch auch, das ist das Böse in diesem Fall, als Privileg der oberen Klassen obsiegt.

Am entschiedensten aber rückt die Berliner Performerin Vanessa Stern dem Identitätsdiskurs zu Leibe. Ihre neueste Produk­ tion „Sleeping Duties“, ein ­Theaterfilm, der im Lockdown für die Sophiensaele entstanden ist, nimmt die marginalisierte Gruppe der Nagetiere in den Fokus. In deutlicher Betonung einer Body-Positivity-Policy handelt der Film von einem wohlgenährten Hamster, einem nicht ganz schlanken Igel, einem junonischen Siebenschläfer und einem stattlichen Eichhörnchen, unter deren struppigen Pelzen Valerie Oberhof, Stephanie Petrowitz, Ursula Renneke und Vanessa Stern stecken. Im kammerspielartigen Setting eines modernen Postkutschen-Westerns sitzen die vier zusammengepfercht in einem Schlafwagen, um, ja: bloß nicht zu schlafen – denn schlafen wollen sie erst am Ziel, in Spitzbergen. Elfriede Jelinek hatte in ihrem damaligen Aufsatz über den Besuch einer Frauenversammlung beklagt, wie wenig Humor ihre Mitstreiterinnen besäßen. Während Frauen bejubelt würden, die sagten, wie sehr sie ihre Krampfadern liebten, sei die Satire sehr unbeliebt gewesen, „vermutlich, weil sie nicht-wie-du-den Schmerz fühlen kann“. Jelinek ging in ihren Texten bekanntlich zum Gegenangriff über mit einem Witz, der einen lachend wie weinend macht. Und auch Vanessa Stern steht in dieser Tradition. „Das Lachen“, so ein programmatischer Text von Marianne Schuller auf ihrer Internetseite, „läßt sich nicht formieren zu einer kritischen Gegenstimme der Opposition, die einen ausmachbaren Platz und eine kalkulierbare Funktion im Machtspiel zugewiesen bekommen könnte. Vielmehr setzt das Lachen auch noch diese machtfunktionale Regel der Bipolarität außer Kraft.“ Und so wird auch in dieser partisanenhaften Nager-Groteske von allen Seiten geschossen: auf den Kontrollwahn gestresster Igelmütter, auf ­Helikopter-Eltern und Macho-Hamster, auf ein Wirtschafts­system, das Nager an den Rand des Existenzminimums treibt, und die Un­fähigkeit von Lebewesen, nah beieinander zu hocken, ohne sich dabei gewaltig auf den Wecker zu gehen. Ja, die freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Gerade darin liegt ihre politische Kraft. „Eine anarchofeministische Bewegung“, hatte Gabriele Goettle in „Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie“ erklärt, „wird nicht zu erkennen sein an einer hierarchisch organisierten und strukturierten Partei mit Programm und Status als eingetragenem Verein, sondern an subversiven und anarchen Aktivitäten, die von unzähligen kleinen Gruppen ausgehen.“ Wie jenen der performativen freien Künste. //


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kolumne

Ralph Hammerthaler

Leben lassen Verpatztes Timing von Nachrufen

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achrufe lese ich gern. Ich mag das milde Licht, in das die Spanne eines ganzen Lebens getaucht wird, ganz so, als hätte es nie Streit, keine Gemeinheit und keine Enttäuschung gegeben, obwohl es von allem mehr als genug gab. Ich mag den leisen Ton, der unter dem Eindruck eines erlittenen Verlusts angeschlagen wird, vor allem, wenn der Verfasser dem Verstorbenen und seinem Werk nahesteht. Und ich mag die vielen kleinen Details, die eine solche Würdigung auszeichnen. Ein guter Nachruf ist keine schlechte Kunst. Nicht leicht haben es Rundfunksender und Tageszeitungen, weil sie schnell reagieren müssen, noch schneller, wenn jemand zeitlich so unkooperativ stirbt, dass der Redaktionsschluss kurz bevorsteht. Darum sind einige Medien darauf verfallen, Nachrufe im Voraus schreiben zu lassen, besonders auf betagte oder schwer erkrankte Persönlichkeiten. Von den beiden großen Tageszeitungen, der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen Zeitung, steht die eine im Ruf, Nachrufe zu lagern, während der anderen nachgesagt wird, sie produziere sie erst am Tag der Meldung. Tendenziell bekommt man bei der einen einen ausgereiften Artikel zu lesen, der genauso gut in einem Lexikon stehen könnte, während man bei der anderen die unmittel­ bare Empfindung spürt, es ist ja gerade erst passiert. So war es lange. Wie es heute ist, kann ich nicht sagen. Aber es sieht so aus, als hätte sich alles ein wenig vermischt. Einmal hat mir jemand von seinem Praktikum bei der FAZ erzählt. Dass er durch simples Herumprobieren das Passwort einer Redakteurin knackte und dadurch eine ganze Reihe von vorgefertigten Nachrufen lesen konnte. Helmut Kohl war darunter, auch Marcel Reich-Ranicki und einige andere, sie alle erfreuten sich noch ihres Lebens, und sie alle sind mittlerweile tot. Ihre Nachrufe konnten gedruckt werden. Das Irrwitzigste aber ist, und zwar trotz ihres damaligen ­Credos, der Süddeutschen Zeitung widerfahren. Ein früherer Chef­ redakteur schrieb einen Nachruf auf einen schwerkranken, ihm offenbar nahestehenden Religionsphilosophen. Er stellte den Text in den Stehsatz, dann fuhr er in Urlaub. Stehsatz heißt: kann gedruckt werden. Was sollte die diensthabende Redakteurin tags darauf also anderes tun, als einen Nachruf, der aktuell sein muss, ins Blatt zu setzen? Am nächsten Tag dann ein Anruf in der Redaktion, der ­Religionsphilosoph nahm es mit Humor, aber die Aufregung war groß. Eine Sekretärin wurde zu ihm geschickt, um das Adressbuch zu besorgen und unzählige Telefonnummern aus dem Verwandten-

und Bekanntenkreis anzurufen, sich für das Versehen zu entschuldigen. Auch die Zeitung selbst rief ihn ins Leben zurück, durch ­einen Artikel mit Foto, auf dem der Religionsphilosoph ­lächelte. Am Morgen traf ich mit dem damals berühmtesten Kollegen der Zeitung zusammen, er sagte, dass er den Philosophen noch nie habe leiden können, und dass er beim Frühstück erschrocken sei, als ihn dieser unverblümt aus der Zeitung angegrinst habe. Vielleicht vier, fünf Wochen später starb er dann tatsächlich. Und ich fragte mich, was der Zeitung dazu einfiele. Siehe Ausgabe vom … Kürzlich hat Ingo Schulze erzählt, dass er vor Jahren von einer „großen deutschen Tageszeitung“ um einen Nachruf auf Wolfgang Hilbig gebeten worden sei. Hilbig aber lebte noch, wenn auch, was viele wussten, sterbenskrank. Ingo brachte es nicht über sich, es wäre ihm vorgekommen, als schubste er jemanden mit ins Grab. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich höchstens drei Nachrufe geschrieben. Einen kurzen auf den chilenischen Schriftsteller Luis Sepúlveda, der in Spanien als einer der Ersten der Covid-19-Infektion zum Opfer fiel. Einen längeren auf den mexikanischen Schriftsteller Sergio Pitol, der sich nach Xalapa in der Re­ gion von Veracruz zurückgezogen hatte, um, wie unter Hausarrest, alte Filme auf alten ­Videokassetten anzuschauen. Und einen dritten auf Roland Topor, der den von Polanski verfilmten Roman „Der Mieter“ geschrieben hat. Topor war der Einzige, den ich persönlich kennengelernt hatte, im Münchner Volkstheater, ein paar Tage vor der Premiere seines Stücks „Ein Winter unterm Tisch“. Im Foyer zog er an seiner Zigarre, das ging damals noch, und er ließ, ob angebracht oder nicht, sein meckerndes Lachen hören. Dieses Lachen hätte ich ihm gerne geklaut. Es würde über vieles hinweghelfen. Ich glaube, es hilft auch, wenn ich mir vorstelle, Nachrufe zu schreiben auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mir im Leben auf die Nerven gehen. Plötzlich ist die ganze Person von einem milden Licht umhüllt und gar nicht mehr so schlimm, wie ich dachte. Nur, zu Papier bringen würde ich diese Nachrufe nicht. Durch einen technischen Fehler hat Radio France Internatio­ nal letztens Hunderte Nachrufe veröffentlicht, die für die nähere Zukunft vorgesehen waren. Auf Queen Elisabeth, auf Clint Eastwood, Brigitte Bardot oder den Fußballer Pelé. Kann gut sein, dass die Betroffenen jetzt die schönsten Texte lesen können, die je über sie geschrieben wurden. Und hoffentlich haben sie Humor wie der Münchner Religionsphilosoph. Am besten, sie begegnen der Unverschämtheit mit einem meckernden Lachen. Das ließe die Medien alt und wie Schafsköpfe aussehen. //

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It-Girl, Busenwunder, Opfer des männlichen Blicks? Die US-Amerikanerin Anna Nicole Smith, geboren als Vickie Lynn Hogan in Houston, Texas, wurde Zeit ihres medialen Lebens nur selten freundlich apostrophiert. Als unauthentisches Zerrbild von Weiblichkeit beschimpft, geriet sie schnell zur verspotteten und verhassten Medienfigur. Dieser Vorgang, erklärt P ­ atsy l’Amour laLove in der fünften Folge unserer Reihe Theater und Moral, ist bezeichnend für eine Gesellschaft, die unter dem Banner von Vielfalt und Toleranz das Subjekt i­gnoriert. Anstatt das It-Girl als Marionette eines grassierenden Selbstoptimierungs­anspruchs abzu­urteilen, so die Geschlechterforscherin, gehöre Smith als Subjekt wahr- und ernst ­ genommen. Ein Plädoyer für einen anderen Umgang mit Geschlecht, Körper und Sexualität, der auch das homo- wie transsexuelle Subjekt vor der Verflüssigung bewahrt.

Anna Nicole Smith 1994 in dem Film „Die nackte Kanone 33 1/3“. Foto dpa

Theater und Moral


patsy l’amour lalove

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Schlicht Anna Nicole Warum das It-Girl Anna Nicole Smith nicht nur Antworten auf eine bigotte Schönheitsmoral gibt, sondern auch das homowie transsexuelle Subjekt vor der Verflüssigung schützt von Patsy l’Amour laLove

Der Frage nach dem Geschlecht auf der Theaterbühne folgt jener nach Authentizität und Progression. Ist diese und jene Darstellung emanzipatorisch, altbacken, irgendwie Klischees reproduzierend, fluide genug und damit bekömmlich? Ich möchte für den Widerspruch des Reality-It-Girls auf der Bühne plädieren, für die schwule oder transsexuelle Lebensgeschichte mitsamt ihrer Konflikte: weg vom als nichtssagend inszenierten Fluiden – hin zum Körper im Ringen mit dem, was man als Identität versteht und nicht einlösen kann. Ich möchte ein Beispiel – eine Ikone vielmehr – für die Inszenierung von Geschlecht sowie damit einhergehende Wünsche und Tragödien in den Mittelpunkt meines Essays stellen. Vor zwei Jahren durfte ich mich für eine Diskussion mit Barbara Vinken auf ARDalpha mit Anna Nicole Smith beschäftigen. Über das ItGirl schlechthin wurde zu jenem Zeitpunkt eine Oper am Staatstheater Nürnberg aufgeführt: „Anna Nicole“ von Mark-Anthony Turnage. Die Oper setzte die Verwandlung der ländlichen Schönheit Vickie Lynn zum umjubelten Busenwunder bis hin zur ­Rea­lity-TV-Schnapsdrossel in Szene. Und hob dabei – meines ­Erachtens zu häufig – den Zeigefinger. Smith wurde von einem Milliardär in einer Table Dance Bar entdeckt, zog mit ihm auf seine Riesenranch, ließ sich ungezählte Male schönheitschirurgisch operieren, trat insbesondere als Erotik­modell in Erscheinung und wurde über die Jahre zunehmend abhängig von Benzodiazepinen und Alkohol. Zuletzt wirkte sie Anfang der 2000er als Hauptfigur in der erfolgreichen Reality Show „The Anna Nicole Smith Show“ – hierbei schon bewusst als Zerrbild der Schönheits- und Entertainmentindustrie, sichtlich vom Konsum aufgedunsen, zugedröhnt und wirr. Mit 39 Jahren starb sie an einer toxischen Durchmischung unterschiedlicher Medikamente am 8. Februar 2007. Ob Anna Nicole Smith ihre Verwandlung von Vickie Lynn zu Anna Nicole aus Zwang gemacht hat, wie einige mit Verweis auf Smith als schlechtes role model behaupten (warum muss sie überhaupt ein role model sein?!), ist fraglich. Sie hat Entscheidungen getroffen, die andere vielleicht als irrational betrachten, Eingriffe an sich vorgenommen, die andere erschrecken lassen. Was

mir bei der Bewertung von Smiths Entwicklung zu kurz kommt, ist, ihren eigenen Schilderungen zu folgen. Das heißt nicht, mit ihr mitzuziehen oder sich ebenfalls die Lippen aufspritzen zu lassen. Aber auch ihren romantisierenden Selbstentwürfen könnte genauer zugehört werden: den Träumen vom Gesehenwerden, von entgrenzter Lusterfüllung und Liebe, dem Ansinnen, die Existenz nicht mit einem Nine-to-five-Job zu s­ ichern, sondern schlicht dadurch, dass sie Anna Nicole ist. Damit würde die Frau Anna Nicole Smith nicht mehr nur als Mario­nette des Selbstoptimierungsanspruchs der Gesellschaft und der Medien verstanden, sondern ihre Position als Subjekt wahr- und ernst genommen werden. Das könnte eine Inszenierung, auch im Theater, leisten. Einen guten Teil des Stoffs der Oper kann man recht eindrücklich in Mary Harrons Film „The Anna Nicole Story“ nachvollziehen, in dem Agnes Bruckner den Weg und die Verwandlung der Anna Nicole verkörpert. Die Oper inszeniert darüber hinaus den öffentlich bekannten Stoff – und untermauert eine feste Erzählung über Anna Nicole Smith. Erzählungen wie diese haben auf den ersten Blick besehen die Funktion der Abgrenzung. Sich abzugrenzen – voll Entzücken in die Ferne zu ekeln oder fremdzuschämen – anhand des Beschauenen gegenüber der Schönheitsindustrie und einem Leben wie jenem der Smith, die essen und trinken und einschmeißen können wollte, ohne jeg­ liche körperliche und schönheitsbezogene Einbußen. Was dabei rasch aus dem Blick gerät, ist die Identifizierung mit der Protagonistin. Die eigenen, unerfüllbaren Wünsche, die ungerechte Beschaffenheit des stofflichen und damit kränkenden Körpers – und nicht zuletzt die Funktion, sich mit Anna Nicole Smith als Story zu beschäftigen, um dabei Momente des tiefen Falls mit Sinn zu versehen: zumindest ihnen als fulminante Darstellung etwas Grandioses zu verleihen. Das It-Girl bietet einen Ausweg aus dem persönlichen Dilemma, ohne dass man sich den Verfallserscheinungen des Exzesses hinzugeben braucht. Ich bin offenkundig verzaubert von Anna Nicole Smith – insbesondere durch die Interviews mit ihr in den 1990er Jahren, in denen sie unverstellt TV-Interviewsituationen durch ihre lust-

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theater und moral #5

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vollen (oder naiven) Antworten korrumpiert. Oder keinen Hehl klingt für mich nicht besonders überzeugend. Wenn man sich aus ihrem Abnehmprogramm macht: ihre Reality Show heute noch mal anschaut, dann hat das ständige Interviewerin: Yeah but how did you lose it at all the right places Fläzen auf dem Bett oder im Auto weniger mit Weiblichkeit an and keep the good stuff? sich zu tun. Was man hier sieht, ist kein Zerrbild von WeiblichANS: I haven’t figured that one out. keit, sondern schlicht und ergreifend Anna Nicole Smith, die sich Interviewerin: What excercise regime … völlig gehen lässt. Die Bewertung dieser do you work out? Tell us, please, Anna. Erscheinung als Zerrbild hat vielmehr etwas mit Weiblichkeit zu tun, und zwar ANS: I don’t work out … just lay around offenbart sich die Ansicht, dass eine the house all day eating bonbons. (www. Frau so nicht sein sollte. youtube.com/watch?v=6C-u5J6oqP4) So viel zu Smiths Einschätzung Für die Genderdebatte wäre es, um mich – da mir dieser Punkt wichtig des modernen Schönheitskultes, der vom Dogma der Gesundheit durchdrungen ist – gerne zu wiederholen, interessant, Anna Nicole Smith beispielhaft als Subist. Die Inszenierungen richten sich an jekt ernst zu nehmen und nicht nur als einen heterosexuellen Markt, der bloß Spiegel eines Optimierungsanspruches das kaufanregende Potenzial der Vorlust oder zum Ausgangspunkt einer flachen antizipiert, wenn Smith zu ihren LiebKritik daran zu benutzen, dass sie ein lingsstellungen und sexuellen Fantasien über Brad Pitt ausgefragt wird (www.­ Objekt der Begierde war – und das auch youtube.com/watch?v=aog2IgCywVo). noch sein wollte. Sollte es eine Message Das sich selbst erschaffende It-Girl setzt in einer Inszenierung geben, dann doch diese: Das sexuelle Objekt sein zu eine aktiv sexuelle Weiblichkeit in Szene, betont sich als Souverän ihrer Lust – die ­wollen, das Begehrtwerdenwollen muss von Verachtung getrennt werden, die der Künstler*innen wie Lady Gaga heutzutage explizit politisch wenden (beispielhaft exObjektivierung und damit dem Objekt entgegenschlägt. plizierend in einem Interview aus dem Jahr 2009: www.youtube.com/watch?v= Patsy l’Amour laLove ist Geschlechterforscherin, VE4L7SI-SwA). Dieser Vorrang der LusGlück und Sexualität Polittunte, Herausgeberin und Autorin. Sie schrieb terfüllung, den Smith zum Leitmotiv ihre Dissertation über die Schwulenbewegung kürt, widerspricht als zentraler Wunsch Die Frage nach dem sexuellen Glück, die der 1970er Jahre und organisiert wissenschaftin den Reaktionen auf Anna Nicole nach einer umfassenden, ohne Zutun liche und kulturelle Veranstaltungen und Shows, ­bestehenden und auf einen zukommenSmith und anhand ihrer (Selbst-)Inszewie zuletzt „Polymorphia – die TrümmerTuntennierung auftaucht, muss einerseits indiden Lebensglückseligkeit dem, was man Nacht“ im Berliner Nachtclub SchwuZ. Patsy heute gemeinhin als Selbstverwirkli­ viduell beantwortet werden. Andererl’Amour laLove arbeitet außerdem im Archiv und seits brauchen Sex und Liebe zwar keine chung rationalisiert und letztlich superKuratorium des Schwulen Museums in Berlin Selbstoptimierung, doch werden wir anflexible Selbstoptimierung unter Hochund ist im LGBTI-Referat an der Humboldt druck meint. gehalten, uns auch im Bereich des Sexu­Universität Berlin tätig. Der von ihr herausgegeellen zu optimieren (allein Körperform, bene Band „Selbsthass & Emanzipation – Das Kleidung etc.). Die Sexualität bleibt zuAnna Nicole und Weiblichkeit Andere in der heterosexuellen Normalität“ ergleich aber ein Ort, an dem sich etwas schien 2016 im Querverlag. 2017 folgte der „Besseres“ vollzieht, das sich der OptiNun wurde Smith eine falsche und unauviel diskutierte Sammelband „Beißreflexe – thentische Weiblichkeit vorgeworfen – mierung entzieht, da die Menschen sich Kritik an queerem Aktivismus, autoritären ­ wenngleich für sie dasselbe gilt wie für dort nicht so einfach den Regeln des Sehnsüchten, Sprechverboten“. Patsy l’Amour die Travestie: Wo sind GeschlechterkliFitter-Schöner-Höher unterwerfen, die laLove lebt in Berlin. Foto Lorenz Becker schees echter als auf der großen Bühne uns die Werbung vom idealen Mann ihrer Scharade? Den Busen erweitern zu und der idealen Frau vorgaukelt. Das ­Begehren und die Wünsche lassen sich lassen, ist indes überaus „authentisch“ oder „echt“, die historische Person Smith hat ja keinen Hehl da­ nicht so leicht in Schach halten und richten sich auch dorthin aus, wo es schmutzig und angeblich wenig progressiv ist. raus gemacht, dass sie ein Busenwunder ist. Tragisch bleibt besonders in ihrem individuellen Fall, dass wir eine Ahnung davon Smiths Lebensziele schießen hier durchaus quer oder treihaben, welche Wünsche hier nicht eingelöst werden konnten. Beben Unsinn, Widerspruch und Unvernünftiges auf die Spitze. Man soll schöner, schneller, besser, gesünder sein, nicht rauchen, sonders in ihrer Reality Show war sie in einer Weise benebelt zu sehen, die nur noch als Betäubung bezeichnet werden kann, nicht trinken, nur Salat essen – Smith erkennt die Lücke, die Lust, die abhandenkommt, dass Lebensqualität eben nicht zu verwechkonnte kaum einen geraden Satz sprechen. Doch war sie ein unauthentisches Zerrbild von Weiblichkeit seln ist mit akkumulierter Lebenszeit, und wirft sich in den Swimmingpool der Widersprüche. aufgrund ihres Auftritts als zugedröhntes Plus-Size-Model? Das


patsy l’amour lalove

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Das macht sie letztlich zu einer potenziellen Ikone der Tuntenwelt – wie ich sie verstehe. Würde die Travestie sie – ähnlich wie sie mit Diven wie Cher und so weiter verfährt – auf der Bühne kopieren und im konkreten Fall Smiths wohl eher parodieren, ­gälte sie den in Trümmer, Trash und Abwege verliebten Tunten als Inspiration. Das, was ihr als Scheitern angekreidet wird, würde tuntig gefeiert. Die Tunte entwickelt ihre eigene Schönheit – hässlich wird schön und bleibt zugleich im Hässlichen, Anderen. Es ist nicht mehr notwendig, cool rüberzukommen – man kann peinlich sein ohne die Beschämung, abgespaltene Anteile, das, was man nicht zu sein hat, was man verwerfen soll, frivol ausleben – das Antinormative mit Schönheit versehen. Hiermit lassen sich die Geschlechter insgesamt in Bewegung versetzen. In der Welt von Travestie und Tuntigkeit ist mehr mehr. Anna Nicole Smith kommt mitunter in diesem Sinne tatsächlich als Travestiekünstlerin oder Tunte daher. Der weibliche Körper selbst kann in seine eigene Travestie umschlagen. Und gegen Travestieren spricht nicht viel – wenn man etwas wirklich als Travestie begreift, dann handelt es sich um ein Spiel. Die Frage lautet, was wir für übertrieben erachten und was daran schlimm sein soll. In Deutschland wäre ein Beispiel dafür der Modeschöpfer Harald Glööckler, der recht offen über seine Schönheits-OPs spricht (beispielsweise bei Markus Lanz: www.youtube.com/ watch?v=VHSWfrQR9zU ab 04:19). Man kann diese Beschäftigung mit der Oberfläche als oberflächlich bezeichnen – doch was ist damit bewerkstelligt? Um zur wertenden Grundierung des ­Begriffsgebrauchs der „Oberflächlichkeit“ zu kommen: Ich wüsste nicht, mit welchem Recht man es verurteilen sollte, dass jemand schön sein will. Und, wie bereits ausgeführt, dass jemand auch Objekt sein möchte.

PREMIEREN 2021 Ingrid Lausund

BIN NEBENAN. MONOLOGE FÜR ZUHAUSE Simon Stephens

COUNTRY MUSIC Duncan Macmillan mit Jonny Donahoe

ALL DAS SCHÖNE Roland Schimmelpfennig

Körper und Identität Diese von Anna Nicole Smith ausgegangenen Ausführungen zu Geschlecht, Körper und Sexualität dienen als Anregung zur thea­ tralischen Inszenierung des geschlechtlichen und des sexuellen Wunsches. Was anhand von Smith und dem über sie zur Ver­ fügung stehenden Material entstehen kann, sind die konflikt­ haften und widersprüchlichen Dimensionen von Wünschen, die zauber- und märchenhafte Gestalten annehmen, von der Tragik der Nichterfüllung und nicht zuletzt der Grausamkeit. An den Anforderungen der Weiblichkeit kann man zerbrechen, ihr ­ ­Klischee zelebrieren und in diesem Spannungsfeld die Bigotterie der Schönheitsnormen – sowohl anhand derer, die diese vermeintlich kritisieren, als auch jener, die sich an ihnen angeblich orientieren – erkunden. Konträr zu solcherlei Ideen werden Sexualität und Geschlecht, Homo- und Transsexualität, queere Welten mittlerweile vornehmlich als „Identitäten“ verhandelt – möglichst fluide, ­sexbefreit, glatt, normal soll’s sein, auch um niemanden zu verschrecken. Das homo- wie auch das transsexuelle Subjekt wird unter dem Banner von Vielfalt und Toleranz verflüssigt und zum Verschwinden gebracht. Antworten auf diesen Trend wären mehr schwule, lesbische und transsexuelle Lebensgeschichten, mehr Konflikte, die nicht in Diversity aufgelöst werden. //

DER RISS DURCH DIE WELT Roland Schimmelpfennig

DER ZINNSOLDAT UND DIE PAPIERTÄNZERIN (FAMILIENMÄRCHEN) William Shakespeare

MASS FÜR MASS

frei nach Lewis Carroll

ALICE

Heinrich von Kleist

MICHAEL KOHLHAAS Adam Long, Daniel Singer, Jess Winfield

SHAKESPEARES SÄMTLICHE WERKE (LEICHT GEKÜRZT)

www.theater-kiel.de

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Das unsichtbare Dritte

Wenn Theater auf Kino trifft: Über die Hybridkunst des Bühnenfilms von Fritz Göttler

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as für ein Mischmasch, klagt der Schauspieler, er steht im Hintergrund der Bühne, weiß geschminkt, in einem Rüschenkleid, wirft ab und zu einen Blick hinüber in den erleuchteten ­Zuschauerraum, wo in ziemlich großer Entfernung der Regisseur steckt. Er wartet auf sein Stichwort, wie er das gewohnt ist im klassischen Theaterbetrieb.

Der Mischmasch ist zum großen Teil pandemisch bedingt, aber nicht nur. Mit der Reinheit der Kunst ist es schon seit Langem vorbei, nicht nur im Theater, den ganzen Kulturbetrieb wirbelt es kräftig durcheinander, alle Medien und Genres. Nun sind dem Theater seine Räume verwehrt, dem Kino die Abspielstätten, Kunst wird nur noch direkt eingespeist in die digitalen Kanäle. Unreine neue Formen sind gefragt. Man hat ersatzweise Performances abgefilmt und dokumentiert, spontan, als Ersatz, viel Kleinkunst oder große Oper, alles sekundär. Nun versucht man eine neue Mischung, eine Inszenierung im Theater, hybrid kon-


theater trifft kino

Was die Kamera sieht – Der für den Live-Stream produzierte „Zauberberg“ von Sebastian Hartmann (Bildregie Jan Speckenbach, Videoanimation Tilo Baumgärtel) hat sich mit der Grammatik des filmischen Erzählens vertraut gemacht. Foto Arno Declair

zipiert auf eine digitale Übertragung hin. Das erfordert und ermöglicht Anpassungen und Grenzüberschreitungen vor allem zwischen zwei Medien, die sich sonst diametral gegenüberstehen: Versuche, dem Kino sich anzu­nähern und doch Theater zu bleiben, das Kino zu nutzen, um echtes Theater zu machen … Der Mischmasch soll produktiv werden. Das Schauspielhaus in Zürich hat seine Inszenierung von „Der Mensch erscheint im Holozän“ nach dem Lockdown im Frühjahr fürs Fernsehen bearbeitet, ein visual poem nach Max Frisch, Inszenierung Alexander Giesche, Bildregie Andreas ­Morell. Sie wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ist inzwischen unter der Rubrik Starke Stücke in der Mediathek von 3sat abrufbar. Das Deutsche Theater Berlin wiederum hat einen neuen „Zauberberg“ in seinem Programm, nach dem Roman von Thomas Mann, Regie Sebastian Hartmann, die Inszenierung ­wurde gezeigt als ein einmaliges Live-Event, im Stream. Die leibliche Premiere sollte im Dezember sein, aber solange die Theater geschlossen bleiben müssen, sind erst mal weitere Streams geplant im Januar. Es ist eine veritable Großproduktion, spektakulär und exzessiv, die mit Hybridität prunkt. Die Inszenierungen machen die aktuellen Einschränkungen selbst zum Thema, das Fehlen der Präsenz, dessen, was ­Walter Benjamin die Aura des Kunstwerks nannte, die ihm fehlt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In Zürich hat man den Theaterraum filmisch nach allen Seiten geöffnet und spielerisch erweitert, in Berlin hat man gleich die Bühne zu einem Filmatelier gemacht. Es sind nicht unbedingt neue Probleme, mit denen die ­Theatermacher nun konfrontiert werden, aber die aktuellen Produktionsbedingungen haben sie stark akzentuiert. Man hat sich mit der Grammatik des filmischen Erzählens vertraut gemacht, Montage, Wechsel der Einstellungen, Zeitsprünge und Kontinuität, aber im Grunde geht es auch in den Hybridproduktionen um die Grundfragen, die das Theater seit Jahrzehnten beschäftigen, Präsenz der Körper, Spiel und Reflexion, die unwiederholbare ­Intensität des Augenblicks, die Möglichkeit, die fixe Position des Betrachters im Zuschauerraum aufzubrechen. Fast natürlich hat man dabei immer stärker auch die neuen visuellen Medien inte­griert, die neue Aura des Authentischen, die Mobiltelefon, Selfie, Instagram produzieren. Schon Frank Castorf liebte die Erweiterung des Bühnenraums durch Video, aber vor allem, um hinter die Kulissen zu gucken, als Parallelgeschehen, in abgeschirmten Räumen. In Zürich und Berlin wurden keine Stücke inszeniert, das Spielmaterial waren zwei Prosatexte von zwei großen Erzählern des 20. Jahrhunderts, Max Frisch und Thomas Mann. In denen es nur am Rande um Einzelschicksale geht, vor allem aber um große existenzielle und philosophische Zusammenhänge. Ein neuer Zeitbegriff bestimmt diese Bücher, Evolution statt Geschichte. Das Individuum hat nichts mehr zu suchen in diesen Büchern, in diesem Theater.

Beide Produktionen spielen in unzugänglichem Gelände, im Hochgebirge, wo die Einsamkeit des Menschen sein Schicksal ist. Es geht darum, Distanzen zu überwinden, Gelände zu vermessen. In Zürich gibt es ein Intermezzo mit Kindern, die spielerisch sich in unwegsamem „Gelände“ vorarbeiten. In Berlin dominiert ein gewaltiges Stangengerüst die Bühne, das an geometrisches Gerät erinnert, einen Zirkel oder einen Sextanten. Beide Produktionen sind sich einig: Die Natur kennt keine Katastrophe, diesen Begriff gebraucht nur der Mensch. Danach bemisst sich die neue Position des Menschen, auch auf der Bühne.

Die Geschichte eines doppelten Spiels Als Zuschauer, dem das Theater und seine physische Präsenz eher fremd und fern ist, begegnet man den neuen filmischen Inszenierungen mit – zugegeben skeptischer – Faszination. Und bekommt hier, nicht zum ersten Mal, vorgeführt, wie stark die ­beiden Künste ineinander verwoben sind. Jahrzehntelang wurde filmisches Erzählen durch die Montage und das Storyboard bestimmt, analysiert und propagiert durch große Filmautoren wie Sergej Eisenstein und Alfred Hitchcock, perfektioniert im Hollywoodkino. Einzelne, exakt komponierte Einstellungen, die hintereinander montiert zum kontinuierlichen Fluss des Erzählens ­wurden. Anschlussfehler zwischen den einzelnen Stücken zu vermeiden, für korrekte continuity zu sorgen, das war ein eigener Job im Studiobetrieb. Mit der Nouvelle Vague in Paris, danach dem New Hollywood, wurde diese Rigidität aufgebrochen, das Erzählen gewann an Offenheit. Jean-Luc Godard machte in „À bout de souffle“ den jump cut, den Sprung in der Kontinuität, zum Stil­ element. Wenn solcher Zwang zu Korrektheit und Kontinuität ge­ lockert wurde, war oft Theatralisches im Spiel … wenn die Einstellungen länger und eigenständiger wurden, wenn eine Bewegung in einer Einstellung nicht mit der in der vorherigen zusammenpasste, aber eine Gesichtsregung, eine Intonation einfach inten­ siver war als in den anderen Takes. In Momenten, da das Kino neue Techniken entwickelte, ­waren die praktischen Erfahrungen des Theaters erst mal gefragt. Als bei der Einführung des Tonfilms zunächst viele Theaterstücke verfilmt wurden, hat man vom Broadway Regisseure und Schauspieler geholt, die Inszenierungen waren, der schwierigen Technik der Tonaufnahmen wegen, sehr unbeweglich. In den Dreißigern waren dann die Broadwayleute begeistert, wie sie mit den Mitteln und Freiheiten des Kinos die Bühnenbeschränkungen ­ihrer Shows überwinden konnten, Busby Berkeley und Vincente Minnelli. Eine Lust, die man auch bei Sebastian Hartmann und seinem Team spürt, es gibt irrwitzige Momente einer BerkeleyChoreografie, wenn die Menschen kreuz und quer krabbeln, in verschiedenen Dimensionen, und über diese Bewegungen ist ein Labyrinth geblendet, das an alte hieroglyphische Zeichensysteme erinnert. Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger hat das neue ­Medium Fernsehen sich in Amerika etabliert, und es war in diesen Jahren dem Theater näher als dem Kino. Die TV-Stücke wurden mehrere Tage geprobt in verschiedenen Dekorationen und schließlich zum Sendetermin aktuell gespielt – manchmal

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protagonisten

musste dabei für den Szenenwechsel eine kleine Pause einkal­ kuliert werden, bis die Kamera und der Kameramann den neuen Schauplatz erreicht hatte. Live-TV war dem Theater ganz nahe, eine einmalige Aufführung, ein Unikat, ohne Korrektur oder Wiederholung. Das Cinemascope-Format hat dann Anfang der Fünfziger mit seiner breiten Bildfläche und den komplizierten Apparaten gern auf das Stückwerk der Montage verzichtet und mit langen, theatralisch inszenierten Szenen gearbeitet. Ausgerechnet Alfred Hitchcock, der Meister der Montage, hat Ende der Vierziger von einem ganzen Film in einer einzigen Einstellung geträumt und diesen Traum mit „Rope“ realisiert, der in einem einzigen Raum spielt, an einem Nachmittag, der langsam in Abendrot versinkt, zwei Studenten, die einen Mord verbergen wollen und doch versucht zu sein scheinen, ihn zu enthüllen. Durch komplizierte Bühnentricks wurden heimlich Dekorationen verschoben, um den Akteuren und der Kamera Raum zu verschaffen. Hitchcock musste schummeln, da die Kameras nur Filmrollen über zehn ­Minuten fassten, und den nötigen Schnitt kaschieren. Mit den ­Digitalkameras löste sich dieses Problem, als später Sebastian Schipper seine Bankraub-Elegie „Victoria“ drehte oder Alexander Sokurow seinen legendären „Russian Ark“, eine eineinhalbstündige Kamerafahrt durch die Petersburger Eremitage und die russische Geschichte. Plansequenz nennt man solche Filmszenen, wenn eine Sequenz aus einer einzigen Einstellung (französisch: plan) ­ ­besteht. In ihr verschmelzen die beiden Richtungen des Kinos, Inszenierung und Dokumentierung, Arrangement und Improvisation. Eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit steckt in diesen Plansequenzen, die sicher auch übers Theater führt. Die alte Einsicht, die am Anfang des Kinos steht und bis heute gilt: Die Kamera sieht mehr als das menschliche Auge. Es ist wohl kein Zufall, dass die Filmzeitschrift Positif in diesen Streaming-Zeiten, in ihrer Novembernummer, sich ausführlich der Plansequenz widmet, ihren Meistern Orson Welles und Brian de Palma, Alexander Sokurow und Kenji Mizoguchi, und die vertrackte Dialektik der Plansequenz anspricht, die auch mit dem Theater zu tun hat. „Zu Beginn spielt die Plansequenz ein doppeltes Spiel mit der Montage und ihrer Kunst des Schnitts“, schreiben Laetitia Mikles und Erika Haglund. „Die Plansequenz ist die intakteste und purste Einstellung, bewahrt vor den Narben der Montage, die sich ganz dem Blick des Betrachters öffnet in ihrer Nacktheit, aller Kunstgriffe entblößt. Diese Authentizität aber ist in Wirklichkeit sehr fabriziert, ist oft trügerisch.“

Kann man die Zeit erzählen? Der Berliner „Zauberberg“ strebt eine andere Authentizität an, die des Theatralischen, die natürlich nie trügerisch ist, ihrer Natur nach spekulativ. Es ist eine tastende, tapsige Inszenierung, von einer aufrichtigen Unförmigkeit, die bewegend ist, weil nur so neue Formen gefunden und erprobt werden können. Hartmann konzentriert sich auf das Kapitel, das von Hans Castorps Irren in einem Schneesturm handelt, das Verlorenheit und Ausbruch zugleich bedeutet.

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Kann man die Zeit erzählen, das ist die Frage der Inszenierung, die Frage des Schriftstellers Thomas Mann und seines Jahrhunderts. Wie hängt das Erzählen mit der Zeit zusammen, mit dem Körper der Menschen, dem Fleisch, dem Leben? Gibt es Körper ohne Seele? Die Figuren auf der Bühne stecken in monströsen weißen Bodysuits, die ihren Bewegungen eine eigentümliche Schönheit vermitteln, diese wulstigen Brüste und wabbelnden Bäuche und rippendürren Skelette. Hartmann geht nah ran an die Gesichter, die weiße Schminke verschmiert mit dem Schweiß, der Blick wird immer wieder abgelenkt auf Figuren im Hintergrund, ein Gemenge von Perspektiven ineinander geschraubt. Das Sein des eigentlich Nichtseinkönnenden. Die Kamera sieht mehr als das menschliche Auge. Am Ende sinken Ascheflocken herab, wie Schnee, das ist so sublim, wie man es nur aus den Filmen von Mizoguchi kennt. Das Ende einer Welt, markiert, auch im Roman, durch den Ersten Weltkrieg, aber auch der Anfang einer neuen Dimension der Wahrnehmung der Welt und des Denkens, für das der multiperspektive Rausch die linearen Strukturen ersetzt. „Das weiße Rauschen“, heißt es in der Zürcher „Holozän“-Aufführung, „das sind alle Visionen aller Menschen aller Zeiten in einem Augenblick … Wer das weiße Rauschen sieht, der wird sofort wahn­ sinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist. Dann wird er ­normal.“ Der Rausch, der Traum. „All that we see or seem is but a dream within a dream“, wird bei Hartmann Edgar Allan Poe ­zitiert. Er braucht die Totale, die leere Bühnenlandschaft, oder die extreme Nahaufnahme, das Gesicht. Die klassischen Formen des traditionellen Erzählkinos meidet er, den two shot, zwei Leute ­gemeinsam in einer Einstellung, oder die Alternation zwischen zwei halbnah gefilmten Personen im Dialog. Lieber umkreist er die Akteure, um sie in ihrer Unsicherheit zu ertappen, wie die amerikanischen Dokumentarfilmer der Sechziger es machten, ­Richard Leacock oder Donn A. Pennebaker und Chris Hegedus. Die Kamera sieht mehr … Der kreative Moment im Kino, der, den es im Theater nicht geben kann, ist, wenn zwei Einstellungen im Schnitt aneinanderstoßen und – so Godards berühmte Formel – daraus etwas Drittes entsteht. Kreativ für den Filme­ macher wie für den Zuschauer. Die jungen Filmemacher der Nouvelle Vague hatten diese Erregung verspürt, aber auch die jungen amerikanischen Fernsehmacher der Fünfziger, John Frankenheimer, Sidney Lumet, Arthur Penn mit ihren TV-Playhouses. Auch Sebastian Hartmann hat für solche Momente den Bühnenboden verlassen. Etwas Drittes entsteht aus dem Clash der beiden Einstellungen, etwas Ungeahntes, bislang Unsicht­ bares. In diesen Momenten wird das Kino erfunden, immer wieder aufs Neue. Was die Kamera sieht … Am Anfang des „Zauberbergs“ gibt es die Alpen, aber man erlebt, wie sie Wellen schlagen. Das Festgefügte, Monumentale, Steinerne windet sich, gerät in Bewegung. Eine tolle Einstellung, ein Stück Animation, das schon die ganze Inszenierung in sich trägt. Der Animationsfilm gilt vielen als Inbegriff des Kinos, als cinema pur. //

Fritz Göttler ist Filmautor der Süddeutschen Zeitung.


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Marktplatztheater bei Minusgraden Die Ungewissheit in der Corona-Pandemie trifft die 24 deutschen Landesbühnen hart – dennoch versuchen sie sichtbar zu bleiben mit fantasievollen Aktionen von Elisabeth Maier

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ie Botschaft verbreiten“ hat Pfarrer Ludwig Waldmüller, katholischer Dekan in Memmingen, mit dickem Filzstift auf ein Pappschild gekritzelt, welches er fröhlich in die Kamera hält. Das Foto hat er an das Landestheater Schwaben geschickt, das diesen und andere Beiträge auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht.

„Theater kann das“ heißt die kunterbunte Aktion, mit der die Bühne in den sozialen Medien und auf öffentlichen Plätzen auch während des Lockdowns auf sich aufmerksam macht. Mit Plakaten in Regenbogenfarben wirbt das Landestheater für die Kunst. „Gerade

Gerade jetzt muss sich Theater zeigen – Plakat des Landes­theaters Schwaben zur Kampagne „Theater kann das“. Foto GFA/Patric Urbainski


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protagonisten

jetzt müssen wir als Theater sichtbar bleiben“, findet Kathrin Mädler, die Intendantin der bayerischen Landesbühne. Dass so viele Bürgerinnen und Bürger dem Aufruf gefolgt sind, sich mit Selfies für ihr Haus stark zu machen, zeigt der Chefin, „wie wichtig das Theater für die Gesellschaft ist“. Nicht nur in der Stadt Memmingen im Allgäu, auch auf dem Land spielt die Bühne. „Wir tragen die Kultur in die Dörfer“, verweist Mädler auf den wichtigen Auftrag, den die 24 Landes­ bühnen in Deutschland haben. Doch gerade die Abstecherbühnen haben es in Zeiten der Corona-Pandemie schwer. Oft seien es kleinste Kulturvereine oder „einfach nur ein kulturbegeistertes Ehepaar“, die die Gastspiele des Landestheaters Schwaben organisieren. In jahrzehntealten Hallen oder an kleineren Spielorten im Hinterzimmer sei es oft schwer oder gar nicht möglich, Abstandsund Hygienekonzepte umzusetzen. Diese Erfahrung macht auch André Nicke. Der Intendant der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt verweist darauf, dass in Brandenburg „Landesbühnen-Strukturen erst aufgebaut werden müssen“. Erst 2017 wurde sein Haus zu einem von zwei Landestheatern in Brandenburg ernannt. Deshalb reist der Theatermann immer wieder in die Städte und Dörfer. Gemeinsam mit den Veranstaltern sucht er nach Möglichkeiten, wie seine Bühne Theater auch in diesen schwierigen Zeiten ins Land tragen kann. „Unsere Technik hilft dabei, für jeden Spielort eine individuelle Lösung zu finden“, sagt Nicke. Aber einfach sei das nicht. In der aktuellen Situation macht dem Theaterchef des Einspartenhauses vor allem die Ungewissheit zu schaffen: „Weil die Ansagen seitens der Politik so kurzfristig kommen, lässt sich kaum noch vernünftig planen.“ Zur Zitterpartie gerät auch seine Planung für die Landesbühnentage, die vom 24. bis 28. März 2021 in Schwedt stattfinden sollen. Obwohl Nicke gemeinsam mit ­seinen Intendantenkollegen aus ganz Deutschland ein Coronakonformes Konzept für das Theatertreffen der Abstecherbühnen ausgetüftelt hat, ist völlig offen, ob im März überhaupt wieder Vorstellungen stattfinden dürfen.

Hoffen auf die Gelben Engel „Als Theater sichtbar bleiben“ ist auch für Thorsten Weckherlin das Gebot der Stunde. Der Intendant des Landestheaters Tübingen (LTT) ist Vorsitzender der Landesbühnengruppe im Deutschen Bühnenverein. Zwar hat Baden-Württemberg mit dem LTT, der Württembergischen Landesbühne Esslingen und der Badischen Landesbühne Bruchsal gleich drei vom Land geförderte Abstechertheater, die seit Jahrzehnten ein dichtes Netz von Gastspielorten aufgebaut haben. Aber die Klagen aus den Kulturämtern werden auch in seinem Umfeld immer lauter. Weckherlin befürchtet, dass spätestens im Jahr 2021 auch bei den kommunalen Zuschüssen für Kunst und Kultur der Rotstift angesetzt wird. Wie geht der Tübinger Theaterchef mit der Situation um? Im Sommer hat er im Hof einer ehemaligen Stuhlfabrik Balkon­ theater gemacht. Auch mit neuen Formaten wie einem Audiowalk durch das Französische Viertel hat sein Team experimentiert. Das kam nicht nur beim Publikum sehr gut an. „Ein Rad am Thespiskarren hat schon immer geeiert“, sagt der Optimist und lacht.

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„Wenn’s zwei Räder tun, ruft man den ADAC. Hoffen wir also auf die Gelben Engel! Wir kriegen das schon irgendwie hin.“ Weil seit dem zweiten Teil-Lockdown am 3. November die Theater wieder geschlossen sind, geht Weckherlin mit seinem Ensemble auf den Tübinger Marktplatz, spricht mit Passanten und diskutiert über die gesellschaftliche Bedeutung der Theater. Selbst bei Minus­ graden ist das LTT präsent. „Man kann auch während der Schließzeit viel machen mit Kleinstformaten in Kirchen, privaten Wohnzimmern oder sogar am Telefon“, ist der Intendant überzeugt. Als Vertreter einer tarifgebundenen und staatlich bezuschussten ­Bühne habe er allerdings gut reden: „Sorgen mache ich mir um die Theater, die nicht so gut abgefedert sind wie wir.“ Nach dem ersten Lockdown im März hat Manuel Schöbel, der Intendant der Landesbühnen Sachsen in Radebeul, die Sommersaison genutzt, um dem Publikum möglichst viele Angebote zu machen. Da die Felsenbühne in Rathen derzeit wegen Bau­ arbeiten geschlossen ist, haben der Theaterchef und sein Team in dem Kurort in der Sächsischen Schweiz ein Theaterzelt aufgebaut. Da fanden vierzig Vorstellungen der Sparten Schauspiel, Musiktheater und Konzert statt. Vor der historischen Kulisse des Schlosses Moritzburg gab es 19 Vorstellungen des Musicals „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Auf dem Konzertplatz Weißer Hirsch in Dresden fand ein Musikprogramm statt. Entlang der Elbe war die Landesbühne Sachsen ebenfalls im gesamten ­Spielgebiet präsent: Ab Ende August zeigte die Tanzkompanie ­unter dem Label „Beethoven Today“ Performances und Improvisationen. Viele der geplanten Abstecher waren wegen der Hygieneund Abstandsvorgaben nicht möglich. „Einige Gastspiele der ­unterschiedlichen Sparten in den traditionellen Orten von Bad Elster bis Meißen haben wir aber doch realisieren können“, sagt Schöbel. Vorstellungen in Klassenzimmern, in Kindergärten und in verschiedenen Freizeiteinrichtungen waren in Sachsen – anders als zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg – von August bis Ende Oktober möglich. Wie groß gerade bei Kindern und Jugendlichen der Wunsch war, Theater live zu erleben, hat Schöbel da deutlich gespürt. „Die Nachfrage ist groß. Und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auch.“ Aus seiner Sicht ­haben die Veranstalter gemeinsam mit den Experten des Theaters die Corona-Verordnungen bestens umgesetzt. Auch mit ­digitalen Angeboten auf der Homepage des Theaters hat Schöbel gute Erfahrungen gemacht. „Jetzt aber ist es schwierig, den Gastspiel- und Abstecher­ betrieb weiter zu planen“, verweist der Intendant des Landes­ theaters Sachsen auf die aktuelle Hängepartie. Abgesehen von den finanziellen Schwierigkeiten, mit denen die Partner in den Kommunen zu kämpfen hätten, sei die Nachfrage beim Publikum nach wie vor groß. Die sächsische Landesregierung wie auch die Bundesregierung verwenden nach Schöbels Worten „steigende Aufmerksamkeit auf die Situation der Theater und Orchester“. Und auch über den Deutschen Bühnenverein gebe es gute Gesprächsebenen. Dennoch verweist Schöbel darauf, dass staatliche wie auch private Bühnen angesichts der hohen Verluste auf finanzielle Hilfen angewiesen seien. Wichtig findet es der Intendant der sächsischen Landesbühnen, „Theater und Konzert nicht allein als Teil eines Unterhaltungsangebots zu formulieren.“ Vor allem


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betont er die Bedeutung des Theaters als Ort der gesellschaft­ lichen Kommunikation. Kulturelle Angebote sind für ihn der Schlüssel zur Bewältigung der Corona-Krise.

protagonisten

Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machten sich mit Slogans für ihr Theater stark – Plakate im Großen Haus des Landestheaters Schwaben. Foto LTS / Bianca Günzer

Die Buchungen laufen schleppend Besonders hart trifft der Lockdown die Burghofbühne in Dins­ laken, da das Haus in Nordrhein-Westfalen fast ausschließlich als Gastspielbetrieb unterwegs ist. „Die Ungewissheit ist auch für uns wirklich schwer, wir müssen viele Absagen abfedern“, schildert Intendant Mirko Schombert die schwierige Lage. Ein Großteil der Ausfälle entstehe durch behördliche Auflagen. „Zugleich wächst die Unsicherheit bei den Veranstaltern vor Ort.“ Dann würden Gastspiele schon im Vorfeld abgesagt. Das wirkt sich auch bereits auf die nächste Spielzeit aus: „Die Buchungen laufen schleppend an, da die Gastspielorte sehr vorsichtig agieren.“ Als im Sommer wieder geprobt werden durfte, startete die Burghofbühne durch. „Sobald es wieder möglich war, haben wir unsere Produktionen vor deutlich reduziertem Publikum gezeigt“, sagt der Theaterchef. Wenn die Realisierung einer Produktion unter Corona-Bedingungen nicht möglich war, habe man die ­ ­Stücke bis zur Generalprobe gebracht. Wo es möglich war, haben die Regieteams flexibel reagiert und uminszeniert. „Wir halten die Produktionen, bis wir sie dann spielen können“, sagt Schombert und ist optimistisch, dass es nach dem Winter wieder eine ­Perspektive gibt. Geprobt wird an der kleinen Landesbühne mit transparenten Gesichtsmasken. Den Kontakt zum Publikum haben Schombert und sein Team gehalten – etwa mit Homestorys auf den Social-Media-­ Kanälen. Da plauderten Theatermenschen vor der Kamera aus dem Nähkästchen. Als kleine Bühne habe man aber nicht die

t­ echnischen Möglichkeiten, ein umfassendes digitales Konzept zu erarbeiten. Eine Jugendproduktion, die die Burghofbühne in ­Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung er­ arbeitet hat, wurde aufgezeichnet. Darauf könnten Schulklassen zurückgreifen. Allerdings habe es da bisher keine Nachfrage ge­ geben. Solche Digitalangebote seien für ein Theater sowieso eher ein Gimmick, sagt Schombert. Sorgenvoll blickt der Theaterchef auf die finanzielle Lage seines Hauses. Bei einem Eigeneinnahmeanteil von 35 Prozent könne man die Verluste anders als manche vergleichbaren Häuser nicht durch Kurzarbeit und drastische Sparmaßnahmen auf­ fangen. „Wir sind auf finanzielle Hilfen angewiesen, um die Existenz des Theaters zu sichern“, stellt Schombert klar. Er wünscht sich seitens der Politik „einen etwas größeren Planungszeitraum“. Außerdem sollten Vertreterinnen und Vertreter der Kulturbranche künftig in Entscheidungen einbezogen werden. Die finanzielle Lage der Kommunen und die Ausstattung der Kulturhaushalte sind für die Burghofbühne entscheidend. Da schlägt der Intendant Alarm: „Auch wenn wir durch direkte Hilfen als Theater gerade noch so aufgefangen werden, sind wir mittel- und langfristig von den Buchungen der Gastspielorte abhängig.“ Sollten dort die Etats zurückgefahren werden, würde das seine Bühne mit siebzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern „existenzbedrohend“ treffen. Daher wünscht sich der Theaterchef vor allem eine stabile Perspektive und Hilfen für die Kulturämter vor Ort. //

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abschied

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Wandlerin im Birkenwäldchen Die Schauspielerin Jutta Lampe – eine kurze Erinnerung aus traurigem Anlass von Patrick Wildermann

D

ie wahre Größe einer Schauspielerin zeigt sich nicht unbedingt nur auf der Bühne. Sondern, zum Beispiel, auch bei einer Preisverleihung. Lob aushalten – eine echte Königsdisziplin. Jutta Lampe hat sie beherrscht, glänzend sogar, was an einem unvergesslichen Abend in der Berliner Akademie der Künste nachhaltig sichtbar wurde. Auf dem Programm stand damals, 2010, die Verleihung des Joana-Maria-Gorvin-Preises an die Künstlerin. Nacheinander paradierten Weggefährtinnen und Weggefährten über die Bühne, um eine längst versunkene Theaterepoche zu beschwören. Und selbstredend, um Lob und Anekdoten über Lampe auszuschütten. „Du bist die personifizierte Anmut und als solche ein ewiges Versprechen“, schwärmte Ernst Stötzner, der Moderator der Zeremonie, in Lampes Richtung. Nicht ohne vielsagend hinterherzuschicken, dass Versprechen naturgemäß unerfüllt bleiben müssten. „Es ist relativ einfach“, verkündete der Grand Monsieur Peter Stein, „sie ist ein Futter für jeden Regisseur.“ Schließlich lasse sie einen spüren, dass sie unbedingt angesehen werden ­wolle. Und wer hätte das besser wissen können als Stein, bei dem Lampe erstmals 1967 in Bremen gespielt hatte, als Lady Milford in „Kabale und Liebe“, mit dem zusammen sie die Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin gründete und drei Jahrzehnte lang prägte, für eine Weile auch als privates Paar. „Wie wunderbar du dich verwandeln konntest, auch mit Schminke!“ Das rief Edith Clever der Kollegin zu. Lampe und Clever hatten ja noch 2005 – durchaus ein Glanzlicht ihrer Karriere – in Botho Strauß’ „Die eine und die andere“ zwei in die Jahre gekommene Bühnen-­ Konkurrentinnen gespielt. Natürlich, Strauß durfte auch nicht fehlen. Der menschenscheue Wortorchideen-Züchter aus der Uckermark schwärmte in seiner Laudatio: „Jutta Lampe war nie eine Diva, nie Publikumsschwarm oder Star – nicht einmal eine ,Tatort‘-Kommissarin“. Vielmehr sei sie eine „effektsichere Komödiantin und Hüterin der strengen Form, gläsern zerbrechlich und expressiv sentimental,

hier die Deviante, Verwundete, Abgeirrte, dort die extravagante Kunstfigur, artifiziell gerüstet bis in die Fingerspitzen.“ Seinen anschwellenden Lobgesang, den in Vertretung des Dramatikers der Schauspieler Hanns Zischler vortrug, hatte Strauß für einen Bildband verfasst, der ebenfalls an diesem Abend in der Akademie präsentiert wurde: „Jutta Lampe. Träumen, Suchen, Spielen“. Die Chronik eines reichen Bühnenlebens, ­ prächtig bebildert. Fotos über Fotos aus den großen Inszenierungen von Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Luc Bondy. Lampe in den Stücken von Tschechow, Gorki, Kleist. Als Wandlerin im Birkenwäldchen, das Karl-Ernst Herrmann für die legendären ­ „Sommergäste“ auf die Bretter gepflanzt hatte, als „Ach!“-seufzende Alkmene in „Amphitryon“. Bei allem wohlmeinenden Würdigungsfuror aber hatten das Buch und die Preisverleihung etwas vom Versuch einer ­Be­erdigung durch Erinnerung. Zu Lebzeiten begraben unter Ver­ klärung. All die Steins und Straußens und Clevers sangen das Lied vom Untergang der wahren Theaterkunst. Womit sie freilich die gute alte Schaubühne meinten. Und die Geehrte selbst? Nahm es leicht. Lampe war ja 2003 noch einmal an die Schaubühne zurückgekehrt, die nun von ­Thomas Ostermeier geleitet wurde. Hatte in der Regie von Luk Perceval eine klirrend klare, radikal unsentimentale Andromache gespielt. Mutmaßlich auch, um den eigenen Mythos aus den Tagen am Halleschen Ufer nicht zu übermächtig werden zu lassen. Lampe war keine Schauspielerin, die sich von Nostalgie genährt hätte. In der Akademie der Künste bemerkte sie sanft belustigt, dass der Gorvin-Preis – der alle fünf Jahre von einer Männerjury an eine Frau verliehen wird – wohl genau das sei: „Eine Männerfantasie“. Hernach sprach Lampe über die Namensstifterin der Auszeichnung, die Gründgens-Schauspielerin Joana Maria Gorvin, mit der sie 1992 noch auf der Bühne stehen durfte, im „Schluss­ chor“ von Botho Strauß. Sich selbst in den Mittelpunkt zu ­rücken, das wäre ihr nie eingefallen. Jutta Lampe, die jetzt, am 3. Dezember, im Alter von 82 Jahren gestorben ist, hat damals, zum Zeitpunkt der Preisverleihung, schon nicht mehr viel gespielt. Aber sie hat, inmitten der großen Vergangenheitsfeier, ihre Präsenz behauptet. //


Jutta Lampe (1937-2020) in Marivaux' „Triumph der Liebe“ in der Regie von Luc Bondy an der Berliner Schaubühne 1985. Foto Ruth Walz

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Ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin Zum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettre von Gerd Hartmann


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B

peter radtke

Vier Jahre später dann keine Spur mehr von Wohlwollen: George Tabori hatte es in ­seiner „Medea“-Version an den Münchner Kammerspielen gewagt, die Rolle eines behinderten Kindes   rigitte Bardot wurde nicht wegen ihrer Intelligenz besetzt, einzubauen und sie mit Radtke zu besetzen. In einer Szene sondern wegen anderer Qualitäten. Und auch ich werde nicht bebeschreibt er eine umgekehrte Welt: Was wäre, wenn die ­ setzt, weil ich ein netter Kerl bin, sondern wegen meiner Körper„Krüppel“ normal wären und die Nichtbehinderten die Exoten? lichkeit. Damit muss ich leben.“ Klingt in Zeiten hoher SprachMit Fingern würde man auf sie zeigen, weil der Zufall sie aussensibilität ein bisschen anrüchig. Aber die Aussage stammt von Peter Radtke. 1943 mit Glas­knochenkrankheit geboren, Schaugespart hätte. Die Nichtbehinderten würden sich vor Scham verkriechen. spieler, ­Regisseur, Autor, Rollstuhlfahrer, Aktivist zu Zeiten, als es das Wort noch gar nicht gab. Da kriegen die Sätze eine andere Ein faustdicker Skandal! Die Feuilletons schäumten pseudo-­ beschützend über die angebliche „Ausbeutung eines behinderten Dimension. 1995 diktierte er sie mir in den Block. Ich habe sie später oft zitiert – als Theatermacher beim inklusiven Berliner Menschen“ und gingen der Frage nach, ob es legitim sei, im ­Theater – einem Medium, das per definitionem das So-tun-alsTheater Thikwa, wenn Publikumsdiskussionen mal wieder in mitfühlend nivellierende Groß­ ­ ob zum Gegenstand habe – je­ manden auf die Bühne stellen umarmungen mündeten mit dem Tenor, dass wir doch alle ein biss­dürfe, der wirklich ist, was er verkörpert. „Freakshow“ und „Ge­ chen behindert seien. Was wäre, schmack­losigkeit“ waren noch die Peter Radtke war nicht provokativ, er war klar. Was manchmal harmloseren Kommentare. Großwenn die „Krüppel“ dasselbe sein kann. Er lebte Selbstkritiker Gerhard Stadelmaier resünormal wären und bestimmung vor, als Menschen mit mierte: „Theater darf vieles. Das Behinderung außerhalb der TV-­ darf es nicht.“ die Nichtbehinderten Darf es schon! Der Schritt in Lotterieshows der ­„Aktion Sorgendie Sichtbarkeit war gemacht. Die kind“ (so hieß die „Aktion Mensch“ die Exoten? noch bis ins Jahr 2000) im öffent­ Debatten um die Gleichberech­ Sie würden sich tigung von Schein und Sein im lichen Leben nicht vorkamen. Nicht als ernst zu nehmende DiskurspartTheater blieben noch für mehr vor Scham verkriechen. als eine De­kade, später kam noch ner und noch viel weniger als Künst­ die Diskussion über die „Kunst­ lerinnen und Künstler. Peter Radtke fähigkeit“ von Künstlerinnen und hat beides geändert. Kämpferisch Künstlern mit geistiger Behin­ und beharrlich. Er studierte Romaderung dazu. ­Peter Radtke war die nistik und Germanistik, beileibe ersten Jahre der ebenso nüchterne wie beharrliche Protagonist. keine Selbstverständlichkeit für einen schwerbehinderten Menschen in den 1970ern. Immer unterstützt von seinen Eltern – der Mit ­ seiner „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien“ Vater Schauspieler, die Mutter Krankenschwester. Das hat er imstellte er Öffentlichkeit her, forderte die Schaffung von Aus­ mer wieder erzählt. Sie gaben ihm wohl sein Selbstvertrauen bildungsmöglichkeiten für behinderte Künstlerinnen und mit. Und sein Selbstbewusstsein, auf einer Bühne zu (be-)steKünstler. Radtke begriff Behinderung nicht als Leiden, sondern als hen. Gleich in seiner ersten Arbeitsstelle, als er für die Münchner Volkshochschule ein Behindertenprogramm aufbauen sollBestandteil seines Seins. Deshalb ist es wohl zwangsläufig, dass er Theater wieder zu einem Ort der Katharsis machen wollte, weg te, installierte er einen Theaterkurs, an dem er selbst teilnahm. Das Ergebnis war das Stück „Licht am Ende des Tunnels“, in von der bequemen Kulinarik, die nicht mehr bewegt. Theater sei ein Medium der Sichtbarmachung, hat er mir damals freundlich dem wohl zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte und bestimmt gesagt, und behinderte Menschen auf der Bühne reale Menschen mit Behinderung auf einer staatlichen Bühne machten auf gesellschaftliche Defizite aufmerksam. Er tat das mit standen, im kleinen Theater der Jugend in München zwar und Vorträgen und als Mitglied im Nationalen Ethikrat, mit Theaterwenig beachtet, aber immerhin. Program­ matisch souverän, schon im Namen, ­ danach das Münchner Crüppel Cabaret: stücken und in Rollen. Zum Beispiel als motziges Energiebündel Radtkes ­ ­ erstes Theaterstück Nachricht vom Grottenolm, das im „Bericht für eine Akademie“ über die Menschwerdung schwadronierend oder als absurd autoritärer Hauptmann im „Woyzeck“. exemplarisch einen Tag im Leben eines R ­ ­ ollstuhlfahrers beIm Wiener Burgtheater oder am Schauspielhaus Zürich, immer in schreibt, ­erregte 1981 im Jahr der Behinderten wohlwollende Aufmerksamkeit. etablierten Häusern. Mit der freien Szene fremdelte er, da sah er die Gefahr einer wirkungslosen Subkultur, das war nicht seine ­Generation. Vieles, wofür er kämpfte, gehört heute zum MainstreamBegriff Behinderung nicht als Leiden, son­dern als Bestandteil seines Diskurs. Gut so! Inklusion ist immer noch eine Riesenbaustelle. Seins – Peter Radtke (1943–2020), hier während einer Fotoprobe Peter Radtke war einer der Ersten, der sie aufmachte. Jetzt ist er zu George Taboris Kafka-Inszenierung „Ein Bericht für eine Akademie“ 1992. Foto dpa mit 77 Jahren gestorben. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Leben, nicht verzweifeln! Die Berliner Schauspielerin Vidina Popov kann über furchtbare Dinge lachen und wirft sich mit Wucht ins Unbekannte

E

s scheint auf dieser Welt nichts zu geben, was Vidina ­ opov zurückhalten kann. Vor allem auf der Bühne ist das P unverkennbar. Ob als hyperventilierender Clown in Heiner ­ ­Müllers „Herzstück“, als Hauptfigur in Simon Stephens’ „Maria“ oder grau in grau integriert in ein ­polyfones, einheitliches Schauspielerinnenquartett in „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ von Sibylle Berg. Popov versprüht eine derart unterhaltsame Energie, die zweifelsohne im Gedächtnis bleibt. Die 28-jährige Schauspielerin ist nicht nur kraftvoll und euphorisch, ihr fallen am laufenden Band Dinge ein, die sie in ihrem Leben noch tun oder von denen sie noch erzählen will. Ihre künstlerische Laufbahn lässt vermuten, sie hätte schon dreimal gelebt oder hat mindestens eine Doppelgängerin. Popovs Schauspielkarriere beginnt früh: Als Tochter bulgarischer Eltern wird sie in Wien geboren und besucht dort eine bulgarische Schule. Da sie schon als Kind keine Scheu an den Tag legt, auf andere zuzu­ gehen und diese schnell von ­ihren ­Unterhaltungskünsten überzeugen kann, wird sie als Moderatorin für Schulfeste eingesetzt. Eine Regieassistentin des Wiener Volkstheaters wird dabei auf die damals Achtjährige aufmerksam und schlägt sie für die ­Rolle der Tochter in Federico García Lorcas „Mariana Pineda“ vor. Danach geht es zum Fernsehen, als Moderatorin des Kindersenders Confetti TiVi. Als das Leben ernster wird, studiert sie Jura, bricht das Ganze aber schnell wieder ab, um am Salzburger Mozarteum Schauspiel zu studieren. Es folgen das Erstengagement am Landestheater Nieder­ österreich in St. Pölten, mehrere Gastrollen am Berliner HAU Hebbel am Ufer, dem Deutschen Theater Berlin und am Theater Erlangen, bis sie sich schließlich für Berlin entscheidet und ihr Engagement am ­Maxim Gorki Theater annimmt. Popov interessiert sich nicht für die klassischen Frauenfiguren. „Ich spiele am liebsten Rollen, in denen ich alles sein kann: derb, lustig,

sensibel, aber auch stark – nur weil man weiblich ist, muss man nicht immer leiden.“ Langeweile ist ihre größte Feindin, Komik ihre große Leidenschaft. Nach ihrem Studium besucht sie die Clownschule „Philippe Gaulier“ in Paris. Diese Erfahrung wird ihr in ihrem fulminanten Monolog in „Herzstück“ helfen. Sie spielt einen Clown, der mit vollem Körpereinsatz über die Optimierung des Selbst referiert: Arbeiten, nicht verzweifeln!“ Ohne Punkt und Komma – versteht sich. Geschrieben hat sie den Text selbst. Seit der Spielzeit 2017/18 springt, tanzt und singt Popov nun unverdrossen auf der Gorki-Bühne, was sie nicht davon abhält, nebenbei noch vor der Fernsehkamera zu stehen. Seit 2016 spielt sie die Kriminalassistentin Marcia Amaya in der ARD-Serie „Der LissabonKrimi“. Umtriebig, könnte man ­sagen, passioniert trifft es besser. Popov ist ein Chamäleon. Manchmal schreibt sie auch Drehbücher oder Stücke wie den Monolog „Ich bin Bulgare?!“, den sie immer wieder im TiKQ Salzburg, im Bulgarischen Theater Wien und am Deutschen Theater Berlin zeigt. „Wir sollten raus aus den Schubladen, mit Mut ins Leben springen und uns daran reiben. Es ist wichtig, verschiedene Dinge zu machen und sich dabei nicht zu limitieren.“ Inspiration für ihre Rollen holt sie sich durch Stand-up-Comedy und Sketche, aber auch politisches Engagement ist ihr wichtig, vor allem sollen Frauen dabei gehört werden. So liegt es auf der Hand, dass sie früher Schulsprecherin war und heute für das Gorki-Ensemble spricht. Die Menschen mitreißen und ihnen etwas von ihrer eigenen schier unversiegbaren Energie abgeben, das kann Popov zweifelsohne. „Ich muss mir die Frage stellen, wie wir unsere Zeit auf dieser Welt am sinnvollsten nutzen können. Wenn ich gehe, dann möchte ich etwas hinterlassen, womit jemand anderes etwas anfangen kann.“ // Vidina Popov. Foto Jeanne Degraa

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Paula Perschke


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Look Out

Die Wendigkeit eines Boxers Der Osnabrücker Schauspieler Philippe Thelen verwandelt sich mühelos vom Wirbelwind zum Nervenbündel

aszinierend, dieser Vorgang: Eine Spielzeit beginnt, junge, noch unbekannte Schauspieler machen neugierig. Sie bringen frischen Schwung und ein anderes, oft jugendlicheres Sozialverhalten in die Bühnenfamilie. Erst einmal dienen sie ganz dem Ensemble, beleben und stärken es von den Rändern, den Neben­ rollen her. Bis einer eigene Konturen annimmt, so wie Philippe Thelen am Theater Osnabrück. Der 31-jährige Luxemburger wollte schon früh Schauspieler werden, nahm aber erst den Umweg über einen Master of Arts. Dann ließ er sich im amerika­ nischen Amherst und in Stuttgart doch noch zum Schauspieler aus­ bilden. Jetzt, nach seinem ersten Fest­engagement und drei Spielzeiten in Osnabrück sowie einigen Rollen in Kurz- und Kinofilmen, zieht es ihn als Freiberufler zu Film und Fern­ sehen. Dem Theater will er aber treu bleiben, wie er sagt. Auf der Bühne ist Philippe Thelen eigentlich ständig in Bewegung. Nicht hektisch oder nervös, sondern eher in der athletischen Grundspannung eines Boxers, der ganz leicht und locker seinen Kampfplatz umtrippelt. Seine wohltönende Baritonstimme, seine lebhafte, gern ausladende Gestik: Dieser Spieler füllt mühelos auch einen großen Raum. Wenn er das als Rupert in „Die Familie Schroffenstein“ mit nacktem Oberkörper und kraftgeblähtem Imponiergehabe macht, wirkt er in seiner Körpersprache ein bisschen wie der junge, noch schlanke Gerard Depardieu. Mal stapft er grobschlächtig und mit blonder Perücke wie ein Urzeitmensch durch die Szene, mal tänzelt er selbstverliebt wie ein Popstar. Er knallt seinen Mitspielern wuchtige Sätze vor den Latz: Dieses Bündel geballter Energie und höhnisch überdrehter Ironie ist nicht aufzuhalten – und steckt spürbar seine Mitspieler an. Bis Selbstverliebtheit in gereizte Kriegerpose ­umschlägt: Regisseur Daniel Foerster spielt mit Kleists RacheGroteske auf bedenklich narzisstische Staatsoberhäupter und

Philippe Thelen. Foto Theater Osnabrück

F

Zivilisationsverfall auf unserer Weltbühne an. Thelen wirkt in dieser schrillen Dystopie jederzeit natürlich, spricht ohne Befangenheit Kleists Text, als wäre es sein eigener. Für „Romeo und Julia“ gelingt es ihm gleich mal, die Grundstimmung von Walter Meierjohanns Lesart in einer V ­ or­rede anzukündigen: Jugendlich-verspielte Lässigkeit kann da blitzschnell in hoch kontrollierte Aggression umschlagen. Als Romeos Freund Mer­ cutio tobt er dann ein gekonnt überdrehtes junges Lebensgefühl auf der Bühne aus. In tuntiger rosa­ farbener Pelzstola und bauschig-weißem Tüllrock wirkt er wie eine einzige riesige Zuckerwatte. Das Regieteam hat intelligent ausstaffiert, was in Thelen steckt: richtig viel Bühnenaura – die er sich mühelos frei entfalten lässt. Doch er kann auch ganz anders. Als Kafka in der gleichnamigen Uraufführung von Osnabrücks Schauspieldirektor Domi­ nique Schnizer ist er wieder in ständiger Bewegung: maximal auf minimaler Ebene. Der ganze Mann ein bleich-bebendes Fragezeichen im schwarzen Anzug und ein ­einziger Stau an Impulsen. Eingeschüchterte Blicke, stummes Schnappen des Mundes, der nicht mehr zu widersprechen wagt, nervöses Hämmern des Zeigefingers an der Stirn, Aktenordner zum Selbstschutz an den Körper gepresst: ein Bild des Jammers und der Unterdrückung. Er liebe Kafka, nicht aber seine verschachtelten Nebensätze, wie er lachend bekennt. Dennoch meistert er unverkrampft die Textmassen seiner Hauptrolle. „Kafka“ deutet an, in welche Charakterrollen er seine Power kanalisieren kann. Mehr davon! Osnabrück wartet gespannt auf noch drei Produktionen mit ihm, etwa Rebekka Kricheldorfs neues Stück „Das Waldhaus“, bevor er zum Ende der Spielzeit geht. // Christine Adam

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Auftritt Aarau / Bregenz „Geld, Parzival” (UA) von Joël László Gütersloh „Oinkonomy“ (UA) von Nora Gomringer Halle „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ von Annelies Verbeke  Mülheim „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ von Lars von Trier und Charlotte Beradt  Tübingen „Wie ein zarter Schillerfalter“ von Peer Maria Ripberger


auftritt

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AARAU / BREGENZ Aventiure und Ausbeutung

beitung um den machtvollen Tauschwert

fortzonen des westlichen Wohlstandes ab.

von „Bonbons“, aber der Bühnenboden ist

Und doch bleibt das Herz des Rezensenten

in Kellers Inszenierung längst übersät mit

davon recht unberührt. Vielleicht war das be-

Unmengen an Schweizer Goldgroschen. Par-

absichtigt? // Bodo Blitz

zival begehrt am Artushof einen maßgeschneiderten Anzug. Er stört sich nicht daran, dass ihn ein anderer trägt. Mehr zu wollen,

THEATER MARIE / VORARLBERGER LANDESTHEATER: „Geld, Parzival“ (UA) von Joël László Regie Olivier Keller Bühne Dominik Steinmann Kostüme Tatjana Kautsch

als man selbst hat, schafft gesellschaftliche Anerkennung. Die Türen des Artushofes, daliberalen, stehen Parzival schnell offen. Verführerisch klingen die politischen Parolen der

Life Is a Pigsty

Höflinge: „Freiheit“, „Individualität“, „Sicher­ heit“! Sie scheinen sich zu bewahrheiten, wenn Parzival auf Condwiramurs trifft und

Ein wütender, politischer Text ist Joël Lászlós

GÜTERSLOH

mit der politischen Clique der Wirtschafts­

mit ihr sexuelle Erfüllung erlebt.

THEATER GÜTERSLOH: „Oinkonomy“ (UA) von Nora Gomringer Regie und Bühne Christian Schäfer Kostüme Anna Sun Barthold-Torpai

Überschreibung des Parzival-Epos. Im Zent-

Die Egoparty der Schönen und Er-

rum der künstlerischen und sehr kritischen

folgreichen, sie könnte mit Parzival am

Auseinandersetzung steht der Wirtschafts­

Artushof in Endlosschleife weiterlaufen. ­

liberalismus. Ihn gehen der Autor sowie

Parzivals K ­ onfrontation mit dem leidenden

das Regieteam um Olivier Keller frontal an.

Amfortas setzt dem völlig unvermittelt ein

Als die junge Frau schlurfenden Schrittes auf

Stephanie Gräve, Intendantin des Vorarlber-

Ende. ­ Amfortas’ Schmerz steht für die

die leere schwarze Bühne kommt, führt sie

ger Landestheaters, verweist in einem Tele-

Kehrseite des Kapitalismus: für Müllberge

erst einmal ein paar Handlangerarbeiten aus.

fongespräch zur Bregenzer Uraufführung

und das Elend der Slums, für Umweltzer-

So muss etwa ein riesiges Rolltor im Hinter-

nicht zu Unrecht auf die Bedeutung der

störung und eine Schöpfung, die dem

grund geöffnet werden. Danach kommt sie an

Schweiz als Herkunftsort von „Geld, Parzi-

schnöden Gewinn­ streben geopfert wird.

die Rampe und sucht sich eine Person in der

val“. In Lázlós moderner Adaption des mittel-

Parzival lernt schlag­artig zu sehen. Wenn

ersten Reihe aus. Der Blick, mit dem sie die

alterlichen Epos trifft die Finanzwelt der

er erneut im Artushof einkehrt, so reicht es

erwählte Zuschauerin oder den Zuschauer

Aventiure auf Ausbeutung.

ihm nicht mehr, als „Slumbeauftragter“

fixiert, ist durchdringend und taxierend. ­

Wer Missstände anprangert und die

mit allen Vollmachten ausgestattet zu wer-

Schließlich macht sie wortlos einige kurze

Welt verändern möchte, der kommt nicht

den. Er ahnt nicht nur, sondern weiß nun:

Bewegungen, die als Anweisungen gedacht

umhin zu erläutern. Das tut Joël László,

Der Kapitalismus ist böse.

sind. Wer von ihr begutachtet wird, soll den

­bevor auch nur ein Wort gesprochen wird.

Die Bregenzer Intendantin spricht be-

Arm heben, aufstehen, sich selbst präsentie-

Lázlós Vorspann zum Drama parallelisiert

züglich der Uraufführung von einem „Kopf-

ren. Reagiert der oder die Betrachtete nicht,

die Artuswelt mit dem Kapitalismus. Dort

vergnügen“. Ob dem auch ein sinnliches Ver-

wählt sie jemand anderes aus. Am Ende die-

steht: „Wenn wir uns unter fahrenden Rit-

gnügen entspricht, lässt sich über eine

ser Begutachtung steht auf jeden Fall ein

tern etwas historisch Konkretes vorstellen

Videoaufzeichnung, die aufgrund der Pande-

letzter, geschäftsmäßiger Blick, der zu verste-

wollen, so müssen wir sie uns als Händler

miesituation die Grundlage dieser Auftritts-

hen gibt, dass man gerade so bestanden hat.

denken. In anderen Worten: als eine Vorform

kritik bildet, kaum beantworten. Was sich

Dieses kurze Vorspiel ist der einzige

von Kapitalisten.“ Parzivals kindliche Sehn-

dem Zuschauer auf beklemmend unterhalt­

Moment in Christian Schäfers Uraufführung

sucht nach der glänzenden Ritterwelt setzt

same Weise erschließt, sind die inhaltslosen

von Nora Gomringers Stück „Oinkonomy“, in

Lázló mit einer naiven, aber äußerst wirk-

Selbstbespiegelungen der Wirtschaftslibera-

dem jemand aus dem Publikum tatsächlich

mächtigen Faszination für Reichtum und

len im permanenten Ego-Modus. Das kollek­

mitspielen soll. Aber er wirkt nach. Denn in

Macht gleich. Mein Pferd, meine Rüstung,

tive Inszenierungsprinzip bildet dazu ein Ge-

diesem stummen Austausch zwischen Bühne

meine Potenz – mein Geld.

gengewicht. Fast jedes Ensemblemitglied

und erster Reihe offenbart sich der Kern von

Hilflos wie bei Wolfram von Eschen-

darf auch Parzival spielen. Das wirkt bis zur

Schäfers Inszenierung, die aufgrund der gel-

bach erscheinen die Bemühungen der Mutter

Amfortas-Peripetie überzeugend. Aber sind

tenden Hygienebestimmungen auf der großen

Herzeloyde, ihren Sohn vor den Verheißungen

wir alle auch dann noch Parzival, wenn er

Bühne des Gütersloher Theaters gespielt

des Neoliberalismus zu bewahren. Noch geht

sich radikal wandelt? Die Ersetzbarkeit der

wird. Es gibt keine Barriere zwischen Bühne

es dem kindlichen Parzival in Lázlós Bear­

Parzival-Figur fügt sich ein in die allegori-

und Parkett, keine vierte Wand, die einen in

sche Lesart von Stück und Inszenierung. Da-

Sicherheit wiegen könnte.

Auch in der mittelalterlichen Ritterwelt war nicht alles Gold, was glänzte – Joël László schafft mit seiner modernen „Parzival“Version in Aarau und Bregenz ein Kopf­ vergnügen. Foto Anja Köhler

rin wird die Geschichte lebenslangen Irrens

Das Publikum ist jederzeit Teil des Ge-

und Suchens in eine Parabel des plötzlichen

schehens. Es wird fortwährend von den bei-

Erkennens transformiert. Ein Schwenk, der

den Spielenden anvisiert und auch angespro-

an Deutlichkeit kaum zu überbieten ist. Die

chen. Damit ist es unmöglich, sich einfach

Uraufführung arbeitet sich an unseren Kom-

nur zurückzulehnen und Nora Gomringers

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auftritt

/ TdZ Januar 2021  /

Geschäftsmäßiger Blick – Die Fleisch­ beschau spielt eine große Rolle in Nora Gomringers Stück „Oinkonomy” über die Zustände in Schlachtbetrieben, hier mit Frank Siebenschuh. Foto K.U. Oesterhelweg

„Mr. T“ – in alle Welt verkaufen wird. In dieser Doppelrolle spielt Siebenschuh auf ironische Weise mit Bildern von Macht und Reichtum. Während er Telegenos als tumben Macho anlegt, der von einem Hochsitz Jagd auf Wildschweine macht, steht Circe für die schillernden Verlockungen des Geldes. Doch in beiden ist das Menschsein als Ausdruck von Amoral und Fressen direkt auf den Punkt gebracht. //

Sascha Westphal

HALLE Diskurs-Karaoke poetischen Mash-up aus antiken Mythen und

Berger zweimal im Verlauf der Inszenierung

NEUES THEATER HALLE: „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ von Annelies Verbeke Regie, Ausstattung und Video Niko Eleftheriadis

heutigen Skandalen gleichsam wie ein exqui-

am Klavier sitzend eine extrem melancho­

sites Mahl zu konsumieren. Das für das Thea-

lische, einem direkt ins Herz schneidende

ter Gütersloh geschriebene Auftragswerk ist

Version von Morrisseys „Life Is a Pigsty“ an-

zwar eine direkte Reaktion auf den Covid-

stimmt. Sie spielt eben nicht nur ein Schwein,

19-Ausbruch

Fleischerei-Groß­

das seinem Schicksal erbarmungslos ausge-

betrieb im nahe gelegenen Rheda-Wieden-

liefert ist. Sie ist zugleich auch einer der

brück, der im Sommer zu einem extrem

Menschen, die auf der mythischen Insel Aiaia

teuren Lockdown im Kreis Gütersloh geführt

von der Helios-Tochter und Hexe Circe in

In der Redaktion des progressiven Magazins

hat. Aber es ist kein Tendenzstück, das ein-

Schweine verwandelt wurden. Wie Odysseus’

Cult Weekly werden von Mansplaining bis

fach die Zustände in der Fleischindustrie an-

Männer in Homers Epos hat auch sie ihren

Cancel Culture alle Schlüsselbegriffe der De-

klagt wie vor einigen Jahren Christoph Nuß-

menschlichen Verstand behalten und kann

batten um Diskriminierung und Privilegien

baumeders „Das Fleischwerk“.

nun von beiden Seiten sprechen, vom Men-

einmal durchgespielt. Auslöser der Diskus­

Nora Gomringer und Christian Schäfer

schen wie vom Schwein. Das ist in einigen

sion ist eine vermeintlich rassistische Dar-

erzählen durchaus drastisch von den Zustän-

Momenten, in denen Berger regelrecht auf-

stellung auf dem aktuellen Cover. Illustratorin

den in den großen Schlachtbetrieben. Ihr ei-

blüht und mit einem schelmischen Charme

Lesley wollte damit eigentlich eine „Ode an

gentliches Augenmerk gilt jedoch der Frage,

fatale Verstrickungen offenlegt, höchst erhel-

die schwarze Frau“ schaffen. Redakteur Tom,

was es eigentlich bedeutet, ein Mensch zu

lend, in anderen nur niederschmetternd. So

gespielt von Erik Born, erinnert die Darstel-

sein. Und daran schließt sich sogleich eine

scheint sie einmal das gesamte Gewicht des

lung eher an eine Karikatur von Sarah Baart-

zweite Frage an. Was verbindet wiederum die-

eisernen Vorhangs zu tragen und verdeutlicht

mann, die als „Hottentotten-Venus“ in Lon-

ses „Menschsein“ mit dem „Schweinsein“,

damit auf simple Weise unser aller Kompli-

don zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftrat.

dem Leben und Sterben als Nutztier? Einmal

zenschaft.

Weil sie ein ausladendes Gesäß hatte, wurde

in

einem

verkündet die von Miriam Berger gespielte

Um Komplizenschaft geht es auch

sie dort als „exotische Schönheit“ in Shows

junge Frau, die im Programmheft einfach nur

­Circe. Frank Siebenschuh spielt sie im ele-

gezeigt. Diesen Bezug zur britischen Kolonial­

als „Schwein“ geführt wird: „Schweinsein ist

ganten schwarzen Abendkleid als Verführerin

geschichte hatte Lesley nicht im Sinn. So sei

Moral und Fressen direkt auf den Punkt

und Showstar. Wenn er zu Beginn das Publi-

halt ihr Stil. Außerdem liest die schwarze

­gebracht.“ Eine zutiefst mehrdeutige Aussa-

kum in seinem Reich, der Klage-Insel Aiaia,

Frau sogar ein Buch. Das müsse doch vor

ge, die zum einen auf die soziale Kompetenz

begrüßt, dann „becirct“ er es nur, um es zu-

Rassismusvorwürfen schützen. Im Shitstorm,

von Schweinen verweist und zum anderen da-

gleich von dem abzulenken, was passieren

der sich in den sozialen Medien formiert, wird

ran erinnert, dass es vor dem Gefressen­

wird. Natürlich wird die Hexe alle, die es an

das anders gesehen. Um dem Schlimmsten

werden kein Entkommen gibt. Das Leben des

ihr Gestade verschlägt, in Schweine verwan-

zuvorzukommen, versucht das Kollektiv ge-

Schweins als Brennspiegel der menschlichen

deln, die dann ihr ebenfalls von Siebenschuh

meinsam mit Redakteurin Inga, die von Nora

Existenz. Dazu passt dann auch, dass Miriam

verkörperter Sohn Telegenos – für Freunde

Schulte mit perfekter „Girl-Boss“-Attitüde


/ TdZ  Januar 2021  /

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Streitgespräche über strukturelle Diskriminierung in flippiger Sekt- und Spiellaune – Annelis Verbekes „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ in Halle, hier mit Kinga Schmidt und Erik Born. Foto Anna Kolata

dargestellt wird, eine Pressemitteilung zu formulieren. Bei dem Versuch driften sie in Sektlaune in überdrehte Streitgespräche über strukturelle Diskriminierung und individuelle Kränkungen ab. Schon der Auftakt der Aufführung macht klar, dass es sich hier nicht um eine triste Zurschaustellung von Betroffenheit handelt. Die Schauspielerinnen treten mit Gerte und Reitoutfits auf den Laufsteg, der von der kahlen Bühne in den Zuschauerraum ragt, und dressieren den weißen Mann. Wie der Titel des Abends „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ vorgibt, macht sich Tom in echter Manspreading-Manier schnell wieder auf der Bühne breit und erfindet

sich

eine

eigene

Diskriminierungs­

geschichte. In der Schule habe man ihn wegen seiner roten Haare gehänselt. Als Beweisstück zeigt er ein Video, in dem er im Gängelkreis der Mitschülerinnen zu sehen ist. So verfährt die Inszenierung von Niko Eleftheriadis immer wieder. Erst wird pathetisch das eigene Schicksal inszeniert und anschließend in der Übertreibung ins Lächerliche gezogen. Bei Letzterem bricht dann über die Sketchfilmchen und Karaokeeinlagen sogar Farbe in die kalte und ach so aufgeklärte Medienwelt

kes Text, der vom schnellen Schlagabtausch

ein. Klar wird: Hier stehen drei sehr privi­

auf der Bühne lebt, verleitet tatsächlich dazu,

legierte Personen auf der Bühne, die ihre

an der falschen Stelle zu lachen, also dann,

­Partystimmung auch bei Rassismusvorwürfen

wenn vorgeführt wird, wie man es nicht macht.

nicht verliert. Das gilt ebenso für Lesley, die

Das wirkt nicht moralisierend, sondern stellt

Kinga Schmidt zwischen proletarischem und

die Oberflächlichkeit kursierender Sprachkodi-

bürgerlichem Habitus changierend spielt. Sie

zes bloß, die nicht nur bei Cult Weekly mit

erzählt zwar von ihrer schwierigen Zeit als Ar-

einer inhaltlichen Beschäftigung verwechselt

beiterkind an der Kunsthochschule, in der sie

werden. Es reicht eben nicht, eine öffentliche

Klos putzen musste, während ihr Kommili­

Entschuldigung für Kolonialismus zu verle-

tone Teddybären mit Scheiße gefüllt hat, aber

sen, wie es Lesley an einer Stelle tut, und den

das mündet nicht in einer Eliten-Kritik, son-

einzigen nicht weißen Mitarbeiter nach seiner

dern im Wunsch dazuzugehören.

Meinung zu fragen, wenn das rassistische

MÜLHEIM Trüffel-Gnocchi an Lars-von-Trier-Klößchen THEATER AN DER RUHR: „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ von Lars von Trier und Charlotte Beradt als Livestream Regie Philipp Preuss Bühne Ramallah Aubrecht Kostüme Eva Karobath

Nachdem sie das ABC der Political

Bild schon gedruckt ist. Struktureller Rassis-

Correctness einmal an den eigenen Fehltritten

mus wird an diesem Abend nicht aufgelöst.

durchbuchstabiert haben, erinnern sie sich an

Stattdessen wird der Pop-Diskurs vorgeführt,

die drohende Katastrophe, den Shitstorm.

der vorgibt, genau dies zu tun, dessen Fans

Sonntagabend. Totensonntag. Das Internet

Kaum aber haben sie angefangen, über die

aber lieber zum Playback von Madonna sin-

scheint etwas instabil, zu viele Leute gucken

beste Formulierung der Pressemitteilung zu

gen. Das ist in der rasanten Überspitzung auf

im Homeoffice „Tatort“. Das Theater an der

streiten, sind sie auch schon verschwunden,

der Bühne sehr komisch und entlarvt zugleich

Ruhr hat sich etwas Besonderes einfallen las-

und nur der Satz „Have you confessed?“ bleibt

das eigene Sprechen aus einer privilegierten

sen: die Adaption eines Lars-von-Trier-Films

stehen: „Hast du gestanden?“ Annelies Verbe-

Position. //

Lara Wenzel

als Livestream, gefilmt mit vier Kameras.


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/ TdZ Januar 2021  /

Hätte getrost noch gruseliger und abgrün­ diger sein können – Steffen Reuber, Albert Bork und Dagmar Geppert im Livestream „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ aus Mülheim. Foto F. Götzen

ziellen Kern der Geschichte. Ohnehin ist die Regie damit beschäftigt, Surrogate für den Thrill des Films zu finden. ­Es ist ein Experiment und sollte auch so verstanden werden. Man wird sehen, wie der Abend auf der Bühne und mit Zuschauern funktioniert. Als Stream, als Making-of, als Lebenszeichen war er leidlich interessant. Die Kamera-Arbeit scheint noch ausbaufähig: Die Zentralperspektive, aus dem Zuschauerraum in die Bühne hinein, bleibt dominierend; das fällt natürlich umso mehr ins Gewicht, wenn es sich um die Adaption eines nicht eben uneleganten Films handelt, dessen klassische Thrillerdramaturgie nicht gering zu schätzen ist. Die in Mülheim erzählte Fassung hätte

­Titel: „Europa oder die Träume des Dritten

„Europa“ ist letztlich eine etwas krude Mi-

Reichs“. Der Monitor zeigt einen größeren

schung aus Kafkas „Amerika“, Luchino Vis-

getrost noch gruseliger, gespenstischer, ab-

Screen und drei kleinere. Unten links sieht

contis „Fall der Götter“ und Niklaus Schil-

gründiger sein dürfen. Es gibt keinen wir-

man die Maskenbildnerei. Unten rechts

lings bizarr-gruseligem „Rheingold“-Film aus

kungsvollen Schluss. Spätestens wenn Seidl

kocht der Schauspieler Rupert J. Seidl

den Siebzigern (nicht zu verwechseln mit der

drei männlichen Spielern auf der Bühne

Kartoffeln. Es gibt Gnocchi mit Trüffeln, ­

Wagner-Oper: „Rheingold“ war der schmü-

­seine Trüffel-Gnocchi serviert und diese ge-

aber das stellt sich erst nach und nach her-

ckende Name einer Zuglinie). Nebenher

mächlich verzehrt werden, denkt man sich:

aus. Auch die ­ Zubereitung einer Mahlzeit

zitiert der von Philipp Preuss inszenierte ­

Okay, es ist halt eine Performance, da nimmt

unterliegt einer ausgefeilten Spannungs­

Abend, aus naheliegenden Gründen, den

man den Plot nicht übertrieben ernst. Man

dramaturgie.

noch älteren Von-Trier-Film „Epidemic“ sowie

lehnt sich zurück und bedenkt die Tücken des

„Europa“ ist ein Werk des jungen Lars

den Band „Das Dritte Reich des Traums“

Homeoffice. //

von Trier aus dem Jahr 1991. Es spielt 1945

(1962), in dem Charlotte Beradt Träume

in Deutschland, in der unmittelbaren Nach-

sammelte, die zwischen 1933 und 1939 in

kriegszeit. Der Deutschamerikaner Leopold

Nazi-Deutschland geträumt wurden. Man

Kessler kommt in das zerbombte Land, um

folgt der Kamera in die schier unendlichen

auf Vermittlung seines Onkels Schlafwagen-

Zimmerfluchten des Theaters an der Ruhr, ei-

schaffner zu werden. Es handelt sich erkenn-

nes ehemaligen Heilbads. Seidl, mit Alltags-

bar um eine Umkehrung der Situation aus

maske, ist inzwischen dabei, den Teig zu

Franz Kafkas „Amerika“-Roman: Vielleicht

Schlangen zu formen, die dann in Klößchen

hat ja auch Kessler daheim in Virginia oder

zerschnitten werden. So ähnlich verfährt

wo auch immer ein Dienstmädchen ge-

Preuss auch mit dem Plot des Films. Von-

schwängert. Albert Bork stattet den Protago-

Trier-Klößchen sozusagen. Das muss nicht

nisten jedenfalls durchaus mit kafkaesken

unbedingt ein Fehler sein, Unterbrechungen

Zügen aus, einfältig und widerborstig zu-

und Abschweifungen sind bei dieser Art der

gleich. Aber vor allem einfältig. Er verliebt

szenisch-filmischen Präsentation Teil der Ver-

sich in die Tochter des Eisenbahn-Magnaten

abredung.

Martin Krumbholz

TÜBINGEN Argumentations­ splittergranaten INSTITUT FÜR THEATRALE ZUKUNFTSFORSCHUNG / ZIMMERTHEATER TÜBINGEN: „Wie ein zarter Schillerfalter“ von Peer Mia Ripberger Regie Peer Mia Ripberger Ausstattung Raissa Kankelfitz

Hartmann, die sich später, gespielt von Dag-

Theater, Video, Film und Traum: Das

mar Geppert, als Werwolf entpuppt. Kessler

sind indessen schon vier Ebenen, die vonein-

gerät zwischen die Fronten im zerrissenen

ander geschieden sein wollen. Und Träume

Deutschland: Altnazis und Partisanen gegen

auf der Bühne sind nicht selten Spannungs-

Die Erinnerung an ausgelassene Urlaubs­

die Pioniere des Wiederaufbaus. Am Schluss

killer. Wie ernst soll man die Fiktion in der

reisen mit den Freunden ist verblasst. Unbe-

soll Kessler im Zug eine Bombe deponieren

Fiktion nehmen? Decodiert man sie als Traum

schwerte Momente gibt es nicht mehr. In Peer

und kommt dabei ums Leben.

und nichts anderes, sabotiert sie den existen-

Mia Ripbergers Text „Wie ein zarter Schiller-


/ 43 /

falter“ tanzt die Hauptfigur Sarah in den Sui-

den Farben spiegelt sie die wirre Welt der

zid. Wie feiner Sand zerrinnt ihre Sprache in

Schmetterlinge. Einige Filmsequenzen sind

einer Wirklichkeit, die sie nicht begreift: „Ver-

im Freibad gedreht. So lässt die Videokünst-

wundet im Konversationskrieg. Argumenta­

lerin die Wirklichkeit verschwimmen.

Wachsender Druck in der Arbeitswelt und Mobbing-Attacken der Mitmenschen – Peer Maria Ripberger gelingt in Tübingen ein wichtiges Stück über Depression und Suizid. Foto Alexander Gonschior

tionssplittergranate. Leere Worthülsen über-

Im Gegensatz zu dieser filmischen

all.“ Sprachgewaltig zeigt der ­Regisseur und

Ästhetik ist das Raumkonzept von Raissa ­

Autor die Zerrissenheit einer jungen Frau, die

Kankelfitz eher schlicht. So lenkt sie die Kon-

er in multiple Persönlich­keiten zerlegt. Immer

zentration auf das Ensemble. Schwarz glän-

nicht mehr standhalten kann. Ihre Hilferufe

wieder kratzt er die p ­ oetische Textfläche mit

zende Kostüme verleihen den Figuren etwas

verhallen ungehört.

dramatischen Dialogen auf. Das klingt unruhig,

Geheimnisvolles. Auch die Musik öffnet Hori-

Dem setzt Mario Högemann als ihr

manchmal auch ungestüm. Im historischen

zonte. Der Komponist Konstantin Dupelius

skrupelloser Geschäftspartner eine grausame

Kino Löwen ließ die Stadtverwaltung Tübingen

verzerrt die Metamorphose der jungen Frau

Ignoranz entgegen, die sich in Machtspielen

eine große Bühne bauen. Am neuen Spielort

mit elektronischen Albtraum-Klängen in die

entlädt. Roman Pertl findet sich wunderbar in

gelingt dem Institut für theatrale Zukunftsfor-

Zeitlupe. Erst peitscht er das Tempo hoch,

die Sprache des Tanzes hinein – ebenso wie

schung (ITZ), wie das junge Leitungsteam das

dann plätschern die Töne ins psychedelische

Katharina Rehn. Behutsam ziehen die beiden

Zimmertheater in der Bursagasse inzwischen

Nichts. Dazu hat Choreograf Edan Gorlicki

Sarah auf die dunkle Seite. Immer wieder

nennt, ein betörend schöner Totentanz. Zart

mit dem vierköpfigen Ensemble eine Choreo-

streuen die Performer eigene Zeiterfahrungen

und verletzlich wie Schmetterlinge zeichnet

grafie entwickelt, die das Sterben der Liebe

ein – etwa, wenn es um den wachsenden

der Autor die Menschen.

und des Lebens in große Körper-Bilder fasst.

Druck in der Arbeitswelt geht. Ihre Bewegun-

Mit der Uraufführung feierte das

Im Tanz werden Erinnerungen wach – an

gen wirken authentisch, da ist nichts geküns-

­Theater die Neueröffnung der Spielstätte ge-

Demütigungen ebenso wie an vergessene ­

telt. „Wie ein zarter Schillerfalter“ handelt

rade noch rechtzeitig vor dem Lockdown im

Freude. Mit den fein gewebten Bewegungs-

von Liebe, Schmerz und dem Lebenskampf

­November. Auf der neuen Bühne haben die

mustern übersetzt Gorlicki die sinnlichen

junger Menschen, die an Ängsten und an

Spieler deutlich mehr Platz als im Gewölbe-

Schichten der Sprache.

­ihrer entsetzlichen Einsamkeit zerbrechen.

keller des Zimmertheaters. Das bot Peer Mia

Den Lebenskampf der Protagonistin

Am neuen Spielort entfaltet das junge

Ripberger nicht nur die Chance, in Zeiten der

Sarah bringt nicht nur der Chor der vier

ITZ-Team neue künstlerische Qualitäten.

Corona-Pandemie mit dem geforderten Ab-

Schauspieler trefflich zur Geltung. Anaela

Längst haben sich die Künstlerinnen und

stand zu inszenieren. Der Co-Intendant, der

Dörre wächst in der Rolle der jungen Frau, die

Künstler von der Performance hin zur ästheti-

das Haus mit seinem Mann Dieter Ripberger

am Leben zerbricht, über sich hinaus. Ängst-

schen Vielfalt bewegt. Nicht zuletzt ihr virtu-

leitet, schöpfte vor allem die neuen künstleri-

lich kauert sie auf dem Boden. Karge Gesten

oser Umgang mit den Möglichkeiten des digi-

schen Möglichkeiten voll aus. Auf drei riesi-

verraten den seelischen Schmerz der Ge-

talen Theaters, den der Dramaturg Ilja Mirsky

gen Leinwänden zeigt Katharina Eckold ihre

scheiterten, die den Mobbing-Attacken ihrer

beflügelt, macht Lust auf dieses Theater der

klug komponierte Videokunst. Mit schillern-

Mitmenschen in der Leistungsgesellschaft

Zukunft. //

Elisabeth Maier


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stück

/ TdZ Januar 2021  /

Dem Kuschelmuschelwohlfühlzeug glaube ich nicht Die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf über ihr Stück „Der goldene Schwanz“ im Gespräch mit Christine Wahl Frau Kricheldorf, Ihr neues Stück „Der goldene

Ich fand es interessant, dieses Aschenputtel-

Ecke sitzt und Opern hört: „Mom, Dad macht wie-

Schwanz“ ist eine Aschenputtel-Variante. Was

Modell so radikal dagegenzusetzen und seiner-

der einen auf Bildungsbürger! Dad wertet mich

interessiert Sie am Märchen vom armen, inner-

seits wiederum von den Sistas infrage stellen

ab! Dad verhindert, dass aus mir eine selbst­

familiär gemobbten Mädchen, das in der Küche

zu lassen: Führt dieses Konzept wirklich in die

bewusste junge Frau ohne Komplexe wird!“

beim Aschekübel schlafen muss und am Schluss

totale Unabhängigkeit und dieses viel zitierte

Es war mir sehr wichtig, dass die Sistas nicht

den Prinzen bekommt?

selbstbestimmte großartige Leben, oder landet

irgendwie nur die knuffigen, kleinen, sozial

Was mir ins Auge sprang, war diese ungeheure

man als Taxifahrerin mit Hochschulabschluss

schwachen Opfer sind, sondern über sich

Aufstiegssehnsucht. Die finde ich in den Be-

in einer wurmstichigen Bude und ist dann aus

selbst Bescheid wissen. Ich habe bei diesem

arbeitungen, die es von diesem Märchen gibt,

dieser Perspektive auch wieder unfrei?

Stück tatsächlich länger als sonst nach dem Sound der Dialoge gesucht, weil es ja um eine

bisher verhältnismäßig wenig thematisiert. Deshalb haben mich auch Aschenputtels

Mit anderen Worten: Weder der goldene Schwanz

sogenannte prekäre Familie geht, die sich

Stiefschwestern sehr interessiert.

im Haus noch die Bohrmaschine in der eigenen

selbst auch durchaus als Unterschicht be-

Hand führen ans Ziel aller Träume.

zeichnet. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden,

Die heißen bei Ihnen die Sistas und bekommen

Das Ziel aller Träume ist ein gutes Stichwort,

als Autorin von oben auf dieses Milieu draufzu-

von ihrer Mutter folgenden Merksatz mit auf

denn das ist genau das, was das Stück infrage

schauen. Deshalb reißen Mom und die Sistas

den Lebensweg: „Greift nach dem goldenen

stellen will. Nicht nur, weil es individuell wahr-

immer so eine Quasi-Bourdieu’sche Metaebene

Schwanz! Gebt euch nicht ab mit einem silber-

scheinlich selten erreicht wird, sondern vor

auf, die sie vor dem Opferstatus bewahrt.

nen oder gar bronzenen oder gar blechernen.

­allem, weil die Träume ja möglicherweise sehr

Nein! Der goldene ist gerade gut genug für

unterschiedlich sind. Wer bin ich denn, jemand

Viele Ihrer Stücke spielen eher im bürgerlichen

euch!“ Rechnen Sie im Zuschauerraum des

anderem vorzuschreiben, wie sein Traum vom

Milieu.

­Theaters Kassel, wo das Stück herauskommen

guten Leben aussehen sollte – beziehungs­

Ich finde es immer schwierig, Leute kritisch-

wird, mit feministischen Protesten?

weise wovon er überhaupt zu träumen hat?!

satirisch zu beleuchten, die gar nicht mit im Raum sind. Deswegen ist das – mal ganz sa-

(Lacht.) Nö. Zumindest wüsste ich nicht, wogegen sich diese Proteste richten sollten, weil es

Zurzeit kann man im Theater – gerade was

lopp gesagt – linke Bildungsbürgertum, in dem

nun einfach mal so ist, dass wir in einer Welt

­Frauen und Frauenfiguren betrifft – viele Abende

ich mich selbst verorten würde und dem wahr-

leben, in der die Praxis des Hochheiratens

mit durchaus klarer Zielvorstellung sehen:

scheinlich auch fast alle anderen angehören,

nach wie vor breite Anwendung findet. Das

Empowerment.

die im Theater auf der Bühne stehen und im

trifft natürlich umso stärker zu, je mehr Armut

Ich finde das Bedürfnis nach Empowerment

Zuschauerraum sitzen, für mich als Sujet prin-

herrscht. Bei uns, heißt es gern, gibt’s das

absolut verständlich. Allerdings halte ich das

zipiell interessanter. Natürlich gibt es große

nicht mehr. Aber selbst wenn man sich in der

Theater für das falsche Medium dafür. Da soll-

Übel in der Welt wie die AfD oder Donald

eigenen linksliberalen Blase umschaut, wie

te man zum Life-Coaching gehen oder viel-

Trump. Aber ich finde es ein bisschen wohlfeil,

viele Frauen dort Männer geheiratet haben, die

leicht in die Politik. Persönlich kann ich mir

immer wieder dieselben offenen Meinungs­

statusmäßig über ihnen stehen, oder wie viele

zum Empowern auch eine Motivationskassette

türen einzurennen. Statt Leuten, die das eh

angeblich auf­geklärte Frauen dann doch große

anmachen. Das Theater kann so viel mehr

schon längst wissen, von der Bühne herab im-

Probleme ­haben, jemanden zu ehelichen, der

sein, vielschichtig, verstörend und ambivalent.

mer wieder zuzurufen, dass Trump blöd ist,

weniger Geld hat als sie, dann glaube ich, dass

Ich versuche ja immer, mich in jede Figur em-

finde ich es spannender zu schauen, welche

das nach wie vor ein großes Thema ist.

pathisch hineinzuversetzen – das verträgt sich

Selbstgewissheiten in unserem eigenen Milieu

schlecht mit Propaganda, wofür auch immer.

zu einer gewissen Arroganz oder Blindheit in

Allerdings nicht für Aschenputtel. Die läuft in

der Eigenwahrnehmung führen.

Ihrem Stück im Blaumann durch die Wohnung,

Sie statten Ihr Stückpersonal zudem mit hoher

stürzt sich mit Akkuschrauber und Bohrmaschine

Diskursfitness aus. Die Sistas sind mit allen iden-

Was ist denn der größte blinde Fleck zurzeit?

auf jedes ansatzweise angeknackste Möbel-

titätspolitischen Wässerchen gewaschen, wenn

Ich glaube schon, das ist dieses Sich-selbst-­

stück und hält dabei belesene Referate gegen

sie sich bei Mom über Dad beschweren, der den

dafür-auf-die-Schulter-Klopfen, dass man auf

die soziale Ungleichheit.

ganzen Abend schweigend mit Kopfhörern in der

der richtigen Seite steht. Es liegt mir zum


/ TdZ  Januar 2021  /

rebekka kricheldorf_der goldene schwanz

halte ich für extrem problematisch. Leute von bestimmten Dingen fernzuhalten, weil man der Meinung ist, sie könnten kontaminiert werden, hat etwas zutiefst Pädago­ gisches und Paternalistisches. Ich finde es ganz gut, als Erwachsene behandelt zu werden! Apropos Pädagogik und Paternalismus: In Ihrem Stück „Homo empathicus“ haben Sie vor sechs Jahren eine Gesellschaft entworfen, die sämt­ liche negativen Gefühle eliminiert. Wer welche hat, wird zum „Wegsprecher“ geschickt. Damals fing das ja an mit dieser sogenannten Awareness-Kultur. Man sollte ein Achtsamkeitstagebuch führen: die Psychotherapisierung des Alltagslebens! Mich interessiert immer, wie solche Trends in den allgemeinen Sprachgebrauch einfließen. Ich glaube diesem Kuschelmuschelwohlfühlzeug einfach nicht. Wo soll die Negativität denn hin? Die ist ja in der Welt, und ich denke, es gibt keine andere Möglichkeit, als sie zuzulassen und bestmöglich zu kanalisieren. In Ihren Stücken funktioniert das ja erstklassig mit Humor. Halten Sie den Witz für ein ErkenntRebekka Kricheldorf, geboren 1974 in Freiburg im Breisgau, lebt als Autorin in Berlin. Sie studierte Romanistik an der Humboldt-Universität und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. 2003 wurde sie für „Kriegerfleisch“ mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet, 2010 erhielt sie für „Villa Dolorosa“ den Förderpreis für Komische Literatur der Stadt Kassel. Insgesamt drei ihrer Werke, „Die Ballade vom ­Nadelbaumkiller“, „Alltag & Ekstase“ und „Fräulein Agnes“, wurden in den vergangenen Jahren zu den Mülheimer Thea­ ­ tertagen eingeladen. 2019 wurde Kricheldorf mit der Saarbrücker Poetikdozentur für ­Dramatik geehrt. Im Februar 2021 erscheint ihr erster Roman „Lustprinzip“. Ihr Stück „Der goldene Schwanz“ wird am Staatstheater Kassel uraufgeführt. Foto Robert Frank

nisinstrument? Auf jeden Fall. Humor hat viel mit Distanz zu tun, zu sich selbst genauso wie zu den Figuren. Wenn dagegen alles, was diese Figuren verkörpern, in irgendeiner Weise ­ von einem selbst, also dem Privatleben der Autorin, beglaubigt werden muss, gibt es keinen Witz mehr und verschwindet der ­Humor. Ich beobachte, dass sich in viele Diskurse –

Beispiel total fern, Corona-Leugner zu vertei-

Ja, es wird ziemlich schnell der Kontakt abge-

zum Beispiel den feministischen – wieder eine

digen. Aber dass jeder, der nicht aus der eige-

brochen. Ich erinnere mich zum Beispiel da­

Art ­Essenzialismus einschleicht. Während in der

nen Blase kommt und eine leicht abweichen-

ran, wie die Autorin Margarete Stokowski ein-

Postmoderne das Geschlecht als soziales Kon­

de Meinung vertritt, Gefahr läuft, mit

mal schrieb, dass sie in einer Buchhandlung,

strukt galt – was viele Frauen und auch Männer

Radikalen in einen Topf geworfen zu werden,

die sie zu einer Lesung eingeladen hatte,

als Befreiung empfanden –, erleben plötzlich

halte ich für gefährlich. Man sollte sich schon

nicht aufgetreten sei, weil der – übrigens

Kategorien wie „der weibliche Blick“ eine

fragen, welche Bedingungen welche Haltun-

­linke – Buchhändler in seinem Laden auch

­Renaissance.

gen generieren, statt sich permanent dafür zu

rechtspopulistische Literatur anbot. Er findet,

Ja, unter der Flagge der emanzipatorischen

gratulieren, dass man im Bio­laden kauft. Viel-

dass die Menschen ein Recht darauf haben,

Bewegung ­

leicht gibt es ja Grundbedingungen, die den

sich ihre eigene Meinung zu bilden. Ich halte

„Female Perspectives“ oder „Weibliches ­

anderen davon abhalten, ethisch zu konsu-

es nie für verkehrt, die Argumente der Gegen-

Schreiben“ zurück. Auf diese Zuschreibun­

mieren. Da muss man wirklich aufpassen,

seite zu kennen, denn nur, wenn man weiß,

gen reagiere ich allergisch, ich finde das total

dass man nicht zu selbstgefällig wird, zumal

worüber man redet, kann man das richtig ein-

sexistisch. Als habe mein Schreiben be­

ich tatsächlich merke, dass der Ton sich ver-

ordnen. Wo liegen die wirklichen Gefahren,

stimmte Eigenschaften und Charakteristika,

schärft und eine Frontenverhärtung eintritt.

gegen die man angehen muss, oder wo wird

allein wegen die Tatsache, dass ich eine Frau

eventuell nur hysterisiert? Aber mit dieser

bin. Für mich ist das eine Reduktion von

Man lässt sich immer weniger auf Diskussionen

Haltung macht man sich schon verdächtig.

­Persönlichkeitsanteilen und eine Verarmung

ein.

Das heißt ja heute Kontaktschuld, und das

von Perspektiven. //

kommen

Veranstaltungen

wie

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stück

/ TdZ Januar 2021  /

Rebekka Kricheldorf

Der goldene Schwanz Eine Aschenputtel-Variante nach den Brüdern Grimm

Sista starrt auf einen Screen und macht Gymnastik. Aschenputtel, im Blaumann, läuft mit HandwerkerArtikeln durchs Bild, trägt mal eine Leiter, mal eine Säge, mal eine Bohrmaschine. Dad sitzt mit riesigen Kopfhören auf den Ohren im Sessel, fuchtelt theatra­ lisch im Takt einer Musik, die nur er hört. Das loopt so eine Weile vor sich hin, bis Taube & Taube wieder ­herbei trippelt und die Geschichte mit gebieterischem Flügelschlag anschubst.

2. GEWONNEN!

PERSONEN: Aschenputtel Mom Dad Sis Sista Prinz Taube & Taube

INTRO TAUBE & TAUBE Es war einmal, vor langer, langer, nicht allzu langer Zeit, uns war‘s, als sei‘s gestern erst gewesen, also tausend Jahre her, als das Wünschen Voodoo Beten Investieren noch geholfen hat, da begab es sich, dass / Oh. Wir vergaßen, uns vorzustellen. Taube & Taube. Pause. Nein, nicht Taube. Taube & Taube. Pause. Ja, wir sind zwei Tauben. Pause. Wenn Sie jetzt schon alles besser wissen, wie wollen Sie das ganze Märchen überstehen? Sie müssen sich auch mal fallen­ lassen in so eine Geschichte. Den Erzählerinnen, in dem Fall uns, vertrauen. Was, glauben Sie, ist der Grund, warum so eine Geschichte jahrhunderte­ lang erzählt wird? Weil sie so falsch, dumm und nichtssagend ist? Also: Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da verkauften Frauen ihre Körper. Da bezeichneten wütende amerikanische Feministinnen die Ehe als Prostitution auf Zeit. Da schrieben russische Autorinnen Ratgeber mit Titeln wie WIE ANGLE ICH MIR EINEN MILLIONÄR? Da zerschlugen Koreanische Youtuberinnen vor laufender Kamera aus Protest gegen den Schönheitswahn ihre Kosmetika mit Hämmern. In dieser düsteren, grauen Zeit, die göttinseidank längst hinter uns liegt, also begab es sich, dass ein alleinerziehender Dad auf eine allein-

erziehende Mom traf. Trafen sie sich live? Im Internet? Wir wissen es nicht, und es soll für unsere Geschichte auch nicht bedeutsam sein. Wir müssen nur wissen, dass drei Töchterlein in diese Patchwork-Familie eingebracht wurden, nämlich Sis, Sista und Aschenputtel. Sis und Sista waren körperbewusste Teenies, von Verschönerungsvideos influenzt, und hingen den ganzen Tag vor dem Bildschirm, gefangen in der Traumwelt der Serien und Soaps. Noch, so sagten sie sich, wird hart abgehartzt, aber bald schon, bald – wird ein dicker, goldener Schwanz unseren Weg kreuzen und uns in das Leben führen, das wir uns durch unsere ­Investition in die Kapitalanlage KÖRPER verdient haben. Aschenputtel allerdings – Aber was reden wir da. Seht selbst! Küche, Innen, Tag. Irgendwo, irgendwann, eine Scheißfamilie. Und bitte. Geht. Kommt gleich nochmal zurück. Verzeihung. Wir wollten nicht Scheißfamilie sagen. Wir wollten ­sagen, genetisch mehr oder weniger verbundene Kleingruppe mit besonderen Herausforderungen. Gesellschaftsparzelle mit ungünstigen Dynamiken. Wie eigentlich jede Familie, genau. Also, im Grunde ist jede Familie eine Scheißfamilie. Können wir uns darauf einigen? Ja? Danke. Trippelt ab.

1. FAMILIENLOOP An der Wand ein gerahmtes Foto von Mom aus vergan­ genen Pracht-Tagen als Schönheitskönigin, ein Poster mit Prinz als Vampir. Darunter schnurrt die Familien­ routine ab. Bildschirme flackern. Jeder in seinem Loop gefangen: Mom, bewaffnet mit einer sehr großen, sehr billigen, eventuell sehr pinkfarbenen Haarbürste, rennt zwischen Sis und Sista hin und her und bürstet ihnen hektisch abwechselnd die Haare. Sis schmiert sich aus einem Cremetopf Creme ins Gesicht und klopft sie ein, was aber eher aussieht, als würde sie sich selbst ohrfeigen.

SIS Mom! Mom! Mom! Mom! Mom! MOM Was ist? SISTA Mom! Mom! Mom! MOM Was ist? SIS Mom! MOM Was / SISTA Mom! Sis hat schon wieder / SIS Mom! Sista hat / SISTA Sis hat schon wieder den Kajal, den ich von Clive zum Geburtstag, ich, von Clive, der war / SIS Gar nichts hat sie von Clive! Clive ist in mich / SISTA Nee, Clive ist in mich / SIS Clive ist doch nicht in dich, Clive ist in mich / SISTA Clive ist in mich / SIS In mich / MOM Sistas! SISTA Clive hat mir den Douglas Geschenkcoupon zum Sechzehnten geschenkt du miese Bitch und garantiert nicht, damit du jetzt mit meinem Kajal / SIS Nein, hat er nicht! Clive hat nicht dich gemeint, sondern mich! Da stand nämlich SIS auf dem verdammten Gutschein und du hast den manipuliert / SIS Ich hab überhaupt nichts manipuliert! Du bist manipuliert! Dein brain ist manipuliert! MOM Sis, Sista, Haare! SISTA Das war mein Geschenk! Und jetzt schmiert sich die Bitch meinen Kajal in die Fresse / MOM Hey! Slutshame deine Schwester nicht! Und nenn ihr edles Antlitz nicht Fresse! So reden wir im Hause Thausendbeauty nicht, kapiert? SIS zu Sista So reden wir im Hause Thausendbeauty nicht! Kapiert, Bitch? SISTA zu Sis Fette Sau! MOM Schnauze! SIS Hey, Mom! So reden wir doch nicht! MOM Schnauze, Kind! SIS Dad! Mom beschimpft mich! SISTA Dad! Mom ist wieder unmöglich! MOM Schnauze! Haare! ASCHENPUTTEL Geh mal weg da, bitte. Ich muss da schnell was festkleben.

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ThibaulT lac / Tobias Koch / Tore WallerT schöner scheiTern KlimaKonTor basel theater–roxy.ch


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SIS Mom! ASCHENPUTTEL Ich muss da mal ran. Hinter dir hängt die Tapete runter. SISTA Mom! Aschenputtel nervt wieder! ASCHENPUTTEL Wenn ich die Tapete, die sich hier schon leicht abrollt, wieder festkleben soll, muss ich mal ran da / SISTA Mom! MOM Aschenputtel! Kannst du das nicht später machen? Du siehst doch, dass deine Sistas / SIS Mom! Sie ist nicht meine Realsis! SISTA Meine auch nicht! SIS Dad! Dad! Sag was! Geht zu Dad und reißt das Kabel aus seinem Gerät. Es erschallt eine Oper. SIS Dad! Sag was! DAD Äh / Dad steckt das Kabel wieder rein. Oper aus. SIS Mom! Dad macht wieder einen auf Bildungsbürger! Reißt das Kabel wieder raus. Wieder Oper. SISTA Mom! Dad hält sich wieder für was Besseres! SIS Mom! SISTA Dad beleidigt mich! SIS Dad schaut auf mich runter! SISTA Dad wertet mich ab! DAD Ich mag einfach nur gern Op – / SIS Mom! Dad ist wieder fies zu mir! DAD Kinder, äh – Steckt das Kabel wieder rein und verschwindet in der Musik. SIS & SISTA Wir sind nicht deine Kinder, Dad! SIS Mom! Dad suggeriert mir wieder mit seinem Musikgeschmack, wie nichtig ich bin! SISTA Mom! Das ist so verletzend! SIS Mom! Was soll aus mir nur werden, wenn ich in meinem zarten Alter diese krasse Abwertung erfahren muss? SISTA Mom! Dad zerstört meine Seele! SIS Mom! Dad macht mein Leben kaputt! SISTA Mom! Dad verhindert, dass aus mir eine selbstbewusste junge Frau ohne Komplexe wird! ASCHENPUTTEL zu Sis Stehst du mal kurz auf, bitte? Das Stuhlbein ist ganz lose. SISTA Mom! ASCHENPUTTEL Schau, das fällt gleich ab, das Stuhlbein. Nagelt den Stuhl wieder zusammen. SIS Mom! Aschenputtel sagt ich bin fett! MOM Aschenputtel! Hör auf deine Sis zu fatshamen! SIS Sie ist nicht meine Realsis! ASCHENPUTTEL Ich hab gar nichts gesagt. SIS Du hast es gedacht! ASCHENPUTTEL Nein. SIS Wohl. ASCHENPUTTEL Nein. SIS Wohl.

ASCHENPUTTEL Nein. SIS Was hast du dann bitte gedacht? Hä? ASCHENPUTTEL Ich hab gedacht: Die sechzig reichsten Menschen der Welt, die, die genauso viel besitzen wie die sechzig Prozent der Ärmsten, werden in eine Fernsehshow eingeladen und sollen da ihre Geschichte erzählen und ein paar Vertreter der Ärmsten werden auch eingeladen und sollen auch ihr Geschichte erzählen, damit das Publikum für den stärksten Charakter oder die tollste Persön­ lichkeit oder die beeindruckendste Lebensleistung oder den tapfersten Schicksalsbezwinger oder was weiß ich voten kann, und dann geht‘s los: die Reichen erzählen von Fleiß und Idee und langen, durch­ gearbeiteten Nächten und brillanten Einfällen und Ärmelhochkrempeln und Risiko und Innovationsfreude und wie sie sich vierundzwanzig-sieben voll reinhängen, um der Gesellschaft was zurückzu­ geben. Und die Armen, die erzählen von Pech und schlechter Bildung und schwerer Kindheit und Schicksalsschlag und Job verloren wegen Krankheit und Konkurs weil Auftraggeber nicht gezahlt und Wohnung wegen Mieterhöhung verloren. Aber da protestieren die Reichen und bezichtigen die Armen der Lüge, nee, Leute, nee, so war es nicht, es war ganz anders. Und dann erzählen die Reichen die Geschichte der Armen, das klingt dann so: Trägheit und zu besoffen morgens den Arsch hochzukriegen und faule Haut und Staatsknete kassieren. Daraufhin werden die Armen ­wütend und zynisch und rufen, nee klar, Flaschensammeln fanden wir schon immer total erfüllend, da dachten wir, das wär doch ein schönes Hobby für die Rente, doch nun erzählen wir mal eure ­Geschichte, wie sie wirklich war. Und dann erzählen sie was von Elite-Internaten und vom Nazi-Opa geerbtem Raubgold und auf Zwangsarbeiter-Ausbeutung gegründeten Vermögen und Steuerbetrug. Und dann werden die Reichen wütend und zynisch, na klar, uns doch egal, wie viele Indigene die Ahnen für den Vermögensaufbau massakriert haben, Haupt­sache der Schampus perlt, und die Armen wieder, na klar, uns doch egal, wenn das Balg nicht mit kann auf Klassenfahrt und sich schämt vor den anderen Kindern, ich denk eh nur bis zum nächsten Bier, und die Reichen, na klar, mir doch egal, wenn die Abwässer aus meiner Fabrik die Weltmeere vergiften, und dann schreien sie sich an, die Armen und die Reichen, und beschimpfen sich gegen­ seitig als faule Schweine, ihr da oben, faule Erbenschweine, ihr da unten, faule TransferleistungsSchweine, und das Publikum applaudiert und das Moderatorenteam lächelt und ermahnt zur Abstimmung und dann wird gevotet. Mit dem Buzzer.

Erinnert euch an das Theater, erinnert euch an die Rampe. Und alle, die man gerade nicht sieht. Wir sind da. Und wir werden bleiben. Wir machen LAUFENDE INVENTUR.

THEATERRAMPE.DE

Stille. SISTA zu Sis Du bist ja auch fett! SIS Mom! MOM Schnauze! SIS Dad! Sista hat gesagt ich bin fett! Mom reißt das Kabel raus. Oper. MOM zu Dad Reiß dich bitte mal zusammen, ja? DAD Ich will einfach nur meine Opern / SIS Mom! Dad missbraucht mich emotional! DAD Ich will doch nur / SISTA Mom! Dad suggeriert mir wieder, dass ich eine hohle, oberflächliche Bitch ohne Musikgeschmack bin und es niemals zu was bringen werde! Dad steckt das Kabel wieder rein. Oper aus. MOM Haare jetzt! Haare! Kommt mit der großen Bürste und beginnt, Sis‘ Haare zu bürsten. SISTA Mom! Warum ist sie immer als erste dran? SIS Tja, Pech gehabt / SISTA Mom! Hör auf, mich zu traumatisieren! SIS Tja, Pech gehabt / SISTA Wenn du Sis immer bevorzugst, fühl ich mich mein Leben lang zurückgesetzt! Und diesen Mangel wird keine Liebe der Welt je kompensieren können! Mom! SIS Tja, Pech gehabt / SISTA Mom! Darf die so mit mir reden? MOM Schnauze jetzt, alle beide! SIS Mom! Schrei mich nicht an! MOM Schnauze! ASCHENPUTTEL Kann ich da mal durch, bitte? SISTA Mom! SIS Dad! Mom hat mich angeschrien! SISTA Dad! ASCHENPUTTEL Der Küchenschrank hängt schief. Ich muss da schnell mal bohren. Macht Bohr­ maschine an. MOM Schnauze jetzt! Das ist ja wie im Affenstall hier! Aschenputtel! Kannst du das nicht wann anders machen? Aschenputtel macht Bohrmaschine wieder aus. SIS Dad! Mom beleidigt mich! SISTA Dad! Mom hat mich Affe genannt! Dad! Reißt das Kabel raus. Oper. DAD Was ist denn / SIS Dad! Meine Psyche hat durch den abwesenden Realdad eh schon einen Knacks! Jetzt mach du nicht auch noch alles schlimmer! SISTA Ja, Dad! Sei mal präsent! SIS Dad! Sei nicht so ein Totalausfall! Wir kriegen nachher sooo krasse Bindungsprobleme! SISTA Dad! Sei mal ein Vorbild, du Arsch! SIS Dad! Sag was! DAD Was soll ich denn /

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SIS Dad! Sag was Daddyhaftes! SISTA Ja, sag mal was Daddyhaftes! DAD Was soll ich denn / SIS Was Kluges! SISTA Was uns im Leben weiterbringt! SIS Ja! Was Sinnvolles! SISTA Los! Sag was! DAD Äh / Dad steckt das Kabel wieder rein. Oper aus. SIS Mom! Dad ist ein Totalausfall! SISTA Mom! Dad sagt absolut nichts Kluges! ASCHENPUTTEL Kann ich mal da kurz durchgreifen, bitte? Da liegt ein Kabel bloß. SIS Mom! Aschenputtel nervt! ASCHENPUTTEL Ich kleb doch nur das Kabel ab, damit du keinen Stromschlag kriegst. SISTA Mom! Ich ruf jetzt das Jugendamt an! MOM Schnauze jetzt. SISTA Mom! Entweder du bürstest mir zuerst das Haar oder ich ruf das Jugendamt an! MOM Sista, beruhige dich! SISTA Ich ruf jetzt das Jugendamt / MOM Sista / Mom hört auf, Sis die Haare zu bürsten und bürstet stattdessen Sista die Haare. SIS Mom! Wie kannst du mir das antun? SISTA Tja, Pech gehabt / SIS Ich will sofort meinen Sozialarbeiter sprechen! MOM Sistas! ASCHENPUTTEL Ich muss da mal auf den Stuhl / SIS Mom! ASCHENPUTTEL Die Birne ist durchgebrannt. Schiebt Sis vom Stuhl, steigt darauf und wechselt die Glühbirne in der Deckenlampe. SIS Mom! Aschenputtel hat mich vom Stuhl geschubst! MOM Schnauze! Hört mal zu jetzt! Dreht das Radio laut. RADIO Wie eingefleischte Fans natürlich längst wissen, ist das gesamte Team von BISS ZUM ABENDGLÜH in der Stadt, um das neue Sequel vorzustellen. Zu diesem Anlass gibt es ein Meet and Greet mit dem Hauptdarsteller Prinz zu gewinnen! Unter allen Einsendungen, die unsere Frage richtig beantwortet haben, ziehen wir nun den glücklichen Gewinner oder die glückliche ­Gewinnerin. Die Frage lautete: Welches Sportgerät ist das Lieblingssportgerät von Prinz? Die richtige Antwort ist / SIS / SISTA Das Rudergerät! RADIO Das Rudergerät! Und das Meet and Greet mit Prinz hat gewonnen / SIS Kreisch! SISTA Schrei! SIS Flipp aus!

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MOM Schnauze! RADIO Das Meet and Greet gewonnen hat - Miss Thausendbeauty! SIS Welche? Welche? Welche? SISTA Ich! Ich! Ich! SIS Ich! Ich! Ich! RADIO Thausendbeauty – Miss - Sis. SIS Yeah! Yeah! Yeah! Yeah! SISTA Was? Mom!? SIS Yeah! yeah! yeah! Yeah! SISTA Mom!? SIS Yeah! yeah yeah! Kreisch! Freu! Flipp aus! SISTA Mom!? SIS Ich krieg einen Prinzen und du kriegst nichts! Na gut, du kriegst ein bisschen Gold ab. Aber nur, wenn du nett bist! SISTA Mom! Warum kriegt sie den Prinz? Ich bin viel hübscher als sie! SIS Lüge! SISTA Wohl! SIS Lüge! SISTA Wohl! SIS Lüge! MOM Schnauze! Stille. MOM Kinder. Was hab ich euch beigebracht? SIS / SISTA Eine für alle und alle für eine! Alexandre Dumas! MOM Genau! Es reicht, wenn eine von uns, nur eine, den goldenen Schwanz zu fassen bekommt. Wir sind one family, ein Team! Eine Kampfeinheit, ein Bataillon im großen Fight for our Rights! Und was sind unsere Rights? SIS / SISTA Leben, Freiheit und das Streben nach Glück! Thomas Jefferson! MOM Genau! Und was ist das Glück? Gesundheit? Selbstverwirklichung? Lebenssinn? Ha. Das sagen nur die, die im Wohlstand leben. Doch die Wahrheit ist: SIS / SISTA Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm! Bertolt Brecht! MOM Genau! Und wenn‘s eine zu was bringt, hat sie die Pflicht, den anderen was abzugeben. Wir werden alle bald in goldenen Kutschen fahren und von goldenen Tellern goldene Steaks essen. Alle, hört ihr? Du, Sista, mach dir mal keine Sorgen. Sobald Sis Prinz besitzt, sollst auch du einen Prinzen bekommen. Denn das eherne Gesetz der Prinzenkonzentration besagt, was, Aschenputtel? ASCHENPUTTEL leiert mit maximaler Genervtheit runter Wo einer ist, sind mehr, denn gleich und gleich gesellt sich gern, der Reiche bleibt gern unter sich, Promi ist des Promi Freund und der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

MOM Aschenputtel! ASCHENPUTTEL pseudoeuphorisch Wo einer ist, sind mehr, denn gleich und gleich gesellt sich gern, der Reiche bleibt gern unter sich, Promi ist des Promi Freund und der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. MOM Genau! ASCHENPUTTEL Schön, Mom, und dann? Hängt Sis so ner Schmierbacke als Trophäenfrau am ­Ärmel und muss nach ihrer Schalmei tanzen. SIS Na und? Mein Leben! SISTA Prinz ist keine Schmierbacke! ASCHENPUTTEL Wer das Geld hat, hat die Macht. Wo machst du nächstes Jahr Urlaub? Da, wo Schmierbacke mit der dicken Brieftasche hin will. So willst du also zum achtzigsten Geburtstag meines besten Buddys, dem Immobilienhai, Darling, in diesem nuttenroten Fummel? Zieh mal lieber das kleine Graue an, das ich dir gestern kaufte. Also, diese neue Freundin da, die mit dem Anarcho-Tatoo, die ist für dich kein Umgang. Ich will diese Person nie wieder in meinem Hause antreffen, verstanden? SIS Boah ey Aschenputtel ey. Ist mir doch egal, an welchem Beach ich lieg, Hauptsache, ich lieg am Beach. SISTA Boah ey Aschenputtel ey. Ist mir doch egal, welche Farbe mein Kleid hat, Hauptsache, es ist von Dior. SIS Boah ey Aschenputtel ey. Wer braucht noch Freundinnen, wenn er nen Schwanz hat? SISTA Mom! Sie kapiert‘s noch immer nicht! ­Armut macht unfrei und Reichtum macht frei! ASCHENPUTTEL Falsch. Unabhängigkeit macht frei! SISTA Deine blöde Unabhängigkeit kann ich mir auch nicht als Gesichtscreme auf die Wangen schmieren! SIS Deine blöde Unabhängigkeit füllt mir auch keinen dreißig Quadratmeter großen begehbaren Kleiderschrank! SISTA Deine blöde Unabhängigkeit zahlt mir im Alter auch nicht meine Kreuzfahrt! ASCHENPUTTEL Euch ist schlicht nicht zu helfen. TAUBE & TAUBE Sistas? Vielleicht mal was Gescheites lesen? Reicht ihnen ein Buch an. Sie neh­ men es nicht, es fällt unbeachtet zu Boden. MOM Sistas! Zu Tisch! Abendbrot ist fertig! Wirft jeder eine Tüte Kartoffelchips in die Arme.


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3. WAS ZIEH ICH NUR AN? Abendbrot. Jede isst Chips aus ihrer Tüte. Dad sitzt noch immer mit Kopfhören auf den Ohren im Hinter­ grund, auch er bekommt eine eigene Tüte. MOM zu Sis Frage aller Fragen. Frage, von der deine Zukunft, was sag ich, unser aller Zukunft abhängt. Was ziehst du heute Abend an? Sista zieht eine Flasche mit Totenkopf-Etikett aus der Tasche und kippt Sis daraus ein weißes Pulver in die Chips. SIS Ich dachte an das kleine Grüne mit den gelben Punkten. Oder ist das zu mädchenhaft-unschuldig? Dann vielleicht eher das Fuchsiarote mit dem Fake – würgt – Fell – würgt – Kragen – fällt in Krämpfen vom Stuhl. MOM Was ist? SIS Mir ist so schlecht. MOM Was, heute? Ausgerechnet heute? SIS Mir ist so furchtbar übel, Mom. Furchtbar! SISTA Tja, Pech / MOM Dann muss wohl Sista heute Abend für dich einspringen / SIS Nein! SISTA Tja, Pech / SIS Niemals! SISTA Yeah yeah yeah! MOM zu Sista Frage aller Fragen. Frage, von der deine Zukunft, was sag ich, unser aller Zukunft abhängt. Was ziehst du heute Abend an? Sis rappelt sich mit letzter Kraft hoch, zieht eine Fla­ sche mit Totenkopf-Etikett aus der Tasche und kippt Sista daraus ein weißes Pulver in die Chips. SISTA Ich dachte an das Silberne mit den hyazinthblauen Blüten-Applikationen. Oder ist das zu eigenwillig? Dann vielleicht das Weiße mit den Klöppel – würgt – Spitzen – würgt - Ärmeln fällt in Krämpfen vom Stuhl. MOM Was ist? SISTA Mom! Mir ist nicht gut! SIS Ha! MOM Was, du jetzt auch krank? SIS Tja, Pech / MOM Dann muss wohl heute Abend Aschenputtel / ASCHENPUTTEL / SISTA / SIS Nein! MOM Aschenputtel! Du musst. ASCHENPUTTEL Nichts muss ich! MOM zu Aschenputtel Frage aller Fragen. Frage, von der deine Zukunft, was sag ich, unser aller Zukunft abhängt. Was ziehst du heute Abend an? Oh weih oh weh, du hast ja gar nichts Feminines im Schrank! Wir sind verloren. Wir sind alle verloren. Weint.

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ASCHENPUTTEL Mom, nun weine nicht! Sis zieht die Flasche mit Totenkopf-Etikett aus der Tasche und kippt Aschenputtel daraus ein weißes Pulver in die Chips, Sista ebenfalls. Aschenputtel will essen. Tau­ be & Taube kommt und schlägt ihr mit dem Flügel den Teller aus der Hand. Stille. Alle starren Taube & Taube an. TAUBE & TAUBE Da ist Rattengift drin. ASCHENPUTTEL Danke. TAUBE & TAUBE You‘re welcome. Ab. MOM Ihr Bitches! SIS / SISTA So reden wir im Hause Thausendbeauty nicht! MOM Ihr könnt doch nicht einfach eure Sis vergiften! SIS / SISTA Sie ist nicht unsere Realsis! Beide legen sich aufs Sofa, stöhnen ab und zu oder ­kotzen in einen Eimer. ASCHENPUTTEL Ich habe eine Theorie. MOM Bitte. ASCHENPUTTEL Ich glaube, die beiden haben sich aus lauter Neid und Missgunst gegenseitig selbst vergiftet. MOM Kann das denn sein? ASCHENPUTTEL Aus lauter Angst, den Zugang zur Ressource Mann an die Konkurrentin zu verlieren. Dabei sollten Sistas doch zusammenhalten! SIS Schnauze, du Freak! SISTA Wir können nichts dafür! Wir wurden vom Patriarchat deformiert! MOM Es hilft alles nichts. Du musst gehen. ASCHENPUTTEL Ich möchte aber keinen mittelmäßigen Monsterdarsteller in einem Hotelzimmer treffen. MOM Denk an die Family. Dein Team! ASCHENPUTTEL Das ist nicht meine Geschichte. Meine Geschichte hat noch gar nicht angefangen. In dieser Geschichte bin ich diejenige, die im Hintergrund Dinge repariert und ab und zu kritische Einwürfe macht und am Ende den Brautstrauß fängt und im Klo runterspült und hinterher Rohrfrei reinkippt. MOM Nun hat sich die Lage halt geändert. Durch einen tragischen Unfall bist du nun von der Peripherie ins Zentrum gerückt. Übernimm Verantwortung! ASCHENPUTTEL Dad! Keine Reaktion. Dad! Keine Reaktion. Aschenputtel geht zu Dad und zieht das ­Kabel raus. Oper. Dad! DAD Was ist? ASCHENPUTTEL Ich möchte keinen mittelmäßigen Monsterdarsteller in einem Hotelzimmer treffen. Das ist nicht meine Geschichte. DAD Äh /

MOM Fall mir nur wieder in den Rücken. DAD Hör auf deine M – / ASCHENPUTTEL Sie ist nicht meine Realmom! DAD Deine Realmom hätt es so / ASCHENPUTTEL Hätt sie nicht. DAD Schau, manchmal muss man etwas tun, wo­rauf man keine Lust hat, um anderen aus der Klemme / MOM Hör zu! Dein Dad spricht von Solidarität. Stille. ASCHENPUTTEL Dad? DAD Mehr hab ich jetzt auch nicht / Schweigen. Steckt das Kabel wieder rein. Oper aus. ASCHENPUTTEL Dad! MOM Tja, dein Dad hat schon längst vor den Verhältnissen kapituliert. Er war noch nie eine Kämpfernatur. Aber ich, ich gebe das Träumen nicht auf! Ich weiß, dass ein besseres Leben für euch möglich ist. ASCHENPUTTEL Ich, Mom, ich glaube doch auch an das bessere Leben! Aber ich bin ein modernes weibliches Wesen mit Zugang zu Bildung und Freiheitsrechten! Frauen, die nur an Besitz und Vermögen kamen, indem sie sich auf einen Tausch mit dem Mann einließen, einen langen, langen Tausch, die Ehe, oder einen kurzen, kurzen Tausch, die Prostitution / SIS Mom! Aschenputtel redet wieder so viel! ASCHENPUTTEL / wobei die Grenzen da verschwimmen, meint auch schon Engels, ein Mensch mit sogar Penis / SISTA Mom! Sie labert wieder ohne Ende! ASCHENPUTTEL / wobei man bei der Prostitution sogar noch besser wegkommt, denn im Gegensatz zur Ehe muss man dem Mann nicht auch noch vorspielen, dass man ihn liebt, whatever, wo genau hab ich jetzt den Syntaxfaden verloren / SISTA Mom! Sie weiß überhaupt nicht, wie es in der Welt so zugeht! ASCHENPUTTEL / egal, aber diese Frauen, die gibt‘s doch gar nicht mehr! Ein Märchen aus ur­ alten Zeiten! SIS Mom! Sie macht wieder Propaganda für das Unmögliche! SISTA Mom! Sie hat die weltweiten Statistiken wieder nicht gelesen! MOM zu Aschenputtel Schöne Theorie, aber hier ist die traurige Praxis. ASCHENPUTTEL Wo? MOM Hier! Ich! Mein Schicksal! ASCHENPUTTEL Ach, das schon wieder. MOM Meine Story! ASCHENPUTTEL Die auch nur eine Story ist. MOM Hör gefälligst zu, wenn deine Mom dir eine bittere Lektion über‘s Leben erteilt! Vom schönsten

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Jungen der ganzen Highschool mit dem Motorrad abgeholt worden – Los, mitmachen! SIS / SISTA / ASCHENPUTTEL Vom schönsten Jungen der ganzen Highschool Mit dem Motorrad abgeholt worden Himmel Geigen Glück perfekt Herzschlag Puls Liebesrausch Teenie-Traum Ach Erstes Kind MOM Und der ehemals schönste Junge der ganzen Highschool blieb abends länger aus! SIS / SISTA / ASCHENPUTTEL Zweites Kind MOM Und der ehemals schönste Junge der ganzen Highschool – weg war er! Weg! Abgehauen mit der sorry erstbesten sorry beschissenen sorry Bitch! SIS / SISTA/ ASCHENPUTTEL Klischee Klischee Alter Hut Same old story On connait la chanson MOM Und Mom saß da, mittellos, null Alimente, null Ausbildung, null Unterstützung, schreiende Girls / SIS / SISTA / ASCHENPUTTEL Die gute Partie von gestern ist die schlechte Partie von morgen MOM Die Beautyqueen von Neunzehnhundertsiebenundneunzig, das schönste Mädchen der ganzen Highschool, musste aufs Amt / SIS / SISTA / ASCHENPUTTEL Putzen Kellnern Aldikasse MOM Schaut euch ihre ehemals edlen Hände bitte an! Schaut euch ihren ehemals strahlenden Teint bitte an! Seht, was aus der Beautyqueen von Neunzehnhundertsiebenundneunzig wurde aufgrund ihrer Blödheit! Niemals, so sagt sie sich, niemals soll meinen Girls widerfahren dasselbe Schicksal! Deshalb / SIS / SISTA / MOM / ASCHENPUTTEL Zögert nicht Greift nach dem goldenen Schwanz Zögert nicht Gebt euch nicht ab Mit einem silbernen Oder gar bronzenen Oder gar blechernen MOM Nein! Der goldene ist gerade gut genug für euch! SIS / SISTA / MOM / ASCHENPUTTEL Verkauft euch MOM Ja, Verkauft euch! Aber verkauft euch nicht unter Wert! Gebt auf euch acht, hütet eure Tauschwaren! Eure Schönheit, eure Jugend – verschwendet sie nicht an den erstbesten Schwanz aus Blech! Und vor allem: verschenkt sie nicht einfach so und nennt es Liebe!

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SIS / SISTA / ASCHENPUTTEL Das Was ihr Liebe nennt Ist euer Untergang Das Was ihr Liebe nennt Ist euer sozialer Tod Das Was ihr Liebe nennt Ist einfach nur ein mieser Deal Stille. DAD Ich finde dich immer noch wunderschön, Mom. MOM Danke, Dad. Aber was weißt denn du schon! TAUBE & TAUBE Sistas? Vielleicht mal was Gescheites lesen? Reicht ihnen ein Buch an. Sie neh­ men es nicht, es fällt unbeachtet zu Boden.

4. DAS TREFFEN MIT DEM MONSTER­ DARSTELLER ASCHENPUTTEL barfuß, im Glitzerkleid Und weil Mom so geweint hat, bin ich halt hin. Aus lauter Solidarität mit der Family. In der Lobby holte mich so ne Beflissene mit Betonlächeln ab und geleitete mich auf Veloursteppichen zu seiner Suite. Puh, dachte ich, das werden verdammt lange sechzig Minuten! Sie öffnete eine Tür und da saß er. Hinter nem Sektkübel, so nem gesponserten. Mein erster Gedanke war, das ist aber ein müder Vampir. Er sieht schlapp aus. Irgendwie abgekämpft. Als hätte er eine schlimme Schlacht hinter sich. Er erhob sich aus seinem Sessel, um mich artig zu begrüßen. Ich mach einen Schritt auf ihn zu, aber diese blöden Hohen Schuhe! Ich stolpere über die Teppichkante wie so‘n Volldepp und kippe aus den Schuhen und direkt in seine Arme. Das fühlte sich nicht mal schlecht an, er roch sogar ganz gut, nach, nach, nach – Mann? Aber dann war ich ganz schön überrascht, weil er so alt war. Ich meine jetzt nicht opa-alt. Aber älter, viel älter als er in den Filmen aussieht. PRINZ in Plateauschuhen, mit einem Paar Stöckel­ schuhen in der Hand Ich möge doch bitte vor der Lampe bleiben, so Tamara. Ich möge mich doch bitte nicht so viel bewegen, weil sonst die Lichtverhältnisse meinem Teint nicht genug schmeichelten. Soll heißen, das Fangirl sieht sonst, was für ein alter Sack ich bin. Ich bin die letzte Nutte. Nur, dass ich keinen Blowjobs verkaufe, sondern Präsenz. Ich hasse diese Fan-Treffen. Diese arrangierten Begegnungen. Da sitzt man dann da mit so nem fremden Mädchen und muss so tun, als sei man ganz und gar großartig. Aber als sie reinkam,

11./12.01.2021 Happy New Ear Feature Ring mit Hille Perl (Gambe), Dienstagssalon mit Max Rademann

wollt ich schon so höflich sein und ihr entgegen gehen. Aber die? Ist sofort umgekippt. Auf mich drauf. Dachte erst, das sei ein Trick, um mir näher zu kommen, aber es war so daneben, dass klar wurde: Die kann einfach nicht auf Hohen Schuhen laufen. Was die immer für Opfer bringen, um mir zu gefallen. Was können die bei mir schon groß abstauben? Eine Nacht mit einem Filmstar, mit der die in den sozialen Medien angeben können? Oder hoffen die, dass ich mich in sie verliebe, dass ich die bei der nächsten Preisverleihung über den ­roten Teppich zerrre und der Welt als die Meinige vorstelle? Aber diese. Kaum hatte sie sich wieder hochgerappelt, von Gefallsucht keine Spur. Legte gleich los mit Filmkritik. Sie sei ja kein wirklicher Fan, dass ich mir da nichts einbilde. Dass sie, sorry sorry, die ABENDGLÜH-Reihe total misslungen fände. Was das denn bitte für ein Typ sein solle, den ich da spielte? ASCHENPUTTEL Der Vampir, das war mal ein Symbolträger des Verbotenen und Dunklen und Animalischen und Subversiven, und jetzt kommst du und bist als Vampir der letzte Spießer. Kein Sex vor der Ehe, christliche Werte, ha ha. Christopher Lee rotiert im Grab. Du beißt nur noch Tiere, wie nett von dir. Und musst die Angebetete ständig retten und rumtragen wie ein Baby. Und nachts sitzt du neben ihrem Bett und bewachst ihren Schlaf, wie so‘n irrer Stalker. Richtige Vampire, wenn sie in die Sonne treten, zerfallen spektakulär zu Staub. Reißen ihre Monstermäuler auf, zeigen Zähne, dann schmilzt ihnen das Fleisch von den Knochen und dann zerbröseln sie, wunderbar eklig. Doch was passiert mit dir, wenn du in die Sonne trittst? Du fängst an zu glitzern. Na danke. Verarschen kann ich mich selber. PRINZ Sie hat mir ganz schön eingeschenkt. ASCHENPUTTEL Ich hab ihm ganz schön ein­ geschenkt. Was als Intro vielleicht nicht ganz so charmant war. Aber was machte er? Er nickte. Und sprach: Endlich sagt‘s mal einer. Endlich fühl ich mich verstanden. PRINZ Endlich sagts mal einer. Endlich fühl ich mich verstanden. ASCHENPUTTEL Und wetterte los. Große Beschwerde. Dass er das erste Sequel vor fünfzehn Jahren gedreht hätte – / PRINZ Stell dir mal vor: Das erste Sequel hab ich vor fünfzehn Jahren gedreht! ASCHENPUTTEL Da war er auch schon achtundzwanzig und – / PRINZ Da war ich schließlich auch schon achtundzwanzig! Und musst mich erheblich jünger machen, denn ich sollte ja einen Siebzehnjährigen

18.–21.01.2021 TANZPAKT Dresden Akademie 22.–24.01.2021 Tischgesellschaft: „Wieder da!“ Antje Pfundtner in Gesellschaft

www.hellerau.org

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geben. Je nun, ein Mal kann man‘s ja machen! Dann lief der Scheiß auch noch so gut, ja, leck mich! Hurtig das nächste Sequel gedreht. Je nun, mit dreißig ging‘s auch grad noch so. Dann stand die Finanzierung zum dritten Sequel. Doch die Dreharbeiten, sie verzögerten sich, weil sich Autorin und Regisseur in der Wolle lagen. Fünf Jahre später: Gut, das eine mach ich halt auch noch, mit fünfunddreißig, danach ist aber Schluss. Und dann? Schrieb diese Schlampe NOCH ein Buch. Was natürlich sofort verfilmt werden sollte. ASCHENPUTTEL Und Prinz bat: könnt ihr mich umbesetzen, bitte? PRINZ Bitte, bitte, bitte. Kann ich nicht bitte, bitte sterben, also endgültig, mit Pfahl im Herz und ­allem? Und dann auferstehen, als ein anderer? Der dann, gottverdammt noch mal, auch von einem anderen gespielt werden kann? Hä? Aber nein. Will die Autorin nicht. In ihrem Oevre wird nicht gepfählt. Nur romantisch im Trockennebel herumgeschwebt. Also werde ich älter und älter, nur ­meine Rolle bleibt ewige siebzehn. Von einem ­fiesen Knebelvertrag mit der Produktionsfirma zu ewigem Leben verdammt. Ich bin ein Untoter. Ich darf nicht altern. ASCHENPUTTEL Boah, war der unglücklich. Man hat sofort gedacht, dass man ihn retten muss. Wie ein in den Brunnen gefallenes Kätzchen. PRINZ Das hatte sie wohl nicht erwartet. ASCHENPUTTEL Ich hatte einen Star erwartet und was fand ich vor? Einen Gefangenen. PRINZ Ich hatte eine hysterische Verehrerin erwartet und was fand ich vor? Eine Seelenverwandte. ASCHENPUTTEL Ich hab das nur aus Mitleid mit Mom gemacht und was stellte sich raus? Ich hatte Spaß. PRINZ Ich hab das nur Tamara zuliebe gemacht und was stellte sich raus? Ich hatte Spaß. SIS zu Aschenputtel Wo sind meine Schuhe? ASCHENPUTTEL Die hab ich vergessen. SIS What? Du hast was? Mom! Mom! MOM Bist du etwa barfuß nach Hause? SISTA Zieh sofort mein Kleid aus. Reißt Aschen­ puttel am Kleid. ASCHENPUTTEL Was ich noch erzählen wollte / SISTA Mom! Aschenputtel hat ein Loch in mein Kleid gemacht! ASCHENPUTTEL Du hast noch tausend andere Kleider. SISTA Ist das etwa ein Brandloch? MOM Habt ihr geraucht? SIS Was, Prinz raucht? SISTA Mom! Ich will keinen Mann, der raucht! Nur die Unterschicht raucht!

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SIS Aber wir sind doch die Unterschicht! SISTA Sind wir nicht! SIS Sind wir doch! SISTA Sind wir nicht! SIS Sind wir doch! SISTA Du vielleicht! SIS Du auch! MOM Sistas! Ihr seid nur temporäre Unterschicht. Ihr befindet euch mitten im Prozess der Klassenmigration! ASCHENPUTTEL Oh, hatte der Probleme! Liften lassen soll er sich, sagt seine Agentin, doch er hat keine Lust, sich liften zu lassen. Ey, wenn du keine Lust hast, dann lass es doch! Aber er seufzte tief und sagte, er sei da unfrei. PRINZ Ich bin da unfrei. ASCHENPUTTEL zu Mom Na bitte, Mom. Zu Prinz Mom sagt immer, also, sie ist nicht meine Realmom, aber Mom sagt immer, Geld macht frei. Kannst du ihr mal bitte erzählen, dass das nicht stimmt? PRINZ Schöne Grüße und ja, das stimmt nicht. ASCHENPUTTEL Das kannst du ihr gleich selbst sagen. Am Samstag beim Dinner. Zu dem soll ich dich nämlich einladen. MOM Wehe, du kommst ohne des Prinzen Dinner-­ Zusage nach Haus! PRINZ Und alles platzte aus mir raus. Dass ich viel lieber in russischen Arthouse-Filmen gespielt hätte. Aber ich war zu schön für Arthouse. ASCHENPUTTEL Weil er mit zwanzig so gut aussah, sei er im Seichten gelandet. PRINZ Wenn die Blockbuster-Maschinerie erst mal läuft, kannst du schwer wieder aussteigen. Hab mir gesagt, ich mach das ein paar Jahre und dann. Dann mach ich, was ich wirklich will. Ich hab da nämlich Ideen. ASCHENPUTTEL Und dann erzählt er mir von seinen Ideen und seine Wangen beginnen zu glühen unter der ganzen Untoten-Schminke und er sagt, eines Tages, eines Tages setzt er alles um. PRINZ Eines Tages, eines Tages setze ich das alles um. ASCHENPUTTEL Wann denn? PRINZ Nur noch ein Sequel. ASCHENPUTTEL Ey, wie alt willst du noch werden? Stille. Das war nett gemeint. Als Antrieb. Ging aber voll nach hinten los, so als Kompliment. PRINZ Das tat weh. Aber recht hat sie. Wie lang will ich noch warten? Ich bin ja nicht der, der unsterblich ist. ASCHENPUTTEL Ach je ach je, fing er plötzlich an zu jammern, ach je ach je! Jetzt hab ich wieder nur von mir gesprochen! Ich weiß ja gar nicht, wer

du bist! Ich weiß ja gar nicht, was du tust! Was dich bewegt! Was dich bedrückt! Ach je ach je! Und jetzt ist die Stunde um! PRINZ Tamara hat natürlich einen Riesenstress gemacht, weil ich geraucht habe. Wenn du noch älter aussehn willst, bitte. Ich muss sie wieder­ sehen. Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen! Betrachtet die Stöckelschuhe. Jetzt ist sie auch noch barfuß nach Hause. ASCHENPUTTEL Nie wieder Hohe Schuhe. PRINZ Tamara sagt, ich könne mich unmöglich bei solchen Leuten blicken lassen. Hat mir für den Samstagabend ein Charity-Dinner reingebucht. Ha, ich geh nicht hin! Ich tu so, als ginge ich hin. Und dann, dann biege ich vorher ab. Und gehe NICHT hin. Ha! Sondern zu dem interessanten Mädchen mit dem komischen Namen. Ha!

5. VORBEREITUNG MOM Prinz kommt gleich und wie sieht‘s hier aus? SIS / SISTA Was, heute? Laufen weg. MOM Aschenputtel! Hilfe! Aschenputtel! ASCHENPUTTEL kommt im Blaumann Was ist denn, Mom? MOM Tu was! Tu doch bitte was! ASCHENPUTTEL Was soll ich denn tun? MOM Was du tun sollst? Schau dich um! Das Waschbecken schief, der Ofen verkrustet, der Bildschirm verstaubt, das Sofa verfleckt! Was soll Prinz nur von uns denken! ASCHENPUTTEL Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich erledige das. Ab. MOM Ach, was reicht man denn? Was reicht man nur? Sis und Sista kommen zurück, in Tutu und Ballkleid. SIS Mom! Mein Tutu! Es hat einen Marshmallowfleck! MOM Sis! Du kannst doch kein Tutu zum Dinner / SIS Warum nicht, Mom? Es ist mein Glücks-Tutu! SISTA Mom! Wenn Sis ihr Tutu anzieht, seh ich in dem doofen Ballkleid ja völlig underdressed aus! SIS Underdressed! In einem Ballkleid! In einem Ballkeid mit Schleppe! Mom, man zieht doch nur zur Hochzeit ein Kleid mit Schlepppe an. Oder? Mom? MOM Sistas! SIS Aber die Schleppe ist meine Glücksschleppe! MOM Es gibt kein Glück, nur harte Arbeit. An dir selbst! Ach, was reicht man denn, was reicht man denn nur? Sistas!

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SIS / SISTA Was? MOM Warum seht ihr so billig aus? SIS Weil – das billig WAR! SISTA Weil – unser Sparschwein ist leer! SIS Weil – wir sind nämlich arm! MOM Das war nicht billig, das war günstig. Unser Sparschwein ist nicht leer, es ist schlank. Wir sind nicht arm, sondern mittellos. Temporär mittellos. Vergesst diesen Mädchenplunder! Legt mal etwas Eleganz und Chic an den Tag! SIS / SISTA Wir haben nicht den Kreditrahmen für Eleganz und Chic! MOM Ach was. Stil ist keine Frage des Geldbeutels, sondern der Einstellung. Der Körperhaltung, des Selbstbewusstseins. Und der richtigen Accessoires. Los! Umziehen! SIS Aber das Tutu betont meine schönen Beine! MOM Nein. Es betont sie nicht, es stellt sie zur Schau. Du musst die Kunst der Andeutung lernen. Der Mann will doch was zum Träumen haben! Und zum Auspacken! Los jetzt! Umziehen! SISTA Aber die Schleppe unterstreicht meinen liebliches Wesen! MOM Nein. Alles, was diese Schleppe unterstreicht, ist der Eindruck, dass ihre Trägerin es verdammt nötig hat. Los jetzt! Umziehen! Aschenputtel zündet sich eine Zigarette an. MOM Du rauchst? Du rauchst? SIS / SISTA Nur Asis rauchen! Wir sind keine Asis! Gehen. Aschenputtel gibt Taube & Taube auch eine Zigarette. MOM Also, wenn du es für empowernd hältst, dir ein Krebsstäbchen ins Geschicht zu stecken, bitte. Schweigen. Das ist so Fünfziger! Schweigen. Die echte freie, autonome, unabhängige Frau ist auch frei von jeder Sucht. Ich sag dir mal was über die echte freie, autonome, unabhängige Frau. Echt frei, autonom und unabhängig / ASCHENPUTTEL Tautologie, Mom. MOM Was? ASCHENPUTTEL Frei, autonom und unabhängig. Ist dasselbe. Synonyme. MOM Was? ASCHENPUTTEL Egal. MOM Die Frau erringt nicht die Macht, indem sie den Habitus des Mannes imitiert, die Frau erringt die Macht, indem sie ihr erotisches Kapital geschickt einzusetzen vermag und das chronische Sexdefizit des Mannes für ihre Zwecke ausnutzt. Das ist wahre Überlegenheit, Kind! Taube & Taube schlägt aufgebracht mit den Flügeln. MOM Was hat sie denn? Taube & Taube flattert und flattert, bis sie umfällt und sich auf dem Boden wälzt. Mom und Aschenputtel

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­sehen eine Weile zu. Dann rappelt sich Taube & Taube wieder hoch, streicht ihr Gefieder glatt. TAUBE & TAUBE zu Aschenputtel Bereit? ASCHENPUTTEL Bereit. Sie haken sich unter und stellen sich in Position. TAUBE &  TAUBE / ASCHENPUTTEL Freiheit Gleich­ heit Sisterhood Es gibt noch viel zu tun Oh lobe nicht des Mädchens Schönheit Lob es für seinen Mut und Witz Weg mit dem rosa Einhorn Das kannst du dem machokulturell fehlgeprägten Nachbarsjungen schenken Er braucht es Hier Bitte Eine Bohrmaschine Ein Motorradführerschein Eine Gloria-Steinem-Gesamtausgabe Frohe Weihnacht wünscht dir Realmom Sis und Sista kommen im kleinen Schwarzen und mit hochgesteckten Haaren zurück. MOM Jetzt weg da! Schiebt Aschenputtel und Taube & Taube zur Seite. TAUBE & TAUBE / ASCHENPUTTEL He Wir sind noch nicht am Ende He Wir haben noch so viel Zu sagen He Mom schubst sie wieder weg. MOM zu Sis und Sista Na bitte. Geht doch. Ach, was reicht man denn? Was reicht man nur? Dad? Reißt das Kabel raus. Dad? DAD Was / MOM Was reicht man denn so, wenn Besuch kommt? DAD Äh, ich weiß nicht, ich bekomme nicht so oft / ASCHENPUTTEL Mom! Hau doch einfach ein paar Snickers in die Fritteuse! MOM Großartige Idee. Das mache ich! Das ist ­kreativ! Das ist originell! DAD Ich glaube, das war ein / MOM Das ist neu! Das ist groovy! Das ist urban! DAD Witz, oder – Setzt Kopfhörer wieder auf. SIS Mom! Du kannst doch Prinz kein frittiertes Snickers reichen! MOM Du hast überhaupt keine Ahnung von den Begehrlichkeiten der Hautevolee. Prinz ist ein Star. Und was brauchen Stars? Was brauchen Stars mehr als alles auf der Welt? Über­ raschungen. Austern und Kaviar bekommt der jeden Tag.

SISTA Und frisch gepressten Orangensaft! In seiner Sweet! SIS In seiner was? SISTA Sweet! So nennt man ein ganz besonders großes Hotelzimmer, du Volldepp. SIS Mom! Sista hat mich Volldepp genannt! MOM Sista! Deine Schwester ist kein Volldepp. SISTA So reden wir im Hause Thausenbeauty nicht! Mom geht zu Dad und fährt ihm mit der Bürste über den Kopf. DAD setzt die Kopfhörer ab Was ist denn schon wie – / MOM Dein Haupthaar. Es stand zu Berge. DAD Das ist nicht so / MOM Und wenn der Besuch da ist, beteiligst du dich bitte am Tischgespräch. DAD Ich? Aber ich habe nichts / Was soll ich denn / MOM Sei mal ein bisschen witzig. DAD Ich bin nicht / SIS Ja, Dad! Brilliere mal ein bisschen mit daddyhaften Scherzen! SISTA Dad! Sei mal cool! SIS Ja, Dad. Sei mal so ein perfekter Kumpel-Dad! SISTA Mit dem ein Schwiegersohn gern zum ­Angeln fährt. SIS Mit dem ein Schwiegersohn gern zum Baseball geht. SISTA Mit dem ein Schwiegersohn gern mit ­Dosenbier in der Hand schweigend in den Nachthimmel schaut, die Status-Kluft, die sie trennt, mit klassenübergreifendem, männlichen Ritual überbrückend. SIS So ein Underdog mit Herz. SISTA Nix auf dem Konto, weiß aber, wie man einen Fisch ausnimmt! SIS Null kulturelles Kapital, aber zum Pferde­ stehlen! DAD Ich höre immerhin gern Op – / SISTA Der verschmitzte, grundanständige Arbeitslose! SIS Der nette vom System Gefickte von Nebenan! SISTA Dad! Sei einfach du, Dad! SIS Ist ja wohl nicht zu viel verlangt! SISTA Perform dich einfach mal selbst! DAD Äh / Setzt die Kopfhörer wieder auf. SIS Mom! Dad entzieht sich wieder! SISTA Mom! Dad verweigert seine Rolle als Superschwiegervater! Ding-Dong. Entsetzer Freeze. MOM flüstert. Er ist da! Alle auf Position. Alle setzen sich. Schreit Seid ihr wahnsinnig! Ihr könnt euch doch nicht setzen, bevor der Gast sitzt! Hoch mit euch! Alle stehen wieder auf. Steht nicht so steif rum! Seid mal locker. Alle stehen locker rum. Um

AUSSTELLUNG KEIN »EINZELFALL« RECHTSRADIKALE REALITÄTEN IN DEUTSCHLAND – Eröffnungsgespräch mit Hito Steyerl, Ayşe Güleç und Jens Geiger

TROTZDEM 2021 – ABSCHLUSSARBEITEN REGIE SCHAUSPIEL DER THEATERAKADEMIE HAMBURG mit Lisa Wagner, Katharina Grosch, Lorenz Nolting, Simon Hastreiter und Nora Kühnhold

KLUB KATARAKT 16 – INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR EXPERIMENTELLE MUSIK »UNVERGESSEN – SCHWARZE UND PEOPLE OF COLOR IM NATIONALSOZIALISMUS«

Diskussion mit Christopher Nixon, Eliza-Maimouna Sarr, Dr. Susann Lewerenz

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Gottes Willen! Hängt nicht so schlaff im Raum! Es geht hier um unseren gesellschaftlichen Aufstieg! Wir müssen unser sexuelles Kapital in kulturelles und soziales Kapital verwandeln! Und natürlich in – Kapital-Kapital! Aschenputtel bewegt sich. Halt! Wo willst du hin? ASCHENPUTTEL Ich mache die Tür auf? MOM Was? Nein! ASCHENPUTTEL Aber der Gast. Er steht schon vor der Tür. MOM Deine Sistas schauen noch nicht schön genug. SIS / SISTA Wie bitte? MOM Euer Gesicht! Versetzt euch mal in des Prinzen Lage. Er soll euch erblicken und auf der Stelle den Wunsch verspüren, euch den Rest seines ­Lebens an seiner Seite zu haben. Anmut und Frohsinn! ASCHENPUTTEL Ich seh da mehr so Gier und Panik. SIS/ SISTA Mom! ASCHENPUTTEL Ich öffne jetzt. Ich öffne jetzt die Tür. TAUBE & TAUBE Und da, da stand er. Prinz. Prinz, von seinem Chauffeur in dieser ärmlichen Gegend abgesetzt, die er zuvor noch niemals betreten hatte. Und da geschah etwas Seltsames. Aschenputtel rennt weg und beginnt, hektisch in einem Klamottenberg zu wühlen und sich umzuziehen. Aschenputtel verspürte plötzlich das Bedürfnis, schön zu sein. Woher nur kam auf ein Mal das ­Gefühl, nicht zu genügen, so, wie sie eben war? Waren es die Einflüsterungen Moms, die endlich Früchte trugen? War es ein von Taube & Taube ­lange unterdrücktes, archaisch-weibliches Bedürfnis? War es der soziale Druck? Was immer es auch war, es schlug voll durch. Aschenputtel präsentiert sich in neuem Outfit. Allerdings wich Aschenputtels Idee von Schönheit eklatant von der der Sistas ab. Sis und Sista lachen sie aus. Prinz trat über die Schwelle, küsste Hände und überreichte Geschenke. Anfangs verlief das Gespräch etwas schleppend, aber die von Prinz mitgebrachte Veuve Cliquot Magnum – / PRINZ Dom Perignon / TAUBE & TAUBE Dom Perignon Magnumflasche ließ alle sich rasch entspannen. Die Zungen lösten sich, die Wangen erglühten, Herzen hüpften und in den Vulven pochte das Blut. Prinz war ganz mensch – und manngewordene Liebenswürdigkeit. Er lobte sogar Moms Kochkünste / PRINZ Mir hat es wirklich geschmeckt / TAUBE & TAUBE / und bot allen das Du an und Mom befahl Prinz, sie Mom zu nennen und sogar

Dad ergriff das Wort und hub an zu sprechen. Pause. Was hast du noch mal gesagt, Dad? DAD Ich? Äh, nichts / TAUBE & TAUBE Nun gut, dann eben nicht. Dann ergriff Dad eben nicht das Wort und hub eben nicht an zu sprechen. Er saß einfach gut gekämmt da, aß sein Snickers, trank seinen Schampus und nickte ab und zu wohlwollend und milde und lieb. Und so verlief der Abend. Alle nicken. Allerdings konnte bei all der Ausgelassenheit nicht übersehen werden, dass Prinz nur Aug und Ohr für eine hatte. Aschenputtel. SIS / SISTA Buh.

6. DINNER BEI DEN THAUSENDBEAUTYS Alle sitzen beim Dinner. ASCHENPUTTEL Und aus was ist das Blut? PRINZ Aus Rote-Beete-Saft. Wie beginnt dein Tag? ASCHENPUTTEL Mit etwas Grübelei und einer heißen Milch. Was macht dir Spaß? PRINZ Die Farbe rot. Wo willst du sein? ASCHENPUTTEL Dort, wo die Häuser bunt und die Visagen froh. Was hasst du nach dem Erwachen am meisten? PRINZ Den Kalender, den jemand, der nicht ich ist, jemand, der Tamara heißt, mit lauter Pflichten vollgekritzelt hat, auf die ich keine Lust hab. Wie läuft das so mit dieser Abendschule? ASCHENPUTTEL Da geh ich jeden Tag von fünf bis neun Uhr dreißig hin. Und in nem halben Jahr kann ich dann Abi machen. Ja, sag mal, kommst du dir denn nicht bescheuert vor mit diesen Drehbuch-­ Sätzen? SCHÖNHEIT, ICH MUSS DICH VOR MIR SELBST BESCHÜTZEN? MEINE F ­ AMILIE HÜTET EIN SCHRECKLICHES GEHEIMNIS? PRINZ Enorm. Doch ich weiß, dass tief in mir drinnen einer wohnt, der zu viel mehr in der Lage ist, als im Dämmerlicht gut auszusehn. Entdeckt sein Poster an der Wand. Da bin ja ich! Hast du mich denn dort hingehängt? ASCHENPUTTEL Sorry, nein, das waren meine Sistas. Fühlst du dich wohl? PRINZ Jetzt ja, sonst nicht. Und wie vertreibst du dir so die langen Winterabende? ASCHENPUTTEL Ich mache meistens Haus­ aufgaben. Wenn ich Erholung brauche, bau ich schnell nen Schrank. Was unternimmst du gegen das langsam in dein Herz einsickernde Gefühl der Sinnlosigkeit und Leere? PRINZ Ich stell mir all die großen Dinge vor, die ich eines Tages noch machen werd. Ist das dein Dad? Und warum sagt er nichts?

Bewerben und Studieren Schauspiel Theater | Film Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist 31.01.2021

Regie Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist 31.03.2021

ASCHENPUTTEL Ja, das ist Dad. Ich lieb ihn sehr. Doch er ist leider etwas verzagt geworden mit den Jahren. Oder, Dad? DAD Äh – / Schweigen. ASCHENPUTTEL Würdst du nicht mal gern wen spielen, der noch lebt? PRINZ Ich krieg leider keine anderen Angebote mehr. Sehnst du dich manchmal nicht nach großen Festen? ASCHENPUTTEL Feste, ach. Die werden nachgeholt, wenn ich mein Abi in der Tasche hab. Warum machst du nicht einfach was anderes, was ganz, ganz anderes? PRINZ Weil ich nichts anderes kann. Warum hast du nicht schon früher Abitur gemacht? ASCHENPUTTEL Ach, damals, als die Realmom starb, da ward mir das Herz so schwer, dass ich nichts tun konnt, außer kiffen und weinen. Kiffst und weinst auch du manchmal? PRINZ Mitunter. Wenn ich mich von der Welt entfremdet fühle. Drängt es dich nicht raus aus diesem engen Leben? TAUBE & TAUBE So sehr die Sistas auch auf eine lauerten, es riss einfach keine Gesprächslücke auf, in die sie mit ihren antrainierten Verführungskünsten hätten stoßen können. ASCHENPUTTEL Eines Tages, wenn ich gewappnet bin, werd ich von dannen ziehn. Begehst du manchmal kleine Akte der Revolte? PRINZ Manchmal sage ich in Interviews die Wahrheit, die aber keiner glaubt. Vermisst du deine ­Realmom? ASCHENPUTTEL Sehr. Aber ihr Geist morphte auf dem Sterbebett zu diesem Taubenpaar, das mir nun nicht mehr von der Seite weicht. Das ist ein kleiner Trost. PRINZ Eh ich‘s vergesse. Holt aus einer Tasche die Stöckelschuhe und gibt sie Aschenputtel. Das sind wohl deine. SIS Lüge! Das sind meine! Reißt Aschenputtel die Schuhe aus der Hand. SISTA Lüge! Das sind meine! Reißt Sis die Schuhe aus der Hand. SIS Aber nur an ungeraden Tagen! Und was ist heute? SISTA Der Einundzwanzigste! Also her damit! SIS Nein, der Zweiundzwanzigste! Her damit! MOM Sistas! SIS Her damit! Der Schuh muss meine Weiblichkeit unterstreichen! SISTA Her damit! Der Schuh muss meine betörend feminine Art hervorheben! ASCHENPUTTEL Ursprünglich, geliebte Sistas, war der Hohe Schuh ein extrem maskulines –/

Demnächst Dramaturgie Abschluss Master of Arts Bewerbungsfrist 31.03.2021

Weitere Informationen unter www.adk-bw.de

Änderungen vorbehalten

»Montags an der ADK« Aussichten. Einsichten. Gespräche. (per Zoom) 11. Januar 2021 »Theater und Gebärdensprache« Jeffrey Döring (Regisseur und Dramaturg) 22. Februar 2021 »Kunst. Residenzen. Gestaltung von Zukunft« Elke aus dem Moore (Kunsthistorikerin, Kuratorin und Direktorin der Akademie Schloss Solitude) 24.| 26.| 27. Februar 2021 »Antike. Zwischen Opferplatz und Utopie« Werkstattinszenierungen von Jule Bökamp, Mathis Dieckmann, Marina Dumont und Jannik Graf

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SIS Boah ey Aschenputtel ey! Nicht jetzt so‘n Speech! ASCHENPUTTEL Ob er zuerst von Schauspielern des antiken Griechenlands – / SISTA Boah ey Aschenputtel ey! Gähn, gähn! ASCHENPUTTEL / oder im zehnten Jahrhundert von persischen Reitern – / SIS Zalando! TAUBE & TAUBE Es war einmal ein persischer Gesandter, der Hohe Schuhe liebte. Er reiste gen Europa und entzündete bei Hofe ein Feuerwerk der Begeisterung für die Mode, die er am Fuße trug. SIS Mom! Dieses Märchen ist doof! TAUBE & TAUBE Und alle Jünglinge lechzten nach solcherlei Hohen Schuhen, und so auch die Maiden, die es ihnen allsogleich nachtaten. SISTA Mom! Der Vogel nervt! TAUBE & TAUBE Die Absätze, sie wurden höher und höher – / ASCHENPUTTEL / PRINZ Je höher der Absatz, desto höher der Status TAUBE & TAUBE So war es. Erst waren die Absätze dreikäsehoch. Dann zwergenhoch. Dann klabautermannhoch. ASCHENPUTTEL Tauben! TAUBE & TAUBE Was denn? ASCHENPUTTEL Klabautermannhoch? Ich glaub euch kein Wort. TAUBE & TAUBE Aber so steht‘s geschrieben in den Aufzeichnungen der alten Muhmen. Und du willst doch nicht etwa die alten Muhmen der Lüge bezichtigen? Na bitte. Klabautermannhoch. Ja, sogar tatzelwurmhoch. Doch was kam dann? Die Französische Revolution kam! Und kürzte alle Köpfe und Absätze. Und Blut floß durch die Gassen und riss jedwedes Modebewusstsein hinfort. Nun wurd es ruhig um den Hohen Schuh. Der Hohe Schuh schlief einen langen Schlaf des Vergessens, bevor er Jahrmillionen später – / SIS Mom! Schuhe schlafen doch nicht! TAUBE & TAUBE / Jahrmillionen später erneut geboren ward. Als nuschelt Objet préféré de la photografie érotique. ASCHENPUTTEL Als bitte was? TAUBE & TAUBE nuschelt Objet préféré de la photografie érotique. SISTA Mom! Der Vogel gibt wieder mit seinen Fremdsprachenkenntnissen an! SIS Mom! Ich kann kein Französisch! SISTA Vogel! Red gefälligst Deutsch! TAUBE & TAUBE Aber es klingt so einfach besser. Und eine gute Geschichte muss nicht nur interessant sein, sondern auch gut klingen. Nun denn. In den späten Dreißigern eines längst versunkenen

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Zentenniums entwarf der aus Nazideutschland geflohene jüdische Schuhdesigner Moshe Kimel / MOM Oh my god, who the fuck / TAUBE & TAUBE Tataa! Den ersten Plateauschuh. PRINZ Tataa! TAUBE & TAUBE Wenigstens einer, der mir ­zuhört. Junge, ich mag dich. Kannst du mir auch sagen, für wen Moshe Kimel den ersten Plateauschuh entwarf? PRINZ Marlene! TAUBE & TAUBE Marlene! MOM Damit sie mächtig und groß und beein­ druckend aussah! Wie eine Göttin! TAUBE & TAUBE Dann kam der Glamrock / SIS / SISTA Buh! PRINZ / ASCHENPUTTEL Yeah! TAUBE & TAUBE Und David Bowie / SIS / SISTA Buh! PRINZ / ASCHENPUTTEL Yeah! PRINZ Und Elton John! ASCHENPUTTEL Und Elton John! TAUBE & TAUBE Fürwahr, auch Elton John. So ward es fürderhin wurscht, ob Männlein oder Weiblein den Hohen Schuh trug. Doch das gül­ dene Zeitalter der Modefreiheit ward alsbald vorüber, es kamen, holy fuck, die Achtziger, und bleischwer legte sich die Genderkonvention auf Füße und Seelen. Pause. ASCHENPUTTEL Und? TAUBE & TAUBE Und was? ASCHENPUTTEL Und die Moral von der Geschicht? TAUBE & TAUBE Äh. Wenn er nicht gestorben ist, so lebt der persische Reitschuh in jedem von uns als das fort, was er in ihm zu sehen wünscht. MOM Kraft, Schönheit, Power! ASCHENPUTTEL Behinderung! Kaputter Fuß! PRINZ Sex! Drugs! Rock‘n‘Roll! SIS Ich will meine Schuhe wieder haben! Es sind meine Glücksschuhe! SISTA Das sind meine Schuhe! Meine Glücksschuhe! PRINZ Auch meine Hohen Schuhe sind meine Glücksschuhe! SIS Dad, sag doch auch mal was! SISTA Dad? DAD Also ich – / SIS Dad? DAD Ich find sie hot, aber / SIS Siehst du! SISTA Siehst du! PRINZ Ich find sie auch hot, aber nur an mir! ASCHENPUTTEL Seht ihr!

SIS Gib sie her! Sis und Sista rangeln um die Schuhe. Ein Absatz bricht ab. SIS Du hast – meine Schuhe / SISTA Schau doch, was du getan hast! SIS/SISTA Mom! Sis und Sista heulen. ASCHENPUTTEL Hört auf zu heulen. Ihr habt doch noch so viel andere Schuhe. TAUBE & TAUBE Es war einmal eine wunder­ schöne Königin, die hieß Imelda und liebte Hohe Schuhe. ASCHENPUTTEL Königin? Diktatorengattin! TAUBE & TAUBE Nicht doch. Sie war tatsächlich eine Königin. Eine Schönheitskönigin. MOM Wie ich! TAUBE & TAUBE Wie Mom! Sie und ihr wunderschöner König herrschten mit Milde und Umsicht über ihr Land – / ASCHENPUTTEL König? Diktator! TAUBE & TAUBE In ihren Augen war er ein wunderschöner König – / ASCHENPUTTEL Tauben! Was tut ihr da? TAUBE & TAUBE Wir erzählen die Geschichte aus Imeldas Perspektive. Das darf doch wohl noch erlaubt sein. Nun denn. Königin Imelda besaß ­ ­genau dreitausend Paar wunderschöner Schuhe, kein Paar mehr und kein Paar weniger. SIS Mom! Ich möchte auch so reich sein wie diese Königin und auch dreitausend Paar schöne Schuhe besitzen! SISTA Mom! Hab ich dir schon gesagt, was ich mir zum Geburtstag wünsche? Dreitausend Paar schöne Schuhe! ASCHENPUTTEL Wie könnt ihr, ausgerechnet ihr, dieses Märchen so falsch erzählen? TAUBE & TAUBE Wir bleiben flexibel und empathisch. Das ist fürs Geschichtenerzähen eine große Tugend. Und wenn sie nicht gestorben sind, so stehen die Schuhe noch heute im Schuhmuseum – / ASCHENPUTTEL Verschimmelt im Keller liegen sie! Termitenzerfressen! Und das zu recht! Die Diktatorengattin ist längst entmachtet! MOM Ach, die arme, schöne Königin! ASCHENPUTTEL Sie hat Leute foltern und umbringen lassen! TAUBE & TAUBE / MOM Aber – so schöne Schuhe! ASCHENPUTTEL Sie hat das philippinische Volk um Millionen betrogen! TAUBE & TAUBE / MOM – Aber – so schöne Schuhe! ASCHENPUTTEL Sie ist eine korrupte, miese Mörderin! TAUBE & TAUBE / MOM Aber – so schöne Schuhe! ASCHENPUTTEL Ich dachte, ihr seid der Geist

THEATER WINKELWIESE STREUNER (Uraufführung) von Eva Roth 23. – 29. Januar 2021

www.winkelwiese.ch office@winkelwiese.ch +41 (0)44 252 10 01 Unterstützt von


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von Realmom! Pause. Ihr. Ihr seid gar nicht Realmom. TAUBE & TAUBE Nein. Natürlich nicht. Wir haben dir das nur erzählt, damit du ihren Tod besser verkraftest. ASCHENPUTTEL Was? TAUBE & TAUBE Wir und dein Dad. ASCHENPUTTEL Ihr habt mich belogen? TAUBE & TAUBE Nein. Wir haben die Realität nur neu interpretiert, um sie bekömmlicher zu gestalten. MOM Was soll das jetzt wieder heißen? Dass diese miese kleine Luftratte gar nicht echt ist? TAUBE & TAUBE Plural, bitte, Plural! ASCHENPUTTEL Wer. Wer seid ihr? PRINZ Oh höret meine kleine bescheidene Geschichte: Man lud mich zum Dinner, ich folgte der Invitation mit einer Melange aus freudiger Erregung und skeptischer Scheu, und nun finde ich mich mitten in einem Patchworkfamiliendrama wieder, zu dessen Lösung ich leider nichts beitragen kann. ASCHENPUTTEL Dad? Wer ist dieses Federvieh? DAD Äh – / ASCHENPUTTEL Eine schizophrener Vogel aus der Psychatrie, der einer Anstellung bedurfte! TAUBE & TAUBE Das hast jetzt du gesagt. Wir würden unsere Geschichte anders – / ASCHENPUTTEL Anders, anders, anders! Es ist nicht immer alles relativ! Es gibt wahre und erlo­ gene Geschichten, richtig und falsch erzählte Geschichten! TAUBE & TAUBE Die Welt ist das, was du in ihr siehst, mein Kind. Mein geliebtes Kind. Mein einziges Kind. Aschenputtel schlägt Taube & Taube die Faust ins Ge­ sicht. MOM Aschenputtel! Du gehst jetzt besser auf dein Zimmer! ASCHENPUTTEL Nein. Schweigen. MOM Oh wei oh weh! ASCHENPUTTEL Was ist? MOM Die Toilettenspülung! Sie ist kaputt! Und das jetzt, wo wir Besuch haben! Wie peinsam! ASCHENPUTTEL Nicht weinen, Mom. Ich geh ja schon. Ab. Schweigen. Sis und Sista wenden sich Prinz zu. Der erhebt sich. PRINZ Oh, schon so spät? Ich muss. Tamara wartet auf mich. SIS / SISTA // MOM Tamara? PRINZ Meine / SIS Der Arsch ist schon verheiratet!

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SISTA Der Lustmolch will uns zu Mätressen machen! SIS Der Wichser will nur seinen Spaß, ohne die Rechnung zu zahlen! PRINZ Äh / SISTA Mom! Er ist exakt der, vor dem du uns immer gewarnt hast! PRINZ Tamara ist meine Agentin. Und außerdem will ich / MOM Verzeihung! Ein Missverständnis. Sonst sind sie nicht so. Das macht die Aufregung. Solche Wichswörter wie Wichser kennen die doch gar nicht! Es ist mir unendlich peinlich. Darf ich ­Ihnen äh dir noch ein Snickers mit auf den Weg geben? Wirft ihm ein heißes Snickers in die Tasche. PRINZ Danke. Wo ist denn Aschenputtel hin? MOM Wer? PRINZ Aschenputtel? Deine Tochter? MOM Die ist nicht meine Tochter. Hier sind meine Töchter! Eine schöner als die andere! SIS Ich, ich bin die andere! Äh, die eine! SISTA Nein! Ich bin doch nicht die eine! Äh, ich bin doch nicht die andere! PRINZ Da war doch dieses Mädchen. Das Mädchen mit den guten Ideen. Das Mädchen mit dem Charisma und der Wissbegier und den schönen Haaren. Das Mädchen, mit dem ich mich den ganzen Abend unterhalten habe. Schweigen. MOM Ach, das Mädchen meinst du. Das hat zu tun. Das muss was reparieren. PRINZ Sag ihr bitte, dass / SIS / SISTA Nein. PRINZ Ich ruf sie an. Prinz ab. SIS Mom! Prinz hat den ganzen Abend nur mit Aschenputtel gesprochen! SISTA Mom! Jetzt hab ich mich so hübsch gemacht und Prinz hat mich überhaupt nicht angeschaut! SIS Mom! Aschenputtel hat sich in den Vordergrund gedrängt! SISTA Mom! Aschenputtel hat sich dermaßen in den Vordergrund gedrängt! SIS Das war so nicht ausgemacht! SISTA Das war so nicht verabredet! SIS Mom! Du hast gesagt, Männer mögen keine burschikosen Frauen! SISTA Mom! Du hast gesagt, Männer mögen keine vorlauten Frauen! SIS Mom! Du hast gesagt, Männer lieben Frauen, die selbstbewusst, aber nicht aufmüpfig, schön, aber nicht eitel, gepflegt, aber nicht gekünstelt sind!

SISTA Mom! Du hast gesagt, Männer lieben Frauen, die besonders, aber zurückhaltend, neckisch, aber edel, verführerisch, aber nicht nuttig sind! SIS Du hast gesagt, seid Frau von Welt und Unschuld vom Land! SISTA Du hast gesagt, seid GIRL NEXT DOOR und BIGGER THAN LIFE! SIS Du hast gesagt, seid ein einziger Traum, aber bleibt bodenständig! SISTA Du hast gesagt, macht Konversation, aber seid nicht rechthaberisch! SIS Du hast gesagt, redet über gesellschaftlich relevante Themen, aber proklamiert keine brisanten Thesen. SISTA Du hast gesagt, seid einnehmend, aber ­moderat. SIS Du hast gesagt, zeigt Persönlichkeit, aber keinen Eigensinn. SISTA Du hast gesagt, seid interessant, aber nicht edgy. SIS Und alles, alles, alles, was du gesagt hast, das haben wir gemacht. Und alles, alles, alles, was du gesagt hast, hat Aschenputtel nicht gemacht. Und in wen hat sich Prinz verliebt? In Aschenputtel! SISTA Wir fordern eine Erklärung. SIS Wir fordern eine Entschuldigung. SISTA Wir fordern eine Entschädigung. Eine Entschädigung für diese ganz Arbeit, die wir in uns gesteckt haben! SIS Unser ganzes junges Leben haben wir auf d ­ iesen Tag hin trainert. Wie Boxer auf den großen Fight. SISTA Wie Läufer auf den Marathon. SIS Wie Schachweltmeister auf die große Partie. SISTA Und jetzt, jetzt das! SIS / SISTA Mom Erkläre dich Mom Schweigen. MOM Tja, dieser Mann ist wohl anders. SIS / SISTA Du sagtest Kein Mann ist anders Du sagtest Alle Männer Sind gleich MOM Hab ich das gesagt? Dann hab ich mich wohl getäuscht. Aschenputtel kommt. ASCHENPUTTEL Die Toilettenspülung war gar nicht kaputt. Schweigen. Wo ist Prinz? Schweigen. Taube & Taube kommt vorsichtig auf Aschenputtel zu und reicht ihr einen Flügel. TAUBE & TAUBE Frieden? Pause. Wir mögen vielleicht nicht der Geist deiner Realmom sein, aber wir haben trotzdem das Zeug zu zwei sehr guten Freundinnen. Pause.

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MOM Ja, er wird dumpf und brutal sein, aber durch einen angeborenen Herzfehler wird er bei seinem fünften Wutanfall mausetot umfallen und du wirst sein gesamtes Vermögen erben. SISTA Und ich? MOM Du, Sista, wirst durch Prinz Zutritt zur Online Workshops Filmpreisverleihung bekommen und dort einen ­ berühmten Produzenten treffen, der einen / Digitale Beratung SISTA Wird er fett und alt sein? Methoden und Konzepte MOM Ja, er wird fett und alt sein, aber er wird einen Neffen haben, der ist fünfundzwanzig, schön wie ein Rabe und stark wie ein / ASCHENPUTTEL Ich heirate Prinz nicht. MOM What? ASCHENPUTTEL Ich heirate Prinz nicht. MOM What? Und warum nicht? ASCHENPUTTEL Die Frage lautet vielmehr: Wa­ rum sollte ich? MOM Aber ich dachte, du habest den Wert des ASCHENPUTTEL nimmt den Flügel Frieden. TdZ_Nov_2020.indd 1 06.10.2020 12:28:56Mannes dergestalt begriffen, dass du willens bist, MOM Welch rührende Geschichte. Ich heul gleich. den Deal einzugehen? SIS zu Aschenputtel Warum bist DU eigentlich verASCHENPUTTEL Deal? Ich hab nur gesagt, dass liebt? ich ihn mag und gerne Zeit mit ihm / SISTA Das war so nicht ausgemacht. MOM Eben. Ich rufe gleich das Standesamt an und SIS Das war so nicht verabredet. reserviere einen Termin für die Trauung. ASCHENPUTTEL Ich? Ich bin doch nicht verliebt! ASCHENPUTTEL Termin? Ich kann doch ohne SIS / SISTA Na ja! Termin Zeit / ASCHENPUTTEL Verliebt? Ich finde nur die GeMOM Na gut, ich geb dir eine kurze Frist zum spräche mit ihm sehr anregend! Plaudern und Kennenlernen / SIS / SISTA Na ja! ASCHENPUTTEL Plaudern, Kennenlernen? Liebe ASCHENPUTTEL Verliebt? Ich freu mich doch möcht ich schon auch mit ihm machen! nur extrem, ihn wiederzusehen! Schweigen. SIS / SISTA Na ja! TAUBE & TAUBE Und eisiges Schweigen machte ASCHENPUTTEL Verliebt? Ich habe nur ein warsich im Hause Thausendbeauty breit. Das Schweimes Gefühl im Körper, wenn ich an ihn denke! gen war so eisig, man hätte ganz ohne Kühltruhe SIS / SISTA Na ja! ein Huhn einfrieren können. Es war so eisig, dass ASCHENPUTTEL Verliebt? Ich bin nur gern in die Spatzen zu harten Kugeln froren und von den seiner Nähe und hab Lust ihn zu küssen! Ästen fielen. So eisig, dass den Elchen die Nasen­ Sis und Sista stürzen sich auf Aschenputtel und zerren löcher zufroren und der Urinstrahl des pinkelnden an ihren Haaren. Kutschers als gelber Bogen stehen blieb, lang noch, MOM Aber Sistas! Ja, das war anders geplant. Aber nachdem der Kutscher weit, weit fort war. nun müssen wir mit dem veränderten Schicksal ASCHENPUTTEL Tauben? vorlieb nehmen. Eine für alle und alle für eine! AleTAUBE & TAUBE So eisig, dass die auf den Bal­ xandre Dumas! Wir sind one family, ein Team! konen gelagerten Bierflaschen zerbarsten. Und die Eine Kampfeinheit, ein Bataillon im großen Fight schockgefrosteten Herzen der Menschenkinder for our Rights! Und was sind unsere Rights? erstarrten und den Tauben gefror das Blut in den SIS / SISTA Leben, Freiheit und das Streben nach Adern. Das Eis des Schweigens überzog Stadt und Glück! Thomas Jefferson! Land, Haus und Hof, Feld, Wald und Wiese. Ja, MOM Genau! Und was ist das Glück? Gesundheit? selbst Dad fröstelte! Da sagte die Schneekönigin zu Selbstverwirklichung? Lebenssinn? Ha. Das sagen Kay / nur die, die im Wohlstand leben. Doch die WahrASCHENPUTTEL Tauben? heit ist: TAUBE & TAUBE Was? SIS / SISTA Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angeASCHENPUTTEL Falsches Märchen. nehm! Bertolt Brecht! TAUBE & TAUBE Oh. Putzt sich hektisch das Ge­ MOM Genau! Und wenn‘s eine zu was bringt, hat fieder. Nein, man war nicht prüde im Hause Thausie die Pflicht, den anderen was abzugeben. Wir sendbeauty. Nein, man hatte nichts einzuwenden werden alle bald in goldenen Kutschen fahren und gegen das Frönen in Fleischeslust. Man hatte von goldenen Tellern goldene Steaks essen. Alle, nichts gegen das Erlernen fernöstlicher Liebeshört ihr? Du, Sista, mach dir mal keine Sorgen. Sokunst. Man hatte seinen Oswald Kolle durchaus bald Aschenputtel Prinz besitzt, sollt auch ihr eigelesen. nen Prinzen bekommen. SIS Bitte wen? SIS Einen Prinzen? TAUBE & TAUBE Egal. Wogegen man allerdings MOM Je einen Prinzen natürlich. Denn das eherne etwas hatte, war Kapitalverschwendung. Gesetz der Prinzenkonzentration besagt, was, Sis? MOM Allerdings. SIS Wo einer ist, sind mehr, denn gleich und ASCHENPUTTEL Wir reden hier von einer freien gleich gesellt sich gern, der Reiche bleibt gern unEntscheidung eines freien Individuums in einem ter sich, Promi ist des Promi Freund und der Teufreien Land. fel scheißt immer auf den größten Haufen. SIS Freiheit? Die gibt‘s doch gar nicht. MOM Genau! Du, Sis, wirst durch Prinz Zutritt SISTA Die ist doch nur eine Finte des Neoliberaliszum Golfclub bekommen einen Ölscheich kenmus. nenlernen, der dich / ASCHENPUTTEL Ja, wenn man sich alldem wilSIS Wird er dumpf und brutal sein?

lenlos unterwirft? Wenn man widerstandslos seine Gefühle durchkapitalisieren lässt? TAUBE & TAUBE Sistas? Vieleicht mal was Gescheites lesen? Reicht ihnen ein Buch an. Sie neh­ men es nicht, es fällt unbeachtet zu Boden. MOM Stell dir vor, du wärst Tischlerin. Du tischlertest die schönsten Möbelstücke weit und beit. Viele, viele Stunden brächtest du an der Hobelbank zu, um deine Unikate zu kreieren. Und dann käm ein Kunde in den Laden und frug, was der schöne ­Sekretär da in der Ecke koste. Und du sagtest, ach, der kostet nichts. Nehmt ihn doch einfach gleich mit! Aber halt, ich schlage ihn für Euch noch in hübsches Glanzpapier ein, für umme, versteht sich / ASCHENPUTTEL Also, diese Analogie hinkt ganz gewaltig. SIS Stell dir vor, du wärst Mimin. Du ständest Abend für Abend auf der Bühne und mimtest dir die Seele aus dem Leib und tagsüber probtest du dir nen Wolf. Und was würdest du dafür bekommen? Ein Eimerchen voll Nichts, denn: es macht dir ja Spaß. Du willst es doch auch. Warum für e­ twas entlohnt werden, an dem du auch Vergnügen hast? ASCHENPUTTEL Ganz schiefer Vergleich, Sis, ganz schiefer Vergleich. SISTA Stell dir vor, du wärst Philosophin. ASCHENPUTTEL Es reicht jetzt! Liebe Family. Dear Mom. Ich lass mich doch von euch nicht auf den Strich schicken. SIS / SISTA / MOM Aber Aschenputtel! Nichts im Leben Ist ohne Preis ASCHENPUTTEL Ich war lange genug nachsichtig mit dieser Family, die nicht mal meine Real­ family ist. Weil ich Mitleid hatte. Weil ich dachte, ihr könntet halt nicht anders. Weil euch eure ­Opfermom mit ihrer ja, ich geb‘s zu, tragischen Geschichte in ein Tussitum hinein manipulierte. Nun aber ist‘s genug. Das hier ist meine Geschichte. Ja, ich wollte erst kein Teil davon sein. Ja, ich hielt diese Geschichte zuerst für die eurige. Aber nun, da sie die meinige wurde, haltet euch raus. Haltet euch als Nebenfiguren bitte an die Regeln. Und wenn ich der geistigen Vereinigung mit Prinz nun die körperliche folgen lassen will, so dulde ich keine Einmischung in meine Pläne. Dieser Prinz ist jetzt mein Prinz. SIS Du wollstest überhaupt keinen Prinzen! ASCHENPUTTEL Erst wollt ich keinen. Jetzt will ich einen. SISTA Aber den da haben wir entdeckt! Such dir einen anderen! ASCHENPUTTEL Ich will aber genau den. SIS Er ist unser Ticket ins Schlaraffenland! ASCHENPUTTEL Er ist ein Mensch und kein ­Ticket. SISTA Er ist unser persönliches goldenes Schicksal! Er ist unser persönlicher goldener Schwanz! ASCHENPUTTEL Er ist ein Mann und kein Schwanz. SIS Wir überlassen ihn dir gern! SISTA Zähneknirschend, aber gern! SIS Du kannst ihn haben. SISTA Bitte, du hast gewonnen. SIS Es gibt nur eines, was du tun musst. SIS / SISTA Heirate ihn SIS Hilf uns raus aus diesem Dreck. SIS / SISTA Heirate ihn ASCHENPUTTEL Ich helfe euch. Versprochen. Doch auf meine Art. SIS / SISTA Auf deine Art? Weh uns Wir sind gefickt


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ASCHENPUTTEL Ich mach grad mein Abi nach. Dann werd ich reich und geb euch Geld. Selbst verdientes. SIS / SISTA Ha ha ha Da sind wir aber Da sind wir aber mal Gespannt ASCHENPUTTEL Ich erfinde was Tolles. Ich male was Schönes. Ich schreibe was Gutes. Ich inszeniere was Großes. Ich entdecke was Neues. Ich erforsche was / SIS / SISTA Ha ha ha So viele vor dir Haben gedacht wie du Wo sind sie gelandet? Im Heim Am Herd In Billigjob und Leiharbeit In der Sozialbausiedlung am Rande der Stadt Im Zukunftslosen MOM Dein Problem ist, Kind, dass du in einer Märchenwelt lebst. Und glaubst das alles auch noch. Die Mär von der reinen Liebe. Die Mär von der Beziehung auf Augenhöhe. Die Mär von der geteilten Hausarbeit. die Mär von der geteilten ­Elternzeit. Wach auf! Sieh dir die Realität an, Kind! Lass dich nicht vom erstbesten Schwanz in die Pfanne hauen und uns gleich mit! ASCHENPUTTEL Es reicht. Ich gehe jetzt. SIS / SISTA / MOM Wohin? ASCHENPUTTEL Zu Prinz, die Vereinigung zu zelebrieren. SIS/SISTA / MOM Niemals!

7. KRIEG IM HAUSE THAUSENDBEAUTY Ein Kampf entbrennt. Aschenputtel versucht mit ­aube & Taubes Hilfe, die Wohnung zu verlassen, T Mom, Sis uns Sista hindern sie daran. Im Gewühl wird Dads Stecker rausgerissen, so dass der Kampf nun mit dramatsicher Opernmusik untermalt wird, während Dad dem Treiben hilflos und etwas verwirrt ­zusieht. Letztendlich siegen Mom, Sis und Sista und fesseln und knebeln Aschenputtel und Taube & Taube. Dad steckt den Stecker wieder rein und wendet sich ab. Stille.

8. INTRIGE/ DIE VERKLEIDUNG Sis und Sista stehen etwas ratlos vor ihren Gefangenen. SIS Boah ey Aschenputtel ey. Es ist nur zu unser aller Bestem.

SISTA Boah ey Aschenputtel ey. Es ist nur, weil ihr euch unsolidarisch mit der Familiy gezeigt habt. SIS Boah ey Aschenputtel ey. Du hast leicht reden von wegen dieser, dieser, dieser Bildung und Bla. SISTA Boah ey Aschenputtel ey. Wir sind halt nicht so denkbegabt. SIS Wir haben keinen Spaß am Vergleichen von mittelhochdeutschen Gedichtquellen. SISTA Wir kriegen von Bücherstaub Keuchhusten. SIS Wir wollen schön sein. SISTA Wir wollen tanzen. SIS Wir wollen uns in der Abendsonne am Pool die Nägel feilen. SISTA Warum wird das nicht als legitimes Lebenssziel anerkannt? SIS Wenn wir damit einen glücklich machen, der uns damit glücklich macht? SISTA Was ist daran so verwerflich? SIS Trophäenfrau ist doch ein schöner Beruf. SISTA Was hast du denn gegen diesen schönen Beruf einzuwenden? SIS Warum hilfst du uns nicht, diesen schönen Beruf zu ergreifen? SISTA Warum stehst du unserem Glück im Weg? Schweigen. SISTA Warum sagst du nichts? SIS Vielleicht, weil sie einen Knebel im Mund hat, du Volldepp? SISTA Mom! Sis hat mich Volldepp genannt! MOM Aber Sis! So reden wir im Hause Thausendbeauty nicht. Außer, es ist wahr! Zu Sista Und in diesem Fall ist es wahr, du Volldepp! Sista fängt an zu heulen. Sis nimmt Aschenputtel den Knebel raus. Taube & Taube zuckt, Sista nimmt ihr ebenfalls den Knebel aus dem Schnabel. SIS / SISTA Wir hören. ASCHENPUTTEL brüllt Ihr Ratten! Ihr falschen Schlangen! Ihr Hühnerhirne! TAUBE & TAUBE Na na na. ASCHENPUTTEL Ihr Schafsköpfe! Ihr Horn­ ochsen! Ihr läufigen Hündinnen! TAUBE & TAUBE Na na na. ASCHENPUTTEL Ihr dummen Kühe! Ihr Hasenherzen! Ihr feigen Schweine! TAUBE & TAUBE Na na na. Brüllt Ihr Menschen! ASCHENPUTTEL Genau: ihr Menschen! TAUBE & TAUBE Man kann einen glücklichen Sklaven eben nicht befreien. ASCHENPUTTEL Oder einen Sklaven, der gar nicht merkt, dass er Sklave ist. MOM zu Sis und Sista Schnell. Wir müssen euch verkleiden. SIS / SISTA What?

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MOM Ihr müsst an Aschenputtels statt zum Prinzen gehen und so tun, als wärt ihr sie. SIS / SISTA What? SIS Wird Prinz nicht merken, dass wir statt einer zwei sind? MOM Sis, du Volldepp! Es geht natürlich nur eine von euch. SIS / SISTA Und welche? MOM Diejenige, die Aschenputtel am Ende am ähnlichsten ist. Diejenige, der die Verkleidung am besten gelingt. Ach, sagen wir es in aller grausamen Klarheit, wie es ist: Die bessere. Sis und Sista beginnen eine hysterische Verkleidungsorgie. Hopp hopp! Das ganze Leben ist ein Wettbewerb! ASCHENPUTTEL Lasst ihn in Ruhe! Ich verbiete euch, Prinz für euren Nestbau zu instrumentalisieren! Hört auf, ihn zum Schwanz zu machen! Prinz ist kein Schwanz! Er ist ein menschliches Wesen! Ihr Monster! Ihr faulen Schlampen! Wie könnt ihr nur! Sis uns Sista sind mehr oder weniger perfekt als Aschenputtel verkleidet. MOM Perfekt! Jetzt müssen wir nur noch an eurer Persönlichkeit arbeiten. ASCHENPUTTEL Ha! Persönlichkeit? Da ist doch nichts. Nur ein Hohlraum. Ein Loch. Löcher auf zwei Beinen, das seit ihr! MOM geht zu Taube & Taube und nimmt ihr den Kne­ bel aus dem Schnabel. Los! Unterrichte sie! TAUBE & TAUBE Was? MOM Gib ihr dein Wissen, damit sie so reden können wie Aschenputtel. TAUBE & TAUBE Was? MOM Was du da immer anschleppst in deinem Schnabel. Die Bücher. Von diesen Mädchen. Diese Mädchenbücher! TAUBE & TAUBE Du meinst unsere umfangreiche Bibliothek der wichtigsten Werke feministischer Literatur? MOM Whatever. Fass den Kram mal kurz zusammen und trichtere ihn den Sistas ein. TAUBE & TAUBE Ja, können wir mit einem Fingerhut den Ozean leer schöpfen? Können wir mit einem Teesieb die Wüste Gobi abtragen? Können wir Armeen aus der Erde stampfen? Wächst uns ein Kornfeld in der flachen Hand? MOM Hör auf zu jammen und beeil dich. Taube & Taube reißt Seiten aus ihren Büchern und stopft sie Sis und Sista in den Mund. TAUBE & TAUBE Wir fangen an mit einem Happen Olympe. Dann ein Löffel voll Germaine. Dann eine Unze Gloria. Je ein Spritzer Laurie. Mary. Simone. SIS Mom! Ich kann nicht mehr! SIS Mom! Mir ist so schlecht!

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MOM Weiter! Weiter! TAUBE & TAUBE Hier kommt eine große Portion Andrea. Hier eine Messerspitze Naomi. Abgeschmeckt mit Shulamith. Betty und Kate. Hier noch ein Klecks Virginia und eine Prise Lady Bitch. SIS Mom! Es schmeckt so widerlich! SISTA Mom! Ich muss gleich kotzen! TAUBE & TAUBE streng Rucke di Gu Blut ist im Schuh Das Telefon klingelt. ASCHENPUTTEL Das ist Prinz! SIS/SISTA Oh mein Gott! ASCHENPUTTEL Gebt mir den Hörer! MOM Eine muss abnehmen. Eine muss mit ihm sprechen. ASCHENPUTTEL Gebt mir sofort den Hörer! Sis und Sista rennen zum Telefon, Sis nimmt ab, Sista reißt ihr den Hörer aus der Hand. SISTA Hallo?

9. ENTTARNUNG UND ENTTÄUSCHUNG PRINZ Seit Stunden schlich ich nun ums Telefon. Sollt ich‘s wagen, gleich anzurufen, am selbigen Tage? Wirkte das nicht unsouverän übergriffig bedürftig schwach? Nun. Ich fasste mir ein Herz und tat‘s. Und wie groß war die Freude, als das Aschenputtel höchstselbst gleich am Apparate war. Seltsam wortkarg, wie es gar nicht seine Art war. Nun, ich schob‘s auf die Aufregung und verbuchte das als Zeichen zu meinen Gunsten. Ach, ich eitler Narr, ich Volldepp! Aber wir verabredeten uns sogleich für den selbigen Abend. Da stand sie endlich vor der Tür. Ich musste sie natürlich an Tamara vorbeischmuggeln, die mir für diesem Abend schon ein Rendevous mit einem K-Pop-Star arrangiert hatte. Aber es klappte. Da stand sie also. Im Dämmerlicht einer gedimmten Lampe. In ihrem Arbeitsanzug. Und sagte plötzlich / SIS leiert tonlos mechanisch runter Wer sich nicht bewegt, spürt seine Ketten nicht. A woman must have money and a room of her own if she is to write fiction. On ne nait pas femme: on le devient. PRINZ Das kam mir komisch vor, doch ich dacht mir dann nicht weiter viel dabei. Schnurstracks kam sie auf mich zu. Aber – da stutzte ich. Denn sie trug Hohe Schuhe. Wie beim ersten Mal. Doch dieses Mal lief sie auf ihnen mühelos wie eine Elfe. Sanft wie auf Wolken schritt sie einher, ohne stolpern, ohne straucheln. Wie konnt das sein? Nun, klar. Es konnte sein, weil sie‘s nicht war. Ich riss ihr wutentbrannt die Larve vom Gesicht. Mit Schimpf und Schande schickt‘ ich sie nach Haus. Sis heult. MOM Woran nur hat er es gemerkt? SIS Ich weiß nicht, Mom! Ich habe meine Rolle perfekt gespielt! MOM Los, Sista, nun musst du dein Glück versuchen. SISTA Mom! MOM Los! TAUBE & TAUBE Und Sista ging hin und versuchte ihr Glück. Gurrt hämisch. PRINZ Endlich kam die richtige. Mein Aschenputtel! Die echte! Sie sprach / SISTA leiert tonlos mechanisch runter There comes a time when you have to decide wether to change yourself to fit the story, or change the story itself. Die Schuhfabrikanten machen Frauenschuhe zum

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Stehenbleiben. Dabei brauchen wir eher Schuhe zum Weglaufen. Dick in the air let me see you put your dick in the air. PRINZ Da sah ich, dass dieses Wesen, wer immer es auch war, Schuhe mit noch höheren Absätze trug als das vorige. Auf denen schritt einher sie wie eine Gazelle. Eine erneute Finte, mit der man mich hinters Licht zu führen suchte! Ich riss ihr die Maskerade vom Leib und schickte sie zum Teufel. Sista heult. SISTA Und jetzt? MOM Wird Aschenputtel zum Altar gezwungen.

10. DAD WILL AUCH MAL WAS SAGEN Dad nimmt seine Kopfhörer ab und tritt nach vorne. DAD Als ich meine Frau verlor und plötzlich allein dastand mit dem Kind und / MOM Ganz falscher Zeitpunkt jetzt, Dad. Schweigen. ASCHENPUTTEL Na komm schon, Dad. Trau dich. DAD Als ich meine Frau verlor / SIS Heul doch. SISTA Mimimi. Schweigen. DAD Sie war so ein freier, starker Mensch und / MOM Ja, wir wissen es. Sie war die Tollste! Die Schönste, Klügste, Belesendste, Faszinierendste! Du warst ja sooo verliebt! Aber dann raffte die Schwindsucht sie dahin. Tja. DAD Sie war eine gute Mutter, die ihrer Tochter Werte / MOM Was willst du damit sagen? DAD Eine Mutter, die ihrer Tochter alles beibracht – / SIS Ja, wie man scheiße aussieht vielleicht! SISTA Ja, how to be the perfect Neutrum vielleicht! SIS Ja, wie verstecke ich meinen Busen am Nachhaltigsten vielleicht! SISTA Ja, wie jage ich die Männer am Effizientesten in die Flucht vielleicht! DAD Ihre Lieblingsoper war – / SIS Lieblingsoper, klar! Sie war ja soo kultiviert! SISTA Lieblingsoper, klar! Sie war ja soo ein edles Geschöpf! SIS Sicher wog sie nur so viel wie fünf Federn! SISTA Sicher aß sie nur Licht! SIS Sicher schiss sie nur Rosenpuder! ASCHENPUTTEL Dad! Lass dich nicht unter­ buttern! Sprich, Dad, sprich! Welches war ihre Lieblingsoper? DAD Ihre Lieblingsoper war – / ASCHENPUTTEL Ja? Mach schon, Dad! DAD War – / Pause. Dad fängt an zu weinen. SIS Boah, what a speech! SISTA Wir wurden genug gemansplaint in diesem Leben, danke! DAD Seit ihrem Tod habe ich eine Melancholie in mir / SIS Ein Memmentum, meinst du wohl! SISTA Eine Antriebslosigkeit! MOM Ein Motivations-Minus! DAD Aber dann entdeckte ich auf dem Bildschirm dieses fröhliche Wesen und / MOM Meinst du etwa mich? Ich bin kein fröhliches Wesen. Ich bin ein von den Verhältnissen schwer gebeuteltes Opfer des Geschlechterkampfes. DAD Und Glück winkte und Hoffnung keimte / MOM Hoffnung keimte? Ach was. Der Penis schwoll!

DAD Und / SIS Wir kennen euch doch. SISTA Nur das eine im Kopf. Versorgt werden wollte er! SIS Ne Dumme finden, die ihm die Wäsche wäscht und das Bier aus dem Keller holt! DAD Nein, ich bin ein echter Romantik – / SIS Ja ja. Romantik. Das ist die schlimmste Falle! SISTA Höre Romantik, übersetze: lebenslanges Elend. SIS Höre Romantik, übersetze: mitteloser Spinner. SISTA Höre Romantik, übersetze: will alles nehmen, aber nichts geben. MOM Ich bin da nicht noch mal drauf reingefallen. Hab gleich geschrieben, hello stranger, du gefällst mir. Du scheinst ein nettes, nicht mehr ganz tau­ frisches Exemplar von Mann zu sein, mit dem Herz am rechten Fleck. Mit deiner mickrigen Rente bist du zwar alles andere als ein goldener Schwanz, mein Freund, da brauchst mir nichts erzählen, ich seh‘s an deinem Hemde. Ein Arme-Männer-Hemd! Aber du könntest durchaus zum sanftmütigen, duldsamen Gefährten taugen. Denn sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: War ich doch einst der Männer Hauptgewinn, bin ich jetzo verblüht. Diese Generation, also ich, sie hat‘s vermasselt. Ich gebe zu: ich bin gescheitert. So geb ich nun den Staffelstab weiter an meine Töchter. Du hast ne Göre, ich ihrer zwei, tun wir uns zusammen, is billiger. Auf gar keinen Fall mach ich für dich nen Finger krumm. Putz oder kauf ein oder bespaß dich oder überlass dir die Fernbedienung oder hör mir an, was du wieder gedacht geträumt geplant hast, wo du wieder gewesen bist, lass mir mit ner Fahne ins Gesicht atmen oder bekoch dich oder ­beback dich oder betüttel dich. Auf gar keinen, gar keinen Fall trag ich dir deinen patriarchalen Arsch nach! DAD Ich bin kein / ich hab keinen patriarchal – / MOM Dieses Mal lass ich mich vom Mannsbild nicht für dumm verkaufen. DAD Ich habe die Frauen immer gelie – / MOM Das sind die schlimmsten! Wer diesen Satz hört, flüchte schleunigst. DAD Ich mach doch alles im Haushalt und trag den Müll / ASCHENPUTTEL Nein, Dad. Du machst gar nichts. Das mach alles ich. Ich bin die, die das macht. DAD Aber ich hab doch gestern erst den Müll / ASCHENPUTTEL Ja, Dad. Ein Mal. Ein Mal im Jahr trägst du den Müll runter. DAD Willst du damit sagen, ich sei / ASCHENPUTTEL Nicht so schlimm, Dad. Sitz du nur weiter in deinem Sessel und sei traurig. SIS Traurig? Lahm und maulfaul. DAD Ich bin gar nicht lahm, ich / SISTA Total nutzlos, der alte Sack. DAD Ich hör nur gern Op – / MOM Genug gejammert, alter Mann. Schweigen. DAD Kind, warum bist du eigentlich gefess – / ASCHENPUTTEL Ach, Dad. Weil du mir nicht geholfen hast. DAD Es tut mir so leid, Kind! Ich hab doch gar nichts mitbekomm – / ASCHENPUTTEL Schon gut, Dad. Schweigen. DAD Manchmal bereitet es mir schlaflose Nähte, weil ich denke, dass ich als Vater versa – / MOM Wer will das alles hören? Also, ich nicht. ASCHENPUTTEL Lass Dad doch auch mal was sagen! Dad? Bitte. Schweigen. Dad? Schweigen.


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Bist du müde, Dad? Dad nickt. Willst du dich ­wieder hinsetzen? Dad nickt. Dann setz sich doch einfach wieder. Dad setzt sich wieder. Schweigen. SISTA Und jetzt? MOM Wird Aschenputtel zum Altar gezwungen. Ding-Dong. MOM Da ist er schon! ASCHENPUTTEL Prinz! Hilfe! MOM Du wirst um Prinzens Hand anhalten. Nein: Du wirst Prinz so manipulieren, dass er um deine Hand anhält. ASCHENPUTTEL Was? Niemals. Ich manipuliere doch nicht den Mann, den ich liebe! Sis und Sista lachen. SIS/ SISTA Die ist so‘n Volldepp! Mom nimmt einen Stöckelschuh zur Hand und hält ihn als Waffe über Aschenputtels Kopf. MOM Wehe, du sagst die falschen Worte. Dann erschlag ich dich. Und deinen blöden Vogel noch dazu. Taube & Taube duckt sich weg.

11. DIE UMBESETZUNG DES PRINZ Prinz kommt. Mom schiebt Aschenputtel in den Raum, versteckt sich hinter der Gardine und bleibt mit erhobenem Schuh stehen. ASCHENPUTTEL Prinz. Ich muss mit dir reden. PRINZ Und ich auch mit dir. ASCHENPUTTEL Ich habe Wichtiges zu sagen. PRINZ Und so ich. Schweigen. ASCHENPUTTEL Bitte. Nach dir. Mom fuchtelt drohend mit dem Schuh. ASCHENPUTTEL fällt auf die Knie Heirate mich! Stille. TAUBE & TAUBE Nicht nur, dass dies nicht gerade als Vorgang subtiler Manipulation durchging, war es dazu noch ein Songzitat der Band RAMMSTEIN, was Prinz so verwirrte, dass er in ein langes Schweigen fiel. Stille. Aschenputtel sucht hek­ tisch in ihren Taschen nach einer Art Ring und hält Prinz schließlich eine Schraubenmutter entgegen. Endlich löste sich Prinz aus der Schockstarre und sprach – / Stille. Schreit Prinz an / Endlich löste sich Prinz aus der Schockstarre und sprach / PRINZ hüstelt verhalten Äh, puh, ja, warum nicht? Unter Jubelgeheul kommen Mom, Sis und Sista hin­ term Vorhang vor. Mom wirft den Schuh weg. TAUBE & TAUBE Hach, war das ein Jubel im Hause Thausendbeauty! So stand der Hochzeit nun nichts mehr im Wege. Geht zu Dad und reißt den Stecker

raus, so dass die Hochzeitsvorbereitungen nun mit Opernklängen untermalt werden. Hysterisches Anzie­ hen und Ondulieren und Schminken und Dekorieren. Ausgelassene Zeremonie im Zeitraffer. Taube & Taube steckt den Stecker wieder rein. ASCHENPUTTEL So schlimm ist die Ehe ja gar nicht! PRINZ Wir sind erst fünf Minuten verheiratet. ASCHENPUTTEL Wirklich? Es kommt mir vor, als seien es schon Jahre. TAUBE & TAUBE Und während Prinz noch darüber nachdachte, ob es sich hier um einen Diss oder ein Kompliment handelte, erhob sich Dad und –  /  Dad bleibt sitzen. Dad? Stille. Dad, war so nicht verabredet. Stille. Dad? SIS packt Prinz am Kragen Los! Führ mich in die Gesellschaft ein! Stell mich deinen Freunden vor! Nimm mich in dein Chalet mit! Finanzier mir einen Benimmkurs! SISTA packt Prinz am Kragen Ich will Glam und Champagner und flirrende Flirts mit mächtigen Männern in Hugo Boss-Anzügen! MOM packt Prinz am Kragen Ich will ein rückenfreies Versace-Kleid! Prinz macht sich los. Stille. PRINZ Aschenputtel. Du öffnetest mir Herz und Hirn. Durch deine Rede wurde mir bewusst, welch Knechtesjoch ich unterlieg. Zog ich nicht einst aus, um vom Guten, Wahren, Schönen zu berichten? Und nun. Ertrage ich seit Jahr und Tag die Gesellschaft der fürchterlichsten Dummköpfe, schmierigsten Drehbuchschreiberinnen, schamlosesten Geldhaie. Ich schäme mich. Ich schäme mich für mein Leben, für mein armseliges Leben. Ich schäme mich dafür, dass ich nachts nur durch einen Cocktail aus Tavor, Valium und Wodka Ruhe finde. Ich schäme mich vor dem Jungen, der ich einst war. Ich kann mich nicht mehr im Spiegel sehen, ha, kleiner Untoten-Witz, weil ich dann vor Scham kotzen müsste. Ich schäme mich für mein verlogenes Geschleime auf Partys. Für all die toxischen Geschichten, die ich aus Profitgier unters Volk brachte. Für all die falschen Träume, die ich in Teenie-Herzen pflanzte. Die Lügen, mit denen ich ihr Gemüt verseuchte. Ich schäme mich dafür, dass ich meinen besten Freund an einer Überdosis in einer Hotelsuite verrecken ließ, da ich es nicht wagte, ihn ins Krankenhaus zu bringen, aus Angst vor schlechter Presse. Ich schäme mich. Ich schäme mich für all die vorgespielten Orgasmen bei zahllosen One Night Stands, von denen ich mir Vorteile erhoffte. Ich schäme mich für jede beschissene, verlogene Textzeile, die aus meinem Nuttenmund kam. Ich schäme mich, für jeden Preis, den ich von dieser korrupten Medienmeute annahm.

Für jedes Bravo-Foto, auf dem ich schleimig in die Kamera grinse. Ich schäme mich dafür, dass ich meine Herkunft des Ruhmes willen verleugnet habe. Denn mein wahrer Name ist nicht Prinz. Mein wahrer Name ist Ciprian Antonescu. Ja, ich komme aus Rumänien. Ich schäme mich dafür, dass ich meinen Namen ablegte, um mich besser zu verkaufen. Ich schäme mich. Ich schäme mich dafür, dass ich meine Jugendliebe in einem Dorf in den Karpaten schwanger sitzen ließ, weil sie meinen eitlen Plänen im Wege stand. Ich schäme mich vor meiner Mutter, die mich zu einem aufrichtigen, guten Menschen erzog. Und der ich nicht mal eine Einladung zur Premiere schickte, aus Scham für ihre Armut. Ich schäme mich dieser Scham. Ich stehe hier und schäme mich. Stille. ASCHENPUTTEL Liebster, das ist ja furchtbar. PRINZ Nein! Denn gestern ging ich zu Tamara, klopfte an ihr Büro, schlug ihr die Soja-MatchaLatte aus der Hand und rief / ASCHENPUTTEL Tamara! PRINZ Genau. Tamara! Rief ich. Ich fod‘re diverse Veränderungen! ASCHENPUTTEL Yeah! PRINZ Tamara rief: Prinz! Lass hören! ASCHENPUTTEL Yeah! PRINZ Und ich rief: Tamara! ASCHENPUTTEL Yeah! PRINZ Ich will: Menschenwürdige Arbeitszeiten. Ein Recht auf Privatleben. Einfluss aufs Drehbuch. ASCHENPUTTEL Yeah! PRINZ So sieht‘s nämlich aus, Tamara! Und ­Tamara sprach: schön, Prinz. I hear you. Du bist gefeuert. ASCHENPUTTEL Oh. Schweigen. ASCHENPUTTEL Oh weh. PRINZ Nichts oh weh! Freiheit! ASCHENPUTTEL Was willst du nun tun? PRINZ Ach, ich hab so viel Ideen! ASCHENPUTTEL Hm. PRINZ Hm? ASCHENPUTTEL Na, du kannst ja sicher eine Weile vom Gesparten leben und / PRINZ Gespartes? ASCHENPUTTEL Du hast all die Jahre nichts gespart? PRINZ Nö. Hab nix mehr! ASCHENPUTTEL Wo ist der Lohn der sieben ­Sequels hin? PRINZ All das Gold, all das Geld, ging dahin. Ach. Schweigen. ASCHENPUTTEL Ja, wo ging es denn hin? PRINZ Ach. Gold und Geld. Nur ein Traum. Ach.

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stück

Schweigen. ASCHENPUTTEL Du bist pleite? PRINZ So sieht‘s wohl aus. Mom, Sis und Sista reißen sich mit Geheul die Fest­ tagskleider vom Leib. MOM Alles vorbei. Alles verlor‘n. Sis und Sista wälzen sich vor Schmerz auf dem Boden. MOM / SIS / SISTA Weh Goldschwanz ohn‘ Glanz Weh SIS Wer bist du nun? Ein Nichts! ein Namenloser! SISTA Ein Mann ohne Zukunft! Ein Schwanz ohne Potenzial! Ein Rumäne! SIS Ein Abgehängter, Abgespielter, ein HAS BEEN! SISTA Ein Blechschwanz, der uns nichts bieten kann! SIS Keine Zukunft in Strandhotels auf Bora Bora! SISTA Keine Reitstunden auf Araberhengsten in den Hamptons! SIS Keine – / Ach, quälen wir uns nicht weiter mit bunten Fantasien! SISTA Foltern wir uns nicht länger mit einer ­Zukunft, die nun niemals eintritt! PRINZ / ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE Moment MOM / SIS / SISTA All die Arbeit All unsere harte Arbeit Für nichts PRINZ / ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE Moment MOM / SIS / SISTA Man hat uns betrogen Um unser besseres Ich PRINZ / ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE Moment PRINZ Wir sind nicht eure Krücken! ASCHENPUTTEL Wir wurden nicht geboren, um eure faulen Ärsche in Seide zu packen! PRINZ Wir mussten uns erst selbst befreien. Und nun sind wir frei! MOM / SIS / SISTA Ha Frei SIS Ihr seid hier nicht im Märchenwald, wo ihr euch von Luft, Liebe und Heidelbeeren ernähren könnt! SISTA Dad? Sag doch auch mal was! Dad? DAD Äh / ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE / PRINZ Große Werke Werden wir schaffen Freie Geister Erzieh‘n MOM / SIS / SISTA Ha SIS Wo wollt ihr wohnen, ihr freien Geister? ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE / PRINZ Im Zelt Im Wohnwagen Im Wald Im Tiny House MOM / SIS / SISTA Ha Ein Wohnwagen Fünftausend Euro Ein Grundstück im Wald Zehntausend Ein Tiny House Gibt‘s so ab Round about Fünfzehntausend ASCHENPUTTEL / TAUBE & TAUBE / PRINZ Wir fällen selbst das Holz Wir bauen alles selbst

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Denn wir sind handwerklich geschickt Unsere Fertigkeiten Machen uns unabhängig MOM / SIS / SISTA Ha Ihr Träumer In den Abgrund Werdet ihr stolpern Und reißt uns noch mit MOM Und wer ist an all dem Schuld? Wer schleppte die böse Saat der falschen Versprechungen an und pflanzte sie in Aschenputtels Hirn? Wer nährte falschen Glauben an falsche Freiheit? SIS / SISTA Die Luftratte MOM Überbringerin vergifteter Schriften! SIS / SISTA Die Luftratte MOM Wegen der die Thausendbeautys nun statt in goldenen Kutschen in der Gosse landen! SIS / SISTA Die Luftratte MOM Muss bestraft SIS / SISTA Die Luftratte MOM Muss geopfert werden! Oder, Dad? Dad? DAD Ä / Mom, Sis und Sista packen Taube & Taube und werfen sie in die Fritteuse. ASCHENPUTTEL Weh! Kein gutes Omen.

12. WAS HERNACH GESCHAH Aschenputtel blickt traurig in das siedende Fett. ASCHENPUTTEL Ach, Tauben. Du warst nicht die, für die ich dich hielt, und ja, vielleicht warst du nicht mal zwei, sondern nur eine. Aber seit Realmom an der Schwindsucht starb und Dad auf so wunderliche Weise, äh, wunderlich wurde, warst du mir doch die beste Freundin und engste Vertraute. Die frittierte Taube & Taube aufersteht und bürstet sich das Fett vom Gefieder. TAUBE & TAUBE Aschenputtel, entsetzt über den brutalen Mord an Taube & Taube, brach den Kontakt zur Familie für immer ab. Sis und Sista lernten – / ASCHENPUTTEL Tauben! Umarmt sie. Du bist doch kein schizophrener Vogel aus der Psychiatrie! Denn sonst wärst du sterblich. TAUBE & TAUBE Ach, diese missgünstigen Zuschreibungen immer! Nun, ich habe Pflichten, die mir ihm Jenseits keine Ruhe lassen. Nun höret: Aschenputtel, entsetzt über den brutalen Mord an Taube & Taube, brach den Kontakt zur Familie für immer ab. Sis und Sista lernten die Zwillinge Fred und Ted kennen, Millionärserben alter Schule, und führten fürderhin ein Jet-Set-Leben zwischen Nizza, Monaco und Abu Dhabi. Sie kauften Mom / MOM Und Dad / TAUBE & TAUBE / und Dad eine Villa mit Swimmingpool in Südfrankreich. Aschenputtel und Prinz wurden ein glückliches Akademikerpaar. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie / Mom schubst Taube & Taube weg. MOM Aschenputtel, entsetzt über den brutalen Mord an Taube & Taube, brach den Kontakt zur ­Familie für immer ab. So sehr sich Sis und Sista auch bemühten, sie konnten keinen goldenen Schwanz an sich binden. So vegetierten sie weiter in ihrer ärmlichen Behausung vor sich hin und wurden von Tag zu Tag verbitterter. Schließlich ­waren sie so verzweifelt, dass sie die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit aufgaben und ihr erotisches Kapital zu güstigem Tarife feilboten, wovon sie Mom zumindest einen /

SIS Und Dad! MOM / wovon sie zumindest Mom und Dad einen neuen TV-Apparat und ab und zu ein WellnessWochenende finanzieren konnten. Aschenputtel und Prinz wurden arbeitslose Akademiker. Frustriert von ihrer misslichen Lebenssituation stritten sie immer häufiger um Geld, bis Aschenputtel eine Affäre mit einem goldenen Schwanz anfing und Prinz schließlich für ihn verließ. Und wenn sie nicht / ASCHENPUTTEL Taube & Taube wurde gar nicht ermordet! Taube & Taube guckt ungläubig auf ihr ­verklebtes Gefieder. Sie wurden freigelassen, weil für die anderen ihr Tod ja eh keinen Sinn mehr ergab. Aschenputtel und Prinz wurden ein glückliches Liebespaar. Mom befahl Sis und Sista, sofort nach einem neuen goldenen Schwanz zu googeln / MOM Aber dieses Mal bitte einen old school Millio­när! Altes Geld! Österreichischer Adel oder so was! ASCHENPUTTEL / aber durch den FeminismusCrashkurs von Taube & Taube waren sie mit Autonomie infiziert und wollten lieber auf eigenen ­Füßen stehen. Alle machten Online-Uni-Abschlüsse in Mathematik, Quantenmechanik und Neurobiologie und lernten dazu noch bohren, dübeln und schreinern. Sis wurde UN-Botschafterin und Sista Außenministerin. Beide lernten auf einem Charity-Event nette Männer auf Augenhöhe kennen. Sie kauften Mom – und Dad – eine Villa mit Swimmingpool, wo sie Sartre, Marx und Chomsky lasen. Aschenputtel wurde NATO-Generalsekre­ tärin und es gelang ihr in ihrer Amtsperiode, den Weltfrieden durchzusetzen. Prinz wurde glück­ licher Hausmann und beschäftigte sich mit der Erziehung ihrer vier Kinder. Und wenn sie nicht / Sis schubst Aschenputtel weg. SIS Trotz ihrer glänzenden Abschlüsse konnten Sis und Sista keinen Job an der Uni bekommen, also mussten sie notgedrungen in die freie Wirtschaft. Was ihnen zwar viel Kohle, aber wenig Erfüllung brachte. Sie fühlten sich fremdbestimmt, überarbeitet und ethisch verkommen und Abends fielen sie todmüde ins Bett. Ihre Versuche, via ­online-Dating Männer kennenzulernen, scheiterte an der Angst der Männer vor Karrierefrauen. So wurden sie alte, verfettete Catladys. Aschenputtel und Prinz fanden heraus, dass sie trotz ihrer emotionalen und intellektuellen Wellenlänge sexuell nicht harmonierten. Prinz gestand Aschenputtel, dass er sich zu billigen Schlampen hingezogen fühlte und dass sein gesamten Ersparnisse damals für seine starke Porno- beziehungsweise Hurensucht draufgegangen waren. Und wenn sie nicht gestorben / ASCHENPUTTEL Prinz gestand Aschenputtel, dass er seine gesamten Ersparnisse damals einem Brunnenbau-Projekt in Ruanda gespendet / MOM Prinz gestand Aschenputtel, dass er seine gesamten Ersparnisse gar nicht verjubelt, sondern im Dschungel von Borneo unter einem Affenbrotbaum vergraben hatte. Dort flogen sie nun hin, gruben den Schatz aus und kauften / PRINZ Und Prinz drehte einen großartigen Indiefilm, gewann einen goldenen Löwen und drehte danach eine herzerwärmende Dokumentation über Dads Leben / MOM Nein, über Moms Leben! Über Moms harten Kampf um Anerkennung / SIS Nein, über die Thausendbeautys und ihr tragisches Geburtsschicksal /


Juni Tdz Do:November 20.05.2011 / TdZ  Januar 2021  /

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rebekka kricheldorf_der goldene schwanz

PRINZ Und Sis starb einen grausamen Tod bei mit einem zwanzigjährigen Yogalehrerin zusamSISTA Nein, über die Thausendbeautys und ihren ­einem fürchterlichen Unfall, als sie versuchte, die men, der er ein Beach House mit Studio in KaliforCharme und ihre Schönheit, ihren Witz und ihre Autobahn zu / nien schenkte. Weltklugheit / ASCHENPUTTEL Und Sista fiel besoffen vom MOM Männer! So berechenbar! DAD räuspert sich. so war es nicht – Es war / ­Balkon  / DAD Aber nein, so etwas würde ich nie / SIS Und Taube & Taube wurden dann doch noch PRINZ Nein, Sis und Sista wurden beide, weil sie MOM Aber Mom traf ihren Ex wieder, der inzwivon einem Delikatessenhändler erwischt / so dumm waren, in voller Fahrt aus dem Fenster schen geläutert ward und ihr gestand, dass er trotz ASCHENPUTTEL Wie denn, Dad? der Schnellbahn zu schauen, von schweren Eisenaller anderen Girls / DAD Es war / pfeilern geköpft. SIS/ SISTA/ MOM Immer nur sie geliebt habe. SIS Und landeten gebraten auf den Tellern eines ASCHENPUTTEL Und niemand besuchte je ihr Grab. ASCHENPUTTEL Aber ach, in welchem Zustand jungen Hochzeitspaars. DAD Ich würde niemals nicht das Grab / war er, der einstmals schönste Junge der ganzen Dad hat aufgegeben und trollt sich wieder in den Hin­ PRINZ Das Grab, in dem die beiden Körper lagen Highschool! Zahnverlust vom Speed, oben eine tergrund. und verwesten, ohne Köpfe, denn die Köpfe waren Platte und am Hinterkopf hing ein trauriger, fettiTAUBE & TAUBE Und Sis und Sistas Füße nie gefunden worden. ger, ergrauter Zopf, als kleine Referenz an die waren vom vielen Hohe-Schuhe-Tragen ganz SIS Dad wurde dement. Und Mom pflegte ihn aufehemalige, längst verfadete Wildheit. Das ver­ ­ verformt / opferungsvoll. waschene Iron Maiden-T-Shirt spannte über dem ASCHENPUTTEL Sis linker Fuß, Sistas rechter Fuß / MOM Dad wurde dement und Mom fand einen Trommelbauch, aber / TAUBE & TAUBE Deshalb mussten sie am KnoPlatz in einem schönen Pflegeheim für ihn / MOM Nein, nein, nein! So war‘s nicht gewesen! chen operiert werden. Und die OP ging schief, so SISTA Mom wurde dement und Dad pflegte sie SISTA Aschenputtel und Prinz studierten Kulturdass sie nur noch auf Krücken laufen konnten. mehr schlecht als recht / wissenschaften und wurden berühmte Medien­ Und so trugen sie fürderhin nur noch Sneakers. DAD Das würde ich nie / kritiker. Aber ach, Aschenputtel war viel erfolg­ Das war ihr Ende. Sie wurden depressive Alkoho­ ASCHENPUTTEL Mom und Dad wurden beide reicher als Prinz, was Prinz, auch wenn er es nicht likerinnen, denn ohne schöne Schuhe machte das dement und verarmten in einem Rattenloch, was zugeben mochte, zusehends belastete. Leben für sie keinen Sinn mehr. DIE 30 30 WICHTIGSTEN WICHTIG STEN ARBEITEN Ein berührendes ihnen aber nichts ausmachte, denn in ihrer SIS Sie bekamen ein Kind und Prinz wurde unPRINZ Aber Prinz, Prinz entwarf eine Post-GlamDokument deutschAUS US 30 30alleJAHREN M GROSSFORMAT GROSSFORM T ein Königsfür ­DemenzIM hielten sie ihre Siffbude A glücklicher Hausmann. Zum ScheinA lobten rock-Plateauschuh-Kollektion / Trennung schloss, ihre stinkenden Polyesterfetzen sein gutes Beispiel, aber hinter REICH seinem Rücken ASCHENPUTTEL Oh no, no no no! Aber deutscher es beBEBILDERT KOMMENTIERT BEBILDER T UND U K OMMENTIER T von der Armenhilfe für Seidengewänder und die Flasche lachten sie über ihn und bedauerten ihn. gab sich, dass Dad sich in eine andere verliebte. Buchpremiere Goldkrone für edelsten Hennessy. Und wenn sie SISTA Sie sagten, faul sei er, fachlich nicht gut geMOM What? mit Lea Draeger und nicht gestorben / nug, mache es sich bequem, lasse BUCHPREMIERE seine Frau für ASCHENPUTTEL Denn jetzt, wo er betucht war, AM AM 1 19.6.2011, 9.6.2011, 11 11 UHR Thomas Thieme Hans-Ulrich sich arbeiten, ein Loser sei er, ein Schlappschwanz / da seine Töchter ihn Müller-Schwefe reich mit Geld, Gold und ImPR A G QU ADRIENNAL LE , GOE THE-INSTITUT PRAG QUADRIENNALE, GOETHE-INSTITUT Schloss Neuhardenberg und Susan Todd (Hg.) Fade out SIS So sehr sich Aschenputtel auch bemühte, mobilien beschenkt hatten, war sein Marktwert ISBN 978-3-942449-02-1 26. Juni ­d2011, 17 Uhr 346 Seiten / 41,90 CHFsagen, dass iese höhnischen Reden vor ihm zu verbergen, er enorm gestiegen. Ja,25,00 man€ kann fast 48 4 8dermaßen EURO 8 82 2 CHF 978-3-942449-03-8 72020 8-3-94Gustav 2449-03Kiepenheuer -8 THEA THEATER AT TER DER ZEIT ©9 Bühnenvertriebsbekam sie doch zu Ohren, was ihn frus- ISBN Dad nun zur Kategorie goldener Schwanz gehörte. IM BUCHHANDEL / / PORTOFREI POR TOFRE EI UNTER THEATERDERZEIT.DE THEA AT TERDERZEIT.DE GmbH, Berlin trierte, dass er / Und so verließ er Mom, die alte Schrulle, und kam

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Magazin Von Thälmann bis Rackete

Die Berliner Schaubude veranstaltet eine gelungene

Nasen, Pässe und Klagen tauschen Die Tanz-Biennale in Venedig trotzt Corona  Bücher Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Hybridversion ihres Festivals der Dinge

Falk Schreiber, Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Christian Rakow und Christian ­Römer, Gunnar Decker


magazin

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Von Thälmann bis Rackete Die Berliner Schaubude veranstaltet eine gelungene Hybridversion ihres Festivals der Dinge Es gibt noch Überraschungen im kontaktge-

mann-Denkmal, einem gewaltigen Klotz in-

nicht

bremsten Pandemieherbst. Beim Festival der

mitten von Grün – und zu gewaltig, um

besuchen um Kinderbetreuung kümmern

wie

bei

herkömmlichen

Theater­

Dinge, dem Objekttheaterfestival der Berliner

schnell geschleift zu werden. Ums Denkmal

mussten.

Schaubude, entsteht tatsächlich eine Art

herum, auf virtuelle Sockel, die einem realen

Inhaltlich stach aus dem Programm,

Begegnungsraum. Jedenfalls dann, wenn ­

Stadtraumverhübschungsprojekt entnommen

das das Verhältnis von Menschen, künstlicher

man sich die App „Nur für einen Tag“ auf

sind, soll man dann eigene Botschaften

Intelligenz und Robotern als zeitgenössischer

Smartphone oder Tablet herunterlädt und von

schreiben, fordert die App. Manche haben ­

Form von Puppen untersuchen wollte, die

der Schaubude aus eine GPS-geleitete Suche

das tatsächlich gemacht. Spuren des blauen

Performance „Dingwesen“ der Wiener For-

nach Skulpturen im Stadtraum beginnt.

Fettstifts, der auch zum eigenen Equipment

schergruppe H.A.U.S. heraus. Hier interagie-

Die Bilder des Kameraauges werden

gehört, sind auf dem steinernen Boden zu

ren zwei humanoide Pepper-Roboter nicht

auf dem Bildschirm mit abstrakten Zeichen

entdecken. „Utopie“ ist noch zu lesen, „Red

nur mit einer Tänzerin. Sie ahmen mittels

und Symbolen überlagert. Unter die Auf­

Memories“ ebenfalls: „Rote Erinnerungen“.

Kinect-Technik auch die Bewegungen einer

nahmen real entgegenkommender Passanten

Anderes ist verwischt. Aber man taucht in

Programmiererin nach. Die Interaktion zwi-

mischen sich bald auch Silhouetten digitaler

Spuren anderer Nutzer ein, ebenso beim

schen Mensch und Roboter beschränkte sich

Figuren. Man ist plötzlich inmitten einer

­Vorbeilaufen an virtuellen Bäumen, die Bot-

also nicht auf die den Zuschauerinnen und

digital erweiterten Gemeinschaft. „Nur für ­

schaften enthalten.

Zuschauern meist unzugängliche Ebene des

­einen Tag“ lenkt den Weg dann zu Denk­mälern

„Nur für einen Tag“, geschaffen von

im öffentlichen Raum. An den antifaschisti-

Fabian Raith, einem Studierenden der Abtei-

schen Widerstandskämpfer Anton Saefkow

lung Puppenspiel der Hochschule für Schau-

Aufbauend auf den Erfahrungen des

wird erinnert – und diese Erinnerung mit der

spielkunst „Ernst Busch“, ist ganz beson­

Festivals will die Schaubude auch im Dezem-

Frage an die Heldinnen und Helden unserer

deres Objekttheater. Es animiert mithilfe

ber zahlreiche Produktionen auf der Bühne

Zeit verknüpft. Natürlich fallen einem die

digitaler Überschreibungen feste Körper im

spielen, sie live aufzeichnen und streamen.

offiziell auserkorenen Pandemiehelden an ­

Stadtraum. Das Projekt ist pandemietauglich,

Für den Zeitraum nach der Pandemie kann

Supermarktkassen und auf Intensivstationen

denn Teilnehmende huschen jeweils allein

sich Sandweg Hybridformate aus Livespiel

ein. Zu Heldinnen und Helden wurden sie,

mit ihrer mobilen Bühne über die Bürger­

mit Publikum und parallelem Stream für alle

weil sie ihr gewöhnliches Tagwerk in unge-

steige. Und es knüpft Verbindungen, trotz

ortsabwesenden Interessierten vorstellen. Das

wöhnlichen Zeiten weiter verrichteten; der

­aller Einzelgängerei mit dem Smartphone.

klingt glatt nach Theater des 21. Jahrhun-

Kontext sorgt hier für Heldentum, nicht die

Festivalatmosphäre selbst konstatiert

Tat selbst – womöglich schlummert hier ein

der Schaubuden-Chef und Festivalmacher

neuer Ansatz für Dramatik. Die App führt

Tim Sandweg rückblickend auch bei den

dann aber auch die Stimme von Carola

­anderen, den gestreamten Formaten: „Durch

Rackete ein, der Kapitänin, die auf dem ­

die Einbettung der Streams in eine Be­

Mittelmeer Leben rettet. Als Heldin ist sie ­

grüßung und ein Gespräch mit den Künstle-

mit den Pandemieheldinnen verwandt, weil

rinnen und Künstlern danach entstand eine

sie tut, was Schiffsführerinnen auf See tun,

Gemeinschaft. Das Gefühl wurde noch da-

wenn sie Menschen in Seenot begegnen. Zu-

durch verstärkt, dass bei vielen Streams und

gleich wagt sie mehr als normal, setzt sich

Diskussionen dieselben Personen anwesend ­

der Gefahr von Strafverfahren aus.

waren. Man begegnete sich wieder, wie bei

Der Denkmal-Parcours „Nur für einen Tag“ führt natürlich auch zum nahen Thäl-

einem klassischen Festival.“ Im Vergleich zu einer Bespielung der Schaubude selbst unter den Pandemie­

Vielleicht kommt der Tod ja als Maschine – Die Berliner Schaubude untersucht wie hier in „1/0/1 robots – hacking the binary code“ der Gruppe Manufaktor das Verhäl­tnis von Menschen, künstlicher Intelligenz und Robotern. Foto Julie Sievert / Gilda Coustier

einschränkungen kamen virtuell sogar mehr Zuschauer, als real in den Theatersaal gedurft

Programmcodes, sondern findet visuell nachvollziehbar statt.

derts. // Tom Mustroph

Stay at home and read a book! w w w. m e r l i n - v e r l a g . c o m

hätten, bilanziert Sandweg. Neues Publikum bestand aus Personen, die gar nicht in Berlin waren, sich aber aus der Ferne zuschalteten, und auch solchen, die sich dank der Streams

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Nasen, Pässe und Klagen tauschen Die Tanz-Biennale in Venedig trotzt Corona

Venedig hat sich mit seinen Kulturaktionen

schönes Erlebnis. Und wenn dann kurz vor

recht schlau durch den Corona-Sumpf ge-

dem Ziel die gigantische Lichtinstallation

schlängelt. Das Filmfestival fand statt, die

„Building Bridges“ von Lorenzo Quinn übers

Architektur- und die nächste Kunstbiennale

Wasser grüßt, dann ist man nicht mehr von

wurden verschoben, aber einige der Festivals

dieser Welt. Nach einem solchen Auftritt

und Veranstaltungen drum herum trösteten

draußen haben es die Vorstellungen drinnen

darüber hinweg. So auch die Biennale Danza,

nicht leicht.

Nichts reicht an die nächtliche Stimmung auf dem leeren Arsenale-Gelände heran – wo kurz vor dem Ziel Lorenzo Quinns gigantische Skulptur „Building Bridges“ übers Wasser grüßt. Foto Halcyon Gallery / Lorenzo Quinn

für die zum letzten Mal die kanadische

Aber die Aufführung „The Time Takes

­Choreografin Marie Chouinard verantwortlich

The Time Time Takes“ des Choreografenduos

zeichnete. Die Programmdirektoren für Thea-

Guy Nader und Maria Campos aus Barcelona

zelebriert wie ein Trip. Die fünf fantastischen

ter, Tanz, Musik, A ­ rchitektur etc. werden je-

schlug sich glänzend. Das Stück mäandert

Tänzer verschaffen dem Sog den Raum und

weils für vier Jahre ernannt – Chouinards

wie sein Titel und erfindet dabei eine ganz ei-

der Zeit die Zeit, und der Rhythmus des Live-

Nachfolger ist Wayne McGregor.

gene Formensprache aus Hebe-, Roll-, Streck-

Schlagzeugs gibt die Art und Weise vor, wie

Die Aufführungen, die ich sah, fanden

und Drehbewegungen, die sich unaufhaltsam

die Körper sich gegenseitig hochschaukeln,

alle im Arsenale statt. Nachts über das riesige

aneinanderreihen. Das ist sehr ästhetisch,

umeinander winden, ineinander übergehen,

leere Gelände zu gehen, ist ein gruselig

sehr kraftvoll und wird mit lässiger Eleganz

sich lösen und wieder verbinden, hochstreben,


magazin

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verwirren oder beglücken. Das ist sehr frisch

schlagenden Neoliberalismus, die zuneh-

und lebendig und macht neugierig auf das,

mende Diktatur der Politik, die Repression

was kommt. Der weitere Verlauf des Abends

durch Militär und Polizei, den wachsenden

kann die geweckten Erwartungen allerdings

Faschismus, Nationalismus, Rassismus und

nicht erfüllen; er ist zu illustrativ, zu uninspi-

die Frauenmorde.

riert – und wird deshalb niemandem gerecht.

Und dann entwirft sie ihre Utopie: „Ich

Ein Höhepunkt dagegen war die Preis-

stelle mir vor, wie wir tanzen, alle, die ganze

verleihung im Ca’ Giustinian. Claudia Castel-

Zeit, die gleichen Bewegungen machen und

lucci erhielt den Silbernen Löwen für ihre

uns unablässig verwandeln, durch alle mögli-

langjährigen, kreativen Arbeiten mit Jugend­

chen Erfahrungen: wenn wir von uns selbst

lichen, María La Ribot den Goldenen Löwen

ausgehen, die Hemden tauschen, die Hosen,

für ihr Lebenswerk (siehe auch TdZ 06/2018).

die Mützen, die Schuhe tauschen, die Hand-

Die Spanierin, mit blauen Haaren und afrika-

tücher und Kleider, Gestalt, Bäuche, Haare

nischem Wams, sah hinreißend aus und hielt

und Nasen, Hühnerschenkel, Totenschädel

eine sehr schöne Rede.

und Kamelhaare, lange Röcke, Regenmäntel,

Sie begann mit einem anrührenden

Teppiche, Tische und Stühle, Zigaretten und

Geständnis ihrer Corona-Todesangst, der sie

Besen, Musik und Lichter, Bücher, Schrubber

sich ausgeliefert fühlt, und übertrug dieses

und Messer, die Körper tauschen und die

Ausgeliefertsein dann auf ihre Arbeit. Aber

­Leben, Geschichten und Lügen, Frauen und

die bietet letztlich auch Trost, denn „der

Männer, aufgesetzte Hörner, Klagen und Hin-

Tanz kann die Menschen verbinden und da-

tern, Name, Gesicht und Pass. Die Kunst ist

bei neue Welten erschaffen. Deshalb ist es

immer ein Kräftemessen mit dem Tod.“ //

heute umso wichtiger, die Welt poetisch zu betrachten, ohne sich um die jeweiligen Moden und Unterhaltungsmärkte zu kümmern“. Sie führt Klage gegen den wild um sich

niedersinken, sehr schnell, sehr präzise und immer voller Leichtigkeit. Man könnte dem stundenlang zusehen. Einen interessanten Ansatz hat auch Xavier le Roy für Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“, das er gemeinsam mit den internationalen Studenten der Biennale Akademie entwickelt hat. Zu Beginn treten sie einzeln vors Publikum und präsentieren ihre musikalischen Lieblingsstellen, die sie beängstigen,

Originelle Formensprache aus Hebe-, Roll-, Streck- und Drehbewegungen – Guy Naders und Maria Campos’ Choreografie „The Time Takes The Time Time Takes“ bei der TanzBiennale in Venedig. Foto Alfred Mauve

Renate Klett

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Ob das Parkett sich nach dem Lockdown zügig wieder füllen wird oder ob die Pan­de­ mie die Theaterwelt nachhaltig verändert – diese Frage stellt sich nicht nur das Berliner Ensemble. Foto Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

welchem Anlass die fotografierende Person das Haus aufgesucht hat („um eine Leiter aus dem Saal zu holen“ usw.). Die Verwundbarkeit der Herde, die man sich vorher kaum bewusst gemacht hat, schlägt sich im „Infektionsgeschehen“ nieder wie in einer biblischen Plage. Das ist das eine. Das andere ist das Gegenmittel, das seinerseits ein Übel darstellt. Nora Auerbach und Sonja Laaser gehen in ihrem „System­ irrelevanz“ überschriebenen Beitrag der Frage nach, inwiefern die Kunstfreiheit mit den Schutzmaßnahmen kollidiert. Die Autorinnen, beide Juristinnen, stellen dabei die Legitimität der Maßnahmen – anders als ­ ­sogenannte Querdenker – nicht infrage. Nicht jeder Eingriff in die Grundrechte sei rechtswidrig, halten Auerbach und Laaser nüchtern fest. Doch „umso geringer die Gefahr der Ansteckung, desto höher die Hürden an die Verhältnismäßigkeit“. Überdies sei der Staat verpflichtet, die Kunst zu fördern. Wenn insbesondere freie Theater, in denen ja nicht zuletzt „freie“ Künstler arbeiten, sich dabei hervortun, ihre Verletzlichkeit

(Post-)Pandemische Impulse

aufsucht, weil man die herdenmäßige Zusam-

zu zeigen, dann auch deswegen, wie die Jour-

menballung von Körpern in einem Raum als

nalistin Anja Quickert in ihrem Beitrag „Ein

Auffallend oft ist in diesem Band von Vul­

unzeitgemäß empfindet, sich ansonsten die

Totentanz“ zeigt, weil sie aufgrund ihrer pre-

nerabilität, zu Deutsch Verwundbarkeit, die

Produktionen auf den eigenen Rechner

kären Situation in besonderem Maß existen­

Rede. Der Schweizer Autor und Regisseur

­servieren lässt? Wird das Theater umfassend

ziell betroffen sind. Die Krise, so Quickert,

­Boris Nikitin beschreibt den Akt der Selbst-

digitalisiert werden, und ist der Lockdown der

habe „etwas Unerwartetes“ gezeigt: Die Ge-

veröffentlichung, das „Outing“, als gemeinsa-

Probelauf dafür?

sellschaft war bereit, wirtschaftlichen Scha-

men Kern jeder öffentlichen Äußerung, egal

Diese Vorstellung erscheint (noch)

den auf sich zu nehmen, um das Gemeinwohl

ob persönlich oder künstlerisch. „Es ist eine

­absurd. Vor der Pandemie wäre niemand auf

zu stärken. Aber wer kommt für den Schaden

Wette mit der Zukunft, ein Schritt ins Leere.“

die Idee gekommen, die physische Präsenz in

auf? //

Eine Wette mit der Zukunft – so ließen

einem Theater infrage zu stellen. Die Foto­

sich auch die Erfahrungen bezeichnen, die

grafien, die den Band illustrieren, unterstrei-

Kulturinstitute in aller Welt im Pandemiejahr

chen die Melancholie verlassener Bühnen. In

2020 gemacht haben. Der vom Impulse-­

den jeweiligen Legenden ist festgehalten, aus

Festival edierte Sammelband „Lernen aus dem Lockdown?“ versammelt entsprechende Beiträge freier Theatermacher und -­experten. Wird beispielsweise das Theater nach der Besiegung des Virus irgendwann wieder das alte sein? Wird man diesen Albtraum ver­ gessen haben? Oder handelt es sich um eine Zäsur, die das Theater komplett verändert, etwa dergestalt, dass man künftig nur noch ausnahmsweise eine Spielstätte persönlich

Lernen aus dem Lockdown? Nachdenken über Freies Theater. Hg. für das NRW-Kultursekretariat von Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Falk Schreiber, Alexander Verlag, Berlin 2020, 229 S., 14 Euro.

Martin Krumbholz­

Nebenbeimedium im Wischbetrieb? Theater wird digitaler, das hat die Pandemie bewirkt. Einen umfangreichen Überblick über seine entsprechenden Ausweichbewegungen und Erkundungsritte im letzten Sommer und Herbst gewährt der Band 14 der Schriften­ reihe zu Bildung und Kultur der HeinrichBöll-Stiftung mit dem Titel „Netztheater. ­Positionen, Praxis, Produktionen“.


magazin

/ TdZ  Januar 2021  /

In dem gemeinsam mit dem Portal nacht­

­Ableger geeignet sind und für welche sie sich

kritik herausgegebenen Band sind die geläu-

transformieren müssten. Auch der Preis für

figsten Beispiele von Theater im und mit

die Transformation lässt sich, zumindest in

dem Internet sowie mithilfe des Mobilfunk-

Ansätzen, ablesen.

Gunnar Decker: Zwischen den Zeiten: Die späten Jahre der DDR. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 432 S., 28,80 EUR.

netzes versammelt. Dieser Dokumentations-

Einige Beiträge vertiefen die Debatte,

teil ist verdienst­ voll. Denn ein Manko der

wie anders ein funktionierendes Netztheater

­früheren Digitalisierungsexperimente darstel-

im Vergleich zum herkömmlichen Theater­

lender Künst­lerin­nen und Künstler bestand in

betrieb aussehen könnte. Es müsste sich zu-

der fehlenden Weitergabe von Erkenntnissen

nächst daran gewöhnen, Nebenbeimedium zu

konnte nur folgen, dass die Einwohner dieses

und Irrtümern.

werden, wie Radio, Fernsehen und Wisch­

Landes sich in Quarantäne zu begeben hat-

Etwas irritierend ist allerdings manch

betrieb auf dem Smartphone, prophezeit die

ten, bis ihre geistige Gesundung wiederher­

theoretisch-philosophischer Beitrag. Dort mi-

Medienwissenschaftlerin Judith Ackermann

gestellt war. „Folgt man dieser Logik heute“,

schen sich individuelle Erfahrungen mit Wün-

und empfiehlt daher einen modularen Vor­

schreibt Decker, „dann muss man den aufge-

schen und groß tönenden Behauptungen.

stellungsbetrieb mit „leichten Ein- und Aus-

klärten Westen nur immer weiter in den Osten

Noch aus den 1990er Jahren scheinen die

stiegsmöglichkeiten“.

ausdehnen – derzeit ist er bis an die Ostgren-

Aufforderungen zu stammen, das Theater in

Über die Beschaffenheit des sozialen

einen Hackspace zu verwandeln. Spätestens

Raums, den Digitaltheater herstellt, denkt

Dieser Kommentar macht deutlich,

seitdem Donald Trump vor vier Jahren das

Friedrich Kirschner, Professor für Digitale Me-

dass es sich bei der „Zeitreise durch die spä-

Weiße Haus „hackte“ und als Reaktion darauf

dien an der Hochschule für Schauspielkunst

ten Jahre der DDR“ nicht nur um ein Erinne-

das Bewahren alter Werte als hohes kulturel-

„Ernst Busch“, am Beispiel der Schwelle nach,

rungsbuch handelt, sondern um Erinnerun-

les Gut gehandelt wurde, sollte die mindes-

des Übergangs zwischen einem allgemeinen

gen an die Zukunft. Denn die Konflikte, die

tens zweischneidige Natur des kreativen Aus-

Außen und dem spezifischen Raum sowohl des

sich heute in ganz Europa zuspitzen, wurzeln

nutzens von Sicherheitslücken erkannt und

klassischen als auch des Netz­theaters. In der

auch in den ungelösten Widersprüchen und

eben nicht gedankenlos heroisiert werden.

Pandemiesaison 2020 funk­tionierten jene For-

Fehlentscheidungen jener Jahre.

ze der Ukraine gekommen.“

Auch der an mehreren Stellen hoch-

mate am besten, in denen diese Schwelle

Deckers Zeitreise führt von der Ausbür-

schießende Jubel bezüglich angeblicher par-

strukturiert war und den Teilnehmenden etwa

gerung Wolf Biermanns im November 1976

tizipativer Netz-Praktiken muss mit Vorsicht

während oder nach der Aufführung Aus-

bis zur Veröffentlichung des letzten Teils von

genossen werden. Partizipation und Inter­

tauschmöglichkeiten geboten wurden.

Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ im

aktion sind meist nur innerhalb der vorgege-

Wie sehr der Diskurs über digitales

Januar 1988. In kurzen und erhellenden

benen Spielräume und Narrationsarchitektu-

Theater trotz mittlerweile fast dreißigjähriger

Kapiteln zeichnet der Autor die wichtigsten ­

ren möglich. Sehr hilfreich für die künftige

Geschichte noch in den Kinderschuhen

Entwicklungen in Literatur, Theater, Film und

Debatte könnte hier die Typologie von Inter­

steckt, wird auch daran deutlich, dass die

Politik in der Sowjetunion und der DDR nach.

aktion, Kollaboration und Partizipation sein,

meisten Beteiligten nur eine sehr kleine

Dabei ruft er die Diskussionen um die Werke

die Christiane Hütter, Mitinitiatorin des Netz-

Auswahl digitaler Produktions- und Präsen­ ­

so unterschiedlicher Autoren und Regisseure

werks Invisible Playground und Redaktions-

tationsplatt­formen im Blick haben. Da hinken

wie Tschingis Aitmatow, Daniil Granin oder

mitglied des vorliegenden Bandes, entwarf.

selbst die im Band versammelten Pioniere

Tengis Abuladse und Christa Wolf, Heiner

Sie macht deutlich, für welche Interaktions-

der Szene der eigenen Konsumentenpraxis im

Müller oder Konrad Wolf in Erinnerung, die

modi das alte Theater und sein digitaler

Alltag hinterher. Raum für die Entwicklung

durch Michail Gorbatschows Politik erst mög-

eigener Plattformen abseits der kommerziel-

lich und von der Partei- und Staatsführung der

len Produkte bietet der Band erst recht nicht.

DDR vehement abgelehnt wurden. Der Herbst

Das ist das größte Manko dieser ansonsten

1989 läutete mit den Demonstrationen in den

sehr notwendigen Publikation. //

Ländern des „sozialistischen Lagers“ dann

Tom Mustroph

den Anfang vom schnellen Ende ein. Gunnar Decker erweist sich einmal mehr als profunder Kenner von Kunst und

Erinnerungen an die Zukunft Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Hg. von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Christian Rakow und Christian Römer für die Heinrich-Böll-Stiftung und nacht­ kritik.de in Zusammenarbeit mit weltübergang.net, Heinrich Böll Stiftung, Schriften zu Bildung und Kultur Band 14, Berlin 2020, 128 S., kostenlos.

Kultur dieser Zeit, wobei mitunter der Eindruck entsteht, die Menschen hätte in diesen

Im Prolog seines neuen Buches erinnert

Jahren nichts mehr umgetrieben als die Ver-

Gunnar Decker daran, dass auch Jürgen ­

bote von Romanen, Filmen und Theater­

­Habermas im November 1991 in einem Brief

stücken. Die Mehrheit, wie die kommende

an Christa Wolf in die Fanfare der Sieger der

Zeit zeigen sollte, hatte andere Sorgen und

Geschichte stieß und behauptete, die Zerstö-

Träume. Aber Deckers Buch erinnert auch

rung der Idee des Sozialismus durch den real

­daran, dass die Künste einmal einen Stellen-

existierenden Sozialismus sei „für die geis­

wert in der Gesellschaft hatten, von dem sie

tige Hygiene Deutschlands fataler gewesen

heute nicht einmal mehr träumen können. //

als das Erbe des Nationalsozialismus“. Daraus

Holger Teschke

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aktuell

Thomas Oberender. Foto Christoph Neumann

Meldungen

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verlängert wurde der Vertrag von Genia Nölle,

tes Ensemblemitglied am Jungen National-

die weiterhin als Verwaltungsdirektorin und ne-

theater Mannheim. Neben ihrer Tätigkeit als

ben Kröck als Geschäftsführerin tätig sein wird.

Schauspielerin war sie dort als Regisseurin

Unter dem Motto „Poesie und Politik“ war

und später als Hausregisseurin beschäftigt.

Kröck mit einem international ausgerichteten

Seit 2013 arbeitet Jule Kracht als freie

Spielplan bereits in seiner ersten Amtszeit

Regisseurin mit dem Schwerpunkt Junges ­

2019 überregional erfolgreich. Aufgrund der

Theater an verschiedenen Theatern in ganz

Corona-Pandemie konnten die Ruhrfestspiele

Deutschland. Sie entwickelt Stücke nach Bil-

2020 zum ersten Mal nicht stattfinden. Derzeit

derbüchern, kooperiert mit zeitgenössischen

bereitet Kröck zusammen mit seinem Team die

Komponist*innen und schreibt eigene Thea-

Ruhrfestspiele 2021 vor, in denen das Festival

terfassungen von Kinderliteratur.

sein 75. Jubiläum feiern wird. Sebastian Zimmler. Foto Armin Smailovic

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Aufgrund der ungewissen Situation angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann in dieser Ausgabe kein Premierenkalender erscheinen. Täglich aktuelle Premierendaten finden Sie unter www.theaterderzeit.de.

■ Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters

■ Antonia Beermann wird ab Dezember 2020

hat den Vertrag des amtierenden Intendanten

fester Teil des Künstlerischen Leitungsteams

der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, um

des HochX in München. Sie folgt auf Benno

weitere fünf Jahre verlängert. Oberender bleibt

Heisel, den sie zuvor schon in seiner Eltern-

somit bis zum 31. Dezember 2026 im Amt,

zeit vertreten hat. Neben Beermann bleibt

welches er seit 2012 innehat. Die Berliner

Ute Gröbel Künstlerische Ko-Leiterin des

Festspiele realisieren ganzjährig Ausstellungen

HochX, das 2021 seine Aktivitäten in den

im Gropius Bau und Festivals wie das Theater-

Bereichen (Ko-)Produktion, Vernetzung und ­

treffen, MaerzMusik, das Jazzfest Berlin sowie

Vermittlung ausweiten wird. Als freies Pro-

vier Bundeswettbewerbe und Veranstaltungen

duktionshaus hat sich das HochX bislang

verschiedener Genres im Haus der Berliner

erfolgreich in der Münchner Theaterszene ­

Festspiele und an anderen Orten der Stadt.

etablieren können. Der Schwerpunkt wird

Die Berliner Festspiele feiern 2021 ihr 70.

2021 im Bereich Tanz liegen.

■ Der Schauspieler Sebastian Zimmler wurde

Jubi­läum.

■ Dirk Löschner, der derzeitige Intendant

für seine Rolle des Jakub Shapiro in „Der

■ Michael Börgerding bleibt bis 2027 Gene-

und Geschäftsführer der Theater Vorpommern

­Boxer“ mit dem Theaterpreis Hamburg – Rolf

ralintendant des Theaters Bremen. Das geben

GmbH, wird mit der Spielzeit 2022/23 neuer

Mares 2020 ausgezeichnet. Nach dem Preis

der Senat und das Theater bekannt. Börger-

Generalintendant des Theaters Plauen-Zwickau.

für die beste Regie beim deutschen Theater-

ding, der die Bühne seit 2012 leitet, sei es

Löschner folgt damit auf Intendant Roland

preis Der Faust 2020 ist dies die zweite Aus-

„eindrucksvoll gelungen, das Haus weit zu

May, der seinen Vertrag noch einmal bis

zeichnung für die Inszenierung „Der Boxer“

öffnen – für zahlreiche Kulturschaffende quer

­August 2022 verlängert hatte, „um den aktu-

der Regisseurin Ewelina Marciniak. Mit dem

über alle Sparten, besonders aber für die bre-

ellen künstlerischen Ensembles nach Jahren

Theaterpreis wurden insgesamt elf Theater-

mische Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt“,

der Interimsbespielung die Eröffnung des

schaffende geehrt, die in ihrer Verschieden­

begründet die Aufsichtsratsvorsitzende des

­rekonstruierten Gewandhauses in Zwickau zu

artigkeit die Bandbreite der Hamburger Thea-

Theaters, Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz,

ermöglichen“, wie es in einer Pressemittei-

terlandschaft abbilden. Der 2006 ins Leben

die Entscheidung. Zuvor war Börderding un-

lung des Theaters Plauen-Zwickau heißt.

gerufene Preis ist mit 1000 Euro pro Preisträger

ter anderem Chefdramaturg und Direktions-

dotiert und wird aus den Erlösen der Theater-

mitglied am Thalia Theater Hamburg sowie

■ Die Regisseurin und Schauspielerin Jule

nacht Hamburg finanziert. Eine offizielle Preis-

von 2005 bis 2012 Direktor der Theateraka-

Kracht wird ab der Spielzeit 2021/22 neue

verleihung wird es in diesem Jahr aufgrund der

demie Hamburg.

Leiterin des Jungen Schauspiels am Landes-

Corona-Pandemie nicht geben können.

theater Eisenach unter der Intendanz von Jens

■ Der derzeitige Intendant der Ruhrfestspiele

Neundorff von Enzberg. Sie tritt die Nachfol-

■ Der diesjährige exil-DramatikerInnenpreis,

Recklinghausen, Olaf Kröck, wird noch bis zum

ge von Christine Hofer an, die die Sparte seit

vergeben durch die Wiener Wortstaetten in

31. Juli 2023 in seinem Amt bleiben. Ebenfalls

2018 leitet. Kracht war zehn Jahre lang fes-

Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig und


aktuell

Emre Akal. Foto Jean-Marc Turmes

/ TdZ  Januar 2021  /

■ Am Landestheater Schwaben wurde die

■ Für das laufende Programm #TakeCareResi-

Sparte Junges Theater gegründet, mit dem

denzen innerhalb des Fonds Darstellende

Ziel, das Theaterangebot für Kinder- und Ju-

Künste konnten 326 weitere Vorhaben geför-

gendliche in der gesamten Region zu verbes-

dert werden. In der zweiten Antragsrunde

sern. Außerdem seien eine intensivere Bin-

wurden Projekte ausgewählt, die eine stipen-

dung an das junge Publikum sowie mehr

dienartige Förderung in Höhe von jeweils

partizipative Angebote gewünscht. Darüber

5000 Euro erhalten sollen. Bereits im Okto-

hinaus sollen kulturelle Identifikationsmög-

ber 2020 konnten im Zuge des Programms

lichkeiten für Kinder und Jugendliche gebo-

427 künstlerische Vorhaben finanziell unter-

ten werden. So wird es künftig ein Repertoire

stützt werden. Ziel der Förderungen ist es,

für alle Altersstufen geben, ein ausgebautes

ergebnisoffene Recherchen in Verbindung

theaterpädagogisches Begleitprogramm sowie

mit Residenzen einer Spielstätte des Bünd-

ein Fortbildungsprogramm für Lehrer*innen

nisses internationaler Produktionshäuser zu

und Erzieher*innen. Angestrebt ist auch die

unterstützen. Außerdem soll die berufliche

Gleichberechtigung mit dem Abendspielpro-

Existenz von professionellen frei produzieren-

gramm des Landestheaters.

den Künstler*innen, die durch die Covid19-Pandemie und die Einschränkungen im

■ Die Projektausschreibung für 2021 des

kulturellen Sektor existenziell betroffen sind,

deutsch-französischen Fonds für darstellende

stabilisiert und über die nicht produktions­

Künste der Transfabrik ist jetzt online. Der

gebundene Zusammenarbeit die Verbindung

dem Verein exil, geht an den Autor und Re­

Fond fördert als Koproduktionspartner antei-

mit den kooperierenden Theater- und Tanz-

gisseur Emre Akal für sein Stück „Hotel Pink

lig neue künstlerische Projekte zwischen

häusern gestärkt werden.

Lulu – Die Ersatzwelt“. Akals Arbeiten bewegen

Frankreich und Deutschland, mit Schwer-

sich im Feld von Performance, Choreografie

punkten auf Tanz, zeitgenössischem Theater,

■ Unter dem Dach des ensemble-netzwerks

und Bildkomposition. In der Jurybegründung

zeitgenössischem Zirkus, Figuren-, Objekt-

haben sich vier neue Netzwerke gegründet.

heißt es: „,Hotel Pink Lulu‘ ist ein witziger,

und Straßentheater. Das eingereichte Projekt

Hinzugekommene, selbstständig agierende

sehr aktueller Text über Eskapismus, über

muss eine Uraufführung betreffen, die nach

Sparten sind das assistierenden-netzwerk,

Konsum als Trost gegen jegliche Form von

April 2021 in Deutschland bzw. Frankreich

das bipoc-netzwerk, das theaterautor:innen-

Traurigkeit und darüber, wie großartig und

stattfinden wird und in dieser bzw. in der

netzwerk und das vermittlungs-netzwerk. Ziel

doch überfordernd die digitale Durchdringung

nächsten Spielzeit im jeweils anderen Land.

ist, sich stärker und solidarisch miteinander

all unserer Lebensbereiche geraten kann –

Mindestens ein Partner in Deutschland und

zu vernetzen und konkreter auf die Bedürfnis-

eine Überforderung, die der überbordende

ein Partner in Frankreich müssen daran betei-

se und Belange einzelner Gruppierungen von

Text als Herausforderung an das Theater wei-

ligt sein. Der Fonds Transfabrik soll als Kopro-

Theaterschaffenden eingehen zu können, die

tergibt.“ Der exil-DramatikerInnenpreis wird

duktionspartner mit einem Anteil in Höhe von

bislang inhaltlich, strukturell und arbeitspoli-

seit 2007 verliehen und ist mit 3000 Euro

maximal 10 000 Euro und 25 Prozent der

tisch marginalisiert worden sind. Somit soll

dotiert, er ist außerdem mit einer Urauffüh-

Gesamtkosten aufgestellt werden. Bewer-

eine adäquate Vertretung und Repräsentation

rung am Schauspiel Leipzig in der Spielzeit

bungsende ist der 17. März 2021.

der genannten Gruppen ermöglicht werden.

2021/22 verbunden.

■ Um in schwierigen Zeiten ein deutliches

■ Am 15. November ist der Schauspieler

■ Am 6. Dezember 2020 wurde der erste

Signal an Künstler*innen zu senden, hat

Matthias Henkel verstorben. Dies teilten die

Bühnenheld*innen-Preis durch das Aktions-

sich der Verein der Freunde und Förderer

Landesbühnen Sachsen mit, deren Ensemble

bündnis Darstellende Künste an Vertreter*innen

des Natio­naltheaters Mannheim entschieden,

er seit 1989 angehörte. Henkel wurde 1962

aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft

das jähr­liche Stipendium für die Haus­

in Weimar geboren und wuchs in Leipzig auf.

verliehen. Insgesamt 39 Preisträger*innen aus

autor*innen zu verdoppeln. Die Erhöhung

Dort erlernte er zunächst den Beruf des Buch-

fünf Kategorien wurden aus 161 Nominie­

erfolgt in zwei Schritten. In der laufenden

händlers und studierte von 1985 bis 1989

rungen von einer Jury ausgewählt. Die 39

Spielzeit steigt die Förderung von zuletzt

Schauspiel an der Theaterhochschule „Hans

Bühnenheld*innen „repräsentieren die große

6000 Euro auf 9000 Euro. Mit Beginn der

Otto“. Abseits seiner Bühnentätigkeit war

Vielfalt der Kulturlandschaft der darstellenden

000 Spielzeit 2021/22 soll sie dann 12

Henkel mehrfach in Film- und Fernsehpro-

Künste und zeigen, was möglich ist, wenn

Euro betragen. Zusätzlich stellt das Theater

duktionen zu sehen.

Menschen wach, offen und aktiv bleiben“,

eine Wohnung, übernimmt Reisekosten und

heißt es in der Pressemitteilung des Bundes-

finanziert einen Stückauftrag. Hausautor

verbands Freie Darstellende Künste. Die

der Spielzeit 2020/21 ist Necati Öziri,

Preisverleihung fand auf der Onlineplattform

dessen Stück „Gott Vater Einzeltäter“ am ­

Zoom statt. Moderiert wurde die Veranstal-

5. Februar 2021 in der Regie von Sapir

tung durch das Performer*innenkollektiv

Heller im Schauspielhaus des Natio­ ­ nal­

Henrike Iglesias.

theaters uraufgeführt wird.

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Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Fritz Göttler, Filmautor, München Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Gerd Hartmann, Regisseur und Theaterleiter, Berlin Renate Klett, freie Autorin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Patsy l‘Amour laLove, Polittunte und Geschlechterforscherin, Berlin Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Paula Perschke (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.12.2020 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Thema Als moderne Agora, als ideellen Marktplatz, auf dem die Gesellschaft über sich nachdenkt und nichts und niemanden ausschließt: So beschreibt sich das Theater gern selbst. Und in wesentlichen Punkten ist es tatsächlich offener geworden. Stichwort Diversität, Stichwort Geschlechtergerechtigkeit. Aber: Wie viele Menschen aus anderen Milieus als dem viel zitierten Bildungsbürgertum sitzen eigentlich im Publikum? Kommen die Arbeiterin oder der Erwerbslose auf der Bühne wirklich vor – oder wird dort nur ab und zu über sie geredet? Darüber sprechen wir in unserem Schwerpunkt zum Thema Klassismus unter anderem mit dem französischen Schriftsteller Édouard Louis, der selbst aus dem ­Arbeitermilieu stammt und, so es die Pandemie zulässt, demnächst an der Berliner Schaubühne in der Adaption seines ­Romans „Wer hat meinen Vater umgebracht“ in der Regie von Thomas Ostermeier zu sehen sein wird. Protagonisten Mehr Licht – ein Klassiker unter den Winterstoßseufzern, der im Pandemie-Lockdown umso flehentlicher wird. Gerade wenn das Theater, das die Erhellung ja in jeder Hinsicht zu seinen Kernkompetenzen zählt, geschlossen ist. Eine Erleuchtungs­ expertin ist auch die Künstlerin Miriam Ferstl, die schon viele Stunden ihres Lebens damit verbracht hat, an verschiedenen Orten der Welt auf kalten, harten Steinböden zu liegen, um aus dem idealen Kamerawinkel Kronleuchter zu fotografieren. Sabine Leucht begibt sich auf Deutungstour und porträtiert die Münchner Künstlerin.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2021.

Kronleuchter im Opernhaus Zürich. Foto Miriam Ferstl

Christine Adam, Theaterredakteurin, Osnabrück

Édouard Louis in „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Foto Jean-Louis Fernandez

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Januar 2021

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/01

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Was macht das Theater, Michel Brandt? Herr Brandt, erst kürzlich wurde entschie-

Die künstlerischen Erfolge des Karlsruher

den, dass der Generalintendant des Staats-

Theaters sind ja unbestritten …

theaters Karlsruhe, Peter Spuhler, im

Das ist das Ärgerliche. Nach außen

Herbst 2021 sein Amt aufgeben soll. Die

wurde so vieles richtig gemacht. Die ­

Konflikte mit ihm schwelen seit Langem.

Gründung des Jungen Staatstheaters

2015 gab es bereits eine Mediation. Sie

war längst überfällig. Und auch die Poli-

selbst waren als Schauspieler seit 2014

tik des Hauses, sich in die Stadtgesell-

im Personalrat. Gab es denn keine Mög-

schaft hinein zu öffnen, ist genau rich-

lichkeit, die für die Künstlerinnen und

tig. Wenn die Strukturen am Theater

Künstler so schwierige Situation früher ge-

innen dann aber ganz anders gelebt wer-

meinsam mit dem Intendanten zu lösen

den, passt das einfach nicht zusammen.

oder, wie nun geschehen, durch einen öffentlichen Protest zu beenden?

Sie haben den Fall des Machtmissbrauchs

Es hätte Möglichkeiten gegeben, we-

am Badischen Staatstheater mehrfach zum

sentlich früher einzugreifen. Das Prob-

Anlass genommen, eine Strukturdebatte

lem ist, dass wir beim Verwaltungsrat

anzustoßen. Hat das Modell des General­

immer auf taube Ohren gestoßen sind.

intendanten ausgedient?

Bis zum Schluss gab es für Peter S ­ puhler

Das Modell des Generalintendanten ist

eine große politische Rücken­ deckung.

nicht mehr zeitgemäß. Denn die Proble-

Zunehmend hat sich am Haus Verzweiflung breitgemacht, weil sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht gehört fühlten – und weil auch der Protest, den es ja 2015 schon gab, im Sande ver­ laufen ist. Die Vereinbarung, die man damals über eine Mediation traf, hat gar nichts an der Situation der Beschäftigten geändert. Umso erstaunlicher ist es, dass Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup bis jetzt behauptet, er habe von den Vorwürfen nichts gewusst. Das ist falsch. Als er 2016 bei uns im Personalrat zu Gast war, haben wir ihm die Lage sehr deutlich geschildert. Wir haben sogar Stundenzettel vorgelegt. Deshalb ­ wurde die Verzweiflung am Haus immer

Kritik am Führungsstil des Karlsruher General­ intendanten Peter Spuhler gibt es seit Langem, diesen Sommer entlud sie sich in öffentlichen ­Pro­testen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dennoch wollten die verantwortlichen Kulturpolitiker an ihm festhalten, erst jetzt fiel die Entscheidung, dass er im Herbst 2021 sein Amt aufgeben soll. Michel Brandt, der von 2012 bis 2016 als Schauspieler am Staatstheater Karlsruhe beschäftigt und seit 2014 im Personalrat war, hat die Vorgänge von Anfang an mitbekommen und sich selbst immer wieder für eine Veränderung der ­Situation eingesetzt. Inzwischen ist Brandt in die Politik gewechselt. 2017 zog er für die Partei Die Linke in den Deutschen Bundestag ein, wo er festes Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfen und stellvertretendes Mitglied im Kulturausschuss ist. Foto privat

me, die sich jetzt zeigen, hat Karlsruhe ja nicht exklusiv. Das Stadt- und Staatstheater muss neu gedacht werden. Dass eine Person oben sitzt und das ganze Theater leitet und dann auch noch die Macht über einzelne Verträge hat – da müssen wir rauskommen. Wir brauchen demokratische Strukturen und Team­ lösungen. Das wäre ein großer Qualitätsgewinn. Denn das Klima der Angst, das die derzeitigen Strukturen vielfach erzeugen, schadet allen. Das Generalintendanten-Modell lädt dazu ein, Autorität zu missbrauchen. So eine Alleinherrschaft ist weder produktiv noch leistbar. Ministerin Bauer hat angekündigt, dass

größer. Der Verwaltungsrat hat alles

am Staatstheater Karlsruhe nun Reform­

gedeckt, da gab es keinerlei k­ritische ­

prozesse in Gang gebracht werden sollen.

Stimmen.

Wie könnte diese Erneuerung aussehen? tet, und es gab kein OB-Wahlpodium, auf

Wichtig ist, dass die Impulse aus dem

Noch in diesem Sommer hatten Kultur­ministerin

dem das Thema nicht zur Sprache kam. Dass

Haus kommen. Das Schauspiel-Ensemble

Theresia Bauer und OB Mentrup eine Lösung mit

es so eines Wahlkampfes bedarf, um zu han-

etwa trifft sich schon seit dem Sommer, um

dem umstrittenen Generalintendanten favori-

deln, finde ich sehr unschön. Und es wird ja

einen Reformprozess anzustoßen. Da artiku-

siert. Sie waren davon ausgegangen, dass sich

noch immer nicht im Sinn der Beschäftigten

lieren die Künstlerinnen und Künstler auch

die Krise mit einer Mediation oder mit einem

gehandelt. Es wäre an der Zeit, den ganzen

Forderungen. Denen muss man jetzt Raum

Mitarbeiter-Anwalt lösen ließe. Der Vertrag mit

NV-Bühne-Angestellten zu signalisieren, dass

geben. Völlig falsch wäre es, dem Haus von

Spuhler war erst im Mai 2019 bis 2026 verlän-

ihr Job nicht in Gefahr ist. Um Ruhe ins Haus

außen etwas überzustülpen, was sich die

gert worden – wie es da hieß, auch „in Anerken-

zu bringen, müsste man eine Beschäftigungs-

­Politik ausdenkt. In Karlsruhe bietet sich jetzt

nung der künstlerischen Erfolge des Hauses“.

garantie für die Mitarbeiter aussprechen. Die

die einmalige Chance, etwas anders zu

Wie kam es nun zu dem Kurswechsel?

Angst am Theater, keinen Job in der bestens

­machen. Doch das geht nicht ohne einen um-

Angesichts der OB-Wahl in Karlsruhe Anfang

vernetzten Szene zu finden, wenn man sich

fassenden Beteiligungsprozess. //

Dezember und der bevorstehenden Landtags-

einmischt, ist riesig. Karlsruhe ist da kein

wahl 2021 in Baden-Württemberg wurde der

Einzelfall. Immerhin stärkt jetzt das bundes-

öffentliche Druck wohl zu hoch. Es wurde fast

weite ensemble-netzwerk Künstlerinnen und

täglich über die Zustände am Theater berich-

Künstlern den Rücken.

Die Fragen stellte Elisabeth Maier.


auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

Im 21. Jahrhundert entstehen Sprechtexte, Redeweisen und Skripte oft in gemeinsamen (Proben-)Prozessen: in einem Team von Kunst­ schaffenden oder unter Mitwirkung des Publikums. „TogetherText“ bezeichnet kooperative und prozessuale Verfahren der szenischen Texterzeugung und ihre Konsequenzen für Sprache, (Bühnen-) Raum, Zuschausituation, Theaterinstitution und deren Analyse. Der Band konturiert die entsprechenden Problemfelder und versammelt küns­t­ lerische Strategien.

Der international renommierte und vielfach ausgezeichnete Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels ist ein Grenzgänger zwischen den Künsten. Er hat seine künstlerische Arbeit und die zeitgenössische Theaterpraxis immer auch theoretisch reflektiert. Theater ist für ihn ein komplexes Wechselspiel zwischen der Polyphonie von Klang, Licht, Raum und der Wahrnehmung der Zuschauer. Die erweiterte Neuaus­ gabe versammelt die wichtigsten Schriften und Vorträge von Heiner Goebbels aus den letzten zwanzig Jahren.

RECHERCHEN 155 TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater Herausgegeben von Karin Nissen-Rizvani und Martin Jörg Schäfer

RECHERCHEN 160 Heiner Goebbels Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater (erweiterte Neuausgabe)

Paperback mit 314 Seiten ISBN 978-3-95749-303-3 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Paperback mit 236 Seiten ISBN 978-3-95749-325-5 EUR 18,00 (print) / EUR 14,99 (digital)

Wolfgang Krause Zwieback, alias Ray Pur Zwieback, schreibt seit Jahren neben seiner Bühnenarbeit sogenannte SMS-Poems. Es sind verdichtete, bildhafte Kurztexte, Beobachtungen und Erfindungen der Fantasie. Einer der Adressaten dieser SMS-Poems war der Komponist und Musiker Dirk Hessel. „Zum Hafen in Erwartung der Schiffe“ ist eine Flaschenpost aus einem intimen Paralleluniversum.

Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhält­ nisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. „Klassengesellschaft reloaded“ lotet diese beiden Komplexe – Klassis­ muskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus.

Ray Pur Zwieback und Dirk Hessel Zum Hafen in Erwartung der Schiffe. 24 Songs

RECHERCHEN 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung Fragen an Heiner Müller Herausgegeben von Wolfram Ette und Falk Strehlow

Musik-CD mit 32 Seiten Booklet Spieldauer: ca. 70 Minuten EUR 15,00 (physisch) / EUR 11,99 (digital)

Paperback mit 220 Seiten ISBN 978-3-95749-302-6 EUR 16,00 (print) / EUR 12,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Bündnis internationaler Produktionshäuser

Kampnagel Hamburg

HAU Hebbel am Ufer Berlin

PACT Zollverein Essen HELLERAU – Europäisches FFT Zentrum der Künste Düsseldorf Dresden tanzhaus nrw Düsseldorf Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main

Gefördert von:

www.produktionshaeuser.de


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