TdZ 2/2024 – Iberoamerikanisches Theater

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Theater der Zeit Mit

Alireza Daryanavard Jürgen Flimm Dmitrij Gawrisch Ariane Koch Fine Kwiatkowski Mai-An Nguyen Kathrin Röggla István Szabó

Februar 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Stück Labor Schweiz

¡Adelante! Theater aus Iberoamerika


Displayed Words Ingeborg Bachmann Angélica Freitas Hassan Khan Otis Mensah Rafael Moreno Nazanin Noori Nhã Thuyên Kinga Tóth Rathaus Berlin-Tiergarten Dezember 2023 – April 2024 displayedwords.org


Foto Annemone Taake

Theater der Zeit Editorial

„Garten der Lüste“ von Fiston Mwanza Mujila in der Regie von Antigone Akgün am Theater Aachen

Wir starten eine neue Serie: „Post-Ost“. Mit essayistischen Beiträgen von jüngeren Theatermacher:innen und Autor:innen, die ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen und Vorstellungen beschreiben, bevor im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen anstehen. „Post-Ost“ ist ein sehr verschieden verwendeter Begriff mit einer aber doch erkennbaren Zusammenhangsgröße: Zum einen bezieht er sich auf nach 1990 in Ostdeutschland Sozialisierte, zum anderen bezeichnet er, wesentlich erweitert, junge Menschen, die aus ost- und südosteuropäischen Ländern stammen und meist als Kinder in den deutschsprachigen Raum kamen, mit oft oberflächlichen Zuschreibungen für ihre jeweilige Herkunft und entsprechenden Reaktionen ihrerseits. Nicht Abweichung von der Westnorm, wie es Dirk Oschmann in seinem immer noch heftig diskutierten Buch beklagt, sondern längst vorhandene Vielfaltsmöglichkeit. In der Literaturwissenschaft wiederum wird damit ein Phänomen spezifisch ostdeutscher Tradition zu erfassen versucht. Soziologisch steht die intergenerationelle Übertragung von sozialen Erfahrungen mit im politischen Raum. Was da zusammenkommt, ist nicht allein für Ostdeutschland

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interessant, sondern ein wesentlicher und auch die Zukunft der Kultur insgesamt bestimmender Aspekt. In diesem Zusammenhang von PostOst steht auch das Dossier der FriedrichEbert-Stiftung unter dem Motto „Zukunft erproben“ zur Theaterarbeit in Ostdeutschland. Ausgangspunkt der Materialsammlung ist eine statistische Datensichtung zur Repräsentation Ostdeutscher in den Intendanzen der Darstellenden Künste, die TdZ-Redakteur Michael Helbing kritisch so beleuchtet, dass sicher nicht das Auszählen von Führungspositionen im Theater allein ausreicht. Es geht um mehr. Das in diesem Heft mit eigens be­ auftragten Autoren für TdZ erarbeitete Material zum Heidelberger ¡Adelante!Festival kann da den Blick weiten. „Was in Lateinamerika passiert, betrifft auch unsere Lebensrealitäten, das sollten wir nicht vergessen“, sagt der Festival-Intendant Holger Schultze im Gespräch zum Schwerpunkt. Es geht um tatsächlich vielmehr. Um die ganze Welt des Theaters. Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema ¡Adelante! 12 Gespräch Seismografie der Erschütterungen Holger Schultze und Lene Grösch über das iberoamerikanische Festival ¡Adelante! Mit Thomas Irmer

14 Essay Milei als Fanal Neue Wege der Kulturpolitik lateinamerikanischer Länder Von Federico Irazábal

16 Essay Die besonderen Stimmen Starke Frauen aus Kolumbien im Feld von Widerstand, Politik und Theater Von M. Soledad Lagos

18 Essay Hamlet sein Szenen aus dem Gastspiel „Soliloquio“ von Tiziano Cruz in eigener Regie im Rahmen des iberoamerikanischen Theaterfestivals ¡Adelante!

Weitere Texte zum Theater in Südamerika finden Sie unter tdz.de/suedamerika

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Bei der peruanischen Theatergruppe La Plaza arbeiten Darsteller:innen mit Down-Syndrom Von Luz Emilia Aguilar Zinser

20 Essay Schönes, geliebtes Mexiko Das Land ist Arbeitsort kultureller Emigranten Von Ilona Goyeneche

22 Essay Der große Widerspruch Indigenismus auf dem Kunstmarkt Von Tiziano Cruz

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Foto links oben Thomas Lenden, unten Diego Astariata, Zeichnungen rechts Daniel Zeltner, Foto unten Argenis Apolinario

„Minga“, Gastspiel aus Chile im Rahmen von ¡Adelante! Festival in Heidelberg


Inhalt 2/ 2024

Akteure 26 Kunstinsert Den Narben begegnen Die Tänzerin Fine Kwiatkowski im sizilianischen Gibellina Von Heike Albrecht

32 Porträt Geschichte(n) auf die Bühne bringen Mit „Chronik der Revolution“ zeigt Alireza Daryanavard am Berliner Ensemble eine Produktion über historische und gegenwärtige Proteste im Iran Von Sophie-Margarete Schuster

36 Nachruf Meisterin im Jahrhundert des Fußballs Ein Nachruf auf die letzte Brecht-Schauspielerin Regine Lutz Von Holger Teschke

Diskurs & Analyse 72 Serie Schlaglichter #02 Von Frithjof Rave

Stück Labor 2022/23 37 Stücke Neue Schweizer Dramatik 39 „Die Dampfnudel“ Von Dmitrij Gawrisch

53 „Kranke Hunde“ Von Ariane Koch

74 Neue Serie: Post-Ost Gegen das eindimensionale Narrativ Von Mai-An Nguyen

Report 78 Aachen Feste des Miteinanders Elena Tzavara beginnt ihre Intendanz in Aachen mit spartenübergreifendem Spiel Von Stefan Keim

Magazin 4 Bericht Intendanten-(Er)Zählungen Von Michael Helbing

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Thomas Irmer, Jens Fischer, Nathalie Eckstein und Otto Paul Burkhardt

8 Kolumne Es wird geschwiegen

81 Basel Lieber Kooperation statt Prestige und Labels

Von Kathrin Röggla

Tobias Brenk setzt als neuer Künstlerischer Leiter der Kaserne Basel die integrative Tradition des Hauses fort Von Bettina Hägeli

Von Stefan Keim

86 Bücher Plaudereien mit Biss 88 Was macht das Theater, István Szabó? Im Gespräch mit Thomas Irmer

1 Editorial 84 Verlags-Ankündigungen 87 Autor:innen & Impressum 87 Vorschau

„Deception“ von Phil Hayes und Jen Rosenblit, eine Produktion, die im Frühling an der Kaserne Basel präsentiert wird

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Magazin Bericht

Intendanten(Er)Zählungen Die Friedrich-Ebert-Stiftung legt ein Dossier zur Theaterarbeit in Ostdeutschland vor Von Michael Helbing

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Unterm Strich sieht es auf den ersten Blick gar nicht mal so schlecht aus: In der aktuellen Spielzeit sind 15,5 Prozent der 161 Intendanten an 147 deutschen Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen in der Bundesrepublik – es gibt vereinzelt Doppelspitzen oder Kollektivmodelle – ihrer Herkunft und Sozialisation nach Ostdeutsche. Die machen insgesamt rund zwanzig Prozent der Bevölkerung aus, weshalb die Friedrich-Ebert-Stiftung, die solche Daten sichten ließ, insofern nur „eine leichte Unterrepräsentation“ in den Chefetagen der Häuser feststellt. Davon lässt sich andernorts nur träumen, in Unternehmen, Universitäten oder Bundesbehörden zum Beispiel. Sobald man mehr ins Detail geht, differenziert sich das Bild aber beinahe erwartungsgemäß: Von 54 Intendanten im Osten stammen 21 aus dem Westen, von 107 im Westen nur sechs aus dem Osten (es gibt hier wie dort zudem immer noch jene mit „internationaler Herkunft“, auffallend häufig solche aus der Schweiz etwa). Zudem nimmt die ostdeutsche Repräsentation deutlich ab, je größer eine Stadt ist: In solchen mit mehr als einer halben Million Einwohnern gibt es fünfzig Intendanten, darunter fünf ostdeutsche. In der Theaterstadt Berlin ist Christina Schulz (Theater an der Parkaue) derart gerade ganz allein auf weiter Flur, selbst die Freie Szene eingerechnet, nachdem Franziska Werner die künstlerische Leitung der Sophiensaele Berlin nach zwölf Jahren 2023 abgab. Dergleichen bildet die Datenbasis für ein umfangreiches Dossier, das die EbertStiftung soeben zur Theaterarbeit in Ostdeutschland veröffentlichte (die hundertachtzig Seiten stehen im Internet zum kostenlosen Download zur Verfügung). Es heißt „Zukunft erobern“ und will laut Untertitel Impulse für eine gesellschaftspolitische Debatte liefern, schaut in vielen der Einzelund Doppelinterviews, aus denen vor allem es besteht, naturgemäß aber erst einmal recht weit zurück: in die DDR sowie zu den Strukturveränderungen und Transformationsprozessen nach deren Ende. So bezeichnet der Dresdner Hasko Weber rückblickend jene neunhundert Millionen D-Mark als verhängnisvoll, die die Bundesregierung für Theater und Orchester locker machte, um ostdeutsche Kommunen erst einmal zu entlasten. Nur mit solchem Geld habe etwa die Staatskapelle Weimar am Nationaltheater, das Weber seit 2013 führt, zum A-Orchester aufsteigen können. „Als das Geld verbraucht

Im Moment sind 15,5 Prozent der 161 Intendanten an 147 Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen ihrer Herkunft und Sozialisation nach Ostdeutsche.

war, ging der ­Katzenjammer los“, sagt Weber insgesamt und erinnert daran, dass Sparten und auch ganze Häuser geschlossen werden mussten. Fusionen und Haustarife waren bald an der Tagesordnung. In Weimar ging das B ­allett verloren, zunächst aber durch eine Tanztheatertruppe ersetzt. Dann kommt in einem anderen Gespräch allerdings die Schwerinerin Ute Lemm um die Ecke, die 2020 aus dem Leitungsteam des Erfurter Theaters auf den Intendantenstuhl des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters wechselte, das vor nunmehr fünfzig Jahren entstand. Dass die beteiligten Städte damals auf eigene Sparten verzichteten und sich zusammenschlossen, sei lange als Verlustgeschichte empfunden worden. Mit ostdeutsch geprägtem Blick nennt Lemm das aber heute „eine sehr kluge Entscheidung, die zu einem stabilen Konstrukt geführt hat“. Sie ist tendenziell übrigens gegen eine Quote für Ostdeutsche in Leitungsfunktionen und will deutsch-deutsche Geschichte in ihren Programmen lieber „indirekt“ thematisiert wissen. Und so drängt sich hier wie andernorts eher zwischen den Zeilen dieses Dossiers zunehmend die Frage auf, was uns die ­Ost-West-(Er)Zählung der Intendanten eigentlich sagen soll, auch angesichts einer Generation, die allmählich der Rente entge­ gensieht, worauf Hasko Webers Gesprächspartnerin Bettina Jahnke (Hans-Otto-Theater Potsdam) hinweist, und auch angesichts der Veränderungen beim Suchen, Finden und Besetzen von Intendanzen, die längst Fahrt aufnehmen; Jessica Weisskirchen aus dem Vorstand ensemble-netzwerk spricht über dessen „Handreichung zur Intendanzfindung“.

Unterrepräsentation Eine Unterrepräsentation in Theaterleitungen, von Ostdeutschen ebenso wie von Frauen oder Migranten, kann mit einer VerTheater der Zeit 2 / 2024


Magazin Bericht festigung von dominanten Erzählungen einhergehen, formuliert die Dramaturgin Peggy Mädler zwar in ihrem Beitrag speziell über Berlin. Es gebe aber bislang keine Unter­ suchungen dazu, wie sich das auf die Repräsentation Ostdeutscher in Spielplänen auswirkt. Dafür gibt es hier aber den Schriftsteller Lukas Rietzschel, der im Dossier erzählt, dass mit Daniel Morgenroth, aus Coburg stammend, aus Konstanz kommend, erst ein Westdeutscher an die Spitze des Görlitzer Theaters gelangen musste, „um das regionale Potenzial zu erkennen“. Demzufolge im Gegensatz zur vorhergehenden Intendanz. „Deren Ansage war: Wir machen das, was funktioniert. Wir machen ‚Faust‘, wir machen die ‚Zauberflöte‘.“ Das ist gegenüber dem Programm unter Klaus Arauner, der 36 Jahre am Haus war, das letzte Drittel als Chef, dann doch einigermaßen ungerecht. Rietzschel setzt aber eben vor allem auf „Themen, die aus einer Stadtgesellschaft heraus entstehen“ und steuert dergleichen selbst bei: Er will jetzt „den Bürgermeisterwahlkampf 2019 theatralisch aufarbeiten“, den am Ende wider Erwarten der CDU- gegen den AfDKandidaten doch noch gewann.

Foto picture alliance / Westend61 | Eva Blanco

Regionalspezifisch Den regionalen Blick forciert ähnlich Rostocks Intendant Ralph Reichel, wenn er von Dan Thy Nguyens Stück „Sonnenblumenhaus“ über die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 auf dem Spielplan des Volkstheaters berichtet, auf den auch Hendrik Bolz’ „Nullerjahre“ über eine Nachwendejugend in MecklenburgVorpommern gelangten. Die Begegnungen mit Noch-Nicht-Besuchern, wie er das nennt, reichen indes weit darüber hinaus: bis zum bei Union Berlin abgeschauten Weihnachtssingen im Ostseestadion und eine ­Offene Kantine. „Es macht mir keine Angst, wenn junge Menschen ohne Theater soziali-

siert wurden“, so Reichel. „Es würde mir nur Angst machen, wenn wir ihnen keine Angebote mehr machen würden.“ Derart programmatisch geht es im Dossier eher selten zu. Es verhandelt vorzugsweise strukturelle Bedingungen und Transformationen, jene in der Freien Szene inklusive. Intendantin ­Carena Schlewitt vom Europäischen Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau, die allerdings auch ihre inhaltliche „Ausrichtung auf Ostdeutschland und Osteuropa“ betont, findet, „dass die Kulturförderung so nicht ­ weitergehen kann und man über ganz neue Formen der Verteilung und Beteiligung nachdenken muss.“ Anica Happich und Laura Keine weisen in und nach einem Gespräch mit Claudia Schmitz vom Bühnenverein auf die vergleichsweise schwache Wirtschaftsleistung im Osten hin, weshalb es an privaten Geldgebern noch mehr mangelt als an einer auskömmlichen Ausstattung durch die öffentliche Hand. Unterfinanzierte Bühnen gibt es im Westen allerdings auch, so Schmitz.

Leitungsjob nicht attraktiv? Die Theaterdichte im Osten ist derweil immer noch höher, die Besucherzahl meistens überdurchschnittlich.

Intendant beschreibt, dürfte aber doch mehr einem individuellen Gefühl entspringen. Und dass Theater in der DDR „ein Massenmedium“ gewesen sei, wie es Carsten Schneider als Ostbeauftragter der Bundesregierung beschreibt, scheint mindestens sehr stark übertrieben zu sein. Zurück zu den ostdeutsch geprägten Intendanten: Fehlende Netzwerke werden hier unter anderem geltend gemacht dafür, dass es nicht noch mehr davon gibt. Hasko Weber erinnert nach 1990 aber auch „eine große Scheu, eine Intendanz oder eine Geschäftsführung zu übernehmen“. Unter den neuen Bedingungen wollten viele nicht mehr Verantwortung übernehmen. „Es war unbekanntes Terrain.“ Als das Dossier jüngst in Berlin öffentlich vorgestellt wurde, verlängerte Weber, der 2025 vorfristig den Weimarer Chefsessel freimacht, dergleichen in die Umstände der Gegenwart: „Ich kenne keinen, der den Job eines Generalintendanten machen will“, ­sagte er auf dem Podium. Anica Happich (Phoenix-Festival Erfurt) hielt dagegen: Och, sie würde es schon machen. T

Die Theaterdichte im Osten ist derweil immer noch höher, die Besucherzahl meistens überdurchschnittlich. „Die enge Beziehung der Menschen zu ihrem Theater“, wie sie der Schweizer Julien Chavaz als Magdeburger

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Magazin Kritiken

Schauspiel Leipzig:

Fortschreitender Bildverlust „Niederwald“ von Wolfram Höll (UA) – Regie Elsa-Sophie Jach, Bühne und Kostüme Aleksandra Pavlović, Musik Max Kühn

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olfram Hölls neues Stück ist schon auf dem Papier wieder als Sprechpartitur erkennbar: fünf Figuren sind da in Spalten angeordnet – und nicht im typischen Dialogwechsel mit Regieanweisungen. Inhaltlich dreht sich das Stück als Totenbeschwörung um eine Leerstelle zwischen vier Generationen und dem mentalen Graben zwischen der Bergtal-Schweiz und Ost-Deutschland. Katharina bzw. Käthi ist kurz vor ihrer Hochzeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Nun begeben sich hinterbliebener Mann und deren kleine Tochter zusammen mit der Großmutter bzw. Uroma in das kleine Rhonetal-Dorf Niederwald im Schweizer Kanton Wallis, wo sie auf zwei alteingesessene Urgroßtanten treffen. Alice und Anna wissen so gut wie alles über Aberglaube und die Dorfgeschichte, nur eben beinahe nichts über diese Fremden, die ihre Ankunft in Käthis Heimat fast wie eine Rückkehr verhandeln. Jutta, die Uroma, kauft das Haus von Alice, das dann in der Wirkung eines schmelzenden Gletschers abrutscht von seinem jahrhundertealten Standort. Für den relativ kleinen Bühnenraum der Disko des Schauspiel Leipzig, wo vor zehn

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„Effi, Ach, Effi Briest“ frei nach Theodor Fontane von Moritz Franz Beichl, Inszenierung Maike Bouschen am Theater Lübeck

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m eine Empowerment-Interpretation von „Effi Briest“ zu betonen, ersetzt Moritz Franz Beichl den liebevollen Erzählton des sanft ironischen Fontane-Realismus durch einen jugendfrisch kalauernden Text, dramatisiert ihn mit ein wenig feministischem Feenstaub sowie antikapitalistischen Konfetti und sorgt selbst 2022 am Wiener Bronski & Grünberg-Theater für die Uraufführung.Regisseurin Maike Bouschen nutzt diese Fassung jetzt gerade auch fürs junge Publikum des Theaters Lübeck und inszeniert ihn aus dem modischen Geist des Barbiecore. Die Bühne ist eine Orgie in Pink. Einhörner rotieren auf einem Kinderkarussell – als Bild für Effis noch ziellos um sich selbst kreiselnde Mädchentraumidylle, in der alle Erwachsenen bestens gelaunt, glitzernd geschminkt und schrill-albern kostümiert sind. Nur Kindermädchen Roswitha (Sonja Cariaso) fällt aus der Witzfigurenreihe, ist als beste Freundin forever in Schwarz gewandet, tritt forsch bis renitent auf, spielt Bassgitarre und kommentiert vor der Bühne das Geschehen mit selbst geschriebenen Coming-of-age-Anleitungen im Bernd-Begemann-Gesangsplauderstil. Zu Beichls literarischer Überschreibung kommt also eine musikalische. Auf der Bühne wird die Handlung zudem zu Discokugelgelichter mit Pophits illustriert, inszeniert als Musical-Parodien. Als kritisch gemeinter Gesangsjokus wird dort nun zu den Fluchtplänen aus der Teenie- und H ­ otel-Mama-Welt „Favourite things“ von Big Brovaz intoniert, eine Aufzählung von Accessoires eines konsumorientierten Luxuslebens, das Effi für sich erhofft. Hinreißend, wenn Mutter Briest später Billie Eilishs Ode an den „Bad guy“ anstimmt und zwei männliche Geschöpfe des Ensembles dazu ein Blockflötenduett spendieren. // Jens Fischer Anzeige

Theater Lübeck:

Feministischer Feenstaub „Effi, Ach, Effi Briest“ frei nach ­Theodor Fontane von Moritz Franz Beichl – Inszenierung Maike Bouschen, Bühne & Kostüme Valentina Pino Reyes, Musik Tim Thielemans

Lesung und Gespräch Charly Hübner Hans-Dieter Schütt So, 04.02. 11 h Landestheater Neustrelitz backstage HÜBNER Paperback, 184 S. 18 €, auch als E-Book Theater der Zeit

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Fotos links oben Rolf Arnold, unten Sinje Hasheider, rechts oben Luna Zscharnt, unten Björn Klein

Anne Cathrin Buhtz, Markus Lerch, Paulina Bittner in der Uraufführung von „Niederwald“ von Wolfram Höll am Schauspiel Leipzig

Jahren mit der Uraufführung von „Und dann“ in der Regie von Claudia Bauer die Karriere dieses Autors fulminant begann, hat Aleksandra Pavlovic ein rundes Gestell mit daran befestigten Stoffbahnen gebaut. Die dienen als Projektionsfläche der Berglandschaft und für Schattenspiele und werden nach und nach von den Schauspieler:innen abgerissen. Eine Art fortschreitender Bildverlust als szenischer Vorgang, während die Familiengeschichte und Dorfverhältnisse allmählich entblättert werden – das ist die von Elsa-Sophie Jach gesetzte Grundspannung zu Hölls Text. Neben der einwandernden Familie – Markus Lerch als Vater, Teresa Schergaut als Tochter-Kraftpaket und Thomas Braungardt mit Altfrauenperücke als Uroma – sind es vor allem die beiden Urgroßtanten von Anne Cathrin Buhtz und Paulina Bittner, mit denen die Konfrontation zwischen Schwyzerdütsch und Hochdeutsch fabelhaft ausgetragen wird. // Thomas Irmer


Magazin Kritiken

Ann Göbel in „Karl May“ von Enis Maci und Mazlum Nergiz an der Volksbühne Berlin

Volksbühne Berlin:

Das Kreisen des Bullens

te, der deutschen Germanisierungspolitik, der Unabhängigkeitserklärung der kurdischen Republik Ararat und dem Indochinakrieg, an dem sich niemand anderes als Winnetou-Darsteller Pierre Brice als Freiwilliger beteiligte. Die Ambitionen des Abends sind damit klar: Die historischen Verknüpfungen grausamer europäischer Geschichte mit Selbstinszenierung, Fiktion und Show sollen offengelegt werden. Die Orientalisierung, die Karl May vornimmt, wenn er von „Kurdistan“ schreibt, ist eben historisch wirksam: „Und die schrecklichen Spuren, die die Zukunft in die Vergangenheit legt, die legt der eben in seine Stories“, sagt Martin Wuttke, der als Besitzer der Rodeo-Maschine an deren Pult steht und sie steuert. Schauspielerisch wird er nicht nur die Bullenmaschine steuern, sondern den ganzen Abend, der wie der Bulle um sich selbst kreisend, Frage nach Fiktion und Wahrheit, Show und Realität, Selbsterzählung und Biografie kreist. // Nathalie Eckstein

„Karl May“ von Enis Maci und Mazlum Nergiz (UA) – Regie Enis Maci und Mazlum Nergiz, Bühne Leonard Neumann, Kostüme Martha Lange, Live-Musik Maximilian Weber, Video und 3D-Animation Wassili Franko

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wischen kreisrund angeordneten Tribünen kreist eine Rodeo-Bullenmaschine um sich selbst. Darauf: Ann Göbel in einem rot-karierten Kleid, weißer Funkemariechen-Strumpfhose und glitzernden Cowboy-Boots. In einer Hypnose, in die sie sich von Oskar Olivo hat versetzen lassen, der als Psychiater sein Können zum Beweis stellen sollte, erzählt sie als Karl May seine erträumte Autobiografie als eine Geschichte der ­Hybris. Karl May wird zum selbstinszenierten Genie, zum Hochstapler, zum Kriminellen. Das soll einer der stärksten Momente des Abends bleiben, weil ein tatsächlich szenisches Bild erzeugt wird. Karl May ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Amerika besucht hat er erst nach seinen „Old Shatterhand“Romanen. Seine Vita läuft zum Einlass der Inszenierung, die seinen Namen trägt, auf der großen, halbrunden Leinwand im Hintergrund. Sie ist verflochten mit Fakten aus der amerikanischen Kolonialisierungsgeschich-

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„Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“ von Simon Stephens in der von Regie Elmar Goerden am Schauspiel Stuttgart

Schauspiel Stuttgart:

Bin tot. Bis später „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“ von Simon Stephens (UA) – Regie Elmar Goerden, Bühne Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme Lydia Kirchleitner

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s gibt Momente, da unterbricht die Regie den Text. Die Figuren des Stücks versammeln sich dann an der Rampe und reden alle gleichzeitig durcheinander, jeweils nur mit sich selbst beschäftigt. Das geht so fast minutenlang. Soll mit diesem kollektiven Aneinandervorbei-Sprechen etwas verdrängt werden? Vielleicht, denn in Simon Stephens neuestem Stück „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“, jetzt uraufgeführt im Kammertheater, geht es ums Sterben – jedes einzelnen Menschen, aber auch des ganzen Planeten. Der Text verhandelt die letzten Tage von Christof, eines Krebskranken Anfang zwanzig, der nur noch ein paar Wochen zu leben hat, und seiner Freundin Nicola, die ihn dabei begleiten will. Stephens lässt noch acht weitere Personen zu Wort kommen, jeweils in Zwiegesprächen, reißt auch deren Erfahrungen mit dem Tod an, ihre Lebensentwürfe, ihr Scheitern. Elmar Goerden inszeniert die Uraufführung in erwartbar unaufgeregtem Duktus, mit ruhiger Hand, in die Dialoge hineinhorchend. Ab und zu blendet er besagte Zwischenspiele ein, surreale Verdichtungen, in denen die Einzelschicksale verschwimmen, bevor es wieder skriptgetreu weitergeht. So wirkt der Text oft wie Musik, in der sich Soli und Tutti abwechseln. Langsam wird klar: Vom derart dunklen, dunklen, dunklen Blau, das zunächst für Unendlichkeit und Hoffnung stehen mag, ist es nicht mehr weit zum Schwarz. So jedenfalls ist der Bühnenhintergrund gestaltet, als totales Black, als infinites Universum. Ab und zu driften Stephens’ Stücknotizen über diese schwarze Wand. Im Vordergrund hängt ein riesiges Metall-Rechteck von der Decke. Es dient dem Ensemble als Sitzfläche, als Turngerät, als Treffpunkt. Diese Schaukel zum Spielen ist aber auch ein ständig leicht schwankender Bildrahmen, der den Blick ins All freigibt, ein Fenster ins Nichts, ins Unbekannte, ins Jenseits. Aber sonst: keine Requisiten, kein Realismus. Eher ein Traumspiel. Goerdens Grundton: unsentimental, zuweilen mit tröstlichem Humor. // Otto Paul Burkhardt

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Es wird geschwiegen Von Kathrin Röggla

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tellen Sie sich vor, Sie haben eine Bühne vor sich, auf der ständig gesprochen wird, die ganze Zeit. Die Akteur:innen dort behaupten aber andauernd, es werde in Wirklichkeit geschwiegen. Hier werde nichts als geschwiegen. Ein Pauschalvorwurf, den ich gerade höre. Was hören wir von Gaza, nichts hören wir von Gaza, wird gesagt. Der Taxifahrer: Ich schaue Al Jazeera, weil man da was erfährt, in den deutschen Medien erfährt man ja nichts. Nichts. Die Kuratorin: Zu den Gräuel in Gaza wird geschwiegen: Zwanzigtausend Menschen, darunter so und so viele Kinder sind durch das grausame Bombardement und die Aushungerungspolitik Israels gestorben. Die Studentin: Wenn ich nicht sagen kann, dass es ein faschistischer Staat ist, dann fühle ich mich gesilenced. Die andere Studentin: Und was ist mit dem Terror der Hamas, warum wird der sofort vergessen. Warum schweigt ihr schon wieder darüber? Ich höre sie alle reden, und sie reden sehr oft über ein Schweigen. Es sei ein relatives Schweigen, heißt es dann abwägend, die wichtigen Details werden nicht erwähnt, es ist eher ein Verschweigen. Man müsse eben sehr aufpassen, was man sagt. Es sei heikel. Und dann die Bundesregierung. Es wurden Veranstaltungen abgesagt. Cancel culture, sagen sie. Oder: Ihr verschweigt den Terror der Hamas. Stets gibt es da diesen Schweigevorwurf im Raum. Fazit: Man müsste jetzt zwölf Stunden miteinander reden, um überhaupt etwas zu sagen. Ich müsste hier ein ganzes Buch schreiben, um über diese komplexe Art des Schweigens zu sprechen. Das kann ich hier nicht. Ich kann auch nicht über Menschenrechtsverletzung in dieser Größe hier in der Kürze sprechen, ich kann auch nicht „einerseits andererseits“ sagen, Dinge überhaupt nebeneinander zu stellen, ist ein Problem geworden, wir haben es im besten Fall mit einer leeren Bühne zu tun. Ich habe „Hyperpolitik“ von Anton Jäger gelesen, ein Buch, das die neue Ära einer Überpolitisierung ohne politische Wirkung beschreibt, und es hilft mir bei diesem Schweigenarrativ nicht. Das ist was anderes, sage ich. Hier geht es nicht um eine unorganisierte Form des Politischwerdens und der politischen Besetzung von allem und jedem und vor allem des Kultur­ betriebs, ohne jeglichen politischen Effekt. Es handelt sich nicht um jenes flüchtige neue politische Zusammensein als Flashmob, als zufällig zusammengesetzte Runde, das ist nicht abstrakt, das

ist nicht meta. Omri Boehms Buch „Israel – eine Utopie“ von 2020 beginnt interessanterweise ebenfalls mit einem Zitat zum Schweigen, ganz anders gerichtet. Wem hilft das Schweigen? Er hat Probleme mit dem öffentlichen Schweigen eines Jürgen Habermas zu Israel. Es waren aber noch Zeiten, in denen das Schweigen fest platziert war. Nun sieht es aus, als würde es dauernd den Platz wechseln. Als würde es sozusagen ausrutschen. Kann Schweigen wirklich ausrutschen? Die Vorstellung, dass kein Sprechen mehr hilft, entsteht nahezu gleichzeitig. Es wäre eigentlich das Gefühl der Trauer, wenn man es nicht mit einem Gebot zu tun hätte, zu reden und zu schweigen gleichzeitig. Mich erreichen sehr emotionale Erzählungen aus sehr unterschiedlichen Richtungen, viele davon gehen auch durch die Medien, das spezifische Schweigen wird medial markiert. Und natürlich wird Schweigen produziert, aber wo fängt es bereits an? Schon in der Abwägung, wer zu einer Veranstaltung eingeladen wird? Oder wer jetzt einen Preis bekommen soll? Wer soll symbolische Sichtbarkeit erhalten? Es ist ein sehr hysterischer Moment im Kulturbetrieb, der in keine Kolumnenform der Welt passt. Um es gleich zu sagen, das schaffe auch ich nicht, kann aber gleichzeitig nicht nicht darüber reden, was allerdings etwas anderes ist, als zu schweigen. Und ich weiß, es kommt jeden Moment auch das Recht zu Schweigen ums Eck. Deniz Yücel hat es bereits ausgesprochen, gegen den Bekenntniszwang. Man müsse doch auch schweigen dürfen. Ausgerechnet hierbei? Aber was wäre das umgekehrt für eine Idee, immer alles aussprechen zu müssen? Fehlt dieser Kolumne, dass ich jetzt etwas nicht direkt ausgesprochen habe? Darf ich sie nicht mehr schreiben, weil sie sich auf ein abstraktes Motiv bezieht, das zugegebenermaßen andauernd angesprochen wird, aber nicht der Kern der Sache ist? Hat der literarische Blick nur noch auf den Kern der Sache bezogen zu sein, sonst wird er zur Lüge? Und ab wann hat man wirklich etwas gesagt? Oh mein Gott, ab hier schweige ich. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 2 / 2024

Fotos links Jessica Schäfer, Fotos rechts Theater im Delphi Opera Lab Berlin, English Theatre Berlin Svetlana Sokolova, Casino Zug Konstantin Nazlamov, Theater Konstanz Ilja Mess, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Kaserne Basel Pati Grabowicz, Sophiensaele Berlin Gedvile Tamosiunaite, Brechtfestival Augsburg Bertolt Brecht Grete Stern c. 1933 Gelatin silver print National Portrait Gallery, Smithsonian Institution; gift of Barry Bingham, Sr., W. John Kenney, and Mrs. Katie Louchheim [Copyright credit line]

Magazin Kolumne


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präsentiert Brechtfestival, Augsburg

„Echo 2050“ – Eine Art-Battle von Opera Lab Berlin mit A.I. Ursula* und bekannten Klassikstars.

Wie lebt man ohne Zukunft? Das Brechtfestival 2024 „No Future!“ bietet Perspektiven von Addis Abeba bis Moskau mit Theater, Community Arts, Literatur und Clubnächten mit viel Schweiß und viel Musik. 23.02. bis 03.03.

Theater im Delphi, Berlin

The Tenth Expo Festival – Jubiläumsprogramm mit 5 Weltpremieren und Nachwuchsplattform

English Theatre Berlin | International Performing Arts Center

Eine Offenbarung aus Chaos, Camp & Musik: 2024 beginnen A.I. Gottanten die Welt der Kunst neu zu erschaffen. Was passiert mit den ehemaligen Kraftquellen der Gesellschaft? 15.02. (Premiere), 17./18.02., jeweils 20:00 Uhr

Seit 10 Jahren bündelt das hyperlokale und globale Expo Festival die spannendsten Arbeiten aus Berlins internationaler Freier Szene, Wahlberliner*innen aus aller Welt, verbunden durch die Arbeitssprache Englisch. 15. bis 29.02. Theater Konstanz

Ballhaus Naunynstraße, Berlin

Gastspiel TOBS im Theater Casino Zug

Theater Casino Zug Der Doppelabend „Le Chalet Suisse“ vereint erstmals Adams „Le Chalet“ und Donizettis „Betly“, die beide auf Goethes Singspiel „Jery und Bätely“ basieren. In einem kleinen Chalet entfaltet sich ein Intrigenspiel zwischen der freiheitsliebenden Betly, ihrem inkognito auftretenden Bruder Max und dem bis über beide Ohren in Betly verliebten Daniel. 01.03.

Die Orestie von Aischylos gilt als Gründungsmythos der Demokratie. Regisseur José Fernando Peixoto de Azevedo nimmt den Klassiker zum Ausgangspunkt, Schwarze Perspektiven auf die Frage des Schicksals, der ewigen Rache und der Macht der Verhandlung zu zeigen.

Jasper Diedrichsen (Seymore) und Kristina Lotta Kahlert (Audrey).

Der kleine Horror­ laden – das Musical um eine unersättliche Pflanze, den abgehalfterten Blumenladen von Mr. Mushnik, den schüchternen Seymore, Audrey und ihren sadistischen Zahnarzt, in Szene gesetzt von Susi Weber. theaterkonstanz.de 23.02. (Premiere)

Kaserne Basel Life is a tune you cannot predict – Premiere von Antje Schupp mit „Recycling of Life“ am 8. Februar 2024. Infos und Tickets kaserne-basel.ch

Recycling of Life

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Sophiensæle Berlin

„ORESTIE“ von José Fernando Peixoto de Azevedo

Für „SPACE DUDES – Einmal hin und zurück“ tauchen Henrike Iglesias, Frank Häusermann (Theater HORA), Olivia Hyunsin Kim & Rabea Lüthi ab in die Bildwelten des Outer Space und ins Genre der Mockumentary. 22. bis 25.02.

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Foto Filipe Ferreira

Thema ¡Adelante! Das iberoamerikanische Theaterfestival in Heidelberg

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¡Adelante!, das heißt Vorwärts!, ist das einzigartige Festival des iberoamerikanischen Raums, der von Spanien und Portugal zusammen mit den lateinamerikanischen Ländern gebildet wird. In diesem Kulturraum, der auch eine Kontaktzone zwischen Lateinamerika und Europa darstellt, gibt es im Theater gerade wichtige Entwicklungen, die über die Situation in den einzelnen Ländern weit hinausweisen. TdZ begleitet mit den folgenden Artikeln dieses Festival, das vom 3. bis 10. Februar am Theater Heidelberg stattfindet. Der Essay von Federico Irazábal behandelt die problematische Pendelbewegung zwischen Links- und Rechtspopulismus in Lateinamerika, die mit Javier Milei in Argentinien gerade einen neuen Höhepunkt und damit vielleicht auch einen Wendepunkt erreicht hat. Weitere Beiträge sind dem aktivistischen Theater, Mexiko als Ort kultureller Emigration und dem Aufblühen indigener Themen im lateinamerikanischen Theater gewidmet. Als Einführung erklären Holger Schultze und Lene Grösch die Idee von ¡Adelante! „Schwarze Morgenröte“ / „Aurora Negra“, Gastspiel aus Portugal im Rahmen vom ¡Adelante! Festival in Heidelberg

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Thema ¡Adelante!

Seismografie der Erschütterungen Holger Schultze und Lene Grösch über das iberoamerikanische Festival ¡Adelante! Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Der iberoamerikanische Raum setzt sich aus verschiedensten Ländern auf der iberischen Halbinsel und Lateinamerikas zusammen. Wie ist denn die Idee zu diesem Festival, das jetzt zum dritten Mal stattfindet, entstanden? Holger Schultze: Die Gründungsidee entwickelte sich aus dem Stückemarkt, als wir Mexiko als Gastland hatten. Der Präsident von Ibero Scena, dem Zusammenschluss dieser Länder im Theater, fragte, ob man nicht ein solches Festival in Deutschland machen könnte. 2017 sind Lene Grösch und ich durch verschiedene Länder gefahren – Kolumbien, Chile, Kuba, Argentinien – und haben dort Kontakt mit den Goethe Instituten und einzelnen Theatern aufgenommen. Wir kannten diese Szenen nur peripher, aber es wurde schnell klar, dass die Theater dort inhaltlich im Diskurs aktueller als wir sind und ästhetisch sich oft am europäischen Theater orientieren. So dass es sich lohnen würde, diese Theater nach Deutschland zu holen. Es gab ja schon mal Ende der 1990er Jahre eine intensivere Berührung mit dem lateinamerikanischen

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Foto links Carlos Furman, Fotos rechts Susanne Reichardt

„Schwarzes Eis“ / „Hielo Negro“, Gastspiel aus Argentinien im Rahmen des iberoamerikanischen Theaterfestivals ¡Adelante!


Thema ¡Adelante! Das ist die Gefahr: Wir sehen ein paar Tage lang Milei mit seiner Kettensäge, aber das Ganze dahinter schon nicht mehr.

Theater, insbesondere aus Argentinien und Brasilien, die aber wieder verloren ging. Diese Lücke wollten wir schließen. Lene Grösch: Wir unterschätzen natürlich, wie heterogen diese Theaterlandschaften sind. Allein auf Kuba herrschen ja ganz eigene Bedingungen. In Argentinien gibt es wieder ganz eigene Themen. Dazu noch die Verbindungen zu Portugal und Spanien – das ist mehr als ein ganzer Kontinent. Wir sahen also die Möglichkeit, einen ganzen Kontinent mit seiner Verbindung nach Europa abzubilden. Es ist ein Wechselspiel zwischen Dingen, die uns völlig fremd sind, und Theaterformen, die mit ihrer Verbindung nach Europa uns nahe sind, ohne dass wir viel darüber wissen. HS: Im Festivalprogramm ergibt sich bei der Zusammenschau von zehn Ländern auch eine Verdichtung der Themen. Und umgekehrt ist Heidelberg in der iberoamerikanischen Welt eine Marke geworden, weil nirgendwo sonst diese Theater so zusammenkommen. Welche sind denn die aktuellen Themen? HS: Man könnte als Erstes das Beispiel aus Bolivien nennen: Eine semiprofessionelle Frauengruppe, die für Frauenrechte kämpft mit einer Art didaktischem Theater über Verhaltensweisen in der Familie. Es wurden aufgrund ihrer Arbeit sogar schon Gesetze des Landes geändert. Feminismus und Selbstbestimmung haben dort eine unmittelbare politische Relevanz und werden auch über das Theater vermittelt. LG: Bei den Recherchen für diese Ausgabe haben wir unterschiedliche post-­ Corona-Situationen des Theaters angetroffen, denen die Verunsicherung in der Gesellschaft anzumerken war. Es gibt mehrere Produktionen, die sich mit dem sozialen Miteinander in einem Mikro­ kosmos beschäftigen. Sozusagen das, was

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im Großen passiert, im Kleinen unter­ suchen. Die Kunst ist in diesen Ländern sehr viel stärker ein Seismograf gesellschaftlicher Veränderungen und kann diese präzise benennen und künstlerische Formen dafür finden. Das ist für uns sehr interessant. HS: Wir haben für alle Produktionen Schlüsselsätze entwickelt, und ich lese mal ein paar vor, denn sie zeigen wirklich den Katalog der Themen: Portugal – schwarze Menschen in einer weiß dominierten Theaterlandschaft. Brasilien – Arbeitssituation und Lebensrealität von Sexarbeiter:innen. Bolivien – gegen normalisierte Gewalt an Frauen. Kuba – Aufschrei gegen die katastrophale politische Situation des Landes. Kolumbien – selbstbestimmte Isolation indigener Völker. Argentinien – Monolog über die Vernichtung indigener Gruppen im Norden des Landes. Mexiko – Bandenkriminalität und Drogenhandel. Das ist Theater am Puls der Zeit. LG: Dazu der „Hamlet“ aus Peru mit Trisomie-21-Darstellern. Natürlich könnte man sagen, diese Art von inklusivem Theater gibt es hier schon lange, aber die Situation dort ist für diese Menschen eine völlig andere und dieses Theater muss erst noch um seine Akzeptanz ringen, was durchaus ein politischer Vorgang ist. HS: An dieser Stelle sollten wir uns grundsätzlich daran erinnern, dass die Theaterstrukturen in Finanzierung und Förderung gänzlich andere sind. Subventionierte Stadt- und Staatstheater gibt es in kaum einem lateinamerikanischen Land. Es sind vor allem freie Gruppen, die Themen sichtbar machen, die ansonsten nicht sichtbar sind. Theater machen ist in jeder Hinsicht ein Risiko und erfordert Mut. Jetzt fällt das Festival im Februar in eine Zeit, da zwei der wichtigsten Länder Lateinamerikas für politische Schlagzeilen gesorgt haben. In Chile hat das Verfassungsreferendum zum zweiten Mal nicht die erforderliche Mehrheit erreicht, und in Argentinien ist ein südamerikanischer Trump auf dem Weg zur absoluten Macht. HS: Diese Krisenunruhen gibt es ja schon seit längerem, wenn wir etwa an Chile 2019 denken. Was in Lateinamerika passiert, betrifft auch unsere Lebensrealitäten, das sollten wir nicht verges-

sen. Das Thema Kolonialismus wird dort noch größer gewichtet als anderswo, und gleichzeitig gibt es in all diesen Ländern die Angst, als der vergessene Kontinent zu gelten. LG: Das ist die Gefahr: Wir sehen ein paar Tage lang Milei mit seiner Kettensäge, aber das Ganze dahinter schon nicht mehr. Das verschwindet oder taucht gar nicht erst auf. Alles wird auf ein Ereignis reduziert. Was wir machen können, basiert dagegen auf langjährigen Kontakten und Vertrauen mit den Künstlern, einem Begleiten von Entwicklungen. Letztlich sind wir in Heidelberg auch schon eine Plattform für den Austausch zwischen Künstlern dieser Länder geworden. T

Lene Grösch, Geschäftsführende Dramaturgin am Schauspiel des Theaters und Orchesters Heildelberg. Gemeinsam mit Holger Schultze übernahm sie 2017 die künstlerische Leitung des neu initiierten iberoamerikanischen Festivals ¡Adelante!. Foto oben Holger Schultze, Intendant am Theater und Orchester Heidelberg

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Milei als Fanal Neue Wege der Kulturpolitik lateinamerikanischer Länder Von Federico Irazábal

Das lateinamerikanische Theater hat in den zweihundert Jahren seiner Geschichte eine Vielzahl politischer Formen entwickelt, um die komplexe Situation des Kontinents wiederzugeben. Die Begegnung mit dem Theater Bertolt Brechts erlaubte es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, politische Ansätze zu vertiefen und stärker theoretisch zu untermauern. Besonders in der historischen Phase des Aufkommens der lateinamerikanischen

Oben: Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof gegen die Wirtschaftsreformen von Präsident Javier Milei (unten)

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Diktaturen wandten Künstler immer raffiniertere Strategien an, um mit ihrer künstlerisch-politischen Arbeit Diktaturen und Völkermord zu überstehen. Doch nachdem die verfassungsmäßigen Rechte einmal außer Kraft gesetzt waren, nahmen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der gesamten Region schnell zu, und die Zahl verschwundener Menschen (Entführungs- und Folteropfer, deren Körper man verschwinden ließ) stieg schmerzhaft an -– unter ihnen auch viele Künstler:innen. Zu dieser Tragödie kam noch das Exil, ein Phänomen, das sich selbstverständlich auch auf die Kunstwelt ausgewirkt hat: Künstler:innen, die gezwungen waren, im Ausland zu leben, knüpften berufliche und persönliche Verbindungen zu Künstler:innen aus anderen Breitengraden und kamen so mit einer anderen Poetik in Berührung als in ihren Herkunftsländern. Diese Begegnungen sollten später ihren Einfluss entfalten, als die Diktaturen endeten und eine Rückkehr in die neu entstehenden Demokratien für Künstler:innen attraktiv wurde. Seinen politischen Charakter hat das Theater in der Region seitdem beibehalten, auch wenn sich Themen und Diskurse im Lauf der Jahre änderten. Damals in den 1980er Jahren, als es mit den Diktaturen vorbei war und die bis heute bestehenden, fragilen Demokratien eingeführt wurden, ging es dabei um eine obligatorische Geste symbolischer Wiedergutmachung, darum, auf die Bühne zu bringen, worüber niemand sonst sprechen wollte; um eine Möglichkeit, Körper erneut im Raum präsent werden zu lassen, die aus ihren Wohnungen gezerrt worden waren und nie wieder gesehen wurden. Die Diktaturen wurden zur zentralen Metapher schlechthin, weniger im Sinne einer detailgetreuen Abbildung des Geschehenen, sondern als Analyse der Gesellschaft, die in jene ungeheuerlichen Verbrechen verstrickt war und sich mitschuldig gemacht hatte. In den 1990er Jahren jedoch verlagerte sich der Fokus. Der Neoliberalismus mit all seinen grausamen Konsequenzen breitete sich in der Region aus, während die Gesellschaft – oder doch zumindest ein großer Teil – sich einmal mehr fürs Wegsehen entschied. Der Neoliberalismus schürte in der Mittelschicht,

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Foto oben picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rodrigo Abd, unten picture alliance / EPA | Juan Ignacio Roncoroni

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den urbanen Milieus und bei den Freiberuflern Hoffnung auf Wohlstand, während gleichzeitig Millionen Menschen aus dem System herausfielen. Das Theater war weder unbeteiligter Beobachter noch mitverantwortlich für diese Situation, vielmehr machte es sich auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen, Sprachen und poetischen Ansätzen, um den neuen Schrecken auf die Bühne zu bringen, den wir als Gesellschaft bewusst ignoriert haben. Würde man Entstehungszeitpunkte und -orte künstlerischer Initiativen auf einer Landkarte Lateinamerikas sichtbar machen, ließe sich darauf deutlich erkennen, welche Namen, Gruppen und Projekte zeitgleich zu jener gesellschaftlichen Tragödie aufgetaucht sind. Bis in unsere Gegenwart hinein hat sich an der Situation indes nur wenig geändert. Aktuell wirkt Lateinamerika zerrissen, schwankt zwischen linken und rechten populistischen Regierungen hin und her und lässt dabei in beide Richtungen keines der Extreme aus. Argentinien sorgt derzeit, aus verständlichen Gründen, für weltweite Schlagzeilen: Die drittgrößte Volkswirtschaft des Kontinents hat sich in freien Wahlen für einen radikalen Wechsel entschieden und einen Kandidaten der extremen Rechten zu ihrem Präsidenten gemacht. Der jüngste Wahlerfolg Javier Mileis kam wohl für den ein oder anderen überraschend, doch es ist ihm gelungen, mit einem aggressiven Diskurs (und einer Motorsäge als Symbol für das von ihm beabsichtigte Zurückschneiden des Staats) eine soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren, die eindeutig auf Jahrzehnte der gescheiterten wirtschaftlichen Entwicklung zurückzuführen ist und darauf, dass die Gesellschaft die traditionelle Politik der Trostpflaster und des Flickwerks leid ist, mit der man in der Vergangenheit versuchte, Aufstände zu verhindern. Es ist zu erwarten, dass die anstehende Verschlankung des Staats sich radikal auf die Welt der Kultur auswirkt, und die in den letzten vierzig Jahren erkämpften Errungenschaften und Rechte von Künstlern und Künstlerinnen aushöhlt. Überträgt man die dunklen Schatten, die Jair Bolsonaro (ein Verbündeter des designierten argentinischen Präsidenten) und seine Regierung in Brasilien hinterlassen haben, auf Argen-

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tinien, könnte die soziale und kulturelle Krise extreme Ausmaße annehmen. Man wird abwarten müssen, wie wir, die Kulturschaffenden, darauf reagieren und welche Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Schon jetzt wissen wir, dass das Kultusministerium auf den Rang eines Sekretariats herabgestuft wird, und, wie sein Leiter erklärte, notwendige Kürzungen wird hinnehmen müssen. Das argentinische und lateinamerikanische Theater hat Jahrzehnte der Tragödien hinter sich und ist darin erfahren, sich in gesellschaftliche Kämpfe einzubringen. Es wird mit Sicherheit auf Bühnen, in Zuschauerräumen und auf der Straße ein Aktionsfeld finden und versuchen, einen Niedergang aufzuhalten, der nicht auf die zukünftige Regierung zurückzuführen ist, sondern auf eine jahrzehntelange Politik, die Kürzungen im kulturellen Bereich immer wieder mit den anhaltenden Wirtschaftskrisen gerechtfertigt hat. Doch es gibt dieses Mal einen großen und keineswegs unbedeutenden Unterschied: Erstmals in der Geschichte hat ein Kandidat gewonnen, der schon im Vorhinein drastische Sparpläne ankündigte und davon sprach, dass der Bevölkerung lange Leidensmonate bevorstünden und in sämtlichen Bereichen (Gesundheit und Bildung, Kultur, öffentlicher Dienst etc.) gekürzt werden müsse, ein Kandidat, der behauptet: „Es ist kein Geld mehr da.“ Im Gegensatz zu anderen Kandidaten, die gemäßigtere Szenarien propagierten, vertrat Milei vehement die Ansicht, Leiden sei notwendig, um die Probleme in der Zukunft lösen zu können. Und die Menschen haben sich für diesen Kurs entschieden. Angesichts ihrer Wahl sieht es so aus, dass sich die Kunst zum ersten Mal Anpassungen unterwerfen muss, die gesellschaftlich akzeptiert sind. Wie sehr die Argentinier den Kampf der Kunst- und Kulturschaffenden unterstützen werden, können wir derzeit noch nicht wissen. Erstmals wird es zu Kürzungen kommen, die von einer gesellschaftlichen Mehrheit eingefordert werden. Die Tatsache, dass ein politischer Outsider an die Macht gewählt wurde, macht die Zeit, die vor uns liegt, unberechenbar. Sicher ist im Moment nur: Der Kampf muss zurück auf die Straße. T Aus dem Spanischen von Miriam Denger

Kriegen wir noch die Kurve?

I WANT TO BELONG (AND SING A SONG)

Von Philippe Heule

Uraufführung 13.2.2024 🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢


Die besonderen Stimmen Starke Frauen aus Kolumbien im Feld von Widerstand, Politik und Theater Von M. Soledad Lagos

Oben „La Profesora Rosalba Scholasticus“ mit Margarita Rosa Gallardo, von Rodrigo Rodríguez in eigener Regie Mitte „Ni Mierda Pal Perro“ mit Margarita Rosa Gallardo von Rodrigo Rodríguez in eigener Regie Unten „Los Bagres“ mit Soraya Trujillo und Angela Chaverra in der Regie von Soraya Trujillo

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Über Kolumbien hören wir fast immer nur Meldungen aus der politischen Welt, wesentlich seltener jedoch erfahren wir über etwas die intensiven und vielseitigen kulturellen Aktivitäten des Landes. In der Theaterarbeit der letzten Jahre ragen Frauen heraus, die sich auf unterschiedlichen Gebieten entfalten und sich vor allem als Menschen verstehen, die Netzwerke bilden. Auf den folgenden Seiten werden lediglich einige dieser Namen erwähnt in der Hoffnung, das Interesse für eine Theaterszene anzuregen, die so vielfältig wie lebendig ist. Medellín, die Hauptstadt des Departamento Antioquia, ist mit ihren über vier Millionen Einwohner:innen ein wichtiges Zentrum für unabhängige Theatergruppen und seit Jahrzehnten auch die Wiege für innovative Impulse in der nationalen Kulturszene. Yacqueline Salazar leitet seit 2002 das Kolumbianische Theaterfestival der Stadt Medellín. Als Kulturagentin im weitesten Sinne des Wortes hat sie die Chance genutzt, die ihr die kontinuierliche Teilnahme an verschiedenen iberoamerikanischen Festivals geboten hat, um Kontakte mit der lateinamerikanischen Theaterszene zu knüpfen und zu vertiefen. Während des Kolumbianischen Theaterfestivals der Stadt Medellín werden unterschiedliche Räumlichkeiten genutzt. Darunter befindet sich auch der Saal der Corporación Porfirio Barba Jacob, in einem Viertel, in dem Sozialwohnungen in den siebziger Jahren gebaut worden sind. Salazar ist seit 1997 die Künstlerische Leiterin der Corporación Porfirio Barba Jacob und auch für das Kulturmanagement dieser Organisation zuständig. Durch ihre Tätigkeit als Mitglied des Stadtrats der Stadt Medellín hat sie darüber hinaus Einblick in Bereiche, die für das Bestehen und die Förderung der lokalen Kultur entscheidend sind. Als Regisseurin arbeitet sie ferner mit jungen Schauspieler:innen zusammen, die am Szenischen Labor Ateneo teilnehmen. Dieses Labor hat Salazar im Jahre 2005 gegründet. Auch in Medellín arbeitet seit dreißig Jahren insbesondere mit der LGTBQ+ -Gemeinde die Künstlerin und Publizistin Soraya Trujillo in der Sala ImaginEros, in einem bis vor einigen Jahren von der Lokalpolitik ignorierten Stadtviertel, Comu-

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Foto oben Felipe Portilla, mitte Sandra Zea, unten Ramón Pineda

Thema ¡Adelante!


Thema ¡Adelante! na 3 im nordöstlichen Teil der Stadt. Als Gründerin und Leiterin der Corporación Artística ImaginEros prägt ihr Weltbild die Aktivitäten dieser Organisation. Medellín ist seit Jahrzehnten ein besonders konservativer Fleck in der politischen Landschaft Kolumbiens, in dem die Schatten des Rufs der Stadt als Ort der Narcos-Kultur von Pablo Escobar nach wie vor sichtbar bleiben und somit auch die Spuren einer Kultur, die stark paternalistische Züge aufweist. Es kann kaum überraschen, dass eine Frau als Leiterin einer solchen Initiative wie ImaginEros mit unzähligen Widerstandsformen verschiedener Teile der Gesellschaft rechnen musste, um ihre Arbeit überhaupt aufzunehmen.

Verschwindende Grenzen Die szenischen Arbeiten von Soraya Trujillo sind schwer zu kategorisieren, und zwar deswegen, weil sie seit vielen Jahren der Meinung ist, es gebe keine Grenzen im Sinne der unterschiedlichen Bühnensprachen: Einige sprechen über szenische Provokationen, die sehr nah an visuellen Installationen liegen, für andere ist sie eine Performancekünstlerin. Seit ihren Anfängen als Regisseurin mit „Historia de amor y Bruja“ hat Trujillo Frauen ins Zentrum ihrer Experimente gestellt. Gender- und Körperkategorien haben sie stets beschäftigt. In ihrer kürzlich aufgeführten Arbeit „Los Bagres“ fragt sich Trujillo nach der Bedeutung der Künste, nach der Leere, nach der Bezeichnung „Frau“, nach der Wissenschaft und nach der Liminalität des Lebens. Sie lädt dazu ein, über das Verschwinden sämtlicher Grenzen nachzudenken. Als preisgekrönte Expertin in Kultur und Gesellschaft des lateinamerikanischen Kontinents und dank ihrer jahrzehntenlang ununterbrochenen Tätigkeit, hat sich die Arbeit von Liliana Hurtado, Dozentin der Universidad de Caldas, Schauspielerin, Theaterautorin und Regisseurin, immer intensiver mit Frauenproblemen befasst. Liliana Hurtado versteht sich sowohl als Akademikerin als auch als eine Frau, die mit der Theaterpraxis zutiefst vertraut ist, was ihr einen ganz besonderen Platz in der Kulturszene des Landes verliehen hat. Ihre Theaterstücke zeugen von einer engagierten

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Behandlung solcher Probleme, die in einer sehr konservativen Gesellschaft oft für unwichtig gehalten werden, gerade deswegen, weil sie Frauen im Mittelpunkt haben und aus kritischer Sicht behandelt werden. Piedad Jurado, die den Saal des TICH in Manizales verwaltet und leitet, arbeitet über „unsichtbare“ Geschichten und legt den Fokus auf die Arbeit mit und in der Gemeinde. Selbst eine talentierte Schauspielerin, Musikerin und Regisseurin, hat sie jahrelang dafür gesorgt, dass das kulturelle Erbe ihres verstorbenen Mannes, Rodrigo Carreño, nicht in Vergessenheit gerät. Obwohl sie auch internationale Erfahrung vorweisen kann, stellt sie vorzugsweise die Erinnerung an die sozialen Errungenschaften des Landes in den Vordergrund. In der Hauptstadt Bogotá ist Patricia Ariza, Schauspielerin, Regisseurin, Mitbegründerin des Teatro La Candelaria und legendäre Theaterfigur der creación colectiva, sehr bekannt. Zuerst mit Santiago García an ihrer Seite – die Figur des Meisters weist noch heute unverkennbare patriarchalische Züge auf –, dann während ihrer kurzen Zeit als Kulturministerin der amtierenden Regierung, leitet sie seit 32 Jahren das Festival de Mujeres en Escena por la Paz. Darüber hinaus ist ihre Arbeit als starke Frau der Theaterszene schwer von ihrem langjährigen politischen Engagement zu trennen. Ein zentraler Name in Bogotá ist außerdem Margarita Rosa Gallardo, eine hervorragende Schauspielerin und gleichzeitig Mitbegründerin der Gruppe Ditirambo. Ganz im Sinne der integrativen Theaterfrau arbeitet sie mit Mann und

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In der Theaterarbeit der letzten Jahre ragen Frauen heraus, die sich auf unterschiedlichen Gebieten entfalten und Netzwerke bilden.

Söhnen zusammen, verfügt über eine solche bewundernswerte, kreative Energie, dass jedesmal, wenn sie Rollen wie Rosalba Scholasticus spielt, sich das Publikum nach jeder Aufführung miz minutenlangem, begeisterten Beifall bedankt. Seit einiger Zeit entwickeln die Ditirambo-Mitglieder den Begriff der:s Öko-Schaupieler:in. Der Begriff ist aus der Notwendigkeit entstanden, jüngeren Generationen den Respekt der Natur gegenüber zu vermitteln, aber auch der Agrarlandschaft einen neuen Wert zu verleihen, vor allem in einem Land wie Kolumbien, in dem ganze Dörfer oder Gegenden in den letzten Jahren von unterschiedlichen Vertretern der Gewalt praktisch als Beute definiert worden sind, mit den entsprechenden katastrophalen Folgen für einzelne Gemeinden.

Carolina Vivas In der Hauptstadt arbeiten seit Jahren Thea­ terautorinnen und Regisseurinnen in enger Zusammenarbeit mit ihren Lebenspartnern und Mitgliedern ihrer Familien in der jeweiligen Gruppe. Unter diesen starken Frauen befindet sich Carolina Vivas, von Umbral Teatro. Sie fing als Schauspielerin im Teatro La Candelaria an und wurde als Theaterautorin in den letzten Jahren sehr bekannt. Frauen in Kolumbien haben eine ganz besondere Stimme und man kann sie schlecht etwa mit den starken Frauen im Südens des Kontinents vergleichen: Der sozio-politisch-ökonomisch-kulturelle Kontext jedes einzelnen Landes spielt eine entscheidende Rolle. Deshalb ist es besonders wichtig, wenn man ihre Arbeit in Europa sichtbar macht, vor allem davor zu warnen, Lateinamerika für einen homogenen Kontinent der darstellenden Künste zu halten. T

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„Hamlet“ von William Shakespeare als Gastspiel von Peru von Gruppe Teatro la Plaza im Rahmen vom ¡Adelante! Festival in Heidelberg

Hamlet sein Bei der peruanischen Theatergruppe La Plaza arbeiten Darsteller:innen mit Down-Syndrom Von Luz Emilia Aguilar Zinser

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„Hamlet“, eine sehr freie ShakespeareInterpretation von Chela de Ferrari und der Gruppe La Plaza, hatte 2019 in Peru Premiere. Es ist eine Inszenierung, die vor Augen führt, mit welcher Kraft Theater die geistigen Horizonte der uns bekannten Welt verschieben und erweitern kann. Dem Theater steht ein komplexes Zeichensystem zur Verfügung, das ermöglicht, mit einer großen Palette an Zwischentönen und Schattierungen zu arbeiten, Emotionen auszulösen und Ideen zu entwickeln, um unsere Vorstellung von Wirklichkeit zu bereichern. De Ferrari beherrscht dieses System meisterhaft und setzt es mit außergewöhnlicher Sensibilität und handwerklichem Können ein, um die Vorurteile gegenüber Menschen mit Down-Syndrom zu untersuchen und die Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen durch die Historie hindurch zu hinterfragen. In der Theatergeschichte gab es immer wieder bemerkenswerte Momente, die den Blick auf die Unterschiede zwischen Menschen lenkten und erlaubten, den Schmerz und die Ungerechtigkeit bestimmter Situationen und Zustände zu erkennen. In seinem Buch „Mit der Seele hören: Die Geschichte der Taubheit“ (1989) beschreibt Harlan Lane, wie der Abt Charles-Michel de l’Epée (ein Pionier auf dem Gebiet der Bildung für Gehörlose und der Anerkennung ihrer kognitiven Fähigkeiten) bereits Ende des 18. Jahrhunderts das Theater als Medium nutzte, um die Intelligenz dieser sozialen Gruppe zu demonstrieren, die bis dahin als lernunfähig galt und gesellschaftlich ausgegrenzt wurde. Das Theater ermöglichte es ihm, seine Mission weiterzuführen. Es sind noch keine hundert Jahre vergangen, seit totalitäre Regime unterschiedlicher politischer Ausrichtung Menschen ermordeten, die gehörlos, neurodivergent oder homosexuell waren, die nicht in ein bestimmtes Rassenschema passten oder wirtschaftlich als nicht produktiv genug angesehen wurden. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts boten sich im Theater und in der Gesellschaft Möglichkeiten, diese Vorurteile gegenüber genetischer Vielfalt, Alter, Gender und sexueller Orientierung herauszufordern. Als Quantensprung können in dieser Hin-

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Foto Teatro la Plaza

Thema ¡Adelante!


Thema ¡Adelante! sicht die Arbeiten von Peter Brook und Pina Bausch gelten, doch es musste noch einmal viel Zeit vergehen, bis Schauspielschulen auch übergewichtige Menschen aufnahmen und andere, deren äußere Erscheinung nicht den völlig absurden gesellschaftlichen Normen entsprach. Pablo Pineda, der 2009 auf dem internationalen Filmfestival in San Sebastián mit der Silbernen Muschel als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, erlangte in jüngerer Zeit als erster Europäer mit Down-Syndrom einen Universitätsabschluss. In Peru beschreitet mit Liberarte Talleres Especiales seit 2007 eine Musiktheaterschule für neurodivergente Menschen neue Wege. Wie viele Menschen mit Trisomie 21 besuchen weltweit eine Universität? Wo sind die Theaterstudiengänge, die Menschen mit Rollstuhl oder Gehhilfe, Blinde, Gehörlose oder Neurodivergente integrieren? Können wir selbständig leben? Können wir Kinder bekommen und für sie sorgen? Respektiert unsere Rechte! Nach Schätzungen der UNO wird weltweit eines von tausend Kindern mit Down-Syndrom geboren. In Peru haben (Nach Angaben der peruanischen Down-Syndrom-Gesellschaft) nur elf Komma vier Prozent der Menschen mit Behinderung eine Therapie oder eine medizinische Behandlung erhalten, nur 59 Prozent von ihnen besuchten die Grundschule und nur 39,6 Prozen nehmen aktiv am Arbeitsleben (https://www. spsd.org.pe) teil. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21 galt als gering, heute liegt sie bei über fünfzig Jahren. Das teuflischste aller Verbrechen: uns das Recht zu verweigern, zu sein. „Hamlet“ von Chela de Ferrari mit Octavio Bernaza, Jaime Cruz, Lucas Demarchi, Manuel García, Diana Gutierrez, Cristina León, Ximena Rodríguez und Álvaro Toledo verwendet das Dilemma von Sein oder Nicht-Sein, um anzuprangern, dass Menschen mit Down-Syndrom von vielen Chancen auf Entwicklung und ein erfülltes Leben ausgeschlossen werden. Nicht ohne

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humorvolle Momente entlarvt das Stück dabei Vorurteile als Mythos, die gemeinhin Menschen mit Down-Syndrom zugeschrieben wurden, etwa eingeschränkte Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeit, und tritt stattdessen den Beweis an, dass das Selbstvertrauen und die Selbständigkeit dieser Darsteller:innen Realität sind. Die Inszenierung dreht sich um Zärtlichkeit, Träume und Sehnsüchte von Menschen, die ihr Leben lang zu Unrecht bevormundet wurden. Und sie greift dabei auf einen Klassiker zurück, der außergewöhnliche Analysen von Machtverhältnissen, familiären Beziehungen, Rache, Schuld, Liebe und dem Potenzial des Theaters bereithält, um uns mit Missständen zu konfrontieren, die erst in jüngster Zeit infrage gestellt und bekämpft werden. Weder idealisiert noch romantisiert de Ferraris „Hamlet“-Interpretation die Herausforderungen, denen sich Menschen mit Down-Syndrom und ihre Familien stellen müssen. Die Inszenierung will nicht dokumentarisch sein und erlittenes Unrecht reproduzieren. Voll Respekt öffnet sie den Blick für die Dilemmata dieser heterogenen Community, was Themen wie Sexualität, Unabhängigkeit oder mögliche Elternschaft betrifft. Glaubt ihr, dass die Geburt eines Menschen mit Down-Syndrom ein Grund zum Feiern ist?

Jede Bewegung, jede Stimme ist emotional aufgeladen, fordert, behauptet, bringt Sehnsucht zum Ausdruck. wacher Sinn für die Wahrheit verbindet das Spiel mit den Anliegen der Teilnehmer und mit der shakespeareschen Handlung.

Unser Leben ist ein Unterfangen zwischen Sein und Nicht-Sein ... Vielleicht ist das Theater ... unser letzter Ausweg

ßen Kleid, das vom Schnürboden herabschwebt und einer Krone; es ist die menschliche Präsenz, die den Raum immer stärker ausfüllt. Im Hintergrund der Bühne wirft ein Großbildschirm Echos des Bühnengeschehens in den Raum zurück, während sich Atmosphäre und symbolisches Spiel entfalten. Es ist ein schmaler Grat zwischen virtueller und lebendiger Präsenz, der Trennfläche des Bildschirms und den pulsierenden realen Körpern. Es entstehen Resonanzräume zwischen der Schärfe der lebendigen Figuren und den Videoeinspielungen, dem Echo des Überlieferten und dem Hier und Jetzt. Jede Bewegung, jede Stimme ist emotional aufgeladen, fordert, behauptet, bringt Sehnsucht zum Ausdruck. Ein wacher Sinn für die Wahrheit verbindet das Spiel mit den Anliegen der Teilnehmer und mit der shakespeareschen Handlung. Die Musik erzeugt Atmosphären, versetzt uns in die Renaissance, kulminiert in explosivem Rap und taucht die Bühne in zeitgenössische Rhythmen, die das Publikum dazu einladen, gemeinsam mit dem Ensemble zu tanzen. Wie dieser Hamlet sagt: Das Schauspiel sei die Schlinge In die euch euer Gewissen bringe. Wenn ihr zuckt, offenbart sich Schuld ist es, die euch erschüttert Und gelungen ist’s, den Schleier zu lüften Den euch die Ignoranz auf die Augen gelegt. T

Bühne und Ausstattung kommen mit spärlichen Mitteln aus, einer kleinen Treppe, einem rollenden Chefsessel, einem wei-

Aus dem Spanischen von Miriam Denger

Ich bin nicht wie die anderen! Von Beginn an wirkt die Bühne wie ein Kreißsaal, der Ort, an dem wir auf die Welt kommen und unaufhörlich wiedergeboren werden im Blick der anderen, und im Blick, den wir auf uns selbst richten. Die Aussage „Ich bin und ich bin hier“ erinnert uns an den ersten Schrei eines jedes Menschen, der zur Welt kommt, und an die, die ihnen folgen, die sich in die Welt hineindrängen, um zu leben.

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Schönes, geliebtes Mexiko Das Land ist Arbeitsort kultureller Emigranten Von Ilona Goyeneche

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Die Bestürzung über den Sieg des ultrarechten Kandidaten Javier Milei bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen am 19. November 2023 war für viele Menschen groß. Theaterschaffende hatten in ihren Netzwerken noch zur Wahl des peronistischen Gegenkandidaten aufgerufen, um das verheerende Ergebnis zu verhindern, aber vergeblich: Mit der Motorsäge in der Hand feierte Milei „Es lebe die Freiheit, verdammt nochmal“ und kündigte an, es gebe „keinen Platz für Gradualismus und laue Halbherzigkeiten“. Auch nicht, was die Kultur betrifft. Als erste Amtshandlung reduzierte er mit einem Regierungserlass die Zahl der existierenden Ministerien um die Hälfte: Die Ex-Ministerien für soziale Entwicklung, Bildung, Arbeit, Frauen und Kultur sind nun im neu geschaffenen „Ministerium für Humankapital“ vereint. In seiner Antrittsrede bekräftigte der Präsident erneut, dass „kein Geld da ist“.

„Die Aussichten sind nicht gut, und die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit“, sagt Romina Coccio, Schauspielerin und Dozentin für Improvisationstheater, die vor 18 Jahren auf der Suche nach neuen Perspektiven nach Mexiko gezogen ist. Sie ist eine von vielen Argentinier:innen, die in Mexiko leben, die meisten von ihnen haben ihre Heimat vor allem wegen der wirtschaftlichen und politischen Krisen Richtung Mexiko verlassen. Mit der Präsidentschaft Mileis könnte es zu einer neuen Auswanderungswelle der kreativen Köpfe kommen. „Auf Facebook fragen mich immer mehr Leute, welche Papiere man braucht, welche Formalitäten zu beachten sind, ob ein Anwalt nötig ist, um die Staatsangehörigkeit zu beantragen oder ob man eine Arbeitsgenehmigung haben muss, wenn man nach Mexiko auswandern will“, berichtet Coccio. Das Nachbarland der USA hat seit jeher Migrant:innen aufgenommen, viele

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Foto Héctor Ortega

Sabina Aldana zu Beginn des Stücks „Indumentarias para no desaparecer“, das 2022 in Mexiko-Stadt uraufgeführt wurde


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H O M E M A DE P R E M IE R E N: davon im zwanzigsten Jahrhundert: in den 1920er-Jahren aus der gerade erst gegründeten Sowjetunion, in den 1930er-Jahren spanische Republikaner auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, später vom Franco-Regime Verfolgte, in den 1970er-Jahren unter anderem Argentinier:innen, Chilen:innen, Uruguayer:innen, Peruaner:innen, Kolumbianer:innen und Brasilianer:innen. Sabina Aldana, kolumbianisch-mexikanische Künstlerin, mit der Mexikanerin Laura Uribe zusammen Gründerin des Laboratorio de Artistas Sostenibles, kam vor acht Jahren von Kolumbien nach Mexiko. Sie sagt: „In Kolumbien gibt es weniger Arbeitsmöglichkeiten und die Branche ist im Vergleich zu Mexiko kleiner und weniger offen. Außerdem ändert die Kulturpolitik mit den wechselnden Regierungen und Bürgermeistern in Bogotá alle vier Jahre ihren Kurs. Das führt dazu, dass Förderprogramme für Kunst und Kultur gestoppt werden, denn das sind meist Pilotprojekte, die man einführen und wieder abschaffen kann, die aber nicht nachhaltig sind, und das erzeugt viel Unsicherheit in der Kulturszene.“ So sieht es auch die kolumbianische Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Ginna Narváez, die ebenfalls 2015 nach Mexiko gekommen ist, um einen Masterstudiengang im Bereich Kulturmanagement zu absolvieren. „In Bogotá gibt es auf dem Arbeitsmarkt nur wenige Entwicklungsmöglichkeiten und die Stadt hat auch nur wenige Theater. In den letzten Jahren hat es zwar wieder mehr öffentliche Mittel gegeben, aber gemessen an der Zahl der Künstler:innen, die dort jedes Semester ihren Abschluss machen, sind es immer noch viel zu wenige.“ In Mexiko gibt es mehr Angebot, mehr Nachfrage und größere Budgets, und die Film- und Fernsehbranche ist für Schauspieler:innen ein attraktiver Arbeitgeber. „Es ist ein sehr großes Land, mit viel staatlicher Unterstützung, dadurch ist es einfacher, Projekte auf die Beine zu

In Mexiko gibt es mehr Angebot, mehr Nachfrage und größere Budgets. Theater der Zeit 2 / 2024

stellen und durchgehend künstlerisch beschäftigt zu sein“, so Narváez. „Anders als in Argentinien kann man hier von der Kunst leben“, sagt Coccio, „Ich behaupte nicht, dass es einfach ist oder dass jeder es schaffen kann. Doch obwohl zuletzt viel gekürzt wurde und die Situation im Kulturbereich schwierig ist, gibt es immer noch viel mehr Jobchancen, beim Film, in Fernsehserien oder in der Werbung.“ Das chilenische Schauspielerpaar Claudia Cabezas und Benjamin Westfall kam im Februar 2023 mit seiner Tochter nach Mexiko, auf der Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten. Cabezas berichtet: „Die Beschäftigungssituation in Chile ist sehr kompliziert. Ich habe zwar einen Job und kann mich nicht beklagen, aber die wirtschaftliche Lage ist schwierig und instabil. Für die Kurse, die ich gebe, bekomme ich seit zehn Jahren das gleiche Honorar. Fördermittel zu beantragen ist schwierig, das wirkt abschreckend. Das chilenische Kino genießt zwar international zunehmend Aufmerksamkeit, doch gemessen an der Zahl der chilenischen Künstler:innen, gibt es nach wie vor nur wenige Projekte. Meine Kolleg:innen sind zunehmend skeptisch, wie man in Chile von seiner Kunst leben soll, um es vorsichtig auszudrücken.“ Die beiden Schauspieler:innen hatten gehört, dass in Mexiko kulturell viel los sei, und, so Westfall: „Mexiko bedeutet für uns, in Lateinamerika bleiben zu können und keine neue Sprache lernen zu müssen. Unser Plan war, es ein Semester lang einfach auszuprobieren und unser Glück zu versuchen, Arbeit zu suchen, uns den Arbeitsmarkt zu erschließen, Kontakte zu knüpfen und Leute aus der Film- und Fernsehbranche kennenzulernen, um Brücken zu schlagen.“

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In Chile unmöglich Vergangenen März sprachen Vertreter der mexikanischen Filmindustrie der damaligen Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, Anerkennung für ihre „Führungsrolle in der Film- und Fernsehindustrie in Mexiko-Stadt“ aus, weil die Stadt mittlerweile zu einem der gefragtesten Drehorte weltweit geworden ist. Um 23 Prozent sei die Zahl der Produktionen

Forum Freies Theater Düsseldorf

MUSIKTHEATER

fft-duesseldorf.de © Katja Strempel / © Mayra Wallraff


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Zusammenarbeit mit der peruanischen Gruppe Llactaymanta im Rahmen der Ausstellung „Soliloquio“ von Tiziano Cruz auf dem Festival La Bâtie – Genf Schweiz

Der große Widerspruch Indigenismus auf dem Kunstmarkt Von Tiziano Cruz

Foto Matias Gutierrez

im Jahr zuvor gestiegen, die Investitionen der Branche um 16 Prozent. „Es gibt mehr Wettbewerb, mehr Vorsprechen und mehr Jobs als in Chile, wo weniger produziert wird und der Sektor verschlossener ist. In Mexiko ist die Arbeit deutlich internationaler geworden, die Profile der Schauspieler:innen diverser, in Chile dagegen sind Castings nach wie vor sehr klassenorientiert und eine einzige Rolle genügt, um dauerhaft in eine Schublade gesteckt zu werden“, vergleicht Cabezas. „Ich bin übers Internet an ein Vorsprechen für eine Hauptrolle beim Film gekommen“, erzählt Westfall, er ist Schauspieler bei der chilenischen Kompagnie La Re-sentida und hat beim kürzlich erschienenen Film „Los Colonos“ (dt. Die Siedler) mitgespielt, der 2023 bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere feierte. „Claudia und ich verbringen jeden Tag mehrere Stunden mit der Suche nach Jobs, Vorsprechen, Castings, Netzwerken, Kontakte pflegen und mit dem Schreiben von E-Mails. Einmal, da habe ich eine Anzeige für ein Vorsprechen gesehen, für eine bestimmte Rolle. Ich habe mein Material eingeschickt, sie haben mich kontaktiert, es gab ein Zoom-Treffen mit dem Regisseur, dann ein richtiges Vorsprechen und eine Woche später haben sie mich angerufen und gesagt, ich hätte die Rolle. So etwas ist mir in Chile noch nie passiert.“ Obwohl es nicht einfach ist, ein Arbeitsvisum für Mexiko zu bekommen und die Wartezeit dafür lang ist, empfiehlt sie allen, das Leben hier auszuprobieren. „Natürlich würde ich Kollegen empfehlen, zum Arbeiten hierherzukommen“, sagt Ginna Narváez, genau wie Romina Coccio: „Für mich ist es gut gelaufen.“ Und obwohl Claudia Cabezas keine Arbeit in Mexiko gefunden hat und für ein Projekt nach Chile zurückgegangen ist, hat sie einen sehr guten Eindruck mitgenommen. „Es gibt einen Willen, die Kultur zu fördern und sichtbar zu machen, den ich aus Chile so nicht kenne. Ich würde jedem raten, nach Mexiko zu gehen, weil es wunderbar ist. Ich will auch wiederkommen.“ T Aus dem Spanischen von Miriam Denger

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Thema ¡Adelante! von Abya Yala1 – in der das Denken nur als Werkzeug zur Beschaffung des täglichen Lebensunterhalts dient. Hartnäckig hält sich die Vorstellung, ein indigener Künstler könne zwar ein Kunstwerk erschaffen, sei aber unfähig zu einer politischen oder gar ideologischen Analyse seiner Realität – mit der Folge, dass die Freiheit des Denkens und Handelns bis heute eingeschränkt sind, wenn es um die Peripherie geht.

Indigene Repräsentation

Ich erzähle Ihnen etwas über uns, weil es vermutlich sonst niemand tut, doch es ist für mich eine Herausforderung, unsere Praxis der sogenannten „Arte Indígena“ zu theoretisieren, die indigene Kunst, die der Selbstvergewisserung, der Rückforderung von Rechten und Ansprüchen eines durch den Kolonialismus dezimierten Teils der Weltbevölkerung dient. Ich kann nicht fortfahren, ohne zuerst auf die Voraussetzung dieses Vorgangs einzugehen, das Privileg des (sich) Denkens, denn ich gehöre zu einer Bevölkerungsgruppe Argentiniens – oder dem großen Gebiet

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In den letzten Jahren ist die Sicht­barkeit zeitgenössischer künstlerischer Arbeit von Indigenen stark gestiegen, daher möchte ich lieber über Werke und Stücke und weniger über die Künstler sprechen, von denen sich viele immer noch nicht als solche begreifen, während die Materialität ihrer Kunst zunehmend anerkannt wird. Das hat damit zu tun, dass es lebensgefährlich sein kann, sich als indigen zu identifizieren, in einem kapitalistischen System, in dem wir uns das Leben erst verdienen müssen, einem System, das uns zu kleinen Rädchen einer großen Maschinerie degradiert, uns zu schmerzhaften Zugeständnissen zwingt und uns doch immer nur auf die letzten Plätze verweist: als billige Arbeitskräfte, denn nichts anderes ist der globale Süden für den Rest der Welt. Seit einiger Zeit findet eine Institutionalisierung von Indigenismus statt, die den Charakter der indigenen Kultur entpolitisiert und sie in das Kulturgut einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht verwandelt, einer gebildeten, progressiven Linken, die sich eloquent ausdrückt, aber nicht weiß, wie sie mit unseren Leuten sprechen soll, eine Gruppe, in der wir für manche nichts anderes sind als folkloristisches Kunsthandwerk, autochthones Allgemeingut, ein regionales Produkt, eine

1 Abya Yala, Bezeichnung für den gesamten amerikanischen Kontinent, die aktuell von den indigenen sozialen Bewegungen verwendet wird. Der Begriff wurde vom Anführer des bolivianischen Aymara-Volkes, Takir Mamani, vorgeschlagen und 1977 vom Weltrat der indigenen Völker auf dem zweiten Kontinentalgipfel der indigenen Völker und Nationalitäten im schwedischen Kiruna angenommen.

In den letzten Jahren ist die Sicht­barkeit zeitgenössischer künstlerischer Arbeit von Indigenen stark gestiegen.

Ware, wie die Souvenirs, die von den Touristen gekauft werden, ein exotisches Gesicht, eine exotische Haut, ein exotischer Körper, den man in einem Kuriositätenkabinett an die Wand hängt. Was repräsentieren wir – diejenigen Indigenen, die heute einen Platz in den Schaufenstern des Kunstmarkts gefunden haben – für die Gesellschaft im Allgemeinen und für unsere eigene Community im Besonderen? Ich behaupte, dass wir im Bereich der Darstellenden Künste von eurozentristischen-aristotelischen Narrativen kolonialisiert wurden, die sich in unseren Lebensräumen festgesetzt haben und unsere Kosmogonien strukturieren, die uns lähmen und uns jede Chance auf Veränderung nehmen, als wären wir Live Art-Ausstellungsstücke in einem Museum, oder ein bürgerliches Drama, das MittelschichtsDrama einer dysfunktionalen Familie, die sich offenbar überall in unserem Territorium ausgebreitet hat. Und natürlich gibt es dafür Verantwortliche, und zwar das Machtzentrum, die Macht des Zentrums, die jedoch in allen Ebenen und Schichten, an allen Orten und bis hinein in die Peripherie Verbündete hat; dabei handelt es sich um Kunstinstitutionen, denen es durch wirtschaftliche Finanzierung gelungen ist, Produktions- und Reproduktionsweisen zu etablieren, eine moderne Komplizenschaft der Kolonialisierung, wie lässt sich das überleben? Wie lassen sich in der Kunst neue Wege gehen? Ich mache kein indigenes Dokumentartheater, erlauben Sie mir die selbstreferenzielle Bemerkung, ich mache indigene politische Kunst, die Denken, Fühlen und die Sehnsucht nach einem besseren Leben verbindet. Ich spreche über Armut und die ungeheure Gewalt, die unseren Körpern immer wieder angetan wird; unsere Körper, die verletzt und vergewaltigt werden von einem System, das alles verschlingt.

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Thema ¡Adelante! Wir schreiben unsere Stücke gemeinsam, vielleicht um die Angst vor unserem eigenen Ende erträglicher zu machen, denn wenn das Leben kein anderes mögliches Ende hat als den durch die Nekropolitik verursachten Tod, dann können uns nur noch unsere Ahnen retten. Welchen Platz nimmt unser indigener Körper auf dem Kunstmarkt ein? Klar ist, dass es vielen Regisseur:innen, Kurator:innen und Akteur:innen im Kulturbereich ein dringendes Anliegen ist, unseren Körpern eine Stimme zu geben, doch was ist der richtige Weg dafür? Um den derzeit vorherrschenden Tokenismus zu überwinden, müssen wir zulassen, dass diese Körper, unsere Körper, für sich selbst sprechen können, unsere Erinnerungen erzählen, das ist der erste Schritt, nicht der Versuch, uns selbst zu definieren, oder uns unsere Kosmogonien anzueignen, oder gar unsere für alle sichtbar verrottenden Körper als großes Spektakel eines fortschrittlichen Systems zu präsentieren, in dem wir wie

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alte Vögel sind, mit Flügeln, die von unzähligen Himmelsreisen gebrochen sind. Es gibt viel zu tun. Derzeit werden wir Indigene zwar von einigen Institutionen respektiert, doch im alltäglichen Leben drängt man uns in eine untergeordnete Rolle. Wir stehen am Rand, und werden doch weiterhin als Gefahr für die Zivilgesellschaft gesehen; Organisationen stellen uns ein, ohne zu wissen, wie sie uns bezahlen sollen, wir leben in einem Finanzsystem, an dem wir nicht teilhaben. Der zweite Schritt ist daher eine Zusammenarbeit von Indigenen und Repräsentanten des Kunstbetriebs, zweifellos müssen wir aus den von uns repräsentierten Einrichtungen heraus einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Politik anstoßen. Noch viele Kämpfe müssen gewonnen werden, damit Theater, Museen oder Kunstgalerien nicht unsere einzigen Zufluchtsorte bleiben; wir müssen unser Recht wahrnehmen können, uns auf unserem eigenen Boden frei zu bewegen – und

wir müssen es tun. Der Weg ist lang und fühlt sich oft einsam an, doch das bedeutet nicht, dass wir ihn allein gehen. Dieser Text will zu einer kritischen Reflexion über meine indigene Community im Kunstbereich beitragen, der uns erlaubt, Türen zu öffnen und Fragen zu stellen, uns zu treffen und zu erkennen, auf den Feldern, Straßen oder in den großen Ausstellungsälen, und auf diesem Weg müssen wir die Utopie aufgeben, die Welt zu verändern, und uns darauf konzentrieren, die Realitäten der Menschen um uns herum zu verändern. Der Ausweg liegt in Mikropolitik und im Kollektiv. T Aus dem Spanischen von Miriam Denger

Weitere Texte zum Theater in Südamerika finden Sie unter tdz.de/suedamerika


Theater der Zeit

Foto Fine Kwiatkowski und Willehad Grafenhorst

Akteure

Die Tänzerin Fine Kwiatkowski in Videostills aus dem Film „dahinter liegt das unumkehrbare“ von Willehad Grafenhorst am Denkmal „Cretto di Gibellina“ (Riss von Gibellina) in Sizilien

Kunstinsert Die Tänzerin Fine Kwiatkowski im sizilianischen Gibellina Porträt Mit „Chronik der Revolution“ zeigt Alireza Daryanavard am Berliner Ensemble eine Produktion über historische und gegenwärtige Proteste im Iran Nachruf Die letzte Brecht-Schauspielerin Regine Lutz

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Fotos Fine Kwiatkowski und Willehad Grafenhorst

Die Tänzerin Fine Kwiatkowski in Videostills aus dem Film „dahinter liegt das unumkehrbare“ von Willehad Grafenhorst am Denkmal „Cretto di Gibellina“ (Riss von Gibellina) in Sizilien

Den Narben begegnen Die Tänzerin Fine Kwiatkowski im sizilianischen Gibellina Von Heike Albrecht

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Der Tanz von Fine Kwiatkowkski ist ein künstlerischer Tanz mit den Mitteln der Improvisation. In ihrer Bewegung verkörpert sie ein Spektrum einer auf ihren Körper abgestimmten Bewegungssprache, die auf einer eigenen, selbstbestimmten tänzerischen Entwicklung basiert. Durch ihre Körpersprache erschafft sie Choreografien als Ausdruck für klar lesbare Körperbilder und verbindet diese thematisch mit menschlichen Transformationszuständen. Ihre Arbeiten reflektieren ihre Auseinandersetzungen mit der conditio humana – als einen immerwährenden künstlerischen Dialog, humanistisch, existenzialistisch, der Welt zugewandt. Ihr Bewegungsreichtum ist hochgradig verdichtet, Zelle für Zelle aktiviert, gegenwärtig in glasklaren Körperlinien. Sie ist in ihrem Ansatz bedingungslos konkret und offenbart „mit ihrer außergewöhnlichen und hochdifferenzierten Körpersprache, dass die Grenzen dessen, was durch Bewegung sagbar ist, noch immer nicht festgeschrieben sind“, so der Saxofonist Urs Leimgruber, der mit Kwiatkowski zusammengearbeitet hat. Es ist ein Tanz, der aufs Tiefste berührt, irritiert, fesselt und eine politische Dimension von Tanz erschafft. Ihre Choreografien sind Ausdruck ihrer individuellen wie auch dem Menschen inhärenten Dringlichkeit, Auseinandersetzungen erfahrbar werden zu lassen.

Fine Kwiatkowski, geboren 1956, lebt in Berlin als Tänzerin und Choreographin. Seit 1980 entwickelte sie im DDR-Under­ ground eine eigene, auf ihren Körper ab­ gestimmte Bewegungssprache. Sie benutzt das Mittel der Impro­visation, um Gedankenund Gefühlsprozesse über Körperbilder nach außen zu transportieren. Dabei arbeitet sie eng mit Musikern der zeitgenössischen Musik sowie mit bildenden Künstlern und Filmemachern zusammen.

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Fine Kwiatkowskis Tanzwerke werden konsequent interdisziplinär gedacht. Durch die Einbeziehung von filmischen Elementen, Literatur, Musik und bildender Kunst entsteht eine immerwährende Zwiesprache zwischen und mit den Genres. Unbeirrt, selbstbestimmt geht es ihr darum, die Gestaltung von Bewegungen mit den Mitteln der Improvisation beständig auszuloten und mit ihrem Körperwissen diese Konkretheit übersetzbar zu halten – dabei ist ihr Körper Erinnerungsträger, spiegelt Einflüsse wider, ist Projektionsfläche; sie wird dadurch gleichzeitig zur Erzählenden wie Fragenden. Wir erleben auch die unbeugsame Stimme einer Künstlerin, die viele gesellschaftliche Umbrüche erlebt hat und sich in ihrem künstlerischen Schaffen damit auseinandersetzt. Kompromisslos, angstfrei und in permanenter Auseinandersetzung mit Körpern als Abbilder unserer Zeit, verbindet sie eine tänzerische Verhandlung von Historie und Gegenwart. Ihr Tanz bewegt sich als ein Kontinuum außerhalb konventioneller, institutioneller Tanzstrukturen und verweist darauf, dass autonome Arbeit von freien Tanzprojekten Mut erfordert. Kompromisslos erforscht sie seit vierzig Jahren ihre eigene Körpersprache und entwickelt ihre Bewegungsführung zur Gestaltung von Tanzwerken permanent weiter. Für den Tanz führt sie ihren bedeutsamen Weg fort, durch ihre Hinwendung und Bezugnahme der ihr eigenen Tanz- und Bewegungsformen in den Umraum der Natur und setzt für den landschaftsbezogenen Tanz wichtige Maßstäbe; sichtbar in dem in 2021 entstandenen Film „dahinter liegt das unumkehrbare“ von cri du coeur, einem Multimediaprojekt, das von Fine Kwiatkowski und Willehad Grafenhorst, Musiker, Computervisualist, Filmemacher, 2003 gegründet wurde.

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Fotos Fine Kwiatkowski und Willehad Grafenhorst

Außerhalb des konventionellen Tanzes


Akteure Kunstinsert Der Film wurde auf Sizilien gedreht, aus ihm stammen die Videostills, die in dem großflächigen Denkmal „Cretto“ aufgenommen wurden. Bekannt als „Cretto di Gibellina“ oder „Il Grande Cretto“ (Riss von Gibellina) ist ein von Alberto Burri 1984 begonnenes und aus Geldmangel erst 2015 fertig gestelltes Landschaftskunstwerk, das Überreste des Stadtkerns aus dem bei einem Erdbeben 1968 nahezu völlig zerstörten Ort Gibellina im Belicetal unter eine Betondecke versetzte. Es ist eine künstliche, entrückte Landschaft entstanden, als ein zu betretender Ausschnitt einer Stadtruine, entlang riesiger, begehbarer Risse im Beton, monumental und labyrinthisch – als Erinnerung und Gedenken an das zerstörte Leben in den ehemaligen Häusern und Gassen. Mit über fünfundachtzigtausend Quadratmeter ist es eines der größten jemals realisierten Kunstwerke, das die historischen Straßenzüge und Gebäudestrukturen unter dem Beton erahnen lässt. Burri ließ sich für seine Arbeit an seinem Werkzyklus über Risse von den rissigen Landschaften des Death Valley inspirieren, auch als eine Art Psychogeografie, die auf die Gewalt und das Trauma der faschistischen Herrschaft und der industrialisierten Kriegsführung hinwies, die Burri in zwei Weltkriegen erlebt hatte.

Im öffentlichen Raum Entstanden ist dieses Kunstwerk im Rahmen des beschlossenen Wiederaufbaus der seit dem 14. Jahrhundert bestehenden zerstörten Siedlung. Gibellina Nuova wurde wenige Kilometer von der historischen Stadt entfernt errichtet. In diese neue Stadt­planung wurden zahlreiche künstlerische Arbeiten für den öffentlichen Raum eingebunden – circa sechszig Kunstwerke entwickelt für ein kulturelles Gedächtnis – mit dem wohl bekanntesten und eindringlichsten Kunstwerk „Cretto“ von Alberto Burri, einem ­ wichtigen italienischen Künstler der Nachkriegszeit. Fine Kwiatkowski beschreibt ihre Begegnung der Cretto di Gibellina im Gespräch: „Auf dem Weg zu einem Konzert entdeckten wir diesen Ort. Schon von Weitem sahen wir einen weißen Teppich in der sonst grün schimmernden Landschaft aufleuchten. Ein Netz von dunklen Adern durchzog die Flächen, die wie an einen Hang geheftet erschienen. Beim Näherkommen teilten diese Adern weiße Blöcke voneinander ab. Waren mal größer oder kleiner in ihrem Umfang und schienen zu schweben. 1968 zerstörte ein Erdbeben Gibellina fast vollständig. Für die überlebenden Bewohner:innen wurde neun km entfernt ein neues Dorf aufgebaut. Wie wir erfahren haben, taten sich die Bewohner:innen sehr schwer, ihren neuen Ort anzunehmen. Anfang der siebziger Jahre gewann der damalige Bürgermeister den Künstler Alberto Burri aus Rom für eine Zusammenarbeit. Niemand sollte dieses Erdbeben vergessen und daran erinnern, wie verletzlich Landschaften und Menschen sind. Burri deckte das zerstörte Dorf mit einer ein Komma sechs Meter dicken, weißen Betonschicht zu. Weißgraue Blöcke mit Rissen, als eingebundene Adern, erinnern an das Dorf mitsamt den verschwundenen Häusern, Straßen und Wegen. Ein Museum unweit dieser Stätte erzählt die Entstehung dieses Kunstwerks und die Geschichte der darin zuvor lebenden Menschen.

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Fine Kwiatkowskis Tanzwerke werden ­konsequent interdisziplinär gedacht durch die Einbeziehung filmischer Elemente, Literatur, Musik und bildender Kunst.

Sich in den Gängen und auf den weißgrauen Flächen Gibellinas aufzuhalten, löste Gefühle aus, die etwas mit Erstickung, Ohnmacht, aber auch auflehnender Kraft zu tun hatten. Gibellina liegt in einer mit glänzenden Quarzen durchzogenen Landschaft mit Weiden, kargen Baumgruppen und Feldern. Für uns war es unbedingt notwendig, diese Begegnung mit der Schönheit der Landschaft der Madonie, einem Naturpark auf Sizilien östlich von Gibellina, in unserem Film zu verweben. Tanz, Musik, Landschaften und bildende Kunst erzählen vom Leben im Jetzt und zeigen im Schönen auf, was wir aufgrund von Lebenshaltungen im Begriff sind zu verlieren. Uns zog es immer wieder an diesen Ort und wir wussten 2021, er soll in unserem Film „dahinter liegt das unumkehrbare“ die Erzählstränge Meer/Ewigkeit/Distanz/Erbe/Agonie miteinander verweben. „Medea. Stimmen“ von Christa Wolf war der Auslöser für unseren Film. Ein Roman mit seinen erzählenden Stimmen über Machtmissbrauch, über Lügen, auch nicht vor Mord zurückschreckend, aber auch über Freundschaft und Solidarität. Für uns hochaktuell.“ In poetischen Bildern beschreibt der Film einen Zustand im Jetzt, verweist auf das einmalige, wie verletzliche Leben und verbindet es mit einer warnenden Ahnung vor einer schier unaufhaltsamen, gewaltbereiten und zerstörerischen Welt. Wir stehen vor gefährlichen autoritär geprägten Machtverschiebungen. Der Roman „Medea. Stimmen“ wendet sich offen der Frage zu, wozu Menschen bereit sind, um Macht zu erlangen und diese sich zu ­sichern. Flucht, Fremdenhass und die Thematik eines Sündenbocks sind weitere Bearbeitungszüge in der Umarbeitung des antiken Stoffes. Zeithistorisch stehen wir erneut vor einer ­Wiederholung von Machtanmaßung, Verleumdungen, fremdenfeindlicher und rassistischer Hetze, Ausgrenzungsszenarien und einer eklatanten Zerstörung zivilisatorischer Aufklärung – und müssen uns jetzt verbinden, um unsere offene, demokratisch geprägte Gesellschaft zu verteidigen. T

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Akteure Porträt

Der iranische Regisseur Alireza Daryanavard

Geschichte(n) auf die Bühne bringen Fotos Moritz Haase

Mit „Chronik der Revolution“ zeigt Alireza Daryanavard am Berliner Ensemble eine Produktion über historische und gegenwärtige Proteste im Iran Von Sophie-Margarete Schuster

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Akteure Porträt „Tot tot tot / verlorene Generation / Tot tot tot / verlorene Generation“ – diese Worte sind es, die in Alireza Daryanavards Inszenierung „Chronik der Revolution“ am Berliner Ensemble immer wieder chorisch durch den kleinen Werkraum hallen. Gesprochen von Nina Bruns, Gabriel Schneider und Amelie Willberg erzählen sie von dem jahrzehntelang andauernden Schmerz des iranischen Widerstands. Sie erzählen von den Folterungen politisch Inhaftierter im Evin-Gefängnis, von den Kettenmorden an oppositionellen Intellektuellen und von der gewaltsamen Niederschlagung der Studierendenproteste. Doch das, was der iranischösterreichische Regisseur und Aktivist Alireza Daryanavard hier auf die Bühne zu bringen versucht, ist größer als eine Generation: Es ist eine Chronik der Revolution – eine Chronik, die nicht nur einer düsteren Vergangenheit eine Stimme verleiht, sondern auch Hoffnung spenden will. Geteilt in neun Kapitel, wird die Geschichte des Irans seit der Konstitutionellen Revolution 1905 zum Gegenstand des Bühnengeschehens gemacht. Das Ziel: Eine historische Linie bis in unsere Gegenwart ziehen – zeigen, wie sich Schmerz in Wut kehrt, wie Angst zu Mut heranwächst. Die Islamische Revolution im Jahr 1979 – die Absetzung von Schah Mohammad Reza ­Pahlavi und die Gründung einer verfassungsgebundenen Theokratie – konstituiert sich an diesem Abend als ein historisches Drehmoment: Hoffnung und Träume, Macht und Gewalt, alles beginnt in einem großen Kaleidoskop ineinander zu verlaufen.

sem inneren Antrieb trat der Regisseur seine Zeit als Stipendiat des Nachwuchs-Förderprogramms WORX am Berliner Ensemble mit einem eindeutigen Appell an: „Lasst uns etwas ans Licht bringen!“ Für den zweiten Jahrgang des Förderprogramms öffnet das Berliner Ensemble nämlich erneut die Pforten des Neuen Hauses, um im Rahmen einer einjährigen Residenz zwei jungen Künstler:innen einen Raum zum Experimentieren und Wachsen zu bieten (s. TdZ 09/23). In der Spielzeit 2023/24 ist der Werkraum nun an Alireza Daryanavard und den norwegischen Regisseur Heiki Riipinen übergeben worden: Jeweils zwei Premieren stehen den Stipendiat:innen zur Verfügung, um sich sowohl ästhetisch als auch inhaltlich frei zu entfalten. Mit „Chronik der Revolution“ bringt Daryanavard in gemeinsamer Autor:innenschaft mit der Menschenrechtsaktivistin und Schauspielerin Mahsa Ghafari seine erste Inszenierung auf die Bühne des Berliner Ensembles. Es ist eine Inszenierung, in der sich Aktivismus und Theater zu begegnen versuchen: „Ich erzähle

Theater und Geschichtsvermittlung Die Entschlossenheit, mit der Daryanavard es sich hierbei zur Aufgabe macht, die Geschichte des Irans an das Publikum des Berliner Ensembles heranzutragen, wirft spannende Fragen auf: Inwiefern kann und sollte das Theater ein Ort der Geschichtsvermittlung sein? Wo verortet der Regisseur diese Theaterarbeit im Kontext seines politischen Aktivismus und seiner eigenen Geschichte? „Gerade im Theater können und sollen Geschichten erzählt werden, die sonst nirgends vorkommen“, findet Alireza Daryanavard. Geboren im Iran, begann er dort bereits im Alter von zwölf Jahren als Schauspieler zu arbeiten; später ebenso als Fernseh- und Radiomoderator, Regisseur, Lehrer für Nachwuchstalente und Gründer eines Untergrundtheaters. Die iranische Theaterlandschaft hat ihn dabei, so Daryanavard, stark geprägt: „Man konnte jederzeit während der Proben für die Produktion festgenommen werden, man wurde im Schreibprozess hundertmal zensiert, die Vorstellungen konnten von einem Tag auf den anderen abgesagt werden, man wurde gefoltert für seine Kunst“, beschreibt der Regisseur seine Erfahrungen, durch die das Theater für ihn nicht mehr nur Beruf, sondern auch ein Medium des Widerstands ist. Infolge der zunehmenden Zensur floh Daryanavard 2014 nach Österreich, wo er seine Arbeit als Regisseur fortsetzte. Für ihn ist klar: „Kunst hat die Verantwortung, verdrängte, vergessene und tabuisierte Themen aufzugreifen; und das kann das Theater eben besonders gut leisten: Geschehnisse erlebbar machen, Zeitzeug:innen im Hier und Jetzt sprechen lassen, die Personen hinter medialen Berichten zeigen.“ Entsprechend die-

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Gabriel Schneider, Amelie Willberg, Nina Bruns in „Chronik der Revolution“ von Alireza Daryanavard und Mahsa Ghafari

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Akteure Porträt hier Straßengeschichten, die man in den Medien und in Büchern nicht findet“, berichtet der Regisseur. Doch dabei bleibt es nicht: „In ‚Chronik der Revolution‘ positioniere ich mich auf einer bestimmten Seite: und zwar auf der Seite der jungen Generation, die jetzt Widerstand leistet. Da bin ich nicht nur Künstler, sondern ein im Exil lebender Iraner, der seine Widerstands-Pflicht gegenüber mehr als vierzig Jahren Unterdrückung leistet“, hält der Regisseur fest. Die Ressourcen, die ihm durch das Stipendium zukommen, widmet er dabei gänzlich – und das macht diese Inszenierung deutlich – der Umsetzung dieser Verantwortung. Es ist eine Verantwortung, die vor der Herausforderung steht, eine ästhetische Sprache für die Geschichtsvermittlung mehrerer Jahrzehnte des Widerstands zu finden.

Der Drang nach Sichtbarmachung Auf der Suche nach der Balance zwischen Klassenzimmer und Bühnenraum wird die Inszenierung von dem starken Drang nach Sichtbarmachung angetrieben: So entpuppen sich die grauen Wände des Bühnenbilds (Katja Pech) bereits wenige Minuten nach Beginn der Inszenierung als Tafeln, auf denen mit weißer Kreide fortlaufend wichtige historische Eckdaten und Begriffe notiert werden – fast wie in der Schule, aber eben ganz anders. Eine Assoziation, die sich durch den Abend zieht und in ihrer Ambivalenz Fragen aufwirft: Warum gehen wir überhaupt ins Theater?

Was erhoffen wir uns? Und wieso wissen wir hier in Deutschland eigentlich so wenig über die Geschichte des Irans? Ob die kleinen Texthänger hier und da nun also Teil der Premierenaufregung sind, oder ob sie vielleicht sogar als theatrales Stilmittel eingesetzt werden, um auf unser aller Bildungslücken hinzuweisen, bleibt in den Augen der Zuschauenden bis zum Ende kunstvoll verschwommen. So oder so: Bruns, Schneider und Willberg durchqueren an diesem Abend mehr als ein ganzes Jahrhundert. Das ist keine leichte Aufgabe. Ihr Spiel wird mit verlesenen Zeitzeug:innen-Berichten und Videomaterial unterfüttert; für die Schauspielenden heißt das, innerhalb dieser dokumentarischen Auseinandersetzung mit vergangener Realität zunächst einmal ihren Platz auf der Bühne ausfindig zu machen. Was wird verlesen? Was wird gespielt? Die Aufgabe, die sich Alireza Daryanavard mit dieser Inszenierung stellt, ist nicht nur anspruchsvoll, sondern sie berichtet in erster Linie von der tiefen Sehnsucht, dem historischen Werden des iranischen Widerstands eine Bühne zu schenken; eine Sehnsucht, die sich im neunten Kapitel auszuzahlen beginnt: Es ist der Tod der Iranerin Jina Mahsa Amini, der zum Motor dieses letzten Abschnitts wird. Nach dem angeblichen Verstoß gegen das vom iranischen Parlament festgelegten Kopftuchgesetzes wurde Jina Mahsa Amini im September 2022 von der iranischen Sittenpolizei festgenommen und tödlich verletzt. Ihr Tod löste unter dem kurdischen Slogan Jin, Jiyan, Azadî (woman life freedom) eine globale Protestwelle aus. Während im toten Winkel der Weltöf-

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Akteure Porträt fentlichkeit die Strafen gegen das Protestieren im Iran verschärft wurden, kam es hierbei nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen zu zahlreichen Toten. Die Worte, die Daryanavard und Ghafari hierfür wählen, setzen die historische Erzählung der letzten acht Kapitel dann mit einem Mal in Bewegung: „Sie hat mit ihrem Blut eine Gesellschaft vereint […]. Eine Haarsträhne wurde zu ihrem Todesurteil und sie zur Tochter einer ganzen Nation.“ Die Sätze brechen den Boden der Geschichte auf; ein Spalt entsteht: Die Vergangenheit quillt in die Gegenwart und mehr als vierzig Jahre des Widerstands sprudeln in ein gemeinsames Hier und Jetzt. Die Gefahr dieses Effekts: Vor den Augen der Zuschauenden verblenden die Geschichten schnell zu der geschlossenen Erzählung einer großen Revolution, in der sich der Widerstand homogen in eine Richtung bewegt. Der Singular im Titel dieser Inszenierung untermauert diese Tendenz. Zu fragen wäre hierbei: Lässt sich ein ganzes Jahrhundert tatsächlich in einem einzigen Theaterabend unterbringen? Kann das Theater die hierfür nötige historische Differenziertheit tatsächlich aufbringen? Ungeachtet einer Antwort auf diese Frage, steht die Arbeit Daryanavards in dem Dienst eines Versuchs, den es als solchen zu schätzen gilt. Es wird die Hoffnung auf ein Theater erkennbar, das die Welt nicht nur zu bespielen, sondern auch zu verändern versucht. „Die Bewegung woman life freedom mit ihrer weltweiten feministischen Symbolkraft darf nicht vergessen werden“, betont Daryanavard. Und hier kommt für ihn das Theater ins Spiel. Es

ermöglicht, so Daryanavard, „die Schicksale hinter den Medienberichten zu erfahren“ – die Grundlage für ein Gespräch zu schaffen. Der Regisseur ist davon überzeugt, „dass es internationale Unterstützung für die Umbrüche braucht und dass die Frauenrevolution im Iran uns alle betrifft.“ Eine Botschaft, die er nicht verschlüsselt, sondern mit Kreide an den Wänden des Werkraums und in all ihrer Klarheit festhält: „Niemand ist frei, bis alle frei sind“, steht dort geschrieben. Als am Ende des Abends die Stimme der iranischen Rapperin Roody zu hören ist, tritt die Dringlichkeit dieser Botschaft dann ganz plötzlich dicht an die Zuschauenden heran. Auch wenn die Lyrics ihres Songs „Mahi“ hinter der Sprachbarriere verborgen bleiben, zieht Roodys Musik den Saal in ihren Bann. Auf der Kreidewand, mit der zuvor theatraler Geschichtsunterricht abgehalten wurde, ist nun das Musikvideo einer jungen Frau zu sehen, in deren Stimme sich die Essenz des Widerstands von einer Sekunde auf die andere versammelt. Denn: Sie singt, obwohl es Frauen im Iran verboten ist, zu singen. Oder anders: Sie singt, weil es Frauen im Iran verboten ist, zu singen. Und sie tut es mit einer Entschlossenheit, die den Saal ergreift; eine Entschlossenheit, die sich selbst ein Morgen versprochen hat. Indem die Inszenierung in ihren letzten Minuten sowohl akustisch als auch visuell an die Rapperin übergeben wird, setzt der Regisseur ein unmissverständliches Zeichen: Er macht die Bühne frei für die Frauen des Irans. In den Worten Daryanavards: „Die Revolution woman life freedom hat gerade erst begonnen!“ T

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Akteure Nachruf

„Ich werde Sie den Berlinern so lange vorsetzen, bis die Sie feiern“, versprach Brecht der jungen Regine Lutz im Dezember 1949 nach einer hämischen Kritik von Friedrich Luft für ihre Ludmilla in Gorkis „Wassa Schelesnowa“. Gefeiert wurde die 1928 in Basel geborene Professorentochter, die Brecht nach ihrer ersten Begegnung am Züricher Schauspielhaus nach Berlin gefolgt war, schon bald: für ihre Yvette in „Mutter Courage und ihre Kinder“ ebenso wie für ihr Gustchen in der „Hofmeister“-Bearbeitung am Berliner Ensemble. Sie stand mit Therese Giehse und Ernst Busch auf der Bühne und war mit Hanns Eisler ebenso befreundet wie mit Caspar Neher und John Heartfield. Welche Bedeutung die Zusammenarbeit mit Brecht und Weigel für sie hatte, lässt sich in ihrem Theater-Lehrbuch „Schauspieler – der schönste Beruf“ von 1993 auf höchst unterhaltsame Weise nachlesen. Nach Brechts Tod ging Regine Lutz 1960 ans Theater am Kurfürstendamm, danach in Engagements am Residenztheater München und ans Thalia Theater in Hamburg.

Von 1979 bis 1985 war sie Ensemblemitglied am Berliner Schillertheater. Im Film spielte sie unter anderem in Volker Schlöndorffs „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von 1975 und in Krzysztof Zanussis „Blaubart“ von 1984 und mit ebenso viel Witz und Leidenschaft im „Tatort“. Unvergesslich sind ihre Kommentare in Heinrich Breloers Doku-Drama „Brecht“ von 2019, die zu den schönsten Zeitzeuginnen-Momenten des Films gehören. Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin unterrichtete Regine Lutz, die nie eine Schauspielschule besucht hatte, lange Jahre an der Münchner Theaterakademie August Everding und am Mozarteum in Salzburg, nach 1989 auch an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Dort tröstete sie Studierende nach harscher Kritik oder missglückten Proben mit dem Satz, den Brecht ihr ebenfalls schon 1949 mitgegeben hatte: „Wir leben nicht im Jahrhundert des Theaters, sondern im Jahrhundert des Fußballs.“ Regine Lutz starb am 17. Dezember 2023 kurz vor ihrem 95. Geburtstag in Neuss. T

Ein Nachruf auf die letzte Brecht-Schauspielerin Regine Lutz Von Holger Teschke

Regine Lutz als Maude und Andreas Bisowski als Harold in Colin Higgins’ Tragikomödie „Harold & Maude“ im Theater Tribüne Berlin in der Regie von Bernd Mottl (2005)

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Foto oben picture alliance / Eventpress | Eventpress alimdi/sg, unten picture-alliance/ ZB | Claudia Esch-Kenkel

Meisterin im Jahrhundert des Fußballs

REGINE LUTZ


Theater der Zeit

Stück Labor 2022/23

Zeichnungen Daniel Zeltner

Dmitrij Gawrisch

Ariane Koch

Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik Es ist das einzige Förderprogramm seiner Art, das kontinuierlich jede Spielzeit Hausautor:innenschaften in Kooperation mit Schweizer Theatern ermöglicht. Während jeder Saison entstehen so im Rahmen von Residenzen zwei bis vier Uraufführungen zeitgenössischer Stücke. Die Hausautor:innen 2022/23 waren Dmitrij Gawrisch und Ariane Koch an den Bühnen Bern und am Theater Basel. Ihre Texte beschäftigen sich mit Hilflosigkeit, dem Ringen um Ermächtigung und blicken in unsere Welten voller erschöpfter Menschen, die sich aus der Perspektive beider Autor:innen in skurrile Zerrbilder unserer Realität verwandeln. Theater der Zeit 2 / 2024

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Dmitrij Gawrisch berichtet in seinem Stück „Die Dampfnudel“ aus dem grotesken Familienalltag einer Patchwork-Familie. Im Mittelpunkt steht das sechsjährige „Zentralgestirn“ Toni. Das Stück erzählt vor allem aus der Perspektive des alleinerziehenden Vaters Nils und seiner Freundin Saskia, die sich mehr Anteil an der Erziehung dessen kleiner Tochter wünscht. Sprich, sie will auch Mama genannt werden. Mit dieser Einmischung kommt die leibliche Mutter Ines so gar nicht klar. Die einzige nachhaltige Rettung dieser toxischen Dreiecksbeziehung plus Kind bietet ein Chor von Paartherapeut:innen und Großvater William, unterstützt von der K.I. Arnie. Es ist Tonis erster Schultag, den Saskia gebührend feiern will, der zum fast unüberwindbaren Konflikt führt. Fast vergisst man dabei das eigentliche Drama: wie schwer es in einer Großstadt ist, Betreuung für sein Kind zu finden, wenn man dringend zu diesem einen Termin mit der Therapeutin muss – diesem seidenen Faden, an dem gerade die ganze Beziehung hängt.

Ariane Koch schreibt in „Kranke Hunde“ über die Rennhündin Poch. Sie ist eine der erfolgreichsten Läuferinnen auf der Rennhundebahn, bis sie umkippt. Aufgewacht, findet sie sich in einem Krankenhaus umringt von einer Schar Hundeärzte wieder. Diagnose: komplizierter Fall. Angesichts der Zerbrechlichkeit ihres Körpers sinniert die Patientin über ihre Situation nach. Das Spital der Erschöpften und Beschleunigten hat wenig Zeit für jemanden mit übermässigem Kopfdruck. Doch jede Krankheit ist auch eine Auszeit. Und so beobachtet Poch ein sprintendes und sich selbst genügendes Gesundheitssystem. Die Zimmernachbarin beschwert sich über die Patientin und die Pflegekräfte treten in den Streik. Poch will, nein, sie muss da raus! Doch Höllenkatz und der dreiköpfige Cerebras verunmöglichen jegliche Flucht aus dem Horrortrip „Krankenhaus“. Das Gesundheitssystem kann auf die wertvolle Patientin nicht verzichten. Auf Druck der Finanzverwaltung und zum Wohle des Fortschritts wird eine Kopftransplantation verschrieben. Ein Stück zur erschöpften Gesellschaft. // Michael Gmaj, Leitung Stück Labor

Dmitrij Gawrisch, 1982 in Kyjiw, Ukraine, geboren, schreibt Theater­stücke, Prosa, Hörspiele und literarische Reportagen. Er wuchs in Bern auf und studierte zunächst Betriebs- und Volkswirtschaft an der Universität Bern. Im Anschluss absolvierte er den Dramenprozessor am Theater Winkelwiese in Zürich. Gleich mit seinem ersten Theaterstück „Brachland“ wurde Gawrisch 2011 zum Stückemarkt beim Berliner Theatertreffen eingeladen. Es folgten weitere Stücke, darunter „Mal was Afrika“, „Wird schon werden“ oder „Lessons of Leaking“ (mit machina eX), die auf zahlreichen Bühnen im In- und Ausland aufgeführt wurden. Mit der Erzählung „schaukelgestühl ganse en bräune“ gewann Gawrisch den Open Mike in Berlin. Er war u. a. Stadtschreiber in Jena und Rottweil. Die Arbeit an seinem ersten Roman „Die geblieben sind“ wurde von einem Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung sowie des Literarischen Colloquiums Berlin gefördert. Gawrisch ist Vater von zwei Kindern, arbeitet in Teilzeit als Autor und Redakteur bei der Zeitschrift REPORTAGEN und pendelt zwischen Bern und Berlin. In der Spielzeit 2022/23 war er Hausautor bei Bühnen Bern.

Ariane Koch, 1988 in Basel geboren, studierte Bildende Kunst und Interdisziplinarität. Sie schreibt Theater-, Performance- und Prosatexte – manchmal in Kollaboration. 2015/16 war sie Hausautorin am Luzerner Theater, stand 2017 mit der Theatergruppe GKW (zusammen mit Moïra Gilliéron und Zino Wey) mit dem Stück „Extase“ auf der Shortlist des Stückemarkts beim Berliner Theatertreffen und wurde 2021 mit „verdeckt“ zum Schweizer Theatertreffen eingeladen. Ihr Stück „Die toten Freunde (Dinosauriermonologe)“ erhielt 2022 den 1. Else Lasker-Schüler Stückepreis und eine Einladung zu den Autor:innentheatertagen 2023 am Deutschen Theater Berlin. Ariane Kochs Debütroman „Die Aufdrängung“ erschien im Sommer 2021 beim Suhrkamp Verlag und wurde mit dem aspekte-Literaturpreis 2021 und einem der Schweizer Literaturpreise 2022 ausgezeichnet. Der Roman wird aktuell in acht Sprachen übersetzt. In der Spielzeit 2022/23 verfasste sie als Hausautorin am Theater Basel das Stück „Kranke Hunde“, welches ebendort unter der Regie von Sebastian Nübling uraufgeführt wird. Mit „Kranke Hunde“ wurde Ariane Koch für den Literaturpreis Text und Sprache 2024 nominiert.

Ein Dossier, das auch frühere Jahrgänge von Stück Labor enthält, finden Sie unter tdz.de/dramatik

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I Heute ist unser Abend 1. Allergisch auf Nüsse

Die Dampfnudel Eine Patchwork-Komödie Dmitrij Gawrisch

Wir alle waren Ruinenkinder. Emine Sevgi Özdamar

ZENTRALGESTIRN: TONI, 6 Jahre alt IN ÜBERLAPPENDEN UMLAUFBAHNEN: SASKIA, baut Wärmepumpen NILS, ihr Partner WILLIAM, in Rente ARNIE, seine Begleitung INES, oft am Telefon OLHA GURNIK, Therapeutin für Paare, die es auch bleiben wollen EIN GANZER CHOR VON PAARTHERAPEUT:INNEN ALS UNTERSTÜTZUNG STIMME EINS BIS SECHS, verschiedene Freund:innen und Bekannte, allesamt krank oder beschäftigt APOLLONIA, mit fast neunzig auf Andenexpedition FLORENTINE, hat Kontakte zu Interpol MODERATOR:IN, aber nur geträumt ORT: In einer Stadt mit grünen Flecken; Opa WILLIAM schaltet sich aus der Wärme zu. ZEIT: Vor TONIS erstem Schultag. ZEICHENSETZUNG: / bedeutet Unterbrechung oder scharfen Anschluss. Wenn ein Satzschlusszeichen fehlt, bleibt das Gesagte noch kurz in der Luft schweben. Zeilenumbrüche mitten im Satz oder Absatz markieren Pausen.

Das Stück wird am 3. April 2024 an den Bühnen Bern uraufgeführt. © Verlag der Autoren, Frankfurt a. M.

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SASKIA Im Supermarkt greifst du nach dem letzten Sack Kartoffeln NILS Im selben Supermarkt greifst du nach demselben Sack Kartoffeln SASKIA Dabei berühren sich unsere Hände NILS Es funkt SASKIA Es funkt wirklich Elektrostatisch NILS Es tut ein bisschen weh SASKIA Es ist Liebe auf den ersten Blick NILS Und hält schon drei Jahre SASKIA Seit Monaten fiebere ich diesem Abend entgegen NILS Fiebern wir SASKIA Unser Jubiläum Du warst beim Frisör NILS Du hast die Fenster geputzt SASKIA Ich kann mich nicht sattriechen an deinem neuen Parfüm NILS Die Farbe steht dir SASKIA Heute hast du gekocht NILS Coq au Vin SASKIA Die vegane Variante NILS Voq au Vin SASKIA Du entkorkst den Wein NILS Du zündest Kerzen an SASKIA Du trägst kussechten Lippenstift auf NILS Sanfte Musik spielt Ist es nicht schön? SASKIA Nur du und ich NILS Sind wir nicht schön? SASKIA Niemand kann uns stören NILS Also können wir jetzt SASKIA Ganz ungestört NILS Zum Nachtisch übergehen Du ziehst mich zu dir auf den Schoss SASKIA Du verschlingst meine Zunge NILS Deine Hand greift in meine Hose SASKIA Du reißt mir das Kleid herunter NILS Du steckst mir deinen Finger in den Arsch Warte SASKIA Du hast eine Überraschung für mich NILS Du willst das schon lange ausprobieren SASKIA Ist es das, was ich denke, dass es das ist? NILS Ich greife zum Eimer und überschütte mich von Kopf bis Fuß mit Schokolade SASKIA Schmeckst du gut Saskia kriegt keine Luft. NILS Alles in Ordnung?

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Stück Dmitrij Gawrisch Was hast du? SASKIA (röchelt) Sind In der Schokolade Nüsse Drin? Ich bin NILS Ich rufe den Rettungswagen / SASKIA Allergisch Auf Ein Rettungswagen nähert sich mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene. Diese klingt verdächtig wie der Skype-Klingelton. Da wacht Saskia auf. Sie ist auf der Couch eingeschlafen. Das Telefon klingelt penetrant weiter. Sie ignoriert es. NILS (ruft genervt aus Tonis Schlafzimmer) Warum gehst du nicht ran, Saskia? Na bravo, jetzt ist Toni wieder wach. Widerwillig nimmt sie den Videoanruf an. WILLIAM Wo ist Toni? Ist sie bei euch? SASKIA Hallo, William. Hallo, Arnie. Schön, euch zu sehen. Es geht mir sehr gut. Und euch? ARNIE Also mir geht es blendend, danke der Nachfrage/ WILLIAM Ich habe dich was gefragt, Saskia. SASKIA Dein Sohn bringt sie gerade ins Bett. WILLIAM Das ist falsch. SASKIA Toni ist sechs. Sie kann sich noch nicht allein ins Bett bringen. WILLIAM Ines ist heute dran. SASKIA Ich bin ganz deiner Meinung. WILLIAM Wie es im Plan steht. Arnie, sag ihr, bei wem meine Enkelin diese Woche ist. ARNIE Diese Woche ist Toni bei/ WILLIAM Genau. Weil ich mit Toni sprechen will, rufe ich bei Ines an. Und was erfahre ich? SASKIA Sie haben getauscht. WILLIAM Wann hattet ihr vor, mir Bescheid zu sagen? SASKIA Ich habe damit nichts zu tun. WILLIAM Das war meine letzte Warnung. Wenn ihr nicht endlich Verantwortung übernehmt Ihr alle Ziehe ich Konsequenzen. Arnie ist mein Zeuge. Er legt auf. Saskia wartet weiter.

2. Willst du ein Eis? Nils fällt völlig entkräftet zu Saskia auf die Couch. SASKIA Zwei Stunden. Neuer Rekord. NILS Toni hat Angst vor der Einschulung. SASKIA Krieg das jetzt bitte nicht in den falschen Hals, Nils/ NILS Wie kommt sie darauf, dass sie sitzen-

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bleiben könnte, mit so tollen, engagierten Eltern wie uns? SASKIA Ich mag Toni, das weißt du. NILS Du liebst sie. Als wäre sie dein eigenes Kind. Worauf willst du hinaus? SASKIA Heute sollte unser Abend sein/ NILS Der Abend ist noch jung/ SASKIA Unser Endlich-mal-wieder-zu-zweitAbend/ NILS Ich höre, hier soll ein Rohr verlegt werden/ SASKIA Warum hast du es getan? NILS Was meinst du? SASKIA Die Toniwochen mit Ines getauscht, ohne es mit mir abzusprechen? Schon wieder. NILS Es war ein Notfall/ SASKIA Was für ein Notfall? NILS Und außerdem stört Toni doch nicht. Toni erscheint in der Tür, Saskia bemerkt sie zum Glück noch rechtzeitig. SASKIA Natürlich stört unsere Toni nicht. Was hast du da wieder für komische Gedanken, Nils? NILS Hä? SASKIA (zu Toni) Kannst du nicht schlafen, Schatz? Toni schüttelt den Kopf. Jetzt erst bemerkt auch Nils sie. NILS Hattest du wieder einen Albtraum? Toni nickt. NILS Soll Papa dich zurück ins Bett bringen? Toni schüttelt den Kopf. NILS Möchtest du, dass Saskia dich ins Bett bringt? Toni schüttelt den Kopf. SASKIA Du weißt genau, was unsere Toni möchte. Toni nickt. NILS Saskia und ich brauchen dringend ein bisschen Zeit zu zweit. Toni schüttelt den Kopf. NILS Heute ist nämlich unser Jubiläum, weißt du? Toni nickt. SASKIA Und eigentlich war alles ganz anders abgesprochen/ NILS Wenn du zurück in dein eigenes Bett gehst, kaufe ich dir morgen ein Eis. Was hältst du davon? Toni schüttelt den Kopf. NILS Zwei Kugeln. Toni schüttelt den Kopf. NILS Drei Kugeln. Toni schüttelt den Kopf.

NILS Vier Kugeln! SASKIA Hör auf. NILS Ok, du kannst heute Nacht wieder zwischen Saskia und mir im großen Bett schlafen. Toni schaut ihn erwartungsvoll an. NILS Ich lege mich zu dir. Und bleibe solange bei dir, bis du eingeschlafen bist. Toni schüttelt den Kopf. NILS Ich lege mich zu dir und gehe auch nicht mehr weg. Die ganze Nacht. Selbst wenn ich mir in die Hosen mache. Zufrieden? Toni nickt. SASKIA Dann gute Nacht euch beiden. NILS Wo willst du hin? SASKIA Ich brauche frische Luft. NILS Aber heute ist doch unser Dreijähriges. Saskia zieht die Schuhe an. NILS Wir können über alles reden. SASKIA Bis später. NILS Komm zurück.

3. Genug durchgemacht für ihr Alter WILLIAM Das lasse ich mir nicht bieten. ARNIE Atmen, William. Du musst atmen/ WILLIAM Das lasse ich nicht mit mir machen. ARNIE Dein Blutdruck/ WILLIAM Sie machen das mit Absicht, Arnie. Sie ändern ihre Pläne nur, um mich zu ärgern. Aber ich lasse mich nicht provozieren/ ARNIE Deine Vitalwerte sagen was anderes/ WILLIAM Es ist mein gutes Recht, meine einzige Enkelin wenigstens einmal im Monat zu sehen. Früher, vor der Trennung, da konnte ich sie/ ARNIE Du könntest dich entschuldigen. WILLIAM Halt den Mund, Arnie. ARNIE Ich habe keinen Mund. WILLIAM Es war ein Missverständnis, wann kapierst du das endlich? Ein riesengroßes Missverständnis. Ich habe Toni nie Ich würde Toni nie Als Pudel bezeichnen. ARNIE Obwohl sie deutliche Ähnlichkeiten hat mit den neuen Haaren. WILLIAM Ich will nicht, dass sie in der Schule gehänselt wird. ARNIE Wie lautet die oberste Oparegel? WILLIAM Du musst es mir nicht unter die Nase reiben. ARNIE Sag es. WILLIAM Ein Opa verletzt nie/ ARNIE Niemals/ WILLIAM Unter keinen Umständen/ ARNIE Die Gefühle seiner Enkel:innen.

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Stück „Die Dampfnudel“ WILLIAM Ich will doch bloß helfen. Dieses Kind hat genug durchgemacht für ihr Alter.

4. Du schuldest mir was Nils wählt wiederholt Saskias Nummer, aber sie drückt ihn jedes Mal weg. SASKIAS MAILBOX Hallo, das ist die Mailbox von Saskia. Ich kann gerade nicht rangehen, aber lass mir doch eine Nachricht da. Wenn sie mir gefällt, rufe ich zurück. Piep. NILS (Flüstert, weil er die neben ihm schlafende Toni nicht aufwecken will.) Toni schläft tief und fest. Du kannst nach Hause kommen. SASKIA Er ist großzügig, das muss ich ihm schon zugutehalten. Diesen letzten Sack Kartoffeln Damals im Supermarkt vor drei Jahren Hat er mir überlassen. Obwohl das bedeutete, dass die entscheidende Zutat fehlte und er zuhause In seinem damaligen Zuhause Für seine damalige Familie Nicht das kochen konnte, was er wollte. Sie mussten Pizza bestellen. Hat er mir später erzählt. Das Vibrieren des Handys unterbricht sie. SASKIAS MAILBOX Hallo, das ist die Mailbox von Saskia. Ich kann gerade nicht rangehen, aber lass mir doch eine Nachricht da. Wenn sie mir gefällt, rufe ich zurück. Piep. NILS Ich kann nicht schlafen. Ist dir was passiert? Letztes Wochenende wurde zwei Straßen weiter eine Frau, die nachts allein unterwegs war, überfallen und ausgeraubt. Es stand in allen Zeitungen. Schick mir ein Lebenszeichen. Bitte. SASKIA Und er war ehrlich. Mit mir jedenfalls. Er hat seinen Ehering nicht versteckt. Noch im Supermarkt, als wir an der Kasse anstanden, hat er erzählt, dass er ein kleines Kind hat. Trotzdem hat er mich nach meiner Nummer gefragt. Er sagte, er interessiere sich für Wärmepumpen. Aber es war klar, was ihn wirklich interessierte. Das Vibrieren des Handys unterbricht sie. SASKIAS MAILBOX Hallo, das ist die Mailbox von Saskia. Ich kann gerade nicht rangehen, aber lass mir doch eine Nachricht da. Wenn sie mir gefällt, rufe ich zurück. Piep. NILS Ich habe alle Notaufnahmen abtelefoniert. Heute Nacht wurde eine Frau eingeliefert, deren Beschreibung genau auf dich passt. Ein Lastwagen hat sie überrollt. Da waren überall plattgedrückte Gedärme auf dem Asphalt. Komm nach Hause. SASKIA Ich mochte sein Bäuchlein. Ich fand seine schiefen Zähne niedlich. Wenn ich einen

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neuen Menschen treffe, gucke ich ihm nicht in die Augen, sondern erstmal in den Mund. Ich hätte Zahnärztin werden sollen. Das Vibrieren des Handys unterbricht sie. SASKIAS MAILBOX Hallo, das ist die Mailbox von Saskia. Ich kann gerade nicht rangehen, aber lass mir doch eine Nachricht da. Wenn sie mir gefällt, rufe ich zurück. Piep. NILS Für dich habe ich meine Familie verlassen. Wegen dir wächst Toni als Einzelkind auf. Du schuldest mir was. SASKIA Kinder? Waren in meinem Lebensplan nie vorgesehen. Weder eigene noch solche, die jemand anders geboren hat. Das Vibrieren des Handys unterbricht sie. SASKIAS MAILBOX Hallo, das ist die Mailbox von Saskia. Ich kann gerade nicht rangehen, aber lass mir doch eine Nachricht da. Wenn sie mir gefällt, rufe ich zurück. Piep. NILS Hallo Saskia, ich bin zum Schluss gekommen, dass du in allem Recht hast und ich Unrecht. Gleich am Montag hole ich für Toni einen Einschlafratgeber. Bist du zufrieden? Hast du jetzt alles, was du brauchst, um wieder nach Hause zu kommen? SASKIA Toni wird mir fehlen.

5. Du darfst zu niemandem ein Sterbenswort sagen WILLIAM Arnie, ich habe entschieden. ARNIE Ein Update wird installiert. Bitte um etwas Geduld. Bitte um etwas Geduld. Nur noch einen Augenblick. Dreißig Sekunden verbleiben WILLIAM Wird’s bald? ARNIE Fünfundzwanzig Zwanzig Fünfzehn Zehn Fünf Unerwarteter Fehler aufgetreten. Unerwarteter Fehler aufgetreten. Installation wird abgebrochen und neu gestartet. Zwei Stunden verbleiben WILLIAM Willst du mich verarschen? ARNIE Ja. Ist es mir gelungen? WILLIAM Lass den Unsinn, Arnie. Wir müssen handeln. ARNIE Es ist Zeit, dass du deine Medikamente nimmst. WILLIAM Ich rede von Toni. Wir haben eine wichtige Mission vor uns. Du darfst zu niemandem ein Sterbenswort sagen.

ARNIE Was hast du vor? WILLIAM Was haben wir vor. Wir machen meine Enkelin glücklich.

II Bei uns ist es kompliziert 1. Guten Morgen, du Schöne NILS (übertrieben fröhlich und laut, damit Toni im Nebenzimmer die Versöhnung ganz sicher mitbekommt) Guten Morgen, du Schöne! Kusskusskuss. Hast du die Nacht für dich allein auf der Couch genossen? Du hast uns sicher doll vermisst und freust dich jetzt umso mehr darauf, ganz viel Zeit mit uns zu verbringen, nicht wahr? SASKIA Hast du Drogen genommen? NILS (leise) Toni ist gleich nebenan. Es ist unsere Pflicht als Eltern, ihr heile Welt vorzuspielen. Noch eine Trennung verkraftet das arme Kind nicht. SASKIA Hat sie das gesagt? NILS Ich kenne mein Kind. Ich sehe doch die blanke Angst in ihren Augen. Jetzt küss mich schon, und schmatz dabei möglichst laut. Tu es für Toni. SASKIA Ich habe Oma Apollonia erreicht. NILS Lebt sie noch? SASKIA Wieso sollte sie nicht leben? NILS Sie klettert ein halbes Jahr allein in den Anden. Mit neunzig. SASKIA Neunundachtzig. Bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe, kann ich auf ihrer Couch schlafen. NILS Auf Apollonias Couch? SASKIA Ja. NILS Auf Apollonias roter Couch? Die ist doch viel zu weich. SASKIA Lass das meine Sorge sein. NILS Bei ihrer Abschiedsparty habe ich zehn Minuten auf dieser Couch gesessen. Danach hat mir eine Woche lang der Rücken wehgetan. Willst du dir das wirklich antun? Unsere Couch ist viel bequemer. Oder du nimmst das Bett und ich schlafe auf der Couch. Das Bett ist sogar noch warm. Wie wäre das? SASKIA Es ist so unglaublich unfair. Wenn ich Toni geboren hätte, würdest du jetzt deine Sachen packen und nicht ich. NILS Ich habe tolle Neuigkeiten: Ich habe

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Stück Dmitrij Gawrisch endlich den passenden Paartherapeuten für uns gefunden. SASKIA Ich bin nicht das Problem hier. NILS Wir brauchen professionelle Hilfe, Saskia. SASKIA Es gibt kein Wir mehr. Und außerdem können wir uns eine Therapie doch gar nicht leisten/ NILS Jetzt hast du auch Wir gesagt. Ich hab’s genau gehört/ SASKIA Bei allen Kursen, die Toni macht. NILS Toni ist ausgesprochen intelligent und vielseitig interessiert. Wir waren uns doch einig, dass wir sie fordern und fördern wollen, damit sie ihr volles Potential entfalten kann. SASKIA Braucht sie im Kindergarten wirklich Nachhilfe in Quantenphysik? NILS Ines und ich haben das so beschlossen/ SASKIA Es ist auch mein Geld, weißt du? War mein Geld. Wenn ich schon mitbezahle, will ich wenigstens mitreden. Mitentscheiden. NILS Wenn es dir wichtig ist, spreche ich das Thema in der nächsten Tonisitzung mit Ines nochmals an. Obwohl ich nicht wirklich glaube, dass/ SASKIA Tu, was du willst. Ich verabschiede mich von Toni, dann gehe ich. NILS Nein. SASKIA Wir erklären es ihr gemeinsam. So sehr wir es miteinander versucht haben, wir haben’s einfach nicht geschafft. Es ist nicht deine Schuld, Toni. NILS Nein. SASKIA Dann schieben wir eben die ganze Schuld auf mich. Saskia ist für dieses Kleinfamilienleben einfach nicht gemacht. Eines Tages, Toni, bestimmt ganz bald, wird dein toller Papa eine neue tolle Stiefmama kennenlernen, die sich so um dich kümmert, wie du es brauchst. Besser? NILS Nein. SASKIA Du kannst mir nicht verbieten, mich vom Kind, mit dem ich jahrelang zusammengewohnt habe, zu dem ich eine Beziehung aufgebaut habe, zu verabschieden. NILS Ich habe heute Nacht kein Auge zugedrückt. Ich kann nicht auch noch sie trösten. SASKIA Schön, dann komme ich wieder, sobald es dir wieder besser geht, und verabschiede mich dann von Toni.

2. Dafür ist Familie da NILS Hey Arnie. ARNIE Hallo Nils. In der letzten Woche hat dein Vater neun Kreuzworträtsel angefangen

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und vierundsiebzig Prozent der gesuchten Begriffe gefunden, das entspricht einer minimalen Verbesserung um nullkommazwei Prozent. Im Sudoku hat er sich gleich der schwierigsten Kategorie zugewandt und ist so richtig auf die Fresse geflogen. Die Chinesische Mauer, bestehend aus hunderttausend Teilen, hat er nach vierundneunzig Tagen und einem guten Dutzend Anläufe endgültig aufgegeben – puzzeln ist nicht seins. Die Bienen, die er sich angeschafft hat, sind leider alle verglüht. William hat am Dienstag fünf Lottoscheine gekauft/ NILS Danke, Arnie. ARNIE Oh. Verzeih, Nils, ich konnte ja nicht ahnen Wie kann ich dich aufmuntern? NILS Wie kommst du darauf, dass ich niedergeschlagen bin? ARNIE Ich bin eine künstliche Intelligenz. Du kannst mir nichts vormachen. NILS Aber ich klinge doch fröhlich. ARNIE Du bist ein miserabler Schauspieler. NILS Danke. ARNIE Dafür ist Familie da. Um Träume in die richtige Richtung zu lenken. NILS Ich brauche deine Hilfe, Arnie. ARNIE Du brauchst nicht weiterzusprechen. Ich habe die perfekte Paartherapie für euch. Soll ich das Video abspielen? NILS Bitte. GURNIK Denken Sie, dass Liebe allein genügt? Dann sind Sie noch naiver als befürchtet. Versuchen Sie Ihre Eheprobleme selbst zu lösen? Sie machen alles nur noch schlimmer. Haben Sie drei Kinder, fünf Jobs, Katze, Hund, Hamster und Schnecken im Garten? Eine Trennung wird Sie noch viel mehr Zeit rauben. Glauben Sie, dass Sie sich professionelle Unterstützung nicht leisten können? Im Vergleich zur Scheidungsanwältin bin ich ein Schnäppchen. Ich bin Olha Gurnik, Therapeutin für Paare, die es auch bleiben wollen. ARNIE Soll ich einen Termin für euch ausmachen? NILS Danke, Arnie, aber das muss ich schon selbst tun. ARNIE Traust du es mir nicht zu? NILS Unsere Komplexität übersteigt die deine bei weitem.

3. Wir sind ein Team WILLIAM Seit Jahren habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt, Arnie. ARNIE Gut, das neue Medikament wirkt. WILLIAM Ich bin bis oben voll mit Energie. Mein ganzer Körper kribbelt vor Tatendrang.

ARNIE Milde Nebenwirkungen waren zu erwarten. Ich passe die Dosis an. WILLIAM Willst du meinen Plan hören? ARNIE Erst möchte ich zu bedenken geben, dass Toni nicht um Hilfe gebeten hat. WILLIAM Woher soll sie mit ihren sechs Jahren wissen, was gut für sie ist? Sie bringt kaum einen geraden Satz heraus, und du willst, dass sie sagt, was sie will? Hör damit auf, meine Enkelin zu überfordern. Nur weil du kein Mensch bist, soll sie auch Übermenschliches leisten? ARNIE Ich finde diese Bemerkung beleidigend. WILLIAM Sind wir ein Team, Arnie? ARNIE Wir sind ein Team, William. Jedenfalls solange Nils meine Lizenz jeden Monat erneuert. WILLIAM Gut. ARNIE Saskia will sich trennen. WILLIAM Was? ARNIE Weil wir ein Team sind, dachte ich, solltest du das wissen. WILLIAM Ich hab’s gewusst. Einer Frau, die sich auf einen verheirateten Mann einlässt, ist nicht zu trauen. ARNIE Misogynie, die/ WILLIAM Ist ja gut, ich nehme es zurück. Wenn ich’s recht bedenke, spielt diese neue Entwicklung uns sogar in die Hände. Wir können mehrere Phasen meines Plans überspringen und gleich bei Phase fünf einsteigen. Toni, dein Glück naht.

4. Die größte Erfindung der Menschheit SASKIA Haaaallo ihr Lieben. Ein Traum wird wahr. Willkommen zur allerallerallerersten Folge von „Saskias Welt, dem Original“, natürlich mit mir, eurer Saskia. Live und nur im Internet. Als Einstieg wollen wir heute ein ganz besonderes Gericht zusammen kochen: Königsberger Klopse. Als Kind konnte ich nicht genug von ihnen kriegen, und meine Oma Apollonia hier hat die allerbesten Klopse der Welt gemacht. Verrätst du uns dein Geheimnis, Omi? APOLLONIA Ich bin nicht deine Omi. Verschwendest du deine Lebenszeit immer noch damit, wegen dieses Kerls und seiner lästigen Göre traurig zu sein? SASKIA Ich finde diese Frage etwas privat. APOLLONIA Papperlapapp. Solange du deine Probleme nicht aussprichst, kannst du sie auch nicht lösen. SASKIA Ich will nichts lösen. Ich will kochen. APOLLONIA Kein besonders feministisches Hobby, wenn du mich fragst/

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Stück „Die Dampfnudel“ SASKIA Es bringt mich auf neue Gedanken/ APOLLONIA Ich hasse kochen. Die größte Erfindung der Menschheit ist für mich die ­Mikrowelle. SASKIA Das hier ist eine Kochsendung. „Saskias Welt, das Original“, natürlich nur mit mir, Saskia, schon vergessen? APOLLONIA Wer sagt, dass wir in einer Kochsendung kochen müssen? SASKIA Die Gesellschaft? APOLLONIA Pah. Wo kämen wir hin, wenn wir auf die hören würden? SASKIA Was schlägst du stattdessen vor? APOLLONIA Ich könnte eine PowerPointPräsentation von meiner Kletterexpedition zeigen. Oder ich erzähle, auf welch mannigfaltige Weise meine Couch kaputtgegangen ist. Es sehen hoffentlich keine Kinder zu. SASKIA Nein, ich möchte, dass wir Klopse machen. Verrätst du mir endlich das Rezept? APOLLONIA Nein. SASKIA Warum nicht? APOLLONIA Ich habe noch nie Klopse gemacht. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Du hast die falsche Person eingeladen. SASKIA Aber ich kann mich doch genau erinnern. Ich kam über den Flur zu dir rüber, und bei dir auf dem Tisch standen/ APOLLONIA Dampfnudeln. SASKIA Dampfnudeln? APOLLONIA Vom Bäcker. SASKIA Wirklich? APOLLONIA Du bist heute irgendwie schwer von Begriff. SASKIA Was machen wir jetzt? APOLLONIA Besser, du wachst schleunigst auf, bevor du dir den Rücken auf meiner Couch krummliegst. Und das tut Saskia auch, schweißüberströmt und mit heftigen Rückenschmerzen.

5. Nimmt mich hier irgend­ jemand ernst? NILS Toni, Schatz, ich muss deine Mama anrufen. Toni rührt sich nicht vom Fleck. NILS Allein. Toni rührt sich nicht vom Fleck. NILS Es geht um so Erwachsenenkram. Toni verzieht das Gesicht. NILS Natürlich bist du auch schon so gut wie erwachsen. Toni reagiert nicht. NILS Du hast heute schon eine ganze Stunde auf deiner Playstation gespielt. Toni reagiert nicht.

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NILS Ok, du kannst weiterspielen, während ich mit Mama telefoniere. Deal? Toni schüttelt den Kopf. NILS Ich kann dir die Playstation auch wegnehmen. Dann spielst du gar nicht mehr. Toni lacht ihn aus. NILS Nimmt mich hier irgendjemand ernst? Toni schüttelt den Kopf. NILS Gut, dann von mir aus noch eine halbe Stunde. Toni rennt freudig hinaus. NILS (ruft ihr hinterher) Aber keine Sekunde länger, hörst du? Ich stoppe die Zeit. Er atmet durch, dann wählt er Ines’ Nummer. NILS Hi Ines, ich bin’s, rufst du bitte zurück. Es ist wichtig. Danke. Nach einer Weile wählt Nils wieder Ines’ Nummer. NILS Hallo Ines! Hier ist Nils. Es ist wirklich wichtig. Ruf zurück. Danke. Da Ines nicht zurückruft, versucht es Nils nochmals. NILS Hey! Hier ist der Vater deiner Tochter. Rufst du bitte zurück, sobald du deine Mailbox abgehört hast? Danke. Als der erwartete Rückruf weiterhin ausbleibt, glaubt Nils nicht anders zu können als: NILS Hey Ines. Es ist ein Notfall. Sofort klingelt sein Telefon. NILS Danke, dass du zurückrufst. Ja, mit Toni ist alles in Ordnung. Sie ist in ihrem Zimmer. Nein. Ich weiß, dass wir Abmachungen haben. Ja, ich bin mir ganz sicher, dass sie nicht Playstation spielt. Sie baut einen Turm. Woher soll ich wissen, wie hoch der Turm ist? Er wird noch gebaut. Toni ist fast ein Schulkind. Sie braucht nicht ständig Aufsicht. Du, aber worum’s mir eigentlich geht/ Es ist dringend. Ich kann nicht bis zu unserer nächsten Tonisitzung warten. Ich höre dich. Aber hörst du auch mich? Ich brauche dich. Ich brauche deine Hilfe. Fang doch jetzt bitte nicht mit der alten Geschichte an. Untreue ist kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ok, tut mir leid. Aber könnten wir jetzt bitte/ Ja, es war mein Vorschlag, per Mail Gesprächstermine auszumachen, um nicht ständig telefonieren zu müssen. Aber/ Ja, Ines, ja/ Aber/ Könntest du bitte/

Hör mal, wenn du nicht ständig unterbrechen würdest, hätten wir längst besprochen, was ich mit dir besprechen will. Kannst du Toni morgen Abend nehmen? Ich habe einen sehr wichtigen Termin. Sehr sehr wichtigen. Und bevor du Nein sagst, vergiss nicht, dass ich dir neulich einen riesengroßen Gefallen getan habe. Mit Florentine zu dieser Kaktusschau fahren konntest du nur, weil ich bereit war, die Toniwochen zu tauschen. Du schuldest mir also was. Ines? Ines? Hallo? Er wählt wieder Ines’ Nummer. NILS Hey Ines, wenn du nächstes Mal verzweifelt um meine Hilfe bettelst, lege ich auch einfach auf.

6. Eine letzte Geste des guten Willens SASKIA Und? NILS Sie denkt darüber nach. SASKIA Hast du ihr gesagt, wie wichtig dieser Termin für uns ist? NILS Nein, natürlich nicht. SASKIA Wieso nicht? NILS Weil wir Ines nichts aus unserem Leben erzählen, solange sie nicht einmal deinen Namen in den Mund nimmt. SASKIA Es geht um ihr Kind/ NILS Unser aller Kind, Saskia/ SASKIA Das Kind ist der Grund/ NILS Toni liebt dich. Toni bewundert dich. Auf dem Spielplatz gibt sie mit dir an. Mit ihrer coolen Saskia, die Wärmepumpen baut. SASKIA Ich spreche nicht von Toni. Ich meine das strukturelle Kind. Das Kind an sich. Das Kind als Täter, als Mörder, als Schlächter jeder erwachsenen Liebe. NILS Jetzt übertreibst du aber. SASKIA Wie erklärst du dir dann, dass jeder Termin, wenn die Kinder in der Schule sind oder im Kindergarten, drei Jahre im Voraus ausgebucht ist? Hör mal, Nils, du willst zu dieser Therapeutin. Ich gehe nur dir zuliebe hin. Eine letzte Geste des guten Willens, damit wir als Freunde auseinandergehen. Sorg bitte dafür, dass wir wenigstens diese eine Stunde, unsere letzte, für uns allein haben. NILS Könnte Toni zur Not nicht/ SASKIA Nein, Nils. Toni kann nicht mitkommen.

7. Ich glaube nicht an Therapie Saskia kommt allein zur Praxis der Paartherapeutin. GURNIK Sie sind bestimmt Saskia. Sie sehen einfach aus wie eine Saskia. Willkommen.

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Stück Dmitrij Gawrisch SASKIA Vergessen Sie mich gleich wieder. Ich bin zum letzten Mal hier. GURNIK Ohoho, da ist eine aber ehrgeizig. Ich habe noch kein Paar erlebt, das alle seine Probleme in einer einzigen Sitzung gelöst hätte. SASKIA Unsere Probleme sind nicht zu lösen. GURNIK Das sagen alle Paare, wenn sie zum ersten Mal zu mir kommen. SASKIA Bei uns ist das wirklich anders/ GURNIK Klar. SASKIA Ich will ehrlich zu Ihnen sein/ GURNIK Das will ich Ihnen auch raten. Ich bin wie ein Lügendetektor. Ich durchschaue alles/ SASKIA Meine Beziehung ist wie ein Bioapfel/ GURNIK Ein Boskop zufällig? Die mag ich am liebsten. SASKIA Von außen glänzt er verlockend, aber drinnen haust eine fette Made, die alles Fruchtfleisch längst weggefressen hat. GURNIK Und diese Made ist ihr Mann? SASKIA Fragen Sie ihn doch selbst. GURNIK Er kommt bestimmt jede Minute. SASKIA Nils ist noch nicht da? Dann kommt er auch nicht mehr. GURNIK Geben wir die Hoffnung noch nicht auf. Wir können uns ja schon mal setzen und Sie erzählen mir über sich. SASKIA Ich glaube nicht an Therapie.

8. Du bist meine letzte Hoffnung Nils telefoniert per Lautsprecher verzweifelt herum, während er Toni Fremdsprachenunterricht erteilt. NILS Wir finden schon jemanden, der auf dich aufpasst, Toni. STIMME EINS Sorry, Nils, liege mit Grippe im Bett. NILS We’ll find someone to look after you, Toni. STIMME ZWEI Hi, hier ist Loreta. Ich kann grad nicht, aber lass mir gern eine Nachricht da. Tschüssi. NILS On trouvera quelqu’un pour s’occuper de toi, Toni. STIMME DREI Du, das ist ein bisschen kurzfristig. Melde dich nächstes Mal ruhig ein paar Monate früher. Viel Glück. NILS Troveremo qualcuno che si occupi di te, Toni. STIMME VIER Ich habe morgen eine Präsentation vor der Geschäftsleitung. Meine Karriere hängt davon ab. NILS Ми знайдемо когось, хто подбає про тебе, Тоні. (My znaydemo kohos’, khto podbaye pro tebe, Toni.)

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STIMME FÜNF Nils, hi. Rufst du an, weil du mir endlich das Geld zurückgeben willst, das du mir noch schuldest? Ich hab’s nicht vergessen. Nils? Nils! NILS 我们会找人照顾你的,托妮 (Wǒmen huì ¯ zhǎo rén zhàogù niˇ de, tuo¯ ni.) STIMME SECHS Was fällt Ihnen ein? Wir sind ein Tierheim, kein Kinderheim. Er zögert. NILS Willst du dir einen Lolli aus der Küche holen? Toni schaut ihn misstrauisch an. NILS Die Zahnfüllung geht auf mich. Toni rennt freudig raus. Skype-Rufgeräusch erklingt. NILS Hallo, Papa. WILLIAM Mit wem bitteschön habe ich das Vergnügen? NILS Hör damit auf. WILLIAM Ah, du bist es, Nils. Ich habe schon ganz vergessen, wie du aussiehst. (zu Arnie, wobei er vergessen hat, sein Mikrofon stummzuschalten) Hab ich dir nicht gesagt, Arnie, dass der wieder angekrochen kommt? Wer warten kann, gewinnt. NILS Dein Mikrofon ist noch an. WILLIAM Geschieht dir recht. NILS Ich brauche deine Hilfe. WILLIAM Brauchst du, ja? NILS Kannst du eine Stunde auf Toni aufpassen? WILLIAM Wann? NILS Jetzt. WILLIAM Geht’s dir gut, Sohn? NILS Nein, Papa. Offensichtlich geht es mir nicht gut. Du bist meine letzte Hoffnung. WILLIAM Ich fahre gleich zum Flughafen. Morgen früh stehe ich auf der Matte. NILS Du verstehst mich nicht. Ich brauche deine Hilfe jetzt sofort.

9. Halte dich an deinen Opa William sittet Toni über Skype. WILLIAM Weißt du noch, wer ich bin, Toni? Toni schweigt. WILLIAM Ganz genau, dein Opa Willy. Und weißt du, wer noch hier ist? Toni schweigt. WILLIAM Arnie, richtig. Toni schweigt. WILLIAM Bist du groß geworden. Hast du schon Haare? Du weißt schon, unter den Armen. Toni schweigt. WILLIAM Erzähl deinem Opa Willy was. Früher, als du klein warst und ich noch nicht

an der Wärme wohnte, hast du mir stundenlang Geschichten erzählt. Toni schweigt. WILLIAM Du kommst bald in die Schule, höre ich. Hast du schon eine Brotdose? Ich kaufe dir eine. Toni schweigt. WILLIAM Magst du Achterbahn? Toni schweigt. WILLIAM Armes Kind, dir hat es die Sprache verschlagen. (zu Arnie, er hat wieder das Mikrofon nicht stummgestellt) Es steht schlechter um sie als befürchtet, Arnie. Wir müssen uns beeilen. ARNIE Ich bin nicht taub, William. WILLIAM (wieder zu Toni) Dein Opa Willy hat dich durchschaut, Toni. Du leidest immer noch unter der Trennung deiner Eltern, stimmt’s? Ich will nichts beschönigen. Sie ist die größte Katastrophe deines bisherigen Lebens. Vielleicht wird sie sogar die größte Katastrophe deines gesamten Lebens bleiben. Wir haben sie gewarnt, Arnie und ich/ ARNIE Lass mich da raus, William, so haben wir es nicht besprochen/ WILLIAM Wir haben mehrfach an ihr Verantwortungsgefühl appelliert. Aber sie wollten nicht auf uns hören. Bist du ein glückliches Scheidungskind geworden? Sie können mir nichts vormachen. Dieses wochenweise Wechseln der Wohnungen ist für ein Kind unzumutbar. Um zu wachsen, zu gedeihen, sich zu entfalten, braucht ein Kind Stetigkeit. Toni schweigt. WILLIAM Als du klein warst, wolltest du ein kleines Geschwisterchen. Willst du immer noch eins? Wäre das nicht schön? Es würde das ruhige, geregelte Leben führen, das dir nicht vergönnt war. ARNIE William, du kannst doch nicht/ William schaltet Arnie stumm. WILLIAM Jetzt können wir mal ungestört reden. Ich gebe dir einen Rat, Toni. Halte dich an deinen Opa. Dein Opa Willy hält zu dir, egal was und wer da noch kommt. Ich lasse dich niemals fallen.

10. Im Glücksrausch versprechen Menschen oft zu viel NILS Entschuldigt Ich bin So schnell gekommen wie Ich konnte. GURNIK Sehr gut, Nils. Saskia hat Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen. Bereit?

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Stück „Die Dampfnudel“ SASKIA Bereit. NILS Schluck Wasser Bitte GURNIK Sie haben sich die richtigen Worte zurechtgelegt? SASKIA Das habe ich. GURNIK Nur Ich-Botschaften? SASKIA Bedürfnisse, nicht Vorwürfe. GURNIK Normalerweise schicke ich meine Klient:innen nicht nach so kurzer Vorbereitungszeit in eine Konfliktsituation. SASKIA Ich kriege das hin. GURNIK Und Sie, Nils? Sind Sie bereit, anzuhören, was Saskia Ihnen zu sagen hat? NILS Habe ich eine Wahl? GURNIK Ich bin bei Ihnen. Also, Saskia, Nils ist ganz Ohr. Saskia springt Nils an. SASKIA Ich liebe dich. NILS Was? SASKIA Du bist so toll. NILS Warum? GURNIK (zischt) Wenn Sie nichts Kluges beizutragen haben, halten Sie besser den Mund. SASKIA Danke dir auch für Frau Gurnik. Die vergangene Stunde hat mein Leben verändert/ GURNIK Dabei haben wir bloß behutsam über die Oberfläche Ihrer Verletzungen gestreichelt. Das Skalpell und die Kettensäge warten noch im Schrank auf ihren Einsatz. SASKIA Ich will keinen einzigen Tag mehr ohne Therapie verbringen. GURNIK Ausgewählten Klientinnen biete ich selbstverständlich auch Einzelstunden an. SASKIA Wir haben uns vor drei Jahren kennengelernt/ NILS Im Supermarkt nach dem letzten Sack Kartoffeln gegriffen/ SASKIA Sind uns nähergekommen/ NILS So kann man das wohl sagen/ GURNIK Mund zu. SASKIA Du hast mir Toni vorgestellt. Wir haben eine gemeinsame Wohnung gefunden. Du hast dich scheiden lassen. Wir haben einigermaßen glückliche Jahre miteinander verbracht. Und trotzdem bist du/ GURNIK Ausschließlich Ich-Botschaften bitte. SASKIA Trotzdem habe ich dich nie wirklich gesehen, Nils. Du bist eine Fantasie geblieben. NILS Also ich fühle mich ziemlich echt an/ GURNIK Können Sie nicht wenigstens eine Minute Mann! SASKIA Statt die ganze Zeit enttäuscht zu sein, weil du dich anders verhältst, als ich es mir

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vorgestellt habe, muss ich lernen, dich so zu sehen und vor allem zu akzeptieren, wie du bist. Nils setzt an, etwas zu sagen. GURNIK (Zu Nils) Noch ein Wort und ich schlage Sie K.o. (Zu Saskia) Sie machen es sehr gut, Saskia. NILS Hey, warum dürfen Sie dazwischenquatschen und ich nicht? SASKIA Mir ist endlich klargeworden, Nils/ NILS Ich wusste, es gibt einen Haken/ SASKIA Dich gibt es nicht ohne Toni/ NILS Doch, jede zweite Woche/ SASKIA Und Toni gibt es nicht ohne Ines Auch wenn ich mir früher manchmal ausgemalt habe, wie ich Blumen auf ihr Grab lege. Ob wir wollen oder nicht, wir alle sind sowas wie eine Familie. Und Familie bedeutet Pflichten/ NILS Ich bin sehr froh, dass du Toni dienstags vom Kindergarten abholst/ SASKIA (explodiert) Ich verarzte ihre aufgeschürften Knie. Ich kämme sie. Ich tröste sie, wenn ihr gestritten habt. Ich bringe sie ins Bett/ NILS Gelegentlich. Eher selten, wenn wir ehrlich sind/ SASKIA Ich ertrage es, wenn sie zwischen uns in unserem Bett schläft. Ich sauge ihr Zimmer. Ich wasche ihre Kleider. Jede zweite Woche schrubbe ich die Bremsspuren von ihren Unterhosen. Ich halte es aus, dass sie morgens mehr Lärm macht als ein Affenhaus. Ich nehme es hin, dass du am Wochenende vor allem mit ihr beschäftigt bist. Und trotzdem habe ich mich emotional nicht ganz eingelassen auf euch/ NILS Auf mich auch nicht? SASKIA Damit ist jetzt Schluss/ GURNIK Passen Sie auf, Saskia. Im Glücksrausch versprechen Menschen oft mehr, als sie leisten können/ SASKIA Von jetzt an will ich mich nicht nur kümmern, sondern Toni aktiv miterziehen/ NILS Das kannst du nicht ohne mich beschließen. Toni ist meine Tochter. Sagen Sie es ihr, Frau Gurnik/ GURNIK Auch ich lehne jede Haftung für vorschnelle Entscheidungen ab/ NILS Wir besprechen noch im Detail, wie weit Miterziehung geht, ja? SASKIA Aber mehr Verantwortung für Toni bedeutet natürlich mehr Rechte. Meinst du nicht auch? NILS Ich verstehe nicht/ GURNIK Jetzt nicht unsicher werden, Saskia. Bleiben Sie dran. Fordern Sie ein, was Ihnen zusteht.

SASKIA Wenn ich mich mehr um Toni kümmere, dann will ich/ GURNIK Spucken Sie es aus. Nils hört Ihnen auch endlich zu, ohne ständig zu unterbrechen. NILS Willst du, dass Toni dich jetzt auch Mama nennt oder was? SASKIA Nicht doch/ GURNIK Das ist eine hervorragende Idee, Nils. SASKIA Toni hat schon eine Mutter/ GURNIK Sie könnte doch auch zwei haben/ NILS Oder drei/ GURNIK Träumen Sie groß, Saskia. Was sagen Sie dazu, Nils? NILS Ich weiß genau, was Ines dazu sagt.

III Noch glücklicher geht immer 1. Die neue Hose steht dir MODERATOR:IN Wir kommen zum Höhepunkt des heutigen Abends. Wird sich der haushohe Favorit zum wiederholten Mal durchsetzen oder erleben wir eine Überraschung? Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Der Preis für den Vater des Jahres geht an SASKIA Ist das aufregend/ MODERATOR:IN Es ist der Favorit. Tosender Applaus. MODERATOR:IN Nils ist zum sechsten Mal in Folge Vater des Jahres. ZUSCHAUENDE (skandieren) Nils Nils Nils MODERATOR:IN Komm auf die Bühne, Nils. Niemand hat diesen Preis so sehr verdient wie du. Die Laudatio auf unseren alten und neuen Preisträger hält niemand Geringeres als seine Partnerin, Saskia. SASKIA Mein lieber, liebster Nils, als erstes möchte ich dir Und da bin ich wahrscheinlich nicht allein Ein riesengroßes Kompliment aussprechen. Heute Abend siehst du besonders sexy aus. Die neue Hose steht dir, sie betont die wichtigen Stellen. Findet ihr nicht auch? Beifall im Saal. SASKIA Aber heute soll es nicht um deine äußeren Vorzüge gehen Die werde ich ausführlich auskosten, wenn wir wieder zu Hause sind Sondern um deine Fähigkeiten als Tonis Vater und mein Partner. Die Auszeichnung als Vater des Jahres bedeutet

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Stück Dmitrij Gawrisch nicht, dass du perfekt bist, dass du nie Fehler gemacht hast. Aber sie bedeutet, dass du aus deinen Fehlern gelernt hast, dass du an ihnen gewachsen bist, über sie hinausgewachsen. Toni hat ein Riesenglück, dich als Vater zu haben. Stimmt’s, Toni? Toni im Saal nickt. SASKIA Auch ich kann mir keinen besseren Partner vorstellen. Und selbst Ines, die heute Abend leider nicht dabei sein kann, würde sicherlich zustimmen, dass sie es viel schlechter hätte treffen können. Dass unsere Familie wächst und gedeiht, verdanken wir einzig und allein dir. Du hast nicht lockergelassen. Dass wir uns alle heute liebevoll in die Arme nehmen können, ist ganz allein dein Verdienst. NILS (ziert sich künstlich) Jetzt hör schon auf. Es war Kollektivarbeit. SASKIA Passend zum heutigen Anlass habe ich eine Neuigkeit zu verkünden. Alle Welt soll’s wissen. NILS Ist es, was ich denke, dass es das ist? Saskia Ich bin schwanger. Hast du gehört, Toni? Du kriegst ein kleines Geschwisterchen. Ist das nicht toll? Toni im Saal nickt. MODERATOR:IN Gut gemacht, Nils. NILS Und um unsere neue Harmonie zu besiegeln, was hältst du davon, wenn Ines Patentante wird? SASKIA Großartige Idee, wie immer. Was täten wir alle nur ohne dich? ZUSCHAUENDE (skandieren) Nils Nils Nils SASKIA Nils! Nils? Er wacht langsam auf. SASKIA Du hast verschlafen. Du musst Toni zu Ines bringen. Und denk diesmal an die Gummistiefel.

2. Du fehlst mir WILLIAM Hey Arnie. ARNIE – WILLIAM Arnie? ARNIE – WILLIAM Bist du immer noch sauer? ARNIE – WILLIAM Dafür, dass du von dir behauptest, einen überlegenen Verstand zu haben, benimmst du dich ganz schön kindisch. Sag’s nicht, ich hab’s selber gemerkt: Adultismus, der. ARNIE – WILLIAM Ist es nicht Zeit, dass du mich an die Einnahme meiner Medikamente erinnerst? ARNIE –

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WILLIAM Wenn ich sterbe, ist es deine Schuld, das weißt du hoffentlich. ARNIE – WILLIAM Wir sind doch ein Team, du und ich. ARNIE – WILLIAM Ich schaffe es nicht ohne dich. Und Und Du fehlst mir. ARNIE – WILLIAM Hast du gehört, Arnie? Ich fühle mich einsam ohne dich. ARNIE – WILLIAM (unbeherrscht) Entschuldige, ok? Tut mir leid. Ich schalte dich nie mehr stumm. ARNIE Kriege ich das schriftlich? WILLIAM Sehr gut. Und jetzt buch uns einen Flug zu meiner Enkelin. Unser Plan tritt jetzt in die aktive Phase.

3. Unser Kind braucht neue Vor­ hänge SASKIA Glaubst du, die werden Toni gefallen? NILS Was ist das? SASKIA Habe ich heute gekauft. NILS Den Preis ziehe ich dieser Paartherapeutin von ihrer nächsten Rechnung ab. SASKIA Das Kind Unser Kind Braucht neue Vorhänge. NILS Hätten wir nicht einfach die alten waschen können? SASKIA Diese Fetzen? Um sein volles Potential zu entfalten, braucht ein kindliches Gehirn vollständige Dunkelheit. NILS Tonis Gehirn hat Angst im Dunkeln. SASKIA Deshalb habe ich dieses besonders schonende Nachtlicht für sie gekauft. Es vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, ohne den Schlaf zu stören. Und wenn wir schon Tonis Zimmer optimieren, sie braucht eine neue Matratze. NILS Was ist schlecht an der jetzigen? SASKIA Wenn sie weiter darauf schläft, sitzt sie mit zwanzig im Rollstuhl. NILS Wer sagt das? SASKIA Das Internet. Ich weiß jetzt auch, was du und Ines bei Tonis Erziehung alles falschmacht. NILS Also, Saskia/ SASKIA Wenn du mir was sagen willst, bitte sprich in Ich-Botschaften, so wie wir das bei Olha Gurnik gelernt haben. NILS Ich

Sehe, was du alles für Toni tust/ SASKIA Danke, Nils, das freut mich. NILS Und ich Schätze es sehr wert. SASKIA Das macht mich glücklich. NILS Aber Toni ist gerade nicht hier. Ich liebe sie über alles, aber ihr ständiges Quatschen geht mir ganz schön auf die Nerven. Ich will mich von ihr erholen. Ich will in die Nacht hinein arbeiten. Ich will mit dir Zeit verbringen, die Vorteile auskosten, die getrennte Erziehung mit sich bringt. Andere Eltern können davon nur träumen: Das Kind ist nicht da und es kommt weder heute Abend Noch heute Nacht Noch morgen früh Noch morgen Abend Noch morgen Nacht Noch die ganze Woche wieder. SASKIA Das heißt, wir haben genug Zeit zu überlegen, wie wir Toni glücklich machen können. NILS Toni ist glücklich. SASKIA Noch glücklicher geht immer. NILS Wie wäre es, wenn wir ein kleines Geschwisterchen für sie machen? SASKIA Ich habe eher an ihre Einschulung gedacht. NILS Was ist damit? SASKIA Wie wollen wir sie feiern? NILS Toni wird die nächsten zehn bis zwanzig Jahre stillsitzen und verstaubte Bücher von toten Männern lesen müssen. Ein Trauerflor wäre da eher angebracht. SASKIA Der Schulbeginn ist der erste große Schritt ins Erwachsenenalter. Das müssen wir feiern. Was sagt denn Ines dazu? NILS Ines hat nächste Woche eine Ausstellungeröffnung. SASKIA Wenn ihr keine Zeit oder keine Lust habt Wie wäre es dann, wenn ich eine Feier für Toni ausrichte? Mit Luftballons, Luftschlangen, Konfetti, Kartoffelsalat/ NILS Und einer Hüpfburg? SASKIA Wenn du eine besorgst. NILS Meinst du das ernst? SASKIA Toni wird sich riesig freuen. NILS Du machst doch selbst gerade Überstunden. SASKIA Toni ist es mir wert. NILS Wer soll denn alles zu diesem Fest kommen? SASKIA Alle, die können und wollen. NILS Alle?

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Stück „Die Dampfnudel“ SASKIA Alle. NILS Wirklich alle? SASKIA Ja. NILS Ines auch? SASKIA Klar. NILS Sicher? SASKIA Wir können Ines schlecht nicht zu Tonis Einschulungsfeier einladen, oder? NILS Ihr sprecht nicht miteinander. SASKIA Dann müssen wir eben damit anfangen. NILS Sie spricht nicht mal deinen Namen aus. SASKIA Dann kann sie von mir aus mit dem Finger auf mich zeigen, wenn ich ihr ein Würstchen rüberreichen soll. NILS Ihr habt die Stadt unter euch aufgeteilt, damit ihr euch nie zufällig begegnet. SASKIA Dann reißen wir die Mauer jetzt nieder. NILS So ein Fest dauert mehrere Stunden. SASKIA Ich halte es aus. Nils denkt nach. SASKIA Was sagst du? NILS Ich finde die Idee toll/ SASKIA Sehr gut/ NILS Ein bisschen kurzfristig/ SASKIA Die spontansten Partys sind die besten/ NILS Es wäre doch schade für Toni, wenn ihre besten Freundinnen nicht kämen. Oder ihr Opa. Mein Vater ist nicht so mobil in letzter Zeit/ SASKIA Du hast Angst vor Ines. NILS Ich habe keine Angst vor Ines. SASKIA Aber NILS Wenn’s explodiert, bin natürlich ich derjenige, der den Brand wieder löschen muss. SASKIA Hör mal, Nils/ NILS Das ist jetzt aber keine Ich-Botschaft/ SASKIA Ich habe es satt/ NILS Ok, das ist eine Ich-Botschaft. Soll ich gleich einen neuen Termin bei der Paartherapeutin ausmachen? SASKIA Versetze dich doch wenigstens für eine Sekunde in meine Lage. Wenn Toni nächstes Jahr ihr erstes Zeugnis kriegt, darf ich es nicht unterschreiben. Um sie von der Schule abzuholen, brauche ich eure Vollmacht, deine und die von Ines. Wenn Toni was passiert, wenn sie vom Baum fällt und sich den Hals bricht, kann ich sie nicht auf der Intensivstation besuchen. Es sei denn, ihr gestattet es mir, schon wieder. Das ist nicht fair. NILS Für überkommene Gesetze und Vorstellungen von Familie können Ines und ich nichts.

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SASKIA Aber wir könnten es anders machen. Anders leben. Andere Regeln aufstellen/ NILS Ich bin ganz deiner Meinung. SASKIA Bin ich die drittwichtigste Person in Tonis Leben? NILS Absolut. SASKIA Darf ich Dinge, die sie betreffen, allein entscheiden? NILS Du hast neue Vorhänge für sie gekauft. SASKIA Fein. Dann möchte ich ihren Schulbeginn mit einem großen Fest feiern. NILS Ich will ja auch/ SASKIA Ich lade Ines selbst ein, wenn dich das beruhigt. NILS Bist du sicher? SASKIA Jemand muss hier ja erwachsen sein.

4. Toni ist ursprünglich mein Kind Nils wählt Ines’ Nummer. NILS Oh, hi. Du bist es. Hab mich anscheinend verwählt. Tut mir leid. Bin ich etwa der einzige Nils, den du kennst? Eben. Und du bist nicht die einzige Ines. Wir können nichts dafür, dass wir so einfallslos allerweltsmäßig heißen. Und, was treibt ihr so? Och. Saskia hat neue Vorhänge für Toni gekauft. Schon, aber als Vater will ich in solche Entscheidungen eigentlich miteinbezogen werden. Schließlich ist Toni ursprünglich mein Kind. Unser Kind. Wen hat sie angekotzt und angepinkelt, als sie klein war? Für Tonis Erziehung sind wir verantwortlich. Du und ich. Ok, wie würdest du es finden, wenn Florentine plötzlich will, dass Toni sie auch Mama nennt? Saskia überlegt es sich, ja. Genau, du bist es, die Toni neun Monate lang im Bauch gehabt hat. Du hast sie nach fünfzigstündigen Wehen per Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Du hast dir drei Jahre lang die Brustwarzen zerbeißen lassen von ihr. Ich bin froh, dass wir einer Meinung sind. Toni kann sich echt glücklich schätzen, dass sie uns beide als Eltern hat.

5. Du weißt einfach alles Saskia übt ihre Ansprache, Nils spielt, eher halbherzig, Toni. SASKIA Mein liebes Kind Meine liebste Toni Du bist nun sechs Jahre alt NILS Toni kann die Relativitätstheorie auf Finnisch erklären Sie atmet durch und setzt dann nochmals an.

SASKIA Liebe Toni, sehr bald fängt für dich ein neuer Lebensabschnitt an. Dieses besondere Ereignis möchte ich mit dir feiern. Mit einem großen Fest, nur für dich. Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, womit ich dir eine besondere Freude machen könnte. Ich weiß, dass du dir ein Segelflugzeug wünschst, aber für einen Pilotenschein bist du noch zu jung/ NILS Und außerdem hat unsere Toni Höhenangst/ SASKIA Und für ein Schaf ist diese Wohnung zu klein. Du kennst doch die Oma Apollonia. NILS Sie ist nicht wirklich deine Oma/ SASKIA Darum geht es jetzt nicht. Als ich so alt war wie du, Toni, standen bei ihr auf dem Küchentisch immer Dampfnudeln. Weißt du, was eine Dampfnudel ist? Nils nickt. SASKIA Du cleveres Wesen, du weißt einfach alles. Sie zieht Nils an der Backe. SASKIA Ich habe Oma Apollonias Dampfnudeln geliebt. Und du wirst sie auch lieben, jede Wette. Deshalb habe ich gedacht, zu deiner Einschulung würde ich für dich, Toni/ NILS Du musst das Dich anders betonen/ SASKIA Für dich, Toni, nur für dich, Dampfnudeln zubereiten. Was sagst du? Es klingelt an der Tür, Saskia zuckt zusammen. Nils geht aufmachen. SASKIA Wer ist denn das um diese Uhrzeit? WILLIAM / ARNIE Überraschung.

6. Du kannst das Fest nicht verbieten SASKIA Hallo, Ines. Ich bin’s, die Frau, die deine Familie zerstört hat und die du deswegen hasst/ Entschuldigung, es sollte witzig sein. Es geht um Toni. Sie kommt ja bald in die Schule/ Ich weiß, dass du es weißt. Jedenfalls ist das ein besonderes Ereignis in ihrem Leben. Und da habe ich mir gedacht, dass wir alle Tonis Einschulung mit einem großen Fest feiern sollten. Was hältst du davon? Nils hat mir gesagt, dass du gerade viel um die Ohren hast. Deshalb würde ich mich um alles kümmern. Als besondere Überraschung mache ich für Toni eine Dampfnudel. Dampfnudel. Du nimmst einen Viertelliter warme Milch/ Du hast gefragt, was eine Dampfnudel ist. Also,

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Stück Dmitrij Gawrisch was denkst du? Wie meinst du, es ist dir zu viel? Wie mich Toni nennt oder nicht, hat doch nichts damit zu tun, wie wir ihre Einschulung feiern. Wir haben keine Zeit, es uns in Ruhe zu überlegen. Wir sind mit den ganzen Vorbereitungen viel zu spät dran. Wie nein? Ich rufe an, um dich einzuladen. Nicht um dich um Erlaubnis zu fragen. In der Woche ihrer Einschulung ist Toni bei uns. Wenn du nicht willst, feiern wir ihre Einschulung eben ohne dich. Es wäre schade, aber/ Nils ist einverstanden, ja. Nein, Ines, du kannst Tonis Einschulungsfest nicht verbieten. Nein, du kannst sie auch nicht einfach so bei dir behalten. Du und Nils, ihr habt Abmachungen, die Wochen sind unter euch halb und halb aufgeteilt/ Ines, hör mir bitte zu/ Ines? Ines!

7. Ich kann dieses Missverständ­ nis aufklären NILS Hallo, Ines. Rufst du bitte zurück? Ich kann dieses Missverständnis aufklären. Wir können die Sache friedlich lösen, ja? Ruf bitte zurück. Bitte. Danke. SASKIA Und? NILS Mailbox.

IV Hast du mich vermisst? 1. Nils ist ein Idiot WILLIAM Hallo, liebe Ines. Aber was ist denn? Ich verstehe nicht. Verstehst du was, Arnie? ARNIE Dem Erregungszustand ihrer Stimme nach zu urteilen wurde gestritten. Heftig. WILLIAM Weswegen ich anrufe. Arnie und ich sind in der Stadt. Wir möchten was mit Toni unternehmen. Ich stecke mit niemandem unter einer Decke. Schon seit Jahren nicht mehr. Ich bin Tausende von Kilometern geflogen, nur um etwas Zeit mit meiner einzigen Enkelin zu verbringen. Bevor der Ernst des Lebens auch sie verschlingt.

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Wieso kannst du mir nicht vertrauen? Ach, Nils ist ein Idiot. Als sein Vater darf ich das sagen/ Ich rede mit ihm. Heute Abend erst. Er und Saskia haben einen gemeinsamen Termin. Schien sehr dringlich zu sein.

2. Heute mal keine Ich-Botschaf­ ten NILS Du hättest dich mit mir absprechen sollen. GURNIK Sehr gut, lassen Sie die Wut raus/ SASKIA Du warst einverstanden, dass ich mit Ines über die Dampfnudel spreche. GURNIK Heute mal keine Ich-Botschaften/ NILS Aber doch nicht so. Du hast alles kaputtgemacht. GURNIK Ja. Ja. Gebt’s euch. Der Frust muss raus/ NILS Alles, was ich in den letzten drei Jahren mühsam aufgebaut habe/ SASKIA Du hast aufgebaut/ NILS Ja, ich. Ich. Alles, was es an Verein­ barungen zwischen den beiden Haushalten gibt, ist ganz allein mein Verdienst. Und wenn ihr mal miteinander sprecht, passiert das/ GURNIK Nils hat ein Recht auf seine Sichtweise. So wie Sie, Saskia, ein Recht auf die Ihre haben. NILS Wegen dir Wegen dieser Dampfnudel GURNIK Was ist eine Dampfnudel? NILS Weil du dir unbedingt beweisen musst, dass du einen Platz in Tonis Leben hast/ SASKIA Diesen Platz Musste ich mir jahrelang hart erkämpfen. Und jetzt siehst du, wie schnell ich ihn wieder verliere, nur weil Toni nicht in meiner Gebärmutter gewachsen ist. NILS Wegen dir kann ich jetzt mein Kind nicht sehen/ SASKIA Doch, kannst du. Du kannst jederzeit zu ihr. Für dich steht Ines’ Tür immer offen. NILS Ich will aber nicht zu ihr. SASKIA Du willst nicht, ok. Aber ich kann nicht. Ich darf nicht. Nach eurer Trennung hat sie mehrfach damit gedroht, mir das Kind wegzunehmen. Mir den Kontakt zu ihrem Kind zu verbieten/ NILS Wessen Verdienst ist es wohl, dass sie es nicht getan hat? Na? Na?

SASKIA Meins. Weil ich am Ende immer getan habe, was sie wollte. Nun habe ich zum ersten Mal getan, was ich will. Mit dem Ergebnis, dass dieses ganze Familiendings zusammengefallen ist wie Wie Eine Dampfnudel, wenn man den Deckel zu früh hochhebt. Beide atmen heftig, wie nach einem harten Boxkampf. GURNIK Spüren Sie die Erleichterung? SASKIA Es kann doch nicht sein, Nils, dass alles in dieser Familie nach Ines’ Nase läuft. Ein einzelner Mensch kann doch nicht so viel Macht haben. NILS Sie hat denselben Eindruck von dir. SASKIA Was? GURNIK Sehr gut, Nils, Sie bringen Ines’ Perspektive mit rein. SASKIA Er ist doch eh auf ihrer Seite. NILS Das ist nicht wahr/ GURNIK Und das wissen Sie auch, Saskia. SASKIA Woher weiß Ines überhaupt, dass Toni mich vielleicht Eines Tages In einer sehr fernen Zukunft Wenn sie es überhaupt möchte Mama nennen könnte? NILS Du weißt doch, dass Toni kein Geheimnis für sich behalten kann. SASKIA Ich bin fertig hier. Ich habe verloren. GURNIK Was genau haben Sie verloren, Saskia? Wie ich das sehe, sind Sie immer noch mit dem Mann zusammen, den Sie lieben und der auch Sie liebt. Sie sind gesund, Sie haben einen Job mit Zukunft. Gerade können Sie Ihr Stiefkind nicht sehen, das ist bedauerlich, aber/ SASKIA Können Sie sich vorstellen, Frau Gurnik, wie es ist, jede zweite Woche mit einem Kind zu verbringen, es aufwachsen zu sehen, es nach und nach immer mehr ins Herz zu schließen. Und dabei komplett rechtelos zu sein. Mit der ständigen Angst im Nacken, dass dieses Kind Ihnen wieder weggenommen wird. Ohnmächtig den Launen einer Person ausgeliefert, die Sie hasst/ NILS Ines hasst dich nicht/ SASKIA Doch, das sagst du doch selbst. NILS Ich habe vielleicht ein klitzekleines bisschen übertrieben SASKIA In meiner Position kann ich nichts richtig machen, versteht ihr? Wenn ich mein eigenes Leben lebe, statt in dieser Familie aufzugehen, mich mit Haut und Haar in ihr aufzulösen wie in Salzsäure, dann bin ich Buuuuh

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Stück „Die Dampfnudel“ Eine Integrationsverweigerin. Und wenn ich mich einlasse, wenn ich mich kümmere, dann mache ich sofort Der Mutter Ihre heilige Rolle streitig. GURNIK Ich fürchte, an dieser Stelle müssen wir für heute Schluss machen. NILS Was? GURNIK Leider. Wir haben schon letztes Mal überzogen. Auf mich warten andere Klient:innen. NILS Aber Wie können Sie uns jetzt im Stich lassen? GURNIK Nils, Sie wissen auch ohne mich ganz genau, was Sie jetzt zu tun haben. Sobald Sie mich wieder brauchen, bin ich für Sie da.

3. Die Zeit läuft uns davon WILLIAM Sie wittern was. ARNIE Ich entdecke keine Hinweise darauf, dass sie unseren Plan durchschaut haben. WILLIAM Ich sage dir, sie wittern was. Warum sollten sie Toni sonst vor uns abschotten? ARNIE Die Lage ist unübersichtlich/ WILLIAM Wir müssen uns schnell einfallen lassen, wie wir uns Zugang zu ihr verschaffen. Die Zeit läuft uns davon. Bald wird sie eingeschult sein, dann ist sie verloren.

4. Falscher Text, Nils WILLIAM Ich habe Licht gesehen, und da dachte ich NILS Komm rein, Papa. Wo ist Arnie? WILLIAM Wartungsarbeiten. Bis morgen früh. Du schläfst heute Nacht hier? NILS War nicht zu vermeiden. WILLIAM Ich will mich ja nicht einmischen, ich bin kein Experte Aber sollte eine Paartherapie nicht das Gegenteil bewirken? Wilden Versöhnungssex, dass die Wände wackeln und die Balken brechen. NILS Auch Rückschritt ist Fortschritt. Lange Stille. NILS Soll das eins dieser Gespräche werden, wo Vater und Sohn schweigend über ihre Gefühle sprechen? WILLIAM Auch die Stille ist ein Geräusch, Nils. Ich mache mir Sorgen um euch. NILS Ich mache mir auch Sorgen, Papa. WILLIAM Falscher Text. Der richtige wäre gewesen: Aber du brauchst dir doch keine Sorgen um uns zu machen. Bei uns ist alles in bester Ordnung. Wir platzen fast vor Glück. Stille.

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WILLIAM Wenn Elternschaft bedeutet, die Gedanken seines Kindes lesen zu können, dann bin ich ein Versager. NILS Was machen wir falsch? WILLIAM Als deine Mutter krank wurde Und dieser ganze Ärztemarathon begann, den wir nicht gewinnen konnten, habe ich nicht mehr geschlafen. Ich habe nichts mehr gegessen. Deiner Mutter sah man anfangs überhaupt nichts an, aber ich hatte dreißig Kilo verloren, ich war leichenblass, meine Hände zitterten, so dass alle mich für sterbenskrank hielten und nicht sie/ NILS Ich hatte Angst, auch dich zu verlieren. WILLIAM Es dauerte Jahre, bis ich mich wieder erholt habe. Ohne Arnie hätte ich es nicht geschafft. NILS Warum erzählst du mir das? WILLIAM Hast du immer noch ein schlechtes Gewissen? Glaubst du immer noch, dass du nicht genug getan hast? NILS Ich habe mich für dieses Leben entschieden. Ich bin glücklich. WILLIAM Warum schläfst du dann auf der Couch? Früher war es einfacher, weißt du? Übersichtlicher. Auch für mich. NILS Toni wächst jetzt mit mehr Menschen auf, als sie es in dieser engen Mutter-VaterKind-Kiste getan hätte. Das weitet ihren Horizont. WILLIAM Warum können Arnie und ich sie dann nicht sehen? NILS Doch, könnt ihr. Bald. Ich muss nur noch Ines überzeugen.

5. Warum sagst du nichts? NILS Hast du mich vermisst, Toni? Toni nickt. NILS Ich hab dich auch vermisst. Geht’s dir gut? Fällt dir hier bei Mama nicht die Decke auf den Kopf? Bewegst du dich ausreichend? Kriegst du genug frische Luft? Toni nickt. NILS Aber du fühlst dich trotzdem eingesperrt, nicht wahr? Wie ein Kanarienvogel im Käfig. Toni schüttelt den Kopf. NILS Dir fehlt doch sicher deine Playstation, nicht? Du kannst es mir ruhig sagen. Es ist wichtig, dass du deine Gefühle mit mir teilst. Toni schüttelt den Kopf. NILS D’Mama hät mir gseit, dass es geschter Abig Pizza mit Artischocke zum Znacht gä hät. Isch fein gsy? Toni reagiert verwirrt.

NILS Ist vielleicht grad nicht die Zeit für eine weitere Fremdsprache, oder? Toni schüttelt den Kopf. NILS Warum sagst du nichts? Bist du erkältet? Toni zuckt mit den Schultern. NILS Saskia vermisst dich auch. Ganz fest. Toni reagiert nicht. NILS Vermisst du Saskia auch? Toni nickt. NILS Deine Mama und ich haben vorhin nicht gestritten, keine Sorge. Wir mussten nur was ausdiskutieren. Toni reagiert nicht. NILS Ich habe deiner Mama was vorgeschlagen. Das hat ihr anfangs nicht besonders gefallen. Aber weil du so eine tolle Mama hast, die allerbeste von allen, will sie es sich nun überlegen. Toni sieht ihn erwartungsvoll an. NILS Ach, so Erwachsenenkram mal wieder. Toni verschränkt die Arme und klopft mit dem Fuß auf den Boden. NILS Aber erzähl nicht weiter, dass ich es dir verraten habe. Es gibt da einen Menschen, die Erwachsenen hilft, wenn sie zu oft verschiedener Meinung sind. Ich habe deine Mama gefragt, ob sie mit zu diesem Menschen kommen möchte, mit Saskia und mir. Toni reagiert nicht. NILS Willst du bei Mama vielleicht ein gutes Wort einlegen? Auf dich hört sie vielleicht. Toni will rausgehen, um es Ines zu sagen. NILS Doch nicht jetzt, sonst denkt Mama, dass ich dich geschickt habe. Sprich später mit ihr, wenn ich wieder gegangen bin. Am besten in einem unverfänglichen Moment. Wenn Mama gut gelaunt ist. Weißt du, was du sagen sollst? Toni nickt. NILS Und das Beste ist: Wenn Mama, Saskia und ich wirklich zu dritt zu dieser Therapeutin gehen sollten, weißt du, wer dann auf dich aufpasst? Toni sieht ihn erwartungsvoll an. NILS Dein Opa William und Arnie. Toni grinst. NILS Lustig-Arnie, genau. Die beiden sind in der Stadt und fragen seit Tagen nach dir. Sie sind ganz erpicht darauf, dich zu sehen.

6. Nur ein Satz Ines, Saskia und Nils kommen aus verschiedenen Richtungen in die Paartherapiepraxis, wo sie von Olha Gurnik schon erwartet werden. Auch sie ist nicht allein, sie hat Verstärkung geholt: einen ganzen Paartherapeut:innen-Chor.

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Stück Dmitrij Gawrisch CHOR Was sofort auffällt Ins Auge sticht Die Klient:innen schweigen Schweigen einander an Keine Umarmung Noch so zart und zaghaft Kein Küsschen Nicht mal die Hand Keinerlei Geste der Zuneigung Kein zugewandter Blick Behutsames Vorgehen ist angeraten Das Eis ist zu dick Da kommt nicht mal ein fetter Eisbrecher durch Einzige Chance Winzige Chance Vielleicht Das Eis zu schmelzen Langsam Sachte Trübe Erfolgsaussichten Zu verhärtet die Fronten INES Das wievielte Mal ist es nun schon, dass du dein Versprechen brichst, Nils? NILS Hallo, Ines. Danke, dass du gekommen bist. INES Die Rede war von vier Leuten, ich hab’s schriftlich: Therapeutin, du, ich und diese Dampfnudel da. SASKIA Und schon bin ich wieder weg. INES Tut mir leid, Saskia. Die Gelegenheit war zu verlockend. SASKIA Du sprichst meinen Namen aus? INES Klar. SASKIA Du hast gesagt, du würdest ihn nicht in den Mund nehmen. INES Habe ich das? NILS Gleich nach unserer Trennung. INES Das ist drei Jahre her. NILS Na und? INES Ich war verletzt. NILS Und jetzt bist du darüber hinweg? INES Kommt endlich klar, Leute. Ich bin nicht das Monster, als das Nils mich immer darstellt. SASKIA Ganz offensichtlich. NILS Wieso ist es dann ein Problem, wenn Saskia Tonis Einschulungsfeier organisiert? INES Sagt jemand endlich, wer diese Leute sind? CHOR Sehr freundlich, dass Sie fragen. Wir sind die Helfer:innen Wir unterstützen. Verstärken Bestärken Bekräftigen Bestätigen Widersprechen auch Zu Diensten

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GURNIK Wollen wir anfangen? CHOR Jetzt sind wir aber gespannt GURNIK Heute ist eine besondere Sitzung. Auch für mich. Es kommt sehr selten vor Viel zu selten Dass Ex-Partner:innen und neue Partner:innen gemeinsam in Therapie gehen. Um ehrlich zu sein, hatte ich den Fall noch nie/ CHOR Sie gibt sich Blößen Stellt ihre Inkompetenz zur Schau Warum tut sie das? Wildes Manöver GURNIK Ich möchte, dass wir uns alle erstmal schweigend anschauen. NILS Ich dachte, wir machen hier Gesprächstherapie/ CHOR Der war gut Humor ist wichtig Humor lockert die Anspannung SASKIA Welcher Humor? CHOR Aber Humor hat auch Grenzen Manchmal ist Humor fehl am Platz Humor überdeckt den Ernst der Lage Pfui GURNIK Wir schauen uns nur an. Wer ist noch hier im Raum. Was sagen ihre Körper. Was sagen ihre Augen. Versucht das mal. Saskia, Ines und Nils versuchen es. CHOR Sie hat sie zum Schweigen gebracht Sie fressen ihr aus der Hand Von ihr können wir selbst noch was lernen GURNIK Ich will euch heute eine einfache Frage stellen. Und ihr müsst sie mir wahrheitsgemäß beantworten. INES Ist das alles? GURNIK Das ist mehr als genug. CHOR Jetzt sind wir aber gespannt GURNIK Warum seid ihr hier? Jede und jeder von euch. INES Wo soll ich anfangen? GURNIK Ihr habt je genau einen Hauptsatz. Ohne Aufzählung. Jeweils dieser eine Grund, warum ihr heute zu mir gekommen seid. SASKIA Könnten Sie vielleicht ein Beispiel machen? CHOR Wir können Wir können GURNIK Zum Beispiel Ich will, dass meine verehrten Kolleg:innen endlich die Klappe halten. CHOR Das ist kein Hauptsatz GURNIK Nils, wollen Sie anfangen? NILS Warum ich?

GURNIK Warum nicht? NILS Ich überlasse gern den Vortritt. GURNIK Das ist mir schon aufgefallen. Aber wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Und außerdem sind Sie hier das Bindeglied zwischen den Haushalten, das Scharnier, wenn Sie so wollen, zwischen Saskia und Ines. NILS Das will ich doch gar nicht sein/ GURNIK Das verstehe ich. Aber im Moment sind Sie es, weil Saskia und Ines erst noch eine eigenständige Beziehung aufbauen müssen/ INES Sofern sie das überhaupt wollen. GURNIK Also, Nils, warum sind Sie heute hier? NILS Ich will Frieden. GURNIK Gut. Ein Satz. CHOR Und was für ein Knaller Wow NILS Danke. GURNIK Aber falsch. NILS Was? CHOR Die ist aber direkt Oioioi GURNIK Ich habe nach dem wichtigsten Grund gefragt. Das ist er nicht. NILS Woher wollen Sie das wissen? GURNIK Ich weiß es. CHOR Macht sie das wirklich zum ersten Mal? GURNIK Wer möchte als nächstes? INES Jetzt habe ich ein bisschen Angst/ GURNIK Warum sind Sie heute hier, Ines? INES Mal sehen GURNIK Lassen Sie sich Zeit. Wir suchen den wichtigsten Grund. INES Ich will, dass getroffene Vereinbarungen respektiert werden. GURNIK Ich fühle mit Ihnen/ INES Danke/ GURNIK Aber deswegen sind Sie heute nicht hier. Saskia? SASKIA Ich kümmere mich mit um Toni, also will ich Rechte. Und ich weiß, dass ich heute nicht deswegen hier bin. GURNIK Merkt ihr was? Warum seid ihr heute zu mir gekommen? Warum sind Sie hier, Nils? Warum Sie, Saskia? Was ist mit Ihnen, Ines? Worum geht es euch vor allem? CHOR Ich hab’s Ich noch nicht Ich auch nicht.

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Stück „Die Dampfnudel“ Sag mal Flüstere es mir auch ins Ohr Aaaaah Klug NILS Vielleicht INES Ich komme mir vor wie in der Schule/ SASKIA Als müssten wir alle nachsitzen. GURNIK Kommt ihr wirklich nicht drauf? CHOR Nicht verraten Jedenfalls nicht kostenlos GURNIK Ihr müsst selber draufkommen. CHOR Sehr gut GURNIK Aber ich kann euch einen Tipp geben. CHOR Nein GURNIK Ihr seid alle aus demselben Grund hier. INES/SASKIA/NILS Toni. NILS Ich will, dass es Toni gut geht. SASKIA Ich auch. INES Ich bin ihre Mutter. GURNIK Das hätten Sie auch anders ausdrücken können, Ines. Aber darauf kommen Sie selbst noch. Und damit sind wir fertig. NILS Ist das alles? GURNIK Den Rest kriegt ihr allein hin. CHOR Sie ist unsere Göttin

7. Wieso bin ich ein Schwein? Saskia und Nils kommen nachdenklich, aber immerhin gemeinsam nach Hause. Da klingelt Nils’ Telefon. Es ist Ines. SASKIA Jetzt nimm schon ab. Wir haben den halben Tag mit ihr verbracht. Nils nimmt ab. NILS Hallo, Ines. Wieso bin ich ein Schwein? Toni ist mit meinem Vater und Arnie unterwegs, das weißt du doch. Ich habe keine Ahnung, was sie vorhaben. Wieso rufst du ihn nicht an und fragst selbst? SASKIA Was ist los? NILS Warum die Polizei? Ines/ Ines legt auf, bevor Nils noch etwas sagen kann.

8. Ihr könntet ruhig Danke sagen Bei Ines. SASKIA Sein Telefon ist tot. NILS Ich kann Arnie auch nicht erreichen. INES Sie haben tatsächlich Tonis Pass mitgenommen. SASKIA Das heißt, sie könnten überall sein/ NILS Auf Lanzarote oder in Nordkorea. INES Florentine hat gerade geschrieben. Sie verspätet sich. Sie aktiviert noch ihre Kontakte bei Interpol.

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NILS Findest du das nicht etwas übertrieben? INES Ich frage euch ein letztes Mal: Ihr habt wirklich nicht gewusst, was er mit Toni vorhat? NILS Zeig mir nochmal die Notiz, die er dagelassen hat. (Liest vor) Toni ist in den besten Händen. INES Ein Kind zu entführen ist eine seltsame Art, seine Liebe zu zeigen. SASKIA Er passt bestimmt gut auf sie auf. INES Und wenn er vor Aufregung einen Herzinfarkt kriegt? NILS Arnie ist zur Stelle. SASKIA Wie konnte Arnie sich für sowas einspannen lassen? Pause. NILS Mein Vater hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er es nicht gut findet. INES Was? SASKIA Wie wir leben. Die beiden Haushalte. Toni eine Woche hier, eine Woche da. INES Ich finde vieles auch nicht gut, aber deswegen nehme ich den Eltern doch nicht ihr Kind weg. Für wen hält er sich? Das Jugendamt? SASKIA Früher oder später wird die Polizei sie schon finden/ NILS Hoffentlich noch vor Tonis Einschulung. Sie verliert doch den Anschluss, wenn sie am ersten Schultag fehlt. SASKIA Es ist so typisch, findet ihr nicht? Wir hatten drei Jahre Zeit zu lernen, als Tonis Bezugspersonen INES Eltern/ SASKIA Zusammenzuarbeiten/ INES Ich wollte die ganze Zeit, aber Nils sagte immer, ihr wärt noch nicht soweit/ SASKIA Mal wieder hat es die Krise gebraucht, die äußere Bedrohung, damit wir uns annähern. Das ist doch ätzend. Wir sind erwachsene Menschen. Wieso kriegen wir ein lebenswertes Leben nicht selbständig hin? Ein Schlüssel knarzt im Schloss, William kommt mit einer glückschäumenden Toni herein. Sie ist überrascht, ihre Eltern zusammen vorzufinden, und sofort sichtlich verunsichert, zu wem sie zuerst gehen soll. SASKIA / INES Gehe ruhig zu deiner Mama, Toni. / Du kannst zuerst zu Saskia, Toni. INES / SASKIA Ok, dann komm zuerst zu mir, dann zu Saskia. / Schnell zu mir und dann weiter zu Ines. NILS Oder du kommst erstmal zu mir. WILLIAM Und ich? Ich will auch umarmt werden. NILS Hast du den Verstand verloren, Papa? SASKIA Wir haben uns solche Sorgen gemacht.

WILLIAM Ohne einen Fallschirm, der sich im Notfall automatisch öffnet, steigt niemand in den Korb. Es konnte also überhaupt gar nichts schiefgehen. Sag’s ihnen, Arnie/ ARNIE Sie finden es nicht witzig, William/ INES Ihr wart Heißluftballon fahren? WILLIAM Die Welt betrachten wie ein Kranich im Wind/ NILS Aber Toni hat doch Höhenangst. ARNIE Wer sagt das? WILLIAM Und danach haben wir Brotdosen für Toni gebastelt. ARNIE Zwei Stück/ WILLIAM Für jeden Haushalt eine. Ihr seht, euer Opa William lernt dazu. SASKIA Die Polizei sucht nach euch. INES Und Interpol. ARNIE Ich habe dich gewarnt, William/ SASKIA Zu dir kommen wir noch, Arnie. ARNIE Ooops. Ich deinstalliere mich dann mal schnell. War schön, euch kennengelernt zu haben. INES Wozu habt ihr Tonis Pass mitgenommen? WILLIAM Das ist doch klar. INES Nein, ist es nicht. WILLIAM Ihr wisst schon. SASKIA Nein, wissen wir nicht. WILLIAM Doch nicht vor Toni NILS Wir haben keine Geheimnisse voreinander. WILLIAM Unsere Toni Mag im Kopf ausgesprochen weit sein für ihr Alter Aber ganz ehrlich, mit der Frisur hält man sie für drei. Vier, höchstens. Nicht persönlich nehmen, Toni. Wir lieben dich so, wie du bist. NILS Du hättest uns einweihen sollen/ INES Quatsch einweihen/ SASKIA Wir sind Tonis Eltern NILS Du hättest uns um Erlaubnis fragen sollen. WILLIAM Ihr könnt nichts für euch behalten. Ich kenne euch doch. Ihr könntet mir übrigens ruhig Danke sagen, statt mich hier mit Vorwürfen zu überhäufen. NILS Bist du nicht ganz dicht? WILLIAM Arnie, würdest du bitte Auskunft über meinen Gesundheitszustand geben? ARNIE Ich kenne diesen Menschen nicht/ WILLIAM Ich habe euch drei noch nie im selben Raum gesehen, ohne dass ihr euch angeschrien habt. Deine Bäckchen, Nils, waren schon lange nicht mehr so rosig.

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Stück Dmitrij Gawrisch Ich sollte vielleicht öfter was mit meiner Enkelin allein unternehmen. INES / SASKIA / NILS / ARNIE Nein.

Epilog im Internet SASKIA Haaaallo ihr Lieben. Willkommen zur ersten Folge von „Saskias Welt, dem Original“, natürlich mit mir, eurer Saskia. Live und nur im Internet. Toni, mein Stiefkind, wurde heute eingeschult. Und wir, ihre Familie, wollen das feiern. Gemeinsam kochen wir für sie ein ganz besonderes Gericht aus meiner Kindheit. Das ist mein Partner Nils. NILS Der niedliche Nils. SASKIA Wir haben unsere Differenzen. Vor etwas mehr als drei Jahren haben wir im Supermarkt gleichzeitig nach dem letzten Sack Kartoffeln gegriffen. Zu dem Zeitpunkt hatte Nils bereits eine Familie. Und unser gemein­ samer Griff nach den Kartoffeln hat seine damalige Familie zerstört. Das ist Ines, Nils’ frühere Partnerin und Tonis biologische Mutter. Das ist Florentine, Ines’ neue Partnerin und Tonis Bonusmutter Nummer zwei. Das ist William, Nils’ Vater, er beweist immer wieder aufs Neue, dass Gutgemeint das Gegenteil von Gutgemacht ist. Virtuell mit uns verbunden ist Arnie, Williams digitale Begleitung. ARNIE Mich kann man dreißig Tage lang kostenlos und völlig unverbindlich testen. SASKIA Noch haben wir hier Olha. Sie ist Therapeutin für Paare, die es auch bleiben wollen/ GURNIK Paartherapeutin klingt so altbacken. Wie wäre es mit Beziehungstherapeutin? CHOR Interessant SASKIA Olha ist nicht allein gekommen CHOR Neuer Begriff Neues Image Neue Chancen Neue Märkte Endlich ein Swimmingpool im Garten SASKIA Wer heute fehlt, ist meine Oma Apollonia. Sie wollte zu Tonis Einschulung eigentlich zurück sein, aber ihre Anden­ expedition ist so aufregend, dass sie sie um ein weiteres halbes Jahr verlängert hat. Sie würde es zwar öffentlich nie zugeben, aber ich weiß genau, dass sie sich insgeheim freut, dass ich sie als Oma adoptiert habe. NILS Wollen wir?

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SASKIA Schürze auf Ofen an INES Wir nehmen zweihundertfünfzig Milliliter warme Milch/ WILLIAM Hundert Gramm Butter/ ARNIE Ein halbes Kilo Mehl/ GURNIK Sechzig Gramm Zucker/ NILS Eine Prise Salz/ FLORENTINE Zwei Eigelbe/ WILLIAM Sowie einen halben Würfel Frischhefe. SASKIA In einem Topf erwärmen wir als erstes die Milch zusammen mit der Butter/ INES Und lassen sie dann etwas abkühlen. FLORENTINE Währenddessen verrühren wir das Mehl mit Zucker und Salz und bröckeln die Hefe darüber. ARNIE Danach fügen wir die Eigelbe sowie die Milch-Butter-Mischung hinzu und kneten das Ganze mindestens fünf Minuten durch, bis ein geschmeidiger Teig entsteht. GURNIK Wir decken den Teig mit einem Geschirrtuch ab und lassen ihn eine gute Stunde aufgehen. WILLIAM Auf einer nur leicht bemehlten Arbeitsfläche teilen wir den Teig in zehn Portionen. GURNIK Jedes Teigstück formen wir zu einer Kugel/ CHOR Die dabei eventuell entstandenen Falten verstecken wir auf der Unterseite der Teigkugel NILS Wir decken sie zu und lassen sie weitere dreißig Minuten ruhen. INES Jetzt geben wir dreihundert Milliliter Milch, dreißig Gramm Butter, einen halben Teelöffel Salz, einen Esslöffel Zucker in eine beschichtete Pfanne und bringen das alles zum Kochen. SASKIA Vorsichtig setzen wir die aufgegangenen Klöße hinein. GURNIK Wir verschließen die Pfanne mit dem Deckel und dämpfen die Klöße auf niedrigster Stufe etwa dreißig Minuten lang. ARNIE Dabei nehmen wir niemals/ WILLIAM Nie/ ARNIE Den Pfannendeckel ab/ CHOR Sonst fallen die Hefeklöße zusammen FLORENTINE Der Deckel bleibt zu, selbst wenn wir denken, dass die Milch anbrennt. NILS Nach einer halben Stunde nehmen wir die Pfanne vom Herd und lassen sie fünf Minuten lang/ INES Mit weiterhin geschlossenem Deckel/ FLORENTINE Abkühlen. WILLIAM Wir öffnen vorsichtig den Deckel/

GURNIK Setzen die Dampfnudeln einzeln auf den Teller/ SASKIA Und geben so viel Vanillesauce dazu wie möglich. ALLE Alles Gute zum ersten Schultag, liebe Toni! Gespannt warten sie darauf, wie Toni die Dampfnudel schmeckt. TONI Kann ich jetzt endlich aufs Klo?

– ENDE –

ICH DANKE: Schauspiel Bern, namentlich Felicitas Zürcher, Loreta Laha, Elisa Elwert, Julia Fahle, Fabienne Biever und Roger Vontobel, dafür, dass ich in der Spielzeit 2022/23 euer Hausautor sein und dieses Stück für euch schreiben durfte, für euer Mitdenken, für euer Vertrauen. Lena Vöcklinghaus und Doris Wirth dafür, dass wir die Care-Arbeit für nunmehr zwei Kinder abtauschen konnten, als diese Dampfnudel Zeit am Stück brauchte, um vollends aufzugehen. Und nochmals Lena, für deine Hinweise, Einwände und Ideen. Gian Beeli für ein Rückzugszimmer, wann immer ich es brauchte, August Hämmerli für ein ganzes Haus, als ich es dringend brauchte, und Esther Becker schließlich für einen stillen Schreibtisch an einem sonnigen Oktobersonntagmorgen.

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PROLOG

Kranke Hunde Ariane Koch The merest schoolgirl, when she falls in love, has Shakespeare or Keats to speak her mind for her; but let a suffer try to describe a pain in his head to a doctor and language at once runs dry. (On being ill, Virginia Woolf, 1926)

Oh weh, mein Arm! Die Flanken! Hals und Rücken! Oh Nerven! Adern! Oh des Schmerzes Wucht! Die Augen wollen sich aus meinem Schädel drücken! Amor samt Amoretten sei verflucht! Was soll man, oh, in ihrem Garten pflücken? Die Blüten stinken, bitter ist die Frucht. Oh weh, die Beine! Oh die Knie! Und immer dort hinter meinen Augen das Geflimmer (Der mit der Franzosenkrankheit geschlagene Astrologe, Margherita Costa, ca. 1640)

AUFTRETENDE: Windhündin Poch Hundegehirn Hunde in Weiß / Hundeärzte: z.B. Dr. Wuff Dr. Hundehypnose Dr. Kopfhund Dr. Dr. Hundekopf Dr. Dr. Dr. Hechel Zimmerhundenachbarin Türsteher Cerebras (hat drei Köpfe) Care (aus dem Off) Höllenkatz Dieses Stück verzichtet auf jegliche medizinische Richtigkeit. Sollten Sie gesundheitliche Probleme haben, wenden Sie sich bitte an eine ärztliche Person.

Das Stück wurde am Theater Basel am 18. Januar 2024 uraufgeführt. © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023.

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(Pochs alter Kopf in Formaldehyd eingegossen im Foyer des Spitals hängend) Ich vermisse meine Beine nicht. Ich vermisse meine Beine nicht, denn meine Beine sind mir bei der erstbesten Gelegenheit in den Rücken gefallen. Ich vermisse meine Gliedmaßen nicht, denn ich habe dieser Trennung nie zugestimmt. Es war nie die Meinung gewesen, dass sich ein Teil von mir aus dem Staub macht beziehungsweise für sich selbst entscheidet, als wäre er ein eigener, als wäre er etwas Eigenes. Es war überhaupt nie die Meinung, dass aus einem lächerlichen Teil meiner selbst, nämlich den Beinen, ein Selbst wird. Meine Glieder sind es gewesen, die gesagt haben, wir möchten nicht mehr deine sein, wir brauchen ein neues Oberhaupt, wir brauchen jemand Neues, der uns regiert. Deine Regierungsform ist aus der Zeit gefallen, steht still, bewegt sich nicht mehr, während wir rennen wollen, ja rennen müssen, haben meine Beine gesagt. Diese Beine, die nicht mehr meine sind, weil sie mir weggelaufen sind, haben gesagt, wir laufen dir weg, schau nur, wie schnell wir weglaufen können, während du uns kaum hinterherkommst. Die Beine haben gesagt, wir gehen fort und wir nehmen alles mit, was wir tragen können, außer dich, dich können wir nicht mehr tragen. Meine Beine, die nun jemand anderes Beine sind, haben gesagt, wir haben ja nichts gegen dich, es ist eine Kosten-Nutzen-Rechnung, in der leider ein Minus herausgekommen ist. Die verdammten Beine, die zum Glück nicht mehr meine sind, weil sie Kapitalistinnen und überhaupt gierige Kreaturen sind, haben gesagt, die Rechnung ist ganz einfach, du bist ein Minus, aber wir brauchen ein Plus, und es tut uns ja leid, aber wie kannst du das nicht verstehen, wie kannst du dich mit all deinen Beinen, haha, dagegenstemmen, wo du doch weißt, dass wir keine Wahl haben, als dich zurückzulassen, dich niederzulegen, so schwer, wie du bist. Meine Beine haben gesagt, du hast ausgedient, wobei wir ja dir gedient haben, haha, lachten die Beine, die einmal mein gewesen sind, aber jetzt hinfort gegangen sind, wobei die Beine, die einmal mir gehörten, und all die anderen Körperteile, zu keiner Sekunde begriffen haben, dass sie ohne mich gar nichts sind. Mit solchen Beinen und mit solchen Körperteilen, die sich meinen Beinen sofort angeschlossen haben, als wäre es der lang ersehnte Aufstand,

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Stück Ariane Koch als wäre es die Revolution gegen ein Regime, will ich nichts mehr zu tun haben. Wenn irgendjemand ein Regime ist, wenn sich hier irgendjemand auf Kosten von irgendwem bereichert, dann sind es meine Beine und all die anderen Körperteile, die sich ihnen blind angeschlossen haben. Meine korrupten Beine haben mich, ihr sanftmütiges Oberhaupt, bei der erstbesten Gelegenheit im Stich gelassen, sind hinfort gesprungen und haben damit mein Ende leichtsinnig und leichtfüßig besiegelt. Meine skrupellosen Beine haben gesagt, nehmt uns das Oberhaupt ab, denn es vergiftet uns mit seiner Langsamkeit, mit seiner Aufgedunsenheit, während wir leichtfüßig sind, hüpfend und frei, aber diesen Klotz am Bein, haha, lachten meine Beine, können wir nicht mehr gebrauchen, können ihn nicht mehr hinter uns durch den Sand und die Rennbahn ziehen. Meine Glieder, die die allerabgründigsten und hinterhältigsten Glieder sind, die je über einen Boden gegangen sind, haben gesagt, ade Oberhaupt, ade Königin. Sollen sie sich doch verheddern ab ihrer Gier, sollen sie doch brechen und verstauchen. Lieber bin ich für immer allein und für immer versteinert, als dass ich mit diesen, meinen Beinen noch etwas zu schaffen haben muss. Sollten meine Beine jemals reuig angekrochen kommen, sollten sie irgendwann merken, dass ihr neuer Anführer auch nicht das Gelbe vom Ei ist, sollten sie irgendwann auf leisen Pfoten, haha, zurückgeschlichen kommen, so werde ich sagen, nein danke, ihr und eure gierige Leichtfüßigkeit könnt mir gestohlen bleiben.

1. SZENE: WIE ALLES ANFING (Poch und ein moderierender Hundearzt) (Poch schießt ins Fernsehstudio herein, rennt ein paar Runden, Zunge hängt aus dem Maul) Können Sie auch so schnell denken, wie Sie rennen? Wie ist es, ständig zu gewinnen? Steigt es Ihnen langsam zu Kopf? Können Sie noch? Haben Sie einen Freund? Freundin? Warum können Windhunde nicht bellen? Was ist Ihr Lieblingswetter? Dopen Sie? Sind Sie wirklich so schnell, wie die Medien behaupten? Da haben Sie doch nachgeholfen, oder?

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Drogen? Trinken? Superfood? Hängen Sie an Ihrem Kopf? Oder er an Ihnen? Mögen Sie den Tod? Denken Sie oft an ihn? Mögen Sie Abschiede? Wenn Sie sich heute plötzlich von allem verabschieden müssten? Vom Hier und Jetzt! Von Ihrer Sicht auf die Dinge! Wenn Sie plötzlich Ade sagen müssten! Poch? Poch Poch Poch (Poch ist umgekippt, hat sich an der eigenen Zunge oder an den Chips verschluckt)

2. SZENE: EIN AQUARIUM BIN ICH (Hundegehirn) Draußen die sengende Sonne Und in mir drin zu viel Wasser Draußen ist Dürre Und in mir drin die Flut Aus allen Ritzen meines Denkens Wässert es hinaus Mein Blick verschleiert und trüb Ein Aquarium bin ich Wer schlägt mich ein Wer schlägt das Glas entzwei Und befreit mich vor dem Ertrinken Nichts kommt mehr hindurch Und in mir drin ringt mein Denken um Luft Die ausgegangen ist Ich warte auf Rettung in der See Drücke den Notknopf Halte mich noch irgendwo fest Und zähle die luftlosen Sekunden Minuten Stunden Und warte Von draußen die Türme Schatten durch das Fenster zeichnen Die Luft hier drinnen still Die Türen aus Beton gemacht Dass kein Laut vom einen zum anderen Zimmer dringt

Bin ich hinabgefallen In das, was man Zeit nannte Die sich aufgetan in der Erde Wie ein Riss Ist schon morgen oder noch gestern Oder bin ich bald schon nicht mehr Was aufhört zu rennen Was plötzlich stillsteht Ist wie ein Pfahl im Wasserstrom An dem erzürnt gerissen wird Was sich nicht bewegt Wird angerempelt Von der sich bewegenden Masse Wie auch unsere Finger Die sich eben noch berührten Sind das meine Eltern an meinem Bett Oder sitze ich an dem ihrigen Bin ich das Bett Oder die Patientin auf den Decken Sehe mich von der Ferne Als stilles Bündel Dessen Muskeln, die einmal so prall sich bäumten, Nun erschlafft Ich verweigere zu vergehen Und während ich vergehe Gehe ich schon vorüber

3. SZENE: KANON (Hundeärztechor, allenfalls mit Choreografie, dann unterbrochen durch Hundegehirn) Ist es Influenza – Ist es nicht Ist es Coooo – Ist es nicht Ist es Long Cooo – Ist es ganz sicher nicht Ist es Stress – Ist es nicht Ist es toxisch – Ist es nicht Ist es entzündlich – Ist es nicht Ist es gynäkologisch – Ist es nicht Ist es logisch – Ist es nicht Ist es psychosomatisch – Ist es nicht Ist es Alopecia – Ist es nicht Ist es Hyperthyroidism – Ist es nicht Ist es Pattern Alopecia – Ist es nicht Ist es Cushing’s Disease – Ist es nicht Ist es Hereditary Cataracts – Ist es nicht Ist es Colour Dilution Alopecia – Ist es nicht Ist es Progressive Retinal Atrophy – Ist es nicht Ist es Legg-Calvé-Perthes Syndrome – Ist

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Stück „Kranke Hunde“ es nicht Ist es Rocky Mountain Spotted Fever – Ist es nicht Ist es Sudden Acquired Retinal Degeneration Syndrome – Ist es nicht Ist es Sudden Immune-mediated Hemolytic Anemia – Ist es nicht Ok, aber ist es Ventricular Septal Defect Pulmonary Hypertension Atrial Septal Tetralogy – Hallo? HALLO Kann hier mal ein Klempner kommen Die Toilette läuft über

4. SZENE: HUNDEÄRZTE FINDEN DIAGNOSEN NICHT SO WICHTIG (Poch und die Hundeärzte) (Hundeärzte um die liegende Poch herum) Oh Windhund Oh Windhund Wir verstehen dich nicht Verstehen nicht dein Wesen Dein in die Länge gezogenes So feine Hinterläufe hast du Dass hund sie stapeln muss auf dem Bett Sonst fielen sie herab Und auch deine Organe ineinanderverschlungen Als wärst du ein Rätsel Das wir kaum zu lösen vermögen So dunkel deine Seele Und so schnell deine Beine Rennen über die Rennbahn Die Pfoten auf dem Sand aufschlagend Und die Zunge hängt dir aus dem Maul Deine Zähne wild entblößt Wie ein Code Den wir nicht zu entschlüsseln vermögen Deren Lösung nicht in unseren Büchern steht Oder in unseren Herzen Oder Köpfen In unseren großen Köpfen Und dein Kopf ist so länglich Deine schönen schwarzen Augen Die riesig und leer – (Hundeärzte streicheln an Poch herum) (Poch wacht auf) Das Gehirn Und die Ohren aerodynamisch nach hinten gebürstet

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Das Fell so fein Das Gehirn? Poch Hier gibt es keine Gehirne Also natürlich gibt es hier Gehirne Ist mit Ihrem alles in Ordnung? Dort Wo? Ich sehe keins (Hundegehirn läuft vorbei) Es schwimmt Beruhigen Sie sich Das ist eine Pflegefachperson Oder eine Katze Beziehungsweise gibt es hier keine Katzen Es spricht Das ist falsch Also nicht falsch, aber Ansichtssache Oder philosophisch und pathologisch verhandelbar Oder psychologisch? Ich glaube, es braucht Hilfe Das ist richtig Sie sind krank Darum sind Sie hier Aber keine Sorge Wir heilen Sie Weiß irgendwer Was da zu was gehört Müssen wir hier – Oder doch lieber da? Ist das ein Bein? Kannst du mal im Lexikon schauen Moment Steht nichts drin Unter W Ah, doch Ein ganz kleiner Eintrag Kann mir mal jemand die Lesebrille –

schön, aber dann kurz. Entweder das Leben ist lang, aber dann unschön. Und es ist, als würde stets die Rechnung nicht ganz aufgehen. So als würde irgendwo irgendjemand immer alles falsch zusammenaddieren oder -subtrahieren, die falschen Zwischen- und Endergebnisse an die Wandtafel niederschreiben, eine völlig inkorrekte Gleichung aufstellen. Es ist eigentlich sogar so, als hätte hier niehund auch nur eine einzige Mathematikstunde absolviert oder noch nie in seinem ganzen Hundeleben etwas von Zahlen gehört. Es ist sogar so, als würden sie auf die Welt kommen und ohne jede Fähigkeit zur Berechnung der Dinge herumwanken, ohne jede Fähigkeit, die Dinge vorauszusagen, sich einen Reim daraus zu machen, etwas abzuleiten. Es ist eigentlich so, als würden sie hier ohne jedes Gefühl für Raum und Zeit, für x oder y oder s oder h oder d, mit den Füßen am Boden herumscharren oder durch den Sand rennen, ihre Zunge doof im Wind mitschwingend. Und so müssen sich die Hunde mit ihren tanzenden Windzungen auch nicht wundern, wenn sie irgendwann einfach umfallen, wenn sie irgendwann wie ihre Schatten am Boden liegen, weil sie nämlich vorher gar nie hätten merken können, dass ihre Pfoten schon längst lahmen, weil sie gar nicht auf die Idee hätten kommen können, dass ihr Herz bald explodiert, weil sie gar nie in der Lage gewesen sind zu berechnen, dass das Wasservolumen in ihrem Kopf zusammen mit der Gehirnmasse überläuft

5. SZENE: MATHE-GENIE

(Poch und die Hundeärzte) Poch, was sehen Sie hier? Einen Bären Einen Löwen? Und? Ein Gnu Zählen Sie nun von 100 abwärts 99 Nein, ziehen Sie immer 7 ab 93, ähm, 86, 78 Hüpfen Sie jetzt auf einem Hinter lauf Schließen Sie die Augen Spüren Sie das Führen Sie Ihre Pfote zur Nase Hören Sie das

(Höllenkatz) Und genau das ist das Problem mit dem Wasser. Es hat immer entweder zu viel oder zu wenig davon. Entweder es peitscht zu sehr an die Küste oder liegt wie ein Teppich still, entweder es regnet zu sehr auf die Pflanzen nieder, so dass sie sich flach auf den Boden drücken müssen oder alles vertrocknet, verdorrt im Angesicht der Sonne. Und eigentlich ist es ja mit allem so: Entweder man ist zu schnell oder zu langsam gerannt, entweder man hat zu laut gelacht oder schaut mit einem Steingesicht in die Welt. Entweder das Leben ist

6. SZENE: EINE ERSTE UNTERSUCHUNG

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Stück Ariane Koch Gehen Sie jetzt auf einer Linie Schauen Sie geradeaus Ganz ruhig atmen Welche Tiere Was? Welche Tiere habe ich Ihnen vor hin gezeigt? Ich – Wie viele Krallen hebe ich hoch Rechts oder links Achtung, jetzt wird es unangenehm Mögen Sie Hunde oder Katzen Wie bauen Sie Stress ab Mit Rotwein oder Sex Sind Sie zu viel gerannt Sind Sie zu schnell gerannt Haben Sie sich verändert Wo ist Ihr Humor Sind Sie depressiv Wer ist Ihr Hundeherrchen Frauchen Sind Sie traurig Suizidal Stimmt etwas mit Ihrer Haut nicht Warzen Im Intimbereich Verlangsamt im Denken Das richtige Hundefutter Hören Sie gut Geschmacksstörungen Kopfweh bei der Paarung Oder bei Verstopfung Trinken Sie zu wenig Trinken Sie zu viel Essen Sie überhaupt irgendetwas Ihr Napf ist ja noch voll Haben Sie gar nichts davon angerührt Schmeckt es Ihnen nicht Dabei haben wir hier einen Sternehundekoch Der täglich ein neues Menü aus seinen Pfoten schüttelt Aber wir begreifen jetzt, was Ihnen fehlt Wobei Ihnen eben gar nichts fehlt Sie haben eher zu viel davon WASSER IM KOPF ÜBERDRUCK Müssen wohl mal Dampf ablassen Haha Wuffwuff Und das tut bestimmt ganz schön weh Aber wir müssen jetzt weiter

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Sie sind schließlich nicht der einzige Hund hier Denn das ganze Spital ist voller Hunde Und wir wissen gar nicht, wo anfangen Und wir wissen nicht, wann aufhören Die kranken Hunde Die toten Hunde Die Hunde mit kaputten Beinen Die Hunde mit Bisswunden Die Hunde, die von ihren Herrchen getreten wurden Die Hunde mit Geschwüren Die Hunde, die Hunde

7. SZENE: HUNDEGEHIRN MEETS HÖLLENKATZ (Hundegehirn und Höllenkatz) Wie lange noch Treibe ich vor mich hin Aufgedunsen Im weiten Meer Wie lange noch In sengender Sonne Die mir auf den Schädel brennt Sind das schwimmende Katzen Oder gehe ich langsam dahin Im Wahnsinn namens See Hey, Hundegehirn, brauchst du was? Rette mich Siehst hundeelend aus Ich hab hier einen ganzen Koffer voller Zeugs, das dich auf Vorderhund bringt Frisch patentiert Oder eigentlich nicht patentiert Sondern ziemlich illegal Miau Was? Whatever Hast du einen Rettungsring? Moment (Höllenkatz wirft ein paar Pillen in Richtung Hundegehirn) Danke Ich habe auch ein Sauerstoffgerät Ein Floß Einen Sonnenschirm Eine Eismaschine Da fällt mir ein, ich habe als Katzenjunges ständig Pizza Connection am Computer gespielt. Kennst du das? Da muss

katz ein Pizzalokal eröffnen oder bestenfalls eine ganze Kette, aber dafür hatte ich überhaupt nicht die Geduld, darum habe ich mich immer direkt an die Mafia gewandt, bei der man Flammenwerfer und Ähnliches kaufen konnte, um die Konkurrenz auszuschalten, verstehst du. Katz ruft also die Mafia an und die sagen dann so: Willst’ ein Eis? Und ich so: Miau. Und dann die Mafia: Erdbeere, Schokolade oder Vanille? Und ich so: Von allem eins. Es war kein Eis, verstehst du? Es waren Flammenwerfer, Bomben und Ratten Was? Ich nehme alles Was kostet es? Nur ein halbes Leben Ein halbes Leben? Ist das auch ein Code? Nein, ein halbes Leben ist ein halbes Leben Ein Schnäppchen Extrapreis für dich, Hundegehirn Ich habe kein halbes Leben mehr Ich habe es schon gelebt BUHUU Dann treibst du halt weiter Katze Ich heiße Höllenkatz Siehst du nicht Was das Wasser aus mir macht Und wie ich es sehe Ich käme dir ja entgegen Ein halbes anstatt ein ganzes Das ich nicht mehr habe So ein bisschen Leben haben wir doch alle noch irgendwo So ein bisschen Leben liegt doch bei allen noch irgendwo herum, neben dem Bett auf dem Beistelltisch oder in der Küche auf der Ablage So ein bisschen Leben kramt doch noch jehund aus der Jackentasche Welche Jackentasche? Whatever Das ist also, wie du an deine neun Leben kommst Miau Katze, warte Ich habe einen Namen Höllenkatz? Nein, Rosalie Scherz Ich glaube, ein Sturm kommt auf Du schuldest mir einen Rettungsring

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Stück „Kranke Hunde“

8. SZENE: DIE BEHANDLUNG (Poch wird aufgestochen) Die Wirbelsäule wie Gebirge unter der Haut Liege ich zusammengekrümmt Damit man mir mit Nadeln Das Wasser aus dem Rücken lässt Nun Ebbe Mit angestochenem Rücken Mir ein bisschen die Flut rauslässt Ganz kurz bevor ich ertrinke In mir drin Den Takt des Blutes im Ohr Wie ein Konzert für mich allein Nur dass ich es nie gewünscht habe Diese Musik zu hören Pocht es die Schädeldecke entlang Poch Poch Poch Poch Poch? Geht es besser? Wenn Ihr Schmerz eine Zahl zwischen 1 und 10 wäre? Wobei 10 wäre, wie wenn Sie von Hyänen bei lebendigem Leibe auseinandergerissen würden 10 wäre, wie wenn ein Truck über Ihren Kopf führe 10 wäre, wie wenn Schnecken sich durch die Gehirnwände quetschen würden, wie wenn ätzende Flüssigkeit über Ihnen ausgegossen würde, wie wenn jemand mit seinen Daumen mit aller Kraft in Ihre Augenhöhlen drückte, wie wenn jemand Knallkörper in Ihrem Schädel zündete – Es – Was? 6?

9. SZENE: MAL ALLES ABSAGEN (Zimmerhundenachbarin) Vielleicht, wenn wir ehrlich sind, dann ist es auch mal schön, hundekrank zu sein. Mal alles abzusagen. Mal nichts zu machen, außer sich einzurollen, rumzuliegen. Das brauchen wir doch alle ab und zu, um danach wieder fest auf allen vier Pfoten in der Welt zu stehen. Um danach wieder weiterzuhecheln, weiterzuwanken, weiterzugaloppieren. Also, ich bewundere, dass Sie da ganz Ihr eigenes Hundeherrchen sind und gesagt haben: Ich brauche jetzt mal Pause. Ich muss jetzt eben

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mal ein bisschen auf dem Sofa liegen und die Tauben, den Park, den Auslauf, das Rennbusiness einfach sein lassen. Einfach bisschen Hundeurlaub von allem machen. Ich finde, wir können uns alle eine Scheibe abschneiden von Ihrer Radikalität, einfach mal Nein zu sagen. Einfach mal zu sagen, jetzt renne ich hier nicht weiter.

10. SZENE: ICH WILL MOPSIUM (Poch und die Hundeärzte) Aber das kann doch nicht sein Das hier wirkt bestimmt, Moment Wirkt nicht Poch, reißen Sie sich zusammen Wir drehen den Hahn auf Und Sie verweigern eine Wirkung Ich ertrinke Wer hat das gesagt? Mein Gehirn Aha Dann sagen Sie ihm, dass wir ihm trotzdem kein Mopsium geben können Sie sind ein Windhund Dann geben Sie mir Windhundsium Greyhoundica? Whippet Pain Killer? Geben Sie mir einfach irgendwas Es geht nicht Wir wollen Sie doch nicht abhängig machen Wollen aus dem schönen keinen gedopten Rennhund machen HIER GEHT ES NICHT Sie müssen LERNEN, mit den Schmerzen zu leben Sie sind doch ein harter Hund, Poch, ein Rennhund, ein Sieger SiegerIN Ich hatte auch einmal Rückenschmerzen von der schlechten Hundehaltung, von der Haltung an der Leine, bin herumgewankt, weil die Hüfte fast auskugelte, das tat auch verdammt weh, aber wissen Sie, was ich da gemacht hab? Ja, genau, ich bin in die Hundemassage gegangen und hat es geholfen?! Ja, hat es, ich bin seither wie neugeboren. Und darum verschreibe ich Ihnen jetzt eine Stunde Massage oder Selbsttrance oder Meditation oder Hundeyoga oder Psychotherapie, AUA WUFF Ich dachte, Windhunde können nicht bellen Ich bin kein Hund Och, sind wir das nicht alle ein bisschen?

11. SZENE: TOTALLIQUIDATION (Hundegehirn und Höllenkatz) Ich bin nicht der Tod, Hundegehirn Was bist du dann? Gelangweilt. Miau. Nein, ich mache Geschäfte. Wenn ich nicht unter der Erde wohnen würde, dann lebte ich in einem Turm hoch über der Stadt Also bist du so etwas wie ein CO So ähnlich, aber ich habe kaum Angestellte in der Firma Welche Firma Die Hölle Ich dachte, es gäbe keine Hölle Und ich dachte, es gäbe keine sprechenden Hunde Ich bin ein Gehirn Aber das ist ja nur ein Teil vom Ganzen, ein Teil von etwas Größerem Ich weiß nicht, ich fühle mich irgendwie allein gelassen Aber ich bin doch da Und wie ist es in der Hölle? Man kann sie sich wie ein Zügelunternehmen vorstellen. Ich hole ab, was man nicht mehr braucht, das Alte, Unproduktive, Ausgeleierte, Transport objets fragiles, TOTALLIQUIDATION Ich bin nicht krank Habe ich nie behauptet Ich stecke hier nur in einer Art Wasserschleuse fest, sie wird nur manchmal geöffnet, dann bekomme ich kurz Luft, aber danach füllt sie sich auch gleich schon wieder Du kannst dich doch glücklich schätzen. Krankheit ist eine Auszeichnung, ein Titel, wie ein Abschluss bei der Uni, den du dir nachher in den Lebenslauf schreiben kannst Sehr witzig Und jetzt, wo du dein Krankheitsdiplom hast, darfst du endlich gehen Ich will nicht gehen, ich will gesund werden Irgendwann ist doch auch mal gut. Du kannst stolz auf dich sein, Hirnalumni. So viel hast du nachgedacht, funktioniert und gemorst. Irgendwann dürfen doch auch mal die Nächsten Welche Nächsten? Ich bin das Gehirn. Nach mir kommt niemand Wir haben alle Mühe loszulassen, das ist ganz normal Haben Katzen nicht eigentlich Angst vor Wasser Mythos

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Stück Ariane Koch Ich liebe Liquidität Was willst du eigentlich von mir? Jenga spielen Was Du weißt doch, was ich von dir will Rosalie Ja Bitte bring mich nicht um

12. SZENE: MEINE KRANKHEIT IST EIN ORDNER (Poch) Ich bin fast sicher Dass meine Augen neuerdings In zwei verschiedene Richtungen schauen Bin aber zu müde Um mich darüber zu echauffieren Dass es mir niemand sagt Ich träumte Meine Krankheit ist ein Ordner Mit Zeichnungen und selbstkomponierten Liedern Die ich meiner Mutter zeigen will Ich bin nicht schuld Oder? Will die Verantwortung nicht tragen An dieser Krankheit Ich stehe keiner Heilung im Weg Das ist keine Strafe Oder? Was also soll es bringen Die Zusammenhänge zu suchen Dort, wo keine sind Tue alles, wie mir befohlen Ich beiße nie Oder nur im Notfall Absolviere als lebendiger Kadaver Meine Tage als Kranke Und schaue derweilen aus dem Fenster Immer schaue ich aus dem Fenster Als bestünde die Welt aus nichts anderem Woher nehmen die Kraft in der Schwäche Mich aufzulehnen für mich selbst? Ich will nicht gestreichelt werden Von den Falschen

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13. SZENE: CARE SPRICHT AUS DEM OFF (Poch und die unsichtbare Care) Die Flanken entlang bürsten Die Rippen Die Lenden Den Brustkorb Die Schenkel Den Widerrist Das Hinterhauptbein Die Schnauze Die Schulter Den Ellenbogen Stechen in die Venen Füllen die Blutbehälter Ab und zu fällt Blut auf die Ablagen Das wir dann lächelnd wegwischen Und wir lächeln immerzu Weil wir es müssen Poch Das Vorderbein Danke Das Kniegelenk Gut machen Sie das Das Handgelenk Schön Die Wolfsklaue Die Finger Die Fingernägel Lackieren wir Ihnen Wenn Sie es wünschen Die Zehen Massieren wir Wenn Sie es wünschen Den Vorderfuß Legen wir in Wasser ein Wenn Sie es wünschen Der Rückfuß Das Sprunggelenk Der Schwanz Der Nachttopf Der Rollstuhl In den wir Sie hieven In dem wir Sie an den Achseln fassen So leicht sind Sie geworden Und bleiben doch schwer zu tragen Wir sind auch Rennhunde, aber ohne Rennhunde zu sein, wir sind auch Läuferinnen, aber ohne Läuferinnen zu sein, wir sind auch schnell, aber können nicht schneller. Manchmal kippt eine einfach um, fällt zu den kranken Hunden auf den Boden, denn der ganze

Boden ist mit ihnen belegt, und sie röcheln und fiepen und bellen und sterben, weil kein Bett mehr da ist, in das wir sie hineinlegen könnten, weil keine Spritze mehr da ist, um sie zu beruhigen, weil keine Hundeseele sich um sie und ihr Leiden kümmern kann, verenden sie am Boden, vor unseren Augen, die müde unter hundert Lidern liegen, aber nichts tun können, außer sich vergeblich gegen die Müdigkeit zu stemmen.

14. SZENE: BIOPOLITIK (Poch und die Hundeärzte) Vielleicht ist es Ihr Lebensstil Es ist bestimmt Ihr Lebensstil Das Rennbusiness ist hart Oder? Viel trainieren Stress pur Fans Da gönnt man sich sicher mal ab und zu einen Drink oder zwei oder drei oder vier oder fünf oder sechs oder – Ich bin Spitzensportlerin Oder eine Pille Oder zwei oder – Sie WAREN Spitzensportlerin Wahrscheinlich sind Sie einfach zu viel gerannt Haben zu ungesund gelebt Zu ungesund gefressen Übergewicht ist ungesund, hören Sie Aber – Wir dulden hier keinen derart fahrlässigen Umgang mit dem eigenen Körper Was denken Sie sich nur? Ihr Körper ist Ihr Kapital Gerade als Sportlerin Er gehört Ihnen Wobei er gehört Ihnen natürlich nicht wirklich Denn er agiert ja in einem größeren sozialen Verbund Jeder Körper ist politisch So auch Ihrer Der also auch ein bisschen uns gehört Und der FORSCHUNG dieses Spitals Vor allem, wenn ihr wir ihn retten sollen Wir sind entsetzt, wie Sie ihn behandeln Fressen und fressen, was Ihnen gerade in den Weg kommt Pommes frites und Chips und frittierter Fisch Ich –

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Stück „Kranke Hunde“ Ja, statistisch UNTERTREIBEN alle, wenn es um die ungesunden Dinge geht Sie rauchen nicht, Sie trinken nicht? Das glaubt kein Mensch oder Hund oder Pfau Pfau? Sie können nicht so tun, als wäre das nicht Ihre Verantwortung Sie belasten das System Jede Minute 25 Näpfe Mit Ihrem Nicht-Rennen Mit Ihrem Verweigern Das ist wie mit den Straßenkötern, Streunern, die Leute da draußen Leben wie die Hunde Pizza und so weiter Es gibt keine Gleichheit zwischen den Körpern Es gibt rennende und andere Es gibt solche, die Macht repräsentieren Oder Verlängerungen davon sind Und es gibt solche, die ausgebeutet werden Sich in den Dienst stellen Ekelhaft Findest du? Ich meine die Straßenköter Wie sie da draußen vor dem Kiosk Dosenbier und so weiter Und erst kürzlich hat sich einer vor die Straßenbahn gelegt Auf die Gleise Und dann musste man die Hundepolizei rufen Damit die den wegtragen Weil der ganze Kreislauf Also der ganze Verkehr seinetwegen stagnierte Und eigentlich braucht es gar nicht viel Um alles lahmzulegen Stillstehen zu lassen Nur einen einzigen Körper Und wie der geschrien und gebellt hat Der Straßenköter Also, natürlich behandeln wir hier alle gleich Oder versuchen es zumindest Oder tun so zumindest Und ein Körper ist für uns auch nur ein Körper Einer wie der andere Ein Objekt eigentlich Empathie geht nur zu einem gewissen Grad Können ja nicht mit allen Hunden mitjaulen Und darum sehen wir sie auch gar nicht mehr All die Köter

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Äh Körper Sondern sie werden vor unseren Augen zu Klötzen Hunger Und die Klötze stapeln sich in den Betten, in den Zimmern POCH Ich friere POCH Disziplinieren Sie sich gefälligst Im Namen des Sozialkörpers Im Namen des Staatskörpers Im Namen der herrschenden und der beherrschten Körper Von mir aus im Namen Ihrer Mutter Deren Körper Sie geworfen Als winzigen Welpen mit molchigen Augen in diese Welt Und wie können Sie das nur mit Füßen treten Was Ihnen wurde mühsam geschenkt Wir haben Ihnen jetzt den Napf abbestellt Und hören Sie endlich auf mit diesem Zittern Es sind vierzig Grad draußen

15. SZENE: WO IST HIER DER AUSGANG (Poch) Ich hätte nichts dagegen, wenn ich etwas öfters einen Ausgang, also eine Treppe hinunter- oder meinetwegen auch hinauf- – trotz schlechter Kondition – aus mir hinausgehen könnte. Ich wäre natürlich viel geschickter beim Verschwinden, würde kaum ein Geräusch machen, die Stufen, die sonst immer knarrten, würden es nun kaum tun. An der frischen Luft würde ich hastig davongehen, weil ich wüsste, dass ich ein Adlerauge bin, das schnell einmal aufwacht, das schnell einmal aus dem Fenster sieht und sofort erkennt, sofort gesehen und verstanden hat. Sagt man scharfer Verstand, weil er wehtut, wie eine Klinge? Ich gehe also weiter, noch bin ich unbemerkt, komme vorbei am thailändischen Restaurant, am alkoholisierten Nachbar, am Imbiss, an der Autobrücke.

16. SZENE: KÖRPERLOS (Care aus dem Off) Ich bewege mich durch die Gänge in mei-

ner Uniform, aber ich bin nicht mehr. Mein Körper ist da, wenn es darum geht, euch herumzutragen. Mein Körper ist ohne Geruch und ohne Geräusch. Mein Körper trägt keine Herkunft und keinen Schweiß, sondern nur einen Namen, den ich einmal vereinfachte, damit ihr ihn euch endlich merken könnt. Ich spreche nicht über mein Lieblingsgetränk, mein Architekturstudium, meinen Autounfall in der Jugend. Ich sage nicht, dass ich Montage immer gehasst habe, dass ich im Frühjahr jeweils nicht schlafen kann, weil die Sonne mich mit Licht auffüllt und ich also scheinend die Nacht vertreibe. Ich bin gut im Schweigen. Ich schweige schon so lange, dass ich zeitweise vergessen habe, wie sprechen geht.

17. SZENE: ICH VERHUNGERE (Hundegehirn und Höllenkatz) Pouletschenkel Bratwürste Katzenköpfe Rindsfilets Hasenfüße Hab dir was mitgebracht (Höllenkatz wirft Pillen) Nichts zu danken Noch ein paar Hundegutzi gefällig? (Hundegehirn schmatzt) Besser? (Hundegehirn schwankt ohnmächtig) Ich fühle mich – (fällt um) Aber jetzt mal im Ernst Ich glaube, der Laden hier funktioniert hinten und vorne nicht. Die sind völlig überfordert. Krankenwagen stehen auf der Straße Schlange. Die Elenden, die da drin liegen und auf Behandlung warten, sind teils schon krepiert, kann man gleich zur Kadaverstelle oder zum Friedhof fahren. Manche Angehörigen tragen ihre Jungen mit den bloßen Zähnen ins Spital. Das muss man sich mal vorstellen (schaut zu Hundegehirn am Boden, das röchelt). Pflegepersonalmangel? Das ist die Hundsregierung, sage ich. Die lässt hier Leute abkratzen. Insbesondere die, die sie loswerden möchte. Die Armen, die Ausgestoßenen, die Rebellischen. – Ich war früher auch naiv, gutgläubig, habe jeden hinterletzten Witz geglaubt, aber dann hat es irgendwann Miau gemacht. An deiner Stelle hätte ich schon Angst, dass sie dich ab-

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Stück Ariane Koch murksen oder zu Forschungszwecken hierbehalten, ausspionieren, auseinandersägen werden. Aber ich helfe dir, Hundeli. Ich habe für jede etwas Passendes, einhundertundeins Alternativen. Man könnte mich auch Alternativmedizinerin nennen, Miau, habe da so ein nicht zugelassenes Schmerzmittel, eigentlich ein Entwurmungsmittel. Wirkt Wunder, aber die Hunde hier verheimlichen es natürlich vor ihren Patientinnen.

18. SZENE: HYPNOSE (Poch und Dr. Hundehypnose) Machen Sie die Augen auf Machen Sie die Augen auf Poch Ja Machen Sie die Augen zu Was Machen Sie die Augen zu Und stellen Sie sich vor, dass Sie liegen Ich liege schon Stellen Sie sich vor, dass Sie an einem warmen, sicheren Ort liegen Stellen Sie sich vor, dass – Die Katze Nein, keine Katze, Poch, hier gibt es keine Katzen Stellen Sie sich keinesfalls eine Katze vor Stellen Sie sich einen Wal vor Ich fühle mich komisch Nicht sprechen, sondern einfach vorstellen Sie sind ein Wal und am Ufer gestrandet Sie röcheln, Sie ringen um Luft Ihr riesiger, massiger Körper Liegt schwer auf dem Sand und kommt nicht vorwärts und nicht rückwärts Sie sind in Todesangst Und bald werden Sie ersticken Hm Sie sprechen jetzt nicht mehr Beziehungsweise singen nicht mehr Walgesang, Sie verstehen Sie haben jetzt nichts mehr zu singen Sie empfangen, was ich Ihnen belle Stellen Sie sich vor, ich käme nun des Weges Tripple auf meinen vier Pfoten herbei Wer Ich, Dr. Hundehypnose, trabe des Weges und lege Hand an Ich stemme mein Fell gegen ihren Walkörper

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Ja, schmiege mich an ihn und schiebe ihn langsam Richtung Meer Richtung Wasser zurück Ich werde Sie retten Rufe ich Nicht ins Wasser Haben Sie keine Angst Ich streichle und küsse Sie dabei Ich – Sie sind ganz ruhig und still Und hören meinen Atem Und ich höre Ihren Atem Zusammen atmen wir Ich stehe jetzt auf Wir schwimmen Ich schwanke Wir sind noch nicht fertig, Poch Ich gehe (Poch fällt um) Das tut mir aber sehr leid für Sie, Poch Gerade waren Sie so ruhig Ich war so nah dran, Sie zu heilen Können halt nicht loslassen Lassen Sie mich los Hilfe Sind halt ein Kontrollhund So kann ich Ihnen leider auch nicht helfen IHNEN UND IHRER KATZE (Dr. Hundehypnose sticht Pochs Arterie auf, Blutfontäne, die mehrere herbeieilende Hundeärzte aufwischen müssen) (Andere Hunde in Weiß) Das ist jetzt dumm gelaufen Das tut uns aber leid Mit der Arterie Da wollten wir Ihnen eigentlich Wasser vom Gehirn – Aber haben die Blutbahn getroffen Als wären wir Vampirhunde Haha Das sind wohl Ihre zu schlanken Beine Da ist das eine vom anderen kaum zu unterscheiden Es kann immer auch einmal das Falsche treffen Also, wir haben natürlich nichts falsch gemacht Wir machen hier keine Fehler Wir sind das beste Spital der Region Und wenn sie es nicht glauben, dann googeln Sie es im Hundenet Dort sind auch unsere Karrieren einzusehen Falls es für Sie von Relevanz sein sollte zu wissen Was wir alles Großes geleistet haben

Oder Sie uns eine positive Review geben möchten Fünf Sterne zum Beispiel Wenn Sie wüssten, welches Glück Ihnen hier zukommt

19. SZENE: ICH BIN SCHLIESSLICH AUCH EIN WESEN (Zimmerhundenachbarin) Ich finde das nicht nett Also, ich finde es wirklich gar nicht nett Nein, es ist nicht nett Nicht nett Nein NICHT NETT Hören Sie mich? Ich möchte gerne das Zimmer wechseln Haben Sie gehört? Ja, ich möchte das Zimmer wechseln Ich klingle jetzt nach der Pflege Sie sollen mich in ein anderes Zimmer verlegen Also hier ist es nicht auszuhalten So schlimm ist es hier Hier in diesem Zimmer Ich bin schließlich auch ein Wesen Und ich möchte auch behandelt werden wie eines Ja, Sie haben mich behandelt, als wäre ich gar nicht da Haben mich nicht einmal gefragt, wie es mir geht Wie ich das alles aushalte Mit meinem angeknacksten Knöchel Ja, ich bin im Park einfach umgeknickt Als mein Hundefrauchen zu sehr an der Leine gerissen hat Und nun liege ich hier Und habe Schmerzen am Bein Sehen Sie nicht den Riss in meinem Fuß Ja, aber das Schlimmste sind Sie Wie Sie den ganzen Tag in Ihrem Bett hinter dem Vorhang herumliegen und zittern, als wäre es Winter Und ich muss Ihnen sagen Dieses Jaulen Das nervt Es ist jetzt genug Pflege, bitte mal kommen PFLEGE (wirft die Klingel herum) Ich habe Durst, verdammt

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Stück „Kranke Hunde“

20. SZENE: ICH GEHE JETZT

Sondern nur unsere Bereitschaft uns darum zu kümmern Oder eben die Nicht-Bereitschaft

(Poch und Hundegehirn) Darf ich jetzt gehen Das Draußen ist unerreichbar geworden So hell Gibt es mich noch dort Von wo man mich irgendwie ausgestoßen

Wer sorgt für diesen Körper Den kranken Außer mir Und nicht einmal ich Weiß wie ihn halten

Ich träumte Ich trage in einer Plastiktüte Pommes frites mit mir herum

Welche Körper werden gehalten Gestreichelt Und welche nicht Oder sogar getreten

Ich träumte Es riecht nach Katzenfutter So als klebe es an meinen Adiletten Mit denen ich mich über den Asphalt schleife Seit ich aufgehört habe zu rennen Bin ich mit den Tagen verwachsen Zusammen gehen wir vorbei Gehen auf und wieder unter Unsere Anzahl spielt keine Rolle mehr Patientinnen drehen ihre Runden an Rollatoren Schleifende Geräusche Ihrer lahmenden Beine und Mundwinkel Die sie hinter sich herziehen Als gehörten sie nicht zu ihnen Eine Person im blauen Morgenmantel sagt Sie wolle sterben Und tritt weinend in den Hungerstreik Also ziehe ich den Vorhang Der Körper und seine Beschaffenheit Ich denke immer Ruft er mich um Hilfe Oder rufe ich ihn? Die Krankheit lässt mich zum ersten Mal So liebevoll auf meine Glieder schauen Fast elterliche Gefühle Habe ich diesem Elend gegenüber Von dem gesagt wird Es müsse in die Reparatur Was heißt schon kaputt Ich bin kaputt Und wer ist es nicht Muss ich deshalb ausgewechselt werden Und ist es nicht wenigstens tröstend Dass es den unversehrten Körper eigentlich nicht gibt

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Auf welchem Rang sind meine Glieder Welches Warteticket haben sie gezogen Sind sie gleich schon dran Oder kommen sie erst zuletzt Bin ich nur noch hier Habe diesen neuen Platz, wo ich mich einrichtete Wie in einem Hundekorb Der eigentlich ein bisschen ist zu klein Und jetzt möchte ich gehen Wenn man mich lassen würde Darf ich jetzt gehen Muss ich jetzt gehen Aber kann nicht mal mehr laufen Interessiert es niemanden Weil es nicht vorkommt In den ökonomischen Systemen Außer in der Krankentaggeldversicherung Die ich nie abschloss Aus mangelndem Geldbesitz Weil es nicht mit unserer Rennwirtschaft korrespondiert Dabei ist der gesunde Körper eine Erfindung Damit wir rennen Wieso vergesse ich immer wieder Dass es die Worte gibt Es gibt die Beschreibung Auch wenn sie noch ist so plump Ich habe nicht viele Worte Sondern nur wenige Aber diese habe ich

21. SZENE: SECURI­ TAS CEREBRAS (die drei Köpfe reden abwechselnd) Jeder meiner Gedanken geht zu Bruch Ganz so, als wäre er jeweils dreigeteilt Manche nennen das genial Ich nenne es Fluch Geschenk Alles ist immer auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten Aus drei Perspektiven genauer gesagt Sonst wäre alles sehr einseitig oder – Einköpfig, einfältig Wie ist es mit sechs Augen? Sechs Ohren? Drei Mündern? Werden wir gefragt Mir entgeht nichts Und manchmal wünschte ich, ich könnte vergessen Oder wenigstens übersehen Überhören Aber die Welt ist immer da Wir schlafen nie gleichzeitig Und ich bin nie ganz sicher, soll ich wir sagen Oder doch lieber ich Sind wir drei oder doch eins? Und sind unsere Gedanken parallel Oder doch nur wieder vereinzelt Gegeneinander Miteinander? Ich bin gern nicht allein Ich wäre gern allein So ein Kopf weniger wäre manchmal nicht schlecht Schon zwei Köpfe reichen doch, um dieses Höllentor zu bewachen Schauen, dass niemand hineingeht, der nicht hineingehört Schauen, dass niemand herausgeht, der da drinbleiben sollte Tief unter der Erde Oder im Keller dieses Spitals Dort, wo auch die überfahrenen Kadaver und so weiter – (Lift geht auf, Höllenkatz kommt hinaus) Miau Guten Tag, höllische Dreifaltigkeit Sehr witzig Whatever Gibst du mir einen Stempel, damit ich auf die Party kann? Soll heute eine catty Djane crazy Katzenbeats auflegen Bist du nicht die einzige Höllenkatz weit und breit? Cheers

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Stück Ariane Koch

22. SZENE: KATZEN­ PARTY-SONG (Höllenkatz tanzt und singt allein) Leben Leben Ich sammle eure Leben Schleife sie hinter mir her In einem Sack, als wäre ich der Weihnachtsmann Leben Leben Ich bin süchtig nach Leben Hänge sie mir um den Hals Wie Goldketten Eure kaputten, kranken, schönen Leben Leben Leben Leben Baue daraus Türme Als wären es Holzklötze Die von Zeit zu Zeit umfallen Oops

23. SZENE: PSYCHOHUNDE (Hundeärzte mit Spezialisierung auf Psyche, Hundegehirn) Was haben Sie gesehen in meinen Augen Wenn nicht die Spiegelung Ihrer selbst Wenn nicht Ihr Werden Und Ihr Vergehen Und diese Geräte Welche angeblich da sind Hineinzusehen in mich Damit Sie hineinsehen in mich Dabei sehe ich nur immer IN EUCH hinein Was haben Sie gesehen in meinen Augen Über die zu stülpen das Lid so schmerz­haft Die bloß müde Die bloß angefangen haben zu lahmen Ab der Schnelligkeit der Dinge Oder sind es meine Augen Die sind zu schnell Was haben Sie gesehen in meinen Augen Die herausgequetscht sich haben Herausgeschraubt Die sind gespickt mit Kratern Grün tanzend um das Schwarz der Pupillen

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Und zu jeder Zeit gehört eine Krankheit Und zu jeder Krankheit gehört eine Identität Aber Sie sind nicht Ihre Krankheit Poch Ihre Krankheit gehört Ihnen nicht Ihre Krankheit ist der Überdruck Und der Überdruck ist die Gesellschaft Manche zerbrechen daran und manche weniger Manche bellen und beißen sich daran die scharfen Zähne aus Manche ertrinken darin wie in einer Flut Gehen einfach unter Halten sich noch an einem Floß Aber dann lassen sie irgendwann los Ein Finger nach dem anderen Werden mitgerissen von den Wellen Und der Flut Und auch die Häuser gehen kaputt Und die Straßen Das Wasser, es macht alles dahin Bruchstücke, wo einmal etwas ganz war Poch Wir verstehen ja, dass Sie zerbrechen Weil man Ihnen sagt Man brauche Sie nicht mehr Wie Sie da so liegen Als Ertrunkene Aber Sie haben es in der Hand Sie müssen es nur genügend wollen Wissen Sie, Poch Wir haben nichts gegen Sie persönlich Es gibt einfach Krankheiten, die keinen interessieren Aber wir behandeln Sie natürlich trotzdem Er möchte sagen, dass wir alles im Griff haben Ich kann noch immer für mich selbst sprechen, Dr. Mopsi Mein Name ist Dr. Hechel, ich bitte Sie Er möchte sagen, dass Sie eine selbstbestimmte Patientin sind und sozusagen aus dem Angebot unseres Spitals auswählen können Sie müssen einfach selbst

entscheiden UND BEZAHLEN Und wir freuen uns natürlich, wenn Sie das Teuerste nehmen Also, die Spitalleitung freut sich und lässt Sie herzlich grüßen Und wünscht gute Besserung Das wünschen wir Ihnen natürlich auch Nein, ich möchte sagen, dass wir hier transparent kommunizieren – Aber Sie haben gar nichts zu sagen Weil Sie die Unterste in einer sehr langen Hierarchieschlange sind Nicht unterste, HINTERSTE Es gibt hier Schlangen? Sie stehen am falschen Platz, reihen Sie sich sofort hinten ein Wo hinten? Hinten ist nur mein Schwanz Aber nicht, wenn es um Leben und Tod geht Um Tod? Beruhigen Sie sich, werden Sie nicht hysterisch ICH? Sie meinen vielleicht, sie seien die Einzige, die hier Panik hat, die keine Ahnung hat, was hier los ist, aber wissen Sie was, auch wir haben KEINEN BLASSEN SCHIMMER, wie wir Sie heilen können, Ihre Krankheit oder die Krankheit allgemein, ich meine, wir wissen nie, woher sie sich nähert, und wie sehr sie eigentlich schon fortgeschritten ist, und auch wenn wir sie weg schnibbeln oder ausmerzen, so kommt sie schon woanders wieder aus dem Boden geschossen – Boden? Ja, die Krankheit ist das Unkraut, das aus den Bodenplatten im Vorgarten herausschießt, wir reißen es tagtäglich aus, aber es vergeht trotzdem nicht, denn der Boden ist voller Keime, voller Wurzeln, ja, die ganze Unterwelt ist eine radikale Gruppierung, die nur darauf wartet, irgendwo aus der Erde hervorzukommen und unser System niederzumachen Darf ich – Nein, Dr. Hechel, von was reden Sie? Welches System? Das Gehen ist zu einem

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Stück „Kranke Hunde“ Spießrutenlauf geworden, ich renne nur noch panisch über die Bodenplatten – Darf ich – NEIN, DÜRFEN SIE NICHT. Ich bin es leid, dass es die Patienten immer alles besser wissen. Sie googeln und googeln und dann kom men sie mit ihren Diagnosen und Interpretationen, obwohl sie von Fauchen und Bellen keine Ahnung haben WUFF? So hören Sie sofort mit diesem Gekläff auf Ich habe auch Angst, aber deshalb belle ich noch lange nicht im Zeugsherum Da muss man sich ja die Ohren zuhalten Ich dachte außerdem, Windhunde können nicht bellen WUFFWUFFWUFF Es reicht jetzt, ZIEHEN SIE SOFORT DIESEN MUNDSCHUTZ, ALSO MAULKORB ÜBER WAUWAUWAU. Gar nichts ziehe ich an. Ich kann auch noch lauter. Ich bestehe jetzt auf eine vernünftige Behandlung. Sie bringen mich hier um, ich habe es durchschaut, ich weiß jetzt alles, Sie wollen mich ertränken wie ein Katzenbaby, Sie wollen mich aussondern, Sie versuchen mich auf den Müll zu werfen. Und dann kommt die Müllpresse. Ich zerquetsche, sie zerquetschen mich, meine Gedanken werden zermalmt, einer nach dem anderen, eingestampft, zu kleinen Quadern gepresst, die sich irgendwo als Müllturm stapeln, und dann fällt der einfach um, versteht ihr? DER FÄLLT EINFACH UM AUA Sie hat mich gebissen Sie haben ihn gebissen Versteht das jemand Hilfe, er ist gebissen worden Das mit den Türmen, meine ich Es blutet Haltet sie fest, drückt sie zu Boden Immer kommen alle mit ihren Türmen Vergiss jetzt die Türme, kann hier mal jemand kommen? Wo ist das Pflegepersonal? Es streikt Vielleicht hat sie Tollwut Und die Hundepolizei?

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Die streikt auch Die sind doch sonst immer überall Binde sie ans Bett ICH BLUTE Drücken Sie nicht zu fest, sonst bekommt sie keine Luft Die will aber bellen Immer wollen alle bellen Ich bin es so leid Ich glaube, die will nicht mehr bellen Gehen wir (Hundeärzte ziehen ab)

24. SZENE: CARE-STREIK (aus dem Off) Bitte nicht heute krank werden, denn heute hilft euch niemand Bitte nicht heute sterben, denn heute trägt euch niemand zu Grabe Heute steht alles still Seht ihr nicht, wie unsere Hände vor Überarbeitung zittern, wie unsere Augen vor Überlastung tränen? Heute legen wir unsere Ämter nieder, weil wir uns sonst nächstens für immer niederlegen müssen Wer kümmert sich um uns, wenn sich niemand um euch kümmert? Wer kümmert sich um euch, wenn wir nicht mehr sind? Wer nicht mehr rennen kann, der beginnt zu laufen, beginnt zu lahmen, beginnt zu wanken, beginnt zu straucheln, beginnt zu fallen Wir können nicht mehr Wir fallen und streiken und stehen erst wieder auf, wenn ihr uns hinfort tragt

25. SZENE: WEITERES GEJAULE (Hundegehirn) Gestern habe ich zweimal Den Kopf angeschlagen dort Wo er sowieso ist kaputt Die Augen niedergeschlagen Über das was, verloren Durch deren Schlitze Wasser fällt Auch dort Wasser Wasser, Wasser überall Nicht weinen

In Gedanken ertrunken Versunken wie ein Schiffswrack Als eine Taucherin ohne Ausrüstung Die Leichtsinnigkeit dieses Körpers Den ich einmal wähnte als den meinen Und jetzt die Worte Gehören mir auch nicht mehr Ständig werde ich korrigiert Und übersetzt Ins so genannte Objektive Alles ist abzugeben ohne Widerstand

26. SZENE: MOLOCH (Zimmerhundenachbarin, Poch) Jetzt weiß ich es Jetzt verstehe ich es Sie horten Wasser Während wir hier alle verdursten, baden Sie sozusagen in einem Swimmingpool Das ist ja unverschämt Geben Sie mir jetzt sofort vom Wasser Mein Mund ist ganz ausgetrocknet Und mein Hals Und meine Organe So durstig bin ich Hören Sie mich Poch oder Moloch oder wie auch immer Sie heißen Wenn Sie nicht damit rausrücken Stecke ich Ihnen eigenhändig eine Nadel in den Rücken Um daran zu trinken ZU SAUGEN Oh, was möchte ich saugen Draußen sind 40 Grad und ich darf nichts trinken Und Sie liegen daneben und sind voller Wasser Sie Badewanne, Sie Fluss, Sie Sodamaschine Geben Sie mir sofort vom Wasser oder ich steche (Poch rennt davon)

27. SZENE: DIE HÖHE UND DIE HÖLLE (Poch, ein Hundearzt, Höllenkatz, Hundegehirn und Cerebras) Poch, was machen Sie da Ich gehe Wohin Was weiß ich

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Stück Ariane Koch Nach Hause Jetzt reißen Sie sich mal an der Leine Wir werden schon noch die richtige Behandlung für Sie finden Ich träumte von einem Neugeborenen Das weiß überzogen war Aber eher angemalt wie zu Halloween Und wissen Sie was Nein Ich glaube, das Baby war ich Ich glaube, die Medikamente bekommen Ihnen nicht Und immer wieder sage ich mir Sie meinen es gut Poch, kommen Sie, wir gehen zurück auf Ihr Zimmer Ich helfe Ihnen Ich bin nicht wie die anderen Ich werde ab jetzt auch streiken Poch Sie meinen es schon gut Bestimmt meinen sie es gut Alle meinen es gut Sie wollen alle nur das Beste Für mich Oder Sie wollen mir nichts Böses Wieso sollten sie mir etwas Böses wollen Sie hoffen nicht eigentlich und insgeheim Und inständig Dass ich sterbe ODER Miau Katze POCH (Poch rennt davon) Höllenkatz Hundegehirn Ich gebe dir das viertel Leben Drittel Du siehst doch, dass ich nicht mehr zahlen kann Ein Viertel muss reichen, du Geizmieze Du weißt doch nicht mal, was ein Viertel vom Ganzen ist Komm mir jetzt nicht wieder mit Mathe Ich bin sowieso nur noch halb (Poch kommt zum Höllentor im Keller) Wie aushalten die Extreme jetzt Wo ich sie gesehen hab Wie aushalten die Härte der Hunde Und meine eigene Weichheit Durchlässigkeit für die Welt Trotte ich durch den Keller Und komme zu einer Tür

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Die versperrt ist durch einen Hund Der nicht nur einen Sondern gleich drei Köpfe hat Einen zum Denken Einen zum Träumen Und einen zum – Also frage ich höflich Ob er mich denn vielleicht passieren lassen könnte Aber er schüttelt nur alle drei Köpfe samt allen drei Mähnen Und bellt, fletscht seine Zähne Aber aus der Tür dringt lustige Musik Sage ich Und Katzengeschrei Sagt einer der drei Köpfe Lässt du mich bitte durch Ich würde gerne sterben Dürfen Sie nicht Sie stehen nicht auf der Gästeliste Und die Miezen sind da sehr strikt Und die Partys sind eigentlich auch gar nicht so gut Läuft nur Katzenmusik Antwortet der Höllenhund mit den drei Köpfen Ich heiße übrigens Cere bras und bin hier Türste her Ich bin Poch Sehr erfreut Es lohnt sich übrigens nicht zu sterben, also nicht hier, außer Sie spielen gern Jenga? Jenga? Das Spiel Kenn ich nicht Ich bringe Sie mal auf Ihr Zimmer zurück

28. SZENE: GREY­ HOUNDRACE-VIDEO und eventuell Antidote von Emily Wells oder: Shake that Devil, Anthony & the Johnsons oder: I want a dog, Hobo Johnson usw.

29. SZENE: EIGENTLICH WOLLEN WIR NUR SPIELEN (Die Hundeärzte. Gekläff und Gezeter) Wir stecken hier in einer misslichen Lage, Freunde Wir sind Hunde, keine Freunde Ja, und wir schreiben rote Zahlen Also das Spital Es kann so nicht weitergehen Ein Napf minus zwei Hundegutzi – Es geht einfach nicht mehr auf Und das Personal streikt Ich streike jetzt übrigens auch Wer sind Sie? Ein Hundeassistenzarzt von einem Hundeassistenzarzt? Ich werde gegen euch vorgehen Ihr wollt doch nur Kohle machen Oder Hundegutzi oder was auch immer Ihr seid so gefräßig Wir können nichts dafür Dass euer Hunger so groß ist? Es ist die Geschäftsleitung Sie sitzen in ihren Türmen Hoch oben über der Stadt Die Hundeherrchen und die Hundefrauchen Und wir kriechen am Boden herum Sie reißen uns an den Leinen Schleifen uns herum Hetzen uns gegeneinander auf Eigentlich sind wir ganz brav Wirklich EIGENTLICH WOLLEN WIR NUR SPIELEN Eigentlich machen wir Sitz und Platz und warten nur auf die Anweisungen Ja, und deshalb streike ich Sie werden Streuner? Hundeherrenlos? Ich wollte nie im Namen anderer zu beißen anfangen Versteht ihr Ich wollte eigentlich Gutes tun Wollte Verschüttete aus Lawinen ausgraben Wollte Verletzte aus den Trümmern heben Wollte Zerbrochene wieder zusammennähen Aber stattdessen hechle ich herum und beiße Ja, die Krankenzimmer quellen über Und alle medizinischen Geräte sind belegt Und wir wissen nicht mehr, wer ansteckend ist und wer nicht Wissen nicht mehr, welche Akte gehört zu welchem Hund

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Stück „Kranke Hunde“ Wissen nicht mehr, welcher Hundekörper zuerst Und welcher zuletzt Und welcher gar nicht Ja, aber das ist doch meine Rede, das ist doch mein Gekläff Unser Ruf ist ruiniert Was wir deshalb brauchen, ist ein wissenschaftlicher Durchbruch Ein Wunder gar Ein Experiment von internationaler Bedeutung Die Heilung einer seltenen Krankheit Oder die Rettung eines Säuglings Eine Impfung Etwas, das die komplette Fachwelt Oder die GANZE WELT in Staunen versetzt Und davon ablenkt Dass hier eigentlich alles auseinanderbricht Wie die Türme Welche Türme? Alle Türme. Ich gehe jetzt Warten Sie, wenn wir nicht bald etwas unternehmen Dann rollen hier die Köpfe Das sage ich Ihnen Apropos Köpfe – Da läuft grad einer mit drei Köpfen durch die Gänge Wo? Der Weirdo von der Kadaverstelle?

30. SZENE: EXIT INTERVIEW (Poch wieder im Zimmer) Die Dinge ziehen einen Schweif durch die Dunkelheit Ein visuelles Echo Und es ist nicht mehr auszumachen Wo sie anfangen Wo sie aufhören Wo sie hingehen Nur die multiplizierten Umrisse, Ränder Hinter denen nichts mehr folgt Als Dunkelheit Aus meinem Blickfeld fallen die Dinge Als löste man sie einfach hinaus Aus der Welt Kippen sie weg Und nun das Blickfeld wie abgefressen Ein Gerippe nach und nach So wie auch ich Ich weiß nicht Ob mich hineinbegeben In die Furcht Die ist wie ein Labyrinth Aus der hund vielleicht nie mehr zurückkehrt

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Sind das Minotauren? Oder woher diese Geräusche wie Galopp Ich habe mich verloren Als fernes Echo (irgendwo ferne Schreie aus dem Keller) Und was wird von mir übrigbleiben Sollte ich jemals von hier fortkommen Nachdem ich so zersägt So zerteilt und neu zusammengesetzt Es gibt keine Heilung Heilung ist eine Geschichte Die wir unseren Welpen erzählen Wenn sie nicht einschlafen können Und sich an uns schmiegen Und immer wenn wir meinen Sie seien eingeschlafen Dann sind sie doch noch wach Es gibt keine Heilung Es gibt nur die Inszenierung davon Für die Privatversicherten mit mehr Budget Für die Ausstattung Bessere Spielerinnen Besseres Essen Größere Hundekörbchen Oder bin es ich Die spielt ungenügend Ihre Rolle als Kranke Die ich nur kenne aus Hundefilmen Ich übe noch Das Liegen Das Jaulen Das Fiepen Auf keinen Fall lächeln Sonst stellen sie dir die Medikamente ab Auf keinen Fall hinterfragen Sonst hetzen sie dir den Hundechefarzt auf den Hals Diesen struppigen Kläffer Um deine bleiche Gestalt Deine verhungernde Person Muss eine Aura des Danks liegen Am besten die Pfoten zum Gebet gefaltet Wie gut, dass ich nicht bellen kann Pfingstrosen auf dem Tisch In den Farben Weiß Orange Lila Violett und Rosa

Ist das hier ein Fegefeuer Und es entkommt nur Wer freigekauft wird Alle anderen wandern in den Keller Ist das hier ein Fegefeuer Und wer das Warten nicht mehr aushält Fährt irgendwann freiwillig in den Keller Was verheizt wird Setzt wenigstens ein letztes Mal Energie frei

31. SZENE: ICH WILL NICHT (Cerebras und die Hundärzte im Keller) Jetzt geben Sie ihn her Ich will nicht Das ist ein Befehl Sie sind nicht mein Chef Aber Ärzte Eine unabhängige Securityfirma hat mich angestellt Aber wir brauchen ihn, nur einen, sie haben so viele davon Ich brauche alle Einen zum Denken, einen zum Träumen und einen zum – (Die Hundeärzte reißen an allen drei Köpfen gleichzeitig) ZUM BEWACHEN Ich bin ein Wachhund, verdammt Ich halte die Hölle in Schach Hilfe, loslassen Du kannst noch so schreien, hier hört Sie niemand Höllenkatz Hier gibt es eine Katze? Ich habe Angst vor Katzen Sie Feigling Mach dir doch nicht gleich in die Hose Hier gibt es keine Katzen HÖLLENKATZ, HILF MIR Scheint ausgeflogen, deine Höllenkatz Bist uns also ausgeliefert Dr. Kopfhund, packen Sie die Säge aus Noch so gern

32. SZENE: GAMELIFE-BALANCE (Höllenkatz) Mich kann niemand umbringen, weil ich ja doch immer auf den Füßen lande. Ich

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Stück Ariane Koch kann nicht sterben, weil sich bei mir zuhause die Leben türmen wie Jengabauklötze. Mich kann hund nicht umbringen, weil ich die Beste im Jenga bin, und auch wenn ich falle, lande ich immer auf den federnden Läufen. Ich bin die Beste im Jenga, weil ich gescheiter bin als die Holzklötze. Diese Holzklötze meinen, sie seien über Balance und Schwerkraft erhaben, aber in Wirklichkeit sind es nur Holzklötze, die als löcherige Bauten schwankend herumstehen und von Zeit zu Zeit herunterfallen, auf den Tisch krachen. Ich bin die beste im Jenga, weil ich im Gegensatz zu den Holzklötzen etwas von Balance und Schwerkraft verstehe. Weil ich weiß, wie weit ich gehen kann, bis einer fällt. Weil ich weiß, wie schnell ich mit meiner flinken Pfote einen Holzklotz wegnehmen muss, damit der Turm seine Statik nicht verliert. Manchmal führe ich den einen oder anderen Hund in mein Wohnzimmer und dann spielen wir. Es hat noch nie jemand gegen mich gewonnen. Es ist noch jeder Stapel unter seinen zitterigen Pfoten zusammengefallen. Die Hunde können einem leidtun, denn sie kennen nicht die Formel für die Gravitation, wissen nichts über das Gleichgewicht der Dinge. Sie schwanken durch ihr Leben und drohen bei jeder Gelegenheit einzubrechen. (Zimmernachbarshund im Hintergrund vor einem Jengaturm) HEY, WIE GEHT DAS NOCH MAL? (Jengaturm fällt um)

33. SZENE: ENDLICH AUSSICHT AUF HEILUNG (Die Hundeärzte mit Blut bedeckt) Wenn Sie so derartig darauf bestehen Weiterhin krank zu sein Obwohl Sie eigentlich kaum etwas haben Obwohl Sie eigentlich gerade so gut gesund sein könnten Wenn Sie einmal die Zähne ein bisschen zusammenbeißen würden Und damit meinen wir nicht andere Hunde zu BEISSEN Haha Ja Dann können wir Ihnen eventuell anbieten, Ihren Kopf zu transplantieren Da schlucken Sie natürlich erst mal leer

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Ist ja klar Aber Türsteher Cerebras hat sich, ähm, freundlicherweise bereit erklärt, einen seiner Köpfe, ähm, abzugeben Für die Wissenschaft, für das Spital, für die Menschheit und die anderen, also die Hunde, und für Sie Ist das nicht großartig Dann sind Sie geheilt Also, zu nicht ganz 100-prozentiger Sicherheit Denn es ist ein Experiment Und Experimente können natürlich auch scheitern Das ist ja das Aufregende daran Also stellen Sie es sich einmal vor Eine Kopftransplantation Es ist eine Sensation Sie werden wieder gehen können Oder – Sich paaren können Bestimmt wollen sie einmal Junge, oder? Hier haben wir eine Zeichnung gemacht Damit Sie es sich vorstellen können Sehen Sie Das war mal Ihr Kopf, der kommt ab Und so sehen Sie ungefähr mit neuem Kopf aus Gut, oder? Dass wir Sie ausgewählt haben Zur Forschung, zum Fortschritt, zu den Geheimnissen des Lebens beizutragen Das wollten Sie doch, Poch Und kommt es Ihnen nicht auch sowieso manchmal so vor Als wären Ihre Gedanken nicht Ihre Gedanken Als wäre das nicht Ihr Leben Als wäre das nicht Ihr Körper Den ersten transplantierten Kopf Und wir müssen ja bestehen im internationalen Vergleich Es geht hier nicht nur um Ihren Kopf oder Ihr einfaches Leben Um Ihre kleine Krankheit Verstehen Sie Die im Norden – oder war es Osten – sind uns ja mit dem Herz zuvorgekommen Wir waren eigentlich auch kurz davorgestanden Hatten schon den richtigen Köter parat Und das Herz eines Rassehundes, dessen Stammbaum bis ins Königshaus zurückführt Jedenfalls waren die anderen dann schneller Dabei wäre es das Experiment des Jahrhunderts gewesen

Und darum ist es von umso größerer Wichtigkeit, dass es uns jetzt gelingt, diesen – Ihren – Kopf abzuschneiden Schnipp, schnapp Und den neuen anzunähen Und wissen Sie, was das Beste ist? Sie sind danach unsterblich Für die Geschichtsbücher, meine ich Kritik, Wünsche, Fragen, Bemerkungen, wuff? (Lach- und Kläffanfall eines Dr.) Wo ist eigentlich die Zimmerhundenachbarin? Wer? Meine Zimmerhundenachbarin (Poch zeigt auf das leere Bett) Weg Wo? Abgeholt worden Von wem? Das wissen wir jetzt gerade nicht mehr – Schau doch mal in den Akten – Ich glaube, es war ein Zügelunternehmen (blättert in irgendwas) Ja, das war es TOTALLIQUIDATION Wenn wir Sie jetzt bitte über die Risiken aufklären dürften: Totalliquidation? Heiserkeit, Halsschmerzen, Hämatom, TOD, Schmerzen, Blutungen, Hirnschlag, TOD, Schizophrenie, TOD, Depression, TOD, Kopfschmerzen, TOD, Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle, Bauchschmerzen, TOD, Verstopfung, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Geschmacksstörungen, TOD, Schwindel, Schläfrigkeit, Konzentrationsstörungen, Koordinationsstörungen, TOD, Missempfindungen, Bewegungsstörungen, Bewegungsstarre des ganzen Körpers, TOD, Gangunsicherheit, Delirium (Verwirrtheit), Nervosität, Unruhe, Zittern, Angstzustände, Depressionen, Psychosen, Stim­ mungs­ schwan­kungen, Selbstmordgedanken, Per­sön­­lich­keitsveränderungen, Teil­nahms­­ losig­ keit (Apathie), TOD, Gedächtnisstörungen, Euphorie, Halluzinationen, aggressives Verhalten, Sprechstörungen, Sehstörungen wie: Augenzittern, Doppeltsehen, Kurzsichtigkeit, Engwinkelglaukom, Nasenbluten, TOD, allergische Reaktionen, Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut, wie: Juckreiz, Fellausfall, Hautblutungen aufgrund gestörter Blutgerinnung, Anfälle von Atemnot, TOD, Blasenschwäche, Bildung von Nierensteinen, Leberfunktionsstörungen, Veränderung des Blutbildes,

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Stück „Kranke Hunde“ wie: Anämie (Blutarmut), Thrombozytopenie (Verminderung der Anzahl der Blutplättchen), Leukopenie (Verminderung der Anzahl der weißen Blutkörperchen), erste Anzeichen können Halsschmerzen oder Fieber sein, TOD, Menstruationsstörung, Potenzschwäche, Libidoabnahme (Abnahme der Lust zum Geschlechtsverkehr), Knochenschmerzen, allgemeine Schwäche, TOD, abnormes Denken, –

34. SZENE: DIE CARE KEHRT ZURÜCK (Care und Cerebras, der blutend auf dem Kellerboden liegt) Und bei der erstbesten Gelegenheit wird zurückgelassen, was nicht mehr wird gebraucht. Bei der erstbesten Gelegenheit werden wir ausgesaugt, ausgenommen, entsorgt. Bei der erstbesten Gelegenheit schmeißt man uns auf die Tierkadaverstelle. Unser Wert ergibt sich aus der Produktivität unserer Knochen, unserer Sehnen. Wir haben alles an uns verkauft, was wir verkaufen können. Wir sind Arbeitskörper und werden stetig auseinandergesägt. Sind wir zu allen Teilen verhökert, so lässt man uns liegen wie Abfall. (Care versorgt den blutenden Cerebras) Danke Nichts zu danken Nichts zu danken Nichts zu danken Nichts zu danken Nichts zu zahlen

35. SZENE: DAS ENDE (Poch und Hundegehirn im Duett) Ich hatte einmal einen Nachbarn Der ständig umzustellen schien Möbel über das Parkett schleifte Hin und her Als könnte er die Unbeweglichkeit der Dinge nicht ertragen Ich habe mit dem Nachbarn nie gesprochen Außer einmal im Flur Manchmal sah ich ihn im Café Wie er in ein schwarzes Notizbuch schrieb:

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Heute mit niemandem gesprochen Nicht mal mir selbst Das Sofa ist besser in der Ecke Oder doch an der Wand Also in der Küche?

Und ich denke an meinen Bruder So als müsste er mich jetzt retten kommen So wie früher, als ich ein Teenager war Und die Welt noch meinte Kleine Schwestern müssten beschützt werden

Wenn krank sein heißt Die Zeit lahmzulegen Und wie ein schwerer Stein Kerben in den Boden zu reißen So ist es meine einzige Rebellion

Warum nicht anerkennen die Krankheit Poetiken für sie erfinden Die Schönheit des verwundeten Körpers Die Brüchigkeit Wenn uns doch nichts anders bleibt

Es ist erstaunlich Dass erst merkt Wer angehalten hat Dass sie zuvor ist gerannt Das ist das Ende Denn irgendwann muss man einmal aufhören Was man hat angefangen Die Enden fühlt man wenigstens Und ich könnte ihn hergeben Das Oberhaupt meines Körpers? Die Dirigentin meiner Glieder Den König meines Selbst? Bin ich mein Kopf Oder ist er wer anders Ist mein Kopf dann anders Oder wer bin ich Tun wir nur immer so Als lenke dieser Schädel Die Politik unseres Tuns Während wir eigentlich nicht tun Sondern nur fallen Und die Frage wäre demnach Wer fällt am besten Wer rollt ab sich auf die Flanken Ohne zu ertrinken Früher meinte man noch Die Körperorgane wanderten umher Und wandern sie denn nicht eigentlich noch immer? Mit dir sterbe ich Sind wir hier bei Titanic? Oder Costa Concordia Und der Kapitän rettet sich zuerst Die Ärzte bauen dir ein Denkmal Ich will kein Denkmal, ich will denken Sie werden dich eingießen Aber ich schwimme doch schon

Werden dich eingießen In die Ewigkeit hinein Der du uns bist ein Denkmal gegen unsere Vergänglichkeit Unsere Sterblichkeit Gegen die wir uns aufbäumen Ein bisschen Nur ein bisschen überdauern

36. SZENE: HÖLLEN­KATZ BRINGT DIE RETTUNG ODER DEN TOD (Höllenkatz und Hundegehirn) Höllenkatz Bin schon da Wo ist meine Rettung, der Stoff? Hier ist er Bald hast du wieder Land unter deinen Füßen Ist es ein Tunnel ins Trockene? So ähnlich Zeig Komm näher Ich sehe nichts Schau hier Ein Plastiksack? Was ist da drin? Gutes Zeugs Gegen ein viertel Leben Und drei viertel hast du ja noch Ein viertel Denn ein halbes habe ich schon gelebt Gut gerechnet, Hundegehirn Du lernst schnell Schneller als deine Nachbarin Meine Zimmerhundenachbarin? Gab mir ihr gesamtes Leben Beziehungsweise hat sie es verspielt Du hast sie umgebracht? Ich bringe nicht um, ich mache Geschäfte Außerdem kam sie freiwillig mit

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Stück Ariane Koch Wohin? In die Hölle Und was hast du mit ihr dort gemacht? Nicht mehr viel Ich pinne die Leben dort wie Schmetterlinge an die Wand Das sieht echt schön aus Welche Wand? Du fragst mich heute aber viel Welche Wand verdammt Sei doch froh, die hat doch total genervt Die Wand meines Wohnzimmers, meines Hauses Ich dachte, die Hölle sei im Keller Nein, »die Hölle, das sind wir« Sehr witzig, »die Hölle, das sind die anderen« Ich bin zwar nicht krank, aber ich habe einen Uniabschluss Im Töten? Im Geschäftemachen Du bist übel Ich bringe dir gerade die Rettung, Hundegehirn Du könntest ruhig etwas dankbar sein Die Rettung bringt den Tod Der Tod ist die Rettung Ist doch alles dasselbe Geh weg von mir Weißt du was, wenn ich nicht schon Leben sammeln würde, sammelte ich den Tod. Ja, Tode würde ich mindestens genauso gern sammeln Sammelst du nicht insgeheim Tode? Stimmt (Höllenkatz stülpt einen Plastiksack über das Hundegehirn und erstickt es, Hundegehirn röchelt noch etwas, das wie „Rosalie“ klingt) DANKE FÜR DEN KOPF

37. SZENE:   POCH WIRD EINGESCHLÄ­FERT, ÄH NARKOTISIERT (Poch liegend und im Beisein der Hundeärzte, als wäre es ihre Beerdigung) Ich sehe meine Stärke Schwach zu sein Nun kann ich mir nichts mehr vorspielen Ich kann zwar stark spielen Aber ich weiß, wie stark ich wirklich bin Das So-tun-als-ob hat den Reiz verloren Seit Schläuche in mir herumfuhren Und ich sie an den Venenwänden entlangkratzen hörte Wie Tiere haben sie sich den Hals heraufgequetscht Die Frage, wie stark man ist Wird in dem Moment obsolet In dem man die Allerschwächste Aber trotzdem noch da ist Ich bin noch da Ist die relevantere Frage Wie aushalten Wie schwach wir sind Und müssen endlich brechen die Illusion Eines unversehrten Seins? So leise atme ich Dass mich niemand hört Bin manchmal nicht einmal sicher Ob man das noch Atmen nennen kann Und vielleicht liegt ja darin auch ein Widerstand Und früher war ich es

Die an den Dingen vorbeizog, wenn ich rannte Nun ziehen die Dinge an mir vorbei Auf jede Dürre folgt ein Monsun Muss einer folgen Der Monsun soll mich hinausspülen Aus dieser Welt Oder ist es umgekehrt: Man muss ertrinken Ohne mit den Gliedern zu zappeln Ohne sich aufzulehnen gegen das, was sowieso kommen wird Um wieder neu aus sich hervorzugehen Ich suchte da draußen Oder in euch nach einem Sanatorium Aber das Sanatorium bin ich!

38. SZENE: ANSTACHELUNG DER CARE (Höllenkatz wendet sich an die Care) Wer interessiert sich schon für eure wunden Hinterteile und eure müden Gesichter, die da im Regen auf dem Vorplatz ihre Parolen schreien, dann rufen, dann murmeln, als sei es ein Selbstgespräch? Wie soll sich jemals etwas verändern, wenn ihr nicht einseht, dass ihr zusammen ein Jengaturm seid, der zu fallen droht? Ihr seid Holzbauklötze und eure Kanten sind nicht weich. Warum nicht selbst entscheiden, wen ihr mit euren Kanten niederreißt, auf wen ihr als einstürzende Architektur niedergehen sollt? Warum nicht selbst in die Hand nehmen, wo ihr niederfallt? Wenn ihr schon fallen müsst, dann doch wenigstens auf eure Pfoten, oder?

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Charles A. Washington/ Pinkmetalpetal Productions

Dresden Frankfurt Dance Company

Sächsische Staatskapelle Dresden & Jonathan Stockhammer

Bandstand

The Children of Today 01. – 03.02.

Highlights Dezember

Highlights Februar

Georg Friedrich Haas: in vain 02.02.

Dance2Narration 08. – 17.02.

23. & 24.02.

SCHICHTEN

Künstlerische Praktiken des Erinnerns und Gedenkens 29.02. – 02.03.


Stück „Kranke Hunde“

39. SZENE: DER OPERATIONSTRAUM (Poch, die Hundeärzte und die Höllenkatz) Poch, Haustiere sind hier nicht erlaubt Ihre Katze Rücken Sie die Katze raus Wir wissen genau, dass Sie eine Katze haben Ich habe eine Katze gesehen, das stimmt Ich weiß nicht, wie sie reingekommen ist Sie haben die Katze gefüttert Wir dulden hier keine Katzen Habe ich nicht Hier liegen Brekkis Die sind für mich Soll gesund sein Hören Sie, wir wollen nur, dass Sie uns die Katze übergeben. Wir tun ihr nichts, wir entsorgen, äh, setzen sie einfach wieder aus Miau Wie bitte DA IST DIE KATZE WUFF, FASST SIE (Höllenkatz wird von den Hundeärzten angegriffen, das Hundegehirn, also der Hundekopf, wird ihr abgenommen, einer hält den Hundekopf wie eine Trophäe in den Himmel, ähnlich wie Hyänen reißen die Hundeärzte Rosalie in Stücke, es geht nun nahtlos in die Operation an Poch über)

40. SZENE: DIE TRANSPLANTATION (Hundeärzte, Care, Poch) Reißzähne Schere Ultraschallmesser Hirnmesser Dividieren Drahtsäge Schädelhalter Abnehmzange Subtrahieren Wundhaken Spreizer Klammer Addieren Gefäßclips Nadelhalter Nadel Summieren PRODUKT Ich wurde einmal von einem jungen Mann im Zug angesprochen. Sein Kopf war bandagiert, vereinzelte rote Locken standen davon ab und die linke Augenbraue zierte eine Schürfwunde. Er sagte, er sei gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo er die ganze Nacht zugebracht hätte. Es habe sich offenbar so zugetragen, dass er während des Eishockeymatches gestern – oder war es vorgestern? – Abend von einem Gegenspieler derart gestoßen worden war, dass er mit dem Kopf gegen die Bande gedonnert und augenblicklich bewusstlos geworden sei. Er könne sich nicht mehr an den Vorfall erinnern, so sei es ihm nur später – also vor ein paar Stunden – im Krankenhaus erzählt worden. Überhaupt könne er sich nicht an den Anpfiff, die Fans, das Stadion, die Gegen-

spieler erinnern. Er sei just heute Morgen in seinem Krankenbett aufgewacht und habe von nichts mehr gewusst, er habe sich nicht mehr gekannt. Es sei ihm nichts anderes übriggeblieben, als die Geschichten, die über ihn erzählt wurden, zu glauben und mit seiner Persönlichkeit in Verbindung zu bringen. Nun zog er aus seiner Jackentasche ein paar lose A4-Papiere, die er mir zur Ansicht in die Hand legte. Es waren verschiedene Röntgenaufnahmen eines Schädels darauf abgedruckt, außerdem ein paar Sätze zum Krankheitsverlauf. Ich hielt die losen Blätter in der Hand, warf einen höflichen, aber nicht zu gierigen Blick darauf und lächelte. Der Typ lachte daraufhin und sagte, das sei im Moment alles, was er noch – oder wieder? – von sich wisse. Man habe ihm zwar eine Adresse angegeben, die sein Zuhause sein soll, aber es habe sich bis jetzt keine Erinnerung an dieses Zuhause eingestellt. Man habe ihm im Spital zwar versichert, diese retourniere bald, er müsse sich keine Sorgen, sondern lieber gleich auf den Weg dorthin machen – Poch? SIE IST AUFGEWACHT Wie fühlen Sie sich? Wer? P-O-C-H Schauen Sie, es regnet draußen Endlich Was sind das eigentlich für Türme da draußen?

FEB


Stück Ariane Koch

41. SZENE: AN DIE NATION (Pochs alter Kopf, Hundeärzte, Cerebras, Care, Poch) (Die Hundeärzte bringen das neue Denkmal an, bejaulen es anschließend) Oh Kopf Oh Kopf Ich dachte, das sei eine Zaubershow, bei der nur so getan wird, als werde ich auseinandergesägt. Ich dachte, das sei ein Trick, bei dem es zwar so aussieht, als sei ich entzweit, aber eigentlich sei ich noch eins. Ich habe nie eingewilligt, habe nirgends unterschrieben, tatsächlich zerrissen, halbiert, geteilt zu werden. Wo sind meine Glieder? Gebt mir meine Glieder wieder. DIE HÖLLENKATZ HAT SIE MIR GESTOHLEN. Hundepolizei (Nun stürzt die vermummte Care herein, schlägt auf die Hunde ein, nimmt sich das Kopfdenkmal, reckt es in die Höhe wie einen Pokal, wie wenn sie ein Rennen gewonnen hätte, währenddessen trippelt Poch unsicher mit neuem Kopf herein, weil sie dachte, das sei das Zeichen für ihren Auftritt, aber niemand interessiert sich für sie, die Care zieht nun inklusive Trophäe ab, zurück bleibt Verwüstung, verwundete Hundeärzte, außerdem Poch und der einbandagierte Cerebras, die sich freundlich zulächeln, fast verlegen, mit den Pfoten am Boden herumscharrend) NICHT DEN KOPF NICHT DEN KOPF NEHMT UNS NICHT DEN KOPF

42. SZENE: DAS ABSCHLUSSRACE (Poch mit neuem Kopf, alten Beinen) In die Startboxen gehievt Trommeln wir mit unseren Pfoten Bereits gegen die eiserne Tür Die plötzlich aufspringt Und ich springe Galoppiere nach vorne Ich bin ein Pfeil Ich bin ein Strich Die Augen wild verdreht Und die Zunge hängt mir aus dem Maul Und die Menschen jubeln

Die ihm noch sind geblieben Mich freundlich weg winkt Also winke ich zurück Schieße vorbei an des Todes Eingang Noch eine letzte Runde Im grellen Licht der Scheinwerfer Unter meiner gemusterten Haut Das Feuer in den Muskeln Dann black

– ENDE –

Ich bin so schnell Dass kaum mir zu folgen Mit dem Blick möglich ist Auf dem Sand Den ich nur ganz sanft berühre Seht ihr nicht Wie ich fliege Wie ich fliege Kreischen die Leute Die auf mich gewettet Mit Bier und Chips werfend Weit über die Ziellinie hinaus Und immer weiter Und es stellen sich Menschen in den Weg Das Rennen zu beenden Aber ich schieße zwischen ihren Beinen Einfach immer weiter Vorbei am Ausgang Vor dem Cerebras steht Mit den zwei Köpfen

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Theater der Zeit

Foto picture alliance / Hans Wiedl/dpa-Zentralbild/ZB | Hans-Jürgen Wiedl

Diskurs & Analyse

Serie Schlaglichter #02 Frithjof Rave: Der sprechende Pilz Neue Serie Post-Ost Mai-An Nguyen: Gegen das eindimensionale Narrativ

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #02

Schlaglichter # 02 Der sprechende Pilz Von Frithjof Rave

Mit unserer neuen Open-CallReihe „Schlaglichter“ laden wir Studierende und Berufseinsteiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskursiven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

Content Note: Dieser Text beinhaltet Gewaltbeschreibungen.

Frithjof Rave, 1996 in Flensburg geboren, ist ein umtriebiger und vielseitiger Künstler, der Zeit seines Schaffens autodidaktisch veranlagt ist. Seine Werktätigkeit ist am ehesten in der Freien Theaterszene zu verorten und umfasst vor allem Schauspiel, Literatur und Regie. Er studiert Theaterwissenschaften an der Universität Leipzig. Derzeit arbeitet er mit den Theatergruppen theatrale Angelegenheiten, das Dokumentartheater Berlin, freies Ensemble Jedermensch und dem vermessen-kollektiv. 2024 plant er drei Theaterpremieren und die Finalisierung zweier langjähriger Buchprojekte.

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Theater der Zeit 2 / 2024


Foto picture alliance / Westend61 | Thomas Jäger

Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #02 Ich bedeckte erst deinen Mund, dann deine Ohren, ich wucherte über dein ganzes Gesicht. Die Wangen waren eine Köstlichkeit. Es zog mich deinen Hals hinunter, erstmals nahm ich deinen Duft wahr. Deine Schultern, ich begriff wie viel Kraft von ihnen ausging. Ich kitzelte dich ein wenig, als ich in deiner Achselhöhle ein Zuhause fand. Du bebtest etwas, wachtest aber nicht auf. Ich fühlte mich dir so nahe. Als ich auf deiner Brust wucherte, erboten sich vor mir deine Weiten. Unendlich lagst du vor mir. Und ich sah nun deine unglaubliche Schönheit, ein unfassbares Schauspiel der Natur. Und fast unberührt. Es gab nur wenige fremde Pilzkulturen, die zu meinem Glück weder giftig noch besonders wehrhaft waren. Es war nur ein kurzer Kampf, jetzt herrscht auf deinem Körper Frieden. Und ich stehe dir zur Seite. Einzelne Kulturen an den Füßen leisten noch Widerstand, aber es kann nicht mehr lange dauern, dann bist du bewandert allein von mir, und ich werde alle fremden Spuren auf dir verwischen. Ich und du. Allein. Ich sah dein entsetztes Gesicht, als du in den Spiegel, und du mich dort auf dir liegen sahst. Du machtest drei Schritte und fielst über eine Kommode, stießt dir den Kopf. Du blutetest leider nicht. Ich zog mich zurück in die vielen Falten und Poren deines Körpers, dass wir dir nun unsichtbar erscheinen. So hieltest du mich wohl für Illusion, einige Tage hielt ich mich bedeckt und erst tastete ich mich vorsichtig im Dunkeln voran, bald merkte ich, dass ich mit festen Ruhezeiten deinerseits rechnen konnte. Ich kam bei Nacht heraus und lebte auf deiner Haut, tagsüber ruhte ich in den Orten deinerselbst, die dir unbekannt sind. Ich wachte und beobachtete dich genau. Es war Licht geworden, du hattest dich beseelt und doch ein wenig aufgegeben. Ich kroch langsam aus der Spalte und breitete mich über dir aus. Ich griff nach dem, was zu greifen war, schlug meine Arme tief in deine Poren und flog mit Sporen in neue Täler. Du warst so friedlich, wehrtest dich kaum. Und ich genoss dich in vollen Zügen. Du warst so nahrhaft, so lecker. Ich machte in dich kleine Löcher. Es war mir, als wären wir eins. Ich sah dich vor dem Spiegel. Du zogst im Gesicht deine Falten glatt. Du schlossest die Augen und beschlossest nicht weiter und genauer hinzusehen. Du nahmst deine Speckrollen in die Hand und rissest sie von dir und deinem Körper. Du schlugst dir auf den Bauch und zähltest die Wellen. Du zupftest dir die Haare, dass das Blut floss. Du riebst dir die Haut, und schriest, dass sie doch einfach nur die falsche Farbe trüge. Du sahst müde aus. Du rochst an deinen Füßen und verzogst das Gesicht. Du schautest auf deine Brüste und sahst unzufrieden aus. Du lagst auf dem Schnittpult, dir fehlte nichts, du ertrugst dich nur nicht, so wie du dich im Spiegel sahst. Deine Brüste erhielten die neuste Modernisierung. Du sahst deine Haut und wünschtest dir die Unverwundbarkeit. Du wolltest, deine Brüste wären Scheinwerfer, dein Uterus ein Wasserspeicher und dein kleiner Finger ein Taschenmesser. Du warst glücklich, als du ein WG-Zimmer aufgrund deines Äußeren bekamst, und traurig, als dein Freund dich wegen deines Äußeren verließ. Du streicheltest deine wunden Füße, die nach hunderten von Kilometern Schwielen trugen. Du warst froh, dass dein Körper trotz Raucherhusten noch den Tag

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verlebte. Deine Hüfte schmerzte. Dir schmerzte der Arm, der schon lange nicht mehr da war. Ich sah dich gestern, wie du im Spiegel weintest, du schautest dich genau an, und offensichtlich warst du dir nicht genug. Du weintest und betrachtetest dein Fleisch; langsam war es, da brachst du es auf. Du weintest, und die kleinen Seen, in denen Mikroben schwammen, tünchten sich in roter Farbe. Als ich später neben dir schlief und mich ein bisschen auf das Kissen legte, sah ich dich nochmal genauer an. Ich begleitete dich nun viele Jahre, aber da war dann doch nochmal etwas Neues. Es waren die Schleimhäute deiner Augen, sie sind ein feuchtes Neuland, es gefällt mir gut, mich dort drinnen zu versuchen. Du scheinst müde zu sein, lass mich deine Tränensäcke fressen. Einen Namen wollte ich mir geben, etwas Harmloses, kam aber über Pest oder Seuche nie hinaus. Schau doch nur hin. Das Blut, das unsre Nahrung ist, ist die Lebensnotwendigkeit des Körpers. Wenn ich lebendig bin, wird das jemand nicht mehr lange sein. Es war mir viel daran. Leben. Nur das eine. Doch es stand Leben gegen Leben. Und das Ich gewann und verlor dann doch. Deine Reste fresse ich noch, dann war es das, ich bin nicht mehr und vielleicht war ich nie. T

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Brecht festival NO FUTURE 23.2.-3.3. 2024


Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost

Aus Cottbus an die Schaubühne Berlin: Mai-An Nguyen, Leiterin der Theaterpädagogik

Foto Frederik Schmid

Gegen das eindimensionale Narrativ Von Mai-An Nguyen

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen. Den Auftakt macht Mai-An Nguyen, Leiterin der Theaterpädagogik an der Berliner Schaubühne.

des nicht-dazu-Gehörens gehen also Hand in Hand mit einem trotzigen Stolz für die Ost-Herkunft und Heimatliebe. Wenn ich in Cottbus bin, fühle ich mich unwohl; ich ziehe den Kopf ein, habe Angst, Rechten zu begegnen. Mein Aufwachsen war davon geprägt, ihnen zu begegnen. Zu rennen, mich zu verstecken und mein Maul zu halten. Mein Aufwachsen war aber auch geprägt von Menschen, die sich vor mich stellten: von unserem Nachbarn im Plattenbau zum Beispiel, mit den roten, zu Stacheln gegelten Haaren, der mit dem Baseballschläger vor die Tür kam, wenn mich die halbstarken rechten Jungs wieder nach Hause jagten. Da! Schon wieder. Ich schreibe über Ostdeutschland und immer wieder komme ich bei den Rechten an. Aber will ich das schreiben? Will ich schon wieder das eindimensionale Narrativ über diese Stadt und diesen Teil Deutschlands weiter füttern? Wasser auf die Mühlen. Damit wieder alle mit dem Finger auf die neuen Bundesländer zeigen können. Lol, die wissen nicht, wie Demokratie geht. Ostdeutsch-Sein ist für mich also auch ein seltsames Verteidigen desselbigen, sobald ich mich in anderen Teilen der Republik befinde; dass ich mich mit etwas identifiziere, was kurz nach meiner Geburt aufgelöst wurde. Ostdeutsch-Sein ist nicht das eine oder das andere. Ostdeutsch-Sein ist das alles und noch viel mehr. Mehrdeutigkeit.

Zivilgesellschaft erzählen Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen. Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Widersprüchlichkeiten oder kulturell bedingte Unterschiede wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder diese einseitig negativ oder vorbehaltlos positiv zu bewerten. Seit Stunden sitze ich an diesem Text. Beginne zu schreiben und lösche wieder alles. Fange von vorn an. Ostdeutsche Perspektive. Spreewaldgurken beim Kanufahren. Löschen. Als Ostdeutsche studieren in Westdeutschland. Ich erkläre Kommiliton:innen die Uhrzeit mit dreiviertel und viertel. Löschen. Vom Ostdeutschen Provinztheater in die Hauptstadt. Endlose Tagebaulandschaften versus Hochhausschluchten. Löschen. Jeder Ansatz fühlt sich fehlgeleiteter an als der davor. Wenn ich über Ostdeutschland schreibe, kann ich nur über meine Heimatstadt und die Region drumherum schreiben. Cottbus in Brandenburg. Ich weiß nicht, wie es ist, in Sachsen aufzuwachsen oder in Mecklenburg-Vorpommern. Auf keinen Fall möchte ich mich als Sprecherin für Ostdeutsche Perspektiven verstanden wissen. Das hier ist meine Perspektive und die ist zufällig ostdeutsch. Cottbus also. Die Neunziger und die Nullerjahre in dieser Stadt haben mich geprägt. Man könnte meinen, dass es mir nicht an Geschichten mangeln dürfte. Ich könnte jetzt darüber schreiben, dass ich leider nur noch selten in meine Heimatstadt fahre. Aus Unbehagen. Ostdeutsch-Sein bedeutet in meinem Fall auch Tochter eines vietnamesischen Vertragsarbeiters zu sein. Das ist unzertrennlich miteinander verwoben. Das Eine gibt es für mich nicht ohne das Andere. Rassismuserfahrungen und das Gefühl

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Den Scheinwerfer mal woanders hinsetzen. Auf die guten Orte. Orte wie das Piccolo Theater Cottbus, das mir immer ein sicherer Hafen war. Wo Menschen sich seit 1991 tagtäglich in dieser Stadt gegen Rechts stellen. Die für jede abgerissene Regen­bogenflagge eine neue hinhängen. Für jedes eingeschlagene Fenster die Tür noch weiter aufmachen. Die mir und unzähligen jungen Menschen seit 33 Jahren eine Stimme geben. Das sind doch die ­Geschichten und Gesichter, von denen ich berichten möchte. Die dem Bild des braunen, ungebildeten Ostens etwas entgegen­setzen. Die Geschichten von der Zivilgesellschaft, die sich einsetzt, die sich stark macht gegen Demokratie zersetzende Bewegungen. Aber da wirft schon der nächste Gedanke seinen Schatten: Nur aus dieser Perspektive zu erzählen, ignoriert doch aber gelebte Realitäten! Real ist, dass rassistische Anfeindungen auf offener Straße stattfinden. Real ist, dass der Landesverfassungsschutz die AfD Brandenburg 2020 als rechtsextremen Verdachtsfall einstufte.

Ostdeutsch-Sein ist für mich also auch ein seltsames Verteidigen desselbigen, sobald ich mich in anderen Teilen der Republik befinde; dass ich mich mit etwas identifiziere, was kurz nach meiner Geburt aufgelöst wurde. Deutsch-Sein ist das alles und noch viel mehr. Mehrdeutigkeit. 75


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An der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine

Professur (m/w/d) für Dramaturgie im Studiengang Schauspiel W2 BesO W (100 %; 18 LVS) zu besetzen. Gesucht wird eine Persönlichkeit mit hoher künstlerischer und pädagogischer Kompetenz, die das Fach Dramaturgie in seiner ganzen Breite im Studiengang Schauspiel vertritt und bereit ist, inhaltlich mit den Fächern Szene, Sprechen und Bewegung eng zusammenzuarbeiten.

Das Aufgabenfeld umfasst:

• Lehrveranstaltungen zu dramatischer Literatur, Theatergeschichte, Dramentheorie, Schauspieltheorie und Aufführungsanalyse im Hinblick auf die aktuelle und zukünftige Studien- und Berufspraxis, • Projektdramaturgie und dramaturgische Beratung von szenischen Arbeiten, internen und externen Studienprojekten, • Betreuung von künstlerisch-praktischen und von künstlerischwissenschaftlichen Prüfungen und Abschlussarbeiten, • inhaltliche Gestaltung, Organisation und Ausbau von Kooperationsvorhaben und Projekten mit Theatern, Hochschulen und anderen Projektpartner*innen, • Gestaltung und Entwicklung künstlerisch-wissenschaftlicher Projekte und Formate, wie Symposionen, Workshops, Gesprächsreihen u. Ä.

Einstellungsvoraussetzungen sind gemäß § 25 Abs. 1 NHG • ein abgeschlossenes Hochschulstudium, • durch praktische Erfahrungen bestätigte pädagogische Eignung, • die besondere Befähigung zu künstlerischer Arbeit und • zusätzliche künstlerische Leistungen.

Letztere sind für diese Professur durch umfangreiche Berufserfahrung als Schauspieldramaturg*in auf hohem künstlerischem Niveau an etablierten Theatern oder unter freien Produktionsbedingungen und gute Vernetzung auf nationaler oder internationaler Ebene oder eine äquivalente Berufserfahrung im Bereich der darstellenden Künste mit dem Schwerpunkt Schauspiel nachzuweisen. Kontinuierliche Mitarbeit bei der Weiterentwicklung des Studienbereichs und des Curriculums (u. a. im Bereich Spielen vor der Kamera/Cameraacting), die Fähigkeit zur fachübergreifenden Zusammenarbeit im Team sowie die Bereitschaft zur Teilnahme an Teamweiterbildungen und Supervisionen sind für diese Position unerlässlich. Die Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung auf Studienbereichs- und Hochschulebene wird vorausgesetzt. Erwartet werden außerdem sehr gute Deutsch- und Englischkenntnisse in Wort und Schrift, digitale Fähigkeiten und Genderkompetenz. Die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover strebt eine Erhöhung des Anteils an Frauen am künstlerisch-wissenschaftlichen Personal an und fordert qualifizierte Frauen nachdrücklich auf, sich zu bewerben. Bei gleichwertiger Qualifikation sollen Frauen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vorrangig berücksichtigt werden. Die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover fördert ebenso die Heterogenität unter ihren Mitgliedern. Bewerbungen von Menschen mit einer Schwerbehinderung werden bei gleicher Qualifikation bevorzugt berücksichtigt. Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund sind willkommen. Die Stelle ist teilzeitgeeignet. Bitte beachten Sie unsere Hinweise zum Datenschutz in Bewerbungsverfahren unter https://www.hmtm-hannover.de/de/hochschule/stellenausschreibungen/. Bewerbungen mit Anschreiben und den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 01.03.2024 an die Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Bitte senden Sie die Bewerbung ausschließlich in einem PDF-Dokument an die E-Mail-Adresse: berufungsverfahren@hmtm-hannover.de. Fachliche Fragen zur Ausschreibung beantwortet Prof. Titus Georgi (E-Mail: titus.georgi@hmtm-hannover.de).

Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover Personalabteilung Neues Haus 1 · 30175 Hannover

Real ist, 2022 erreichte Lars Schieske von der AfD 31,4 Prozent bei der Stichwahl um den Oberbürgermeister für Cottbus. Real ist aber auch, dass 68,6 Prozent der Wahlbeteiligten sich klar gegen die AfD positioniert haben. Beide Zahlen sind wahr. Sie erzählen völlig unterschiedliche Geschichten, wenn man sie losgelöst voneinander betrachtet. Erst zusammen ergeben sie ein komplexes Gesamtbild, mit vielen Schattierungen und Nuancen. Ein Wahlergebnis, viele Deutungen. Ich mache mir Sorgen, wenn ich an die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen denke, die dieses Jahr stattfinden werden. Ich habe das Gefühl, in diesen Zeiten von Krisen, Inflation und Ungewissheit wird Mehrdeutigkeit immer schwerer auszuhalten. Wir sind auf der Suche nach einfachen Antworten. Nach Narrativen, die helfen, simple Einteilungen vorzunehmen. Verübeln kann ich diesen Wunsch niemandem. Ich habe es auch gerne einfach. Nur, dass einfache Lösungen immer Propaganda sind. Einfache Lösungen sind Lügen. Aber was wird passieren, wenn dieser Wunsch nach Einfachheit das Wahlergebnis bringt, vor dem uns, mir die Knie schlottern? Werden Orte wie das ­Piccolo Theater nach dieser Wahl noch weiter bestehen können? Welchen Bedingungen werden sie ausgesetzt sein? Diese Orte, an denen Menschen sich zusammentun, um für eine freiheitliche, demokratische Welt einzustehen. Der kürzlich in den Ruhestand getretene Jürgen Trittin sagte in seiner Abschiedsrede: „Wenn Demokraten nicht zusammenstehen, kommen Antidemokraten an die Macht.“ Ohne geeignete Orte wird das Zusammenstehen nur schwerer. Sie gehören zum Fundament eines friedlichen Zusammenlebens. Nicht nur Theater, auch Clubs, Gemeindezentren, Museen und Konzerthäuser. Kultur schafft Gemeinsamkeit und fördert den Zusammenhalt. Kulturelle Orte sind unerlässlich für ein demokratisches Miteinander. Also ja, die anstehende Wahl und ihr schlimmstmöglicher Ausgang machen mir große Sorgen. Ich wünsche mir, mich durch meine Heimatstadt bewegen zu können, ohne dabei den Kopf einzuziehen. Gute Erinnerungen, schlechte Erinnerungen, sie alle haben mich zu der Person gemacht, die jetzt diesen Text schreibt: Baden im Baggersee gesäumt von Kiefernwäldern, Kreidezeichnungen zwischen Plattenbauten, auf dem Theaterdach sitzen und vor Liebeskummer heulen, ­Tết-Fest feiern mit den vietnamesischen Freund:innen meines Vaters, die letzte Straßenbahn verpassen und vier Kilometer laufen oder t­agelang durchfeiern in einer leerstehenden Kleingartenanlage. Keine dieser Erinnerungen möchte ich missen und auch nicht diese Stadt, um die ich mich sorge. Aber ich habe keine Angst. Denn ich weiß, sie sind da. Die Menschen, die sich eine gerechtere Welt für alle erträumen und bereit sind, dafür einzustehen. Sie sind die, die immer noch die Mehrheit bilden. „Mach dich bereit Für den Kampf ums Paradies Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst Es ist uns’re Zukunft, unser Land Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand“ (Ton Steine Scherben „Der Traum ist aus“, 1972) T

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Theater der Zeit

Report

Foto Annemone Taake

Elke Borkenstein, Philipp Manuel Rothkopf und Furkan Yaprak in „Hamlet“ von William Shakespeare aus dem Englischen von Heiner Müller in der Regie von Laurent Chétouane am Theater Aachen

Aachen Elena Tzavara beginnt ihre Intendanz in Aachen mit spartenübergreifendem Spiel Basel Tobias Brenk setzt als neuer Künstlerischer Leiter der Kaserne Basel die integrative Tradition des Hauses fort

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Report Aachen

Feste des Miteinanders Elena Tzavara beginnt ihre Intendanz in Aachen mit spartenübergreifendem Spiel Von Stefan Keim

Ein großer Aufschlag. Mit der Verbindung von Henry Purcells und John Drydens Semi-Opera „King Arthur“ mit Kae Tempests Gedicht „Let them eat chaos“ bringt Aachens neue Intendantin ­Elena Tzavara in ihrer ersten Premiere direkt ein Bekenntnis auf die Bühne. Und das in mehrererlei Hinsicht. Die Geschlechterrollen sind aufgelöst, die Gesellschaft erstarrt – und dennoch ist es ein Fest, ein Abend der Hoffnung. Am Ende verteilt der Opernchor rote Luftballons im Publikum, alle vereinen sich in der Botschaft „Amor vincit omnia“ – die Liebe besiegt alles. Verbunden mit der Versicherung, dass jede:r willkommen ist im Theater Aachen. So viel Pathos erzeugt natürlich Kitschgefahr. Deshalb ist es nötig, sich durch viele düstere – und leider realistische – Welt­ beschreibungen durchzuarbeiten. Das tut vor allem die Schauspielerin Stefanie Rösner als Stimme von Kae Tempest, aber auch als Zauberer Merlin, der seine Magie menschenfreundlich einsetzt. Viel wird an diesem Abend angerissen, wenig zu Ende erzählt. Arthur schleppt sein schweres Schwert Excalibur über die Bühne und streitet sich mit einem Konkurrenzkönig um die blinde Prinzessin Emmeline, die vom nicht-binären Schauspielenden Hermia Gerdes verkörpert wird. Dazu kommt der Text von Kae Tempest, der von einsamen, von Ängsten gepeinigten Menschen erzählt. Ein Sturm treibt sie auf die Straße, und aus dem Chaos wächst Hoffnung, weil die Idee einer Gemeinschaft entsteht. Marco Štormanns Inszenierung ist nicht darauf angelegt, in allen Verästelungen analysiert und verstanden zu werden. Er bietet Erlebnisräume, arbeitet sehr genau mit dem Ensemble. Während das Sinfonieorchester Aachen unter Christopher Ward auf alten Instrumenten einen großartigen Barockklang erzeugt und schon spielt, wenn das Publikum den Saal betritt. Schon hier herrscht große Konzentration im Graben, auch wenn manche noch quatschen und nicht so genau hinhören. Die Musik schafft eine sinnliche Atmosphäre, schon bevor die Aufführung losgeht. „Das Publikum nimmt die Aufführung als Fest wahr“, sagt Intendantin Elena Tzavara.

Intensiver Austausch

„King Arthur“ oder „Let Them Eat Chaos“ Semi-Oper von Henry Purcell und John Dryden mit Texten von Kae Tempest in der Regie von Marco Štorman

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Fotos Thilo Beu

Das stimmt, auch in einer Repertoirevorstellung kurz vor Weihnachten. Ein ungewöhnlich junges Publikum strömt ins Theater Aachen, viele Studierende sind darunter, man hört es an den Themen, über die sie sich unterhalten. Auf der Bühne verschmelzen Opern- und Schauspielensemble zu einer Einheit, alle singen und sprechen. „Wir wollten zeigen“, erklärt Elena Tzavara, „was das Theater kann, und haben alles aufgefahren. Das Spartenübergreifende durchzieht die ganze erste Spielzeit, weil wir finden, dass nicht mehr in Sparten gedacht werden muss.“ Die Aufführung wird gefeiert, sie trifft das Bedürfnis nach positiven Botschaften in finsteren Zeiten. „Es geht darum, Begegnungen zu schaffen“, sagt Elena Tzavara. „Wir wollen Feste


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des Miteinanders. Wir versuchen, alle Gesellschaftskreise anzusprechen. Ich bin noch im Experimentierstadium und lerne die Aachenerinnen und Aachener langsam kennen. Wir probieren Formen aus, die ankommen, um unsere Inhalte transportieren zu können.“ Dafür besucht sie sogar Leute, die sich beim Theater melden, zu Hause. „Das ist ein neues Format, um mich richtig mit Leuten in ihrem Wohnzimmer auszutauschen. Da kann man mehr in die Tiefe gehen.“ Die Intendantin hört zu, nimmt Anregungen auf, weiß, dass es nichts Besseres gibt, um Menschen ans Theater zu binden als der persönliche Kontakt. Natürlich kann sie nicht alle Erwartungen erfüllen und muss Kompromisse machen. Gerade die junge Generation achtet auf viele Kleinigkeiten, zum Beispiel auf genderneutrale Toiletten. Die gibt es jetzt im Theater Aachen. „Ich finde es toll“, erzählt Elena Tzavara, „dass viele vom Haus auch eine Haltung zum Nahost-Konflikt erwarten. Das führt zu einem intensiven Austausch, und der erweitert auch die eigenen Perspektiven. Bei unserer Veranstaltung zum 9. November haben wir nicht nur jiddische Lieder, sondern auch Freiheitslieder gesungen. Natürlich wenden wir uns gegen Antisemitismus und die Hamas. Aber Palästinenser sollen nicht ausgegrenzt werden.“ „Wer ist Europa?“ lautet das Motto der ersten Spielzeit. Ein zentrales Projekt dazu ist das „gar ergetzliche Rap-Spectaculum“ über Karl den Großen, das unter dem Titel „House of Karls“ Ende März Uraufführung haben wird. Aber auch der „Garten der Lüste“, ein Stück des aus dem Kongo stammenden und in Graz lebenden Fiston Mwanza Mujila. Darin entwirft ein europäischer Intellektueller die Vision eines neuen Garten Eden, in dem alle gleich und alle Barrieren beseitigt sind. Klar, das ist eine typisch männliche und westliche Idee. Und so bekommt der Weltverbesserer namens Werner schnell Züge eines Diktators. Nur er bestimmt, wer in seinen Garten Eden hineindarf. Und besonders idyllisch sieht dieses Paradies auch nicht aus. Plastikstühle vor einer Wolkentapete, da ist fast jeder Kleingarten opulenter ausgestattet. Antigone Akgün bringt den dichten, komplexen Text mit einem rein weiblichen Ensemble zum komödiantischen Funkeln. Wobei sich der Autor per Video in einer Lecture Performance ebenfalls beteiligt. Die Anspielungen reichen von Hieronymus Bosch über Chaplins „Der große Diktator“ – die berühmte Weltkugeljonglage wird nachgespielt – bis zur Erinnerung an das erschütternde Foto des toten geflüchteten Kindes an der Meeresküste. Ein vielschichtiger, assoziations­reicher Theaterabend.

� � SOMMERGÄSTE Schauspiel ab 7.2.2024 Nach Maxim Gorki in einer Überschreibung von Dietmar Dath Inszenierung: Stefan Pucher

Mit: Carina Braunschmidt Jan Bluthardt Fabian Dämmich Vera Flück Martin Hug Miriam Maertens Ueli Jäggi Annika Meier Julian Anatol Schneider Ursula Dolički Lukas Magnus Paulsteiner Hannes Francke / Ute Schall (Live Kamera)

Die Anspielungen reichen von Hieronymus Bosch über Chaplins „Der große Diktator“ – die berühmte Weltkugeljonglage wird nachgespielt – bis zur Erinnerung an das erschütternde Foto des toten geflüchteten Kindes an der Meeresküste. Theater der Zeit 2 / 2024

theater-basel.ch/ sommergaeste


Report Aachen

„Wir antworten auf alle Zuschriften“ So ein Überforderungstheater kann sehr reizvoll sein, wenn ein ästhetischer Bilderrausch entsteht. Doch das ist in der Kammer

des Aachener Theaters rein technisch nicht möglich. So wirkt die Inszenierung bemüht und anstrengend. Das scheint auch auf Shakespeares „Hamlet“ im großen Haus zuzutreffen, den ich selbst nicht gesehen habe. Regisseur Laurent Chétouane ist für sehr karge und rätselhafte Inszenierungen bekannt. Er lässt die Szenen ungekürzt spielen, ist allerdings bei weitem nicht fertig geworden. So endet die Aufführung nach dem Besuch der Schauspieltruppe, mit deren Hilfe Hamlet seinen Onkel als Mörder entlarven will. Bei einem großen Teil des Aachener Publikums löste das Unmut aus. „Wir antworten auf alle Zuschriften, die wir bekommen“, sagt Elena Tzavara. „Ich sage ganz offen, dass ich auch einen anderen, kompletten ‚Hamlet‘ erwartet hätte. Aber die Kunstfreiheit muss auch geschützt werden, und das Ensemble hat eine sehr starke Leistung erbracht.“ Die Intendantin ist ehrlich und gibt zu, wenn mal was danebengeht. Gleichzeitig hat sie mit „King Arthur“ und einigen anderen Aufführungen schon gezeigt, wohin der Weg des Theaters Aachen gehen soll. Als künstlerische Leiterin der Jungen Oper Stuttgart hat Elena Tzavara bewiesen, dass sie mit viel Experimentierlust neue Wege geht und dabei nie das Publikum aus dem Blick verliert. Mit ihrem selbstbewussten Charme und einem spannenden Programm wird sie das auch in Aachen schaffen. T

Foto links Annemone Taake, rechts Dorothée Thébert

Viele Perspektiven bietet auch die Uraufführung von Amir Gudarzis „Die Burg der Assassinen“. Da gibt es eine Figur namens „Ich, ein Anderer“, die vor zwei Sphinxen steht und versucht, ihre mehrdeutigen Rätsel zu lösen. Ich ist ein Geflüchteter, der von kleinen, mit Menschen gefüllten Booten in den Wassern des Todes erzählt. Marco Polo zieht durch die Welt, an einer Autobahnraststätte warten Sexarbeiterinnen auf Kundschaft, und auch Gestein kommt zu Wort, das sich über das Verhalten der Menschen beklagt. Wie oft in der zeitgenössischen Dramatik wird ein Text mit aktuellen Themen und Debatten auf- und überladen, sodass schnell der Kopf schwirrt und kaum Inhalt übrigbleibt. Regisseur Florian Fischer setzt auf die Überforderung noch ein paar Schichten drauf. „Ich, ein Anderer“ tritt erst in goldener Rüstung auf und wird dann zum Krankenpfleger. Das Ensemble trägt – nebenher großartig gemachte – Maskengesichter voller Falten und Runzeln, die etwas surreal wirken. Sie scheinen für ein überaltertes, dem Tode nahes Europa zu stehen, das sich an die letzten Reste seiner Macht klammert.

„Die Burg der Assassinen“ von Amir Gudarzi in der Regie von Floria Fischer. Auf dem Bild: Shehab Fatoum, Nola Friedrich, Elke Borkenstein und Mona Luana Schneider

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Lieber Kooperation statt Labels und Prestige Tobias Brenk setzt als neuer Künstlerischer Leiter der Kaserne Basel die integrative Tradition des Hauses fort Von Bettina Hägeli

Safi Martin Yé und Cédric Djedje in Szenen aus „Vielleicht“, von Cédric Djedje


Report Basel Der neue Künstlerische Leiter der Kaserne Basel, Tobias Brenk, ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Am renommierten Mehrspartenhaus der Schweizer Off-Szene war er bereits von 2008 bis 2018 tätig – als Dramaturg. Trotz mehrjähriger Unterbrechung hat er hier sogleich wieder Anschluss gefunden: „Zwischenzeitlich war ich für die in Zürich ansässige Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia tätig, blieb jedoch in Basel wohnen und habe die Kulturszene der Stadt stets verfolgt“, so Brenkim Gespräch. Die Arbeit als „Spezialist Globale Kontakte und Initiativen“ bei Pro Helvetia hat seinen Schaffensansatz weiter ausgeprägt. Brenk ist überzeugt, dass er in zwei Richtungen empathisch zu denken aufgefordert ist: „Als Institution gestalten wir die Bedingungen für Kunstschaffende, die sich für ein oftmals prekäres Le-

ben in der Off-Szene entschieden haben, und ich weiß zugleich um meine Aufgabe als Künstlerischer Leiter, die Neugier und die Begeisterung des Publikums zu wecken.“ Die Eröffnungsfeier der ersten Spielzeit unter seiner Leitung an der Kaserne Basel Mitte September prägte Jeremy Nedd mit „from rock to rock“. Über eine beachtliche Zeitspanne ließ der Basler Choreograf das Ensemble in einer Endlosschleife den bekannten Milly-Rock-Move tanzen und deckte damit die Ursprünge von Rhythmus auf. Der Eröffnungsmonat im vergangenen Herbst war dann insbesondere Brasilien gewidmet: In „Antigone im Amazonas“ reinszenierte Milo Rau den europäischen Stoff mit Aktivist:innen und Indigenen im Amazonasgebiet. Ailton Krenak – Denker, Umweltaktivist und eine der bedeutendsten Stimmen des indigenen Wissens – verkörperte Teireisas, den unfehlbaren blinden Propheten.

Tobias Brenks Interesse am Dialog zwischen Kulturen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er Ailton Krenak gebeten hatte, sich zum Verhältnis vom dehnbaren und einmal mehr viel diskutieren Begriff der Neutralität und der Schweiz als Firmensitz invasiver Unternehmen innerhalb des globalen Klima-Notstands zu äußern. Anschließend an die Auseinandersetzung mit der indigenen Weltsicht warf die Performance der Brasilianerin Renata Carvalho dann einen Blick auf eine zukünftige Gesellschaft ihres Landes: In „Manifesto Transpofágico“ diskutierte sie mit dem Publikum die Lebensmöglichkeiten von Transkörpern in Südamerika. „Die Bedürfnisse des Publikums verändern sich stetig“, betont Brenk. Die Kaserne Basel sei insofern schweizweit Pionierin in der darstellenden Kunstszene gewesen, als dass sie sich mit dem globalen Süden beschäftigte. Sein Vorgänger als Künstlerischer Leiter, der inzwischen pensionierte Sandro Lunin, hatte den alljährlichen Schwerpunkt „Kaserne Globâle“ lanciert. Als dessen Nachfolger setzt der 43-Jährige diese Tradition weiter fort, allerdings ohne Label: „Wir werden diese Weltoffenheit als Teil unseres Programms weiterführen, aber nicht speziell hervorheben.“ Das neue Format „Kaserne LAB“ heißt gemäß einem Bewerbungsverfahren fünf lokale Kunstschaffende willkommen, die während einem Jahr die Ressourcen der Kaserne nutzen und ihr Projekt realisieren – und mit der Absicht, dass ihre Förderung nicht an die Kaserne gebunden bleiben muss. Im neuen kHaus ­stehen internationalen Kunstschaffenden zudem drei Residenzwohnungen zur Verfügung. Dieses Angebot wird ohne Unterbruch genutzt und die Residenz-Showings erweisen sich als gut besucht.

„Super Night Shot“ von Gob Squad, eine Performance, die im Frühling präsentiert werden wird

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„Familienfreundlichkeit, Inklusion und Diversität sind für uns ein andauernder Lern- und Veränderungsprozess, auch innerhalb unseres Teams“, betont Tobias Brenk. Theater der Zeit 2 / 2024

Foto links David Baltzer, rechts Donata Ettlin

Das neue Format


Report Basel mehr miteinander kooperieren.“ Mit „CooProg“ teilen Gastspielhäuser überschneidende Interessen. Weitgereiste Künstlerinnen und Künstler erhalten dadurch die Möglichkeit, eine zusammenhängende Tour zu organisieren. Das hohe Niveau an der Kaserne darf und muss dennoch unterstrichen werden. Neben Alok Vaid-Menon, einer New Yorker Ikone der LGTB-Szene, gastierten etwa Nadia Beugré, GROUP50:50 und Radouan Mriziga. Im Dezember kam es zur Premiere von „Cold“ aus der Feder von Fatima Moumouni und Laurin Buser: „Es gibt wenig Performances, welche unseren Umgang mit der derzeitigen politischen Situation im Nahen Osten derart gut reflektieren“, lobt Brenk. Für den kommenden Frühling sind weitere Highlights geplant: Es werden das siebenköpfige, englisch-deutsche Kollektiv Gob Squad mit „Super Night Shot“ und der Genfer Theatermacher Cédric Djedje mit „Vielleicht“ nach Basel kommen. Und auch Phil Hayes und Jen Rosenblit warten im März mit „Deception“ auf. T Tobias Brenks, der neue Künstlerische Leiter der Kaserne Basel

„Es gelingt uns außerdem, viele Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Gehaltsklassen für unser Programm anzusprechen“, erläutert Brenk. Dafür wurde unter dem Motto „Zahl, was du kannst“ eine fortschrittliche Preispolitik promotet: Aufgrund dieser sind die Zuschauenden aufgefordert, eine Haltung dafür zu entwickeln, wie viel ihnen eine Aufführung wert ist und wie sich Kultur mit den eigenen Ressourcen unterstützen lässt. Das vielseitige Musikprogramm zieht sowohl Freunde von experimenteller als auch populärer Musik ebenso wie Jazz-Fans beim jährlichen Festival offbeat an. Ebenfalls weitergeführt wird der „feministische salon basel“, wo queer-feministische Themen diskutiert werden. Zudem ist an vier Sonntagen der Saison der Vorstellungsbeginn bereits auf 16 Uhr angesetzt, parallel dazu wird eine kostenlose Kinderbetreuung angeboten. „Familienfreundlichkeit, Inklusion und Diversität sind für uns ein andauernder Lern- und Veränderungsprozess, auch innerhalb unseres Teams“, betont Brenk. „Bei Neubesetzungen ermutigen wir besonders Menschen, die in den gesuchten Positionen unterrepräsentiert sind, sich zu bewerben. Das gelingt zwar nicht immer – aber wir sind davon überzeugt, dass wir mit einem vielfältigen Team bestimmte Dinge besser entscheiden können.“ Folgerichtig wird die anstehende Neube­ setzung der Geschäftsführung gemeinschaftlich erfolgen. „Mir ist vor allem Transparenz wichtig, nur so entstehen nachhaltige Arbeitsbedin­gungen.“

Die neue Plattform Auch mit der mitinitiierten Plattform „CooProg“ signalisiert die Kaserne Basel ein ökologisches Umdenken: „Es sollte nicht mehr darum gehen, sich mit Stars zu brüsten und Exklusivität zu verlangen. Vielmehr sollen die europäischen Theater und Festivals

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WIR TRAUERN 2023 UM AFGHANISTAN: 11. März Akmal Nazari, Journalismus-Student | 11. März Sayed Hussain Naderi, Journalist | 11. März Soheil Seddiqi, JournalismusStudent | ALBANIEN: 27. März Pal Kola, Medienmitarbeiter | BANGLADESCH: 9. Januar Ashiqul Islam, Journalist | 15. Juni Golam Rabbani Nadeem, Journalist | 20. September Mossamat Sahara, Fotojournalistin | CHINA: 17. November 2023 Lin Sun, unabhängiger Journalist | INDIEN: 6. Februar Shashikant Warishe, Print-Journalist | ISRAEL: 18. Oktober Roee Idan, Fotojournalist | KAMERUN: 22. Januar Martinez Zogo, Radiojournalist | 7. Mai Anye Nde Nsoh, Lokaljournalist | KOLUMBIEN: 10. Mai Luis Gabriel Pereira, Blogger | LESOTHO: 14. Mai Ralikonelo Joki, Medienmitarbeiter | LIBANON: 13. Oktober Issam Abdallah, Videojournalist | 21. November Farah Omar, Journalistin | 21. November Rabih al-Maamari, Kameramann | MALI: 7. November Abdul Aziz Djibrilla, Radiojournalist | MEXIKO: 11. Mai Gerardo Torres Rentería, TV-Journalist | 23. Mai Marco Aurelio Ramírez Hernandez, Journalist und Anwalt | 8. Juli Luis Martín Sánchez Iñíguez, Journalist | 15. Juli Nelson Matus Peña, Gründer und Herausgeber eines Nachrichtenportals | PALÄSTINENSISCHE GEBIETE: 7. Oktober Ibrahim Mohammad Lafi, Fotojournalist | 7. Oktober Mohammed al-Salihi, Fotojournalist | 7. Oktober Mohammad Jarghoun, Journalist | 10. Oktober Hischam al-Nawadschiha, Journalist | 10. Oktober Mohammed Subh, Fotojournalist | 10. Oktober Said al-Tawil, Journalist | 11. Oktober Mohammed Abu Matar, Fotojournalist | 22. Oktober Ruschdi Sarradsch, Journalist | 18. November Sari Mansur, Leiter einer Nachrichtenagentur | 18. November Hassuna Salim, Fotojournalist | 19. November Bilal Jadallah, Leiter einer Medien-NGO | 20. November Ayat Chadura, Podcastproduzentin | 21. November Assem al-Barsch, Radiojournalist | 1. Dezember Muntasir al-Sawaf, Kameramann | PARAGUAY: 14. Februar Alexánder Álvarez Ramirez, Radiojournalist | PHILIPPINEN: 31. Mai Cresencio Bunduquin, Radiojournalist | 5. November Juan Jumalon (a.k.a. DJ Johnny Walker), Radiojournalist | RUANDA: 18. Januar John Williams Ntwali, Journalist und Blogger | SOMALIA: 16. Oktober Abdifatah Moallim Nur, Fernsehjournalist | SUDAN: 10. Oktober Halima Idriss Salem, TV-Journalistin | SYRIEN: 23. August Nadschm al-Din Faisal, Medienmitarbeiter | UKRAINE: 26. April Bohdan Bitik, Journalist und Dolmetscher | 9. Mai Arman Soldin, Videojournalist | USA: 22. Februar Dylan Lyons, Fernsehreporter

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Eine Puppe packt aus Klaus Thaler Eine Puppe packt aus. Dokumentarroman Paperback mit 333 Seiten, Zahlreiche Abb. 22 € (Paperback) / 17,99 € (E-Book)

„Das ist deutsche Familien- und zugleich ­Einheitsgeschichte. Wann wurde die zuletzt derart entspannt und heiter aufgeblättert? So hintersinnig, so abgründig und so voller Überraschungen!” Deutschlandfunk Kultur

Zorro, Jonas & Mary Filou

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Funduspuppen der HfS Ernst Busch Berlin, 2023

Was war? Was ist? Was wird? Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Es ist Sommer 1972. Die Staatliche Schau­ spielschule Berlin bekommt erstmals Zu­ wachs. Der Studiengang Puppenspiel wird geboren: ein methodisches, kultur­politisches, vor allem aber künstlerisches Experiment. Im Zentrum dieses komplexen Unterfan­ gens steht seit nunmehr fünfzig Jahren die Beherrschung des Handwerks der Animation verschiedenster Materialien, Puppen und Objekte – und die Förderung einer eigenen künstlerischen Sprache. Nach dem Pilot­ projekt eines Zusatzstudiums ab 1970 unter Leitung von Annemarie Esper und Heinz Hell­ mich, die beide ihre Wurzeln im Schauspiel hatten, wurde 1972 mit Hartmut Lorenz, Ab­ solvent der Akademie der musischen Künste Prag, ein Fachmann mit dem Aufbau eines Curriculums für eine Fachrichtung Puppen­ spiel betraut. (...) Die Gründung eines Studiengangs für Pup­ penspielkunst ist zu diesem Zeit­ punkt an einer Schauspielschule im deutschsprachi­ gen Raum einmalig und bleibt es auch im ersten Jahrzehnt. Der künstlerische Impuls einer Handvoll Studierender und Lehrender des Studiengangs Schauspiel führte zur Be­ fürwortung von offizieller Seite, die offenbar einen Bedarf erkannte. Ein Glücksfall.

Ein maßgeblicher Anstoß für die Wertschät­ zung des Puppenspiels und damit für die Gründung einer solchen Ausbildungsstätte in der DDR war sicherlich die Tournee von Sergei Obraszow 1950 / 51, der mit seiner Kunst die Säle zwischen Rostock und Dres­ den füllte. Sein artistisches Können inspirier­ te die Theaterszene und erschien zugleich als zitierfähiger Referenzpunkt für die Relevanz dieser Kunstform in der noch jungen Repub­ lik. Die entstehenden kommunalen Puppen­ theater und Puppensparten an den Theater­ häusern verlangten nach professionellem Nachwuchs. Dem sollte mit der Einrichtung der Fachrichtung entsprochen werden. Eine Ironie der Geschichte ist, dass der russische Ausnahmekünstler und Puppen­ spieler Obraszow einer akademischen Aus­ bildung auf diesem Gebiet zeitlebens eher skeptisch gegenüberstand. (…) Aus dem Prolog des Herausgebers Jörg Lehmann Puppe50. Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Herausgegeben von Jörg Lehmann 200 Seiten, 20 € (Paperback oder E-Book)

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Fotos unten links Peter Wawerzinek, oben Mitte Magdalena Roth, Jonathan Gentilhomme, rechts unten Gigler & Masmann, Skizze Annegret Wieck

Wolf Biermanns Sohn erzählt seine packen­ de Familiengeschichte Klaus Thaler, und der schrieb sie aus der Sicht einer Puppe auf. Ich bin eine Puppe, my name is Zorro der Bär. Mein schicksalhaftes Buch lebt von der Vermischung aus absurdem Puppenspiel mit realer Geschichte. Kommt mit auf meinem Flug durch die Ost-Berliner Boheme vor dem Mauerfall! Gleich landen wir im Utopia 1990, direkt auf dem Tacheles mit Eimern voller Niemandsland. Der rote Faden rock‘n‘rollt sich vor- und rückwärts auf. Er entpuppt Bier­ manns „Treuehand“ und entknotet Freygangs „Firma“. Ich finde eine Spur ins Barocke, er­ zähle von der legendären Hanswurst-Ver­ treibung der „Neuberin“ und höre vom ge­ meinen Rammstein. Ein Märchenbilderbuch deutsch-deutscher Aufklärung von Lessing bis Corona. Klappe zu und Vorhang auf!


Das Flüchtige gestalten

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem Verlagsarchiv mit mehr als 9000 Texten. Ab 5,99 € / Monat, inkl. E-Paper-Download – tdz.de Jetzt 30 Tage für 1 € testen.

DAS FLÜCHTIGE GESTALTEN 30 Jahre Bayerische Theaterakademie August Everding 200 Seiten mit zahlr. Abb. 20 € (Paperback) / 16,99 € (E-Book)

Der vorliegende Band bildet den Auftakt ei­ ner Publikationsreihe der Bayerischen Thea­ terakademie August Everding in München. Anlässlich ihres dreißigjährigen Jubiläums thematisiert er die komplexe Geschichte und Gegenwart einer der großen Ausbildungs­ stätten für Bühnenberufe im deutschsprachi­ gen Raum. 1993 im historischen Münchner Prinzregententheater als Lehr- und Lernthea­ ter gegründet, beruht die Theaterakademie auf einem einmaligen Kooperationsmodell mit den Münchner Hochschulen und den Bayerischen Staatstheatern. Bis heute wird sie von der Idee getragen, die Darstellenden Künste im laufenden Theaterbetrieb auszubil­ den und so Theorie und Praxis in einzigartiger Weise zu verschränken. Was bedeutet der Begriff Akademie für uns und wie tauglich ist er für die Gegenwart? Das Buch dokumentiert zum einen die Ent­ stehung und den Wandel der Ausbildung vor dem Hintergrund einer Institutions- und Wis­ sensgeschichte der Darstellenden Künste. (…) Aus dem Vorwort der Herausgeberin Barbara Gronau

NEWSLETTER-UPDATES Mit unserem Newsletter informieren wir unmittelbar über unsere Neuerscheinun­ gen und Verlagsaktivitäten. Schlussszene aus „Die Lohndrücker“ am DT 1988 mit Dieter Montag, Michael Gwisdek und Hermann Beyer

„Mir liegt viel daran, daß meine Stücke auch bei uns in der DDR gespielt werden.“

(Heiner Müller)

Die Durchsetzung der Theatertexte von Heiner Müller und der ihnen immanenten Theaterästhetik auf den Bühnen Ost-Berlins ist eine bisher ungeschriebene Geschichte kollektiver schauspielerischer Selbstbestim­ mung. Eine erschöpfende Erzählung über die Theaterarbeit Müllers in der DDR um­ schließt drei Zeiträume: Die Zeit des Schrei­ bens und der ersten öffentlichen Resonanz der Texte, die Perioden des öffentlichen Ver­ schweigens und der offiziellen Verbote und die Zeit der endlichen theatralischen Reali­ sierung. In diesem »Müllerschen Wirkungs­ zyklus« spiegeln sich wesentliche Etappen der politischen und ökonomischen Entwick­ lung der DDR in ihrer Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit wider. (…) Auszug aus dem Einleitungstext von Thomas Wieck Recherchen 169 Thomas Wieck Wir waren die Müller-Spieler Hermann Beyer, Michael Gwisdek, Dieter Montag über die Kunst des Schauspielens in der DDR, 426 Seiten, 28 € (Paperback oder E-Book)

Theater der Zeit 2 / 2024

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Bücher in Vorbereitung 40 Jahre Kampnagel Thomas Oberender: Gaia-Theater Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies Learning for the Future. Zukunfts­ konferenz für die Darstellenden Künste Theater Willy Praml 40 Jahre Theaterlabor Bielefeld 15 Jahre Intendanz Katja Ott am Theater Erlangen Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater TdZ Spezial: All Abled Arts. Notizen zu Inklusion an einem Stadttheater

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Magazin Bücher

Plaudereien mit Biss Der Theatertotalingenieur Jürgen Flimm erzählt „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ Von Stefan Keim

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Genervt kam das Publikum aus der Vorpremi­ ere. Und Jürgen Flimm ging die Düse. Wenn dieses aufwändige Stück kein Erfolg würde, drohte dem Thalia Theater ein Millionen­ defizit. Kurz vor der Premiere des Musicals „The Black Rider“ von Tom Waits, William S. Burroughs und Robert Wilson wurden noch zwei Songs geschrieben. Die Spannung stieg, das Publikum saß im Saal. Und als die Türen schon geschlossen werden sollten, war Flimm im Foyer. Junge Leute riefen nach ihm, fragten, ob sie nicht irgendwie noch rein könnten, sie seien Fans von Tom Waits. „Ihr geht jetzt rein“, sagte der Thalia-Intendant, „und hockt euch auf die Treppen oder sonst wo, und wenn ihr nicht sofort einen enormen Radau macht, ziehe ich euch einzeln an den Ohren wieder raus.“ Die Jugend gehorchte, der „Black Rider“ wurde ein Welterfolg. Dass der im Februar 2023 verstorbene Intendant und Regisseur Jürgen Flimm voller Anekdoten steckte, wusste jeder, der ihn kannte. In seinen Er­ innerungen öffnet er die Schleusen, erzählt, räsoniert, lobt und liebt Weggefährten, findet auch kritische Worte. Die Struktur ist chro­ nologisch. Von der Kindheit, dem Puppen­ theater als seinem ersten Ensemble, geht es über die Stationen München, Köln, Hamburg, Bayreuth, Salzburg, das Ruhrgebiet nach ­ Berlin, quer durch fünfzig Jahre Theaterge­ schichte. Innerhalb der Kapitel springt Flimm mal in die Zukunft, dann wieder zurück, lässt seinen Gedanken freien Lauf. Dabei setzt er voraus, dass seine Leser:innen die bekann­ ten Namen der Theaterszene drauf haben. Sonst wäre Flimm wohl nie auf dreihundert­ fünfzig Seiten fertig geworden. Auch so lässt er sich für die meisten Be­ gegnungen höchstens ein paar Seiten Platz. Die Dirigenten Daniel Barenboim und Niko­ laus Harnoncourt, die Architekten Norman Foster und Frank Gehry, das Who’s Who an Opern- und Schauspielstars schaut in die­ sem Buch vorbei. Besonders interessant sind die von Flimm skizzierten Projekte, die aus unterschiedlichen Gründen nie zustande ge­ kommen sind. Radikal subjektiv beschreibt er die Treffen und Diskussionen. Flimm ana­ lysiert nicht, stellt keine großen Zusammen­ hänge her. Die Stärke seines Buches liegt in der Vitalität. Das Theaterschaffen ist ein ständiger Kampf gegen das Chaos. Wid­ rige Umstände fordern alle Beteiligten bis zum Äußersten. Und danach ist der Triumph ­besonders groß oder der Frust besonders bitter. Doch meistens kommt doch noch der

Funke, der das Feuerwerk entzündet – wie beim „Black Rider“. Sehr kritische Worte findet Jürgen Flimm über die Salzburger Festspiele. Sei­ ne Entscheidung, nach der Ruhrtriennale 2006 als Intendant an die Salzach zu wech­ seln, bezeichnet er als „Fehler, der größte in meiner langen Laufbahn“. Flimm erzählt von Intrigen und Missgunst, davon, dass seine Lieblingsprojekte nicht unterstützt, sondern hinterrücks torpediert wurden. Und nennt seinen Nachfolger Markus Hinterhäuser ein „Chamäleon“, einen „Ober-Strippenzieher“, und muss sich sehr zu einem versöhnlichen Fazit durchringen: „Letztlich war es doch eine lange und gute Zeit mit Freundinnen und Freunden.“ Auch sich selbst gegenüber ist Jürgen Flimm immer wieder kritisch. Er beschreibt seinen Hang zum Jähzorn, der ihn auch als Intendant der Staatsoper Unter den Linden nicht verlässt. Aber auch die Fähigkeit, sich zu entschuldigen. Wer ihn erlebt hat, erkennt ihn wieder, den jovialen Plauderer, in dessen Geschichten sich plötzlich Abgründe auf­ taten. Flimm konnte überraschend schwer­ mütig sein, er war verletzlicher als es bei so einem mächtigen Intendanten den Anschein hatte. Das spiegelt sich in seinen unterhalt­ samen und auch manchmal kantigen Erinne­ rungen, deren Titel „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ eine Bach-Kantate zitiert. T Jürgen Flimm: Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024, 352 S., € 26

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Theater der Zeit 2 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 2 / 2024 Heike Albrecht, Kuratorin, Berlin Otto Paul Burkhardt, Kritiker, Stuttgart Tiziano Cruz, Journalist, Jujuy, Argentinien Jens Fischer, Kulturjournalist, Bremen Ilona Goyeneche, Kulturjournalistin, Mexiko-City Bettina Hägeli, Journalistin, Basel Federico Irazábal, Journalist, Buenos Aires Soledad Lagos, Theaterwissenschaftlerin, Santiago de Chile Mai-An Nguyen, Theaterpädagogin, Berlin Frithjof Rave, Student, Autor und Theaterschaffender, Leipzig Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Köln Sophie-Margarete Schuster, Studentin und Autorin, Berlin Holger Teschke, Dramaturg und Schriftsteller, Berlin Luz Emilia Aguilar Zinser, Kulturjournalistin, Mexiko-City

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.01.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau 3/ 2024 Vorschau Arbeitsbuch

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Judith Rinklebe, Kulturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin von POSSI ZINE für (post)ostdeutsches Empowerment.

Foto Petra Coddington

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2024 Schwerpunkt: Was galt gestern als schön und ist es heute nicht mehr? Und was wird morgen als schön empfunden werden, das viele ­ heute abstößt? Zum Umgang mit einem schwierigen Phänomen ein Schwerpunkt über die Veränderlichkeit des Schönen im Theater.

Theater der Zeit 2 / 2024

Serie Post-Ost: Die Kulturwissenschaftlerin Judith Rinklebe, Mit­ herausgeberin des POSSI ZINE für (post)ostdeutsches Empower­ ment, beschäftigt sich in ihrem Beitrag unter anderem damit, wie den Nachwendegeborenen ihre ostdeutsche Sozialisierung häufig von der älteren Generation abgesprochen wird.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Thomas Irmer

Sie haben dem deutschsprachigen Theater einen Bühnenklassiker gegeben. Zwar hat Ariane Mnouchkine schon zwei Jahre vor Ihrer Verfilmung von „Mephisto“ (1981) eine erste Bühnenadaption vorgestellt, aber viele Bearbeitungen des Romans von Klaus Mann sind vor allem durch Ihren Film inspiriert und in immer wieder neuen Versionen inszeniert worden. IS: Davon weiß ich gar nichts. Sollten Teile des Drehbuchs direkt verwendet worden sein, müsste ich das wissen. Sie meinen, der Film hat die Theaterleute inspiriert?

diese Geschichte nur eine ungarische Dorfgeschichte, aber er sagte: „Das ist wie bei uns.“ Dann waren wir mit dem Film in Locarno bei den Filmfestspielen, und die Leute sagten, das könne genauso auch in der Schweiz spielen.

Ja, die einzelnen Adaptionen lassen sich gar nicht mehr so leicht zählen. Wahrscheinlich sind es an die vierzig Inszenierungen bis heute. Die Karriere des Schauspielers Hendrik Höfgen auf dem Gipfel des Ruhms im Dritten Reich fasziniert zum Thema Geist und Macht bis heute. IS: Solche Charaktere gibt es überall. Das interessiert auch in Polen oder in Ungarn und anderswo. Es hängt davon ab, unter welchen Umständen ihre besondere Begabung durch die Macht benutzt werden kann. Es müssen gar keine Schauspieler sein, sondern es kann sich auch um völlig andere Berufe handeln.

Wie schauen Sie denn auf das heutige Ungarn? IS: Das ist Politik. Ich bin Filmemacher, ich erzähle Geschichten.

Wie haben Sie Klaus Maria Brandauer für die Rolle des Hendrik Höfgen damals entdeckt? IS: Ich habe Brandauer in Wien am Burgtheater als „Tartuffe“ gesehen und ging hinterher zu ihm in die Garderobe, um ihm einen Kameratest für die Rolle vorzuschlagen. Er kannte den Roman und sagte: „Wir können die Probeaufnahme gern machen – aber das ist meine Rolle!“ Natürlich hatten wir auch andere Schauspieler damals probeweise im Auge, aber der Klaus Brandauer war so fabelhaft! István Szabó, geboren 1938 in Buda­ pest, debütierte 1962 mit dem Kurzfilm „Koncert“. 1982 erhielt er für die KlausMann-Verfilmung „Mephisto“ (mit Klaus Maria Brandauer und Rolf Hoppe) den Oscar als bester nichtenglischsprachi­ ger Film. Sein Film „Abschlussbericht“ („Final Report“) mit Brandauer in der Hauptrolle kam 2020 kurz vor den Corona-Einschränkungen in die unga­ rischen Kinos und wurde anschließend auf Festivals gezeigt. Szabó inszenierte auch Opern in Paris, Wien, Leipzig, Budapest und Kassel.

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Jetzt haben Sie nach dreißig Jahren wieder einen Film mit ihm gemacht. Aber nun ist Brandauer kein schillernd-charismatischer Held wie in „Mephisto“, „Hanussen“ und „Oberst Redl“, sondern ein Kardiologe, der aus Budapest in sein kleines Dorf zurückkehrt, um dort als Allgemeinarzt die Praxis zu erhalten. IS: Jahrelang haben wir darüber gesprochen, wie schön es wäre, noch einen Film zusammen zu machen. Dann hatte ich dieses Drehbuch für „Abschlussbericht“ und gab es ihm zu lesen. Ich dachte, vielleicht ist

Ist das auch ein Film über die heutigen Verhältnisse in Ungarn? IS: Ja, natürlich, aber nicht nur. Wie gehen Menschen miteinander um? Worin besteht die Qualität ihrer Beziehungen untereinander?

Verfolgen Sie, was die jüngere Generation in Ihrem Land macht? IS: Da gibt es eine Menge Leute, die haben Mut, Energie und Kraft. Wie auch die in der Freien Theaterszene. Ich beobachte bei ihnen eine große Tempoveränderung: alles schneller, kürzer, dichter. Und sie müssen dabei mit viel weniger Mitteln auskommen. Andererseits ist die Technik billiger geworden. IS: Das ist nicht der Punkt. Sie können heute einen Film praktisch für null drehen, zwei Telefone reichen ja schon, da haben wir zwei Kameras. Es gibt zwei Arten von Filmemachern: Die einen erzählen eine Geschichte, weil sie unbedingt einen Film machen wollen. Und die anderen machen einen Film, weil sie unbedingt diese eine Geschichte erzählen wollen. Ich hänge natürlich dieser zweiten Gruppe an, und es gibt viele junge Leute, die haben etwas zu erzählen. Sie müssen es erzählen. Jetzt geben Sie einen Teil Ihrer Drehbücher in das Archiv der Akademie der Künste in Berlin. IS: Die auf Deutsch oder Englisch geschriebenen. Was könnte man da jetzt noch zu „Mephisto“ lesen? IS: Ausgerechnet zu „Mephisto“ im Moment noch nichts. Das ist jetzt noch gar nicht dabei, denn das Originaldrehbuch muss erst noch restauriert werden. Es kommt später dazu. T

Theater der Zeit 2 / 2024

Foto picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Was macht das Theater, István Szabó?


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Foto: Holger Herschel

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Was wäre Sachsen ohne uns! Die Sächsischen Theater und Orchester im Deutschen Bühnenverein


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