Theater der Zeit - 01/2019

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Neustarts Stuttgart und Bochum / Kunstinsert Olaf Altmann / Über das Aus der Sendung „Kulturpalast“ / Jürgen Holtz über die 300. „Dreigroschenoper“ / Wasser und Luft: In Gedenken an Eimuntas Nekrošius

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Edgar Selge

Januar 2019 • Heft Nr. 1

Der helle Wahnsinn


MĂźller+Hess, Borel / Bild: dan CerMak / Martin Butzke

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editorial

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Extra Der Aboauflage liegt bei IXYPSILONZETT– Das Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater

ine Frau tippt hektisch eine Nachricht in ihr Smartphone. Schon wenige Sekunden später erscheint die Antwort auf ihrem Bildschirm. Es geht um ihren Sohn, im Gespräch ist sie mit ihrem Mann, aber wirklich geredet haben die beiden schon lange nicht mehr. Die Ehe zwischen Nora und Torwald findet in Timofej Kuljabins Inszenierung von „Nora oder Ein Puppenhaus“ am Schauspielhaus Zürich vornehmlich über WhatsApp oder Facebook statt. Die Blicke starr auf die kleinen Bildschirme gerichtet, verhandeln die Menschen ihr Leben, ohne sich real gegenüberzustehen. Für Schauspielerlegende Jürgen Holtz sind das Bilder einer fortschreitenden Versklavung des Einzelnen, wie er im Gespräch mit Gunnar Decker erklärt. „Eine kafkaeske Situation, in der die Menschen nicht einmal bemerken, dass sie immer unfreier werden.“ Zum dreihundertsten Mal stand Holtz am 28. Dezember 2018 als Bettlerkönig Peachum in Robert Wilsons „Dreigroschenoper“ auf der Bühne des Berliner Ensembles. Der Satz „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ ist für ihn nach wie vor zentral. Wir seien nicht nur dazu da, zwischen Produkten, die man uns vorsetzt, zu wählen, sagt er, „sondern können selbst etwas erschaffen. Dazu brauchen wir Fantasie und Zeit. Das also, wovon die Kunst lebt.“ Die Januarausgabe von Theater der Zeit ist eine Ausgabe, die auf vielfältigste Art die Kraft des Theaters beschreibt. Als Befreiung des Individuums durch das Spiel. Das Gefängnis, also das, aus dem es sich zu befreien gilt, ist für den großen Schauspieler Edgar Selge – er selbst wuchs als Sohn eines Gefängnisdirektors auf – eine Metapher für die menschliche Existenz schlechthin. „Eingesperrt sind wir alle“, schreibt Gunnar Decker in seinem Porträt, „in unseren sterblichen Körper sowieso, aber auch in unsere Träume und Erinnerungen, schlimmer noch: Ängste.“ Revolte oder Resignation? Selge suche immer ein Drittes. Dies präge sein Spiel auf der Bühne. Als König Lear ist er derzeit in der Regie von Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg zu sehen. Dort stand er auch als François in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ auf der Bühne, oder besser gesagt: kämpfte sich in einem mannshohen rotierenden Kreuz von Plateau zu Plateau. Das Bühnenbild zu dieser Inszenierung stammt von Olaf Altmann, dem wir in diesem Heft unser Künstlerinsert widmen. Die Vielfalt von Autoren-, Schauspieler- und Regietheater zeigt der neue Intendant des ­Schauspiels Stuttgart Burkhard C. Kosminski. Während sein Vorgänger Armin Petras das Who’s who deutschsprachiger Regisseure aufgefahren habe, so unser Korrespondent Otto Paul Burkhardt, stelle sich Kosminski mit Robert Icke, Oliver Frljić (der ein Europa-Ensemble gründen wird), Mateja Koležnik, Milo Rau und Calixto Bieito internationaler auf. Der Akzent liege zudem in zehn von 24 Premieren auf Texten lebender Autoren. Der Bergarbeiter in Sachen Romanadaptionen, Johan Simons, steckt das Feld seiner Premieren bei seinem Start am Schauspielhaus Bochum anders ab: Angefangen bei seiner eigenen Inszenierung „Die Jüdin von Toledo“ bis hin zu Lies Pauwels’ „Der Hamiltonkomplex“ suche er die goldene Mitte zwischen Ensembletheater, Performance und Diskurs, wie Martin Krumbholz berichtet. Mit unserem Stückabdruck „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz schließt sich der Kreis zu Kuljabins Kreaturen des Digitalen. Hübners und Nemitz’ Protagonist, der 29-jährige Paketbote Jerome, sei der Prototyp eines Wutbürgers mit Netzanschluss, schreibt Marcus Hladek in seiner ­Kritik über die Uraufführungsinszenierung von Anselm Weber am Schauspiel Frankfurt. „Als argwöhnischer Verschwörungstheoretiker ist er angespitzt vom Internet und seinen trüben Quellen“, mittels derer er zuverlässig sein rechtes Denken bewässert. In einer kammerspielartigen Druckraumsituation lassen Hübner und Nemitz ihn auf den Politiker Braubach treffen, der versucht, sich gegenüber Jerome für das Elend des Prekariats empathisch zu zeigen. Wie in jedem guten Stück haben beide dabei auch gute Argumente – die Frage ist nur, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. „Wenn es eine Moral des Stücks gibt“, sagen die Autoren im Gespräch mit Jakob Hayner, „dann: ­weiterreden, auch wenn es schwerfällt.“ Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem Schauspieler Rolf Hoppe und dem ­litauischen Regisseur Eimuntas Nekrošius. Zwei Bühnengrößen, die auf je eigene Art das Theater mit ihrer eindringlichen und intensiven Kunst geprägt haben. // Die Redaktion

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Inhalt Januar 2019 thema: edgar selge

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künstlerinsert

Gunnar Decker Der helle Wahnsinn Gefangener und Bewacher, Intellektueller und Narr: Der Schauspieler Edgar Selge treibt seinen Körper über die Grenzen dessen, was man allgemein für zuträglich hält

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Bühnen von Olaf Altmann

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Thomas Irmer Im Widerstandsraum Die Bühnen von Olaf Altmann sind nicht illustrativ, sondern schaffen Energien, die Regie und Ensemble herausfordern

kolumne

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Kathrin Röggla Totensonntag

protagonisten

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Otto Paul Burkhardt Alles Konsens, oder was? Burkhard C. Kosminski zeigt bei seinem Start am Schauspiel Stuttgart ambitioniertes Autorentheater, aber auch markante Regiehandschriften

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Martin Krumbholz Der Bergarbeiter Johan Simons, der neue Intendant am Schauspielhaus Bochum, positioniert sein Haus in der goldenen Mitte zwischen Ensembletheater, Performance und Diskurs

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Erik Zielke Dunkelheit und Nebel Einar Schleef als Lyriker

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Günter H. Jekubzik Theater im Grenzgebiet Braunkohleabbau, Hambacher Forst, ein marodes Atomkraftwerk im benachbarten Belgien – das Theater Aachen widmet sich so manchem Zündstoff in der Region

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Christoph Leibold Altes Haus, vitales Herz Barockarchitektur und Videoschnipsel: Das Theater Erlangen feiert seinen 300. Geburtstag und denkt über das Stadttheater der Zukunft nach

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Thomas Irmer Der Reichtum der Einfachheit Zum Tod des großen litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrošius

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Renate Klett Tanz in den Wolken Ende diesen Jahres wird der bekannteste Choreograf Asiens, Lin Hwai-min, in den Ruhestand gehen – undenkbar, dass er dann nur noch Geschirr spülen wird

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Thomas Irmer Die letzte Machete Über das Aus der Sendung „Kulturpalast“ als bitterer Abschluss der Marginalisierung von Theater im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

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kommentar


inhalt

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look out

auftritt

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Martin Krumbholz Heilige Ironie Die Kritiker liegen ihr zu Füßen, denn die Düsseldorfer Schauspielerin Lieke Hoppe weiß, was auf dem Spiel steht

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Jakob Hayner Fragend geht’s voran Die Berliner Schauspielerin Maike Knirsch will nicht einfach nur auf der Bühne stehen, sie will auch wissen, warum

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Berlin „Italienische Nacht“ von Ödön von Horváth in der Regie von Thomas Ostermeier (Dorte Lena Eilers) / „Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“ (UA) von Bertolt Brecht in der Regie von Dennis Krauß (Jakob Hayner) Bonn „Die Zofen“ von Jean Genet in der Regie von Claudia Bauer (Martin Krumbolz) Frankfurt am Main „Furor“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz in der Regie von Anselm Weber (Marcus Hladek) Kiel „Neunzehnachtzehn“ von Robert Habeck und Andrea Paluch in der Regie von Michael Uhl (Matthias Schumann) Magdeburg „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett in der Regie von Stas Zhyrkov (Thomas Irmer) Münster „Tot sind wir nicht“ (UA) von Svenja Viola Bungarten in der Regie von Maik Priebe (Uta Biestmann-Kotte) Oldenburg „Russian Boy“ (UA) von Dmitri Sokolow in der Regie von Elina Finkel (Jens Fischer) Stuttgart „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ (UA) von Boris Sawinkow in der Regie von Daniel Klumpp (Otto Paul Burkhardt) Zürich „Nora oder Ein Puppenhaus“ nach Henrik Ibsen in der Regie von Timofej Kuljabin (Dominique Spirgi)

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Die nächste Eskalationsstufe Rechtes Denken, Wutbürger und der Abbruch der Kommunikation – Lutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neues Stück „Furor“ im Gespräch mit Jakob Hayner

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Furor von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

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Von Volksfreunden und Volksfeinden Der Europäische Theaterpreis geht in diesem Jahr an den Regisseur Valery Fokin. Ein falsches Signal? Ändere die Welt, sie braucht es! Durch seine Bemühungen um den Transfer von Theorie und Praxis bringt das Centre of Competence for Theatre frischen Wind in die Theaterwissenschaft Leipzig Geschichten vom Herrn H. Bertolt Brecht, Meister der Unzucht und Führer der Konterrevolution Beunruhigung auf allen Seiten Das Ballhaus Naunynstraße in Berlin feiert unter der Leitung von Wagner Carvalho zehn Jahre „postmigrantisches“ Theater Die Situierung des Betrachters Beim PAP-Branchentreff im Theaterdiscounter diskutieren die freien darstellenden Künste Berlin den schillernden Begriff der Qualität König des Zwielichts Zum Gedenken an den großen Schauspieler Rolf Hoppe Bücher Steffen Mensching, Peter Jammerthal und Jan Lazardzig

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Meldungen

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Premieren im Januar 2019

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TdZ on tour in Bautzen und Senftenberg

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Jürgen Holtz im Gespräch mit Gunnar Decker

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stück

magazin 64

aktuell

was macht das theater?

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Titelfoto: Edgar Selge. Foto Ben Wolf

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Bühnen von Olaf Altmann: „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann in der Regie von Michael Thalheimer (Deutsches Theater Berlin, 2007). Links: „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz in der Regie von Stefan Bachmann (Burgtheater Wien, 2018). Fotos David Baltzer / Georg Soulek (l.)


Bühnen von Olaf Altmann: „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams in der Regie von Michael Thalheimer (Berliner Ensemble, 2018). Rechts: „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann in der Regie von Michael Thalheimer (Deutsches Theater Berlin, 2011). Fotos Matthias Horn / Marcus Lieberenz (r.)



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Im Widerstandsraum Die Bühnen von Olaf Altmann sind nicht illustrativ, sondern schaffen Energien, die Regie und Ensemble herausfordern von Thomas Irmer


olaf altmann

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laf Altmann mag nicht über seine Arbeit sprechen. Er mag auch nicht, dass die von ihm geschaffenen Bühnenräume für die Erörterung seiner Arbeit abgebildet werden. Er sagt, dass sie nur als und im Raum funktionieren würden und Bilder eben genau das nicht wiedergeben könnten. Ob als Zeitungsfoto bei Rezen­ sionen oder in Katalogaufmachung, es bedeutet ihm nichts. Wir machen trotzdem den Versuch (mehr als 16 Jahre nach einem ausführlichen Gespräch zu den Grundlagen seiner Arbeit in TdZ 5/2002). Armin Petras, mit dem er gerade „Die stillen Trabanten“ nach den Erzählungen von Clemens Meyer am Deutschen Theater Berlin inszeniert hat, schätzt ihn als „Ausnahmeerscheinung“, weil er in der Vorbereitung einer gemeinsamen Arbeit mit profunden Kenntnissen, vor allem der Literatur, den Regisseur inspiriere und dann einen Raum baue, der verschiedene Arten von Belastungen aushalte und fordere. Petras spricht auch von „tollen Widerständen“ und davon, dass Altmann mit seinen Entwürfen Aufgaben stelle, die ihm inszenatorische Entscheidungen abverlangten, welche er ohne diesen Partner nicht getroffen hätte. Dieser ­Bühnenraumpartner wurde von Michael Thalheimer, mit dem Altmann seit den gemeinsamen Anfängen in Chemnitz Mitte der 1990er Jahre zusammenarbeitet, gelegentlich als Ko-Regisseur bezeichnet. Es ist ein Paradox: Altmann kreiert Bühnen als auto­ nome Entwürfe, die Illustration und Verortung der jeweiligen ­Stücke im konventionellen Sinn negieren – gerade darin aber eine künstlerische Partnerschaft anbieten. Thalheimers aktuelle Inszenierung, „Macbeth“ von Heiner Müller am Berliner Ensemble, zeigt einen leeren Raum, immer wieder anders mit Licht gegliedert und vor allem durch mehr oder weniger dichten Nebel in Vorder- und Hintergrund geordnet. Die in einigen Szenen nur sacht an der Bühnenrückwand glimmende Scheinwerferriege ist gar nicht als solche zu erkennen, eher sieht sie wie rätselhafte Triebwerksdüsen aus, die wie ein technologisches Ungeheuer im Hintergrund lauern. Einzelne Bodenscheinwerfer leuchten wiederum in die Aufführung wie in ein Kriegsgebiet. Der Wald von Birnam senkt sich schließlich – das ist für Altmann-Verhältnisse fast schon abbildhaft – als Reihe von grünlich leuchtenden Scheinwerfern in die Szene. Altmann hat einen atmosphärischen Raum im doppelten Sinn geschaffen: Alles wirkt offen auf der ja nicht allzu großen Bühne des Berliner Ensembles, ist aber zugleich von einer bedrohlichen Nacht-und-Nebel-Atmosphäre gekennzeichnet, in der Feindschaft zum Prinzip des menschlich-männlichen Verkehrs wird. Vielleicht war es von dieser Atmosphäre aus ein zwingender Schritt, der Lady Macbeth – Constanze Becker war in vielen früheren Thalheimer-Inszenierungen ansonsten die hervorstechende Protagonistin – nur noch eine abgedimmte Präsenz zuzugestehen. Was interpretatorisch mit Müller durchaus begründet ist, aber nicht so leicht auf der Hand liegt.

Völlig anders der Entwurf für Stefan Bachmanns Inszenierung „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz am Wiener Burg­ theater 2018: eine goldfarbene Wand nahe an der Rampe mit einem schwarzen Loch als Tunneltrichter darin, der sogar ­ zum Ende des Stücks rotiert. Schmalz’ Stück spielt, anders als Hofmannsthals Vorlage, „in keinem garten nahe wien“, handelt aber ebenso von Mammon und Tod. Für Altmann die Möglichkeit, die thematische Oberfläche des Stücks in die Abstraktion zu heben. Eine den Bühnenraum zur Rampe hin abschließende Wand hat er schon öfter gestaltet. Sie drängt die Figuren nach vorn als eine Art bewegtes Relief. Am besten wirkt das auf großen Bühnen, wie bei „Medea“ (Regie Michael Thalheimer, Schauspiel Frankfurt, 2013) oder der „Orestie“ (Regie Michael Thalheimer, Deutsches Theater Berlin, 2007), wo die Wand blutverschmiert war. Eine in die Rampenwand eingelassene und symbolisch interpretierbare Spielfläche hat Altmann, wiederum im Zusammenspiel mit Thalheimer, auch für die Inszenierung von Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ (Berliner Ensemble, 2018) entworfen. Während diese Spielfläche bei „jedermann (stirbt)“ eine rotierende Todestrommel inmitten des Goldes bildet, müssen sich in „Endstation Sehnsucht“ Williams’ Figuren physisch gegen ein Abstürzen und Abrutschen auf der eingelassenen Schräge ­behaupten, auf der sogar Elemente der von Williams beschriebenen Wohnung zu finden sind, indes lediglich als Schwundstufen. Wichtiger aber ist, dass die physischen Anstrengungen der Schauspielerinnen und Schauspieler in solchen Räumen – wie zuvor auch schon bei Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ (Regie Michael Thalheimer, Deutsches Theater Berlin, 2007) – zum theatralen Zeichen und Ausdruck einer kongenialen Stückinterpretation werden. Die von Petras benannten „tollen Widerstände“ erhalten in der besonderen körperlichen Herausforderung der Schauspieler ihren konkreten Ausdruck. Vielleicht ermöglicht gerade diese unmittelbare Energie, dieser Moment, in dem das Physische der Spieler mit dem erlebten Raum zusammengeht, das Erkennen und Empfinden eines Stücks. Diese Energien sind tatsächlich nicht abbildbar. Trotzdem sollen die Bühnenräume von Olaf Altmann auch in dieser Form diskutiert werden können, weil sie das Theater und auch das ­Denken über Theater in den letzten zwanzig Jahren beträchtlich weitergebracht haben. //

Der 1966 in Karl-Marx-Stadt geborene Bühnenbildner Olaf Altmann absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Stuckateur in Leipzig und Berlin. Anschließend war er als Bühnentechniker am Städtischen Theater in Karl-Marx-Stadt tätig. Ab 1989 folgten Arbeiten als ­ Bühnenbildner u. a. am Schauspiel Frankfurt, am Thalia Theater Hamburg, am Deutschen Theater Berlin, am Maxim Gorki Theater Berlin, an der Volksbühne Berlin, am Burgtheater Wien. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet ihn mit den Regisseuren Michael Thalheimer und Armin Petras. 2008 gewann Olaf Altmann den Deutschen Theaterpreis Der Faust für sein Bühnenbild zu „Die Ratten“ (Regie Michael Thalheimer) sowie 2012 den Wiener

Nacht-und-Nebel-Atmosphäre – Die Bühne von Olaf Altmann zu „Macbeth“ von Heiner Müller nach Shakespeare (Regie Michael Thalheimer, hier mit Ingo Hülsmann). Foto Matthias Horn

Nestroy-Preis für sein Bühnenbild zu Elfriede Jelineks „Winter­ reise“ (Regie Stefan Bachmann).

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Der helle Wahnsinn Gefangener und Bewacher, Intellektueller und Narr: Der Schauspieler Edgar Selge treibt seinen Körper über die Grenzen dessen, was man allgemein für zuträglich hält von Gunnar Decker

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ch, darüber habe er schon so oft geredet. Viel zu oft? Es ist buchstäblich die Urzelle seines Lebens, aber die Gefahr besteht, dass sie im Anekdotischen versandet. Wenn man die Dinge zu lange auf eine bestimmte Weise anderen erzählt, dann vergisst man irgendwann, was sie wirklich für einen waren. Und das will er keineswegs, dafür ist es zu wichtig. Das Wort Unterhaltung beargwöhnt Edgar Selge – mehr, als man bei einem Schauspieler vermutet. Man könnte ihn sich, mit diesem Anflug von Askese in seinem Gesicht, gut als Eremit in tiefem Schweigen versunken in seiner Klause vorstellen – bis es dann zum nächsten Auftritt geht und alles Zurückgestaute herausbricht. Edgar Selge rührt ausdauernd in seinem Kräutertee, und weil durch die Theaterbuchhandlung Einar & Bert in BerlinPrenzlauer Berg, in der wir an einem Tisch beim Fenster sitzen, ein leiser Luftzug weht, hat er sich auch schnell wieder seine Mütze aufgesetzt. Er besitzt die empfindlichen Nerven von Auftrittskünstlern, die sich ein schmerzendes Kreuz oder eine belegte Stimme eigentlich nicht leisten können. Wer wie Selge siebzig Jahre alt geworden ist und auf der Bühne nicht nur Worte, sondern auch seinen Körper über die Grenze dessen treibt, was man allgemein für zuträglich hält, was muss der sein – stark oder eher

leidensfähig? Gewiss muss er sich seiner Schwäche länger aussetzen, als er es aushalten würde, wenn er nicht gerade auf der Bühne steht. Das hat mit deren Magie zu tun, die für ihn ein Synonym der vita experimentalis ist. So bündig sagt er das nicht, rührt stattdessen weiter sinnend in seinem Tee und sucht nach einem Ausdruck, in den seine Herkunft hineinpasst.

Gefängnis als Existenzmetapher Von seinem vierten bis achtzehnten Lebensjahr wohnte er keine fünfzig Meter von der Mauer entfernt. Jener Mauer des Gefängnisses Herford, die zum Symbol seiner Existenz geworden ist. Sein Vater war in diesem Gefängnis der Direktor, jedoch ein ganz und gar ungewöhnlicher. Er spielte hervorragend Klavier, fast wäre er Musiker geworden, wurde jedoch Jurist, war verstrickt in das NS-System, wie so viele. Aber nach dem Krieg gehörte er zu der Minderheit, deren Katharsis echt war – er studierte Theologie, wollte am eigenen Leib erfahren, was der Mensch eigentlich ist. Seinen Gefangenen, die ihn verehrten, gab er regelmäßig Kon­ zerte – und das Kind Edgar Selge wuchs quasi mit und in dem Gefängnis auf. Er trage es auch heute immer noch in sich, sagt er, ebenso wie die Musik. Fast klingt es lapidar, aber nur fast. Äußerlich ge­ sehen ist ein Gefängnis bestimmt von Zellen mit Türen ohne Klinke von innen und Gittern vor den Fenstern. Von der totalen Kontrolle

Eingesperrt sind wir alle, in unseren sterblichen Körper sowieso, aber auch in unsere Erinnerungen und Ängste – Edgar Selge (hier mit Lina Beckmann) in „König Lear“ (Schauspielhaus Hamburg, 2018). Foto Matthias Horn


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über jede Lebensäußerung der Menschen, die hier einsitzen, nicht wohnen. Ich sage, das kenne ich gut, einmal habe ich für ein Gefängnistheater gearbeitet, aber das ständige Schließen der Türen hat mir schnell klargemacht, dass ich klaustrophobisch und also ganz und gar nicht gefängnistauglich bin. Selge lacht bitter: Wohl kein Mensch sei von seiner Anlage her „gefängnistauglich“. Eingesperrt sein, sagt er, sei eine sehr schwere Strafe, viel schwerer als es sich die meisten vorstellen können. Aber der geliebte Vater war ja nicht der langjährigste Häftling, sondern der Direktor des Gefängnisses. Das macht die Perspektive für Edgar Selge so schwierig. Denn jeder, der mit Gittern leben oder arbeiten muss, ist auch von diesen beschädigt. Insofern ist Selges Perspektive in der Erinnerung eine doppelte: Gefangener und Bewacher zugleich. Er fühle sich wie „aus Stimmen und Bewegungen zusammengesetzt“. Eingesperrt sind wir alle, in unseren sterblichen Körper sowieso, aber auch in unsere Träume und Erinnerungen, schlimmer noch: Ängste. Man lebt ja nie nur mit den Lebenden zusammen, auch mit den Toten – den Eltern etwa, die man in sich trägt. Dem entkommt man nicht – und sollte es auch gar nicht erst versuchen.

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Gefängnis als Existenzmetapher, für Selge ist sie immer gegenwärtig geblieben, sie prägte auch sein Spiel auf der Bühne. Revolte oder Resignation angesichts dieses „Geworfenseins“, wie es Heidegger nannte – und nichts dazwischen? Selge wollte immer ein Drittes. Ich sehe Dustin Hoffman als Strafgefangenen in „Papillon“ vor mir. Auch er ein in höchstem Maße Gefängnisuntauglicher, der schwächliche Fälscher, der in Träume flüchtet, um zu überleben. Die wirkliche Flucht in die Freiheit gelingt ihm nicht. In der letzten Sequenz des Films auf der Teufelsinsel sieht man seinen Mitgefangenen, Papillon, gespielt von Steve McQueen, sich entschlossen von einem hohen Felsen in die Brandung stürzen und davonschwimmen. Der Zurückgebliebene blickt wie alle plötzlich Zurückgelassenen – ratlos, bewundernd, traurig, aber auch voller Ahnung, dass dort am Horizont nichts sein wird, was nicht auch hier ist. So ungefähr schaut Selge, wenn er über das Gefängnis spricht, das für ihn ein Ort des unauflösbaren Zwiespalts ist. Ein Ausdruck menschlicher Extremzustände. Von hier ist es zur Tragödie nicht weit, etwas weiter – und schwieriger – ist es zur Komödie. Das Schwere für ­Momente leicht zu nehmen, wird zur Kunst, die nicht jeder lernt. Vor diesem biografischen Hintergrund scheint auch klar, warum Selge dann als Student zu den wenigen 68ern gehörte, die nicht von Vaterhass getrieben waren.


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Das Schwere für Momente leicht nehmen – Edgar Selge in „Peer Gynt“ in der Regie von Christopher Rüping (Schauspiel Stuttgart, 2015). Foto Conny Mirbach

Es war 1968, da gründete er in München das Theater in der Marktlücke und führte die „Revue roter Schummel“ auf – darin ging es um die Geschichte der SPD und ihren ewigen Opportunismus. Um Willy Brandt, den heute so verklärten, der damals die Notstandsgesetze mittrug. Selge war politisch sehr links. Aber da war zugleich etwas anderes: Er studierte in München bei dem Philosophen Ernesto Grassi, einer lebenden Legende, der dort 1948 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus gegründet hatte und auch leitete. Grassi war ein besessener Theatergänger, kannte so epochale Regisseure wie Jürgen Fehling persönlich. Und mehr noch, was er da sah und erlebte, fand Eingang in sein Denken über die Welt. Bei Grassi wollte Selge schließlich sogar über das Thema der Metapher promovieren, aber dann kam es doch anders. „,Kunst und Mythos‘ ist sein bestes Buch!“, ruft Selge – und unser geplantes Interview scheint nun endgültig zu einer Art ­Seminar zu werden. Das Kapitel „Der enthusiastische Ursprung der Kunst“ hat Selges Weltsicht geprägt. Vor allem die Rolle, die Giambattista Vicos „Neue Wissenschaft“ darin spielt. Vom mythischen Begriff der Verwandlung aus erkläre dieser den „neuen Raum“, den sich der tätige Mensch schafft – das ist dann eine andere Vorstellung von der Kultur als eine bloß rationalistische. Zum

Beispiel das Feuer! Mittels dessen Kraft erobert sich der primitive Mensch, umgeben von Urwald, erstmals einen eigenen Raum. Es ist ein sakraler Raum, der Ursprung einer neuen Ordnung. „Wussten Sie“, sagt Selge, „dass Vico bei James Joyce ganz zentral ist?“ Ohne ihn gäbe es diese besondere, alles Lineare aufsprengende Struktur des „Ulysses“ nicht. Nichts sei nur nacheinander, alles auch nebeneinander – und die Reise durch den Text ziele nicht auf Ankunft! Selge zitiert nun ausführlich die entsprechenden Stellen aus „Ulysses“, natürlich in perfektem Englisch – schließlich hat er selbst in Dublin gelebt. In den frühen siebziger Jahren begegnete Selge dann seinem späteren Schwiegervater Martin Walser, von dem er „Ein Kinderspiel“ inszenierte, eine 68er-Familienszenerie, in der der Generationenkonflikt eskaliert. In jugendlicher Unbefangenheit lud er den Autor sogar zur Premiere ein. Walser kam dann auch, mit dicker Aktentasche, aber ohne Tochter. Franziska Walser, seine spätere Frau, lernte er dann erst beim Schauspielstudium auf der Otto Falckenberg Schule in München kennen. Bleiben wir bei den Anfängen. Als Selge in Detmold auf das Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium ging, wollte er den Detmolder Vortragskünstler und jüdischen Volksschauspieler Joseph Plaut für eine Schülervorstellung gewinnen. Plaut war da schon Mitte achtzig und starb noch im gleichen Jahr. Er verströmte eine 19.-Jahrhundert-Aura, die Selge seltsam anrührte. Während im Fernsehen das WM-Finale England gegen Deutschland lief, begann Plaut ­Anekdoten zu erzählen und spielte ihm plötzlich eine Szene aus Franz und Paul von Schönthans „Der Raub der Sabinerinnen“ vor. Selge war von diesem Emanuel Striese (die Lieblingsrolle Plauts: der Provinztheaterdirektor), der Künstlerpose mit Jahrmarktsbudenfuror nahtlos verband, sofort fasziniert. Von wegen Schmiere! Es ist die härteste vorstellbare Schule, Menschen zu unterhalten, die Kunstfiguren ganz naiv aufzufassen – Hans Moser etwa hat in Wiener Heurigen gelernt, das nur eines auf der Bühne niemals passieren darf: zu langweilen. Da erwacht der Dompteur, der Hypnotiseur und der präzise mit Wortnuancen hantierende Betrüger – alles in einem und das Ganze besitzt dann jene besondere Aura des Zugleich von Höchstem und Niedrigstem, die man nur hier und jetzt spürt, die sich nicht konservieren lässt. Plaut, das war eine andere Welt als die der großen alten Charakterschauspieler, mit denen Selge es dann später zu tun bekam wie Bernhard Minetti oder Martin Held. Diese funktionierten nur innerhalb des Staatstheaters mit einem bildungsbürgerlichen Publikum. Kleinkünstler wie Plaut dagegen wechselten zwischen den Dialekten und langten statt beim Tragischen immer beim Grotesken und Skurrilen an. Diese kleine Form angesichts großer ­Themen, die Kunst der Brechungen, die die allzu hehren Ideale immer ein Stück beiseite spielt – und dem Helden einen Narrenhut aufsetzt, das hat Selge damals stärker geprägt, als er anfangs glaubte. Der Detmolder Plaut, der als Jude in der Nazizeit Berufsverbot hatte und nur durch Flucht überlebte, trat nach 1945 w ­ ieder auf – oft genug vor den gleichen Leuten, die die Nazis an die


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Macht gebracht hatten und die ihn als Juden verachteten. Er öffnete Selge jenes „Fensterchen zur Welt“ mitten in der Provinz, wo der Wind der Weltgeschichte immer besonders scharf und kalt weht. Na ja, sagt Selge, im Grunde sei er Imitator gewesen, der versucht habe, es den Leuten recht zu machen. Das sei dann sehr schnell mit seinem eigenen an den „roten Zellen“ gebildeten politischen Selbstverständnis kollidiert. Ein kritisches Verhältnis zum Staat sei für ihn selbstverständlich gewesen. Ein Drang zur stän­digen Veränderung – anders als im Osten, wo doch eher eine Stillstandsmentalität geherrscht habe. Ich widerspreche, gerade im Westen seien mir die ersten mustergültigen Staatsbürger begegnet – im Osten haben, zumindest in den achtziger Jahren, die meisten in innerer Distanz zum Staat gelebt, bei „Beibehaltung der äußeren Rituale“, wie Ernst Jünger einmal das stoische Bewusstsein charakterisierte. Mit Selge kann man solche Fragen jenseits der Schlagworte besprechen, er denkt oft darüber nach, was die Deutschen heute immer noch trennt.

Lebensekel eines Intellektuellen Vorsichtig dreht er sich auf seinem Stuhl, eine Hand im Rücken. Wer hätte gedacht, dass ihm ausgerechnet die Rolle des König Lear körperlich alles abverlangt? Schon Karin Beiers Inszenierung von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ 2016 am Schauspielhaus Hamburg, diesem Protokoll eines Lebensekels, all die Verrenkungen eines Intellektuellen, dem der vertraute Boden unter den Füßen fortgezogen wird, hatte Selge viel abgefordert: im Bühnenbild von Olaf Altmann turnt er am Abgrund entlang. Warum war dieser Abend immer ausverkauft, gab – und gibt – es so einen unvorstellbaren Andrang? „,Unterwerfung‘“, sagt Selge, „spielt mit Ängsten, die in der Gesellschaft vorhanden sind.“ Es sei aber auch viel Komisches darin, das man sichtbar machen müsse. Als sein Neffe Titus Selge mit ihm „Unterwerfung“ verfilmen will, bekommen sie an der Pariser Sorbonne Drehverbot. Die Leitung der Universität war durch Houellebecqs Provokation an die Grenzen ihres Humors getrieben worden. Selge findet das unsouverän. Hat der ungeheure Erfolg der Inszenierung ihn irritiert? Es kursiere, so Selge, die merkwürdige Rede vom „Beifall von der falschen Seite“. Das finde er völlig falsch. In diesem Punkt ist er dann ganz selbstkritischer 68er. Wer so rede, der setze automatisch voraus, dass immer die eigene Seite die richtige sei – und diese Selbstgerechtigkeit, die er bei den Westlinken (er war schließlich selbst einer) zur Genüge kennt, stört ihn erheblich. Ja, all diese Anklagen gegen die Eltern, die in der NS-Zeit fast alle irgendwie schuldig geworden seien – das war auf naive Weise ungerecht. Was, wenn man selbst in prekäre Situationen gekommen wäre, wo man sich hätte verweigern müssen, um nicht schuldig zu werden? Und niemand schaut hin, wenn man ein unbekannter Held geworden ist, der sich opfert. Die Dinge sind schwierig – und die 68er, auch er selbst, haben es sich zu leicht gemacht, als sie bloß auf andere zeigten. Und wo war denn ihre geschichtliche Bewährungsprobe, was riskierten sie für die selbst erkannte Wahrheit? Selge sagt, er debattiere über diese Dinge auch mit seinem Schwiegervater Martin Walser, der lange als linkes Gewissen der alten Bundesrepublik galt, dann aber, als er in seiner Rede in der Frankfur-

edgar selge

ter Paulskirche vor einer „ritualisierten“ Erinnerungskultur warnte (als hätte er Verbrechen rechtfertigen, gar entschuldigen wollen) plötzlich vom Bannstrahl der Stigmatisierung getroffen wurde. Einer, der Schuld relativiert! So kann man missverstanden werden. Welch weite Bögen lassen sich hier schlagen, von Helmut Dietls Münchener Gesellschaftskomödie „Rossini“ (1997), in der er der „hessische Sparkassenlümmel“ war, der auf die Filmrechte des Romans „Die Loreley“ des Bestsellerautors Jakob Windisch (das Alter Ego des Mitdrehbuchautors Patrick Süskind) spekuliert. Ein Wicht, der mittels Geld zu Gewicht zu kommen versucht. Oder Selge als Richard Wagner in „Ludwig II.“ von Peter Sehr, ein musikalisches Genie mit eigener Sparkasse im Hinterkopf, denn in Geldnöten war er immer. Wie auch sein Faust in Jan Bosses Inszenierung 2004 am Schauspielhaus Hamburg (mit Joachim Meyerhoff als Mephisto), der schlaksige Anzugträger, der aus dem Publikum kommt, ein Gremienphilosoph, der vom Jungbrunnen träumt. Immer geht es um Unverhältnismäßigkeiten. Der Mensch, mehr komisch als tragisch, aber immer elend in seinem Versuch, größer zu wirken, als er ist. Am Hamburger Schauspielhaus ist Selge nun auch König Lear. Ein Schattenbildwerfer, der wie eine Erinnerung an einstige Größe immer an der Wand des engen Guckkastens, den Johannes Schütz entwarf, entlangschleicht. Anfangs unauffällig im grauen Anzug, wie der Sparkassendirektor auf dem Weg zu Sitzung, in der über einen großen Kredit beraten wird. Beladen mit Vergabekompetenz. Dann der fatale Irrtum, der sich als nicht korrigier­ barer Irrtum erweist: zu Lebzeiten bereits sein Erbe an die drei

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Töchter zu verteilen. Offenbar glaubt er, dies sei eine Art Kredit, dessen Bewilligung ihm ein achtbares Alter sichert. Denn einige Privilegien will er behalten, vor allem die Königswürde. Doch wie diese einfordern ohne Macht? Der Absturz König Lears ist der in die Ohnmacht des einstigen Machthabers, für den Machtlosigkeit nicht der Normalzustand des Menschen, sondern pure Vernichtung ist. Der Anzug ist bald weg, und Lear irrt nackt durch die wüste dunkle Nacht, Inbegriff der Unbehaustheit. Ein Schatten seiner selbst, der vor seinem Ende wie ein Toter behandelt wird, obwohl er noch atmet und sich bewegt. Aber haben die Erben denn nicht auch irgendwie recht – müssen sie mit dem Erblasser rechnen, als sei er noch unter den Lebenden? Lear, plötzlich seinen Zustand als Untoter begreifend, läuft, einer alten Hexe nicht unähnlich, den Kopf weit nach von gestreckt, panisch durch die Nacht. Ein Fluchttier gewiss, aber auch einer, der sich fluchend vor dem großen Fluch des Schicksals zu retten versucht. Wie er in dieser Szene Ernst Barlachs Furien aus dem Band „Zeichnungen“ von 1936 gleicht! Kaum war der Band bei Reinhard Piper erschienen, wurde er von den Nazis sofort als „entartet“ verboten. Furien sind Boten der Vernichtung, aber sie sind auch selbst die ersten, die auf den Scheiterhaufen kommen. Unglücksboten, deren Schrei jede Illusion von heiler Welt jäh ­zerfetzt. Und doch ist in ihnen etwas, das dem Bösen mit einem Anflug von Heiterkeit begegnet. Furien bevölkern die Grenzregionen des Schreckens, an dessen Rändern das Groteske aufscheint. Vor allem, sagt Selge, habe er für den Lear den richtigen Atem finden müssen, auf die Worte hören und ihnen gleichzeitig antworten. An einen Text an sich glaube er nicht, das Gerede vom „Urtext“ sei der Tod des Theaters. Auch Lears Leiden haben, wenn man aus der Distanz auf sie blickt, etwas Komisches. „Wärst du doch erst weise und dann alt geworden“, sagt der Narr (die hinreißend kantige Lina Beckmann) zu ihm. Sie ist die Einzige, die jetzt noch bei ihm bleibt. Jetzt, wo der einstige Herrscher selbst zum Narren wurde. Nach dem Sturz. Jedoch, der Abend muss doch auch etwas Spielerisches besitzen – Shakespeare schrieb schließlich nicht nur geniale Stücke, er war doch immer auch ein kühl kalkulierender Theatermann, auch er ein Striese, der seine Nase in den Wind hielt, um zu ­erahnen, welche Stoffe auf welche Weise erfolgreich werden könnten? Selge wirkt an dieser Stelle verstimmt. Da war wohl zu viel von Äußerlichkeiten, von Betrieb die Rede. Natürlich weiß er, dass Karin Beier ihn auch darum als Lear besetzt hat, weil er als Publikumslieb-

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Protokoll eines Lebensekels – Mit Houellebecqs „Unterwerfung“ erschuf Regisseurin Karin Beier für Edgar Selge am Schauspielhaus Hamburg ein Dreieinhalb-Stunden-Solo. Foto Klaus Lefebvre

ling die 1200 Plätze des Hamburger Schauspielhauses füllt. Publikumsliebling, was für ein schreckliches Wort! Das Publikum will unterhalten werden, gewiss, das gehört zum Theater. Aber wie er den Lear spielt, was er für ihn bedeutet, ist etwas ganz anderes. Was, das gilt es immer erst noch im Spiel zu ergründen. Nein, hier sind keine ironischen Fluchten erlaubt, dem Schmerz und Wahn will Selge sich ganz direkt auf den nackten Leib laden, den Stimmen, die er hört, auf ganz eigene Weise antworten. //


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kolumne

Kathrin Röggla

Totensonntag

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ann man eine Sache totreden? Offensichtlich. Man kann so lange auf sie einprügeln, bis niemand mehr an sie glaubt. Man kann zum Beispiel die SPD totreden, wie es gerade geschieht, (nur Trump kann man anscheinend nicht totreden, das ist das eigentlich Unheimliche an ihm), der Spiegel hat eine gewisse Erfahrung darin, obwohl er natürlich behaupten würde, die SPD könne man gar nicht mehr totreden, die sei schon tot. Vielleicht ist es auch mehr dieses stete Für-tot-Erklären. Man kann Gesetze totreden, das heißt Gesetzesanträge. Oder man kann die Ängste der Bürger beim Bau von Industrieobjekten totreden. Aber kann man auf ­einer Theaterbühne eine Sache totreden? Bisher war immer eher vom Totschweigen die Rede, obwohl das heute zugegebenermaßen unzeitgemäß wirkt, weil alle annehmen, man kann jeglichen Sachverhalt zu jeder Zeit äußern, das heißt, alle jenseits der Rechtspopulisten, die absurderweise am häufigsten und am lautesten die öffentlichen Bühnen für sich in Anspruch nehmen. Außerdem stellt sich die Frage, wie man etwas auf einer Theaterbühne totschweigen kann? Indem man einfach offensiv über ganz andere Dinge spricht und das Thema vermeidet? Auf der Theaterbühne fällt ja schon das Totreden schwer. Das wäre der Wortschwall, der alles unter sich begräbt, und den erlebt man tatsächlich hin und wieder. Elfriede Jelinek ist dafür bekannt, auch wenn sie in Wirklichkeit gleichzeitig etwas ganz anderes macht, wie Kunstschaffende des Öfteren in Wirklichkeit etwas ganz anderes machen. Zum Beispiel zeigen, wie man dem toten Hasen Kunst erklärt. So eine Performance wäre im Augenblick sicher brauchbar, und weil Joseph Beuys sie nicht mehr inszenieren kann, müssen jetzt andere ran, allerdings ohne einfache Kopisten zu sein. Aber vielleicht stellte sich dann heraus, dass man nicht einmal mehr dem toten Hasen die Kunst erklären kann – „Kunst ist nicht dazu da, unsere Wohnungen zu dekorieren, sondern ist eine Waffe gegen den Feind.“ Diese Aussage, die sich Beuys von Pablo Picasso angeeignet hat, ist unverständlich geworden, gerade ­wegen ihrer vehementen Veröffentlichung und Präsenz. Wer ist der Feind?, würden wir uns fragen, und müssten tatsächlich erst einmal die eigene Schnappatmung verlassen, um das zu dechiffrieren. Ich habe einen anderen Umweg genommen und mich plötzlich wiedergefunden in einer erneuten Beschäftigung mit dem Schamanismus, ich bin da einfach gelandet – zwischengelandet, wie manche Spötter zu Recht sagen, aus den Zufällen der Überlappung von Interessen heraus, vielleicht aber auch, weil ich

eine Medizin suchte, Kunst als Heilung ohne Direktflug. Ohne jegliche Reinheitsfantasie, jene Esoterik, die uns in Zwangssysteme führt, so hoffte ich. Der Lyriker Ulf Stolterfoht saß mir dabei plötzlich gegenüber, auf der Raketenstation Hombroich in der Nähe von Düsseldorf, ein Ort, der sich für Schamanismus perfekt eignen würde, gerade weil er so vielschichtig, postindustriell, nein vielmehr postnuklear ist. Ulf Stolterfoht gab mir auf jener Raketenstation zu verstehen, dass man sich in schamanistische Praktiken hineinbegibt, um Kausalität auszuhebeln, genauer, dass der Schamanismus jenseits der Kausalität funktioniert, und das, so schloss ich wiederum daraus, macht ihn für die Kunst so wertvoll, wobei die Kunst ihr Regel­ system selbst entwickeln muss. Folge den Regeln, vollziehe den ­Ritus so, wie er vorgeschrieben ist, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, um die Situation zu schaffen, in denen dann religiöse Instanzen wirken – sich das Geschehen also ereignet. Die Praktiken selbst rufen nicht direkt die Heilung hervor, darum ging es Stolterfoht, der erstaunlich viele Bezüge kannte – der ­Roman „Bei den Bieresch“ von Klaus Hoffer war nur einer davon, und „holzrauch über heslach“ vielleicht Stolterfohts Antwort darauf. Als wir beide bemerkten, dass es ein der politischen Aufklärung diametral ent­ gegengesetztes Vorhaben ist, für das ich mich ansonsten gerne erwärme, einseitig erwärme, während meine andere Künstlerkörperhälfte anderes benötigt, brach der interes­ sante Teil des Gespräches ab. Ich mühte mich ab, offene Türen einzurennen und dem Lyriker zu erklären, dass ohnehin die wenigsten Kunstschaffenden etwas mit einer eindimensionalen politischen Absicht betreiben, dabei aber dennoch politisch wirksam sein können, und dass Kunst umgekehrt auch keine Medizin im klassischen Sinne sei. Währenddessen rauschte die Autobahn an der Raketenstation vorbei, der Braunkohletagebau zeichnete sich am Horizont ab und ihm gegenüber befand sich eine Skihalle wie ein deplatziertes Ausrufezeichen, dazwischen wilde Dezemberbüsche. Gerade hier hätte der verwundete Heiler oder die verwundete Heilerin von ­Joseph Beuys in Erscheinung treten können, Schamanen der Großstadt, wir haben sie verpasst. Nicht verpasst haben wir den Lyriker Mohammed Bennis, der von den Praktiken der marokkanischen Sufis erzählte. Wie oft wird ein Vers zu wiederholen sein, bis man ihn auf richtige Weise aussprechen kann, fragte er mich. Tausende Male? Welchen ­Zustand braucht es, um einen Vers zu rezitieren? Den Zustand der tausend Male? Zum Totreden bin ich an diesem Wochenende also nicht gekommen. //

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Alles Konsens, oder was? Burkhard C. Kosminski zeigt bei seinem Start am Schauspiel Stuttgart ambitioniertes Autorentheater, aber auch markante Regiehandschriften von Otto Paul Burkhardt


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ie Stimmung in Stuttgart? Schwierig. Das Herz der Stadt ist wegen des Tiefbahnhofprojekts auf Jahre hinaus eine Riesenbaustelle, und bei der Feinstaubbelastung rangiert der Stuttgarter Kessel unter den Top Ten bundesweit. Kulturell? Die Suche nach einem Interimsstandort für die Oper, die für derzeit geschätzte fünfhundert Millionen Euro saniert werden muss, zieht sich. Da ist es verständlich, dass die momentane Aufbruchsstimmung bei drei Neustarts – Viktor Schoner (Oper), Tamas Detrich (Ballett) und Burkhard C. Kosminski (Schauspiel) – angesichts solch ­heikler Großvorhaben etwas gedämpft wirkt. Auch Kosminski, der neue Schauspielintendant, muss mit den Folgen früherer Versäumnisse leben: Sein Neustart fand wegen der fälligen Reparatur der Bühnendrehscheibe zwei Monate später als üblich statt. Auch so eine never ending story, denn eine neue Drehbühne war bereits im Verlauf der 2010 begonnenen Sanierung des Schauspielhauses eingebaut worden, allerdings mit Mängeln behaftet – sodass das Drehscheibenproblem öfter mal als Lachnummer im Theater auftauchte, etwa in René Polleschs „Die Revolver der Überschüsse“ 2013. 2018 fand die Nach-Nachsanierung statt, und alle hoffen inständig, dass sie nun endlich voll funktioniert. Zudem sind die Konflikte der letzten Jahre noch nicht ganz verraucht. Vorgänger Armin Petras, dem manche zu viel importiertes Regietheater aus Berlin vorwarfen, konnte mit einem respektablen Endspurt die Auslastung wieder auf achtzig Prozent steigern. Nachfolger Burkhard C. Kosminski gab zu erkennen, wo er in dieser Debatte steht: Er setze nicht auf den durchreisenden „Regie-Jetset“, sagt er, sondern lieber auf ein Team, das dauerhaft in Stuttgart Theater für die Stadt machen wolle. Letzteres würde wohl fast jeder Intendant im Bewerbungsgespräch beteuern, doch Kosminski, der als Schauspielchef in Mannheim das Haus dort in zwölf Jahren zu einer ersten Adresse für Autorentheater gemacht hat, schien der Kandidat zu sein, der am ehesten Solidität versprach. Gesagt, getan. Kosminskis Einstand mit sechs Premieren in zwei Wochen fiel ambitioniert und relativ reibungslos aus. Dabei war es in der Geschichte Stuttgarter Schauspiel-Neustarts immer hoch hergegangen. Egal, ob bei Friedrich Schirmer („Gothland“, 1993), Hasko Weber („Dogville“, 2005) oder Armin Petras ­(„Onkel Wanja“, 2013): Die ersten Premieren verliefen stets sehr kontrovers. Viel Applaus, aber auch erboste Zuschauer, die türen­ knallend den Saal verließen. Buhstürme. Erregte Diskussionen. Schwarz­seher, die das Theater kurz vor dem Untergang wähnten. Obwohl oft genau diese Aufreger sich dann durchsetzten, Publikum anzogen, Preise erhielten. Jetzt, beim Einstand von Kosminski regte sich so gut wie kein Unmut. Bis auf ein Buh „nur“ Beifall. Alles Konsens, oder was? Klar gibt es im dunstigen Stuttgarter Feinstaubkessel nun Stimmen, die Kosminskis Start als Rollback feiern, als triumphale Rückkehr zur Darstellung wahrnehmbarer Figuren, als Statement gegen postdramatische Moden. Doch Kosminski zeigt eher ein

„Die Pest auf eure beiden Häuser!“ – „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von Oliver Frljić. Foto Thomas Aurin

schillerndes Nebeneinander verschiedener Formen von Autoren-, Schauspieler- und Regietheater. Dennoch: Die Unterschiede zum Vorgänger sind deutlich. Anders als der Workaholic Petras bemüht sich Kosminski, ein ansprechbarer Intendant zu sein – weshalb er auch private „Hausbesuche“ unternimmt, die man buchen kann. Während Petras das Who’s who deutschsprachiger Regisseure auffuhr (Frank Castorf bis Robert Borgmann), stellt sich Kosminski mit Robert Icke, Oliver Frljić (der ein Europa-Ensemble gründen wird), Mateja Koležnik, Milo Rau und Calixto Bieito internationaler auf. Und der Akzent liegt in zehn von 24 Premieren auf Texten lebender Autoren wie Wajdi Mouawad, Clemens J. Setz, Roland Schimmelpfennig, Nis-Momme Stockmann.

Burkhard C. Kosminski, 1961 in Schwenningen geboren, studierte Regie und Schauspiel am Lee Strasberg Theatre Institute in New York. Danach arbeitete er als freier Regisseur u. a. an der Berliner Schaubühne, am Schauspiel Frankfurt und am Staatsschauspiel Dresden. Ab 2001 war er leitender Regisseur und Mitglied der künstlerischen Leitung am Düsseldorfer Schauspielhaus, bevor er 2006 erst als Schauspieldirektor, ab 2013 dann als Intendant des Schauspiels an das Nationaltheater Mannheim wechselte. Zusammen mit Matthias Lilienthal war Burkhard C. Kosminski 2014 Festivalintendant von Theater der Welt. Seit dem Beginn der Spielzeit 2018/19 ist er Intendant des Schauspiels Stuttgart. Foto Maks Richter

Das Auftaktstück „Vögel“ – eine global angelegte Familiensaga vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts, die Kosminski als deutschsprachige Erstaufführung inszeniert – spielt viersprachig in Berlin, New York, Jerusalem und Ramallah: Es wird deutsch, englisch, hebräisch und arabisch gesprochen. Wajdi Mouawad, ein seit seinem Erfolgsstück „Verbrennungen“ auch hier gefragter frankokanadischer Autor mit libanesischen Wurzeln, erzählt eine jüdisch-arabische Lovestory zwischen Wahida und Eitan, die an Eitans starrsinnigem Vater und an den verhärteten Fronten scheitert. Mouawad greift weit aus, verknüpft Holocaust-Vergangenheit und Allgegenwart des Bombenterrors mit familiären Bruchlinien. Ab und zu blendet er Nachrichten von Attentaten und Kampfjet­ getöse ein. Der Text wahrt Neutralität, spielt eher im liberalen ­Milieu und webt fabulierfreudig Vererbungstheorien oder orien­ talische Legenden mit ein, teils weitschweifig bis boulevardesk. Zuweilen knirscht es im konstruierten Handlungsgebälk, wenn ausgerechnet der israelische Hardliner David, Eitans Vater, sich als palästinensisches Findelkind entpuppt. „Romeo und Julia“ lässt grüßen, auch Yasmina Reza und Judith Herzberg („Über Leben“). Doch zwischen Thriller, Familienepos, Zeitstück und Märchen gelingt Mouawad ein well-made play: viele Dialoge, heftige Konflikte und bei aller Tragik auch lebensweiser Humor. Kosminski inszeniert konventionell, texttreu, dezent, fast kulissenlos, als Familienaufstellung. Und die ruhig kreisende (und voll funktionsfähige) Drehbühne zeigt, wie die Konflikte auf der Stelle treten. Der vier-

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stündige Abend wirkt durch starke Schauspieler. Vor allem Itay Tiran als Eitans Vater David fesselt in allen Wandlungen – vom wehrhaften Israeli, der sich von Arabern umzingelt sieht, bis zum entwurzelten, seines gewachsenen Ichs beraubten Menschen. ­Famos auch Silke Bodenbender als Norah und Evgenia Dodina als scharfzüngige Grande Dame des Clans. Tags darauf der Kontrast: die „Orestie“, aber komplett modernisiert und in eine zeitlose Gegenwart verlegt. Der britische Regisseur und Autor Robert Icke, Vize am Londoner Almeida ­Theatre und erstmals in Deutschland zu Gast, zeigt eine Überschreibung des antiken Aischylos-Klassikers – was auch die Bühne andeutet: schicke Designer-Glaswände in altem Mauergewölbe. Der Abend dauert ebenfalls vier Stunden, doch die vergehen wie im Flug. Ickes Agamemnon ist bei Matthias Leja ein austausch­ barer Politikdarsteller, der mit Familie posiert und TV-taugliche Phrasen über einen notwendigen Krieg gegen einen bedrohlichen Feind ins Mikro parliert. Weil ihm der Ruhm doch wichtiger ist als die Familie, opfert er seine Tochter Iphigenie, die vor ihrem Gifttod noch den Beach-Boys-Heuler „God Only Knows“ trällern darf – fast in Horrorfilm-Manier. Icke ersetzt den Chor durch fragende Journalisten und packt viel Zeit- und Medien­kritik in seine Version. Die Handlung verschränkt er mit dem finalen Gerichts-

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Eine global angelegte Familiensaga vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts – Wajdi Mouawads „Die Vögel“ in der Regie von Burkhard C. Kosminski. Foto Matthias Horn

prozess um den Muttermörder Orest. Am Ende, beim langwierigen Übergang von Blutrache zu demokratischen Gerichten, schafft er mit kurzen „Verhandlungspausen“ noch mal viel Sus­ pense. Eindrucksvolle Schauspieler, neben Leja vor allem Sylvana Krappatsch (Klytämnestra) und die 91-jährige Elke Twiesselmann (Kilissa/Furie), verstärken den Sog. Was bleibt? Eine intelligent heutige Antiken-Überschreibung, kein bisschen texttreu und doch im Geist des Originals. Ins Kammertheater platzierte der Intendant dann die Uraufführung der „Abweichungen“ von Clemens J. Setz. Der erzählt eine verrückte Geschichte: Im Nachlass einer Putzfrau „nicht von hier“ finden sich Mini-Holzmodelle von neun Wohnungen, in denen sie gearbeitet hat. Alles originalgetreu verkleinert, nur jeweils ein Detail stimmt nicht. Mal ist es ein umgestellter Schrank, mal ein zusätzliches Kind, das sie in die Puppenstuben packt. Fehler, die nicht die faktische, sondern eine andere, „ekstatische“ Wahrheit abbilden. Elmar Goerden

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i­nszeniert die skurrile Story mit r­uhiger Hand und lässt viel Echoraum zwischen den Zeilen. Denn es geht weiter: Eine fin­ dige Kuratorin entdeckt in den Holzmodellen trendige outsider art und präsentiert sie als Kunstausstellung. Bei den Leuten, deren Domizile somit öffentlich gezeigt werden, löst dies verschiedene Reaktionen aus. Einer (der mit dem überzähligen Kind) protestiert heftig, ein anderer (der mit dem umpostierten Schrank) mistet endlich mal aus. Goerden zeigt brüchige Beziehungen, tapfere Frauen, grantelnde Pflegefälle und verliebte Jugendliche. Was fehlerhafte Puppenstuben alles auslösen: Hier ist es eine kleine Geschichte über Kunst und soziale Realitäten, feinsinnig gespielt, mit kargem Zauber inszeniert.

Ein makabres Gespensterballett Im Gegensatz dazu lässt es Oliver Frljić, Hoffnungsträger in Kosminskis Regie-Riege, mächtig krachen. Er zäumt Shakespeares „Romeo und Julia“ vom Ende her auf: Wir sehen einen Friedhof mit gruslig schwankenden Grabsteinen. Und zwei Kindersärge, aus denen das Paar langsam wieder aufersteht. An das Versöhnungsgelaber der verfeindeten Clanchefs am Grab ihrer Kinder glaubt der aus Bosnien stammende Kroate Frljić offenbar nicht. Er betont eher den Zorn des Fürsten Escalus: „Die Pest auf eure beiden Häuser!“ Was folgt? Ein makabres Gespensterballett zu dröhnenden Sounds, mit grotesken Fabelwesen à la H ­ ieronymus Bosch. Romeos Satz „Ich liebe eine Frau!“ ist hier als Bi-Outing zu verstehen, da er gleichzeitig Tybalt heiß und innig küsst. Eins muss man Frljić lassen: Er packt zu und findet bizarre Bilder. Auf dem Ball der Capulets stimmt eine Königin der Nacht „Killing Me Softly“ an. Romeo zieht als schweren Ballast eine Kirche mit Toten hinter sich her. Frljić zeigt in beklemmenden Szenen, wie Romeo (Jannik Mühlenweg) und Julia (Nina Siewert) am Zwist ihrer Clans kaputtgehen, unterlegt mit einer Art Passus duriusculus, einer ständig wiederholten, meditativ absteigenden KreuzwegTonfolge. Auch den Tod deutet er anders – nicht als Friedensstifter, sondern als Befreier aus dem f­alschen Leben. Bei allem bietet Frljić Shakespeare pur, wortgetreu, aber gerafft, mit streitbar anderen Akzenten und teils spektakulären Bildideen. Das Ende ist dann doch ein Fremdtextsatz von Heiner Müller: „Das Herz ist ein ­geräumiger Friedhof.“ Alles in allem war es ein beachtlicher Start. Mit einem vielversprechenden, runderneuerten Ensemble. Es wäre zu kurz gegriffen, Kosminski, den am Lee Strasberg Institute in New York ausgebildeten Schwaben, nur als Mann der Rückbesinnung auf herkömmliche Schauspieltugenden zu verstehen. Denn der Auftakt bot neben Autorentheater von Wajdi Mouawad und Clemens J. Setz eben auch markante Regisseure wie Robert Icke und ­Oliver Frljić. Sein Team wird internationaler werden, mit – nach diesem doch sehr männerlastigen Start – mehr Frauen denn je. Spürbar ist eine gewisse Affinität zum Dialog­theater angloamerikanischer und französischer Machart. Neue Texte, Ur- und Erstaufführungen dominieren im Spielplan. Also nichts mit rückwärts. Und siehe da: Stuttgart wird mit Kosminski nach langer Zeit wieder bei den Salzburger Festspielen vertreten sein – 2019 inszeniert er dort Theresia Walsers „Die Empörten. Eine finstere K ­ omödie“. //

VERLÄNGERUNG DER BEWERBUNGSFRIST An der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, Institut für Schauspiel, gelangt ab dem Wintersemester 2020/21 eine

Universitätsprofessur für Sprechen/Sprachgestaltung gemäß § 98 des Universitätsgesetzes und § 25 des Kollektivvertrages für die Arbeitnehmer/-innen der Universitäten in Form eines vollbeschäftigten vertraglichen Dienstverhältnisses zur Besetzung. Eine Überzahlung des kollektivvertraglichen monatlichen Mindestentgelts von derzeit 5.005,10 € brutto (14 x jährlich) kann vereinbart werden. Aufgabenbereiche l

Unterricht im Fach Sprechen in Praxis und Theorie (vorrangig in den Studienrichtungen Schauspiel und Gesang)

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verantwortliche Vertretung und Förderung des Fachs in seiner Gesamtheit, insbesondere in der Entwicklung und Erschließung der Künste

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fachliche Betreuung von Inszenierungen, Projekten und künstlerischen Diplomarbeiten

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selbstständige künstlerische Forschung

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Beteiligung an institutsübergreifenden Projekten der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

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Mitarbeit in Organisations-, Verwaltungs- und Evaluierungsaufgaben

Spezifische Anstellungserfordernisse l

hervorragende pädagogische und didaktische Eignung

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mehrjährige Lehrerfahrung im künstlerischen und/oder Hochschul-Kontext

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umfassende Kenntnisse in Literatur, Metrik und Phonetik/ Phonologie

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Erfahrung in Sprech- und Sprachgestaltung auf der Bühne

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Bereitschaft zur Teamarbeit

Erwünscht ist eine substanzielle künstlerische Reputation. Bewerbungen sind bis spätestens 31.01.2019 unter der GZ 71/18 per E-Mail in einem PDF-Dokument an bewerbung-UProf@ kug.ac.at zu senden. Sofern erwünscht, können Tonträger bzw. DVDs per Post übermittelt werden. Detailinformation: www.csc-kug.at/jobinfo/kug.html Für das Rektorat Eike Straub

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Der Bergarbeiter

Johan Simons, der neue Intendant am Schauspielhaus Bochum, positioniert sein Haus in der goldenen Mitte zwischen Ensembletheater, Performance und Diskurs von Martin Krumbholz

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er spätherbstliche Anfang im Bochumer Schauspielhaus und den Kammerspielen wurde gefeiert – vielleicht umso mehr, weil man ihn nach der ungewöhnlich langen Sommerpause so sehr herbeigesehnt hatte. Ein anderes Bühnenleben sei möglich, jubelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Johan Simons ist das recht, die guten Kritiken nimmt er gern. Gefragt, ob er denn an die glanzvollen Bochumer Epochen anknüpfen wolle – unter Peter Zadek, Claus Peymann, Frank-Patrick Steckel –, erklärt er allerdings nüchtern: „Nicht, was die Form und die Stoffe betrifft.“ Die Zeiten hätten sich geändert. Vor dreißig Jahren sei ein Ensemble lediglich in Alters- und Geschlechtergruppen eingeteilt gewesen. Anknüpfen ja, aber auf seine eigene Weise. Peter Zadek hätte gesagt: „I will do it my way.“ Als Intendant der Münchner Kammerspiele war der Niederländer, rückblickend betrachtet, ein Link zwischen Frank Baumbauer und Matthias Lilienthal – eine Linie, die sich inzwischen

darstellt als eine unaufhaltsame Entwicklung vom klassisch-gediegenen Ensemble- und Literaturtheater à la Dieter Dorn zu hippen Performance- und Diskursbühnen. Versteht man Simons und ­seinen Chefdramaturgen Vasco Boenisch richtig, gibt es aber eine goldene Mitte: ein Ensembletheater, das Textinterpretationen, aber auch Performance und Diskurs könne. Das Ensemble sei und bleibe der entscheidende Faktor. Boenisch erklärt, das Engagement und die Energie der Darsteller kämen an erster Stelle – danach erst das jeweilige Regiekonzept. Der Abend, mit dem Johan Simons seine Bochumer Intendanz eröffnet, könnte auch „Der Kaufmann von Toledo“ heißen. Der Jude Jehuda Ibn Esra, der Vater der schönen Raquel, in die sich der spanische König verliebt, ist die heimliche Schlüsselfigur der Aufführung, die auf Lion Feuchtwangers Mittelalter-Roman „Die Jüdin von Toledo“ (1955) basiert. Man spürt Referenzen an Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ ebenso wie an Lessings

Keine Zeit für Optimismus – Lion Feuchtwangers „Die Jüdin von Toledo“ in der Regie von Johan Simons. Foto Jörg Brüggemann/Ostkreuz


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„Nathan der Weise“. Jehuda und Raquel sind aus dem muslimisch geprägten Andalusien nach Kastilien und in dessen Hauptstadt Toledo gekommen. Der ebenso kluge wie wohlhabende Jude soll dem jungen König Alfonso VIII. helfen, einen Feldzug gegen die Muslime im Süden zu finanzieren. Außerdem hat der Papst zum Kreuzzug aufgerufen. Alfonso, ein Mensch von kindlicher Impulsivität, würde am liebsten an allen Fronten kämpfen. Vorerst aber macht er die anziehende Tochter des Kaufmanns zu seiner Nebenfrau, baut ihr ein Schloss und zeugt mit ihr ein Kind. Der französisch-niederländische, jüdische Schauspieler Pierre Bokma spielt den Jehuda mit imponierender Luzidität. Jehudas Vernunft beeindruckt, doch seine gesellschaftliche Rolle ist trotz allem schwach. Dass der König, flatterhaft bis in die Hemdsärmel gespielt von Ulvi Erkin Teke, gewissermaßen sein Schwiegersohn wird, nützt ihm letztlich wenig. Im Gegenteil, die Liaison zwischen seinem Mädchen (die quirlige Hanna Hilsdorf) und dem Monarchen bleibt prekär, missgünstig beäugt nicht allein von ­Alfonsos Gemahlin Eleonor, einer Britin (Anna Drexel). Einmal bittet Jehuda den König, sechstausend jüdische Flüchtlinge aus Frankreich nach Kastilien kommen zu lassen. Es wird ihm zähneknirschend bewilligt, aber der weise Jude bleibt Außenseiter. Auf den oberen Rängen der kastilischen Gesellschaft um 1200 sitzen die Scharfmacher, korrupte Bischöfe und Kriegstreiber jeder ­Façon. Der (am Ende verlorene) Krieg wird nicht nur das Leben Jehudas und seiner Tochter beenden, sondern auch jeden Funken Hoffnung ersticken. Es sei nun einmal keine Zeit für Optimismus, erklärt Johan Simons im Gespräch kategorisch. Paradoxerweise wirkt die Aufführung, obwohl sie über drei Stunden dauert, eigentümlich kurzatmig. Wie bei jeder Roman­ adaption sind große Mengen an Handlung voranzutreiben. Die Liebe zwischen Alfonso und Raquel kennt keinen wirklichen ­Initiationsmoment. Einmal allerdings, bevor der brutale De Castro (Guy Clemens) den wehrlosen Jehuda erschlägt, schichtet er in aller Seelenruhe ein Dutzend Styroporplatten übereinander – hier nimmt sich die Inszenierung Zeit für eine effektvolle Synkope. Das Styropor stammt aus einer vertikal herabhängenden weißen Platte, die als Metapher für den Krieg zerschlagen worden war (Bühne Johannes Schütz). „Wenn ich hier in Bochum auf die Straße gehe“, sagt Johan Simons, „sehe ich Leute unterschiedlichster Herkunft. Das möchte ich auf der Bühne wiederfinden.“ So setzt sich das komplett neuformierte Ensemble aus mindestens sieben Nationen zusammen; die Schweizerin Gina Haller, deren Vater von der Elfenbeinküste stammt, steht neben dem aus Estland stammenden Risto Kübar. Die unterschiedlichsten Stimmen wolle er hören, sagt ­Simons. Diversität als politisches Programm hat allerdings – in dieser ersten Aufführung – ihren ästhetischen Preis: Die Profile, Eigenarten und „Schulen“ der einzelnen Spieler treten prägnanter hervor als eine übergreifende, sie verbindende Spielidee. Warum spielt man eigentlich nicht den klassischen dramatischen Text – es gibt immerhin auch eine „Jüdin von Toledo“ von Franz Grillparzer? Simons nimmt einen Stift und zeichnet, um den Unterschied der Methoden zu verdeutlichen, zwei Skizzen: Das Drama ist ein Eisberg; der größere Teil bleibt unsichtbar, der Regisseur muss ihn hervorholen, soweit er ihn braucht. Der ­Roman ist ein Berg auf dem Lande, in Gänze sichtbar; die Regie

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meißelt sich nach Belieben einzelne Stücke heraus, nimmt das Übrige aber gleichfalls zur Kenntnis. Letzteres scheint Simons’ favorisiertes Verfahren zu sein, ohne dass er sich darauf ausdrücklich festlegen wollte.

Zwei-Personen-Gemetzel Dass er auch den Eisberg beherrscht, zeigt der Intendant in einer Inszenierung, die bereits im Sommer bei den Salzburger Festspielen herauskam. Ist die figurenreiche „Jüdin von Toledo“ eine Regiearbeit, die so und nicht anders zu erwarten war, ist Kleists „Penthesilea“, ebenfalls im großen Haus, in jeder Hinsicht das glatte Gegenteil. Das Zwei-Personen-Gemetzel im Schatten des Trojanischen Kriegs zwischen dem Halbgott Achill und der Amazonenkönigin Penthesilea kommt nicht nur ohne Theaterblut, sondern auch ohne Fremdtext, ohne Video, ohne Mikrofone, ohne Überlänge, ohne Nebenfiguren und beinahe ohne Bühnenbild aus: Puristischer geht es nicht – und dieser geradezu calvinistische Bildersturm wurde vom Bochumer Publikum als Offenbarung erlebt. „Rosenfest“ nennt sich das Ritual, bei dem die Amazonen erbeutete Krieger dazu benutzen, ihr stolzes Volk vor dem Aussterben zu retten. Dazu kommt es bei Kleist nicht: Achill bietet der gekränkten Amazone, die er schon besiegt hat, ein Duell an, bei dem die Kriegerin ihren Feind und Geliebten von einer Hundemeute zerfleischen lässt. Sandra Hüller und Jens Harzer aber ­feiern auf der großen, hinten abgedunkelten Bühne ein Schauspielerfest – sie versuchen einander zu erforschen, zu erraten („Wer bist du?“), ziehen einander an und stoßen einander ab, flüstern und schreien, küssen und beißen, und wer meinen sollte, diese Form des Literatur- und Ensembletheaters sei ein alter Hut, sieht sich angesichts der Suggestionskraft des Abends gründlich getäuscht. Sprung in die Kammerspiele, kurz Kammer genannt. Die 13 fulminanten 13-jährigen Mädchen, die auf der Bühne agieren, tragen Fantasienamen wie Prudence, Memory oder Destiny. Sie singen, tanzen, kreischen, ziehen sich um, flirten, weinen, schämen sich, schämen sich nicht. Sie haben laute, kräftige Stimmen, die sie bei Bedarf auch verstellen können. „Der Hamilton-

Johan Simons wurde 1946 in Heerjansdam in den Niederlanden geboren. Nach seinen Ausbildungen zum Tänzer an der Rotterdamer Tanzakademie sowie zum Schauspieler an der Theaterakademie in Maastricht wurde er 1976 Direktor und Schauspieler der Haagsche Comedie. 1985 gründete er zusammen mit dem Musiker Paul Koek die Theatergroep Hollandia, welche sich 2001 mit Het Zuidelijk Toneel zu ZT Hollandia zusammenschloss. Von 2005 bis 2010 war Simons als künstlerischer Direktor beim NTGent tätig, bevor er für fünf Jahre die Intendanz der Münchner Kammerspiele und im Jahr 2015 die der Ruhrtriennale übernahm. Seit Beginn der Spielzeit 2018/19 ist er Intendant des Schauspielhauses Bochum. Foto Jörg Brüggemann / Ostkreuz

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protagonisten

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Metapher für eine Welt im Wandel – „Der Hamiltonkomplex“ von Lies Pauwels mit 13 haareschwingenden Mädchen. Foto Fred Debrock

eine stachlige Weise – und doch versteckt hinter einer hochkulinarischen Fassade aus Gestus, Musik und Tanz.

Keine Unteroffiziere der Regie

komplex“ wurde von der Belgierin Lies Pauwels vor einigen Jahren in Antwerpen erstmals auf die Bühne gebracht und für Bochum nun neu besetzt. Am Anfang formieren sich die Mädchen in Hostessuniformen und geben, unterstützt durch eine beredte Zeichensprache wie vor dem Abheben im Flugzeug, ­„Sicherheitshinweise“ – dazu gehört die Frage, ob etwa ein Pädophiler im Saal sei; man wolle niemanden demütigen, nur wissen, woran man sei. Der Sex-Appeal dieser Performance wird gewissermaßen ironisch umkreist wie eine Leerstelle – und ist doch mit Händen zu greifen. Es sind 13 kleine Diven, aber eben auch 13 Teenager. Der eine männliche Erwachsene, der sie begleitet und sich, wenn er allein auf der Bühne ist, an den eigenen Bodybuilderposen ergötzt, hat mit seiner Trillerpfeife keine Chance – höchstens, wenn er sich gelegentlich mit einer der Spielerinnen an einen regelrechten Pas de deux wagt. Die Mädchen an der Bruchstelle zwischen Kind- und Erwachsenensein, sagt Lisa Pauwels, seien eine Metapher für eine Welt im Wandel. Es überrascht also nicht, wenn der Abend auch seine beklemmenden Momente hat – etwa, wenn eines der Mädchen theatralisch schluchzend von einer Entführung und Ver­gewaltigung erzählt und am Ende zugibt, dass alles erfunden war. Theater kann so einfach sein: Lass 13 Mädchen zu einem mitreißenden Popsong ihre Haare schütteln, und der Effekt lässt niemanden kalt. Aber so scharf auf Wirkung kalkuliert das Ganze ist, so triftig und so human ist es auch. Denn Pauwels benutzt die Teenager nicht für eine eitle Show; sie lässt sie zu sich selbst kommen in einem entfesselten Spiel der Entgrenzung, der Selbstüberwindung und der Leidenschaft. „Der Hamiltonkomplex“ thematisiert auch das in Bewegung geratene Geschlechterverhältnis, auf

Auch der Unterschied zwischen dieser Kammerspielproduktion und einer ersten Performance in der neuen Nebenspielstätte Zeche 1 in Bochum-Süd könnte größer nicht sein. Der Abend unter dem Titel „White People’s Problems“ beginnt mit einer wohl provokant gemeinten Prozedur der Ver­ weigerung: Die Akteure betreten die Bühne, eine nachgebaute Waschkaue, mit der schrägen Attitüde: Was geht’s mich an, wenn auch noch Publikum im Saal ist! – Sie suchen langwierig ihre Plätze, unterhalten sich still oder auch mal laut („Früher … ja früher …“), holen sich einen Kaffee, kurz, sie privatisieren nicht etwa – das wäre ja vergleichsweise spannend –, sondern sie tun so, als würden sie privatisieren, obwohl sie genau das nachbuchstabieren, was sie auf langen Proben einstudiert haben. Dieses Ritual ist so durchschaubar wie die endlose Anein­ ander­reihung selbstreferenzieller Nabelschauübungen, wenn etwa ein junger Schauspieler berichtet, wie ein „Schweizer Dokumentar­ theatermacher und Intendant“ ihn als Bergmann gecastet und dann wieder ausgetauscht habe. Nicht einmal die angekündigte Moralpredigt (dass nämlich früher eben nicht alles besser war) kommt so recht zum Zug. Vermutlich, das scheint noch die schlüssigste Lesart zu sein, ist das Ganze der Versuch einer Parodie des Regietheaters. Als ja dem Schauspieler Benny Claessens, der bei „White People’s Problems“ als Regisseur fungiert, im Rahmen des letzten Berliner Theatertreffens der Alfred-Kerr-­ ­ Darstellerpreis überreicht wurde, entnahm er der Laudatio seines Kollegen Fabian Hinrichs die Botschaft, Schauspieler sollten nicht zu Unteroffizieren eines obristenmäßigen Regiekonzepts er­ niedrigt werden. Treibt Claessens etwa in der Zeche 1 das inkriminierte Verfahren zum Exzess, um es zu entlarven? Indes hat das sogenannte Regietheater, das ja in Bochum, nämlich von Peter Zadek, miterfunden wurde, in den letzten fünfzig Jahren Geschichte geschrieben. Vielleicht ist es, dafür gibt es mancherlei Anzeichen, tatsächlich an ein Ende oder doch an ­einen Wendepunkt gestoßen und ereignet sich an Abenden wie „White People’s Problems“ nur noch als Farce. Kreise schließen sich, und manchmal schließen sie sich auf bizarre Art. Doch eines darf kein Theater der Welt aus den Augen verlieren: dass Publikum an­wesend ist. //


einar schleef

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Dunkelheit und Nebel Einar Schleef als Lyriker

Schnell wird die Stadt uns vergessen die nicht Heimat uns war haßgeliebtes Ghetto nur meine Sehnsucht wohnt im Dorf hinter den Eichen wo der See im Nebel ruht wo die schwarzen Kähne

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urch einen Fund im ­ rchiv der Akademie der Künste, A Berlin, stellt sich heraus, dass Einar Schleef neben dem bekannten grafischen, malerischen und fotografischen Werk, den Arbeiten als Regisseur, Bühnenbildner und Schauspieler sowie seinem prosaischen und dramatischen Œuvre auch ein nennenswertes lyrisches Werk hinterlassen hat. Mit der Sammlung von 75 Gedichten, „Herzkammern“ überschrieben, hat Schleef sich 1982 erfolglos an einem Wettbewerb beteiligt, um sie zu veröffentlichen. Damals war der Künstler bereits seit sechs Jahren im deutschen Westen. Hier müssen die Gedichte parallel zu den großen, bekannten Arbeiten Schleefs entstanden sein, zu „Gertrud“, „Zuhause“, „Die Bande“. In einer Zeit, die von enormer Vereinsamung geprägt war: Nachdem er selbst nicht wieder in die DDR eingereist war, scheiterte der Fluchtversuch seiner Lebensgefährtin; vereinbarte Theaterarbeiten platzten; Schleef blieb seiner Umgebung fremd. Die Gedichte geben Zeugnis von einer obsessiven Beschäftigung mit dem Tod. Nebel und Dunkelheit sind die wiederkehrenden Motive in seinen Versen. Am 17. Januar 2019 wäre Einar Schleef 75 Jahre alt geworden. // Erik Zielke

Einar Schleef in seiner Wohnung in Berlin-Westend, 1998. Gedicht © Schleef-Erben / Foto David Baltzer/bildbuehne.de

schweigen in der Sonnenglut

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protagonisten

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Theater im Grenzgebiet Braunkohleabbau, Hambacher Forst, ein marodes Atomkraftwerk im benachbarten Belgien – das Theater Aachen widmet sich so manchem Zündstoff in der Region von Günter H. Jekubzik

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lice in der Stadt: Ein bunter Zug mit Kindern unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen zieht durch die edlen Einkaufs­ straßen unterhalb des Aachener Doms. Sie spielen an verschiedenen Stationen „Alice im Wunderland“, die Passanten unterbrechen freudig den Einkaufsbummel. Stadt und Theater ideal vereint. Das Ideal des Projekts „Jugend macht Theater“, 2012 ins Leben gerufen und geleitet von der Theaterpädagogin Mira Loos, bekommt allerdings Flecken, wenn Theater bei den von Stadt und Land initiierten Förderprojekten für Brennpunktviertel kaum auftaucht. Inge Zeppenfeld, seit über acht Jahren Leiterin der Schauspielsparte des Theaters Aachen, regt sich angesichts der Frage nach ihrer Brennpunktarbeit erst einmal auf: Es habe sich in letzter Zeit ein Überanspruch ans Theater entwickelt. Natürlich habe man sich als Theaterkünstler schon immer mit den brennenden Themen beschäftigt, aber „eigentlich sich wir angetreten, um Künstler zu sein und als solche auch unsere Arbeit zu machen.“ Sie wären keine ausgebildeten Sozialarbeiter, Soziologen oder Seelsorger. „Ein bisschen hat die Politik die Verantwortung an das Theater in diesem Bereich abgegeben!“ Mit dem gleichen Engagement folgt dann aber Zeppenfelds lange Liste all dessen, was trotz dieser Überforderung gelingt. Die aktuell heiß umkämpften Themen Hambacher Forst und Braunkohle­ ausstieg habe man sehr früh ins Haus geholt. Zum Protestsong­ abend „Nicht mit uns!“ (2017) ließ Regisseur Florian Hertweck den Zuschauern Setzlinge aus dem Hambacher Wald mit nach Hause geben, lange bevor sich dort über 50 000 Menschen eindrucksvoll dem Raubbau entgegenstellten. Auch eine Aktion zu Tschechows „Kirschgarten“, ebenfalls 2017, versinnbildlicht trefflich den nachhaltigen Ansatz, mit dem das Theater in die Stadt wirken will: Pro Vorstellung wurden vier bis fünf Bäume an Zuschauer verkauft, um über das Stadtgebiet verteilt einen Kirschgarten zu pflanzen.

Die Region ist geprägt vom Ende alter Industrien und der Steinkohleförderung. Das Leben der Stadt bestimmen die über 50 000 Studentinnen und Studenten, ein Fünftel der 250 000 Einwohner. Da die meisten Naturwissenschaftliches an der Rhei­ nisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen studieren, bilden sie allerdings kein einfaches Publikum für Kulturarbeit. Die brennenden Themen in der Stadt sind aktuell der Kampf für das Ende des Braunkohleabbaus (Hambacher Forst) und der Kampf gegen die Laufzeitverlängerung der Pannenkernkraft­ werke im benachbarten Tihange, Belgien. Aachen kommt abseits solcher Themen, mit Ausnahme des alljährlich verliehenen Karlspreises, der statt europäischer Visionen vor allem anbiedernd abgehobene Machtpolitik aus­ zeichnet, selten in die nationalen Schlagzeilen. Sinnbildlich für die relative Unaufgeregtheit der Stadt war 2014 der überall plakatierte Spruch „Wir sind Aachen. Nazis sind es nicht.“ Ein breites Bürgerbündnis sowie mehr als eintausend Gegendemonstranten stellten sich damals einer lächerlich kleinen Nazi-Demo gegenüber. Einem Wahlkampfstand der AfD, ausgerechnet vor dem Stadttheater platziert, rückten Ensemblemitglieder argumentativ auf die Pelle. Bei der letzten Bundestagswahl blieb die AfD deut­ lich unter zehn Prozent, so etwas wie Pegida hat sich in Aachen nicht etablieren können. Die Randlage außerhalb des Fokus der Theater-Fachpresse sowie das durch sprachliche Grenzen beschnittene Einzugsgebiet prägt das Theater Aachen. Ein Austausch mit den Niederlanden und Belgien findet nur in den Sparten Tanz und Musik statt. 2015/16 erreichte eine große Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge die Stadt. Das Theater und mehrere lokale Filme­ macher nahmen sich der jungen Flüchtlinge an: Schauspieler Robert Seiler inszenierte Anfang 2017 mit Jugendlichen aus Palästina, Deutschland, Syrien, Irak und Iran „,Eine Handvoll‘ – Ein Projekt über Manipulationen durch Menschen und Medien“. Geschichten direkt vor Ort sammelte 2016 ein Engel in einem der beiden Problem- und Förderstadtteile Aachens, aus


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denen auch die meisten der jungen Darsteller in „Alice“ stammten: „Projekt A – Aachen Nord: Engel zu mieten“ hieß die Inszenierung von Martin Goltsch, die in Zusammenarbeit von THEATERausBruch und dem Theater Aachen entstanden war. Die Protagonistin dieses Abends heißt Elli Engelmann (Brigitte Köhr) aus Aachen-Nord, die, als sie ihren Job verliert, als grotesker Engel auf ihrem Fahrrad durch das Viertel zieht und ihre Dienste anbietet. Die Inszenierung war eine Reise zu den Anwohnern und ihren Lebenssituationen zwischen Arbeit, Nachbarschaft und Kunst. Vom Ludwig Forum für internationale Kunst (einem der Kooperationspartner) ging es in eine Zahnarztpraxis, eine ehemalige Werkstatt und eine entweihte Kirche, die zum digitalen Ent­ wicklungszentrum umgebaut werden soll. Insgesamt wirkten 29 Schauspieler an neun verschiedenen Spielorten mit. Reale Geschichten als zündender Erzählstoff? Das Publikum erfährt etwa von der Angst eines Flüchtlings beim Zahnarzt, den Erlebnissen eines Arbeiters, den Lebensrealitäten von Rentnern. Diese performative Art von Inszenierung, bei der die Zuschauer selbst zu Akteuren werden, tauchte später in dem Band „Acting Cities“ auf, der innovative Impulse performativer Theaterarbeit in Städten versammelt. Stadt und Land initiieren aktuell strukturelle Fördermaßnahmen in Aachen-Nord. Ähnliche Entwicklungsprogramme hatte es zwischen 1999 bis 2010 bereits für den Stadtteil AachenOst gegeben. Das traditionell von Arbeiterfamilien bewohnte Aachen-Nord hat einen hohen Anteil von Haushalten mit niedrigem Einkommen zu verzeichnen, eine hohe Arbeitslosenquote, insbesondere unter Jugendlichen, sowie viel Leerstand. Auffällig ist, dass unter den vielfältigen Ansätzen, die Stadt und Land auf ihrer Förderliste haben, Theaterprojekte kaum vorkommen. An erster Stelle stand eine „Investition in Beton“: Ein altes Straßenbahndepot wurde zum soziokulturellen Zentrum umgebaut und Anfang 2017 unter dem Namen Depot eröffnet. Ein reizvoller

Heiß umkämpft – Beim Protestsongabend „Nicht mit uns!“ bekamen Zuschauer Setzlinge aus dem Hambacher Forst überreicht. Foto Marie-Luise Manthei

­ ulturort, der bislang von den Anwohnern des Stadtteils selbst K indes eher unzureichend angenommen wird. Neben den obligatorischen theaterpädagogischen Einsätzen in Schulen, die auch vom zweiten öffentlich geförderten Theater, dem auf eher boulevardeske Stücke setzenden Grenzlandtheater geleistet werden, versucht das Theater Aachen, mit seinem Jugendclub und dem Bürgerchor andere Bevölkerungsgruppen ins Thea­ ter zu locken. Zudem setzte man bewusst „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje in der Regie von Eike Hannemann, das als Jugendstück normalerweise im Mörgens, der Bühne für junges Theater, gelaufen wäre, in die Kammer vom Großen Haus. Das Theater Aachen will erkennbar nicht als „Feuerwehr“ für soziale und andere Brennpunkte fungieren. Stattdessen will man hier frühzeitig und grundlegend „das demokratische Grundverständnis stärken“, sagt Inge Zeppenfeld. So finden sich viele Stücke auf dem Spielplan, die sich mit Gesellschaftsstrukturen beschäftigen. „Unser Ziel ist, gemeinsam mit dem Publikum auch komplexere Strukturen zu durchdenken.“ Doch das Theater rea­ giert auch kurzfristig auf aktuelle Ereignisse: 2015 nahm das Schauspiel das Flüchtlingsstück „Illegal“ von Björn Bicker in einer Inszenierung von Katja Blaszkiewitz nachträglich in den Spielplan auf. Ein Stück, in dem es um Anschläge auf geplante Flüchtlings­ unterkünfte geht und um die teils lebensgefährlichen Wege, die Flüchtende in Kauf nehmen müssen, um nach Europa zu gelangen. „Die Aachener, für die man hier vor allem Theater macht“, sagt Zeppenfeld, „sind von unaufgeregter, ruhiger Natur. Wir ­wollen sie mit dem, was wir hier am Theater bieten, daher immer auch ein wenig aufwecken.“ //


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Altes Haus, vitales Herz

Barockarchitektur und Videoschnipsel: Das Theater Erlangen feiert seinen 300. Geburtstag und denkt über das Stadttheater der Zukunft nach von Christoph Leibold

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ie alt das Theater Erlangen tatsächlich ist, ist eine Frage der Perspektive. Je nach Sichtweise ist es altehrwürdig oder aber noch blutjung. Ein modernes Stadttheater mit Repertoirebetrieb wurde das Theater Erlangen nämlich erst mit dem Antritt von ­Katja Ott als Intendantin zur Spielzeit 2009/10. Vor ihrer Ankunft wurde en suite gespielt. Zudem erlebte das Haus in all den Jahren davor wechselnde Bespiel- und Organisationsformen (meist wurde es als Gastspielbetrieb geführt) und musste zwischendurch sogar um seine Existenz fürchten. Ende der 1950er Jahre war das Gebäude in derart marodem Zustand, dass ein Komplettabriss zur Diskussion stand, der aber durch bürgerschaftliches Engagement abgewendet werden konnte. Was ist eigentlich das Gegenteil von Entkernen? Schälen? In Erlangen jedenfalls war statt der Abrissbirne Filigranarbeit gefragt. Nur die Außenhülle des alten Markgrafentheaters wurde abgetragen, die Schale eben. Der Kernbau aber blieb erhalten: jener kostbare Theaterraum, der am 10. Januar 1729 unter dem Bayreuther Markgrafen Georg Wilhelm eröffnet wurde.

Nähert man sich dem Theater von außen und rückt ins Innere vor, durchläuft man die unterschiedlichen Epochen. Draußen fallen die Plakate auf: bunt, flott, mit schwungvollen Lettern, ganz 21. Jahrhundert. Dann das 1960 eröffnete Foyer, das funktionale Nüchternheit ausstrahlt. Schließlich der prachtvolle Innenraum, dem Markgräfin Wilhelmine 1743/44 vom venezianischen Architekten Paolo Gaspari ein Rokoko-Update verpassen ließ, das bis heute Bestand hat. Die üppige Vergoldung legt den Begriff „Schmuckkästchen“ nahe, der tatsächlich immer dann zuverlässig herangezogen wird, wenn es darum geht, die älteste bespielte Barockbühne Bayerns als Glücksfall für die Stadt zu preisen. Insofern ist das Markgrafentheater ein Fall fürs städtische Museum, das dem geschichtsträchtigen Gebäude derzeit denn auch eine Ausstellung widmet. Von musealer Theaterkunst hingegen hält Intendantin Katja Ott nichts. Ihr dient das Jubiläum nicht als Anlass, einem alten Haus zu huldigen. Allenfalls begreifen sie und ihre Mannschaft die glorreiche Geschichte als Quelle, aus der sich Kraft für die

Alterhrwürdig und blutjung zugleich – Das Theater Erlangen ist die älteste bespielte Barockbühne Bayerns. Foto Jochen Quast


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­ egenwart schöpfen lässt. Deshalb hat sich Ott dem gängigen G ­Reflex verweigert, Neuinszenierungen von Stücken auf den Spielplan zu setzen, die wichtige Wegmarken in der Geschichte des Hauses darstellen: „Wir machen keine Geburtstagsdramaturgie!“ Stattdessen soll beim Jubiläumswochenende vom 18. bis 20. Januar verschärft über das Stadttheater der Zukunft nachgedacht werden. Um das Theater zukunftsfähig zu machen, bedürfte es vor allem einer zusätzlichen, mittelgroßen Spielstätte. Bisher gibt es neben dem Haupthaus nur die Garage, die ihrem Namen alle Ehre macht. Zumindest in den Wintermonaten ist es darin so zugig, dass man sich als Zuschauer wünscht, man hätte seinen Mantel nicht draußen an einen Garderobenhaken gehängt. Andererseits ist diese Unwirtlichkeit durchaus passend für ein Stück wie „Draußen vor der Tür“. Man bibbert buchstäblich mit Wolfgang Borcherts Protagonisten Beckmann mit, der von seinen Mitmenschen in der Kälte stehen gelassen wird. Begleitet von dem Musiker Niklas Handrich, der vor allem elektronisch verfremdete CelloKlänge beisteuert, gibt Enrique Fiß das Kriegsheimkehrer-Drama auf der mit weißen Plastikplanen ausgeschlagenen Bühne als EinMann-Theater. „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf!“, schnauzt er sich selbst als Oberst an und ist schon im nächsten Moment wieder Beckmann, der genau das tut: sich den Kopf zerbrechen angesichts der bohrenden Frage nach der (eigenen) Kriegsschuld, mit der er sich allein gelassen fühlt, weil alle anderen die Vergangenheit längst verdrängt haben. In dieser Solofassung werden die Figuren, denen Beckmann begegnet, zu Stimmen in seinem Kopf. Fiß gelingt es, Beckmanns seelische Zerrüttung zu vergegenwärtigen, ohne in eine dick aufgetragene Irrsinnsshow abzudriften. Zugleich hat man jederzeit das Gefühl, dass es sich bei dem Abend um eine Herzensangelegenheit des Darstellers handelt. Fiß hat das Konzept gemeinsam mit Regisseurin Maria Sendlhofer selbst entwickelt. Diese Art von Überzeugungstäterschaft steht jedem Theater gut. Trotz der Komfortmängel ist die Erlanger Garage beim Publikum beliebt. Die neunzig Plätze sind meist gut gebucht, bei einem schulklassenkompatiblen Stoff wie „Draußen vor der Tür“ sowieso. Aber auf der kleinen Bühne wird es schnell eng, wenn mehr als drei Leute darauf agieren sollen. Daher also der Wunsch nach einer mittleren Bühne, vor allem als Ort für zeitgenössische Dramatik von Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek oder Thomas Köck, deren Stücke ein Format haben, das den engen Rahmen der Garage sprengt, die aber im großen Haus auf Vor­ behalte bei Teilen des Stammpublikums stoßen. Weshalb solche Produktionen oft nicht über acht Vorstellungen hinauskommen. Katja Ott hat sich davon dennoch nicht abschrecken lassen und vor einem halben Jahr Köcks „paradies spielen (abendland. ein abgesang)“ inszeniert – im Markgrafentheater. Ott lobt die Proportionen des Hauses. Das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne sei gut. Aber: Es fehlt an einer Seiten-, Hinter- und Unterbühne. Es gibt weder Hubpodien noch eine Drehscheibe. Die Intendantin bringt es auf den Punkt: „Dieses Haus ist ein Schmuckstück, wurde aber natürlich zu einer Zeit gebaut, als man von den Anforderungen des 20. Jahrhunderts noch nichts wissen konnte.“ Den Platz für eine dritte Spielstätte gäbe es (gleich neben dem Haupthaus), auch Pläne, aber die liegen derzeit auf Eis. Im vergangenen Jahr hat der Erlanger Stadtrat den

theater erlangen

Sanierungs- und Ausbauträumen einen Dämpfer verpasst. Erst einmal soll das besagte Stadtmuseum einen Erweiterungsbau bekommen. Das Theater muss sich hinten anstellen. Ott und ihrem Team bleibt vorerst also nichts anderes übrig, als sperrige Stoffe weiterhin mutig auf der großen Bühne zu positionieren. Oder aber darauf zu verzichten. Was jedoch nicht zur Debatte steht. Als Coup darf es dabei durchaus angesehen werden, dass Erlangen die Rechte an Salman Rushdies Roman „Golden House“ an Land ziehen konnte, um eine Theaterfassung zu erarbeiten. Rushdie erzählt von einem dubiosen indischen Selfmademan, der sich Nero Golden nennt und mit seinen drei Söhnen nach New York kommt. Dort weckt er die Aufmerksamkeit des Filmemachers René, der in der Familienstory Stoff für großes Kino wittert. Renés Interesse speist sich aus der Faszination für Verkommenheit. „Golden House“ ist denn auch Untergangsszenario und PathologieStudie einer Nation, die identitätsstiftendes Potenzial ausschließlich in ihrer (angeblich) glorreichen Vergangenheit zu finden vermag, während sie auf die Veränderungen der Gegenwart nur mit Abwehrreflexen reagiert. So wie Rushdie im Roman permanent zwischen Zeit- und Handlungsebenen switcht und Bedeutungsebenen übereinanderschichtet, häuft Regisseur Thomas Krupa ­Sinneseindrücke und Bilder an. Allein die Videosequenzen, mit ­denen Wände und Decke bespielt werden und die in schneller Folge News-Schnipsel mit ikonografischen Momentaufnahmen der US-Geschichte und Popkultur mischen, stellen eine produktive Überforderung fürs Publikum dar. Inmitten des Bildgewitters wie im Auge des Orkans: Hermann Große-Berg als dekadent lebenssatter Nero Golden, gegen den seine Söhne (Ralph Jung, Martin Maecker und Enrique Fiß) geradezu hyperaktiv wirken. Fernab jedweder Well-made-Dramaturgie und simpler Welterklärungsversuche dürfte „Golden House“ dem Ideal von Katja Ott sehr ­nahekommen, für die Theater „keine Informations-, sondern eine Erfahrungskunst“ ist. Theater, das sich bequem in der Tradition breitmacht, sieht definitiv anders aus. Bis 2024 läuft Otts Vertrag noch, und die Intendantin macht nicht den Eindruck, als wäre sie nach bisher neun Jahren im Amt fertig mit der Stadt oder dem Theater. In einem langen Prozess hat sich das Haus ein Leitbild gegeben, in dem es heißt, „das Thea­ter Erlangen bemüht sich um Diversität und stellt sich gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung“. Was die Diversität auf der Bühne angeht, so ist da zwar noch Luft nach oben, aber immerhin haben zwei von neun festen Ensemblemitgliedern einen Migrationshintergrund. Zudem inszenieren in Erlangen ­ überdurchschnittlich viele Regisseurinnen. Und im Frühjahr startet, nach einigen kleineren Projekten als Testballons in vergangenen Spielzeiten, eine Bürgerbühne. „Wir verstehen uns nicht nur als Kulturbetrieb, sondern als lebendiger Teil der Stadtgesellschaft“, sagt Katja Ott. Dreihundert Jahre sind ein stolzes Alter für ein Theater. Im Erlanger alten Haus schlägt gleichwohl ein höchst vitales Herz. //

Im Verlag Theater der Zeit ist soeben erschienen: „300 Jahre Theater Erlangen – Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadt­ theater der Zukunft“, herausgegeben von Karoline Felsmann und Susanne Ziegler. Die Buch­premiere findet am 18. Januar im Theater Erlangen statt.

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Der Reichtum der Einfachheit Zum Tod des großen litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrošius von Thomas Irmer


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eimuntas nekrošius

über den georgischen Maler Niko Pirosmani, eine Arbeit, die litauische Theaterkenner heute als den Beginn seines künstlerischen Wegs erinnern, gerade auch weil darin ein Bildermacher das The  nmitten der Vorbereitungen für die Inszenierung einer Neufassung von „Ödipus auf Kolonos“ im Amphitheater von Pompeji ma war und schon auf Nekrošius’ spätere Inszenierungen verereilte ihn in Vilnius der Tod, einen Tag vor seinem 66. Geburtswies. Nach der Unabhängigkeit Litauens gründete der Regisseur 1998 ein eigenes Theater namens Meno fortas (Festung der tag. Die Präsidentin Litauens, Dalia Grybauskaitė, würdigte ihn in einer Beileidsbekundung, die für die politische Welt bemerkensKunst), das bis heute seinen Sitz in einem pittoresken Hof in der Altstadt von Vilnius hat und zugleich als Plattform für seine zahlwert ist, mit den Worten: Eimuntas Nekrošius habe als „außer­ gewöhnliches Talent unser Land repräsentiert und Litauens reichen internationalen Produktionen diente, die dort vorbereitet wurden. Diese kleine Festung war auch der Ort, wo man Nekrošius ­Namen in die Welt getragen“. Nekrošius war tatsächlich ab den späten 1980er Jahren der als Regisseur für das Format eines Zimmertheaters kennenlernen konnte, wie zuletzt mit einer Adaption von Kafkas „HungerRepräsentant des litauischen Theaters, aber er war vor allem der Schöpfer eines eigenen Theaterkünstler“ in der überraschenden kosmos. Oft waren es Klassiker, Aufmachung eines Salons der denen er mittels einer originären 1920er Jahre. Nekrošius nur auf Bildsprache, flirrender Atmoseine großen Klassikerinszeniesphären und einer existenziellen rungen festzulegen, wäre also Sicht auf den Einzelnen zu neuverfehlt. Das Existenzielle des ­ er Deutung verhalf. Höhepunkte Künstlers in der heutigen Gesellwaren die Trilogie aus Shakesschaft zu zeigen, das hat ihn peares großen Tragödien „Ham­immer beschäftigt. Dafür griff er let“, „Othello“ und „Macbeth“ nicht nur zu Kafka, sondern auch (1997 bis 2002) und seine Versizu Swetlana Alexijewitsch, der er on von Goethes „Faust“ (2006). mit „Cinkas“ (Zink) ein eigenes Abseits des bereits hoch technoTheaterstück widmete. Mit dielogisierten Theaters seiner Kolleser Arbeit kehrte er 2018 an das Theater seiner Anfänge zurück – gen arbeitete er mit elementar einfachen Mitteln: Wasser, von sie wird nun die letzte seines Schaffens bleiben. Luft bewegten Tüchern, Naturstein. Damit erhielten seine mitDas am Jaunimo teatras (heute unter der Leitung von unter überlangen Inszenierungen etwas Antikes, was im Nekrošius’ einstigem Mitarbeiter starken Kontrast zu seiner AnaAudronis Liuga längst kein Julyse der modernen menschligendtheater mehr) entwickelte Stück handelt vom Leben und chen Verhängnisse stand, sie dadurch aber noch mehr schärfte. Werk der weißrussischen NobelDass sein Theaterstil lange Zeit preisträgerin. In Zinksärgen kaals „metaphorisch“ gepriesen men die gefallenen Soldaten aus wurde, wäre von heute aus erAfghanistan in die Heimat zuneut zu überprüfen. Gewiss, die Das Existenzielle des Künstlers in der heutigen Gesellschaft rück. Die andere in dem Stück zu zeigen – das war Eimuntas Nekrošius’ Lebensthema. Links: Othello auf der Bühne umgebenverhandelte Katastrophe aus der „Zink“, ein Stück über Swetlana Alexijewitsch. den fliegenden und fliehenden späten Sowjetunion ist der SuperFotos Augustas Didžgalvis / Laura Vanseviciene (links) Tücher beispielsweise ließen an GAU von Tschernobyl. Doch es geht vielmehr um das Leben der das tödliche Taschentuch DesdeAutorin, die sich in der ein­samen monas denken, aber eine MetaBeschäftigung mit diesen Themen auch Angriffen von un­erwarteter pher war das im strengen Sinne nicht. Eher eine assoziationsreiSeite ausgesetzt sieht. So werfen ihr Soldatenmütter vor, mit den che Visualisierung, geschaffen aus dem Reichtum der Einfachheit, Opfern im Westen gut Geld zu verdienen – und verdrehen, mit den Nekrošius auf der Bühne immer wieder meisterlich ent­ deutlichen Anklängen an eine postsowjetische Gegenwartsmentaliwickeln konnte. Dieser Reichtum bedeutete Tiefendimension, auch Mehrdeutigkeit, die auf widersprüchliche Erfahrungen zielte tät, das moralische Dilemma einer ganzen Gesellschaft. Dass der Regisseur der existenziellen Klassiker-„Metapher“ mit dieser Inszeund letztlich, mit Blick auf sein erstes Publikum, aus der traumatischen Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert herrührte. nierung einen neuen Weg der direkteren Darstellung seiner Ausgebildet am Moskauer Institut für Theaterkunst GITIS, ­Lebensthemen eingeschlagen hat, muss als letzte Konsequenz seiner Arbeit in insgesamt vierzig Jahren gewürdigt werden. ging er nach dem Abschluss 1978 zurück nach Vilnius, wo seine Eimuntas Nekrošius starb am 20. November 2018 in ersten Inszenierungen am Staatlichen Jugendtheater Jaunimo ­teatras Vil­nius. // große Beachtung fanden. Dazu zählt „Pirosmani, Pirosmani …“

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Tanz in den Wolken Ende diesen Jahres wird der bekannteste Choreograf Asiens, Lin Hwai-min, in den Ruhestand gehen – undenkbar, dass er dann nur noch Geschirr spülen wird von Renate Klett

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m Jahr 1973 gründete der Schriftsteller Lin Hwai-min das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, benannt nach einem der ältesten Tänze in China, und machte aus ihm eine der berühmtesten Tanzkompanien der Welt. Am 31. Dezember 2019 wird er die künstlerische Leitung der Gruppe an den Choreografen Cheng Tsung-lung übergeben, den jetzigen Leiter der Junior Company Cloud Gate 2. Dieser übernimmt damit 25 Tänzer, ein Dutzend Mitarbeiter und ein riesiges Repertoire an Erfolgsstücken. Der Rückzug ist frei­willig und weise. „Ich will, dass die Kompanie weiter­

besteht, aber ich will nicht, dass sie ein Museum wird“, sagt Mr. Lin. „Die jungen Leute müssen zu ihrer Generation sprechen. Sie werden vielleicht nicht mehr diese altmodische Disziplin haben, die ich einfordere, aber sie werden gute Arbeit leisten, und die Kompanie wird ihre Stellung in der Gesellschaft behalten.“ Dann erzählt er von den Anfängen des Cloud Gate Dance Theatre. „Als wir damals begannen, gab es in Taipeh private ­Ballettschulen, die schreckliche ‚Giselles‘ aufführten. Alles war sehr dilettantisch, auch die damalige Tanzabteilung der Univer­ sität. Es gab klassisches Ballett und lauwarme Moderne, zeitlich verschoben aus Tokio übernommen. Wir aber schauten nach New York – unsere Inspiration waren Josè Limón, Paul Taylor, Alvin Ailey, ­deren Kompanien hier gastierten. Als ich 14 Jahre alt war,


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lin hwai-min

Die Cloud-Gate-Tänzer gehören zu den besten der Welt – schulen sich in Tai Chi, Martial Arts, klassischem und modernem Tanz, hier die Produktion „White Water“ (2014). Foto Liu Chen-hsiang

sah ich Limón in ‚The Moor’s Pavane‘ – das hat mich aufgewühlt. Damit begann meine Sehnsucht nach Tanz.“ Aber zunächst wurde er Schriftsteller und als solcher ziemlich bekannt. Als er später die Literatur verließ, um sich ganz der Bewegung zu widmen, der inneren wie der äußeren, war das öffent­liche Interesse an diesem Experiment groß. Seine Idee eines asiatischen Tanztheaters, in dem sich traditionelle chinesische Formen und westlicher Modern Dance gleichberechtigt begegnen, entwickelte sich über die Jahrzehnte zu einem unverwechselbaren Stil aus Meditation und Kampfsport, expressiven Schleuderbewegungen und verlangsamten Minimalgesten, Tai-Chi, Tao Yin und Graham-Technik, der aus den Gegensätzen Funken schlägt und Spiritualität zur Ästhetik erhebt. Die Tanzbewegung geht dabei immer vom Boden aus, und sie atmet aus der inneren Energie (Chi). „Ihr müsst die Füße wie eine Pflanze im Boden verwurzeln“, lautet eine Trainingsanweisung. Heute gehören die Cloud-Gate-Tänzerinnen und -Tänzer zu den besten der Welt: Sie verfügen über unglaubliche Technik und Kraft, schulen sich in täglichem Wechsel in Tai-Chi, Martial Arts, klassischem und modernem Tanz, praktizieren Kalligrafie und

Yoga. Sie schuften. Lins Bekenntnis „Mein Leben ist das Studio, und das Studio ist mein Leben“ scheint auch für sie zu gelten. Als ich vor etlichen Jahren Proben im Cloud Gate Studio besuchte und anschließend die Insel bereiste, wurde bei meiner Rückkehr nach Taipeh eine Sitzung für alle einberufen, auf der ich die Schönheiten der Insel beschreiben sollte. Die Tänzer und Tänzerinnen kannten sie nicht und staunten. Wenn sie die Insel bereisen, dann um zu arbeiten. Jedes Jahr gibt es eine National Tour, bei der sie durch Städte und Dörfer ziehen, bejubelt und verehrt. Aber außer den Menschenmassen, die ihnen zuschauen, oft über 40 000, in Stadien, auf Plätzen oder Reisfeldern, scheinen sie ­dabei nichts zu sehen zu bekommen. Interessanterweise trägt Lin Hwai-mins jüngste Arbeit, die vielleicht seine letzte ist, den Titel „Formosa“ (2017). Die portugiesischen Entdecker des 16. Jahrhunderts waren so überwältigt vom Anblick der Insel Taiwan, dass sie ihr den Namen Ilha Formosa (Schöne Insel) gaben. Lins Hommage, die im vergangenen Jahr beim Festival Movimentos in Wolfsburg zu sehen war, wirkt wie ein verwehter Hauch vom anderen Ende der Welt, ein sanfter Wind, der das Gesicht streift und weiterzieht. Die riesige Projek­tionsfläche der Rückwand ist mit chinesischen Schriftzeichen überzogen, die allmählich zerfallen, sich auflösen, schließlich übereinanderpurzeln. Sie bezeichnen Berge, Flüsse, Städte, Dörfer, Landschaften Taiwans und spielen mit deren Namen, die sich immer wieder neu zusammensetzen. Eine männliche Stimme spricht Gedichte, eine andere, jüngere, singt, summt, schreit. Statt in einer Bühnenlandschaft spielt diese Aufführung in einer Schrift-, Sprach- und Tonlandschaft, die sehr poetisch und zart ist, dann wieder martialisch und schließlich von den Wellen des ­Meeres verschlungen wird. In einer ausgeklügelten Choreografie aus Einzel- und Massenszenen, wirbelnden Armen und stampfenden Beinen, ­ Drehungen und weichen Bodenrollen vermittelt die Arbeit weniger ein Narrativ als vielmehr eine seltsam schwebende Atmosphäre. Die ist rätselhaft und betörend, voller Liebe und Vergeblichkeit. „Die Emotion wird zur Form“ – Martha Grahams Leitgedanke scheint sich hier zu verwirklichen. Lin hat in New York unter anderem bei Graham und Merce Cunningham studiert – beider Einflüsse sind in seinem Lebenswerk durchaus erkennbar. Die Kraft der Aufführung liegt in ihrer wundersamen Komposition und in ihrer so radikalen wie schlicht schönen Ästhetik. Und natürlich in der Hingabe der Tänzerinnen und Tänzer, die es wie niemand sonst verstehen, noch die kompliziertesten Bewegungsabläufe mit großer Leichtigkeit und Eleganz zu verinnerlichen. Lin Hwai-min hat über neunzig Stücke für Cloud Gate choreografiert und sie auf vier Kontinenten gezeigt. Anfangs taten sich westliche Betrachter eher schwer mit seinen Arbeiten, nannten sie klischeehaft, gar kitschig, miss­verstanden die Ost-WestSymbiose, „typisch Taiwan“, hieß es, „Nachahmung in Plastik“. Aber je reifer die Arbeiten wurden, je mehr Lin zu seinem Stil fand, desto größer wurden Aufmerksamkeit und Verständnis.

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protagonisten

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Wie ein verwehter Hauch vom anderen Ende der Welt – „Formosa“ (2017) von Lin Hwai-min. Foto Liu Chen-hsiang

Heute ist er ein Weltstar, mit Preisen überschüttet, ein gern gesehener Gast auf den großen Tanzbühnen der Metropolen. Die internationalen Tourneen werden immer länger, und zu Hause wird er wie ein Guru verehrt, jedes Kind kennt seinen Namen. Als das Cloud Gate Studio mit allen Kostümen, Requisiten, Ausstattungen und Archiven abbrannte, spendete die ganze Nation für den Wiederaufbau. Zwischenzeitlich kam die Kompanie in einem leer stehenden Gefängnisgebäude unter, 2015 konnte sie ihr neues Theater eröffnen, das in einem Park am Rande des Zentrums steht. „Wir fühlen uns dort sehr wohl, haben alles, was wir brauchen“, sagt er. „Das eigene Haus bietet den Tänzern Sicherheit, weil sie ohne diesen Ort im Fernsehen landen würden. Deshalb kann ich mich zurückziehen.“ Was er denn im Ruhestand machen will, frage ich, und er lacht: „Geschirr spülen – das ist das Einzige, was ich richtig gut kann.“ Kürzlich wurde er von einem Auto angefahren, musste operiert werden und hat seither Schwierigkeiten mit den Beinen. Trotzdem fällt es schwer, sich Mr. Lin außerhalb des Tanzstudios vorzustellen – schließlich hat er sein ganzes Leben dort verbracht. Und genau deshalb will er das Leben jetzt kennenlernen. Und wenn er stirbt, so fügt er hinzu, dann soll bei der Gedenkfeier „Songs of the Wanderers“ aufgeführt werden. Das 1994 entstandene Stück ist eines seiner berühmtesten und schönsten. Er hat es nach seiner zweiten Indienreise choreografiert, es überträgt die Meditation und Spiritualität, die er von dort mitgebracht hat, in ein großartiges Bild: Ein Mönch steht den ganzen Abend lang unbeweglich in einem goldenen Reisregen, während die Tänzer ihn wie auf einer Pilgerreise umkreisen, behüten und erhöhen. „Das Stück ist wie ein Fluss“, sagt er, „es fließt einfach so dahin, voller Ruhe und Frieden zu der wunderbaren georgischen Musik.“ Aber auch „Moon Water“ (1998), dessen Choreografie von Tai-Chi-Bewegungen inspiriert ist und zu Bachs Cello-Suiten die Harmonie von Körper, Geist und Seele beschwört, liebt er sehr. „Ich liebe es auch deshalb, weil die Tänzer es so gerne tanzen, sich

ganz darin versenken und nach der Vorstellung richtig glücklich sind.“ Transzendenz ist ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Die Aufführungen vermitteln allesamt eine fernöstliche Ästhetik aus Schönheit und Strenge, Fülle und Leere. Das Licht gliedert die Bühne, Schwarz-Weiß-Kontraste und Chiaroscuro-Stimmungen heben die Tänzer hervor oder verschlucken sie. Alles zeugt von Eleganz, Rhythmus und Struktur. In seinem Meisterwerk „Cursive II“, einer tänzerischen Apotheose traditioneller Kalligrafie, entwickelt er die Vision einer Vollkommenheit, die Inneres und Äußeres kongruent macht. Hier ist alles Form, alles Inhalt, alles ist offen und ist doch voller Geheimnis. Die Trilogie, zwischen 2001 und 2005 entstanden, ist vielleicht sein reifstes Werk. Zu seinen Favoriten gehören jedoch auch zwei Arbeiten, die in ganz andere Richtungen weisen. Zum einen „Portrait of the Families“ (1997), das die offizielle Geschichtsschreibung durch privates Storytelling hinterfragt – sein politischstes Stück. Zum anderen „Rice“, das er 2013 zum vierzigjährigen Jubiläum der Kompanie choreografierte. „‚Rice‘ war ein großer Spaß“, sagt er und erinnert sich, wie er damals seine Tänzer zur Reisernte schickte. Trotz der Strapazen wurde es sein spielerischstes Stück. „Ich bin einfach am liebsten bei meinen Tänzern“, erzählt er. „Das ist meine Familie. Sie lieben Herausforderungen, wollen es sich nicht bequem machen. Deshalb erfinde ich immer wieder neue Choreografien, die eigentlich nur Vorwände sind, um meine Tänzer zeigen zu können.“ Er habe ein gutes Leben gehabt, sinniert er. „Ich war gesegnet, wenn man bedenkt, dass ich erst mit 23 Jahren begonnen habe, Tanzunterricht zu nehmen, und mir das Choreografieren selbst beigebracht habe.“ Aber es gibt auch Bedauern: „Einige Stücke würde ich verändern, wenn ich es könnte. Doch dafür ist es zu spät.“ Und dann fügt er nachdenklich hinzu: „Aber vielleicht ist dieses Streben nach absoluter Perfektion auch gar nicht so gut.“ // Lin Hwai-min. Foto Barry Lam

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kommentar

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Die letzte Machete Über das Aus der Sendung „Kulturpalast“ als bitterer Abschluss der Marginalisierung von Theater im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

A

schaftliche Großthemen in aktueller Theaterarbeit, Musiktrends und neuen Filmen gespiegelt werden sollten. Die ausführende   ls im Dezember 1999 der ZDFtheaterkanal auf Sendung Produktionsfirma, Tita von Hardenbergs Kobalt in Berlin, hatte ging, war das europaweit eine Sensation. Ein Spartenprogramm, auch schon „Foyer“ produziert und besaß personell wie Knowbei dem man schon zum Frühstück eine alte Peter-Zadek-Inszehow-mäßig eine breite Basis für die ständige Weiterentwicklung des Formats der Sendung, die von Pegah nierung und nach Mitternacht noch eine Theater-Doku sehen konnte, etwa eine der Ferydoni und Nina Sonnenberg moderiert ­ wurde. 150 Folgen „Theaterlandschaften“, mit ­denen praktisch das gesamte deutschsprachige Am 1. Dezember lief die letzte Ausgabe Ein Jahr Laufzeit „Kulturpalast“ bei 3sat. Zur Einstellung der Theater in halbstündigen Einzelporträts vorgestellt wurde. Im Ausland staunte man: So kostete das ZDF so viel Sendung machte der öffentlich-recht­liche Dachsender ZDF keine Angaben und veretwas können nur die Deutschen haben. Für wie eine Sendung die aktuelle Berichterstattung gab es dazu wies lediglich darauf, dass man „das Profil des prominenten Sendeplatzes am Samstag die – zeitweise wöchentlich laufende – Sen„Wetten dass ...?“ dung „Foyer“, ein Theatermagazin mit Preum 19.20 Uhr schärfen“ wolle. Daraus ergibt sich die Schluss­folgerung, dass die weitere mierenberichten und Porträts, auch aus den Sparten Tanz und Musiktheater, sowie SonMarginalisierung des Theaters, die allgemein in den Mainstream-Medien zu beobachten dersendungen samt ganzer Aufzeichnungen vom Theatertreffen. Goldene Zeiten fürs Theater im Fernsehen. ist, beim ZDF (gebührenfinanziertes) Programm ist. Ein Indiz Zehn Jahre später feierte der digitale Theaterkanal sein Jubifür diese Ausrichtung ist auch die Streichung der Festivalreportaläum, doch da hatten die Programmoberen in Mainz schon die gen „Theater: ein Fest!“ bei 3sat. Nun gibt es nichts mehr wegzu­ Kahlschlagmacheten aus dem Schreibtisch gezogen. Der Theatersäbeln – und man könnte von dem eingesparten Geld die zeitlich kanal – ein Jahr Laufzeit kostete das ZDF so viel wie eine Sendung immer überziehende „Wetten dass ...?“-Sendung ganz offiziell um „Wetten dass ...?“ – wurde aufgelöst und ein kleiner Teil dessen ab anderthalb Minuten verlängern. Aber die gibt es ja auch schon 2011 in das Programm des neuen Senders ZDFkultur einbezogen. nicht mehr. // Das lebende Theatermuseum der alten Zadek-Aufzeichnungen Thomas Irmer verschwand ganz, aus „Foyer“ wurde der „Kulturpalast“, eine Sendung nunmehr für Performing Arts im weitesten Sinne, die mit neuen Formen der Kulturberichterstattung experimentierte und dabei mit engagiertem Interesse das Theater im Auge behielt, vor allem auch mit Studiogästen wie Herbert Fritsch, Charly Hübner Der Autor realisierte selbst ab 2003 Theaterbeiträge für die Sendungen und zuletzt Thomas Ostermeier. Insgesamt 166 Sendungen ent„Foyer“ und „Kulturpalast“. 2004 erhielt er zusammen mit Matthias standen, in den letzten Jahren waren sie, auf drei Staffeln im Jahr Schmidt einen Grimme-Preis für die 3sat-Produktion „Die Bühnenrepublik. verteilt, jeweils einem Oberthema verschrieben, mit dem gesellTheater in der DDR“.

HOFESH SHECHTER GUTIÉRREZ / DIETRICH / RUGAMBA RWANDAN ARTS KLUB SHARING HERITAGE?! DER DEUTSCHE KOLONIALSMUS GRAND FINALE

PLANET KIGALI

ALS VER DR Ä NGTES K APITEL DER KOLLEK TIVEN ERINNERUNG

ONE MOTHER / MS NINA

GLOBAL FEMINIST BAD[B]ASS

8 1 0 2 Z DE KA

AMB H L E G A MPN

URG

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Heilige Ironie Die Kritiker liegen ihr zu Füßen, denn die Düsseldorfer Schauspielerin Lieke Hoppe weiß, was auf dem Spiel steht

W

er als Kind, wohlgemerkt als Mädchen, den Mackie Messer in der „Dreigroschenoper“ gespielt hat, dem muss das Theaterspielen in die Wiege gelegt worden sein. Da ist Magie im Spiel. Lieke Hoppe schwärmt, aber sie ist der seltene Fall einer vollkommen geerdeten Schwärmerin. Deswegen war sie prädestiniert für die Rolle des Käthchens von Heilbronn in der Inszenierung von Simon Solberg in ihrem ersten Jahr am Düsseldorfer Schauspielhaus. Die Schauspielerin schwärmt vom Regisseur, sie schwärmt von Kleist, aber die Sprache des Dichters, die gemeinhin als komplex gilt, habe ihr keine zu große Mühe gemacht, berichtet sie beim Kaffee. Ihr sei das Herz aufgegangen, und wenn sie vor jeder Vorstellung vor Aufregung zittere, dann deswegen, weil ihr dieses Stück und diese Arbeit so wichtig seien. Lieke Hoppe, Jahrgang 1993, ist Ur-Bremerin und Werder-Bremen-Fan: Für das Foto im Spielzeitheft hat sie sich sogar die grün-weiße Werder-Raute auf die Wange gemalt. Das Somnambule des Käthchen ist ihr fremd. Fast allen Figuren, die Lieke Hoppe spielt, auch der hin- und hergerissenen Mary Warren in „Hexenjagd“, auch dem praktisch veranlagten „Flämmchen“ in „Menschen im Hotel“, glaubt man anzumerken, dass hier jemand, selbst wenn er sich scheinbar naiv gibt, im Grunde genau weiß, was auf dem Spiel steht. Flämmchen, die von einem windigen Unternehmer als ambulante Sekretärin gebucht wird, durchschaut sofort, dass bei dem Deal auch gewisse zwischenmenschliche Gefälligkeiten gefragt sind. Lieke Hoppe macht aus dieser prekären Figur am Rande der Prostitution eine warmherzige, vernunftbegabte Person ohne jede Bitterkeit. Das gilt für alle ihre Rollen. Zum Beispiel für das sogenannte Girl im David-Bowie-Musical „Lazarus“, dem die männlichen Kritiker reihenweise zu Füßen lagen. Blond, großgewachsen, intelligent, musikalisch – es sind schon eine Reihe einschlägiger Eigenschaften, die Hoppe auf Anhieb anziehend erscheinen lassen. Aber das Spezielle liegt woanders, es kommt vielleicht in der Beatrice in Dantes „Göttlicher Komödie“ am

deutlichsten zum Ausdruck: Es ist ein ideeller Heiligenschein, der zugleich ironisch unterwandert wird. Diese souveräne Ironie glaubt man intuitiv zu spüren, wenn Lieke Hoppe einen von einem Foto herab anschaut. Und durchschaut? Immerhin kann man sich mühelos vorstellen, wie die junge Lieke von „dem schönsten Jesulein“ singt. Ihre musikalische Herkunft hat nämlich nichts mit David Bowie zu tun, auch nicht mit der „Dreigroschenoper“, sondern ganz klassisch: mit Johann Sebastian Bach. Hoppes Mutter hat in Bremen einen Mädchenchor gegründet, die Bremer Domsingschule, in dem die Tochter natürlich mitsang. Daraus ging wiederum eine Theatergruppe hervor. Zur Schauspielerin ausgebildet wurde Lieke Hoppe an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig, ihr erstes Engagement führte sie ans Staatsschauspiel Dresden, dann ging sie 2016 mit Intendant Wilfried Schulz nach Düsseldorf. Eine frühe, steile Karriere, aber dass sie ihre Natürlichkeit einbüßen könnte, muss man nicht befürchten, davor schützt sie ihr Naturell. Sie ist sich für nichts zu schade: Selbst die auf ihr Blondsein und ihr gequältes Lachen reduzierte Assistentin Bibi Wach in „Wonkel Anja – Die Show“ von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht, ihrer jüngsten Produktion, schüttelt Hoppe so aus dem Ärmel, mit einer Restironie, die den ganzen Abend mit ein paar kritischen Fragezeichen versieht. Wenn sie erwähnt, auch diese Arbeit habe ihr sehr viel Spaß gemacht, glaubt man ihr sofort. Etwas ernster wird es, wenn die Rede auf die vom Düsseldorfer Gleichstellungsbüro initiierte Kampagne „Gegen Gewalt gegen Frauen“ kommt, deren Gesicht eben Lieke Hoppe ist. Es ist ein außerordentlich sympathisches Gesicht. // Lieke Hoppe. Foto Thomas Rabsch

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Martin Krumbholz Lieke Hoppe ist am Düsseldorfer Schauspielhaus unter anderem wieder zu sehen in „Wonkel Anja – Die Show“ am 2. und 29. Januar, in „Lazarus“ am 26. und 27. Januar sowie in „Menschen im Hotel“ am 3., 13. und 30. Januar.


Look Out

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Fragend geht’s voran Die Berliner Schauspielerin Maike Knirsch will nicht einfach nur auf der Bühne stehen, sie will auch wissen, warum

arum? Diese Frage zeugt von Neugier. Von kritischem Bewusstsein. Und Haltung. Die Schauspielerin Maike Knirsch fragt nach Gründen. Warum wird genau dieser Text auf die Bühne gebracht? Was soll damit gezeigt werden? Warum kann man das nicht anders zeigen? Und vor allem: Warum steht man selbst auf der Bühne? „Ich will wissen, warum ich auf der Bühne bin“, sagt Knirsch, „das muss sich aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung ergeben.“ Man kann auch auf der Bühne sein und nicht wissen, warum, intellektuell unbeseeltes Handwerk, aber das macht auf die Dauer zynisch. Und Knirsch möchte nicht zynisch werden. Deswegen plädiert sie dafür, dass das Ensemble in die Entscheidungen einbezogen wird. Sie möchte über Inhalte sprechen. Denn – siehe oben – alle Beteiligten müssen wissen, warum sie Theater machen. Es gibt ja auch ein Publikum, dem man etwas erzählt. Das versammelt sich an einem Ort, um einer Sache zu folgen – wie schon in der Antike, wo die Angelegenheiten der Polis besprochen wurden, bevor das Schauspiel losging. Theater ist gewissermaßen ein Ausnahmezustand, erzählt Knirsch. Und wofür spielt sie die gleiche Sache wieder und immer wieder? Für den Moment, wenn im Saal „die Luft zu flirren beginnt“. Maike Knirsch, 1995 in Stendal geboren, ist das jüngste Ensemblemitglied des Deutschen Theaters Berlin (DT). Und wie sie über Theater spricht, über Literatur, Stücke, Figuren, ist un-, ja, außergewöhnlich. Vielleicht, weil wir über all die Performances, Site-Specifics, Dokumentar- und Selbstentblößungsabende fast schon vergessen haben, dass Theater dann am besten ist, wenn es gute dramatische Literatur zur Grundlage hat. Und Schauspieler, die sich mit dieser Literatur verbünden. Wann Knirsch durch Theaterabende beeindruckt ist? „Wenn ich Schauspieler im Auftrag des Autors sehen kann“, sagt sie. Es sei auch für ihre eigene Arbeit entscheidend, dass man den Autor wahrnehmen könne. „Bescheiden, nicht auftrumpfend“,

Maike Knirsch. Foto Klaus Dyba

W

so begreift sie ihr Spiel. Knirsch mag es, eine Figur zu ent­ wickeln, in einem Stück mit einer Geschichte. So eine Figur könne durchaus fremd sein, aber der Reiz sei ja schließlich, sich trotzdem in sie hineinversetzen zu können, um dem Publikum die Sicht dieser Figur auf die Welt zu vermitteln. Dafür müsse man sich verwandeln, etwas vorgaukeln, was man selbst nicht ist. Was macht ein Schauspieler, Maike Knirsch? „So gut wie möglich ­lügen.“ Trotz ihres jungen Alters hat Knirsch schon einige Bühnenerfahrung. Sie spielte in der Schule und im Jugendclub des Theaters in Stendal, ging dann aufs Filmgymnasium nach Potsdam-Babelsberg, machte ihre Ausbildung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, spielte nebenbei schon im Jungen DT. Seit letzter Spielzeit ist sie nun festes Mitglied des Ensembles am DT und ist mit ihrem präzisen und überzeugenden Figurenspiel in zahlreichen Inszenierungen zu sehen: als Sonja in „Sommergäste“, in „Die stillen Trabanten“, als Helene in „Vor Sonnenaufgang“, in „Auerhaus“ und „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“. Nun ist sie in den Proben zu „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt, der einst Chefdramaturg in der Schumannstraße war, als Wolfgang Langhoff noch Intendant war. Ein Stück über Wissenschaft und Moral, wie Brechts „Leben des Galilei“ und Dürrenmatts „Die Physiker“. Es geht um das Verhör eines Wissenschaftlers, dem mangelnde Loyalität zum militärisch-industriellen Komplex vorgeworfen wird. Was man damit erzählen kann, fragt sich Maike Knirsch. Warum dieses Stück? Was hat es mitzuteilen? Über die Welt von gestern, die von heute oder gar auch die von morgen? Zu viele Fragen? Überhaupt nicht. Ein Theater mit Schauspielern, die sich solche Fragen stellen, kann sich glücklich schätzen. // Jakob Hayner

„In der Sache J. Robert Oppenheimer“ mit Maike Knirsch hat am 20. Januar am Deutschen Theater Berlin Premiere.

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/ TdZ Januar 2019  /

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Neustarts Stuttgart und Bochum / Kunstinsert Olaf Altmann / Über das Aus der Sendung „Kulturpalast“ / Jürgen Holtz über die 300. „Dreigroschenoper“ / Wasser und Luft: In Gedenken an Eimuntas Nekrošius

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Buchverlag Neuerscheinungen

Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose)

28

Was passiert, wenn Dorfbewohner entdecken, dass eine Frau als Mann seine/ihre große Liebe gelebt hat, erzählt Wüstes Land, Agreste von Newton Moreno.

Grace Passô Für Elise Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro Das Ende aller Wunder Sergio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten)

Theaterstücke aus Brasilien

Unbeherrschbare Ereignisse, Gefühle und Kontrollzwang bringen in Grace Passôs Für Elise vier Personen einander näher als erwünscht. „Alles unter Kontrolle“, erklärt die Krankenschwester in Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm über die Sehnsüchte und Ängste ihrer Patientin. Theaterstücke von Newton Moreno Grace PassÔ Silvia Gomez Pedro Brício Paulo Santoro Sérgio Roveri

In Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh improvisieren und streiten vier Schauspieler auf einer Theaterprobe über die Mathematik der Liebe und des Theaters. In Paulo Santoros Das Ende aller Wunder philosophieren ein alter Professor und seine Frau im Rollstuhl über den Kosmos und bezahlten Sex im Alter. In Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten) lästern und lamentieren zwei Fensterputzer an einem Hochhausturm über die da drinnen und die da draußen über dem Abgrund.

Wer Visionen hat, sollte ins Theater gehen. Markgraf Georg Wilhelm baute den Erlangern 1719 ein besonders schönes und legte damit den Grundstein für das heute älteste bespielte Barocktheater Süddeutschlands. „300 Jahre Theater Erlangen“ lädt – mit Anekdoten, Interviews und vielen Bildern – zu einer facettenreichen Zeitreise ein und entwirft neue Visionen für ein Stadttheater der Zukunft.

Dieser Band versammelt sechs Theaterstücke aus Brasilien, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen. Newton Moreno: Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose) Grace Passô: Für Elise Silvia Gomez: Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício: Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro: Das Ende aller Wunder Sergio Roveri: Hängepartie (mit Innenansichten)

Buchpremiere am 18. Januar 2019, Theater Erlangen 300 Jahre Theater Erlangen Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft Karoline Felsmann und Susanne Ziegler (Hg.)

Aufführungsrechte: vertrieb@theaterderzeit.de Dialog 28 Theaterstücke aus Brasilien Herausgegeben von Henry Thorau

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THEATERFESTIVAL FÜR JUNGES PUBLIKUM 7. 12. MAI 2019

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DAS FESTIVAL DES THEATERS FÜR JUNGES PUBLIKUM 07. - 12. MAI

2019

Die 10 eingeladenen Inszenierungen aus Deutschland:

DER KLEINE ANGSTHASE D‘haus Junges Schauspiel, Düsseldorf nach Elizabeth Shaw Regie: Martin Grünheit

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HELDEN subbotnik in Koproduktion mit FFT Düsseldorf, Freies Werkstatt Theater Köln, Theater an der Ruhr von subbotnik 10+

Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2019 der ASSITEJ Deutschland

Paperback mit 240 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-160-2 EUR 30,00 (print). EUR 24,00 (digital)

Paperback mit 214 Seiten ISBN 978-3-95749-152-7 EUR 22,00 (print). EUR 18,00 (digital)

IXYPSILONZETT h Jahrb2u0c19

d der- un für Kindth eater land Jugen SIT EJ Deutsch der AS

JETZT BESTIMME ICH barner 16 / Meine Damen und Herren in Kooperation mit Kampnagel, Hamburg nach Juli Zeh, Dunja Schnabel Regie: Charlotte Pfeifer, Martina Vermaaten 6+

KLANG-STÜCKE Theater o.N., Berlin von Theater o.N. & Gästen

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NACHTS Theater Oberhausen von Franziska Henschel

Regie: Franziska Henschel

4+

tjg. theater junge generation, Dresden von Ariel Doron Regie: Ariel Doron

16+

FRÜHLINGS ERWACHEN Schauburg Theater für junges Publikum, München von Frank Wedekind Regie: Jan Friedrich

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GIRLS BOYS LOVE CASH Citizen.KANE.Kollektiv in Kooperation mit Junges Ensemble Stuttgart Regie: Christian Müller 15+

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BESUCHSZEIT VORBEI

Heimat-Pflege als Theater-Programm? Die Kunst, soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen

MÄDCHEN WIE DIE Junges Schauspiel Hannover von Evan Placey Regie: Wera Mahne

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WAISEN JUNGES.THEATERBREMEN / Moks von Dennis Kelly Regie: Konradin Kunze

präsentiert von: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland

Ein Spiel wie Schilf: Das Zarte ist das Zähe. So betreibt Christian Grashof seine Kunst. Als träfen sich in einer einzigen Seele Clown und Tragöde. Grashof, der in diesem Jahr 75 wird, gehörte über vier Jahrzehnte zu den prägenden Darstellern des Deutschen Theaters Berlin. In Gesprächen mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt erzählt er sein Leben – vom Arbei­ ter­kind im sächsischen Löbau zu einem Unverwechselbaren deutscher Schauspielkunst. Beiträge von Alexander Lang, Volker Pfüller, Gunnar Decker, Ulrich Khuon sowie zahlreiche Abbildungen dokumentieren die Theater- und Filmarbeit Grashofs.

in Kooperation mit :

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gefördert von:

Theater der Zeit

ilianinschaft profiiens erausgenoAugusto eretzt.

auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2019 / /

Hometown. Shaun Tan über die Offenheit im Fremden Snack Platt. Das Ohnsorg-Theater auf neuem Kurs Ausnahmezustand. Theater in der Türkei Theaternomaden. Leben und Inszenieren zwischen den Bühnen Service. Alle Premieren. Alle Preise. Alles Wissenswerte

Welche Bedeutung hat „Heimat“ für die Theatermachenden? Welche künstlerischen und konzeptionellen Ansätze sind nicht nur zeitgenössisch, sondern auch nachhaltig? Das Jahrbuch für Kinder- und Jgugendtheater gewährt Einblicke in persönliche Erfahrungen, künst­ lerische Auseinandersetzungen, kulturpolitische Notwendigkeiten und informiert über Premieren, Preise und Wissenswertes dieser Spielzeit.

Christian Grashof. Kam, sah und stolperte Gespräche mit Hans-Dieter Schütt

IXYPSILONZETT 2019 Jahrbuch für Kinder­und Jugendtheater in Deutschland der ASSITEJ DEUTSCHLAND Heimat-Pflege als Theater-Programm? Die Kunst, soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen Herausgegeben von Wolfgang Schneider

Hardcover im Schutzumschlag mit 328 Seiten Zahlreiche farbige Abbildungen ISBN 978-3-95749-162-6 EUR 22,00 (print). EUR 17,99 (digital)

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Auftritt Berlin

„Italienische Nacht“ von Ödön von Horváth / „Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“ (UA) von Bertolt

Bonn „Die Zofen“ von Jean Genet  Frankfurt am Main „Furor“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah ­Nemitz  Kiel „Neunzehnachtzehn“ von Robert Habeck und Andrea Paluch  Magdeburg „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett  Münster „Tot sind wir nicht“ (UA) von Svenja Viola Bungarten  Oldenburg „Russian Boy“ (UA) von Dmitri Sokolow  Stuttgart „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ (UA) von Boris Sawinkow  Zürich Brecht

„Nora oder Ein Puppenhaus“ nach Henrik Ibsen


auftritt

/ TdZ  Januar 2019  /

BERLIN Jagdszenen aus Niederbayern

worden. In welchem Jahr befinden wir uns?

sonen seines Romans an Gewalttaten in jener

Das ist tatsächlich nicht ganz eindeutig.

Nacht beteiligt gewesen sein könnten, ent­

Hans-Jochen Wagner jedenfalls gibt

ziehe sich seiner Kenntnis. Unvorstellbar, wie

sich als SPD-Stadtrat Ammetsberger mit ab-

es eine derart dünne Begründung durch die

gedroschenen Phrasen („Natürlich kenne ich

Redaktion einer so angesehenen Zeitung wie

meinen Marx“) und linkischem Gestottere

Die Zeit schafft.

ganz dem Bild eines desaströs rückwärtsge-

Genau diese Blindheit aber könnte die

wandten Sozialdemokraten hin, bei dem man

Schärfe erklären, mit der Thomas Ostermeier

sich fragt, ob es wirklich realistisch ist, dass

vorgeht. Wer in Peer Steinbrücks Buch „Das

die Not der Partei in diesem Ortsverband

Elend der Sozialdemokratie“ die Beschrei-

noch nicht angekommen ist. Ebenso wie of-

bung der Dramaturgie eines Bundesparteitags

fenbar das Internet. Um an Infos über die fa-

liest, die sich seit Jahrzehnten nicht verän-

schistische Bewegung zu gelangen, muss

dert habe („Einzug des Matadors unter der

Martin (Sebastian Schwarz) nach wie vor sei-

Melodie von ,Chariots of Fire‘“ und so weiter),

ne Freundin Anna (Alina Stiegler) überreden,

wundert sich über das Beharren von Oster-

Aus der nächtlichen Dunkelheit einer süd-

mit einem ihrer Anführer anzubändeln, an-

meiers SPDlern auf ihre italienische Nacht

deutschen Kleinstadt schält sich drohend das

statt sich mittels einer Fake-Identität auf

nicht. Es ist die undurchdringliche Maske der

Namensschild einer in die Jahre gekomme-

­deren Facebook-Seite einzuhacken. Die Sozial­

Folklore, die aller Augen blind macht. Eine

nen Wirtschaft heraus: Gasthaus Lehninger.

demokraten wirken hoffnungslos gestrig, was

Partei feiert sich selbst – wie auch Haupt-

Wie ein Menetekel dreht sich dieses Abbild

natürlich Teil einer satirischen Schärfung

stadtreporter ihren folkloristischen Blick auf

einer Kneipe im heller werdenden Licht auf

sein kann, die Figuren mitunter aber un-

das sagenumwobene Umland zelebrieren.

Nina Wetzels Bühne. In den Gasthäusern eines

glaubwürdig macht. Würde ein wie bei Lukas

Eine Simulation von Größe, welche die eigent­

Landes, das zeigten schon Schriftsteller wie

Turtur so jung wirkender Betz einer Schlager-

lich Probleme überspielt.

Heinrich Mann in „Der Untertan“, treten,

band wie den Riccardo’s (ja, haha, mit fal-

„Sorge dich! Einzelheiten später“, die-

dem Alkohol sei Dank, die Verwerfungen einer

schem Apostroph) wirklich nicht mehr von

sem jüdischen Sprichwort, das Steinbrück

Gesellschaft als Allererstes zutage. In Ödön

der Seite weichen? So ist es in dieser Kons-

seinem Buch vorangestellt hat, scheint auch

von Horváths „Italienische Nacht“ ist der

tellation fast geschenkt, dass sich der junge

Ostermeier zu folgen. Um diese Einzelheiten,

Gastraum regelrecht zur Festung geworden.

Faschist (Laurenz Laufenberg) mit seiner den

also um eine Analyse der Situation, muss es

Im Lehninger haben sich an diesem Abend

Identitären abgelauschten Kritik am Finanz-

aber jetzt gehen. Denn auch Menschen mit

gerade die Vertreter der örtlichen Sozialdemo-

kapitalismus viel zukunftsgewandter anhört.

Autos zu jagen, schreibt Präkels, könne zu

SCHAUBÜHNE AM LEHNINER PLATZ: „Italienische Nacht“ von Ödön von Horváth Regie Thomas Ostermeier Bühne Nina Wetzel Kostüme Ann Poppel

kraten versammelt, als plötzlich ein martiali-

Um zu verstehen, warum die „Italieni-

einer Art Folklore werden. „Wenn das Monst-

scher Trommelschlag die Ruhe zerschneidet,

sche Nacht“ dennoch einen brutal wahren

röse alltäglich wird, erhält es den Anschein

als würde draußen bereits scharf geschossen.

Kern in sich birgt, muss man kurz in die

von Normalität.“ //

Es sind die Faschisten in schwarzen Klamot-

­Akademie der Künste schwenken. Hier fand

ten und Sneakern (Kostüme Ann Poppel),

zeitgleich zur Premiere an der Schaubühne

die, rechte Parolen skandierend, an der Knei-

die Verleihung der Anna Seghers-Preise statt.

pe vorbeiziehen.

Eine der Preisträger war Manja Präkels, die in

Thomas Ostermeier hat sich an der

ihrem Debütroman „Als ich mit Hitler

Berliner Schaubühne zum Ziel gesetzt, aus

Schnapskirschen aß“ von dem Erstarken der

Horváths Vorlage ein Lehrstück über das heu-

Neonaziszene nach der Wende in der Bran-

tige Elend der Sozialdemokratie herauszuar-

denburgischen Kleinstadt Zehdenick erzählt,

beiten. Der Niedergang zeigt sich hier ganz

in der sie selbst aufgewachsen ist. Schläger-

symbolisch als Gebietsverlust: In dem Gast-

trupps zogen damals durch die Kneipen, ein

haus, in dem die Sozialdemokraten traditio-

Freund von ihr kam dabei ums Leben.

nell ihre italienische Nacht feiern, halten nun

„Jagdszenen aus Brandenburg“ nannte

auch die Faschisten ihre Kundgebungen ab.

Präkels diese Vorfälle später in einem Spiegel-

In vielen Kritiken ist Ostermeier und seinem

Artikel, in dem sie auf eine Reportage des

Dramaturgen Florian Borchmeyer dabei Unklar-

Zeit-Redakteurs Moritz von Uslar reagierte.

heit in der zeitlichen Verortung vorgeworfen

Dieser hatte für sein 2010 veröffentlichtes

Dorte Lena Eilers

BERLIN Mit formidablem rechten Haken BERLINER ENSEMBLE: „Der Lebenslauf des Boxers SamsonKörner“ (UA) von Bertolt Brecht Regie Dennis Krauß Ausstattung Johanna Meyer

Buch „Deutschboden“ in Zehdenick recherchiert, 2017 besuchte er die Protagonisten Das Gasthaus Lehninger als Schauplatz konkurrierender Interessen – Alina Stiegler und Sebastian Schwarz in Ödön von Horváths „Italienische Nacht“ in der Regie von Thomas Ostermeier. Foto Arno Declair

von einst erneut. Tenor: Aus den jugendlichen

Ein Mensch sitzt auf der Bühne. Man hört sei-

Schlägern seien brave Bürger geworden. Als

nen schweren Atem in der Dunkelheit. Lang-

Präkels ihm Blindheit vorwarf, erwiderte er:

sam blendet das Licht auf. In der linken

Seine Protagonisten seien zum Tatzeitpunkt

­hinteren Ecke der von Johanna Meyer einge-

noch Kinder gewesen. Inwiefern andere Per-

richteten Bühne steht eine Leuchtscheibe,

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auftritt

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Der nie endende Kampf des Lebens – Oliver Kraushaar in „Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“ (Regie Dennis Krauß). Foto Matthias Horn

leicht schnoddrig, mal leicht angeberisch. Es ist der Ton von einem, der sich mit leeren Händen hochkämpfen musste. Eine Lebensgeschichte, die nicht wie in der Mittelklasse von Selbstverwirklichung und individualisiertem Konsum geprägt ist, sondern von Not, Entbehrung und auch Härte. „Mit der Un­ moral ist es meiner Ansicht so: Wenn es einen nicht frieren würde, wenn es kalt ist, und der Hunger nicht wegginge, wenn man ein Stück Brot isst, dann stünde die Moral viel höher. Sicher hielten sich dann viel weniger Leute im Gefängnis auf.“ Ein Underdog. Aber mit einem formidablen rechten Haken. Dass Kraushaar das ganze Repertoire seiner Schauspielkunst zeigen kann, liegt auch an der Vorlage. Der Text ist von Bertolt die wie ein großer Mond den Hintergrund der

Metapher für das Leben. Es ist eine ge­

Brecht, die Fragment gebliebene Erzählung

Szene bildet. Der Mensch auf dem Hocker

schlossene, auf sich selbst bezogene Welt,

„Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“,

ist nahezu unbekleidet, er trägt nur eine Un-

mit nichts zu vergleichen. Das Leben dage-

die er gemeinsam mit Elisabeth Hauptmann

terhose und hat ein Handtuch über die

gen als Metapher für das Boxen wäre eine

Mitte der zwanziger Jahre verfasst hat. Inspi-

Schulter geworfen, die Haut ist mit feinen

mögliche Vorstellung – Metapher für einen

riert wurde er von einer Bekanntschaft mit

Tropfen übersät. Er hat wohl gerade einen

dieser Kämpfe, die nicht enden wollen“,

dem deutschen Schwergewichtsmeister Paul

Kampf ausgetragen. In der Umkleide kommt

heißt es da.

Samson-Körner. Der Text wurde nun am

er wieder zur Ruhe, der Puls wird niedriger,

Um es vorwegzunehmen: Mehr passiert

­Ber­liner Ensemble erstmals aufgeführt, Regie

die Anspannung fällt ab. Am rechten Büh-

nicht. Ein Mensch steht auf der Bühne und

führte Dennis Krauß, der sich nun rühmen

nenrand liegen akkurat angeordnet jene

erzählt vom Boxen und vom Leben, während

darf, eine Brecht-Uraufführung zustande ge-

Kleidungsstücke,

martialischen

er sich ankleidet. Wer aber meint, das wäre

bracht zu haben – auch wenn das natürlich

Kämpfer wieder in einen Teil der bürgerli-

langweilig, weil außerordentlich handlungs-

für ein Prosafragment etwas hochgegriffen

chen Welt verwandeln – Anzugshose, Hemd,

arm (was es tatsächlich ist!), sieht sich völlig

klingt. Das Berliner Ensemble ist durchaus

Weste, Sakko, Krawatte, Lederschnürschu-

getäuscht. Und das liegt vor allem an dem

der rechte Ort für eine solche Aufführung.

he. Und während er sich ankleidet, beginnt

Schauspieler Oliver Kraushaar. Denn was der

„Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“

der Boxer zu erzählen. Über sein Leben. Und

macht, ist große Kunst. Mit nur wenigen re-

und auch die noch hinzugezogene Erzählung

den Boxsport. Und wie beides zusammen-

duzierten Gesten, vor allem aber mit der

„Der Kinnhaken“ zeigen jedenfalls Brechts

hängt. „Obwohl Boxen sehr viel mit dem

Stimme gibt er dem Text Fülle und zudem

literarisches Talent – und sind durchaus büh-

wirklichen Leben zu tun hat, ist es keine

Witz. Er trifft den Ton des Erzählten, mal

nentauglich. Entstanden ist ein bestechender

die

den

THEATER WINKELWIESE 19. Januar – 9. Februar 2019

Geisterspiel URAUFFÜHRUNG von Andri Beyeler und Martin Bieri

winkelwiese.ch


auftritt

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Auftritt von einer Stunde Länge. Vergleichbare

spielen Herrin und Dienerin. Solange schlüpft

Monologe schreibt heute wohl nur Wolfram

in die Rolle ihrer Schwester Claire, die ihrer-

Lotz.

seits die Herrschaft „performt“. Brechts Interesse für den Boxsport

Die Regisseurin Claudia Bauer löst die

rührte von einer Begeisterung für das Klare

Aufgabe für ihre Inszenierung in der Werkstatt

und Existenzielle des Schaukampfs. Das

des Bonner Theaters mit einem Kompromiss.

­Archaische wirkte in der Moderne fort. Und

Solange wird von einem Mann gespielt: Daniel

Brecht sah auch keinen Zweck darin, das

Breitfelder. Claire von einer Dame: Sophie

­Boxen zu domestizieren, wie er in dem eben-

Basse. Die weibliche Herrschaft wiederum

falls verwendeten Text „Die Todfeinde des

von einem Mann: Holger Kraft. Der Herr des

Sportes“ darlegte: „Sie verstehen mich: je

Hauses tritt ja nicht auf: Er wurde von den

‚vernünftiger‘, ‚feiner‘ und ‚gesellschaftsfähi-

Schwestern denunziert und sitzt vorüberge-

ger‘ der Sport wird, und er hat heute eine

hend im Gefängnis. Derweil üben die Schwes-

starke Tendenz dazu, desto schlechter wird

tern ihre „Zeremonie“: Die Dienerin bereitet

er.“ Bekanntlich sah Brecht in den Schau-

der Gnädigen Frau den berühmten Linden­

kämpfen ein mögliches Vorbild des Theaters,

blütentee zu, mit dem „im wirklichen Leben“

auf jeden Fall eher als in den disziplinieren-

die keineswegs sonderlich tyrannische Herrin

den Institutionen wie Kirche, Schule oder

vergiftet werden soll. Dazu kommt es nicht:

­Gerichtssaal. Parteinahme, Leidenschaft, Kon-

Statt Tee trinkt man Champagner, feiert die

flikt, all das bot der Boxsport in vollendeter

Entlassung des Hausherrn. Die Gnädige

Einfachheit. Das faszinierte nicht nur Brecht,

rauscht ab, die Zofen bleiben frustriert zurück

sondern zahlreiche Literaten und Künstler

und vergiften sich gegenseitig.

Anfang des 20. Jahrhunderts. Und wenn man

Genet rechnet in seinem Einakter recht

Oliver Kraushaar auf der Bühne so zuschaut,

rigoros mit der Unfähigkeit der Abhängigen

kann man das durchaus nachvollziehen. Ein

zur Rebellion ab. Man könnte das reaktionär

Jakob Hayner

finden, aber betrachtet man die Rezeptions-

Solokampf, der begeistert. //

geschichte dieses sehr erfolgreichen Stücks, ging es vielen Regisseuren weniger um den

BONN

politischen Kern als um die pure Freude am Rollenspiel. Siehe oben: Es handelt sich eben um (womöglich sogar „zu“) attraktive schau-

„Les Bonnes“ in Bonn

spielerische Aufgaben. Das hat Claudia Bauer erkannt und setzt entschieden auf die role

Lieben oder hassen sie sich? – Die Schwestern Solange (oben: Daniel Breitfelder) und Claire (unten: Sophie Basse) in Jean Genets „Die Zofen“ in der Regie von Claudia Bauer. Foto Thilo Beu

models, die der Text anbietet. Der künstliche

THEATER BONN: „Die Zofen“ von Jean Genet Regie Claudia Bauer Bühne Franz Dittrich Kostüme Vanessa Rust

Charakter des Spiels wird noch etwas weitergetrieben: Die Schwestern tragen reichlich

verpasst, und das passiert sonderbarerweise

gepolsterte, hautfarbene Anzüge, ihre Münder

bei jeder besseren Gelegenheit, obwohl die

sind clownsartig geschminkt, ihre Stimmen

beiden ja offensichtlich auch so etwas wie ein

künstlich verfremdet. Sie sehen sich ähnlich;

Liebespaar sind – dann ertönt ein Tusch wie

Claire indes trägt lange weißblonde Haare,

im Stummfilm. Trotzdem hat man beim Zuse-

Solange kürzere dunkle. Die Gnädige Frau

hen das Gefühl: Im Prinzip ist dieser Slap-

Auch die erste deutschsprachige Aufführung

wird später in einem üppigen Brautkleid mit

stick nicht abendfüllend. Man könnte mehr

der „Zofen“ („Les Bonnes“) fand in Bonn

meterlanger Schleppe auftreten. Die Schwes-

und Besseres davon gebrauchen, der Spiel-

statt, 1957 im Contra-Kreis-Theater unter der

tern ziehen dann schwarze Schürzen über

witz dürfte sich nicht in den zwei, drei Ver-

Regie des Komödienspezialisten Kurt Hoff-

ihre nackten Leiber.

fremdungstricks erschöpfen.

mann. Das waren andere Zeiten. Aber heute

Das Theater Bonn, zumal dessen

Und über den Gehalt des Stücks könn-

steht man wie damals vor dem Problem der

Schauspielsparte und insbesondere dessen

te man ruhig ein wenig intensiver nachden-

adäquaten Besetzung: Jean Genet wünschte

Werkstattbühne, ist mit finanziellen Mitteln

ken. Was hat es mit der Geschichte der Figu-

sich, dass die drei Frauenrollen von Männern

nicht gerade gesegnet. Das schaut jeder hier

ren auf sich, wo kommen sie her, wo wollen

gespielt würden. Daran hat man sich selten

stattfindenden Produktion sozusagen aus den

sie hin? Lieben sie sich? Oder hassen sie sich

gehalten, schon deshalb nicht, weil es ohne-

Knopflöchern: Die Ausstattungen sind provi-

doch eher? Gibt es überhaupt eine Ebene au-

hin weniger attraktive Frauen- als Männer­

sorisch karg. Ein Steg, ein Spiegel, eine rote

ßerhalb des Rituals? Bauers Inszenierung

rollen gibt. Und die Rollen in den „Zofen“

Folie, das war’s. Die Soundcollage ist hand-

sieht keine Steigerung vor. Die eine formalis-

sind attraktiv, geht es hier doch um ein Spiel

gemacht und wird live eingespielt (Roman

tische Spielidee wird konsequent durchgezo-

mit Identitäten: Die Schwestern Solange und

Kanonik); jedes Mal wenn eine Schwester der

gen und ändert sich bis zum Schluss nicht.

Claire, Zofen im Haus der Gnädigen Frau,

anderen eine Ohrfeige oder einen Kinnhaken

Vor allem Breitfelder und Basse spielen das

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auftritt

Ganze virtuos und hingebungsvoll, sicherlich bis zur kompletten Erschöpfung. Als Zuschauer ist man auf Distanz gebracht; man schaut anerkennend zu und nimmt in Genets Text die eine oder andere Länge wahr. Wird hier unsere Sache verhandelt? Sicher nicht. // Martin Krumbholz

FRANKFURT AM MAIN Troll gegen Sisyphus SCHAUSPIEL FRANKFURT: „Furor“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz Regie Anselm Weber Bühne Lydia Merkel Kostüme Irina Bartels sozialem Anliegen in Frankfurt glänzende Darstellerleistungen. Die Hydra Internet, die Die Wut, lateinisch furor, ist kein so nobles

sonst oft postdramatische Bühnenformen

Theatergefühl wie Furcht und Schrecken der

stiftet, schrumpft bei ihm zum Nebenthema

Tragödie. Lutz Hübners und Sarah Nemitzs

im Problemstück. „Furor“ kommt uneitel

Akribisches Kräftemessen – Dietmar Bär (l.) und Fridolin Sandmeyer in „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz in der Regie von Anselm Weber. Foto Thomas Aurin

„Furor“ (siehe Stückabdruck ab Seite 52) ist

über die Rampe: Intendant Anselm Weber in-

im Hinblick auf ihren 29-jährigen Protagonis-

szeniert so textdienlich, dass es schon viel

storm-Drohungen. Selbst gute Gründe („Für

ten, den Paketboten Jerome, jedenfalls hoch­

ist, wenn die Orangen fehlen oder Bär sich als

uns machen die nichts, die Herren Arbeiter-

aktuell: Sie zeigen den Wutbürger mit Netz-

Braubach eine „Was für ein Spinner“-Geste

vertreter“) sind da entwertet. Ihm gegenüber:

anschluss. Dessen Typus konstruieren wir uns

leistet, die nicht vorgeschrieben ist.

der reformlinke Metaller vom zweiten Bildungs-

zwar sozio-, nicht mythologisch, doch wenn

Worum geht es? Der 17-jährige Enno

weg und selbsterklärte Sisyphus der Politik,

Jerry – so sein Kosename voll waberndem

Siebold lief vor Wochen dem Politiker Brau-

der sich aufs Spiel des exemplarischen

Germanentum (die Engländer im Ersten Welt-

bach vors Auto. Ein Bein ist ab, Enno im

­„Haters“ Jerome aus Neugier einlässt – und

krieg verwendeten ihn für deutsche Soldaten

Koma. Der Polizeibericht entlastet Braubach,

um ihn zu überzeugen, dass Anstand, Verän-

in Ableitung von „Ger“many) – vor uns und

der vor dem Wahlkampf steht. Jetzt trifft er

derungswille und Zähigkeit echter sind und

dem Politiker Heiko Braubach sein Prekariats­

Ennos Mutter Nele, bietet konkrete Hilfe an

weiter führen als aufgeblasene Parallel­

bewusstsein auskotzt, kommt viel wirres Den-

und überwindet ihre Unsicherheit. Katharina

welten.

ken zu Wort. Und das gleicht einer Katharsis.

Linder transportiert das so psychologisch

Bei Weber lebt das Stück (Dramaturgie

Lydia Merkels Bühne reserviert dem Trio

glaubhaft wie Neles nervösen Hauch von

Ursula Thinnes) durch die Schauspieler. Gibt

Dietmar Bär (Braubach), Fridolin Sandmeyer

­Untertan und, am Ende, ihren Bruch mit dem

Bär den Politiker als ruhende Kraft mit Argu-

(Jerome) und Katharina Linder (Nele Siebold,

Neffen Jerome. Als dieser auftritt, endet der

menten statt Hassbildern, so ist Sandmeyers

Jeromes Tante) eine in den Saal ragende Spiel-

Quasi-Prolog. Jerry, ein Paketbote in roter

Jerome der magnetische Eisenkern im Stück,

fläche mit abgewohntem Mobiliar – ein wand­

Uniform mit Namensschild, Cargohose, Boten­

dessen Unwucht es irre eiern lässt und alles

loses Wohnzimmer. Ihr Clou ist die fotogetreue

käppi (Kostüme Irina Bartels), schickt Nele

Gutgemeinte weglenkt. Seine roten Augen

Fassade eines breiten zehnstöckigen Wohn-

fort und spielt sich als Rächer der Enterbten

verraten die Entzündlichkeit eines Denkens

blocks im Hintergrund: ein Bau zwischen Platte-

auf. Jerry furens, das heißt frei nach Seneca:

und Handelns, das in hasserfüllten Kurz-

Ost und Sozialbau-West als Szenerie für Hüb-

der rasende Deutsche.

schlüssen die Welt im Griff zu halten wähnt,

ners und Nemitzs Kammerspiel im Großen

Seine „Verhandlungen“ mit Braubach

sich Braubach aber nie als Trophäe in den

Haus des Schauspiels Frankfurt. Der Maßstab

steigert Jerome allmählich zu einem messer-

tristen Wohnblocksetzkasten nageln kann.

von eins zu drei (oder vier) und viele Details

fuchtelnden Weltanschauungsduell mit Kampf­

Seine Tics, das ruckhafte Gebaren und un­

von der Sonnenblende bis zum transparenten

choreografie (René Lay). Als argwöhnischer

balancierte Schwanken der schlaksigen Ge-

Fensterschmuck zeitigen einen Märklin-Effekt,

Verschwörungstheoretiker ist er angespitzt

stalt, folgen dem Chaotentum der Figur mit

der den Sinn fürs Modellhafte schärft.

vom Internet und seinen trüben Quellen:

Brocken von Nazijargon („Lügenpresse“,

Hübners Formensprache ist nicht allzu

rechtes Gedankenungut, pseudolinke Globali-

„System“) und unverdautem Ökonomismus:

originell, doch ermöglicht sein Realismus mit

sierungs- und Elitenkritik, halbgare Shit-

Jerry, der Virus aus dem Netz, der leibhaftige


auftritt

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Stresstest der Demokratie, das wildlaufende

Arbeiter. Schauspieler des Kieler Ensembles

giniert wird. Zunächst erscheint das ein-

Betamännchen, das mit Halbwahrheiten

begleiten die Gruppen, erläutern Schauplätze

drucksvoll, jedoch ist man hier an mittelbarer

nervt. Immerhin reibt dieser Rumpelstilz, der

und Situationen. Zunächst marschiert man

Berührung des Publikums interessiert, die

als Nihilistenwiedergänger von „Abschaffung“

durch das alte Kieler Marineviertel, die Offi-

Grenze zum Wohlfühlraum der reisenden Zu-

schwadroniert, dem Sparringspartner ein

ziere bemühen sich, nicht immer ganz treff­

schauer wird niemals übertreten. „Neun-

Stück Leben unter die Nase: den digitalen

sicher, um einen markigen Ton. Ein Grammofon

zehnachtzehn“ hat mit den großen agitativen

Wilden Westen, den Dummgehaltene aller

knistert, zu hören sind die bekannten Senten-

Theaterkonzepten des 20. Jahrhunderts –

Welt, und solche aus eigenem Verdienst, als

zen Wilhelms II.: „Der Platz an der Sonne“,

Forumtheater, Performance – wenig zu tun,

Marcus Hladek

„Keine Parteien, nur noch Deutsche“, ein

das Stück steht eher in der Tradition des

Fahnenappell schließt sich an. Danach folgen

­Dokumentartheaters. Die Busse fahren nach

die Gäste ihren historischen Animateuren in

geschlagener „Schlacht“ zurück zum Aus-

ein ehemaliges Marinegefängnis.

gangsort der Tour, die Pause wird verkündet,

Bibel reklamieren. //

KIEL

Schon im Laufe dieser ersten Etappe

Wein und Brezeln werden gereicht.

verdüstert sich die Euphorie, die ersten auf-

Man befindet sich nun in der Maschi-

rührerischen Stimmen aus der Matrosengruppe

nenhalle der Technischen Marineschule –

werden laut. Es sind viele Quellen, die da

hier wird „konventionelles“ Theater geboten,

­benutzt werden, eine gehörige Portion Material

die weiteren Abläufe der Revolte werden sze-

scheint aus Ernst Tollers spätem Agitations-

nisch dargelegt. Neben dem archetypischen

drama „Feuer aus den Kesseln“ zu stammen.

Gesinnungshelden Fritz Kemp (der kraftmei-

Toller, jener „viel zu kriegerische Pazifist“ (Wolf

ernde Rudi Hindenburg) und seiner Braut

Biermann), schuf in seinen Stücken eine

(Anne Rohde) – Toller lässt erneut grüßen –

Menge Kämpfer, die für ihre Weltanschauung

steht hier vor allem der spätere Innenminister

in den Tod gehen – in den meuternden Matro-

und SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Noske

sen des Jahres 1918 fand er genügend Vor-

(Zacharias Preen) im Mittelpunkt einer Zen­

„Ich habe einen Stein abbekommen“ – der

bilder. In drei Bussen geht es zu weiteren

tralbühne. Es wird didaktisch viel erklärt,

junge Mann in der vorletzten Sitzreihe des

Stationen der Revolte wie dem Gewerk-

selbstredend auch die „Internationale“ ge-

großen Reisebusses in der Kieler Innenstadt

schaftshaus und der Kommandantur, beglei-

schmettert, was dem im Publikum sitzenden

vermeldet das fast etwas schüchtern. Von

tet vom Jargon der jeweiligen Gruppe.

Autor sichtlich Spaß bereitet. Theatralisch

Revolution im Reisebus THEATER KIEL: „Neunzehnachtzehn“ von Robert Habeck und Andrea Paluch Regie Michael Uhl Ausstattung Thomas Rump

vorne tönt es schnarrend zurück: „Ich bin ­

Die eingangs beschriebene Szene ist

stolz auf mein Korps. Hurra! Musik.“ Aus den

der Kulminationspunkt der Reise durch das

Lautsprechern des abgedunkelten Nightliner

nächtliche Kiel – bewaffnete Offiziere treffen

erklingt

aus

in der Feldstraße auf die revoltierenden Ma­

­Schuberts C-Dur-Quintett, der Bus setzt sich

trosen, es kommt zu einem Feuergefecht, das

sanft schaukelnd in Bewegung.

mittels der mitgeführten Taschenlampen ima-

leise

der

langsame

Satz

Der junge Mann hat natürlich niemals einen Pflasterstein zu Gesicht bekommen, der schnarrende Kommentator ist ein Schauspieler in der Offiziersuniform der Kaiser­ lichen Marine des Jahres 1918. Der Bus transportiert die Zuschauer des Stücks „Neunzehnachtzehn“ durch die Stadt. Geschrie­ ben wurde es 2008 von Robert Habeck und Andrea Paluch, die seit 1999 als Autorenduo arbeiten, weit bevor Habeck als Politiker Karriere machte; heute ist er Bundesvor­ ­ sitzender von Bündnis 90 / Die Grünen. Der Regisseur Michael Uhl hat die Textcollage, wohl wissend um die Tradition des Stationendramas im Expressionismus, auf verschiedene Orte in der Stadt verteilt, Schauplätze der realen Revolte der Kieler Matrosen in den letzten Kriegstagen 1918 ­ werden neu bespielt. Die Zuschauer werden zunächst in Gruppen eingeteilt und mit jeweils andersfarbigen Taschenlampen ausgestattet: Blau für Offiziere, Weiß für Matrosen, Rot für

Aufstand und Partizipation – „Neunzehn­ achtzehn“ von Robert Harbeck und Andrea Paluch (in der Mitte: Zacharias Preen als Gustav Noske). Foto Olaf Struck

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auftritt

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schön ist jener Moment, in dem die große

Anfang an mit sichtlich vom Temperament

gen so rasant, dass eine unheimliche Stimmung

Schauspielerin Almuth Schmidt für ein paar

des Regisseurs angefeuerter Spielfreude auf.

entsteht, die Zhyrkov an manchen Stellen mit

überdurchschnittliche Minuten den Abgang

Zhyrkov und seine Dramaturgin Laura

dem akustischen Nachhall ihrer Stimmen

des greisen Prinzen Heinrich, Bruder des Kai-

Busch haben den Text eingekürzt und dabei

noch verstärken lässt – sie könnten bald ort-

sers und Großadmiral der Marine, zelebriert.

einige der von Beckett beschriebenen Hut-

und körperlos sein. Mit dem Auftritt von Pozzo

Interessant sind aber vor allem der anti-

und Schuhpantomimen weggelassen, womit

und Lucky zieht hier – ganz der Situation

schwärmerische Pragmatismus der Noske-­

sie den Weg für eine Interpretation frei­

­einer Flucht nachempfunden – vor allem die

Figur – „Freiheit und Veränderung ist immer

machen, um die man seit Pierre Temkines

Frage ein, wer hier wem vertrauen kann. Der

die leichtere Übung“ – und die Frage, inwie-

„Warten auf Godot. Das Absurde und die

Pozzo von Burkhard Wolf ist ein besonders

weit sich ein Autor wie Robert Habeck in die-

Geschichte“ (2008) nicht mehr herum­

herrischer Sadist, der mit dem Herumkomman­

sem Realpolitiker wiederfinden mag. Das

kommt. Temkine wies nach, dass die beiden

dieren seines Lucky diesen gleichsam an ei-

Matthias Schumann

auf Godot Wartenden in ihrer Figurenbiografie

nem unsichtbaren Strick führt. Björn Jacobsen

eigentlich zwei Pariser Juden im Frühjahr

spielt Lucky in Frauenkleidern, der sprech­

1943 auf der Flucht ins sichere Italien dar-

akrobatische „Denke, Schwein!“-Mono­log geht

stellen. Am Rande einer Straße erwarten sie

bei ihm in ein serviles Ständchen in Marilyn-

den bislang unbekannten Fluchthelfer. Damit

Monroe-Pose über. Auch das Ersetzen des

entzog Temkine der jahrzehntelang herr-

philosophischen „Blablas“ durch Monroes

schenden Auffassung des Beckett-Paars als

Geburtstagsnummer vor John F. Kennedy

Melonenhut-Clowns und existenzialistischen

zählt zu den dezenten Vergegenwärtigungen

Clochards für immer den Boden.

im Sinne einer zum Allgemeingut gewor­

nimmt man mit. //

MAGDEBURG Im Leichenfeld THEATER MAGDEBURG: „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett Regie Stas Zhyrkov Ausstattung Sophie Lenglachner

Zhyrkov war natürlich gut beraten, das nicht eins zu eins umzusetzen, aber vieles an

denen Populärkultur in Zhyrkovs erfindungsreichem Zugriff auf den Klassiker.

Grauen und Groteskem in seiner Inszenierung

Nach der Pause zum zweiten Akt sind

erklärt sich aus dieser Inspiration. Auch einige

einhundert Jahre und ein Tag vergangen, und

Merkwürdigkeiten des Stücks treten zutage:

es erscheint eine schwarz verschleierte Figur,

So verwischte Beckett zwar das historisch

die durch den Totenkopfraum geistert. Der

Die Ausstattung von Sophie Lenglachner für

Konkrete der Geschichte, ließ aber beispiels-

Zweig, verpflanzt, erblüht und gewachsen, ist

die Inszenierung von „Warten auf Godot“ des

weise am Beginn des zweiten Akts als einer

offenbar zu Stuhl und Tisch verarbeitet wor-

noch jungen ukrainischen Regisseurs Stas

der ersten Nachkriegsautoren in der Öffent-

den, auf dem der Fortschritt eine Fernbedie-

Zhyrkov ist eine starke Setzung. Sie spielt mit

lichkeit die Millionen Leichen in den Lagern

nung hinterlassen hat. Zwischen Wladimir

Aufführungstraditionen des interpretations-

ansprechen – ein Vorgriff auf die später fol-

und Estragon ist fast alles beim Alten, nur

beladenen Stücks, entwirft aber auch mutig

gende Bearbeitung des Holocaust-Traumas.

Pozzo und Lucky sehen jetzt wie handelsüb­

einen ganz eigenen Raum für Wladimir und

Die Wechsel zwischen den Momenten,

liche Geschäftsleute von heute aus, denen

Estragon in der Studiobühne des Theaters

in denen Wladimir und Estragon sich necken

die Gebrechlichkeit einen Strich durch die

Magdeburg. Dieser zeigt zwei Haufen pyra­

und frotzeln, und jenen, in denen Gedächtnis-

Rechnung gemacht hat. Hier lässt Zhyrkov

midenartig aufgeschichteter Totenköpfe, ein­

verlust und Aversionen hervorbrechen, erfol-

die Inszenierung anhalten für einen Exkurs zu

zelne Exemplare sind offenbar mit aufgeklapptem Kiefer gerade erst heruntergerollt. Das Totenfeld der roten Schädel kann dabei die verschiedensten Lichtstimmungen wiedergeben – von Giftgrün bis zu einem fauligschwarzen Dunkelrot. Der berühmte Baum ist hier nur ein Zweig in der Hand von Wladimir, der ebenso wie Estragon in einen noch an Chaplin gemahnenden Frack der besser Betuchten aus den jüdischen Vierteln des alten Europa gekleidet ist, freilich schon reichlich angeschmuddelt. Dafür sind mit Zlatko ­Maltar als Wladimir und Daniel Klausner als Estragon beide jung besetzt und drehen von

Hinter allem lauert das Nichts, also der Tod – Burkhard Wolf (l.) und Björn Jacobsen in Becketts „Warten auf Godot“ in der Regie von Stas Zhyrkov. Foto Andreas Lander


auftritt

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der Frage: „Warum warten wir immer noch auf Godot? Warum steigen wir aus dem Spiel nicht aus?“ Danach führt er das Stück, alle Doppelungen des zweiten Akts überspringend, schnell ins Finale, in dem Wladimir und Estragon gleichsam in Beantwortung der Frage anfangen, die losen Schädel einzusammeln und wieder aufzuschichten – als Totenbeschwörung. Sie kommen nicht vom Fleck, wenden sich aber wenigstens den Toten zu. // Thomas Irmer

MÜNSTER Tod zum Nulltarif THEATER MÜNSTER: „Tot sind wir nicht“ (UA) von Svenja Viola Bungarten Regie Maik Priebe Ausstattung Susanne Maier-Staufen

Schräg, makaber und so schwarz wie ein Grab – „Tot sind wir nicht“ von Svenja Viola Bungarten in der Regie von Maik Priebe.

2016 erhielt die 1992 geborene Autorin

dealen mit Medikamenten, die eigentlich Ute

Svenja Viola Bungarten für ihr Libretto „Post

K.s krankem Mann Willi verschrieben wurden.

Nuclear Love“ den Berliner Opernpreis. 2017

Allerdings macht Willis Ableben den zwei Ladys

war sie für den Retzhofer Dramapreis nomi-

einen gehörigen Strich durch die Rechnung.

niert. Und im November 2018 kam mit „Tot

Und weil die Reisekasse keinesfalls den an-

sind wir nicht“ das Debütstück der produk­

stehenden Begräbniskosten geopfert werden

tiven jungen Autorin im kleinen Haus des

soll, geraten Ute K. und Beate an Piotr Nagel

Stück bei allen Tabubrüchen und schrillen

Theaters Münster zur Uraufführung.

und dessen Neffen Jason Nagel, die das dubi-

Momenten der Tod immer allgegenwärtig. Das

Die Frage, wie sich eine auf ewigen

ose Bestattungsunternehmen Death Death

lässt sich auch an dem Bühnenbild von

Aufstieg und grenzenloses Wachstum fixierte

and Sons betreiben. In einer Welt, in der alles

Susanne Maier-Staufen erkennen, das mit ­

Gesellschaft mit dem Tabuthema Tod ausein-

auf Gewinn und Kommerz angelegt ist, gibt

schmalen (Lauf-)Stegen ausgestattet ist, die

andersetzt, gehörte für Bungarten mit zu den

es eben auch den Tod nicht zum Nulltarif.

zwischen grabähnlichen, düsteren Gruben

Auslösern für ihr Stück. Während etwa in

Bungarten macht das in surreal anmutenden

verlaufen.

Hugo von Hofmannsthals „Jedermann. Das

wie provokanten Szenen deutlich, zu denen

Wie farbige Hoffnungsschimmer wir-

Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ die

der minimalistische Sound von Ole Schmidt

ken da die ebenfalls von Susanne Maier-Stau-

menschliche Endlichkeit durch allegorische

gut passt. So muss sogar der tote Willi ange-

fen gestalteten Kostüme. Vor allem das

Figuren verkörpert wird, hat ihr Svenja Viola

sichts der niedrigen Rente seiner Witwe laut

­jugendlich-dynamisch agierende Paar Carola

Bungarten einen schrillen Anstrich verpasst.

auflachen. Passend dazu erinnert Wilhelm

von Seckendorff (Ute K.) und Regine An-

In ihrem von Maik Priebe inszenierten Stück

Schlotterer als Bestatter Piotr Nagel mit Glat-

dratschke (Beate) wirft sich im Laufe des

(Dramaturgie Barbara Bily) lässt bereits der

ze und fetter Stirnlocke äußerlich an den

hundertminütigen Stücks mehrfach in Scha-

Plot keinen Zweifel an der Lesart der Hand-

morbiden Onkel Fester aus der Addams Fami-

le: von Nerzmänteln über Negligés zu Trauer-

lung: schräg, makaber und so schwarz wie die

ly. Aus ganz anderem Holz geschnitzt ist Nef-

hüten mit rosa Blumen, bis zu stilechten

Trauerkleidung der zwei Hauptfiguren.

fe Jason Nagel (Jonas Riemer), der die zuneh-

­japanischen Kimonos im Zwillingslook. Auch

Die heißen Ute K. und Beate, sind alt

mende Individualisierung der Begräbniskultur

die Metamorphose von Jason Nagel vom Busi-

und brauchen Geld für den gemeinsamen

zum neuen Geschäftsmodell erklärt und den

ness-Bestatter im dunklen Sakko zum Event-

­Lebensabend im japanischen Okinawa, wo es

toten Filmfan Willi im „Free Willy“-Style per

manager in goldfarbener Jacke ist an seinem

sonnig ist und die Menschen schön alt wer-

Orca auf die letzte Reise schicken will.

Outfit ablesbar. Und wie ein düster-bleicher

Foto Oliver Berg

den. Darum stehen die beiden in Nerzmantel

Neben später lesbischer Liebe, Suizid-

Todesengel schleicht zwischendurch Sandra

überm Negligé an zugigen Straßenecken und

gedanken und Krankheiten bleibt in diesem

Bezler über die Bühne, kommentiert den

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auftritt

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Handlungsverlauf und plädiert als Jasons

sie sich darin suhlen und ihre Partner in Wort

ein Gesetz in Kraft, das jegliche positive Äu-

Schulgefährtin Franka für das Einfrieren von

und Tat streicheln. Beispielsweise Mischa

ßerung über Homosexualität in Anwesenheit

Leichen als Geschäftsmodell.

(Fabian Felix Dott) seine Frau Lena (Agnes

von Minderjährigen oder in den Medien unter

Ob so der Tod abgeschafft werden

Kammerer). Einen Geschlechtsakt später ruft

Strafe stellt, das beinhaltet auch Demonstra-

kann und ob es Ute K. und Beate überhaupt

dieser bei Artjom (Fabian Kulp) an, seiner

tionen für die Rechte von Lesben, Schwulen,

noch mal nach Okinawa schaffen, blieb indes

neuen Bekanntschaft aus der Gay-Sauna.

Bisexuellen und Transgendern, was Intoleranz,

offen in dieser Welt des Kommerzes und der

Auch ihnen beiden ist das Rosenbett bereitet.

Ablehnung, ja, Hass fördert. Der Europäische

Selbstverwirklichung. Klar war nur der Weg

Aber während Mischa stets Scham empfin-

Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte

des toten Willi K., von dem am Ende ein klei-

det, wenn er seine Homosexualität auslebt,

das Gesetz – folgenlos. Laut Sokolow haben

ner Plüsch-Orca blieb. //

ist Artjom stolz und lädt Fotos ihrer Liebe bei

Schwule in Russland „so viel Rechte wie ein

Instagram und Facebook hoch. Mischa platzt

Aussätziger. Wirst du auf der Straße ver­

fast vor Angst und Wut, gefährde das doch

prügelt und die Polizei kommt, halten die

seinen Job, vielleicht sogar sein Leben.

­Polizisten meist zu den Prügelnden. Schlim-

­Artjom ignoriert seine Einwände, wenngleich

mer noch – sie prügeln sogar mit.“ Dagegen

er von den Gefahren der Situation weiß. Der

begehrt er mit seinem Stück „Russian Boy“

34-jährige Theaterautor Dimitri Sokolow hat

auf, wobei er sich sicher war, dass es in Russ-

ihn gleich zu Beginn seines Stücks „Russian

land nie aufgeführt werden würde. Dies könnte

Boy“ von einem Jungen berichten lassen, der

nun dank der Initiative des Oldenburgischen

seiner Mutter erzählt, dass er schwul sei.

Staatstheaters doch passieren.

Uta Biestmann-Kotte

OLDENBURG Zwischen dornigen Rosen OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER: „Russian Boy“ (UA) von Dmitri Sokolow Regie Elina Finkel Ausstattung Elena Bulochnikova

„Und die hat es dem Vater erzählt, und der

Oldenburgs

Chefdramaturg

Marc-­

hat ihm den Kopf weggeschossen … konnte

Oliver Krampe hat sich vorgenommen, in je-

es nicht ertragen … wie konnte er nur so

dem Jahr ein queeres Stück in den Spielplan

dämlich sein und das erzählen? Ich meine,

zu hieven, um „die Gesellschaft in ihrer ganzen

man muss doch wissen, wo man lebt.“ Nämlich in Russland, heute. Diese Flugzeuge im Bauch, das zärtliche Ge-

Homosexualität ist dort zwar seit 1993

fühl – Liebe! Da muss es einfach unschulds-

legal (in Deutschland wurde der Paragraf 175

weiße, leidenschaftsrote Rosen regnen. Aus

erst 1994 endgültig aus dem Gesetzbuch ge-

Eimern und Kübeln werden sie an diesem

strichen), gleichgeschlechtliche Paare sind

So viele Rechte wie ein Aussätziger – Dmitri Sokolows „Russian Boy“ (hier mit Fabian Felix Dott (l.) und Fabian Kulp) kritisiert die Homophobie in Russland.

Abend über derart Infizierte gekippt. Auf dass

aber weiterhin nicht anerkannt. So trat 2013

Foto Stephan Walzel


auftritt

/ TdZ  Januar 2019  /

Diversität abzubilden“. Da ihm die von deutschen Verlagen angebotenen Werke nicht gefielen, schickte er Regisseurin Elina Finkel als Talentscout zum Lubimovka-Festival für zeitgenössische Dramatik nach Moskau. Sie brachte „Russian Boy“ mit, übersetzte es und besorgte die Uraufführung. Für die Inszenierung sollen nun auch Gastspiele in Russland organisiert werden. Denn dort gehört sie hin. Etwas unbeholfen wirkt Sokolows Umgang mit Monologen, die er zwecks Publikumsansprache

unverbunden

aneinander-

reiht. Auch in den dialogischen Szenen sind Figuren und Handlung recht holzschnittartig gearbeitet. Konflikte werden geradezu prototypisch durchbuchstabiert – ohne Angst vor Klischees. Artjom ist schon als Kind ein begeisterter Tänzer, lebt sich musisch aus, will Popstar werden und geht zur Schauspielschule. Seine Mutter verheimlicht seine sexuelle Orientierung, findet diese eher „ekelhaft“ und sucht Schuld bei sich, als Alleinerzie-

STUTTGART

hende dem Jungen keinen Vater als männliches Vorbild geboten zu haben. Mischa ist modebewusster Frisör, als Kind wurde er vom

Pflastersteine zu Fallbeilen – „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ von Boris Sawinkow in der Regie von Daniel Klumpp.

Ich morde, also bin ich?

Foto Sabine Haymann

NOMAD THEATRE ENSEMBLE / THEATERHAUS STUTTGART: „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ (UA) von Boris Sawinkow Regie Daniel Klumpp Ausstattung Gesine Mahr

2015 in neuer Übersetzung von Alexander

Vater so brutal wie vergeblich auf Männlichkeit getrimmt. Als seine Lena sieht, wie liebevoll Artjom mit ihrem Kind spielt, verbietet sie den Kontakt – vielleicht seien Schwule ja doch „ansteckend“. Es folgt die große „Ey Mädels, das ist so krass“-Rede einer Frau, die von ihrem Mann schwärmt, als er noch ein Kerl war, „wie ein Baum, stark und schweigsam“. Nun ist sie fassungslos darüber, dass

Nitzberg erschienen. Sawinkow schildert da­ rin, etwas verändert und stilisiert, das von ihm organisierte Bombenattentat von 1905, bei dem Generalgouverneur Sergei Romanow ermordet wurde. Just jenes Attentat, das ­Albert Camus, der Sawinkows Schriften kannte, in seinem Drama „Die Gerechten“ (1949)

er mit Männern fremdgeht.

verarbeitet hat. Beide Stoffe waren 2016

Die eindrucksvoll schlichte Inszenie-

Er war Russlands Top-Terrorist und zugleich

im bat-Studiotheater Berlin zu sehen. Jetzt

rung konzentriert sich ganz auf das gefühls-

Romanautor. „Ein Henker, aber nicht ohne

brachte Daniel Klumpp, Leiter des freien

satte Denken der Protagonisten, höchst sen­

Lyrismus“, schrieb Gorki über ihn. Selbst Lenin

nomad theatre ensemble, den Sawinkow-­ ­

sibel bereiten die Darsteller die Problemlagen

hatte Respekt vor seiner „Wahrhaftigkeit“.

Roman – ohne Camus – im Theaterhaus

für das Empathievermögen der Zuschauer

Die Rede ist von Boris Sawinkow (1879 –1925),

Stuttgart erneut auf die Bühne.

auf. Behaupten dabei nicht mit pädago­

einem russischen Sozialrevolutionär, der an

„Das fahle Pferd“ – der Titel zitiert die

gischem Furor und dem Pathos politischer

etlichen Attentaten auf das zaristische Gewalt-

apokalyptische Vision des reitenden Todes

Korrektheit die Homosexualität als normal,

regime maßgeblich beteiligt war. 1917, nach

aus der Offenbarung – ist ein Tagebuch des

sondern bieten sie, unterlegt mit sanften

der Februarrevolution, wurde er Vizekriegs­

Terrors. Und genau so, protokollartig geglie-

Technobeats, hinreißend beiläufig als selbst-

minister in der Kerenski-Regierung. Nach der

dert durch Datumsansagen, zieht Klumpp

verständlich dar. So funktioniert der Abend

Oktoberrevolution kämpfte er aber – als An-

seine Dramatisierung des Romans auf. Wir

gerade für Menschen ohne entsprechende

hänger der Grünen, einer bäuerlich-demokra-

sehen zunächst ein Leichenfeld wie nach ei-

Lebenserfahrungen bestens gegen homo­

tischen Bewegung – im Bürgerkrieg gegen die

nem Anschlag. Ein halbes Dutzend Tote. Wie

phobe Vorurteile. Zu Sprüchen und Orts­

Bolschewiki. 1924 verhaftet, kam er 1925

Schlafende sehen sie aus, erwachen lang-

skizzen geformte und an die Wand drapierte

bei einem nie geklärten Fenstersturz aus dem

sam, stehen auf und formieren sich zu einem

Lichtschläuche werden passend zu den

Lubjanka-Gefängnis in Moskau ums Leben.

anschwellenden Chor, der wie betend nach

­Szenen angeknipst. Ein leiser Triumph, wie

Seine Schriften waren zur Sowjetzeit verbo-

oben ins grelle Licht blickt. Im eindrucksvoll

insistierend Elena Finkel vom Sehnen und

ten – bis zur Perestroika. Einer seiner Romane,

inszenierten Prolog zitiert Sawinkow neben

Streben nach Glück erzählt. //

„Das fahle Pferd – Tagebuch eines Terroris­

der Offenbarung auch das Johannes-Evange-

ten“, 1908 publiziert (1909 auf Deutsch), ist

lium, wo von hasserzeugter Finsternis die

Jens Fischer

/ 47 /


/ 48 /

auftritt

/ TdZ Januar 2019  /

Rede ist. Aus scheinbaren Opfern werden bei

ideologische Überzeugung, christliches Den-

Klumpp nun Attentäter. Wir werden Zeuge

ken, soziale Rachsucht. Am Ende erschießt

endloser Planungen, die sich über gefühlte

der Politterrorist George den Mann seiner Ge-

hundert Tage hinziehen, erleben drei geschei-

liebten – aus schnöder Eifersucht.

terte Versuche, bis das Attentat im vierten

Gut, dass Klumpps Inszenierung keine

Anlauf gelingt. Jeden Tag beginnt die Regie

historischen Details ergänzt, keine schiefen

mit einem Ritual – indem Andrej, Kontakt-

Parallelen zur RAF oder zu Gotteskriegern und

mann zur Parteileitung der Sozialrevolutionä-

Massenmördern von heute bemüht. Auch

re, fünfmal einen Pflasterstein wie ein Fallbeil

­Klischees von der Dämonie des Bösen, vom

auf den anderen donnert, mit archaischer

Tötungsrausch oder vom Eros des Mörders wer-

Wucht. Eine martialische Taktung. Und ein

den eher vermieden. Die Texttreue bietet viel

grausamer Countdown.

freien Resonanzraum im weiten Feld zwischen

ZÜRICH Nora oder Ein Chatroom SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH: „Nora oder Ein Puppenhaus“ nach Henrik Ibsen Regie und Konzept Timofej Kuljabin Ausstattung Oleg Golovko

Der Chef der Terrorzelle, ein Alter Ego

Terror und Widerstand, auch wenn das Steine-

Sawinkows, tarnt sich mit dem Namen George

Ritual den Abend unnötig auf vier Stunden

In Ibsens Vorlage ist es der Befreiungsschlag

O’Brian und fungiert als Erzähler. Bei Robert

zerdehnt. Das Töten als banales Handwerk –

der Titelfigur, in Timofej Kuljabins Inszenie-

Atzlinger, der mit markanter Bühnenpräsenz

im Ohr bleibt Sawinkows leicht selbststilisie-

rung in der Schiffbau-Box des Zürcher Schau-

agiert, ist dieser George vieles: Nihilist, Lako-

render O-Ton: „Tag für Tag. Stunde für Stunde

spielhauses wird es zum absurden Sarkas-

niker, eiskalter Mordplaner, illusionslos, ohne

werde ich Morde ausbrüten … und so fort bis

mus, wenn Nora zu Torvald sagt: „Fällt es dir

Moral, ohne Religion, aber auch böser Verfüh-

zum Galgen, bis zum Grab.“ Ich morde, also

nicht auf, dass wir beide (…) heute zum ers-

rer, Spötter, Chauvi und sensibler Dichter, der

bin ich? So gesehen, klingt in dieser Selbster-

ten Mal ernst miteinander reden?“ Denn das

karge Poesie einstreut: „Der Schnee knirscht,

mächtigung, in diesem intellektuellen Nihilis-

Paar, das sich in „Nora oder Ein Puppen-

irgendwo schlägt eine Turmuhr.“ Doch vor al-

mus, auch wenn er vielleicht nur Maske des

heim“ (in Zürich heißt es: „Ein Puppenhaus“)

lem zeigt Atzlinger diesen George als Regis-

Autors ist, viel Dostojewski mit. Aber auch

in

seur, der die Mitglieder seiner Gruppe, die wie

schon ein existenzialistischer Tonfall. Also

spricht hier fast gar nicht mehr miteinander.

Schläfer im Hintergrund warten, bei Bedarf

doch Camus. //

Die Kommunikation beschränkt sich auf den

Beziehungsabgrund

manövriert,

Austausch von Kurznachrichten per Whats-

aufweckt, anknipst und nach vorne kommandiert. Deren Motive sind unterschiedlich:

den

Otto Paul Burkhardt

App oder Facebook-Messenger.

JEDER STIRBT FUR SICH ALLEIN DIE LEIPZIGER MEUTEN G R O S S E

B Ü H N E

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Schauspiel Leipzıg

NACH DEM ROMAN VON HANS FALLADA / ARMIN PETRAS R EGIE: A R MIN PET R A S

18. 1. 19

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P

R

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K A R T E N . . . . . . . . . . . . . . . 0 3 41 12 6 8 16 8 W W W. S C H AU S P I E L - L E I P Z I G . D E


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Die Ehe im Zeitalter der digitalen Kommuni­ kation – „Nora oder Ein Puppenhaus“ nach Henrik Ibsen in der Regie von Timofej Kuljabin. Foto Toni Suter/ T+T Fotografie

Selbst der Schlüsseldialog, wenn Nora aus

den Text eines großen Klassikers des psycho-

ihrem Puppenheim ausbricht und Mann und

logischen Naturalismus auf die schriftliche

Kinder verlässt, beschränkt sich auf wenige

SMS-Kurzsprache

gesprochene Sätze. Über den Sohn Ivar hin-

man der Generation Smartphone Konflikte ab,

weg findet der Dialog rasch auf dem Smart-

die auf der patriarchalen Gesellschaft des

phone seine Fortsetzung. Die Blicke starr auf

19. Jahrhunderts fußen? Noras Vergehen,

die kleinen Bildschirme gerichtet, die groß-

dass sie als kreditunwürdige Frau, aber aus

Als Zuschauer schlüpft man so quasi in die

formatig live auf die mächtige Betonwand

ehrenwerten Gründen die Unterschrift ihres

Rolle eines Detektivs, der das reale Leben

über der breiten Panoramabühne projiziert

Vaters unter einem Schuldschein fälschte,

durch das Fernrohr beobachtet und die in-

werden (Ausstattung Oleg Golovko). So wie es

würde heute vor Gericht wohl nur ein Schul-

haltlich wesentlichen Momente eins zu eins

die ganze Zeit zuvor schon geschah.

terzucken auslösen.

über die gehackten Smartphones serviert be-

einzudampfen?

Nimmt

Der russische Regisseur Kuljabin ist ein

Inhaltlich funktioniert das natürlich

Theatermacher mit einem tiefen Misstrauen

nicht. Auch wenn sie stark gekürzt sind, wir-

Lange vermag die Dynamik dieses Set-

gegenüber dem Sprechtheater. Im Interview

ken Ibsens sprachliche Wendungen auf dem

tings die Schwächen des Regiekonzepts aber

im Programmheft bezeichnet er das Dekla-

Smartphone-Bildschirm arg umständlich. For-

nicht zu überdecken. Das zeigt sich insbeson-

mieren eines Stücktextes als „langweilig und

mal hat der fast dreistündige Abend indes

dere bei Nora (Lisa-Katrina Mayer), die ihre

veraltet“. 2016 ließ er bei den Wiener Fest-

durchaus reizvolle Momente. Kuljabin musste

wachsenden Gefühlsregungen je länger, je

wochen Tschechows „Drei Schwestern“ in

das Geschehen aus dem bürgerlichen Heim,

mehr nur noch durch das Verdrehen der Au-

Gebärdensprache spielen – und die Zuschauer

das bei Ibsen einheitlicher Spielort ist, in die

gen und aufgesetztes Ächzen rauslassen

den Text auf Übertiteln nachlesen. Und jetzt

Stadt ausweiten – man chattet ja nicht im sel-

kann. Es stellt sich das Gefühl ein, dass nicht

also die Verbannung eines Ibsen-Klassikers

ben Raum miteinander. Auf der Panorama-

die Beziehung zu ihrem herablassenden Ehe-

in den Chatroom.

bühne ziehen hinter Glas wie am Fließband

mann ihr Problem ist, sondern ihre Fixierung

Nicht nur Nora und Torvald kommuni-

die verschiedensten Schauplätze an einem

aufs Smartphone.

zieren praktisch ausschließlich per SMS, auch

vorüber: der Salon im bürgerlichen Heim, ein

Zu Beginn des Abends fordert eine Ton-

Noras arbeitslose Freundin Christine Linde

Tanzstudio, die Kindergartengarderobe, wo

bandstimme die Zuschauer auf, die Handys

und der erpresserische Rechtsanwalt Krogstad

Krogstad seine Erpressung ins Smartphone

auszuschalten. Dabei hätte man sich doch so

tippen, statt zu sprechen – oder nehmen zwi-

tippt, Lindes ärmliches Heim, ein Barbier­

gerne bald ins Geschehen eingeklinkt und

schendurch, um das Prozedere abzukürzen,

salon, ein Fastfood-Restaurant und, und, und –

den Protagonisten geschrieben: „Sprecht

die Diktier-App ihrer Handys in Anspruch.

Orte, wo sich die Menschen von heute im

doch endlich miteinander!“

Das mag nahe der Kommunikationswirklichkeit liegen. Aber funktioniert die Idee,

kommt.

Multitasking-Stress zwischen Real-Live-Small­ talk und WhatsApp-Chat verstricken.

Dominique Spirgi


/ 50 /

stück

/ TdZ Januar 2019  /

Die nächste Eskalationsstufe Rechtes Denken, Wutbürger und der Abbruch der Kommunikation – Lutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neues Stück „Furor“ im Gespräch mit Jakob Hayner

Lutz Hübner, Sarah Nemitz, wie haben Sie den

intellektualisiert. So kommt die „Konserva­

Schere von Arm und Reich, die auseinander-

Stoff für „Furor“, ein Kammerspiel über rechtes

tive Revolution“ gewissermaßen wieder durch

geht, die Chancenlosigkeit. Das ist eine

Denken und das Versagen der Politik, gefunden?

die Hintertür. Das waren unsere ersten Ansät-

­Mischung aus richtigen Beobachtungen und

Wie hat sich das Stück, ein Auftrag des Schau-

ze, die wir zunächst über eine Analogie ver-

falschen Schlüssen. Man kann nicht sagen,

spiels Frankfurt, entwickelt?

handeln wollten. Wir haben uns mit Walther

dass er ein durchgeknallter Nazi ist, sondern

Sarah Nemitz: Wir arbeiten seit vielen Jahren

Rathenau beschäftigt, den ostelbischen Jun-

er ist jemand, der in der Analyse bis zu einem

eng mit Anselm Weber zusammen (dem In-

kern, den Mordkommandos und der paramili-

gewissen Punkt recht hat, dann aber den

tendanten des Schauspiels Frankfurt und

tärischen Organisation Consul in der Weimarer

Schluss zieht, dass alles abgeräumt werden

­Regisseur der Uraufführung; Anm. d. Red.).

Republik. Wir saßen lange an dem Stoff, aber

muss. Denn das rechte Denken ist in erster

Auch in diesem Fall war klar, dass das Stück

manchmal gehen Analogien eben auch nicht

Linie immer ein Abschaffungsdenken. Es for-

mit ihm gemeinsam entstehen soll. Am An-

auf, es wird dann auch seltsam alarmistisch.

muliert kein Gesellschaftsmodell, sondern

fang einer Stückentwicklung finden immer

Wir wollten mit unserem Stück nicht den Ein-

propagiert die große Abschaffung. Auf der

lange Gespräche über mögliche Themen

druck erwecken, dass wir uns nun wieder in

anderen Seite gibt es den Politiker Braubach,

statt, ein Brainstorming.

einer Situation wie 1933 befinden.

der seinerzeit in die Politik gegangen ist, weil

Lutz Hübner: Wobei wir nicht sofort auf diese

Nemitz: Im Grunde hatten wir einen komplet-

ihn ein ganz ähnliches Gefühl für Ungerech-

Geschichte kamen. Über Umwege waren wir

ten Stückentwurf, der sich aber als Sackgasse

tigkeit angetrieben hat, der inzwischen aber

bei der Frage gelandet, wie sich das rechte

herausstellte. Wir haben dann, nach einein-

den Politikbetrieb kennt und auch weiß, wo

Denken über die Jahre verändert hat. Und wie

halb Jahren Arbeit, noch mal von vorn begon-

dieser Betrieb versagt. Das Vorbild ist ein be-

es sich in der Öffentlichkeit manifestiert. Die

nen.

stimmter Typus von Politiker, den es immer

erste Beobachtung war, dass es sich über die

Hübner: Das Motiv war aber das gleiche: Wir

seltener gibt: den Vertreter einer Volkspartei,

grölenden Nazis hinaus zu einer seltsamen

fragten uns, was die nächste Eskalationsstufe

der über Betriebsräte und Gewerkschaften in

Rittergut-Herrenreiter-Szene entwickelt hat.

sein könnte. Wir wollten es aber als heutige

die Politik kommt. Biografisch sind die bei-

Oder nehmen wir das Phänomen der „Identi-

Geschichte erzählen. Das hat auch mit Didier

den Figuren von ihrem Startpunkt aus nicht

tären“, die eher mit linken Guerillamethoden

Eribons „Rückkehr nach Reims“ zu tun, mit

weit voneinander entfernt. Nur hat der eine in

arbeiten …

dem Solidaritätsversprechen, das von rechts

den Achtzigern noch andere Chancen gehabt,

Nemitz: … zu finden in einem eher studen­

vereinnahmt wird, und der Arbeiterklasse, die

einen anderen Möglichkeitshorizont, während

tischen Milieu, in dem man zuvor rechtes

plötzlich auf der anderen Seite des politi-

Jerome, der als Paketbote arbeitet, einfach

Denken nicht unbedingt verortet hätte.

schen Spektrums steht. Was sind das für Ver-

draußen ist. Der Ausgangspunkt ist ähnlich,

Hübner: Marc Jongen, AfD-Politiker und ehe-

sprechen, was ist das für eine Wut? So kamen

aber die Welten, in denen sie gelandet sind,

maliger Mitarbeiter von Peter Sloterdijk, hat

wir auf die Idee eines Kammerspiels, eine

sind völlig unterschiedlich. Das war wichtig

gerade gesagt, dass sich das rechte Denken

recht einfache Stückkonstruktion, mittels

für die Stückkonstruktion.

derer wir die verschiedenen Themen und ­ Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

nominiert für den Dt. Jugendtheaterpreis 2018

Olivier Sylvestre

DAS GESETZ DER SCHWERKRAFT (1 D, 1 H)

DSE: 18.01.2019 Landestheater Coburg

Positionen aufeinanderprallen lassen konn­

Was hat sich gesellschaftlich seit den achtziger

ten. Wir wollten nicht mit vielen Personen viel

Jahren geändert? Die landläufige Meinung ist

Stoff verhandeln, sondern eine Druckraum­

doch, es würde einem heute so gut gehen wie

situation schaffen.

nie. Hübner: Es ist ein zweiter Arbeitsmarkt ent-

Welche gesellschaftliche Situation beschreibt

standen, der gesamte Niedriglohnsektor. Man

das Stück? Was prallt da aufeinander?

sieht es zum Beispiel bei der Paketpost: Die

Hübner: Auf der einen Seite gibt es Jerome,

Festangestellten kommen noch in den Ge-

der in einer Filterblase lebt, der nur die Infor-

nuss von Tarifbindung, gewerkschaftlicher

mationen bekommt, die sein Weltbild bestä­

Vertretung und Arbeitsschutz, während nur

tigen, eine Mischung aus Verschwörungs­

wenige Meter weiter die über Subunterneh-

theorien und populistischen Statements.

men und Leiharbeitsfirmen Angestellten die

Sein Ausgangspunkt ist eine klar erkannte

gleiche Arbeit machen, arbeitsrechtlich aber

Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, die

Freiwild sind und nicht über den Mindestlohn


lutz hübner und sarah nemitz_furor

/ TdZ  Januar 2019  /

hinauskommen. Das ist zusammen mit den immens steigenden Mieten katastrophal. In den Achtzigern konnte man sagen, selbst wenn alles schiefgeht, bekommt man irgendwo eine abgesicherte Festanstellung. Wenn heute alles schiefgeht, landet man bei Hartz IV oder beim Niedriglohn. Das bedeutet, dass Leute aus der Armutsfalle nicht herauskommen. Sie sagten, das rechte Denken sei eines der Abschaffung. Zugleich ist das auch das von ­ den Rechten beschworene Katastrophenszenario: Deutschland schafft sich ab. Hübner: Thilo Sarrazin hat tatsächlich mit diesem Slogan angefangen. Es wird ein riesiges Bedrohungsszenario geschaffen, und die Folgerung ist, dass das „System inklusive der

Lutz Hübner und Sarah Nemitz leben und arbeiten in Berlin. Ihre Stücke gehören zu den meist-

Systempresse“ marode sei und komplett aus-

gespielten Bühnenwerken im deutschsprachigen Raum. Lutz Hübner studierte Germanistik,

getauscht werden müsse.

Philosophie und Soziologie in Münster sowie ab 1986 Schauspiel an der Hochschule des

Nemitz: Aber gegen was es ausgetauscht wer-

Saarlandes für Musik und Theater in Saarbrücken. Sarah Nemitz studierte Tanz am Institut

den soll, wird nicht gesagt. Es gibt kein Bild,

für Bühnentanz sowie Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Köln. Beide waren

keine positive Utopie. Es gibt nur die Angst

nach dem Studium zunächst als Schauspieler, u. a. am Rheinischen Landestheater Neuss,

und die Vernichtungsfantasien.

tätig. 1996 begann Lutz Hübner als freiberuflicher Regisseur und Autor zu arbeiten, seit

Hübner: Und wenn es einmal angedeutet,

2001 entstehen Stücke in Zusammenarbeit mit Sarah Nemitz. Ihre mehrfach ausgezeich­

nicht ausformuliert wird, ist es das Bild einer

neten Theatertexte wurden in viele Sprachen übersetzt und werden weltweit gespielt. Einige

kleinstädtischen homogenen Gesellschaft.

Stücke wurden verfilmt. „Furor“ wurde am 2. November 2018 am Schauspiel Frankfurt in

Der Rechte definiert sich aber erst mal über

der Regie von Anselm Weber uraufgeführt. Am Thalia Theater Hamburg feiert das Stück am

den Linken, durch den er sich angegriffen

28. Februar in der Regie von Helge Schmidt Premiere. Foto Matthias Horn

fühlt. Das ist im Stück auch so, wo Jerome seine politische Identität und seine Protesthaltung aus seinem Gegenüber bezieht.

ein bestimmtes System. Für Nele, die als

mehr, auch keinen Konsens über Dos and

Nemitz: Und mehr kommt dann auch nicht.

freiberufliche Pflegerin arbeitet, also eine

Don’ts.

Was folgt, ist eine gewisse Ratlosigkeit. Brau-

working poor ist, ist wirklich eine Welt zu-

Hübner: Es wäre bei einem solchen Stoff ver-

bach fragt ja, was Jerome will, der kann aber

sammengebrochen, für sie ist die Situation

logen, am Ende eine harmonische Lösung

darauf nicht wirklich antworten.

nicht nur emotional, sondern auch ökono-

anzubieten: Jerome wird Wahlkampfhelfer bei

misch schlimm, weil in prekären Verhältnis-

Braubach, oder eine zynische Lösung: Er wird

Es gibt ja mit Braubach, Jerome und dessen Tan-

sen nichts schiefgehen darf, es darf einfach

einfach gekauft … Die Probleme existieren,

te Nele nur drei auftretende Figuren in dem

keine Krankheit, kein Unglück geben. Und

es ist eine Zustandsbeschreibung. Es ist auch

Stück, eben: ein Kammerspiel. Geht es Ihnen

für Jerome ist es die Chance, einmal Han-

ein Plädoyer für Demokratie, aber nicht in

mehr um Psychologie oder Politik?

delnder zu sein, ohne zu wissen, wie es aus-

dem Sinne, dass Onkel Braubach kommt und

Nemitz: Das kann man nicht trennen. Die

gehen wird.

dem Jerome einmal die Welt erklärt, ihm zeigt, dass er auf dem Holzweg sei, sondern

Leute kommen aufgrund ihrer psychischen ­ und emotionalen Verfasstheit zu bestimmten

Die drei Figuren kommunizieren zwar miteinan-

es geht um die Verhärtung. Es geht um Nicht-

politischen Positionen. Wir versuchen, die

der, aber ihre Verständigung scheitert. Warum?

kommunikation.

Verfasstheiten hinter den Positionen sichtbar

Hübner: Wenn es keinen gemeinsamen Fun-

zu machen. In erster Linie geht es im Theater

dus von Tatsachen gibt, von dem man ausge-

Deswegen das offene Ende? Es gibt keine antizi-

immer um Psychologie – zumindest in der Art

hen kann, keine gemeinsame Realität, dann

pierbare Lösung im Moment?

von Stücken, die wir schreiben.

ist jede Kommunikation nur der Austausch

Nemitz: Das heißt nicht, dass wir nicht glau-

Hübner: Alle drei treffen in einem psychologi-

von Statements.

ben, dass es eine gibt.

schen Ausnahmezustand aufeinander. Der

Nemitz: Braubach und Jerome verstehen

Hübner: Sich bewusst zu machen, dass das

Politiker Braubach besucht Nele, weil er ihren

überhaupt nicht, was ihr Gegenüber will,

rechte Denken existiert und dass es wächst,

Sohn angefahren hat, der nun im Rollstuhl

was sein Anliegen ist. Der Konflikt im Stück

hilft, darauf reagieren zu können. Um in der

sitzt. Die Bilder dieses Unfalls kann er nicht

ist im Grunde ein großes Missverständnis.

Diskussion zu bleiben. Wenn es eine Moral

vergessen, das ist eine existenzielle Krise,

Wir beschreiben ein riesiges Kommunikations-

des Stücks gibt, dann: weiterreden, auch

gleichzeitig steht er natürlich als Politiker für

problem. Es gibt keine gemeinsame Sprache

wenn es schwerfällt. //

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stück

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Furor Schauspiel von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

Personen Heiko Braubach (56) Ministerialdirigent und OB Kandidat Nele Siebold (46) Freiberufliche Altenpflegerin, Mutter von Enno (18) Jerome Siebold (29) Fahrer bei einem Paketdienst, Neffe von Nele Ort Die Wohnung von Nele Siebold Zeit Echtzeit, Abend, Gegenwart

1. Szene Das Wohnzimmer von Nele. Sofa, Stuhl, Rauchglastisch, hinter dem Sofa eine Kommode auf der eine Thermoskanne, Kaffeebecher, Schale mit Obst und eine Plastikflasche mit Wasser stehen. Etwas zurück­ gesetzt ein Garderobenständer. Links die Wohnungstür, rechts ein Fenster. Gesamteindruck: sehr sauber, auch wenn die Möbel bessere Tage gesehen haben. Nele steht am Fenster, beobachtet etwas, dann rückt sie ihre Kleidung zurecht, sie wirkt nervös. Es klingelt, sie geht zur Haustür. Braubach, ein großer, massiger Mann in Lederjacke und Jeans steht in der Tür. Braubach: Guten Abend Frau Siebold. Ich bin Heiko Braubach. Nele:  Guten Abend. Bitte kommen Sie herein. Nele geht ins Wohnzimmer, Braubach folgt ihr. Braubach:  Schuhe aus? Nele schüttelt den Kopf, dann deutet sie auf das Sofa. Nele: Bitte. Braubach zieht seine Lederjacke aus, Nele nimmt sie ihm ab und will sie zum Garderobenständer bringen. Braubach setzt sich aufs Sofa. Braubach: Moment. Er deutet auf die Jacke, Nele hält sie ihm hin. Braubach holt sein Handy aus der Jacke, legt es auf den Tisch, Nele hängt die Jacke auf, kommt zurück und setzt sich auf den Stuhl. Schön haben Sie es hier. Nele:  Schon gut. Wollen Sie einen Kaffee? Braubach:  Nein danke. Nele:  Ich habe extra frischen gemacht. Braubach:  Eine halbe Tasse vielleicht. Nele geht zur Kommode, schenkt einen Becher voll. Nele:  Milch? Zucker? Braubach: Schwarz. Nele gibt ihm den Becher. Danke. Sie wollen keinen? Nele:  Nicht so spät am Abend. Außerdem bin ich nervös genug. Braubach nippt an seinem Kaffee. Nele steht wieder auf, geht zum Fenster. Sie stehen in einer Einfahrt. Braubach:  Der Fahrer ist im Wagen. Nele:  Und der wartet auf Sie. Braubach: Ja. Nele:  Haben Sie es denn eilig?

Braubach:  Nein, er wartet bis wir fertig sind. Egal, wie lange es dauert. Nele:  Ich kann ihm einen Kaffee bringen. Braubach:  Das ist nicht nötig, vielen Dank. Er ist das gewohnt, es ist sein Job. Nele:  Wie Sie meinen. Nele setzt sich wieder auf den Stuhl. Braubach:  Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Nele:  Ja. Ja gut. Kurze Stille. Braubach:  Wie geht es ihm? Nele:  Er ist seit gestern runter von der Intensiv. Braubach:  Das freut mich. Nele:  Man hat ihm ein Bein amputiert und er hat ein zertrümmertes Schulterblatt. Braubach:  Das weiß ich. Ich meinte auch nur: Es freut mich, dass er von der Intensiv runter ist. Nele:  Eigentlich wissen die nur, dass er durchkommen wird, alles andere … was wird … das weiß keiner. Oder sie sagen es mir nicht. Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts. Bis man da überhaupt mal einen Arzt zu sprechen kriegt … Braubach:  Aber das Krankenhaus hat einen sehr guten Ruf. Nele:  Waren Sie bei ihm? Braubach: Vor zwei Wochen, da lag er noch im künstlichen Koma. Nele:  Seither nicht mehr? Braubach: Ich weiß nicht, ob es hilfreich wäre, wenn ich ihn besuche. Aber wenn Sie möchten, kann ich gern noch einmal bei ihm vorbeischauen. Nele:  Das müssen Sie selbst entschieden. Braubach: Ich glaube, es ist zunächst wichtiger, dass wir beide miteinander sprechen. Und dass ich Ihnen mein Mitgefühl aussprechen kann. Persönlich. Das war mir wichtig. Nele:  Der Unfall ist zweieinhalb Wochen her. Das ist eine lange Zeit. Braubach:  Ich musste das auch erst verkraften. Nele:  Und? Haben Sie es „verkraftet“? Ich nicht. Braubach:  Ich glaube, Sie wissen was ich meine. Aber gut. Sie sind wütend, das kann ich verstehen. Aber ich bin nicht schuld an dem Unfall. Es gab eine Untersuchung. Ich trage keine Schuld, das hat der Bericht bestätigt. Nele:  Ich weiß. Ich habe auch nicht gesagt, dass Sie Schuld sind. Und jetzt sind Sie hier. Das ist ja auch gut. Ja. Nele sieht Braubach einen Moment an, dann holt sie ihr Handy von der Kommode, tippt darauf und reicht es dann Braubach. Nele:  Hier, das war vor drei Jahren. So hat er ausgesehen. Braubach:  Hübscher Junge. Nele nimmt ihr Handy zurück, steckt es ein. Nele:  Er heißt übrigens Enno. Braubach:  Das weiß ich. Nele:  Ich meine nur. Weil Sie seinen Namen nicht gesagt haben. Braubach:  Das war keine Absicht. Nele: Ein halbes Jahr nach dem Foto hat er mit

diesem Scheiß angefangen. Glaubt man nicht, oder? Was sind das denn für Menschen, die solchen Kindern Drogen verkaufen? Fünfzehnjährigen! Das will mir nicht in den Kopf. Dass man so was nicht in Griff bekommt. Mal durchgreift. Egal, darum geht es nicht, gut ... Sie wollten was sagen, also sagen Sie es. Braubach:  Was meinen Sie? Nele:  Sagen Sie mir, dass es Ihnen leid tut, meinen Jungen zum Krüppel gefahren zu haben. Oder dass Enno Ihnen leid tut. Wenn Ihnen dann wohler ist, bitte … mir hilft es nicht. Und Enno auch nicht. Weil sein Leben versaut ist. Ein Junge von achtzehn ohne Schulabschluss im Rollstuhl. Den kann ich den Rest meines Lebens betreuen. Können Sie mir sagen, wie das gehen soll? Hier? Glauben Sie, hier kommt man mit einem Rolli durch? In der Enge hier? Umziehen kann ich nicht, umbauen auch nicht. Der kommt noch nicht mal an der Waschmaschine vorbei aufs Klo, das haut alles vorne und hinten nicht hin. Und was soll der hier den lieben langen Tag machen? Ich werde nicht da sein können, ich bin auf Arbeit, ich muss um acht aus dem Haus und komme nicht vor sechs zurück. Reduzieren kann ich nicht, sonst reicht es nicht, ich bin selbstständig. Und wer soll sich dann um ihn kümmern? Wo soll ich sonst hin mit dem Jungen, was soll denn aus dem werden? Von Ihrem Mitleid kann ich mir nichts kaufen. Braubach:  Ich habe nicht von Mitleid gesprochen, sondern von Mitgefühl … Nele:  Das ist alles dasselbe, alles überflüssig. Braubach:  Außerdem bin ich hier, um mit Ihnen zu besprechen, was ihm hilft. Nele:  Wenn Sie ihn nicht über den Haufen gefahren hätten, das hätte geholfen. Aber Sie schaffen es ja noch nicht mal zu sagen, dass es Ihnen leid tut. Sie wollen Ihr Mitgefühl ausdrücken, das können Sie doch gar nicht. Sie können überhaupt nicht mitfühlen, wie es mir geht, ich bin seine Mutter, wie wollen Sie denn wissen, wie es in mir aussieht? Aber Sie haben es ja auch verkraftet. Braubach: Das habe ich nicht, glauben Sie mir. Aber es ist nun leider passiert und jetzt müssen wir überlegen … Nele:  Ja, es ist passiert. Und Sie saßen am Steuer. Braubach: Er ist mir direkt vors Auto gelaufen! Kein Mensch hätte da noch rechtzeitig bremsen können. Das haben der Gutachter und alle Zeugen bestätigt. Nele:  Das habe ich verstanden, wie oft wollen Sie das noch sagen! Kurze Stille, Nele steht auf, geht ans Fenster, setzt sich wieder. Ich meine das nicht so. Aber das muss auch mal raus, man erstickt ja sonst, auch wenn Sie nicht schuld sind und das alles. Darum geht es mir ja nicht. Braubach:  Tut mir leid, wenn ich gerade etwas lauter geworden bin. Nele:  Also. Gut. Sie wollen helfen. Das ist ja auch nett von Ihnen. Auch dass Sie sich überhaupt noch bei mir gemeldet haben. Ich habe nicht mehr damit gerechnet. Zweieinhalb Wochen. Das ist eine lange, eine sehr lange Zeit, wenn es jeden Tag um Leben und Tod geht. Da hätte man schon gerne mal einen Hinweis, irgendwas, dass da jemand weiß, dass er keine Katze überfahren hat, sondern einen Menschen. Egal, wer schuld ist. Wissen Sie, was ich meine? Braubach:  Ja das weiß ich, sehr genau sogar. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich:  Mein Team haben mir abgeraten, ich wäre sonst schon früher gekommen.


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Ich wollte eigentlich sofort mit Ihnen Kontakt aufnehmen, das gehört sich so, aber ... Man kann als Person des öffentlichen Lebens seine Entscheidungen nicht immer selbst fällen. Aber Sie haben Recht, zweieinhalb Wochen sind eine lange Zeit. Nele:  Jetzt sind Sie ja da. Braubach: Ich wollte nicht großkotzig klingen. Also, natürlich fälle ich meine Entscheidungen selbst, aber … Nele:  Sie sind da. Gut, habe ich doch gesagt. Braubach:  Übrigens habe ich auch zwei Kinder. Nele: Schön. Stille. Nele:  War es der Wagen da draußen? Braubach:  Nein, ich war mit meinem Privatwagen unterwegs. Nele: Und warum haben Sie den heute Abend nicht genommen? Braubach: Ich fahre seit dem Unfall nicht mehr gerne selbst. Ich bin seit dem Unfall gar nicht mehr selbst gefahren, um genau zu sein. Nele: Deshalb der Fahrer? Haben Sie den angestellt? Braubach:  Das ist der Fahrdienst des Ministeriums. Nele:  Möchten Sie noch Kaffee? Braubach:  Hätten Sie ein Glas Wasser für mich? Nele steht auf, geht nochmal kurz zum Fenster, dann weiter zur Kommode, wo sie ein Glas aus der Kommode nimmt und Wasser einschenkt. Braubach:  Sie müssen sich um den Fahrer keine Sorgen machen, der hat seine Handyspiele. Nele: Ich warte auf Jerome, meinen Neffen. Er wollte bei unserem Treffen unbedingt dabei sein. Braubach:  Natürlich, wenn Sie wollen, aber … ist das wirklich nötig? Nele:  Das haben wir so ausgemacht. Ja. Er hat sich die letzten Wochen rührend um mich gekümmert, auch um Enno, er war mir eine große Hilfe. Ich hab sonst niemanden, mit dem ich das alles besprechen kann. Braubach:  Dafür habe ich natürlich Verständnis … Nele:  Und da will ich ihn jetzt nicht ausschließen, verstehen Sie? Wo er sich so lange zurückgezogen hatte und jetzt wieder für uns da ist, wenn es darauf ankommt. Er müsste auch schon längst da sein, er steht sicher irgendwo im Stau. Aber er kommt, ganz sicher. Braubach: Also, wenn es Ihnen hilft … aber wir können trotzdem schon gemeinsam überlegen, was das Beste für Enno wäre, oder? Nele stellt ihm das Glas Wasser hin, setzt sich wieder. Nele:  Wie meinen Sie das? Braubach:  Glauben Sie denn, ich komme hier nur vorbei, um mein Mitgefühl auszudrücken? Ich denke schon an konkrete Hilfe. Oder was dachten Sie? Nele: Was soll ich denn denken? Zweieinhalb ­Wochen Funkstille … Braubach:  … das habe ich Ihnen ja gerade erklärt ... Nele:  … ja, habe ich auch verstanden. Dann reden Sie davon, dass Sie nicht schuld sind, nicht mehr Autofahren können, selbst Vater sind … da kann man schon auf die Idee kommen, dass es sich damit hat. Der Junge ist selber schuld, steht so im Bericht, also, was soll ich da denken? Braubach:  Ist Enno alleine in seinem Zimmer? Nele:  Ja. Gottseidank. Da steht zwar noch ein zweites Bett, aber er ist alleine. Braubach:  Gut. Das wird auch so bleiben, solange er das will.

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Nele:  Wieso? Haben Sie das denen gesagt? Braubach:  Ja, ich habe mit dem Chefarzt gesprochen. Sie belegen das zweite Bett nicht, damit er seine Ruhe hat. Nele:  Das können Sie als Politiker einfach so an­ sagen? Braubach:  Ich kenne den Chefarzt. Es ist der einfachste Weg, den Einzelzimmerzuschlag zu sparen. Ich erwähne es auch nur, damit Sie sehen, dass mich das alles beschäftigt. Nele:  Aber sonst? Kommt da sonst noch was auf mich zu? Braubach:  Was meinen Sie? Nele:  An Zusatzkosten. Eine Anzeige? Oder Schadensersatzforderungen? Dieser Kontrolleur, den Enno geschlagen hat? Oder der Schaden an Ihrem Wagen, das war doch bestimmt ein teurer Wagen? Braubach:  Wer hat Ihnen denn sowas gesagt? Nele: Da kommt sicher noch was auf mich zu, oder? Da weiß ich noch gar nichts drüber, ich habe mich bis jetzt nur um Enno gekümmert. Können Sie mir sagen, was da noch kommt? Braubach:  Da kommt nichts mehr. Natürlich nicht. Nele:  Das ist überhaupt nicht natürlich, über sowas denke ich nach, verstehen Sie das nicht? Ich habe seit zweieinhalb Wochen keine Nacht durchgeschlafen, es sagt einem keiner was. Da müsste es eine Stelle geben, die einem so was sagt. Ich habe jeden Tag Angst, wenn die Post kommt. Braubach:  Ich bin hier, damit Sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Nele:  Sie haben gut reden. Braubach:  Frau Siebold, jetzt bleiben Sie mal ganz ruhig. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, das müssen Sie mir glauben. Niemand stellt Forderungen. Reden wir darüber, wie es weitergeht. Sachlich, okay? Nele: Gut. Stille. Nele versucht sich zu beruhigen. Braubach:  Oder ist es Ihnen das jetzt zu viel? Sollen wir dafür einen neuen Termin ausmachen? Nele:  Wie ist es passiert? Braubach:  Das möchte ich Ihnen lieber ersparen. Nele:  Ich will das wissen. Braubach:  Haben Sie den Abschlussbericht nicht gelesen? Nele:  Ich will es von Ihnen hören. Braubach:  Entschuldigen Sie, aber das möchte ich nicht. Nele:  Es würde mir helfen. Braubach:  Das hilft weder Ihnen noch mir, glauben Sie mir. Nele:  Das kann ich selbst entscheiden. Braubach:  Ich glaube, es wäre einfach hilfreicher, über die nächsten Schritte zu reden. Wenn sie das nur im Beisein ihres Neffen besprechen möchten und es Ihnen zu belastend ist, mit mir alleine zu sprechen … Nele:  Wie kommen Sie denn darauf? Darum geht es jetzt doch gar nicht. Braubach:  Oder mein Büro schickt Ihnen Vorschläge, was man tun könnte. Nele:  Nein, warum denn? Was habe ich denn gesagt? Braubach: Wenn es Ihnen unangenehm ist, mit mir zu sprechen. Nele: Was haben Sie erwartet? Was glauben Sie denn, wie es mir geht, seit das passiert ist? Ich kann jetzt hier nicht Mitgefühl, danke, so, und jetzt wird geplant, zack, zack, das geht mir alles viel zu schnell, ich kann das so nicht, verstehen Sie das

denn nicht? Sie drängen mich so, ich kann gar nicht nachdenken, ich habe Ihnen doch gesagt, in was für einem Schlamassel ich stecke, respektieren Sie das bitte! Braubach:  Tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich wirken. Nele:  Wir reden ja, gleich, einen Moment noch. Braubach:  Auch gut. Also warten wir? Nele:  Ich kenne Sie schließlich gar nicht, ich weiß nur aus der Zeitung, wer Sie sind und irgendwie geht es schließlich auch um Enno, oder? Um den sollte es zuerst gehen, ja? Braubach:  Natürlich. Ich habe nichts anderes gesagt. Nele:  Was wissen Sie denn über ihn? Wissen Sie überhaupt irgendwas? Braubach:  Offen gestanden nicht viel:  dass er ein Drogenproblem hat, offensichtlich auch ein Problem mit seinen Aggressionen und damit, sein ­Leben in den Griff zu bekommen. Nele:  Also nur das, was über ihn in diesem Drecksblatt geschrieben wurde. Ist das das Bild, das Sie von meinem Jungen im Kopf haben? Von mir kam das nicht. Wissen Sie wo das herkam? Ich nicht. Braubach:  Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig ver­ stehe, aber ich habe nie mit der Presse über den Fall gesprochen, falls Sie das vermuten. Nele steht auf und holt einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel aus der Schublade der Kommode. Braubach:  Ich kenne den Artikel. Nele (liest):  „Enno S., siebzehn, ist schon des Öfteren durch kleine Straftaten aufgefallen, mit denen er seine Sucht finanziert, ein kleinkrimineller Junkie, wie es sie leider immer noch im Bahnhofsviertel gibt …“ Oder hier:  „Nachdem er brutal auf den Kontrolleur eingeschlagen hatte, flüchtete er aus der Station und rannte vor das Auto von Heiko Braubach, sechsundfünfzig, der nach dem Unfall geistesgegenwärtig dem Schwerverletzten Erste Hilfe leistete“ … „Politiker rettet Junkie das Leben“, das ist die Schlagzeile, rot unterstrichen … Braubach:  Sie müssen das nicht vorlesen. Nele:  Und hier, in diesem Kasten:  „Blinde Mutterliebe“, mit einem Bild von mir, „… die Mutter scheint von dem Vorstrafenregister ihres Sohnes und seinem Drogenkonsum keine Ahnung zu ­haben. Er ist ein lieber Kerl, der nicht zu Gewalt fähig ist, sagt sie mit einer Naivität, die fassungslos macht …“ Nele legt den Zeitungsausschnitt weg. Wieso steht das da? Braubach:  Ich rede nicht mit der F.Z., prinzipiell nicht. Nele:  Und warum sind Sie dann der wunderbare Mensch, der Erste Hilfe leistet und Enno der Schlägertyp? Als die mit mir gesprochen haben, waren die auf meiner Seite. Warum schreiben die so über meinen Jungen? Erklären Sie mir das. Braubach:  Sind die hier vorbeigekommen? Nele:  Ja, und die waren sehr nett, eine junge Frau mit einem Fotografen. Die waren voller Verständnis. Und plötzlich schreiben die sowas. Braubach: Die haben überall ihre Ansprechpartner, bei der Polizei, den Gerichten … die wissen, wen sie fragen können. Und die bringen die Geschichte so, wie sie am besten funktioniert. Die hätten genauso gut auf mich losgehen können. Nele: Die haben mich als dumme Mutter hingestellt, die ihren kriminellen Sohn deckt! Braubach: Okay, das konnten Sie nicht wissen, aber man redet prinzipiell nicht mit Journalisten,

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die unangemeldet vor der Tür stehen. Das ist ein Riesenfehler. Und freundlich sind die immer. Nele:  Diese scheiß Lügenpresse. Braubach:  Das will ich damit nicht sagen. Wir reden über die F.Z. Aber Sie müssen mir glauben, dass ich nicht das geringste Interesse daran hatte – und habe – dass dieser Vorfall in der Öffentlichkeit landet. Nele:  Sie kommen da super weg. Braubach:  Weil ich Erste Hilfe geleistet habe, das ist nun mal eine Tatsache. Nele:  Und das Enno ein krimineller Junkie ist, ist das auch eine Tatsache? Braubach: Ich kenne ihn nicht, ich erlaube mir kein Urteil, ich habe nur alles getan, um sein Leben zu retten. Nele nickt, sie wirkt abwesend. Braubach:  Das ist die Wahrheit. Das müssen Sie mir glauben. Nele:  Sie haben alles richtig gemacht und er alles falsch. Braubach:  Er lebt, oder? Nele:  Ja, er lebt. Braubach:  Vergessen Sie diesen Artikel. Nele: Natürlich weiß ich, dass er in den letzten drei Jahren viel an Mist gebaut hat. Ich weiß sicher nicht alles, aber was ich weiß genügt mir. Ich habe ihn nicht mehr erreicht, er war wie unter Glas. Wenn er hier vorbeikam hat er mir jedes Mal das Blaue vom Himmel versprochen, alles was ich hören wollte und nichts kam dabei heraus, nichts, er wollte immer nur Geld oder musste ein paar Tage untertauchen weil er Stress hatte oder er war zu fertig, dann hat er zwei Tage durchgeschlafen, hat mir den Kühlschrank leergefressen und war wieder weg. Hier kamen ständig die Vorladungen an, ich hab das alles irgendwann gar nicht mehr aufgemacht. Aber in den letzten Wochen dachte ich, jetzt packt er es, da war wohl irgendwas mit seinen Kumpels, irgendwas Schlimmes, konnte man so raus hören, das hat ihm was ausgemacht, richtig kleinlaut war er. Ich dachte wirklich, dass er zur Vernunft kommt, ich dachte, da ist endlich Licht am Ende des Tunnels … geklaut hat er immer, schwarzgefahren auch, aber dass er sich kloppt, nein, das ist er nicht, diese ganze Geschichte, nein, da stimmt irgendwas nicht, der schlägt doch nicht auf Leute ein. Braubach:  Es gibt Zeugen. Und das Überwachungs­ video vom Bahnsteig. Nele:  Dann hat der ihn provoziert. Was wollen Sie mir denn beweisen? Braubach:  Nichts. Lassen wir das. Können Sie ­Ihren Neffen telefonisch erreichen?

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Nele:  Ich will nicht, dass er im Wagen ans Handy geht. Keine Ahnung, warum er heute so lange braucht. Braubach:  Was macht er? Nele:  Er fährt Pakete aus. Das ist ein Knochenjob. Braubach:  Ich weiß. Das habe ich früher auch mal gemacht. Als Sommerjob. Nele:  Er muss davon leben. Braubach: Ich musste davon die Abendschule ­finanzieren. Nele:  Sie? Braubachs Telefon klingelt, er wirft einen Blick darauf. Sie können ruhig rangehen. Braubach steht auf. Braubach:  Kann ich vielleicht irgendwo ungestört telefonieren? Nele:  Ich weiß jetzt nicht … ich kann ja kurz rausgehen, wenn Sie wollen. Braubach drückt das Gespräch weg und setzt sich wieder. Braubach:  Ich kann das später klären. Nele:  Wieso haben Sie Abendschule gemacht? Braubach: Weil ich studieren wollte. Ingenieurswissenschaften. Ich bin gelernter Metallfacharbeiter. Nele:  Ich dachte, Politiker haben alle Abitur. Aber das stimmt gar nicht, oder? Obwohl, die meisten doch sicher … Braubach:  Ja, ich habe auch meinen Abschluss gemacht. Nur eben später. Studiert habe ich danach nicht, weil ich dann endgültig in die Politik bin. Aber das ist eine lange Geschichte. Nele: Ich wollte Sie nicht ausfragen. Das geht mich nichts an. Braubach:  Das steht überall, auch auf Wikipedia. Und es bedeutet, dass Sie mich nicht gegoogelt ­haben, das hat man nicht mehr oft. Nele:  Ich habe Sie mal in einer Talkshow gesehen. Braubach:  In welcher? Nele:  Weiß ich nicht mehr. Braubach:  Worum ging es? Nele:  Vergessen. Ich bin abends immer so kaputt. Braubach:  Da geht man auch nur hin, damit die Leute mal dein Gesicht gesehen haben. Nele:  Hat funktioniert. Braubach:  Offensichtlich. Nele:  Jerome kennt sich mit solchen Sachen besser aus. Er hat ziemlich was auf dem Kasten, der wusste auch sofort, dass Sie der Bürgermeisterkandidat sind. Er weiß solche Sachen, sowas interessiert ihn. Braubach:  Dass ich der Kandidat bin? Nele:  Nein, nur so als Beispiel … dass er sich auskennt, dass ihn das wirklich beschäftigt, er kann richtig in Fahrt kommen wenn ihn etwas aufregt,

TANZTAGE BERLIN 2019 FESTIVAL

JANUAR 9 — 19

er kann sich so reinsteigern in die ganze Weltpolitik und das alles. Gut, das ist auch das Alter, da geht einem alles nah. Braubach:  Wie alt ist er denn? Nele: Neunundzwanzig. Er ist Paketbote, aber nicht bei der Post, sondern bei einem Subunternehmer für die Post. Dafür ist der eigentlich zu schlau. Braubach:  Was hat er denn gelernt? Nele:  Ausbildung hat er nicht, hat nichts zu Ende gekriegt, ist mit sechzehn ohne Abschluss von der Schule, weil er sich dauernd mit seinen Vater gestritten und zuhause raus wollte. Dabei hätte er das locker geschafft, ist ein Jammer. Braubach:  Hat er nichts gefunden? Nele:  Hat alles hingeschmissen. Ich hab mir immer den Mund fusselig geredet. Wäre ja auch für Enno schön gewesen, wenn er irgendwo gesehen hätte was geht und was man aus sich machen kann, Enno hat Jerry immer angehimmelt. Aber gut, jetzt hat er den Job, hätte schlimmer laufen können, man muss dankbar sein heutzutage. Braubach:  Heute brauchen die Jungen länger, bis sie auf der Spur sind. Nele:  Er hätte was Besseres verdient. Braubach:  Dafür ist es nie zu spät Nele:  Ihr Wort in Gottes Ohr. Braubach:  Vorschlag: Ich sage Ihnen jetzt, was ich organisieren will. Nele:  Verstehen Sie mich nicht falsch, er ist ein lieber Kerl. Ich wollte Sie nicht volljammern. Braubach:  Das haben Sie nicht. Ich will Ihnen nur klarmachen, dass es weitergehen wird. Also, wir müssen natürlich abwarten, wie der Trümmerbruch verheilt, aber was das Bein betrifft, werde ich dafür sorgen, dass er eine erstklassige Prothese bekommt. Es ist noch nicht gesagt, dass er im Rollstuhl landet, das ist noch lange nicht entschieden. So oder so, wenn die Reha vorbei ist, sollte er eine Lehrstelle annehmen. Ich könnte einen Termin mit einem wirklich guten Berufsberater vereinbaren, ich habe da schon einen im Auge, der sich viel Zeit nimmt und mit Enno ein Profil entwickeln kann, damit wir etwas finden, das zu ihm passt und wo er bleiben wird. Er muss auf jeden Fall in ein stabiles Umfeld um zu verhindern, dass er in alte Muster zurückfällt. Und wenn er noch zusätzliche Therapien braucht, soll er sie kriegen. Nele:  Das würden Sie organisieren? Braubach:  Das sind meine Vorschläge, deswegen bin ich hier. Stille. Was sagen Sie dazu? Nele:  Sie haben sich ja richtig was überlegt. Braubach:  Was dachten Sie denn? Nele:  Und das bezahlen Sie alles?

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Braubach:  Es geht erst einmal darum, alle bestehenden Angebote zu nutzen. Aber alle Zusatz­ kosten übernehme ich. Das Wichtigste ist, dass er einen Lotsen hat, der mit ihm – und Ihnen – die Anträge stellt, Hilfen beantragt und überprüft, ob alles so läuft, wie es geplant ist. Das soll nicht heißen, dass ich Ihnen das nicht zutraue. Nennen wir es mal das Vieraugenprinzip. Oder zwei Leitplanken, auf jeder Seite seines Weges eine. Nele:  Und das würden Sie machen? Braubach:  Mein Büro, aber ich werde selbstverständlich über alle Abläufe informiert. Sie können das alles mit meiner Assistentin klären, ich lasse Ihnen die Nummer da. Auch wenn Sie Fragen wegen der Versicherung oder was auch immer haben. Diese Frau weiß praktisch alles oder findet es in maximal fünf Minuten heraus, das ist fast schon beängstigend. Nele:  Und muss ich irgendwas machen? Braubach:  Sie sollten entscheiden, ob er in der ersten Zeit bei Ihnen wohnen soll oder in einer betreuten WG, die behindertengerecht ist. Ich würde Ihnen dazu raten, wenn ich mir die Verhältnisse hier so ansehe, aber Sie entscheiden. Stille. Nele:  Warum machen Sie das? Braubach:  Das ist eine überflüssige Frage. Nele:  Und wo ist der Haken? Nele:  Kein Haken. Ich versuche nur, meinen persönlichen moralischen Ansprüchen gerecht zu werden. Ich schlafe im Übrigen auch nicht besonders gut seit dem Vorfall. Und eines noch: Mir wäre daran gelegen, dass wir das vertraulich behandeln. Ich will das nicht an die große Glocke hängen. Nele:  Mit wem sollte ich denn reden? Neles Handy klingelt. Sie nimmt das Gespräch an. Ja? Wo bist du denn? Okay. Nele legt auf. Er ist gleich da. Braubach:  Also von meiner Seite ist eigentlich alles gesagt. Nele: Könnten Sie mir einen Riesengefallen tun und Jerry das alles gleich nochmal erzählen? Wenn ich ihm das sage, glaubt er mir nicht. Oder meckert, dass ich Sie nicht aufgehalten habe. Es ist ihm sehr wichtig, Sie noch zu treffen. Geht das? Nele:  Natürlich. Nele atmet aus, sie zittert, wirkt plötzlich sehr fragil. Glauben Sie das klappt? Also so, wie Sie das gerade beschrieben haben? Braubach:  Das wird schon alles. Nele:  Wenn mein Neffe gleich kommt … er wirkt manchmal etwas … es hat ihn alles sehr mitgenommen, Sie dürfen ihm nicht übel nehmen, wenn er ruppig wirkt. Er schießt manchmal übers Ziel hinaus, das dürfen Sie nicht so ernst nehmen, ja?

Braubach: Wir werden schon miteinander klar kommen. Ich skizziere ihm kurz, was wir besprochen haben und dann muss ich auch los. Also wenn er nicht ein besonderes Anliegen hat … Nele: Es war ihm sehr wichtig, mehr weiß ich nicht. Wenn ich gewusst hätte, dass man mit ­Ihnen reden kann, also, ich meine … dann hätte ich ihn da raus gelassen, aber er kann dann auch so … da ist er ja schon.

2. Szene Man hört einen Schlüssel in der Tür, Nele steht auf, Jerome kommt herein, er trägt die Uniform eines Paketzustellers und hat einen Pizzakarton in der Hand, er umarmt kurz Nele, geht dann zu Braubach und streckt ihm seine Hand entgegen. Jerome:  Ich bin Jerome. Braubach schüttelt seine Hand, ohne aufzustehen. Braubach:  Braubach. Jerome setzt sich neben Braubach auf das Sofa, öffnet den Pizzakarton, darin eine halb gegessene Pizza. Nele:  Wieso hast du dir denn noch eine Pizza geholt? Wir haben auf dich gewartet. Jerome:  Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Nele:  Ich hätte dir ein Brot machen können. Du wolltest schon viel früher da sein, Herr Braubach ist extra geblieben, damit du ihn noch kennenlernen kannst. Jerome:  Ich muss was im Magen haben, okay? Ich hatte keine Pause, zwei Leute sind krank, was soll ich machen? Jerome beißt in ein Stück Pizza. Ich war heute zehn Stunden am Steuer und das kommt oft vor. Was sagen Sie dazu, Herr Braubach? Braubach:  Ich kenne Zehn-Stunden-Schichten, ich weiß, wie kaputt man da ist. Jerome:  Hörst du, Nele? Er kennt das von seinem Job auch. Braubach:  Natürlich. Manchmal ist das einfach so. Jerome:  Bei mir auch. Es ist harte, ehrliche Arbeit, mir schenkt keiner was. Aber essen muss man, oder? Nele:  Ich mache sie dir nochmal warm, wenn Herr Braubach gegangen ist, ja? Jerome:  Herr Braubach hat bestimmt schon mal erlebt, dass jemand in seiner Gegenwart eine Pizza isst, oder? Nele:  Jerome, das ist unhöflich. Jerome:  Stört es Sie, wenn ich esse? Oder wollen Sie auch was? Braubach:  Nein danke. Jerome:  Hast du ihm was angeboten?

Braubach:  Ich sagte, es ist kein Problem. Jerome:  Nein, es ist unhöflich, meine Tante hat Recht. Jerome klappt den Pizzakartondeckel zu, sieht Braubach lächelnd an. Jerome:  Toll, dass Sie gekommen sind. Hätte ich nicht gedacht, wirklich. Braubach:  Schon gut. Jerome:  Sagen Sie, bevor wir reden … Sie finden das wahrscheinlich albern, aber darf ich ein Selfie mit Ihnen machen? Ich treffe nicht so oft Kandidaten fürs Oberbürgermeisteramt. Oder lehnen Sie sowas ab? Jerome holt sein Handy heraus. Braubach:  Eigentlich lehne ich es ab, aber … Jerome hat ein Selfie gemacht, packt sein Handy wieder ein. Nele:  Er hat nicht „Ja“ gesagt, Jerome. Jerome:  Scheiße, dann lösche ich es, soll ich? Braubach:  Schon gut. Jerome:  Danke. Okay, fangen wir an? Braubach:  Wie meinst du das? Jerome:  Wir haben doch was zu besprechen, oder? Nele:  Wir haben schon alles besprochen. Jerome:  Wie? Ihr solltet doch auf mich warten. Braubach: Ihre Tante ist meine Ansprechpartnerin, Sie waren nicht da. Jerome:  Ich fürchte da haben Sie sich geirrt. Braubach:  Ach ja? Und warum? Jerome:  Weil ich die Verhandlungen führe. Nele:  Wie redest du denn mit Herrn Braubach? Jerome:  Wie bist du denn drauf? Gestern hast du noch ganz anders geklungen. Nele:  Ja, aber jetzt … Jerome:  Was haben Sie ihr denn erzählt? Braubach: Ich glaube nicht, dass wir so weiterkommen, Jerome. Jerome:  Wir haben noch nicht mal angefangen. Braubach:  Um mal eins klarzustellen:  Wir beide werden hier nichts „verhandeln“. Ich habe gerade meine Hilfe angeboten. Das ist ein Entgegenkommen. Jerome: Und dafür haben Sie jetzt fast drei Wochen gebraucht. Braubach:  Ich habe das alles schon mit Ihrer Tante besprochen und ich habe den Eindruck, dass wir uns einig sind. Ich kann dir das kurz skizzieren und um mehr geht es hier eigentlich nicht. Nele:  Herr Braubach hat Vorschläge gemacht und sein Büro wird sich um alles kümmern. Und mit dem Artikel hat er nichts zu tun … Jerome:  Vom dem redet keiner mehr. Braubach:  Sehe ich genauso. Jerome: Trotzdem schräg, dass Sie die Frau des Chefredakteurs kennen. Sie sitzen zusammen in

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irgendeinem Förderverein, Museum oder sowas. Hab ich recht? Braubach:  Sieh mal an, man hat mich gegoogelt. Jerome:  Und den Polizeipräsidenten kennen Sie auch. Braubach:  Das gehört zu meinem Job als Ministerialdirigent. Jerome:  Vielleicht war der Artikel in der F.Z. deshalb so wie er war. Braubach:  Bitte keine Verschwörungstheorien, sowas langweilt mich zutiefst. Im Übrigen kann ich dir mindestens fünf Artikel in der F.Z. zeigen, in denen ich nach allen Regeln der Kunst geschlachtet werde. Berufsrisiko, man lernt, damit zu leben. Bisschen Sturm muss man abkönnen. Jerome:  Klar. Und wer liest das schon. Braubach:  Eben. Und die Presse wird nicht von der Politik gesteuert, falls du das vermutest. Tut mir leid, wenn du deine Zeit mit solchen Recherchen verschwendet hast. Jerome:  Waren wir per du? Braubach:  Sie haben sich nur mit Vornamen vorgestellt. (zu Nele) Wenn Ihr Neffe meine Vorschläge nicht hören will, müssen Sie ihm das später erzählen. Nele:  Jerome, hör dir endlich an, was er uns vorschlägt. Jerome:  Interessiert mich nicht. Nele:  Sag mal, was ist denn in dich gefahren! Braubach steht auf, legt eine Visitenkarte auf den Tisch. Braubach: Tut mir Leid, Frau Siebold, ich sehe hier keine Gesprächsgrundlage. Mein Büro wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich stehe zu meinen Vorschlägen. Jerome:  Ich glaube nicht, dass Sie es sich leisten können zu gehen. Braubach:  Du nimmst das Maul ganz schön voll, Junge. Jerome:  Ich habe hier zum Beispiel ein Foto: Minis­ terialdirigent Braubach besucht Angehörige des Unfallopfers und versucht, sich mit Geld raus zu kaufen. Das können Sie nicht verhindern. Es sei denn, Sie reißen mir mein Handy aus der Hand, was Sie nicht tun werden. Ich kann auch vom Fenster aus ein Foto machen, wie Sie in Ihren Dienstwagen steigen. Den ich auch schon fotografiert habe. Braubach (zu Nele):  Meinten sie das vorhin mit „ruppig“? Nele:  Jerome, was soll denn das!? Jerome:  Reden wir, Herr Braubach. Braubach setzt sich wieder. Jerome (zu Nele):  Du siehst, er bleibt.

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Braubach:  Reine Neugier, was da alles noch alles kommt. Jerome:  Aber es wäre Ihnen nicht Recht, wenn das hier öffentlich wird. Braubach:  Und wenn schon. Nele:  Haben Sie vorhin nicht gesagt, dass ich das für mich behalten soll? Braubach: Nur zu Ihrem Schutz. Weil ich nicht will, dass das von irgendjemandem ausgeschlachtet wird, das habe ich Ihnen erklärt. Jerome:  Von wem? Braubach:  Von der Presse. Jerome:  Aber da haben Sie doch beste Beziehungen. Braubach:  Du kannst langsam aufhören, schlechte Fernsehkrimis nachzuspielen. Entweder sagst du, warum du hier so eine Welle machst oder wir beenden das sofort. Bis du hier aufgetaucht bist, war unser Gespräch nämlich zielführend. Nele:  Jerome, ich bitte dich … Jerome: Klartext. Ich verlange eine einmalige Schmerzensgeldzahlung an die Familie in Höhe von hunderttausend Euro und eine monatliche Rente für Enno in Höhe von dreitausend Euro. Braubach beginnt zu lachen. Das sind keine übertriebenen Forderungen. Was meinen Sie, was ich bei den Amis verlangen könnte. Da bekommen Leute Millionen, weil sie sich an einem heißen Kaffee die Zunge verbrannt haben. Braubach:  Dann solltest du mich vielleicht in den USA verklagen. Jerome:  Ich rate Ihnen, mein Angebot ernst zu nehmen, Herr Braubach. Braubach:  Das fällt mir sehr, sehr schwer. Nele steht auf. Nele:  Jerry, ich muss mit dir reden. Sofort. Jerome:  Nele, lass mich einfach machen, okay? Nele:  Kommst du bitte kurz? Jerome:  Jetzt nicht! Kapiert? Ich muss mich konzentrieren. Nele setzt sich wieder. Braubach:  Kannst du mir vielleicht erklären, auf welcher Grundlage du diese Forderung stellst? Die polizeiliche Untersuchung ist abgeschlossen, die Schuldfrage ist geklärt. Also? Jerome:  Haben Sie kein Internet? Da kann man nämlich seit letzter Woche ein paar interessante Sachen über Sie lesen. Es gibt Zeugen, die ausgesagt haben, dass Sie zu schnell gefahren sind. Nur komisch, dass das im Abschlussbericht dann nicht mehr auftaucht. Ganz nüchtern waren sie auch nicht, Herr Braubach. Braubach:  Ach ja? Das haben diese neuen Zeugen gerochen? Da muss ich ja eine ganz schöne Fahne gehabt haben.

alles wahr

Jerome:  Das hat ein Polizist geleakt. Braubach:  Oh, es wurde „geleakt“. Jerome:  Es ist auch sicher kein Zufall, dass Sie erst jetzt, knapp drei Wochen nach dem Unfall, hier auftauchen, jetzt, wo solche Sachen im Netz kursieren. Sie wollen das aus der Welt schaffen, bevor der Wahlkampf richtig losgeht. Als Spitzenkandidat kann Sie diese Sache den Sieg und Ihre Karriere kosten. Braubach:  Und wenn ich nicht zahle? Jerome:  Dann kochen wir das Ding richtig hoch. Braubach:  Also du willst mich hier erpressen? Verstehe ich das richtig? Nele:  Das hat er ganz sicher nicht gemeint. Braubach:  Und dass ich hier bin, um meine Hilfe anzubieten, ist für dich ein Beweis, dass du Recht hast. Jerome:  Ist ein auffälliges Timing, oder? Braubach:  Wenn mein Hilfsangebot als Schuldeingeständnis ausgelegt wird, ziehe ich meine Zusagen natürlich sofort zurück. Und jetzt muss ich leider kurz telefonieren. Braubach geht in den Flur, die Haustür fällt zu. Nele: Sag mal, bist du völlig verrückt geworden? Du hörst sofort auf mit diesem Scheiß, sofort, hast du verstanden? Jerome:  Vertraue mir, ich kriege das hin. Nele:  Du sollst hier überhaupt nichts hinkriegen, du sollst dich benehmen, ist das klar? Du willst ihn erpressen? Weißt du wie ich jetzt dastehe? Warum hast du mir kein Wort davon gesagt, was du vorhast, ich hätte niemals … Jerome: Du musst mir vertrauen, ich habe Informationen … Nele:  Was ist denn plötzlich los mit dir? Du führst dich auf wie irgend so ein Krimineller, ich schäme mich für dich, wirklich. So habe ich dich nicht erzogen. Jerome: Du hast mich überhaupt nicht erzogen! Du bist nicht für mich zuständig. Nele:  Und du nicht für mich! Du redest hier nicht für mich, ist das klar? Was soll er denn denken? Er hat gerade einen sehr guten Hilfeplan entwickelt. Jerome:  Okay, und was? Nele steht auf und geht zum Fenster. Nele:  Gottseidank, der Wagen ist noch da. Jerome:  Der geht nicht. Wenn er das wollte, wäre er sofort gegangen. Nele:  Du darfst das nicht aufs Spiel setzen. Hörst du? Jerome:  Der hat Enno überfahren und dafür soll er büßen. Da gibt es einige interessante Infos im Netz. Nele:  Aber wenn das nicht stimmt, was da steht? Da kann doch jeder schreiben, was ihm gerade ein-

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Ein Stück Verschwörungstheorie Daniel Di Falco / Theater Marie ab 11.1.2019 Theater Tuchlaube Aarau


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fällt. Das zählt doch nicht. Und die Polizei hat schließlich alles geprüft. Jerome:  Lass dich nicht von dem einwickeln. Bloß weil der hier auftaucht und irgendwelche Pläne hat, bist du plötzlich zufrieden? Was hat er denn schon vorgeschlagen. Nele:  Wenn du es dir angehört hättest, wüsstest du, dass es gute Vorschläge sind. Jerome:  Der lässt alles so aussehen, dass es gut klingt, das ist sein Job. Ich habe dich gewarnt, der will dich einwickeln, deshalb ist er hier, das ist eine eiskalte Nummer von ihm. Nele: Ich kann sehr wohl unterscheiden, ob jemand … Jerome:  Das ist ein Vollprofi, kapier das doch, klar gibt der hier den Einfühlsamen. Nele:  Er will dafür sorgen, dass Enno eine Lehre macht, will sich um Therapien kümmern, um einen WG-Platz … Jerome lacht. Jerome:  Und das reicht dir? Wegen sowas frisst du ihm aus der Hand? Das hätte ich dir auch googeln können. Das bietet jede Krankenkasse in so einem Fall an. Nele: Aber das ist was Konkretes, verstehst du? Das sind Angebote. Und genau das brauche ich jetzt! Jerome: Du mit deiner scheiß Angst. Das war schon immer so. Immer nur kuschen. Du verstehst einfach nicht, was hier läuft. Hat er dir Geld angeboten? Nele:  Nein, aber wenn es was kostet, hilft er aus, das hat er versprochen. Jerome:  Daran siehst du doch, dass er schuld ist. Der will sich rauskaufen. Nele:  Hör doch mal auf! Das hier geht dich nichts an. Jerome:  Ich mache das für dich. Und Enno. Und ich habe einen Plan, du musst mir vertrauen. Nele:  Und warum? Jerome:  Weil ich will, dass er sich nach der Wahl noch daran erinnert, was er hier versprochen hat. Wir müssen das absichern. Dieser ganze Horror, das muss doch mal vorbei sein, so kann das nicht immer weitergehen. Ich verhandle mit ihm und da muss man steil einsteigen, damit was bei rauskommt. Du kannst das nicht, du bist zu nah dran. Ich weiß, wie er tickt. Nele:  Woher willst du das wissen? Jerome:  Weiß ich eben. Und er ist geblieben, oder? Ist doch auffällig, oder? Und wenn du mir mit ihm eine halbe Stunde gibst, dann sind wir Buddies, wenn du wiederkommst, versprochen. Nele: Du willst mich wegschicken? Aus meiner ­eigenen Wohnung?

Jerome:  Ich will’s nicht versauen. Ich brauch totale Konzentration. Es klingelt, Nele geht und öffnet die Tür. Braubach: Entschuldigung, die Tür ist mir zugefallen. Nele:  Sie haben aber gerade nicht mit … ich meine, weil Sie was von Erpressung gesagt haben … das haben Sie falsch verstanden. Jerome:  Nele, es ist okay. Niemand redet von Erpressung, das sind ganz normale Verhandlungen, klar? Braubach:  Ich habe nur meinen Folgetermin verschoben. Jerome:  Lässt du uns bitte allein? Nele:  Er möchte gern alleine mit Ihnen sprechen. Braubach:  Von mir aus. Nele:  Ich glaube ich muss mal eine Runde um den Block, um in Ruhe über alles nachzudenken. Braubach: Ich kann Ihnen leider nicht versprechen, dass ich noch hier bin, wenn Sie wiederkommen. Nele:  Ich bin nicht lange weg, versprochen. Nele zieht ihre Jacke an und geht.

3. Szene Braubach setzt sich auf das Sofa und betrachtet Jerome, der seinem Blick standhält. Braubach:  Schalt dein Handy an. Jerome tut es. Gib es mir. Jerome behält sein Handy in der Hand, zeigt ihm das Display. Jerome:  Was soll das? Braubach wirft einen Blick darauf. Braubach:  Ich will nur sichergehen, dass du nichts mitschneidest. Jerome:  Bisschen paranoid, oder? Braubach:  Reine Vorsicht. Und jetzt setz dich da rüber, dann können wir reden. Jerome lacht. Jerome:  Was soll das? Braubach:  Ist mir lieber. Jerome setzt sich auf den Stuhl. Jerome:  Und? Fühlen Sie sich besser? Ich hätte Sie schon nicht belästigt, keine Sorge. Braubach:  Spiel dich nicht so auf. Du musst hier niemanden beeindrucken. Braubach sieht Jerome an, der seinem Blick standhält. Jerome:  Warum starren Sie mich an? Soll mich das einschüchtern? Braubach: Ich habe mich schon immer gefragt, wer solche Sachen schreibt. Was das für Typen sind, die einen im Netz beleidigen. Nein, beleidigen ist zu schwach. Leute, die wollen, dass man

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Volksverräter wie mich an die nächste Laterne hängt … oder Eier abschneiden, in den Mund stopfen … dem korrupten Schwein, das unser Land verraten hat, alles Originalzitate, das Dreckspack von Politikern. Wer kotzt sich da im Netz aus? Wer hat diese Wut mit Schaum vorm Maul? KZ-Fantasien, Lynchjustiz … das will man schon gern mal wissen … und es ist fast schon deprimierend, dass du exakt dem Bild entsprichst, das man sich von diesen Trollen macht, wenn man sich mal überwindet, diese vergiftete Hetze zu lesen. Genau so stellt man sich die Typen vor, so wie du, unverschämt, ohne Kinderstube, paranoid und meistens rechtsradikal mit Hang zu Verschwörungstheorien. Jetzt sitzt so einer vor mir. Das ist interessant. Und? Wie ist es für dich, mal einem deiner Hassobjekte leibhaftig gegenüber zu sitzen? Auch interessant? Jerome:  Wie kommen Sie darauf, dass ich sowas schreibe? Ich habe es nur gelesen. Braubach:  Und du glaubst es natürlich. Jerome:  Ja klar. Weil es stimmt. Braubach:  Dann bist du also nur ein Trittbrettfahrer, der seine Chance wittert, Kohle zu machen. Das ist genauso schlimm. Jerome: Wenn es Ihnen am Arsch vorbeiginge, wären Sie nicht geblieben. Braubach:  Ich bleibe, weil ich neugierig bin, wie weit du das treiben willst. Und wegen deiner Tante, die mir wirklich leid tut. Ist dir bewusst, was du ihr damit antust? Jerome:  Ich mache das alles für sie. Und meinen Cousin. Braubach:  Der ist dir scheißegal. Du kannst mir nichts vormachen. Du willst schnelles Geld und hast nichts auf der Hand. Nichts. Oder kommt da noch was? Außer dem Gekeife aus dem Netz? Mich juckt das nicht. Hassmails bekomme ich jeden Tag. Bösartige Unterstellungen bin ich gewohnt. Du hast dich mit dem Falschen angelegt. Jerome:  Getroffene Hunde bellen. Braubach:  Das war eine Warnung in Freundschaft. Reden wir. Das ist nicht selbstverständlich. Sei froh, dass ich mit dir reden will. Und alles, was wir besprechen, bleibt in diesem Raum, ist das klar? Jerome:  Okay, reden wir. Sie sind dran. Ich bleibe bei meiner Forderung. Braubach: Dann müsstest du deine Anschuldigungen beweisen können. Vor Gericht. Oder wie hast du dir das gedacht? Du drohst mir und dann schreibe ich einen Scheck, weil ich solche Angst vor dir habe? Jerome:  Ich brauche kein Gericht, das sind sowieso eure Leute. Genau wie die Systempresse, da bekommen Sie sowieso immer Recht.

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Braubach:  Und wie soll das sonst gehen? Hast du so was wie einen Plan? Langsam bin ich wirklich neugierig. Jerome: Sie sind hier, nach knapp drei Wochen, Sie wollen plötzlich helfen, sie bieten meiner Tante sogar Geld, Sie sind geblieben als Sie meine Forderungen gehört haben, Sie fragen nach meinem Plan und Sie haben viel zu verlieren. Kommt alles nicht so entspannt rüber, wie sie behaupten. Braubach:  Kannst du dir vorstellen, dass ich hier bin, weil es mir nahe geht, was passiert ist? Weil ich will, dass es deinem Cousin wieder besser geht? Und dass ich dich davor bewahren will, eine Riesendummheit zu begehen? Jerome:  Wir gehen Ihnen doch am Arsch vorbei. Sie machen nur, was Ihrer Karriere hilft. Nele können Sie irgendeinen Schrott erzählen, aber mir nicht. Sie wollen helfen. Nein, Sie müssen helfen, so sieht es aus. Deshalb drohen Sie mir. Das nützt Ihnen aber nichts. Kein Mensch glaubt Ihnen, dass Sie aus reiner Menschenliebe hergekommen sind. Kein Mensch glaubt Ihnen, dass Sie vollkommen unschuldig sind, weil kein Mensch mehr der Presse glaubt oder der Polizei und wenn jetzt tausendmal im Netz steht, dass dieser Unfall anders gelaufen ist, als die Polizei erzählt, wird Sie keiner wählen, weil Sie ein Scheiß Politiker sind und Ihr Opfer ein Minderjähriger. Weil alle eine Scheißwut auf euch haben. Weil ihr dieses Land verkauft und nicht für eure Leute sorgt … Braubach:  Spar dir den Rest, ich kenne diese Leier. Also, ich fasse mal kurz zusammen, okay? Du drohst mir mit einem Shitstorm, falls ich nicht zahle. Das ist moralisch etwa auf dem Niveau von Supermarkterpressern, die Babynahrung vergiften, aber egal. Du denkst, du bist die Stimme des Volkes. Gut. So eine Kampagne schaffst du nicht alleine und anonym schon gar nicht. Wenn du einen auf Angehöriger des Opfers machst, kann ich dich wegen Verleumdung anzeigen. Das heißt: Keine Kohle. Wenn du vor Gericht gehst, musst du beweisen, dass Zeugenaussagen unterschlagen wurden, du musst den Polizisten mit dem Leak auftreiben und auch alle Trolle, die dir deine schönen Fake News geliefert haben. Die Trolle wirst du nicht finden und der Polizist, den es nicht gibt, würde, wenn es ihn gäbe, nicht gegen seine gesamte Wache aussagen, weil er wahrscheinlich genauso ein feiger Verschwörungstheoretiker wäre wie du. Das heißt:  keine Kohle. Jerome:  Kann ja sein. Trotzdem. Braubach:  Was? Trotzdem? Jerome: Trotzdem wollen Sie sicher nicht, dass beim Googeln nach dem Stichwort Braubach als

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zweiter Begriff „Unfall“ angeboten wird. Und wenn man das anklickt, kämen dann Berichte über einen Politiker, der mit seinem fetten Geländewagen, Handy am Ohr, besoffen durch die Stadt rast und einen jungen Mann überfährt. Es gibt einen Haufen Leute, die was gegen Geländewagen haben. Oder telefonierende Autofahrer. Oder Raser. Oder Politiker. Braubach: Solche Anschuldigungen geben sich mit der Zeit. Jerome: Ja, aber die Zeit haben Sie gerade nicht und deshalb sind Sie hier. Braubach: Kommt in deiner kleinen bösen Welt das Wörtchen Moral vor? Schon mal gehört? Kannst du dir nicht vorstellen, dass man etwas tut, weil man moralische Verantwortung für etwas übernimmt, an dem man keine Schuld trägt? Jerome:  Ich glaube, dass Sie wollen, dass bei Braubach „Wohltäter“ oder sowas als zweiter Begriff angeboten wird. Macht sich besser, wenn man als Politiker richtig durchstarten will. Braubach:  Ich habe deiner Tante gesagt, dass ich das nicht an die Öffentlichkeit bringen will. Jerome:  Habe ich gehört. Glaube ich aber nicht. Sie wollen nur die Kontrolle über die Geschichte. Alles Fake. Braubach: Du solltest nicht ständig von deinem Charakter auf andere schließen. Jerome: Ich habe das nicht losgetreten, sage ich doch. Ich hab es nur gelesen und was da steht, erscheint mir leider einleuchtend. Braubach:  Weil die Welt schlecht ist und alle Politiker Schweine. Jerome:  Ich will nur Gerechtigkeit. Und das, was mir zusteht. Mir, Nele und Enno. Und das ist mehr als eine poplige Lehrstelle in einer Behindertenwerkstatt. Braubach:  Wer ist übrigens „wir“? Jerome: Wir? Braubach:  Du hast vorhin „wir“ gesagt. „Dann kochen wir das Ding richtig hoch“. Ein Krankenschwesternplural war das ja wohl nicht. Jerome:  Ich weiß nicht, was Sie meinen. Braubach:  Arbeitest du für irgendjemanden? Jerome:  Tue ich nicht, hab ich doch gesagt. Braubach:  Vielleicht weißt du das gar nicht. Jerome:  Sie sind wirklich paranoid. Braubach:  Nehmen wir mal an, du hast deine Wut in irgendwelchen Foren abgelassen und irgendjemand hat Kontakt zu dir aufgenommen, dir Infos zugespielt und zwar genau das, was du brauchst für das wohlige Gefühl, dass die kleinen Leute, oder „das Volk“, wie man heute sagt, mal wieder verarscht wurde. Und on top noch die Möglichkeit,

dass du damit Kohle machen kannst. Aber wer steckt dahinter? Interessiert dich nicht. Jemand, der diesem Politikerschwein schaden will und zwar genau jetzt. Knapp zwei Wochen nach dem Unfall und kurz vor Beginn des Wahlkampfes. Das spricht gegen die Nazitrolle und Idioten, denen ist der Zeitpunkt egal, die funktionieren über Beißreflexe. Das gegen mich sieht nach einem getimten Ding aus. Wer will mich genau jetzt fertigmachen? Meine Parteifreunde, weil ich Rivalen habe, die es nicht so gern sehen, dass ich als Spitzenkandidat fürs Bürgermeisteramt ins Rennen gehe? Dafür ist die Kampagne zu massiv. Aber vom politischen Gegner kann sowas kommen. Ich weiß, dass die Leute engagiert haben, die nicht mit Samthandschuhen zur Arbeit gehen. Denen traue ich das zu, denn das sind die Einzigen, die einen Nutzen davon hätten. Normalerweise sagt mein Anwalt immer: wegducken, nicht reagieren, das gibt sich. Aber diese Sache ist eine Nummer größer und deshalb gehen wir diesmal dagegen vor, mit Unterstützung vom Verfassungsschutz, abgesichert vom Justizministerium und irgendwann stehen die Drahtzieher alle vor Gericht. Wegen Rufmord, Verleumdung, Aufruf zu einer Straftat. Und wenn die Polizei das Schleppnetz hochzieht, kommst du als Beifang mit in die Pfanne. Das heißt nicht nur:  Keine Kohle. Das heißt:  Ein Gerichtsverfahren bei den Richtern, die wir Politiker alle gekauft haben. Jerome: Sie werden mich nicht vor Gericht bringen. Braubach:  Wenn du dir da so sicher bist? Meine Geduld ist irgendwann auch erschöpft. Irgendwann will man einfach nur zurückschlagen, oder? Geht dir schließlich nicht anders. Braubachs Handy signalisiert eine SMS, Braubach öffnet sie. Entschuldige, das muss ich lesen, das betrifft dich. Jerome:  Kein Problem. Braubach (mit Blick aufs Handy):  Ich habe dich von meinem Büro checken lassen. Zumindest bist du bisher noch nicht unangenehm aufgefallen, hätte mich auch gewundert. Du bist ein harmloser Typ, das merkt man sofort. Jerome:  Sind Sie fertig? Braubach:  Kommt darauf an ob alles, was ich gesagt habe, bei dir angekommen ist. Jerome:  Und wenn alles angekommen ist, darf ich dann in die Hofpause? Braubach:  Ich hoffe, es ist dir klar, dass ich das alles verdammt ernst meine. Und dass alles, was ich gesagt habe, zu deinem Besten ist. Koch dir nicht mit dem Giftmüll aus dem Netz die Birne weich, verstanden? Ich vergesse dass hier und du wirst


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deine Tante von mir grüßen. Sag ihr, wir machen es so, wie wir das besprochen haben. Und jetzt gehe ich, okay? Braubach steht auf. Jerome:  Okay. Nur eine Frage noch. Waren Sie mal Sozialarbeiter? Braubach: Metallschlosser. Und auch mal Paketbote. Jerome:  Ich weiß, steht alles im Netz. Und Sie sagen es ständig. Sie kommen aus der „Arbeiterklasse“. Trotzdem klingen Sie wie ein Sozialarbeiter. Oder wie einer von der Gewerkschaft. Braubach:  Das scheinen Schimpfwörter für dich zu sein. Gewerkschafter war ich übrigens wirklich mal. Jerome: Weiß ich. Sie sind so eine Art proletarische Allzweckwaffe für Ihre Partei – wenn’s ganz laut Bumm! machen soll. Braubach:  Ich kenne die Arbeitswelt, mehr habe ich nie behauptet. Jerome:  Wann hast du denn Pakete ausgefahren, Kumpel? Ich duze mal, so als Kollege, okay? Braubach:  Mitte Achtziger. Jerome:  Lange her. Da gab es noch keine beschissenen Onlinebestellungen. Braubach:  Da gab es noch nicht mal Internet. Jerome:  Wahnsinn. Ich habe mal Handball gespielt. Aber ich bin kein Handballer. Würde ich nie behaupten. Weil ich nicht mehr spiele. Geht nicht mehr. Kaputter Rücken, drei bis vier Tonnen Pakete jeden Tag, Treppe hoch, Treppe runter, neun bis zehn Stunden. Ich hab keine Zeit mehr für Handball, also behaupte ich nicht, dass ich das noch bin. Ich bin kein fucking Handballer, sondern ein beschissener Lohnsklave. Warst du direkt oder bei einer Sub? Braubach: Subunternehmer gab es auch noch nicht. Jerome:  Stundenlohn? Braubach:  Weiß nicht mehr. Zehner? Mark natürlich. Jerome:  So ein Zufall. Fünfer. Euro natürlich. Siehst du? Bei den wichtigen Sachen ändert sich nichts. Braubach:  Du hast Anspruch auf Mindestlohn. Jerome:  Stimmt. Super. Aber wir sind verpflichtet, unbezahlte Überstunden zu machen und zwar regel­ mäßig. Dann kommt man schnell runter auf fünf die Stunde, so einfach ist das. Du hast keine ­Ahnung von der Arbeitswelt. Du hast nur so einen Ton drauf, der nach Arbeiter klingt. Und der wird für den Wahlkampf bestimmt wieder richtig hochgefahren: Ey Kollegen, es geht da draußen un­ gerecht zu! Riesenerkenntnis. Oder Gewerkschaft. Die Postler stehen bei uns zehn Meter weiter runter an der Rampe, kriegen mehr Geld, arbeiten weniger und wir sind die Deppen von der Sub. Für uns machen die nichts, die Herren Arbeitervertreter, die wissen, wo ihr Brot gebuttert wird. So wie du. Arbeit und Gerechtigkeit. Du fährst auf meinem Ticket. Ihr alle, ich gehe morgens um sechs aus dem Haus und komme abends um sieben zurück, dann mache ich die Glotze an und sehe Typen wie dich, nachdem ich den ganzen Tag Zalando und Amazonschrott abgeliefert habe und nichts bleibt am Monatsende über, nichts! Ich habe Zeitdruck, den ganzen Tag, damit die Quote stimmt und dann kommt einer wie du, fährt Enno zum Krüppel, kommt hier vorbei und ist nicht schuld. Klar bist du nicht schuld, niemand ist schuld. Wir leben in einem Land, in dem nie irgendjemand

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schuld ist. Aber das funktioniert nicht und deshalb muss das aufhören. Braubach:  Was? Jerome:  Diese Lügen. Wir sind eines der reichsten Länder, die beste Demokratie der Welt, blabla ... Wenn das dabei rauskommt, dann scheiß ich doch auf die Demokratie. Was bringt die mir denn, oder meinen Kollegen, meiner Tante, allen, die sich den Arsch aufreißen … So läuft das nicht. Und du willst mich hier klein machen und für dumm verkaufen, willst mich einschüchtern mit Justiz und ‚gecheckt werden‘. Sie haben einfach Schiss, dass es plötzlich puff macht und Ihre schöne Karriere am Arsch ist. Wenn Sie nicht so besoffen von der Macht wären, würden Sie merken dass etwas gewaltig schiefgeht. Braubach: Habe ich gesagt, dass alles gut läuft? Nein. Habe ich gesagt, dass alle Politiker gute Menschen sind? Nein, viele von denen sind sogar ausgemachte Idioten. Kann ich ganz im Vertrauen zugeben. Aber ich bin nicht karrieregeil, sonst wäre ich schon längst in der Wirtschaft. Da gibt es auch mehr Kohle. Wegen sowas ist man nicht in der Politik. Jerome:  Sag ich doch, machtgeil. Braubach:  Glaubst du, man geht nur in die Politik, weil man gerne rote Rosen in der Fußgängerzone verteilt? Wirfst du einem Fußballer vor, dass er gern Tore schießt? So dumm bist du doch nicht, Junge. Schalt dein Gehirn ein. Mach es dir nicht so verdammt einfach. Jerome: Das ist einfach, das sehe ich jeden Tag, das mache ich jeden verdammten Tag mit, das ist eine ganz klare Sache, da gibt es Schuldige, da geht etwas ganz brutal schief, alle wissen es, keiner von euch macht was, das stinkt zum Himmel und wenn du das nicht riechst, dann willst du es nicht riechen. Das geht nicht mehr lange gut, bald fliegt euch das um die Ohren. Weil euch das am Arsch vorbeigeht, weil ihr uns verachtet, ihr alle, und solche Volksverarscher wie du sind die Schlimmsten. Machst hier fett einen auf Arbeiterversteher, aber bist genervt, weil ich Ansprüche stelle. Berechtigte. Darum geht es. Nur darum. Klar, meine Tante ist für dich die Gute, lieb und dankbar, so hättest du uns gern. Aber ich weiß was läuft. Du nennst mich unverschämt? Mich? Du kennst mein Leben nicht. Alles, was da draußen läuft. Du hast keine Ahnung. Und fasel nicht von Gerechtigkeit, ich scheiße auf deine Gerechtigkeit, auf dein Gedröhne, deine guten Taten. Ich hab meine eigene Gerechtigkeit. Ich mach dich fertig, ich kann das. Glaub es oder nicht. Braubach:  Du willst also die große Kohle und die große Revolution. Ist die Revolution abgeblasen, wenn du die Kohle bekommst? Jerome:  Vielleicht sollten wir später über die Kohle reden und zuerst über die Revolution. Jerome holt ein kleines Aufnahmegerät aus der Tasche. Braubach:  Was soll das? Jerome spult zurück, schaltet ein, man hört eine kurze Sequenz aus ihrem Dialog. Jerome:  Super Qualität, oder? Sendefähiges Material. Und was lernen wir daraus? Man kann nicht paranoid genug sein. Stille. Braubach sieht Jerome an. Sie können gern was sagen. Ich habe es ausgeschaltet, jetzt kommt wahrscheinlich kein interessantes Material mehr von Ihnen. Braubach:  Ich habe auch vorher nichts gesagt, was mir schaden könnte. Jerome:  Sind Sie sicher? Wenn Sie sagen, dass sich die Anschuldigungen mit der Zeit geben? Echt zynisch. Kann man als Schuldeingeständnis

werten. Oder die Schmutzkampagne des politischen Gegners. Üble Unterstellung. Oder wo Sie von gekauften Richtern sprechen. Braubach:  Das war ironisch gemeint. Jerome:  Kommt immer darauf an, wie man das zusammenschneidet. Braubach:  Das ist alles harmloses Zeug, das habe ich mit einer Pressekonferenz vom Tisch gefegt. Jerome:  Sind Sie wirklich so naiv? Wenn Sie das hier nicht die Wahl kostet, was dann? Wollen Sie noch Katzenbabies im Main ersäufen? Sie sind erledigt. Wundert mich eigentlich, dass Sie so vertrauensselig waren. Ist das Paketbotensolidarität? Oder Selbstüberschätzung? Braubach:  Für wen arbeitest du? Jerome:  Ich muss mich echt wundern. Jemand wie Sie, der in jeder zweiten Talkshow raushängen lässt, wie rockymäßig er sich ohne jede Unterstützung nach oben geboxt hat, glaubt nicht, dass andere das auch alleine können? Braubach:  Das machst du hier gerade: dich nach oben kämpfen? Denkst du, du hast gerade Oberwasser? Wegen dieser lächerlichen Aufnahme, auf die du so stolz bist? Glaubst du, du kannst mich mit sowas aufs Kreuz legen? Jerome:  Habe ich gesagt, dass ich schon fertig mit Ihnen bin? Jerome holt sein Handy heraus, beginnt Braubach zu filmen, der seine Hände vor das Gesicht hält. Braubach:  Lass das. Sofort. Jerome:  Wie ist das denn so, wenn man einen Junkie überfährt? Denkt man da, gottseidank, wieder einer weniger? Wichst man sich einen ab, wenn man weiß, dass man der Familie Gutes tun kann, wenn sie lieb und dankbar ist? Braubach:  Lass den Scheiß! Jerome filmt weiter, Braubach steht auf. Jerome:  Okay, keine Antwort, dann kommen wir jetzt auf die Antworten, die Sie vorhin schon gegeben haben, Herr Braubach. Können Sie bitte für die Kamera Ihr Geständnis wiederholen, dass sie beim Unfall zu schnell gefahren sind? Braubach:  Hör sofort auf. Jerome:  Gut, Sie wollen nicht. Dann antworten Sie ab jetzt nur mit „Ja“ oder „Nein“: Haben Sie die Angehörigen besucht, weil Sie sich ihr Schweigen erkaufen wollten? Braubach geht auf Jerome zu, der zurückweicht, dabei aber weiterfilmt. Jerome:  Wollen Sie mich bedrohen? Braubach:  Kamera aus! Jerome weicht immer weiter aus, Braubach wird immer wütender, will immer wieder nach der Kamera greifen. Jerome:  Beantworten Sie bitte meine Frage. Braubach packt Jerome an der Schulter, der schreit übertrieben laut vor Schmerz, wirft dann das Handy mit einer schnellen Handbewegung aufs das Sofa und tritt Braubach mit voller Wucht in den Bauch. Braubach sackt auf dem Boden zusammen. Jerome nimmt das Handy wieder an sich und beobachtet Braubach, der langsam versucht aufzustehen. Jerome:  Drehen Sie jetzt völlig durch? Versuchen mir die Kamera wegzureißen und greifen mich brutal an, ich habe vor Schmerzen geschrien, haben Sie das nicht gehört? Das ist alles dokumentiert. Ich bringe Sie vor Gericht! Braubach steht schweratmend auf. Braubach:  Okay, zugegeben, ich habe dich unterschätzt. Jerome:  Schön, dass Sie das einsehen.

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Braubach:  Punkt für dich. Und jetzt? Jerome:  Sie haben mich angegriffen. Braubach:  Bullshit. Was ist dein Plan? Jerome: Nur nicht ungeduldig werden, es geht weiter. Braubach:  Wie viel willst du haben für das Diktaphon und den Film. Sag einen Preis. Jerome:  Das Gerät hat dreiunddreißig Euro gekostet und der Film ist kostenlos, wenn man ein Smartphone besitzt. Braubach: Du bist ein witziges Kerlchen. Also? Ich sage nicht, dass ich zahle, ich will wissen, was du forderst. Jerome: Sie haben mir nicht zugehört. Ich habe gesagt, wir reden erst über die Revolution und dann über die Kohle. Braubach: Ich bin in meinem Leben schon mit einer ganzen Menge Arschlöcher fertig geworden. Dich überlebe ich auch noch. Wenn du unterste Schublade willst: Kann ich auch. Wir klären das jetzt. Und das ist mein allerletztes Angebot in Frieden. Danach ist Krieg und ich habe mehr Fronterfahrung als du. Du hast nichts auf der Hand. Aber ich kann dir das Leben richtig schwer machen. Richtig schwer … Jerome nimmt drei Orangen aus der Obstschale, jongliert kurz mit ihnen, legt zwei wieder zurück. Dann zieht er ein Messer aus seiner Tasche, öffnet es, eine lange Klinge. Er beginnt die Orange zu schälen. Braubach verstummt, Jerome bietet ihm ein Stück Orange an, beginnt im Folgenden selbst zu essen, besieht sich dabei das Messer, zeigt es Braubach. Jerome:  Das habe ich neulich auf dem Polenmarkt gekauft. Die haben mir erzählt, dass es ein echtes Laguiole ist, fünfzig Tacken habe ich dafür bezahlt, ist aber ein Fake, irgendein Chinaschrott. Das merkt man aber erst, wenn man ganz nah ran geht. Und wenn man Bock auf ein Messer hat, das normalerweise das Dreifache kostet, guckt man eben nicht so genau hin und dann geht das als Original durch. Und irgendwie ist das auch egal, denn es schneidet genauso perfekt wie ein Laguiole. Und es sieht geil aus, oder? Tut es doch. Ist aber hundert Prozent Fake. Braubach:  Wie willst du aus dieser Nummer wieder rauskommen? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht? Jerome:  Ich glaube, die Frage ist, wie Sie aus dieser Nummer wieder rauskommen. Um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen. Und jetzt rufen Sie Ihren Fahrer an und sagen ihm, dass das hier länger dauert. Er kann Feierabend machen, Sie nehmen später ein Taxi. Braubach nimmt sein Handy. Und bitte genau diese Formulierung. Sobald ich

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16.1., 17.1. Amir Reza Koohestani (IR) Summerless

irgendwas höre, was wie ein Codewort klingt, muss ich leider Konsequenzen ziehen. Also einfach nur den Text sagen. Und wenn hier trotzdem Polizei auftaucht, dann könnte es für alle unangenehm werden. Vor allem für Sie. Braubach ruft an. Braubach: Hallo … ja … Sie können Feierabend machen, das dauert länger hier. Ich nehme dann ein Taxi … Nichts zu danken … Tschüss. Jerome: Setzen Sie sich. Jetzt sind Sie mal dran mit dem Stuhl. Und schieben Sie ihn weiter weg von mir. Ich will Ihnen nicht die ganze Zeit das Messer vor die Nase halten. Sie wissen ja, dass es da ist. Braubach setzt sich. Jerome geht zum Fenster, wirft einen kurzen Blick hinaus. Dann schließt er die Haustür ab kommt zurück und legt das Messer neben sich. Braubach:  Und? Fühlst du dich jetzt mächtig und stark? Jerome: Und Sie? Wie fühlt es sich an, einmal komplett ausgeliefert zu sein? Braubach: Okay, Klartext: Ich bin nicht gegen dich. Und ich kann damit leben, dass du stinkwütend bist. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass ich hier mit offenen Armen empfangen werde, nachdem ich deinen Cousin überfahren habe. Du kannst mich nicht ausstehen, auch gut, ich muss nicht geliebt werden, sonst wäre ich im falschen Beruf. Wenn ich etwas anpacke, will ich zu einem Ergebnis kommen, zum bestmöglichsten genauer gesagt. Nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten. Nur das zählt. Wenn ich Verantwortung für etwas trage oder sie übernehme, weil ich denke, dass das richtig ist, ziehe ich das auch durch. Zum letzten Mal: Ich bin nicht schuld an dem, was ­deinem Cousin passiert ist, aber ich übernehme die Verantwortung und versuche seine Situation zu verbessern. Deshalb bin ich hier. Was immer du mit dieser Aufnahme oder dem Video vorhast, wie auch immer du versuchst, aus mir Geld heraus zu pressen … es wird dir nicht helfen, dein Leben zu verbessern. Es wird nicht funktionieren, darüber müssen wir nicht weiter diskutieren. Du kannst das alles ins Netz stellen und das Ding hoch­ kochen. Aber du wirst keinen Cent von mir bekommen. Vielleicht wirst du es schaffen, meinen Ruf zu beschädigen. Vielleicht kann sich irgendjemand mit deiner Hilfe meinen Skalp an die Wand nageln, wenn es richtig schlecht für mich läuft. Aber du wirst weiterhin jeden Morgen deine Pakete aus­ tragen und zwar so lange, bis du in nicht allzu ferner Zukunft durch eine Drohne ersetzt wirst oder die Wut dir deine Galle endgültig zerfressen hat. Wenn es gut für dich läuft. Andernfalls landest du

19.1., 20.1. Sorour Darabi (IR) Savušun

22.1. Macht und Verwundbarkeit IV Propagandagespräche von Boris Nikitin Mit Milo Rau (CH) über Theater und Propaganda

in Kürze im Knast. Nochmal in Großbuchstaben: Du wirst kein Geld bekommen. Und nochmal mit Ausrufezeichen: Dein Leben wird sich nicht verbessern, es wird sich höchstwahrscheinlich verschlechtern, wenn du das hier durchziehst. Es hilft nichts. Verstanden? Deshalb musst du hier keine Welle machen. Wir werden zusammen eine Lösung finden, das verspreche ich dir. Und dazu musst du hier nicht mit einem Messer rumfuchteln, Junge. Jerome lacht. Jerome:  Ihr Problem ist, dass Sie nicht zuhören. Und Sie lesen nicht genau genug. Und deshalb sind Sie komplett ahnungslos. Ich habe doch vorhin gesagt, dass wir über die Kohle später reden und zuerst über die Revolution. Wobei das Ihr Wort ist, ich würde das so nicht nennen. Reden wir über Abschaffung. Oder über die Jagd. Und die läuft seit ziemlich genau zwei Wochen im Netz. Sie stöbern sicher nur so ein bisschen in Ihren Hassmails herum, regen sich über Beleidigungen auf und dann müssen Sie sich wahrscheinlich dringend die Hände waschen wegen dem ganzen Schmutz. Wenn Sie aufmerksamer gelesen hätten, wären Sie nie auf die Idee gekommen, hier aufzutauchen. Denn dort steht das Urteil über Sie längst fest. Sie sind ein Politiker, der sich strafbar gemacht hat und trotzdem ungeschoren davon kommt, weil er die richtigen Leute kennt und an den Hebeln der Macht sitzt. So sieht es in unserem Land heutzutage aus. Deshalb muss ab sofort der Kampf gegen das System härter werden, gnaden­ loser. Dafür stehen Sie. Sie und die ganzen Eliten. Ihr habt die rote Linie überschritten. Wir reagieren nur. Wenn die Justiz für eure Schweinereien nicht mehr zuständig ist und die Systempresse euch deckt, dann müssen wir das selbst in die Hand nehmen. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand Pflicht. Und Selbstjustiz. Das ist das Urteil und das haben Sie und Ihr lahmes Checkerbüro einfach überlesen. Sie stehen ganz oben auf der Liste der Volksverräter, Herr Braubach, und die Wut wird jeden Tag größer. Das steht überall und Sie tauchen hier auf und versprechen Lehrstellen oder Hilfe beim Ämterbesuch oder womit auch immer Sie meine Tante vollgesülzt haben. Braubach:  Wenn ich diese ganze Jauche ernst ­nähme, könnte ich überhaupt nicht mehr auf die Straße. Jerome: Wenn Sie das ernst genommen hätten, ­säßen Sie jetzt nicht hier, mit einem wütenden Menschen, der ein langes, scharfes Messer hat und eine Mission. Sie sind in einer richtig unangenehmen Lage und sie haben nicht mehr die Kontrolle, haben Sie das überhaupt schon kapiert?

23.1., 24.1., 25.1., 26.1., 27.1. Les Reines Prochaines & Freund*innen (CH) Let‘s Sing, Arbeiterin! 26.1. Klaus Johann Grobe (CH)

www.kaserne-basel.ch


lutz hübner und sarah nemitz_furor

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Braubach: Du versuchst mir Angst zu machen, um an deine Kohle zu kommen … Jerome geht mit zwei schnellen Schritten zu Braubach, verpasst ihm eine kräftige Ohrfeige, Braubach rutscht vom Stuhl. Jerome steht kurz über ihm, setzt sich dann wieder. Jerome:  Tut mir leid, aber anders scheinen Sie es nicht zu kapieren. Und bleiben Sie auf dem Boden, ist mir lieber. Es geht nicht um die Kohle, um die ging es nie, das war nur ein Gesprächsthema, d ­ amit Sie bleiben. Ich habe nie damit gerechnet, dass Sie sich erpressen lassen, ich bin doch nicht bescheuert, aber so sind wir ins Gespräch ge­kommen. Du sagst einer schönen Unbekannten ja auch nicht als erstes, dass du sie ficken willst, oder? Man muss ein Thema finden, das einen interessant macht und irgendwann kommt man aufs ­Wesentliche. Braubach:  Und was ist das Wesentliche? Jerome:  Das ist die große Frage. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, ich bin noch unentschlossen. Seit zwei Wochen überlege ich, wie ich Sie drankriege. Damit bin ich übrigens nicht allein, es gibt schon jede Menge Vorschläge, wie man Ihren Wahlkampf stören kann. Ich wollte Sie stellen, auf irgendeinem Marktplatz, oder wenn Sie in der Fußgängerzone Rosen verteilen und da sagt mir die gute Nele, dass Sie hier vorbeikommen wollen. Hatte ich nicht mit gerechnet. Dann bleiben Sie auch noch, als ich ankomme und meine Forderung stelle. Weil Sie denken, dass man alle Probleme der Welt weglabern kann. Sie glauben an die Macht des Wortes und Sie haben sich in meine Hand begeben. Eine Schicksalsentscheidung. Und sagen Sie nie wieder, dass Sie keine Schuld haben, das langweilt mich langsam. Braubach:  Willst du mir nicht mal sagen, worum es dir geht? Brauchst du einen Sündenbock? Jerome: Vielleicht nennen wir es besser Verantwortung. In einem größeren Rahmen. Denn du stehst für das System, das dieses Volk verraten hat und dieses Land üblen Mächten ausliefert. Wer mitmacht, ist verantwortlich. Ich hab mir angesehen, was du so gemacht hast. Ich sage nicht, dass du einer von den Schlimmsten bist und manche Sachen sind sogar gar nicht so dumm … Braubach:  Danke. Jerome:  … aber trotzdem gehörst du dazu. Du gehörst zu einem System, dass dafür sorgt, dass dieses Land und unser Volk den Bach runtergehen. Und du hast dich wie jemand verhalten, der weiß, dass er Teil des Systems ist. Und genau da kommt in meiner Welt das Wort Moral vor: Sie tragen ­moralische Schuld am Elend in diesem Land und dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen.

Braubach:  Und wie? Jerome:  Weiß ich noch nicht. Sage ich doch. Muss ich denn alles zweimal sagen? So kommen wir hier nicht voran. Braubach:  Okay. Eines nur: Ich bin nicht für dein Leben verantwortlich. Du hast entschieden mit sechzehn die Schule zu schmeißen, weil du Krach mit deinem Vater hattest, weil Schule was für Loser ist oder weil du ein Mokick wolltest, damit du die Mädchen beeindrucken kannst. Diese verdammte Ignoranz der Arbeiterklasse, die schon immer stolz darauf war Chancen einfach verstreichen zu lassen, weil das die strunzdummen Väter auch schon so gemacht haben, diese ganzen falschen Entscheidungen … Soll ich dafür die Verantwortung übernehmen? Ich bin auch mit sechzehn von der Schule ab, großer Fehler, und irgendwann ­später merkt man, dass der Zug abgefahren ist und dann fängt man an zu saufen oder resigniert oder ist wütend, so wie du jetzt. War ich auch mal, beeindruckt mich nicht. Das Leben ist nicht gerecht. Aber du kannst nicht einfach irgendjemanden ­dafür verantwortlich machen. Oder den Staat. Es gibt keine gerechte Gesellschaft, höchstens Näherungswerte und selbst die gibt es nur in einer Demokratie, jede Alternative führt zu Gewalt und Unterdrückung. Die Demokratie gibt dir die Chance, dein Leben auf eigene Rechnung zu versauen oder etwas daraus zu machen. Wenn du einen ­Vater Staat willst, der dir jeden Abend Gute Nacht sagt und dafür sorgt, dass du schön zugedeckt bist, wird er eines Nachts kommen, um dich im Schlaf zu erwürgen. Übernimm Verantwortung für dein Leben, dann können wir weiterreden. Jerome:  Davon kommen Sie nicht runter, was? Braubach:  Wovon runter? Jerome:  Von dieser Denke, Sie können sich keine andere vorstellen. Deshalb verstehen Sie mich auch nicht. Sie können sich nicht vorstellen, dass das, was Sie und Ihre Kollegen machen, einfach nur falsch ist. Braubach:  Entwickle erst mal ein paar Ideen, bevor du mit den großen Hunden pissen willst. Jerome:  Ich rate Ihnen zum letzten Mal, zuzuhören. Wenn ich einen Blick auf dieses Land werfe, läuft alles falsch. Und ich bin nicht allein mit dieser Ansicht. Ich stehe für viele. Das ist das „Wir“ nach dem Sie gefragt haben. Wir, das ist das Volk. Müssten Sie kennen. Ist das angekommen? Und ich rede nicht nur von Deutschland. Etwas läuft falsch auf dieser Welt, mit der Wirtschaft, der Politik, mit der Art und Weise, wie man Menschen behandelt und das macht mich und viele andere sehr wütend. Sie sagen, ich bin selbst schuld. Sie sagen,

25. 1. 2019, 20 Uhr Uraufführung 26., 28. & 29. 1. 2019, 20 Uhr / 27. 1. 2019, 19 Uhr

SPLITTER

Soloperformance von Michail Fotopoulos Tickets & Infos: (030) 754 537 25 . www.ballhausnaunynstrasse.de

es gibt keine Alternative, oder nur schlechtere – womit Sie sagen wollen, dass ich mein Maul halten soll, bis mir etwas Besseres einfällt oder bis ich eingesehen habe, dass ich Fehler in meinem Leben gemacht habe ­– was in Ihrer Logik heißt, dass ich für immer mein Maul halten soll. Ich rede nicht von Alternativen, sondern von Abschaffung. Verstehen Sie? Weg. Aus. Fertig. Abschaffung. Sie und Ihre Leute begreifen nicht, dass Zerstörung ein schlagkräftiges politisches Konzept ist. Der ganze Scheiß muss weg, das ist ein unheimlich befreiender, inspirierender Gedanke. Braubach: Das ist was für Sechzehnjährige. Da kann man so rumbollern. Du wirst dreißig, Junge, du bist langsam zu alt für Randale. Jerome:  Randale wäre es, wenn ich Sie nur niedermache, weil mich Ihr Arbeitergetue nervt oder weil Sie ein besonders schlechter Mensch sind. Aber wir reden über politische Konzepte und da sind Sie einfach nur der Feind und den kann und muss man vernichten, weil er eben der Feind ist. Hass und Wut sind da nur Kraftfutter und Nervennahrung, damit man es zu Ende bringen kann. Was zählt, ist die Abschaffung des Feindes. Und der Feind sind die Eliten. Also Leute wie Sie. Bisher hat es in diesem Kampf noch keine Toten gegeben, aber es gibt eine Bereitschaft, Tote in Kauf zu ­nehmen. Auch das hätten Sie bei aufmerksamer Lek­türe feststellen können. Oder bei einem Blick auf die Bilder: Wenn bei einer Kundgebung ein Galgen herumgetragen wird, der für einen Politiker reserviert ist und niemand schreitet ein, dann gibt es ein Einverständnis. Klar, jeder würde sagen, der Galgen ist nur ein Symbol, blabla, aber er ist nun mal ein Symbol für eine Hinrichtung. Also wird es irgendwann eine geben müssen, damit man die nächste Stufe zünden kann: Vielleicht brauchen wir einen toten Politiker und vielleicht ist die Gelegenheit nie wieder so günstig wie jetzt. Sie tauchen hier auf, wollen die Familie bestechen und ich m ­ ache Sie fertig, weil ich Gerechtigkeit will. Ich würde Sie töten, weil sonst niemand in diesem Land für Gerechtigkeit sorgt. Ich wäre für Ihre Staatsmedien ein Monster, aber für viele andere, für meine Leute, wäre ich ein Held. Ein Mann der Tat. Das Grab der Rathenaumörder wird bis heute geschmückt, wussten sie das? Gewalt ist nun mal ein effektives Mittel der Konfliktlösung, auch wenn das weichgespülte Humanisten wie Sie anders ­sehen. Vor allem wenn das Motiv edel ist, glauben Sie nicht? Stille. Jerome:  Was meinen Sie? Braubach:  Es reicht.

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stück

Kuratieren in den szenischen Künsten Universitätslehrgang der Universität Salzburg mit Modulen an der LMU München Start: Oktober 2019 Bewerbungsfrist: 01.05.2019 www.szenisches.kuratieren.sbg.ac.at

Jerome:  Es reicht? Braubach: Es reicht mir, hör auf mit deinem ­Geschwalle. Ich rede nicht mehr mit dir. Verschon mich mit deinen Monologen. Warum soll ich mir das anhören? Du hörst mir auch nicht zu. Es ist komplett sinnlos. Du willst mir imponieren? Das kannst du nicht. Ich bin es leid. Jerome:  Kein Dialog mehr? Braubach:  Das war nie einer. Jerome: Okay. Braubach:  Finde selbst raus, was du willst. Jerome:  Genau das habe ich vor. Braubach:  Klang nicht so. Jerome:  Ist aber so. Braubach:  Du willst mich töten. Oder nicht. Vielleicht. Deine Tante kommt bald zurück. Ist die dann auch dran? Soll das hier so eine Art Game of Thrones werden? Ein Blutbad für die große Sache? Darüber schon mal nachgedacht? Vielleicht sind solche Sachen in der Realität dann doch nicht so heldenhaft, wie man vorher denkt. Jerome:  Sie nehmen mich nicht ernst. Braubach:  Ich versuche es. Von ganzem Herzen. Wirklich. Jerome:  Ich handle schließlich ganz in Ihrem Sinne. Ich nutze meine Chance. Denn Sie sind eine Chance für mich, egal, wie das hier ausgeht. Nicht ganz so wie Sie mit ihrer kitschigen Achtziger Ballade vom Paketboten, der Oberbürgermeister werden will, aber im Prinzip geht es nur darum, im Scheinwerferlicht ein richtig großes Rad zu drehen. Ein starker Wille, eine große Wut. Das kennen Sie doch, oder? Sie sehen sich an. Braubach:  Wo soll ich denn da anfangen? Das ist

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alles komplett sinnlos. Hör zu, wir warten jetzt auf deine Tante und dann solltest du irgendwann mal mit einem Profi sprechen. In einer schnellen Bewegung tritt Jerome den Tisch um, brüllt, greift nach dem Messer und richtet die Klinge auf Braubach, der ebenfalls aufgesprungen ist, den Stuhl hochreißt und in kampfbereiter Stellung schützend vor sich hält. Jerome hält seine Angriffsstellung, geht dann langsam einen Schritt Richtung Braubach, der seine Stellung ebenfalls noch einmal korrigiert. Dann verharren beide für eine lange Zeit eingefroren in dieser lauernden Stellung. Jerome:  Angst? Ein langsamer Schritt von Jerome, auch Braubach korrigiert seine Stellung leicht. Ja, Sie haben Angst, Sie schwitzen vor Angst. Ist das geil. Der große Braubach scheißt sich ein. Braubach lässt den Stuhl sinken. Jerome lacht, lässt das Messer etwas sinken. Braubach:  Okay, dann mach. So ein großer, alter Mann wie ich hat viel Blut, das wird eine Riesensauerei, das gibt keine schönen Bilder, das sieht nach Schlachthaus aus und die Einzigen, die das gut finden, sind Psychos. Dein großes „wir“ gibt es nicht, vor allem keines, das diese Tat bewundern wird, du wirst genauso schnell vergessen wie der Kerl, der in England diese junge Politikerin getötet hat. Kennt keiner mehr, den bewundert keiner. Jetzt denkst du, du hast deine Kameraden, deine Volksgenossen oder was auch immer hinter dir. Im Knast hast du niemanden mehr, dann bist du erst recht, was du jetzt schon bist: allein. Und du weißt es. Du weißt, dass das alles hier nicht funktioniert. Du hast keinen Plan, hattest nie einen, du hast nicht die geringste Ahnung, wie du hier rauskommen sollst. Wenn einer hier Angst hat, dann du. Jerome:  Sie kennen mich nicht, Sie haben keine Ahnung von mir. Braubach:  Und wenn doch? Jerome: Jetzt kommt die Psychotour, schon kapiert. Sie wollen Ihren Arsch retten. Braubach:  Da haben wir doch was gemeinsam. Jerome:  Ich habe nichts mit Ihnen gemeinsam. Nichts. Braubach: Wäre mir auch lieber Kurze Stille. Kämpfen wir. Jerome: Wie? Braubach:  Kämpfen wir wie Männer. Hast du dich nie geprügelt? Macht man das nicht als Hater? Ich kann mich prügeln. Ich bin älter, du bist schneller, aber ich habe sicher mehr Erfahrung im Kämpfen. Ein fairer Kampf. Leg das Messer weg und wir ­klären das unter Männern. Jerome:  Ich mache hier keinen auf Männerehre. Braubach:  Zu feige dafür?

Jerome:  Netter Versuch. Braubach:  Zuschlagen kannst du, das hast du bewiesen. Wenn dein Gegner unvorbereitet ist. Dann kämpfe jetzt, wenn dein Gegner vorbereitet ist. Jerome:  Warum soll ich Ihnen die Chance geben, an mein Material zu kommen? Dann machen Sie mich fertig, haben Sie gesagt. Jetzt kann ich entscheiden. Dann würden Sie entscheiden. Braubach:  Warum sollte ich das Risiko eingehen, mich an dir zu rächen? Im Wahlkampf? Da habe ich genug um die Ohren. Jerome: Weil ich sie gedemütigt habe. Weil ich Ihnen bewiesen habe, dass Sie ein verlogenes ­ Arschloch sind wie alle Ihre Kollegen auch. Braubach sieht Jerome lange an, dann setzt er sich auf das Sofa. Braubach:  Mir reicht es. Mach, was du willst. Ich bin draußen, ich habe keine Lust mehr, mich zu wiederholen. Mit dir nicht … nein überhaupt nicht, ich lasse mich nicht mehr beschimpfen, von dir nicht und von niemandem für den Politiker nur die Prügelknaben sind oder die Oberschurken, damit man sich so richtig als Opfer fühlen kann und nicht nachdenken muss. Wir beenden das jetzt. Der Hass langweilt mich und die Dummheit, die verzerrten, hässlichen Gesichter mit den Trillerpfeifen auf den Marktplätzen, das verstümmelte Deutsch dieser Patrioten, die keinen Hauptsatz zu Ende kriegen, das Gekeife der Zukurzgekommenen, die glauben, ein Recht zu haben, uns zu beschimpfen. Der Mob langweilt mich. Früher dachte ich, man kann argumentieren, heute verstehe ich, warum manche Diktatoren auf die Idee kommen, ihr Volk zu unterdrücken – damit man endlich Ruhe hat von dem ständigen Gemecker. Reg dich nicht auf, das war ein Witz. Schließen wir es ab. Versuchen wir es zumindest. Wenn nicht, ist es auch egal. Ich will bloß nichts mehr hören. Hast du noch Mordgedanken? Dann sag es jetzt, damit ich mich darauf einstellen kann. Jerome klappt die Klinge zu, steckt das Messer ein. Danke, das macht vieles einfacher. Jerome:  Was ist das jetzt für eine Tour. Braubach: Dafür bist du noch zu jung, das verstehst du erst, wenn du dreißig Jahre einen Stein einen Berg hinauf gerollt hast. Jerome:  Und das heißt? Braubach:  Das heißt, dass der Gedanke, dass alles einfach zusammenbricht, langsam einen gewissen Reiz entfaltet: nicht wieder auf die Ochsentour, kein Geschrei, keine Teams, du kannst deinen Budenzauber im Netz veranstalten, die Trolle feiern eine Party und ich lasse meinen Computer einfach aus und wenn mich jemand anfurzt, kann ich ihm

Künstlerhaus Mousonturm Januar 2019 IM*POSSIBLE BODIES #2. VERSUCH EINER DEKONSTRUKTION, 17.–20.1.

Mit Nuray Demir, Vanessa E. Thompson, Simone Dede Ayivi, Gloria Wekker, Carmen Mörsch, Joana Tischkau, Ulf Otto, Diversity Arts Culture – Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung, Swoosh Lieu, *foundationClass, Ogutu Muraya, Moses März, Natalie Bayer, Zinzi Minott, Nashilongweshipwe Mushaandja, Elsa M’Bala, Bola Ifa, Julia Wissert, Imad Mustafa, Rosana Cade, Ivor MacAskill, Rohit Jain, frankfurt postkolonial, Julian Warner (Hauptaktion), Elisa Liepsch u.a.

FRANKFURTER POSITIONEN 2019. GRENZEN DER VERSTÄNDIGUNG, 24.1.–8.2. Daniel Cremer The Miracle of Love/Das Wunder der Liebe 27.1.–13.2. / Lia Rodrigues Companhia de Danças Fúria 24.–26.1. / Jetse Batelaan/Theater Artemis (…..) 31.1.–2.2. / Nicolas Henry A Place in the Sun 29.1., 2. & 3.2. Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main


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als Privatmann einfach eine aufs Maul hauen, das ist viel gesünder. Jerome:  Was gibt das denn? Braubach: Okay, spielen wir dein Spiel zu Ende. Wir fahren zu einem Geldautomaten, ich hebe so viel ab wie möglich ist, du gibst mir das Aufnahmegerät, löschst den Film und gehst als Sieger vom Platz. Oder behalte den Kram, dein Ding, ich will jetzt nach Hause. Jerome:  So einfach geht das nicht. Braubach: Doch! So einfach geht das! Ich will nach Hause und ich scheiß auf dich und dein gefälschtes Angebermesser! Jerome:  Ruhe! Ich muss nachdenken! Man hört den Haustürschlüssel im Schloss. Nele kommt herein, sieht das Chaos in der Wohnung.

4. Szene Nele (zu Jerome):  Was war hier los? Wieso hast du abgeschlossen? Was hast du gemacht? (zu Braubach) Alles gut bei Ihnen? Jerome:  Wir haben verhandelt, weißt du doch. Nele:  Ich hab Augen im Kopf. Stell den Tisch wieder auf. Jerome:  Was soll das denn jetzt? Nele:  Kannst du einmal machen, worum ich dich bitte? Ist das so schwer? Einfach mal Ruhe geben und tun, was man dir sagt? Kannst du das? Jerome zögert kurz, stellt dann den Tisch wieder auf. Jerome:  Zufrieden? Ich habe doch nur … Nele:  Ich habe dich gerade gebeten, still zu sein, oder? Es interessiert mich nicht, erklär mir nichts, ich brauche überhaupt nichts von dir. Muss ich noch deutlicher werden, damit du das kapierst? Jerome:  Du kapierst nicht … Nele:  Sag mal hörst du schwer!? (zu Braubach) Ich bin froh, dass Sie noch da sind, Herr Braubach. Ihr Wagen ist weg, da dachte ich schon. Was immer mein Neffe gesagt hat, es war nicht mit mir abgesprochen, was immer hier passiert ist, ich habe davon nichts gewusst, habe es nicht gewollt und wenn er irgendwelche Dinger versucht hat, die strafbar sind, dann ist das seine Verantwortung. Ich hätte Sie nicht mit ihm alleine lassen sollen, das war ein großer Fehler … Jerome:  Jetzt hör doch auf, Nele. Ich habe nur versucht … Nele: Halt den Mund, verdammt nochmal! Du haust jetzt ab und zwar sofort. Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dir. Du versuchst hier, den Mann zu erpressen, der mir helfen will, du bist komplett durchgedreht. Deshalb hast du dich

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auch die letzten Wochen so um Enno und mich gekümmert. Damit du hier deine Spielchen durchziehen kannst. Ich dachte, dir geht es um uns, aber es geht immer nur um dich, immer, um deine dummen Ideen, die nie etwas taugen, das ist immer nur unausgegorener Blödsinn. Jerome:  Wir haben überhaupt nicht über Kohle … Nele:  Ich rede! Du wirst jetzt diese Wohnung verlassen und du wirst hier nicht mehr auftauchen, ist das klar? Ich werde jetzt mit Herrn Braubach klären, was wir für Enno tun können. Darum geht es hier nämlich und nicht um dich. Du bist ein hoffnungsloser Fall, also geh mir aus den Augen und richte nicht noch mehr Schaden an. Jerome:  Ich kämpfe doch für dich! Nele:  Hausschlüssel. Jerome zögert, dann macht er einen Schlüssel von seinem Bund. Irgendwas, das Sie noch mit ihm klären wollen? Braubach:  Er weiß, was wir noch zu klären haben. Jerome:  Soweit kommt’s noch. Jerome wirft den Hausschlüssel vor Nele auf den Boden. Jerome:  Das wirst du bereuen, glaub mir. Ihr beide. Nele: Ich bereue schon eine ganze Menge, was dich betrifft. Und jetzt raus. Die Erwachsenen wollen reden. Jerome geht, knallt die Tür zu. Nele setzt sich auf das Sofa, sie zittert. Was hat er mit Ihnen gemacht? Braubach:  Nicht wichtig. Nele:  Sie können mir alles sagen, ich werde ihn nochmal zur Rede stellen. Er soll sich bei Ihnen entschuldigen. Braubach:  Darum geht es nicht. Nele:  Wie meinen Sie das? Braubach:  Sie hätten nicht gehen oder Sie hätten nicht wiederkommen sollen. Nele:  Das verstehe ich nicht. Braubach lacht. Braubach:  Egal, zu spät. Nele: Wofür? Braubach:  Ich werde Ihnen helfen. Soweit das in meiner Macht steht. Wie weit die reicht, hängt leider auch von Ihrem Neffen ab. Nele:  Das kann doch nicht sein. Wie kann ein kleiner Paketbote Ihnen schaden? Sie sind ein gestandener Politiker, mit dem werden Sie doch fertig. Braubach:  Das hätte ich vor ein paar Jahren auch noch gesagt. Nele:  Was ist hier passiert? Braubach:  Das hat nichts mit Ihnen und Enno zu tun. Er hat … wie soll ich das nennen … vielleicht ist das hilfreich, dass man dem mal ins Auge blickt. Nele:  Wenn es von Jerry abhängt: Ich kann nochmal mit ihm reden. Im Grunde genommen ist er ein lieber Kerl.

Braubach:  Ja, alle Ihre Jungs sind nette Kerle. Nele:  Ich meine nur, wenn es irgendetwas hilft. Braubach:  Ich werde schon damit fertig werden. Ich weiß nur noch nicht wie. Aber es gibt für alles Strategien. Ich muss jetzt gehen. Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben? Nele: Natürlich. Nele schenkt ihm Wasser nach, Braubach sieht aus dem Fenster. Braubach:  Was für einen Wagen fährt Jerome? Nele:  Einen grünen Corsa, er steht direkt vor dem Haus. Nele gibt Braubach ein Wasserglas, sieht aus dem Fenster. Da stand er. Er ist gefahren. Braubach holt sein Handy heraus, ruft an:  Guten Abend, ich brauche ein Taxi in die Riebenheimer Landstraße. Nummer? Nele:  Zweihundertneunzehn. Braubach: Zweihundertneunzehn. Danke. Nein, ich warte unten. Nele:  Ich hätte ihn rausschmeißen sollen. Braubach:  Dann hätte ich ihn woanders getroffen. Wir bleiben in Kontakt. Sprechen Sie nicht mit der Presse, egal, was passiert und halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn Ihnen irgendwas auffällt, was Ihren Neffen betrifft. Braubach legt auf, ein Moment der Stille. Nele:  Sie werden mich nicht für irgendetwas büßen lassen, was mein Neffe verbrochen hat, ­ oder? Braubach:  Wie kommen Sie darauf? Nele: Tut mir leid, ich habe wahrscheinlich einfach Angst. Braubach:  Wer hat die nicht. Braubach steht auf, holt seine Jacke. Nele:  Danke, dass Sie gekommen sind. Braubach:  Danke für das Wasser. Braubach geht und schließt leise die Tür. Black

© 2018 Hartmann & Stauffacher, Köln

Oblivia

Children 18. + 19.1. and Other Radicals

fft-duesseldorf.de

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Magazin Von Volksfreunden und Volksfeinden Der Europäische Theaterpreis geht in diesem Jahr an den Regisseur Valery Fokin. Ein falsches Signal?  Ändere die Welt, sie braucht es! Durch seine Bemühungen um den Transfer von Theorie und Praxis bringt das Centre of Competence for Theatre frischen Wind in die Theaterwissenschaft

Geschichten vom Herrn H. Bertolt Brecht, Meister der Unzucht und Führer der Konterrevolution Beunruhigung auf allen Seiten Das Ballhaus Naunynstraße in Berlin feiert unter der Leitung von Wagner Carvalho zehn Jahre „postmigrantisches“ Theater  Die Situierung des Betrachters Beim PAP-Branchentreff im Theaterdiscounter Berlin diskutieren die freien darstellenden Künste den schillernden Begriff der Qualität  König des Zwielichts Zum Gedenken an den großen Schauspieler Rolf Hoppe  Bücher Steffen Mensching, Leipzig

Peter Jammerthal und Jan Lazardzig


magazin

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Von Volksfreunden und Volksfeinden Der Europäische Theaterpreis geht in diesem Jahr an den Regisseur Valery Fokin. Ein falsches Signal? Preisfrage: Wer wählt eigentlich den Haupt-

bereit ist, ihn auszurichten“, erklärt Marina

Künstler mundtot gemacht werden soll. Marina

preisträger des Europäischen Theaterpreises?

Davydova. Soll heißen: Vermutlich handelt ­

Davydova hält es daher für das falsche Signal,

Zum besseren Verständnis: Neben der mit

Generalsekretär Martínez mit Vertretern der

den Europäischen Theaterpreis in ihrer Heimat

15 000 Euro dotierten, 1986 durch die EU-

Gastgeberstadt den Preisträger aus, worauf-

gastieren zu lassen: Mit der Wahl des Haupt-

Kommission initiierten und jährlich verliehe-

hin die Altherrenrunde um Lang den Auser-

preisträgers werde letztlich das Regime unter­

nen Auszeichnung gibt es eine Reihe weiterer

wählten durchwinken darf.

stützt. Aber was wären die Alternativen?

Preisträger in der Kategorie „Neue theatrali-

Angesichts solcher Praktiken stellt sich

sche Realitäten“. Diese sogenannten Innova-

die Frage, ob es klug war, den Europäischen

Jan Klata ist entschieden dagegen. Be-

tionspreisträger werden von einer Jury ausge-

Theaterpreis nach Sankt Petersburg zu ver­

straft würde damit vor allem das russische

sucht, die mit Fachleuten wie der russischen

geben. Klar, dem Preis ist der Völkerverstän­

Publikum, das nicht staatskonforme Kultur

Theaterkritikerin Marina Davydova und dem

digungsgedanke eingeschrieben, da scheint

gerade jetzt dringender brauche denn je.

Hamburger Thalia-Theater-Intendanten und

es durchaus geboten, auch zu Russland den

­Klata gastierte in Sankt Petersburg mit seiner

Präsidenten des Internationalen Theaterinsti-

Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen.

Inszenierung von Henrik Ibsens „Ein Volks-

tuts Joachim Lux besetzt ist. Angesprochen

­Allerdings ist dafür dann auch ein Hauptpreis­

feind“. Ein Stück, wie gemacht für die gegen-

auf die Vergabe des Hauptpreises, winkt Lux

träger wie Valery Fokin in Kauf zu nehmen,

wärtige Situation in Polen, wo sich die Mehr-

jedoch ab: Damit habe die Jury, der er ange-

dessen biedere Bühnenadaption von Jaroslav

heit der Bevölkerung in einer demokratischen

hört, nichts zu tun! Aber wer dann?

Hašeks Roman „Der brave Soldat Schwejk“,

Wahl für eine Regierung entschieden hat, die

Im Programmbuch findet sich auf über

die im Vorfeld der Verleihung gezeigt wurde,

die Demokratie aushebelt. Auch Ibsens Volks-

zweihundert dicht bedruckten Seiten kein

kaum dazu angetan war, als Ausweis preis-

feind hadert mit der Mehrheitsmeinung. In

Hinweis auf ein entsprechendes Gremium.

würdiger Regiekunst durchzugehen. Noch

Klatas Inszenierung hält Titeldarsteller Juliusz

Nur die Mitglieder der Innovationspreisjury

schwerer wiegt, dass Fokin als treuer Putin-

Chrząstowski eine improvisierte Rede, die in

sind aufgelistet. Frage daher – nach ergebnis-

Anhänger gilt, der seiner Gefolgschaft mit öf-

jeder Vorstellung anders ausfällt. In Sankt

loser Lektüre des Programmwälzers – an den

fentlichen Erklärungen Ausdruck verleiht.

­Petersburg schlug er einen Bogen vom Stück

Pressestab des Preises: Wer hat beschlossen,

Nun steht der 72-Jährige neben respektablen

über die Lage in Polen bis hin zu Putins Russ-

Valery Fokin, den Intendanten des Sankt

Innovationspreisträgern wie dem Portugiesen

land. „Kennen Sie Kirill Serebrennikow?

Petersburger Alexandrinski-Theaters, beim ­

Tiago Rodrigues, dem Franzosen Julien Gos-

­Kennen Sie Milo Rau?“, fragte der Volksfeind

17. Europäischen Theaterpreis zu ehren (rein

selin und dem Flamen Sidi Larbi Cherkaoui.

das Petersburger Publikum. Es war der span-

zufälligerweise in dessen Heimatstadt, die

Auch Milo Rau gehörte zu den Ausgezeichne-

nendste Moment beim Europäischen Theater-

diesmal als Gastgeberort auserkoren wurde)?

ten, war im autokratischen Russland jedoch

preis 2018, der in einem Land gastierte, das

Antwort: Anerkannte Theaterpersönlichkeiten.

unerwünscht. Nach seinen „Moskauer Prozes­

auch einige der Preisträger wie Volksfeinde

Aha!? Das hätte man dann doch gerne

sen“ war der Schweizer mit einem Einreise-

behandelt. //

genauer gewusst. Auf Nachfrage verweist die

verbot belegt worden. Erst kurz vor der Preis-

Presseabteilung schließlich auf das „Advisory

gala wurde es aufgehoben. Zu spät.

Board“ von Preispräsident Jack Lang, einst

Fokin und Rau in einem Preisjahrgang?

französischer Kulturminister unter François

Das fand nicht nur Marina Davydova proble-

Mitterrand. Dem 79-Jährigen steht ein Klub

matisch. „Wir können nicht einfach schwei-

aus Theater-Elder-Statesmen zur Seite, außer­

gen und so tun, als wäre Milo Rau hier“, fin-

dem Alessandro Martínez, Generalsekretär

det auch der polnische Regisseur Jan Klata,

des Preises, der als Hauptorganisator gilt.

ebenfalls Innovationspreisträger 2018. „Wir

„Finanziell hängt der Europäische

können außerdem nicht so tun, als wäre Kirill

Thea­terpreis von der jeweiligen Stadt ab, die

Serebrennikow hier.“ Der russische Theatermacher war einer der Vorjahrespreisträger. Bereits damals stand er unter Hausarrest.

„Kennen Sie Kirill Serebrennikow?“ – Jan Klata nutzte das Gastspiel seines „Volksfeinds“ für ein deutliches politisches Statement. Foto Stary Teatr

Jetzt muss er sich gegen fadenscheinige Vorwürfe vor einem russischen Gericht verteidigen. Angeblich hat er Gelder veruntreut. Wahrscheinlicher ist, dass er als kremlkritischer

Boykott?

Christoph Leibold

Joël Pommerat

Kreise/Visionen

regie: Frank Behnke e.t.a.-Hoffmann-theater Bamberg Premiere: 25. Januar 2019

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

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Ändere die Welt, sie braucht es! Durch seine Bemühungen um den Transfer von Theorie und Praxis bringt das Centre of Competence for Theatre frischen Wind in die Theaterwissenschaft Leipzig Das CCT-Team – v.l.n.r.: Claudius Baisch, Dana Soubh, Günther Heeg, Jördis Hoffmann, Henrike Schmidt (vorn), Helena Wölfl, Micha Braun, Andrea Hensel, Caroline Krämer, Sophia-Charlotte Reiser und Carolin Schön.

Dass Leipzig eine lebendige Theaterstadt ist,

wurden zwei neue Studiengänge geschaffen,

steht außer Frage. In nahezu allen Bezirken

die das Profil der Institution schärfen sollten.

finden sich zahlreiche klassische, aber auch

Theaterwissenschaft „transdisziplinär“ und

ungewöhnliche Spielstätten – Puppentheater,

„transkulturell“ heißen die neuen Theorie-

Experimentierräume, Pop-up-Theater – sowie,

Praxis-Transfers. Ein bisschen nach ange-

unverrückbar und zuverlässig, Traditions­

wandter Theaterwissenschaft, wie sie in Gießen

häuser wie das Schauspiel und die Oper.

und Hildesheim vermittelt wird, klingt das

­Inmitten des Zentrums liegt das Institut für

schon. In Leipzig steht allerdings nicht die

Theaterwissenschaft – ein Ort, der 2014 von

Reflexion über das Kunstprodukt an sich im

Schließung bedroht und hart umkämpft war,

Mittelpunkt, sondern das Verhältnis von

Die Schwerpunkte des Zentrums liegen neben

dann aber doch mit großem Optimismus

Thea­tertheorie zur Aufführung.

der Forschung auch auf der Vermittlung und

Foto CCT / Universität Leipzig / Swen Reichold

weitergeführt werden konnte. Es hätte Ein­

Um diesen Ansatz weiter zu verfolgen

Vernetzung. Wichtiger Ausgangspunkt ist

sparungen geben sollen. Laut den Forde­

und auch aus einer Not heraus, Kooperations-

­dabei stets der bereits am Institut erblühte

rungen des Sächsischen Wissenschaftsminis-

verträge mit Partnern zu erhalten, die für die

Zweig des „transkulturellen Theaters“, wel-

teriums hätten ab 2015 drei (von vier)

Praxismodule der Studiengänge unverzicht-

ches von einer modernen Gemeinschaft als

Professorenposten sowie zwei Mitarbeiterstel-

bar sind, wurde 2016 das Centre of Compe-

Transitzone ausgeht, in der neue Formen des

len gestrichen werden müssen. Das hätte das

tence for Theatre (CCT) von Günther Heeg

Austauschs stattfinden und somit auch neue

Institut nicht verkraftet. Die drohende Schließ­

als Direktor und dem wissenschaftlichen

Varianten des theatralen und auch des wis-

ung zog Proteste und Petitionen zahlreicher

­Geschäftsführer Micha Braun ins Leben geru-

senschaftlichen Transfers entstehen.

Unterstützer mit sich. „Theaterwissenschaft

fen. Der Name klingt vielversprechend. Das

Ein Herzensprojekt, an dem sich der

bleibt!“ – dieses Transparent hing unüber­

CCT (sprich si si ti) befindet sich in der Stroh-

Transfer von Theorie und Praxis nachhaltig

sehbar wie eine Warnung von einem Fenster

sackpassage, nur einen Steinwurf entfernt

bemerkbar machte, war das Festival „Will-

des Gebäudes herab. Eine ausführliche

vom Hauptstandort des Instituts. Neben dem

kommen Anderswo III – sich spielend begeg-

­Dokumentation der Ereignisse veröffentlich-

Leitungsteam sind weitere acht Mitarbeiter

nen“ 2017 am Deutsch-Sorbischen Volks­

ten die Leitenden des Instituts, unter dem

und Mitarbeiterinnen dort beschäftigt, studen­

theater in Bautzen. Studierende der Leipziger

ehemaligen Direktor Günther Heeg, mit dem

tische und wissenschaftliche Hilfskräfte.

Theaterwissenschaft waren an der Organisa­

Titel „Momentaufnahme Theaterwissenschaft“

­Finanziert wird das CCT zu einem großen Teil

tion und Durchführung des Festivals beteiligt,

2014 im Verlag Theater der Zeit. Schließlich

durch Drittmittel, zum kleineren Teil von der

etwa indem sie die acht gezeigten Produktio-

durften sie bleiben – doch nicht nur das: Es

Universität Leipzig.

nen bereits im Probenprozess dramaturgisch


magazin

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begleiteten. Unter der Fragestellung, wie ein transkulturelles

Zusammenleben

gelingen

könne, trugen die Studierenden ihre Recher-

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Bertolt Brecht, Meister der Unzucht und Führer der Konterrevolution

chen und Ergebnisse in einem Band zu­ sammen, der 2017 bei Theater der Zeit ver­ öffentlicht wurde. Dass Kompetenz auch Vermittlung heißt, zeigte das CCT, indem es sich maßgeblich am Deutschen Amateur­

Es gehört zu dem neuen „Kreuzzug gegen

bahnbrechende

theaterpreis amarena 2018 beteiligte. Mit

Brecht“ (André Müller sen.), dass man

Brecht sei, trotz aller Lippenbekenntnisse,

der Organisation und Durchführung eines

Brecht nicht widerlegt, sondern moralisch

zeit seines Lebens immun gegenüber der

Fachtages an den Cammerspielen Leipzig

erledigt. Besonders beliebt: vermeintliche

Revolution gewesen, so Jürgen Hillesheim.

­ermöglichte das CCT-Team einen spannenden

Heuchelei. Das funktioniert allgemein bes-

In der Überschrift wird der Leserschaft der

Austausch zwischen Amateurtheater und Wis-

ser bei Linken, die im Gegensatz zu den

Schluss schon per Suggestivfrage angebo-

senschaft.

Rechten wenigstens proklamieren, dass

ten: „War er nicht vielmehr Antirevolutio-

sich etwas zum Besseren ändern müsse.

när?“ Und die Beweise? Das Ende von

Theater für und von alle(n), so lautet

Entdeckung

gemacht.

ein Leitsatz des CCT. Die Vermittlung im

Die Feststellung, dass auch die

„Trommeln in der Nacht“ pro-

wissenschaftlichen Bereich zeichnet sich ­

Kritiker der Gesellschaft nun

pagiere nicht die Revolution,

durch die jährlich wechselnde Bertolt-Brecht-

einmal in ihr leben müssen, ist

in Brechts Artikeln von 1919

Gastprofessur ab. Im Wintersemester 2018/­19

Balsam

empörten

bis 1921 fände sich „nicht

begleitet die Tanzregisseurin Helena Waldmann

Spießbürgerseele. Ah, der Herr

eine einzige direkte politische

die Studierenden in Form von künstlerischen

Kommunist wollte also auch

Parole“, auch „Fatzer“ und

Recherchen. Prominente Vorgänger waren der

Geld verdienen? Und gut leben?

„Die

japanische Theaterregisseur Motoi Miura und

Auch in sexueller Hinsicht?

kein positives Bild der Revolu-

der Opernregisseur Peter Konwitschny (denn

Kann denn einer nicht von der

tion, und Brecht habe – zu

auch Musiktheater ist am CCT ein wichtiges

Kritik allein leben? Nein, das

guter Letzt – „mit großer

Forschungsfeld).

kann kein Mensch, und wenn es

Wahrscheinlichkeit“, wie der

2019 steht nun alles unter einem

auf

der

gerade jene fordern, die ohne

Maßnahme“

lieferten

Forscher weiß, einen Rätere-

Brecht’schen Stern. Zusammen mit der Inter-

Kritik am besten leben können, so zeigt sich

volutionär nur deshalb vor dem Tod durch

national Brecht Society organisiert das Team

deutlich der Zweck: Der Unterschied zwi-

die gegenrevolutionären Truppen gerettet,

um Professor Heeg ein Symposium zum Thema

schen Ideal und Wirklichkeit bei anderen

um sich an dessen Frau ranzumachen. Ber-

„Brecht unter Fremden“ (19. bis 23. Juni

lässt sich dann am besten skandalisieren,

tolt Brecht, Meister der Unzucht und Führer

2019). Der Dramatiker selbst, zeitweise im

wenn man selber keines hat und braucht.

der Konterrevolution?

Exil, war stets ein Fremder, ganz gleich aus

Das tendiert, wie jede Kritik ohne

Es ist eine Mischung aus groben Fehl-

welcher Gesellschaft er sich weg- oder in

Selbstreflexion, zur albernen Rechthaberei.

interpretationen, zahlreichen entscheiden-

­welche er sich hineinbewegte. Die Erfahrung,

Sich über Brechts angeblich besonders

den Auslassungen in Bezug auf Werk und

meist unter Fremden zu sein, wurde ein wich-

grässliches Beziehungs- und Sexualleben zu

Leben, pseudokritischen Bemerkungen und

tiger Ausgangspunkt seines künstlerischen

empören, könnte schlicht lustfeindliche Mo-

unbewiesenen Unterstellungen. Hillesheim

Schaffens. Die Thematik des Fremden ist der

tive haben, es ist aber besonders abwegig

bemängelt an Brecht, dass er Dichter, nicht

Theaterdauerbrenner – gerade in Hinblick auf

mit einem Blick auf die Jetzt-Zeit, in der

revolutionärer Kader war (es sei allerdings be-

Brecht scheint sie aktueller denn je. Bisher

Sex-Dates üblicherweise auf dem Telefon zu-

zweifelt, dass ihm das Zweite wirklich lieber

konnte sich das CCT vor Einreichungen für

sammengewischt werden. Für auftrumpfen-

gewesen wäre). Der Dichter fetischisierte die

das bevorstehende Symposium kaum retten.

de moralische Überlegenheit gibt es herzlich

Revolution nicht als Zweck an sich. Ein

Die Bewerbungen kamen aus aller Welt. Gerade

wenig Gründe. Brecht seinen Lebenswandel

Makel? Wohl kaum. Revolutionär ist, was ­

wird ein Programm für das Brecht-Jahr 2019

vorzuhalten, um sein politisches Denken zu

revolutionäre Wirkungen hat. Wie Brechts ­

zusammengestellt. Im CCT-Jargon heißt das

diskreditieren (ohne es überhaupt zu disku-

Theater weltweit. Oder wenn man bereit ist,

„B19“. Es wird künstlerische Beiträge geben,

tieren), ist trotzdem in Mode – von John Fue-

eher die Ordnung der Welt umzuwerfen, als

dazu eine Kooperation mit dem Schauspiel

gi über Uwe Kolbe bis Stephen Parker. Klug

sich zu unterwerfen. Und warum nicht wegen

Leipzig und natürlich eine ganze Menge

ist das nicht, aber nützlich, fügen sich sol-

einer Kleinigkeit? Brecht wusste das. Selbst

spannender Theatertheorie. Günther Heeg

che Invektiven doch in eine mediale Auf-

der Antirevolutionär Heinrich von Kleist

und sein Kollege Micha Braun zeigen sich

merksamkeitsökonomie, die dem Denken

wusste das, er schrieb in warnender Absicht

­zufrieden. „Ändere die Welt, sie braucht es“ –

ungefähr so förderlich ist wie alle TV-Doku-

den „Michael Kohlhaas“. Warum aber Hilles-

das Brecht-Zitat leuchtet von einem Poster

Soaps zusammen, also gar nicht.

heim sein Nichtverständnis der Dialektik der

an einer Wand im CCT. Man darf gespannt sein. // Paula Perschke

Die

neueste

Brecht-Enthüllung

Revolution gerade an Brecht demonstrieren

brachte nun die FAZ. Der Leiter der Augs-

muss? Man kann nur mutmaßen. Doch man

burger Brecht-Forschungsstätte hat eine

sieht, es hat Methode. //

Jakob Hayner

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Beunruhigung auf allen Seiten Das Ballhaus Naunynstraße in Berlin feiert unter der Leitung von Wagner Carvalho zehn Jahre „postmigrantisches“ Theater „Have you ever feel black

einen „Bestandteil des Da-

skin?”, fragt mich Zé de

seins, anders zu sein“. Ziel

Paiva und hält mir sei-

eines

nen Unterarm für eine

Theaters in Zeiten des

Berührung hin. Auch die

­erstarkenden Rechtspopu-

anderen Tänzer, Nasheeka

lismus sei in diesem Sinn –

Nedsreal und Ricardo de

ästhetisch wie institutio-

Paula, verlassen in „Ubun-

nell – die Aushandlung von

tu“ ihren Safe Space der

gesellschaftlicher Teilhabe.

postmigrantischen

Bühne, kommen ins mehr-

Das Festival „Per-

heitlich „weiße“ Publi-

manente Beunruhigung“,

kum und laden Einzelne

das in diesem Jahr zum

ein: „That’s your chance –

zweiten Mal stattfindet,

touch my hair!“ Folgt man

dient primär der Vernet-

der Aufforderung, besteht das beunruhigende Dilemma darin, ein zutiefst

zung und „Ausdehnung“ Aushandlung von strukturellem Rassismus und gesellschaftlicher Teilhabe – hier „Ubuntu“ beim Festival „Permanente Beunruhigung“. Foto Wagner Carvalho

rassistisches Stereotyp zu

der Perspektiven von artists of color. Wagner Carvalho und sein Team haben

reproduzieren. Die Berüh-

23 internationale Künstle-

rung zu verweigern, erscheint angesichts der

Festivals „Permanente Beunruhigung“, mit ­

rinnen und Künstler unter anderem aus Brasi­

physischen Nähe allerdings auch unpassend.

dem das Berliner Ballhaus Naunynstraße „10

lien, Uganda, Ägypten und Indien eingeladen.

Am Ende betrachtet sich das Publikum auf der

Jahre postmigrantisches Theater“ sowie die

Jeweils vier einander bis dato unbekannte

Leinwand gegenüber selbst. Was bedeutet Zu-

verspätete Spielzeiteröffnung nach Renovie-

Künstler erhalten zwei Tage Zeit, um ohne dra-

schauer-Sein in dieser Konstellation? Wie soll

rungsmaßnahmen feiert. Shermin Langhoff

maturgische Begleitung vom Haus gemeinsam

das (strukturell) Getrennte hier zusammengehen?

hatte das Haus von 2008 bis 2013 zu einem

etwas zum Thema zu entwickeln und in zwei

Kristallisationsort

und

Aufführungen zu präsentieren. Neben den drei

philosophie der Nächstenliebe, des Gemein-

Künstler gemacht, deren Lebensgeschichten

neuen Laborinszenierungen „Beunruhigung

sinns und des Bewusstseins, als Einzelne

aufs Engste mit Erfahrungen von Migration

1–3“ werden mit „Ubuntu“ und „Your De-

immer Teil der Gemeinschaft und des Ganzen

und Transkulturalität verknüpft sind. So beka-

vices“ (von und mit Bishop Black, Fritz Helder,

zu sein, scheint hier ein abwesendes, utopi-

men Perspektiven einen Raum, die im etab-

Mmakgosi Kgabi und Dusty Whistles) auch

sches Ideal, Ungleichheit und struktureller

lierten deutschen Stadt- und Staatstheater

zwei Arbeiten aus dem letzten Festivaljahrgang

Rassismus vielmehr die geteilte Realität zu

der Mehrheitsgesellschaft bis dato strukturell

präsentiert, für deren Aktualisierung und Ver-

sein. So endet der Abend auch alles andere

wie inhaltlich ausgespart wurden.

tiefung die beteiligten Künstler erneut zusam-

„Ubuntu“, die (süd)afrikanische Lebens-

für

Künstlerinnen

als optimistisch mit einer repräsentativen

Wagner Carvalho setzt diese Arbeit seit

menkommen konnten. Darüber hinaus gibt es

Szene willkürlicher Gewalt an Menschen, die

2013 mit einem stärkeren Fokus auf den Ein-

ein zweitägiges Vernetzungstreffen zum Thema

nur aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert

bezug „schwarzer“ Perspektiven fort. Die

„Allianzen und Interventionen“.

werden: Ricardo de Paula ruft „Hands up!“,

Akteure kommen aus den verschiedensten ­

Den Produktionen merkt man die kurze

Hektik bricht aus. Auch wenn sich einige Zu-

künstlerischen Disziplinen, aus der sozialen

Produktionsdauer nicht an. Sie sind hoch pro-

schauer adressiert fühlen und die Hände he-

Arbeit, dem Aktivismus sowie aus akademi-

fessionell, politisch dringlich und schaffen

ben, sind es die Performer, die hier – beglei-

schen Zusammenhängen. Die Ausrichtung wirkt

es, durch starke Bilder, kluge Partizipations-

tet vom Cellospiel Eurico Ferreira Mathias’ –

theorieaffin (Queer-Theorie, Postkolonialismus,

momente und temporäre Ausschlusserfah-

mit ihren Körpern andeuten, angehalten, be-

Afrofuturismus), nachwuchsorientiert (zum

rung (zum Beispiel aufgrund fehlender Spa-

droht und gefangengenommen zu werden.

Beispiel in der Fortführung der Akademie der

nischkenntnisse) auch in mir Beunruhigung

Die Gewalt, die struktureller Rassismus

Autodidakten) und deutlich stärker am zeitge-

zu erzeugen und für strukturellen Alltagsras-

(wie racial profiling) hervorbringt, ist histo-

nössischen Tanz und der Performancekunst

sismus zu sensibilisieren. Beunruhigend ist

risch konstruiert, aber alles andere als

interessiert. „Postmigrantisch“ verweist für

allerdings auch, dass ein solches Festival

­Geschichte. Sie ist ein Kontinuum. Und sie

Carvalho weniger auf eine zeitliche oder lokale

nicht viel mehr (und ein viel diverseres) Pub-

bildet den thematischen roten Faden des

Dimension. Der Begriff bezeichne vielmehr

likum anzieht. //

Theresa Schütz


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Die Situierung des Betrachters Beim PAP-Branchentreff im Theaterdiscounter Berlin diskutieren die freien darstellenden Künste den schillernden Begriff der Qualität „Die Unterscheidung in gute und

Projektionen zu unterlaufen. Mit

schlechte Kunst nützt zunächst

dem Nebeneffekt, dass sie im Pu-

denjenigen, die diese Unterschei-

blikum eine „Firewall“ einziehen

dung machen. Wohl aber nicht

muss – das heißt, sie lässt in je-

der Kunst, den Kunstschaffen-

der Vorstellung Freunde und Be-

den, ihrem Publikum und nicht

kannte in den ersten Sitzreihen

der Geschichte der Kunst selbst.“

Platz nehmen, um so eine Fe-

Ein Statement, das der Performer

tisch-Fraktion aus den vorderen

Tucké Royale in seinem Vortrag

Reihen zu verbannen, die sie

„Über Theater urteilen!? – Histori-

phänotypisch als „ältere Männer

sche und aktuelle Bestimmungen

in Lederjacken“ beschreibt, wel-

eines Qualitätsbegriffes in den

che

darstellenden Künsten“ formuliert.

Schaulust kämen.

mit

eher

unreflektierter

Qualität, das ist natürlich ein wei-

Aber zurück zum Stich-

tes Feld. Und ein schwer um-

wort Qualität. Eine zentrale Dis-

kämpftes Wort, weil es ideologisch

kussionsrunde findet dazu unter

aufgeladen und je nach Verwen-

dem Titel „‚Gute‘ Kunst – und?“

dung Hülse oder Geschoss sein

statt, mit der Künstlerin und

kann. Weil es allzu schnell zusam-

Dramaturgin Aline Benecke, der

mengedacht wird mit Daumen-

Theaterformen-Festivalleiterin

hoch-, Daumen-runter-Meinungen,

Martine Dennewald, der Regis-

die nichts und niemanden erhellen. Umso

erfreulicher,

dass

sich das Performing Arts Programm (PAP) auf seinem mittler-

seurin und Kuratorin Sophia Welche Konsequenzen sind mit dem Richten über künstlerische Arbeiten verbunden? – Dies war eine der Fragen, die sich das sechste PAP-Branchentreffen stellte. Foto Mathias Völzke

weile sechsten Branchentreff der

Stepf, ­

der

Kulturjournalistin

Christine Wahl sowie dem Theatermacher Tucké Royale. Gemeinsam begeben sie sich auf

Diskussion darüber stellt, welche

die Suche nach Standards und

Konsequenzen mit dem Richten über die Ar-

spielen im vergangenen Jahr zum Berliner

Kriterien – die, wie man sich leicht vorstellen

beiten der freien Szene verbunden sind. Wel-

Theatertreffen eingeladen, gibt einen kurzen

kann, nicht nur subjektiv, sondern extrem

che Zugänge damit geöffnet oder versperrt

Einblick in die Rezeption ihrer bemerkens-

kontextabhängig sind. Stepf, die mit ihrer

werden, wer sich überhaupt zur Instanz erklä-

werten Version von Appropriation Art, etwa

Gruppe Flinntheater viel in Indien gearbeitet

ren kann. „Urteil, Macht, Teilhabe“ lautet

wie sich rassistische Zuschreibungen schon

hat, berichtet beispielsweise, dass eine Pro-

entsprechend die Überschrift dieser Ausgabe,

in Überschriften spiegelten, à la „Schwarz

duktion, die dort als experimentell eingestuft

die Christina Zintl als Leiterin verantwortet.

sein allein reicht nicht“.

wird, in Deutschland das Prädikat well-made

Das Programm zeigt vor allem zweierlei: Nach

Darüber hinaus liegt ein Fokus des

play erhält. Benecke gibt zu bedenken, dass

Jahren, in denen die Diskurse der freien Sze-

PAP-Branchentreffs auf der Frage nach Gen-

jedes Urteil, egal wo gefällt, vor allem etwas

ne dominiert waren von der Forderung nach

der-spezifischen Belangen, unter anderem:

„über die subjektive Betrachterposition“ er-

mehr Förderung, ist monetär mittlerweile so

Werden Arbeiten von Frauen anders gesehen

zähle.

viel erreicht worden, dass nun eine Besin-

und bewertet als die von Männern? Erörtert

Am Ende, und auch das sagt viel über

nung auf grundsätzlichere Fragen stattfinden

wird das auf dem Panel „Urteil und Gender“,

den Gegenwartszustand der freien Szene,

kann. Wobei diese Debatte um Offenheit,

das nach einem Vortrag über die Konstruktion

dreht sich allerdings doch wieder alles um die

(Selbst-)Bestimmung und Bewertung, das ist

von Geschlechteridentitäten der Soziologin

Frage: Wie muss mein Förderantrag beschaf-

der zweite Punkt, noch ganz am Anfang steht.

Sabine Hark durchaus auch in Gefilde der

fen sein, um Gnade vor einer Jury zu finden?

Eindrücklich verdeutlicht das etwa die

freien Szene führt. Die gern als radikal gela-

Das Sprechen über die eigene Arbeit bleibt

Regisseurin Anta Helena Recke am Eröff-

belte Wiener Performerin Florentina Holzinger

eben die größte Herausforderung. //

nungsabend. Recke, mit ihrer „Schwarzkopie“

etwa („Kein Applaus für Scheiße“) berichtet

der Inszenierung „Mittelreich“ (nach Anna-

über Arbeiten, in denen sie nackte Frauen auf

Sophie Mahler) an den Münchner Kammer-

der Bühne defäkieren lässt, um sexistische

Patrick Wildermann

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In seinem Spiel war ein höchst gefährliches Flüstern, ein Lächeln, das vernichten konnte.

König des Zwielichts

Rolf Hoppe: ein engelhaft milunheilschwanger daher wie er. Immer gab er den Ton vor, den

Rührung feuchten Augen in der Loge des Staatstheaters „seinem“ Schauspieler zuse-

Zum Gedenken an den großen Schauspieler Rolf Hoppe

der Dämon. Niemand kam so

cher ist. Eben noch mit vor

hend, ist er dann ohne Übergang ein skrupelloser Mordauftraggeber.

zu erlauschen er alle anderen

Klaus Maria Brandauer

zwang: welch halblaute Verhei-

als Höfgen bekam in Rolf Hoppe

ßung drohenden Unheils!

einen Gegenspieler, der ihm

Das Flüstern hatte einen

alles abverlangte. Hoppe wirk-

simplen Grund: Eine Stimm-

te dann später in Brandauers

bandlähmung als Jugendlicher

Regie bei „Mario und der Zau-

ließ ihn zeitweise ganz ver-

berer“ mit und war im Salzbur-

stummen,

doch

ger „Jedermann“ von 1983 bis

wieder sprechen, jedoch leise

1989 als Mammon wiederum

und ohne Tiefen. Im Schatten

dessen Gegenspieler.

irgendwann

dieser Heiserkeit erwachte dann

Ebenso von stiller Wucht

eine ungeheure Intensität, die

im Würfelspiel der Weltkoordi-

viele Schreie barg. Verwandle

naten ist seine Rolle als König

deine Defizite in Vorzüge! Rolf

Karl IV. in Konrad Wolfs impo-

Hoppe gelang dies auf unver-

santem Machtepos „Goya – oder

wechselbare Weise.

der arge Weg der Erkenntnis“ Rolf

von 1971, diesmal mit Dona-

Hoppe 1930 in Ellrich im Harz

tas Banionis als Goya, der ihn

als Bäckerssohn. Als sein Vater

immer wieder herausfordert.

in den Krieg musste, nahm er

Aber der König ist ein katho-

seinen Platz ein und wurde –

lisch-konservativer

nach 1945, als er die Stimme

ling, der erst zu seiner domi-

Geboren

wurde

verlor – Kutscher und Tierpfleger im Zirkus Aeros. War das plötz-

Von stiller Wucht – Rolf Hoppe (1930 – 2018) in „Nachtasyl“ (Staatsschauspiel Dresden, 1979). Foto Erwin Döring

Schwäch-

nanten Frau, der Königin Marie Luise (Tatjana Lolowa) schielt, bevor er eine Meinungsäuße-

liche Verstummen auch eine Folge jenes Einsatzes nach

rung wagt. Hoppe ist hier als

Kriegsende, zu dem der 15-Jährige von der

Weißig. Die Gegenwelt des anspruchsvollen

König ein Potentat des Zwielichts, der von

US-Armee gezwungen wurde: Leichen bergen

Spiels war ihm jene Heimat, die zu verteidi-

Schuld nichts weiß. Seine Augen blicken

im KZ Mittelbau-Dora? Hoppe über diese

gen sich lohnte.

fromm in die Zukunft – kein selbst begange-

­extreme Erfahrung: „Ich gehöre zu der Gene-

Die Filme, in denen er spielte, lassen

nes Verbrechen kann diesen Blick trüben,

ration, die den Geruch verbrannten Fleisches

sich kaum zählen. Selbst den schwächeren

höchstens für Sekunden flackern lassen wie

in der Nase hat, ich werde das nicht los.“

unter ihnen half er mit seiner Präsenz auf: Wo

Zugluft eine Kerze.

Als er seine Stimme wiederfand, be-

er im Bild war, passierte etwas, selbst wenn

Ganz

gann er in Ellrich Laientheater zu spielen

er nichts tat. Was mir zuerst vor Augen steht:

dämo­nische Hintergründe durfte Hoppe sel-

und zu inszenieren, zuerst Friedrich Wolfs

sein Ministerpräsident (der Typus Göring) in

ten sein. Er, der das Niedrige im Herr-

­„Professor Mamlock“. Als Theaterschauspie-

István Szabós Verfilmung von Klaus Manns

schaftsprinzip wie kein Zweiter mit einer ein-

ler lernte er anfangs die kleinen Bühnen der

„Mephisto“, die 1982 den Auslands-Oscar

fachen Geste oder einem Blick bloßstellen

Republik kennen, von Nordhausen, Erfurt

erhielt. Beinahe wäre Hoppe gar nicht dabei

konnte, wurde nun der gute König schlecht-

und Greifswald bis Gera. Er kam dann nach

gewesen, denn er wollte in der Sommer-Spiel-

hin, wie es ihn nur im Märchen gibt. In dem

Leipzig und schließlich ans Staatsschauspiel

zeitpause 1981 endlich mal Urlaub an der

Legende gewordenen „Drei Haselnüsse für

Dresden, wo er bis zur Wende 1989 prägende

Ostsee machen. Szabó wusste es zu verhin-

Aschenbrödel“ von 1973 in der Regie von

Rollen spielte, darunter König Lear in der Re-

dern und holte die ganze Hoppe-Familie nach

­Václav Vorlíček genoss es Rolf Hoppe ganz

gie von Hans Dieter Mäde, Dorfrichter Adam,

Budapest. In „Mephisto“ ist er, abgründig

offensichtlich, einfach nur vor argloser Gut-

Orest, Seneca (in Peter Hacks’ „Senecas

schillernd, der dunkle Meister des hoch­

heit strahlen zu können. Aber auch das auf

Tod“) oder Möbius (in Friedrich Dürrenmatts

begabten

unvergessliche Weise.

„Die Physiker“). Dem Theater blieb er bis zu

(Gustaf Gründgens nachempfunden), den er

Am 14. November 2018 ist der große

seinem Tod treu, gründete nach der Wende

sich gefügig macht, nach Gutdünken belohnt

Schauspieler Rolf Hoppe im Alter von 87 Jah-

das Hoftheater Dresden in einem von ihm ge-

oder bestraft. Ein schwärmerischer Kunst-

ren in Dresden gestorben. //

kauften ehemaligen Bauernhof in Dresden-

freund, der zugleich ein machtgeiler Verbre-

Schauspielers

Hendrik

Höfgen

freundliche

Sanftmut

ohne

Gunnar Decker


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17.– 20. Januar 2019

Challenge my fantasy – more Ein Labor-Festival zur Erkundung virtueller Theaterformen Eröffnungsinszenierung: »Artefact« von Joris Mathieu | 16. Januar 2019 | 10.00 + 18.00 Uhr Abschlusspräsentation: 20. Januar 2019 | 16.00 Uhr

Gefördert durch:

Partner Technik: »Artefact« mit freundlicher Unterstützung des Institut français und des französischen Ministeriums für Kultur / DGCA


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Wo der Tod allgegenwärtig ist Damit konnte selbst er nicht rechnen: Es ist das Jahr 1940, und der berühmte Hellseher Rafael Schermann sitzt als Gefangener im ­Lager Artek II. Noch in den zwanziger Jahren war er als Grafologe und Weissager nicht wegzudenken aus der Wiener Salongesellschaft. Jetzt befindet sich Josef Stalin auf dem Höhepunkt seiner Macht, der Überfall von ­ Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion steht unmittelbar bevor. Wie ist ausgerechnet dieser Schermann nur an diesem Ort gelandet? Seit zehn Jahren leitet Steffen Mensching das Theater in Rudolstadt. Als Romanautor ist er seit 2005 nicht mehr in Erscheinung getreten. Da verwundert, überrascht und begeistert es, mit welch epischer Wucht ­ sich der Sechzigjährige nun im Prosafach zurückgemeldet hat. „Schermanns Augen“ ­ ist ein literarischer Glücksfall für jeden Leser, der sich auf den Zauber dieser schwelgerischen Jahrhunderterzählung einlässt.

Steffen Mensching: Schermanns Augen. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 820 Seiten, 28 EUR.

Der Handlungsrahmen dieses 820 Seiten starken Werks umfasst nur ein knappes Jahr. Schermann trifft im Lager auf den als Trotzkist

gebrandmarkten

Kommunisten

Otto

­Haferkorn. Ihn beschützt er vor der unter den

Schriftsteller und Intendant – Steffen Mensching in seinem Büro im Theater Rudolstadt.

Inhaftierten geltenden Hierarchie, die Men-

Foto Lisa Stern

sching neben der Grausamkeit der Lagerleitung detailreich beschreibt. Wer sich nicht zugrunde schuftet, der droht an der Kälte

Zugleich gelingt es Mensching, den Blick im-

Sprachlich entwickelt Mensching eine eigen-

oder am Hunger zu verrecken.

mer wieder über die Lagermauern hinaus zu

tümliche, dem Gegenstand aber niemals un-

Wenn etwa jemand seinen Essnapf ver-

richten. Für den Protagonisten gibt es ein

angemessene Mischung aus zarter Lakonie

liert, erhält er erst Wochen später einen neuen.

­reales Vorbild, dessen Werdegang ausgiebig

und bürokratischem Ernst. Die Form fordert

Schermann gehört zu den am wenigsten

zum Thema wird: Rafael Schermann wurde

dagegen Disziplin ein, denn der in acht Kapitel

Drangsalierten. Er erregt als Koryphäe das

1874 in Krakau geboren und avancierte spä-

gegliederte Text enthält keine Absätze. Das

­Interesse der Aufseher, während Haferkorn als

ter in Wien zu einem gefragten Schriftdeuter.

macht es dem lesenden Auge nicht ge­rade

Schützling des Berühmten zu überleben hofft.

Vor den Nazis floh er 1933 in die Sowjet­

leicht. Dafür verlangt es einem ein Durch­

Anhand derart gegensätzlicher Figuren entfal-

union, wo sich Anfang der vierziger Jahre in

haltevermögen ab, das ohnehin braucht, wer

tet sich ein erschütterndes Bild von einem

einem kasachischen Arbeitslager seine Spur

mit diesem teilweise brachialen Inhalt klar-

Schauplatz, an dem der Tod allgegenwärtig ist.

verlor.

kommen will.


bücher

/ TdZ  Januar 2019  /

Zwölf Jahre lang hat Steffen Mensching laut

es eben dieser Knudsen, der als Vertreter der

Verlagsauskunft an diesem Roman gearbeitet.

westlichen freien Welt den Studenten die

Seine intensive Quellenrecherche und seine

Theaterwissenschaft näherbrachte und so tat,

genaue Arbeit am Stil haben sich gelohnt.

als hätte es nie etwas wie den Zivilisations-

Zeigt diese Geschichte doch so eindrücklich

bruch Auschwitz gegeben. Dass er in der

wie lange keine mehr in der deutschsprachi-

­Folge ­vor allem versuchte, den Einfluss von

gen Literatur, dass beinahe jede Unmensch-

Erwin Piscator und Bertolt Brecht einzudäm-

lichkeit menschengemacht ist. Am Beispiel

men, mag da kaum verwundern, knüpfte der

eines tatsächlichen Scharlatans und eines

freie Westen doch an ein zentrales Ideologem

erfundenen Tölpels verhandelt er Sein und

aus der Nazi-Zeit an, den Antikommunismus.

Bewusstsein, Lieben und Sterben, die Frage

Knudsen konnte bis 1971, trotz Bekannt­

nach Wahrheit und Täuschung – also die ganz

machung seiner Vergangenheit, an der FU

großen Fragen des Lebens. //

wirken.

Montag bis Samstag 8 – 22 Uhr Sonntag 10 – 18 Uhr Prenzlauer Allee 27 a 10405 Berlin Tel. 030/52 68 51 94

Christian Baron

Unheilvolle Kontinuitäten Als Hans Knudsen 1948 an der neu gegründeten Freien Universität (FU) in West-Berlin mit einer Einführungsvorlesung auch das ­Institut für Theaterwissenschaften eröffnete,

Peter Jammerthal und Jan Lazardzig (Hg.): Front – Stadt – Institut: Theaterwissenschaft an der Freien Universität 1948–1968. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 272 Seiten, 24 EUR.

auch Kunst und Kultur zwar Ideologiefreiheit proklamierten, es damit aber keineswegs so genau nahmen, wird seit Kurzem – wie zum Beispiel mit der Ausstellung „Parapolitik“ am Berliner Haus der Kulturen der Welt – immer öfter thematisiert. „Die Institutionalisierung der FU situiert sich entsprechend im Rahmen jener ‚Freiheitsoffensive‘, die darauf zielt,

würdigte er die Verdienste seines Lehrers Max

Demokratie unter der Prämisse kapitalisti­

Herrmann. Der hatte als Literaturwissen-

scher Vergesellschaftung als ideologiefreies Projekt zu verkaufen und sozialistische Vor-

schaftler 1923 an der Universität zu Berlin (später Humboldt-Universität) das erste thea-

Am Institut für Theaterwissenschaften der FU

stellungen in die Nähe der NS-Ideologie zu

terwissenschaftliche Institut der Welt gegrün-

ist nun anlässlich des 70-jährigen Bestehens

rücken“, schreibt Evelyn Annuß in ihrem

det, mit dem Auftrag, das Verhältnis von dra-

die Ausstellung „Front – Stadt – Institut:

ideologiekritischen Beitrag. Und mit der

matischer

darstellender

Thea­terwissenschaft an der Freien Universität

Übernahme des Jargons von Freiheit & Demo-

Aufführung zu erforschen – lange vor der

1948–1968“ zu sehen, sie ist das Ergebnis

cracy ging die Verdrängung der Nazi-Verbre-

Wende zum rein Theatralen und Performa­

mehrerer Lehrveranstaltungen am Institut,

chen einher, wie Ulrike Haß am Beispiel von

tiven, welche die Disziplin in Ost und West

zahlreiche Forscher und Studenten haben an

Samuel Becketts „Warten auf Godot“ zeigt.

später ereilen sollte. Dass sich Knudsen aller-

ihr mitgewirkt. Begleitend ist im Verbrecher

Die unheilvolle personelle Kontinuität von NS

dings in eine ungebrochene Tradition zu Herr-

Verlag ein von Peter Jammerthal und Jan

und BRD endete erst mit dem Generationen-

mann stellte, mutet zynisch an. Denn wäh-

Lazardzig herausgegebener, ausgesprochen ­

wechsel um 1968 und seinen politischen Be-

rend Herrmann als Jude im KZ ermordet

­informativer Band erschienen, der Essays und

gleitumständen. Die Ausstellung ist noch bis

wurde, machte Knudsen unter den Nazis

Materialien zur Ausstellung versammelt. Dass

zum 31. März zu sehen. //

Karriere – und wohl nicht zuletzt, weil die ­

das Label der Freiheit im Kalten Krieg vor

Säuberungen freie Stellen und somit Auf-

­allem Mobilmachung gegen die vermeintliche

stiegsmöglichkeiten schufen. Und dann war

Bedrohung des Kommunismus meinte, dass

Dichtung

und

Jakob Hayner

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aktuell

/ TdZ Januar 2019  /

Meldungen

damit die Nachfolge von Adolphe Binder an

Theater Ulm geeinigt. Zu diesem Zweck erhält

und übernimmt die künstlerische Leitung

das Theater ab dem kommenden Jahr 65 000

übergangsweise für zwei Spielzeiten. Nach-

Euro mehr. Der nun beschlossene Mindest­

■ Giancarlo Marinucci, der Gesamtleiter des

folger des Geschäftsführers Dirk Hesse wird

satz resultiert aus Gesprächen der lokalen

Zürcher Theaters HORA, tritt nach 18 Jahren

Roger Christmann – ebenfalls für zwei Spiel-

Gruppe der Genossenschaft Deutscher Büh-

von seiner Funktion zurück. Sein Nachfolger

zeiten. Der Beirat des Tanztheaters hatte im

nen-Angehöriger mit den Fraktionen, wodurch

wird Curdin Casutt, der die Position bereits

Juli 2018 den Vertrag mit Adolphe Binder

die Einstiegsgage nun auf monatlich 2200

seit Februar 2018 interimistisch innehatte.

fristlos gekündigt. Hesse hatte zum 31. Dezem-

Euro brutto gestiegen ist.

Marinucci blickt auf zahlreiche Erfolge mit

ber 2018 seine Arbeit niedergelegt. Mitte De-

dem Theater HORA zurück. Im Jahr 2016

zember entschied indes das Arbeitsgericht

■ Das Aktionsbündnis der Niedersächsischen

erhielt er mit dem Schweizer Grand Prix ­

Wuppertal, dass Binders Kündigung unwirk-

Theaterschaffenden (siehe auch TdZ 12/2018)

­Theater / Hans-Reinhart-Ring die höchste Aus-

sam sei. Die Vertreter des Tanztheaters wollen

konnte drei Millionen Euro für die kommuna-

zeichnung in der Schweizer Theaterlandschaft.

wahrscheinlich in Berufung gehen.

len Theater sowie 250 000 Euro für den Landesverband Freier Theater in Niedersachsen

Brigitte Dethier. Foto Tom Pingel

■ Als Reaktion auf den Plan der Stadt Linz, den

(LaFT) und die freien Theater erstreiten. Das

Theatervertrag mit dem Land Oberösterreich

Zugeständnis der Landesregierung resultiert

aufzulösen, haben die Betriebsräte des Landes-

aus den Haushaltsverhandlungen im Nieder-

theaters Linz und des Bruckner O ­ rchesters Linz

sächsischen Landtag am 20. November 2018.

die Petition #Linzliebtsein­theater ins Leben

Als Reaktion auf die Streichung von zuvor ver-

gerufen. Der Theatervertrag regelte bislang ­

anschlagten sechs Millionen Euro Förderung

die finanzielle Beteiligung der Stadt am Lan-

im Haushaltsplan hatten Mitte August 2018

destheater sowie an den Konzerten des

die Schauspielerinnen Christina Jung, Judith

Bruckner Orchesters. Bürgermeister Klaus

Strößenreuter, Gaia Vogel sowie die Regisseu-

Luger (SPÖ) will den Vertrag mit den Stim-

rin Antje Thoms am Deutschen Theater Göt-

men von SPÖ und FPÖ nun aufkündigen.

tingen die Aktion „#rettedeintheater – Keine

Sollten die finanziellen Mittel wegfallen,

Kulturwüste in Niedersachsen!“ gegründet.

heißt es in der Petition, „werden das Linzer

■ Die Intendantin des Jungen Ensembles

Landestheater und das Bruckner Orchester

■ Die Gewinnertexte der Autorentheatertage

Stuttgart (JES), Brigitte Dethier, wurde zur

Linz nicht mehr das sein, was sie momentan

2019 stehen fest. Prämiert werden „Ent-

neuen ersten Vorsitzenden des Netzwerks der

noch sind, nämlich international renommier-

schuldigung“ von Lisa Danulat, „ruhig Blut“

Kinder- und Jugendtheater in Deutschland,

te und jährlich von weit über 300 000 Besu-

von Eleonore Khuen-Belasi und „zu unseren

ASSITEJ e. V., gewählt. Sie tritt damit die

cherinnen und Besuchern geschätzte Kultur-

füßen, das gold, aus dem boden verschwun-

Nachfolge von Wolfgang Schneider an. Als

institutionen“. Am 4. Dezember 2018 wurde

den“ von Svealena Kutschke. Die Jury wählte

zentrale Ziele benannte Dethier, die sich seit

die Sammlung beendet. 21 603 Unterschrif-

die drei Gewinnertexte aus insgesamt 113

1997 im Vorstand des ASSITEJ e.V. enga-

ten, auch von prominenten Unterstützern wie

eingereichten Theatertexten aus. Das Theater

giert, die Gleichberechtigung und Sicht­

Peter Simonischek, Nicholas Ofczarek, Claus

Neumarkt Zürich wird Lisa Danulats Stück,

barkeit der darstellenden Künste für junges

Peymann und Joachim Meyerhoff, wurden an

das Schauspielhaus Graz das von Eleonore

Publikum sowie ihre Stärkung in den künstle-

die Stadt übergeben.

Khuen-Belasi und das Deutsche Theater Berlin das Stück von Svealena Kutschke inszenieren

rischen Studiengängen.

und in der Langen Nacht der Autorinnen zur

■ Die Tanzmanagerin und Kuratorin Bettina

die Ulmer Stadträte auf eine Mindestgage für

Uraufführung bringen. Für die drei Preisträge-

Wagner-Bergelt ist die neue Direktorin am

Schauspieler, Tänzer und andere künstleri-

rinnen ist außerdem ein Uraufführungshonorar

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Sie tritt

sche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am

von jeweils 10 000 Euro vorgesehen.

www.hiof.no/nta/english

BA in Acting

■ In ihren Haushaltsberatungen haben sich

BA in Scenography

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application deadline: March 1


aktuell

Oliver Bukowski. Foto Karoline Bofiger

/ TdZ  Januar 2019  /

hinaus die Chance auf ein Übersetzungssti-

­Theaterpreis 2019 bewerben. Der mit 6000

pendium in Höhe von 1300 Euro.

Euro d ­ otierte erste Preis ist mit einem Stückauftrag und einer Uraufführung am Theater

■ Die Veranstaltergemeinschaft des 2020 in

­Osnabrück verbunden. Der zweite und der dritte

Dortmund stattfindenden Festivals Favoriten,

Preis sind mit jeweils 1000 Euro dotiert.

das Kulturbüro der Stadt Dortmund und das

Bewerber*innen sind dazu aufgefordert, eine

Landesbüro Freie Darstellende Künste NRW

Ideenskizze und ein bis zwei ausgeschriebene

e. V. suchen zum 15. März 2019 eine neue Fes-

Szenen einzu­reichen. Die Texte dürfen den Um-

tivalleitung. Das alle zwei Jahre stattfindende

fang von zwölf DIN-A4-Seiten nicht über­schrei­

Festival wurde 1985 gegründet und ist das äl-

ten und müssen in deutscher Sprache verfasst

teste des Freien Theaters in Deutschland. Be-

sein. Einsendeschluss ist der 15. März 2019.

werbungsschluss ist der 30. Januar 2019.

■ Der Dramatiker Oliver Bukowski wurde für

■ Das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in

sein Theaterstück „Der Sohn“ mit dem Thea-

■ Das Internationale Theaterinstitut (ITI) lädt

der BRD hat die Projektförderung Nah dran!

terpreis Lausitzen 2019 geehrt. Er setzte sich

zusammen mit den Mülheimer Theatertagen

Neue Stücke für das Kindertheater ausgeschrie-

damit gegen 20 Mitbewerber und Mitbewer-

„Stücke 2019“ und dem Goethe-Institut im

ben. Die Förderung von jeweils 6500 Euro er-

berinnen durch. Die Auszeichnung ist verbun-

Frühsommer 2019 zur Internationalen Werk-

halten jährlich bis zu vier Autor*innen, die in

den mit einer Uraufführung an der Neuen

statt für Übersetzer*innen nach Mülheim. Ziel

Zusammenarbeit mit einem Theater ein neues

Bühne Senftenberg sowie einem Preisgeld

ist die Fortbildung und Förderung von Drama-

Theaterstück für Kinder ab zehn Jahren entwi-

von 10 000 Euro. Ein Förderpreis in Höhe

tik-Übersetzer*innen, um neuer deutschspra-

ckeln. Autor*innen und Theater können sich

von 2000 Euro ging an die Regisseurin und

chiger Dramatik den Weg zu fremdsprachigen

bis zum 1. April 2019 gemeinsam bewerben.

Autorin Ulrike Müller.

Theatern zu ebnen und den Austausch von Erfahrungen mit Kolleg*innen und Autor*in­

■ Der Schauspieler Werner Koller, geboren

■ Im Zuge des europäischen Festivals für

nen zu ermöglichen. Bewerbungsschluss ist

1948 in Zürich, ist am 15. November 2018 in

junge Regie Fast Forward in Dresden hat

der 31. Januar 2019.

Köln verstorben. Nach seiner politisch aktiven Zeit bei der Theaterwehr Brandheide kam er

­„Durée d’exposition. Un spectacle hybride de Animal Architecte“ in der Regie von Camille

■ Das Berliner Theatertreffen ist auf der Suche

zum Theater für junges Publikum, spielte u. a.

Dagen den Publikums- sowie den Jurypreis

nach Nachwuchsjournalist*in­ nen, die auf

am Theaterspielplatz in Braunschweig, Jungen

gewonnen. Letzterer beinhaltet eine Regie­

dem Theatertreffen-Blog über das Festival

Theater Göttingen, Landestheater Tübingen,

arbeit am Staatsschauspiel Dresden.

berichten. Die Ausschreibung richtet sich

Jungen Ensemble Stuttgart, Theater Pfütze in

ausdrücklich

Nachwuchskultur­

Nürnberg und bei den Freilichtspielen Schwä-

unterrepräsentierten

bisch Hall. Im Gespräch mit dem Jahrbuch für

­Eurodram – European network for drama in

Communitys, die sich auf antirassistische,

Kinder- und Jugendtheater „Grimm & Grips“

trans­lation ruft zur Einsendung von unveröf-

postkoloniale oder queer-feministische The-

sagte er 1998: „Wenn ich bis an mein Lebens-

fentlichten Übersetzungen fremdsprachiger

men fokussieren, um die Berichterstattung

ende für Kinder spielen darf, finde ich das

Theaterliteratur auf. Aus allen Einreichungen

auf vielfältige individuelle Kompetenzen und

auch gut.“

werden drei Texte ausgewählt, die in szeni-

biografische Erfahrungen zu erweitern. Das

schen Lesungen und Diskussionsrunden am

nächste Theatertreffen findet vom 3. bis 19.

Theater Drachengasse in Wien präsentiert

Mai 2019 statt. Bewerbungen können bis

werden. Die Texte können bis zum 10. Januar

zum 3. Februar 2019 eingereicht werden.

■ Das

deutschsprachige

Komitee

des

auch

journa­ list*innen

aus

an

2019 an die Koordination des deutschsprachigen Komitees gesendet werden. Für öster-

■ Seit Anfang Dezember können sich wieder

reichische Übersetzer*innen besteht darüber

junge Autor*innen um den Osnabrücker

Bewerben und Studieren Schauspiel Theater | Film Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist WS 19/20: 31.01.2019

Regie Abschluss Bachelor of Arts Bewerbungsfrist WS 19/20: 15.03.2019

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

Demnächst Dramaturgie Abschluss Master of Arts Bewerbungsfrist WS 19/20: 26.04.2019

Weitere Informationen unter anderem zum Bewerbungsverfahren & Terminen www.adk-bw.de

»Montags an der ADK« Aussichten. Einsichten. Gespräche. 14. Januar 2019 »Interdisziplinarität in der Kunst« Dorothea von Hantelmann Kunsthistorikerin, Autorin und freie Kuratorin 25. Februar 2019 »Neue Formen der Kunst« Susanne Pfeffer Direktorin Museum für Moderne Kunst, Frankfurt 13. bis 15. Februar 2019 »Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts« Werkstattinszenierungen von Benjamin Junghans, Maximilian Pellert, Rafael Ossami Saidy, Zita Wende

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aktuell

/ TdZ Januar 2019  /

Premieren

Januar 2019

Aachen Theater L. Vekemans: Momentum

Rüping, 20.01.); R. Pollesch: Black Maria

Bremen Theater n. F. Wedekind/Frank u.

freundlichen Grüßen eure Pandora (B. Gru-

(J. Nordalm, 11.01.); L. Linder: Supergut-

(R. Pollesch, 30.01., UA) Grips Theater S.

The Tiger Lillies: Lulu – Ein Rock-Vaudeville

be, 19.01., UA); T. Freyer/V. Lösch/U.

man (M. Fuhrmeister, 17.01.); E. Jelinek:

Lipp: Cheer out Loud! (R. Neumann, 17.01.,

(A. Petras, 11.01.); E. O‘Neill: Eines langen

Schmidt: Das Blaue Wunder (V. Lösch,

Am Königsweg (C. v. Treskow, 19.01.)

UA); S. Lipp: Special Cheers (R. Neumann,

Tages Reise in die Nacht (F. Rothenhäusler,

26.01., UA) Theater Junge Generation W.

Annaberg-Buchholz Eduard-von-WintersteinTheater E. Cohrs: Lachen und Lachen lassen (R. Voigt, 18.01.) Baden-Baden Theater S. Dengler/M. Thomas: Melodie XX (S. Dengler/M. Thomas, 06.01.); G. Ravicchio/N. d.: Robinson & Crusoe (D. Kunze, 11.01.); H. Hesse: Der Steppenwolf (I. Osthues, 19.01.) Bamberg E. T. A.- Hoffmann-Theater J. Zeh: Leere Herzen (D. Kranz, 18.01., UA); J. Pommerat: Kreise / Visionen (F. Behnke, 25.01.) Basel Theater A. Miller: Hexenjagd (R. Icke, 11.01.); n. A. Strindberg/S. Stone: Hotel Strindberg (S. Stone, 16.01.); D. Gieselmann/F. Hollaender: Spuk in der Villa Stern (C. Brey, 26.01.) Berlin Ballhaus Naunynstrasse M. Fotopoulos: Splitter (M. Fotopoulos, 25.01., UA) Berliner Ensemble B. Brecht: Die Antigone des Sophokles (V. Schubert, 12.01.); B. Brecht: Galileo Galilei. Das Theater und die Pest (F. Castorf, 19.01.); F. Kater: heiner 1-4 (engel, fliegend abgelauscht) (L. Walburg, 26.01.) Deutsches Theater Sophokles: Antigone (L. Rupprecht, 13.01.); H. Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer (C.

17.01., UA) Maxim Gorki Theater B. Mur-

26.01.)

Jens/n. Sophokles: Antigone (N. Zapfe,

kus: Salty Roads. Mythen der Wirklichkeit

Bremerhaven Stadttheater M. Cooney: Geld in’n Büdel – Miteens Getüdel (M. Kammer, 12.01.) Bruchsal Badische Landesbühne D. Ratthei: Kiwi on the Rocks (R. Langenberg, 18.01.) Chemnitz Theater R. García: Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch (E. Undisz, 25.01.); G. Hauptmann: Einsame Menschen (N. Mattenklotz, 26.01.) Cottbus Staatstheater E. Gedeon: Ewig Jung (A. Suckel, 11.01.); G. Orwell: 1984 (A. Nathusius, 19.01.) Detmold Landestheater W. Eno: Gute Nachbarn (J. Steinbach, 25.01., DEA); D. Macmillan: Atmen (Y. Kespohl, 26.01.) Dinslaken Burghofbühne A. Pullen/n. J. Safran Foer/P. Hellig: Extrem laut und unglaublich nah (M. Schombert, 11.01.); S. Vogel: Augen voller Wahnsinn (N. Blank, 18.01.) Dortmund Theater I. Bauersima: norway.today (F. Genser, 26.01.) Dresden Staatsschauspiel L. Naumann: Mit

18.01.)

#8 (B. Murkus, 10.01., UA); n. E. M. Remarque / H. S. Mican: Die Nacht von Lissabon (H. S. Mican, 11.01.) Theater RambaZamba Sophokles: Antigone (L. Rupprecht, 13.01.); n. Molière: Don Juan (K. Wolf, 18.01.) T ­ heater Thikwa OZ, OZ, OZ! (W)Rap the Wizard! (G. Hartmann, 16.01., UA) Volksbühne Berlin n. H. Melville: Moby Dick (A. Vulesica, 08.01.); S. Kennedy: Coming ­Society (S. Kennedy, 17.01., UA)

Bielefeld Theater S. Ellis: How to date a Feminist (C. Schlüter, 19.01.); L. Kirkwood: Moskitos (D. Yazdkhasti, 25.01.); L. Vekemans: Momentum (B. Mikeska, 26.01.) Bochum Schauspielhaus M. Houellebecq: Plattform/Unterwerfung (J. Simons, 19.01.) Bonn Theater E. O‘Neill: Eines langen Tages Reise in die Nacht (M. Nimz, 18.01.); S. Beckett: Warten auf Godot (L. Voigt, 31.01.) Braunschweig Staatstheater n. A. Schnitzler: Traumnovelle (R. Süßkow, 18.01.); G. Hauptmann: Einsame Menschen (A. Buddeberg, 19.01.); E. Ionesco: Die Nashörner (C. Diem, 26.01.)

Düsseldorf Schauspielhaus Ensembleproduktion: Imagination TV (J. Alabi, 13.01., UA); B. Brecht: Mann ist Mann (D. Schnaegelberger, 19.01.); J. Hašek: Schwejk (L. Koppelmann, 25.01.) Esslingen Württembergische Landesbühne A. Mann: Das Urteil von Nürnberg (C. Küster, 12.01.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Exploded Goo (Z. Užbinec, 12.01., UA); Fúria (Lia Rodrigues Companhia d. Danças, 24.01., DEA); The Miracle of Love / Das Wunder der Liebe (D. Cremer, 27.01., UA); Theater Artemis: (…..) (J. Batelaan, 31.01., UA) Schauspiel D. Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht (J. Glause, 11.01., DSE); S. Beckett: Warten auf Godot (R. Borgmann, 12.01.); K. Küspert: sklaven leben (J. Gockel, 26.01., UA; Theater Willy Praml R. Benatzky: Im Arabischen Rössl ehemals Im Weißen Rössl (W. Praml, 04.01.) Freiberg Mittelsächsisches Theater C. Laufs/W. Jacoby: Pension Schöller (J. Mai, 12.01.)

Deine Stadt. Deine Themen. Dein Theater. Thespis Zentrum Bautzen

#ichsta

dtwir

Das Thespis Zentrum erforscht die Möglichkeiten des Theaters, einen Ort für Begegnungen und Diskussion in Bautzen zu schaffen. Wir bieten eine Plattform, um gemeinsam mit Theatermacher*innen und Kulturschaffenden, mit Alt- und Neu-Bautzener*innen, Stadt- und Landflüchtigen und allen Interessierten zu fragen: Was ist Eure Beziehung zu den Städten, die Euer Leben tagtäglich umgeben? Wie gestaltet Ihr sie? Wie gestalten (und verwalten) sie Euch? Wo seid Ihr drin, wo seid Ihr außen vor? Was ist das Selbstbild Eurer Stadt, was ihr selbst gemachtes oder selbst verzapftes Image? Und wie können wir darüber auf unseren Bühnen verhandeln?

Ein Projekt des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen Gefördert durch den Freistaat Sachsen im Rahmen des Landesprogramms Integrative Maßnahmen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.

Seid gespannt und seid dabei!

www.thespis-zentrum.de


aktuell

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Freiburg Theater D. DeLillo: Weißes Rauschen (D. Fish, 05.01.); V. Arlt: Ich weiß was du ’68 getan hast (V. Arlt, 11.01.); A. Dumas: Die Bartholomäusnacht (E. Marciniak, 25.01., UA); Blindflug (G. Smith, 26.01.) Gera Theater & Philharmonie Thüringen N. Gogol: Der Revisor (M. Kressin, 27.01.) Göttingen Deutsches Theater E. Jelinek: Prinzessinnendramen (J. Prechsl, 25.01.); E. Schmitt: Enigma (J. Schwung, 31.01.) Junges Theater T. Sosinka/F. Kerkmann: Personal Jesus (T. Sosinka, 18.01., UA) Graz Schauspielhaus n. G. Büchner: Schöne neue Welt: Leonce und Lena suchen einen Ausweg (S. Windisch, 25.01., UA) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater M. Baitscheit: Wachmann, pass auf! (R. Vogtenhuber, 25.01.) Hamburg Schauspielhaus E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (K. Beier, 08.01.); A. Woltz: Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte (K. Schumacher, 26.01.) Thalia Theater S. Stanišić: Vor dem Fest (C. Sprenger, 18.01.); n. S. Stephens: Maria (S. Nübling, 19.01., UA) Hannover Schauspiel F. S. Fitzgerald: Der seltsame Fall des Benjamin Button (M. Salehpour, 12.01.); B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (C. Bauer, 17.01.); D. Feldman: Unorthodox (S. Möller, 26.01., UA); A. Ostermaier/T. Ö. Arnarsson: Die verlorene Oper. Ruhrepos (T. Ö. Arnarsson, 31.01.) Heilbronn Theater W. Allen: Spiel’s nochmal Sam (J. Kerbel, 12.01.) Hildesheim TfN • Theater für Niedersachsen Jasper in Deadland (B. d. Clercq, 19.01., DEA) Kaiserslautern Pfalztheater T. Williams: Die Glasmenagerie (D. Foerster, 10.01.); H. Lewis/J. Sayer/H. Shields: Mord auf Schloss Haversham (The play that goes wrong) (A. Rehschuh, 19.01.) Karlsruhe Badisches Staatstheater J. Favre: Fuckfisch (S. L. Kleff, 26.01.); W. Shakespeare: Viel Lärm um nichts (L. Sykes, 31.01.) Kassel Staatstheater W. Gombrowicz: Operette (P. Rosendahl, 19.01.); R. Kricheldorf: Intervention (S. Khodadadian, 24.01., UA) Kiel Theater n. J. Zeh/B. Studlar: Spieltrieb (M. Kraushaar, 18.01.); J. Haley: Die Netzwelt (K. Trosits, 20.01.) Klagenfurt Stadttheater Y. Reza: Bella Figura (R. Gerloff, 24.01.) Köln Schauspiel n. D. Eribon: Rückkehr nach Reims (T. Jonigk, 18.01.); J. Sartre: Die schmutzigen Hände (B. Kraft, 25.01.); n. J. Cocteau: Kinder der Nacht (M. Kretschmann, 26.01.) Konstanz Theater W. Borchert: Draußen vor der Tür (M. Mikat, 18.01.) Landshut kleines theater E. Assous: Glück (M. Eberth, 11.01.); W. Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe (S. Grunert, 25.01.) Landestheater Niederbayern R. Alfieri: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen (V. Wolff, 11.01.); E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (H. O. Karbus, 18.01.) Leipzig Cammerspiele S. Berg: Und jetzt die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen (J. Nowak, 24.01.) Schau-

spiel H. Fallada: Jeder stirbt für sich allein/ Leipziger Meuten (A. Petras, 18.01.); T. Köck: Atlas (P. Preuss, 27.01., UA) Linz Landestheater H. v. Kleist: Amphitryon (P. Wittenberg, 05.01.); L. F. Baum: Der Zauberer von Oz (M. Philipp, 12.01.); M. Plattner: rand: ständig (T. Regele, 18.01., UA) Theater Phönix V. Schmidt: Kaltes Herz (V. Schmidt, 31.01., UA) Magdeburg Puppentheater J. Weichelt: Froh ist der Schlag unsrer Herzen (J. Menzel, 11.01.) Theater Studiclub Ensemble: Szenisches Diskutieren. Eine interaktive Präsentation (V. Riedel, 25.01.) Mainz Staatstheater n. H. Fallada: Kleiner Mann – was nun? (A. Nerlich, 12.01.); L. Janáček: Kátja Kabanová (L. Steier, 19.01.) Marburg Hessisches Landestheater M. Svolikova: Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt. (E. Lange, 19.01., DEA) München Kammerspiele n. J. W. v. Goethe: Yung Faust (L. Böhm, 23.01.); n. A. Schnitzler/O. Bach: Doktor Alici (E. Mondtag, 24.01.) Residenztheater A. Tschechow: Die Möwe (A. Hermanis, 19.01.); A. Mortazavi: Stille Nachbarn (A. Smigiel, 25.01.); J. M. B. i Jornet: Begehren (M. Loibl, 26.01.) Münster Wolfgang Borchert Theater H. v. Kleist: Die Marquise von O. (T. Weidner, 24.01.) Nürnberg Staatstheater R. Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens (A. Lenk, 18.01., UA) Oberhausen Theater I. M. Martins: Hier kommt keiner durch (P. Neukampf, 18.01.); O. Wilde: Salome (S. Lernous, 25.01.) Paderborn Theater G. Büchner: Leonce und Lena (J. Langenheim, 18.01.); M. Bartlett: Wild (S. Martin, 26.01.) Passau Landestheater Niederbayern R. Kipling: Das Dschungelbuch (P. Oberdorf, 20.01.) Pforzheim Theater D. Ratthei: Jihad Baby! (M. Löchner, 11.01.) Potsdam Hans Otto Theater M. Baltscheit: Krähe und Bär oder Die Sonne scheint für uns alle (N. Erbe, 17.01.); J. Räber: Gehen oder Der zweite April (F. Abt, 18.01., UA) Rostock Volkstheater G. Orwell: 1984 (Theaterclub Spieltrieb, 05.01.); T. Fontane: Grete Minde (K. Wuschek, 11.01.); Kollektiv Eins: Utopie 2: Enter Germania (P. Thielecke/S. Hornung, 26.01., UA) Rudolstadt Theater F. Kafka: Der Prozess (M. Holetzeck, 26.01.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater M. Tosato/L. Dimitrow: Mettlach (M. Tosato, 18.01., UA) Schleswig Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester O. Wilde: Bunbury (F. Alder, 27.01.) St. Gallen Theater St. Gallen M. Frayn: Der nackte Wahnsinn (M. Pfaff, 11.01.); A. Horst: Dornrösli bockt (J. Knecht, 23.01., SEA) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt Y. Reza: Der Gott des Gemetzels (F. Braband, 25.01.); Schauspiel G. Hauptmann: Die Weber (G. Schmiedleitner, 12.01.); N. Stockmann: Das Imperium des Schönen (P. Karabulut, 16.01.)

DIE ERDE IST GEWALTIG SCHON DOCH SICHER IST SIE NICHT! DIE INTENDANZ MARTIN KUŠEJ AM RESIDENZTHEATER 2011 BIS 2019

Herausgegeben von Georg Diez Mit Texten von Julia Ebner, Srećko Horvat, Wolfgang Kaleck, Katrine Marçal, Christoph Menke, Oliver Nachtwey, Tunay Önder, Astra Taylor, Volker Weidermann u. a. 352 SEITEN, 25,– ISBN 978-3-446-26344-4

HANSER

Tübingen Landestheater n. L. Pirandello:

Neumarkt V. Despentes: Das Leben des

Autor gesucht! (H. Kröplin, 10.01.)

Vernon Subutex (P. Kastenmüller, 26.01.,

Ulm Theater J. Naber: Zeit der Kannibalen (J. Brandis, 12.01.); F. v. Schirach: Terror (S. Kohrs, 17.01.); D. Ratthei: Jihad Baby! (C. Van Kerckhoven, 25.01.) Wasserburg a. Inn Belacqua Theater H. Ibsen: Peer Gynt (N. Mayr, 18.01.) Wien brut E. Löffler: Fix me if you can (F. Poelstra, 20.01., UA); Kosmos Theater A. Gusner: Jetzt müssen wir auf morgen warten (A. Gusner, 29.01., UA) Wiesbaden Hessisches Staatstheater C. Gesner/J. Gordon/n. C. M. Schulz: Du bist in Ordnung, Charlie Brown! (I. Limbarth, 11.01.); C. Zuckmayer: Der fröhliche Weinberg (H. Hörnigk, 24.01.); W. Shakespeare: Was ihr wollt (U. Arnold, 26.01.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord A. Akhtar: The Who and the What (J. Strauch, 12.01.); K. Grønskag: Satelliten am Nachthimmel (R. Schultz, 20.01., DEA); n. W. Shakespeare/P. Verhelst: Richard III. – Bin durch Sümpfe gewatet, menschliche oder nicht (S. Bunge, 26.01., DEA) Zittau Gerhart Hauptmann-Theater A. Shaffer: Revanche (P. Hachtel, 19. 01.) Zürich Schauspielhaus D. Dath/n. M. Shelley: Frankenstein (S. Pucher, 10.01.); T. Melle: Versetzung (C. I. Dobbertin, 25.01.); R. Häusermann: Henosode – Salon des Gelingens (R. Häusermann, 29.01., UA) Theater Kanton P. Shaffer: Komödie im Dunkeln (R. Burbach, 24.01.) Theater

DEA)

FESTIVAL

Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm im*possible bodies #2. Versuch einer Dekonstruktion (17.01.–20.01.); Frankfurter Positionen 2019. Grenzen der Verstän­ digung (24.01.–08.02.) Hamburg Thalia Theater Um alles in der Welt – Lessingtage 2019 (18.01.–03.02.)

TdZ ONLINE EXTRA

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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tdz on tour

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Partizipation lautet das Zauberwort zeitgenössischer Theaterarbeit. Doch wie sieht das Ganze im Praxistest aus? „Folkstheater/Teatr Ludowy“, ein Projekt des Künstler*innenkollektivs Club Real und des Kleist Forums, hat in Frankfurt (Oder) und seiner polnischen Schwesterstadt Słubice zwei Jahre partizipative Strategien der Kunstproduktion erprobt und den Stadtraum für das Theater erobert. Auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze wurden die Bürgerinnen und Bürger zu Mitschaffenden. In dem bei Theater der Zeit erschienenen Handbuch „Partizipation Stadt Theater“ dokumentiert die Gruppe die zentralen Werkzeuge und Methoden der partizipativen Arbeit anhand von Fotoserien, Interviews und ­Infografiken. Im Rahmen des Symposiums „Ich.Stadt.Wir“ welches vom 7. bis 9. Dezember 2018 im Thespis-Zentrum in Bautzen stattfand, stellten Georg Reinhardt und Marianne ­Sonneck vom Künstler*innenkollektiv Club Real die Publikation vor.

TdZ on Tour n 18.01. Buchpremiere 300 Jahre Theater Erlangen, Theater Erlangen n 20.01. Buchvorstellung und Gespräch Partizipation Stadt Theater mit Jutta Wagemann und Hanne Seitz, Ballhaus Ost, Berlin Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

Die Herausgeber Georg Reinhardt (l.) und Marianne Sonneck von Club Real. Fotos Naoko Terao

Symposium „Ich.Stadt.Wir“ in Bautzen

„Um es gleich zu sagen: Man soll Schauspieler nicht nach Geheimnissen fragen“, erklärt der seit über vier Jahrzehnten am Deutschen Theater ­Berlin beschäftigte Schauspieler Christian Grashof. Der Journalist HansDieter Schütt hat es dennoch getan – und Grashof hat geantwortet. Im Gespräch berichtet er von seinem Werdegang, der aus dem Arbeiterkind im sächsischen Löbau einen Unverwechsel­ baren der deutschen Schauspielkunst machte. Der ihm gewidmete und bei Theater der Zeit erschienene Band „Christian Grashof. Kam, sah und stolperte – ­Gespräche mit Hans-Dieter Schütt“ wurde von beiden Protagonisten am 9. Dezember 2018 in der Neuen Bühne Senftenberg vor­ gestellt.

Hans-Dieter Schütt (l.) und Christian Grashof. Foto Theater der Zeit

Happy New Ear 11.01.2019 Sächsische Staatskapelle spielt Peter Eötvös (HU) 12.01.2019 Zeitkratzer (DE) spielt Kraftwerk

17./19./20.01.2019 everyone John Moran (US/DE) 18./19.01.2019 Mystery Magnet Miet Warlop (BE) 25./26.01.2019 50 Grades of Shame She She Pop (DE) www.hellerau.org


impressum/vorschau

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Vorschau

AUTOREN Januar 2019 Christian Baron, Kulturjournalist und Autor, Berlin Uta Biestmann-Kotte, Journalistin, Osnabrück

„NO30 Ship of Fools“. Foto Tiit Ojaso

Otto Paul Burkhardt, Theater- und Musikkritiker, Tübingen Jens Fischer, Journalist, Bremen Marcus Hladek, Kritiker, Schwalbach/Taunus Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Günter H. Jekubzik, Filmjournalist, Aachen Renate Klett, freie Autorin, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Matthias Schumann, Kultur- und Theaterwissenschaftler, Hamburg Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Erik Zielke, Lektor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/01

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Protagonisten Das in Tallinn beheimatete, estnische Theater NO99 (kurz für „Nummer 99“) zählte zu den innovativsten und prominentesten Theatern des Baltikums – und weit darüber hinaus. Geleitet wurde es von Regisseur Tiit Ojasoo, dem Dramaturgen Eero Epner und der bildenden Künstlerin Ene-Liis Semper. Seit der Gründung 2005 zählte das Team seine Produktionen im Countdown herunter, mit dem ungewöhnlichen Ziel, das Haus, bei null angekommen, aufzulösen. Nun fiel der letzte Vorhang dreißig Produktionen zu früh bereits im Januar. Mit „NO30 Ship of Fools” verabschiedet sich das Team nach vierzehn Jahren. ­Thomas Irmer fragt nach den Hintergründen. Heiner Müller bei Proben im Deutschen Theater Berlin, 1990. Foto David Baltzer

Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin

Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens (Korrektur), Daniel Schütz (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 74. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 03.12.2018

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Stück Das Leben von Heiner Müller, einem der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker und Schriftsteller, hat selbst dramatisches Potenzial. So sieht es der Regisseur und Autor Armin Petras, der unter seinem Pseudonym Fritz Kater dem Dramatiker sein neuestes Stück „heiner 1–4“ gewidmet hat. In vier Abschnitten, übertitelt mit „Bildbeschreibung“, „Discorsi“, „Try out“ und „Abschied“, macht er sich Schriften und biografisches Material Heiner Müllers zu eigen und beleuchtet unterschiedliche Facetten seines Lebens aus verschiedenen Perspektiven. So kann Kater Bilder von Müller als Liebendem, politischem Dramatiker, ­ ­Theaterleiter und Todkrankem zeichnen. Den Stückabdruck von ­„heiner 1–4“ finden Sie in der nächsten Ausgabe. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2019.


Was macht das Theater, Jürgen Holtz? Jürgen Holtz, Ende Dezember lief am Berli-

Ein Satz der „Dreigroschenoper“ scheint

ner Ensemble die dreihundertste Vorstel-

hochaktuell: „Was ist der Einbruch in eine

lung der „Dreigroschenoper“ in der Regie

Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Das

von Robert Wilson. Haben Sie im Septem-

erste ist gewiss eine Art von romantischem

ber 2007, als die Premiere war, erwartet,

Widerstandsakt des Einzelnen (wenn auch

dass die Inszenierung so erfolgreich sein

krimineller Natur), das zweite ein uniformi-

würde?

sierendes ökonomisches Kalkül. Ist die

Über so was habe ich mir nie Gedanken

Bank inzwischen überall?

gemacht. Es gibt gute Inszenierungen,

Die Freiheit des Einzelnen erwächst aus

die schlecht laufen, und schlechte, die

dem Spiel, dem zweckfreien Tun! Wir

gut laufen. Dies ist eine gute, die gut

sind nicht nur dazu da, zwischen Pro-

läuft. Kommt auch vor.

dukten, die man uns vorsetzt, zu wählen, sondern können selbst etwas erschaffen.

Ich hatte den Eindruck, dass Wilsons

Aber dazu brauchen wir Fantasie und

formal zugespitzter Inszenierungsstil im ­

Zeit. Einen Traum! Das also, wovon die

­Widerspruch steht zu Brechts Gestus von

Kunst lebt. In der Realität aber sehe ich

„Kunst ist Waffe“, wie Friedrich Wolf es

die Gefahr einer fortschreitenden Ver-

formulierte. Wird hier der Anklagegestus

sklavung des Einzelnen durch solche

der Bettleroper einem artifiziellen Selbst-

global operierenden Einrichtungen wie ­

zweck geopfert? Nein, finde ich gar nicht. Die Künstlichkeit ist von Bert Brecht und Kurt Weill unbedingt gewollt. Das „Glotzt nicht so romantisch“ zeigt ja die Richtung, in die es geht: Stummfilmästhetik, schnelle Auf- und Abblenden, kalter Beobachtergestus. Bei Probenhalbzeit zeigte Wilson den Film, den er über unsere Arbeit bis dahin gemacht hatte. Da sah ich etwas!

Amazon und Facebook, eine kafkaeske Am 28. Dezember stand der Schauspieler Jürgen Holtz zum dreihundertsten Mal als Bettlerkönig Peachum in Robert Wilsons „Dreigroschenoper“ auf der Bühne des Berliner Ensembles. Ein Auftritt voller Routine? Keinesfalls. Jede Vorstellung, sagt Holtz, müsse man neu spielen. Zumal Wilsons „Dreigroschenoper“ auch heute noch eine Gegenlogik zur herrschenden Versklavung des Einzelnen aufzeige. Foto Lesley Leslie-Spinks

Diese merkwürdige Aufführungsästhetik

Situation, in der die Menschen nicht einmal bemerken, dass sie immer unfreier werden. Unterliegt die Kunst? Vermutlich. Aber der eigenen Schwerkraft folgen, sich fragen, was man selbst überhaupt will, darin steckt die Gegen­ logik zur herrschenden Verwertungslogik: ein lebensnotwendiger Rest Hoffnung.

trifft den schrillen Charme des frühen 20. Jahrhunderts sehr genau. Die Aufführung

­Bordellszene plötzlich ins Grellbunte. Diese

Wie geht man bei dreihundert Aufführungen mit

ist aus Musik, Bewegung, Sprache und Licht

Dinge entwickeln einen ungeheuren Aus-

der Routine um? Inge Keller sagte einmal, dass

gemacht. Ein Konstrukt!

druck. Da sind dann solche Begriffe wie bür-

sie ungefähr in der 145. „Iphigenie“ ihren einzi-

gerlich oder proletarisch, die in der Geschich-

gen echten Blackout auf der Bühne hatte, weil

Manche erblicken darin eine Art Marionetten-

te bekanntlich des Öfteren ihre Bedeutung

sie sich zu sicher fühlte. Kennen Sie solche

theater, das den Schauspielern jede Freiheit

wechselten, am Anfang positiv besetzt waren,

­Situationen?

nimmt.

sich dann ins Negative wendeten, nicht mehr

Ich teile ja die Peachum-Rolle brüderlich mit

Das Gegenteil ist der Fall! Aber man muss

so entscheidend.

Veit Schubert, der einen Teil der Vorstellun-

sich natürlich erst einmal auf die Künstlich-

gen spielt, sodass ich immer mal aussetze.

keit, die exakten Vorgaben einlassen. Und

Sie sind der Bettlerkönig Jonathan Peachum,

Routine kenne ich überhaupt nicht, ich bin

dann entdeckt man die Freiheitsräume darin.

der sogar noch aus dem Betteln – also weniger

eher ein Angsthase und halte mich an Ham-

Das ist das Gegenteil jedes Sozialnaturalis-

als nichts – systematisch ein Geschäft macht.

lets „Bereit sein ist alles“. Es gibt keine bloße

mus, der naiv und sentimental bleibt. Das ist

Heißt das, es gibt im Kapitalismus nichts, womit

Wiederholung, der Schauspieler ist schließ-

vor allem fremd.

man nicht handeln könnte, sogar noch mit den

lich kein Automat. Er braucht ein poetisches

Ausgestoßenen?

Bewusstsein, muss jedes Mal wieder anders

Brechts Standpunkt ist der des proletarischen, nicht

Der Neoliberalismus suggeriert uns ja, dass

mit dem Raum umgehen, mit den Mitspielern –

des bürgerlichen Theaters – und wo steht Wilson?

jeder ein Geschäftsmann sein soll. Das ist

und vor allem für die verborgenen Möglichkei-

Wilson versteht sich als amerikanischer

­natürlich Unsinn. Nicht jeder kann oder will

ten der Figur offen bleiben. Jede Vorstellung

Brecht-Erbe, war mit Heiner Müller befreun-

das. Da hat das Theater stärker denn je seine

muss man neu spielen – auch die dreihun-

det. Natürlich begibt er sich mit seiner schril-

utopische Funktion, es muss zeigen, dass es

dertste. //

len Art zu arbeiten auch in die Gefahr des

nicht bloß den sich immer schneller drehen-

Kunstgewerbes. Aber allein schon wie er

den Kreisel von Geldverdienen und Konsu-

die Farbe einsetzt, ist immer überraschend.

mieren, von Arbeiten, Fressen, Schlafen und

Schwarz-Weiß-Kontraste wechseln in der

Ficken gibt.

Die Fragen stellte Gunnar Decker.


SoS (Soft Solidarity) Ausstellungsprogramm 2019 Kuratiert von Nataťa Ilić und Solvej Helweg Ovesen

Alice Chreischer 21.02. bis 06.04.2019

Sissel Tolaas

18.04. bis 25.06.2019

Peter Voss-Knude 12.09. bis 26.10.2019

Rajkamal Kahlon

05.12.2019 bis 11.01.2020


1719–2019 Das Theaterjubiläum Jubiläumswochenende 18.–20.01.2019

Festwochenende 03.–05.05.2019

18.01.2019 Buchpräsentation

03.05.2019 Premiere Farm der Tiere Live-Film-Inszenierung nach der Parabel von George Orwell und der Bühnenbearbeitung von Peter Hall Regie & Bühne: Klaus Gehre

Festakt und Premiere Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui von Bertolt Brecht Regie: Annette Pullen 19.01.2019 Podiumsdiskussion zum Thema „Stadttheater der Zukunft“ 20.01.2019 Jubiläumsfest − 16.03.2019 Die lange Nacht des Tresenlesens 11., 12. & 13.04.2019 Bed & Breakfast Performance von und mit Heike Schmidt und Thilo Thomas Krigar April bis Juli 2019 Ringvorlesung: „Theater in Erlangen“ in Kooperation mit der FAU Erlangen-Nürnberg

04.05.2019 Uraufführung Femdom Manifest einer neuen Weiblichkeit Regie: Mathilde Lehmann 05.05.2019 Uraufführung Wo Wohnen? Ein Stationendrama der Erlanger Bürgerbühne Regie: Matthias Spaniel Alle Informationen und weitere Veranstaltung des Theaterjubiläums unter www.theater-erlangen.de

Das Jubiläumsbuch 300 Jahre Theater Erlangen Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft Herausgegeben von Karoline Felsmann und Susanne Ziegler 300 Jahre Theater Erlangen lädt ein zum Entdecken und zum Erinnern – mit Berichten, Interviews und Anekdoten, reich illustriert und mit vielen bislang unveröffentlichten Originaldokumenten. Das Jubiläumsbuch erscheint am 18.01.2019 im Verlag Theater der Zeit


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