Theater der Zeit 02/2022 - Henry Hübchen

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Künstlerinsert Jan Speckenbach / Stück Labor: Neue Schweizer Dramatik / Porträt Dada Masilo Lessing-Preis für Wilfried Schulz / Theater Rampe Stuttgart / Corona in Sachsen: Lutz Hillmann

EUR 9,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Henry Hübchen

Februar 2022 • Heft Nr. 2


SPIELZEIT 2021/2022 PREMIEREN 2. HÄLFTE

Wiedersehen

WIR SIND RIO!

Konzert in 7 Bildern mit Songs von Rio Reiser und Ton Steine Scherben ¬ ab 14 Jahren Regie: Franziska Ritter Musikalische Leitung: Dominik Tremel Bühne/Kostüme: Klaus Noack Plauen 26. März 2022 ¬ Vogtlandtheater

FRANKENSTEIN – DAS MONSTER IN UNS

WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF?

Musikalische Expedition nach Mary Shelleys Frankenstein ¬ ab 14 Jahren Regie: Thomas Esser ¬ Co-Regie: David Ripp Musikalische Leitung: Melchior Walther Bühne/Kostüme: Anja Kreher Zwickau 29. April 2022 ¬ Gewandhaus

DER BESUCH DER ALTEN DAME

Kinderstück von Andri Beyeler ¬ ab 5 Jahren Regie: Annette Müller Bühne/Kostüme: Oliver Kostecka Zwickau 19. Juni 2022 ¬ Innenhof August Horch Museum

Schauspiel von Edward Albee ¬ ab 14 Jahren Regie: Jan Jochymski Bühne/Kostüme: Josefine Krebs Plauen 11. Februar 2022 ¬ Kleine Bühne

Tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt ¬ ab 14 Jahren Regie: Peter Kube Bühne/Kostüme: Barbara Blaschke Zwickau 5. März 2022 ¬ Gewandhaus

PIG BOY 1986-2358 (DSE)

Replay der Menschwerdung ¬ Stück von Gwendoline Soublin ¬ Deutsch von Lydia Dimitrow, Andreas Jandl und Corinna Popp ¬ ab 14 Jahren Regie: Charlotte Sofia Garraway Bühne/Kostüme: Mayan Tuulia Frank Video: Valentin Seuß Plauen 24. März 2022 ¬ Kleine Bühne

DIE KUH ROSMARIE

ROCK OF AGES

Musical Comedy von Chris D’Arienzo ¬ ab 14 Jahren Regie: Holger Hauer Musikalische Leitung: Stefan Wurz Bühne/Kostüme: Andrea Eisensee Choreografie: Sven Niemeyer Zwickau 30. Juni 2022 ¬ Freilichtbühne am Schwanenteich

www.theater-plauen-zwickau.de


editorial

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A

m 13. Januar, einen Tag vor der Wiederöffnung der Theater in Sachsen nach sieben Wochen Kultur-Lockdown, fand das Gespräch mit dem Bautzner Intendanten Lutz Hillmann statt. Hillmann, zugleich Vorsitzender des Landesverbands im Deutschen Bühnenverein, sieht das Verständnis für Restriktionen im Kulturbereich, das anfangs noch sehr groß war, zunehmend schwinden. Am Öffnungswochenende war dann zwischen Dresden und Annaberg-Buchholz die große Erleichterung darüber zu spüren, dass man einer fortdauernden Schließung erst mal entgangen ist und einfach wieder spielt. In Annaberg-Buchholz gab es sogar eine kleine Zeremonie mit der Kulturministerin Barbara Klepsch –, die von dem künftigen und hiermit begrüßten TdZ-Sachsen-Redakteur Michael Bartsch beobachtet wurde. Henry Hübchen, dem wir hier zum Jubiläum gratulieren, hat in seiner langen Bühnenlaufbahn, die einst in Magdeburg begann, keinen Theater-Lockdown erlebt. Andererseits: Schon vor rund zwanzig Jahren spielte er seine letzte Rolle in Frank Castorfs Inszenierung „Der Meister und Margarita“ an der Berliner Volksbühne, wo er später, gegen Ende der Ära, noch einmal als Puppe vervielfältigt und zur Legende geworden, auftauchte. In jener Bulgakow-Inszenierung wirkte auch ein Kamera-Mann und Video-Künstler mit, Jan Speckenbach, dessen Arbeiten zwischen Bühne und Film das Künstler-Insert in diesem Heft gewidmet ist und der aus diesem Anlass einen ausführlichen Beitrag zu ihrer Ent­ stehung mit grundsätzlichen Reflexionen zum Thema Video verfasst hat. Renate Klett porträtiert die südafrikanische Choreografin Dada Masilo, deren hinreißende Inszenierungen inzwischen in ganz Europa bekannt sind. Nebenbei erfährt man aber auch, wie in ihrem Fall internationale Theaterarbeit eingeschränkt wurde, Projekte umgeplant werden mussten und vieles, was längst wie ganz normal zum Austausch der Kulturen gehörte, auch für das Theater neu gedacht werden muss. Insofern spannt sich das Problem, das uns alle weiterhin beschäftigt, in diesem Heft von Sachsen bis Süd-Afrika. // Thomas Irmer

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Inhalt Februar 2022 protagonisten

kunstinsert

look out

11

Hans-Dieter Schütt Happy Birthday, Henry Hübchen Zu alt für jedes Spielzeug – aber noch immer zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen

14

Lothar Trolle Nachbar Henry H.

15

Herbert Fritsch Schlangenbeschwörung

16

Leander Haußmann 10 Zeilen über Henry Hübchen

10

4

Jan Speckenbach Projektionen

8

Jan Speckenbach Jenseits der Leinwand Der Filmemacher Jan Speckenbach über seine Theaterarbeit mit der Kamera

17

Elisabeth Maier Eintauchen in viele Leben und Geschichten Die Esslinger Schauspielerin Nathalie Imboden sucht die starke Seite in ihren Frauenrollen 17

preisverleihung

18

Wilfried Schulz Vernunft und Empathie Eine Danksagung zur Verleihung des Lessing-Preises des Freistaates Sachsen 2021

neustart

20

Tom Mustroph Doppel-Intendanz im Container Alexander Riemenschneider und Christina Schulz machen das Theater an der Parkaue Berlin zukunftssicher

freies theater

23

Elisabeth Maier Autorenschaft in Zeiten der Sprachlosigkeit Das Stuttgarter Theater Rampe setzt auf die Entwicklung neuer Dramatik und hat sich als Produktionshaus für die freie Szene etabliert

ausland

26

Renate Klett Feier des Lebens Ein Porträt der südafrikanischen Choreografin Dada Masilo

26


inhalt

/ TdZ Februar 2022 /

auftritt

30

Bamberg „Der endlos tippende Affe“ von Björn SC Deigner (UA) in der Regie von Mirjam Loibl (Michael Helbing) Berlin „Symphony of Progress“ von Nicoleta Esinencu (Thomas Irmer) Essen/Gelsenkirchen „AufRuhr“ von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt in der Regie von Volker Lösch und „Stadt der Arbeit“ von Volker Lösch und Ulf Schmidt in der Regie von Volker Lösch (Sarah Heppekausen) Frankfurt/Main „Liberté oh no no no“ von Anja Hilling in der Regie von Sebastian Schug (Björn Hayer) Hannover „Aufzeichnun­gen aus dem Kellerloch. Bei nassem Schnee“ nach Fjodor M. Dostojewski in der Regie von Lukas Holzhausen (Lina Wölfel) Mannheim „Meine geniale Freundin – Teil 2“ nach dem Roman von Elena Ferrante in der Regie von Felicitas Brucker (Elisabeth Maier) Potsdam „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ von Sibylle Berg in der Regie von Anna-Elisabeth Frick und „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer in der Regie von Marlene Anna Schäfer (Erik Zielke)

43

Wieso fühlen wir uns von der Kleinfamilie so angegriffen? Ein literarisches Gespräch zwischen Anne Haug und Ariane Koch über „Ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)“ von Anne Haug

45

Anne Haug Ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)

50

Dialoge zwischen Wolke und Tropfen – Poesie und politische Kunst Die Autor:innen Maria Ursprung und Anna Papst sprechen über „Die nicht geregnet werden“ von Maria Ursprung

52

Maria Ursprung Die nicht geregnet werden

67

Lalitha Del Parente Stück Labor und Luminanza Eine Begegnung italienisch-, deutsch- und französischsprachiger Schweizer Dramatik zum 10-jährigen Jubiläum

magazin

68

Kraftwerk Schleef Kurzer Bericht vom Einar-Schleef-Symposion in Wien Über Grenzen „GREEN LINE“ der LOSE COMBO in den Berliner Uferstudios Theater für seine Zeit Zum Tod des Dramatikers Harald Mueller Nachruf auf Michael Ramløse, einem 68er des Kindertheaters Bücher Ariane Koch, Till Nitschmann/Florian Vaßen (Hrsg.), Andrej Tarkowski

aktuell

76

Meldungen

78

Premieren

79

Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

80

Lutz Hillmann im Gespräch mit Thomas Irmer

30

stück labor – neue schweizer dramatik

was macht das theater?

80

Titelfoto Henry Hübchen Foto Marcus Höhn / laif

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Projektionen, Tafelbilder von Jan Speckenbach in „Hexenjagd“ von Arthur Miller am Schauspielhaus Zürich, 2016, Regie Jan Bosse. Foto Tanja Dorendorf



Videoprojektion in „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti an der Staatsoper Hamburg, 2021, Regie Amélie Niermeyer. Foto Brinkhoff-Moegenburg


„a.N.N.a.“ entstand 2019 im Rahmen der Inszenierung von Jan Bosses „Frankenstein / Homo Deus“ am Hamburger Thalia Theater.


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Jenseits der Leinwand Der Filmemacher Jan Speckenbach über seine Theaterarbeit mit der Kamera

N

eben der Live-Videoarbeit am Theater, die ich zuerst für Frank Castorf um 2000 an der Volksbühne begonnen habe, war von Anfang an die Erstellung von Zuspielern ein wichtiger ­Bestandteil meiner Tätigkeit, also von Videofilmen, die in der Inszenierung laufen, sie kommentieren, erweitern, kontrastieren etc. Ich hatte anfangs den Ehrgeiz, die Leinwand nie leer werden zu lassen. Eigentlich war der Gedanke eher, sie dadurch unsichtbar zu machen, indem sie konstant bespielt wird. Dieser Anspruch war im Grunde nur bei den Arbeiten für Castorf zu realisieren, der den „Gegendruck“ einer solchen Stimme aushielt. Es gibt kaum ein hässlicheres Objekt im Theater als eine Leinwand. Daher freue ich mich immer, wenn man auf andere Objekte projizieren kann, eine Wand, ein Fenster, was immer. Oft hat man ohne Leinwand dann aber Schwierigkeiten damit, dass das Video nicht gut sichtbar ist. Das Licht ist immer dominanter als eine Videoprojektion, man muss also mit der Beleuchtung Rücksicht nehmen, dann wird alles zu duster usw. – die Gründe, Video einfach wegzulassen, sind mannigfaltig … Video finde ich im Theater dann interessant, wenn es eine eigene Stimme hat. Viele Regisseure erwarten vom Video hauptsächlich eine Art Ergänzung zur Bühne, eine Unterstützung. ­Paradoxerweise findet aber die genau dann statt, wenn man die eigene Stimme zulässt, und sie wird geradezu verhindert, wenn man sie unterdrückt. Dann wird Video zur Illustration, zur Bestätigung dessen, was eh schon da ist. Und also überflüssig. Video

dient oft als Ankerpunkt der Außenwelt oder all dessen, was nicht auf der Bühne sichtbar ist, sei es als Zitat eines historischen Films, als Dokument der Gegenwart oder als Inszenierung einer Fiktion. Das mag ich, weil es der konventionellen Vorstellung von Theater als Einheit von Raum, Dauer und Ablauf (analog zur Dramentheorie) entgegenläuft. Es sprengt sie und bringt damit ein sehr freies Element ins Spiel: das Off, wie es beim Film heißt, oder wie die Franzosen sagen: das hors-champ, also das, was nicht im Bild bzw. auf der Bühne ist. So habe ich an der Hamburger Staatsoper in Amélie Niermeyers Inszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ mit acht Tänzerinnen eine Art stream of consciousness gedreht, in dem ausschließlich die Gefühlswelt der Protagonistin zu Bild kam. Diese Definition von Video als hors-champ hat sich schon Castorf für seine Live-Videoarbeit zu eigen gemacht, wo man ja im Wesentlichen dort filmt, wohin der Blick des Zuschauers nicht dringt. Dass es dann wieder toll sein kann, genau diese Filmerei unmittelbar vor die Zuschauer zu ziehen, um einen besonderen Schock durch das Aufeinanderprallen des gesehenen und des gefilmten Bildes zu erreichen, eine Art Zusammenstoß von Jenseits und Diesseits, widerspricht dem nicht. In Castorfs Inszenierung von Dostojewskis „Idiot“ gab es einen Moment, in dem Martin Wuttke, Bernhard Schütz und ich mit der Kamera eine enge Treppe

Jan Speckenbach bei Dreharbeiten zu „Lucia di Lammermoor“ in Hamburg. Foto Dustin Klein


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hinuntergingen und dann für einen epileptischen Anfall ins Freie traten direkt vor die Zuschauer. Diesen Moment habe ich sehr geliebt. Holbeins toter Christus, den Bert Neumann im Zimmer an die Wand gehängt hatte, weil Dostojewski von ihm spricht, Tod und Auferstehung, Wahnsinn und Klarheit trafen hier aufein­ ander. Danach war Pause, dem konnte man erst mal nichts hinzufügen … Eine Zeit lang habe ich dagegen völlig andere Stilmittel erprobt, etwa mit animierten Zeichnungen experimentiert. Für Jan Bosses Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ im Zürcher Schiffbau habe ich Kreidezeichnungen gemacht, Schmierereien, die auf Stéphane Laimés Holzhäuser projiziert wurden und dort ihr Eigenleben entfalteten. Das war sehr zeitaufwendig, hat aber unheimlich Spaß gemacht. Und funktionierte im Theater deshalb gut, weil es immer einen Kontext für diese Kritzeleien gab, an dem sie sich reiben konnten. In einer Galerie wären sie Kunst geworden und damit langweilig. Der Begriff von Theater hat sich als ungeheuer dehnbar erwiesen. Technische Stilmittel wurden (bei allem Widerstand) integriert, sie zählen nun zu ihm, Video genauso wie Tonspuren inklusive Soundtrack-Kompositionen etc. Das Theater hat vom Film gelernt (und abgestaubt). Das war möglich, weil es seinen Ort, nämlich die Bühne hat, wo alles zusammenfließt. Alles im Theater wird zu Theater. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass es der Film da unvergleichlich schwerer hat, weil er dabei ist, seinen Ort, das Kino, zu verlieren und mit ihm seine Mitte. Wann immer man das Kino verteidigt, wird die Einzigartigkeit des kollektiven Erlebnisses betont. Aber es stellt sich die Frage nach der Relevanz des Arguments, denn das Publikum kommt mehr und mehr abhanden. Sind Streamingfilme auch Kino? Sicher kann man diese Frage oft genug mit Ja beantworten. Das Flatrate-Prinzip bietet aber keinen Ersatz für den Ort, den früher die Programmkinos oder die großen Kinohäuser darstellten, die eine Garantie für bestimmte Formen von Filmen bedeuteten. Eine ähnliche Diskussion gab es im Theater während der Schließungen im Lockdown: Ist Streaming überhaupt noch Theater? Muss Theater nicht immer live sein vor einem Publikum? Bei dieser Diskussion fühlte ich mich an die alte Kritik am Video im Theater erinnert, an den Vorwurf der Distanzierung, die durch das technische Bild aufkomme, der Entfremdung der Mittel usw. Letztlich ist nur entscheidend, ob etwas interessant ist und ob es funktioniert. Die Fragen des Prinzips werden doch auf kurz oder lang gekippt. Beim Film fängt man immer wieder von vorn an. Man lernt aus diesem Grund zu schätzen, was die Häuser der Theater an Komfort bieten, an Angestellten, Fachkräften, Ressourcen und Equipment. Beim Film kann man nicht auf etwas aufbauen (schon gar nicht auf der Theaterarbeit, die kaum einen interessiert). Gleichzeitig ist meine Rolle beim Filmemachen eine andere, weil ich da selber Regie führe, schreibe und schneide. Mittlerweile interessiert es mich, auch am Theater einmal die Seiten zu wechseln, selbst zu inszenieren. Lange schien mir das unmöglich, eben wegen des Blicks, der meine Sichtweise prägt. Jetzt scheint es mir gerade reizvoll, sich dem Theater aus filmischer Perspektive zu nähern. Aber zum Film zieht es mich nach wie vor, weil da die Rechnungen noch offen sind. Da muss man noch was rausfinden,

jan speckenbach

gerade jetzt, wo es unglaubliche Auftriebskräfte durch die neuen, weltweit vernetzten Märkte gibt und gleichzeitig eine krasse Realität (und Mentalität) der Krise, wenn man vom Kino her denkt. Ob der Kinofilm an dieser Stelle vom Theater lernen (oder gar abstauben) kann, ob weniger mehr sein kann oder ob angesichts der Verdrängungsmechanismen, die gerade wirken, die Algorithmen des Massengeschmacks maßgebend werden, ist nicht endgültig abzusehen. Aber es bleibt eine Hoffnung, dass sich das Besondere durchsetzt, auch wenn es keinen Ort hat. Ich fühle mich am Theater bis heute als Gast, wenn nicht sogar Zaungast. Sollte ich eine gewisse Souveränität dort haben, dann hängt sie mit diesem fremden Blick auf die Arbeit zusammen. Ich arbeite sehr gerne am Theater und liebe die Schnelligkeit, die hier möglich ist, anders als beim Film, wo alles immer lange in der Vorbereitung dauert, bis man endlich produziert und dann die Hektik ausbricht. Zwar gibt es Panik und Krise auch zur Genüge in der Theaterarbeit, aber sie ist anders gelagert. Man kann über die eigenen Lösungen in der Regel noch einmal nachdenken, zur Not selbst nach der Premiere noch. In „Erniedrigte und Beleidigte“ gab es eine Szene, wo die moralische Doppelzüngigkeit des Fürsten, gespielt von Henry Hübchen, kommentiert werden sollte durch eine Reihe von pornografischen Bildern. Die schoben sich unauffällig in einen Strom aus Werbeclips. Ich habe eine ganze Reihe von Vorstellungen gebraucht, um herauszufinden, dass nicht die schönen Models es waren, die den pornogra­ fischen Bildern eine besondere Schärfe verliehen, sondern Clips für Rohrreiniger und Zahnbürsten. Eine solche Arbeitsweise geht aus organisatorischen, finanziellen und medialen Gründen beim Film nicht, wenn man von der Praxis der Testscreenings absieht, die versucht, Erfahrungen mit einem Publikum zu verwerten – daher versucht man, alles vor dem Dreh zu planen und jedes Detail auf seine Notwendigkeit hin abzuklopfen, was etwas Ausbremsendes und Demotivierendes haben kann. Das fühlt sich am Theater anders an, die Freiheit ist dort eine andere. Beim Film gestattet nur der Schnitt ein Überdenken des Gedrehten, der aber funktioniert anders, weil er die Kontexte verändert, nicht die Einstellungen selbst. Mich faszinieren die Ebenen des Schreibens und damit eng verwandt des Schneidens. Da fühle ich mich zu Hause, so widersprüchlich das klingen mag bei einem, der am Theater vor allem mit der Produktion von Bildern beschäftigt ist. Am Theater wieder fasziniert mich die Durchlässigkeit, die gestattet, alles jederzeit infrage stellen zu können und sich der Sache nicht zwingend rational, sondern energetisch anzunähern. Wenn ich vom Film her aufs Theater schaue, so muss ich diesen Blick auch in der Gegenrichtung auf den Film hin wenden. Etwas von dem Freiheitsgefühl, das mich manchmal bei der Arbeit für die Bühne durchläuft, würde ich dem Kino gerne weitergeben! //

Jan Speckenbachs Kinofilm „Die Vermissten“ hatte auf der Berlinale 2012 Premiere, „Freiheit“ 2017 in Locarno. Der Science-FictionKurzfilm „a.N.N.a.“ entstand 2019 am Thalia Theater, Film-­ Premiere bei den Hofer Filmtagen. Im Theater arbeitete er u. a. mit den Regisseur:innen Frank Castorf, Sebastian Hartmann, Amélie Niermeyer, Jan Bosse und jüngst René Pollesch.

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henry hübchen

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Happy Birthday, Henry Hübchen Zu alt für jedes Spielzeug – aber noch immer zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen

von Hans-Dieter Schütt

E

s ist grausam. Es ist eine Menschenrechtsverletzung. Denn er sitzt in der ersten Reihe, wird gepackt, auf die Bühne geschleudert. Wird geschlagen, zerbogen: ein bös Misshandelter. Jetzt noch ein Unterleibstritt – als Denkmalsturz. Und dort drüben liegt, ihm aus dem Leib gerissen: ein Bein. Das ist Henry Hübchen, in „Baumeister Solness“, in der letzten Ibsen-Inszenierung von Frank Castorfs Volksbühne. Er wird an diesem Abend von Mitspielern behandelt wie eine Lumpenpuppe. Er ist tatsächlich eine Lumpenpuppe, im Smoking. Es sitzen viele Puppen in der ersten Reihe, und alle sind: Hübchen. Alle im Smoking. Von der Bühne aus wird ­Kathrin Angerer eine dieser Puppen anjaulen: Mensch, Henry! Als klagte sie: Wo bist du? Warum hast du uns verlassen? Alter Arsch! Immer klagt man die schönste Zeit des Lebens an – weil sie es wagte, eines Tages vorbei zu sein. Dieser Schauspieler war eine lange schönste Zeit Blick- und Begeisterungsfang an Berlins Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz. Nach seiner Theaterzeit dann wurde er ein Star des deutschen Volksfilms und des deutschen Volksfernsehens – etwa als Commissario Laurenti oder als spielsüchtiger Ex-Sportreporter Jackie in Dani Levys „Alles auf Zucker!“. Er wirkt in seiner Kunst wie ein knurriges Schlachtschiff, das andere leck schießt, jedoch in unglaublicher Würde selber auf Grund läuft – aber: Noch an seinem Wrack erleiden die anderen Schiffbruch. Längst ergraut ist er. Ein Mann im Alter der Melancholie. Mit müd geschmerzter, aber ironieheller Lebenserfahrung in den traurig witzblinkenden Augen. Und den Tango hat er auch nicht mehr allzu kräftig in den Beinen – dafür aber (arrogant-charmantes Grinsen!) umso mehr in den Gesichtszügen. So jedenfalls sagte er es auftrumpflustig in Andreas Dresens Film „Whisky mit Wodka“ – in der Rolle jenes „Endstation Amerika“, nach Tennessee Williams, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2000, mit Kathrin Angerer. Foto Marcus Lieberenz

Schauspielers, der im Team so trotzig wie vergeblich um seine wacklig gewordene Star-Position kämpft. Ein Glanzpart. Hübchen ist kein Verwandler. Er behängt sich mit nichts. Das hat was Unerschütterbares und könnte seinen Gestalten ­etwas auftrumpfend Schwerköpfiges geben – wenn er sie nicht so frech irdisch auf leichten Fuß stellte. Mit amüsiertem Überdruss. Die Trauerränder des Lebens – bei ihm sind sie mit Comic-Ein­ lagen, mit jungenhafter Ruppigkeit wunderschön schillernd ­eingefärbt. Der naive Junge Henry war einst nur bekannt aus der zweiten Reihe von DDR-Volksbühnenaufführungen und „Polizeiruf 110“-Filmen. In Frank Beyers großem DEFA-Erfolg „Jakob der Lügner“, in dem er den Judenstern trägt, blitzte plötzlich Tieferes bei ihm auf. Vorher hatte er über längere Zeit viel Zeit; und statt Theater zu spielen, surfte er sich lieber zum zweifachen DDRMeister im „Brettsegeln“, komponierte für die Gruppe City den Hit „Casablanca“. Volksbühnen-Regisseure wie Heiner Müller und Fritz Marquardt misstrauten Hübchen stets ein wenig, sie benutzten hauptsächlich nur die Folie des romantisch wirkenden Jünglings. Zuvor, am Theater in Magdeburg, in den frühen Sieb­ zigern, hatte er Schiller und Kleist gespielt. Auch bedeutende Komponisten versetzen damals die Bühnen in kräftige Schwingungen, Friedrich Goldmann komponierte für Volker Brauns „Kipper Paul Bauch“ in Magdeburg die Musik (Regie: Hans-Dieter Meves, Dieter Roth), und dem gefährlichen Satz von der DDR als „langweiligstem Land der Erde“ gewann Hübchen jenen typisch liebenswerten Schnodder ab, der traf und doch nicht vernichtete. Geboren wurde er 1947 in Berlin-Charlottenburg. Sohn ­eines Konstrukteurs und einer Buchhalterin. Ahnenforschung betrieb er und vermutet Wurzeln in der Gilde deutscher Tagelöhner. Das ist er dann selber geworden, bei seinem Quälmeister Frank Castorf. Wurde in dessen Clan ein Jahrelöhner, wurde geschmeidiger Tänzer auf dem Wegbeiß-Pflaster der Volksbühne. War der Leitwolf, der nicht Figuren spielte – er spielte mit ihnen. Spielt so noch immer, auch im Film. Als werde im nächsten Moment etwas geschehen, das doch nie geprobt wurde. Das ist Kunst, die gran­ dios verinnerlicht hat, wie das Leben irr- und querläuft. Und die sich also verbietet, wie geschmiert zu laufen.

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Alles ganz so, wie er vor einiger Zeit in Robert Thalheims Film „Kundschafter des Friedens“ zu sehen war, als Boss dreier abge­ takelter, nun aber recycelter DDR-Spione, die im BND-Auftrag ­ex-sowjetische Seilschaften aufmischen. Wie Hübchens MfS-Barde Falk sein Bierflaschen-Einkaufsnetz hütet, wie er dann in neu ­gewecktem Arbeitseifer außer Rand und Bond gerät, wie er die Räume durchstürmt, freilich nur noch wie ein schüchtern ge­ führtes Rasiermesser – das ist die Tragödie eines Ausgemusterten wie die Komödie eines Illusionisten. Der meint, noch einmal sei seine Zeit gekommen. Aus der er doch längst herausfiel. Wieder der ganze Hübchen: schnoddrig, mürrisch, eine liebenswert­ ­verkrachte Existenz. Er ist als chaplinesker Philosoph ein gelernter Ostler, gemacht also aus verhunztem genetischem Material, so wie es die Castorfianer vor vielen Jahren in „Golden fließt der

„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1997, mit Kathrin Angerer. Foto David Baltzer/bildbuehne.de


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Stahl / Wolokolamsker Chaussee“ vom arbeitsscheuen DDR-Menschen sangen: „Ich lieg um zehn noch auf der Matte / Und ratz mir einen weg / Draußen kommt der Westler / Und recycelt meinen Dreck / Er macht ’ne Menge Kohle / Und denkt, er ist hier King / Und wenn er abends umfällt / Hört er, wie ich sing// Er hört nicht auf zu schuften / Was für ein armes Schwein / Versuch’s doch mal mit Hungerstreik / Auch du kannst Ostler sein … “ Das war sie, die Lebens- und Arbeitsphilosophie an der Volksbühne, dem Berliner Sofa Oblomows. Als Ostler rutscht man gefälligst auf Berliner Kartoffelsalat aus, nicht auf Bananen („Pension Schöller / Die Schlacht“). In dieser Rolle des Provinzlers Philipp Klapproth spielte sich Hübchen 1994 auf einen Höhepunkt jüngerer Theatergeschichte. Ärmstes aller deutschen Würstchen und doch auch Schmerzensmann; ein heiliger Märtyrer des Kleinbürgertums. Wenn er als Fabrikant Dreißiger in den „Webern“ oder als Professor in den „Dämonen“ ins plusternde, rotzige Philosophieren kam, dann schwang stets eine erzürnte Menschlichkeit mit, eine erniedrigte Sehnsucht. Der Parteichef in Sartres „Schmutzigen Händen“: Komm, wir spielen Revolution und Kompromiss. Komm, wir spielen Masse und Mensch. Komm, wir spielen Partei und Du-und-Ich. Komm, wir spielen Treue und Verrat. Komm, wir spielen Balkankrieg. Na los, schieß doch mal auf mich. Castorf erzählt eine traurige Geschichte, aber er erzählt sie so, wie Kinder früher gern mit Zündplättchencolts loszogen: Romantisch, und wer getroffen war, musste wirklich umfallen und spielte nicht mehr mit. Vorerst. Hübchen verkörperte – von Schiller bis Dostojewski – am konturensichersten jenen Charme der Castorf-Riege. Der ja auf einer verhedderungsfreudigen Feier des Chaos beruhte. Der Volksbühnen-­ Chef bewunderte an Hübchen dessen Schnelligkeit, die keine Furcht hat, oberflächlich zu sein. Und die nur eine einzige Hoffnung hat: spielend bloß nicht dort anzukommen, wo eine Rolle, eine Haltung richtig, wohlgefällig, eingängig sein könnte.Castorfs erste Arbeit mit Hübchen fand zu DDR-Zeiten in der Prärie statt, genannt Anklam, „die treuesten Zuschauer waren Stasispitzel, die immerhin den Mut hatten, ihre Dummheit dem Theater auszusetzen“. Hübchen spielte den Ehemann in „Nora“, da offenbarte sich, sagte C ­ astorf, „was auch mich prägt, dieser ewige Spießer, der gern anders sein möchte, der alle Liebenswürdigkeiten dieser Welt hat, aber auch alle totalitären Veranlagungen, um anderes Glück zu zerstören“. Der Charme der Castorf-Akteure beruhte auf einem schrägen Fest des Augenblicks, auf einer verhedderungsfreudigen Feier des Vorläufigen. Hübchen – das war und ist eine fortwährende Fluchtbewegung: Nur weg aus den Gefahrenzonen der Virtuosität! Aber so grell und grob die Regelverletzungen mitunter wirken mögen – es gab in dieser Partnerschaft von Regisseur und Darsteller kein stolzes, höhnisches Aufdrängen der Effekte. Im muntersten Chaos herrschte ein schöner, lässiger Ernst auf der Bühne. Auch schon lange her: Castorf brachte mit der „Stadt der Frauen“ seine Liebe zu Fellini auf die Bühne. Dessen Lieblingsort Rimini als Hauptort allen Lebens: eine Provinzgeisterstadt – wer von hier weggeht, hat gewonnen. Aber keiner geht weg – die Physik der trägen Ohnmacht setzt die besten Energien frei. Es siegt, wer so sympathisch scheitern kann. Hübchen, der wehmutswitzige Zonen-Mastroianni. Man sah ihn und wusste: zu alt für jedes Spielzeug – aber zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen. Das stimmt noch heute, da er fünfundsiebzig wird. //


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Lothar Trolle NACHBAR HENRY H. Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, was heißt es schon, benachbart zu wohnen? Hin und wieder begegnet man sich auf der Treppe, der eine kommt von oben und will nach unten, der andere kommt von unten und will nach oben, der eine will nach draußen, und der andere kommt von dort. Doch halt, da ist noch etwas: Man hat seinen Wohnungsschlüssel vergessen und steht nun vor der Wohnungstür, was jetzt? Ein Glück, man hat ja einen zweiten Wohnungsschlüssel beim Nachbarn deponiert, und der ist sogar zu Hause! Und doch fällt auf, wie viel Mühe Henry, wenn er auf die Straße geht, hin und wieder verwendet, sich so anzuziehen, dass selbst ich meine Schwierigkeiten habe, ihn zu ­erkennen. Legt er so viel Wert darauf, da draußen unerkannt unterwegs zu sein, nicht gesehen zu werden? Und das nach ­einer fast 40-jährigen Bühnenkarriere! „Was“, wurde mein KfZ-Schrauber von seiner Mutter aus dem tiefsten Saarland

„Die Stadt der Frauen“ nach Federico Fellini, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1995, mit Astrid Meyerfeldt, Kathrin Angerer, Sophie Rois. Foto Thomas Aurin

­ ngeschrien, „du behauptest, du kennst a jemanden, der Henry Hübchen kennt, willst ihn sogar schon einmal selber ge­ sehen haben, du Spinner!“ Es war in einer der letzten Novemberwochen, als ich nachts nach drei Uhr um die Ecke Kavalierstraße bog, vor mir die …straße versank im Nebel, kaum noch auszumachende Schatten waren­die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und auch die Bäume beiderseits der Straße verschwanden im Nebel, war da noch jemand anderes unterwegs, nichts war zu hören, der Nebel schluckte jedes Geräusch, aber da vorn, da leuchtete im Nebel ein einsamer Stern! Nein, es war kein Stern, der leuchtete, das Licht kam aus Henrys Arbeitszimmer.


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Herbert Fritsch SCHLANGEN­ BESCHWÖRUNG Bei „Pension Schöller / Die Schlacht“ damals an der Volksbühne, da hat er mich geschockt, der Henry. Da war jede Vorstellung eine Schlacht. Ich versuchte, ihn mit meinen ­beiden Riesenschlangen, den Tigerpythons, zu traktieren. Er hatte mich immer gebeten, ihm nicht zu nahe zu kommen, aber ich wollte ihn ärgern und bin ihm sehr nahe gekommen. Das war ihm wirklich unangenehm. Was er dann aber daraus gemacht hat, war ein Feuerwerk des Slapsticks. Er machte die wahnwitzigsten Grimassen, rutschte immer wieder aus und fiel hin, spielte eine entsetzliche, saukomische Angst, und ich konnte nur noch dastehen, blöd grinsen, mit meinen beiden Riesenschlangen, die niemanden mehr interessierten, und zu guter Letzt ging er doch noch auf mich los, löste seine Hosenträger und machte die zu Schlangen, um mir zu zeigen, wie das geht. Das war der Gipfel, ein Ereignis, eine Sternstunde der Schauspielkunst, die ich nie vergessen werde, und ich ziehe meinen Hut, verneige mich und gratuliere zum Geburtstag!

„Pension Schöller / Die Schlacht“ nach Laufs / Jacoby / Heiner Müller, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1994, mit Herbert Fritsch. Foto Thomas Seufert / bildbuehne.de.


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Leander Haußmann 10 ZEILEN ÜBER HENRY HÜBCHEN 1. Henry Hübchen gibt nichts auf Lob. 2. Regieanweisungen? Hier rein, da raus. 3. Seine Domäne: die Komödie – auch seine Tragik. 4. Er glaubt, er sei faul und 5. staunt, dass man mit dem Quatsch so viel Geld verdienen kann. 6. In seinen Augen ist das alles ein großer Betrug oder 7. Bankirrtum zu seinen Gunsten. 8. „Irgendwann“, sagt er, „kommen sie uns drauf.“ 9. Henry Hübchen, man glaubt es kaum, ist bescheiden. 10. Ich liebe ihn.

„Der Meister und Margarita“ nach dem Roman von Michail Bulgakow, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz 2002. Foto Thomas Aurin

„Baumeister Solness“ von Henrik Ibsen, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2014, mit zahllosen Henry-Hübchen-Puppen im Bühnenbild von Bert Neumann. Foto Thomas Aurin


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Von diesen Künstler:innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Look Out

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Eintauchen in viele Leben und Geschichten Die Esslinger Schauspielerin Nathalie Imboden sucht die starke Seite in ihren Frauenrollen­    tarke Frauenfiguren reizen die junge Schauspielerin ­ athalie Imboden. „In der Literatur gibt es aber zu wenige daN von“, findet die 26-Jährige. Deshalb ist es für sie besonders spannend, auch in den vermeintlich schwächeren Parts die Kraft, aber auch die Unebenheiten aufzuspüren und zu zeigen. Derzeit ist sie an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen in Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ in der Rolle der etwas dümmlichen Dozenten-Ehefrau Honey zu erleben. Auf den ersten Blick geht sie im Universitätsmilieu unter. Gemeinsam mit dem Regisseur Alexander Müller-Elmau hat die junge Künstlerin aber ein Rollenporträt entwickelt, das die Figur in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. In dem grausamen Spiel zweier ungleicher Ehepaare befreit sie sich aus der Rolle der betrunkenen Ja-Sagerin, stellt kluge Fragen, bringt Licht ins Dunkel kaputter Beziehungen. Die Aus­ flüge des amerikanischen Dramatikers ins Theater des Absurden reizen die Künstlerin. Theater zu spielen und selbst auf der Bühne zu stehen, das war schon immer Nathalie Imbodens Ziel. Geboren wurde sie in Baden in der Schweiz, aufgewachsen ist sie in Aarau. „Meine Eltern hatten nichts mit dem Theater zu tun, aber meine Großmutter war Schauspielerin.“ Ihr Großvater Hannes Schmid war Dramaturg am Schauspielhaus Zürich und Theaterkritiker, hat der Enkeltochter die Liebe zur Bühne und zur Theaterliteratur in langen Gesprächen vermittelt. Nach der Schule war es für die junge Schweizerin klar, dass sie Schauspiel studieren wollte. Um den eigenen Horizont zu weiten, entschied sie sich, nach Deutschland zu gehen. An der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg hat sie ihr Studium absolviert. Für die Theatererfahrungen, die sie dort sammelte, ist Nathalie Imboden dankbar: „Da habe ich gelernt, selbst Verantwortung zu übernehmen und Haltung zu zeigen.“ Wie eine Puppe einfach auszuführen, was die Regie sagt, das wäre ihre Sache nicht. Denn die junge Frau mit dem langen

Nathalie Imboden. Foto Mona Georgia Müller

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braunen Haar ist reflektiert, hakt nach, peitscht ihre Bühnenfiguren an Grenzen. Mit ihrer leidenschaftlichen, aber kritischen Art passt sie bestens ins Ensemble der Esslinger Landesbühne, dem sie seit 2019 angehört. Die Intendanten Friedrich Schirmer und Marcus Grube haben die junge Frau noch in der Ausbildung für die Produktion „Die barmherzigen Leutʼ von Martinsried“ aus der Feder von Oliver Storz engagiert. Das Stück aus dem Jahr 1989 basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Geschichte der Dorfbewohner, die 300 im Zug gestrandete KZ-Häftlinge mit Essen versorgten, dann aber doch in den Tod schickten, hat Imboden betroffen gemacht. Rassismus und ­ Fremdenhass sind für sie Themen, die heute wieder aktuell sind. Da spielte Nathalie Imboden ein junges Mädchen, das anfangs für die Ideale der Nationalsozialisten brennt. Im Bund Deutscher Mädel verehrt sie Adolf Hitler. „Angesichts des Elends, das sie sieht, denkt sie aber um“, beschreibt die Spielerin die Wandlung, die sich in ihrer Figur vollzieht. Diesen Prozess zu zeigen, war für die junge Künstlerin ein perfekter Start in den Beruf. Über Geschichte zu sprechen, das ist Imboden wichtig. Dass sie diese Inhalte vermitteln darf, findet sie die schönste Seite an ihrem Beruf: „Ich habe das Glück, in so viele Leben und Geschichten einzutauchen.“ Wie schwierig das manchmal sein kann, hat sie bei der Arbeit an der Rolle der Ismene erfahren. In Sophoklesʼ 2500 Jahre alter Tragödie hat sie die Schwester der Protagonistin verkörpert, die sehr viel vorsichtiger und weniger mutig ist. Lustvoll tauchte Imboden da in die antike Sprache ein. Diese Wortkunst gemeinsam mit dem Ensemble zu lernen und zu pflegen, war für sie eine sehr schöne Erfahrung. Dass sie in Esslingen mit jungen wie auch mit erfahrenen Spielerinnen und Spielern arbeiten darf, gefällt Nathalie Imboden: „Wir profitieren sehr voneinander.“ In dem Ensemble arbeiten viele ehemalige Weg­ gefährten der Theatergröße Friedrich Schirmer. Da gebe es aber keinesfalls strenge Hierarchien, sagt Nathalie Imboden und lacht. Sie freut sich, wenn sie die erfahrenen Kollegen mit ihrer Neugier und mit jugendlicher Lust am Experiment anstecken darf. // Elisabeth Maier


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Vernunft und Empathie Eine Danksagung zur Verleihung des Lessing-Preises 2021 des Freistaates Sachsen


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von Wilfried Schulz

preisverleihung

Empathie in ein sinnliches Spiel miteinander zu bringen, einen ­offenen Ort zu kreieren, wo Geschichte, Gegenwart und Zukunft verhandelt werden. Theater ist dieser gemeinsame Ort mitten in der Stadt, der allen und niemandem gehört.   ehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Ver­ Auf der Bühne muss niemand Recht haben, noch nicht eintreter:innen des Freistaates Sachsen, mal Recht bekommen. Wir machen Vorschläge, bieten Perspektiven an. Ja, sie sind den Werten der Vielfalt, der Toleranz, der Menschenzuerst möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen, dass ich diesen Preis, der in einer guten und wichtigen Tradition freundlichkeit verpflichtet, aber sie belehren nicht. Jeder Mensch im Publikum sieht ein anderes Stück, nimmt sich und seine Gedanken steht, erhalte. Dank auch an die Jury, die diesen Vorschlag unterbreitet hat, und an Matthias Lilienthal für seine freundlichen und und Gefühle mit auf die Bühne, und er erträgt es, dass sein Nachbar nachdenklichen Worte. und seine Nachbarin zur Rechten und zur Linken an einer anderen Im Augenblick sind wir in den Endproben von Lessings Stelle als er lachen oder aufstöhnen, dass sie spürbar mit ihrer „Minna von Barnhelm“ am Düsseldorfer Schauspielhaus. Wenn ­ ­Empathie woanders sind. Theater ist ein zutiefst demokratisches man so will, komme ich gerade aus einer Haupt­probe der InszenieMedium, es lehrt uns, gemeinsam zu sein, sich auf eine Sache zu rung, Lessings Texte im Ohr und seine konzentrieren und Unterschiede, DiffeMenschen vor Augen. Fast hatte ich verrenzen auszuhalten. Es hilft uns aber auch, durch diesen Prozess eine Halgessen, mit welcher Klarheit bei Lessing Wilfried Schulz war von 2009 bis 2016 Intendant Argument an Argument gereiht wird, tung zu finden und sie zu vertreten. des Staatsschauspiels Dresden und leitet seit Theater ist der gemein­same Ort mitten mit welcher Konzentration zugehört und 2016 das Düsseldorfer Schauspielhaus. Die widersprochen wird, wie um die S ­ ache in der Stadt. Preisverleihung durch die sächsische Kultur­ gestritten wird und wie verrückt es ist, Haben wir diese Zeit des Nachministerin Barbara Klepsch fand virtuell statt und denkens und Nachfühlens? Zugege­ wenn es einmal nicht um das eigene kann unter www.lsnq.de/LessingPreis angesehen benermaßen leben wir in einer Welt, Recht geht, sondern um das Recht des werden. Foto Thomas Rabsch anderen. Wie ein Mensch ganz bei dem die täglich ein wenig ungeduldiger, ein wenig verzweifelter, ein ­wenig kontroanderen ist und Gefühl und Gedanke, Zuneigung und Vernunft einander an­ verser wird. Ernst Bloch nennt dies eine vielfach zerspellte Welt. Die gefühlte Dringlichkeit wächst und damit gehören und untrennbar sind. „Minna von Barnhelm“ war zu seiner Zeit ein politisches Stück, ein Krisenstück, ein Stück Gegenwartslitedie Sehnsucht danach, dass Kunst nicht nur ein Reflexionsraum, ratur, es folgte keinem idealen ­Gedanken, sondern war Ausdruck eisondern ein direkt zum Eingreifen ermutigender Handlungsraum ner gefühlten Not und Notwendigkeit. Es war übrigens ein großes sei. Dies ist in den Theatern deutlich spürbar, dies ist Teil einer geErfolgsstück, denn das Publikum hat all dies gespürt und gemocht. sellschaftlichen Debatte. Und die Pandemie, der rasende Stillstand hat Prozesse der Distinktion forciert, manchmal – im besten Falle – Jede Stadt und jedes Theater, an dem ich gearbeitet habe, sei es als Dramaturg, sei es als Intendant, hat mir andere, höchst unterauch Räume der Selbstbefragung geöffnet. Wir werden neu nachdenken müssen und wollen, auch über das Verständnis von Theater, schiedliche Aufgaben gestellt. Darauf einzugehen, diesen Aufgaben über sein Verhältnis zum Publikum, über die Freiheit der Kunst nachzuspüren, betrachte ich als einen Kern meines Berufs. Und ich denke, ich gehe nicht ganz fehl, wenn im Zentrum dieser Ehrung und, ja, auch den gesellschaftlichen Gebrauchswert der Kunst. Und meine, unsere Arbeit am Staatsschauspiel Dresden steht. In einer es werden neue Konzepte entstehen, andere als Lessing sie in seiHinsicht war die Zeit in Dresden vielleicht bislang die erfüllendste nem Gegenwartstheater entwickelte und andere als wir sie in unsein meinem Theaterleben: Ziel und Sinn der Theaterarbeit lagen ren D ­ resdner Jahren ­probierten und lebten. Die drängende Ungeduld Lessings, der eine bessere Welt wollte, sollten wir dabei genauso glasklar vor uns, was manchmal in der Deutlichkeit des Auftrags, mitnehmen wie sein Interesse an den Menschen, seine Geduld im den man verspürte, dem man aber auch nicht entkam, fast schmerzArgumentieren, im Abwägen dessen, was man – heiße man Minna lich war. Unsere Dresdner Zeit war kein frei schweifendes Spiel, von Barnhelm oder Tellheim – für diese Zukunft braucht und was war nicht gekennzeichnet vom Übermut und der Sehnsucht nach sie ausmacht. Entgrenzung der Kunst, sondern von selbstverständlicher gesellschaftspolitischer Verantwortung, die man – in seltener Identität – Abschließend ein großer Dank an alle Weggefährt:innen als Theatermacher und Bürger dieser Stadt täglich spürte. Man hataus der Dresdner Theaterzeit, an Robert Koall und Felicitas ­Zürcher, Miriam Tscholl und Jürgen Reitzler, Christian Voß und te einen Auftrag. Theater war notwendig und wurde gebraucht. Martina Aschmies, Irène Favre de Lucascaz und Roland Oertel, Eine übrigens in der Stadt Dresden historisch nicht ganz neue Erfahrung. Auch jetzt: Man wusste, was man tat und warum man es an Tilman Köhler, Friederike Heller, Volker Lösch und Roger ­Vontobel, an Sonja Beißwenger und Christian Friedel, Philipp tat. Der Spielplan schrieb sich leicht. Es ging schlicht darum, ganz im Lessingʼschen Sinne, Vernunft, die Luzidität der Aufklärung und Lux und Karina Plachetka, an die vielen Künstler:innen und Mitarbeiter:innen, die ich gerne alle nennen würde, die ihre unterschiedliche Geschichte und ihre Geschichten in das Theater ­mitbrachten und sich an einer gemeinsamen neuen Aufgabe so Wilfried Schulz vor dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Der Intendant erhielt 2021 den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. euphorisch wie kritisch beteiligten. Mögen Vernunft, Empathie Foto Thomas Rabsch und der Mut und die klugen Fragen der Kunst uns begleiten. Düsseldorf, 14. Dezember 2021

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Doppel-Intendanz im Container

Alexander Riemenschneider und Christina Schulz machen das Theater an der Parkaue Berlin zukunftssicher von Tom Mustroph


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erlin baut“, so prangt es in weißer Schrift auf rotem Grund auf einem Schild vor der Fassade des Theaters an der Parkaue. Berlinerinnen und Berlinern jagt so eine Ankündigung Schauer der Angst über den Rücken. Denn fungiert der Senat als Bauherr, wie hier bei der technisch notwendigen Sanierung des Theaters, sind Verzögerungen und Kostensteigerungen Alltag. Bis 2024 soll dieser Umbau dauern. Der ursprüngliche Bau, vor 111 Jahren als Schulgebäude errichtet und 1950 zum Kinder- und Jugendtheater umgebaut, hatte lediglich ein Jahr Bauzeit beansprucht. Alexander Riemenschneider und Christina Schulz sind allerdings zuversichtlich, dass zumindest der aktuelle Zeitplan nicht verändert werden muss. „Ein paar Sachen sind nicht im Zeitplan, was auch mit Pandemie-bedingten Materialengpässen zu tun hat. Aber dann wird in den sehr komplexen ­Abläufen versucht, ein paar Dinge vorzuziehen. Die Architekten sind optimistisch, dass der Zeitrahmen eingehalten werden kann, und wir sind das auch“, sagt Schulz Theater der Zeit. In der Zwischenzeit finden die Vorstellungen in einem ­Ersatzbau statt, einem zweistöckigen Container, der immerhin 199 Zuschauerplätze fasst und auch noch Raum für Garderobe, Foyer und sogar eine Bar hat, die bislang noch nicht öffnen konnte. Aber die temporäre Bühne wurde von Publikum, Spielerinnen und Spielern und auch der künstlerischen Leitung angenommen. „Ich finde den Container mittlerweile super. Ich bin überrascht, wie gut die drei neuen Produktionen darin funktioniert haben, wie unterschiedlich sie auch in dem Raum wirken“, zeigt sich Riemenschneider vom Provisorium regelrecht begeistert. Es gäbe noch ein paar ‚Kinderkrankheiten‘, ergänzt er, vor allem bei der Elektronik. Auch die Heizung macht sich gelegentlich mit spukhaftem Knarzen in den großen Rohren bemerkbar. Aber die Ersatzspielstätte funktioniert. „Die Dimensionen des Raums sind groß genug, um ein richtiges Theatergefühl zu erzeugen“, meint Riemenschneider sogar. Bei so viel Zuneigung zum Provisorium bleibt es als Bühne 4 vielleicht auch über die Bauphase hinaus als Studiobühne erhalten. Drei Premieren kamen in der ersten halben Spielzeit hier bereits heraus. Den Anfang machte im Oktober „Krummer Hund“, eine Bühnenadaption des preisgekrönten gleichnamigen Jugendromans von Juliane Pickel. Co-Intendant Riemenschneider inszenierte es, obgleich es ursprünglich nicht als Eröffnungsstück der Spielzeit geplant war. Die Lotterie der Dispositionen und Pandemie-bedingten Planungs­ turbulenzen führte dann aber dazu. Für den Neuanfang war „Krummer Hund“ allerdings eine gute Setzung. Das Thema, Mobbing unter Schülerinnen und Schülern, ist allgegenwärtig. Pickel erzählt das Ausmaß der Kränkungen der Seelen der Heranwachsenden und auch das Ausmaß der gewalttätigen Reaktionen darauf sehr sensibel. Riemenschneider konzentriert sich in seiner Bühnenfassung auf die Figuren von Daniel und Alina. Daniel, vom Weggang seines Vaters verletzt und von den regelmäßig wechselnden Liebhabern seiner Mutter schwer genervt, agiert seinen

Eine gute Setzung für den Neuanfang des Theaters an der Parkaue: Co-Intendant Alexander Riemenschneider inszeniert Juliane Pickels Jugendroman „Krummer Hund“. Foto Sinje Hasheider

parkaue berlin

Zorn auf die Welt mit Vorliebe durch physische Gewaltexzesse aus. Mitschülerin Alina schwingt sich hingegen zur Eiskönigin auf, die dank ihrer intellektuellen Überlegenheit die anderen durch verbale Demütigungen klein hält. Einsam sind beide, Verzweiflung frisst sich mit Eiseskälte in beide Herzen. Als kongeniales Bild für diesen Zustand kreiert Bühnen­ bildnerin Johanna Pfau Eisskulpturen in Form von Buchstaben. Sie ergeben den Namen „Ozzy“; so heißt der Hund, den Daniel als einzig wahren Getreuen ansieht. Geschickt lässt Riemenschneider die Worte der Protago­ nisten kanonartig durch die Münder des gesamten Ensembles wandern. Individuelle Zustände werden so mehrstimmig, verschmelzen gelegentlich zu einem kollektiven Ich, um sich dann wieder zu vereinzeln. Von den Schulen wird die Inszenierung lebhaft nach­gefragt. „Unser Besucherservice sagt, es gibt eine gut funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda. Und viele Lehrerinnen und Lehrer teilen mit, dass es gar nicht einfach ist, für diese Altersgruppe ab 14 Jahren etwas zu machen, das ernst genommen wird“, erzählt Riemenschneider. Dass die Auftaktinszenierung so einschlug, lag sicherlich auch an den diversen Feedback-Schleifen. In der Probenphase war bereits eine Schulklasse anwesend. Von den Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern ließ sich das Ensemble dann auch ­beeinflussen. „Und schön war, dass die Klasse, als sie sich das Stück erneut angeguckt hat, einiges davon wiederentdeckt hat. Ich finde es wichtig, dass junge Menschen merken, dass sie nicht nur Empfänger sind, sondern bemerken, dass sie etwas bewirken ­können“, meint Riemenschneider. Ähnliche Feedback-Situationen gab es auch bei „Was?“, der zweiten Premiere, herausgekommen im November. Es handelt sich um ein Weltraummusical für Kinder ab 8 Jahren vom früheren Punk-Musiker Schorsch Kamerun. Der Sänger der Goldenen Zitronen ist mittlerweile mehr ins Elektropop-Fach gewechselt. Restbestände anarchischen Denkens finden sich aber auch in ­dieser seiner allerersten Kinder- und Jugendproduktion. „Was?“ wurde noch von der Interimsintendanz unter Florian Stiehler, seit dieser Spielzeit Geschäftsführender Direktor des Staatstheaters Augsburg, initiiert. Das Projekt verzögerte sich aufgrund der P­andemie mehrfach. Schulz und Riemenschneider übernahmen es und sorgten so für Kontinuitäten. Auch „Pythonparfum und Pra­linen aus Pirgendwo“, ein pantomimisches Slapstick-Stück für Kinder ab 5 Jahren über seltsame Gäste eines ebenfalls seltsamen Hotels, stammt noch aus der Interimszeit. Es hatte im Dezember 2020 seine Online-Premiere und fast genau ein Jahr später endlich die Bühnenpremiere vor Livepublikum. Regie führte der ­belgische Regisseur Gregory Caers, der bereits 2013 vom Grips Theater für Berlin entdeckt wurde und später als Hausregisseur am Jungen Schauspiel Düsseldorf tätig war. Ins Repertoire übernommen wurden aus den letzten beiden Spielzeiten die Inszenierungen „Wutschweiger“ (ab 8 Jahren), „Der Zinnsoldat und die Papier­ tänzerin“ (ab 7 Jahren, geschrieben und inszeniert von Roland Schimmelpfennig) sowie das Rechercheprojekt „Als die Mauer fiel“ (ab 11 Jahren). Einzige Inszenierung aus der Ära Kay Wuschek ist die mittlerweile ins Digitale transformierte Partizipationsshow „Unterscheidet euch“ der Berliner freien Gruppe Turbo Pascal.

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Das kontroverse Ende der Wuschek-Ära prägte den Anfang der ­neuen Intendanz. Wuschek trat wegen Kritik an mangelnder Auf­ arbeitung eines Rassismusvorfalls im Ensemble zurück. Der Vorfall ereignete sich bereits 2018. Sichtbare Reaktionen gab es erst ein Jahr später – und dies trotz zwischenzeitlicher Installation einer ­Diversitätsagentin. Die Interimsintendanz mühte sich mit Workshops und Gesprächen um eine hausinterne Sensibilisierung. Sie führte 2020 auch verbindlich eine Antidiskriminierungsklausel ein. Die wurde, so erzählte Diversitätsagentin Sonja Baltruschat in einem Interview mit ZEIT ONLINE, auch drei Mal zum Einsatz gebracht. Ein offener Brief der Belegschaft des Theaters an der Park­ aue ebenfalls im Jahr 2020 machte aber auch deutlich, dass sich die Angestellten in ihrem Bemühen um eine konstruktive Fortsetzung ihrer künstlerischen und organisatorischen Tätigkeit von der Politik im Stich gelassen fühlten. Sie forderten Kultursenator Lederer zu einer schnellen Entscheidung über die neue Leitung des Hauses auf. Riemenschneider und Schulz, die sich von den Bundeswettbewerben für Jugendliche der Berliner Festspiele kennen, bekamen den Zuschlag. Ihre Einarbeitungszeit war kurz. Die Arbeits­ teilung, die eine Doppelintendanz mit sich bringt, war dabei durchaus hilfreich. Als wichtig sehen Schulz und Riemenschneider an, das Programm diverser und inklusiver zu gestalten und dabei auch über die Personen diversere Perspektiven einzubringen. Das spiegelt sich nicht nur im künstlerischen Personal, sondern auch bei der Besetzung von Positionen in Dramaturgie und Vermittlung wider. Diversitätsagentin Baltruschat gehört als Referentin für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung jetzt zur Leitungsebene. Im Januar begannen am Haus Residenzen inklusiver Künstlerinnen und Künstler, unter anderem mit dem Theater

Weltraummusical für Kinder ab 8 Jahren: Der frühere Punk-Musiker Schorsch Kamerun verarbeitet Restbestände anarchischen Denkens in seiner Kinder- und Jugendproduktion „Was?“. Foto David Baltzer

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Hora, dem Theater Thikwa und der Gruppe Meine Damen und Herren. „Es geht darum herauszufinden, wie inklusive Theater­ arbeit für junges Publikum stattfinden kann. Das ist einerseits künstlerische Forschung. Zum anderen geht es aber auch darum, überhaupt mit einem Staatstheater in Kontakt zu treten und zu gucken, was braucht eine inklusiv gedachte Produktion, welche Erzählformen gibt es, welche unterschiedlichen Herangehens­ weisen kann man entwickeln?“, erläutert Schulz. Auch aus ihrer gemeinsamen Praxis bei den Jugendwettbewerben der Berliner Festspiele bringen die beiden Co-Intendanten Ideen und Netzwerk-Effekte ein. Die nächste Premiere „Funken“ (26. Feb­ruar, ab 12 Jahren) ist die Uraufführung des Siegertextes von Till Wiebel beim Retzhofer Dramapreis 2021. Die Preisträgertexte der nächsten Jahrgänge sollen ebenfalls an der Parkaue herausgebracht werden. „Der Wettbewerb verfolgt ein Konzept, das uns aus der Zusammenarbeit bei den Berliner Festspielen vertraut ist. Es geht nicht darum, dass jemand schreibt, dann gibt es einen Preis, und das war es. Sondern es sind kontinuierliche Förderprogramme, bei denen ­etwas mit mehreren Teilnehmerinnen und Teilnehmern entwickelt wird. Und gemeinsam mit den Partnern geht es darum zurück­ zuspiegeln, wie man einen Text gemeinsam auf Bühnentauglichkeit untersuchen kann“, erzählt Riemenschneider. „Funken“ wird von der deutsch-iranischen Regisseurin Mina Salehpour herausgebracht. Im April folgt das Tanztheaterstück „Schattensprung“ (ab 5 Jahren) der in Brasilien geborenen Choreografin Regina Rossi. Von den ­Regie- und Choreografie-Positionen aus gesehen ist das Programm definitiv international und multiperspektivisch. Der unter Vorgängerintendant Wuschek begonnene Weg, freie darstellende Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen, wird ebenfalls fortgesetzt, nur eben mit anderen Personen. Dem Haus in Berlin-Lichtenberg bleibt nur zu wünschen, dass es in Pandemiezeiten weiterspielen kann und Schülerinnen und Schülern der Besuch erlaubt bleibt. Bei den Vorstellungen war jedenfalls zu spüren, dass auch dem jungen Publikum ein Theaterbesuch (wieder) etwas bedeutet. //


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Autorenschaft in Zeiten der Sprachlosigkeit Das Stuttgarter Theater Rampe setzt auf die Entwicklung neuer Dramatik und hat sich als Produktionshaus für die freie Szene etabliert von Elisabeth Maier

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it großen Augen steht die Performerin Laura Oppenhäuser vor der mondänen Stadtvilla in Stuttgarter Halbhöhenlage. Ihre Versuche, mit der gut betuchten Bewohnerin in Kontakt zu treten, verpuffen: „Wären Sie bereit, mir etwas von sich abzugeben?“, fragt die Figurenspielerin in ihrer Performance „Robbinʼ Halbhöhe“. Die Produktion hat die Künstlerin am Stuttgarter Theater Rampe he­ rausgebracht. Die Bühne im Süden der baden-württembergischen Hauptstadt fördert neue Dramatik ebenso wie neue künstlerische

Formate. Als Marie Bues und Martina Grohmann das Haus 2013 übernommen haben, ging es ihnen aber auch darum, den Autor:innenbegriff zu erweitern. Vielstimmigkeit und Diversität prägen seitdem das Konzept des Hauses. 2019 wurde das Team ­dafür mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Als die ersten Zuschauer:innen zur Premiere von „Robbinʼ Halbhöhe“ in das Betriebsgebäude der Zahnradbahn kommen,

Vielstimmigkeit und Diversität als Konzept: 2019 wurde das Team vom Theater Rampe dafür mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Foto Dominique Brewing


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freies theater

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steht der Wagen der „Zacke“ schon auf der Parkposition. Dass sich ­finden“, sagt Franziska Stulle. Auch heute noch gebe es vereinzelt das Privattheater das Foyer mit dem Bahnwaggon teilt, ist eine Kritik an der experimentellen Theaterkunst, „und wir werden anBesonderheit. Die Bergbahn verbindet den Kessel der Innenstadt gesichts von Auslastungszahlen gefragt, ob wir nicht stärker in mit den Halbhöhenlagen, in denen die reichen Stuttgarter:innen gängigeren Formaten arbeiten wollen“. Da helfe so ein Preis sehr, leben. An diese Zielgruppe hat Oppenhäuser einen Brief geschrieden künstlerischen Stellenwert des Hauses zu unterstreichen. Stulles Aufgabe ist es, für die breit gefächerten Projekte Drittmitben, der dem Programmheft beiliegt: „Als Teil meiner künstleritel einzutreiben. Das klappt bei schen Arbeit suche ich Kontakt zu Menschen außerhalb meiner den bestens vernetzten Kulturmaüblichen sozialen ‚Blase‘.“ An der nagerinnen gut. Trotz ausreichenBitte um einen Sonnenschirm der Förderung durch Stadt und Land bleibe die Lage aber prekär. vom Anwesen der Schönen und Reichen entspinnt sich ein DisDass die Stadt Stuttgart, die das Haus fördert, hinter dem theput über soziale Ungleichheiten. Mit dem sinnlich durchkompoatralen Experimentierraum steht, ist den Theaterchefinnen wichtig. nierten Objekttheater legt die Absolventin des Stuttgarter StudienDas hervorragende Standing der Bühne in der Stadt und bei den gangs für Figurentheater Risse in der Gesellschaft offen. Förderern auf Landes- und Bundesebene liegt nicht zuletzt daran, Der freien Szene Raum dass die Bühne neue Publikumszu geben, ist ein wichtiger Bauschichten erreicht. „Die Rampe stein im Konzept der Rampe, die 1984 als Privattheater von Regula ist das agilste, wachste und diver­Gerber und Alexander Seer geseste Theater in Stuttgart“, sagt Marc Gegenfurtner, der das Kulgründet wurde. Eva Hosemann, die das Haus von 1998 bis 2013 turamt in Stuttgart leitet. Gesellschaftliche Entwicklungen greife führte, legte den Schwerpunkt die Bühne schon im Vorfeld auf. auf neue Dramatik. Die Arbeit mit neuen Autor:innen steht „Und gerade in Zeiten der Pandeauch für die Dramaturgin Mar­ mie hat die freie Szene sehr flexitina Grohmann und die Regisbel mit neuen Formaten auf die Einschränkungen reagiert.“ Die seurin Marie Bues, die sich die Leitung des Hauses bis 2021 geWertschätzung für das Haus seitens der Politik und der Verwalteilt ­haben, im Fokus. „Uns ging es aber gleichtung zeigt sich nach Gegenfurtners Worten auch daran, dass die zeitig darum, den Autor:innen­ Rampe nun für die Mehrkosten, begriff zu erweitern“, bringt ­Martina Grohmann das Konzept die durch den Leitungswechsel auf den Punkt. Im September entstehen, einen Sonderbetrag 2023 steht ein Neustart ins Haus. von 200.000 Euro bekommt. Derzeit läuft die Suche nach eiMenschen aus unterschied­ Laura Oppenhäuser in „Robbin’ Halbhöhe“, Foto Daniela Wolf ner neuen Theaterleitung. Ramlichen Lebensbereichen ins pe-Geschäftsführerin Franziska ­Theater zu holen, ist ein wich­ Stulle, die das Haus seit 2021 gemeinsam mit Grohmann leitet, tiges Ziel. In dem Projekt „Die Gesellschaft“ etwa bringen Bernhard Herbordt und Melanie ­ sieht in dem Neuanfang eine Chance, „wegzukommen vom klasMohren Menschen aus Kunst, Wissenschaft, Politik und anderen Welten zusammen. Dafür ­ sischen Intendantenmodell“. Auf möglichst hierarchiefreies Arbeiten legt das Team be­haben sie Akten des Max-Planck-Instituts gesichtet, die Projekte dokumentieren, die nie verwirklicht wurden. „Spinner“ ist auf reits jetzt großen Wert. Gruppen und Kollektive, die am Haus eine künstlerische Heimat gefunden haben, arbeiten unabhängig. Der manchen der vergilbten Deckel zu lesen. Ein europäischer Mütterrat gehört ebenso dazu wie Formeln zur Erlangung eines stabilen offene künstlerische Diskurs, den die Theaterchefinnen mit ihnen Weltfriedens. pflegen, prägt das Konzept. Inzwischen ist die Rampe auch ein Produktionshaus für die freie Szene in Stuttgart. Um die ambitio„Das ist ein prozesshaftes Arbeiten, in dem es immer wienierten Projekte möglich zu machen, müssen die Theaterchefinder Momente gibt, in denen die Öffentlichkeit einbezogen wird“, beschreibt Grohmann den Ansatz. Eineinhalb Jahre arbeiteten nen auch heute noch kämpfen – zum Beispiel beim Einwerben von Drittmitteln. die Künstler:innen für diese Produktion an der Rampe, der sie seit Langem verbunden sind. Sie entwickelten ihr Projekt im „Der Theaterpreis des Bundes hat uns da sehr geholfen, noch mehr Anerkennung für unsere künstlerische Arbeit zu ­Austausch mit dem Publikum und mit internationalen Gesprächs­


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partner:innen. Herbordt und Mohren haben im Sommer in einer alten Werkstatt im Stuttgarter Süden ein Schaudepot für die ­darstellenden Künste eröffnet, in dem sie ihre Arbeit mit gesellschaftlichen Gruppen dokumentieren und das Gespräch mit dem Publikum suchen. Neue Formate wie dieses zu finden und über einen längeren Zeitraum kontinuierlich zu entwickeln, das war für Marie Bues eine besonders wichtige Erfahrung: „Die Rampe ist eine lernende Institution“, findet die Regisseurin, die seit dieser Spielzeit als freie Regisseurin tätig ist. Gemeinsam mit Martina Grohmann hat Bues nicht nur Kontakte zu den Autor:innen vertieft. „Im ­Austausch und in der Diskussion sind wir viel tiefer in die Stoffe eingedrungen, als das ansonsten im Probenprozess eines Stadttheaters möglich wäre.“ In diesem Sinn begreift Bues das Theater Rampe als einen „Experimentierraum“. Durch ihre Kooperation mit großen Häusern wie den Staatstheatern Karlsruhe und Saarbrücken, dem Nationaltheater Mannheim oder dem Schauspielhaus Graz hat Marie Bues enge Arbeitsbeziehungen zu Autor:innen wie Thomas Köck, Enis Maci, Felicia Zeller und vielen anderen aufgebaut. Ihre starke Regiehandschrift befördert die Entwicklung neuer deutschsprachiger Dramatik. Bues horcht in ihren Uraufführungen tief in die Sprachkunst hinein, übersetzt sie in starke Theaterbilder, überzeugt mit ihrem Gespür für politisches Theater. Das macht sie zu einer der wichtigen Regisseurinnen für neue Stücke. Am Staatstheater Saarbrücken bringt Bues im April Kathrin Rögglas Stück „Verfahren“ auf die Bühne, das den Jahrhundertprozess um den NSU im Theater verhandelt. Produktionen wie diese sind dann auch an der Stuttgarter Rampe zu sehen. Das unterstreicht die überregionale Strahlkraft der Bühne. Schnittstellen zwischen den Künsten lotet das Rampe-Team mit den Künstler:innen aus, die am Haus arbeiten. Eine davon ist die Choreografin Nicki Liszta, die seit 2016 mit dem Tanz- und Theaterkollektiv Backsteinhaus Produktion an der Rampe arbeitet. „Unsere Anbindung an das Haus bietet uns einerseits eine künstlerische Heimat und dadurch ein entspannteres Arbeiten“, sagt die Choreografin. Die Infrastruktur nutzen zu können, erleichtere vieles. Derzeit arbeiten sie und ihr Team an der Trilogie „Der Fall Mensch“, die sich mit dem Verfall des Anthropozäns, des menschlichen Zeitalters, auseinandersetzt. Der zweite Teil, „Climax“, hat am 24. Februar Premiere. Dass der Tanz hervorragend ins Konzept des Autor:in­nen­ theaters passt, steht für die Theaterchefin Grohmann außer Frage. „Gerade der Tanz und die Bildersprache haben eine große Reichweite“, fasst Nicki Liszta ihre Philosophie zusammen. Die erweiterte Autorenschaft sei zwar im Tanz eher unüblich, „aber auch hier beginnt sich langsam ein Verständnis für gemeinsames Schaffen zu entwickeln“. Im Tanz sieht die Choreografin einen großen Nachholbedarf, was kollaboratives Arbeiten angeht. Da könne man von einem offenen Haus wie der Rampe vieles lernen: „Es ist für viele große Compagnien und Häuser immer noch schwer begreifbar, dass eine Gruppe gemeinsam für eine Choreografie verantwortlich zeichnet.“ Da tue es gut, „wenn sich Produktionshäuser klar auch zu Tanz mit erweiterter Autorschaft bekennen“. In der Zeit des Lockdowns hat das Rampe-Team auch mit digitalen Formaten gearbeitet, um die Zuschauer:innen zu er­

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reichen. „Da haben wir sehr flexibel reagiert und auch umgedacht“, sagt Grohmann. Die Produktion „Haus der Antikörper“ sollte als geförderte Doppelpass-Produktion zwischen der Rampe, dem Theater Lübeck und Backsteinhaus Produktion gezeigt werden. Wegen des Lockdowns war das aber in Zeiten der Pandemie nicht möglich. Da stieg das Team kurzerhand auf das digitale ­Format um. Die beiden Filme reflektierten Isolation und körper­ lichen Zerfall in Zeiten der Pandemie. Sie erreichten das Publikum zu Hause an den Bildschirmen. Gerade in den Zeiten der sozialen Isolation sieht Martina Grohmann die große Chance der Rampe darin, das Haus zu ­öffnen und politische Diskurse auf künstlerischer Ebene weiter­ zudenken. „Wir können am Theater nicht alle politischen Diskussionen führen. Aber genau solche Gespräche ästhetisch zu übersetzen und eine andere Form von Verständigung zu ermög­lichen, sehe ich als unsere Aufgabe“, sagt Grohmann. Mit komplexen poetischen Narrativen erweitert das Haus so die verkürzten ­medialen und politischen Sichtweisen. „Diesen poetologischen Zwischenraum offenzuhalten, ist gerade in der Krise wichtig.“ Da in Zeiten von Abstand und strengen Hygieneregeln ­Begegnung nur noch sehr begrenzt möglich war, hat die Rampe neue Formate erforscht. Gerade durch die Öffnung in den Stadtraum der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart hat die Bühne Möglichkeitsräume aufgetan – lange, bevor es ­Lockdowns gab. Dazu gehört auch das Langzeitprojekt „Theatre of the Long Now“, das die Architekten Oliver Storz und Hannes Schwertfeger 2017 auf einer Brachfläche im Stuttgarter Norden initiiert haben. Immer wieder finden auf der Wiese Lesungen, Performances und Projekte statt. „Wir bespielen diese Fläche mit einer Aufführung, die mindestens 100 Jahre andauert“, sagt Schwertfeger. Gerade in Zeiten des Klimawandels den Blick für das Wachsen und Werden von Pflanzen und Tieren zu schärfen, ist ein Ziel dieses neuen, ungewöhnlichen Formats unter freiem Himmel. Diese Kooperationen mit Akteur:innen aus anderen Lebensund Arbeitswelten sind für die Theaterkünstlerinnen spannend. So erweitern nicht nur die Kunstschaffenden ihre Perspektive. Sie begeistern auch Menschen für das Theater, denen der Zugang zur Kultur und zu Bildungsangeboten bislang verschlossen blieb. ­Einen großen Schritt hat die Rampe da mit dem Volkstheater ­getan, dessen Auf- und Ausbau die Rampe unter anderem mit ­Mitteln aus dem Theaterpreis des Bundes finanzierte. 2019 haben die Regisseurin Nina Gühlstorff und die Dramaturgin Paula ­Kohlmann das Projekt mit einem mobilen Theaterlabor auf dem Marienplatz ins Leben gerufen. Mit der Performance „Tag Y“ realisierten die Künstler:innen 2020 mit Bürger:innen unterschiedlicher Nationalitäten eine ­Telefonperformance. Auf einem Spaziergang durch die Nachbarschaft begleiteten die Spieler:innen des Volkstheaters das Publikum am eigenen Smartphone. Neben reizvollen Einblicken in die Hinterhöfe und auf die Balkone des multikulturellen Wohnviertels kamen Menschen aus unterschiedlichen Welten auch über schwierige Themen wie die Fluchterfahrung oder die prekäre ­Lebenssituation ins Gespräch. In einer Zeit der Sprachlosigkeit und der Isolation beflügelte die Rampe so Austausch und Kommunikation in der Stadtgesellschaft. //

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Feier des Lebens

Ein Porträt der südafrikanischen Choreografin Dada Masilo von Renate Klett

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omen est omen: Sie heißt nicht nur Dada, sie ist es. Dada ­ asilo, Tänzerin und Choreografin aus Südafrika, hat eine Art M burlesken Investigations-Dadaismus erfunden, der das klassische Ballett veralbert, verschmachtet, verklärt und ver-rückt. Sie nimmt sich auch Opern vor, und immer sind es kluge, auch liebevolle Fragen, die sie an die Objekte ihrer Begierde stellt. Die ätherischen Traumwelten der westlichen Klassik unterwandert sie gern mit den lebensprallen Tänzen der afrikanischen Tradition. Das erzeugt eine Intensität, die radikal und komisch zugleich ist und alles andere als oberflächlich.

Masilo, 1985 in Soweto geboren, tanzt schon als Kind in der ­Jugendgruppe Soweto Peacemakers. Mit 12 Jahren beginnt sie ihre Ausbildung an der Dance Factory in Johannesburg, später studiert sie an der National School of the Arts ebendort und am Jazz Art Dance Theatre in Kapstadt. Sie lernt klassisches Ballett und zeit­ genössischen westlichen sowie traditionellen afrikanischen Tanz, Flamenco und Jazz Dance und bekommt eines der begehrten Zwei-Jahres-Stipendien für P.A.R.T.S, Anne Teresa de Keers­ maekers berühmter Tanzschule in Brüssel. „Ich war 19, als ich da hin ging, und Brüssel hat mir gar nicht gefallen, weil es so dunkel Radikal und komisch zugleich: Die Choreografin und Tänzerin Dada Masilo unterwandert mit Tänzen der afrikanischen Tradition die ätherischen Traumwelten der westlichen Klassik. Foto John Hogg


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und kalt war. Aber die Schule war groß­artig. Ich habe so viel gelernt, so viele Anregungen bekommen. Es war eine ganz wichtige Erfahrung für mich.“ Zurück in Johannesburg, wurde sie Artist in Residence an der Dance Factory. 2008 erhält sie den renommierten Standard Bank Award für Tanz und wird vom National Festival of the Arts in Grahamstown (heute Makhanda) beauftragt, drei klassische Ballette zu choreografieren: 2008 Prokofjews „Romeo und Julia“, 2009 „Unraveling Carmen“ nach Bizet und 2010 Tschaikowskys „Schwanensee“. Dabei entwickelt sie einen sehr eigenen, sehr ­ungewöhnlichen Stil, der sie später weltberühmt macht. Schon das erste Stück enthält viele Elemente ihrer späteren Handschrift: das Einfügen fremder Musikstücke – hier von Vivaldi bis Philip Glass und Arvo Pärt, den Austausch von Männer- und Frauen­rollen und die Verlängerung des Balletts in afrikanischen Tanz.

dada masilo

Ihre „Carmen“, die sie später noch einmal überarbeitet, zeigt die von ihr bravourös getanzte Heldin als selbstbewusste, sinnliche Frau, die eine Herausforderung für die Männerwelt ist. Der ge­ demütigte José vergewaltigt sie aus Rache und wischt sich mit ­ihrem Kleid den Schweiß von der Stirn. Später stehen die Tänzer im Kreis und sehen zu, wie Escamillo den José umbringt. Die ­Aufführung zeigt in rasantem Tempo die verschiedenen Stationen des Dramas wie eine Revue in der Masilo-Mischung aus Fla­ menco, Klassik, Modern und Afrikanisch. Und dann kommt der ganz große Wurf, bei dem sie den romantischen „Schwanensee“ in einen afrikanischen Ententeich verwandelt, die Geschichte und ihre Protagonisten neu inter­ pretiert, die schwarzen Ballerinen in ihren weißen Tutus barfuß herumtoben lässt. Wie sie klassische Positionen in afrikanisches Bodenstampfen verwandelt, Arabesken und Pas de deux durch Hüftschwung, Beckenkreisen und exzessive Energie ad absurdum führt, ist schlicht genial. Es ist anstrengend für Tänzer wie Publikum und gerade deshalb unvergesslich. Sie reibt sich gern an der Hochkultur, nicht um sie billig zu parodieren, sondern um sie mit Respekt, Humor, dezidiertem Standpunkt, veränderten Geschlechterrollen und afrikanischem Blickwinkel zu interpretieren. Spätestens seit diesem „Schwanensee“ ist sie Kult und kann machen, was sie will. Die Aufmerksamkeit ist ihr sicher. „,Swan lake‘ haben wir 250 Mal gespielt“, sagt sie, „jahrelang und auf der ganzen Welt. Und mit ‚Giselle‘ kamen wir bis dicht an die 100.“ Sie bezeichnet sich nicht als Feministin, aber sie steht immer, in all ihren Stücken, auf der Seite der Frauen, die sie nicht trösten, sondern aufrütteln will. Dafür nimmt sie sich berühmte, von Männern erfundene Frauenfiguren vor, die sie zerlegt, neu zusammensetzt und unterwandert. Und stets gelingt es ihr, aktuelle Themen wie Homosexualität, Gewalt gegen Frauen, Diskriminierung und Rassismus ins klassische Ballett hineinzuschmuggeln. Zu diesen Klassikerübermalungen gehört auch jene „Giselle“, die sie von aller Romantik befreit und als raues Gesellschaftsbild aus Unterdrückung, Betrug, Verhöhnung und Untergang erzählt. Philip Miller hat dafür die Musik umgearbeitet und mit Verweisen aufs Original eine gespenstische Musikcollage erfunden. Die Wilis sind Albtraumgeister, und Giselle verschafft sich die Genugtuung, ihren verräterischen Geliebten eigenhändig zu töten. Es ist eine böse Welt bei den Menschen wie den Geistern. Dada Masilo tanzt, wie in allen Stücken, die Hauptrolle, und das tut sie mit viel Energie, einer fantastischen Bühnenpräsenz und großem Können. Die Frau aus Soweto mit dem rasierten Schädel ist eine Bühnenhexe, von großem Talent und sanftem Irrsinn umspült. Sie weiß genau, was sie will, und sie kriegt es: von sich, ihrer Compagnie und vom Publikum. 2012 folgt das Solo „The Bitter End of Rosemary“, ein Stück voller Trauer und Wut, fulminantes Requiem für Frauen, die ihr Leben nicht länger ertragen können, wahnsinnig werden, verstummen, oder sich umbringen. Ausgangspunkt ist Shakespeares Ophelia. Sie tanzt nackt, schleudert Arme und Beine in irrem Tempo, fällt nieder, springt auf, flucht und kreischt – eine Rachegöttin aus alter Zeit und ferner Welt. Masilo betont im Gespräch, dass sie nur in Südafrika arbeiten kann, weil es das liberalste Land des Kontinents ist: „Ich tanze

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protagonisten

gerne topless, und meine Themen sind gewagt – das würde in keinem anderen afrikanischen Land akzeptiert. Und wenn man mich bittet, in Europa zu arbeiten, wo all das möglich wäre, dann sage ich: Meine Wurzeln sind in Afrika, und es ist mir wichtig, mich mit meinen Wurzeln zu verbinden.“ 2012 beginnt auch ihre Zusammenarbeit mit William Kent­ ridge. Der berühmte Künstler ist ein großer Fan von ihr. Sie passen gut zusammen, gleichen sich aus: sein kühler Intellekt und ihre emotionale Fantasie. Was wie ein Männer-Frauenklischee klingt, erweist sich in der Arbeit als gleichberechtigte, sehr kompatible ­Fusion. „Dancing with Dada“ ist ein kleines, kostbares Stück der Annäherung zweier Künstler, die einander erforschen und be­ flügeln. Eine Versuchsanordnung, die als try out nur drei Mal im ­Market Theatre in Johannesburg gezeigt wurde. In einer besonders schönen Szene stehen die beiden nebeneinander, er den Arm, sie das Bein hochstreckend, wie in einem Dialog der Gliedmaßen. Es folgt eine überbordende Kammeroper von Philip Miller, in der Tanz, Musik, Gesang, Zeichnungen, Filme, Physik, Philosophie, Metronome, Maschinen und ein ständiger Gedankenfluss durcheinanderwirbeln. Das ist Kentridges Auseinander­ setzung mit dem Vergehen von Zeit und Leben, Kunst und Erkenntnis. All dies sind Vorbereitungen zur grandiosen Installation „The Refusal of Time“, die der Höhepunkt der documenta 13 werden sollte. Masilos jüngste Arbeit „The Sacrifice“ wurde beim ImpulsFestival Wien im Juli 2021 als Weltpremiere präsentiert, nach viel Corona-bedingtem Hin und Her, die Einreise betreffend. Es ist ein Riesenerfolg. Ursprünglich sollte Strawinskis „Le sacre du prin­ temps“ als Vorlage dienen, aber während der Corona-geschwängerten Probenzeit veränderte sie das Konzept. Die fabelhaften Tänzer- und Musiker:innen erschaffen eine ganz eigene Welt, eine Dorfgemeinschaft aus Zartheit und Magie, der man mit Freude und Bewunderung zusieht. Aber es zeigt sich auch eine andere Seite – schließlich gibt es ein Opfer!: Die Rhythmen des Botswana Dance, das gemeinsame Vollziehen des ­Rituals, die Trauer der Mutter, die ihr Kind tötet, und die weißen

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­ ilien, die es erhöhen – das alles ist souverän und furios getanzt L und sehr klug erdacht. Auf der Rückwand des Theaters sind die Stämme verzweigter Bäume zu sehen, die während der Vorstellung zu wachsen scheinen, die Musik von Tlale Makhene, die vielen Blumen und der Gesang von Ann Masina mit ihrer unbegreiflich vielschichtigen Stimme – all das fügt sich zu einer widerborstigen Hymne auf Leben und Tod. „Bei ‚The Sacrifice‘ wollte ich neue Fusionen eingehen“, sagt Dada Masilo, „diesmal mit meiner eigenen Tradition. Also lernten wir Botswana Dance, was sehr schwer ist, weil die Rhythmen so verrückt sind. Ich zwinge mich immer wieder, etwas Neues auszuprobieren, damit die Arbeiten nicht selbstgefällig und vorhersehbar werden, und es ist immer schön, etwas Neues zu lernen, gerade wenn es schwierig ist.“ Eigentlich sollte „Sacrifice“ ein düsteres Stück werden, doch angesichts des Covid-Elends, das sich überall ausbreitete, änderte sie die Intention. Nun ist es eine Feier des Lebens. „Meine Lieblingsblumen sind Lilien, und das sind Totenblumen. Ich wollte auch ausdrücken, dass der Tod nicht immer nur schrecklich ist – er kann auch eine Feier des Lebens sein. Ich bin mit dem Ritual getöteter Opfer aufgewachsen, natürlich Tier-, nicht Menschen­ opfer. Wir geben damit unseren Ahnen etwas zurück.“ Nach dieser sehr großen Produktion – 11 Tänzer, 4 Musiker – will sie als Nächstes ein Solo für sich selbst erarbeiten. Titel „A Handful of Ashes“. „Das hat mein Ballettlehrer mal gesagt, und es ist mir hängen geblieben.“ Auf die berühmte letzte Frage nach der Definition von Tanz antwortet sie, ohne zu zögern: „Für mich ist Tanz das ­Leben. Ich denke mit meinem Körper. Ich drücke alles mit meinem Körper aus. Der Körper kann nicht lügen.“ Und man glaubt es ihr sofort. //

Eigentlich als düsteres Stück konzipiert, verknüpft „Sacrifice“ von Dada Masilo Leben und Tod über florale Motive. Foto John Hogg


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Ausstellung

adk.de

ERICH WONDER HEINER MÜLLER Sets of Wonder

T/Raumbilder für

16.01.– 13.03.22

Gefördert durch / Funded by:


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Auftritt Bamberg „Der endlos tippende Affe“ von Björn SC Deigner (UA) Berlin „Symphony of Progress“ von Nicoleta E­ sinencu Essen/Gelsenkirchen „AufRuhr“ von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt und „Stadt der ­Arbeit“ von Volker Lösch und Ulf Schmidt Frankfurt/Main „Liberté oh no no no“ von Anja Hilling Hannover „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Bei nassem Schnee“ nach Fjodor M. Dostojewski Mannheim „Meine geniale Freundin – Teil 2“ nach dem Roman von Elena Ferrante Potsdam „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ von Sibylle Berg und „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer


auftritt

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BAMBERG Ein Anti-Theatertext ETA HOFFMANN THEATER: „Der endlos tippende Affe“ von Björn SC Deigner (UA) Regie Mirjam Loibl Ausstatter Thilo Ullrich

sämtliche Shakespeare-Werke hervor. Ein

Sie spielen dieses famose Stück Theater je-

Theorem der Wahrscheinlichkeit. „Der endlos

doch an entscheidender Stelle jener Sinnfrage

tippende Affe“ von Deigner ist ein vergleichs-

einer Institution, die der Soziologe Hartmut

weise unwahrscheinlicher Theatertext, ein

Rosa zuletzt so in die (Pandemie)-Debatte

Anti-Theatertext, kein Antitheater-Text, in

warf: „Vielleicht ist der Nutzen der Kultur,

dem, um daraus zu zitieren, „der Gegen­

dass sie gerade keinen Nutzen hat.“ // Michael Helbing

entwurf der Wahrheit letzter Schluss ist“. Das führt uns komödiantisch und auch ein bisschen dadaistisch tief hinein ins Labyrinth des Denkens, wo alle Logik zur Verzweiflung treibt und hinter jeder Nonsens-Hecke

BERLIN

ein Sinn ebenso lauert wie auf der Bananenschale, auf der einer ausrutscht. Bevor sie Drei Schauspieler hinter Glas: hineingestellt

dorthin vorangehen, haben Antonia Bockel-

in die eingefrorene Szene einer historisti-

mann, Marie-Paulina Schendel und Anton

schen „Hamlet“-Aufführung, ausgestellt wie

Dreger bei vorbereitendem Stimmtraining

im Museum. „O schmölze doch dies allzu fes-

ihre Shakespeare-Kleider mit bequemen All-

te Fleisch“, könnte jemand rufen; das führte

tagsklamotten derart vertauscht, dass unklar

zur schönen Bedeutungsverschiebung bei

bleibt, was hier Kostüm war oder ist. Kom-

Shakespeare. Stattdessen meldet sich, mit

men sie vom Auftritt, stehen sie kurz davor?

Wut auf Europa HAU: „Symphony of Progress“ von Nicoleta Esinencu Regie Nicoleta Esinencu und teatru spǎlǎtorie

Konsonantenschwäche, „tie teutsche Thea-

Sie sind drei Figuren im Erzähltheater

tertirektion“ über die Sprechanlage; das ist

über das Erzählen: Kurt Schwepper, Lina und

auch lustig. Es werde, heißt es tief bedau-

der Roman; Letzteren lesen wir als Gattungs-

Arbeitsmigration im europäischen Ost-West-

ernd, „keine Geschichte im klassisch-bür­

begriff und Allegorie, hören ihn aber als Män-

Gefälle ist ein im Theater hier eher selten be-

gerlichen, bürgerlich-klassischen, bürgerlich-

nernamen. In ihrem Nummernprogramm ver-

handeltes Thema. In den Ländern Osteuropas

bürgerlichen oder klassisch-klassischen Sinne

handeln sie das Verhältnis Mensch und Tier,

ist es jedoch zentral und auch ein gravieren-

aufgeführt“.

die Zubereitung von Kartoffeln und die

des soziales Problem: Mütter und Väter las-

Dafür geht es, fügen wir hinzu, recht

Arbeitswelt (Absicht menschlicher Arbeit: ­

sen ihre Kinder zurück, weil sie im Westen als

werkgetreu zu. Anders als vor vier Jahren am

Feierabend) – sowie letztlich den Umstand,

Saisonarbeiter oder auch für länger auf Bau-

Deutschen Theater Berlin: Dort provozierte

dass und wie wir uns zum Affen machen.

stellen und in der Landwirtschaft schuften,

Sebastian Hartmann einen Skandal, als er

Thilo Ullrich hat dafür eine schöne

Spargel stechen, Gurken ernten, Alte pflegen

Björn SC Deigners Stück „In Stanniolpapier“

Entsprechung gefunden: eine hohe Vitrine

oder Schweine und Rinder zerlegen. Unter oft

über Missbrauchs- und Gewalterfahrungen

mit getöntem Glas, worin wir uns spiegeln.

unwürdigen Bedingungen jenseits aller Arbeits-

vergewaltigte, höchstens ein Fünftel des Tex-

Drinnen: mehrere Kameras. Darüber: Monito-

rechtsnormen, in lausigen Unterkünften un­

tes überleben ließ und man ihm das Label

re für drei Perspektiven. Und diesem kompak-

tergebracht – und trotz EU-Pass beinahe

Uraufführung entzog.

ten munteren Abend ist es ständig um Per­

­rechtlos, wenn es um ein Aufbegehren geht.

Seitdem besorgte Bambergs ETA Hoff-

spektivwechsel zu tun: Wo ist die Bühne, wer

Allenfalls die Skandale in der deutschen Fleisch­

mann Theater drei Deigner-Uraufführungen

spielt für wen, wer hat welche Erwartungs­

industrie haben das Thema etwas bekannter

binnen zwei Jahren: Auf „Der Reichskanzler

haltung, …? Das Leben nicht im, sondern als

gemacht. Geändert hat sich wohl nicht allzu

von Atlantis“ und „Die Polizey“ (nach Schil-

Käfig. Ein jeder gefangen in sich selbst, doch

viel und Corona alles noch verschärft.

ler) folgte nun „Der endlos tippende Affe“.

Drinnen und Draußen sind verhandelbar.

Nicoleta Esinencu, Autor-Regisseurin

Sie haben kaum was gestrichen und spielen

Die Inszenierung begibt sich in diesen

aus Moldau, hat schon mehrmals Themen der

beinahe vom Blatt; Mirjam Loibl inszeniert

Käfig und wagt keine Ausbruchversuche. Man

eklatanten Bruchlinien zwischen Ost- und

das gewissermaßen musikalisch, wie ein

könnte mit dem Text mehr spielen – jenseits

Westeuropa in ihren auf dokumentarischen

­szenisches Konzert.

des Textes auch. Er böte Gelegenheiten, ihn

Recherchen basierenden Stücken bearbeitet.

Der endlos tippende Affe ist ein Ge-

zu zelebrieren und verschiedene Formen

Nun hat sie unter dem sarkastischen Titel

dankenspiel. Er brächte demnach, drückte er

­auszuprobieren. Hier folgt er einer strengen

„Sinfonie des Fortschritts“ zur Arbeitsmigra-

bis in alle Ewigkeit sinnlos auf einer Schreib-

Choreografie ohne Tempolimit. Es gibt eine

tion aus osteuropäischer Perspektive eine

maschine herum, irgendwann zum Beispiel

einzige beinahe klassische Szene im Stück:

Musik-Performance entwickelt und als Auf-

verteilte Rollen, konkrete Regieanweisungen,

takt einer Koproduktionstournee (FFT Düssel-

der Text besteht aus lauter S-Lauten. Daraus

dorf, Hellerau Dresden, Rampe Stuttgart) im

machen sie, warum auch immer, einen säu-

Berliner HAU zur Uraufführung gebracht.

Ein recht werkgetreues Gedankenspiel: „Der endlos tippende Affe“ von Björn SC Deigner, in einer Inszenierung von Mirjam Loibl am ETA Hoffmann Theater in Bamberg. Foto Martin Kaufhold

selnden und zischenden Song, nach Bonnie

Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan

Tylers „Total Eclipse of the Heart“. An ent-

und Kira Semionov treten in oranger Arbeits-

scheidender Stelle verlassen sie die Theater-

kleidung auf. Ihre ‚Instrumente‘ sind Schlag-

erzählung.

bohrmaschinen

und

Akkuschrauber,

mit

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/ TdZ Februar 2022 /

­denen sie vorproduzierte Sounds steuern. Eine

und Entrechtung h ­ eraus, samt Entlassung we-

Art Elektropop der schrillen, manchmal sogar

gen unbotmäßigen Verhaltens.

Was wäre, wenn Belgier die Kirschen in Polen ernten und Italiener die Kranken in Kiew pflegen? „Symphony of Progress“ von Nicoleta Esinencu schreit am HAU Berlin ins Innere Europas. Foto Dorothea Tuch

düster grellen Töne, deren Präsentation in die-

Zum Bühnenbild wird eingangs erläu-

ser Aufmachung natürlich auch an die sich

tert, dass es sich um drei noch aus sowjeti-

verdingenden Handwerker beim Innenausbau

scher Zeit stammende Licht-Paneele handelt

von schönen Eigentumswohnungen erinnert,

(die allerdings nicht so viel anders aussehen

die man deutschlandweit in jedem guten

als früher bei Robert Wilson) und eine Ver-

­Altbauviertel beobachten kann. Doch um kon-

sammlung von Scheinwerfern aus Kamas-

vieles im Service-Wesen mit den kaputten

krete Figuren geht es erst in den von den drei

Lkws, die damit ein post-sowjetisches Setting

Hüftgelenken der aus den östlichen Staaten

erzählten Geschichten. Am markantesten viel-

abgeben. Das hat eine feine Ironie, die frei-

stammenden Boten und Paketträger belastet

leicht, auf jeden Fall am eindringlichsten, ist

lich hierzulande nicht von allen bemerkt wer-

ist. (Der Name des dafür bekanntesten Kon-

die von Doriana Talmazan vorgetragene Erzäh-

den dürfte. Auch sprachlich bewegt sich die

zerns wird ausdrücklich nicht erwähnt.)

lung einer jungen Moldauerin (geschieden, mit

Performance mit moldauischem Rumänisch,

In dem Stück steckt auch eine ge­

13-jähriger Tochter und Mietkostenproble-

Russisch und schönem Akzent-Englisch in

hörige Portion Wut, die am Ende in einem

men), die sich für einen Job auf einem Land-

der Sphäre, die das Stück selbst vorstellt.

Gedankenspiel aufrütteln will: Was wäre,

wirtschaftshof in den Süden Finnlands begibt.

Dass Esinencu auch eine grausame Poetin

wenn Belgier die Kirschen in Polen ernten

Klingt eigentlich wie eine tolle Sache, zu skan-

ist, kommt in solchen Verdichtungen zur

und Italiener die Kranken in Kiew pflegen?

dinavischen Standards Gurken und Zucchini

Sprache, dass unsere Gurken nach den

Das wird nicht passieren, und deshalb ist

ernten –, stellt sich dann aber als ein deut-

­Nierensteinen der Erntehelfer (die nicht mal

­diese Sinfonie ein Schrei ins Innere Europas,

sches Schlachthof­ szenario der Ausbeutung

pinkeln dürfen) schmecken und überhaupt

immerhin mit dem Theater. // Thomas Irmer

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auftritt

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ESSEN / GELSENKIRCHEN Brennpunkt Ruhrgebiet SCHAUSPIEL ESSEN: „AufRuhr“ von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt Regie Volker Lösch Bühne Friederike Külpmann MUSIKTHEATER IM REVIER GELSENKIRCHEN: „Stadt der Arbeit“ von Volker Lösch und Ulf Schmidt Regie Volker Lösch Bühne und Kostüme Carola Reuther

Kein Theater der Zwischentöne: Volker Lösch bringt mit „AufRuhr“ extreme Figuren und Stimmen junger Aktivist:innen auf die Bühne.

Ein Blick von oben, aus dem Hubschrauber,

projekt, das soziale, sichere und barrierefreie

und das Urteil der Investorin ist so eindeutig

Wohnungen anpreist, dafür allerdings den

wie niederschmetternd: „Sieht aus, als könne

Norden räumen lassen muss. Brisante Verbin-

das weg“. „Das“ ist der Essener Norden, der

dungen: Die Tochter der Bauunternehmerin

strukturschwache, der arme Teil der „un-

aus dem reichen Süden entlarvt das Projekt

gleichsten Stadt Deutschlands“, wie Volker

als ökologische Katastrophe und postet akti-

Lösch sie nennt. Das Nord-Süd-Gefälle in

vistische Videos. Und Adile, gebürtige Gel-

sagt Vergröberung aber ins Groteske, und da

der Ruhrgebietsstadt ist massiv – hier die

senkirchenerin

verpufft jede mögliche mahnende Wirkung.

Problemviertel, dort die Stadtvillen, getrennt

wohnt im Norden und putzt im Süden, und

Dabei kommen sie einem eigentlich

durch die Autobahn A40, die gerne auch

zwar das Haus der Bauunternehmerin. Lena

ziemlich nah, die Darstellenden, zumindest

„Sozial-Äquator“ genannt wird.

und Adile tun sich als Widerständlerinnen

räumlich. Das Publikum sitzt auf Dreh­

mit

kurdischen

Wurzeln,

Foto Birgit Hupfeld

Gelsenkirchen liegt komplett nördlich

­zusammen, besetzen zusammen mit Hacker

hockern im Saal, gespielt wird längs dazwi-

der A40. Die Stadt mit der zweitniedrigsten

Perry und Rentner Grube (Ex-Bergarbeiter)

schen und auf den Seitenbühnen. Der Raum

Beschäftigungsquote im bundesweiten Ver-

die Häuser und den Untergrund (Grube kennt

ist umgeben von Videoleinwänden, auf denen

gleich. 260.000 Einwohner:innen, davon

die Schächte). Der Kampf geht weit und

Szenen der Stadt – vom Taubenschlag über

167.000 im erwerbsfähigen Alter. Gerade

­weiter – Gewalt scheut keine der beiden Sei-

den Wahlkampf in der Fußgängerzone bis

einmal die Hälfte hat einen festen Job. Jede:r

ten – bis zu Bürgerkrieg und Mord: Der Poli-

zum Steeler Wasserturm, einem zentralen

Vierte bekommt Hartz IV. Passende Orte sind

zeikommissar erschießt den Bürgermeister,

Schauplatz des Kampfes der Roten Ruhr­

das für Volker Lösch, der als Regisseur stets

die Bauunternehmerin verstößt ihre Tochter,

armee 1920, gezeigt werden. Oder auch Live-

gegenwartsbezogen arbeitet und seine Pro-

die Widerständler rufen die Autonome Repu-

Szenen und Interview-Statements junger

duktionen in und für eine Stadt entwickelt.

blik Ruhr aus. Was für ein Drama!

Aktivist:innen. Da geht es um Antifaschis-

Sein Antrieb ist dabei stets politisch moti-

Lösch und sein Autorenteam scheuen

mus, Klima, Kunst und Mitspracherecht. Die

viert, sein Anspruch nicht weniger als der

weder das Getöse noch die Schwarz-Weiß-­

Raumbühne, die Architekt Werner Ruhnau

Wille nach Veränderung durch Sichtbar­ ­

Malerei. Jede Figur ein Extrem: Janina Sachau

(der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden

machung. Seine Themen diesmal: der ver-

zeigt eine teuflische Investorin mit gegelten

wäre) entworfen hatte, und die zu Wort kom-

heerende Ausbau des Hyperkapitalismus und

Haaren und fiesem Lachen, die auf hohen

menden Laien – sie sind für Lösch Ausdruck

die Lohn­arbeit und ihr sinkender Wert. Soli-

Schuhen über Leichen geht. Der Polizei­

eines demokratischen Theaterverständnisses.

darität! könnte als Aufruf über beiden stehen.

kommissar Reich(!) (Philipp Noack) lebt fa-

Etwas weiter nördlich, im Musiktheater

Die Investorin aus dem Hubschrauber

schistoide Tendenzen grob und offen aus.

im Revier (MiR), hat Lösch als Laien 15 Gel­

ist Teil einer fiktiven Kriminalgeschichte, die

Anna Bardavelidze beherrscht als Adile Ton

senkirchener:innen auf die Bühne geholt, die –

Lösch zusammen mit Christine Lang und Ulf

und Tanzmoves der „Straße“. Löschs Theater

arbeitslos aus verschiedensten Gründen – das

Schmidt für Essen unter dem Titel „AufRuhr“

ist kein Theater der Zwischentöne, es ist laut,

Publikum mit diesen Fakten konfrontieren;

geschrieben hat. Investorin, Bürgermeister

provozierend, anstrengend und eben auch sim-

erzählend, brüllend, singend. Die werden auch

und Bauunternehmerin träumen den Traum

plifizierend. In „AufRuhr“ geraten Story und

hier nicht in eine bestehende Stückhandlung

von Essens Zukunft, „Essen 5.0“ – ein Groß-

Figuren in ihrer Vereinfachung oder besser ge-

integriert. Mit Ulf Schmidt hat Lösch ein

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­eigenes Musiktheaterstück verfasst: „Stadt der

brisante Bedeutung verleiht. Die 23-jährige

Arbeit“ heißt es ironischerweise.

Rabea hat keine Ausbildung, weil sie unter

Gelsenkirchen hat keine Arbeit für alle. Aber ein einziger Job ist noch zu vergeben. Um den buhlen in Volker Löschs Musik­ theater „Stadt der Arbeit“ die Massen in grauen Stahlkäfigen. Foto Isabel Machado Rio

Nach den Oden an die Arbeit zu

Depressionen leidet. Sie will als Präparations-

­Melodien von Wagner, Haydns Deutschland-

assistentin arbeiten, das darf sie aber nicht,

lied und Eislers DDR-Hymne positionieren

weil sie als arbeitsunfähig vermerkt ist. Petra

sich die Insassen des Arbeitshauses zum

konnte als alleinerziehende Mutter ihr Jura-

Morgenappell: die chronische Traumtänzerin,

Studium nicht beenden und gilt jetzt ent­

der a­rbeitsmarktpolitische Amokläufer, der

weder als über- oder als unterqualifiziert. Ger-

sierten: „Der Reichtum der Zukunft sind wir.

lust­ betonte Systemverweigerer, die arbeits-

hard hatte 40 Arbeitsstellen, zuletzt entlassen

Wenn ihr uns nicht in Armut haltet.“ Lösch

marktferne Dauerkranke. Lauter biografische

wegen Gewerkschaftsarbeit. Die Botschaft ist

stellt aus – was in Gelsenkirchen unange-

Begründungen für eine sogenannte Arbeits­ ­

klar: Sie alle wollen arbeiten, aber sie wurden

nehm unterhaltend und wie in Essen grotesk

losigkeit. Sie wurden in orangefarbene Anzüge

abgehängt. Braucht unsere Gesellschaft die

anmutet. Aber er stellt auch klar und fordert

und Einzelkäfige gesteckt, werden gemaß­

Arbeitslosen als Motivationsschub? Auch in

ein – und da überzeugt er in seiner Kompro-

regelt und malträtiert mit Schlägen und Elektro-

Gelsenkirchen ruft Lösch wie gewohnt unge-

misslosigkeit. //

schocks. Als Fallmanager Petra und Gerd ge-

mütliche Wahrheiten aus. Wachrütteltheater,

ben die Schauspieler:innen Gloria Iberl-Thieme

diesmal mit Orchester und Gesang.

und Glenn Goltz machtversessene Knüppel-

Im zweiten Teil des Abends ist das Ar-

Schwinger, mit Stimme und Körperhaltung

beitshaus geschlossen, die Käfige sind weg-

immer am Anschlag, ein Prügel- wie Parodis-

geräumt. Auf dem Boden hat Bühnen- und

ten-Paar. Denn bei aller brachialen Direktheit

Kostümbildnerin Carola Reuther eine Ziel-

fällt der Abend immer wieder ins Ironische,

scheibe ausgelegt. Der Mensch als Munition

schwankt zwischen Wut-Gebrüll und Musical-

auf dem Arbeitsmarkt. Gelsenkirchen hat kei-

Attitüde, wechselt von konkretem Betroffen-

ne Arbeit für alle. Aber ein einziger Job ist

heitsbericht zu pathetischer Nummernrevue.

noch zu vergeben. Wer sich verkaufen kann,

Da werden Steine von einem Eimer in den

gewinnt. Jetzt dürfen sie alle zeigen, was sie

anderen gekippt (Arbeitsbeschaffungsmaß­

wirklich können – großartig singen (Kreativi-

nahme). Das System tritt als Handpuppe in

tät), Rennradfahren (Durchhaltevermögen),

den Dialog. Und Labora (Sopranistin Eleonore

Schuhplattlern (gelungene Integration eines

Marguerre) und Dromus (Sebastian Schiller)

aus Syrien Geflüchteten). Da gibt es reichlich

duellieren sich singend als Adam und Eva, als

Szenenapplaus im MiR.

Sarah Heppekausen

FRANKFURT/MAIN Leben, du wildes Gedicht! SCHAUSPIEL FRANKFURT: „Liberté oh no no no“ von Anja Hilling Regie Sebastian Schug Bühne Thea Hoffmann-Axthelm Kostüme Nini von Selzam

Was sie antreibt, ist die Verheißung: auf Lie-

Engel und Teufel durch die (Musik)Geschichte.

Im Protest-Epilog wütet der Chor der

be, auf die Rettung der Welt, auf die Freiheit.

Die erzählten Biografien basieren auf

Vollzeit-Ehrenamtler:innen, der Ausbildungs-

Dabei ist „R“, die Protagonistin in Anja

Interviews. Sie sind echt, was ihnen natürlich

willigen, der Rentner:innen und Wegrationali-

­Hillings neuem Stück „Liberté oh no no no“,


auftritt

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Lotte Schubert als Anti-Heldin R in der Uraufführung von Anja Hillings neuem Stück in Frankfurt/Main. Foto Robert Schittko

längst kein geradliniger Weg durch das Leben beschieden. Sie ringt mit Ängsten und einer kaum zu überwindenden Einsamkeit, bis sie eines Tages auf „V“ trifft. Zwar geht aus ­deren Liaison d’amour ein Kind hervor, aber trautes Familienglück wird die Unstete auch hier nicht finden. Nachdem ihr Dasein einem ­juvenilen Anlaufen gegen den Sturm und alle Konventionen der Gesellschaft glich, kehrt sie spät als Geläuterte zurück in das allzu ­biedere Elternhaus, wo sie schließlich durch einen Hundebiss stirbt. Soweit zu einem Coming-of-Age-Plot voller Volten, Irrungen ­ und Wirrungen und einem allzu tragischen Ausgang. Obwohl dieses in zahlreiche Einzel­ szenen leporelloartig aufgeblätterte Stationendrama im Grunde nach der großen Bühne

der Rückseite einer Wand bunt blinkende

Substanz bleibt von den letzthin überkomple-

ruft, entfaltet Regisseur Sebastian Schug die

Schilder mit Variationen von „Open“ auf.

xen Sätzen der Protagonistin hängen. Poesie

furiose Geschichte im überschaubaren Kam-

Dass gerade diese grenzenlose Offen-

braucht eben Raum, auch und gerade im

mertheater des Schauspiels Frankfurt. Statt

heit wiederum Orientierungslosigkeit erzeugt,

­Theater. Mehr Schweigen, mehr Mut zur Leere

auf bühnentechnisch aufwendige Kulissen-

lautet das Fazit dieses Werks. Ob in der

hätte dieser Inszenierung vor allem zu einem

wechsel zu setzen, sorgen zahlreiche Requisi-

Berufsberatung, auf der Arbeit oder in der ­

verholfen, nämlich mehr Tiefe. //

ten für Abwechslung: Topfpflanzen – wohl als

U-Bahn, um nur einige wenige Stationen die-

Symbol für ein eingehegtes Spießerleben –,

ses Abends zu nennen – über allem liegt ein

ein

Wohnzimmerinterieur,

Schleier aus Unsicherheit und Unrat. Gleich-

eine Fahne mit einem mit Wolken versehenen

zeitig erweist sich jede Wegmarke des Er-

Himmel, auf deren Rückseite sich ein roter

wachsenwerdens als bekannt. Wohl auch da-

Theatervorhang befindet, Erde, Eimer, Stühle,

her begegnet die Hauptfigur vor allem Typen.

Lampen, ein Karton mit aufgedruckten Hoch-

Rasch wechseln Schuberts Mitspieler:innen

hausfassaden –, dass all dies nebeneinander

Angelika Bartsch, Mark Tumba und Uwe

steht und immer wieder rege herumgeräumt

­Zerwer dazu graue Pullover mit Aufdrucken

wird, hat seinen Grund: Denn im Hirn der be-

wie „Pa“, „Ma“ oder „V“. Die Botschaft: Die

stechend von Lotte Schubert verkörperten

Ideale Freiheit und absolute Individualität

Anti-Heldin herrscht blankes Chaos. Von An-

gleichen einer Chimäre. Am Ende nimmt das

fang an konfrontiert sie mit wildesten Textsua-

Schicksal ohnehin seinen Lauf.

verschiebbares

Björn Hayer

HANNOVER Alles nichts Konkretes SCHAUSPIEL HANNOVER: „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Bei nassem Schnee“ nach der Erzählung von Fjodor M. Dostojewski Inszenierung Lukas Holzhausen Bühne und Kostüm Katja Haß

den, die ungebremst auf uns niederstürzen.

Als stimmiges Passepartout für diese

Hillings Heranwachsende spricht von innerer

melancholische Maxime erweisen sich die

Dunkelheit, denkt über Rebellion und Körper

durchweg wunderschönen, durch die Live-­

nach, sinniert über Sinn und Unsinn von Glau-

Musik von Thorsten Drücker unterstützten

ben. Die Autorin eignet ihr dazu eine hochpoe-

­Gesangseinlagen, deren Nachdenklichkeit wie

Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus

tische Sprache zu, weswegen die Aufführung

eine Erfrischungsbrise inmitten der hoch­

dem Kellerloch“ wurden erstmals 1864 in

streckenweise mehr Züge von einem Gedicht

komprimierten Ereignisabfolge anmutet. Man

der Zeitschrift Epocha veröffentlicht. Die Er-

als von einem Bühnenwerk trägt.

kann kaum bestreiten, dass Schugs Realisie-

zählung ist in zwei stilistisch sehr unter-

Dementsprechend arbeitet auch Schug

rung sehr berührende Augenblicke erzeugt und

schiedliche Teile geteilt: Die „Aufzeichnun-

eher assoziativ. Mal trägt R einen lediglich

mithin existenzielle Grunderfahrungen der

gen aus dem Kellerloch“ im ersten Abschnitt

mit einer leuchtenden Lampe versehenen,

condition humaine atmosphärisch überzeu-

sind essayistisch angelegt. Der zweite Teil,

leeren Fernseher durch die Gegend – viel-

gend auf die Bühne bringt. Zur Wahrheit die-

„Bei nassem Schnee“, ist erzählerischer und

leicht mit der Hoffnung, daraus könnte doch

ses Abends gehört aber ebenso die Rasanz und

wird wesentlich seltener für die Bühne adap-

noch so etwas wie ein göttliches, lenkendes

die fehlende Akzentuierung, was die textliche

tiert. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein ehe-

Licht erscheinen, ein andermal tauchen auf

Darbietung anbetrifft. Zu wenig semantische

maliger Beamter mittleren Alters, der sich

/ 35 /


/ 36 /

auftritt

/ TdZ Februar 2022 /

selbst als bösartig, verkommen und hässlich,

schließlich mit seinem Herrn verschmilzt.

komplexer. Der Versuch wirkt eher, als hätte

aber hochgebildet beschreibt. Aus Aggression

List stachelt den Kellerbewohner an, reizt ihn

man ein angetautes Schokoladeneis mit Scho­

und Rachsucht dem modernen Menschen

und hält ihm doch „nur“ den Spiegel seiner

kosauce getoppt: Es schmeckt intensiver,

und der von ihm geschaffenen Gesellschaft

eigenen Gedanken vor: „Du behauptest, dich

bleibt aber ein brauner Einheitsbrei. Fraglich

gegenüber zieht er sich in ein feuchtes Keller-

hier zu entblößen, und willst doch nur ge­

ist auch, wer den Fremdtext, so fragmentiert

loch zurück. Dort verfällt er in seine eigene

fallen“. Ein gefälliger und dennoch glück­

wie er eingestreut wird, überhaupt erkennt.

Verlorenheit, steigert sich immer weiter in

licher Regieeinfall Holzhausens.

Selbstverständlich ist Rand ungebrochen

­Zynismus und genüsslichen Selbsthass.

Davon gab es leider nicht allzu viele.

­aktuell, ihre Theorie des radikalen Egoismus hält auch heute noch dem Neoliberalismus

Hajo Tuschy sitzt für diesen Monolog

Der Abend bleibt überwiegend bei der Blau-

des ersten Teils in Feinripp-Unterwäsche und

pause Dostojewskis. Auch der Versuch, im

sein erschreckendes Spiegelbild vor. Es gibt

kackbraunen Wollsocken auf einem kratzig

zweiten Abschnitt eine „moderne“ Übertra-

aber durchaus zeitgemäßere Positionen, wie

anmutenden Stuhl, mitten auf einer er­

gung des Textes vorzunehmen, scheitert. Dort

die einer Eva von Redecker zum Ökosozialis-

wartungsgemäß auf die Technik reduzierten

schildert der Kellermensch zurückliegende

mus oder eines Robin Celikates zur Solidari-

Bühne (Bühne und Kostüm: Katja Haß). Er

Episoden aus seinem Leben, die sein Schei-

tät, die den Abend genauso theoretisch ein­

kommt dabei nur langsam in die polemische,

tern auf beruflicher Ebene sowie im zwi-

gebettet hätten, ja, dem Kellermenschen

existenzialistische Haltung von Dostojewskis

schenmenschlichen Bereich und in seinem

vielleicht sogar einen Ausweg hätten liefern

Antihelden. Vor allem am Anfang verschenkt

Liebesleben exemplifizieren. So beschreibt er

können. Dafür aber hätte Holzhausen etwas

Tuschy viel Zeit daran, manisch mit den

etwa ein Treffen mit alten Schulfreunden (ge-

riskieren müssen, sich trauen, die Blaupause

­Füßen zu zucken, sich angestrengt mit der

spielt von Bernhard Conrad, Fabian Dott, Léo

Dostojewskis auch anzuwenden.

Hand über den Oberschenkel zu reiben und

Mathey, Zabi Tajik), die sich im Gegensatz zu

Dieser halbgare Mut zieht sich bis in

dabei zart stotternd mit belegter Stimme den

ihm alle in gehobenen und abgesicherten

die letzten Szenen des Abends. In einem ulti-

Dostojewski-Text wiederzugeben. So richtig in

­Positionen befinden, ihn zwar zu einem Essen

mativen Hilfeschrei folgt der Kellerloch­ be­

Fahrt kommt der Abend erst durch Wolf List,

einladen, aber nur, um ihm noch herab­

wohner seinen ehemaligen Schulfreunden in

der zunächst als Diener des Kellerbewohners

lassender zu begegnen. Aus dem Essen wird

ein Bordell, wo er die Sexarbeiterin Lisa trifft.

auftritt – damit dieser noch einen hat, nach

bei Holzhausen eine schwammige Party-­ Holzhausen besetzt die Rolle der Lisa mit

dem er treten kann –, sich später aber immer

Sequenz, der undifferenziert Textfragmente

Fabian Dott, der sie überraschend empa­

mehr als dessen Hirngespinst entpuppt und

aus „Atlas Shrugged“ der amerikanischen

thisch, wenn auch klischeehaft spielt. Den-

Philosophin und Radikalegoistin Ayn Rand

noch bleibt fraglich, wieso Lisa überhaupt

untergemischt wurden. Klar, Rands Ansich-

von einem Mann gespielt werden musste.

ten passen zu denen der ehemaligen Schul-

­Allein den Schauspieler:innen-Körper auszu-

freunde, treiben diese auf die Spitze. Aber sie

tauschen, verändert nicht die Rollensetzung.

sind weder modern – Ayn Rand publizierte

Lisa bleibt eine weiblich gelesene Rolle, die

hauptsächlich Mitte des zwanzigsten Jahr-

innerhalb der Erzählung und auch in Holz-

hunderts – noch machen sie die Erzählung

hausens Inszenierung männlicher Gewalt

Bleibt das Kellerloch ein Kellerloch ohne Ausblick und Weitsicht? Lukas Holtzhausen wagt sich am Schauspiel Hannover an eine moderne Interpretation des DostojewskiKlassikers. Foto Katrin Ribbe

zum Selbstzweck ausgesetzt ist. Einfach einen Mann diese Rolle spielen zu lassen, ist gefährlich: Es verschleiert das Problem. Und so bleibt das Kellerloch am Ende doch nur ein Kellerloch mit wenig Ausblick und Weitsicht. //

Lina Wölfel

MANNHEIM Das andere Gesicht der Erde NATIONALTHEATER MANNHEIM: „Meine geniale Freundin – Teil 2“ nach den Romanen von Elena Ferrante Regie Felicitas Brucker Bühne Viva Schudt Kostüme Katrin Wolfermann


/ 37 /

Die Lebensträume der Fabrikarbeiterin Lila

Motorrad, mit wehenden Haaren flitzten sie in

platzen. Denn ihre Freundin Elena, auf die sie

ihre Zukunft. Anfangs waren in dem Arbeiter-

ihre Hoffnung projizierte, ist gefangen in

viertel alle gleich. Dann aber trennten sich

­einer Ehehölle. Die junge Neapolitanerin, die

Elenas und Lilas Wege.

Im Spagat zwischen dem tiefenscharfen Prosatext und Spektakel: Felicitas Brucker zeigt Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin – Teil 2“ am Nationaltheater Mannheim als dynamische Regiearbeit.

anders als die Gefährtin Zugang zu Bildung

Wegen der Corona-Pandemie kam der

hatte und aufgestiegen ist, erstickt in bil-

zweite Teil erst jetzt auf die Bühne. Da schlägt

dungsbürgerlicher Enge. „Warum habe ich

das Regieteam zwar dunklere, keinesfalls je-

mir vorgestellt, dass Du ein wunderschönes

doch leisere Töne an. Als Lila ist Paula Hans

piertes Leben zeigen die Spielerinnen stark,

Leben haben wirst, auch für mich?“ Mit die-

eine starke Frau, die als Arbeiterin in einer

ganz ohne Umschweife und Geplänkel. Dass

sem Satz macht die hochbegabte Lila, die es

Wurstfabrik ihr Leben fristet. Klug arbeitet

die politische Kraft des Romans in der Thea-

wegen ihres Eigensinns und Trotzes nicht weit

die Schauspielerin da die Prinzipien der poli-

terfassung grandios zum Tragen kommt, liegt

gebracht hat, ihrem Frust in Elena Ferrantes

tischen Vordenkerin heraus, die das kapitalis-

auch am Bühnenbild der Künstlerin Viva

„Meine geniale Freundin“ Luft. Hart und

tische System in eine Underdog-Identität

Schudt. Die Wand ist mit Graffiti-Kritzeleien

­direkt beschreibt die italienische Autorin die

­gepresst hat. Kostümbildnerin Katrin Wolfer-

und mit Skizzen einer Programmiersprache

Beziehung der Frauen, deren Leben in un­

mann hat sie in einen orangefarbenen Overall

übersät. Das verwirrt nicht nur das Publikum.

gleichen Bahnen verläuft, in der Tetralogie.

gezwängt. Darin erinnert sie fast an eine

Die Akteurinnen und Akteure versinken in ei-

Sind diese so unterschiedlichen Figuren ein

­Gefangene. In ihrer Freizeit büffelt Lila Infor-

ner wilden Welt des Wandels. Farblos gerät

Mensch? Diese Frage steht in der deutschen

matik. Das Fernstudium soll sie und ihre

am Ende die Lebensbeichte der alten Elena,

Erstaufführung von Felicitas Brucker im Raum.

­Familie aus der prekären Existenz befreien.

die Ragna Pitoll zu resigniert zeigt. In einem

Foto Maximilian Borchardt

Am Nationaltheater Mannheim hat die

Dagegen scheint Elena ein glänzendes,

engen Wohnkäfig blickt sie auf ein Leben zurück, dessen Chancen sie nicht gesehen hat.

Regisseurin nun den zweiten Teil der Roman­

erfülltes Leben zu führen. Doch dieser Ein-

adaption auf die Bühne gebracht. 2011 er-

druck trügt. Nach dem Studium darf sie in

Dass Brucker in der dynamischen Regie-

schien der erste Band der vierteiligen Ge-

ihrem intellektuellen Beruf arbeiten und Bü-

arbeit stets die gesellschaftliche Dimension

schichte einer weiblichen Emanzipation in der

cher schreiben. Virtuos dekonstruiert Maria

mitdenkt, gibt nicht allein der Text vor. Die Un-

männlich dominierten Gesellschaft Neapels.

Munkert den Traum vom leichten Leben der

terdrückung der Frau in einer Welt, die von

Mit den weiteren Teilen landete Ferrante –

Bourgeoisie. Sie heiratet den reichen Bürger-

Macho-Attitüden und von der Gewalt der Ca-

der Name ist ein Pseudonym – einen Welter-

sohn Pietro Airota, den Christoph Bornmüller

morra geprägt ist, sieht sie als zentrales The-

folg. Bereits 2019 war die wilde, turbulente

als müden Ehemann ohne erotischen Reiz

ma: „Die Frau ist das andere Gesicht der Erde.

Geschichte der Kinder- und Jugendjahre in

zeigt. Während sich Elena immer mehr von

Die Frau ist das unvorhergesehene Subjekt.“ In

Mannheim zu erleben. Spielerisch schaffte

den politischen Idealen ihrer Kindheit ent-

diesem Kontext müssen sich die beiden Frauen

die Regisseurin Brucker da den Spagat zwi-

fernt, entfremdet sie sich ebenso von der

behaupten. Mit Videos spielt die Regie doku-

schen dem tiefenscharfen Prosatext und ei-

oberflächlichen Scheinwelt ihres Mannes.

mentarisches Material von Arbeiteraufständen

nem Spektakel, das Vielfalt und Farbe des

Die Augenblicke, wenn sich die beiden

ein. Mit starken Bildern spinnt Brucker die

neapolitanischen Milieus aufgreift. Leicht­

Schauspielerinnen begegnen, inszeniert Bru-

­Verbindung zur europäischen Geschichte, die

füßig tanzten die Mädchen da durch ein Le-

cker griffig und tiefenscharf. Das Ringen der

Ferrante so meisterhaft im Leben von Elena

ben, das ihnen beiden offen schien. Auf dem

Frauen um ein selbstbestimmtes, emanzi-

und Lila reflektiert. //

Elisabeth Maier


/ 38 /

POTSDAM Bühne für neue Stücke HANS OTTO THEATER: „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ von Sibylle Berg Regie Anna-Elisabeth Frick Bühne und Kostüme Mariam Haas, Martha Pinsker

ren. Wie soll sich ein kleines Haus da mit seinem Spielplan bemerkbar machen? Dem Angebot aus Brandenburg ist ein klares und überzeugendes Konzept anzusehen: Man wagt sich an die neue Dramatik. Die

Die bitterböse Stupidität des Geschlechterdauerkampfs in Potsdam: Sibylle Bergs „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ in einer Inszenierung von Anna-Elisabeth Frick. Foto Thomas M. Jauck

Öffentlichkeitsgaranten Ur- und Erstaufführung überlässt man dabei der Hauptstadt und spielt eifrig nach, was andernorts bereits funk-

garten“ in den „Liebesgarten“, von „Vorspiel­

tioniert hat. Ist das mutlos? Keineswegs. Das

wo es weitergeht in „Prä-Sexgarten“, „Missio-

Haus verhilft der neuen Dramenliteratur damit

narsgarten“, „Erwachsenen-Garten“, „Kindergar­

erst wirklich zu ihrem Recht. Denn Texte wer-

ten“ und schließlich in den „Friedensgarten“,

den unaufhörlich produziert, allerdings müs-

wo die scheinbar wohltuende Entmannung der

sen sie den Weg auf die Bühnen finden, auch

Gesellschaft bereits stattgefunden hat. Der

jenseits der großen Häuser und mehr als nur

böse Text zeigt die Stupidität des Gebitter­

ein Mal. So wirkt man hier mit an der Durch-

schlechterdauerkampfs. Erkenntnisbringenden

setzung eines neuen Kanons. Dabei übt man

Schmerz ruft er, anders als frühere Werke von

sich in Potsdam nicht im pseudoavantgardisti-

Sibylle Berg, allerdings nicht hervor. Das hängt

schen Gehabe, lässt die Postdramatik in den

wohl auch damit zusammen, dass weibliches

Potsdam, diese etwas verschlafene, kleine

Geschichtsbüchern und vertraut auf figurenba-

Dummchen und heimwerkender Mann mit im-

Großstadt, ist für kurze Zeit in den Mittel-

sierte Geschichten. Nis-Momme Stockmann,

menser Fleisch­lust, wie sie hier vorgeführt wer-

punkt des öffentlichen Interesses gelangt, als

Philipp Löhle und Sibylle Berg sind die Namen

den, anderen Geschlechterklischees längst

hier im vergangenen Herbst mit Annalena

der bekannten Autoren, deren Stücke hier un-

Platz gemacht haben. Und auch Orgasmus-

Baerbock und Olaf Scholz zwei prominente

ter anderem gespielt werden.

schwierigkeiten sind kein so neues Thema. In

„Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer Regie Marlene Anna Schäfer Bühne und Kostüme Juan León

Kandidaten um ein Direktmandat für den

Von Sibylle Berg stammt auch der bis-

Bundestag rangen. Hier, so hatte man den

sig-komische Text „In den Gärten oder Lysistra-

Eindruck, wird über die Zukunft des Landes

ta Teil 2“. Aus einer – vielleicht nicht so fernen

2019 am Theater Basel uraufgeführt,

entschieden. Nun beheimatet die Havelstadt

– Zukunft sprechen Frauen zu uns, sie be­

wurde das Stück nun von Anna-Elisabeth Frick

also Kanzler und Außenministerin. So viel

wohnen den Planeten Erde, nachdem das

für die Potsdamer Spielstätte Reithalle in

Aufmerksamkeit ist man hier nicht gewohnt.

männliche Geschlecht bereits ausgestorben

­Szene gesetzt. Der Regisseurin gelingt es, dem

Und auch auf das Potsdamer Hans Otto The-

ist. In einem szenischen Edutainment-Pro-

sehr heutigen Text etwas Rituelles zu verleihen.

ater richtet sich der überregionale Blick nur

gramm führen sie dann zusammen mit atavisti-

Weihrauchgaben und Opferzeremonien unter-

selten. Zu stark ist scheinbar die Konkurrenz

schen Männern vor, wie das eigentlich war: das

brechen die Textvorlage, die in ihrer themati-

aus Berlin, wo man – allzu oft zu Unrecht –

Zeitalter des Patriarchats – also die Gegenwart.

schen Beschränktheit auf der Bühne schnell zu

davon überzeugt ist, Weltkunst zu produzie-

Die Szenenfolge entlässt das Publikum vom

einem Nummernstück zu werden droht. Ein

den letzten sechzig Jahren wurde auch darüber sowohl klüger als auch lustiger gesprochen.


auftritt

/ TdZ Februar 2022 /

übergroßer Schrein zeigt Adam und Eva. Die

Schäfer angenommen hat. Das soziale Drama

Abgrund. Allerdings hätte ein etwas dynami-

Fliesen, die die Bildnisse umgeben, sind von

zeigt die gesellschaftlichen Zwänge zwischen

scherer Umgang damit dem Abend gutgetan.

Vulven geziert. Das Matriarchat hat sich durch-

Machterhalt, Aufstiegswünschen und Durch-

Schäfer konzentriert sich auf eine ge-

gesetzt, aber es bleibt etwas nur Symbolisches,

halteversuchen. Auch dass die gesellschaftli-

naue Figurenzeichnung, das allmähliche Aus-

wenn nicht die widrigen Verhältnisse umge-

che Spaltung, von der seit vergangenem Jahr

einanderbrechen aller Sicherheiten. Ernsthaft

stürzt, statt nur übertüncht werden. In diesen

unaufhörlich die Rede ist, kein so neues Phä-

geht sie den Beziehungsgeflechten und den

Details kommt Frick dem Potenzial des Textes

nomen ist, wird uns eindrücklich vorgeführt.

Entwicklungen darin nach. Die ehemaligen

sehr nahe. Aber in dieser gut eineinhalbstündi-

Die Politisierung der Figuren in die eine oder

Freunde und politischen Antipoden Thomas

gen Inszenierung wird sie dem Umschlagen

andere Richtung wirkt dabei nicht schablonen-

und Alfred (Paul Wilms, Jan Hallmann) sind

von feministischer Utopie in die Dystopie einer

haft. Palmetshofers sprachliche Überführung

keine symbolisch aufgeladenen Platzhalter

klinischen Existenz nicht völlig gerecht. Immer

des Textes in das 21. Jahrhundert ist überaus

für simple Vorstellungen von den Personen

dort hingegen, wo die drei Spielerinnen und

gelungen – und wohltuend. Szenisch bleibt er

hinter einer politischen Position, sondern

Spieler über das Wort hinausgehen, mit Cho-

nah an der Vorlage, er verliert aber doch die

plastisch gezeichnet. Sie werden je auch in

reografien und Bildern eine weitere Ebene er-

soziale Herkunft der Figuren etwas aus den Au-

ihrer Widersprüchlichkeit erkennbar. Famili-

öffnen, gewinnt die Inszenierung merklich an

gen oder verabschiedet sie zumindest als zen­

enkonflikte werden nicht jedes Mal aufs Neue

Spannung. Dass hier nicht alles zu überzeugen

tralen Punkt. Den Alkoholismus der Martha er-

durch große Worte, große Gesten ausgestellt,

vermag, einige Kalauer abgedroschen wirken,

setzt er durch die neue Volkskrankheit in der

sondern werden in Feinheiten erkennbar. Un-

liegt wohl vor allem an dem Text einer Autorin,

spätkapitalistischen Gegenwart: Depression.

eitel stellt sich die Regisseurin in den Dienst

die durch Sprachkraft überzeugt, aber ein sze-

Und den Frauensuizid im fünften Akt lässt er

eines Textes und zeigt aufrichtiges Interesse

nisch unterkomplexes Werk vorgelegt hat. Im-

getrost beiseite, beraubt seinen Text damit aber

für die darin aufgeworfenen Problemlagen.

merhin hat Berg gewissermaßen eine Fort-

auch einer inszenatorischen Herausforderung.

Und so verzeiht man auch einen gewissen in-

schreibung der Aristophanesʼschen „Lysistrata“

Mit einem projizierten Blick in den Kos-

szenatorischen Schematismus, der bei den

versprochen, einem Stück, in dem Frauen,

mos beginnt die zweieinhalbstündige Inszenie-

Auf- und Abgängen deutlich wird. Kein fal-

scheinbar machtlos, ihre Waffen erst finden

rung. Nichts kann an diesem trostlosen Abend

scher Witz fällt, wo es gilt, das schwer Erträg-

müssen, weil ein politischer Widerstand zwin-

darüber hinwegtäuschen: Wir wie die auf der

liche betrachtend auszuhalten. Dieses Stück

gend wird. Und an diesem Abend? Die Männer

Bühne sind allesamt kleine Lichter, und die

ist, wenn es so gespielt wird, durchaus eine

ziehen den Schwanz ein – und die Frauen zu-

Sterne interessiert unsere mitleidige Existenz

Zumutung. //

cken mit den Schultern.

wohl kaum. Ein großes Wasserbecken nimmt

Keine Fort-, sondern eine Überschrei-

einen großen Teil der Szene ein, darum versam-

bung – und zwar eine äußerst populäre – ist

meln sich die neobiedermeierlich gekleideten

Ewald Palmetshofers Aktualisierung von Ger-

Spieler, daran nehmen sie Platz. Ein dankbares

hart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, der

Bühnenbild, das die Kluft zwischen den Figu-

sich in Potsdam die Regisseurin Marlene Anna

ren zu zeigen vermag – oder ihre Nähe zum

Erik Zielke

Keine Fort-, sondern eine äußerst populäre Überschreibung von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ als Inszenierung von Marlene Anna Schäfer. Foto Thomas M. Jauck

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/ TdZ Februar 2022 /

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auftritt

TdZ März   Februar 2022 / TdZ /// Januar 2018 2020

CHANGES

Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit

Buchverlag Neuerscheinungen

Dieser Reader ist die Selbstanalyse einer Institution und ihres Pro­ gramms, und er ist gleichzeitig der Versuch, ästhetische und poli­tische Ereignisse, wie Botho Strauß es nannte, zusammenzudenken. Im Brennglas eines Jahrzehnts werden wesentliche Wandlungen in der Organisation von Festivals, Ausstellungen, Aufführungen und Diskursveranstaltungen entlang von fünf Leitbegriffen reflektiert: Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit.

CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit Herausgegeben von Thomas Oberender

Paperback mit 520 Seiten ISBN 978-3-95749-­398-­9 (deutschsprachige Ausgabe) ISBN 978-3-95749-411-5 (English edition) EUR 24,00 (print) / EUR 19,99 (digital)

„Kultur macht stark!“ ist die Behauptung hinter Programmen wie Wege ins Theater, Zur Bühne, tanz + theater machen stark, ChanceTanz und anderen, die für bisher nicht erreichte junge Zielgruppen Zugänge zu den Darstellenden Künsten schaffen wollen. Wie verändert sich dadurch das Selbstverständnis der Macherinnen und Macher? Wie sieht die Zukunft aus? In der Praxis zeigt sich immer wieder, wie sehr strukturelle Veränderungen, neue, visionäre Wege und zukunfts­weisende Projekte von Menschen ausgehen. Jetzt im neuen Design IXYPSILONZETT Jahrbuch 2022 We Want YOU to Change the System Herausgegeben von Meike Fechner und Birte Werner Paperback mit 76 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-409-2 EUR 9,50 (print) / EUR 9,50 (digital)

Hybrides Theater basiert auf digitalen Technologien, die physische und virtuelle Räume zeitgleich adressieren. Wie ein Ethnologe sammelt und studiert der Performer Arne Vogelgesang die unterschiedlichsten Netz-Communitys und -Phänomene und erschafft aus diesem thea­ tralischen und politischen Material hybride Theaterformate. In drei Gesprächen mit Thomas Oberender, dessen experimentelle Arbeit als Kurator und Vordenker neuer Formate sich stark mit neuen Raumkonzepten verbindet, diskutieren beide die Auswirkungen des Platt­ formkapitalismus auf die Kunstproduktion sowie alternative Konzepte von Authentizität, Skript, Figur und politischer Aktion. Thomas Oberender, Arne Vogelgesang Hybridtheater Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften – Drei Gespräche Paperback mit 204 Seiten EUR 20,00 (print) / EUR 16.99 (digital) ISBN 978-3-95749-403-0

Die Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismografen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Das Buch untersucht die Szene der Grand Opéra und geht den Spuren ihres Nachlebens in Inszenierungen und Werken des zeitgenössischen Musiktheaters nach. Mit Gastbeiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein. RECHERCHEN 161 Günther Heeg Fremde Leidenschaften Oper Das Theater der Wiederholung I Paperback mit 218 Seiten ISBN 978-3-95749-369-9 EUR 18,00 (print) / EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Einar & Bert Theaterbuchhandlung oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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stück labor – neue schweizer dramatik

/ TdZ Februar 2022 /

Anne Haug

Maria Ursprung

Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik 2021 war für Stück Labor ein Jubiläumsjahr. In den letzten zehn Jahren hat das vom Theater Basel initiierte Schweizer Förderprogramm bisher 29 Autor:innen Hausautorschaften an renommierten Schweizer Theater­ häusern ermöglicht. Neben dieser einzigartigen Möglichkeit, zeitgenössische Dramatik zu fördern und Autor:innen kontinuierlich mit Theatern zu verbinden, widmet sich Stück Labor auch verstärkt der Vernetzung. Am 20. und 21. November kamen zahlreiche Autor:innen aller Schweizer Landesteile und -sprachen in Basel zum Jubiläum zusammen und feierten ihre Schreibkunst. Auch die Stücke der beiden letztjährigen Haus­ autorinnen wurden zum ersten Mal präsentiert. Die Basler Autorin Anne Haug erzählt von einer Rückkehr ins verhasste Dorf, aus dem ihre Protagonistin stammt. Was eigentlich in eine furchtbare Abrechnung münden sollte, wird zur persönlichen Auseinandersetzung mit dem ewig gültigen Vertrag der eigenen Herkunft. Die Uraufführung in der Regie von Sahar Rahimi findet am 21. Mai 2022 statt. Maria Ursprung, Hausautorin am Theater St. Gallen, mit dem Stück Labor zum ersten Mal kooperiert, widmet sich der Klimakrise und nimmt uns in ihrem Gedankenspiel die wichtigste Ressource – Wasser – und erzählt davon, wie wir die Kontrolle über unseren Alltag verlieren. Uraufgeführt wird das Stück in der gemeinsamen Regie von Marie Bues und Jonas Knecht am 25. Mai 2022. Derzeit arbeiten im Stück Labor am Theater Basel Michelle Steinbeck, am Theater St. Gallen Alexander Stutz, an den Bühnen Bern Kim de l’Horizon und erstmals am Théâtre du Jura in Delémont Pablo Jakob.


/ TdZ Februar 2022 /

anne haug_ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)

Wieso fühlen wir uns von der Kleinfamilie so angegriffen? Ein literarisches Gespräch zwischen Anne Haug und Ariane Koch über „Ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)“ von Anne Haug

Wer kommt auf die Idee, eine Bushaltestelle

Wann soll mensch wiederkommen? Wenn wir uns auf die Rückkehr freuen. Wenn

Anne Haug und Ariane Koch sind beide in

orange zu streichen?

wir gebraucht werden. Wenn wir uns woan-

oder in der Nähe von Basel aufgewachsen,

Will die Bushaltestelle gesehen werden? Viel-

ders gefunden haben.

haben sich erstmals beim Theaterprojekt

leicht würde der Bus sonst einfach vorbeirasen.

Wieso soll mensch wiederkommen?

„Mein Enkel 2072“, einem Stück über

Vergiftet uns die Provinz?

Weil uns das Sicherheit gibt, wenn wir wis-

Familie, Kindheit und Zukunft, kennen­

Es gibt weniger Lebensentwürfe und mehr

sen, dass wir wiederkommen. Vielleicht ist

gelernt und dort ihr gemeinsames Flair für

Kontrolle in der Provinz. Aber umgekehrt hat

das eine der Lügen, die wir uns immer wieder

Fragebögen und Listen entdeckt.

man in den Metropolen den Druck der perfek-

erzählen. Dass wir alle irgendwann wieder-

ten Wahl und Anonymität. Diese kann wun-

kommen.

derschön sein oder einsam machen. Es gibt

Ist Weggehen ein Luxusgut?

dieses gesellschaftliche Narrativ, dass mensch

Weggehen ist Freiheit und Freiheit ist Luxus.

wissen sollte, wo er leben will. Es bleibt ihm

Also, ja. Aber freiwillig dazubleiben, wäre

nichts anderes, als es auszuprobieren.

dann dasselbe. Oder nicht?

Ist dieses Land zu klein?

Ist Weggehen der einzige Luxus, den wir haben?

Eindeutig. Aber deshalb geht es uns mitunter

Die Entscheidung ist der Luxus. Aber mich

so gut.

beschäftigt die Frage schon immer, warum

Stadt oder Land?

manche bleiben und andere gehen. Wieso ist

Stadt. Immer Stadt. Mit Fluchtoption aufs

das so?

Land.

Weggehen verändert nicht nur die Weggehen-

Hundehaus oder Villa?

den, sondern auch die Zurückgebliebenen. Die-

Kann man sich das aussuchen?

se müssen mit der Abwesenheit zurechtkommen

Monogamie oder Utopie?

und werden dadurch auch andere. Wenn nie-

Ich glaube, beides ist ein Wunsch, oder?

mand weggehen würde, blieben alle gleich.

Paradies oder Wissensdurst?

Aber zum Glück gehen nicht alle, denn sonst

Meditation oder Rausch? Rausch. (Meditation kann auch Rausch sein.)

würde ja niemand auf die Weggegangenen warten.

Ariane Koch studierte u. a. Bildende Kunst

Kleinfamilie oder Hate Speech?

Wann kommst du wieder?

und Interdisziplinarität. Sie schreibt –

Darauf gibt es keine richtige Antwort. Die

Ich sage immer, bald.

auch in Kollaboration – Theater- und Per-

Tamaras haben sich dazu entschieden, in

Soll mensch sagen, dass sie geht oder einfach

formancetexte, Hörspiele und Prosa. Die

der Provinz zu bleiben. Und im System der

gehen?

entstandenen Texte wurden vielfach auf-

Kleinfamilie zu leben. Das zu verachten,

Warum feiern manche ihre Abschiede und an-

geführt und ausgezeichnet. 2015/16 war

wie meine Figur in dem Text dies tut, ist

dere nicht?

sie im Rahmen von Stück Labor Haus­

einfach. Ich glaube, alle haben die Sehn-

Leben ist die riesige Ansammlung von Abschie-

autorin am Luzerner Theater. Zuletzt er-

sucht nach dem, was sie nicht haben. Wir

den abarbeiten?

schien ihr Debütroman „Die Aufdrängung“,

können uns heute entscheiden, welche Le-

War/ist jede Kindheit traurig?

der mit dem „aspekte“-Literaturpreis 2021

bensmodelle wir wählen. Zumindest bis zu

Ich glaube, ja. Man darf die Traurigkeiten ein-

ausgezeichnet wurde.

einem gewissen Punkt. Denn da kommen

fach nicht vergleichen. Und die traurige Ge-

Gender, Klassismus, Rassismus und andere

stalt der Kindheit verändert sich wahrschein-

mögliche Ausschlusskriterien ins Spiel.

lich auch, umso älter wir werden.

Aber die Verantwortung für unsere Ent-

Ist jedes Kind traurig?

Er ist böse. Warum, weiß ich auch nicht. Wa-

scheidungen tragen wir allein. Wenn ich

Sich mit dem Leben auseinanderzusetzen,

rum magst du ihn nicht?

mich gegen die Kleinfamilie entschließe,

macht traurig.

Wegen klassistischen Vorurteilen, befürchte

dann muss ich das mit mir ausmachen, ge-

Wieso mag ich den Namen Tamara nicht?

ich?

nauso, wie wenn ich mich dafür entscheide.

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stück labor – neue schweizer dramatik

Die Verachtung den jeweils anderen Ent-

/ TdZ Februar 2022 /

sie auf ein Blatt, und am nächsten Morgen

scheidungen gegenüber ist eine Projek­tion

Anne Haug studiert Schauspiel an der Uni-

verstehe ich sie nicht mehr. Ich schreibe auch

der eigenen Sehnsucht.Und ein Produkt der

versität der Künste in Berlin. 2007 und

oft im Kopf, zum Beispiel beim Fahrradfahren,

eigenen Ratlosigkeit?

2008 erhält sie den Studienpreis Schau-

dann bin ich der festen Überzeugung, dass ich

Geständnis oder Lüge?

spiel des Migros-Kulturprozent und der

mich später noch Wort für Wort daran erinnern

Rache oder Lachen?

Ernst-Göhner-Stiftung. Seit 2009 arbeitet

werde können – was noch nie eingetroffen ist.

Nimm es doch mit Humor. Das hat nichts mit

sie als Schauspielerin und Autorin für

Aber mir gefällt der Gedanke, dass irgendwo

dir zu tun. Das ist doch Vergangenheit. Da

Theater und Film im deutschsprachigen

unsere vergessenen, unverstandenen Texte

musst du drüberstehen. Mit diesem Mantra

Raum. Mit ihrem Duo „Projekt Schooriil“

­herumschwirren.

verhindern wir viele Racheakte. Mich interes-

produziert sie die gleichnamige Thea-

Ist Schreiben Verzweiflung?

sieren die Abgründe im Kopf eines jeden

terserie, die 2019 im Rahmen des Thea-

Dass es gar nicht schwer sein muss, ist eine

Menschen. Was wäre, wenn wir unsere Ra-

tertreffens eingeladen wird. Im selben

Erlösung.

chefantasien bis zur letzten Konsequenz aus-

Jahr schreibt sie mit Antú Romero Nunes

Ist Schreiben Macht?

leben würden?

das Stück „Neverland“ für das Thalia

Ich finde schon. Schreiben ist Weltenerfin-

Müssten wir uns nicht an einer ganzen Gesell-

­Theater. Anne Haug ist Ensemblemitglied

den. Und dann kommt der Moment, wo ande-

schaft, am Kapitalismus, am Patriarchat, an Tra-

am Theater Basel. Gemeinsam mit Lucien

re Menschen sich diese Welten in ihre Mün-

ditionen und Konventionen rächen? Aber wie

Haug entstand dort das Stück „Die Mühle

der legen.

kann man sich an diesen Dingen überhaupt rä-

von Saint Pain“, von Antú Romero Nunes

Hat Text Macht?

chen?

im Oktober 2021 uraufgeführt. Im ­Rah­men

Texte – meine und andere beherrschen mich –

Vielleicht ist Schreiben ein guter Anfang.

ihrer Hausautorschaft schrieb sie „Ich bin

aber mensch kann sich auch dagegen aufleh-

Kinderlos oder pausenlos?

gekommen, um zu sagen, dass ich gehe

nen. Wie Texte ihren Weg aus dem Kopf auf

Das Atemlose des Textes ist die Vermeidung

(AT)“, das im Mai 2022 in der Regie von

das Papier herausfinden müssen, kann einen

von Pause. Denn in Pausen wird man traurig.

Sahar Rahimi in Basel Premiere haben

auf jeden Fall auffressen.

In Pausen denkt man nach.

wird.

Ist Text auf dem Papier mächtiger oder wenn

Win for Life oder Lost Forever?

er gesprochen wird?

Ich glaube, es ist der Horror, im Lotto zu

Was ist wichtiger, Worte oder Bilder?

­gewinnen. Ich habe kürzlich einen Pod­cast

Was ist überhaupt der Unterschied zwischen

gehört mit einem Mann, der Lotto­ gewin­

Redest du gern?

Worten und Bildern?

ner:innen berät. Das Wichtigste ist wohl, es

Ich mag es ja, wenn für mich gesprochen wird,

Ich finde es gut, wenn nicht alle Fragen beant-

niemandem zu sagen. Das Gemeine ist,

dass es meine Worte sind, die sich jemand im

wortet werden (wollen). Oder die Antwort wie-

dass das ja gar nicht geht. Wenn man davor

Mund zurechtlegen muss, damit sie auch ein

der eine Frage ist.

arm war, müsste man das Geld für immer

bisschen zu seinen werden. Ich habe selbst nie

Kann mensch beim Schreiben Wünsche erfül-

verstecken.

gerne gesprochen: Vielleicht weil ich aus einer

len?

Grundeinkommen oder self made money?

wortkargen Familie komme – bis auf meine

Ja, das ist ein schöner Gedanke.

Erben oder Spenden?

halbholländische Grossmutter, die hat immer

Sich selber oder anderen?

Wer entscheidet, wo mensch zuhause ist?

geredet, wie ein Wasserfall –, vielleicht weil ich

Soll sich mensch beim Schreiben mehr um

Jede:r selber. Ob man da zuhause ist, wo man

oft einen Satz anfange und mir dann kein pas-

seine:ihre Wünsche oder um die der anderen

herkommt, merkt man erst, wenn man weg-

sendes Ende dazu einfällt und ich also in Satz-

kümmern?

geht. Wie du sagst, wenn wir alle bleiben wür-

mitten herum zu stammeln verdammt bin.

Ich glaube daran, dass ein Text Menschen mit­

den, blieben wir alle gleich.

Wieso weiss mensch meistens, was mensch

einander verbinden, sie miteinander teilen las-

Brauche ich ein Wasserbett?

sagen will?

sen kann.

Ich bin seekrank. Wenn ich an ein Wasser-

Wieso weiss ich es selten?

Was ist überhaupt ein Wunsch?

bett denke, wird mir schlecht. Aber brauche

Wann weiss mensch es nicht?

Wünsche sind irgendwie sanft. Das ist ihr Vor-

ich hin und wieder trotzdem eins, um dazu-

Und wieso schreibt man so, als ob er es wüss-

teil. Sie sind wie einer der großen Pullis.

zugehören? Oder um ein bisschen zu schwan-

te?

Gibt es eigentlich das Radio-Wunschkonzert

ken?

Was ist der richtige Text?

noch?

Wie kann mensch zur Abschaffung des Wasser-

Der richtige Text ist der konventionelle Text und

M. und Z. haben mal auf einer Autofahrt ständig

betts beitragen?

der ist langweilig?

unter meinem Namen beim Radio-Wunschkon-

Gibt es eigentlich auch Sandbetten?

Wann ist Text richtig?

zert angerufen. Ich bin währenddessen mit dem

Wer wollen wir sein?

Kann Text überhaupt richtig sein?

Zug gefahren.

Und wer und was macht uns zu dem, was wir

Oder falsch?

Ich habe das als Kind geliebt. Es ist der ein-

sind?

Wer bestimmt das?

zige Ort, wo Wünsche direkt erfüllt werden.

Wer wollen wir nicht sein?

Wie oft fängst du beim Schreiben wieder von

Wieso hab ich da nie angerufen?

Das, was wir gerade nicht sein können?

vorne an?

Ein Star?

Nie und ständig. Ich schreibe oft nachts im

Whisky oder Negroni?

Kopf. Dann weiss ich die Lösung und kritzel


/ TdZ Februar 2022 /

anne haug_ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)

Anne Haug

Ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT) Die Bushaltestelle ist ein kleines, orangefarbenes Häuschen an der Hauptstrasse, die durch das Kaff führt. Die Autos, die vorbeirasen, sind teuer. Busse fahren nur einmal pro Stunde. Egal in welche Richtung. Der Bus kommt an. SIE steigt aus dem Bus aus. Das Würgen beginnt bei der Bushaltestelle, wenn ich sie sehe, das kleine, orangefarbene Häuschen, dann könnte ich kotzen, den Boden des Busses vollkotzen, so wie ich es mir immer als Jugendliche vorgestellt habe, im Nachtbus zurück ins Kaff, dass einer der Besoffenen den Boden des Busses voll kotzt und uns alle auch, so könnte ich kotzen, aber ich tue es nicht, denn ich sehe dich, Tamara, wie du da sitzt, wie früher sitzt du da, wenn wir, du ganz links und ich ganz rechts, auf der langen Bank der Haltestelle, auf den Bus gewartet haben, der uns in die Schule brachte, du sitzt da wie eine himmlische Erscheinung, den einen begegnet Mutter Gottes und mir begegnest du, Tamara, Alptraum meiner Jugend, du sitzt da, in der Bushaltestelle, mit deinen Kindern, drei Mädchen, die exakt so aussehen wie du und starrst mich an, als wäre ich ein Geist und ich schaue zurück und denke, meine Fresse, bist du alt geworden, Tamara, verdorrt und zugleich bist du schön gebotoxt, das denke ich, vielleicht hab ich es laut gesagt, nein, natürlich nicht, ich schlucke meine Kotze wieder runter und überlege, ob ich mit dir reden soll, wie war dein Leben in den letzten neunzehn Jahren, du würdest lächeln, perfekte Zähne und sagen toll, ganz toll war es, ich bin hier geblieben, in dem Kaff, ich lebe in einem großen Einfamilienhaus, man könnte fast behaupten einer Villa, auf dem Grundstück meiner Eltern, mit meinem geliebten Ehemann, der viel verdient und noch mehr erben wird als ich, studiert hab ich, natürlich Wirtschaft, wie man das so macht bei uns, aber arbeiten war nie mein Ding, ich hab auch damit aufgehört, als ich das erste Kind aus meinem Körper presste, denn Mutter sein, ist alles, was ich will, es macht mich froh und ausgefüllt, würdest du sagen, mit glockenheller Stimme, einer Stimme die nur Frauen haben, durch deren Kehle das helle Licht der Mutterliebe scheint, Jessica, Joleen und Jennifer jetzt setzt euch aufrecht hin, die Beine schön zusammen und hochgereckt das Kinn, denn Eleganz will früh gelernt und stets beachtet sein, meine Stirne spannt, ich hab es übertrieben, das letzte Botoxieren war zu viel, aber es macht mich froh und auch ein bisschen geil, die Spritze, die in meinen Kopf sich rammt, das Surren unter meiner Haut, wenn sich das Gift verbreitet, ich hab mir schon als Kind gewünscht, ich könnte Zaubertränke mischen, Joleen, jetzt halt den Kopf gerade, dein Zopf sieht heute zauberfeinstens aus, hübsch bist du, so hübsch, wie ich es einmal war, ich war Maria in dem Krippenspiel, im Schultheater die Prinzessin, am Abschlussball hab ich Balladen vorgetra-

gen, Mariah Carey hab ich da gesungen, sie war die Göttin dieser Zeit und ich die Göttin meiner Schule, jetzt sprecht doch bitte leiser, Jessica, Joleen und Jennifer, Mädchen schreien nicht so rum, Einhornbabies, Feen, Puppen, daraus besteht mein Leben und genau so wollte ich das, so stell ich mir das Innenleben von deinem hübschen Köpfchen vor, Tamara, und deshalb schluck ich meine Kotze wieder runter und frage nichts, du starrst mich zum Glück nur an und sagst kein Wort, ich weiß nicht, ob du mich erkennst, vielleicht hast du mich auch vergessen, doch dein rehäugiger Blick unter gelifteten Lidern reicht aus, dass ich mir sicher bin, es war Zeit zurückzukommen, ich habe wirklich nicht damit gerechnet, je wieder einen Fuß hierher zu setzen, in das, was ich Zuhause nennen muss, weil davon ausgegangen wird, dass alle etwas haben, das sie Zuhause nennen wollen, aber ich hab den nicht, den Ort, denn das wäre diese Bushaltestelle und die Häuser drumherum, ein sogenanntes Straßenkaff, ein charakterloser Ort, der an einer Straße liegt, in der Nähe einer Stadt, die keine Metropole ist und dafür bin ich mir zu schade, um aus einem Straßenkaff zu kommen, das hab ich schon als Kind gedacht, das kann nicht mein Zuhause sein, ich ging ganz einfach davon aus, diesen Ort nie wieder zu betreten, denn Gründe dafür gibt es wirklich kaum, neunzehn Jahre war ich weg und dachte immer, wenn, dann käme ich in einem Cabrio zurück, mit Sonnenbrille, extrem gutaussehend und mindestens genauso reich wie du, Tamara, reich und schön, wie es sich in diesem Kaff zu sein gehört, so hab ich mir das vorgestellt, ein Feldzug des Triumphs, denn im Gegensatz zu dir und allen anderen, hätte ich mein Geld selbst verdient, mit meinen eigenen Händen, im Gegensatz zu dir, Tamara, denn du schwimmst darin, seit du geboren bist, du bist hineingefallen in ein Wasserbett aus Geld, das du später erben wirst und deshalb bist du leicht wie eine Feder, das warst du immer schon, ein rosa Federchen, das elegant durchs Leben schwebt, ich daneben wie ein Klumpen Scham, der nie was erben wird, außer noch mehr Scham, aber Erben ist auch feige, ich weiß, es schmerzt dich, das zu hören, aber Erben, das ist schlicht und einfach feige, du kannst zwar nichts dafür, aber du hast auch nichts dafür getan, Erben gleich feige, das stünde auf der großen Fahne, die hinten aus meinem Cabrio flatterte, bei meinem Feldzug des Triumphs, wie eines dieser Banner, die in amerikanischen Filmen an Privatjets hängen und just married verkünden oder Whiskywerbung sind, apropos Whisky, ihr habt doch bestimmt so eine Spiegelbar zu Hause, dein Ehemann und du, mit teurem Whisky, von der Haushälterin, die ihr natürlich gut bezahlt und die seit Jahren bei euch ist, von der Haushälterin in Kristallflaschen gefüllt, den teuren Whisky, an der Spiegelbar, wo dein Mann sich abends einen einschenkt, bevor ihr in

eurem neuen highclass Wasserbett noch eines dieser Kinder zeugt, die so aussehen wie du, kleine Kopien deiner selbst, die du geboren, genährt, gekleidet und frisiert hast und die, wie du im Wasserbett gezeugt, ins Wasserbett des Reichtums fallen, wieso fahrt ihr eigentlich im Bus und nicht im SUV, das frag ich mich, damit die Kinder etwas lernen, über die Welt, die es da draussen gibt, Jessica, Joleen und Jennifer, die sind sich das doch nicht gewohnt, dass ihre kleinen Ärsche auf angewärmten Sitzen sitzen müssen, wo davor schon mal einer saß, Jessica, Joleen und Jennifer, die weinen heute Nacht im Bett bestimmt ganz bitterlich, weil sie traumatisiert vom Warten an der Haltestelle sind, doch du tröstest sie, mit deiner Mutterliebe, alles wird gut, euch kann nichts geschehen, wir fahren nie mehr mit dem Bus, wir fahren nur noch SUV und Jessica, Joleen und Jennifer schlafen endlich ein, wie Engel schlafen sie, weißt du, als Kind hab ich mir immer vorgestellt, dass Gebärmütter zusammenhängen, dass man aus dem Himmel durch blutige Gänge rutscht als Embryo und lauter Abzweigungen sieht, mit Familiennamen dran und eine nimmt man dann, eine Abzweigung und rutscht in den Körper seiner Mutter rein, das heißt, man wäre selber schuld, wo man dann gelandet ist, man hätte sich das Nest gewählt, in dem man wächst, genährt, gekleidet und frisiert wird, also heult nicht rum, Tamaras Bälger, ihr seid genau wie ich selbst schuld, das ist man generell, selbst schuld, für den SUV und das Wasserbett, selbst schuld, für die Krankheiten und den Kontostand, selbst schuld, für die Herkunft und die Karriere, wir tun zwar immer so, als wäre da viel Glück dabei, und sowas, was man Schicksal nennt, doch insgeheim wissen wir alle, dass man selbst schuld ist, weil man eben die falsche Abzweigung genommen hat als Embryo und es auch danach nicht richtig hingeschissen hat, das Leben, ich denke das im übrigen auch selbst, dabei hab ich doch nicht schlecht gewählt, im Gegenteil, die tiefe Liebe, die ich stets empfinde, wenn ich an meine Eltern denke, ist doch der Beweis dafür, wie sie an meinem Geburtstagsfest hinter dem Sofa saßen und das beste Puppenspiel der Welt darboten, sowas gab es bei dir nicht, Tamara, Botoxierte, dein eingekaufter Clown war eine Hure, ein Hurenclown für die Bälger derer, die sich Huren leisten konnten, weißt du noch, dein Geburtstagsfest, Tamara, damals, als ich noch an deine Partys eingeladen war, du wurdest sieben oder acht und deine Party fand im Villengarten statt, Girlanden, Ponys und ein Himalaya an Geschenken, kreischende Kinder, die nicht mal wussten, wer Geburtstag hatte, die Mütter hatten sie da hingeschleppt, du hast mich eingeladen, ich erinnere mich genau, mit einer Karte, die gesungen hat, wenn man sie öffnete und im Gegensatz zu allen anderen, wusste ich, wessen Ehrentag es war, ich hatte dir ein Plastikpferdchen mitge-

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stück labor – neue schweizer dramatik

bracht, ein rosa Pferd, weil ich mir dachte, dass dir das gefallen würde, doch du hattest echte Ponys, da hab ich das Plastikpferd in deinem Luxusklo versenkt, als ich zurückkam in den Garten, da stand da eine riesengroße Torte, ganz rosa, voller Sahne, Teig und Buttercreme, plötzlich platzte sie, die Torte, sie platzte wie ein Luftballon und aus ihr raus, da sprang der Hurenclown und hat hurra geschrien, diese Hure, hurra, hoch lebe sie, Tamara, das Geburtstagskind, wir haben dann gesungen, der Clown am allerlautesten, es war ein großes Fest, doch dann hast du ein Glas zerbrochen, kein teures, sondern irgendeins, da hat dich deine Mutter auf dein Zimmer hochgeschickt zur Strafe, die Vorhänge hat sie zu gezerrt und er hat einfach weitergemacht, der Hurenclown, hat Ballontiere gebastelt und ist rumgehüpft, während du da oben aus dem Zimmer rausgeschrien hast, das hab ich nie vergessen, Tamara, mein Geburtstagskind, die Liebe hat gestimmt, in meinem Embryonengang, die Frage ist, was will man mehr und trotzdem steckt ein Klumpen drin in meinem Hals, ein Klumpen Wut, ein gelähmter Klumpen Wut, Wut und Druck und Schuld, ein Schuldklumpen, ein Versagerklumpen, den man nicht einmal an dieser Bushaltestelle einfach so rauskotzen kann, kinderlos und arm mit beinahe vierzig ist wirklich keine beneidenswerte Bilanz für eine Frau, denn so sieht sie aus, Tamara meine Feder, die tragische Realität meiner Wiederkunft, nix Cabrio, nix Taxifahrt, im Bus bin ich gekommen und dabei wollte ich immer sein wie du, du bist damals in der Schule, als wir alle unsere Berufswünsche an die Wandtafel schreiben mussten, mit deinem rosa Kleidchen als Erste aufgestanden und hast Star darauf gekritzelt, das möchte ich werden, hast du gesagt, ein Star, ganz egal als was, aber berühmt, da haben alle applaudiert, ich auch, ich fand dich wundervoll, am lautesten geklatscht hat Dominic, der Klassenhurenclown, der Sportlichste, reich und schön, wie du, du geile Sau, rief er, das wirst du ganz bestimmt, ich wusste damals überhaupt nicht, was ich gerne werden würde, doch Star klang irgendwie ganz gut, man bekommt viel Liebe, dachte ich, als Star, und Liebe ist die Währung, die im Leben zählt, das habe ich gelernt von meinen Eltern, also hab ich das auch aufgeschrieben, Star, dass ich das werden will, an die Tafel und die Kreide hat gequietscht, alle schwiegen erst, doch dann kam ein gluckerndes Geräusch aus deinem Mund, Tamara, du hast gekichert und mit dir die gesamte Klasse und dann die Lehrerin, ein kollektives Kichern, unerträglich, da brüllte Dominic, vergiss das bloß, was glaubst du denn, deine Fresse reicht niemals

zum Star, Dominic war immer schon dein Mann, ihr seid euch jeweils ganz die zweite Hälfte und wenn du heute Abend Jessica, Joleen und Jennifer von der Ballettstunde nach Hause bringst, wenn sich die Villeneinfahrt öffnet, dann steht er da und ist auch heute noch dein Mann, da greifen starke Männerarme nach Jessica, Joleen und Jennifer, sie werden hochgewirbelt und Dominic steht da, deine zweite Hälfte, Jessica, Joleen und Jennifer sind nicht etwa aus dem Himmel, sondern aus seinen, mit Gold gefüllten Eiern durch blutige Gänge in deine Gebärmutter gekrochen und der gelähmte Klumpen Wut aus meinem Hals fällt runter, tief in meinen Körper, in meinen Magen, zurück in meinen Hals und nun kotze ich tatsächlich, ich kotze Blut, ich kotze bis ich nicht mehr kann, eine Bilderbuchfamilie, ich wische über meinen roten Mund, ich bin zurückgekommen, wegen ihm, nicht nur wegen dir, ich bin gekommen wegen ihm, wegen Dominic, was für ein unspektakulärer Name, dafür dass er so viel Bedeutung für mich hat, weißt du, in jedem Menschen ist ein klitzekleiner Kern, sozusagen die Essenz des Einzelnen, das was übrig bleibt, vielleicht die Seele und dieser Kern wird irgendwann gespalten, früher oder später, von jemandem oder etwas, das ist der Moment, wo deine Kindheit endet, das Nest zerbricht und du fällst, tief und hart und du wachst auf und weißt, das ist es jetzt, das ist das echte Leben, neunzehn Jahre ist es her, seit mein Kern gespalten wurde und die Schuld daran, die trag nicht ich, diesmal nicht, sondern ihr, der Dorfball, du und Dominic, neunzehn Jahre ist es her, seit mein Kern von euch gespalten wurde, am Dorfball, dem Höhepunkt des Jahres, dem wichtigsten Ereignis in diesem Straßenkaff, die Jugend wird gefeiert, die Achtzehnjährigen, die sogenannte Mündigkeit, das Ganze findet in der Mehrzweckhalle statt, ähnlich der orangefarbenen Bushaltestelle ist die Mehrzweckhalle ein Ort, der nur in einem solchen Kaff den Status eines Tempels, einer heiligen Stätte geradezu, erreichen kann, Einschulungen, Ausschulungen, Jubiläen jeder Art, Hochzeiten und Beerdigungen, das alles findet in der Mehrzweckhalle statt, doch der Dorfball ist der Höhepunkt des Jahres, ein Schaulaufen der Eitelkeiten, ein Wettbewerb des Kapitals, erst mal müssen Eltern in der Lage sein, für das Geburtstagsfest den Hurenclown zu finanzieren, zwölf Jahre später müssen sie ihrem mittlerweile pubertären Kind mindestens ein schickes Kleid und teure Schuhe kaufen können, damit es seinen ungelenken Körper in die geschmückte Halle schwingen kann und so sammeln sich die Achtzehnjährigen und dann wird

/ TdZ Februar 2022 /

eine Schönheitskönigin gewählt, von den jungen Männern in geheimer Wahl erkoren und die singt dann ein Lied und alle tanzen eng dazu, was erstmal harmlos klingt, entscheidet über Leben, der Dorfball ist eine Guillotine, ein Schafott, das schon manchen Kern gespalten hat, weißt du noch, vor neunzehn Jahren, als wir achtzehn wurden, trug man auf dem Dorfball rückenfreie Kleider, nicht irgendwelche Fetzen, sondern ein ganz bestimmtes rückenfreies Kleid, das die jungfräuliche Schönheit aus dem amerikanischen Kinohit des Jahres kleidete, bevor sie auf ihrer Highschool­ abschlussparty erst geschändet und dann von einem Mann im Clownskostüm mit einer rosa Axt zerstückelt wurde, der schäbige Streifen war in aller Munde, man musste ihn gesehen haben, ich bin auch ins Kino, hab den Horrorfilm geguckt und habe immer nur an deinen Hurenclown gedacht, Tamara, der an der Geburtstagsfeier aus der Torte kam und seitdem träume ich von ihm, von einem dünnen schmalen Weg, auf dem ich gehe, von dem links und rechts nichts ist, mir entgegen kommt dein Hurenclown, der Clown mit roter Nase, grinsendem Gesicht voller Reste von der Geburtstagstorte und in der Hand die rosa Axt, vom bösen Clown des Kinohits, dieser Hurenclown kommt mir entgegen auf dem Weg und ich kann nirgends hin in meinem Traum, trotzdem wollte ich damals natürlich auch ein rückenfreies Kleid und zwar nicht irgendeines, sondern ebendieses Kleid, das Kleid der geschändeten Jungfrau, die vom Clown zerstückelt wurde, ich bin dann in die Stadt gefahren in einen Luxusladen und hab das rückenfreie Kleid gesucht, ich wünschte, dass ich mich damit verwandeln würde, in ein anderes Mädchen, eine Tamara, in dich, leicht und schön, mit rosa Haut und weichen, feinen Haaren, ich hatte Angst, den Luxusladen zu betreten, wo die rückenfreien Kleider hingen, bunt aufgereiht in der Vitrine, wie ein schaler Regenbogen, irgendwann bin ich dann rein, hab den Atem angehalten und das Preisschild umgedreht, daran denke ich bis heut, wenn ich ein Preisschild drehe und habe die Zahl gesehen und hätte weinen können, ich wusste nicht, dass ein einzelnes, trauriges Kleid überhaupt so teuer sein darf, ein Fetzen Stoff mit einem Loch im Rücken, ich bin raus aus dem Geschäft und rein in den Discountklamottenladen, ich hab ein Plastikkleid gekauft und ein Loch hineingeschnitten, eine täuschend echte Fälschung, do it yourself, forever and ever, ich würde gerne sagen, das ist doch ein Talent, dass man sich die teuren Dinge selber basteln kann, aber leider stimmt das nicht, ein Geständnis streifte ich mir

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/ TdZ Februar 2022 /

anne haug_ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)

www.hellerau.org

mit dem selbstgemachten Fetzen über, ich hab mich nicht in dich verwandelt, ich bin ich geblieben, in meinem Plastikkleid, das ein Geständnis ist, betrete ich die Mehrzweckhalle, lauter rückenfreie Kleider, durch den Lockenstab gezogenes Haar, eine Wolke aus verschiedenen Parfümen und irgendwo in einer Ecke die verklemmten, jungen Männer, die schon mal saufen, um den Anblick der freien eingecremten Mädchenrücken mit ihren unerfahrenen Schwänzen irgendwie in ­Harmonie zu bringen, denn es wäre ja fatal beim ersten Engtanz eine der Kaffschönheiten zu bedrängen, es laufen Hits der Nuller Jahre, die Mehrzweckhalle ist geschmückt mit bunten Luftballons, lauter Einsen und Achten, die über unseren Köpfen schweben, man trinkt Bowle, mit großem Löffel in Glitzerbecher abgefüllt, ich trinke auch drei Becher von dem bunten Zeug, es klebt, mir wird ganz warm, fast fühle ich mich glücklich, ich sitze ganz zufrieden in einer ruhigen Ecke, um mich herum die anderen drei, die es noch gibt, die ihre Kleider selbst gebastelt haben, aber ich spreche nicht mit ihnen, denn ich sehe nur dich, Tamara, wie du, einer Göttin gleich, ankommst und durch die Menge schreitest, mit Diamanten bestäubt, die Zukunft vor dir, wie ein Teppich aus goldenem Schaum, das rückenfreie Kleid sieht unglaublich an dir aus, da ist nichts ungelenk, deine Haare fließen den zarten Rücken runter, du bist wunderschön, den ganzen Abend, den klebrigen Bowlebecher fest in meiner Hand ruht mein Blick auf dir und wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich, ich wäre du und so vergehen zähe Stunden, ich tanze ein bisschen, I’m a Survivor, die Bowle hilft und mein Kleid sieht mittlerweile fast so aus wie die der anderen, dann fängt der Engtanz an und du schmiegst dich an Dominic, ihr schwebt durch den Raum, wie Tanzpaare in Filmen, so kommt es mir zumindest vor, nach einem halben Liter Bowle, ich sehe, wie ihr tanzt und eine tiefe Sehnsucht gepaart mit Traurigkeit steigt in mir hoch, ich weine fast, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe, die geschmückte Mehrzweckhalle, die Tanzfläche und darauf dieses Paar, du und dein Mann, das sieht man auf den ersten Blick, dass eine große Liebe euch verbindet, eure Hochzeit wird bestimmt fantastisch, du im weißen Kleid und er im Anzug, irgendwo in einer Villa in Italien, mit Brautjungfern und einer Hochzeitstorte, es läuft ein Hit der Nuller Jahre, ihr küsst euch und man denkt, die Liebe höret nimmer auf, ich trinke einen großen Schluck von meiner Bowle, da wird das Licht gedimmt, die Mehrzweckbühne freigeräumt, jetzt kommt sie endlich, die Ejakulation des

Abends, die Wahl der Schönheitskönigin, in der letzten Woche durften alle Männer der Gemeinde, die in dem Jahr achtzehn wurden, einen Zettel in eine Urne werfen, um unter allen Frauen der ­Gemeinde, die in dem Jahr achtzehn wurden, die Königin zu wählen, die Spannung steigt und ­Dominic springt sportlich auf die Bühne, auserkoren, um die Gewählte nun zu krönen, mit einem Briefumschlag in seiner Hand, in die Menge grinsend, als Stellvertreter aller jungen Männer, reißt er den Umschlag auf, die Menge wartet gierig, die Luft ist zum Zerreißen angespannt, er zieht den Zettel aus dem Umschlag und dann sagt er es, er sagt meinen Namen, meinen Namen, ich verstehe nicht, mein Herz rutscht irgendwo dahin, wo meine Füße in den zu engen Billigschuhen pochen, wortlos ist die Menge, alle Köpfe drehen sich zu mir, sie haben mich gewählt, als Schönheitskönigin, das kann nicht sein, ich könnte kotzen und schlucke meine Kotze runter, doch da sagt er ihn ein zweites Mal, meinen Namen und in die Totenstille frage ich, meine Stimme zittert, ich frage, ich, wirklich ich, da lacht Tamara schallend auf und plötzlich lachen alle, die ganze Mehrzweckhalle lacht und Dominic, der lacht am lautesten, er nimmt das M ­ ikrofon und brüllt hinein, natürlich nicht, du dumme Kuh, Tamara ist die Schönheitskönigin, sie ist der wahre Star, es gibt nur eine, der die Krone hier gebührt und du bist es ganz sicher nicht und du wirst es niemals sein, das schwör ich hier und jetzt, das einzig Geile an dir, das sind deine Titten, die Fresse reicht niemals zum Star, deine Fresse reicht zu nichts, dich wird keiner jemals ficken, dabei täte dir das gut, dich wird keiner jemals ficken, der Satz hallt in das Mikrofon, die Mehrzweckhalle grölt und meine Hand zerquetscht den Becher mit der Bowle, sie tropft auf das selbstgemachte Kleid, ich weiß, ich muss hier sofort weg, ich weiß nicht wie, die Fratzen um mich rum, sind nicht mehr pubertäre, picklige Gesichter, geschminkte Mädchen­ lippen, sie haben sich verwandelt, es sind alles Hurenclowns, die Welt zerfließt in bunte Farben, wie wenn Regen ein Kreidebild zerfließen lässt, ich zerfließe auch, mein Kleid zerfließt, die Mehrzweckhalle, Tamara wird die Krone überreicht, sie singt eine Ballade als einzig wahre Königin, ­Mariah Carey, die Töne fließen und ich fließe davon, vor lauter Scham und Hass, ich finde mich draußen wieder, in der kalten Winternacht, ich renne durch das Kaff, mein Körper zittert, gehört nicht mehr zu mir, heulend sitze ich an der Bushaltestelle, am Rücken ein eiskaltes Loch und bis die Finger ­bluten, kratzen meine Nägel in die Haltestellenbank DICH WIRD KEINER JEMALS FICKEN, zart

streicht meine Hand jetzt über den eingekerbten Satz, der neunzehn Jahre später immer noch da steht, ich wusste damals nicht, wie anstrengend es ist, ein Star zu werden, ich hatte keine Ahnung, doch ich beschloss in jener Nacht, dass ich einer werden muss, denn Stars sind die, die jeder ficken will, ich blicke zu dir rüber, Tamara, zum anderen Ende der Bushaltestelle, wo du sitzt mit deinen Kindern, die genauso aussehen wie du, gut gebo­ toxt bist du und noch immer wunderschön und doch bist du kein Star geworden, hast dafür Jessica, Joleen und Jennifer, drei Engel, die dich mit bedingungsloser Liebe glücklich machen, ich hatte bisher noch kein Geld für Botox oder Kinder, vermutlich hätte ich beides schon gemacht, wenn ich es mir hätte leisten können, ich bin vor neunzehn Jahren aufgestanden von der Haltestellenbank, habe die Straßenseite gewechselt und den Bus in die andere Richtung genommen, raus aus dem Kaff, bin aufgebrochen, in die Metropole, die Arschlochmetropole, um das zu tun, was keiner von mir dachte, ich habe Tag und Nacht dafür geackert, diese ganzen Jahre, glaube mir, Tamara, um allen zu beweisen, allen die an diesem Dorfball waren, dir und natürlich Dominic, dass ich es doch sein kann, ein Star, ganz egal als was, aber berühmt, ich habe vorgetanzt und vorgesungen, lukrativ war nichts davon, ich habe meine Seele verkauft und zurück ersteigert, um sie am nächsten Tag gleich wieder zu verhökern, ich habe jedes Buch über Erfolg gelesen und hatte jeden Nebenjob um den Erfolg zu finanzieren, der Tag hat vierundzwanzig Stunden, wenn das nicht reicht, dann nehme ich die Nacht dazu, irgendwann hatte ich eine kleine harte Stelle an meiner linken Hand, unten auf der Innenseite, wie eine Warze oder ­Tumor, ich bin zu Doktor Kettler, einem Dermatologen mit sehr gutem Ruf, einem Stardermatologen, bei Doktor Kettler hängt ein Foto von Matt Damon an der Wand, thank you Doktor Kettler, steht darauf, ich dachte, das ist vielleicht ein gutes Omen, hallo Doktor Kettler, da stimmt was nicht mit meiner Hand, da hat er es heraus geschnitten, dieses kleine Stückchen Härte und hat das Löchlein zugenäht, weggeschickt hat er das Stückchen ich, in ein Labor und meinte, ich solle wiederkommen in ein paar Tagen, dann hätte er ein Resultat und als ich wieder kam, da sagte er, es wäre nicht schlimm, kein Tumor, nur eine Arbeitsschwiele, ob ich viel mit meinen Händen machen würde, nein, das tue ich nicht, dann sei es wohl der Stress, diagnostizierte Doktor Kettler, und verschrieb mir Lymphdrainagen, die ich mir nicht leisten konnte, thank you Doktor Kettler, hab ich mir gedacht, als ich

10./11.02.2022

18./19.02.2022

Nicoleta Esinencu & HAU – Hebbel am Ufer

She She Pop

Sinfonie des Fortschritts 13.02.2022

Schlachthof 5 nach dem Roman von Kurt Vonnegut Szenisches Konzert

Hexploitation 26./27.02.2022

Ballettabend

Dresden Frankfurt Dance Company

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stück labor – neue schweizer dramatik

wieder auf der Straße stand und verdrückte eine Träne, dass meine Schwiele im Labor gelandet war und dann hab ich weitergemacht, Tamara, auf meinem Weg nach oben, mein Ziel ein Star zu sein tief eingekerbt in meiner Hand, bereit das Leben zu bestehen, die Eltern werden mir nichts vererben, aber sie haben mich gezwungen Hermann Hesse zu lesen, das Leben bestehen, das ist ein Buch von Hermann Hesse, es zeigt auf wie schwer es ist, das Leben zu bestehen, denn um das Leben zu bestehen, muss man darauf vorbereitet sein, es muss einem auch mal jemand erklären, worum es eigentlich geht, denn dass es um Geld geht, hab ich viel zu spät verstanden, jahrzehntelang hab ich gedacht, ich kann nicht umgehen mit dem Geld, es fließt mir aus den Händen, wie flüssig Gold, Gold, Geld, Gier und Geilheit, du machst was falsch, du nutzlose Person, du musst erwachsen werden, du gieriges Stück, du, verhalte dich gefälligst anders, bis ich eines Tages dann begriff, dass es nicht mein Fehler ist, es fließt nicht weg, das Geld, es war schlicht und einfach gar nie da, begriffen habe ich das erst, als ich das Arschloch traf, denn natürlich hatte Dominic nicht recht, es gab dann doch den einen oder anderen in der Arschlochmetropole, der durchaus mit mir schlafen wollte, schon der Versuch ein Star zu werden, zieht Männer an wie Scheisse Fliegen, doch schön war es nie, denn ich dachte dabei immer nur an euch, bei jedem Kuss, bei jedem Fick, zieht sich in meinem Kopf ein Vorhang auf, dahinter eine spiegelglatte Fläche, auf der ihr beide, Tamara, du und Dominic, den Engtanz tanzen, eine Band begleitet euch in meinem Kopf, eine Band aus lauter Hurenclowns, sie spielen Hits der Nuller Jahre und schunkeln hin und her, blutig, lachende Clowns, die mit jedem Stoß, der mich durchdringt, noch lauter werden, bis alles explodiert, dann stehe ich auf vom Bett, betrachte den Mann, der da noch liegt und nichts dafür kann, dass ich jetzt schlechte Laune habe, keiner wird dich jemals ficken, hat Dominic zu mir gesagt, jetzt ficke ich zwar und bin trotzdem nicht frei von euch, doch dann treffe ich das Arschloch, eines von vielen, ein reiches Arschloch, das auch Star sein will, guter Versuch, einen reichen Mann auszuprobieren, ich hatte nur mit armen Männern geschlafen bis zu diesem Tag, vielleicht schafft es das Arschloch das Clownskino in meinem Kopf endlich zu besiegen, das Arschloch ist eines dieser Arschlochkinder, die irgendwann auf der Weltreise nach dem Schulabschluss in Indien oder Südamerika begreifen, dass die Welt auf sie wartet und es ihnen zusteht, nicht weniger als ein Star zu sein, vielleicht färbt ein biss-

chen davon auf mich ab, von der Selbstverständlichkeit, mit der das Arschloch in der teuren Hipsterbar über seine Projekte spricht, während es seinen Drink durch einen biologisch abbaubaren Strohhalm saugt, vielleicht zersprengt der reiche Schwanz des Arschloches die Clownskapelle in meinem Kopf, ich nehme das Arschloch mit nach Hause und schlafe mit ihm, doch es hilft nichts, im Gegenteil, der Vorhang in meinem Kopf öffnet sich, du tanzt mit Dominic und die Kapelle bläst, als gäbe es kein Morgen, danach streicht mir das reiche Arschloch zärtlich über meinen Kopf und erklärt mir, dass ich endlich weniger arbeiten soll, du hast wirklich ein Problem, sagt das Arschloch liebevoll, du bist ein Workaholic, du bist ja gar nicht da, du bist nicht konzentriert, nicht mal, wenn ich mit dir schlafe, jetzt pass doch mal ein bisschen auf dich auf, sonst wirst du irgendwann kinderlos und ganz vertrocknet in irgendeiner Burnoutklinik liegen und weißt du was, ich sag das nur, weil ich mich um dich sorge, ich möchte das Arschloch gerne nehmen und meine Hand in sein Gesicht rein drücken, bis die Augen zwischen meinen Fingern hervorgequollen kommen, gottverdammtes reiches Arschloch, das auch versucht ein Star zu sein, mit ganz eigenwilligen Projekten, aber immer halt nur eins pro Jahr, mehr schafft es nicht, denn es braucht Zeit dafür, die Projekte, die das Arschloch macht, sind hässlich, das Arschloch hat gar kein Talent, dafür hat es einen Anspruch, einen Anspruch darauf, dass die Welt ihm etwas schuldet, dafür kann das Arschloch nichts, das wurde ihm in die Wiege mit hinein gelegt, dass es besonders ist und ganz egal, ob es mit Öl auf Leinwand kritzelt, mit einem Cellobogen fuchtelt oder radikal Performance macht, tiefgründige Text schreibt oder aus einem Batzen Ton was formt, die Welt, die hat vor Ehrfurcht stillzustehen, doch meine Kraft reicht nicht, dem Arschloch ins Gesicht zu fassen, denn sie ist müde, meine Hand, hat gestern bis ganz spät noch Teller rumgetragen im Restaurant, ich blieb also ganz still liegen und warte, bis das Arschloch geht, was ist bloß mein Problem, wieso gönne ich dem Arschloch nicht, dass es so leben kann, wie es halt lebt, ich will, dass es bestraft wird dafür, dass es kein Geld verdienen muss, ich will, dass es in die Hölle kommt, zusammen mit den Eltern, die dem Arschloch monatlich ein stolzes Geld auf das Konto überweisen, mögen sie alle in der Höllenhitze schmoren, wie die Hamburger, die ich mit fünfzehn in einem diffusen Imbissstand, den ganzen Sommer über gebraten habe, mit mir war eine Frau in dieser Küche, die konnte leider gar kein Deutsch und ich sprach ihre Spra-

THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG

ENDE OHNE ANFANG Choreographisches Theater über das Erinnern und Vergessen von Felix Berner | Uraufführung [14 plus] Infos & Karten 0341.486 60 16 www.tdjw.de

/ TdZ Februar 2022 /

che nicht und ein widerlicher Koch, gesoffen hat der, ohne Ende, dann kam er immer nah zu mir und sagte, du siehst ganz genauso aus wie meine tote Frau in jung, ich habe dazu nichts gesagt, ich wusste nicht, was man auf sowas sagen sollte, eines Morgens war er weg, der widerliche Koch, er hatte sich die Nacht davor im Suff die Finger abgeschnitten und ich dachte, danke, vielleicht gibt es einen Gott, ich musste dann den Kühlschrank neu sortieren und fand ganz viel Fleisch darin, das voller Maden war, das war das erste Mal, dass ich so viele Maden sah, eine Schachtel Zigaretten hab ich geklaut an diesem Tag und mein Haar hat nach Bratfett gestunken, Poesie ist doch in jedem Leben drin, mein Leben ist auch schön, ich muss es nur mehr lieben, sowas hast du nie erlebt, Tamara und ich kann nichts dafür, das hab ich in der Arschlochnacht begriffen, es fließt nicht weg, das Geld, es war schlicht und einfach gar nie da und deshalb hängen elegante Kleider bis heute an mir wie ein Sack und tief drin ist die Angst, dass ich die falsche Gabel nehme, um meinen Fisch zu essen, denn mein Kern ist gespalten, vom Hurenclown der nachts in meinen Träumen wandelt, gespalten mit der rosa Axt, die er an eurem Gold zuvor geschliffen hat und ich stehe vor dem Restaurant und weiß schon da, dass was nicht stimmt, Blumen vor dem Eingang und ein schwarzer Teppich, ich hab mich noch gewundert, warum der Teppich schwarz ist und nicht rot und bin dann aber rein in den Hintereingang für die Arbeitskräfte, drin war alles weiß gedeckt, ein Bankett für achtzig Leute, Tischkarten mit goldenen Buchstaben, den ersten Namen lese ich und sehe, ich kenne den, es ist ein Star, aber ein richtiger, Tamara, einer den man wirklich kennt, ich schaue auf die anderen Karten und weiß sofort, ich kenne jeden, ich kenne alle, ich kenne jeden Gast, weil ich mir seit Jahren meinen Arsch aufreiße, in der Arschlochmetropole, um endlich auch ein Star zu werden und deshalb kennen die mich auch, schon kommen sie, sie trudeln ein, die Stars, zu dem Bankett und ich stehe da mit meiner Magnumflasche und Schweiß tropft zwischen meinen Brüsten, du auch hier, gut siehst du aus, das freut mich sehr, dich wieder mal zu sehn, ich bin nicht hier, also schon, aber nicht so, darf ich dir einen Schluck Champagner in dein Kristallglas kippen, wie du bist eine Kellnerin, genau, jetzt, heute schon, ich schwitze nie, doch plötzlich denke ich, ich hätte Fieber, ich zerfließe, die Bluse knittert, ich zittere und gieße nach, wie eine Irre, lächelnd, bediene ich die Stars, die ich zwar kenne, die aber keine Freunde sind, sondern Fratzen überall und schon schütte ich Champagner


/ TdZ Februar 2022 /

anne haug_ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)

übers Glas hinaus, pass doch auf, Entschuldigung, warte mal, kenne ich dich nicht, ich glaube nicht, wir haben uns doch damals an diesem Empfang in dieser krassen Galerie getroffen, wo alles aussah wie in einem Flugzeug und die Kellnerinnen angezogen waren wie Stewardessen, nein, da war ich nie, doch da bin ich mir ganz sicher, wir haben uns dort lange unterhalten, was machst du hier, nach was sieht es denn aus, fünf der acht Gänge später, es dauert alles endlos lang, kann ich meinen Hauptgang haben, siehst du nicht, wie hungrig ich schon bin, ich esse keine Muscheln, hab ich doch gesagt, ist da noch Wein, nein, bitte ohne Nüsse, ich bin allergisch gegen Gurken, wo ist das Salz, ich hätte gern noch mehr Champagner, ich renne hin und her, zwischen der Küche und den Stars, lauter Arschlochkinder, denke ich, ich möchte euch bestrafen, dafür, dass ihr kein Geld verdienen müsst und euch bedienen lasst und plötzlich seh ich, alle tragen rückenfreie Kleider, ein hoher Ton in meinem Ohr, Mariah Carey singt, ich dreh mich um und sehe eine rosa Torte, ich stolpere, die Teller fallen mir vom Arm, es stürzen Wachteleier ab, Trüffelravioli fallen, durch den Saal fliegt Rinds­ tatar, ich fliege auch und rutsche auf dem glatten Boden aus, unter den Tisch, den Arschlochstars zu Füssen, erst wird es totenstill im Restaurant und dann kommt das Gelächter, der erste Star beginnt, der zweite folgt, der ganze Saal bricht in Gegröle aus und einer brüllt, du bist ja keine Kellnerin, du bist ein regelrechter Clown, ich erstarre, die Welt zerfließt zum zweiten Mal in bunte Farben, er hat recht, ich bin selbst ein Hurenclown geworden, ich hüpfe hilflos weiter, obwohl die Party längst zu Ende ist, von Kopf bis Fuß in Rindstartar gekleidet, stehe ich auf und gehe raus, das Restaurant im ­Rücken tanze ich alleine auf der nassen Straße einen Engtanz, die Hurenclownskappelle spielt dazu, mir ist nun alles klar, ich zünd es einfach an, ich fackele es ab, rise like a phoenix, rauch ich eine Zigarette, im Haar ein Trüffelravioli, dann zünde ich mit meiner Zigarette die Blumen an, die vor dem Eingang stehen, warte, bis das Feuer lodert und dreh mich um, hinter mir das Feuer und die Arschlochstars, die brennen und vor mir der Rest meines Lebens, fickt euch, fickt euch alle, nicht ihr fickt mich, sondern ich, ich ficke euch und deshalb fahre ich jetzt zurück, Tamara, ich stehe vor eurer Villa und schaue durch das riesige Fenster, eine Fensterfläche, geradezu ein Bildschirm, wie in diesen amerikanischen Filmen, die Bösen sitzen in einem Gebüsch und beobachten die Guten durchs Fenster, Jessica, Joleen und Jennifer sitzen mit ­ihrem Rüschenkleidchen an dem Tisch, die Beine schön zusammen und hochgereckt das Kinn, ­Dominic, schenkt sich einen Whisky ein, an der Spiegelbar, bestimmt ein teurer, mitgebracht von der letzten Geschäftsreise nach Japan, er hat auch Wirtschaft studiert, genau wie du, du hast aufgehört damit, als Jessica geboren wurde, heb dein Glas und trink auf dich, Dominic, du hast ein Haus und Frau und Kinder und wie auf Stichwort, kommst du herein, Tamara, mit einer Schürze, ich fass es nicht, wer trägt denn heut noch eine Schürze, einen Auflauf in der Hand, Nudelauflauf mit Schinkenstückchen drin, du tust auf, dann wird gegessen, schmeckt es dir, fragst du deinen Ehemann, nein, es ist widerlich, sagt er, denn warum sollte er heute anders konversieren als vor neunzehn Jahren, keiner wird dich jemals ficken, hat Dominic zu mir gesagt und wenn, dann müsste er

blind sein, bei deiner hässlichen Fresse, deine Titten sind das geilste an dir, beim ganzen Rest da muss ich kotzen, das hat er zu mir gesagt und ­warum sollte er mit dir anders sprechen, seine Lieblingswörter sind mit Sicherheit die gleichen, nein, sagst du, im Gegenteil, er ist ein liebevoller Mann und Vater, er trägt auf Händen uns und bringt das Geld nach Hause, auch wenn wir gar keins brauchen, weil wir immer welches hatten, er ist für uns da, für mich und Jessica, Joleen und ­Jennifer, die Mädchen lieben ihn und ich ihn auch, wie am ersten Tag, die Liebe höret nimmer auf, was wäre bloß aus mir geworden, wenn Dominic mein Mann geworden wäre, wenn der Engtanz am Dorfball mir gehört hätte, wenn ich ihn, anstatt zu hassen, geküsst hätte, was wäre bloß aus mir geworden, wenn ich nie hier weggegangen wäre, wenn er mich geschwängert hätte, nach dem Studium, das mich sowieso nie interessierte, was wäre aus mir geworden, wenn ich ihn dann geheiratet hätte, mit kugelrundem Bauch, ich in Weiß und er im Anzug, der schönste Tag meines gesamten ­Lebens, was wär aus mir geworden, wenn seine Eltern uns ein Haus gebaut hätten, auf dem Hügel, in der Straße, wo die Reichen wohnen, wo wir ­gelebt hätten mit unseren perfekten Kindern, er auf Arbeit, ich daheim, was wär bloß aus mir ­geworden, wenn mich das erfüllt hätte, wenn er mich erfüllt hätte, sag es mir, Tamara, meine rosa Federfrau, weißt du, ich habe lang darüber nach­ gedacht, wie ich es mache, am Ende warte ich einfach in der teuren Bar auf ihn, der Luxusbar, wo er nach Feierabend sitzt, sein Beruf ist einer der Berufe, die lange Namen haben, aber niemand ­ weiß wieso, Consulting In Between Management Medium A ­ dvisor, sowas in der Art, ich sehe sehr gut aus mit meinem schwarzen Kleid in dieser Bar, er erkennt mich nicht, ich proste ihm zu, quer durch die Bar, wie in einem dieser amerikanischen Filme, dann spendiere ich ihm den Drink, den er immer trinkt, Whisky auf Eis, wie in einem dieser amerikanischen Filme, ich schleiche mich zu ihm, lege die Hand auf seinen Oberschenkel, über seinen Drink gelehnt, werfe ich das Betäubungsmittel rein, ein Zaubertrank, wie gut, dass Dominic sich nicht erinnert, dass er mich vergessen hat, ich lächle und verstehe ihn, schwierig ist es mit dem Job, das viele Reisen, schwierig manchmal mit der Frau, die kleinen Kinder, schwierig, alles kompliziert, das übliche Gelaber von einem mittelalten Mann, dann lad ich ihn zu mir nach Hause ein und wer hätte das gedacht, er kommt ganz einfach mit, auf dem Weg knickt er dann immer wieder ein, ich hab so schwere Beine, sagte er, komisch, das kenne ich gar nicht von mir, das ist mit Sicherheit die Last des Lebens, flüstere ich in sein Ohr, du Ärmster, komm, komm mit mir mit, ich habe ein Hotel gebucht, zum Glück mit Aufzug, sonst wäre es doch noch schwer geworden, sein Sackgesicht entgleist ihm, der Rest des Körpers auch, beinahe unschuldig sieht er aus, wie er da liegt, mit seinem mittlerweile dicken Bauch, ein trauriges Kleinkind, ein Riesenbaby, ein ungeformter Klumpen Teig, ich reibe ihm die Potenztabletten in den Mund hinein und dann warte ich, bis er wächst, sein kleiner Schwanz, irgendwann wird er dann steif, er aber schläft und träumt, bestimmt von einem Hurenclown, ich schiebe mein schwarzes Kleid ein bisschen weg und ficke ihn, ich reite auf ihm, wie auf einem dieser Plastikpferdchen, die in Supermärkten stehen, wo man Geld einwirft und sie dann

reitet, genauso leidenschaftslos, unrhythmisch reite ich ihn und freue mich dabei, nicht, weil es mir gefällt, im Gegenteil, ich freue mich, weil endlich dieser Kreis sich schließt, keiner wird dich jemals ficken, hat er vor neunzehn Jahren in mein Gesicht gesagt und jetzt, jetzt fick ich ihn, jahrzehntelang hab ich gedacht, ich wär nicht schön genug, jahrzehntelang hab ich gedacht, ich kann nicht umgehen mit dem Geld, du machst was falsch, du nutzlose Person, doch jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt, ich sah immer schon gut aus und das Geld war schlicht und einfach gar nie da, denn jetzt reite ich auf ihm und bin dabei mir seinen Reichtum in meinen Leib zu stoßen, einzuverleiben, er merkt es nicht, ich nehme seinen Reichtum in mir auf und deinen auch, Tamara, so ist der Fluch gelöst, denn jetzt bin ich der Hurenclown, der nachts in eure Träume kommt, es tut mir leid, Tamara, ich hebe meinen Blick, doch Tamara ist verschwunden, auch Jessica, Joleen und Jennifer sind nicht mehr da, da bin nur ich, alleine in der Bushaltestelle, wie damals in der einen Nacht, vor neunzehn Jahren, als ich aufgestanden bin und den Bus in die andere Richtung genommen habe, raus aus dem Kaff, zart streicht meine Hand über den eingekerbten Satz, der immer noch da steht, dass ich gehe, das hab ich schon als Kind gewusst, das kann nicht mein Zuhause sein, meine allererste Flucht verlief sich in einem Windeleimer, in den ich kopfüber hinein gefallen bin, da wollte ich das erste Mal das Kaff verlassen, nur leider hatte ich vergessen, dass ich noch gar nicht laufen kann, die Eltern schickten mich als Kind zu einem Arzt, der sollte Atmen mit mir üben, damit ich besser schlafen kann, denn die Ruhelosigkeit überkam mich vor allem in der Nacht, wenn es dunkel wurde und die Welt einem, schlaf jetzt, entgegen brüllte, schlaf jetzt, man erholt sich auch, wenn man nur da liegt, die Augen offen und an die Decke starrt, nächtelang lag ich so da, wenn ich das Kribbeln in meinem Körper habe, nehme ich einen Bleistift und ramm in mir ins Bein, bis das Blut austritt und stell mir dabei vor, dass ich eine Menschenluftmatratze wäre, eine Gummihülle, in die man stechen kann, damit die Luft rausgeht, die Luft in mir, die angefüllt mit Wut, aus mir strömen würde und ich wäre dann ganz leer und rein, geradeaus gehen möchte ich, geradeaus für immer, einfach laufen, bis der Körper müde wird und man sich hinlegt und dann endlich schläft, ich reibe über die eingekerbte Schrift, den Satz, den Dominic in meinen Kern und ich in diese Bank gravierte, dann streich ich über meinen Bauch, ich reibe meinen Bauch, in dem ein Erbe wächst, ich hab den Reichtum einverleibt, der bahnt sich jetzt seinen Weg durch blutige Embryonengänge und sucht mich als seine Abzweigung aus, plötzlich spür ich, wie es pocht in mir, ganz leicht, wie ein sehr kleines Herz, das ist mein Kern, ich stehe auf und überquere sie, die Straße, auf die andere Seite, den Hurenclown, den lass ich stehen. SIE überquert die Straße. Der Bus in die andere ­ ichtung, raus aus dem Kaff, kommt. SIE steigt ein. R Der Bus fährt los. Der Text entstand 2020/21 im Auftrag des Theater Basel im Rahmen von Stück Labor. Er ist ­Arbeitsstand und die Grundlage, aufgrund derer Anne Haug den Probenprozess in der Regie von Sahar Rahimi als Autorin begleiten wird. © S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main.

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stück labor – neue schweizer dramatik

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Dialoge zwischen Wolke und Tropfen – Poesie und politische Kunst Die Autor:innen Maria Ursprung und Anna Papst sprechen über „Die nicht geregnet werden“ von Maria Ursprung Anna Papst: Ich lese dein Stück so, dass es von

Später habe ich das Gefäß der Wolke, die sich

der Klimaerwärmung, konzentriert auf das

Maria Ursprung und Anna Papst werden oft

entscheidet, den Kreislauf auszuhebeln und

­Thema der Wasserknappheit, handelt. Die Klima­

gefragt, ob sie einen Künstlernamen ­haben

nicht mehr zu regnen, und den einzelnen

krise ist in aller Munde, trotzdem würde es mich

und, da sich ihre Arbeitsbiografien und

Tropfen gefunden, die eine gemeinsame

interessieren, warum du gerade jetzt darüber

Tätigkeitsfelder inhaltlich und regional

Sprache haben und die ganze Geschichte er-

schreiben wolltest. Warum beschäftigt dich

gleichen, ob sie sich kennen würden. Um

zählen. Der Rahmen der Handlung entstand

­dieses Thema?

sen, dies nicht länger verneinen zu m ­ üs­

erst nach der Recherche und nach der Ent-

Maria Ursprung: Es ist zwar ein mediales The-

sind sie sich in diesem Gespräch begegnet.

scheidung, welche Ebenen ich erzählen

ma, boshaft nennen es manche einen Trend,

möchte.

aber es ist primär dringlich und aktuell: Im Sommer ereilte uns Starkregen und unglaub-

War es dir wichtig, beim Zusammenspiel der

liche Hitze. Wir erleben immer deutlicher, wie

Mechanismen, die da aufgezeigt werden, nah an

sich Kreisläufe verändern, bedrohlich werden.

Realität oder auch an einem aktuellen wissenschaftlichen Stand dranzubleiben?

Ich wollte vor allem ein Stück darüber schreiben, wie leicht es uns als Gesellschaft

Es ist eine Mischung. Ich erzähle anhand von

gelingt, offensichtliche Probleme nicht zu be-

möglichen Phänomenen und Tatsachen, um

handeln, sie zu ignorieren. Ich finde daher

das Erzählte nah an uns heranzuholen. Aller-

nicht, dass ich ein Stück zum Klimawandel

dings behaupte ich eine zukünftige Welt, in

geschrieben habe, sondern dass ich eigent-

der die Gletscher geschmolzen und die Seen

lich das Thema des Wassermangels als Gefäß

ausgetrocknet sind – ich heble das natürliche

nutze, um mich mit dem Thema der kollek­

Vorhandensein von Wasser aus. Sonst könnte

tiven Verdrängung zu beschäftigen.

man in diesem Stück ständig fragen, was ist denn deren Problem? Die könnten einfach

Beim Lesen ging es mir so, dass ich den Ein-

Anna Papst ist Regisseurin und Autorin

beim nächsten Bach Wasser holen und ab­

druck hatte, dass da eine ausgiebige Recherche

und war 2017/18 Hausautorin am Kon-

kochen.

hinter diesem Stück stand. Wie war das? Hast

zert Theater Bern, wo ihre dokumentari-

du entschieden, das Stück zu schreiben und

schen Stücke „Freigänger“ (2019) und

hast du dann angefangen zu recherchieren, quasi

„Da Da Da“ (2021) in ihrer Regie uraufge-

um es zu unterfüttern, oder war es andersrum?

führt wurden. Zur Zeit arbeitet sie gemein-

Du hast vorher von der Journalistin und dem Ka-

Meine Recherche war recht breit und ging ei-

sam mit dem Künstler Mats Staub an einem

meramann gesprochen. Die werden im Stück als

nen verwinkelten Weg. Da war also das Thema

Projekt über Sex und Sprache.

Mikrofon und Kamera bezeichnet. Es gibt auch

Deswegen wollte ich das nicht zu realistisch denken.

Verdrängung, wobei das der falsche Begriff

weitere Rollen, die eigentlich nach Objekten be-

ist. Es geht mehr darum, dass offensichtliche

nannt sind. Das finde ich einen recht interessanten Kunstgriff. Wie bist du darauf gekommen?

Probleme kollektiv nicht angegangen werden. Im Stück erscheint es als Motiv des Nicht-

Freibadbesitzerin, die kein Wasser mehr

Ich versuche, damit den Figuren weniger pri-

Hinsehens.

kriegt, und die Figur, die ihre Lebensent-

vate Persönlichkeit zu geben. Teilweise haben

scheidungen so trifft, dass sie anderen helfen

sie Namen im Stück, wenn sie sich anreden.

Also eigentlich die Leistung der Ignoranz?

oder optimiert Geld spenden kann. Außerdem

Aber in der Form, in der es notiert ist, haben

Genau! Ich habe mich stark mit den Themen

entstand die Ebene der medialen Erzählung

diese Figuren eher Funktionen. Das hilft mir

Wassermangel, Wasser als endliches Gut,

einer Katastrophe. Eine Journalistin und ein

beim Schreiben, um nicht aus den Augen zu

Globalisierung im Wasserhandel auseinander-

Kameramann beschäftigen sich mit der Fra-

verlieren, wofür sie stehen.

gesetzt. Dann habe ich mich dafür entschie-

ge: Wie erzählt man Katastrophen oder was

Es ist außerdem ein Weg, die Fantasie für

den, dass ich mittels Figuren erzählen will.

erzählt sich besser, die Katastrophe oder die

die Umsetzung anzuregen. Was könnten sie

Zwei Figuren waren für mich schnell klar: Die

Solidarität, die darin entsteht?

nebst der figürlichen Funktion noch sein?


maria ursprung_die nicht geregnet werden

/ TdZ Februar 2022 /

von Ist-Zuständen, wird dich das länger begleiten

Auch für eine Schauspieler:in entsteht hier vielleicht mehr als nur eine Figur. Und somit

Maria Ursprung, geboren in Solothurn, stu-

oder kommt nun etwas ganz anderes?

hoffentlich auch für die Zuschauer:innen.

dierte Theaterwissenschaft und Germanis-

Es gibt etwas, was daran anknüpft, mit dem

tik an der Universität Bern und der FU Ber-

ich aber in einen anderen Themenbereich

Eine Frage, die mich selbst bei meinen Texten

lin, später Literarisches Schreiben am

reingehe. Das Stück wird eine Recherche sein

immer wieder beschäftigt: In welcher Rolle siehst

Schweizerischen Literaturinstitut. 2008/09

mit dem Titel „In dubio“. Es geht um das Ent-

du die Zuschauer:innen oder anders gefragt, wo-

war sie Gastdramaturgin am Theater Basel,

scheiden im Zweifel. Wir erleben aufgrund

rüber sollen sie sprechen, wenn sie rausgehen?

später Regieassistentin am Thalia Theater

der Pandemie gerade oft die Situation, dass

Wassermangel ist zum Beispiel ein Thema, das

Hamburg, wo erste eigene Regiearbeiten

wir Entscheidungen treffen müssen, obwohl

Schweizer:innen total egal ist – es interessiert

entstanden. Neben Schauspiel inszeniert

uns nicht alle Fakten bekannt sind. Diese

niemanden. Auch nicht, dass Schweizer Kon-

sie seit 2015 szenische Konzerte und Oper

Thematik ist aber in Gerichtsfällen viel präg-

zerne andernorts weltweit knappes Wasser ab-

und schreibt Hörspiele für das Schweizer

nanter. Ich werde Gerichtsverhandlungen auf-

zapfen und teuer verkaufen. Ich fände es groß-

Radio SRF.

suchen, beobachten, und aus dem, was ich

artig, wenn nach der Vorstellung Gespräche

Ursprungs Stück „Schleifpunkt", ent-

entstehen, in denen sich Menschen den The-

standen 2019 in der Werkstatt für Szeni-

men stellen, denen sie sich sonst nicht stellen

sches Schreiben DRAMENPROZESSOR,

Das finde ich hochspannend. Geht es um die Fra-

müssen. Ich habe dieses Stück auch deshalb

wurde zu den Autorentheatertagen 2020

ge, wie wir entscheiden, wenn keine absolute

in diese Welt des Wassers reingeschrieben,

ans DT nach Berlin eingeladen und am

Klarheit besteht? Entscheidungen treffen, ob-

weil wir so unglaublich abhängig sind von die-

Schauspielhaus Graz uraufgeführt. Im

wohl wir selbst Zweifel haben?

ser Ressource und ich die Geschwindigkeit der

Herbst 2021 war sie zudem Hausautorin

Und was das für Konsequenzen hat. Es heißt

Eskalation spannend finde: In drei Tagen sind

am Deutschen Theater Berlin im Rahmen

ja, im Zweifel für die Angeklagte oder den An-

wir am Verdursten und nach vier Tagen sind wir

des Autor:innenateliers 2021.

geklagten. Vor Gericht sollten Entscheide so

da höre und erlebe, weiterschreiben.

tot. Erzählerisch ist das fantastisch, es erhöht

„Die nicht geregnet werden" verfasste

gefällt werden, dass beschuldigte Personen

den Druck extrem. Ich mache Kunst, die ich

sie im Rahmen ihrer Hausautorschaft am

nicht unnötig unter Konsequenzen leiden

interessant finde, sie soll anregen, und ich fin-

Theater St. Gallen. Uraufgeführt wird es im

müssen, solange ihre Schuld nicht nachge-

de es natürlich toll, wenn sie was bewegt. Die

Mai 2022 in der Regie von Marie Bues und

wiesen werden kann. Mein Vorhaben ist, dass

Welt werde ich mit diesem Stück nicht retten,

Jonas Knecht.

ich in diesen Zweifel reingehe, Entschei-

das weiß ich, das bilde ich mir nicht ein. Wie geht es denn dir damit? Du machst ja

Ursprung ist designierte Co-Leiterin des Theater Marie ab der Spielzeit 22/23.

dungsstrategien befrage, aber da bin ich noch nicht weit genug in der Entwicklung.

auch politische Kunst. Hast du einen Lieblingssatz im Stück? Ich sehe die Zuschauer:innen oft als Mitwirken-

Ich habe einen Lieblingsteil im Stück, es ist

de oder sogar Verursacher:innen einer Situati-

die Gesetze einer Demokratie abstimmen.

Teil 2. Das ist der sehr viel kürzere Teil, das

on, die in meinen Stücken verhandelt wird. Mir

Ich will nicht erziehen. Ich will über etwas

Ende. Es wird parabelhafter und nimmt eine

geht es nicht darum, dass nach dem Theater-

erzählen, was Relevanz hat. Theater erreicht

andere, befreitere Erzähldynamik an. Und ich

abend die Leute ihr Stimmkreuzchen alle an der

als Medium zu wenig Menschen. Teilweise

bin sehr neugierig darauf, wie es auf der Büh-

gleichen Stelle machen. Aber jedem:r im Publi-

erreicht es aber politische Akteur:innen oder

ne umgesetzt wird.

kum sollte bewusst werden, welche politische

einfach Menschen, die wiederum weitere

Macht er:sie hat, zu bewirken, dass eine Situa-

Menschen erreichen.

tion sich ändert oder so bleibt wie sie ist oder noch schlimmer wird. Diese Macht haben wir

Das Stück stellt einen Ist-Zustand dar und stellt die

unter anderem als Stimmbürger:innen, die über

Frage, ob das so bleiben muss. Diese B ­ eleuchtung

CLAUDIA BOSSE MIT KOMPLIZ*INNEN

COMMUNE 1-73 11. – 13.2.

im Rahmen von PLACE INTERNATIONALE fft-duesseldorf.de

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stück

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Maria Ursprung

Die nicht geregnet werden Dann zeigt sie dem Kind einen Wunschbrunnen: Hier würden die Leute Geld hineinwerfen, weil sie davon zu viel hätten, und dann würden sie sich etwas wünschen. And you know what they don’t wish for? …No. Water! Aus: 1000 serpentinen angst Olivia Wenzel

Selbst den Sesshaften wie den Ameisenvögeln, die sich im Unterholz verstecken, bleibt dann nichts anderes übrig, als ihrer Beute hinterherzuwandern. e

Aus: Perus Vögel verstummen Reportage von Benjamin von Brackel

e e e

Besetzung nach Belieben für: TROPFEN (darin diverse Figuren wie GARTENZAUN, MOTORRAD, BRÜCKENWAGEN) e

KAMERA MIKROFON

e

VERWALTUNG, politischer Berater

e e

FREIBAD, Berit, Betreiberin einer Schwimmanlage e

Verfällt in eine stille Starre Giesst einfach weiter ein Giesst das Wasser auf den Tisch In meiner Erinnerung steht er da Wie Berg und Wasserfall Als wäre der Krug ohne Boden Als würde für immer und ewig Wasser aus dem Krug fliessen Wenn er nur so stehen bliebe Als müsste der Krug nie gefüllt werden In meiner Erinnerung höre ich Das Wasser rauschen Und alles versickert sofort In der weichen Stofftischdecke Und dann (KIEBITZ) Gab’s eine Ohrfeige Das scheint mir übertrieben (KIEBITZ) Es war das einzige Mal, dass meinem Vater die Hand ausgerutscht ist Ich weiss nicht mehr, was der Ohrfeige vorausgegangen war – Hatten sich meine Eltern gestritten Ist meine Schwester unverschämt gewesen oder Habe ich den ganzen Morgen geheult Irgendwas war Und das hat das Fass zum Überlaufen gebracht (KIEBITZ) Mein Vater erinnert sich nicht an die Ohrfeige Das kann nicht sein (KIEBITZ) Wir vergessen vieles Wir erinnern kaum etwas richtig Und die grössten Probleme blenden wir aus

GOLDREGENPFEIFER, Era, Halbschwester KIEBITZ, Ines, Halbschwester NICHT GEREGNET

WOLKE e

Geschlechterrollen sind im vorliegenden Text zweitrangig und können anders besetzt werden. Die im Text entsprechenden Geschlechterbezeichnungen können binär angepasst werden (Schwester–Bruder, sie–er, etc.) oder sie werden belassen und Spielende verkörpern losgelöst vom eigenen Geschlecht. (/) Ein Schrägstrich im Text bedeutet eine Überschneidung mit der nächsten Replik.

e e e

e

e e

e

PROLOG

e e

e

(KIEBITZ) Wir sind zu Gast Bei Freunden meiner Eltern Und mein Vater schenkt meiner Schwester zu trinken ein Anstatt zu sagen, dass es genug ist, zieht sie das Glas weg Und er, er sieht zwar hin, sieht, dass da kein Glas mehr ist Dass er aufhören müsste Aber ignoriert es

e

e

e e e

e

Wie fängt es an Mit einem Tropfen Mit uns, die wir diese Geschichte erzählen Sie zusammenfügen, sichtbar machen, spürbar, wie Regen, Nebel, Dunst Denn wir sind die Tropfen, uns hört man dort, wo wir uns sammeln Zwischen Erde und All Und wie alles, fängt auch diese Geschichte mit einem Tropfen an Beim Fluss des Duschstrahls Über den Kopf, Nase, Schulter, Hüfte, Knie, Ferse Läuft Denkt Ines und trocknet sich ab mit dem Handtuch Tritt aus der Dusche, rubbelt das Haar, macht sich frisch Wie das Vogelgezwitscher in der Früh Ist schon seit einigen Tagen verstummt Merkt kaum jemand, dass die Vögel weiter­ gezogen, nach oben geflogen Frisch für die Arbeit, den Morgen, den Alltag da draussen

e e

e

e e e e e e e e e e e e e e

Um nach nichts zu riechen, nicht nach sich selbst Und Ines, in ein Handtuch gewickelt, dreht den Hahn auf Hält ein Glas darunter, schreibt nebenbei eine Nachricht an Ihre Schwester Schreibt: treffen demnächst auf ein Getränk? Und das Wasser Läuft In das Glas Schiebt sich nach oben bis an den Rand Ein Hoch auf die Oberflächenspannung Sie hat schon so manchen Tropfen gerettet Und ganz sorgfältig Führt sie das Glas zum Nein, eher den Mund zum Glas, und Ahhhhhh Das tut gut In großen Schlucken heruntergestürzt

Und in der gleichen Stadt steht Berit am Beckenrand, sieht sich um, und freut sich: Bald wird das Becken gefüllt werden e Randvoll e Ahhhhhh e Menschen werden eintreffen in Strömen e Denn der Schweiss KAMERA Läuft. MIKROFON Eine so frühe, intensive Hitzewelle gab es noch nie: Temperaturen von zehn bis dreizehn Grad über den Normalwerten; in der Hauptstadt wurden heute 43,5 Grad gemessen, die höchste je gemessene Temperatur im Juni. Und weiterhin bleibt es sehr, sehr e Heiss ist es e Und Ines ist noch immer durstig e Hält das Glas erneut unter den Hahn e Füllt das Glas e Es füllt sich langsam – der Strahl wird schwächer, er wird dünner e Und als das Glas voll ist e Nicht ganz bis zum Rand und doch mehr als halb e Fallen nur noch einzelne Tropfen e Tro-pfen e Nacheinander, immer langsamer, immer lauter e Hörbar tropfen sie dahin e Sie spürt den Durst in der Kehle, betrachtet das Glas e Als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben Wasser betrachten e Und stellt es auf den Tisch, wo das Handy schon liegt – die Schwester antwortet nicht e

FREIBAD Wie finden Sie die? (FREIBAD hält eine Bikini-/Badehose in der Hand.) GOLDREGENPFEIFER Etwas zu bunt? FREIBAD Trägt man das nicht so? GOLDREGENPFEIFER Kann schon sein, nur Sie eher nicht. FREIBAD Sie sind ehrlich. GOLDREGENPFEIFER Wenn Sie fragen. FREIBAD Dann geb ich Ihnen die zurück.


maria ursprung_die nicht geregnet werden

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GOLDREGENPFEIFER (etwas verwirrt) Klar. FREIBAD Wie ist die? GOLDREGENPFEIFER Besser. FREIBAD Würden Sie sie tragen? GOLDREGENPFEIFER Vermutlich nicht. FREIBAD Sie würde Ihnen gut stehen. GOLDREGENPFEIFER Ich brauche keine. FREIBAD Aber es ist Sommer. GOLDREGENPFEIFER Ich schwimme nicht. FREIBAD Warum nicht? GOLDREGENPFEIFER Ich kann nicht schwimmen. FREIBAD Was? GOLDREGENPFEIFER Nie gelernt. (Kurze Pause) FREIBAD Ich könnte es Ihnen beibringen. GOLDREGENPFEIFER Sie? FREIBAD Im Freibad, das kennen Sie wohl. Ich leite es, sozusagen. Also bin ich oft da. GOLDREGENPFEIFER Jetzt verstehe ich. FREIBAD Was verstehen Sie? GOLDREGENPFEIFER Dass Sie Zeit haben für privaten Schwimmunterricht. FREIBAD Wie meinen Sie das? GOLDREGENPFEIFER Es ist nicht in Betrieb, das Freibad. Kein Wasser drin, dachte ich – das Becken leckt, dachte ich? FREIBAD Nicht mehr. GOLDREGENPFEIFER Es ist Wasser da? FREIBAD Noch nicht. GOLDREGENPFEIFER Dann läuft das Wasser derzeit ein? FREIBAD Bald. GOLDREGENPFEIFER Also trocken schwimmen lernen? FREIBAD Ich bin zuversichtlich. Das Wasser wird kommen. Es muss doch Wasser im Becken sein. Es ist doch Sommer. GOLDREGENPFEIFER Ja. FREIBAD Alle sollten schwimmen können, denke ich. (Kurze Pause) Sie denken da wohl anders. GOLDREGENPFEIFER Ich denke oft anders. FREIBAD Und welche würden Sie an meiner Stelle kaufen? GOLDREGENPFEIFER Haben Sie noch keine? FREIBAD Nicht genug. GOLDREGENPFEIFER Wie viele Badehosen sind genug? FREIBAD Ich muss sie oft wechseln, wenn ich im Wasser bin, und ich trage sie täglich. Gibt es die auch in der kleineren Größe?

GOLDREGENPFEIFER Haben Sie schon alle durchgesehen? FREIBAD Nicht ganz. GOLDREGENPFEIFER Schauen Sie genauer hin und sonst können Sie ja immer noch jemanden um Hilfe bitten. FREIBAD – Sie sind gar nicht – ich dachte/ GOLDREGENPFEIFER Was? FREIBAD Sie arbeiten nicht hier. GOLDREGENPFEIFER Nein, tut mir leid. (will gehen) FREIBAD Warten Sie – GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Fragen Sie mich auch etwas. GOLDREGENPFEIFER Wie bitte? FREIBAD Ob ich Ihnen das Schwimmen beibringen könnte? – Gern. Das kann ich, ich bringe es Ihnen bei. GOLDREGENPFEIFER Nicht nötig. FREIBAD Ich wohne im Eckhaus beim Freibad, direkt am Gelände. Kommen Sie vorbei, zum Schwimmen? GOLDREGENPFEIFER Vermutlich nicht. FREIBAD Warum nicht? GOLDREGENPFEIFER (denkt kurz nach) Dafür fehlt mir die Zeit. e Und dann stößt Ines e Ganz aus Versehen e An das volle Glas, nur an den Rand, doch das reicht aus e Und das Glas beginnt zu tanzen, dreht sich e Wie ein Glas, das sich auf der Stelle dreht e Doch die Kreise, die vom Glas gezogen werden, werden nicht kleiner e Immer größere Kreise zieht das Glas und dreht sich weiter

MIKROFON Irgendwas fühlt sich merkwürdig an. KAMERA Was meinst du? MIKROFON Es hängt in der Luft wie ein Geruch. KAMERA Das klingt widerlich. MIKROFON Im Gegenteil: Noch nie war ich einer Vorahnung so nahe. KAMERA Das klingt – MIKROFON Etwas mythisch? KAMERA Nach Überstunden.

WOLKE Wo fängt es an, habe ich gesagt, es war an diesem Kongress.

Alle Namhaften waren da, haben mich angeschaut. Hiermit, habe ich gesagt, und auf mein Wasserglas gewiesen, das auf dem Rednerpult stand. Und weil ich gern Zuhörende imaginiere, die platzend vor Neugierde ihre Fragen in meinen Vortrag einwerfen, habe ich mir vorgestellt, wie jemand laut fragt e Mit diesem Wasserglas? WOLKE Und ich hatte zuvor bereits sachlich gesprochen, über aufgebrauchte Ressourcen, Knappheit bei wachsender Bevölkerung, den Ausverkauf des Grundwassers undsoweiter. Manchmal muss ausgesprochen werden, was alle schon wissen, nur um den Raum zu definieren. Doch ich spürte, wie sie allmählich ihre Gedanken abwandten und dann wollte ich, denn dazu war ich eingeladen, eine Lösung anbieten: Wir brauchen, sagte ich und mir war, als rührte sich das Wasserglas auf meinem Rednerpult, eine Katastrophe. (Kurze Pause) Ich machte eine Pause, um zu prüfen, ob sie mir zuhörten, tauchte eine Fingerspitze in das Wasser und schnippte ein paar Tropfen in die Reihen der Zuhörenden. Und weil ich spürte, dass sie geweckt waren, dass sie mehr hören wollten, machte ich meinen Vorschlag. Ich beschrieb bildhaft und ausführlich, präzise beschrieb ich, begeistert und logisch – denn so gehört es sich doch. Wir sammeln das Wasser, sagte ich schliesslich, das ganze Wasser, da wo es nah doch unerreichbar bleibt, und geben es nur zurück, wenn es sich lohnt. Wir machen sie, die Katastrophe, bis sie wirkt. Ich spürte, wie sie raunten und war stolz auf meine Worte, für mich war klar, dass ich sie bewegt hatte, dass sie Teil wurden von meinem Plan, dass sie einsteigen, mitmachen, frohlocken würden! Wir sollten es nicht schwarz sehen, sagte ich, sondern realistisch:

THTR RMPE

TANZPERFORMANCE VON BACKSTEINHAUS PRODUKTION

PREMIERE: 24.2.2022

WEITERE TERMINE: THEATERRAMPE.DE

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stück labor – neue schweizer dramatik

Immer wird dann etwas in die Wege geleitet, wenn es richtig weh tut, sagte ich, es muss spürbar werden, für alle, vorher gibt es zu viele Meinungen, die einen sagen: Ich sehe es zwar, aber für uns reicht es noch und dann schauen sie weg. Andere sind grundsätzlich ignorant oder verstehen es nicht und manche glauben noch, sie lebten in einer intakten Welt, und dass man es schon richten können wird. Also, habe ich gesagt, angefangen hat es schon längst. Und dann, darauf hatte ich mich schon seit Tagen gefreut, gab ich dem Glas einen ganz kleinen Schubs e Und es drehte und drehte WOLKE Danach wartete ich, stand draussen beim Kaffee, erwartete, dass sie zu mir kämen, nicht zum Gratulieren oder zum Schmeicheln, nein, sie sollten Teil werden von meinem Plan, sollten partizipieren, mit mir die Katastrophe gestalten, die alles rettende Katastrophe. Aber niemand kam. Alleine blieb ich beim Kaffee. Gemieden wurde ich. Später dann, bald schon danach kam, eingeschrieben und deutlich, die Entlassung aus meinem Lehrstuhl. Und als ich nachfragte, weil es mich etwas anging, warum, berichtete man von meiner Katastrophe. Also fing ich an. VERWALTUNG Was ich Ihnen jetzt sage, muss unter uns bleiben. FREIBAD Aha? VERWALTUNG Es ist keine große Sache. Nur wäre es wichtig, dass es nicht öffentlich die Runde macht. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. FREIBAD Verstehe. (Kurze Pause) VERWALTUNG Wir haben keins. FREIBAD Wie, Sie haben keins? VERWALTUNG Für Sie. Kein Wasser mehr da. FREIBAD Es ist nicht direkt für mich. VERWALTUNG Tut mir leid, aber es geht nicht. FREIBAD Warum nicht? VERWALTUNG Die Hitze. Die Böden. Die Menschen. Und kein Regen, Sie verstehen. FREIBAD Aber/ VERWALTUNG Ich kann Ihnen nicht dreitausend Hektoliter Wasser geben, einfach so. Nicht jetzt. FREIBAD Sie geben es nicht mir. VERWALTUNG Wem dann? FREIBAD Allen – Ihnen. VERWALTUNG Mir? FREIBAD Im Sommer mal abends den Kopf unter Wasser tauchen, das brauchen alle mal. VERWALTUNG Wo soll ich so viel Wasser hernehmen?

FREIBAD Sie sind doch die Stadt? VERWALTUNG Meine Funktion ist eher beratend. FREIBAD Ich wurde an Sie verwiesen. VERWALTUNG Es ist rar. Verstehen Sie? FREIBAD Haben Sie Kinder? VERWALTUNG Ich kenne die Wasserbestände der gesamten Region. Und ich weiss, dass wir dieses Wasser nicht haben. FREIBAD Stellen Sie sich vor, wie Ihre Kinder im Becken herumtollen, wie sie lachen. (Kurze Pause) VERWALTUNG Sie hatten Ihr Wasser – wo ist es hin? FREIBAD Das Becken war frisch gewartet, alles sah gut aus. Vielleicht ein kleines Erdbeben oder so, eine Erschütterung. VERWALTUNG – FREIBAD Ich kann den Betrieb nicht halten, wenn ich nicht öffnen kann, ich brauche die Einnahmen. Und dafür brauche ich Wasser. Ein Freibad ohne Wasser ist nichts, verstehen Sie? VERWALTUNG Das ist traurig. FREIBAD Können Sie mir helfen? VERWALTUNG Wir zwei finden keine Lösung. Wir haben die Lösung für dieses Problem nun mal nicht. Weil es sie nicht gibt. FREIBAD Das will ich nicht glauben. (Kurze Pause) VERWALTUNG Nehmen wir an, ich hätte plötzlich so viel Wasser. Irgendwo würde sich eine Quelle auftun, ein bisher unentdeckter Schatz. Und ich entscheide mich, Ihnen diesen Sommer, jetzt, das Wasser zu überlassen, nachdem schon einmal ein so großer Verlust verzeichnet wurde, ja? Wer garantiert mir, dass das Becken nicht mehr leckt? FREIBAD Ich. Ich garantiere es. VERWALTUNG Womit? FREIBAD – e Sie kann es sehen, doch nichts tun e Sieht dem Glas beim Kreisen zu, will danach greifen e Doch das Glas, das letzte, von ihrer Bewegung erschrocken, springt zurück e Dreht einen letzten grossen, einen ausladenden Kreis e Und fällt VERWALTUNG Ich habe kein Wasser für Sie. e Ein Glas hat mehrere Möglichkeiten, wenn es fällt e Manchmal bleibt es unversehrt, auf wunderbare Weise, wenn es aufschlägt e Kullert herum und bleibt ohne Kratzer e Doch oftmals zerspringt es in kleine Einzelteile e Zerspringt ein Glas e Ist es kaum wieder zusammenzufügen e Ist es schwer, es so zusammenzufügen, dass nichts mehr durchläuft e Kein Tropfen darf mehr durch die scharfen Kanten weichen e Doch manchmal zerspringt ein Glas e Zerspringt in so viele kleine Splitter, dass es unmöglich ist e Unmöglich das wiederherzustellen KIEBITZ (am Telefon) Goldregenpfeifer – hier spricht Kiebitz.

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Era, es nervt. Geh mal ran. Du kannst nicht nur am Rechner hocken und dein Geld vermehren, das ist nicht gesund. Du musst auch mal – triff wenigstens mich. Ich hab endlich das Thema für die Masterarbeit. Du wirst erfreut sein zu hören, dass – nein, ich erzähl’s dir, wenn du dich meldest. FREIBAD Berit. GOLDREGENPFEIFER Era. FREIBAD Das ist lustig. GOLDREGENPFEIFER Was? FREIBAD Sonst sagen die Menschen, Berit, ein ungewöhnlicher Name, aber du – GOLDREGENPFEIFER Ich? FREIBAD Du sagst nur deinen Namen. GOLDREGENPFEIFER Ich fand es schon immer befremdlich, das Ungewöhnliche lustig zu finden. FREIBAD – GOLDREGENPFEIFER Das ist also das Freibad. FREIBAD Nein. GOLDREGENPFEIFER Aber ich dachte/ FREIBAD Das ist eine leere Hülle. GOLDREGENPFEIFER Was fehlt? FREIBAD Das Gekreische, das Platschen und Planschen, Rennen und Weinen, das wohlige Quietschen von Haut auf der Rutsche, das Trippeln nasser Füße auf zu heißem Boden, Fussbälle, versehentlich auf Bäuchen von Schlafenden landend, aufgeschlagene Knie fehlen, Blut, das in gechlorten Pfützen sich verliert, dieser Schmerz, der mit Eis in der Waffel geheilt werden kann, brennende Augen, trockene Haut, ein leichtes Gefühl in der Brust und die Ahnung, dass es gut wäre, öfter unterzutauchen, den wohligen Schatten der Bäume auf den Armen zu spüren, sich um nichts zu sorgen. GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Alles fehlt. Das hier ist nichts. GOLDREGENPFEIFER Es ist ein Anfang. FREIBAD Es ist ein Warteraum. Schlimmer: Patientin im Koma. Wer weiß, ob es ein Erwachen gibt. GOLDREGENPFEIFER So schlimm ist das nicht. FREIBAD Ich finde es schlimm. GOLDREGENPFEIFER Vielleicht hat es sein Gutes. Vielleicht wird sogar Leid vermieden. FREIBAD Niemand leidet wegen einem Freibad. GOLDREGENPFEIFER Weniger Sonnenbrand, weniger Hautkrebs. FREIBAD Mehr schlechte Schwimmerinnen und Schwimmer: mehr Tod durch Ertrinken. GOLDREGENPFEIFER Niemand ertrinkt ohne Wasser. FREIBAD Das ist lächerlich. GOLDREGENPFEIFER Letztlich fehlt dein Wasser woanders – so gesehen ist es sogar gut. FREIBAD Zwanghafter Optimismus. GOLDREGENPFEIFER Im Gegenteil. FREIBAD Also Pessimismus? GOLDREGENPFEIFER Ich versuche, an andere zu denken. FREIBAD Du denkst, dass es für andere besser ist, wenn mein Bad leer bleibt. GOLDREGENPFEIFER Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser und wir lassen ein Planschbecken einlaufen, damit wir uns gegenseitig hineinschubsen können.


maria ursprung_die nicht geregnet werden

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FREIBAD Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. GOLDREGENPFEIFER Alles hat miteinander zu tun. FREIBAD Warum hast du so ein Problem mit meinem Freibad? GOLDREGENPFEIFER Es bringt niemandem was. FREIBAD Es macht Menschen Freude. GOLDREGENPFEIFER Und dafür braucht es ein Freibad? FREIBAD Wie meinst du das? GOLDREGENPFEIFER Beim Treffen einer Entscheidung frage ich mich, was andernfalls geschehen würde. FREIBAD Ich verstehe dich nicht. GOLDREGENPFEIFER Würden diese Menschen ohne das Freibad keine Möglichkeit haben, Freude zu empfinden? FREIBAD Schon,/ aber – GOLDREGENPFEIFER Dein Freibad ist absolut überflüssig. (Kurze Pause) FREIBAD Und was machst du dann hier?

WOLKE Fürchtet ihr euch eigentlich vor dem Tod oder seid ihr dafür noch zu jung? KIEBITZ Das hat unsere Professorin irgendwann gefragt, in einer Pause, aus dem Nichts. Mir gefällt die Vorstellung, dass meine Seele, wenn ich sterbe, wie ein Regentropfen ins Meer fällt, antwortete ich und kam mir klug vor. Meine Professorin dachte kurz darüber nach und antwortete, dass das die Frage nicht beantworten würde. Fürchtest du dich vor dem Tod? Ich hoffe einfach darauf, ein Wassertropfen zu sein – dann bin ich Teil eines Kreislaufs. Und wenn die Möglichkeit besteht, dass ich irgendwann in ein größeres Gewässer eingehen kann, bin ich nicht immer nur ich, bin ich mehr als ich, bin ich einmal mehr, und so brauche ich mich vor nichts zu fürchten. Vom Klingeln der Pausenglocke wurden wir aus der Mitte des Gesprächs gerissen. Das Seminar ging weiter, ich weiss nicht mehr, worum es ging, aber ich weiss noch, dass sie uns am Ende

einen sonnigen Tag gewünscht hat und dann hat sie gesagt: Ich wünsche allen Regentropfen, dass sie, wenn es soweit ist, tatsächlich geregnet werden. Und ich dachte: Ist es möglich, dass sie einfach nur verdunsten?

KAMERA Die Redaktion will meinen Arbeitsplan nicht umstellen. MIKROFON Ach ja? KAMERA Sie sagen, das ginge nicht. Weißt du, warum? MIKROFON Hm? KAMERA Weil du das nicht willst. MIKROFON Hat sie das gesagt. KAMERA Geht’s noch? MIKROFON Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. KAMERA Seit wann bestimmst du meinen Dienstplan? MIKROFON Ich nehme meine Arbeit sehr ernst und Dienstpläne sind Bestandteil davon. KAMERA Mich zu fragen, wäre dir nicht eingefallen? MIKROFON Unterschiedliche Meinungen bedrohen das Erreichen eines Ziels. Und dafür ist es zu wichtig. (Kurze Pause) KAMERA Menschen sind das Letzte. MIKROFON Geh zurück zu den Tierdokus. KAMERA Tiere sind besser als Menschen. MIKROFON Ach komm. KAMERA Weniger egoistisch. MIKROFON Glaubst du das wirklich? KAMERA Du bist das beste Beispiel. MIKROFON Viele Studien belegen, dass Tiere und Menschen empathisch geboren werden. KAMERA Und dann treffen sie auf Artgenossen und lernen, nur für sich zu kämpfen. MIKROFON Weil Menschen nicht allen gegenüber mitfühlend sind. KAMERA Sag ich ja. MIKROFON Nein. Versteh doch, genau deshalb ist unser Beruf so wichtig: Während, sagen wir, Eishockeyfans mit Fans ihres Teams empathisch sind, freuen sie sich bei der Niederlage gegnerischer Teams, das ist nicht neu. Interessant daran ist: die Kategorie ist beliebig austauschbar – Herkunft, Hobby, Essgewohnheit – durch ein beliebiges Merkmal entsteht ein Wir – das bedeutet, dass Empathie über die Geschichte, über die Information entsteht.

HENDRIK QUAST SPILL YOUR GUTS EINE BAUCHREDNERSHOW PERFORMANCE FEBRUAR 03 04 05 06

Und wer erzählt die Geschichten? KAMERA Du vermutlich. MIKROFON Wir, du Dummie. Die Welt wird in Wir und Andere eingeteilt. Und wir steuern die Grenzen davon. Daher ist es bei unseren Beiträgen absolut wichtig, welches Wir erzählt wird – verstehst du? KAMERA Du schweifst ab, du weichst mir aus! MIKROFON Du hast gesagt, Menschen wären Egoisten, aber das stimmt nicht, nur, wenn sie sich nicht/zusammengehörig KAMERA Warum änderst du meinen Dienstplan? MIKROFON Ich/ habe nur KAMERA Was ist dein Problem mit mir? MIKROFON Ich habe kein Problem. (Kurze Pause) KAMERA Und warum willst du nicht mit mir arbeiten? MIKROFON Du – du hast nicht gut hingesehen. Du musst besser hinsehen.

FREIBAD Flach auf den Boden legen, auf den Rücken, die Arme neben dich, beuge die Knie um neunzig Grad, Becken nach oben, Körperspannung halten, streck die Arme so, kreise mit den Händen. Die Fersen vom Boden lösen, auf die Zehenspitzen, langsam atmen. GOLDREGENPFEIFER Was hat das mit Schwimmen zu tun? FREIBAD Kraft und Stabilität. GOLDREGENPFEIFER Wie lange muss ich das machen? FREIBAD Noch dreissig. (Kurze Pause) Die haben gestern Eine Schildkröte gefunden, die grösste der Welt. GOLDREGENPFEIFER Wer? FREIBAD Ich weiß nicht genau. Sie haben einen Lastwagen gebraucht, um sie wegzuschaffen. GOLDREGENPFEIFER Von wo? FREIBAD Weiß ich nicht. Aber sie war so schön. Ich mag Schildkröten. GOLDREGENPFEIFER Wie kommst du darauf? FREIBAD Irgendwie ähnelst du ihr. GOLDREGENPFEIFER – Es reicht. (sie löst die Übung auf) FREIBAD Sie war wirklich schön, so stolz und freundlich. Da habe ich ihnen was gegeben.

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stück labor – neue schweizer dramatik

GOLDREGENPFEIFER Was? FREIBAD Na, Geld. GOLDREGENPFEIFER Wie viel? FREIBAD Hundert. GOLDREGENPFEIFER Wem? FREIBAD Der Schildkrötenorganisation. GOLDREGENPFEIFER Wofür? FREIBAD Für die Schildkröten. GOLDREGENPFEIFER Und was machen sie damit? FREIBAD Die Schildkröten retten. GOLDREGENPFEIFER Wovor? FREIBAD Umweltverschmutzung? GOLDREGENPFEIFER Du gibst spontan Geld an eine Organisation, ohne zu wissen, wofür? FREIBAD Du hast davon erzählt, eine Welt zu schaffen, in der du gern leben würdest. Das hat mich inspiriert. GOLDREGENPFEIFER Aber ich spende zielgerichtet, minimiere meine Ausgaben, recherchiere, wie vielen ich helfen kann, wie sich ihre Lebensqualität verbessert. Irgendeiner Organisation Geld zu geben, die Schildkröten mit Lastwagen in der Gegend herumfährt, ist – MIKROFON

Ich schwitze.

FREIBAD Was? KAMERA Das Offensichtliche sollte nie ausgesprochen werden. MIKROFON Man verbrennt von innen. KAMERA Die Klimaanlage läuft, es ist nicht heiß. MIKROFON Ich antizipiere, verstehst du? Ich lebe das, wovon ich berichte. KAMERA – MIKROFON Du bist so still. Bist du noch immer beleidigt. KAMERA – MIKROFON Weil ich deinen Dienstplan anpassen ließ? Mach doch mal das Fenster auf und lass die Stille nach draussen, ja? KAMERA Du kannst einem Kameramann nicht sagen, dass er nicht genau hinsieht. MIKROFON Wenn er so stümperhaft auf den Dienstplan sieht wie du, eben schon. KAMERA Was meinst du? MIKROFON Hättest du ihn genauer angeschaut, wüsstest du, dass ich deinen Dienst komplett an meinen anpassen ließ. (Pause) Weil du – wir arbeiten gut zusammen. KAMERA – Trotzdem egoistisch. MIKROFON Wo bleibt die Maske? KAMERA Ist nicht mehr da. MIKROFON Was? KAMERA Es gehe ihm nicht gut, hat er gesagt. e Seid ihr bereit? KAMERA Bereit. MIKROFON Etwas stimmt nicht. KAMERA Wieso? e In vier, drei FREIBAD Zwei, eins – genau so. Du bist ein Naturtalent. GOLDREGENPFEIFER Macht es im Wasser mehr oder weniger Spaß?

FREIBAD Im Wasser macht alles mehr Spaß. Warum hast du nie schwimmen gelernt? GOLDREGENPFEIFER Es war mir nicht so wichtig. FREIBAD Und deine Eltern, wollten die nicht, dass du Schwimmen kannst? GOLDREGENPFEIFER Meinen Eltern war ich nicht so wichtig. FREIBAD Wie meinst du das? GOLDREGENPFEIFER Gar nicht. FREIBAD Doch, erzähl. (Kurze Pause) GOLDREGENPFEIFER Ich mag mich nicht beklagen. Mein Leben besteht aus Privilegien. FREIBAD Beklag dich. GOLDREGENPFEIFER Ich find’s zum Kotzen, wenn sich Menschen darüber beschweren, dass sie auf dem Internat waren. Weil sie damit vor allem sagen wollen, wie klug sie sind oder wie reich ihre Eltern. FREIBAD Eine Information über das geheimnisvolle Leben der Era K. GOLDREGENPFEIFER Kind aus erster Ehe wird, zugunsten der neuen Familie, wegrationalisiert. Ich bin ein Klischee. FREIBAD Ich find’s originell. (Kurze Pause) GOLDREGENPFEIFER Schau mich nicht so an. FREIBAD Wie denn? GOLDREGENPFEIFER Ich leide nicht, du brauchst mich nicht zu bedauern. FREIBAD Ich bedaure dich nicht. Ich betrachte dich. GOLDREGENPFEIFER Ich muss langsam los. FREIBAD Es ist schön, dass du oft herkommst. Vor allem, weil du jedes Mal sagst, du hättest keine Zeit. GOLDREGENPFEIFER Ich habe keine Zeit. FREIBAD Aber ich schon. GOLDREGENPFEIFER Ich bin zu oft hier. Nein, lass. FREIBAD Erzähl mir mehr von dir. GOLDREGENPFEIFER Ich rede nicht gern über mich. FREIBAD Großartig, dann reden wir endlich über mich. Frag mich was. GOLDREGENPFEIFER Ich muss wirklich los. FREIBAD Warum ich Schwimmen so wichtig finde? Gute Frage! Das erzähle ich dir gern. Wo fange ich an? Als Kind bedeutete Sommer für mich barfuß auf heißem Asphalt nachhause laufen mit klebrigen Händen und irgendwas Süßem im Mundwinkel. Doch in dem einen Sommer war das anders. Da regnete es. Ich weiß noch, wie ich stundenlang am Fenster saß und Bilder gemalt habe. Mit einem stumpfen Bleistift zog ich lange Striche, die ganz gerade nebeneinanderherliefen, dicke Linien, die sich eng aneinandergereiht über das Blatt schoben. Ich habe einen Regen gezeichnet, der so dicht war, dass er aussah wie die Fäden, die in der Küchentür hingen, damit die Fliegen nicht reinkommen konnten. Zwischen diesen Tropfen hätte keine Fliege durchfliegen können. In diesem Sommer stand das Wasser zuerst im Keller. Dann in der Garage, später im Wohnzimmer. Das ging schnell, es war ein plötzliches Durch­ einander, in dem meine Eltern einfach nichts mehr zu mir gesagt haben, außer, dass ich im Zimmer bleiben soll, bleib oben, bleib im Zimmer,

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komm nicht raus. Unser Auto ging kaputt und meine Tante, die nicht schwimmen konnte, starb beim Versuch, trotz Hochwasser einen Schuhkarton aus der Garage zu retten. Niemand hat darüber geredet, was in dem Karton war, aber alle redeten von diesem Schuhkarton, der Schuhkarton, der im Hochwasser verlorenging, und da wusste ich, dass ich schwimmen lernen musste. Ich wusste, dass es wichtig ist, schwimmen zu können, um nicht davongespült zu werden, um nicht wegen einem Schuhkarton zu ertrinken. (Pause) GOLDREGENPFEIFER Du hast da eine Wimper. FREIBAD Was soll ich tun? GOLDREGENPFEIFER Dir etwas wünschen und die Wimper wegpusten. FREIBAD Und dann? GOLDREGENPFEIFER Hoffst du, dass der Wunsch in Erfüllung geht. FREIBAD Ich traue Wünschen nicht, Wünschen fehlt die Weitsicht. GOLDREGENPFEIFER Soll ich mir etwas wünschen? FREIBAD Wenn du willst. GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Sagst du mir, was? GOLDREGENPFEIFER Dass deine Wünsche in Erfüllung gehen. FREIBAD (alleine) Später fing ich an, den Regen zu hassen, das war ganz natürlich. Ab diesem Moment war Regen schlimm und wenn es regnete, verfluchte ich den Himmel, manchmal reckte ich tatsächlich die Faust nach oben und beschwerte mich lautstark bei den Wolken. Du blöder Himmel. Jetzt hör aber endlich auf damit. Das ist jetzt genug. Ich sah den Regen als Strafe oder, noch schlimmer, als Unheil, das uns einfach traf, obwohl wir gar nichts getan hatten. Ich fing an, mir zu wünschen, dass der Regen für immer ausbleibt. VERWALTUNG

Was ist es Ihnen wert?

FREIBAD Sonst gehen Wünsche nie in Erfüllung. VERWALTUNG Ihre Bitte ließ mich nicht mehr los, Sie waren so mitgenommen. Also habe ich etwas recherchiert. FREIBAD Wie meinen Sie das? VERWALTUNG Nehmen wir mal an, ich hätte eine externe Quelle, auf die ich für Sie zurück­ greifen könnte. Was sagen Sie dazu? FREIBAD Ich verstehe nicht ganz. VERWALTUNG Ich formuliere es einfacher: Ich bin vielleicht auf Wasser gestoßen, das ich Ihnen anbieten könnte. FREIBAD Das – das ist ja fantastisch. VERWALTUNG Sie sind interessiert? FREIBAD Natürlich, seit Wochen kämpfe ich dafür, dass das Becken gefüllt wird und/ VERWALTUNG Gut, gut. Dann sind wir hier fertig. Jemand aus meinem Team wird Sie kontaktieren. Sobald das Finanzielle geregelt ist, bekommen Sie Ihr Wasser. FREIBAD Das Finanzielle? VERWALTUNG Der Transport ist teuer, und das Abpumpen etc. FREIBAD Also/ VERWALTUNG Es ist eine private Quelle. Die müssen auch von etwas leben.


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FREIBAD Die Stadt bezahlt das Wasser. VERWALTUNG Es ist Ihr Freibad, Sie betreiben es selbst. FREIBAD Die Stadt bezahlt – Schulen und Vereine nutzen das Bad. Das ist die Verabredung. VERWALTUNG Die Stadt hat bereits bezahlt. Vor dem Leck. Jetzt sind Sie dran. FREIBAD Ich konnte nur knapp die Reparatur bezahlen. VERWALTUNG Wir hätten uns früher absprechen sollen, dann hätten Sie gewusst, dass Sie sich die Reparatur hätten sparen können. FREIBAD – VERWALTUNG Das ist aber auch verzwackt. FREIBAD Wie viel? VERWALTUNG Fünfundsechzig. FREIBAD Fünfundsechzig was? VERWALTUNG Tausend. FREIBAD (Fängt an zu lachen. Will gehen, doch die Tür ist blockiert.) VERWALTUNG Vielleicht schaffe ich es, sie auf sechzig runterzuhandeln. Für Sie verzichte ich auf eine Provision. FREIBAD Sechzig tausend? VERWALTUNG Duschen, Spritzwasser, ständiges Erneuern, etc. Die Hygiene muss stimmen. Da sind wir mindestens bei dreitausend Hektoliter. Vermutlich brauchen Sie mehr. Der Preis ist nicht übertrieben. FREIBAD Aber/ VERWALTUNG Ausserdem kommt der Transport hinzu. Private Anbieter garantieren eine höhere Qualität. FREIBAD Da könnte ich es ja im Supermarkt kaufen und aus Flaschen ins Becken kippen. VERWALTUNG Niemand hindert Sie daran. FREIBAD Das ist zu viel. VERWALTUNG Ich wollte es Ihnen anbieten, Sie wirkten so niedergeschlagen. Doch angesichts der aktuellen Lage wäre es sowieso eine Schande, im Wasser zu baden. FREIBAD Die Lage? VERWALTUNG Die „Trockenheit“ – Sie wissen schon. FREIBAD Ich bin mir nicht sicher. (Kurze Pause) VERWALTUNG Ich darf darüber nicht reden. FREIBAD – VERWALTUNG Vielleicht so viel: Bald spricht niemand mehr vom Schwimmen. FREIBAD – VERWALTUNG Die Idee mit den Flaschen – FREIBAD Ja?

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VERWALTUNG Sie ist gar nicht so schlecht. Nur: kippen Sie sie nicht aus. (Die Tür lässt sich öffnen.)

KAMERA Schau mal aus dem Fenster. MIKROFON Wieso? KAMERA Es fahren keine Autos, aber es sind ungewöhnlich viele Menschen draussen. MIKROFON Sie bewegen sich eigenartig. KAMERA Als wüssten sie nicht, wohin sie wollen. MIKROFON – Sie gehen Richtung Rathaus. Was machst du? KAMERA Ich zeichne es auf. MIKROFON Wofür? KAMERA Es interessiert mich, ich sammle. MIKROFON Was sammelst du? KAMERA Psst, leise, wir wollen sie nicht stören. MIKROFON Uns hört niemand. (Kurze Pause) KAMERA Das hier erinnert mich an meinen ersten Auftrag. Ich habe, dokumentarisch, einen Ornithologen nach Peru begleitet. Er hatte festgestellt, dass die Vögel ihren Lebensraum langsam nach oben verschieben über die Jahre. Oben angekommen, verschwanden sie irgendwann ganz. Die Ursache dafür war kaum merklich: Eine Erwärmung der Luft um 0,42 Grad Celsius. MIKROFON Und was hier erinnert dich daran? KAMERA Es gab diesen einen Vogel, den Schuppenmantel-Ameisenwächter, er hatte riesige Kulleraugen und er konnte schlecht fliegen, er wirkte so fehl am Platz, wie er herumhüpfte auf der Jagd nach Spinnen und Wanderameisen. Er bewegte sich ähnlich wie diese Menschen da unten – er wusste, dass er irgendwohin musste, um zu überleben, aber es schien, als wüsste er nicht recht, wohin.

GOLDREGENPFEIFER Was machst du hier? FREIBAD Ich – ich wollte dich – Ich war unterwegs und sonst kommst du immer zu mir. Da dachte ich – (Lange Pause) Darf ich reinkommen?

GOLDREGENPFEIFER Es ist spät. FREIBAD Das Licht war an, daher/ GOLDREGENPFEIFER Ich arbeite. FREIBAD Woran arbeitest du? GOLDREGENPFEIFER Das weißt du doch. FREIBAD Ja – n – nicht so richtig. Irgendwas mit Computern? Du hast es nie erzählt. GOLDREGENPFEIFER Du hast nie gefragt. FREIBAD Ja, stimmt. GOLDREGENPFEIFER Informationen sind eine Holschuld. FREIBAD Wow. GOLDREGENPFEIFER Was? FREIBAD Nichts. GOLDREGENPFEIFER Doch, sag. FREIBAD Das ist der dümmste Satz, den ich je gehört habe. GOLDREGENPFEIFER Vielleicht verstehst du nur nicht, was ich damit meine. FREIBAD Ist das immer so? In allen Bereichen, auch wenn ich nie auf die Idee käme, mir die Information holen zu müssen, weil ich das Problem nicht kenne, ist es dann wirklich meine Pflicht, mich darum zu kümmern, etwas in Erfahrung zu bringen? GOLDREGENPFEIFER Was ich beruflich mache, hättest du ja wohl fragen können. Das ist simpelster Smalltalk. FREIBAD Ich stelle doch ständig Fragen, ich will ständig alles über dich wissen, und du – Wenn du das wirklich so siehst, warum stellst du dann nie irgendwelche Fragen? GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Weil du nur Fragen stellst, wenn dich etwas, wenn dich jemand auch wirklich interessiert.

WOLKE Sie sehen also, eine Badehose ist mehr als bloß eine Badehose, sie ist eine Reisende, die schon viel Wasser gesehen hat, bevor Sie sich im Laden für sie entscheiden und damit vergnügt in ein Schwimmbecken springen. Mit diesem Ausflug in die Welt des virtuellen ­Wassers schließe ich meine Ausführungen. Ich danke Ihnen für Ihr Mitdenken und verabschiede mich. Ab jetzt ist es Ihre Aufgabe, nach Lösungen zu suchen. (Alle Studierenden außer KIEBITZ gehen)

ICH HEISSE NAME Theater Blau Zürich und Theater Jungfrau & Co. Bern 5+ ES KAMEL IM ZIRKUS Cirque de Loin St.Gallen/Bern/Appenzell Ausserrhoden 6+ TOTO, LAURA & DIE STADTMUSIKANT:INNEN Theater Kolypan Zürich 6+ DAS GROSSE FRAGEN goldtiger Zürich 7+ YARK Dani Mangisch Brig 7+ GSCHWÜSCHTERTI Theater Sgaramusch Schaffhausen und Weltalm Theater Bern 7+ GEH NICHT IN DEN WALD, IM WALD IST DER WALD Cie. Tabea Martin Basel 8+ WAS DAS NASHORN SAH, ALS ES AUF DIE ANDERE SEITE DES ZAUNS SCHAUTE La Grenouille Biel 10+ WO DIIS HUUS WOHNT Reich und Schön Zürich 11+ ROMEO UND JULIA FigurenTheater St.Gallen 12+ DIE MÄRCHEN VON MICHAEL KÖHLMEIER Vorstadttheater Basel 12+ DIE MITTE DER WELT Theater St.Gallen 14+ GO TELL Junge Marie Aarau 14+

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KIEBITZ Sie haben aber keine Lösung angeboten WOLKE Wertschätzung ist die Lösung. Doch das Wort ist zu schwach. Darum liegt die Lösung in etwas Größerem. KIEBITZ Wer wird jetzt meine Masterarbeit betreuen? WOLKE Goldregenpfeifer und Kiebitz, nicht wahr? KIEBITZ Nur noch das Vorkommen des Kiebitzes in Europa in Korrelation zur klimatischen Veränderung der letzten fünf Jahre – interessant sind nämlich die/ unerwartbaren WOLKE Sie werden jemanden finden für die Betreuung Ihrer Arbeit. KIEBITZ – Ja. WOLKE Es fiel mir schon immer schwer, loszulassen. Warum ist das so? KIEBITZ Ehm – WOLKE Vermutlich liegt das an meiner Kindheit, denken Sie nicht? KIEBITZ Kann schon/ sein WOLKE Alle meine Kindheitserinnerungen haben mit dem Loslassen zu tun. Das ist doch nicht normal, oder? KIEBITZ Also/ WOLKE Sogar meine allererste Erinnerung handelt vom Loslassen, ja. Was ist Ihre erste Erinnerung? KIEBITZ Meine? WOLKE Ja. Nur zu. KIEBITZ (Kurze Pause) Es ist etwas verschwommen, aber: Ich sitze an einem Tisch und mein Vater schenkt meiner Schwester zu trinken ein. Anstatt zu sagen, dass es genug ist, zieht sie das Glas weg und er sieht zwar hin, sieht, dass da kein Glas mehr ist, dass er aufhören müsste, aber gießt einfach weiter ein. Gießt das Wasser auf den Tisch. Und alles versickert sofort in der weichen Stofftischdecke. WOLKE Und dann? KIEBITZ Gab’s eine Ohrfeige. Kurze Pause WOLKE Das scheint mir übertrieben. KIEBITZ Ja. (Kurze Pause) KIEBITZ Werden Sie weiter forschen? WOLKE Ich forsche mit eindeutigen Ergebnissen und alle sehen diese Ergebnisse, manche verstehen sie sogar, aber es ist, als, als könnte man sich dagegen entscheiden, als könnte man wegsehen und hoffen, dass sich alles von selber erledigt – Ich will nicht mehr forschen. KIEBITZ Was werden Sie tun? WOLKE Irgendwas. Eine Weltreise mit dem Fahrrad vielleicht. KIEBITZ Klingt gut. WOLKE Es klingt nach Verzweiflung. KIEBITZ Sie könnten schreiben. WOLKE Alle tun das. Und niemand will es lesen. KIEBITZ Sie erzählen toll. Ich habe Ihnen gerne zugehört. WOLKE Von der Wolke, die nicht mehr loslassen will. Die immer weiter wächst, die aufhört zu regnen, bis sie alles Wasser in sich aufgesogen hat – bis es nur noch die Wolke gibt.

Oben das All, unten die Erde – die Wolke dazwischen. Die Geschichte einer Katastrophe. KIEBITZ Es wäre eine Möglichkeit. WOLKE Wollten Sie noch was? KIEBITZ Mich verabschieden, mich bedanken. WOLKE Das ist schön. (Kurze Pause) KIEBITZ Kann ich Sie irgendwie aufmuntern? WOLKE Vermutlich nicht. KIEBITZ Immerhin scheint die Sonne, nicht wahr? Die Sonne scheint – alles wird gut.

MIKROFON Der Bevölkerung wird geraten, zuhause zu bleiben und auf körperliche Aktivitäten zu verzichten – um einen Hitzeschlag zu vermeiden – und Fernseher oder Radio laufen zu lassen. e Wir sind gleich wieder für Sie da e Es folgt ein Werbespot KAMERA Das ist übel. MIKROFON Was? KAMERA Es ist offiziell. e Der erste Todesfall wegen Dehydrierung MIKROFON So? KAMERA Hab ich gehört. e Es war schon online, ging viral MIKROFON Aha. KAMERA Ja, vorhin. MIKROFON Wir machen keine Gerüchte. Wir machen Nachrichten. (Kurze Pause) KAMERA Auf unserem Stockwerk wurde das Wasser gestohlen. e Wer tut sowas? MIKROFON Berichten wir zu oberflächlich? KAMERA Wie meinst du das? MIKROFON Niemand hat uns gewarnt, hat den letzten Tropfen angekündigt. Jemand hätte es doch wissen müssen. e Wer ist dafür verantwortlich? MIKROFON Sie müssen vor die Kamera. e e e e e

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Vor dem Rathaus haben sich viele versammelt Unabgesprochen Sie warten Obwohl niemand mehr drin ist Das hat sich schnell herumgesprochen, dass da keiner mehr hineingegangen ist ins Rathaus Schon am Tag davor, vor dem Ausbleiben des letzten Tropfens, war niemand mehr im Rathaus drin Was soll man noch beraten Lieber Vorräte anlegen durch Wissensvorsprung, lieber Land gewinnen Wenn auch kein Land sein Wasser teilt Und doch haben sich so viele versammelt Wollen rufen und stampfen Skandieren Nur, die Hitze macht die Menge stumm Macht aus einer Meute nur noch Leute Durst ist leise

GOLDREGENPFEIFER Ist es wegen uns, siehst du deshalb so aus? FREIBAD Wie? GOLDREGENPFEIFER Du siehst so farblos aus, so als als könnte ich durch dich hindurchgreifen.

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FREIBAD Alles löst sich auf. GOLDREGENPFEIFER Was meinst du? FREIBAD Das Freibad. Ich kann es nicht füllen. GOLDREGENPFEIFER Warum nicht? FREIBAD Es gibt nicht genug Wasser. GOLDREGENPFEIFER Wer sagt das? FREIBAD Spielt es eine Rolle? Hast du plötzlich angefangen, dich zu interessieren, mir Fragen zu stellen? Kannst du nicht einfach sagen: Oh, das tut mir leid, oder, das sind aber keine guten Nachrichten, anstatt alles zu hinterfragen, als müsstest du es überprüfen. GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Tatsachen verändern sich nicht durch mehr Information. GOLDREGENPFEIFER Ich versuche, dich zu verstehen. FREIBAD Dann hör zu: Es gibt nicht genug Wasser, um das regionale Schwimmbad zu füllen. Es gibt kein Wasser mehr hier, hier, wo es immer Wasser gibt – und niemand redet darüber. Verstehst du? GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Wir müssen uns jetzt vorbereiten. Wir brauchen Wasser auf Vorrat – und mehr. GOLDREGENPFEIFER Was meinst du damit? FREIBAD Das weiß ich noch nicht. Lebensmittel. Medikamente. Gas. GOLDREGENPFEIFER Hör auf. FREIBAD Außerdem müssen wir uns verteidigen können. GOLDREGENPFEIFER Hör auf wir zu sagen. FREIBAD Wir müssen uns verteidigen können, du und ich. GOLDREGENPFEIFER Zieh mich nicht in deine Gedanken hinein, ich gehöre da nicht hin. FREIBAD Das hatte ich vergessen: Du bist unantastbar. Du bist die, die hilft, die umverteilt. Weißt, wo die großen Probleme sind. Du selber hast aber keine. GOLDREGENPFEIFER Ich gehe jetzt. FREIBAD Ist es wegen uns, hast du gefragt, ob ich deshalb so aussehe – Du hast gerade noch von uns gesprochen. Warum bist du gekommen? GOLDREGENPFEIFER Um dir zu sagen, dass ich nicht mehr herkommen werde. Das mit uns führt nirgendwo hin. FREIBAD Warum? GOLDREGENPFEIFER Spar dir die Fragen. Tatsachen verändern sich nicht durch mehr Informationen.

MIKROFON (Am Telefon) Wann könnten Sie im Studio sein – bei Ihnen? – aber – KAMERA (leise) Das ist nicht weit weg, das geht. MIKROFON In Ordnung, wir kommen. e

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Vor dem Rathaus haben sich viele versammelt, stehen stumm Als ein Brückenwagen kommt Ein Transporter, hinten offen und darauf ganz viel Wasser So viel Wasser Hinten aufgeladen Und die Leute sehen dem Wagen entgegen und denken


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Wasser Dieses Wasser wird an einen besonderen Ort geliefert e An einen Ort, den sie nicht kennen Und wo sie nicht dazugehören e An einen besseren Ort, für bessere Menschen e Und alle wissen: Dieser Wagen ist eine Lüge e Eine Fata Morgana e Ein Konstrukt, das sie stillschweigend akzeptiert haben e Bereit waren zu akzeptieren für den Frieden, den die Lügen bringen e Aber jetzt sind sie durstig e Und sie sehen die Lüge auf dem Brückenwagen liegen und e Verbinden sich e Werden mehr als Leute e e

FREIBAD Sie hier? e (GARTENZAUN) Da staunen Sie. FREIBAD Und was ist das? e (GARTENZAUN) Ein Zeichen meiner Aufmerksamkeit. (In der Hand von GARTENZAUN kreist eine Flasche Cognac.) FREIBAD Aufmerksamkeit? e (GARTENZAUN) Es ist ein Geschenk. FREIBAD Ok. e (GARTENZAUN) Sie können es annehmen. Sie zögern. FREIBAD Ich bin Geschenke nicht gewohnt, nicht von Ihnen. e (GARTENZAUN) Ach was. FREIBAD – e (GARTENZAUN) Sie sind lustig. FREIBAD Warum sind Sie hier? e (GARTENZAUN) Darf man seiner Nachbarin kein Geschenk mehr machen? FREIBAD Ein Geschenk machen darf man. e (GARTENZAUN) Ja unbedingt sogar, in Zeiten wie diesen sollte man seinen Nachbarn doch unbedingt Geschenke machen. FREIBAD Was meinen Sie damit? e (GARTENZAUN) Hören Sie, wir waren uns nicht immer einig beim Thema Nachbarschaft. FREIBAD Ach. e (GARTENZAUN) Für uns bedeutet Zusammen­ leben etwas anderes als für Sie, das haben wir ja schon gemerkt. Wir sind halt eher weitherzige Typen, ja, die auch mal zu einem kleinen Umtrunk

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einladen und Sie sind – FREIBAD Ja? e (GARTENZAUN) – Vergessen wir die Geschichte mit dem Zaun einfach. FREIBAD Wenn Sie das wollen, vergesse ich gern, dass Sie einen drei Meter hohen Zaun vor meinem Fenster hochziehen wollten. e (GARTENZAUN) Das waren keine drei Meter waren das niemals ja. Ha, ha. FREIBAD Etwas wollen Sie doch von mir, nicht wahr? e (GARTENZAUN) – FREIBAD Was wollen Sie? e (GARTENZAUN) Ach nichts. Wir hatten nur wir dachten nur gesehen zu haben, dass Sie vor ein paar Tagen sind hier ziemlich viele Kanister und Sie haben auch einige Kasten mit Wasserflaschen irgendwo/ FREIBAD Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrechen muss. e (GARTENZAUN) Ja? FREIBAD Nein. e (GARTENZAUN) – Wie, Nein? FREIBAD Die Antwort lautet: Nein. Ich habe kein Wasser. e (GARTENZAUN) Aber haben Sie, Sie haben doch/ FREIBAD Einen kleinen Vorrat habe ich mir angeschafft, ja, das Nötigste, für mich, zum Überleben. e (GARTENZAUN) Überleben. FREIBAD Ja. e (GARTENZAUN) Ja. (Kurze Pause) Ich wollte Sie auch gar nicht jetzt so direkt danach fragen. Wenn Sie nur einen kleinen Bestand aufnehmen könnten. Wir wollten in der Nachbarschaft vorsorglich Inventur machen, sehen, was da ist, und falls jemand etwas hat, was jemand anderes in diesen Tagen vielleicht braucht/ FREIBAD Ich brauche nichts. e (GARTENZAUN) Ja. FREIBAD – e (GARTENZAUN) Wir sind vor kurzem Eltern geworden.

FREIBAD Stimmt. Ich gratuliere noch einmal. e (GARTENZAUN) Für das Milchpulver, das wir zur Genüge haben, brauchen wir Wasser. (Lange Pause) e (GARTENZAUN) Bitte. FREIBAD Ich – e (GARTENZAUN) Bitte. Ich bitte Sie. FREIBAD Wenn ich Ihnen heute Wasser gebe, was ist dann morgen? e (GARTENZAUN) Morgen ist wieder welches da. Die Notversorgung wird kommen. Die lassen uns nicht allein. Wir brauchen doch nur heute etwas, nur ein bisschen, zur Überbrückung. Und morgen ist es wieder anders. e Nichts ist morgen anders, will sie sagen e Vor allem nicht mit einem Baby, das morgen noch durstiger sein wird als heute e Sie blinzelt in die Sonne, lässt sich blenden, um ihn nicht weiter anschauen zu müssen FREIBAD Es tut mir leid. e (GARTENZAUN) Nein. Sie haben Wasser. Das Baby braucht es. e Und sie will die Tür schließen, aber er ist schneller und stark ist er e Woah, ist der stark e Er drückt die Tür auf, schubst sie weg und rennt an ihr vorbei ins Haus e Und dann ist er nicht mehr allein, zehnfach, hundertfach wie Ameisen irrt er in alle Richtungen e Und als einer von ihnen den Kühlschrank aufreisst, bleiben alle stehen (Kurze Pause) e Und er, der eine, erleuchtet vom Licht des Kühlschranks in der verdunkelten Küche, sieht sich um, sieht sie an FREIBAD Und jetzt? (FREIBAD geht auf ihn zu, GARTENZAUN weicht vor ihr zurück. Alle weichen zurück. FREIBAD nimmt eine Wasserflasche, gibt sie GARTENZAUN und wie Ameisen verschwinden diese so plötzlich, wie sie aufgetaucht sind.) e (GARTENZAUN) Ich musste das tun. FREIBAD Danke. Gerne.

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Im Supermarkt tummeln sich Menschen, wie früher Tauben auf dem Vorplatz Doch niemand gurrt Es ist ungewöhnlich still

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S OLATER, BIL B AO THE TA NL UZ,ZIX & FA BR I ZIO DI S A LVO P ER F OR M A NCE, F. W IEAUF SEL DEM DACH, YOGA MONTAG SKENSEMBL ÜCHE, E ULTR A & WA R M UPACK S, F L ASHB NTACHGE S P YR A W IGGR ÄCHE HEAT ATEERR--RROX OXY.Y.CCHH TTHE

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Vor der Kasse hängt die Ungeduld der Wartenden in der Luft e In ihren Augen kreist, verdeckt vom Blinzeln kleinstädtischer Höflichkeit, ein Misstrauen GOLDREGENPFEIFER Entschuldigung. e Es ist zu eng hier, viel zu eng e Sie schlängelt sich an den Regalen vorbei e Doch sie ist zu spät e Die Paletten sind GOLDREGENPFEIFER Alles leer. Völlig leergeräumt. e Wir hätten gestern herkommen sollen e Hab ich ja gesagt e Oder einen größeren Vorrat anlegen e Das hab ich ja gesagt e

Era will weiter Der Durst nagt schon seit Stunden e Doch sie wird nach hinten gedrängt von denjenigen, die zu den Getränken pilgern und noch nicht gesehen haben, dass nichts mehr da ist KIEBITZ Goldregenpfeifer? GOLDREGENPFEIFER Kiebitz. KIEBITZ Hilf mir. GOLDREGENPFEIFER Wobei? e Sie weist auf ihren Einkaufswagen, er ist vollgepackt mit Eis e Gefrorenes Wasser in riesigen Beuteln e Und während sie begreift, welchen Schatz ihre Schwester im Wagen vor sich herschiebt, machen sich hinter ihr Menschen über die Gefriertruhen her wie Hyänen über Antilopen GOLDREGENPFEIFER Was hast du vor? KIEBITZ Ich komme nicht an den Leuten vorbei. GOLDREGENPFEIFER Und was soll ich tun? KIEBITZ – Wir könnten ihn hochheben und raustragen. GOLDREGENPFEIFER Weißt du, wie schwer der ist? KIEBITZ Hast du eine bessere Idee? e Kann ich euch helfen KIEBITZ Es geht schon, danke. e Ihr braucht doch Hilfe, ihr kommt nicht vorwärts, das sehe ich Ich packe mit an KIEBITZ Doch, wir kommen vorwärts. e Ich helfe gern GOLDREGENPFEIFER Das geht schon. e Braucht ihr Hilfe KIEBITZ Nein, danke. e Wir können euch helfen e Ich helfe auch KIEBITZ Nein, vielen Dank. Lassen Sie das. e Vielleicht nehme ich einen, dann geht es leichter KIEBITZ Nein. Finger weg. Nein, he! Nein! e Es lässt sich nicht kontrollieren e Die Leute fangen an, am Wagen zu zerren, Eisbeutel aus dem Wagen zu greifen e Und je mehr sie sich dagegen wehren, desto schneller zerreissen die Beutel e Der Wagen kippt GOLDREGENPFEIFER Lass es – wir gehen.

WOLKE Vielleicht fing es an, als ich vor diesem Brunnen stand Wasserfontänen spritzten und Da stand einer und schnippte Eine Münze in den Brunnen Sah mich an e Damit wir wieder herkommen, gell Sie sollten sich sauberes Trinkwasser wünschen, sagte ich Er zwinkerte bloß und ging Und ich stand da und wurde Wütend wurde ich Dass da unten, sichtbar am Grund des Brunnens Münzen liegen Für die falschen Wünsche

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KIEBITZ Fuck! Fuck! Fuck! Fuck! Fuck! GOLDREGENPFEIFER – KIEBITZ Ich war so stolz auf meine Idee. GOLDREGENPFEIFER Die Idee war nicht schlecht. KIEBITZ Fuck. GOLDREGENPFEIFER Immerhin haben wir vier Beutel. KIEBITZ Vier Beutel. GOLDREGENPFEIFER Sind acht Liter. KIEBITZ Das reicht nirgends hin. GOLDREGENPFEIFER Ein paar Tage reicht es. KIEBITZ Fuck! GOLDREGENPFEIFER Wir müssen das Eis nachhause bringen. Die Beutel sind zerrissen und aus acht Litern wird in der Hitze sehr schnell sehr viel weniger Eis. KIEBITZ Wie bist du hier? GOLDREGENPFEIFER Zu Fuß. KIEBITZ Mit dem Rad. e Und dann sind sie auf einmal zehn Jahre jünger e Ines auf dem Gepäckträger ihrer großen Schwester e Und Era tritt so in die Pedale, wie sie es schon früher getan hat: Damals, um möglichst schnell den Hügel runterzurollen Weil sie wusste, dass beide umso lauter kreischen, je schneller sie fuhr – heute, weil sie schnell sein muss e Das gefrorene Gold in Sicherheit bringen KIEBITZ Und wo fahren wir hin? GOLDREGENPFEIFER Zu dir. KIEBITZ Du meinst zu uns nachhause? GOLDREGENPFEIFER Es ist näher als zu mir. e Während sie fahren, schmilzt das Eis an ihrem Körper, T-Shirt, Hose, Schuhe, alles wird nass e Hinter ihnen eine Spur: dunkle Flecken auf Asphalt, die schon in wenigen Augenblicken wieder verschwunden sind GOLDREGENPFEIFER Du bist undicht! KIEBITZ Ich weiß! e Und da fühlt sich Ines tatsächlich wie das Mädchen von damals e Als wäre sie zehn und Era neunzehn e Als wäre alles leicht e Und ja, sie kreischen e Obwohl Ines weiß, dass es nichts zu kreischen gibt e Aber sie will es, will so gern kreischen und schreien, lachen und rufen e Und kichern wie damals, wenn sie den Berg hinuntergerollt sind e (MOTORRAD) He!

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KIEBITZ (Jubelt im Wind.) e (MOTORRAD) Du bist ganz schön laut! KIEBITZ Ich muss laut sein. Manchmal muss ich laut sein! e (MOTORRAD) Wartet doch mal. GOLDREGENPFEIFER Wir können nicht warten, das Eis schmilzt. e (MOTORRAD) Haltet an. Halt an. KIEBITZ He! e (MOTORRAD) – (Sie fallen hart hin. KIEBITZ verletzt sich.) GOLDREGENPFEIFER Geht’s noch? (Pause) e (MOTORRAD) Ich hab gesagt, ihr sollt anhalten. GOLDREGENPFEIFER Wir wollten nicht anhalten. KIEBITZ Komm. Wir haben es eilig. e (MOTORRAD) Wartet. – Ich habe die Spur gesehen. Dachte erst, es wär Öl. Ist kein Öl. KIEBITZ Nein. e (MOTORRAD) Es ist Wasser. (Pause) GOLDREGENPFEIFER Wir würden gerne weiterfahren. e (MOTORRAD) Gib es mir. (Kurze Pause) e Gib mir das. GOLDREGENPFEIFER Im Supermarkt gibt es noch mehr. e (MOTORRAD) Gut für euch. Könnt euch neues holen. Gib her. GOLDREGENPFEIFER Lass sie. e Und als er auf sie zugeht, um ihr die Beutel aus der Hand zu nehmen Passiert es: (KIEBITZ spuckt MOTORRAD ins Gesicht. Lange Pause. MOTORRAD wischt sich mit der Hand über das Gesicht, sieht sich die Spucke an. Pause. MOTORRAD leckt die Spucke von der Hand.) e (MOTORRAD) Mach das nochmal. (Lange Pause) Nochmal! (KIEBITZ gibt die Beutel an MOTORRAD. MOTORRAD wirft zwei Eiswürfel auf den Boden und geht.)

MIKROFON Wir werden vor allem darüber reden, wie es so weit kommen konnte. VERWALTUNG Sie sagen, das Interview wird live ausgestrahlt? MIKROFON Es ist ein ungewöhnliches Format, doch – VERWALTUNG Es ist auch eine ungewöhnliche Zeit. Ich nehme an, Sie möchten über Schuld sprechen. MIKROFON Ich verstehe nicht. VERWALTUNG Sie sind bestimmt auf der Suche nach Schuldigen. Schuld verkauft sich gut. Sie wollen doch verkaufen. MIKROFON Ich will berichten. VERWALTUNG Dreimal in Folge für den Journalismuspreis nominiert und nie gewonnen. Das ist doch ärgerlich, nicht? Wir könnten das ändern.


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KAMERA Sie geben selten Interviews. VERWALTUNG Das ist richtig, ich lehne sie ab. MIKROFON Warum haben Sie in dieses eingewilligt? VERWALTUNG Vieles verändert sich derzeit. KAMERA Könnten Sie etwas weiterreden, fürs Mikrofon? VERWALTUNG Es interessiert mich, was jetzt passiert. Erwartetes Szenario: Gewalt, Chaos, Ohnmacht. Aber was, wenn das falsch ist, wenn die Eskalation ausbleibt. KAMERA Weiter bitte. VERWALTUNG Erfahrungsgemäss warten Menschen im Katastrophenfall nicht ohnmächtig auf Hilfe. Sie bilden Gruppen und verteilen Aufgaben, um möglichst viele zu retten. Häufig kommt es zu einem Rückgang der Kriminalität. Doch alle rechnen mit Eskalation. Weiter? KAMERA Weiter. VERWALTUNG Warum ist das so? Weil bei realen Ereignissen die Berichterstattung verzerrt und die Fiktion zugespitzt wird. Der Grund ist legitim: Es lässt sich besser verkaufen. Ich frage mich nun, ob, da den Menschen immer wieder die Geschichte der Eskalation erzählt wurde, sie womöglich anfangen, sich auch so zu verhalten. MIKROFON Es ist für Sie ein soziales Experiment? VERWALTUNG Ganz und gar nicht. Aber ich halte nichts von Realitätsverdrängung. Und Sie bestimmt auch nicht, nicht wahr? MIKROFON Sie sagen also, falls Chaos ausbricht, sind primär die Medien schuld? VERWALTUNG Da Sie nicht über Schuld sprechen wollen, hätte ich sowas niemals gesagt, aber mir scheint Ihr Gedanke durchaus einleuchtend. Gut? KAMERA Von mir aus können wir anfangen.

Kaserne

KIEBITZ (Verbirgt ihre Schmerzen.) Und jetzt? GOLDREGENPFEIFER Fahr nachhause. KIEBITZ Kommst du mit? GOLDREGENPFEIFER – KIEBITZ Sie sind nicht da. Du könntest mitkommen. GOLDREGENPFEIFER Wo sind sie? KIEBITZ – Im Urlaub. GOLDREGENPFEIFER Echt? Und wo? KIEBITZ Am Kühlschrank hängt ein Zettel. GOLDREGENPFEIFER Nur weil ich nicht mit

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ihnen rede, musst du nicht so tun, als ob du auch nichts mit ihnen zu tun haben würdest. KIEBITZ (Kurze Pause) Kreuzfahrt nach Norwegen. Birdwatching, Baby. Die wissen, was rockt. GOLDREGENPFEIFER Meinst du, sie haben gehört, was hier los ist? KIEBITZ Nicht von mir. GOLDREGENPFEIFER Hast du was da? KIEBITZ Nichts. GOLDREGENPFEIFER Du hast alle Vorräte aufgebraucht? KIEBITZ In der Gefriertruhe gibt’s ein paar Hähnchenschenkel, Tomatensauce, geriebenen Käse und zwei Kilo Brot. Dann die Konserven mit Oliven und Ananas, ein paar Kilo Pasta, Reis und, weil niemand sie so richtig mag, Anchovis im Glas. GOLDREGENPFEIFER Bei der Ananas ist Flüssigkeit drin. KIEBITZ Das ist Sirup. GOLDREGENPFEIFER Wir könnten die Gefriertruhe abtauen und trinken, was dabei rumkommt. KIEBITZ – GOLDREGENPFEIFER Verstehe. KIEBITZ Es war ekelhaft. GOLDREGENPFEIFER Nichts zu trinken? KIEBITZ Wir haben doch nie viele Getränke auf Vorrat, mal eine Cola und ein paar Bier. Aber die sind weg. GOLDREGENPFEIFER Und was wollen wir zuhause? KIEBITZ Schatten? Kühle Luft, die beim Nachdenken hilft? GOLDREGENPFEIFER Wie verlieren für den Weg zu viel Energie. KIEBITZ – GOLDREGENPFEIFER Weinst du? Du hast dich verletzt. KIEBITZ Nein. GOLDREGENPFEIFER Du hast Schmerzen. KIEBITZ (Lügt) Mir geht es gut. Kennst du das, dass du manchmal gar nicht weißt, wie durstig du bist, bis du den ersten Schluck trinkst? Jetzt vermisse ich diesen Durst. Er wurde ersetzt von einem, den ich noch nicht kannte. GOLDREGENPFEIFER – KIEBITZ Fahren wir zu dir. GOLDREGENPFEIFER Da ist auch nichts. Nicht einmal kühl ist es da. KIEBITZ Irgendwo müssen wir hin. GOLDREGENPFEIFER Ich kenne eine Person, die uns helfen kann.

Mi 2.2. Swiss Dance Days *Melk Prod./Marco Berrettini Sorry, do the tour. Again! Fr 4.2. & Sa 5.2. Swiss Dance Days Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula The Ecstatic Fr 4.2. & Sa 5.2. Swiss Dance Days Neopost Foofwa / Foofwa dʼImobilité FAUNE

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(BRÜCKENWAGEN) Drei Lieferungen noch heute Nach oben, zum Altenheim am Berg Der Straßenverkehr vor meinem Wagen Ist sichtbar dichter, die Straßen eng Ich atme den kratzigen Tabakrauch aus Er schlägt zurück Durch das Fenster, in den Wagen, ins Gesicht Vorne am Rathaus geht eine Frau auf die Straße Versperrt mir den Weg Und ihr wütender Blick fängt mich ein Ich fahre langsamer, an sie heran So nah ich kann, fahre ich hin Sie steht da, mitten auf der Straße Und ich bremse und lege die Hand auf die Hupe Und spüre, dass hupen nichts bringt Durch den Rückspiegel seh’ ich, wie einer schon klettert Nach hinten auf die Brücke, und Die Ladung nimmt, die ich ausfahren muss Und er gibt sie Nach unten Stück für Stück Verteilt sie Ich hupe nun doch Und das Hupen zieht noch mehr Menschen an Die mich gar nicht bemerken, als wär das alles abgesprochen Als wäre das ihr Eigentum und diese Handlung kein Diebstahl Und bald ist die Ladung verteilt Die Frau vor dem Wagen Nimmt den Blick von mir weg Und ich öffne die Tür, steige aus, verlasse den Wagen, der Schlüssel steckt Ich kondensiere auf der Straße, werde einer von ihnen Stehe vor dem Rathaus Mit nichts

FREIBAD Wer ist das? GOLDREGENPFEIFER Meine Schwester. KIEBITZ Ines. FREIBAD Sie ist verletzt. KIEBITZ Es geht schon. GOLDREGENPFEIFER Es geht nicht. Wir wurden angegriffen. FREIBAD – KIEBITZ Vom Fahrrad gestoßen. FREIBAD – GOLDREGENPFEIFER Wir brauchen Hilfe. FREIBAD Von mir? GOLDREGENPFEIFER Du bist die Einzige, die gewarnt war.

Do 17.2. & Fr 18.2. Thom Luz Lieder ohne Worte

So 20.2. Musik: Kaserne Basel & Amenthia Recordings Sunday Hideout

Do 24.2. & Fr 25.2. helium x & drei Basler Schulklassen Wachstumskritik mit Heranwachsenden

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FREIBAD Bestimmt nicht die Einzige. GOLDREGENPFEIFER Aber du wusstest es. FREIBAD Weil ich Pech hatte. GOLDREGENPFEIFER Doch jetzt hast du Glück. FREIBAD Weil ihr hier seid? GOLDREGENPFEIFER Nein. FREIBAD Es ist ständig jemand hier. Plötzlich haben alle das Gefühl, ich müsste sie retten, ich sei die barmherzige Samariterin oder so. GOLDREGENPFEIFER Du konntest vorsorgen. Und nun kannst du helfen. FREIBAD Alle konnten vorsorgen. Nie wurde jemand am Vorsorgen gehindert. GOLDREGENPFEIFER Hilf uns. FREIBAD Du bist doch die, die allen hilft. Jetzt hilf dir selbst. GOLDREGENPFEIFER Warum bist du so? FREIBAD Plötzlich bist du da, du hattest keine Zeit, kein Interesse, aber jetzt – GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Ich würde gern. Ich kann nicht. GOLDREGENPFEIFER Das glaub ich dir nicht. FREIBAD Ich kann nicht allen helfen. Wie soll das gehen? GOLDREGENPFEIFER Versuch es. KIEBITZ Lass. GOLDREGENPFEIFER Du hast gesagt, dass du dein Leben verschwendest. Vom Geben hast du geredet. Vom Helfen. KIEBITZ Wir helfen uns selbst. Irgendwo gibt es Wasser. GOLDREGENPFEIFER Nein, gibt es nicht. Es gibt schon lange kein Wasser mehr. KIEBITZ Wir gehen. FREIBAD Tut es weh? KIEBITZ Was spielt das für eine Rolle? FREIBAD Keine. KIEBITZ Und wieso fragst du? FREIBAD Weil es behandelt werden muss. KIEBITZ Ich habe eine gute Wundheilung. GOLDREGENPFEIFER Es tut weh. Es tut sehr weh. KIEBITZ Era. GOLDREGENPFEIFER Berit. FREIBAD Gut.

VERWALTUNG Es klingt nach einer globalen Aufgabe, aber es ist eine lokale Angelegenheit: Für jeden Ort gibt es eigene Lösungen. MIKROFON Können Sie das konkretisieren? VERWALTUNG Klimatische Voraussetzungen, Ressourcen in Boden oder Luft – die Qualität ist sehr verschieden. MIKROFON Und warum wurde nicht umverteilt? VERWALTUNG Der Transport ist zu kostspielig, es ist wichtig, das Problem Wasser lokal zu behandeln. MIKROFON Wenn ich das richtig sehe, wäre es Ihre Aufgabe gewesen, das Problem Wasser, wie Sie es nennen, für die Region zu lösen. VERWALTUNG Ich warne seit langem, doch ich bin kein Entscheidungsträger. MIKROFON In meiner Recherche habe ich keine Warnung gefunden. VERWALTUNG Als politischer Berater entscheide ich nicht, welche Informationen an die Öffentlichkeit gehen. MIKROFON Wie konnte die Situation dennoch so weit kommen? VERWALTUNG Es gibt keinen Regen.

MIKROFON Doch warum wurden wir unvorbereitet getroffen? VERWALTUNG Wegen des weit verbreiteten Irrtums, wir könnten uns immer noch auf die Natur verlassen. Sogar die Politik hält verbissen daran fest. Aber das Wetter hat Besseres zu tun, als uns zuzudienen. (WOLKE schweigt aus einiger Entfernung) VERWALTUNG Außerdem wurde entgegen meiner Empfehlung die Ressource zu spät privatisiert. Erst wenn Wasser einen Preis hat, wird es wertvoll. (Kurze Pause) Der Markt wurde hier nicht lanciert. Eine verpasste Chance. MIKROFON Sie wollen also sensibilisieren, wie es vor Ort um die Wasserreserven bestellt ist – und daraus Profit schlagen? VERWALTUNG Ich will, was alle wollen: Einen gerechten Zugang zu Wasser – dies kann nur gewährleistet werden, wenn die Ressource besser kontrolliert und klarer verteilt wird. Der Markt schafft gewöhnlich die bestmögliche Welt. Es hat sich gezeigt, dass der Staat dies nicht beherrscht: zu viele Interessen, zu wenig Übersicht. Und jetzt werden die Folgen spürbar. Privatisierung führt zu einer klaren Verteilung, zu exakten Preisen, verhindert Verschmutzung – denn die Verantwortung wird definiert. Verschwendung und Verschmutzung bedeutet letztlich: Verlust./ Dies schützt die Umwelt und damit (KIEBITZ Privatisierung als das verpasste Heilsversprechen.) e Zzzzpp: Alles weg e Als ob der Fernseher, als ob die Stromversorgung ohnmächtig wurde angesichts der Worte, die durch den Bildschirm in den trockenen Tag dringen GOLDREGENPFEIFER Ein Stromausfall? FREIBAD Das war zu erwarten. KIEBITZ Achja? GOLDREGENPFEIFER Hast du Taschenlampen? FREIBAD Ein Stromausfall ist erwartbar. KIEBITZ Inwiefern? FREIBAD Denk halt nach. Fast alle Tätigkeiten sind an Wasser geknüpft. Hier, nimm die. GOLDREGENPFEIFER Wie schalte ich sie ein? e Es ist keine Taschenlampe KIEBITZ Ich kann gut ohne Duschen und Zähneputzen sein. FREIBAD Darum geht’s nicht. Körperlich und mental kann niemand mehr funktionieren. Dummerweise wurde bis vor wenigen Tagen alles zum Duschen und Putzen benutzt, obwohl es hätte getrunken werden können. e Das ist keine Taschenlampe KIEBITZ Das hat immer noch nichts mit dem Stromausfall zu tun. FREIBAD Seit fünf Tagen haben alle, die sich darauf verlassen haben, dass es automatisch aus dem Wasserhahn fliesst, keinen Zugang mehr zu Wasser. Ohne Vorräte sind sie seit vorgestern durstig. Und seither beschäftigen sie sich nur noch damit, Wasser zu besorgen.

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Das ist ihr einziges Ziel. GOLDREGENPFEIFER Das ist keine Taschenlampe. FREIBAD Irgendwann gehen sie nicht mehr zur Arbeit, verstehst du? Wenn niemand zur Arbeit geht, stehen Maschinen still, gehen kaputt. Aber Strom muss verteilt werden, das ist zwar automatisiert, aber es wird gesteuert, reguliert. Wenn sich niemand darum kümmert – KIEBITZ Bleibt er irgendwann aus. FREIBAD Das Prinzip einer Katastrophe. GOLDREGENPFEIFER Wieso gibst du mir die? FREIBAD Zum Schutz. GOLDREGENPFEIFER – FREIBAD Wir stecken mittendrin, Era. Du hast noch nicht verstanden, was gerade passiert. (Kurze Pause) KIEBITZ Ich nehme sie. GOLDREGENPFEIFER Nein. KIEBITZ Du willst sie nicht. GOLDREGENPFEIFER Du willst sie auch nicht. Sie will sie nicht. KIEBITZ Zeigst du mir, wie sie funktioniert? GOLDREGENPFEIFER Jetzt also Trockenschießen. FREIBAD Morgen. e Eras Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt e Sie sieht ihrer Schwester zu, wie sie eine Pistole in ihren Rucksack steckt, ohne mit der Wimper zu zucken e Wie ihre kleine Schwester ganz selbstverständlich Das Magazin, das Berit ihr gibt, entgegennimmt e Sieht sie in dieser ungewollten Dunkelheit ganz scharf Aber mit anderen Augen FREIBAD Morgen früh fangen wir an. KIEBITZ Womit? e Und dieser Rucksack verkörpert jetzt alles, was Era an dieser Welt hasst VERWALTUNG Das wird nichts bringen. Ohne Strom bleibt die Tür verriegelt. KAMERA Was? MIKROFON Die Tür muss eine Notöffnung haben. VERWALTUNG Die hat sie. MIKROFON Aber? VERWALTUNG Sie wird von außen bedient. MIKROFON Das ist absurd. VERWALTUNG Und die wenigen, die zur Arbeit gekommen sind, habe ich nachhause geschickt. MIKROFON Ist das, das ist bestimmt nicht sicherheitskonform. VERWALTUNG Ich wollte es so. KAMERA Weil Sie sich gern in ungemütlichen Räumen einsperren lassen? VERWALTUNG Wenn eine Verhandlung zu scheitern droht, kann ich, ups – wir sind eingesperrt, die Tür blockieren, und die Notöffnung lässt sich nur von aussen aktivieren. MIKROFON Draussen ist gerade niemand, Sie gewinnen Zeit. KAMERA Und die Fachperson, die die Tür öffnen kann, trifft erst ein, wenn Sie soweit sind. MIKROFON Ich dachte, Sie sind politischer Berater. VERWALTUNG Ich habe diverse Mandate. Die Übergänge sind fliessend. KAMERA Und womit handeln Sie?


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VERWALTUNG Ich bin eher überregional tätig. MIKROFON Wenn Sie die Tür von innen blockieren können, warum nicht auch von innen öffnen? VERWALTUNG Nicht ohne Strom. KAMERA Und wie kommen wir raus? KIEBITZ Hört mal. Hört ihr das nicht? GOLDREGENPFEIFER Doch. Ich höre es. Berit, du? FREIBAD – GOLDREGENPFEIFER Ganz schön laut. Das müssen zwanzig, dreißig Leute sein. KIEBITZ Es sind viel mehr. GOLDREGENPFEIFER Als du gesagt hast, dass wir morgen früh losgehen, dachte ich, wir gehen in einen Schutzbunker oder so, nicht in einen Raum voller Schwimmwesten. Ist aber ok hier. Ein gutes Versteck. FREIBAD – GOLDREGENPFEIFER Ich habe dir nie erzählt, dass das Schwimmbad einer meiner Lieblingsorte war, im Internat. Obwohl ich nicht schwimmen konnte, war ich da, wenn niemand sonst da war. Wegen des Lichts, das sich im Wasser brach. Ist ähnlich, wie in ein Feuer zu schauen. Das fällt mir jetzt gerade ein. – Stell mir eine Frage. FREIBAD – GOLDREGENPFEIFER Wo ich jetzt lieber wäre als hier, gute Frage.

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Ich wäre lieber Teilnehmerin bei einem Tanzturnier oder noch schlimmer: Bei einer Misswahl. Ich würde lieber eine Felswand hinaufklettern, obwohl mir die Höhe suspekt ist, immer weiter hoch, würde sogar runterschauen – wenn ich dafür nicht hier sein müsste. KIEBITZ Alles ist besser, als sich jetzt hier verkriechen zu müssen. Ich wäre sogar lieber mit Mama und Papa/ in GOLDREGENPFEIFER Nein. Dann lieber hier. FREIBAD Darauf lässt sich gut schlafen. KIEBITZ Was? FREIBAD Die Schwimmwesten. Sie sind weich, wie Matratzen. Und verstecken kann man sich darin. GOLDREGENPFEIFER Die nehmen gerade dein Haus auseinander. FREIBAD Sie suchen Wasser. KIEBITZ Das tun sie aber sehr laut. FREIBAD Sie sind auch sehr durstig. e Berit lässt die Pistole nicht los (Kurze Pause) FREIBAD In der Schule. GOLDREGENPFEIFER Was meinst du? FREIBAD Ich wäre sogar lieber wieder in der Schule. Würde lieber eine Chemieprüfung schreiben, als hier zu sein. KIEBITZ Was ist dein Plan? FREIBAD Warten. GOLDREGENPFEIFER Das Wasser hier bunkern, darauf warten, dass sie kommen und dann? FREIBAD Ich habe hier kein Wasser gebunkert.

GOLDREGENPFEIFER Du wolltest einen Vorrat anlegen. FREIBAD Hab ich. GOLDREGENPFEIFER Und wo ist dieser Vorrat? FREIBAD Im Haus. KIEBITZ Was machen wir dann hier? FREIBAD Die ganze Nachbarschaft wusste es. Wer weiß, was sie mit uns gemacht hätten, wenn wir im Haus gewesen wären – die waren vorbereitet, hatten sich abgesprochen. Ich habe ihnen das Wasser überlassen. GOLDREGENPFEIFER Das ganze Wasser? FREIBAD Bist du verärgert? GOLDREGENPFEIFER Nein. FREIBAD Ich dachte, du fändest es gut. Ich habe mich entschieden, zu teilen. Sogar die Tür war offen – sie konnten einfach eintreten. GOLDREGENPFEIFER Sie plündern. e Sie organisieren sich, es funktioniert FREIBAD Sie verteilen. KIEBITZ Und wir? FREIBAD Drei Liter habe ich hier. Einen für dich, einen für dich, einen für mich. Es schien mir gerecht. (WOLKE wächst) VERWALTUNG (Am Telefon) Der Akku ist gleich – gib sie mir kurz – ich konnte nicht, ich bin eingesperrt und – im Büro – naja, wir sind im achten Stock! – nein – jetzt gib sie mir – sie ist auch meine Tochter und ich muss – – –

Tübingens toller Theatermonat Dominik Günther inszeniert „Magical Mystery“ von Sven Regener (4.2.22) Christiane Pohle inszeniert „Woyzeck“ von Georg Büchner (11.2.22) Brigitte Maria Mayer inszeniert „Quartett“ von Heiner Müller (12.2.22) Thorsten Weckherlin inszeniert die Hölderlin-Oper „Im Thurm“ (25.2.22)

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Einmal hin, alles drin!

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(Kurze Pause) MIKROFON Jemand holt uns bestimmt bald hier raus. VERWALTUNG Ja. Am dritten Tag geschehen Wunder. e (KAMERA) Im Regenwald waren überall Tiere Ich wusste nie, was sich im Baum neben mir tummelte Vögel, Schlangen, Termiten, alles lebte Man war nie allein VERWALTUNG Geht es Ihnen gut? e (KAMERA) Ich habe die Vögel aufgezeichnet, bevor Sie verschwanden Sie waren schön MIKROFON Schau mal, da, beim Freibad werden Flaschen verteilt – Ich hatte recht. e (KAMERA) Die Vögel sind weiter nach oben gezogen Höher auf den Berg Je wärmer, desto VERWALTUNG Lassen Sie das Fenster zu. e (KAMERA) Wenn eine Art oben ankommt, ganz oben beim Gipfel e Und nicht mehr höher wandern kann MIKROFON Komm da runter. VERWALTUNG Er hat ja recht. e (KAMERA) Dann können Sie nur noch fliegen Und hoffen, dass sie vielleicht weiter oben noch Einen Lebensraum finden e (MIKROFON) – e (FREIBAD) Das Freibad wird nie wieder gefüllt werden e (GOLDREGENPFEIFER) Wer weiss e (FREIBAD) Es fehlt mir e (GOLDREGENPFEIFER) – e (FREIBAD) Ich konnte an der Farbe des Wassers Sehen, wie es ihm geht Wie schmutzig es ist, wie chlorig Ich sah dem Wasser an, was es braucht e (KIEBITZ) Wasser hat keine Farbe e (FREIBAD) Kein Wasser hat keine Farbe e Drei Tage haben sie nichts getrunken e Sind aufgebrochen zur Grenze, Berit sagt, es gibt einen Ort e Sagt, dass es nach der Grenze, hinter dem nächsten Grat in einer kleinen Stadt, Wasser geben sollte, ein höllisch großes Reservoir e (VERWALTUNG) Ist das Schnee? e (KIEBITZ) Es schneit e Tatsächlich rieseln Flocken auf sie hinab e Das ist der Beweis, die Welt ist komplett aus den Fugen geraten e (FREIBAD) Fang sie nicht mit der Zunge auf e (KIEBITZ) Es ist kein Schnee e Es ist Asche e (KIEBITZ) Ich habe Kopfschmerzen e (FREIBAD) Wie ist dein Herzschlag e (GOLDREGENPFEIFER) Wir müssen weiter, das Feuer kommt näher e Kopfschmerzen, beschleunigter Herzschlag e Erschöpfung, brennende Augen, Schwindel e (GOLDREGENPFEIFER) Wir müssen weiter e (FREIBAD) Komm, Ines, komm weiter e Sie kann nicht mehr e (GOLDREGENPFEIFER) Du musst e (FREIBAD) Ich erkenne die Symptome akuter Dehydrierung Wir schaffen es vielleicht noch Zwei Stunden ohne Wasser

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Danach fallen wir ins – Ines? (KIEBITZ) Meinst du, er kommt mit (GOLDREGENPFEIFER) Wer (KIEBITZ) Ich möchte hierbleiben Ich möchte meine Augen ausruhen, nur kurz Der Boden ist weich Es ist doch wunderbar hier Die Sonne scheint Das hast du immer zu mir gesagt: Die Sonne scheint, mein kleiner Kiebitz, alles wird gut (GOLDREGENPFEIFER) Hab ich nie gesagt (KIEBITZ) Was (GOLDREGENPFEIFER) Würde ich nie sagen Mama vielleicht, oder dein Vater Vielleicht hab ich’s vergessen (KIEBITZ) Ich kann mich hier etwas ausruhen Aber sobald ich mich hinsetze Nicht mehr weitergehe, merke ich Wie durstig ich bin Wie meine Zunge klebt wie Alles rau ist und Dass mein Mund nicht mehr nach Mund schmeckt Und dann denke ich, dass es vielleicht jetzt vorbei ist und Dass das gar nicht schlimm wäre Aber was, wenn der Durst mitkommt? (GOLDREGENPFEIFER) Steh auf Aber sie steht nicht auf (KIEBITZ) Nur kurz ausruhen Und Era kann auch nicht mehr (GOLDREGENPFEIFER) Bitte (KIEBITZ) – (GOLDREGENPFEIFER) Berit, hilf mir Berit? (FREIBAD) Der Schuhkarton (GOLDREGENPFEIFER) Nein, du brauchst ihn jetzt nicht (FREIBAD) Schlimmer Ich hatte nie einen Weiter unten am Hang fällt ein brennender Baum Eine Glutexplosion treibt in die Höhe Funken, die das Feuer weiter ausbreiten Sie sehen schön aus, drehen sich im Wind Und Era sieht den Funken lange nach Ein Funke kreist Weit oben, direkt über ihr, erlischt er Segelt nach unten, landet weich auf Ines’ Schulter und Zerfällt dort fast unsichtbar zu Staub Era zielt mit der Pistole auf Ines’ Kopf Ohne sie zu berühren Weil sie nicht will, dass Ines es mitkriegt So hört es nicht auf Sie sagt etwas Vielleicht etwas wie, hab dich lieb, oder noch mehr Es sind Worte, die sich die Schwestern so nie sagen und die Im Lärm des nahenden Feuers kaum hörbar sind Und Ines erwidert es wie ein Echo, zu mehr fehlt ihr die Kraft Sie legt den Finger an den Abzug und spürt das Gewicht der Waffe Aber sie zögert (KIEBITZ) Tu es Sie will stark sein Sie will ihre Schwester vor den Flammen retten Und dann Berit

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Und dann sich selbst Sie lässt die Waffe sinken Sie lässt die Waffe sinken Sie lässt die Waffe sinken, weil Weil sie begreift, dass (GOLDREGENPFEIFER) Was? Was begreift sie denn? Dass sie nicht aufgeben will Dass sie, auch wenn sie sich selbst nicht mehr retten will Die Kraft noch finden muss – für die andern So hört es nicht auf

DIE NICHT GEREGNET WERDEN

Die Trockenheit war bisher nicht zu uns gekommen e Wir lebten im Schatten, versuchten, keinen Tropfen zu verschütten und die Sonne von unseren Köpfen fernzuhalten, während sie auf die Dächer unserer kleinen Stadt brannte, die vor Jahren, ja Jahrzehnten, ein höllisch großes Wasserreservoir gebaut hatte, auf das schon unsere Vorfahren stolz gewesen sind e An Grundwasser war schon lang nicht mehr zu denken e Wir füllten es wenn möglich auf, versuchten viel, schickten Hubschrauber los, dressierten Adler und Hornissen, schossen Drohnen in den Himmel auf der Suche nach den Wolken. Und wenn sie fündig wurden, trieben sie die Wassergiganten in unsere Richtung und wir impften die Wolken mit einer Mixtur aus Stickstoff und Zement, um sie endlich bei uns abregnen zu lassen e Niemand kam mehr in unsere Stadt e Dabei hätten wir gerne gezeigt, dass wir noch da sind e Hätten stolz einen Stuhl angeboten, feierlich ein feines Glas gereicht. Wir waren offen für die Fremden, für Durstige, sogar für die Drängler, die stets zu wenig bekommen e Wären sie bloß gekommen, sie hätten eine Ration erhalten, da waren wir uns einig. e Aber niemand brachte uns etwas aus der Welt da draussen und niemand wollte etwas von uns abhaben, bis an dem Samstag, es war im Frühling, und die wirre Era sprach abwesend und leise e Früher, schwoll der Bach vom Schmelzwasser an, an Tagen wie diesen e Sagte sie, wir ließen sie reden, sie war schon sehr alt e Ein Fahrrad rollte an diesem Samstag gemächlich durch die Hauptstraße einwärts in die Stadt, es war rostig und platt, aber es war eines, das wir nicht kannten und wir sahen es, wir wollten es sehen e Auf dem Fahrrad saß niemand e Aber neben dem Fahrrad, da ging eine Frau, von der alle dachten, sie müssten sie kennen, und sich fragten, ob sie schon mal hier gewesen sei, aber niemand konnte ihren Namen aussprechen, allen lag er auf der Zunge, ganz vorne auf der Spitze drauf, es schien, als müsste man ihr nur einmal in die Augen blicken und dann die Zunge in Bewegung setzen, als springe ihr Name dann frei heraus, aber niemandem sprang der Name raus, alle zogen bloß gedanklich fest e


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an ihren Zungen, um sie zum Reden zu bewegen e Wir konnten ihren Namen nicht sagen, aber wir sahen ihre zerbeulte Hose, den Mantel, den leichten, und das fliegende Haar, die grauen Augen, die weichen Wangen und den Mund, der sich scheinbar bewegte, auch wenn sie nicht sprach e Sie schaute sich um, nickte langsam und grüßte e Und wir nickten und grüßten und schauten nur stumm, bis endlich ein Mädchen es wagte zu fragen e Wer bist du e Sie schwieg e Denn sie war dabei nach der Stimme zu suchen, die die Frage gestellt hatte e Da schubste schnell jemand, es war wohl die Schwester, das Mädchen nach vorne, so dass es fast fiel e Das Mädchen fing sich und schaute die Frau an, die freundlich nickte e Und das Mädchen, das kleine, bereute die Frage, war umgeben von allen und doch ganz allein e Es schaute sich um und weil alle nickten, berappelte es sich und fragte erneut e Wer bist du WOLKE Wer bin ich e Die Frau musste lachen, es war viel zu plötzlich und auch viel zu laut e Wer ich bin, kann ich dir, vielleicht, sagen, aber nur wenn ich auch weiß, wer mich das fragt e Und alle blickten streng auf das Mädchen und raunten etwas, was es nicht verstand, und das Mädchen schwieg, einfach weil es das konnte.

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Also schwieg auch die Frau. Sie schwieg freundlich, das spürte das Mädchen und es trat langsam zurück zu der Schwester und die Schwester, die schon dastand, seit die Frau mit dem Fahrrad die Stadt betreten hatte, sagte sodann e Sie heißt Valentina und sie ist erst zehn e Und Valentina, von der Schwester verraten, räusperte sich, aber wohl nur aus Trotz und weil sie nicht wusste, was sie sonst sollte, wenn alle sie anschauten in diesem Moment e Und Valentina schaute die Frau an, mit sicherem Abstand, und sie hatte in ihren zehn Jahren noch keine gesehen wie sie e Und die Frau hatte Valentina bereits schon vergessen, fing an zu reden, erzählte ganz frei e Aus ihrem Mund sprudelte es, es war frisch und klar und es zog alle an e Valentina wusste nicht, dass so etwas aus dem Mund eines Menschen kommen konnte und sie spürte, dass die Frau, die da sprach, schon überall gewesen war und alles gesehen hatte, dass sie, wie der Schatten, zu allem gehörte, und, wie die Luft, alles umgab. Dass schon ihre Vorfahren sie gekannt hatten und die Krebse und Algen genauso wie die e Valentina wusste, dass diese Person, die da vor ihr stand, etwas war, was neu war – was neu war und alt e Was niemand hier benennen konnte und alle doch zu kennen wussten, seit langem, schon immer. Sie sah diesen Mund, der sich bewegte, und sie hörte und fühlte die Worte daraus: WOLKE Mit einem Tropfen fängt es an Nicht erst beim Fluss

Nicht erst beim Duschstrahl, der läuft Über den Kopf, die Nase, Schulter, Hüfte, Knie, Ferse Nein Es fängt an mit dem Tropfen, spürt ihr ihn? Stellt ihn euch vor Wie er fällt und fließt und sich sammelt e Und wir spürten den Tropfen, wie sie das sagte e Und wir sammelten uns, kamen aus unseren Häusern, wie ein Volk aus Ameisen, das über die Erde wimmelt und miteinander gemeinsam hat, dass niemand ausspricht, was alle wissen e Alle kamen und hörten ihr zu WOLKE Ich bringe euch die Geschichte, wie die ersten Menschen Bevor sie Menschen waren Anfingen zu gehen Sie gingen, weil sie im Auftrieb des seichten Wassers Stehend besser nach Nahrung suchen konnten Und ähnlich fängt auch die Geschichte Vom Flusswasser an, das in den Talsperren gestaut ist Auf der nördlichen Erdhalbkugel Hinter Dämmen eingesperrt von Menschen So dass in dieser Geschichte Das Gewicht des gestauten Wassers Ein Kippen der Erdachse bewirkt Die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten verändert Spürt ihr das Stocken in der Geschichte? e Und während sie so eifrig erzählte, regten sich unsere Zungen mit ihr, es war, als wären es unsere Sätze, die sie da sagte, als würden unsere Zungen schon wissen, was sie erzählen will

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18.02. —27.02. 2022 Gefördert durch

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Nur die irre Era, die alte, wurde unruhig, hing gar nicht an ihren Lippen, bewegte ihre Zunge nicht mit den Worten, keifte und klatschte, störte alle mit lautem Gemaule und als wir sie fragten e Era, was ist es e Sammelte Era ihre Gedanken GOLDREGENPFEIFER Merkt ihr denn nicht, was sie mit uns macht? Sie bringt es zu uns. Es wird uns ereilen. e Geh weg, Era, du mit deinem Charakter e Und Era, die krude, suchte Valentina und gab ihr ein Zeichen, das niemand verstand, doch das Valentina sichtlich bewegte e Geh e Sagten wir e Und Era, die gute, ging sodann weg ohne Murren, war schnell aus unseren Augen verschwunden WOLKE Aber die beste Geschichte von allen Geschichten Ist die Geschichte vom letzten Tropfen Und vom Glas, das ihn enthält Es ist eine Geschichte von einem Ort so wie hier Und niemand wusste, dass dieses Glas, dieses eine Den letzten Tropfen enthielt, den letzten überhaupt Und dann stieß jemand In der Geschichte Ganz aus Versehen An das volle Glas Nur an den Rand Doch das reichte aus Und das Glas begann zu tanzen Drehte sich Wie etwas, das sich auf der Stelle dreht, aber Die Kreise, die vom Glas gezogen wurden, wurden Nicht kleiner Immer größere Kreise zog das Glas Und drehte sich weiter e Und während sie sprach, merkten wir nicht, wie die Sonne lang brannte auf unsere Köpfe e Und während sie sprach, merkten wir kaum, wie sie, die Wolke, immer dicker wurde und grösser e Nur Valentina, das Mädchen, konnte es merken, weil sie spürte, wie der Schatten ein anderer wurde, wie ein dunstiger Schatten sie kühlte auf ihrer Kinderhaut e Hört auf e Rief da Valentina e Hört auf ihr bei der Geschichte zu helfen, mit ihr zu erzählen, hört auf, hört doch auf e

Doch wir hörten nicht, mussten unsere Zungen bewegen und unsere Köpfe und Augen der Sonne ergeben. Und während wir sprachen, wurde sie düster und dunkel, wurde groß und gefährlich und wunderschön e Sie stiehlt unser Wasser, stiehlt alles Lebendige, seht ihr das nicht e Rief Valentina e Sie stiehlt es und nimmt es und gibt nichts zurück e Und Valentina sprang und winkte, rüttelte und tanzte einen Tanz der Ohnmacht, des Schreckens, der wachen Verzweiflung. Doch wir konnten nicht hören. Wir wollten nicht hören, nicht sehen, nicht wissen e Hört auf e Wir waren in der Sprache der Wolke gefangen und merkten nicht, wie alles sich auflöste, anfing zu schmelzen e Hört auf e Die Häuser und Dächer, die Mauern um uns, die Straßen und Gassen, die Tore und Türen und Fenster und Fässer und alles, was stand. Ja, auch die Bäume, die letzten, die dürren Gräser, das leidliche Unkraut und was sonst schon seit langem nur vorgab zu wachsen e Und unsere Kleider schmolzen, das Leder, die Wolle, die Seide, das Gold, alles schmolz leise e Und dann unsere Knochen und e Hört auf e Bald die Gedanken e Und während wir schmolzen, sprach sie weiter, die Wolke, flog und erzählte von sich, von dem, was wir werden, von uns, uns als Ganzes, von uns, wie wir eins werden, endlich wieder eins e Hört auf e Und unter unseren Stimmen, die uns wegtrugen, lag eine Stille, die alt war und dunkel, wie das Meer, wie das All, und wir stiegen und stiegen, und das Steigen hörte nicht auf, ein Fallen aus allem, wie losgelassen stiegen wir auf e Hört auf e Hört auf e Nur Valentina zerging nicht, blieb standhaft, blieb mehr als nur Stimme, blieb auf ihren Füssen und wusste auf einmal, dass, wenn niemand zuhörte, alles Rufen nichts half e Sie verstummte e Sie schaute uns nach e Und die Wolke, die große, die wir schon waren, sah sie e Sah: Valentina klein und alleine, wie ein Fleck,

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wie ein Körnchen, ein trockenes Saatkorn in der staubigen Welt Wir starrten zurück auf den Punkt, diesem einen, und begannen uns auszumalen, was wohl werden würde, aus dem entfernten, winzigen Fleck Was wird aus dem Fleckchen bloß werden? Wird es wieder wachsen? He! Was wird denn jetzt werden? Was fängst du nun an?

Wir sind die Tropfen, eine Wolke, uns hört man dort, wo wir uns sammeln, oben das All, unten die Erde, die weiter schmilzt. Wir erinnern uns, auch wenn sich niemand an uns erinnert: wir haben uns damit abgefunden, zu sein, was wir sind. Wir hätten hören können, hinsehen, handeln – die Zeichen waren da. Jetzt aber sind wir ein Ganzes, sind groß und weit und warten darauf, dass wir, vielleicht, eines Tages den Kreislauf durchlaufen, vielleicht irgendwann geregnet werden Denn so fängt es an

Der Text entstand 2020/21 im Auftrag des Theater St. Gallen im Rahmen von Stück Labor. © Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG. Berlin.


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Stück Labor und Luminanza Eine Begegnung italienisch-, deutsch- und französischsprachiger Schweizer Dramatik zum 10-jährigen Jubiläum von Lalitha Del Parente, Autor:in im Rahmen

Der Pakt, den das Theater mit dem Publikum

des Tessiner Förderprogramms für neue

Lalitha Del Parente ist Geigerin und Autorin.

schließt, ist fast immer eng mit dem Wort ver-

Drama­tik Luminanza

Derzeit arbeitet sie als Orchesterlehrerin

bunden.

und Lehrerin zwischen dem Tessin und Zürich.

Kann ein in einer anderen Sprache gesprochenes Wort sein Maß, sein Gewicht verändern?

Als eine sich ständig weiterentwickelnde ausdrucksstarke Sprache, die permanent den

Tommaso Giacopini, geboren 1993, ist Dra-

In einem Land mit so unterschiedlichen

Einflüssen der Zeit ausgesetzt ist, hat sich das

matiker, Dichter und Theaterkünstler. Er

Geschmäckern, Denk- und Handlungsweisen,

Theater der letzten zehn Jahre zu einem facet-

absolvierte eine Ausbildung an der Acca-

Werten und Lebensstilen wie der Schweiz

tenreichen Instrument für die Erforschung

demia Teatro Dimitri im Tessin und nahm

­lassen sich weiterhin verschiedene soziokul-

neuer künstlerischer Formen ent­wickelt.

an der ersten Ausgabe von Luminanza teil.

turelle und politische Kontexte finden.

Luminanza ist ein neuer Reaktor für zeitge-

italienischsprachige Dramatik in einer Stadt

Wie sind in diesem Magma sprachliche Unterschiede enthalten?

Was für einen Eindruck hinterlässt die

Die zeitgenössische Dramaturgie eines

nössische italienischsprachige Schweizer

wie Basel, die durch ihre geografische Lage

Landes wie der Schweiz zu betrachten, be-

Dramatik. Koordiniert wird das Programm

im Dreiländereck und ihre Durchmischung

deutet auch, bewusst deren Mehrsprachigkeit

seit 2021 von Alan Alpenfelt, Matteo Luo-

mit Expats eine besondere sprachliche Viel-

zu akzeptieren.

ni und Mara Travella. Als Plattform für

falt aufweist?

Zum Jubiläum in Basel, wurde, dank des

Begegnungen und Workshops mit schwei-

Wir müssen mehr Möglichkeiten für den

Engagements von Stück Labor, die Mehr­

zerischen und internationalen Theater-

interkulturellen Austausch zwischen allen

sprachigkeit als Chance zur Erforschung,

schaffenden und Autor:innen, ist Lumi-

Sprachregionen schaffen und dabei offen

zum Wachstum und zur Horizont­erweiterung

nanza eine Gelegenheit, das dramatische

sein für eine gegenseitige Beeinflussung

gesehen.

Schreiben zu entdecken und zu vertiefen.

und Bereicherung.

Das Ergebnis war ein Abend, an dem das Theater Basel zum Schauplatz für eine Reihe von Lesungen und Performances in deutscher, französischer und italienischer

Mehr zu den Programmen: www.luminanza.ch www.stuecklaborbasel.ch

Sprache sowie in Berner Mundart wurde.

sind, die wir unseren Figuren zu kauen geben, wenn das Ziel darin besteht, die vielen Facetten dieser Zeit widerzuspiegeln, dann müssen wir uns untereinander austauschen. In Basel haben wir die sprachlichen

Das Ergebnis: eine leuchtende Bühne. Zum ersten Mal gab es auch zwei Aus­

Wenn unsere Gemeinsamkeiten die Worte

Wie würden „Zwölf Meter Flügelspannweite“

Grenzen als Ausgangspunkt für einen aufrich-

aussehen, wenn sie nicht im Schatten der

tigen, konkreten Dialog betrachtet, der das im

Unsere beiden Texte, „Dodici metri di

Felsen des Monte San Giorgio geschrieben

Entstehen begriffene Theater anerkennt, ihm Raum und Wert zuerkennt.

züge auf Italienisch. apertura alare“ von Tommaso Giacopini

worden wären, die den Weg von heute aus-

(„Zwölf Meter Flügelspannweite“ – über-

gestorbenen Lebewesen bezeugen? Was

Es wurde eine gemeinsame Stimme ge-

setzt von Gerhard Kuck) und „Siamo quelli

wäre der Hintergrund, wenn die paläontolo-

sucht, um den Begriffen Dramatiker:in, Werk

giusti“ von Lalitha Del Parente („Wir sind

gischen Zeitalter des Tessins nicht berück-

und Theater Gewicht zu verleihen, sie zu

die Richtigen“ – übersetzt von Barbara

sichtigt worden wären?

­definieren.

Könnte „Wir sind die Richtigen“ beim

Wie sich herausgestellt hat, gibt es im-

Thema internationale Adoption als Symp-

mer noch sehr unterschiedliche Übersetzun-

Gemeinsam ist den Texten das Bedürfnis,

tom eines sich nach wie vor ausbreitenden

gen dafür.

die Möglichkeiten abstrakter, ausgestorbener,

Kolonialismus der Konfrontation mit einer

Dieses Treffen war von entscheidender

dystopischer Welten mit konkreten menschli-

wohlhabenden, provinziellen, kleinbürgerli-

Bedeutung, um eine gemeinsame Grundlage

chen Stoffen zu erkunden. Um sie zu durch-

chen westlichen Gesellschaft entgehen?

für die Zukunft zu schaffen.

Wiebking), entstanden im Rahmen des Förderprogramms Luminanza.

queren, bringt die italienische Sprache einen bestimmten kulturellen Kontext mit sich.

In Verbindung mit der Frage, wer die heutigen Dramatikerinnen sind, lohnt es

Stück Labor dankt für die freundliche

Das Tessin taucht in bestimmten Elemen-

sich, darüber nachzudenken, inwieweit ihr

Unterstützung durch: Pro Helvetia, Ernst ­

ten auf, in den verwendeten Ausdrücken und

territorialer und sprachlicher Kontext ihre

Göhner Stiftung, Landis & Gyr Stiftung,

den von ihm inspirierten Bildern.

Art, Geschichten zu erzählen, beeinflusst.

­Migros Kulturprozent

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/ TdZ Februar 2022 /

Magazin Kraftwerk Schleef Kurzer Bericht vom Einar-Schleef-Symposion in Wien Über Grenzen „GREEN LINE“ der LOSE COMBO in den Berliner Uferstudios Theater für seine Zeit Zum Tod des Dramatikers Harald Mueller Nachruf auf Michael Ramløse, einem 68er des Kindertheaters Bücher Ariane Koch, Till Nitschmann / Florian Vaßen (Hrsg.), Andrej Tarkowski


magazin

/ TdZ Februar 2022 /

Kraftwerk Schleef Kurzer Bericht vom Einar-Schleef-Symposion in Wien

Schleefs wohl bekannteste Inszenierung: „Ein Sportstück“ von Elfriede Jelinek, urauf­geführt 1998 am Burgtheater in Wien. Hier in einer Re-Inszenierung während des Schleef-Symposions.

2021 jährte sich zum zwanzigsten Mal der

Augustin verlesen wurde. Die Keynote hielt

Todestag von Einar Schleef. Aus diesem An-

die

lass veranstaltete das Burgtheater in Wien

­Ulrike Haß. Auf fundierte Weise näherte sie

vom 12. bis 13. November ein Symposion

sich dem Theater Einar Schleefs über das

mit Vorträgen, Lesungen, Diskussionen und

theatergeschichtlich

künstlerischen Interventionen. Theaterfor-

schwer zu fassende Phänomen des Chors, der

schende, Kunstschaffende und Interessierte

ja gerade bei Schleef eine zentrale Rolle

waren eingeladen, um gemeinsam über den

spielte und maßgeblich durch dessen Arbei-

großen Impulsgeber des zeitgenössischen

ten im Theater re-etabliert wurde. Der multi-

und seinem Theater in vielerlei Hinsicht loh-

Theaters zu reflektieren und von ihren Aus­

perspektivisch angelegte Vortrag lieferte ver-

nenswert und immer wieder inspirierend ist.

einandersetzungen mit dem Erbe Schleefs zu

schiedene Zugänge zum Werk des Künstlers

Auch wenn die Kraft seiner Inszenierungen

berichten. Die Veranstaltung fand im Kasino

und betonte dabei das Zukunftsweisende des

heute nicht mehr erfahrbar ist, Schleefs

am Schwarzenbergplatz statt und firmierte

Schleefʼ­schen Theaterentwurfs. Den ersten

Theaterdenken liegt in seinen Texten vor. ­

unter dem Titel „Das Kraftwerk“.

Veranstaltungstag beschloss eine Lesung von

­Welches enorme Potenzial diesem Denken in-

renommierte

Theaterwissenschaftlerin

relevante,

aber

nur

Foto Susanne Hassler-Smith

Dass man sich in der Donau-Metropole

Texten aus den Wiener Tagebüchern Schleefs

newohnt, das konnte man jedenfalls in Wien

für den Theatermacher aus Sangerhausen en-

durch die Schauspielerin Bibiana Beglau. An

eindrucksvoll erleben. Am Ende kann man,

gagierte, hatte guten Grund, denn Wien war

ihrer Seite agierte dann tatsächlich auch ein

um einige Worte aus Jelineks Grußbotschaft

der Ort, an dem Schleef 1998 mit der legen-

Chor von Schauspielstudierenden aus Graz.

aufzugreifen, nur dankbar sein, dass wieder

dären Uraufführung von Elfriede Jelineks

Der zweite Tag des Symposions bot den

„Ein Sportstück“ einen seiner größten Thea-

Teilnehmenden eine Reihe interessanter Vor-

tererfolge feierte und im Jahr darauf mit „Wil-

träge, die jeweils verschiedene Aspekte des

der Sommer“ nach Carlo Goldoni und „Der

Schleefʼschen Theaters beleuchteten. So ging

(Hinweis: Einige Beiträge des Symposions wurden

Golem in Bayreuth“ von Ulla Berkéwicz zwei

es beispielsweise um die „andere“ Sprech­

vom Veranstalter dokumentiert und stehen zum

weitere, viel beachtete Inszenierungen reali-

weise des Chors (Jörn Etzold), Schleefs Chor-

Nachhören bzw. Nachschauen auf der Website des

sierte. Auch daran erinnerte die Tagung, die

theorie und -praxis (Maria Kuberg), das Ver-

Burgtheaters zur Verfügung.)

von dem Dramaturgen Alexander Kerlin und

hältnis von Tragik und Komik (Silke Felber)

dem Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch

oder das Phänomen des Stotterns (Henning

kuratiert wurde.

Burk). Ebenso spannend wie aufschlussreich

Das Symposion eröffnete mit einer

waren auch die beiden Podiumsdiskussionen

Grußbotschaft von Elfriede Jelinek, die von

mit Theaterpraktiker:innen und Weg­ge­fähr­t:in­

der Grande Dame des Burgtheaters Elisabeth

nen (u. a. mit Bettina Hering, Rita Thiele, Claudia Bosse und Robert Borgmann). Dabei erfuhr man einiges aus der konkreten Zusam-

Bibiana Beglau liest Einar Schleef. Anlässlich des zwanzigsten Todestages von Einar Schleef veranstaltet das Burgtheater Wien ein Symposion zu seinen Ehren. Foto Susanne Hassler-Smith

menarbeit mit dem Regisseur, aber auch die vielfältigen Rückbezüge auf Schleef im Gegenwartstheater wurden deutlich. Das Symposion insgesamt zeigte, dass die Auseinandersetzung mit Einar Schleef

einmal über Schleef, den großen Sprecher, gesprochen wurde.

Marko Kloss

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/ TdZ Februar 2022 /

Über Grenzen „GREEN LINE“ der LOSE COMBO in den Berliner Uferstudios Diagonal durch das Heizhaus der Berliner

selbst zurückzuführen ist und neben Spreng-

Uferstudios ist eine Mauer aus Schichten

sätzen auch für die Einlage von Schreibgeräten

grüngrauer Steinwolle aufgebaut. Genau ge-

Verwendung findet. „Mine“ ist aber auch im

nommen besteht sie aus zwei ineinander ge-

Termin enthalten – etymologisch ebenfalls eine

schobenen L-Formen, zwischen denen sich

Grenzlinie, ein Endpunkt.

Kartografische Partituren. Foto David Baltzer

Halt in dem unentwegten Fortgang von Text und Klang. Mit ihr beginnt auch die Wahrneh-

ein Zwischenraum auftut – eine begehbare

Nicht weit davon klingt der Begriff des

mung zu wandern, ohne Halt, ohne Hast, aber

Grenze, deren inneren und äußeren Räume

Theremins, einem elektronischen Musikinstru-

mit stetig wachsender Aufmerksamkeit. Und

die Erfahrung der jüngsten Produktion der

ment, das nach dem russischen Physiker und

mit einem Mal wird alles grün, ist der gesamte

LOSE COMBO bestimmen.

Cellisten Lew Termen benannt wurde, der es

Raum – der Raum im Inneren der Pufferzone

„GREEN LINE“ führt das Publikum mit

1920, nach dem Ersten Weltkrieg, auf der Su-

eingeschlossen – wie in das Licht militärischer

einem sensiblen und komplexen Gefüge von

che nach einem Minendetektor eher zufällig er-

Nachtsichtgeräte getaucht. Das Publikum wan-

Klang-, Bild- und Texträumen durch Ge­

fand. (Termen nannte sich in den USA Leon

dert nun gleichsam selbst durch eine grüne

schichte(n) von Grenzziehungen. Titelgebend

Theremin.) Seine hellen, schwingenden Töne

Zone. Ein Grenzgang, bei dem jeder auf seine

ist die UN-Pufferzone Zyperns, welche die In-

durchziehen den Klangraum, der die weit ge-

eigene Wahrnehmung verwiesen ist, denn als es

sel seit 1974 in einen türkischen Teil im Nor-

sponnene Textur der Bedeutungen sowohl trägt

wieder dunkler wird, sehe ich alles rosa – eine

den und einen griechischen Teil im Süden

als auch auf angenehme Weise immer wieder

Ermüdungserscheinung der Augen, die, wie ich

trennt: Ein Niemandsland, das einst durch die

abdriften lässt. Die Musikerinnen des Duos To-

mir später erklären lasse, ein negatives Nachbild

grüne Linie auf einer militärischen Karte einge-

car, die Pianistin Nadeszda Tseluykina und die

in der Komplementärfarbe erzeugen. Nach und

tragen wurde und das während der Perfor-

Violinistin Susanne Zapf, gestalten auf Grundla-

nach neutralisieren sich die Farben und beginnt

mance auf vielfältige Weise erfahrbar wird.

ge kartografischer Partituren eine Landschaft

mein Blick über das roh belassene Mauerwerk

Zu hören sind Texte, vorgetragen von

aus akustischen und elektronischen Klängen.

des Heizhauses der Uferstudios zu schweifen.

Claudia Splitt und Florian Feigl, zur Entstehung

Der im Raum aufgestellte geöffnete Flügel wird

Es ist selbst von Geschichte gezeichnet – Schich-

der ‚grünen Linie‘, deren Verlauf an einer auf

dabei selbst zu einer Zone möglicher Grenzgänge,

ten von Putz- und Farbresten, Spuren von Was-

eine weiße Leinwand projizierten Karte Zyperns

in dem die Musikerinnen die Saiten durchque-

serschäden und Wegweisern. Mit der Gegenwart

nachzuvollziehen ist. Es geht um historische,

ren, sie traktieren, mit ihren Schwingungen und

der Geschichte des Raums wird mit den Texten

geologische und etymologische Aushandlungs-

Spannungen experimentieren. Begibt man sich

zum Ende des Abends auch die Gegenwart der

prozesse, um Abweichungen von Angaben

in den Zwischenraum der im Raum aufge-

Geschichte Berlins und ihrer Mauer aufgerufen,

und

und

schichteten Mauer, so wird es stiller, sie dämpft

deren Fragmente sich über die Metropolen der

Räumen. Die kartografische Auf- und Ein-

das anhaltende Tönen der Klänge und Deuten

Welt verteilt haben. Die ursprünglich geplante

zeichnung der Linie wird als politische Hand-

der Begriffe. Das schallabsorbierende Material

Reise der LOSE COMBO nach Zypern konnte

lung, als Akt der Grenzziehung sicht- und les-

– man darf es eigentlich nicht berühren – ist

pandemiebedingt nicht stattfinden. Stattdes-

bar, begleitet von den sie umlagernden

weich und massig und bildet so selbst eine Art

sen ist die Inszenierung selbst eine Art virtuelle

Begriffen, die Jörg Laue, Autor der Texte und

Pufferzone. Die Grenze als Schutzraum. Die

Reise, wie wir sie in der letzten Zeit so oft als

der LOSE COMBO, mit seinem gleichsam ar-

Grenze als Durch- und Übergang. Außen, auf

eine Folge von Begrenzungen erlebt haben.

chäologischen Interesse an den Bedeutungs-

einem der bereitgestellten Sitzsäcke Platz neh-

Das kann Theater. Das kann aber vor allem das

feldern der Sprache für uns erschließt.

Verschiebungen

von

Begriffen

mend, sind Videoprojektionen von Landschaf-

Theater der LOSE COMBO, das seit mittlerweile

So erfahren wir von der unbestimmten

ten, von Geästen und Bäumen, von Wolkenfor-

25 Jahren eine ganz eigene Form der Inszenie-

Herkunft des Namens Zypern, nach dem das

mationen und kartografischen Liniaturen zu

rung generiert, in dem sich Bilder und Objekte,

dort vorhandene Kupfer benannt wurde, von

sehen, die über die mauerartige Struktur mä-

Texte und Klänge zu einem vielschichtigen

den zyprischen Kupferminen, von der Bedeu-

andern. Die Bewegung der Bilder ist kaum

Zeit-Raum verbinden, auf den einzulassen sich

tung von „Mine“, die auf das Mineralgestein

auszumachen und bietet einen angenehmen

lohnt. //

Isa Wortelkamp


magazin

/ TdZ Februar 2022 /

Theater für seine Zeit Zum Tod des Dramatikers Harald Mueller

Harald Mueller (1934–2021) Foto Margit Tabel-Gerster

Der Theaterliteratur hängt der Ruf nach, für

schmelze im Atomkraftwerk von Tschernobyl

Dem stelle ich die Sicht von Peter Michalzik

die Ewigkeit wirken zu wollen. Dabei wird ger-

zeigte auf, dass die Sintflut herstellbar war,

entgegen, der Mueller gegen seine Kritiker in

ne ein gewichtiger Strang der Weltdramatik

und Harald Muellers postmoderne Dystopie

Schutz nahm: „Muellers Stärke aber liegt ge-

übersehen: die Texte, die für den Augenblick

wurde zum Stück der Stunde. Es wurde an

rade darin, dass er brisante Zeitfragen auf die

geschrieben wurden, Texte, die nicht auf große

über vierzig deutschen Bühnen gezeigt und in

Bühne bringt, sich am Geschehen und nicht

Langzeitwirkung spekulieren, sondern das Hier

elf Sprachen übersetzt. Es war nicht das erste

an ideellen Schönheiten orientiert, jegliches

und Jetzt reflektieren und gegebenenfalls

Mal in der Theatergeschichte, dass die Wirk-

Ästhetisieren zu vermeiden sucht und da-

­darauf einwirken wollen. Ein Meister dieses

lichkeit einen Theatertext einholt.

durch einen Blick auf die raue Wirklichkeit

Genres hat am 27. Dezember die Lebensbüh-

Im Frühsommer 1987 stand die Welt

vermittelt.“ Harald Mueller war ein leiden-

ne verlassen: der Autor, Dramaturg und Über-

noch immer unter dem Schock von Tscherno-

schaftlicher Theatermensch, und er vereinte

setzer Harald Mueller. 24 Theaterstücke hat

byl. Die Mülheimer Theatertage hatten „To-

viele Facetten des Theaters in sich. Er war

er geschrieben, nicht alle wurden aufgeführt,

tenfloß“ in der George-Tabori-Inszenierung

Schauspieler und Dramaturg, Autor und

vier sind in der Erinnerung geblieben, eines

der Münchner Kammerspiele eingeladen. Ich

Übersetzer – und er war ein begeisterter Re-

hat die Wirklichkeit in den Olymp des interna-

war damals Mitglied der Jury und erinnere

gisseur – noch im hohen Alter arbeitete er am

tionalen Erfolgs gehoben.

mich gut daran, wie wir uns im Anschluss an

liebsten mit Schauspielern und Laien zusam-

Vier Untote geistern auf einem Floß

die Vorstellung in der Mülheimer Stadthalle

men im Rahmen der Sommerakademie

durch ein Deutschland, das durch chemische

allesamt tief beeindruckt zur Beratung im

Klappholttal an seinem Refugium auf der In-

und atomare Vergiftung nicht mehr bewohn-

Konferenzraum trafen. Keiner zweifelte an der

sel Sylt. Seine düsteren Theatervisionen

bar ist, einem sagenhaften Xanten entgegen,

Preiswürdigkeit der Aufführung. Es gab nur

­zielten auf Veränderung bestehender Verhält-

das nach dem Angriff einer Neutronenbombe

ein Problem: Die Aufführung war keine Urauf-

nisse. Nur indem er die drohende Katastro-

wieder giftfrei sein soll. Der Verfall ihrer Le-

führung, wodurch sie eigentlich zur Preisver-

phe sichtbar machte, schien sie für kommen-

benssituation spiegelt sich in ihrer Sprache,

gabe nicht infrage kam. Das Auswahlgremium

de Generationen vermeidbar. Anders sind

und mit der Sprache haben sie ihre Mensch-

hatte sich darauf berufen, dass Mueller das

seine Texte „Totenfloß“, „Großer Wolf“, Stille

lichkeit verloren. Dem Überlebenswillen fal-

Stück nach der Katastrophe von Tschernobyl

Nacht“ und „Halbdeutsch“ schwerlich zu

len zwei der Figuren zum Opfer, das übrig

bearbeitet und verschärft hatte. In der stun-

verstehen – und vielleicht ist gerade letzterer

gebliebene Paar treibt orientierungslos ins

denlangen Debatte war in der Jury kein Ein-

Text dazu geeignet, eine längst entstandene

offene Meer – keiner Zukunft entgegen. Ha-

vernehmen zu erzielen, und Volker Ludwig er-

Realität auf deutschem Boden zu reflektie-

rald Mueller schrieb „Totenfloß“ 1984 für das

hielt den Mülheimer Dramatikerpreis für

ren – die Situation von Fremden in unserem

Theater Oberhausen. Die Uraufführung in der

„Linie 1“. Die Debatte hatte einmal mehr den

­Lande, denen außer ihrer Sprache nichts zum

Regie meines langjährigen Mitstreiters am

Konflikt offengelegt, der Mueller sein ganzes

Überleben geblieben ist.

Moerser Schlosstheater, Manfred Repp, wur-

Dramatikerleben lang begleitet hat und den

Harald Mueller steht nicht im Ver-

de kaum beachtet – zu abwegig schien den

der Kritiker Georg Hensel einmal in dem Satz

dacht, zum Klassiker zu mutieren, aber er hat

meisten wohl die radikale Vision des Autors.

zusammengefasst hat: „Harald Mueller ist ein

dem Theater die Aktualität geschenkt. //

Zwei Jahre später, am 26. April 1986, war

redlicher Prediger voll guten Willens, ein Men-

diese Vision greifbare Realität. Eine Kern-

schendramatiker aber ist er nicht.“

Holk Freytag

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magazin

/ TdZ Februar 2022 /

Nachruf auf Michael Ramløse, einem 68er des Kindertheaters „In Wirklichkeit sollte dieses Theaterstück für Kinder verboten sein“, schreibt der Autor im Prolog zu seinem Drama „Das 4. Gebot“, „weil es grausam ist. Aber die Wirklichkeit – die wirkliche Wirklichkeit – ist immer grausamer als das Theater.“ Der Schauspieltext ist programmatisch für die Ära eines Theaters für junges Publikum, das sich nach 1968 überall in Europa etablierte und die Förderung von Selbstbewusstsein thematisierte sowie die Forderung nach Kinderrechten propagierte. Einer der Protagonisten war der Däne Michael Ramløse, 1949 geboren, 1976 Gründer der Theaterkompanie Banden, später Leiter von Fair Play, die zu den wichtigsten Kollektiven der freien darstellenden Künste zählten und das Kindertheater mit Stücken und Inszenierungen revolutionierten. Ramløse war künstlerisch, vor allem musikalisch, aber auch kulturpolitisch aktiv. Er initiierte den nationalen Verband der Kindertheater, er organisierte eines der größten

Michael Ramløse, 1949–2022. Foto Søren K. Kløft

Festivals für Kindertheater und baute das Theaterzentrum der ASSITEJ in Kopenhagen auf. Auch auf internationaler Ebene setzte er

ehrt. Und Ramløse schrieb, übersetzte und

„Ehre deinen Vater und deine Mutter“ schrieb

als Generalsekretär jener V ­ereinigung des

vermittelte Stücke. Im Tübinger Harlekin-

dereinst das Kinder-Medien-Magazin Funde-

Theaters für Kinder und Jugendliche neue

Verlag sind zehn Dramen für Kinder und Ju-

vogel: „Merkwürdig: obwohl hier ein geschun-

Akzente, gab mit seiner freundlich-verbindli-

gendliche im Repertoire, allesamt in deut-

dener Kinderalltag so eindringlich schwarz

chen Art und seinen ausgezeichneten Kennt-

scher Übersetzung von Volker Quandt, einige

vorgeführt wird“, entlasse der Autor seine

nissen in neun Sprachen wichtige Impulse

von ihnen nach wie vor im Repertoire der

Zuschauer nicht mit einer bloßen Depression,

zum Austausch zwischen Ost und West, Nord

Kinder- und Jugendtheater in Deutschland

„sondern, weil die Verhältnisse so dargestellt

und Süd.

und weltweit in fast 100 Inszenierungen über

werden, dass sie mit Freundlichkeit Verände-

die Bühnen gegangen.

rung erzwingen, auch mit einer optimisti-

Als „Botschafter des dänischen Kindertheaters“ wurde er im letzten Jahr mit

Am 8. Januar 2022 verstarb Michael

dem renommierten Karl-Mantzius-Preis ge-

Ramløse. Zum Stück zum vierten Gebot

schen Stimmung.“ //

MOTUS Tutto Brucia [Everything Burns] – nach »Die Troerinnen des Euripides« MIGRANTPOLITAN / NEW MEDIA SOCIALISM League for Spiritual Defense [L.S.D.] SHE SHE POP Dance Me! FOKUS TANZ #8: »SORRY DADDY…«

23.02. – 05.03. u.a. mit JOHANNA FAYE, SAÏDO LEHLOUH, ELLEN FUREY, MALIK NASHAD SHARPE, GRICHKA CARUGE, FRANCK EDMOND YAO

EDUCATE TO RECREATE

23.02. – 27.02. GIFTY LARTEY & JACLYN HERNANDEZ

Wolfgang Schneider

2 2 0 2 B FE GEL HA K AMPN A

MBURG


bücher

/ TdZ Februar 2022 /

Fährtenlese in Ariane Kochs Debütroman

gewöhnlich einfach in Gegenrichtung um ­

­Medaillenseite ihres ganz privaten Integra­

den Kreis herum, so dass wir uns nie er­

tionsprojekts auf. „Ich hätte übrigens viel

reichen und stets gleich weit voneinander

Arbeit zu erledigen, aber bin bereit, für den

Eine Frau lebt ganz allein in einem großen

entfernt bleiben.“

Gast alles stehen und liegen zu lassen und

Haus in einer kleinen Stadt am Fuß eines

Jene geometrische Konfiguration

ihn zu belehren. Ich kaufe ihm sogar eine

pyramidenförmigen Bergs. Sie trifft auf

der gleichbleibenden, respektvollen, aber

richtige Hose im Supermarkt. Dann kaufe

­einen Mann im Regenponcho, der neu in

doch entschiedenen Distanz durchzieht „Die

ich ihm Pantoffeln, ein paar Bücher, ich

der Stadt ist, und lädt ihn zu sich ein.­

Aufdrängung“ in mehrfacher Hinsicht. Mit

denke sogar, ich könnte ihm mal die Zehen-

Der Gast darf das zehnte Zimmer des

nägel schneiden, wenn er schläft […].“ So

Hauses mit einer Bande ausrangierter

wie sich die Erzählerin in der winterlichen

Staubsaugerrüssel teilen, sie selbst resi-

Kleinstadt zu einem Glasglockenleben ver-

diert weiter in den übrigen neun Zimmern.

dammt fühlt, so macht sie sich den Gast zur

Von dieser ungleichen Wohngemeinschaft

Schneekugel: Man muss kräftig schütteln,

erzählt „Die Aufdrängung“.

damit sie schön anzusehen ist.

Die Autorin Ariane Koch war bisher vor allem als Dramatikerin in Erscheinung ­ getreten. Für „Die toten Freunde sauriermonologe)“ wurde sie gerade (Dino­ mit dem 1. Else-Lasker-Schüler-Stückepreis net. Als eine Art von übrig ausgezeich­ gebliebenem Urzeitwesen müssen wir uns

Ariane Koch: Die Aufdrängung, Suhrkamp, Berlin 2021, 179 Seiten, 14 EUR

vielleicht auch die namenlose Ich-Erzählerin

Zugleich lebt die joviale Gastgeberin in ständiger Angst vor Anrufen ihrer kinderreichen und somit platzbedürftigen Geschwister, die ihrerseits Besitzansprüche auf das ehemalige Elternhaus stellen könnten. Sie, die sich so unverrückbar eingenistet hat, ist selbst Gast mit prekärem Aufenthaltsstatus.

in Kochs ungewöhnlichem und im besten

In dieser antithetischen Schreib-

Sinne irritierendem Debütroman vorstellen.

schwankendem Erfolg versucht die Erzähle-

weise erinnert „Die Aufdrängung“ bisweilen

„Ich bin das allerälteste Fossil und hasse

rin, sich den Gast, den sie selbst ins Haus

an Tiraden bei Thomas Bernhard: Jede

diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an

geholt hat, vom Leib zu halten. Wer oder was

­Aussage hat immer auch ihre Widerlegung

ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von

dieser Gast ist, bleibt diffus. Zwar hat er ei-

im Gepäck, Wahrheit ist grundsätzlich ver-

hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue,

nen Namen („Einen recht langen sogar. Aber

dächtig. Effekt der den Roman durchziehen-

als ginge ich weg“, sagt diese menschliche

so lang, dass man ihn sich beim besten

den Widersprüchlichkeiten ist eine weitere

unmenschliche Dinosaurierin von sich. Ihre

Willen nicht einprägen kann.“), doch den ­

Frontlinie lakonisch-höflicher Distanz, die

Mitwelt erlebt sie gänzlich als Zumutung,

mitzuteilen, hält die Erzählerin für müßig.

sich zwischen Text und Leser schiebt. Kochs

ständig will jemand was. Kinder klingeln an

Selbst sprechen darf er fast nicht. Ist dieser

poetische Offenheit erscheint dabei nie als

der Tür und wollen den neuen Gast beschau-

Gast ein wildes Tier mit Fell und Klauen?

Unentschiedenheit, sie eröffnet laufend

en. Wohnungssuchende hoffen auf freiwer-

Angehöriger einer „diskriminierten Rand­

schillernde Assoziationsräume. „Die Auf-

dende Zimmer. In der „Rondellbar“, dem

ständigkeit“, ein Geflüchteter? Ein temporä-

drängung“ zu lesen, wird so zum lustvollen

einzigen Ort, den die Erzählerin abseits vom

rer Liebhaber? Ariane Koch legt nicht mehr

Spaziergang durch den Nebel, der vielleicht

eigenen Haus und dem Bahnhof der Stadt

als Fährten in jede dieser Richtungen. Als

von den Hängen des Pyramidenbergs herü-

gelegentlich aufsucht, sind ihr Personal und

ähnlich mehrdeutig entpuppt sich die Frage,

berweht. //

Gäste schnell zu viel. Doch sie weiß sich zu

wer sich hier eigentlich wem aufdrängt. „Er

wehren: „Oft ahne ich die zukünftigen Ver-

suchte offensichtlich eine Unterkunft, nur

bindungslinien der Sesshaften, die potentiel­

schien er es noch nicht zu wissen“, sagt die

len Schnittpunkte der Sekanten. Wenn einer

Erzählerin über ihren Gast – sie selbst weiß

sich mir zu nähern versucht, so gehe ich

es schon. Bedrohlich funkelt die andere

Lucien Strauch

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magazin

/ TdZ Februar 2022 /

Immer wieder noch vor Müller

im System. Dazu schweigt des Theoretikers

Form für Inhalte, die in sie eingepasst wer-

Höflichkeit/Angepasstheit ans System.

den, als Dispositiv und zugleich Subjektivie-

Im März 2019 trafen sich an der Leibniz-

Da lässt dann selbst eine noch sehr abs-

rungsinstanz. Aber auch: „Theater als das,

Universität Hannover, eingeladen von den

trakt daherkommende These aufhorchen.

was sich jeder Form verweigert, sie sprengt,

zwei universitären Gastgebern Till Nitsch-

„Heiner Müllers Theaterarbeit, vor allem aber

was die Inhalte, die ihm etwa vorausgegan-

mann und Florian Vaßen, unter dem poe-

sein Schreiben, kann als Paradebeispiel einer

gen sein mögen, vollkommen vertilgt, was

tisch verquält anmutenden Thema „Heiner

‚politischen Dramaturgie‘ begriffen werden,

sich jedem Stillstand widersetzt […].“ Meta-

Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen –

die sich als Arbeit am Gelände auf unter-

pher wälzt sich über Metapher und verdeckt,

Tod – Störung“ 28 Referenten und Ge-

schiedlichste Weise den polizeilichen Drama-

was zu sagen ist: „Dem Publikum verhält er

sprächsteilnehmer, um nachzuweisen, dass

turgien seiner Zeit widersetzte.“ Doch Niko-

sich (der Schauspieler, meine Einfügung)

und wie „Heiner Müllers Texte mit ihrem

laus ­ Müller-Schöll räumt ein, dass seine

gegenüber als Künstler, aber seinem Unter-

Geschichtsbewusstsein und ihrer Ästhetik

Behauptung wohl doch gewisser begrifflicher

nehmer gegenüber ist er produktiver Arbei-

das gesellschaftliche und politische Kon­

Klärungen bedarf. „Um sinnvoll von Müller

ter.“ (Karl Marx) Die Entfremdung der

tinuum unterbrechen“. Die rund zwei Dut-

als politischen Dramaturgen zu reden, bedarf

schauspielerischen Arbeit und die momen­

zend Beiträge, ergänzt von einem Dialog

es vorab einer etwas umfänglicheren Konkre-

tane Freiheit von ihr bestimmen die Theater-

­zwischen Thomas Irmer und B. K. Tragelehn

arbeit unter kapitalistischen Bedingungen,

und ­ einem bemerkenswerten Roundtable-

das ist der sie vorwärtstreibende dialek­ -

Gespräch, sind, dem Thema mehr oder weni-

tische Widerspruch, dessen umfassendes

ger – oder auch gar nicht, was auch kein

und alles theatrale Tun und Sein einbegrei-

Lapsus ist – verpflichtet, von sehr unterschiedlicher Reichweite und Tiefe und leider, alles in allem genommen, von geringer theatraler Praktikabilität. Die wissenschaftliche Müller-Gemeinde sprach zu sich und sich theoretisch Mut zu, an ihrer Überzeugung festzuhalten, „in ihm den Klassiker des

Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN / Grenzen – Tod – Störung, Till Nitschmann/Florian Vaßen (Hg.), transcript Verlag, Bielefeld 2021, 514 S., 45 EUR

deutschsprachigen postdramatischen Thea-

fende Wirken theoretisch analysiert und praktisch vorgetrieben werden muss, will das Theater standhalten. Statt sich mit Müller auseinanderzu­ setzen, sich mit ihm anzulegen, kritisch auf ihn zuzugehen, versetzt der Theaterwissenschaftler ihn in den Zirkel der Meisterdenker, und damit scheint alles gesagt zu sein, was

ters (zu) sehen“. (Florian Vaßen)

über Müller zu sagen ist.

Die theaterferne postmodernistische

tisierung dessen, was Dramaturgie im Allge-

Das ist der Grundgestus der meisten

Einäugigkeit gestehen die beiden Gastgeber

meinen und ganz konkret: ‚politische Drama-

Beiträge, Ausnahmen gibt es, die offenbar

unumwunden ein, wenn sie einleitend

turgie‘ meint.“ Da wandelte sich der Vortrag

allein um Bibliografisches ergänzt, aber kei-

schreiben: „Kategorien der Störung als ­

unversehens in eine universitäre Vorlesung,

neswegs unter dem Eindruck der Konferenz

­ästhetischem Prinzip, ,um die Wirklichkeit

fremde Forschungsergebnisse breit darle-

behutsam gekürzt, konzentriert verdeutlicht

unmöglich zu machen‘ (Heiner Müller) sind

gend, auf eigen Publiziertes diskret, aber aus-

oder sachlich korrigiert wurden. An Masse

Fragmentierung,

Anti­

giebig verweisend, als ob er Sorge hätte, die

gebrichts der Publikation nicht, wohl aber an

hierarchie, Ambivalenz, Dialogizität und

Zuhörenden/Lesenden hätten das alles noch

Fülle der Gedanken. „Viel kommt zu Worte,

Polyphonie ­

und

nie vernommen. Dabei kannten sich alle

nicht vieles zu seinem Recht.“ (Walter Ben-

Intertextua­lität.“ Das lax hingeworfene Para-

Beiträger hinreichend. Gespenstisch. Und ­

jamin, 1938)

doxon Müllers vom ‚unmöglich Machen der

endlich kommt Foucaults Konstrukt des Dis-

Zum ständigen Widerreden aufstachelnd

Wirklichkeit durch Theater‘ hätte geklärt

positivs ins Spiel. Müller-Schöll scheint froh,

und auffordernd zum genauer wissen wol­

werden müssen in Betracht der kommunika-

sich wieder an einen Großmeister anlehnen

lenden Nach-Fragen ist das Roundtable-­

tiven Funktion der Texte im Gebrauch durch

zu können. Wie wenige andere habe Heiner

Gespräch „Im Rücken der Ruinen von Deutsch­

Theater. Textanalysen waren in Hannover

Müller in seinem Schreiben fürs Theater wie

land“

nicht zu gewärtigen.

in allen seinen Äußerungen darüber bestän-

Walburg, Jürgen Kuttner, Alexander Eisenach

Umkehrung

sowie

und

Selbstreflexivität

mit

den

Theaterleuten

Lars-Ole

Zu genau wollte man es denn dann doch

dig das Theater als Gelände bzw. Dispositiv

und den „theaterwissenschaftlichen Zeitzeu-

nicht wissen, was den Autor umtrieb. Aber

im Sinne von Foucault und Deleuze mitreflek-

gen“ Joachim Fiebach und Frank Raddatz.

genau darum geht es, wenn der Begriff der

tiert, und mehr noch, es selbst als Antwort

Das ist lesenswert und brauchbar für die Aus-

Störung angestrengt wird! Die Störung als

auf das begriffen, was man mit Giorgio Agam-

einandersetzung mit Müllers Texten im thea­

kommunikativer Eingriff ins System ist eine

ben als „Unregierbares“ bezeichnen könnte,

tralen Spiel. In diesem Gespräch gab Thomas

sehr genau zu beschreibende Aktion: Wer

als „Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik“,

Irmer den entscheidenden Hinweis für den

stört(e) wen und wie zu welchem Zwecke,

als Kern „des irreduziblen Konflikts, der kei-

Umgang mit der Konferenz: „Müllers Be-

wer wird aufgestört, wer wird verstört, und

ne Stillstellung erlaubt“.

schäftigung

mit

dem

Landschaftsbegriff

wer setzt sich wie gegen die S ­ törung zur

Ein doppeltes Verständnis von Theater

spannt sich über mehr als vierzig Jahre, und

Wehr, und entscheidend dabei zu guter

wird hier also deutlich: Theater als Instituti-

es ist klar, dass sich der Landschaftsbegriff

Letzt: Was bewirkt die Störung nachhaltig,

on, reglementierte und reglementierende

wandelt und im Grunde keine Ordnungskate-

außer einem momentanen Defekt/Irritation

Einhegung des zu Erwartenden, als bekannte

gorie für Müllers Theater ist.“


bücher

/ TdZ Februar 2022 /

Und ich entsinne mich, dass ich bei Maja-

Theater helfen würden. Eine Antwort ist nicht

Texte verglichen und neu übersetzt hat. Dafür

kowski, einem für Müllers Ästhetik wesent­

überliefert. Wahrscheinlich, und das war

hat er auch die 2015 in Italien erschienene

lichen Dichter, in der Vorrede zur zweiten

­seine List, erwartete er sie auch nicht. Jetzt

Neuausgabe der „Versiegelten Zeit“ herange-

Fassung seines „heroischen, epischen und

sollte ihm geantwortet werden. Die Publika­

zogen, die das Andrej Tarkowski International

satirischen Abbilds unseres Weltalters in

tion verdeutlicht verdienstvoll die Notwen­

Institute nach dem Abgleich aller Textfassun-

sechs Aufzügen ‚Mysterium buffo‘“ gelesen

digkeit eines solchen Auftrags an die Nach­

gen aus dem Archiv in Florenz herausgegeben

hatte: „Der Text ist ein Weg. Der Weg der

geborenen. //

hat. Diese Fassung ist für die Ausgabe des Thomas Wieck

Revolution. Niemand kann mit Genauigkeit ­

Alexander Verlags nun noch einmal von

vorhersagen, welcherlei Gebirge wir, die die-

Yvonne Griesel kritisch durchgesehen worden

sen Weg beschreiten, noch werden sprengen

und stellt somit tatsächlich sämtliche Texte

müssen … Darum habe ich den Weg (die

in der „Fassung letzter Hand“ auf Deutsch

Form) verlassen und wiederum die Teile der

vor.

Landschaft (den Inhalt) verändert.“ Und wohin drängt heute der Wille von Millionen? Im Dezember 1989 postulierte

Eine Neuausgabe von Andrej Tarkowskis Essays

Müller: „Entscheidend ist, dass endlich die Sprachlosen sprechen und die Steine reden.“

„Ein Mensch, der seine Erinnerung, sein Ge-

Diese Forderung ist nun tatsächlich unhinter-

dächtnis verloren hat, ist in einer illusori-

gehbar.

schen Existenz gefangen“, schrieb Andrej

Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films. Autorisierte Neuausgabe, Alexander Verlag, Berlin 2021, 320 S. mit Abbildungen, 35 Euro

Die postmodernistische Inanspruchnahme

Tarkowski in seinem Essay „Die versiegelte

und Einfriedung der Müllerʼschen Texte sollte

Zeit“ und fuhr fort: „Er fällt aus der Zeit her-

einmal, probehalber, wennʼs geht, ad acta ge-

aus und verliert damit die Fähigkeit zu einer

legt werden. Die Dramaturgie der Texte, ihre

eigenen Bindung an die sichtbare Welt.“ Tar-

Theatralität verlangt nach historischer Würdi-

kowskis Reflexionen über seine Arbeit als

gung und ästhetischer Kritik. Ihr Entstehen

Regisseur aus den Jahren 1962 bis 1986 ­

unter bestimmten Bedingungen ist zu ver­

haben bis heute nichts von ihrer Brisanz ver-

stehen und ihr Widerstehen gegen eben diese

loren. In einer Zeit, in der Politik, Wissen-

Und was haben die heute noch fürs Theater

Bedingungen in den Werken selbst als poeti-

schaft und Wirtschaft mit digitalem Hoch-

zu bedeuten? Tarkowski selber hat nur ein

sche Substanz zu entdecken. Deshalb ist es

druck an der Auslöschung von Erinnerung

einziges Mal als Schauspielregisseur gearbei-

notwendig zu sprechen über die Arbeit der

arbeiten, lesen sich Tarkowskis Texte zur

tet, als er 1977 am Moskauer Komsomol-

Theaterkünstler:innen in Ost und West seit

Ästhetik und Poetik seiner Filme wie ein ­

Theater „Hamlet“ mit Anatoli Solonizyn in

1945 und über deutsche Geschichten und

­Organon des Widerstands gegen das organi-

der Titelrolle inszenierte. Dennoch gehört das

Geschichte in dieser Zeit und in diesem, bit-

sierte Vergessen. Nur durch das individuelle

Kapitel über seine Erfahrungen der Unter-

teschön, verminten Theater-Gelände. Die Zeit

Erinnern, das sich nicht den Maßgaben einer

schiede bei der Regiearbeit mit Film- und

ist gekommen, denn die Tage in Hannover

staatlich

„Erinnerungskultur“

Theaterschauspielern zu den aufschluss-

endeten so, wie die erste große Müller-Kon­

unterwirft, können sich die Menschen ihrer

reichsten des Bandes. Aber wie er im Schluss-

ferenz 1988 in West-Berlin. Damals fragte

Herkunft und ihrer Verantwortung für die Zu-

wort des Buches bezeugte, ging es ihm mit

Müller freundlich-listig am Ende die Runde

kunft vergewissern. Darauf insistiert Tarkows-

diesen Reflexionen vor allem darum, die

der sich verausgabenden Theoretiker, ob

ki in den Texten dieses Bandes immer wieder.

Grenzen der Genres hinter sich zu lassen und

denn ihre „bodenlosen Interpretationen“ dem

Von „Iwans Kindheit“ bis zu „Opfer“ hat

Fragen zu stellen, die für jeden Künstler rele-

der russische Regisseur in den „quälend lan-

vant sein sollten. „Wenn dem Menschen die

gen Pausen“ zwischen seinen Filmen über

innere Verantwortung für die Zukunft der Ge-

die Voraussetzungen ihrer Entstehung nach-

sellschaft fehlt und er sich berechtigt wähnt,

gedacht, aber auch über seine fortgesetzte

über andere zu verfügen, deren Schicksal sei-

„Suche nach einem umfassenden, unabhän-

nem Verständnis von ihrer Rolle innerhalb der

gigen Selbst“. Noch während der Arbeit an

gesellschaftlichen Entwicklung unterzuord-

einem Drehbuch über E.T.A. Hoffmanns letz-

nen, dann spitzt sich das Zerwürfnis zwischen

te Tage hat er bis zu seinem eigenen Tod

Individuum und Gesellschaft immer mehr

1986 diese Reflexionen fortgeführt. Aber was

zu.“ Was das für Folgen hat, haben wir in den

steckt nun hinter der Verlagsankündigung ei-

letzten Jahren häufiger auf den Straßen als

ner „Autorisierten Neuausgabe“ von 2021?

auf den Bühnen Europas gesehen. Der poeti-

Stay at home and read a book! w w w. m e r l i n - v e r l a g . c o m

MERLIN VERLAG

verordneten

Zunächst einmal die aufwendige Arbeit

sche Realismus Tarkowskis, der das Wesen

des Filmwissenschaftlers und Übersetzers

der Wirklichkeit in den Details des scheinbar

21397 Gifkendorf 38

Hans-Joachim Schlegel, der die von Tarkows-

Alltäglichen aufleuchten lässt, könnte auch

Tel. 04137 - 810529

ki bis 1986 immer wieder überarbeiteten und

dem Theater neue Spielräume öffnen. //

info@merlin-verlag.de

in verschiedenen Ausgaben veröffentlichten

Holger Teschke

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aktuell

/ 76 /

/ TdZ Februar 2022 /

Meldungen Jan Philipp Gloger. Foto Konrad Fersterer

■ Christian Holtzhauer, Schauspielintendant

■ Olaf Striebs Vertrag als Intendant der Lan-

am Nationaltheater Mannheim und Künstleri-

desbühne Niedersachsen Nord in Wilhelms­

scher Leiter der Schillertage, verlängert sei-

haven wurde um weitere fünf Jahre verlän-

nen Vertrag um weitere fünf Jahre. Holz-

gert. Damit wird Strieb bis 2028 für die

hauers aktueller Vertrag ist bis zum 31.

künstlerische Gestaltung des Spielplans so-

August 2023 befristet. Christian Holtzhauer,

wie für die Geschäftsführung der Gesellschaft

1974 in Leipzig geboren, studierte Musik-

verantwortlich zeichnen. Strieb leitet die Lan-

und Theaterwissenschaften in Berlin und To-

desbühne Niedersachsen Nord seit der Spiel-

ronto. Danach arbeitete er unter anderem als

zeit 2013/2014. Zuvor arbeitete er bundes-

künstlerischer Leiter der Sophiensäle, als

weit als freier Regisseur an unterschiedlichen

Dramaturg am Staatstheater Stuttgart und als

Theatern.

Künstlerischer Leiter des Kunstfests Weimar.

■ Ab Sommer 2023 wird René Heinersdorff ■ Ursula Thinnes, seit der Spielzeit 2020/21

die Intendanz der Landesbühne Rheinland-

Schauspieldirektorin am Staatstheater Braun-

Pfalz übernehmen. Lajos Wenzel, der bishe-

schweig, ist als neues Mitglied in die

rige Intendant, wechselt ab Sommer 2023

Deutsche ­

Darstellenden

von Neuwied an das Theater Trier. Heiners-

Künste aufgenommen worden. Ziel des

dorff, 1963 in Düsseldorf geboren, studierte

gemeinnützigen Vereins mit Sitz in Bens-

Schauspiel und Regie bei Harald Leipnitz.

■ Jan Philipp Gloger bleibt bis 2028 Schau-

heim ist, durch ­ Diskussionen, Stellung­

1994 gründete Heinersdorff das Boulevard-

spieldirektor in Nürnberg. Unter Glogers Lei-

nahmen und Veranstaltungen zu aktuellen

theater Theater an der Kö. Bekannt wurde

tung hatten diverse bekannte Regisseur:innen,

Themen und Entwicklungen Zeichen und

er aber in seiner Rolle als Lothar Fuchs in

wie Anne Lenk, Armin Petras oder René

Maßstäbe für das kulturelle Leben zu setzen.

„Die Camper“ auf RTL.

Pollesch, in Nürnberg gastiert. Außerdem ­

Ursula Thinnes hat in München unter an­

wurden diverse Produktionen zu Festivals,

derem Theater­ wissenschaft studiert. Sie

■ Der Aufsichtsrat der Landestheater Det-

wie den Mülheimer Theatertagen, dem Hei-

war Chefdramaturgin am Theater Konstanz

mold GmbH hat den Vertrag von Intendant

delberger Stückemarkt, den Autorentheater-

und am Saar­ län­ dischen Staatstheater in

Georg Heckel um fünf Jahre verlängert. H ­ eckel

tagen Berlin und Radikal Jung in München,

Saarbrücken.

hatte zur Spielzeit 2018/19 die Intendanz

Akademie

der

am Landestheater Detmold übernommen. Er

eingeladen. Gloger, Jahrgang 1981, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen

■ Tilman Gersch, Intendant des Theaters im

hatte in seiner bisherigen Zeit den Schwer-

und Regie an der Zürcher Hochschule der

Pfalzbau Ludwigshafen, wird nach Ablauf sei-

punkt Musiktheater gestärkt und ein Junges

Künste. Zwischen 2011 und 2013 war Gloger

nes befristeten Vertrags ab 1. August 2022

Musiktheater etabliert.

leitender Regisseur am Staatstheater Mainz

in ein unbefristetes Dienstverhältnis bei der

und inszenierte Schauspiel in Hamburg,

Stadt Ludwigshafen übernommen. Tilman

■ Der Dr. Otto Kasten-Preis zeichnet für 2021

­Berlin und Düsseldorf sowie Oper in Zürich,

Gersch leitet das Theater im Pfalzbau seit

fünf im Lockdown entstandene Pro­ jekte

Amsterdam und Bayreuth.

2015. Vorher arbeitete er als freier Regis-

­„herausragender jüngerer Theaterschaffender

seur an verschiedenen hochrangigen Thea-

aus“. Darunter befinden sich vier digitale

■ Oda Zuschneid wurde als neue Leiterin des

terhäusern in Deutschland. Von 2007 bis

Arbeiten sowie ein analog-poetischer Aus­

Jungen Theaters am Theater Regensburg vor-

2014 war er Hausregisseur und Mitglied der

tausch zwischen künstlerischem Team und

gestellt. Ab September 2022 soll die Sparte

Schauspielleitung am Hessischen Staats­

Publikum. Zu den Ausgezeichneten gehören

durch sie auch inhaltlich mit dem Bereich

theater Wiesbaden.

in diesem Jahr die Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra, Regisseurin

Community Theater eine breitere Ausrichtung

Franziska Angerer, die Performance-Gruppe

erhalten. Zuschneid wurde 1981 in Berlin ge-

■ Christoph Nix, künstlerischer Leiter der

boren, studierte Schauspiel an der Folkwang

­Tiroler Volksschauspiele Telfs, wird seinen Ver-

pulk fiktion, die Performerin Jana ­­Zöll sowie

Universität in Essen sowie Angewandte Thea-

trag auf eigenen Wunsch und einvernehmlich

die Online-Inszenierung „Wir sind noch

terwissenschaft in Gießen. Seit 2018 führt

früher als geplant auflösen. Eigentlich sollte

einmal davongekommen“ des Studiengangs ­

sie zudem Regie.

sein Vertrag vier Jahre bis einschließlich

Schauspiel der Theaterakademie August Ever-

2024 laufen, nun wird er bereits mit Ende

ding. Der Förderpreis, der seit 1985 von der

■ Die Staatsanwaltschaft hat gegen das

der Spielzeit 2022 gehen. Die Neubesetzung

Intendant*innengruppe im Deutschen Büh-

Staatstheater Darmstadt Ermittlungen wegen

für die Position der künstlerischen Intendanz

nenverein im Zweijahresrhythmus an Künst­

Subventionsbetrugs

Demnach

soll nach einer entsprechenden Ausschrei-

ler:in­nen aller Sparten vergeben wird, ist mit

habe das Theater in mehr als 250 Fällen wi-

bung „rasch erfolgen, um weiterhin Pla-

insgesamt 10.000 Euro dotiert. Über die

derrechtlich Kurzarbeitergeld wegen Corona

nungssicherheit und das hohe künstlerische

Preisträger:innen wird auf Basis von Vor­

beantragt. Hintergrund seien umfangreiche

Niveau des größten Tiroler Sommertheater­

schlägen aus dem Kreis der Inten­ dant:in­

Umbauarbeiten, die sich verzögert hatten.

festivals in Telfs garantieren zu können“,

nengruppe in Zusammenarbeit vom Präsi­

Bislang bestreitet das Theater den Vorwurf.

heißt es in der Pressemitteilung.

denten der Dr. Otto Kasten-Preis-Stiftung

eingeleitet.


aktuell

Dr. Carsten Brosda mit dem Vorstand der

■ Die Schauspielerin Heidemarie Theobald ist

Inten­ dant:in­ nengruppe im Deutschen Büh-

tot. Theobald wurde 1938 in Berlin geboren

nenverein entschieden.

und studierte an der Max-Reinhardt-Schule für Schauspiel. Ihr erstes Engagement führte

■ Die Schauspielerin Vera Irrgang ist tot.

sie ans Theater Bremen, ab 1959 war sie ein

Irrgang war über vierzig Jahre am Staats­

prägendes Ensemble-Mitglied der Staatlichen

schauspiel Dresden engagiert gewesen. Ge-

Schauspielbühnen Berlins. Hier war Theobald

boren 1946, studierte sie an der Staatlichen

unter anderem als Viola in „Was ihr wollt“ in

Schauspielschule Berlin und war von 1970

der Regie von Fritz Kortner oder als Honey in

bis 2011 im Ensemble des Staatsschau-

„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (Regie:

spiels Dresden. Hier wirkte sie in zahl­ -

Boleslaw Barlog) zu sehen.

reichen Inszenierungen mit. Zuletzt war sie 2012 in Michail Bulgakows „Der Meister

■ Der Regisseur Tibor Torell ist tot. Torell,

und Margarita“ in der Regie von Wolfgang

1971 in Tschechien geboren, war bis 2010

Engel zu sehen.

als Regieassistent und Spielleiter am Theater Aachen. Seit 2018 arbeitete er regelmäßig

■ Der Dresdner Regisseur Johannes Matz ist

am Landestheater Coburg. Hier inszenierte er

Lauterkeit, seinem theaterhistorischen En­ ­

am 1. Januar, kurz vor seinem 93. Geburts-

unter anderem Gioachino Rossinis „La Cene-

thu­ siasmus und seinem nie an die Öffent­

tag, verstorben. Geboren 1929 in Magdeburg,

rentola“ oder zuletzt den Ravel-Doppelabend

lichkeit drängenden Ethos die Gesellschaft

arbeitete er seit 1965 als Regisseur an der

„Die spanische Stunde / Das Kind und der

haltig“, schreibt Stephan Dörschel auf nach­

Sächsischen Staatsoper, von 1990 bis 1991

Zauberspuk“.

der Website der Gesellschaft für Theater­ge­ schichte e. V., welcher Schirmer bis 2014

war er dort auch amtierender Intendant und

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Lothar Schirmer. Foto Friedhelm Hoffmann

/ TdZ Februar 2022 /

anschließend bis 1999 künstlerischer Be-

■ Der langjährige Leiter der theaterhisto­

vorstand. Zu den wichtigsten Publikationen

triebsdirektor. Darüber hinaus lehrte er von

rischen Sammlungen des Berliner Stadt­

Lothar Schirmers gehören die als Standard-

1980 bis 1989 an der Dresdner Hochschule

museums, Lothar Schirmer, ist verstorben.

werk geltenden vier Bände „Theater in Berlin

für Musik.

„Er prägte mit seiner wissenschaftlichen

nach 1945“.


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aktuell

/ TdZ Februar 2022 /

Premieren

Februar 2022

Aalen Theater der Stadt E. Rottmann:

Paderborn Westfälische Kammerspiele

MASTERSTUDIUM

Paul* (W. Tobias, 10.02.); Peter, Du und

G. Büchner: Woyzeck (S. Martin, 12.02.)

APPLIED THEATRE

Ich! (R. Haupt, 25.02.)

Altenburg Theater Altenburg-Gera GmbH

künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft

M. McDonagh: Der Krüppel von Inishmaan (M. Kressin, 04.02.)

Ansbach Theater K. Fuchs: Heimatkleid (R. Arnold, 18.02.); S. Steiner: Du blöde

Baden-Baden Theater Ein Tag aus den

ter Sophokles: Antigone (F. Voigtmann, 19.02.)

Plauen Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf (J. Jochymski, 11.02.)

Potsdam Hans Otto Theater H. v. Kleist:

Weitere Informationen unter http://schauspiel.moz.ac.at

Finsternis! (A. Krauße, 19.02., DEA)

Parchim Mecklenburgisches Staatsthea-

Michael Kohlhaas (C. Mehler, 04.02.); Michael Kohlhaas (04.02.)

Fugen (I. Dachsteiner/A. Deborde, 05.02.,

Regensburg Theater B. Brecht/K. Weill:

UA); C. Emcke: Ja heißt ja und... (S.

Die Dreigroschenoper (K. Kusenberg,

Bewerbungen bis 30. März 2022

Frieling, 25.02.)

Berlin Berliner Ensemble J. Kempf: Nie

19.02.)

Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­

wieder Tipico (03.02.); S. V. Frick/L.

destheater

Epply/A. Kulbatzki: Möwe (S. V. Frick,

Chatten: Mein todsicherer Plan fürs Leben

und

Sinfonieorchester K.

04.02., UA) Deutsches Theater Hier wird

(K. Chatten, 09.02.); P. Schanz: Fisch­ brötchenblues (P. Schanz, 12.02., UA)

kein Titel stehen (S. Kurze, 19.02., UA) Theater im Delphi F. Witzel/g. i.: ro-

Esslingen Württembergische Landes-

Kaiserslautern Pfalztheater J. v. Düffel/­

Reutlingen Die Tonne Y. Reza: Gott des

bot opera R.U.R. - ROSSUMS UNIVER-

bühne D. Wnendt: Kriegerin (J. Nordalm,

n. H. Böll: Die verlorene Ehre der Katharina

Gemetzels (K. Eppler, 17.02.)

SAL ROBOTS (g. i., 20.02.) Volksbühne S.

05.02.); J. Räber: gehen oder Der zweite

Blum (Y. Kespohl, 05.02.)

Schwerin Mecklenburgisches Staats­

Kennedy/M. Selg: Jessica – an Incarna­

April (H. Becker, 11.02.)

Kassel Staatstheater H. C. Andersen:

theater John Cameron Mitchell u. Stephen

tion (S. Kennedy, 24.02., UA)

Frankfurt am Main Künstlerhaus Mou-

Fliegen lernen (H. Horwitz, 19.02.)

Trask: Hedwig and the angry Inch (T.

Bielefeld Theater N. Segal: Nachts (be-

sonturm Genneralpause (Matter o. Facts

Heep, 11.02.); T. Mann: Der zauberberg

vor die Sonne aufgeht) (C. Gegenbauer,

Studio, 17.02., UA); Albania: Die Kollekti-

Kiel Theater A. Scheffel: Jugend (26.02.) Klagenfurt Stadttheater W. Shakes-

04.02.); I. McArthur/n. J. Austen: Stolz

on

peare: Was ihr wollt (G. Schmiedleitner,

Stuttgart Schauspielbühnen J. Murray-

und Vorurteil *oder so (D. Yazdkhasti,

Grief&Beauty (M. Rau, 24.02.) Schau-

24.02.)

Smith: Nur drei Worte (F. Braband, 04.02.)

11.02.); J. Safran Foer: Extrem laut und

spiel A. Eisenach: Der große Kunstraub

Konstanz Theater T. Veldkamp: Roadtrip

Tübingen Landestheater

unglaublich nah (C. Drexel, 12.02.)

(DGKR) (A. Eisenach, 05.02.)

mit Lasergirl und Beyoncé (F. Autzen,

Magical Mystery (D. Günther, 04.02.); S.

(Mobile

Albania,

18.02.,

UA);

(S. Hawemann, 18.02.)

S. Regener:

Bochum Schauspielhaus J. Lagarce: Ein-

Graz Schauspielhaus F. v. Schirach: Gott

12.02., UA); H. Böll: Katharina Blum

Regener: Magical Mystery (D. Günther,

fach das Ende der Welt (C. Rüping,

(B. Mottl, 04.02.)

oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie

04.02.); G. Büchner: Woyzeck (C. Pohle,

03.02.); T. Kindermann/S. Kara: Mit ande-

Halle Neues Theater G. Hauptmann: Der

führen kann (F. Autzen, 18.02.)

11.02.); G. Büchner: Woyzeck (C. Pohle,

ren Augen (S. Kara, 12.02., UA); Monster

Biberpelz (U. Arnold, 26.02.) Thalia

Landshut kleines theater N. Payne: Kon-

11.02.); H. Müller: Quartett (B. M. Mayer,

Truck: Das Narrenschiff (S. Rahimi,

Thea­ter J. Spyri: Heidi (S. Beer, 10.02.)

stellationen (M. Eberth, 04.02.); I. Lau-

12.02.); M. Höring: Im Thurm (T. Weck-

15.02.); A. d. Musset/G. Sand: Lorenzac-

Hamburg Thalia Theater Um alles in der

sund: Bis nebenan (O. Seidel/C. Mark,

herlin, 25.02.)

cio (N. Schlocker, 25.02.)

Welt – Lessingtage 2022 (20.01.); N. Ha-

12.02.) Landestheater Niederbayern A.

Wien Kosmos Theater C. Jeß: Knechte

Bremerhaven Stadttheater D. King: Fox-

ratischwili: Das mangelnde Licht (J. Ste-

Akhtar: Die unsichtbare Hand (H. O. Kar-

(E. T. Borchers, 15.02.)

finder (A. F. Huber, 12.02.); I. Busch-

ckel, 16.02.); A. Tschechow: Wanja in der

bus, 04.02.); M. Camoletti: Das (perfekte)

Wilhelmshaven Landesbühne Nieder-

mann: Outfit of the Day (I. Buschmann,

Gaußstraße (H. Savaş Mican, 25.02.)

Desaster Dinner (V. Wolff, 18.02.)

sachsen Nord H. Ibsen: Gespenster. Ein

18.02., UA); H. Ashman/A. Menken: Der

Hannover Schauspiel T. Henning: Hap-

Magdeburg Puppentheater A. Tucker-

Familiendrama in drei Akten (J. Strauch,

kleine Horrorladen (J. Steinberg, 19.02.)

pyland is burning (T. Henning, 12.02.); n.

mann: Der Mann, der eine Blume sein

26.02.)

Chemnitz Theater J. W. v. Goethe: Die

Euripides/A. Carson: Bitch, I’m a goddess

wollte (L. Schubert, 26.02.)

Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater

Leiden des jungen Werther (J. Kerbel,

(G. Weizmann, 18.02.); A. Weber: Annet-

Memmingen Landestheater H. Zufall:

F. Arnold / E.Bach: Die spanische Fliege

26.02.)

te, ein Heldinnenepos (L. Sykes, 26.02.)

Als die Bohne Achterbahn fuhr (J. D.

(26.02.) (G. Vierhuff, 26.02.)

Cottbus Staatstheater F. S. Fitzgerald:

Heidelberg Theater und Orchester W.

Heße, 05.02.)

Der große Gatsby (P. Rosendahl, 15.02.)

Borchert: Draußen vor der Tür (M. Loibl,

Mönchengladbach Theater S. Beckett:

FESTIVAL

Dessau Anhaltisches Theater O. Preuß-

17.02.); L. Voigt: Villa Abendsonne (L.

Endspiel (M. Gehrt, 05.02.); S. Beckett:

Reutlingen Die Tonne Monospektakel

ler: Die kleine Hexe (J. Schlachter, 06.02.)

Voigt, 18.02.); A. Tschechow: Tschechows

Das letzte Band (M. Gehrt, 25.02.)

(29.01.–06.02.)

Dinslaken Burghofbühne L. Wentz:

Kirschgarten (M. Peschel, 25.02.)

München Kammerspiele H. v. Kleist: Der

Aschewolken (F. v. Boeckel, 18.02.)

Ingolstadt Stadttheater E. Cordes: Max

Sandmann (M. Štorman, 04.02.); n. J.

Dortmund Theater A. Siegrot: Silber Tripel

und Moritz (E. Cordes, 04.02., UA); E. Io-

Logan/n. B. Yorkey/L. Campbell: The Last

oder Mathildes Tauchgang in die Welt der

nesco: Die Nashörner (C. Peymann,

Ship (M. C. Lachmann, 11.02.) Residenz-

Zahlen (J. Weißert, 25.02., UA); A. Prust:

25.02.)

theater F. X. Kroetz: Der Drang (L. Steiner,

Und Ihr wolltet tanzen, also: tanzt! (A.

Innsbruck Tiroler Landestheater R. Wie-

11.02.)

Prust, 26.02., UA)

ne: Das Cabinet des Doktor Caligari (J.

Naumburg Theater P. Brasch: Die gol­

Dresden Theater Junge Generation n. M.

Reitmeier, 05.02., ÖEA); K. Šagor: Ich lieb

dene Gans (C. Becker, 19.02.); M. Heck-

Ende/V. Huber: Momo (K. Brankatschk,

dich (A. Mair, 09.02.)

manns: Finnisch (B. Schöne, 25.02.)

05.02.)

Jena Theaterhaus J. Versteele/L. Tim-

Oldenburg Staatstheater A. Steinhöfel/F.

Eisenach Landestheater T. Storm: Der

mers: Musik – Etappen einer Skandal­

Loewe: Rico, Oskar und die Tieferschatten

Schimmelreiter (J. v. Kan, 16.02.)

geschichte (L. Timmers, 16.02.)

(P. Hailer, 27.02.)

Angaben ohne Gewähr. Theaterspielpläne und Premierendaten können sich aktuell kurzfristig ändern. Premierendaten bitte bis zum 5. des Vormonats an redaktion@tdz.de.

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de


AUTORINNEN UND AUTOREN Februar 2022 Holk Freytag, Regisseur und Dramaturg, Bad Hersfeld Herbert Fritsch, Schauspieler und Regisseur, Berlin Leander Haußmann, Film- und Theaterregisseur, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Michael Helbing, Kritiker und Redakteur, Weimar Sarah Heppekausen, Theaterkritikerin, Bochum Renate Klett, Theaterkritikerin, Berlin Marko Kloss, Theaterwissenschaftler, Berlin Tom Mustroph, freier Autor und Journalist, Berlin Wolfgang Schneider, Prof. em., Hildesheim Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Wilfried Schulz, Intendant, Düsseldorf Jan Speckenbach, Filmregisseur und Videokünstler, Berlin Lucien Strauch, Dramaturg, Berlin Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Lothar Trolle, Dramatiker, Berlin Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin Isa Wortelkamp, Theaterwissenschaftlerin, Leipzig Erik Zielke, Theaterredakteur, Berlin

impressum/vorschau

Vorschau

IMPRESSUM Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier Mitarbeit Lina Wölfel (Assistenz), Sybill Schulte (Korrektur) Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Gestaltung Gudrun Hommers Verlag und Redaktion Theater der Zeit GmbH, Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-17 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 redaktion@tdz.de / www.theaterderzeit.de Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Die Lausitz, eine besondere Landschaft der Kultur, erstreckt sich über Brandenburg und Sachsen mit mehreren Theaterstädten und wird in der kommenden Ausgabe zum Schwerpunkt diverser Erörterungen zusammen mit einem Doppelporträt von Susann und Lucie Thiede am Staatstheater Cottbus. In diesem Zusammenhang steht auch der Stückabdruck von Lars Werners „Feinstoff. Vier Versuche mit Seide“ u. a. darüber, warum Friedrich II. einst Maulbeerbäume in Cottbus anpflanzen ließ und wie die Lausitz der Zukunft im Klimawandel aussehen könnte.

Anzeigen Harald Müller, +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Lizenzen lizenzen@tdz.de Bildbearbeitung Holger Herschel Druck PIEREG Druckcenter Berlin, Benzstraße 12, D-12277 Berlin 77. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2022. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.01.2022 © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit, © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. © Fotos: Fotografinnen und Fotografen

Außerdem: Friedrich Dieckmann analysiert den „Ring des Nibelungen“, den der norwegische Regisseur Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin inszeniert hat. Der Essayist und ­Wagner-Spezialist kündigt seine Betrachtungen unter dem Titel „Wandertheater der Ratlosigkeit“ an.

LESERSERVICE Bestellung abo-vertrieb@tdz.de / +49 (0) 30.44 35 28 5-12 Einzelverkaufspreis € 9,50 (Print) / € 8,50 (Digital) Jahresabonnement € 95,– (Print) / € 84,– (Digital) / € 105,00 (Digital + Print) 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch 20 % Rabatt für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Preise gültig innerhalb Deutschlands und inkl. Porto und Versand. Lieferungen außerhalb Deutschlands zzgl. € 25,-

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„Feinstoff. Vier Versuche mit Seide“ von Lars Werner, Staatstheater Cottbus, Szenenfoto mit (v.l.n.r.): Johannes Scheidweiler, Thomas Harms, Sophie Bock und Susann Thiede. Foto Marlies Kross

/ TdZ Februar 2022 /

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2022.


Was macht das Theater, Lutz Hillmann? Lutz Hillmann, Sachsen hat als einziges

ren Städten, wo auch protestiert wird.

Bundesland in der publikumsträchtigen

Aber es hat sich eine mediale Anzie-

Vorweihnachtszeit und dann bis Mitte

hungskraft wegen eines bestimmten

Januar alle Theater geschlossen und ist

Rufs der Stadt entwickelt, die wieder-

damit im Bundesvergleich einen Sonder-

um dazu geführt hat, dass diese Protes-

weg gegangen. War der sinnvoll?

te hier stattfinden und besondere Auf-

Ab 22. November gab es den so­

merksamkeit erhalten. Ich kann aber

genannten Wellenbrecher mit einem

nicht leugnen, dass sich damit wieder

Kulturlockdown, der die Theater und

der Ungeist zeigt, der sich schon 2015

Orchester betraf. Die Krankenhäuser

gegen Geflüchtete richtete, der braune

waren voll, die Zahlen hoch, die

Schattierungen hat und offensichtlich

Impfquote niedrig, und deshalb gab es

in Bautzen wohnt.

ein großes Verständnis dafür, dass Der Kulturlockdown der Weihnachtszeit

­etwas getan werden musste im Land.

dürfte auch die fehlenden Einnahmen Nun ist es doch so, dass die Theater

­verschärft haben. Wie schätzen Sie die

alles getan haben für einen sicheren ­

ökonomischen Folgen ein?

Vorstellungsbetrieb und das Kulturpubli-

Viele Theater, auch wir in Bautzen, ha-

kum gehört wahrscheinlich in der Mehr-

ben versucht, das über Kurzarbeit ab­

heit auch nicht zu den aktiven Gegnern

zufangen, was für diese Situation aber

der Corona-Maßnahmen. Werden mit

nicht gut funktioniert hat und sehr

solchen harten Einschränkungen nicht

schwierig ist. Denn der Betrieb kann

die Falschen getroffen?

nicht komplett runtergefahren werden,

Das stimmt, es gibt kein nachweis­

wenn man weiß, dass man kurzfristig

liches Infektionsgeschehen bei Kultur-

wieder öffnen wird, wie jetzt seit dem 14. Januar. Gerade erfahren wir von ei-

veranstaltungen, insbesondere nicht im Theater. Gutachten und empirische Studien haben das belegt. Solche Räume sind fast so sicher wie im Freiluftbereich. Deshalb war das schon schwer zu verkraften. Und es war ja auch nicht zu erwarten, dass sich das Infektionsgeschehen dadurch verän-

Lutz Hillmann, geboren 1959 in Bischofswerda, ist Schauspieler und Regisseur. Seit 1999 Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen ist ­Hillmann auch Vorsitzender des Landesverbands Sachsen im Deutschen Bühnenverein. Die Theater in Sachsen waren vom 22. November bis zum 14. Januar geschlossen. Foto Wolfgang Wittchen

nem Hilfsfonds für Kultur in Sachsen in Höhe von 30 Millionen Euro. Das wird hoffentlich

diese

Minderauslastung

­etwas ausgleichen können. Wenn die Theater jetzt ins dritte Jahr mit der Pandemie gehen, welche Schluss­

dert. Das wurde durchaus als Symbol-

folgerungen für den Spielbetrieb zeichnen

politik der Landesregierung am Modell

sich da mittelfristig ab?

der Kultur gewertet. Die Regierung

Ich denke, wir haben alle noch gar

befand sich in der Zwickmühle, wenn die

chen mit der Landesregierung auch immer

nicht realisiert, was das insgesamt für Konse-

Theater weiterspielen, dass dann andere

wieder sagen, dass die Theater ja eigentlich

quenzen haben wird. Die Theater hier in

­sagen könnten, warum dürfen wir nicht offen-

die Verbündeten sind. Nicht nur bei der

Sachsen sind in dieser Spielzeit immer wie-

bleiben. Das ist ja eines der grundsätzlichen

Umsetzung von Maßnahmen und Hygiene­ ­

der mit neuen Problemlagen des Tages be-

Probleme, dass man in dieser Situation so

konzepten, sondern auch inhaltlich in einer

schäftigt gewesen, die einen größeren Weit-

aufeinander guckt. Wenn man es sachlich be-

Situation, da sich einige Leute von der Demo-

blick kaum erlauben. Eine Sache zeichnet

trachtet, bringt die Schließung der Theater

kratie verabschieden und offen zum Umsturz

sich aber schon klar ab: das Publikumsverhal-

und Konzertveranstaltungen nichts.

aufrufen. Künstlerische Angebote, die auf

ten. Abo-Strukturen, die es hier noch verbrei-

diese Situation eingehen, sind da wichtig,

tet gibt, müssen überdacht werden, und viele,

aber sie müssen auch erlebt werden können.

die schon zu lange im Heimkino auf der

Sie sind Intendant in Bautzen und dazu auch der Landesverbandsvorsitzende des Deutschen Büh-

Couch sitzen, zurückgewonnen werden. Auch

nenvereins in Sachsen. Wie lange wird sich

Vor der Haustür Ihres Theaters waren die Aus­

ältere Menschen, die ja die Basis für Abonne-

denn aus dieser Perspektive das geduldige Ver-

einandersetzungen im Januar besonders heftig.

ments bilden, werden mit solchen Angeboten

ständnis für solche Maßnahmen bei den Kultur-

Warum gerade in Bautzen?

anders umgehen. Das sind Auswirkungen, die

veranstaltern noch erhalten können?

Bautzen ist die Hauptstadt der Oberlausitz,

wir noch gar nicht alle richtig kennen. Aber

Das erodiert jetzt langsam. Bei Einführung

und vieles spielt sich hier wie unter einem

wir müssen uns darauf einstellen. Auch mit

der Maßnahmen im November war die Zu-

Brennglas ab mit verschiedenen Einflüssen

den Spielplänen. Es ist eine Zäsur. Wir

stimmung groß und weit verbreitet. Das ist

aus der gesamten Region. In Wirklichkeit ist

werden uns nach der Pandemie neu erfinden

jetzt nicht mehr so. Wir müssen in Gesprä-

das aber gar nicht so viel anders als in ande-

müssen. //

Die Fragen stellte Thomas Irmer


Schauspiel Großes Haus

ab 22. Jan. 2022

Eine Diebskomödie von Gerhart Hauptmann in einer Bearbeitung von Armin Petras

Regie Armin Petras Bühne Alexander Wolf Kostüme Cinzia Fossati Musik Philipp Weber

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Fotos: Holger Herschel

Einar & Bert Theaterbuchhandlung Winsstraße 72 / Heinrich-Roller-Str. 21 / D-10405 Berlin Öffnungszeiten Mo – Fr 12.30 Uhr – 18.30 Uhr / Sa 11.00 – 18.00 Uhr Veranstaltungstipp Vernissage: ANNA HALPRIN. 100 Jahre für den Tanz Videoarbeiten von Jens Wazel Do. 03. März, 19:00 Uhr bei Einar & Bert Unsere Onlineshops Theaterbücher: www.stagebooks.shop Allgemeines Sortiment: http://t1p.de/eundb Antiquariat: www.booklooker.de/stagebooks/Bücher/Angebote/ Danke, dass Sie in einer unabhängigen Buchhandlung einkaufen!


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