Theater der Zeit – 03/2020

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Fokus Russland: Sylvia Sasse im Interview, Essay Gunnar Decker, das Karussell-Festival in Hellerau Burgtheater Wien / Nuran David Calis über die Türkei / Tabubruch Thüringen / Gespräch: Slavoj Žižek

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

März 2020 • Heft Nr. 3

Russian Underdogs

Victoria Lomasko und Kirill Serebrennikov


DER SOHN (UA)

 URAUFFÜHRUNG von Oliver Bukowski — Gewinner des Stücke-Wettbewerbs „Lausitzen 2019“ — 28.3.2020 

 Regie: Manuel Soubeyrand


statt eines editorials

S

eit sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich am 5. Feb­ruar mit den Stimmen der CDU und AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen hat wählen lassen, ist viel passiert. Von „Dammbruch“, „Tabubruch“ und „unverzeihlichem Fehler“ war die Rede. Nach nur wenigen Tagen trat er von seinem Amt zurück. 1989 als Unternehmensberater in den Osten gekom­ men, hatte Kemmerich ein DDR-Kombinat in eine Friseurkette umgewandelt, deren Anteile inzwi­ schen profitabel an der Börse gehandelt werden. Zugleich gelten die Arbeits­ bedingungen selbst für dieses Gewerbe als ausgesprochen schlecht (ein Schelm, wer zwischen den Profiten und der Schinderei ­ ­einen Zusammenhang vermu­ tet). Bun­des­weite Be­ kanntheit erlangte er als einer der ent­ schie­dens­ten Geg­ ner des mick­ rigen Min­dest­lohns, den er als fatal für die Wirtschaft (also sei­ ne Gewinne) ver­teu­ felte. Eine hübsche Geschichte über Ost und West, Privati­ sierung und Markt­ wirtschaft. Und über von Jakob politische Öko­no­mie. Gerade einmal 25 Prozent der FDP-Wähler in Thüringen würden ­einer Umfrage von ARD-Deutschlandtrend zufolge die Zusam­ menarbeit mit der AfD prinzipiell ausschließen. Bei der wirt­ schafts- und sozialpolitischen Nähe ist das kein Wunder. Dass es der AfD unter Björn Höcke in Thüringen gelungen ist, sich an die Spitze einer Bewegung gegen eine vermeintliche rot-rot-grüne Wieder­belebung der DDR zu setzen, und das unter dem Ideo­ logem der „bürgerlichen Mitte“, muss zweifelsohne als großer strategischer Erfolg der Rechten betrachtet werden. Dass es aller­ dings vorher einen Damm oder ein Tabu gegeben hätte, ist ein Phan­ tasma. Schon 2014 standen auf dem Erfurter Domplatz Konser­ vative, L ­iberale, Bürgerrechtler aus DDR-Zeiten und Faschisten, um g ­ ­emeinsam gegen die Regierung von Bodo Ramelow zu protestieren – einer der wichtigen Auftritte zur ­ ­Eta­blierung der AfD in O ­ stdeutschland. Am 9. November 2014 kam es – historisch sen­sibel – zu einem Fackelmarsch, angemel­ det von einem CDUler. Das gemeinsame Feindbild? Kommunis­ ten, Sozia­listen, Vaterlandsverräter. Die Linkspartei wird als SEDoder Stasi-Partei verunglimpft. Grotesk ist das unter anderem, weil 1990 die CDU in Sachen Stasi-Spitzel weit vor der PDS lag. Hans-Georg Maaßen, der Frontmann der Werteunion ge­ nannten AfDler in den Unionsparteien, skizzierte die Strategie:

„Haupt­sache, die Sozialisten sind weg.“ Das ist nicht nur ein Kommentar zu den Geschehnissen vom 5. Februar, sondern fasst das Programm des politischen Konservatismus in Ost­ deutschland in einem Satz zusammen – die Macht haben und die Linke verteufeln. Und so fragen sich Teile der CDU und FDP im Osten durchaus, was in Anbetracht dessen noch gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD spricht. Verhindert wurde eine solche in Thüringen nur durch den Druck der Bundes­parteien, deren Linie zu befolgen sich die ostdeutschen Landesverbände immer weniger Mühe geben – nicht einmal dem An­ schein nach. Die Un­einigkeit ist weniger Folge einer ­auf­­rechten antifaschistischen Gesinnung als vielmehr ent­ge­gen­ge­ setz­ter bundespoliti­ scher Machtambi­ tionen. Gegen die Linke herrscht un­ gebrochen Einig­ keit. Der DDR wird in Deutschland nie ver­ziehen, nach Mas­ senmord und Welt­­ krieg wenigstens den Aufbau einer bes­ seren Gesellschaft versucht zu haben. Hayner Tausende Kommunisten wurden in Lagern ermordet, später ihre Partei verboten. Gleichzeitig kamen Alt-Nazis in Amt und Würden. Und nun will man selbst gemäßigte christ­ liche Gewerkschafter wie Ramelow einfach „weg“ haben. Eine Zusammenarbeit mit Faschisten und solchen, die sie in ihren eigenen Reihen dulden oder unterstützen, gehört sich nicht. Doch es geht nicht nur um Anstand und Moral. Der Neo­ liberalismus ist die gemeinsame Grundlage des bürgerlichen ­Lagers. Faschisten wie Höcke können das zudem mit dem SexAppeal der Pseudorevolte und der unbeschränkten Herrschaft ver­ binden. Das wird sie auch künftig attraktiv machen. Die Brutalisierung des bürgerlichen Lagers rührt aus dem Selbst­ ­ widerspruch der Gesellschaft selbst, der nun auch die CDU zer­ reißt: Der bourgeois, der ökonomische Bürger, hat den cityoen, den Staatsbürger, im Würgegriff. Profit und Gewalt gehen Hand in Hand. Das zu benennen und letztlich auch zu beenden, wäre Auf­ gabe einer Linken. Und Kemmerich? Der hatte angekündigt, sein Minister­präsidentengehalt – immerhin fast 100 000 Euro – nicht etwa an die Gewerkschaft der Friseure zu spenden, s­ ondern an die AfD-nahe Vereinigung der Opfer des Stalinismus. Seit Mai 1945 ist es in Deutschland ein Evergreen, über linke Gewalt zu klagen. Doch nun wird wieder zugeschlagen. Der Rückschritt schreitet ­voran. //

Der Rückschritt schreitet voran

Über die gesellschaftlichen

Voraussetzungen der Ereignisse um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen – ein Kommentar


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Inhalt März 2020

thema russland

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Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren Kirill Serebrennikov über seine Inszenierung von Boccaccios „Decamerone“ und die vielsagende Lücke zwischen den Worten im Gespräch mit Tom Mustroph

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Gunnar Decker Slawophil oder europäisch? Russland zwischen Osten und Westen

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Michael Bartsch Terra incognita? Das Karussell-Festival im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden zeigte vielfältige Positionen zeitgenössischer russischer Kunst

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Neue Allianzen Den Westen und Russland gibt es nicht mehr – Die Slawistin Sylvia Sasse über den neuen russischen Autoritarismus und die Auswirkungen auf die Kunst im Gespräch mit Jakob Hayner

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kommentar

1

Jakob Hayner Der Rückschritt schreitet voran Über die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Ereignisse um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen – ein Kommentar

künstlerinsert

4

Wandbild von Victoria Lomasko

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Russian Underdogs Die russische Künstlerin Victoria Lomasko zeichnet die Marginalisierten und Engagierten. Ein Gespräch über Kunstaktivismus, Zensur und ihre Arbeiten mit Anja Nioduschewski

protagonisten

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Howgh, ich habe gesprochen! Der Philosoph Slavoy Žižek über sein Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ im Gespräch mit dem Regisseur Felix Ensslin

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Sascha Westphal Drei Mal Tod Žižeks „Die drei Leben der Antigone“ in der Regie von Felix Ensslin

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Christoph Leibold High Noon In seiner ersten Spielzeit als Intendant des Burgtheaters Wien wettert Martin Kušej gegen Populisten, Elfriede Jelinek beklagt die FPÖ und der Chor unfaire Arbeitsbedingungen

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Nuran David Calis Nicht schweigen Reflexionen über die deutsch-türkischen Narrative

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Theresa Schütz Verkommene Landschaft Recherchematerial Das Schauspiel Leipzig blickt in drei Stücken auf Geschichte, Wandel und Zukunft von Tagebaugebieten in Sachsen

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aktuelle inszenierung


inhalt

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look out

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Theresa Luise Gindlstrasser Kinder unserer Zeit Der Wiener Regisseur Franz-Xaver Mayr sucht den optimalen Probenprozess – als Voraussetzung für politisches Handeln

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Jakob Hayner Abseits des Bekannten Die Berliner Regisseurin Friederike Hirz schafft mit ihren choreografischen Arbeiten neue Bilderwelten

tdz-extra theater der welt 2020

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Ist mein Mikro an? Kurator Stefan Schmidtke über das Festival Theater der Welt 2020 in Düsseldorf im Gespräch mit Martin Krumbholz

auftritt

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Bochum „Iwanow“ von Anton Tschechow in der Regie von Johan Simons (Jakob Hayner) Bonn „Apeiron“ (UA) von Anja Hilling in der Regie von Ludger Engels (Martin Krumbholz) Dresden „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (UA) von Manja Präkels in einer Fassung und der Regie von Nils Zapfe (Johanna Lemke) Frankfurt „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz in der Regie von Jan Bosse (Christoph Leibold) Köln „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ nach Carl Sternheim in der Regie von Frank Castorf (Sascha Westphal) Mannheim „Bataillon“ (UA) von Enis Maci in der Regie von Marie Bues (Elisabeth Maier) Mülheim an der Ruhr „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ nach „Il sopravvissuto“ von Antonio Scurati, mit Texten von Platon, Cees Nooteboom und Georges I. Gurdjieff in der Regie von Simone Derai (Sascha Westphal) München „Am Wiesnrand“ (UA) von Stefanie Sargnagel in der Regie von Christina Tscharyiski (Christoph Leibold) Nürnberg „Andi Europäer“ (UA) von Philipp Löhle in der Regie von Tina Lanik (Christoph Leibold) Saarbrücken „1 Yottabyte Leben“ (UA) von Olivia Wenzel in der Regie von Matthias Mühlschlegel (Reingart Sauppe)

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Die Architektur der Macht und die Ausgeschlossenen Der Dramatiker Thomas Freyer über sein Stück „letztes Licht. Territorium“ im Gespräch mit Jakob Hayner

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Thomas Freyer letztes Licht. Territorium

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Magische Theaterbilder gegen die Gewalt Beim iberoamerikanischen Theaterfestival ¡Adelante! am Theater Heidelberg werden vor allem die sozialen und politischen Brandherde Lateinamerikas sichtbar Ist Theater ein Gemeingut? Die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Gent diskutierte den Umbau der Institution Stadttheater als Commons Geschichten vom Herrn H. Männergift und Schniedelkritik Drama­turgie in Jahrhundertbögen In Gedenken an den herausragenden Dramaturgen und Publizisten Alexander Weigel Empfindsames Ohr Ein Ade an die Übersetzerin Monika The Immer wieder Shakespeare Dem Übersetzer, Publizisten und Dramaturgen Maik Hamburger zum Gedenken Bücher Annette Leo, Jacques Rancière, Tamina Kutscher / Friederike Meltendorf

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Meldungen

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Premieren im März 2020

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TdZ on Tour in Berlin und Düsseldorf

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Peter Luppa im Gespräch mit Thomas Irmer

46

stück

magazin 74

aktuell

was macht das theater?

Titelfoto: Zeichnung von Victoria Lomasko zu einer Demonstration anlässlich des Jahrestags der Oktoberrevolution am 7. November 2012 mit der Textzeile: Jeden Morgen betete ich zu Gott, dass der Regen mein Transparent nicht ruiniert.

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Wandbild von Victoria Lomasko für das Festival für zeitgenössische Positionen russischer Kunst Karussell im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden. Fotos Peter R. Fiebig / Klaus Gigga




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Russian Underdogs Die russische Künstlerin Victoria Lomasko zeichnet die Marginalisierten und Engagierten. Ein Gespräch über Kunstaktivismus, Zensur und ihre Arbeiten mit Anja Nioduschewski

V

ictoria Lomasko, Sie sind eine der bekanntesten grafischen Künstlerinnen Russlands, vor allem weil Sie die Gerichtsprozesse gegen die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot (2012) wie auch gegen die Ausstellungsmacher von „Verbotene Kunst“ (2006) kritisch ­dokumentiert haben. Auch die Sujets Ihrer grafischen Reportagen über den Alltag in der russischen Provinz, über Arbeitssklavinnen in Moskau, Sexarbeiterinnen in Nischni Nowgorod, über LGBTQoder Bürgerrechtsbewegungen legen nahe, Sie als eine ebensolche Aktivistin zu bezeichnen. Dennoch verwahren Sie sich davor? Meine politische Agenda ist ungefähr die gleiche wie die von Pussy Riot und anderen unabhängig denkenden Menschen aus dem Kul­ turbereich. Wir wollen die Machtverhältnisse verändern, wir wol­ len, dass die Kirche nicht mehr ideologisches Rückgrat der Politik ist, dass Zensur auf ein vernünftiges Minimum reduziert wird und die Gerichte sich der Gerechtigkeit annehmen, anstatt dem Regime zu dienen. Wir wollen keine hässliche Wiederherstellung des Sow­ jetregimes in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts. Fraglich sind aber dennoch Zuschreibungen wie „Kunstaktivist“. Meiner Meinung nach wurde der Begriff erfunden, um Stipendien für so­ zial orientierte Kunst vergeben zu können. Es hat immer Künstler gegeben, die politische und soziale Themen in ihre A ­ rbeit einbe­ zogen haben. Käthe Kollwitz schrieb in ihren Tage­büchern und Briefen immer wieder, dass ihre Kunst dennoch breiter aufgestellt sei, als es das Etikett „proletarischer Künstler“ fassen könnte. Es interessiert mich nicht, mit politischen Karikaturen gegen das Re­ gime zu kämpfen, aber es interessiert mich, eine tiefgründige Kunst zu schaffen, die soziale Themen einschließt.

Ihre Arbeiten wurden größtenteils im westlichen Ausland ver­ öffentlicht. Auf Deutsch erschien Ihre Gerichtsreportage „Verbo­ tene Kunst“ sowie eine umfangreiche Anthologie Ihrer Arbeiten unter dem Titel „Die Unsichtbaren und die Zornigen“. Sie stellen international aus, in Russland gab es für Sie bisher kaum eine Möglichkeit dafür. Warum? Einzig „Verbotene Kunst“ wurde als Buch in russischer Sprache ­herausgegeben. Kunst einer breiteren Öffentlichkeit in Russland zugänglich zu machen, ist Aufgabe von Kuratoren, Galeristen, Mu­ seumsleuten und Kritikern. Künstler haben kaum Möglichkeiten dazu. Wir können unsere Arbeit nur in sozialen Netzwerken veröf­ fentlichen, was ich natürlich tue. Meine jüngsten Arbeiten wurden auch auf www.colta.ru veröffentlicht, der letzten verbliebenen pro­ fessionellen russischen Kultur-Website. In den letzten Jahren wurden in Russland viele absurde Gesetze verabschiedet, die die Zensur betreffen. Aber selbst in demokrati­ scheren Zeiten hatte die zeitgenössische Kunst kein breites Publi­ kum. Sie wird hauptsächlich von Intellektuellen wahrgenommen, der liberalen Mitte aus Moskau und Sankt Petersburg. Bei den Leu­ ten auf dem Land enden die Kenntnisse mit dem Impressionismus. Sie zeichnen bewusst die Marginalisierten Russlands, einfache Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet werden. Was ist schwieriger: als Künstlerin Zugang zu diesen Menschen zu bekommen – oder ihnen Ihre Kunst nahezubringen? Als ich die Reportagen zeichnete, die in dem Buch „Other Russias“ („Die Unsichtbaren und die Zornigen“) versammelt sind, war ich ungefähr genauso marginal wie meine Figuren. Um mich der ­grafischen Sozialreportage zu widmen, habe ich die kommerzielle Illustration aufgegeben und aufgehört, Verbindungen zur zeit­ genössischen Kunstszene zu unterhalten. Das Material für das Buch wurde etwa acht Jahre lang gesammelt, und oft war es eine Zeit der Armut und mangelnder Unterstützung. Am Anfang ­waren die Helden der Reportagen auch meine Hauptleser. Im Gegensatz zu Joe Sacco mit seinen politischen Comic-Reportagen wie „Palästina“ zeichnen Sie Ihre Reportagen nicht in fortlaufenden Bildern und Texten, eher in paradigmatischen Einzelbildern. Wollen Sie keine Geschichten erzählen? Joe Sacco ist mein Lieblingsjournalist. Er gestaltete das Cover von „Other Russias“ – und später haben wir uns persönlich kennengelernt. Aber Joe ist Comiczeichner und ich bin zeitgenössische Künstlerin. Es langweilt mich, nur im Buchgeschäft zu arbeiten. Ich habe meine Pra­ xis mehrmals geändert: Ich habe als kommerzielle Illustratorin begon­ nen, mich dann im Multimediabereich versucht, viel im grafischen Journalismus experimentiert und mich in den letzten Jahren mit mo­ numentaler Wandmalerei beschäftigt. Dennoch bin ich immer noch eine Geschichtenerzählerin. Sogar meine Wandbilder erzählen Ge­ schichten. Bei der Einzelausstellung „Separated World“ in London zum Beispiel waren alle Wände der Galerie Edel Assanti mit monu­ mentalen Malereien und meinen Gedichten bedeckt – Wände als rie­ sige bedruckte Buchseiten. Alle Bilder verband eine Geschichte: die der Abenteuer des letzten sowjetischen Künstlers. Sie haben 2010 bis 2014 mit Hilfe einer NGO Jugendlichen in einer Strafanstalt Zeichenunterricht gegeben. Heute stehen alle so-


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victoria lomasko

zial engagierten Personen unter dem Verdacht, feindliche „Agenten“ des Westens zu sein. In einem Interview sagten Sie, dass auch bei Ihnen durchaus Selbstzensur einsetzt. Was bedeutet das? Im heutigen Russland muss sich jeder Kulturschaffende entschei­ den, ob er vor allem im Land oder im Ausland arbeitet. Diejenigen, die im Inland arbeiten, müssen mit einem solchen Maß an Zen­ sur rechnen, sodass sie allmählich anfangen, sich selbst zu zensie­ ren. Oder sie verlieren die Möglichkeit, mit ihrem Beruf ihren Lebensunterhalt zu verdienen, erleben Strafverfolgungen. Meist endet das in der Emigration – im Exil. Ich möchte keine Zensur in meiner Kunst zulassen. Ich will auch kein politischer Flüchtling werden. Deshalb finden fast alle meine Ausstellungen im Ausland statt, obwohl ich weiterhin mit aktuellen russischen Themen ar­ beite. Natürlich bringt diese Entscheidung Nachteile mit sich, aber ich kann mir keine bessere Variante vorstellen. Im Rahmen des Festivals für zeitgenössische russische Kunst Karussell im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in ­ ­Dresden haben Sie im Januar ein großes Wandbild geschaffen. Bildmotive waren auch Inszenierungen und Protagonisten des Festivals. In Vorbereitung saßen Sie in Moskau im Theater und haben die von dort eingeladenen Inszenierungen live gezeichnet. Im dunklen Zuschauerraum? In Moskau habe ich „Der Mann aus Podolsk“ am teatr.doc und „Buddhas kleiner Finger“ am Theater Praktika gesehen. Bei den Aufführungen wurde ich in die erste Reihe platziert, sodass von der Bühne genug Licht zum Zeichnen vorhanden war. Dort habe ich ein halbes Album gezeichnet. Für das Wandbild habe ich schließ­ lich Szenen aus „Buddhas kleiner Finger“ ausgewählt, weil sie in visueller Hinsicht symbolhafter und deshalb interessanter waren. Das Wandbild zeigt zudem feministische Aktivistinnen, Musiker, dunkel-existentialistische Zitate der Schriftsteller Georgi Iwanow und Viktor Pelewin. Alles in Ruinen. Eine pessimistische Erzählung? Das Wandgemälde wäre deprimierend, wenn es eine neue unein­ nehmbare Berliner Mauer ohne jedes Lebenszeichen um sie ­herum darstellen würde. Aber die heutigen russischen Machtha­ ber wollen nur einige Fragmente des Sowjetregimes wiederauf­ bauen – was an den Versuch erinnert, die Ruinen weiter einzurei­ ßen, statt sie wieder zu errichten. Die Ruinen sind voller Lücken, in denen wie Wildpflanzen neue Generationen heranwachsen, die nichts mit dem Sowjetregime zu tun haben. In dieser Arbeit ­begrüße ich das Leben – alles, was jung, neu, stark ist, zum ­Underground zählt. Wie immer habe ich dokumentarisches Mate­ rial verwendet, insbesondere das Bild der Aktion „Silent Rallye“ der Dichterin und Aktivistin Daria Serenko, die über ein Jahr lang mit handgeschriebenen Plakaten in der Moskauer Metro fuhr und die Fahrgäste in einen Dialog verwickelte. Das war nicht Ihre erste Begegnung mit Theater. 2013 waren Sie bei Milo Raus „Die Moskauer Prozesse“ als Gerichtszeichnerin dabei. Er verhandelte dort unter anderem auch den Prozess gegen die Ausstellung „Verbotene Kunst“ neu. Was war für Sie die größere Inszenierung? Der reale Prozess 2006 mit falschen Zeugen, Interventionen orthodoxer Gläubiger und Performances protestierender Künstler? Oder Milo Raus Versuch einer künstlerischen Revision?

Victoria Lomasko wurde 1978 in Serpuchow geboren. Nach einem ­Grafikdesignstudium an der Staatlichen Universität für Druckwesen in Moskau arbeitete sie als Grafikerin für Magazine und Zeitungen. Seit 2008 entwickelte sie als freiberufliche Künstlerin das Genre der gra­ fischen Reportage, die sich stark mit sozialen Themen auseinandersetzt. Aktuell widmet Lomasko sich der Wandmalerei. International bekannt wurde sie durch Gerichtszeichnungen der Prozesse gegen die Kuratoren der Ausstellung „Verbotene Kunst 2006“ (Matthes & Seitz, 2013) sowie gegen Pussy Riot 2012. Viele ihrer Arbeiten sind inter­ national in Einzel- und ­Sammelausstellungen zu sehen. Eine Anthologie ihrer bisherigen ­Arbeiten ­erschien auf Deutsch unter dem Titel „Die Unsichtbaren und die ­Zornigen“ (Diaphanes, 2018). 2010 wurde sie für den K ­ andinski-Preis nominiert. Foto Klaus Gigga

Jedes Gerichtsverfahren ist wie Theater. Und die politischen Pro­ zesse in Russland werden von denen, die dabei waren, als wahr­ haftig absurdes Theater beschrieben. Das Strafverfahren gegen die Organisatoren von „Verbotene Kunst“ wurde von orthodox-­ nationalistischen Aktivisten der Bewegung Volkskirche initiiert. In meinem Buch skizziere ich einen Moment, in dem sie Spick­ zettel an die Zeugen der Anklage austeilen – sie verteilen quasi Texte an Schauspieler. Diese Zeugen sahen so aus und redeten so, als seien sie auf magische Weise dem vorrevolutionären Russland entsprungen. Mehrere Aktionen protestierender Künstler im Ge­ richtsgebäude verliehen dem Prozess Wahnsinn und Theatralik. Ich konnte kaum zeichnerisch festhalten, was da vor sich ging. Aber „Die Moskauer Prozesse“ von Milo Rau erwiesen sich als nicht weniger interessant. Er brachte heftige politische Gegner in einem Raum zusammen, und er gab der Verteidigung das Wort, deren Argumente vom eigentlichen Gericht ständig abge­ lehnt worden waren. Auch die russischen Behörden versuchten, die Aufführung unvergesslich zu machen: Plötzlich kamen die Mit­arbeiter des FMS, der russischen Migrationsbehörde, zu einer Vorstellung und wollten die Visa aller anwesenden Ausländer überprüfen, allen voran von Milo Rau selbst. Eine Kosakentruppe versuchte ins Sacharow-Zentrum einzudringen, wo die Aufführung stattfand – mehrere von ihnen durften als Zuschauer in den Saal. // Aus dem Russischen von Anja Nioduschewski und Erik Zielke.

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In Zeiten, in denen wieder Mauern errichtet werden, sind wir die Verrückten, xxdie Brücken bauen, sagt der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, dessen neueste Inszenierung „Decamerone“ im März am Deutschen Theater in Berlin Premiere feiern wird. Wir n­ ehmen diese russisch-deutsche Zusammenarbeit zum Anlass, um auf die Verwerfungen und Verflechtungen zwischen Ost und West zu schauen. Ein Schwerpunkt mit einem Essay von Gunnar Decker, einem Interview mit der Slawistin Sylvia Sasse, einem ­Bericht vom Karussell-Festival in Dresden und einem Gespräch mit Kirill Serebrennikov. Im Künstlerinsert auf den Seiten 4 bis 9 stellen wir die Künstlerin Victoria L­ omasko vor.


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russland

Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren Kirill Serebrennikov über seine Inszenierung von Boccaccios „Decamerone“ und die vielsagende Lücke zwischen den Worten im Gespräch ­ mit Tom Mustroph Kirill Serebrennikov, in Moskau ein Regie­ star und zugleich vom russischen Staat wegen angeblichen Subventionsbetrugs mit einem langjährigen Gerichtsprozess belegt, erkundet in seiner neuesten Inszenierung, Giovanni Boccaccios „Decamerone“, mit einem Ensemble aus Darstellerinnen und Darstellern des Deutschen Theaters in Ber­ lin und des Gogol Centers in Moskau die Kraft und die Macht der Liebe. Tom Mus­ troph traf den Regisseur bei den Proben in Moskau. Zu den End­proben in Berlin darf Serebrennikov aufgrund des laufenden ­Verfahrens nicht reisen. Er wird, wie bei früheren Produktionen auch, aus der Ferne per Videoaufzeichnungen inszenieren. Ein ­Gespräch über Freiheit, Barrieren und die viel­sagende Lücke zwischen den Worten.

K

irill Serebrennikov, was bedeutet Liebe für Sie? Das ist eine gute Frage. Ich würde ­sagen Spannung, vor allem Spannung. Liebe ist wie ein Blitz, ein Feuer – elektrisierend, aber auch zerstörerisch. Freiheit bedeutet es auch? Ja, aber Freiheit ist noch größer, noch umfassender als die Liebe. Liebe ist schwer greifbar, wie eine Atmosphäre, etwas, das in der

Der Mensch im Mahlstrom der Weltkatastrophen – Die Heiner-MüllerHommage „Ma­chine Müller“ (Moskau 2016) von Kirill Serebrennikov (oben). Fotos Ira Polyarnaya

Luft liegt. Sie entzieht sich den Erklä­ rungen, ist mit Worten nicht begreifbar. Deshalb arbeitet die Menschheit – vor al­ lem die Kunst – seit Jahrhunderten dar­ an, einen Ausdruck für etwas zu finden, was letztlich unfassbar bleibt. Giovanni Boccaccio hat das in seinem „Decamerone“ sehr umfassend versucht. Die Rahmenhandlung erzählt von zehn jungen Frauen und Männern, die im Jahr 1348 vor der Pest aus Florenz flüchten und sich auf einem Landsitz vor den Toren der Stadt einquartieren. Dort vertreiben sie sich das Warten, indem sie sich zehn Tage lang jeweils zehn Geschichten erzählen, vorrangig Liebes­ geschichten. Was hat Sie an dem Buch ursprünglich gereizt? Und haben sich Ihre Interessensschwerpunkte im Laufe der Zeit – die Produktion hat ja schon einen längeren Vorlauf – verlagert? Ja, das stimmt, die Produktion war schon vor ein paar Jahren geplant. „­Decamerone“ ist ein Buch der Liebe. Es ist aber auch voll von Gewalt – als die andere Dimension der Leidenschaft zwischen Mann und Frau. Es geht in ihm sehr konkret um das, was sich in den Körpern abspielt: Ich finde in den Novellen viel Herzklopfen, Blutdruck, Atem, unterschiedliche Gerüche, auch viel Testosteron und Adrenalin. Ich liebe diese konkrete und lebendige Sinnlich­ keit des Werks. Es ist in jeder Hinsicht gegen Puritanismus, gegen Obskurantismus geschrieben. Es ist voller Freiheit. Und im sel­ ben Moment handelt es von Menschen, die hinter Mauern in ei­ nem Schloss festsitzen und warten, bis die Pest vorbei ist. Oder der Krieg zu Ende ist – oder was auch immer sie tödlich bedroht. In der Zwischenzeit verbringen sie ihre Zeit damit, einander Ge­ schichten zu erzählen, allesamt Überlebensgeschichten. Und das ist genau das, was wir tun.

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thema

Die ursprüngliche Rahmenhandlung kommt in Ihrer Version nicht vor. Sie haben aus den einhundert Novellen, die der „Decamerone“ umfasst, zehn ausgewählt und diese auf die Gegenwart hin umgeschrieben … Es ist ein Traum für Erwachsene. Mir geht es beispielsweise um ein wieder sehr physisches Thema: das Altern. Um den vergäng­ lichen, verletzlichen Körper. Natürlich steht im Zentrum die Be­ ziehung zwischen den Geschlechtern. Aber ich wollte sie modern für unsere heutige Zeit erzählen, in der auch Geschlechterrollen neu interpretiert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Boccaccio erzählt im „Decamerone“ eine Geschichte von zwei Männern. Der eine will die Frau des anderen verführen. Die Frau allerdings ist zum Schweigen verdammt, weil ihr Ehemann sie beobachtet. Wir haben die Rollen getauscht und zwei rivalisierende Frauen daraus gemacht und das stumme Objekt der Begierde ist der Mann. In den Proben ging es immer wieder um die Kraft der L­iebe, die alle Hindernisse hinwegfegt … Ja, die Kraft der Liebe macht uns verrückt, irre, blind … Zugleich tauchen bei den einzelnen Geschichten Hindernisse und Ängste auf. Es geht um Macht und wird letztendlich politisch, oder? Es geht vor allem um Spannungen, Spannungen zwischen den Geschlechtern, Spannungen zwischen den Menschen. Theater ist reden, reden, reden. Mich aber interessiert das, was zwischen den Worten steckt. Mich interessiert das Unsagbare, das Unsichtbare. Sie haben ursprünglich Physik studiert. Wie kamen Sie überhaupt zum Theater? Ich wuchs an einem Ort auf, an dem Theater und Kunst keine Rolle spielten. Es gab nicht einmal eine Oper in meiner Heimat­ stadt Rostow am Don. Meine Familie hatte auch nichts mit Thea­ ter oder Kunst zu tun. Aber ich wollte Filme machen. In Rostow gab es dazu keine Möglichkeit. Also ging ich nach Moskau, wo ich aber zunächst nur im Theater arbeiten konnte. Die Chance, Filme zu machen, kam erst später. Meine Eltern, meine Mutter ist leider schon verstorben, haben nie ein Stück von mir gesehen und auch keinen meiner Filme. Ist von Ihrem Physikstudium noch etwas übrig geblieben, was man jetzt in Ihren Filmen oder Theaterinszenierungen wieder­ finden könnte? Puh, ich hab jetzt sogar Schwierigkeiten zu zählen. Damals aber habe ich die Schule mit Schwerpunkt Mathematik mit einer Gold­ medaille beendet, die Uni mit einem „roten Diplom“. Ich habe das Physikstudium mit Auszeichnung abgeschlossen und meine ehe­ maligen Kommilitonen stecken nun im Silicon Valley. (lacht) Würden Sie dort gerne sein – im schönen Kalifornien? Nein, definitiv nicht. Wie wichtig ist die Koproduktion mit dem Deutschen Theater in Berlin für das Gogol Center in Moskau? Für uns, und ich denke auch für die deutschen Kolleginnen und Kollegen, ist das Projekt ein komplett neuer und ein wichtiger

Zwischen politischem Widerstand und barocker Festkultur – „Barocco“ (Moskau 2018, hier mit Olga Naumenko) inszenierte Kirill Serebren­ni­ kov in Zusammenarbeit mit Evgeny Kulagin aus dem Hausarrest heraus; auch die Kostüme stammen von ihm. Foto Ira Polyarnaya

Schritt. Es durchbricht Mauern. Diese Zusammenarbeit zeigt, dass es keine Grenzen zwischen Künstlern gibt. Theater ist eine universelle Sprache und kann eine gute Brücke zwischen unter­ schiedlichen Ländern und Kulturen sein. Das war schon immer so. Auch jetzt, wo gerade wieder Mauern errichtet werden, sind wir die Verrückten, die versuchen mit Kunst Brücken zu bauen. Die Produktion ist zwei, ja sogar dreisprachig. Auf der Bühne wird Deutsch und Russisch gesprochen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verständigen sich untereinander auf Englisch. Wie komplex und kompliziert ist diese Arbeit? Und hat sie möglicherweise auch Vorteile? Mir ist es wichtig zu zeigen, dass die Sprache kein Problem sein muss. Es wird oft behauptet, sie sei eine Barriere. Aber heutzuta­ ge, im 21. Jahrhundert, haben wir zum einen ganz andere Mög­ lichkeiten, Informationen weiterzugeben. Wir können mit unter­ schiedlichen Tools oder Mehrsprachigkeit arbeiten und uns gegenseitig verstehen, ohne Hilfe, oder fast ohne Hilfe. Zum an­ deren ist gutes Theater sowieso ein Theater, das ohne Übersetzer verständlich ist. Weil wir ohnehin in einer Welt leben, die viel visueller geworden ist? Ja, wir nehmen alles mit den Augen auf. Stellt die Mehrsprachigkeit nun ein neues Mittel dar, das Sie sich bewusst ausgesucht haben, um eben Grenzen zu überwinden, um


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zu zeigen, was möglich ist, oder ist sie ganz simpel aus der Koproduktion zwischen den Partnern aus Berlin und Moskau entstanden? Es ist beides. Ich will den Schauspielern auch vermitteln, dass es möglich ist, in einer fremden Sprache zu spielen. Sie fragen zu­ nächst: Wie soll das gehen? Werden die Leute mich überhaupt verstehen? Ich möchte ihnen diese Angst nehmen, zeigen, was alles möglich ist. Ich selbst verstehe etwas Deutsch, nicht viel, aber ein bisschen. Wenn ich Regine Zimmermann beim Spielen zusehe, scheint es mir aber, als würde ich alles verstehen. Sie spielt so, dass es unmittelbar bei mir ankommt. In der Inszenierung machen auch fünf Laien mit, fünf ältere Frauen, auf den Proben nennen Sie sie die Babuschkas, auf Deutsch: Großmütter. Was verkörpern diese Spielerinnen für Sie? Die erste Idee für das Projekt war, zehn berühmte deutsche Schau­ spielerinnen und Schauspieler zwischen siebzig und achtzig Jah­ ren zu finden, die reale Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Junge Spielerinnen und Spieler sollten ihre Geschichten dann verkörpern. Aber leider hatte ich nicht die Möglichkeit, das Kon­ zept in dieser Form zu realisieren. So nahm ich Boccaccios ­„De­camerone“ und entschied mich, das Stück für unsere Zeit neu zu schreiben. Die Babuschkas sind quasi das, was von der ersten Idee übriggeblieben ist. Wie haben Sie die Spielerinnen gefunden? Sie sind Sängerinnen eines bekannten Veteranenchores. In Berlin werden aber andere Frauen an der Inszenierung teilnehmen.

russland

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, 1969 in Rostow am Don geboren, inszenierte bereits während seines Physikstudiums an Thea­tern seiner Heimatstadt. 2012 übernahm er die Leitung des Gogol Centers in Moskau, einer der wenigen alternativen Spielstätten Russlands. Immer wieder führt er auch im Film Regie („Der die Zeichen liest“, 2016, und „Leto“, 2018). Mit „Machine Müller“ und „Kafka“ gastierte er 2018 am Deutschen Theater in Berlin. 2018 wurde Sere­brennikov mit dem Titel Kommandeur des Ordens der Künste und Bücher Frankreichs geehrt. Seine neueste Regiearbeit „Decamerone“ hat am 8. März am Deutschen Theater in Berlin Premiere. „Outside“ ist im März beim FIND Festival an der Berliner Schau­ bühne zu Gast, „Barocco“ Anfang April am Thalia Theater Hamburg.

Wer Sie näher kennt, sagt gern, dass Sie ein besonderes Talent dafür haben, Menschen zu begeistern, anzustecken und sie in ihrem künstlerischen Können auf ein neues Niveau zu bringen. Würden Sie diese Fähigkeit auch als Ihr größtes Talent bezeichnen? Ich sehe das nicht als besonderes Talent oder Gabe. Es ist ganz einfach Teil meines Berufs. Es ist mein Job, eine kreative Atmo­ sphäre herzustellen und Leute dazu zu bringen, etwas Neues, et­ was Anderes auszuprobieren, etwas, was sie im gewöhnlichen Leben nicht tun würden. Theater ist ein Ort, an dem das Unsicht­ bare sichtbar wird. Es ist meine Aufgabe, an dieser Sichtbarkeit zu arbeiten, indem ich das Unsichtbare zum Gegenstand mache. // Aus dem Englischen von Tom Mustroph.

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Slawophil oder europäisch? Russland zwischen Osten und Westen von Gunnar Decker

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ass die Deutschen die Russen gelegentlich auf eine arrogan­ te Weise übersehen haben, wenn es um ihren Beitrag zur Aufklä­ rung geht (auch jener romantischen über die Grenzen von Aufklärung!), ist nicht neu. László F. Földényi hat in seinem Essay „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ an­ hand einer prägnanten Szene durchgespielt, wie der Osten immer erwartungsvoll nach Westen schaute, der Westen aber eher selten mit gleicher Erwartung zurück. Fjodor Dostojewski wurde 1849 wegen seiner Nähe zum Kreis der Sozialrevolutionäre um Michail Petraschewski zum Tode verurteilt. In diesem Kreis vereinigten sich die Ideen der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit denen des utopi­ schen Sozialismus, des deutschen Idealismus sowie mit sozial­ kritischen Positionen von Publizisten wie W. G. Belinski und ­Alexander Herzen. Aber auch slawophil-romantische Autoren wie Alexander Puschkin, Nikolai Gogol und Michail Lermontow spiel­ ten hierbei eine Rolle. Das politische Hauptziel dieses Reform­ kreises war die Abschaffung der Leibeigenschaft und eine Alpha­ betisierung des Volkes. Doch diese Aktivitäten wurden – im Zusammenhang mit den bürgerlichen Revolutionsbewegungen

in ganz Europa von 1848 – als Angriff auf die Ordnung im Zaren­ reich verfolgt. Am 22. Dezember 1849 führt man Dostojewski zur Hin­ richtung, legt ihm das weiße Totenhemd an und lässt das Erschie­ ßungskommando aufmarschieren. Das Todesurteil wird verlesen, die Gewehre angelegt – und dann zur Einstellung der Exekution getrommelt. Zar Nikolaus I. begnadigt die zum Tode Verurteilten zur Zwangsarbeit in Sibirien. Dostojewski ist also nicht exekutiert worden – aber lebt er noch? Vier Jahre lang muss er eine fünf Kilo schwere Eisenkette um den Fuß tragen. In seinen „Aufzeichnun­ gen aus einem Totenhaus“ wird er den Schrecken der Verbannung beschreiben. Zu den westlichen Aufklärungsidealen, die nicht ver­ schwinden, nur verblassen, treten nun auch immer stärker slawo­ phile Ideen – wie die russische „Obschtschina“ (die traditionelle Dorfgemeinschaft), die Frage nach Gott, aber auch die erfahrene Todesangst, Sinnlosigkeitsgefühle und der übermächtige Schmerz seiner Existenz. Da es ihm – als immerhin nicht unbekannten Schriftsteller, der 1846 bereits „Arme Leute“ veröffentlicht hatte – gelingt, sich in Semipalatinsk (hier vegetieren damals über 150 000 Verbannte) Wo sich Zeiten und Kunstrichtungen überlagern – Das Musiktheater „Prosa“ von Vladimir Rannev beim Karussell-Festival im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden. Foto Olympia Orlova


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mit dem örtlichen Staatsanwalt Alexander J. Wrangel anzufreun­ den, erhält er die Erlaubnis, sich Bücher nach Sibirien schicken zu lassen. Vor allem auch deutsche! Er abonniert die Augsburger ­All­gemeine Zeitung, denn das Leben der Deutschen interessiert ihn ebenso wie das der Russen. Nicht zufällig war sein zentrales Bil­ dungserlebnis die Lektüre von Schillers „Die Räuber“ gewesen. Franz und Karl Moor inspirieren ihn zu „Die Brüder Karamasow“. Dem „Westler“ Iwan stehen seine Brüder Dimitri (der russische Triebmensch) und Aljoscha (der fromme Russe) entgegen, ebenso eine illegitime Kreatur, Smerdjakow, ein ehrloser Intrigant und Mörder. Frank Castorf, der 2015 „Die Brüder Karamasow“ an der Berliner Volksbühne inszenierte, erkennt im Typus Smerdjakow die russischen Revolutionäre Lenin und Stalin, die ihre deutschen Theorie-Götter Marx und Engels in eine schmutzige Praxis über­ setzten. Hier nun setzt Földényis Versuchsanordnung an. Er stellt sich vor, wie Dostojewski Hegels „Vorlesungen über die Philoso­ phie der Weltgeschichte“ studiert – und hierbei auf eine Weise erschrickt, als stünde er nochmals vor den Gewehren des Erschie­ ßungskommandos. Denn die Weltgegend seiner größten Pein, Sibirien, existiert für Hegel gar nicht! Er fertigt sie aus der Welt­ geistperspektive ab: „Zuerst ist die nördliche Abdachung, Sibirien, auszuschalten. Sie liegt für uns jenseits der Betrachtung. Die gan­ ze Beschaffenheit des Landes ist nicht derart, dass es ein Schau­ platz geschichtlicher Kultur wäre und eine eigentümliche Gestalt in der Weltgeschichte hätte bilden können.“ Földényi lässt Dosto­ jewski bei seiner Hegel-Lektüre das Gefühl völliger Verlorenheit überkommen, die Verzweiflung darüber, dass „man dort in Euro­ pa, für dessen Ideen er zum Tode verurteilt … worden war, seinem Leiden keinerlei Bedeutung beimaß“. Ist das Leid eines sterbenden Kindes mit den Kategorien der Vernunft erfassbar? Das sind die Fragen, die sich Dostojewski nun stellt – und er findet sie weder bei Schiller noch bei Hegel einer Erörterung für würdig gehalten. Aber auch, dass Gott solcherart Schmerz zulassen könnte, erscheint ihm unwahrscheinlich. So also wächst das paradoxe Weltgefühl in ihm, der kreisende Dis­ kurs über die Unzulänglichkeiten des östlichen wie des west­ lichen Geistes, der ihn schließlich zu einem „Slawophilen auf Widerruf“ macht.

Glaube und Skepsis, Gefühl und Intellekt In Russland stehen sich bis heute die Traditionslinien der Westler und der Slawophilen gegenüber. Als Westler gilt der Rationalist, in gewissem Maße auch der Pragmatiker. Aber was ist ein Slawophi­ ler? Der Symbolist Andrej Belyj hat 1908 in „Adam“ eine Definiti­ on gegeben und diese zugleich wieder persifliert: „‚Mit dem Ver­ stand ist Russland nicht zu erfassen: Es hat ein besonderes Erscheinungsbild, an Russland kann man nur glauben‘, dachte er. ‚Die Slawophilen haben recht …‘ Sie tranken Tee, aus dem Neben­ zimmer jedoch erklangen Frauenstimmen: ‚Gehen bei Euch auch die Perlhühner ein?‘ – ‚Sie gehen ein.‘ – ‚Aaach.‘ Und Schweigen senkte sich herab.“ Also ist alle Rede von der „russischen Seele“ am Ende bloß eine dekadente Attitüde? Nein, denn es gibt Binde­ glieder zwischen Pan-Slawismus und revolutionärer Ideologie, sogar auf dichterisch hohem Niveau wie bei Alexander Blok.

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Sein Poem „Die Zwölf“ tritt 1918 mit schwerem Pathos auf: „Revo­ lutionäre, marschiert vereint! / Es schläft nicht der rastlose Feind!“ Und so schießen sich die zwölf Rotarmisten wie die Italo-WesternSchurken in Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ den Weg frei, bis auch sie eine Kugel trifft? „Die zwölf Männer marschieren eilig. / Die Zwölf ohne Mitleid und Leid.“ Das alles zur Musik von Ennio Morricone? Nein, die zwölf sind eben auch jene Jünger, die soeben noch mit Jesus beim letzten Abendmahl gesessen haben. Aber nun ­haben sie eine andere Mission, jene historische vom Sieg des Pro­ letariats, jedoch im Namen des Gekreuzigten. Das merkwürdige Poem endet: „Und voll Sanftheit jeder Schritt, / Schreitet Jesus Christus mit.“ Der erste sowjetische Volkskommissar für Bildung, Anatoli W. Lunatscharski (der die Avantgarde schützte, bis ihn ­Stalin 1929 als „rechten Abweichler“ absetzte), meinte, Blok habe mit seiner „prophetischen Gabe“ Dostojewski wohl am nächsten gestanden. Stimmt das? Dostojewski vereinigt in sich immer ­beides: Glaube und Skepsis, Gefühl und Intellekt, er verweigert sich jeder Prophetenrolle. Der Widerspruch, den Dostojewski in sich austrägt, ist der Russlands, das sich über beide Kontinente erstreckt: Asien und Europa. Im „Tagebuch eines Schriftstellers“ heißt es: „Ich habe in vieler Hinsicht slawophile Überzeugungen, obschon ich vielleicht nicht vollends Slawophiler bin.“ Der Vorbehalt gegen die groß­ russische Idee, die sich im Pan-Slawismus verbirgt (die Einheit der slawischen Völker unter Führung Russlands) ist jederzeit spürbar, schließlich lebt er jahrelang in Baden-Baden und Dres­ den. Aber ohne alle Illusionen über den westlichen Rationalis­ mus. Während seines Dresdner Aufenthalts 1869 bis 1871 schreibt er die „Dämonen“, seine Abrechnung mit den Parteigeistern. Nicht vergessen werden sollte, dass auch Wladimir Putin als KGBResident in der Perestroika-Zeit von 1985 bis 1990 in Dresden ­lebte. Welche Einsichten er von hier mit zurück nach Russland nahm, wüsste man gern. Für die Slawophilen stehen Namen wie Wladimir Solowjow, Pawel Florenski oder Nikolai Berdjajew. Diese (Religions-)Philoso­ phen nehmen nationale und religiöse Wurzeln, das „Starzentum“ der orthodoxen Kirche etwa, überaus ernst. Das Schlüsselwort für die Slawophilen ist „Sobornost“, eine Gemeinschaft, die den Ein­ zelnen als „Biene im Schwarm“ begreift. Wider den westlichen Individualismus! Autoren wie Iwan Turgenjew oder Anton Tsche­ chow reagieren darauf allergisch, weil sie darin die Verhinderung von Autonomie in einem Gefolgschaftsideal erblicken, das die ­Unmündigkeit festschreibt. Wenn der Slawist Fritz Mierau seine Erinnerungen „Mein russisches Jahrhundert“ nennt, besagt das, dass die Geschichte der DDR immer nur in Bezug auf die Geschichte der Sowjetunion zu verstehen ist, gerade auch die der Kunst. Einschneidend etwa das „Formalismus“-Verdikt von Andreij Schdanow Anfang der fünfziger Jahre, das moderne Kunst quasi unter Verbot stellte. Aber natürlich war die Oktoberrevolution 1917 selbst auch ein Resultat von avantgardistischen Strömungen wie Futurismus ­ oder Symbolismus, die sich in der Kunst der zwanziger Jahre etwa bei Wladimir Majakowski, Anatoli Marienhof, Michail Bulgakow oder El Lissitzky zeigten. Wsewolod Meyerholds Avantgarde-Thea­ ter konkurrierte mit dem traditionalistischen Theater Konstantin

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Zwischen Geburtswehen und Untergang der Sowjet­ union – „Tschapajew und Pustota“ nach Viktor Pelevins Kultroman „Buddhas kleiner Finger“, von Maxim Didenko am Theater Praktika in Moskau inszeniert, zu sehen beim Karussell-Festival in Hellerau. Foto Daria Trofymova

Stanislawskis – und wurde von Stalin liquidiert, eben weil es eine Form der Freigeistigkeit war. Auch im Ausland sahen sich die Russen dop­ pelt vertreten: als Abgesandte der neuen Sowjetmacht oder aber als russische Exilanten, von denen in den zwanziger Jahren rund 300 000 (!) in Berlin lebten, sodass man Charlottenburg nur noch Charlottengrad nannte. Nachzulesen in der Dokumentation „Russen in Berlin“, die Fritz Mierau herausgab. Natürlich kam es zu fruchtbaren Verbindungen westlicher und öst­ licher Geistesströmungen. Bereits 1911 formulierte der Philosoph Wassili Rosanow die innere Zerrissenheit des Russen im Exil. Er würde sich in seinem Westler­ tum von den russischen Zuständen losreißen und suchte „in einem hypothetischen Westen Bedingungen und Mög­ lichkeiten für ein so hohes Register seiner russischen Gefühle“, für das ihm in seinem Vaterland das Gefängnis drohe.

Die Mittellage? Die Erwartungen an den Westen also bleiben verschieden. Boris Pasternak (Sohn des Malers Leonid Pasternak) und Autor des auch in der DDR verbotenen „Doktor Schiwago“ studierte in Marburg bei dem Neukantianer Hermann Cohen; Wassily Kandinsky ge­ hörte zu den wichtigsten Vertretern des Blauen Reiters und prägte das Bauhaus mit, Marc Chagall träumte seinen russischen Traum in Frankreich, der Dichter Iwan Bunin hörte ganz auf zu träumen. Zahlreiche russische Intellektuelle und Künstler wurden 1922 mit sogenannten „Philosophenschiffen“ gen Westen abgeschoben, was Lenin als Alternative zum Erschießen vorgeschlagen hatte. Später kamen Dissidenten hinzu wie Lew Kopelew oder Alexander Solschenizyn, dessen „Archipel Gulag“ in der Sowjetunion wie in der DDR verboten war. Die Schicksale von Marina Zwetajewa, Anna Achmatowa oder Ossip Mandelstam standen bereits im ­Zeichen des Stalinismus, der blindwütig verfolgte und mordete. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland kamen mit den M ­ ilitärs (eine halbe Million Sowjetsoldaten waren in der DDR ­stationiert) auch die Sowjet-Strukturen, Theorien, die Bücher, die Filme und ­Theaterstücke. „Die russische Frage“ hieß ein Stück von Konstatin Simonow, das 1947 im Deutschen Theater in Berlin gespielt wurde. Da herrscht bereits wieder Kalter Krieg, das Bild vom Russen – nur zwei Jahre nach dem gemeinsamen Sieg von Westen und Osten über Hitler – gleicht schon fast wieder dem, das der Stürmer zeichnete: mit dem Messer zwischen den Zähnen, der Barbar, der uns über­fallen will. Simonow lässt einen amerikanischen Reporter durch die ­zerstörte Sowjetunion reisen und ihn konstatieren: Krieg wollen die jedenfalls nicht. Eine Botschaft jedoch, die in Amerika keiner hören will, denn sie könnte den Rüstungsboom bremsen.

In der DDR las man die Bücher der Russen von Lew Tolstoi bis zu den Science-Fiction-Werken von Arkadi und Boris Strugazki („Picknick am Wegesrand“) anders als im Westen. Die Filme von André Tarkowski, Tengis Abuladse oder Elem Klimow, ebenso wie die Theaterstücke von Michail Schatrow von „Blaue Pferde auf r­otem Gras“ bis „Diktatur des Gewissens“ – sie verhandelten auch unsere Themen. Die von Sinn und Unsinn der Revolution, die Frage, was aus der Utopie des Kommunismus unter den ­Bedingungen von Diktatur und Bürokratie geworden war. Kein brennendes Thema für den Westen. Schatrows wichtiges Dialog-Stück über die Zeugen der ­Revolution von Lenin, Georgi Plechanow, Alexander Kerenski, Stalin, Trotzki bis Bucharin und Rosa Luxemburg „Weiter, weiter, weiter“ blieb in der DDR verboten – weil hier Lenin vor ein Tribu­ nal gebracht wurde. Aber warum las, sah, hörte und dachte man in der DDR anders über die Russen als im Westen? Vor allem wohl, weil die DDR der westlichste Vorposten des sowjetischen Imperi­ ums war, ein Vasallen-Staat gewiss, aber aus den gleichen theore­ tischen und ideologischen Quellen gespeist. Das ging nicht ohne Verwerfungen vonstatten – aber irgendwie gehörte man nach und nach dazu. Heinrich Mann hielt 1927 in Deutschland und Frankreich den Vortrag „Ein geistiges Locarno“ über eine europäische Frie­ densordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Darin ging es um die Möglichkeiten der Mittellage Deutschlands zwischen Osten und Westen. Eine Chance zum Ausgleich der Extreme? „Wer sich ein­ fach als Deutscher zeigt, der zeigt immer dem Ostmenschen ­etwas Westliches, dem Westländer aber ein Stück Osten.“ Wann könnte das gelingen? Wenn es in diesem Lande nicht mehr nur wie selbstverständlich eine Geschichtsschreibung gibt, die in Heinrich August Winklers voluminöses Werk „Die ­Geschichte des Westens“ mündet, sondern ebenso eine, die ein Werk hervorbringt, das dann ebenso wie selbstverständlich „Die Geschichte des Ostens“ heißt. //


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Terra incognita? Das Karussell-Festival im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden zeigte vielfältige Positionen zeitgenössischer russischer Kunst von Michael Bartsch

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ls Intendantin Carena Schlewitt vor rund zwei Jahren ans Europäische Zentrum der Künste Hellerau verpflichtet wurde, schwang die Idee eines Festivals russischer Gegenwartskunst be­ reits mit. Die beiden Wochen im Januar zeigten nun, dass es dafür in Dresden tatsächlich ein interessiertes Publikum gibt: Die Vor­ stellungen waren weitgehend ausverkauft. Vertreten waren neben neugierigen Theaterprofis, Russlandfreunden oder Einwanderern auch erstaunlich viele junge und gar nicht mehr Russisch spre­ chende Besucher, die vor allem Vorstellungen vor der spätabendli­ chen „Russendisco“ belebten. Doch auch bei den mit der Sowjetunion vertrauteren ehemali­ gen DDR-Bürgern bleibt das Gefühl einer Terra incognita, eines ge­ heimnisvollen Riesen im Osten. Der schillert in Facetten vom Zaren­ reich über die Sowjetunion bis zum heutigen Putinismus, vermischt mit den Einflüssen und Verheißungen eines westlichen Hedonismus. Carena Schlewitt und Kurator Johannes Kirsten haben für das Karus­ sell-Festival nicht nur die beiden Metropolen Moskau und Sankt Pe­ tersburg bereist, sondern auch Kasan oder Nowosibirsk, um sich ein Bild vor allem der performativen zeitgenössischen Kunst Russlands zu machen. Was sie für die beiden Hellerauer Festspielwochen ausge­ wählt hatten, ließ bewusst kein homogenes Bild entstehen. Das gilt sowohl für die ästhetische Vielfalt als auch für die regional unterschiedlichsten Arbeitsbedingungen vor allem freier Theater in Russland. In Hellerau wagten einige etwas mehr, als sie zu Hause dürfen. Schimpfwörter etwa sind verboten, mit Anspie­ lungen auf Homoerotik muss man sehr vorsichtig sein. Das Ex­ empel, das unter dem Vorwurf der Veruntreuung von Staatsgel­ dern an Theaterregisseur Kirill Serebrennikov statuiert wurde, zeigt warnende Wirkung. Die Szene ist untereinander auch weni­ ger vernetzt, als wir es kennen. Vordergründiges Oppositionstheater war also beim Karus­ sell-Festival nicht zu sehen. Vladimir Rannev, Komponist und ­Regisseur der Eröffnungsoper „Prosa“, nennt im persönlichen Gespräch das System Putin zwar „mafiös“. Auf der Bühne aber kommt subtile Kritik meist symbolisch versteckt herüber. Gleich­ wohl bedienen sich Rannev und andere Künstler avantgardistischer Mittel. Das Moskauer Elektroteatr Stanislawski, an dem „Prosa“ produziert wurde, heißt auch nur deshalb so, weil der große Stil­ bildner und Theatertheoretiker Konstantin Stanislawski vor rund hundert Jahren hier ein Opernstudio eröffnete. „Prosa“ ist Musik­

theater im weitesten Sinn. Rannev lässt ein neunköpfiges Vokal­ ensemble a cappella und nahezu ununterbrochen polyphon singen. Es interagiert mit Comic-Animationen, die eine einfache, aber psychologisch hintergründige Geschichte des ­Autors Yury Mamleew erzählen: Ein Paar verliert bei einem Verkehrsunfall seine Tochter und projiziert daraufhin sein Fürsorgebedürfnis auf den Verursacher. Raffinierte Spiegel- und Videotechnik in Verbindung mit „echten“ Kulissen (im Hintergund der Bühne wird nach und nach ein Wohn­ tempel sichtbar) schaffen ein ganz neues ästhetisches Erlebnis. Demgegenüber stand „Klassik“ wie Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ vom Staatlichen Theater Rote Fackel aus Nowosibirsk, das vor hundert Jahren zu Revolutionszeiten in Odessa gegründet worden war. Eine Inszenierung im seelenerforschenden StanislawskiStil, fein nuanciert und hochprofessionell. Der auch in Deutschland arbeitende Regisseur Timofej Kuljabin versetzt das Geschehen nach Kalifornien, wo der von seiner Tätigkeit besessene Protagonist Pawel Protassow nicht als Chemiker, sondern als IT-Spezialist arbeitet. Hintergrund ist auch nicht eine drohende Choleraepidemie oder das Massenelend, sondern der von apokalyptischen Ängsten begleitete Jahrtausendwechsel 1999/2000. Die Regie beschränkt sich auf die Binnenbeziehungen, die Liebestragik der sieben Personen. Die spielen auch bei „147“ eine Rolle, eine gekonnte, video­ untermalte Performance aus Kasan. Ihr liegt das Buchprotokoll der tatarischen Journalistin und Autorin Radmila Khakova zugrunde, die mittels 147 Dates in ein teils amüsantes, teils tragisches Laby­ rinth der Mann-Frau-Beziehungen führt. Kein Rückzug ins Private, denn die Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Segnungen und Auswüchsen, spielt auch in diese Geschichten mit hinein. In solchen Momenten spürte der Besucher, dass die so fernen Russen gar nicht so anders sind als wir und dass uns die Herausforderun­ gen des Zeitgeistes sogar verbinden. Bei der „Märchenfabrik“ von Boris Pavlovich aus Sankt Peters­ burg, einem Projekt mit Spielerinnen und Spielern mit Behinde­ rung, durften Zuschauer an den erzählten und illustrierten Fanta­ siegeschichten sogar selbst mitspinnen. Modernistische Gags wiederum konnten auch nach hinten losgehen. In Dmitry Volko­ strelovs „Das Feld“ war es ein Algorithmus, der die Abfolge der Szenen festlegte: recht banale Erzählungen von Mähdrescher­ ­ fahrern auf einem Feld, die letztlich wirr und ermüdend wirkten. Amüsanten Spott über Klischees russischer Folkloretradition bot wie­derum „Koromysli“ von Polina Kardymon, ein Auftritt dreier singender junger Damen. Performativ war hier nichts, aber die Lie­ der zu ­ostinaten einfachen Melodiethemen boten zum farbigen Mix dieses vielbeachteten Festivals eine erfrischende Ironie. //

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Neue Allianzen Den Westen und Russland gibt es nicht mehr – Die Slawistin Sylvia Sasse über den neuen russischen Autoritarismus und die Auswirkungen auf die Kunst im Gespräch mit Jakob Hayner

ylvia Sasse, die russische Föderation steht vor einer Verfassungsreform. Angetrieben werden die Veränderungen von Wladimir Putin, der seit zwei Jahrzehnten die zentrale Person der russischen Politik ist. Wie kommt es dazu? Und welche Auswirkungen könnten die Reformen haben? Es ist auf den ersten Blick nicht klar, was die Verfassungsreform bewirken soll. Während Putin in einer Rede den Vorrang der Ver­ fassung betont hat, ist der konkrete Änderungsvorschlag das Ge­ genteil: Der Präsident wird gestärkt. Laut der Rechtswissenschaft­ lerin Caroline von Gall zielt die von Putin verkündete vermeintliche Stärkung der Verfassung darauf ab, die Verfassung „als Faktor der Regimelegitimation“ zu nutzen. Man fragt sich, inwiefern Putin versucht, auch nach 2024 an der Macht zu bleiben. Relevant wird die von Putin betonte Stärkung der Verfassung, weil ihr Vorrang vor dem Völkerrecht gegeben wird, wie das Verfassungsgericht bereits 2015 verdeutlichte. Dadurch wird die Europäische Men­ schenrechtskonvention in Russland irrelevant.

agierten und dafür Kritik ernteten, wurden diese ab 2000 nach und nach durch Stiftungen von Oligarchen ersetzt, die ihr An­ sehen durch Investitionen im Kulturbereich aufbessern wollten. Letztlich ging es darum, eine politische Diktatur hinter sich zu lassen, ohne Zensur zu arbeiten und im Bereich der Kultur einen eigenen Markt und eine eigene Förderstruktur aufzubauen. Der ungarische Soziologe Bálint Magyar nennt das heutige Russland einen „postkommunistischen Mafiastaat“. Eine „kleine Gruppe von Machthabern, die wie eine Familie aufgebaut ist“, im Mittelpunkt der Patriarch, der nicht regiert, sondern „verfügt – über Positionen, Wohlstand, Status, Personen“. Der Philosoph Michail Ryklin nennt die Putin-Regierung eine operative Macht, die eine „Politisierung von Geheimdienstmethoden“ betreibe. Ich finde beide Charakterisierungen treffend, auch weil sie deutlich machen, dass es sich 1990 nicht nur um einen Bruch gehandelt hat, sondern um den Versuch, die alten sowjetischen Machtsyste­ me, unter anderem den Geheimdienst, ins neue politische und ökonomische System hinüberzuretten. Die Journalistin Masha Gessen schreibt dazu: „Die russischen Clans entstammten direkt dem sowjetischen Nomenklatura-System.“ Wer hätte damals ge­ dacht, dass Kapitalismus und Autokratie so gut zusammenpassen!

Der damals wenig bekannte Putin wurde Ende der turbulenten 1990er Jahre Präsident. Privatisierungen, Verelendung und gewaltsame Konflikte waren für viele Menschen prägende Erfahrungen dieser Zeit, wie es Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch ­„Secondhand-Zeit“ schildert. Gleichzeitig kamen die „neuen Russen“ auf, ein Netz von Oligarchen. Welche gesellschaftlichen Kräfte stützen bis heute den Aufstieg Putins? Wie man die neunziger Jahre erlebte, hatte viel damit zu tun, wer und was man vorher in der Sowjetunion war. Die einen hatten viel zu verlieren, andere konnten nur gewinnen, dritte wiederum hat­ ten vorher und nachher das Nachsehen. Man sollte nicht verges­ sen, dass zu den ökonomischen Turbulenzen auch ein gesell­ schaftlicher Aufbruch kam: das Öffnen der Archive, der Versuch, den stalinistischen Terror aufzuarbeiten, die Publikation von Tex­ ten, die lange nur im Samisdat, also in inoffiziellen Kanälen kur­ sierten, eine heute als „wild“ erinnerte Kunstszene, die auch poli­ tisch aktiv war, die Gründung von wichtigen Institutionen für die Kunst. Die Kulturförderung musste erst entstehen. Während zu­ nächst Stiftungen wie Soros und Ford nach westlichem Vorbild

2001 hielt Putin eine aufsehenerregende Rede im Deutschen Bundestag, in der er für ein sicheres und einheitliches Europa ­plädierte. Davon spricht heute keiner mehr. Der Westen und die EU selbst sind in der Krise, das NATO-Großmanöver „Defender 2020“ richtet sich gegen Russland. Zugleich agiert Russland in Konflikten wie in der Ukraine und Syrien, in denen die Strategien westlicher Mächte gescheitert sind. Was hat sich im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland geändert? Es gibt nicht mehr den Westen und Russland. Das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Russland ist ein völlig anderes als das der EU. Es gibt neue Verbindungen und Allianzen, die nicht mehr nur national verlaufen. Besonders deutlich hat sich in den letzten Jahren – unter russischer Mitarbeit und Führung – eine politische reaktionäre Rechte in Europa und Amerika herausgebildet. Die neue Rechte bewundert Putin, die russische Regierung fördert und unterstützt diese umgekehrt auch finanziell. 2012 lieferte der nationalbolschewistische Philosoph Alexander Dugin bei einer vom Kreml organisierten Veranstaltung, die gegen die Orange ­Revolution in der Ukraine gerichtet war, ein neues Freund-Feind-

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Schema. Schon 1994 hatte Dugin eine „konservative Revolution“ gefordert und alle Aktivitäten von Soros in Russland dä­ monisiert. Diese Forderung ließ sich mit einer Erfindung neuer Werte unterfüttern, einer Putin’schen Variante von „Leitkultur“, zu der unter anderen „die Nation, traditio­ nelle Werte, die Orthodoxie und eine Be­ drohung von außen“ gehören. So konnten all jene, die Kritik an den politischen Verhält­ nissen übten, als russophobe „ausländische Agenten“ eingestuft werden. Kritik an der Politik wird in dieser Logik stets zu einer Kritik an der nationalen Kultur umgedeu­ tet – wie auch bei Viktor Orbán oder ­Donald Trump. Der Zusammenbruch der Sowjetunion bestimmt bis heute die russische Politik. Von Putin wurde er vor Jahren als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Inwieweit wirkt das von Karl Schlögel so bezeichnete „sowjetische Jahrhundert“ und dessen Ende bis in die Gegenwart? Das war 2005, ein Jahr, nachdem die balti­ schen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowohl der Nato als auch der EU bei­ge­ treten waren. Andere standen in Verhand­ lung, wie die Ukraine. Putin interpretierte den Wunsch dieser Länder, Mitglied von EU und Nato zu sein, stets als Verrat. Er beruft sich auf eine Rede des ­Nato-­General­sekretärs Manfred Wörner von 1990, der sagte, die Nato sei bereit, „nicht zu expandieren“. Das betraf aber die Sowjet­union, die 1991 zu existie­ ren aufhörte. Für viele, insbesondere die Nato-kritische Linke, ist das ein Grund, sich auf die Seite von ­Putin zu schlagen. Das ist absurd, es folgt der Logik des Kalten Krieges, als könne man nicht Putin und die Nato gleichzeitig k ­ ritisieren. Dass das Ende der Sowjetunion und des Ostblocks noch heute nachwirkt, ist nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland oder Un­ garn und Polen sichtbar, wenn es um rechtspopulistische Politik geht. Wir haben es noch immer mit einem Machtkampf alter Seilschaften zu tun. Aber man kann nicht alles den vergangenen Diktaturen in die Schuhe schieben, autoritäre Kräfte wüten auch dort, wo es keinen Ostblock gab – wie in der Schweiz, den Verei­ nigten Staaten, Italien und Frankreich. Kunst und Kultur in Russland wird hierzulande vor allem in Bezug auf das Verhältnis zum repressiven Staat betrachtet wie beispielsweise bei Pussy Riot oder Pjotr Pawlenski. Die spektakulären Aktionen dürften allerdings kaum repräsentativ für die Gesamtheit sein. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Künste ein? Russische Literatur wird vielfach übersetzt und ist in den Feuille­ tons erstaunlich präsent. Russische Künstler sind in internationa­ len Ausstellungen vertreten. Ähnliches lässt sich für Performan­ ces oder Theateraufführungen sagen. Dennoch lässt sich von Deutschland aus kaum sehen, wie breit und vielschichtig die rus­

Sylvia Sasse (*1968) studierte Slawistik und Germanistik in Konstanz, Sankt Petersburg und Moskau. Die Literaturwissenschaftlerin bekleidete von 2005 bis 2009 eine Professorenstelle am Institut für Slawistik an der Humboldt-Universität Berlin. Den Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich übernahm sie im August 2009. Dort hat sie das interdisziplinäre ­Zentrum für Künste und Kulturtheorie mitbegründet. Sie ist Mit­ herausgeberin der Online-­ Magazine novinki für osteuropäische ­Kultur und Geschichte der G ­ egenwart für unabhängige kultur­ wissenschaftliche Beiträge. Ihre aktuelle Publikation „Subversive Affirmation“ wird im Mai bei Diaphanes erscheinen. Foto Frank Brüderli

sische Kunst-, Literatur- und Theaterszene ist. Sie ist international vernetzt, experimentell, teilweise auch politisch. Dass es aber – unter Putin – Gerichtsprozesse gegen Kuratoren und Künstler ge­ geben hat, wie gegen Pussy Riot wegen „Hooliganismus“, gehört zum Kunstsystem in Russland dazu. Die Gerichtsprozesse gegen die Kuratoren der Ausstellung „Achtung, Religion!“, „Verbotene Kunst 2006“ und gegen Pussy Riot wurden noch wegen der „schädlichen“ Wirkung von Kunst geführt, die angeblich „religiö­ sen Hass“ schüre. Nun wurde – wie bei der Anklage gegen den Regisseur Kirill Serebrennikov – die angebliche Veruntreuung von Fördermitteln verfolgt. Das erinnert einige an Scheinprozesse als Mittel der sowjetischen Zensur. Eine solche politische und ju­ ridische Willkür verändert die Produktionsbedingungen von Kunst, sie verunsichert und führt zu Selbstzensur. //

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Howgh, ich habe gesprochen! Der Philosoph Slavoj Žižek über sein Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ im Gespräch mit dem Regisseur Felix Ensslin 2015 veröffentlichte der slowenische Philosoph und Kulturkritiker S ­ lavoj Žižek sein erstes Theaterstück: „Die drei Leben der Antigone“, ein Thea­ t­erexperiment im Geiste des Brecht’schen Lehrstücks, das Sophokles’ „Antigone“ in drei Versionen erzählt – mit ebenso vielen Enden. Ist Antigone, die sich, um ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, dem Ver­ bot Kreons widersetzt, wirklich eine Heldin im Widerstand gegen die Staatsmacht? Felix Ensslin inszenierte dieses lange als unspielbar gel­ tende Stück mit dem belgischen Agora Theater. Anlässlich der Deutsch­ landpremiere sprach er im FFT Düsseldorf mit Slavoj Žižek über das Misstrauen gegen vermeintliche Helden, den Golfspieler Donald Trump, Gottes barbarische Seite und die fatale Sehnsucht nach Authentizität.

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lavoj Žižek, Sophokles’ Antigone wird gemeinhin als Heldin des Widerstands gegen eine unmenschliche Staatsmacht gelesen. Was hat dich an dieser Figur interessiert? Ich bin ein Philosoph, der sehr gerne verunsichert. Ich sage: Ver­ gesst diesen ganzen psychologischen Bullshit. Ihr seid frei zu wählen? Nein! Ich stehe weder auf der einen, noch auf der ande­ ren Seite, sondern auf einer dritten. Ich tue dies, um zu schockie­ ren. Ich denke, Antigone ist die Böse. Es gibt zahlreiche Versio­ nen, nicht nur meine drei. Ich mag beispielsweise Jean Anouilhs „Antigone“ sehr, wenngleich sie oft als protofaschistisch abgetan wird. An diesem Stück lässt sich die ganze Verrücktheit des Vor­ gangs der Interpretation ablesen. Das Stück, 1944 in Paris urauf­ geführt, wurde als großes Drama der französischen Résistance

gelesen. Aber auch die protofaschistischen Intellektuellen Robert Brasillach und Charles Maurras liebten das Stück. Warum? Sie sahen Kreon als jüdisches Oberhaupt und Antigone als wahre ­Faschistin, die ihr Blut für den Widerstand gegen die Entfrem­ dung durch den Staat opfert. Eine weitere Variante: Ein guter Freund von mir, der israe­ lisch-amerikanische Filmemacher Udi Aloni, adaptierte „Antigone“ für das Freedom Theatre in Jenin im Westjordanland. In seiner Ver­ sion sind es die Israelis, die Antigone verbieten, ihren Bruder, der als Kämpfer des palästinensischen Widerstands von den Israelis getötet wurde, zu bestatten. Diese Übertragung aber macht es ei­ nem zu einfach. Sie ist sogar regelrecht falsch. Man sollte nicht ver­ gessen, dass Polyneikes wirklich ein bad guy war. Richtiger wäre gewesen, wenn die Familie, nachdem Polyneikes getötet wurde, herausgefunden hätte, dass er ein Spitzel der Israelis war. Erst dann wird die Ungeheuerlichkeit der Bitte, ihn zu beerdigen, klar. Sogar in Brechts „Antigone des Sophokles“ wird im Vorspiel Polyneikes zu einem Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Aber sorry, das macht es einem doch wirklich zu einfach zu verstehen, warum jemand auf eine ordentliche Beerdigung dieses „wahrhaf­ ten Helden“ pocht.

Wider die Opposition – Nicht ein, nicht zwei, sondern drei mögliche Interpretationen liefert Slavoj Žižek in „Die drei Leben der Antigone“, hier mit Ninon Perez (l.) und Roger Hilgers in der Inszenierung von Felix Ensslin am FFT Düsseldorf. Foto Jannis Mattar


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Meine ultimative Version für Deutschland wäre – Pardon für die Geschmacklosigkeit, aber ich mag es, geschmacklos zu sein: Anti­ gone ist die Schwester Adolf Hitlers und sagt zu den Russen: „Ok, ihr habt ihn umgebracht, aber jetzt befielt es ein höheres Gesetz, dass ich ihn angemessen bestatten darf.“ Erst das ist ein ernsthaf­ tes Problem. Liest man hier immer noch Karl May? Am Ende sagt Winne­ tou immer: „Howgh, ich habe gesprochen.“ Am Ende sagt Winnetou „Winnetou stirbt als Christ.“ Das ist der letzte Satz von Winnetou III. Hast du ein Problem damit? Ich meine, ich bin ein atheistischer Protestant. Es gibt eine Reihe guter Theologen, die darauf hin­ weisen, das in der Bibel Gott zwar als allmächtig dargestellt wird, aber auch als moralisch total barbarisch. So könnte man auch die Aufopferung Christi lesen, als Entschuldigung Gottes: „Ich habe Mist gebaut. Sorry! Ich bezahle dafür mit dem Tod meines Sohnes.“ Du hast über siebentausend Bücher geschrieben – aber nur ein Theaterstück. Über die Figur der Antigone verhandelst du die Fragen, was der Unterschied zwischen Subjektivität, Widerstand, Heldentum, Natur und Kultur ist. Du hast nicht nur ein alter­ natives Ende geschrieben, sondern drei. Bei einem davon muss ­Antigone überleben. Warum? Weil du es so geschrieben hast. Und das ist es doch, was du auch politisch vorschlägst: Wir müssen Beziehungen herstellen in Zeiten der Konfrontation. Ja, aber auch hier muss ich meiner professionellen Deformation als Philosoph nachgehen und die Dinge verkomplizieren. Ich ­hasse Trump, er ist ein Scheusal, er ist aber auch der ultimative Präsident, der Konflikte vermeidet. Er spielt sein Spiel, redet viel, sendet Drohungen aus, die Welt ist am Abgrund, der Finger ­irgendeines verrückten Typen schwebt wieder einmal über dem Schalter zur Atombombe … … und dann geht er Golf spielen. Genau. Ein Freund aus Iran sagte nach der Tötung des iranischen Generals Soleimani durch die Vereinigten Staaten zu mir: „Was für ein großartiger Deal. Die Vereinigten Staaten und Iran ­sprechen sich exakt ab, wie Iran die amerikanischen Militärcamps bombardieren muss, damit keiner umkommt. Es geht lediglich darum, die Spannung zu zerstreuen.“ Gleiches im Fall von Nord­ korea. Einige US-amerikanische Linke, die Trump hassen, sagen, dass, wenn Hillary Clinton Präsidentin geworden wäre, das Risiko eines Krieges mit Iran oder Nordkorea ungleich größer gewesen wäre. Die Gründe, warum ich Trump fürchte, liegen auf einem anderen Level. Nehmen wir Ödipus. Ich stimme nicht mit Hegel überein, der sagt, dass Ödipus ein tragischer Held ist, der nicht wusste, was er tat, trotzdem aber Verantwortung übernehmen musste. Lest Sophokles! Das ist so nicht passiert. Keiner liest Sophokles, man liest nur noch Žižek. Ödipus bereut am Ende nichts. Er gibt nichts zu.

Und was sagt Ödipus über Antigone? Keine Ahnung. Määh, määäh, määäh – blökt der Chor in unserer Inszenierung. Okay, Ich wette, du lügst. Fünf Jahre Gulag. Ich habe von dir gelernt, dass lügen ein Teil der Wahrheit ist. Du wirst sehr viel lernen im Gulag, wenn wir erst einmal an der Macht sind. In „Ödipus auf Kolonos“ sagt der Chor: „Mae phynei“, also: „Niemals geboren worden zu sein, mag der größte Segen von allen sein.“ In meiner geschmacklosen Art schlug ich dieses Zitat einer slowenischen Agentur vor, die eine Pro-Abtreibungs-Kam­ pagne plante: „Das größte Glück für ein unerwünschtes Kind ist es, nie geboren zu werden. Wir kümmern uns darum.“ Määäh. Ich liebe Ödipus auf Kolonos, er ist nicht der alte weise Typ im Clinch mit seinem Schicksal. Er weiß, was er will: seine Heimat­ stadt Theben zerstören und seinen Tod so teuer wie möglich ver­ kaufen. Er ist eine wunderbare Figur. Am Ende, als er alle Mensch­ lichkeit eingebüßt hat, ist sein Begehren befreit. Was ich sagen will: Alles kann auf eine nette Art und Weise entwickelt werden. Wie bei Jacques Lacan. Aber Ödipus hat keinen Ödipuskomplex. Ich misstraue dieser vulgär-psychoanalytischen Lesart total. Claude Lévi-Strauss, der große Anthropologe sagte, es gebe einen nord­ amerikanischen Volksstamm, der sagen würde, dass alle Träume eine sexuelle Bedeutung haben – außer die direkt sexuellen. Alle Familien haben den Ödipus-Komplex, außer der Ödipus-Familie. Die Frage ist: Ist das nach wie vor politisch relevant? Natürlich! Ich bin absolut gegen die vulgärpsychologische Lesart der Antigone. Ich habe meine feministische Lektion gelernt.

Der Philosoph Slavoj Žižek wurde 1949 in Slowenien geboren. In seinen über fünfzig Publikationen setzt er sich im Besonderen mit der Psychoanalyse Jacques Lacans, Populärkultur und Film, dem deutschen Idealismus und politscher Theorie auseinander. Aktuell ist er internationaler Direktor des Birkbeck College der University of London und Professor für Philosophie und Psychoanalyse an der European Graduate School in Saas-Fee. Slavoj Žižek ist seit Jahren mit dem Regisseur und Philosophen Felix Ensslin bekannt, der Žižeks bislang einziges Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ inszeniert hat. Der 1967 geborene Ensslin ist Künstlerischer Leiter des Agora-Theaters in Sankt Vith und bekleidet einen Lehrstuhl an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Foto Hans-Jürgen Bauer

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Die Einstellung des Chorführers ist offensichtlich. Nicht ihre Haltungen, nicht ihre religiösen Überzeugungen verdammen Antigone. Selbst ihre Tat ließe sich noch tolerieren. Die letzte, entscheidende Grenze hat sie aber überschritten, als sie sich offen zu ihrem Handeln bekannte. Damit hat Ödipus’ Tochter König Kreon die Stirn geboten und die männliche Macht infrage gestellt. „Die Worte mögen weiblich klingen, die Tat jedoch war männlich.“ Der vernichtende Vorwurf ist noch nicht ganz ausgesprochen, schon beginnt Galia De Backer, eine der drei Antigone-Darstellerinnen dieser Inszenierung, Leonard Cohens „I’m Your Man“ zu singen. So macht sie sich auf ironische Weise die Anklage zu eigen und kehrt sie gegen ihre Ankläger. Der Mann in Cohens Love Song ist eben kein Vertreter sturer, selbstvergessener Macht. Er ist ein Liebender, der sich aufopfert und die Liebe über alles stellt. Er ist der Mann, dem Antigone auf Augenhöhe begegnen könnte. Brechungen wie diese prägen Felix Ensslins Inszenierung von Slavoj Žižeks erstem Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ am Forum Freies Theater Düsseldorf. Ensslin und sein Ensemble vom belgischen Agora Theater erweitern das sperrige Drama,

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Drei Mal Tod Žižeks „Die drei Leben der Antigone“ in der Regie von Felix Ensslin das Brechts Lehrstücken deutlich näher ist als Sophokles’ antiker Tragödie, durch Songs und eigene Texte. Die Labdakiden haben ihre Macht über Jahrtausende bewahrt. Als Ödipus Inc. ist die Familie ein wirtschaftlicher Faktor, auch wenn es ihr nicht gelingt, aus dem Kreislauf der Schuld zu entkommen. Alle hundert Jahre kommen sie einmal zusammen, um die tragischen Ereignisse von Neuem durchzuspielen. Wer stirbt, steht wieder auf, und alles geht weiter wie zuvor. Damit ist der Rahmen für Slavoj Žižeks Gedankenspiel gesetzt, in dem er dem Verlauf der Ereignisse bei Sophokles zwei andere, denkbare Varianten zur Seite stellt. In der einen beweist Kreon Mäßigung und begnadigt Antigone rechtzeitig. Doch das bringt das patriotisch aufgepeitschte Volk von Theben derart in Rage, dass es den Königspalast stürmt

Denke an deine Freundin Judith Buttler, die du so sehr liebst! Ich liebe sie als Person, nicht ihre Theorie. In ihrem Buch „Anti­ gones Verlangen“ sehe ich – als stalinistisch-theoriefixierter Poli­ zist – einen Aspekt, bei dem sie schummelt. All diese humanisti­ schen Verteidiger einer Antigone, die für all die Unterdrückten und Ausgeschlossenen stehen soll, haben ein Problem mit ihrer Aussage, dass sie ausschließlich für ihren Bruder kämpft – nicht für die Allgemeinheit. Jetzt sprichst du über Hegel. Ich mag seine Theorie nicht. All diese Theoretiker, die seit Jahr­ hunderten zu erklären versuchen, dass dieser Satz eine spätere Einfügung ist. Ich stimme mit anderen großen Feministinnen überein, die sagen, dass die Größe Antigones nicht darin liegt, was sie fordert, sondern in der Art ihres öffentlichen Handelns, das in dieser Gesellschaft eigentlich bislang Männern vorbehalten war. Darin liegt ihre Schönheit. Ich möchte dich eine Sache zu deiner Inszenierung fragen. Bitte. Ich musste lachen, weil du meinen Text mit Pop-Musik unterlegt hast. Ich würde sogar noch weiter gehen und den Chor genauso zuckersüß singen lassen wie diese furchtbaren Pop-Musiker aus den fünfziger Jahren, Perry Como, Caterina Valente, Connie Fran­ cis. Weil ich glaube, dass der Chor der dümmste Teil im ganzen Stück ist. Interpretiere da bloß keine Tiefe rein. Für alles gibt es

und Kreon und seinen Sohn Haimon ermordet. In der zweiten reißt der Chor die Macht an sich, verhaftet Antigone ebenso wie den König und verurteilt beide zum Tode. Das Volk wendet sich gegen die Elite, der es so lange gefolgt ist, und ruft die Herrschaft der Gemeinschaft aus. Am Ende sollen alle im Publikum für sich entscheiden, welche der drei Antigone-Versionen die beste ist, welche Vorbild für das eigene Handeln und Streben sein könnte. Es ist ein hintersinniges Spiel, das Žižek mit den Zuschauerinnen und Zuschauern treibt, eines mit gezinkten Karten. Denn der Preis der Demokratie ist der Tod der vormals herrschenden Klasse. Welche Entscheidung auch fällt, immer wird Blut fließen, und diese bittere Erkenntnis verdrängen wir nur zu gern. Kategorien wie Täter und Opfer verwischen. Mit den Mechanismen der Verdrängungen spielen wiederum Felix Ensslin und sein zehnköpfiges Ensemble. Wenn das Lehrstück zur Revue wird und der philosophische Disput über die Wege des menschlichen Schicksals zum Pitch für HBO oder Netflix, zeigt eine Gesellschaft ihr Gesicht, die sich noch zu Tode amüsieren wird. Die Konsequenzen unserer Handlungen lassen sich so nicht bannen. Sie holen uns immer ein. // Sascha Westphal

ein Sprichwort. Stell dir vor, du bist in Gefahr. Du stellst dich ­dieser Gefahr und bist erfolgreich. Im Slowenischen gibt es das Sprichwort: „Nur die, die etwas riskieren, werden profitieren.“ Wenn du dich der Gefahr stellst, aber scheiterst, gibt es ebenfalls ein Sprichwort: „Uriniere niemals gegen den Wind.“ Das sind die sogenannten Weisheiten. Ich denke, in der griechischen Tragödie steht der Chor für Dummheit. Du denkst also, wir waren nicht dumm genug? Nein. Aber der Chor am Ende ist es. Ich bin Hegelianer. Einer der wunderbarsten Witze stammt von dem großen Hollywoodianer Ernst Lubitsch. Ein Typ kommt in ein Café und fragt: „Könnte ich einen Kaffee ohne Sahne bekommen?“ Der Ober antwortet: „Leider nein, wir haben nur Milch hier. Ich kann Ihnen nur einen Kaffee ohne Milch bringen.“ Das ist es, was Hegel mit bestimmter Negati­ on meinte. Schwarzer Kaffee ist materialistisch gesehen dasselbe wie Kaffee ohne Sahne. Symbolisch ist es aber nicht dasselbe. Das heißt, was tatsächlich geschieht, kann nur verstanden werden, wenn wir in Betracht ziehen, was passiert sein könnte, aber nicht wirklich passiert ist. Was mir wichtig ist bezüglich der drei Enden meiner Anti­ gone: Wie oft wird uns in Bezug auf politische Prozesse durch die Medien eine angebliche Opposition präsentiert? Westlicher Libe­ ralismus versus Fundamentalismus zum Beispiel. Was aber, wenn diese Opposition, in der man sich nur für die eine oder andere Sache entscheiden kann, falsch ist?


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Warum hast du nicht 54 Enden geschrieben? Das habe ich in meiner Einleitung erklärt. Du weißt, dass Sopho­ kles’ Version gar nicht das Original ist? Es soll einen Mythos, eine frühere Version gegeben haben. Wenn die heute jemand auffüh­ ren würde, würde er angeklagt, ein billiges Hollywood-Melodram zu inszenieren. Du meinst, Antigone mit ihrem Kind? Antigone und ihr Kind können aus Theben fliehen. Ihr Kind kehrt zwanzig Jahre später zurück und verübt Rache. Ich danke der anti­ ken Version, dass sie sich dieser romantischen Ebene des Originals entledigt hat. Stichwort Authentizität: Es gibt einen exzellenten Inuit-Film, „Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer“ des Inuit-Regisseurs Zacharias Kunuk. Er verhandelt einen alten InuitMythos. In der originalen Version töten sich zwei oder drei Stämme gegenseitig. Ein absolut tragisches Ende. Der Film aber hat ein Happy End, zumindest so halb. Ein dummer Multikulti-Liberaler beschuldigte den Regisseur daraufhin, in die Falle des europäischen Hollywood-Kommerzialismus gelaufen zu sein. Warum er sich denn nicht an das Original gehalten habe. Kunuk antwortete: „Nein, Sie sind der europäische Imperialist mit Ihrer Obsession für Authentizität. In der Tradition der Inuit ist es völlig normal, ­ ­Geschichten zu ändern, sie wieder und wieder um­zu­schreiben, um sie zu aktualisieren.“ Eine andere Geschichte: Letztes Jahr traf ich in Neuseeland eine Gruppe bildender Künstler. Sie zeigten mir zunächst – das gaben sie erst später zu – absichtlich ihren authentischen Bullshit

und sagten: „Wir sind im Dialog mit der Natur. Bevor wir einen Berg malen, fragen wir den Berg um Erlaubnis.“ Eine Woche spä­ ter, wir waren bereits Freunde geworden, erzählten sie mir die Wahrheit. „Wir fragen zwar den Berg, noch viel wichtiger aber ist, dass wir unseren Agenten in New York fragen, was gerade ange­ sagt ist.“ Zu diesem Zeitpunkt waren heilige Objekte angesagt, Tempel, Ruinen und hier und da ein Frauenkörper. Sie erzählten mir mit wundervoller Ironie, wie sie darauf achten würden, dass es genau das ist, was der Berg ihnen erzählt. Außerdem gaben sie zu, Weiße zu hassen. Das berichten mir auch Native Americans, die ich in Missoula im US-Bundesstaat Montana besuchte. Sie hassen Weiße, die zu ihnen kommen und sagen: „Unser Leben in den Großstädten ist so entfremdet. Ihr lebt das wahre, authenti­ sche Leben.“ Sie antworten dann immer: „Okay, lasst uns tau­ schen. Gebt uns eure nette Villa in Los Angeles und ihr könnte kommen, um in unserem Dorf zu leben.“ Howgh, ich habe ge­ sprochen. // Aus dem Englischen von Dorte Lena Eilers. Bei diesem Interview handelt es sich um eine redaktionell bearbeitete ­Version eines Gesprächs zwischen Slavoy Žižek und Felix Ensslin, das am 24. Januar 2020 am FFT Düsseldorf stattfand. Das gesamte Gespräch finden Sie als Audio-File ab Ende März auf www.theaterderzeit.de/2020/03 und https://fft-duesseldorf.de/mediathek/. Im März erscheint zudem im Verlag Theater der Zeit ein Buch über das Agora Theater: „Marcel Cremer und die Agora. Ein Lesebuch zum Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens“, herausgegeben vom Agora Theater und Christel Hoffmann. //

ANTrAGSfrISTEN 2020 — 2.vErGABE 31.März 15.APrIL G A S T S P I E L E T h E AT E r

G A S T S P I E L E TA N z N AT I o N A L & I N T E r N AT I o N A L K o P r o d u K T I o N E N TA N z

I N f o r M AT I o N E N z u r A N T r A G S T E L L u N G w w w. j o I N TA d v E N T u r E S . N E T

F o t o : C l a i r e V i V i a n S o b o t t k e „ V e lV e t “ (C) Dajana lothert g e s ta lt u n g : s o s e i e s . c o m

GASTSPIELfördEruNG & KoProduKTIoNEN

GEfördErT voN

S o w I E d E N K u LT u r - u N d K u N S T M I N I S T E r I E N d E r f o L G E N d E N B u N d E S L ä N d E r : B A d E N - w ü r T T E M B E r G , B Ay E r N , B E r L I N , B r A N d E N B u r G , B r E M E N , h A M B u r G , h E S S E N , M E c K L E N B u r G - v o r P o M M E r N , N I E d E r S A c h S E N , N o r d r h E I N - w E S T fA L E N , r h E I N L A N d - P fA L z , S A c h S E N - A N h A LT, S A c h S E N u N d T h ü r I N G E N .

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High Noon

In seiner ersten Spielzeit als Intendant des Burgtheaters Wien wettert Martin Kušej gegen Populisten, Elfriede Jelinek beklagt die FPÖ und der Chor unfaire Arbeitsbedingungen von Christoph Leibold

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ie Frontlinie war klar. Aber der Feind, nun ja, wurde zwar nicht endgültig in die Flucht geschlagen, hat aber eine empfindli­ che Niederlage erlitten. Gut zwei Wochen nach den ersten Premi­ eren am Burgtheater Wien unter der Intendanz von Martin Kušej stand in Österreich die Nationalratswahl an. Eine abermalige Re­ gierungsbeteiligung der FPÖ schien nicht ausgeschlossen – trotz der Ibiza-Affäre um (den inzwischen ehemaligen) Parteiobmann Heinz-Christian Strache, die die Koalition der Rechtspopulisten mit der ÖVP zu Fall gebracht hatte. Es kam dann doch anders. Die

Wähler straften die FPÖ an der Urne ab. ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz regiert nun mit den Grünen. Für Kušej bedeutete das erst mal Entwarnung. Im Interview zum Amtsantritt (siehe TdZ 09/2019) hatte er sich vorsorglich schon mal auf einen „steifen Wind“ nach der Wahl gefasst gemacht. Und wirklich, es wäre spannend gewesen zu beobachten, wie lange die FPÖ als Regie­ rungspartei dem Treiben unter Kušej im österreichischen Natio­ nalheiligtum Burgtheater tatenlos zugesehen hätte. Aus der Oppo­ sition heraus sind die Blauen hingegen bisher nicht mit Protestnoten vorstellig geworden. Die Partei scheint vorerst mit sich selbst beschäftigt. Dabei unternahm das Burgtheater unter Kušej so einiges, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – zuletzt mit der Urauffüh­


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Im Teutoburger Betonwald – „Die Hermannsschlacht“ in der Regie von Martin Kušej und einer Bühne von Martin Zehetgruber. Foto Matthias Horn

rung von Elfriede Jelineks jüngstem Textflächendrama „Schwarz­ wasser“. Darin arbeitet sich die Literaturnobelpreisträgerin an eben jener Ibiza-Affäre ab. Das entlarvende, heimlich aufgenommene Video, in dem HC Strache machtgeil und unverblümt seine Bereit­ schaft zum Totalausverkauf der Heimat an eine vermeintliche rus­ sische Oligarchennichte an den Tag legte, ist für Jelinek aber nur die Spitze des, pardon!, Scheißbergs, der aus einer stinkenden Kloake voller Fäkalien ragt (daher der Titel). Die Autorin watet tief hinein in den österreichischen Politsumpf, denn im Morast des Schwarzwas­ sers gedeiht das Virus des Rechtspopulismus prächtig und entfaltet eine ähnlich ansteckende Wirkung wie der Dionysos-Kult im anti­ ken „Bakchen“-Drama des Euripides, das Jelinek als Folie dient. In dem „jungen Gott“, dem hier alle folgen, ist unschwer Kanzler Kurz zu erkennen, der der Ausbreitung des Virus durch seine MitteRechts-Koalition Vorschub leistete. Im Wiener Akademietheater schickt Uraufführungsregis­ seur Robert Borgmann Schauspieler Felix Kammerer als KurzDouble im stylischen Slim-Fit-Anzug und mit charakteristisch zurückgegeltem Haarschopf auf die Bühne, dem später ein Chor aus Lookalikes in hündischer Ergebenheit hinterherhechelt.

Gleichwohl ist Borgmann erkennbar (und letztlich etwas überam­ bitioniert) darum bemüht, mit seiner Inszenierung nicht im Polit­ kabarett stecken zu bleiben. Jelineks sich assoziativ fortentwi­ ckelnde Gedankenkette reichert er mit eigenen Bildassoziationen an. Manche davon verrätseln den Text eher zusätzlich, als dass sie ihn aufschlüsseln würden. In den stärksten Momenten aber setzt Borgmann der Vorlage beinah schon zynisch böse Spitzen auf, etwa wenn er den Chor aus Schauspielstudierenden mit Zahn­ bürsten den Bühnenboden schrubben lässt. Dabei tragen sie kei­ neswegs Davidsterne (wie im „Dritten Reich“ die Juden, die zu solchen demütigenden Verrichtungen gezwungen wurden), son­ dern trachtenähnliche Gewänder. Teile der österreichischen Ge­ sellschaft haben sich immer schon gern zum eigentlichen Opfer der NS-Diktatur stilisiert. Strache knüpfte an diese unselige Tradi­ tion auf perfide Weise an, als er bereits 2012 die FPÖ angesichts von Protesten gegen einen Burschenschafts-Ball zur Zielscheibe von Hetze erklärte: „Wir sind die neuen Juden.“ Nach dem IbizaSkandal mimte er einmal mehr das Opfer hinterhältiger Fallen­ steller. In der Wiener „Schwarzwasser“-Uraufführung klagt denn auch Martin Wuttke (geschminkt wie Batman-Gegenspieler Joker und flankiert von der ihn stolz präsentierenden Caroline Peters als Erzschurkin Poison Ivy) wunderbar weinerlich, „Wir haben die Ka­ mera nicht gesehen!“, um sich alsbald in die schrille Tonlage sei­ ner Hitler-Figur aus Brechts „Arturo Ui“ hineinzuschrauben, die er am Berliner Ensemble perfektioniert hat. Daneben gibt es viel zu sehen, aber nicht immer zu ver­ stehen bei Borgmann: Bezopfte Blondinen (BDM-Mädels oder juvenile Jelinek-Wiedergängerinnen?), einen rosa Gorilla (ein ­ Verwandter des bei Nazis so beliebten Pink Panther?), dazu ­ Schnee- sowie Videogestöber und einiges mehr. Fürs Auge jeden­ falls ist mehr als genug geboten, der Kopf kommt nicht immer hinterher. Auf jeden Fall aber erfüllt die Inszenierung den ­Anspruch Martin Kušejs, einen „komplexen Diskurs“ am Burg­ theater zu führen. Bei aller Eindeutigkeit der politischen Stoßrich­ tung: Plattes Agitprop-Theater sieht definitiv anders aus als diese Jelinek-Uraufführung.

Ein populistisches Arschloch Wie Kušej selbst die Art von Theater, die ihm vorschwebt, inter­ pretiert, zeigte er an Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“, einem Drama mit schwieriger Rezeptionsgeschichte. Kleist schrieb sein Stück über den Cherusker-Fürsten Hermann (unter dessen Führung die Germanen den Römern im Teutoburger Wald eine vernichtende Niederlage zufügten) 1808, als Deutschland be­ siegt von Napoleons Truppen darniederlag. So ließ sich die „Her­ mannsschlacht“ als nationaler Weckruf lesen. Zur NS-Vereinnah­ mung gut ein Jahrhundert später war es da kein weiter Weg. Für Kušej ist dieser Hermann daher mitnichten ein Nationalheld, son­ dern ein „populistisches Arschloch“, der den Römern Gräueltaten in die Schuhe schiebt, die er selbst an den eigenen Landsleuten

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Martin Wuttke aka Joker aka HC Strache – Elfriede Jelineks Ibiza-Skandal-Persiflage „Schwarzwasser“ (links Lili Winderlich, rechts Sebastian Egger) in der Regie von Robert Borgmann. Foto Mattias Horn

verüben lässt, um gegen den Feind aufzuwiegeln. Markus Scheu­ mann spielt diesen Volksverhetzer als keineswegs hitzigen, viel­ mehr eiskalten Strategen, arrogant im Auftreten, aber nie groß­ spurig. So entsteht zwar ein stimmiges Figurenporträt, aber das schauspielerische Understatement, das mit dieser Charakter­ zeichnung einhergeht, ist nicht dazu angetan, den weiten Raum der enormen Burgtheaterbühne zu füllen. Dass Kušej seinem Ensemb­ le offenbar ein zerdehntes Spieltempo verordnet hat, sorgt auch nicht gerade für Spannung. Und erst recht nicht, dass die Germa­ nen hier mit zottigen Langhaarmähnen als allzu leicht manipulier­ bare Marionetten des Strippenziehers Hermann auftreten. Dabei kehrt Kušej zwischendurch sehr wohl den RegieKraftmeier heraus und setzt auf starke Zeichen. Die Bühne von Martin Zehetgruber ist ein Geröllfeld aus Wellenbrechern, die wie Wurzelstöcke gefällter Bäume eines gerodeten Teutoburger

Martin Kušej wurde 1961 in Wolfsberg ­(Österreich) geboren. Nach einem Studium der Deutschen Sprache, Literatur, Sport­ wissenschaften und Regie in Graz arbeitete er als Theaterregisseur an renommierten nationalen und internationalen Theater­ häusern. 2005 und 2006 leitete er das Schauspiel der Salzburger Festspiele. Von 2011 bis 2019 war er Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels in München. Für seine Theaterarbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Kurt-Hübner-Regiepreis (1993), den Wiener Theaterpreis Nestroy (2006, 2009) und den Faust (2012). Seine Inszenierungen wurden mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Seit 2019/20 ist Martin Kušej Intendant des Burgtheaters Wien. Foto Robert Fischer

Betonwalds aussehen. Ein Bild kriegeri­ scher Verwüstung. Der abgehackte Kopf eines Römers und die blutigen Reste ei­ ner zerstückelten Frauenleiche werden auf die Bühne geschleppt. Nervenkitzel aber bleibt bloße Behauptung der Schauer­ musik von Bert Wrede, mit der weite Teile des Abends unterlegt sind. Am Schluss treten der siegreiche Hermann und seine Gefolgsleute, eingekleidet wie Korpsbrü­ der einer Studentenverbindung auf. So schlägt Kušej den Bogen von der Ent­ stehungszeit des Stücks in die Gegenwart. Damals, während der napoleonischen Fremdherrschaft, wurde die Idee der deutsch-völkischen Burschenschaften ge­ boren. Mit der FPÖ sind sie bis heute verbandelt. Kušej präsentierte sich dem Wiener Publikum als regiefüh­ render Burgtheater-Direktor übrigens erst Ende November mit ei­ gener Neu-Inszenierung. Davor zeigte er Regiearbeiten, die er von seiner alten Wirkungsstätte, dem Münchner Residenztheater, mit­ gebracht hatte. Zum Beispiel seinen gelungenen Versuch, Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ dem pointenseligen Edel-Boulevard zu entreißen, indem er den Zimmerschlacht-Klassi­ ker in ein frostiges Whiskyflaschen-Scherbengericht verwandelte. Den Vortritt zum Auftakt aber überließ er anderen – unter anderem dem israelischen Regisseur Itay Tiran, der als Schau­ spieler auch Ensemblemitglied am Burgtheater ist. Kušejs er­ klärtes Ziel ist kosmopolitisches Theater. Begriffe wie „National­ theater“ und „Burgtheater-Deutsch“ sind ihm ein Graus. Das landauf, landab viel gespielte Stück „Vögel“ von Wajdi Mouawad ist da natürlich genau der richtige Stoff, erzählt es doch in vier Sprachen – Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch – über das konfliktträchtige Aufeinandertreffen von Menschen unterschied­ licher Herkunft und Religion. Ausgangspunkt ist die Begegnung von Eitan und Wahida in New York. Er ist Sohn einer jüdischen Familie aus Deutschland, der in den Vereinigten Staaten studiert; sie Amerikanerin mit ara­ bischen Wurzeln. Die beiden verlieben sich ineinander, sehr zum Missfallen von Eitans Vater, dem Sohn eines Holocaust-Überle­ benden. Mouawads Stück ist ein Well-made-Play, in dem die Last der Vergangenheit und die Konflikte der Gegenwart eng miteinan­ der verwoben sind. In Tirans Inszenierung schaffen vier mit atmosphärischen Mustern, Nachrichtenbildern und Stadtkulissen bespielte, ver­ schiebbare Videowände wechselnde Raumsituationen. Das er­ möglicht fließende Übergänge zwischen den unterschiedlichen Schauplätzen der Handlung, die zwischen New York, Berlin und Jerusalem switcht. Dass Tiran mit dieser glatten Ästhetik und


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FIGURENTHEATER DER NATIONEN – SEIT 1958 IN BOCHUM, RECKLINGHAUSEN, HATTINGEN, HERNE

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­ ramaturgie (die freilich in Mouawads Stück angelegt ist) Seh­ D gewohnheiten bedient, die am Fernsehkonsum geschult sind, ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Gespielt wird im Modus des Psychorealismus eines wenig innovativen TV-Mehrteilers. Ulrich Rasche dagegen, der die Intendanz Kušejs am Burg­ theater mit den „Bakchen“ des Euripides eröffnete, scheint Realis­ mus fremd. Er setzt auf monumentale Überhöhung, wozu er, als sein eigener Bühnenbildner, gigantische Bühnenmaschinen ent­ wirft. In diesem Fall handelt es sich um drei riesige Laufbänder. Gegen eines davon marschiert Franz Pätzold anfangs einsam an wie der Erzschurke, der zu High Noon in die Westernstadt ein­ zieht. Pätzold spielt Dionysos, den Gott des Rausches, auch Bak­ chos genannt, der gekommen ist, um sich „sein Land zurück­ zuholen“. In den Bakchen findet er rasch fanatische Gefolgschaft. Ähnlich wie Elfriede Jelinek in „Schwarzwasser“ bedient sich ­Ulrich Rasche des Klassikers, um sich mit dem Populismus der Gegenwart auseinanderzusetzen. Pentheus, der Herrscher von Theben, ist bei Euripides eigentlich ein kalter Technokrat. Rasche jedoch kehrt die Verhältnisse um; wo zunehmend mit gefühlten Wahrheiten argumentiert wird, erscheint kühle Rationalität wohltuend. Folglich ist Felix Rech als Pentheus hier die Stimme der Vernunft. Ein aufrechter Demokrat, der zum Showdown mit Massenverführer Dionysos antritt, munitioniert mit Worten, die nicht durchweg mit der Rasche-typischen chorischen Wucht skan­ diert werden, sondern immer wieder auch in ruhiger Eindring­ lichkeit. So wirkt diese Inszenierung nicht allein durch Überwäl­ tigungsmomente, sondern erzeugt einen mitunter subtilen Sog.

Unfair Play Monate nach der Premiere sorgte die Aufführung in Wien noch einmal für mediale Aufregung, allerdings nicht, weil sich FPÖPolitiker empörten, sondern der 15-köpfige Chor. Dreihundert Euro Bruttogage zahlt das Burgtheater pro Spieler und Vorstel­ lung. Bei drei bis vier Einsätzen im Monat kommt da keine Sum­ me zusammen, von der es sich gut leben lässt. Das Problem ist, dass es das Burgtheater den Choristen schwermacht, andere ­Engagements einzugehen, um ihre Bezüge aufzubessern, weil die Spieltermine immer erst mit sechs Wochen Vorlauf bekannt gege­ ben werden. Bis dahin dürfen die Chormitglieder keine anderen Verabredungen eingehen. Das Burgtheater erklärt, das sei gängige Praxis. Tatsächlich aber disponieren viele Theater den Spielplan einer Saison komplett durch. So wissen alle Beteiligten weit im Voraus, wann sie frei für andere Aufgaben sind. Das Burgtheater dagegen scheint die kurzfristige Planung vor allem zugunsten sei­ ner Ensemblestars zu favorisieren, die sich ungern frühzeitig fest­ legen. Es kann ja immer mal ein lukrativer Dreh daherkommen, den man absagen müsste, wenn schon ein Auftrittstermin am ­Theater im Kalender steht. So räumt die Sechs-Wochen-Regelung den Stars Freiheiten ein, während sie die der Choristen beschneidet. Im neuen Kabinett von Kanzler Kurz gibt es jetzt eine Kul­ turstaatsministerin von den Grünen. Ulrike Lunacek hat sich ­unter anderem das Thema „Fair Play“ im Kulturbetrieb auf die Fahnen geschrieben. Gut möglich, dass sich da bald eine ganz ­andere Frontlinie auftut als die, mit der Martin Kušej in Wien ­ursprünglich gerechnet hat. //

19.– 30. M AI Gefördert durch die

Ein Zukunftsprojekt der

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Nicht schweigen Reflexionen über die deutsch-türkischen Narrative

von Nuran David Calis


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Die Lücke – Ein Stück Keupstraße Im Carlswerk, der Außenspielstätte des Schauspiels Köln, ­wurden die Brückenseile für die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke in Istanbul gefertigt. Das war in den sechziger Jahren. Oft haben wir uns die­ se Geschichte erzählt, als wir 2014 die „Lücke – Ein Stück Keup­ straße“ geprobt haben, ein Stück, in dem wir den NagelbombenAnschlag, verübt durch den NSU, thematisierten. Am Abend der Premiere hatten wir sehr hohen türkischen Besuch aus Berlin. Der türkische Botschafter, Hüseyin Avni Karslıoğlu, war anwesend, zusammen mit 15 Diplomaten aus der Türkei, alle aus den Reihen der Regierungspartei AKP. Uns allen, den Spielern und der Leitung des Theaters, übergab der Botschafter Dankesbriefe. ­ Handgeschrieben, im Namen der türkischen Republik. Das war 2014. Ein Jahr nach den Gezi-Unruhen. Ich bewahre den Brief immer noch auf. In der Nacht des Militärputsches am 15. Juli 2016 wurde eben diesem Botschafter, der in der Zwischenzeit nach ­Ankara berufen worden war, im Nationalparlament ins Bein ge­ schossen. Öffentlich tritt dieser Botschafter nicht mehr auf. Seine Meinung ist nicht mehr gefragt. Er hatte sich zu sehr für die Versöhnung und Mitmenschlichkeit zwischen Deutschen und ­ türkischstämmigen Bürgern eingesetzt. Auch um den Frieden mit der armenischen Minderheit war er stets bemüht. Aus meinem Gedächtnis und aus meinem Leben verschwindet dieser Mensch nicht. Ich habe seinen Brief eingerahmt und er hängt jetzt in ­meinem Büro. Seit den Gezi-Unruhen stehen die Zeichen in der Türkei auf Sturm. Und dieser Sturm wütet bis hierher. Er hat deutsch-türkische Narrative zu Fall gebracht. Bis heute finden wir Einwandererkinder aus der dritten und vierten Generation hier in Deutschland mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft keine ­einheitliche Erzählung. Wir können einander nicht mehr lesen. Wir haben unsere Stimme, Augen und Ohren verloren. Wir haben uns gegenseitig zerrieben im Kampf um die eigene Identität – ein­gebettet in einer pluralistischen Gesellschaft –, um die eigene ­Zu­gehörigkeit – eingebettet in einer multi-komplexen. Die tür­ kische Regierung ist dabei, alle Brücken, welche die deutsch-­ türkischen Narrative verbunden haben, einzureißen. Und wir hier können oder wollen nichts tun – aus Angst …

Last Park Standing – Ebru Nihan Celkan … In den Endproben zu dem Theaterstück „Last Park Standing“ am Staatstheater Stuttgart wurde es für uns alle noch einmal hek­ tisch, als unsere Autorin Ebru Nihan Celkan zum Probenbesuch direkt aus Istanbul kam. Sie hatte ein Stück über die Gezi-­ Unruhen 2013 geschrieben, eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, die eine aus Deutschland kommend und die andere aus der Türkei. Die Frau aus Deutschland wollte, dass ihre Liebe aus der Türkei die Stadt Istanbul verlässt und mit ihr zusammen nach Berlin geht. Das ganze Stück eine einzige Zerreißprobe zwischen den Protagonisten. Im gesamten Text versuchte die Autorin, ­Signalwörter, die sie in der Türkei in Schwierigkeiten bringen wür­ den, zu vermeiden. #Erdogan, #AKP, #GeziPark etc. Ich fing in den Proben zunächst an, mich darüber hinwegzusetzen, mit ­dokumentarischem Material zu arbeiten. Der Schere oder der Angst, mit der die Autorin schrieb, um der Zensur, den staatlichen

Spionage-Logarithmen zu entgehen, wollte ich mich nicht beugen. Bei mir kam alles vor, alle Signalwörter. Ich wollte alles beim ­Namen nennen. Ich wollte die Narrative bestätigen, die wir in Deutschland über die Türkei haben. Denn, so dachte ich, ich lebe und arbeite in einem freien Land … Nach einem Durchlauf setzten wir uns zusammen. Meine Autorin Ebru, die ich über alles liebe und sehr schätze, war kreidebleich. Wir zogen uns zurück und spra­ chen Türkisch miteinander. Sie meinte: „Nuran, canim – wenn du das alles so machst, werden sie mich bei der Einreise in die Türkei noch am Flughafen verhaften …“ Das traf mich zutiefst. „Ich stehe unter Beobachtung“, meinte sie, „ein falsches Wort, dann bin ich vielleicht dran.“ Es sei eine Liste in Umlauf mit Namen von unge­ fähr 350 Theaterkünstlern, die das Regime auf dem Radar habe, es könne sich nur nicht zu Maßnahmen entschließen. „Die Frage ist nicht, ob die Maßnahmen kommen werden, sondern wann …“

Protest und Selbstzensur – In diesem Spannungsfeld arbeitet Regisseur und Autor Nuran David Calis. Links: Seine Inszenierung von „Last Park Standing“ von Ebru Nihan Celkan (hier mit AnneMarie Lux (l.) und Josephine Köhler). Fotos Costa Belibasaki / Björn Klein

Verhaftung in Granada – Doğan Akhanlı … Ich überlegte kurz … Vor drei Jahren hatte ich mit Doğan Akhanlı am Schauspiel Köln das Stück „Istanbul“ auf die Bühne gebracht, in der der regimekritische Autor, der dreimal in der Tür­ kei in Haft saß und gefoltert wurde, zu einer Generalabrechnung mit dem Präsidenten und der AKP ausholte. Zwei Monate nach der Premiere wurde Akhanlı in Granada wegen eines „Red Notice“-Ersuchens der türkischen Justiz festgesetzt. Man wollte, dass Spanien ihn an die Türkei ausliefert. Doğan Akhanlı ist seit über 25 Jahren deutscher Staatsbürger. Die Bundesregierung in­ tervenierte, alle standen in Deutschland für ihn auf. Die Solidari­ tät war groß und massiv. Am Ende lieferte Spanien ihn nicht an

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protagonisten

die Türkei aus, er konnte als freier Mensch nach Deutschland zu­ rückkehren. Dennoch war diese Zeit für mich sehr belastend. Als mich Ende August 2017 Doğan Akhanlıs Lebenspartnerin aus Spanien anrief, um mir zu sagen, dass sie Doğan verhaftet haben, machte ich mir große Vorwürfe. Hätte ich ihn bremsen sollen bei unserem Stück?! Ihn schützen?! Wurde er zu sichtbar?! Hatten wir schlafende Hunde geweckt?! Unter diesem Eindruck knickte ich bei Ebru total ein. Ich entfernte alle dokumentarischen Elemente, ich entfernte alle ­Signalwörter, ich tat alles, was die Autorin wollte, damit sie und wir im Ensemble sicher sein durften, dass sie bei der Einreise in die Türkei nicht ins Gefängnis gesteckt wird … Was hilft da die sehr wahre These, dass die Kunstfreiheit kein Busch sei, hinter dem man sich verstecken könne, sondern ein Sockel, auf den sich der Mensch stellen und brüllen muss?! Wenn Dinge um einen herum einstürzen, ist es schwer zu beschreiben, was gerade ­passiert. Die Türkei ist in einem freien Fall. Jeder Intellektuelle, jeder Künstler in dem Land spürt das. Während der große Rest der Gesellschaft denkt, dass es bis hierhin ja noch gut ging, wissen sie, dass der Aufprall kommen wird. In meinem bisherigen Schaffen habe ich versucht, auf Texte „rücksichtslos“ zu schauen und sie in einen heutigen ästhetischen Rahmen zu setzen. Aber jetzt, bei diesen beiden Autoren, Ebru und Doğan, wird so eine Haltung schwer. Das Risiko ist hoch. Und lebensbedrohlich. Denn bei einer falschen Entscheidung steht nicht die künstlerische Arbeit auf dem Spiel, sondern das

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Leben des Autors, des Spielers oder des Regisseurs. Ein türki­ scher, sehr guter Freund von mir, der Schauspieler ist und in Deutschland geboren, warnte mich vor zwei Jahren eindringlich: „Pass auf, mein Lieber, die knallen dich ab … Das kapieren die hier nicht. Böhmermann hin oder her. Schau, was mit Hrant Dink pas­ siert ist. Mach lieber weiter Schiller oder Shakespeare, mal alle an wie Clowns, mach ein bisschen schöne Musik dazu. Schubert, Wagner oder Bach. Etwas, was die Alamans kennen. Alle werden es lieben. Warum widmest du dich immer wieder Autoren wie Werfel, Ebru oder Doğan?! Und bringst sie und dich immer in Gefahr?! Denk doch mal an deine Familie, an deine Kinder.“ Gute Frage. Aber gerade weil ich an sie denke, muss ich es machen. Muss den Scheinwerfer auf diese Vorfälle richten. Sonst haben die Angstmacher gewonnen … Ja, die Furcht sitzt, seitdem die deutsch-türkischen Bezie­ hungen unter Anspannung stehen, immer mit am Regietisch. Denn der lange Arm der türkischen Regierung reicht bis in die deutschen Stadt- und Staatstheater. Immer, wenn ich mich sol­ chen Themen widme, die sich mit der Situation in der Türkei aus­ einandersetzen, und dabei einen türkischstämmigen Schauspie­ ler treffe, den ich mit an Bord nehmen möchte, lautet die erste Frage: Hast du Angst vor der Türkei?! Hast du vor, noch dorthin zu reisen?! Viele sagen mir ab, wenn sie hören, welches Thema ich anpacken will. Einige wenige nicht, wie zum Beispiel Murat ­Dikenci. Ansonsten sitzt die Angst tief. Es ist so, wie es Doğan Akhanlı in seinem autobiografischen Roman „Verhaftung in Gra­ nada“, den wir gerade zusammen mit Murat am Schauspiel Köln proben, beschreibt: Du kannst die türkische Staatsbürgerschaft weder beenden noch verlieren, egal welche Nationalität du oder deine Nachkommen annehmen. Das bedeutet auch, dass du nicht vor deren Strafverfolgung sicher bist … nicht nur innerhalb der Türkei, sondern auch außerhalb. Und was für eine Botschaft sen­ det uns die türkische Regierung, an uns Künstlerinnen und Künstler, wenn sie Mitarbeiter an türkischen Staatstheatern mas­ senhaft ohne triftigen Grund entlässt?! Verfolgt?! Verhaftet?!

Mölln 92 / 22 In der kommenden Zeit werde ich zusammen mit meiner Drama­ turgin Stawrula Panagiotaki und dem Schauspiel Köln versuchen, die Geschehnisse um den 23. November 1992 aufzuarbeiten. Den Brandanschlag in der Stadt Mölln in Schleswig-Holstein, bei dem drei türkischstämmige Mitbürger verbrannten durch eine rassis­ tisch motivierte Tat. Wir wollen mit dem Goethe-Institut in der Türkei zusammenarbeiten und einigen türkischen Theaterhäu­ sern. Schon jetzt frage ich mich, ob die Ein- und Ausreise funktio­ nieren wird?! Oder ob man sich auf sicherem Boden in Griechen­ land trifft?! Wir wissen es nicht … Aber nichts tun und schweigen geht auch nicht. Sonst haben die anderen genau das erreicht, was sie wollten … Der Theaterraum ist für mich auch ein Gedächtnis­ raum, ein Gedächtnisspeicher, der nichts vergessen und nicht schweigen darf. Ein Ort, an dem Solidarität auf sinnlich-ästheti­ sche Weise sichtbar wird. Mal laut, mal leise. Der aber nie stumm und tatenlos sein darf. Wir sollten diesen Raum verteidigen mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen … und jedes Mal zu­ rückschlagen. Aber wenn das so einfach wäre … //


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Verkommene Landschaft Recherchematerial Das Schauspiel Leipzig blickt in drei Stücken auf Geschichte, Wandel und Zukunft von Tagebau­gebieten in Sachsen

von Theresa Schütz

E

s ist aktuell sicherlich eine der brennendsten Fragen im An­ gesicht des sich global immer vielfältiger manifestierenden Kli­ mawandels: Wie gestaltet Deutschland den Kohleausstieg und trägt damit verantwortungsvoll zur Energiewende bei? Ende Januar 2020 beschließt die Bundesregierung den Kohleausstieg bis 2038, verbunden mit Milliardenentschädigungen für die Kraftwerks­betrei­ berunternehmen und weiteren Milliarden für den Strukturwandel der betroffenen Regionen. Um die Ziele des Pariser Klimaabkom­ mens von 2015 einhalten zu können, fordern Klimaaktivistinnen und -aktivisten von Fridays for Future und Greenpeace den voll­

ständigen Ausstieg bereits bis 2030. Und die zahlreichen Proteste und Aktionen zivilen Ungehorsams in Kohle­ kraftwerken vom Rheinland bis zur Lausitz, zu denen das Bündnis Ende Gelände seit 2015 aufruft, zielen sogar auf einen sofortigen Ausstieg aus der Kohle zugunsten erneuerbarer Energien. Dass der Kohleausstieg ein klimapolitisch brisantes und ge­ sellschaftlich äußerst umstrittenes Projekt ist, hängt nicht zuletzt mit der Geschichte der Stein- und Braunkohleförderung in

Klimapolitisch brisant, gesellschaftlich umstritten – „Brennende Erde“, „Gold & Coal“, „Wismut – A Nuclear Choir” (von oben links im Uhrzeigersinn) umkreisen Notwendigkeit und Folgen des Kohleausstiegs. Fotos Rolf Arnold


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Deutschland zusammen, die über Generationen und Gesell­ schaftssysteme hinweg ausgewählte Regionen besonders nachhal­ tig geprägt hat. Eine solche Region ist auch der Süden von Leipzig. Vor diesem Hintergrund ist es ein geradezu genialer Coup des Schauspiels Leipzig, in dieser Spielzeit einen thematisch-regiona­ len Fokus mit dem Titel „Bergbautheater“ zu (ko-)produzieren. Denn der Bergbau war und ist für Generationen von Bürgerinnen und Bürgern existenzbestimmend und identitätsstiftend. In den 1980er Jahren war die ehemalige DDR nicht nur der größte Braunkohleförderer der Welt, auch die Uranproduktion erreichte ihren Höhepunkt. Natur und Menschen mussten sich dem Kohleund Uranerzabbau unterordnen. Ganze Dorfgemeinden wurden umgesiedelt, Landschaften zerstört, und nach dem Mauerfall ver­ loren im Zuge der Privatisierung durch die Treuhand zehntausen­ de Menschen ihre Arbeit. Die drei Dokumentartheaterproduktio­ nen „Wismut – A Nuclear Choir“ von Jule Flierl und Mars Dietz, „Gold & Coal“ von Kötter/Israel/Limberg sowie „Brennende Erde“ von Hans-Werner Kroesinger und Regina Dura nehmen sich am Beispiel eben jener Region der Verwobenheit von Natur-, Lebensund Industriegeschichte(n) an. „Brennende Erde“ erzählt die Geschichte der Braunkohle­ förderung in der Region von Zwenkau über Böhlen und Espenhain bis Borna. Das Textmaterial basiert auf Interviews mit e­ hemaligen Arbeitern, Bewohnern und Aktivisten, auf Aktenauszügen, Brie­ fen und Recherchen zu wirtschaftlichen Akteuren. Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler in weißen Overalls fungie­ ren in der Inszenierung als objektivierende Sprechinstanzen, die das Fakten- und subjektive Erfahrungswissen an uns weitergeben. Auf der Bühne der Spielstätte Diskothek sind Gleisteile ver­ legt, darauf eine Güterlore mit Briketts, links eine offene Bodenlu­ ke, rechts ein Hausgerüst. Wenn es inhaltlich um Erzählungen aus dem Arbeitsalltag im VEB Kombinat Espenhain geht, nehmen die Spieler auf der Lore Platz, stimmen ein Arbeiterlied an, zitie­ ren Kumpel Helmuth und rauchen nicht angezündete Theater­ zigaretten. Berichte zum Arbeitsablauf kommentiert Andreas ­Keller, indem er mit einem Spaten Brikettmengen umschichtet; werden Gesundheitsrisiken und nachhaltige Staubbelastung ­thematisiert, fingiert Alina-Katharin Heipe Hustenanfälle; Um­ siedlungsmaßnahmen werden szenisch durch das Zuführen wei­ terer Holzteile in das entstehende Hausgerüst illustriert. Als es um die Landschaftssanierungsprojekte im Leipziger Neuseenland geht, decken die Spielerinnen und Spieler die Bühne mit einem sandfarbenen Tuch ab und positionieren sich zwischen Sonnen­ schirm und Schwimmfigur. „Keiner hat gesagt, dass es leicht wird.“ Die Reihe szenisch ähnlich hilflos wirkender Illustrierun­ gen ließe sich noch weiterführen, und sie ist der Grund, warum Kroesingers „Brennende Erde“ trotz wertvoller Bildungsarbeit die schwächste der drei „Bergbautheater“-Produktionen ist. „Gold & Coal“ wurde vom Performance-Kollektiv Kötter/­ Israel/Limberg entwickelt, das den Dokumentarfilmemacher ­Daniel Kötter, die Dramaturgin Sarah Israel und die Bühnen­ bildnerin Elisa Limberg vereint. Sie haben in der Residenz, der Spielstätte für freie Projekte, einen Parcours aus zwölf Holzboxen gebaut, den man in Zuschauerkleingruppen begeht. Inhaltlich verschachteln sie im wahrsten Wortsinne Geschichten aus der sächsischen Kohleregion mit Geschichten aus Westpapua, der zu

bergbautheater

Indonesien gehörenden Westhälfte Neuguineas, wo das US-ameri­ kanische Unternehmen Freeport am Grasberg die größte Gold- und Kupfermine der Welt unterhält. Abwechselnd warten in einer Box entweder Drehstühle mit VR-Brillen oder Performerinnen und Per­ former wie die Papuan-Voice-Aktivistin Agustina Helena Kobogau, die uns von ihrem Kampf gegen Freeport erzählt. Die dokumenta­ rischen 360-Grad-Aufnahmen versetzen uns an jene Schauplätze, die das Kollektiv für seine Recherchen besucht hat: in den Dschun­ gel von Westpapua, in Arbeitersiedlungen, auf Abraumhalden, ­Tagebaulandschaften und das renaturierte Kap Zwenkau. Ohne die jeweiligen regionalen und sozialen Differenzen zu nivellieren, werden durch das Prinzip der Parallel-Erzählungen die Gemeinsamkeiten vom globalen und lokalen Raubbau an der Natur zum Profit herrschender Regierungen und Unternehmen überdeutlich. Hier wie dort werden Menschen aus der Heimat vertrieben, umgesiedelt und mit dem Versprechen auf Arbeit und wirtschaftlichen Aufschwung ruhiggestellt. Im letzten Raum ist ein einsamer Monitor, er zeigt Bilder des Protests – 1989 in ­Leipzig, heute in Neuguinea –, und verweist nicht nur auf das ­Potential von Revolutionen, die Geschichte verändern zu können, sondern appelliert auch an Formen weltweiter Solidarisierung. Die Produktion „Wismut – A Nuclear Choir“ von Jule Flierl und Mars Dietz ist die experimentellste der Trilogie. Auch sie ba­ siert auf reichhaltigem Recherchematerial, insbesondere zur Ge­ schichte des Uranbergbaus in der DDR und den Folgeschäden für Natur und Mensch, das jedoch größtenteils auf einen die Produk­ tion begleitenden Blog ausgelagert wurde. Das Publikum ist in der Form des Strahlenwarnzeichens in drei Gruppen um zunächst drei der sieben Performerinnen platziert. Dunkelheit. Tropfgeräu­ sche. Stimmen pressen verzerrte und verschluckte Silben zu Wortreihen heraus: „Theee earth’s Wunderschrein / der Uranriese erhebt sich / to the men who called him / dass er dem Werk diene“. Die Körper verkrampfen, ersticken an der Hybris, mit der der Mensch begann, der Erde unter die Haut zu gehen. Dann zwängen sich die Performerinnen unter unseren Stühlen hindurch wie durch Schächte, berichten davon, wie der Uranbergbau in der DDR, von der Umweltbehörde und Öffentlich­ keit weitgehend unbeachtet, unbewohnbare Landschaften und l­ungenkranke Menschen produzierte. Als Nächstes bilden die Per­ formerinnen in ihren bunten, queer-futuristisch anmutenden Ove­ ralls eine Polonaise durch den Saal und reenacten Passagen des Bergmannstanzes des Volkskunstensembles der DDR von 1955. Dann zerlegen sie das Gedicht „Erz des Friedens“ von Werner Kunz in sein Wort- und Lautmaterial und entledigen sich auf diese Weise seiner historisch-propagandistischen Bedeutung. Im letzten Teil gibt Jule Flierl Einblick in die Gespräche, die sie mit ihrer ­Familie gesucht hat. „Jule, wir hatten damals nicht so ein senti­ mentales Verhältnis zur Natur – wir mussten den Russen helfen, das Monopol der Amerikaner zu brechen“, resümiert Opa Harry. Bis in die 1990er Jahre wurde im sächsischen Erzgebirge uranhalti­ ges Erz abgebaut, nun organisiert die Wismut GmbH mit Bundes­ mitteln die Sanierung der verstrahlten Landschaften – eine „Ewig­ keitsaufgabe“. „Wismut – A Nuclear Choir“ ist der äußerst positiv nachstrahlende Versuch, den Topos des Zerfalls, Teilens und NeuVerbindens von Materie in das Bewegungs- und Stimmmaterial eines Tanz-Doku-Performance-Kollektivs zu übertragen. //

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Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Kinder unserer Zeit Der Wiener Regisseur Franz-Xaver Mayr sucht den optimalen Probenprozess – als Voraussetzung für politisches Handeln

D

ie Figuren müssen dem Publikum erstmal egal sein“, sagt FranzXaver Mayr, dessen „Heldenplatz“-Inszenierung Anfang Januar Premiere am Schauspielhaus Graz hatte. „Sie müssen sich in Ruhe entwickeln dürfen.“ Erst so könne aus den Zeilen hervortreten, was damit gemeint sein könne. Um die zeitgeschichtlichen Implikationen des 1988 uraufgeführten Textes von Thomas Bernhard ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, hat Mayr einen Prolog und einige Fußnoten angefügt. „Egal“ sind ihm die Figuren dabei aber keineswegs, behutsam geht der 1986 in Hallein ­geborene Regisseur gegen Erwartungshaltungen vor, besetzt gegengeschlechtlich und verzichtet auf ein Ausstellen der Komik der Tiraden. Der Bernhard’sche Rhythmus hat es ihm angetan, der sei wie eine schwere Bank, ganz fest und unverrückbar, besser noch als Musik, jedenfalls „wertvoll und hart“. Nach seinen Studien der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und der Regie an der Zürcher Hochschule der Künste wurde Mayr 2016 mit seiner Diplominszenierung „Anti­ gone“ zum Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen. 2017 inszenierte er am Schauspielhaus Wien „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ von Miroslava Svolikova und wurde dafür in der Kategorie „Nachwuchs“ für den Nestroy-Preis nominiert. „Mittlerweile ist das Arbeiten entspannter“, sagt Mayr, „nicht mehr so atemlos wie am Anfang.“ Derzeit konzipiert er gemeinsam mit der Autorin und Theatermacherin Nele Stuhler ein Projekt für die erstmals stattfindende Stückewerkstatt der Mülheimer Theatertage. Vier Text-Regie-Duos wurden ausgewählt und haben die Möglichkeit, ihre Konzepte über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren auszuloten. Eine erste Präsentation soll aber schon während des Festivals im Mai stattfinden. „Wenn wir über gemeinsame Arbeitsweisen nachdenken wollen, dann müssen wir auch das Ergebnis offenlassen – vielleicht ist ein konventionelles Leseformat für unser Labor am

Ende nicht das Richtige“, relativiert Mayr. In der prozesshaften Verbindung von Text und Regie will er einerseits die Schauspielenden als Mitdenkende verstehen, andererseits sich nicht von vornherein darauf versteifen, dass am Ende „Text aus Mündern“ herauskommen soll. „Es wird sich immer jemand finden, der oder die einfach eine Geschichte schreiben will, spielen will, sehen will – mich interessieren diese Konventionen nur insofern, als dass ich sie auf die Probe stellen will.“ Gemeinsam mit dem Bühnenund Kostümbildner Korbinian Schmidt und dem Dramaturgen Moritz von Schurer entwickelte Mayr 2016 die Produktion „Die großen Kinder un­serer Zeit“ und gewann damit den Nachwuchswettbewerb des Theaters Drachengasse Wien. 2017 folgte ebendort „Arme Gerechtigkeit, liegst im Bett und hast kein Kleid!“. Rasante Monologe, krasse Brüche und ein superbes Ensemble machten diese Produktionen zu e­ inem aberwitzigen Abenteuer der Assoziationen. „Vertrauen, Verständnis, Interesse – das ist das Wichtigste beim gemein­samen Ausverhandeln. Unser Ensemble nähert sich von unterschiedlichen Positionen einander an, alle sagen zu allem was und dann läuft es ­irgendwann von allein.“ Und laufen wird bald auch wieder was: Am 4. Mai hat „Der Anfang, das Ende“ Premiere, die nächste Produktion in der Drachengasse. „Eine Inszenierung wird fertig, das ist eine schöne Sache, aber es ist nur die halbe Sache, mich beschäftigt gleichzeitig das Theater als ein Ort, an dem wir die Regeln, nach denen wir handeln wollen, selber aufstellen können“, formuliert Mayr seinen Anspruch. Er arbeite am optimalen Probenprozess, ­ „wenn das mal funktioniert, dann glaube ich vielleicht auch ans größere politische Handeln“. Bis dahin ist es jedenfalls eine sehr schöne Sache, dass dabei so quirliges und agiles Theater herauskommt wie bei Mayr. // Franz-Xaver Mayr. Foto Hans Panichen

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Theresa Luise Gindlstrasser „Heldenplatz“ in der Regie von Franz-Xaver Mayr ist am 14. und 28. März am Schauspiel Graz zu sehen.


Look Out

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Abseits des Bekannten Die Berliner Regisseurin Friederike Hirz schafft mit ihren choreografischen Arbeiten neue Bilderwelten

m Tag nach der letzten Vorstellung habe sie schon das Stück für die nächste Inszenierung gelesen, erzählt Friederike Hirz. Und angefangen zu arbeiten. Dass zwischen den Abenden der 1988 geborenen Regisseurin bislang größere Abstände lagen, rührt auch von der umfassenden Recherche. Der Stücktext ist selbst nur ein Teil des Materials. Theater als Dienstleistung, bei der man heute „Romeo und Julia“ und morgen die nächste Inszenierung abliefert, ist Hirz fremd. Keine Kompromisse. Dann lieber kellnern. Sie ist überzeugt, dass Theater fundamentale Fragen des menschlichen Zusammenlebens verhandeln kann. Ende Februar feierte mit „The People (Hoffnung)“ der dritte und somit letzte Teil ihrer Ibsen-Trilogie Premiere. Der erste Teil „Hedda (Glaube)“ ist von 2015, der zweite „Peer (Lüge)“ von 2019. Als Grundlage dienten „Hedda Gabler“, „Peer Gynt“ und „Ein Volksfeind“. Glaube, Lüge, Hoffnung – Liebe ist kein Thema, außer unter dem Aspekt der Macht. Es interessiere sie vor allem, wie Gesellschaft funktioniere, erzählt Hirz. Und Ibsen sei dafür ausgezeichnetes Material. Seine Stücke zeigen die Heraus­ bildung der bis heute existierenden bürgerlichen Welt – die sich inzwischen in einer existenziellen Krise befindet. Diese reiche vom Kapitalismus und Nationalstaat über die parlamentarische Demokratie und den Liberalismus bis zur Kleinfamilie. Ibsen veranschauliche, so Hirz, die Wechselwirkung zwischen Mensch und System, das Agieren in selbstgeschaffenen Zwängen. Und das zudem psychologisch außerordentlich präzise. Dass sich Friederike Hirz für ihre Arbeiten Zeit nimmt, zeigt sich auch in ihrer Bühnensprache. Sie vermeidet das formal Konventionelle, gegen das Abgegriffene scheint sie eine idiosynkratische Abneigung zu haben. So gelingt es ihr, bislang unbekannte Bilder zu erzeugen, die sich aus einem penibel abgestimmten Zusammenwirken von Raum, Musik, Körpern und Sprache ergeben. Das Choreografische ist ein wichtiges Element ihrer Inszenierungen. Seit frühester Kindheit hat sie selbst

Friederike Hirz. Foto Vanessa Marino

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getanzt, sah die Arbeiten von Johann Kresnik in Bonn und studierte nach der Schule Tanz in Mexiko. Das allerdings war ihr zu technisch: zu viel Training, zu wenig Kopf. Daraufhin studierte sie Politikwissenschaft in Hamburg und Mexiko. Sie las Theorie, von den angesagten Poststrukturalis­ ten bis zu den Klassikern, die sie heute immer mehr interessieren. Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill oder Hannah Arendt zum Beispiel. Theorien, die der Frage folgen, wie das Unwahrscheinliche möglich wird: dass Menschen demokratisch und friedlich zusammenleben. Bevor Hirz an der ­ Hoch­schule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin ein Regiestudium aufnahm, assistierte sie mehrere ­Jahre an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Insbesondere Frank Castorf und Silvia Rieger haben sie geprägt. Bei ihnen fand sie neben künstlerischer Konsequenz einen Blick auf die Welt wieder, der sich den eingeschliffenen Mehrheitsmeinungen entgegensetzt. Wie bewegt sich der Einzelne, behauptet sich gegen das Kollektiv, erhebt die Stimme und bemächtigt sich eines Texts? Solche politischen Fragen spiegeln sich in den künstlerischen Formen wider. Glaube – das war Heddas Untergang, weil sie einer überholten Illusion anhing bis hin zur selbstzerstöre­ rischen Verleugnung. Lüge – Peers Narzissmus, der von der Gesellschaft aufrechterhalten und hofiert wird. Und nun Hoffnung – die Hoffnung, dass es außer der fatalen Wahl zwischen dem Bestehenden und dem noch Schlimmeren einen anderen Weg geben könnte, die Widersprüche aufzulösen. Am Ende von „The People (Hoffnung)“ sind es eine Wissenschaftlerin, eine Hausfrau und ein Kind, die den Umsturz forcieren. Das ist, was sie antreibt: Sehnsucht nach etwas Produktivem, ein Ausweg aus dem Bekannten. // Jakob Hayner

„The People (Hoffnung)“ von Friederike Hirz ist am 5., 6. und 7. März im bat Berlin zu sehen.

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auftritt

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Buchverlag Neuerscheinungen

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Bau­ geschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte.

Buchpremiere am 08.04.2020, Berliner Ensemble

fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Herausgegeben von Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher

The European Balcony Project The Emancipation of the European Citizens Herausgegeben von Ulrike Guérot, Verena Humer, Robert Menasse und Milo Rau

Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00

Taschenbuch mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-277-7 EUR 18,00 (print) . EUR 14,99 (digital)

„Meine Heimat ist die Probe“, pflegte Dimiter Gotscheff zu sagen. Für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner Inszenierung „zur Welt kommen“. Und Thomas Langhoff wurde auf der Probe selbst zum energiegeladenen Darsteller. Doch was genau findet während der Proben statt? Wie entwickelt der Schauspieler seine Figur?

Die Bildsprache Volker Pfüllers ist die Sprache des Theaters: in seiner Vielfalt und in seiner Expressivität. Er ist anerkannt als Grafiker, Plakatkünstler, Buchgestalter, Schriftsteller – und nicht zuletzt als Bühnen- und Kostümbildner. Seit über fünfzig Jahren entwirft er unverwechselbare Ausstattungen, meist sowohl Bühnenals auch Kostümbild. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Alexander Lang am Deutschen Theater im Berlin der achtziger Jahre. „Bilderlust“ dokumentiert im großen Format die Vielseitigkeit seines Schaffens.

Die Theaterwissenschaftlerin Viktoria Volkova hat die häufig mystifizierte Theaterprobe über mehrere Monate begleitet und die Probe­n­ arbeiten in Wort und Bild dokumentiert und analysiert.

Ulrike Guérot, Robert Menasse und Milo Rau riefen am 10. November 2018 in einem eindrucksvollen performativen Akt gemeinsam mit 30 000 Menschen und in über zwanzig Ländern in ganz Europa die Europäische Republik aus. Was für ein historischer Moment! Ein Kontrapunkt zum Wiedererstarken von Nationa­lismen. Diese Publikation spiegelt die Intention dieses andauernden Projekts mannigfaltig und lustvoll in Bildern, Geschichten und politischen Beiträgen wider.

RECHERCHEN 152 Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit v. Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff u. Thomas Ostermeier

Volker Pfüller Bilderlust Herausgegeben von Stephan Dörschel

Taschenbuch mit 360 Seiten ISBN 978-3-95749-238-8 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Paperback mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-234-0 EUR 25,00 (print) / 19,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Foto: Laure Ceillier, Pierre Nydegger

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Ist mein Mikro an? Kurator Stefan Schmidtke über das Festival Theater der Welt 2020 in Düsseldorf im Gespräch mit Martin Krumbholz

Das Geheimnis ist der Ort, an dem Sie es machen. Düsseldorf ist kein Szenespielort, sondern eine bürgerlich-akademische Stadt, in der Kunst einen hohen Stellenwert hat – und Düsseldorf hat einen exzen­ trischen Flügel, man denke an die vielseitige zeit­ genössische Kunstszene und die elektronische Musikszene oder die Band Kraftwerk. Dieses Publikum kann ich nicht mit einem flippig-floppigen Szeneprogramm überfallen. Das heißt nicht im Umkehrschluss, dass ich den x-ten klassisch erzählten „Hamlet“ aus Sankt ­Petersburg präsentiere, sondern ich brauche für diese Stadt exzellente ästhetische Positionen, aus denen sich eine große Welterzählung bilden lässt. Wie zum Beispiel die Adaption eines Romans des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee aus Kapstadt?

Das ist unsere Eröffnungsinszenierung, „Leben und Zeit des Michael K.“, geschrieben 1983, in der Regie von Lara Foot, als Koproduktion mit dem Baxter ­Theatre Centre Kapstadt, unter Beteiligung der virtuosen Handspring Puppet Company. Die Geschichte einer gewalttätigen Welt, die einen krassen Außen­ ­ seiter produziert. Wir wollen sie in die Gegenwart transportieren. Die Proben dafür finden in Kapstadt und hier in Düsseldorf statt, es wird ein Ensemble aus deutschen und südafrikanischen Spieler*innen geben, zusammen mit den Puppen von Handspring. Um ein Novum vorwegzunehmen: Es gibt erstmals ein breites Kinder- und Jugendtheaterprogramm, mit immerhin zehn Positionen.

Gleich die zweite Premiere im Großen Haus ist für Kinder ab acht Jahren und Erwachsene: „Die Geschichte von der Geschichte“ von Jetse Batelaan und seinem Theater Artemis, ein smartes und ungeheuer witziges Making-of, das der Frage nachgeht, wie

Theater eigentlich entsteht, was dessen Kern aus­ macht. Überhaupt nicht textlastig, sondern hoch performativ. Ich halte diese Komponente für existenziell wichtig, aber realisierbar ist sie nur, weil wir hier in Düsseldorf ein sehr gut funktionierendes Kinder- und Jugendtheater vorfinden. Das junge Programm und die Inszenierungen nur für Erwachsene kreieren gemeinsam die Gesamtdramaturgie des Festivals. Junge Blicke auf Themen, die auch Erwachsene beschäf­ tigen, und umgekehrt. Ich vermute, eine Produktion wie „Ist mein Mikro an?“ gehört auch in dieses Segment.

Der Titel zitiert Greta Thunbergs Rede vor dem britischen Parlament im April 2019. Das Stück ist ein ­Projekt von 27 jungen Menschen – für ein erwachsenes Publikum. Ja, wir müssen zuhören. Konfrontation ist out, das ist meine Überzeugung. Wir müssen das „Change the World“ gemeinsam anpacken, Jung und Alt. Egal, ob es ums Klima geht oder um welches kontroverse Thema auch immer.

Düsseldorf 14. — 31. Mai

Stefan Schmidtke, Sie waren während der Intendanz von Staffan Valdemar Holm 2011 bis 2014 hier in Düsseldorf ­ ­Leitender Dramaturg, jetzt kehren Sie als Kurator des alle drei Jahre stattfindenden Festivals Theater der Welt zurück. In zehn M ­ onaten haben Sie das Programm auf die Beine gestellt. Was ist das Geheimnis von Theater der Welt?

Wo liegt für Sie der politische Schwerpunkt? Offensichtlich gibt es einen feministischen Diskurs.

Fast fünfzig Prozent der eingeladenen Produktionen stammen von weiblichen Regieteams.

European Philosophical Song Contest

Massimo Furlan, Claire de Ribaupierre — Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Litauen, Norwegen, Portugal, Schweiz, Slowenien, Spanien / Musiktheater Deutschlandpremiere — Mit deutschen Übertiteln

Der Eurovision Song Contest kommt nach Düsseldorf! Allerdings mit einer markanten Neuerung: Alle Texte des Wettbewerbs stammen von zeitgenös­ sischen Intellektuellen aus zehn Ländern, die mit ihrem Songtext auf die Frage antworten: Was soll aus Europa werden? Die eigens komponierten Popsongs werden vom Publikum und einer Jury aus Düsseldorfer*innen bewertet, die live am Abend jeden Song diskutiert. Entscheiden Sie, welche Vision für Europa gewinnt! Am 23. und 24.5. im Schauspielhaus


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Wie beim Berliner Theatertreffen.

Besser als beim Theatertreffen, ohne eine vorgege­ bene Quote. Das hat sich einfach ergeben beim Schauen und Finden, ohne eine spezielle Agenda im Vorfeld. 2019 war ein sehr gutes Theaterjahr, zehn Monate sind kein allzu großer Zeitrahmen, um ein Programm zu kuratieren. Sie sind viel herumgekommen: Wo findet Ihrer Meinung nach das spannendste Theater statt?

Festival Theater der Welt 2020

In Neuseeland, Australien und Kanada. Künstler und Künstlerinnen der First Nations und Inuit in Kanada, Maori in Neuseeland und Aborigines in Australien, ­verarbeiten dort, in diesen ehemaligen Kolonien, die komplexesten Themen von Tradition und Gegenwart, mit modernen, zeitgenössischen Ästhetiken und Handschriften; das sind Begegnungen auf Augenhöhe, wie man sie sich wünscht. Aus verschiedenen Teilen Kanadas sind acht Produktionen ins Programm gekommen. Kanada ist dieses Jahr auch Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die Sängerin Tanya Tagaq, eine Inuk, hat ein poetisches Buch über ihre Kindheit in einem ­Reservat am Polarkreis geschrieben. Sie wird diesen Roman, „Eisfuchs“, auf der Buchmesse vorstellen. Hier auf dem Festival wird sie so etwas wie EthnoPunk performen, mit einem sechsköpfigen Kehlkopfgesangs-Chor. Den Begriff Ethno-Punk verwendet sie übrigens selbst. Es ist ganz großartig, wie sie ihren eigenen Text von allen bekannten psychologischen Denk­ mustern befreit und zu reiner Sprechkunst erhebt. Das öffnet Horizonte.

Sie sprechen von originären Themen und einer Ästhetik auf Augenhöhe: Wie ist das gemeint?

Über eines darf man sich nicht täuschen: Das Theater, wie wir es vornehmlich kennen, ist eine europäische Erfindung, die exportiert wurde. Es gibt überall auf der Welt Indigenous Art, mit großer Ausdruckskraft und Vielfalt. Wir allerdings suchen viel zu oft nach Abziehbildern unserer eigenen Kultur. Das ist ein großer Widerspruch, den ich nicht aus der Welt schaffen ­ kann. In Chile und Kanada, Australien, Brasilien und vielen anderen Ländern erobern indigene Künst­ler*in­ nen die Szene längst und schaffen neue Produktionsstrukturen.

Leben und Zeit des Michael K.

Lara Foot und Handspring Puppet Company — Südafrika, Deutschland / Schauspiel

Foto: Handspring Puppet Company

Uraufführung — In Englisch, Deutsch, Afrikaans und Xhosa mit deutschen Übertiteln

Zur Eröffnung des Festivals bringt Regisseurin Lara Foot den Roman des Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee auf die Bühne – mit der südafrika­ nischen Handspring Puppet Company sowie mit einem Ensemble von ­Schau­spieler*innen aus Düsseldorf und Kapstadt. »In einer gewalttätigen Welt ist Michael K. ein einfacher Prophet und ein Prophet der Einfachheit, der Kraft in seiner Menschlichkeit und seiner Verbindung zur Erde sucht«, so Lara Foot. »Es ist eine beängstigend schöne Geschichte.« Am 14. und 15.5. im Schauspielhaus


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Die Geschichte von der Geschichte

Jetse Batelaan, Theater Artemis — Niederlande / Schauspiel Deutschlandpremiere — In deutscher Sprache — Für Familien und Kinder ab 8 Jahren

Die Arbeiten des Regisseurs Jetse Batelaan, des »wildesten Freidenkers des ­niederländischen Theaters«, sind berühmt für ihre starke Bildsprache und ihre absurde Komik. Sie bewegen sich jenseits der Genregrenzen und richten sich ­gleichermaßen an Kinder, Jugendliche und Erwachsene. „Die Geschichte von der Geschichte“ ist ein Theaterereignis von überbordender Spiellust und Fantasie für alle ab 8 Jahren. Jetse Batelaan wird im Rahmen des Festivals für sein Werk mit dem Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) ausgezeichnet.

Und es gibt eine Verbrüderung in einer Art globaler Protest­ kultur, richtig?

Aus meiner Sicht ist das „Anti“ passé. Man muss nicht ständig im politischen Chor mitquatschen, man muss nicht noch mehr kritische Masse anhäufen, das haben längst die NGOs und die verschiedensten Institutionen kompetent übernommen. Theater ist kein Spaltpilz, das wäre nach meiner Ansicht der falsche Ansatz. Die Macht des Theaters liegt darin, Gemeinschaft zu stiften, das Festival ist ein Friedensfest. Je mehr Respekt und Wertschätzung wir während des Festivals leben, desto größer die Chance, dass Leute, die irgendwo am Rand stehen, womöglich feststellen: „Wow, da will ich mit dabei sein, die erzählen mir was Neues und haben sogar gute Laune!“ Lassen Sie uns zwei Positionen näher betrachten, eine davon allerdings durch und durch europäisch. Es wird einen so­ genannten „European Philosophical Song Contest“ geben. Eurovision in Düsseldorf, wie schön!

Dafür gibt es 14 europäische Produzenten. Der wunderbare Massimo Furlan aus Lausanne hat elf renommierte Intellektuelle gebeten, jeweils einen kleinen Text zur Zukunft Europas zu verfassen, aus dem dann ein Popsong kreiert wurde. So haben wir elf kluge visio­näre philosophische Texte in Gestalt jeweils eines Songs, in der Art eines Trojanischen Pferds. Es gibt eine Bühnenshow und in unserem Fall eine Jury aus Düsseldorfer Bürger*innen. Die Jury diskutiert und vergibt Punkte. Und das Publikum stimmt auch ab. Aus

der Schnittmenge ergibt sich ein Votum. Der Song Contest wandert durch Europa, und es ist höchst spannend zu sehen, welche Vision für Europa sich in welchem Land durchsetzt. Großes Entertainment?

Entertainment der Form nach, mit einem klugen ­Gedanken im Kern. Das ist überhaupt die Idee. Das Publikum und die Kritiker*innen freuen sich über die kleinen witzigen Abstecher rechts und links, aber die Kernmasse des Festivals bildet eben die große Welt­ erzählung im Zentrum. Drum herum gibt es dann diese schnellen Blitze und Stromstöße, die das Ganze ­vibrieren lassen – den Diskurs. Nicht unbedingt schnell und blitzartig, aber jedenfalls ziemlich ungewöhnlich scheint das 24-Stunden-Projekt „The Second Woman“ aus Australien zu sein, das Sie im Kleinen Haus ­zeigen.

Da fällt Ihnen die Kinnlade runter, versprochen! Das ist eine einzigartige Performance, die von der lokalen Kritik in Australien als die bedeutendste des Jahres 2019 bezeichnet wurde. Konzipiert von Nat Randall und Anna Breckon, ausgeführt von einem One-HundredPercent-Women-Team. Basis ist der John-CassavetesFilm „Opening Night“ aus den siebziger Jahren, ein Beziehungsclinch. Eine einzige Szene daraus wird genau einhundert Mal gespielt, mit einer einzigen ­ Schauspielerin und einhundert wechselnden männlichen Partnern, die allesamt Laien sind. Die Schauspielerin ist Wiebke Puls von den Münchner Kammerspielen, die 24 Stunden auf der Bühne bleibt und immer wieder mit einer weiteren Form der männlichen Energie konfrontiert wird.

Düsseldorf 14. — 31. Mai

Foto: Kurt van der Elst

Am 16. und 17.5. im Schauspielhaus


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Isto é um Negro?

Tarina Quelho, E Quem É Gosta? — Brasilien / Performance Deutschlandpremiere — In portugiesischer Sprache mit deutscher Live-Übersetzung — Für alle ab 18 Jahren

Am 23. und 24.5. im Central

Das klingt extrem. Kann man so einen Akt einer Schauspielerin denn zumuten?

Sie mutet sich das zu. Alle Beteiligten setzen sich gewissermaßen gemeinsam einer Sondersituation aus, auch die Männer und das Publikum. Niemand weiß, was geschehen wird. Es ist sogar recht gefährlich, denn die Männer denken sich möglicherweise ja auch etwas aus für ihre Szene. Jeder kann sich anmelden, ganz ohne Casting, die Männer müssen sich einzig ­sieben Seiten Skript draufschaffen, das allerdings aus sehr einfachen Repliken besteht. Bei der Aufführung in Perth, wo Nat Randall selbst spielte, hat sich mir aber auch die Frage gestellt, ob es nicht die Männer sind, die hier benutzt werden, denn letztlich haben sie keine Chance. „The Second Woman“ ist ein radikalfeminis­ tisches Konzept.

Und wenn der Mann etwas ganz anderes sagt?

Das gab es auch immer wieder mal. Der Mann hat ­allerdings nach diesem Satz abzugehen. Hier greifen Theatergesetze: Ist ein Satz am Ende schwach, verliert sich die Szene in der Erinnerung. Alle Versuche, die ich gesehen habe, waren recht hilflos. Ha! Sie sprechen von Radikalfeminismus, andererseits lehnen Sie programmatisch einen Konfrontationskurs ab.

Es geht mir nicht um eine Konfrontation: Festival versus Ort. Das Festival ist Rahmen für unterschiedliche Positionen. Jede Produktion bleibt sie selbst, aus ­deren Aneinanderreihung können die Zuschauer*innen

Und, werden sie benutzt?

Das müssen die Zuschauer entscheiden. In Perth bestand das Publikum zeitweise fast nur aus Frauen, vor allem nachts; morgens um acht kamen dann die ­Männer vom Joggen. Übrigens darf der Mann auf der Bühne über den letzten Satz entscheiden. Er heißt ent­ weder „Ich habe dich immer geliebt“ oder aber „Ich habe dich niemals geliebt“.

Dragón

Guillermo Calderón — Chile / Schauspiel Deutschlandpremiere — In spanischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Die Inszenierung Dragón des chilenischen Theatermachers Guillermo Calderón sprengt die Grenzen üblicher Theaterinszenierungen. Das Stück schildert den Versuch, sich künstlerisch selbst neu zu erfinden: Das Künstler* innenkollektiv Dragón hat sich vorgenommen, das exemplarische Kunstwerk des 21. Jahrhunderts zu schaffen. Nichts mehr. Aber auch nichts weniger. Bei Theater der Welt 2020 wird Dragón auf der Piazza des K21 als Installation gezeigt. Am 22. und 23. 5. in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen – K21

Foto: Eugenia Paz

Festival Theater der Welt 2020

Foto: Rodrigo Oliveira

So leicht und offenherzig der Abend daherkommt, so ernsthaft ist sein Anliegen: Isto é um Negro? (Ist das ein Schwarzer?) zeigt, dass Rassismus in Brasilien strukturelle Praxis ist, und betont dessen Präsenz in allen Aspekten gesellschaftlichen Lebens. Vier Spieler* innen erobern die Bühne und erzählen davon, was es heißt, heute in Brasilien als schwarze Künstler*in zu arbeiten. Das furiose Ensemble spielt und ­improvisiert virtuos an den Grenzen von autobiografischem Bericht und Fiktion, Humor und Konvention.


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How to Fail as a Popstar

Vivek Shraya — Kanada / Performance Internationale Premiere In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Die kanadische Allroundkünstler*in Vivek Shraya ist Musiker*in, Schriftsteller*in und Filmschaffende, die keinem der gängigen Geschlechterschemata entsprechen will und kann. How to Fail as a Popstar ist eine glamouröse One-PersonalityBühnenshow quer durch alle Genres und zugleich eine Reflexion über die Kraft der Popkultur und die Suche nach Selbstbestimmung. Vivek Shraya ermutigt ihr Publikum dazu, Geschlecht und Identität im 21. Jahrhundert neu zu denken.

Vielfalt erleben. „The Second Woman“ bleibt Spiel und Dekonstruktion. Ein vorgegebenes Setting, ein implizit ideologisches Konzept wie einen, nach seinem Verständnis, avantgardistischen Cassavetes-Film zu dekonstruieren, das ist in jedem Fall eine feine Sache. Nehmen Sie beispielsweise „Isto é um Negro?“ von Tarina Quelho aus Brasilien. Übersetzt: „Ist das ein Schwarzer?“ Man streitet in Europa sehr akademisch über Begrifflichkeiten. Eine ganz andere Sache ist es, wenn vier nackte schwarze Menschen die Bühne betreten und eine „Diskussion unter Gleichen“ anzetteln: Man wird aggressiv-liebevoll, mit Charme und Witz aufgefordert, sich zu Fragen zu äußern wie der, ob es eine schwarze Kunst gebe. Jeder im Publikum kann sich frei äußern, aber eine Diskussion unter Gleichen ist es offensichtlich nicht, wenn vier nackt sind und alle anderen bekleidet. Sie wollen und werden in die Stadt ausstrahlen. Sie bespielen nicht nur die sieben Spielstätten des Schauspielhauses, sondern auch andere illustre Orte.

Wir spielen im Forum Freies Theater und im Tanzhaus NRW, aber auch im Landtag und in der Kunstsamm-

lung Nordrhein-Westfalen – im K 21. Landtagspräsident André Kuper und Susanne Gaensheimer, die Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, ­ öffnen uns ihre heiligen Hallen! Aus Chile kommt ­„Malen“, betont auf der zweiten Silbe, ein Ensemble aus 17 Frauen zwischen zwölf und siebzig Jahren, vom Stamm der Mapuche. Das ist ein Volk, das sehr lange kolonisiert war und auch heute noch unterprivilegiert ist. „Malen“ ist ein politisch konnotierter Initiationsakt, der in einer scharf gezogenen Form in eine Choreografie übersetzt wird. Damit intervenieren wir im Landtag, im ganz normalen Tagesgeschäft, wenn die Abgeordneten dort ihrem Alltag nachgehend hoffentlich mit ihren Akten herumlaufen. Und im K 21?

Auf der Piazza des K 21 spielen wir ein Stück des ­Chilenen Guillermo Calderón mit dem Titel „Dragón“, das nach der Möglichkeit der Kunst fragt, auf die ­großen politischen Konflikte unserer Zeit Einfluss zu nehmen. Da werden auf sehr komische Art alle erdenklichen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts durchexerziert, Fragen nach ethischer Korrektheit spielen

Düsseldorf 14. — 31. Mai

Foto: Heather Saitz

Am 29. und 30.5. im Schauspielhaus


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Malen

Ricardo Curaqueo Curiche — Chile / Tanz Internationale Premiere

Malen ist eine Choreografie, in der 17 chilenische Mapuche-Frauen im Alter von zwölf bis siebzig Jahren auf der Bühne stehen. In der Sprache der ­Mapuche sind »Malen« junge Mädchen, die von älteren Frauen über Tradi­tionen und Werte aufgeklärt werden. Die Frauen fordern ihr Recht auf ein gleichberechtigtes Leben ein und nutzen Bewegung und Körper dazu, sich aus der gesellschaftlichen ­Marginalisierung zu befreien. 2019 wurde Malen als bestes Tanzstück mit dem chilenischen Kritikerpreis ausgezeichnet.

eine wichtige Rolle. Aber eben nicht todernst. In den aufgerufenen diskursiven Zusam­ me­ n­ hang des Festivals gehören auch die zahlreichen flankierenden Maßnahmen, Seminare an 22 Hochschulen, die schon im Vorfeld anlaufen, oder das Schülertheaterfestival Maul­held*in­nen, das in das Festival integriert wird. Es wird ein großer lebendiger Debattenraum eröffnet werden. ­ Darüber hinaus wird es eine gigantische Soundinstallation im Stadtraum geben, die sich mit einem Musikprogramm von fünf Kontinenten im ­ Schauspielhaus­ foyer verbindet. Unsere Referenz, oder besser, ein Weltecho, auf den Beginn des Futuristisch-Radikalen in der Kunst in Düsseldorf – die Keimzelle der elektronischen Musik. Was darf ich auf keinen Fall verpassen?

Den Auftritt von Vivek Shraya mit „How to Fail as a Pop­star“. Shraya ist Kanadierin, Poetin, Performerin, Komponistin, geboren in einem Männerkörper. Vivek Shraya ging mit 18 Jahren nach Paris und kehrte als Frau zurück, ohne Operation. Aber Vivek bezeichnet sich weder als Trans, noch als Queer, sondern einfach als Popstar, und Pop kann alles mit allem verbinden. Eine außergewöhnliche Person, und es ist ihr erster Theaterabend: eine Personality-Show. Die Zeitschrift NOW in Toronto hat dazu geschrieben: Vivek Shraya hat so viel Seele, dass nicht ein Genre allein sie zu erfassen vermag. Haltungen zu Genderfragen über Popkunst zu finden, scheint ein aussichtsreiches und freudiges Unternehmen zu sein.

Foto: Thomas Rabsch

Foto: Patricio Melo

Festival Theater der Welt 2020

Am 18.5. im Schauspielhaus und am 19.5. im Landtag NRW

Der 1968 in Döbeln in Sachsen geborene Stefan Schmidtke studierte Regie an der Russischen Theaterakademie RATI-­ GITIS in Moskau. Ab 1996 war er im Team mit Thomas Ostermeier und Jens Hillje an der Baracke am Deutschen Theater in Berlin engagiert. 1999 inszenierte er am Omsker Schauspielhaus in Sibirien und leitete ein Festival deutschsprachiger Dramatik in St. Petersburg. Unter Intendant Luc Bondy war er ab 2002 künstlerischer Leiter der Reihe "forumfestwochen ff" der Wiener Festwochen, 2007 und 2008 Künstlerischer Leiter des Festivals Theaterformen in Hannover und Braunschweig. Von 2008 bis 2010 hat er die Programmabteilung für die Kulturhauptstadt Europas Tallinn 2011 aufgebaut. 2011 bis 2014 leitete er gemeinsam mit Almut Wagner die Dramaturgie am Düsseldorfer Schauspielhaus unter Staffan Valdemar Holm. 2014 wurde er Schauspielchef und später Chef­ dramaturg der Wiener Festwochen unter Intendant Markus Hinterhäuser. In 2017 kuratierte er das Rolex Arts Weekend in Berlin, die Präsentationsplattform der Rolex Mentor und Meisterschüler Initiative. Er übergab 2018 am Humboldt ­ ­Forum in Berlin den Bereich Programm und Veranstaltungen den er seit 2016 strukturell aufgebaut und geleitet hat. Stefan Schmidtke ist Programmdirektor von Theater der Welt 2020. Das Festival des Internationalen Theaterinstituts (ITI) wird vom Düsseldorfer Schauspielhaus veranstaltet und findet vom 14. bis 31. Mai 2020 in Düsseldorf statt.


Foto: courtesy of APTN

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Tanya Tagaq Uraufführung — In englischer Sprache und in Inuktitut mit deutschen Übertiteln

Tanya Tagaq ist eine der einflussreichsten Künstler*innen Kanadas. Ihr Debüt­roman Eisfuchs schildert eine Jugend am Polarkreis, die gleichnamige Inszenierung übersetzt Figuren, Gefühle und Erlebnisse in Klang und schafft für das eigentümliche erzählerische Universum von Eisfuchs Theaterbilder, die den Witz und Lebenshunger der jungen Protagonistin erlebbar machen. Tagaq überträgt die endlose Schönheit und Intensität der Arktis in eine aufwühlende, moderne Erzählung mythologischen Ausmaßes. Am 21. und 22.5. im Central

Vorverkauf und Karten

Eintrittspreise und Ermäßigungen

Karten sind ab sofort im Vorverkauf online und an den Kassen des Düsseldorfer Schauspielhauses erhältlich.

Schauspielhaus, Großes Haus Preiskategorie 1 45,– / 14,– erm. Preiskategorie 2 33,– / 11,– erm. Preiskategorie 3 19,– / 8,– erm.

Dieses TdZ-Extra ist entstanden im Rahmen einer Medienkooperation mit Theater der Welt. Redaktion Martina Aschmies, Gestaltung Gudrun Hommers

Frühbucher*innenrabatt Wer bis einschließlich 15. März Tickets für Theater der Welt kauft, erhält einen Rabatt von 25 % auf jedes Ticket zum Normal- oder Ermäßigungspreis.

Central, Große Bühne 31,- / 11,- erm. und 19,- / 11,- erm

Vorverkauf online

Kinder- und Familienstücke 12,– / 7,– erm.

www.theaterderwelt.de — www.dhaus.de — www.eventim.de

Telefonischer Kartenvorverkauf +49 (0) 211 36 99 11 Theaterkasse Düsseldorfer Schauspielhaus, Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf Montag – Samstag von 11:00 – 18:30 Uhr

„Malen“, „Dragón“, „How to Fail as a Popstar“ 19,– / 8,– erm.

Für 50 Euro um die Welt

Ein Festivalpass zum Preis von 50 Euro. Damit erhalten Sie einen Rabatt von 50% auf bis zu 10 Vorstellungen und sparen bis zu 161 Euro gegenüber dem Normalpreis. Buchbar im Webshop.

Für 10 Euro in die Welt

Neukund*innen erhalten eine Karte für eine Veranstaltung nach Wahl für nur 10 Euro.

Ein Festival des Internationalen Theaterinstituts (ITI), veranstaltet vom Düsseldorfer Schauspielhaus. Finanziert durch die Stadt Düsseldorf, das Land Nordrhein-Westfalen und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Gefördert durch

Düsseldorf 14. — 31. Mai

Eisfuchs


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Auftritt Bochum „Iwanow“ von Anton Tschechow  Bonn „Apeiron“ (UA) von Anja Hilling  Dresden „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (UA) von Manja Präkels in einer Fassung von Nils Zapfe  Frankfurt / Main „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz Köln „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ nach Carl Sternheim  Mannheim „Bataillon“ (UA) von Enis Maci  Mülheim an der Ruhr „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ nach „Il sopravvissuto“ von Antonio Scurati, mit Texten von Platon, Cees Nooteboom und Georges I. Gurdjieff

München „Am Wiesnrand“ (UA) von Stefanie Sargnagel  Nürnberg Saarbrücken „1 Yottabyte Leben“ (UA) von Olivia Wenzel

„Andi Europäer“ (UA) von Philipp Löhle


auftritt

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BOCHUM Windstille der Seele SCHAUSPIELHAUS BOCHUM: „Iwanow“ von Anton Tschechow Regie Johan Simons Bühne Johannes Schütz Kostüme Sofia Brockhausen

Es gibt Figuren der Theaterliteratur, die uns in ihrer rätselhaften Abgründigkeit immer wieder fesseln. Johan Simons, Regisseur und Intendant des Bochumer Schauspielhauses, bringt sie auf die Bühne. Erst Sandra Hüller als Hamlet, dann Steven Scharf als Woyzeck – und nun Jens Harzer als Iwanow. (Pierre Bokma als König Lear folgt Ende April.) Mit „Iwanow“ hat Anton Tschechow ein modernes Urbild der Melancholie geschaffen – und des Man-

lässt ihn lebensuntüchtig werden. Ein genauer

gels in Form von Schulden, Krankheit, uner-

Beobachter, ein zaudernder Handelnder.

Erschöpfung und Agonie, klar und hell ausgeleuchtet – Johan Simons‘ gran­dioser „Iwanow“ (auch links) am Schauspielhaus Bochum. Fotos Monika Rittershaus

füllter Liebe und unerträglicher Langeweile.

Was ist es, das Iwanow lähmt und be-

Für die Inszenierung wurde eigens eine Neu-

wegt zugleich? Das ihn auf die Partys der

übersetzung bei Angela Schanelec in Auftrag

­Lebedews treibt, auf denen er zwanghaft Unter-

gegeben. Ein großes Ensemblestück für ein

haltung vortäuscht? Er kann sich nicht mit

großartiges Ensemble. Ganze vier Stunden

Wodka betäuben, wie sein alter Freund Pawel

Liebe, weil er sich schuldig fühlt? Das Schuld-

wird die Kunst des Zusammenspiels gezeigt,

(Bernd Rademacher), der in seiner lebensklugen

gefühl überlagert alle Lebensimpulse. Er fin-

ohne an Intensität zu verlieren.

Resignation Unterschlupf gefunden hat bei

det keine Instanz mehr, die ein Begehren

Nachdem sich ächzend der eiserne

der herrischen Zinaida (Veronika Nickl). Auch

weckt, dem er folgen könnte. Iwanow reali-

Vorhang hebt, sieht man Jens Harzer auf ei-

ist Iwanow die Verbitterung fremd, in die sich

siert diesen Mangel – und er tut es stellvertre-

nem Stuhl sitzend. In der Bühnenmitte liegt

Graf Schabelskij (Martin Horn) geflüchtet hat.

tend für alle anderen, die ihn verdrängen.

Iwanows kranke Frau Anna, gespielt von Jele

Er ist gezwungen, die Abwesenheit von Arbeit

Außer Sascha. Der Selbstmord des Geliebten

Brückner. Für die Bühne hat Johannes Schütz

und von Lust, die Langeweile zu ertragen. Die

ist auch ihre Tragödie – und so nimmt sie

das Gerüst eines Quaders geschaffen – wie

unangenehme Windstille der Seele nannte

­seinen Platz vom Beginn ein. Iwanow ist auch

ein goldener Käfig ohne Gitterstäbe. Und an

Friedrich Nietzsche das. Von der Welt hat

das Dilemma eines geistigen Menschen. Und

der Brandmauer ein übergroßes Regal, das

Iwanow jegliches Begehren abgezogen. Nur

das einer historischen Situation. Zeigte

Requisiten und Kostüme aufbewahrt. Neben

die junge Tochter der Lebedews bewegt ihn

­Dimiter Gotscheff 2005 an der Volksbühne

abgestorbenen Ästen sind zahlreiche Stühle

noch. Wenn Iwanow auf die von Gina Haller

mit „Iwanow“ die Orientierungslosigkeit einer

über die Bühne verteilt, das zentrale Requi-

gespielte Sascha trifft, verselbständigen sich

Klasse, die im Nebel der Geschichte stochert,

sit. Eine gesetzte Gesellschaft, es sind die­

die Körper, und deren Teile sind ganz im Be-

sind bei Simons deren Erschöpfung und

­liberalen Bürger auf dem Lande, keine Ausge-

sitz eines Begehrens, das den beiden den Boden

­Agonie klar und hell ausgeleuchtet. Das Da-

stoßenen im Nachtasyl. Es geht darum, den

unter den Füßen wegzieht. „Schon wieder

sein ohne Idee ist unerträglich, sagte Alain

eigenen Platz zu finden. Nur Iwanow, der

schüttelt mich der gliederlösende Eros, bitter-

Badiou einmal über die Ideologie unserer

frühzeitig gealterte Intellektuelle, tut sich da-

süß, unbezähmbar, ein dunkles Tier“, schrieb

Zeit. „Überflüssige Menschen, überflüssige

mit schwer. „Ich finde keinen Platz“, sagt er.

die antike Dichterin Sappho. Selten hat man

Reden“, klagt Iwanow. Hört man noch den

Und wenn er doch sitzt, so sinkt er zusammen

Szenen solcher wilden Zärtlichkeit und sehn-

Reichtum, der im Überfluss anklingt, oder

oder windet sich, wirkt resigniert oder fahrig

suchtsvollen Ruppigkeit gesehen wie zwischen

nur noch den Schrecken? Durch Iwanow arti-

und nervös. Im Gespräch mit seinem drauf-

Harzer und Haller. Nur der Arzt Lwow (Marius

kuliert sich die Negativität der Kultur als sol-

gängerischen Gutsverwalter Borkin (Thomas

Huth), ein junger Moralist, findet das an­

che. Jedes Leben strebt zum Tod, doch die

Dannemann) zögert er seine Antworten he­

stößig, hat Iwanow doch eine im Sterben lie-

Umwege und Hindernisse werden Glück ge-

raus, verleiht ihnen einen ironischen Unter-

gende Frau.

heißen. Ohne dies geht man zugrunde, nicht

ton. Mit seinen dunklen Augen guckt Harzer

Ist Iwanow schuldig, weil er nicht mehr

Löcher in die Welt – und was er wahrnimmt,

lieben kann? Oder versiegt umgekehrt seine

nur als Einzelner. // Jakob Hayner

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auftritt

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BONN Unendliches Blubbern THEATER BONN: „Apeiron“ (UA) von Anja Hilling Regie Ludger Engels Bühne Volker Thiele Kostüme Sibylle Wallum

Ein Mann liegt in einer Wanne. Sie ist unbewässert. Der Mann, bärtig, strubblige Haare, trägt einen weißen Strickpulli, der seinen ganzen Körper umhüllt. Der Mann ist ein erfolgreicher „Charakterdarsteller“ im Film gewesen, auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird er jedoch einen jähen Absturz erleben und schließlich an einem Drogencocktail sterben. Der Mann ist eine von drei exemplarischen Figuren in Anja Hillings Auftrags­ arbeit „Apeiron“, die den Umschlag vom scheinbar grenzenlosen Erfolg in den psychischen oder ökonomischen Ruin erleiden. Eine Unternehmerin, die nach einer Affäre erpresst wird, und ein Politiker, dem sexuelle Delikte vorgeworfen werden, kommen hinzu. Diese Informationen muss man allerdings dem Programmheft entnehmen, wo Anja ­Hilling die Biografien der Stückfiguren knapp ­ skiz­ ziert. Womöglich in Verfolgung des ­„Nicht­identischen“ (Theodor W. Adorno) ver­schmäht es Hillings Text, die biografischen Wendepunkte einfach nachzuzeichnen oder

­abspielen könnte. „Apeiron“ heißt „das Un-

zu illustrieren; er sucht vielmehr an sie an­

begrenzte“: Ins Unendliche tendierend, soll

gelehnte Motive, „Sidekicks“ (Nebenstränge

das heißen, ist die Gier nach Beachtung,

wäre schon zu viel gesagt), die das eigent­

­Anerkennung, Macht und Ruhm dieser Men-

liche Geschehen eloquent und sprachverliebt

schen, gefangen in einer Blase der glor­­rei­

ausschmücken und umhüllen, wie der weiße

chen Isolation. „Königsdramen“ (Programm-

Strickpulli den unbenannten Schauspieler

heft) ist für all das ein großes Wort.

Happening mit sakraler Schlagseite – So versucht Regisseur Ludger Engels am Theater Bonn Anja Hillings „Apeiron“ in Szene zu setzen. Foto Thilo Beu

kierte Schläfen. Sie sind vom Tode gezeich-

umhüllt. Leider geht der arme Kerl, gespielt

Freilich ist jeder Text missverständlich,

net, ihr Spiel hat etwas Pseudosakrales, Bach

von Jan Viethen, darin auch ein wenig

dieser also auch. Ludger Engels’ Inszenierung

und Beethoven werden zitiert, ein Live-Musiker

­ver­loren. Als Person greifbar wird er kaum.

auf der Werkstattbühne des Bonner Theaters

(Tilman Kanitz) improvisiert auf dem Cello.

Der Text blubbert und quirlt, schäumt und

versteht ihn als eine Art Happening. Die Ein-

Immerhin gewinnt der Abend auf diese

jauchzt, aber er kommt nicht auf den Punkt.

richtung der Bühne (Volker Thiele) zeigt vor

Weise eine gewisse formale Strenge, die die

Er dreht mal mehr, mal weniger bezaubernde

einer verspiegelten Rückwand in einer losen

Regie dem Text förmlich abtrotzt. Die Figuren

Pirouetten.

Anordnung diverse Accessoires nebeneinan-

bewegen sich in den (bis auf den Schlabber-

Den beiden anderen, Lydia Stäubli als

der aufgereiht, wie auch die Dramaturgie des

pulli) eher strengen Kostümen von Sibylle

Unternehmerin und Klaus Zmorek als Politi-

Textes die drei Stränge nicht miteinander ver-

Wallum meist gesetzt, fast statisch, marionet-

ker, ergeht es nicht besser. Trotz einiger an­

webt, sondern einen nach dem anderen ab-

tenhaft. Besonders Lydia Stäublis Unterneh-

gedeuteter szenischer Situationen, in Bars,

spult. Ein dreiköpfiger gemischter Chor in

merin tut sich dabei hervor, eine klinisch kühle,

im Bett oder anderswo, will sich keine plasti-

Samurai-Outfit tritt mit gezirkelten Bewegun-

fast eisige Person, während Viethens Schau-

sche Vorstellung davon ergeben, wie sich der

gen auf, begleitet und ergänzt die Monologe

spieler (er soll einen Oscar für die beste

vielberedete Absturz nach dem Höhepunkt ­

der Protagonisten. Alle Spieler haben rot mar-

Hauptrolle gewonnen haben, sind wir also in


auftritt

/ TdZ  März 2020  /

den USA?) vergleichsweise temperamentvoll

gendliteraturpreis gekürt. Für das Theater Jun-

fördern die schwarz gekleideten Mimi-Figuren

agiert und Zmoreks Politiker eher schalkhaft

ge Generation in Dresden besorgte Nils Zapfe

meterweise weißen Gardinenstoff zutage, er

auftritt, einmal von einer Zuschauerin in der ers-

die Regie und schrieb auch die Theater­fassung,

kommt aus allen Ecken und steht für das nie

ten Reihe mit breitem Lächeln einen Kuss er-

gerichtet an Jugendliche ab 14, also die Kinder

abreißende Band der Erinnerung, vielleicht

bittet.

derer, die jene Jahre erlebten. Bereichernd wird

auch für den Kleinstadtmuff oder den Schleier

Hillings Text macht einen Bogen um

die Inszenierung aber auch für die Eltern­

des Vergessens, der sich über die Jahre legt.

das Klischeehafte, um das Fernsehspielför-

generation selbst sein – dann, wenn sie die

Die Bahnen werden verknotet, über die Bühne

mige jener illustren Biografien, wie sie sich

Chance nutzen, gemeinsam mit ihren Kindern

gesponnen, langsam entsteht ein Netz, in dem

sonst in der Regenbogenpresse abbilden.

die Zeit noch einmal zu reflektieren.

Mimi hängt – wackelig, wie jede 15-Jährige.

Aber an die Stelle des Klischees tritt keine

Gespielt wird die Hauptfigur Mimi von

Weil in dieser Lebensphase die Mauer

Farce, wenig Komik, stattdessen in Engels’

vier Darstellerinnen: Marie Thérèse Albrecht,

fällt, gerät Mimis Leben in Schieflage. Ihre

Inszenierung eben ein Happening mit sakra-

Gina Markowitsch, Susan Weilandt und Lola

Mutter, überzeugte Pionierleiterin an der

ler Schlagseite. An der Rampe fährt eine

Mercedes Wittstamm, die auch alle anderen

Schule, wird von einem Tag auf den anderen

­kleine Licht- und Nebelmaschine auf und ab;

Rollen übernehmen. Von diesen gibt es eh

zur Geschassten, bespuckt auf dem Heimweg.

würde sie statt Nebel Weihrauch absondern,

wenige, Zapfes Inszenierung bleibt nah am

Andere Eltern verlieren ihre Jobs, fast beiläufig

wäre es auch nicht ganz verkehrt. //

erzählenden Text und wirkt zu Beginn fast wie

wird von Selbstmorden erzählt, von psychi-

eine szenische Lesung. Anfangs sind die

schen Erkrankungen und gescheiterten Ehen.

Spielerinnen noch eng miteinander verbun-

Manche gehen in den Westen, andere versu-

den, sie bilden einen Körper, der aus Mimis

chen sich durchzuschlagen. Und die Teenies?

Kindheit berichtet. Vom Biergeruch des

Sind, so erzählt es Mimi, auf sich allein

Vaters und dem Knutschmund der Mutter, ­

­gestellt. Neonazis werden bewundert und ge-

von Familienfesten und Ferienlagern, vom

fürchtet. Sie bestimmen bald das ganze

Rauchen auf dem Schulhof und ersten

­Lebensgefühl in der fiktiven Kleinstadt, tau-

Küssen. Davon, wie sie mit Oliver unterm ­

chen in Horden auf und prügeln alles, was ih-

Tisch Schnapskirschen aß, während sich die

nen begegnet. Aus Angst geht man nicht mehr

Erwachsenen zuprosteten.

allein auf die Straße. Oliver, mit dem Mimi

Martin Krumbholz

DRESDEN Baseballschlägerjahre THEATER JUNGE GENERATION:

Den Raum hat Konstanze Grotkopp

„Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (UA) von Manja Präkels in einer Fassung von Nils Zapfe Regie Nils Zapfe Raum Konstanze Grotkopp Ausstattung Jasna Bošnjak

Unter dem Hashtag #baseballschlaegerjahre posteten Ende letzten Jahres Menschen auf Twitter ihre Erlebnisse aus den frühen neun­ ziger Jahren, als Neonazis vor allem im Osten Deutschlands ihr Unwesen trieben. Alle, die in dieser Zeit in den neuen Bundesländern jugendlich waren, erzählen ähnliche Geschichten: von kahlgeschorenen Köpfen und Springerstiefeln, von willkürlichen Angriffen auf alle, die politisch anders eingestellt waren oder nur so aussahen, vom „Zündeln“, das in brennenden

Asylbewerberhäusern

endete.

Die Aktion #baseballschlaegerjahre hob nun endlich hervor, wie die Opfer zu leben hatten. Diese Perspektive nimmt auch Manja Präkels autobiografisch geprägter Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ ein. Präkels, 1974 geboren, beschreibt darin die Kindheit und das Erwachsenwerden in einer brandenburgischen Kleinstadt, den Bruch nach der Wende. Das Buch wurde 2018 mit dem Ju-

dunkel, karg, offen gestaltet. Jasna Bošnak

nen zum Zuschauerraum hin immer wieder ins

Nie abreißendes Band der Erinnerung? – In ihm verstricken sich die Schauspielerinnen in Nils Zapfes Uraufführung von Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ am Theater Junge Generation in Dresden.

Ungleichgewicht geraten, abrutschen. Dabei

Foto Marco Prill

platzierte darin einen gerüstartigen Aufbau, symbolisch für das Unfertige, Prozesshafte dieser Jahre. Eine Rampe lässt die Spielerin-

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auftritt

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einst Schnapskirschen klaute, wird zum Nazi-

Jedermanns Lustgarten ist bei Schmalz der

rippwäsche, schlüpft zwischendurch in eine

Anführer – er heißt ab sofort nur noch „Hitler“.

Park um seine Villa, und zugleich Sinnbild für

Toga und markiert so den barocken König

Nils Zapfe gelingt es, den gesamten

die Festung Europa, in der sich die sogenann-

beziehungsweise dekadenten Römer. Vorerst

Roman auf anderthalb atemlose Stunden zu

te Erste gegen die Dritte Welt abschottet. Den

scheint doch noch Leben in diesem Tod­

verdichten, ohne dass ihm Wesentliches ab-

Tod jedoch kann kein Sicherheitskonzept der

geweihten. Aber ehe Stimmung aufkommen

handenkäme. Die Gefahr des Nazi-Klischees

Welt fernhalten. Wolfram Koch in der Titel­

kann, die er penetrant singend herbeizu­

umgeht er durch konsequente Überzeichnung.

rolle sieht denn anfangs auch eher nach ei-

grölen versucht, platzt der Tod herein.

Während eine Mimi erzählt, karikieren zwei

nem Fall für die Gruft als für die Gartenparty

Mechthild Großmann mit Latexglatze gibt

andere das Geschehen. Die große Schlägerei,

aus. In Unterhemd und -hose irrlichtert er

ihn mit ihrer grabestiefergelegten Brumm-

an deren Ende eine von den vermeintlichen

über die Bühne wie ein verwirrter Alter durchs

bassstimme als lakonischen Partyschreck.

„Zecken“ in der eigenen Blutlache stirbt,

Altenheim. Diese Bühne (von Stéphane Laimé)

Damit hebt sie sich wohltuend vom Rest des

wird untermalt von einem absurden Tanz mit

umgrenzen meterhohe Gitterstäbe als Zaun,

Ensembles ab, das sich vom artifiziellen Am-

Masken. So vermittelt sich ein dumpfes Ge-

und die Gartenlandschaft in diesem (zwar

biente zu einem arg gekünstelten Auftreten

fühl, ganz ohne Springerstiefel, wenn Mimi

nicht goldenen, aber immerhin versilberten)

verleiten hat lassen. Selbst das Spiel des

erzählt, dass sie sich jetzt die Augen dunkel

Käfig zählt zur Sorte jener modernistischen

anmalt und schwarze Klamotten trägt, wenn

Stilverirrungen, die sich nur Leute mit viel Geld

dazu „Ride with my best friend“ von Depeche

und wenig Geschmack leisten. Da kullern mit

Mode erklingt, jener Band, die im Nach­

Wasser gefüllte blaue Ballonblasen durchs

wende-Osten zur Band einer ganzen Generati-

Anwesen und ragen weiße Sockel in die Höhe,

on wurde.

die aussehen wie riesige Champignonköpfe.

Am Ende ist die Bühne ganz frei von Gardinen, frei vom Kindheitsmuff, und Mimi flieht: nach Berlin. Bloß weg. // Johanna Lemke

FRANKFURT / MAIN Theologie des Diesseits SCHAUSPIEL FRANKFURT: „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz Regie Jan Bosse Bühne Stéphane Laimé Kostüme Kathrin Plath

Mit dem Geld ist es wie mit Gott: Man muss daran glauben. Scheine zum Beispiel sind nur Papier. Allein unser Vertrauen in den aufgedruckten Wert verleiht ihnen Kaufkraft. Jedermann betet den Mammon also mit gutem Grund an. In der Bankenmetropole Frankfurt am Main ist er mit seinem Credo geldrichtig. Vor allem jener Jedermann, der in der Neufassung des Salzburger Festspielklassikers auftritt, die Ferdinand Schmalz geschaffen hat. Hier ist der reiche Jedermann ein Börsen­ spekulant, der seine Rechnung allerdings ohne den Tod gemacht hat. Das menschliche Leben ist ja quasi ein Dasein auf Pump. Irgendwann fordert es der Tod wieder zurück. Ergo: „jedermann (stirbt)“.

Koch zieht einen Pelzmantel über die Fein-

Das Leben ist nur ein Dasein auf Pump – In Jan Bosses Inszenierung von Ferdinand Schmalz‘ „jedermann (stirbt)“ am Schau­ spiel Frankfurt jedoch leistet man sich noch Manierismen. Foto Arno Declair


auftritt

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eigentlich famosen Wolfram Koch ist nicht frei von Manierismen. Als entscheidendes Manko dabei erweist sich, dass Jan Bosse und sein Ensemble kein Ohr für die Sprache von Ferdinand Schmalz haben. Der Grazer Dramatiker schreibt ein ­ mundartlich geprägtes Idiom, das dem Süddeutschen abgelauscht ist und mit dem er die Dinge dialektal verdichtet auf den Punkt bringt. Kunstvoll könnte das klingen, bei Bosse aber sprechen alle meist nur gekünstelt. Erst spät, als seine Inszenierung auf den eigentlichen Kern der „Jedermann“-Neudichtung von Ferdinand Schmalz zusteuert, setzt sich ein weniger gespreizter Ton durch. Da sitzt Kochs Jedermann in den Armen von Großmanns Tod vorne an der Rampe, während sie ihm die sehr diesseitige Theologie von Ferdinand Schmalz verkündet. Anders als bei Hugo von Hofmannsthal, wo die Anbetung des Götzen Geld ein Problem auf dem Weg ins Leben nach dem Tod ist, geht es in „jedermann (stirbt)“ um das Leben davor. „Das Leben schmeckt nach nichts ohne den Tod“, heißt es einmal im Stück. Und überhaupt ist es besser, den Tod als Normalzustand zu be­grei­ Visionen versus Krämerakte – Frank Castorfs Inszenierung „Aus dem bürger­lichen Helden­ leben“ nach Carl Sternheim am Schauspiel Köln, hier mit Lilith Stangenberg (l.) und Sophia Burtscher. Foto Thomas Aurin

fen. Wo doch der Mensch die meiste Zeit tot

ren. Ihr Innerstes droht zu bersten, also kau-

ist: vor der Geburt schon, und danach auch

ert sie sich ganz fest zusammen. Der Körper

wieder. Vor diesem Hintergrund erscheint das

wird zu einem Bollwerk, das dem in ihr toben-

Leben als glückliche Ausnahme. Eine Frohe

den Sturm der Leidenschaften standhält.

Botschaft. Außer für alle Jedermänner (und

­Lilith Stangenberg ist in diesen Momenten, in

-frauen), die am Ende des Lebens feststellen,

denen die Millionenerbin Europa mit sich

dass sie es sich zwar etwas haben kosten las-

ringt, kaum zu sehen. Sie versteckt sich

sen, es aber nie auskosteten. Weil sie vielleicht

­hinter dem Bar-Tresen auf der linken Seite

Heldenleben“, der den Roman mit vier

eine Karriere hatten. Aber kein Leben. //

von Aleksandar Denić’ Monumentalbühne,

­Stücken aus dem gleichnamigen Komödien-

die dem Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus

zyklus

in Berlin nachempfunden ist. Die Kamera

der Kleinbürger­familie Maske verschneidet,

rückt ihr zwar auf den zusammengekrümmten

schlagen sie in eine gesellschaftliche Wirk-

Leib. Aber sie entzieht sich deren Blick wie

lichkeit ein, die sich erneut dem Rausch

dem des Publikums. Dem bleibt nichts an­

des Hasses und dem Fetisch völkischer

deres übrig, als sich auf ihren Monolog zu

Reinheit hingibt.

Christoph Leibold

KÖLN Die Maske des Bürgerlichen

­kon­zentrieren. Und der sprudelt nur so aus „Eura“ heraus.

um

den

fantastischen

Aufstieg

Lilith Stangenbergs Europa ist die menschgewordene Vision von einem Konti-

Die hochexpressiven Sätze, mit denen

nent, der alle Grenzen zu überwinden sucht.

Carl Sternheim in seinem einzigen Roman

Sie stürzt sich im Lauf des sechsstündigen

„Europa“ vom sexuellen und politischen Er-

Abends in jedes erotische und gedankliche

wachen seiner Titelheldin erzählt, sprengen

Abenteuer. Die unermesslich wohlhabende

die Grenzen der Sprache und des bürger­

Kosmopolitin wird von der Liebenden zur Re-

lichen Denkens. Jeder dieser Sätze wird zu

volutionärin. Aber die Macht der Reaktion,

einer Waffe, mit der Lilith Stangenberg die

der sie zu allem entschlossen entgegentritt,

starre Ordnung des europäischen Kontinents

schließt die Reihen und vernichtet sie schließ-

attackiert. In Sternheims Roman zielten sie

lich. So beschwören die meist live gefilmten

auf das sich an Nationalismus und Kriegs-

und auf eine oberhalb der Szenerie hängende

Es ist, als ob Europa Fuld kurz davor wäre, vor

treiberei berauschende Europa am Vorabend

Leinwand projizierten „Europa“-Szenen einen

Begierde zu explodieren. Ihre Gefühle und ihr

des Ersten Weltkriegs. In Frank Castorfs

Traum herauf, der brutal zerplatzt. Ihm ent­

Begehren lassen sich kaum noch kontrollie-

Sternheim-Mash-up „Aus dem bürgerlichen

gegen stehen die radikal entkernten Szenen

SCHAUSPIEL KÖLN: „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ nach Carl Sternheim Regie Frank Castorf Bühne Aleksandar Denić Kostüme Adriana Braga Peretzki

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auftritt

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Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

Robyn Schulkowsky/Sophie Kassies

DAS KIND DER SEEHUNDFRAU

Musiktheater nach einem Konzept von F. Verbrugge (1 D [auch Sängerin], 1 H; 3 Musiker [auch Chor]) derzeit zu sehen am Staatstheater Mainz nächste Vorstellung: 31.3.2020

Der Roman und die vier Komödien bilden in

weiblicher Perspektive, die den vergessenen

Frank Castorfs Inszenierung keine E ­inheit.

Vordenkerinnen eine Stimme gibt. Da ist die

Sie verschmelzen nicht miteinander, sondern

Mathematikerin Ada Lovelace, Pionierin der

prallen gezielt aufeinander. Jeder Komödien­

Computertechnik. Mit ihrer Forschung ebnete

einschub in die Romanerzählung konter­

die Tochter Lord Byrons der Programmier-

kariert Euras Sehnsucht nach Freiheit und

sprache schon im 19. Jahrhundert den Weg.

Erfüllung. Wenn sie der Traum ist, der nur

Doch die Erinnerung an sie ist verblasst.

scheitern kann, dann sind die Maskes der

Ebenso wie die an Elisabeth Mann Borgese,

Albtraum, der fortwährend Wirklichkeit wird,

die als Mutter des Seerechts gilt. In ihrem

zuletzt bei einer Ministerpräsidentenwahl in

vielstimmigen Stück zeigt Maci die Kämpfe

Sascha Westphal

der Protagonistinnen gegen die Männergesell-

Erfurt. //

schaft, die ihre Verdienste nicht wahrnahm. Die Struktur von Macis Text ist kom-

MANNHEIM aus den vier Stücken „Die Hose“, „Der Snob“, „1913“ und „Das Fossil“. Castorf erzählt die Geschichte der Familie Maske in einer Art szenischer Kurz­

öffentlichten Inhaltsangaben der vier ­ Stücke zu lesen. Sonst besteht die Gefahr, schon bald die Übersicht zu verlieren. Selbst Luise Maskes

die Autorin in ihren Regieanweisungen. Regisseurin Bues greift dieses Bild auf, indem

Frauen kämpfen um ihre Geschichte

sie die Schauspielerinnen mit Nadeln und mit Wolle hantieren lässt. Wie einsame Hausfrauen sitzen die Weberinnen, die die Autorin da in den Blick nimmt, an Fenstern. Johanna

schrift. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, vor der Aufführung die kurzen, im Programmheft ver-

plex. „Die Bühne ist ein Fadenspiel“, schreibt

NATIONALTHEATER MANNHEIM: „Bataillon“ (UA) von Enis Maci Regie Marie Bues Ausstattung Heike Mondschein

für ihren Ehemann Theobald so glückliches

Eiworth als Concierge gibt der Gemeinschaft Halt. „Ich bin das Girl, das diese Welt im ­Innersten zusammenhält“, lässt die Autorin sie sagen. Heike Mondschein hat einen Bühnenraum geschaffen, der mit einem türkis­

Missgeschick – sie verliert in aller Öffentlich-

farbenen Tuch die Tiefe des Meeres symboli-

keit ihre „Hose“ – hat etwas Beiläufiges. Mela-

Mit einem glitzernden Panzer führen die

nie Kretschmann zieht einfach ihre Hose aus

Frauen der Geschichte ihren Kampf. „Batail-

und wedelt ein bisschen mit ihr herum. Schon

lon“ nennt Enis Maci ihr neuestes Stück, des-

kann es aufwärtsgehen mit dem subalternen

sen Uraufführung Marie Bues am National-

Beamten Maske und seiner Sippe.

theater Mannheim inszeniert hat. Den Panzer

In der (klein-)bürgerlichen Welt des Kai-

bauen die Frauen selber zusammen – so be-

Auch die Waffen der Frau wollen geputzt sein – Hier der Panzer in Marie Bues Uraufführungsinszenierung von Enis Macis „Bataillon“ am Nationaltheater Mannheim.

serreichs lässt sich aus allem Kapital schlagen,

ginnt eine neue Geschichtsschreibung aus

Foto Christian Kleiner

solange man es versteht, Gelegenheiten zu nutzen, und sich nicht mit Sentimentalitäten aufhält. Die ein­ zigen Heldentaten in dieser Chronik aus dem „bürgerlichen Heldenleben“ sind Krämerakte. „Der Snob“, Theobalds und Luises Sohn Christian, verdient hervorragend an dem imperialistischen Streben Deutschlands. Aber seine Herkunft empfindet er als Makel, also entledigt er sich seiner Geliebten ebenso wie seiner Eltern mit Geld. Die Szene, in der Peter Miklusz seiner von Lilith Stangenberg verkörperten Geliebten vorrechnet, wie viel er ihr schuldet, ist der Schlussstrich, den Frank Castorf unter die Erzählungen von deutscher Bürgerlichkeit zieht. Sosehr sich Chris­ tian Maske auch aufspielt, Peter Miklusz wirkt in diesem Moment in der Weite der Bühne einfach nur klein und verloren. Es spielt keine Rolle, wie viel Geld diese Stützen der Gesellschaft durch die Ausbeutung fremder Kontinente oder durch den Verkauf von Waffen machen, sie bleiben auf immer kleinliche Krämerseelen, kalt, skrupellos und berechnend.


auftritt

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siert. Schroffe Metallgerüste erinnern aber auch an ein Hochhaus. Die Vision eines Wohnblocks, die dem Text den dramaturgischen Rahmen verleiht, lässt an das gespenstisch verfallende Collini-Center denken, in dem Maci in Mannheim lebte, als sie dort in der vergangenen Spielzeit Hausautorin war. Wie auch in ihren anderen Stücken ­reflektiert die vielfach ausgezeichnete 27-jährige Dramatikerin in „Bataillon“ die Medien­ gesellschaft, die sich ihre Frauenbilder kon­ struiert. In der Reihe starker Frauen, die sie auf die Bühne bringt, ist deshalb auch M ­ onica Lewinsky zu finden. Die Frau, die als Ex-Affäre von US-Präsident Bill Clinton weltweit Schlagzeilen machte, seift hier einer anderen den Kopf ein. Die Recherche der Autorin beginnt jedoch bereits in der Mythologie. Im Fokus steht Penelope, die Frau des Odysseus. Freier hielt sie sich vom Leib, indem sie vorgab, ein Totentuch für ihren Schwieger­vater Laertes zu Die Barbarei des 20. Jahrhunderts, erzählt für die Kinder des 21. Jahrhunderts – Simone Derais Inszenierung „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“, eine Koproduktion des Theaters an der Ruhr mit dem Kollektiv Anagoor. Foto Franziska Götzen

weben. Vielen Feministinnen gilt sie bis heute

Gedanken entgegensetzt. Johanna Eiworth

als Vorbild weiblicher Unabhängigkeit. „Wir

als Concierge zelebriert diese Nachdenklich-

heißen Penelope und schreiben die Geschich-

keit ihrer Rolle als kritischer Gegenpart meis-

te um“, rufen die Spielerinnen im Chor. Da

terhaft, etwa wenn sie Autoimmunerkrankun-

laufen Sophie Arbeiter, Annemarie Brüntjen

gen von Frauen ins Gespräch bringt. Klug

sowie die Schauspielschülerinnen Otiti Engel-

bezieht sie das auf die Opferrolle, die die

hardt und Carina Thurner zu Höchstform auf.

Gesellschaft dem weiblichen Geschlecht zu-

„Immerhin schreiben wir die Geschichte um“,

schreibt. So bringen Bues und ihr Team die

haken sie nach, und das klingt zutiefst über-

Tiefenschärfe von Macis feministischer Analyse

Drei Schulstunden auf dem Weg zum Abitur.

zeugt. ­Heute weben die Frauen Tarntücher für

meisterhaft zum Klingen. //

Drei Versuche, den Jugendlichen neben dem Elisabeth Maier

ihre Männer, die in Kriegen in Syrien kämp-

reinen Wissen auch so etwas wie Haltung und

fen. Macis atemberaubenden Ritt durch die

Hoffnung zu vermitteln. Doch das ist schwie-

Biografien starker Frauen, den die junge Auto-

rig für den engagierten und dennoch hoff-

rin manchmal mit Fakten überlädt, entzerrt die Regisseurin Marie Bues in ihrer überzeugenden Inszenierung, die die Musikerin und Performerin Christine Hasler mit einem Sound unterlegt, der den Rhythmus von Enis Macis Sprache spiegelt. Die Spezialistin für Gegenwartsdramatik, Intendantin des Stuttgarter Theaters Rampe, entwirrt Macis Textflechten. In Bues’ klarer, reduzierter, aber symbolkräftiger Theatersprache kommt die Kraft von Macis bildbewohnter Dramatik umso stärker zum Tragen. Die junge Autorin balanciert Poesie und Politik zwar in ihren Texten wunderschön aus. Doch streckenweise entlädt sich ihre Sprachkunst so rasant wie die Salven eines Maschi-

MÜLHEIM AN DER RUHR Die Schule der Toten THEATER AN DER RUHR: „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ nach „Il sopravvissuto“ von Antonio Scurati, mit Texten von Platon, Cees Nooteboom und Georges I. Gurdjieff Regie Simone Derai Kostüme Serena Bussolaro und Simone Derai

nungslos desillusionierten Lehrer. Die Zeit ist viel zu knapp bemessen, und die Lehrpläne sind mit Stoff viel zu vollgestopft. Also bleibt gerade einmal eine einzige Unterrichtsstunde für die Geschichte des 20. Jahrhunderts nach 1939, eine Stunde, in der Marescalchi kaum mehr als Zahlen referieren kann. Er zählt einfach die Millionen über Millionen Toten der Kriege und Völkermorde auf und reduziert die Geschichte der Menschheit gezwungener­ maßen auf die Statistik ihrer Gräuel. Für Erklärungen fehlt Marescalchi die Zeit. Nicht einmal einem Schüler wie Vita­ liano Cacci, der gegen diese nüchterne Auf­ listung der Opfer rebelliert und nach einem Sinn in all dem Leid und der Zerstörung sucht, kann er Antworten geben. Er lässt ihn

nengewehrs. Dem setzt Bues’ Uraufführung

mit der Frage nach dem „Warum“ allein und

Augenblicke der Stille entgegen. Mit dem textbewussten Mannheimer Ensemble bremst

Ein Lehrer blickt zurück. In drei Monologen

verweist stattdessen auf das zur mündlichen

die Regisseurin das Tempo der chorisch ge-

erinnert sich Andrea Marescalchi an eine

Abiturprüfung gehörende Referat. In ihm kön-

sprochenen Passagen, indem sie den werben-

Gruppe von Schülern, die er drei Jahre lang in

ne Vitaliano der Prüfungskommission seine

den Frauen der Massengesellschaft singuläre

Geschichte und Philosophie unterrichtet hat.

eigenen Schlüsse präsentieren. Dieser Auffor-

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auftritt

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Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

2021: 100. Geburtstag von Sophie Scholl

Rike Reiniger

NAME: SOPHIE SCHOLL (1 D)

Sophie Scholl (9.5.1921–22.2.1943)

gruppe während Bernhard Gloses zweitem

Samenbank“. Zur Fleischbeschau lädt im

Monolog auf, der um das Ideal der roman­ti­

Münchner Volkstheater vor allem die Bühne

schen Liebe kreist und schließlich zu Heinrich

von Sarah Sassen, auf der sich – vor dem Hin-

von Kleist und Henriette Vogel am Kleinen

tergrund eines Alpenkitschpanoramas, wie

Wannsee führt. Die einen werfen verbrannte

man es vom Traditionsfahrgeschäft „Rund um

Bücher auf einen Haufen und begraben so

den Tegernsee“ kennt – ein riesiger Hügel

eine ihrer Mitschülerinnen. Die anderen pres-

wölbt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er

sen aus einer Überschwemmung gerettete

sich als überlebensgroßer Bierbauch mit Nabel,

Bücher aus und legen sie zum Trocknen auf

aus dem anfangs das fünfköpfige Ensemble

den Boden. Die Rettung der menschlichen

kraxelt, kostümiert als Flöhe. Die entsprechen-

Kultur und ihre Zerstörung sind zwei Seiten

de Textpassage – die Schilderung eines Be-

einer Medaille.

suchs im Flohzirkus – wird der Abend später

In der zentralen dritten Unterrichtsstun-

nachliefern. Zunächst wirkt dieser Auftritt wie

de, in der Marescalchi die letzten Stunden des

ein ironischer Kommentar auf das quasi para-

Lehrers und Philosophen Sokrates vor seiner

sitäre Verhältnis der Autorin zu ihrem Stoff:

derung kommt der Abiturient dann tatsäch-

Klasse zum Leben erweckt, verwandelt sich die

So wie sich Flöhe in Filz und Fäulnis wohl­

lich nach. Während der Prüfung richtet er ein

Erzählung vollends in Bilder. Auf eine Lein-

fühlen, ist die Ekelpackung Oktoberfest ein

Massaker unter den Lehrerinnen und Lehrern

wand wird stumm ein Film projiziert, der für

gefundenes Fressen für Sargnagel. Das Bier

an und fügt der Statistik des Unfassbaren

Derais italienische Inszenierung von „Il suprav-

platze aus der Wiesn aus Backen, es fülle

noch eine weitere Zahl hinzu. Nur Marescal-

vissuto“ entstanden ist. Ein Ensemble in anti-

Bäuche, Beine, Brüste und Hoden, berste aus

chi verschont er. Der Lehrer, der in einer

ken Gewändern und Masken nachempfunde-

jeder Drüse, kurzum: „Die große Ausschei-

anderen Stunde so eindringlich vom Tod ­

nen Kostümen führt Sokrates’ Tod auf. Den

dung braut sich zusammen.“

des Sokrates erzählt hat, ist am Ende der

Soundtrack dazu liefern live auf der Bühne

Und natürlich geben auch die Men-

Über­lebende und damit der Verlorenste von

Bernhard Glose und die Schauspielschüler. Ge-

schen, die sich hier im Suff suhlen, ein Bild

allen.

genwart und Antike verschmelzen auf eine irri-

insektengleichen Gewimmels ab. Stefanie Sarg-

Ein Lehrer blickt zurück, auch im wört-

tierende Weise, die Raum für Identifikation

nagel hat für ihr Stück Feldforschung betrieben

lichen Sinn. Der von Bernhard Glose gespielte

schafft und zugleich zu Reflexionen einlädt.

und ist im Auftrag des Volkstheaters in den

Marescalchi spricht seine Monologe in Simone

Wie Scuratis Roman setzt auch die Inszenie-

Wiesn-Wahnsinn eingetaucht. Dem Vernehmen

Derais Adaption von Antonio Scuratis bisher

rung auf ein konsequentes Zuviel. Und genau

nach ist sie selbst dabei weitgehend alkohol­

nicht in Deutschland erschienenem Roman

das lässt sie zu einem kongenialen Abbild un-

abstinent geblieben, um die Beobachtungs-

„Il sopravvissuto“ meist mit dem Rücken zum

serer Welt werden. Wie der Lehrer gibt auch

schärfe nicht zu trüben. Dass sie einen nüch-

Publikum. Er steht an einem Mikrofon und

Derai keine Antwort auf die Frage nach dem

ternen Blick auf das „orgiastische Rumgesaue“

blickt zur Spielfläche, auf der acht Schau-

Warum, aber er lässt das Publikum nicht allein.

wirft, wird man gleichwohl nicht behaupten

spielschülerinnen und -schüler aus Köln teils

All die verstörenden Bilder des Abends fügen

können. In saftiger Sprache beschreibt sie den

realistische, teils rätselhafte Bilder entstehen

sich zu einem Aufruf zusammen, sich gegen

dröhnenden Frohsinn aus Fressen und Saufen,

lassen. Sie scheinen wie die Worte aus dem

die Barbarei und die Zerstörung zu stellen. //

Rülpsen, Urinieren, Grapschen und Koitieren.

Sascha Westphal

Lehrer herauszufließen. Die Erinnerung an

Dabei hat die Wienerin kein Wiesn-Volksstück

acht Jugendliche, ein neunter Platz bleibt

wie einst Ödön von Horváth mit „Kasimir und

leer, die ausdruckslos zuhören, während er

Karoline“ verfasst. Bei ihr gibt es keine Figuren

die Toten des 20. Jahrhunderts aufeinan­

oder Dialoge, nur eine Ich-Erzählerin, die mit

derschichtet, geht über in eine verstörende

MÜNCHEN

­Vision. Wie in Zeitlupe rutschen die Schülerinnen und Schüler von ihren Stühlen herunter. Vor den Augen des Publikums verwandeln

barock das bizarre Schauspiel Oktoberfest be-

Grindig grauslich

Die Bilder und die Worte treten in „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“, der ersten gemeinsamen Produktion des italienischen Kollektivs Anagoor und des Theaters an der Ruhr, in einen beinahe schon sokratischen

schreibt und dazu gleich noch das Wesen der Bayern in Abgrenzung zu ihren Landsleuten: „Die Bayern sind wie Turboösterreicher, opti-

sie sich in Leichen und geben den anonymen Toten Gesichter.

boshafter Begeisterung und Faible für Sprach-

MÜNCHNER VOLKSTHEATER: „Am Wiesnrand“ (UA) von Stefanie Sargnagel Regie Christina Tscharyiski Bühne Sarah Sassen Kostüme Svenja Gassen

Dialog. Immer wieder eröffnen sich neue Be-

mistisch blicken sie in die Zukunft ohne Selbstmitleid und slawische Schwermut. Es sind die drallsten deutschsprachigen Stämme vereint zu einem Pfropfen, der jeden geistigen Fluss luftdicht verschließt.“ Regisseurin Christina Tscha­ ryiski verteilt diesen Text auf drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler, die später auch als

züge, und doch bleiben Leerstellen, die das Publikum mit eigenen Assoziationen und Er-

Das Oktoberfest (vulgo: „die Wiesn“), schreibt

Zuckerwatte, Lebkuchenherz oder glasierter ­

innerungen, Erklärungen und neuen Fragen

die Wienerin Stefanie Sargnagel, sei der

Apfel verkleidet auftreten und mit großer Lust

füllen kann. So spaltet sich die Schüler­

„größte Fleischmarkt der Welt. Jede Bier- eine

an der Überzeichnung Wiesn-Besuchern ab­


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gelauschte Satzfetzen lallen, gurgeln und grölen. Zugleich verleihen sie – einzeln oder im Chor – als staunende Beobachter ihrer fassungslosen Faszination für Trink-, Trachtenund sonstige Auswüchse inbrünstigen Aus-

Der Bierbauch als Alpenkulisse – Sarah Sassens Bühnensetzung für die Urauf­füh­ rung von Stefanie Sargnagels „Am Wiesn­ rand“, inszeniert von Christina Tscharyiski am Münchner Volkstheater. Foto Arno Declair

gram-Account, der seine Follower mit Witzen über Klischee-Deutsche bespaßt: lustige Bilder und Videos über Autofetischisten, Pünktlichkeitsfanatiker und dergleichen. Der Titelheld von Philipp Löhles neuem Stück heißt zwar Andi Europäer, ist aber auf seine Weise

druck; das alles basierend auf den herrlichen

ebenfalls so ein Aldi-Deutscher, ein „Alman“

Bildern, die Sargnagel geschaffen hat, etwa von Kleinkindern, die ihre volltrun­kenen El-

Fick-Freudigkeit vermag sie nicht spürbar zu

eben („Almans“, so nennen Türken die Deut-

tern nach Hause schleifen, oder von schuh-

machen. Das hat zur Folge, dass zwar die erste

schen – oder alle, die sich so verhalten, wie

plattelnden Jungbauern in Lendenschurzen

Hälfte der Aufführung süffig runtergeht wie die

man das von Deutschen erwartet). Selbiges

aus Schweineohren. Flankiert wird das Ensem-

erste Wiesn-Maß, dann aber beginnt man sich –

gilt auch für die übrigen Figuren von Löhles

ble von der Austroband Euroteuro, die live

wie bei der zweiten Maß – nach einer gehaltvol-

Komödie „Andi Europäer“: lauter Turbo-­

Wiesn-Hits („Ententanz“) beisteuert, aber

len Unterlage zu sehnen. Zur dritten Maß, die

Deutsche.

auch eigene Songs, die prägnante Textzeilen

einen Kater nach sich ziehen würde, kommt es

Was in der Werbung gut funktioniert –

Sargnagels aufgreifen. Das ist zwar inhaltlich

dann eh nicht mehr, dazu ist der neunzig­

das Operieren mit Klischees, die Wiederer-

redundant, aber atmosphärisch bereichernd.

minütige Abend zu kurz. So verlässt man das

kennungswert garantieren – kann im Theater

Theater angenehm angeheitert, aber keines-

freilich schnell abgeschmackt wirken. Löhle

Christoph Leibold

hat sich dagegen schlau abgesichert, indem

In Interviews vorab bekannte Stefanie Sargnagel, dass sie das Oktoberfest keines-

wegs restlos berauscht. //

wegs nur abstoßend, sondern auch anziehend

er einen doppelten Boden eingezogen hat: Er

fand. Die Entgrenzung führt, so wie sie das

stellt nicht einfach wandelnde Klischees auf

beschreibt, auch zu einer Aufhebung gesellschaftlicher Schranken in der alkoholischen

NÜRNBERG

Und: in der Enthemmung zeigt sich der

Anti-Inszenierung

Mensch für sie auch in seiner Verletzlichkeit. Leider haben solche Erkenntnisse nur in Spurenelementen in den Text Eingang ge­ funden, und die Regie lässt den Sinn dafür fast völlig vermissen. Christina Tscharyiski insze-

gecastet wurden. Insofern handelt es sich bei den Figuren nicht um unmittelbare Ausgebur-

Verbrüderung und Verschwisterung über so­ ziale oder kulturelle Unterschiede hinweg.

die Bühne, sondern Menschen, die als solche

ten der Autorenfantasie. Stattdessen schiebt Löhle das Klischeedenken dem Auswärtigen Amt in die Schuhe, dass im Stück nach Re-

STAATSTHEATER NÜRNBERG: „Andi Europäer“ (UA) von Philipp Löhle Regie Tina Lanik Ausstattung Patrick Bannwart

präsentanten der Republik gesucht hat, die ihr Land auf möglichst typische Weise ver­ treten können; und zwar in Afrika und in einer Vorzeigefunktion unter verkehrten Vorzeichen. Anders als der Discounter Aldi, der mit

niert eine groteske Gaudi mit Gespür fürs

Selbstironie punkten will, betreibt das Aus-

Grindige und Grausliche. Das sehnsüchtige Verlangen der Menschen hinter den Un­ flä­

Die Supermarktkette Aldi kooperiert seit Kur-

wärtige Amt bei Löhle nämlich eine Anti-­

tigkeiten, Flatulenzen und ihrer – Pardon –

zem mit „Alman_Memes_2.0“, einem Insta-

Werbekampagne.


/ 56 /

auftritt

/ TdZ März 2020  /

Pointe, die Löhle ans Ende des Stücks gesetzt hat (und die hier nicht verraten werden soll), zieht weitgehend unbemerkt vorüber. So wirkt die Aufführung wie ein langes AlmanMeme. Ganz lustig. Aber auch ein bisschen läppisch. //

Christoph Leibold

SAARBRÜCKEN Gefangen im Netz SAARLÄNDISCHES STAATSTHEATER: „1 Yottabyte Leben“ (UA) von Olivia Wenzel Regie Matthias Mühlschlegel Ausstattung Rimma Starodubzeva

Auf der Bühne der Kammerspiele des Staatstheaters Nürnberg gibt es daher vier besonders abschreckende Alman-Ansichts­ exemplare in Plexiglasvitrinen zu besichtigen: Neben Andi (Typ gefrusteter Single aus der Kreativbranche, dessen Selbstverwirklichungs­ energie von der

Aldi-Deutscher und „Alman“ – oder „Andi Europäer“, so der Titel des Stücks von Philipp Löhle, das Tina Lanik am Staats­ theater Nürnberg uraufführte, hier mit Nicolas Frederick Djuren als Andi. Foto Konrad Fersterer

Karriere aufgesogen wird) w ­ ären da noch die

Nichts ist festgelegt im deinem Leben, das Netz ist jetzt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Verheißung für die individuelle happiness, suggeriert die Stimme aus dem Off in einem kurzen Prolog. Jeder kann sich jederzeit neu erfinden. Wenn nicht im real life, dann eben als Youtube-Star. Davon ist Glamsquad

DDR-sozialisierte Frisöse Frauke, die auf kei-

Angel überzeugt. Hinter einem blassen Vor-

nen Fall als Wendeverliererin dastehen will;

gen die an sie herangetragenen Zuschreibun-

hang übt sie tänzerische Posen für ihren ers-

Ansgar, ein homophober und misogyner Be­

gen. Dumm nur: Je mehr sie sich sträuben,

ten Auftritt als Kunstfigur Sandy ­Deleuze im

amtenkleingeist mit erheblichem Aggres­

desto mehr bestätigen sie die Klischees von

World Wide Web. Herausgeputzt in Barock­

sionspotential; sowie Tony, M ­ igrantenkind mit

Besserwessis und Jammerossis.

kostüm und Perücke erinnert die Schauspiele-

­brav-bürgerlicher Musterbiografie. „Wollen Sie

Was sich auf dem Papier wie eine ver-

solche Leute tagtäglich sehen?“, fragt Heike

gnüglich-bissige Satire liest, hat auf der Büh-

„1 Yottabyte Leben“ der Autorin Olivia

Landsberger, die im Auftrag des Auswärtigen

ne durchaus seine Tücken. Überzeichnung

Wenzel, Jahrgang 1985, ist ein Selbstporträt

Amtes die proto-deutsche Delegation präsen-

und Übertreibung (das ist an diesem Abend

der Generation Instagram, für die Social-­

tiert. Es ist natürlich eine rhetorische Frage.

wieder einmal zu erleben) sind durchaus zwei-

Media-Kanäle Schauplatz der Selbstdarstel-

Schließlich soll die Veranstaltung migrations-

erlei. Stephanie Leue etwa als Heike Lands-

lung und Verstellung sind. Glamsquad Angel,

willige Afrikaner von ihrem Vorhaben abhalten.

berger (deren pseudo-interessierter Coaching-

die das netztypische anglizistische Formel-

Klingt absurd. Hat aber einen realen Hinter-

Sprech ebenfalls sehr deutsch anmutet)

sprech beherrscht, performt als Sandy Deleuze

grund. Solche Anti-Werbemaßnahmen hat die

imitiert diesen Typus nur mäßig gekonnt. Da

für ihr erstes Personal-feeling-Video. Mit be-

Bundesrepublik tatsächlich organisiert. Sie

wirkt alles aufgesetzt statt bigger than life.

geistert-aufgerissenen Augen und überzeu-

sind Mitnichten eine Erfindung von Philipp

Rafael Rubino als Choleriker Ansgar dagegen

gender liveliness plaudert sie über Menstrua-

Löhle. Er malt sich lediglich aus, wie so eine

entwickelt eine derart bedrohliche Bühnen­

tionserfahrungen und gibt absurde Tipps zur

Abschreckungsshow aussehen könnte.

präsenz, dass sein Abziehbild eines Krawall-

Blutflussbegrenzung und Tamponentsorgung.

Spießers reale Züge annimmt. Der Rest des

Sithembile Menck gewinnt mit ihrer umwer-

Ensembles rangiert irgendwo dazwischen.

fenden Bühnenpräsenz auf Anhieb ihr Publi-

Als Afrikaner fungieren, das ist naheliegend, in Tina Laniks Inszenierung die

rin Sithembile Menck an eine Molière-Figur.

Thea­ terbesucher, die von der Bühne herab

Philipp Löhle ist ein Autor, der es

kum, auch Kunstfigur Sandy Deleuze hat

frontal adressiert werden. Zugleich richtet

­versteht, ernsten Themen Komik abzuringen

schnell Follower, die sich mit ihren Likes und

sich das Stück aber auch an die Zuschauer

und dabei Nadelstiche zu setzen, die Löcher

Kommentaren einschalten. Die tragen so

als das, was sie de facto sind: Europäer. Der

in die Wohlfühlblase reinen Unter­ hal­ tungs­

klangvolle Namen wie Tlaus Teller, Slice

Stücktitel lässt sich ja auch so lesen: „An die

theaters piksen. Tina Lanik aber pumpt das

­Gamer Pro 2 oder Spinnig Ballerina Illusion.

Europäer“. Löhle konfrontiert das Publikum

Stück prall auf mit Action. Vom sprich­wört­

Regisseur Matthias Mühlschlegel hat sie ins

mit sich selbst. Dabei sieht es sich gespiegelt

lichen Loch, das der Spaß auch mal haben

Analoge übersetzt und lässt drei Schauspieler

in Figuren, die sich zu wehren versuchen ge-

müsste, kaum eine Spur. Selbst die gallige

als überzeichnetes Allerweltsmenschentrio


auftritt

/ TdZ  März 2020  /

auftreten. Sébastien Jacobi, Barbara Krzoska und Thorsten Rodenberg glänzen als multiple Netzcharaktere durch große Spiellust, schließlich dürfen sie als trashig-comichafte Gestalten auf die Tube drücken, was das Zeug hält: quatschen dazwischen, bringen die Bloggerin aus dem Konzept, bis im Assoziationsmarathon sich kreuzender Satzfetzen die Erkenntnis aufblitzt, dass das Netz nichts weiter ist als eine riesige Datenverwertungsmaschine großer Internetkonzerne. Acht Jahre später, in einer fiktiven Zukunft, ist die Zeit in der virtuellen Welt zur endlosen Gegenwart geronnen, während in der analogen die Vergänglichkeit hässliche Spuren hinterlassen hat. Mühlschlegel greift tief in die Klamottenkiste: Glamsquad und ihre Follower stecken jetzt in grotesken fleischrosafarbenen Fatsuits, in denen die aufgedunsenen Couchpotatoes sich über die erschlaffte dackelohrförmige Stoffbrust streichen oder unappetit­ liche Flatulenzen von sich geben. Wie gut, dass unter Hashtag „Körper“ nur getwittert wird.

sich Glamsquad und ihre Follower als reine,

Glamsquads optimistische Aufgekratzt­

virtuelle Netzidenti­ täten. Wir sind nicht im

heit ist einer ängstlichen Skepsis gewichen.

Netz, das Netz ist längst in uns. Olivia

Sie hat sich in einem Hotelzimmer ver-

Wenzels Text dekliniert die Gefahren und ­

schanzt, nachdem sie die Twitter-Nachricht

Abgründe der digitalen ­ ­ Gesellschaft durch:

erhalten hat, dass ein Amokläufer in der

Cybermobbing, Internet-Dates, Selbstoptimie­

Stadt unterwegs ist. Doch auch hier, ob sie

rungsprogramme, Informationsüberfluss, Gren­

Alt gewordene Digital Natives, fett, aber immer noch im Netz unterwegs – So sieht Regisseur Matthias Mühlschlegel sie in seiner Uraufführungsinszenierung von Olivia Wenzels „1 Yottabyte Leben“ am Saarländischen Staatstheater. Foto Martin Kaufhold

will oder nicht, muss sie im Dauerstrom der

zenlosigkeit, totale Kon­ trolle. Ihre Diagnose

Tweets und entlang des BuzzFeeds „mit-

der Instagram-Generation klingt bitter: Längst

schwimmen“. Als sie einmal „den Stöpsel

sind aus den Nutzern Benutzte und Verformte

zeitlicher Überforderungs- und Erschöpfungs-

ziehen will“, entdeckt sie die Leichen ertrun-

geworden. Das Leben ist nicht mehr als eine

momente, bedingt durch die permanenten

kener Flüchtlinge auf dem Meeresboden, für

maximale ­Daten-­­Speichereinheit, ein Yotta-

Unterbrechungen im Gedankenfluss, bei der

die sich längst keiner mehr interessiert. Olivia

byte Leben. Philosophisches im Twittersprech.

Stange. Einen Ausweg aus dem ganzen Wahn-

Wenzels Analyse der digitalen Gesellschaft

Matthias Mühlschlegel übersetzt die

sinn gibt es für uns Zuschauer am Ende doch:

folgt der Netzlogik, sie ist assoziativ und

Geschichte von Glamsquad und ihren Follo-

nämlich den aus dem Theater. Auch Glams-

spielt mit Realitäts­ebenen. Regisseur Mühl-

wern in einen rasant-bösen Comic und findet

quad und ihre drei Follower hangeln sich zum

schlegel ergänzt das Bühnengeschehen mit

damit einen ästhetischen Ausdruck für die

Schluss über die Zuschauerreihen hinweg ins

Videos, die wie eine ausschnitthafte Live-

Generation der User, Gamer, Blogger und

Freie. Ganz so, als kämen wir in ihrer Welt

Übertragung im Hintergrund laufen. Alles ist

Youtuber. Seine temporeiche, unterhaltsame

schon längst nicht mehr vor … //

eine große Inszenierung. Längst verstehen

Inszenierung hält das Publikum trotz zwischen-

Reingart Sauppe

Master Expanded Theater Anmelden bis 15. April 2020

hkb.bfh.ch/theater

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stück

/ TdZ März 2020  /

Die Architektur der Macht und die Ausgeschlossenen Der Dramatiker Thomas Freyer über sein Stück „letztes Licht. Territorium“ im Gespräch mit Jakob Hayner

Thomas Freyer, Ihr neuestes Stück „letztes Licht.

fundamentale Tragödie der „Über­ flüssigkeit“

Die Figuren in „letztes Licht. Territorium“ tra-

Territorium“ wurde im Februar am Schauspiel-

ganzer Bevölkerungsgruppen in unserer Zeit.

gen die Züge objektiver Entmenschlichung. Sie

haus Düsseldorf uraufgeführt. Inhaltlich erin-

Sie werden als wertlos erachtet, werden ausge-

leben in verfallenden Hütten zwischen einer

nert es an „kein Land. August“ von 2017. Gibt

stoßen und zum Objekt militärischer und polizei-

Mauer und dem Meer – eine Mischung aus

es eine kontinuierliche Auseinandersetzung, die

licher Kontrolle. Diese Realität spielt im Theater

Slum und Sonderwirtschaftszone. Sie ver­

von dem einen Stück zum anderen führt?

selten eine Rolle, Sie nehmen sich ihrer an.

harren in Bewegungslosigkeit, können sich

In diesem Fall ja. Ich hatte nach den Auffüh-

Wieso?

keinerlei Zukunft vorstellen. Allein die Vergan-

rungen von „kein Land. August“ in Dresden

Für mich ist das Erzählen über die „Über­

genheit ist noch Thema. Aber sie wissen um

relativ schnell das Gefühl, dass dieses Thema

flüssigen“ auch ein Versuch, die politische

ihre Zurichtung. „Wir sind Hunde“, heißt es an

noch nicht auserzählt ist. Es war anfangs vor

Welt besser zu verstehen, die Architektur der

einer Stelle. Was bedeutet es, diesen Figuren

allem eine Frage des Blickwinkels. Während

Macht und die dazugehörigen Mechanismen,

eine Sprache zu geben, wenn auch eine abge-

sich die Hauptfigur bei „kein Land. August“

die ohne das Ausschließen von ganzen Grup-

hackte, zersplitterte?

auf eine Suche begibt, die sie zur Flucht be-

pen in dieser Form überhaupt nicht möglich,

Eine schwere Frage. Die Sprache der Figuren

wegt, werden die Bewohner in „letztes Licht.

nicht zu verstehen sind. Politikerinnen und

entsteht bei meinen Texten in einem län­

Territorium“ durch das Ziehen einer neuen

Politiker reden über die eigene Angst, über

geren Prozess über mehrere Fassungen.

Grenze und Mauer, ohne dass sie sich fort­

den Schutz der wirtschaftlichen Stärke ihrer

Das Fragmentarische war in diesem Fall

bewegen, zu Ausgeschlossenen, obwohl sie

Länder, bauen unstimmige Identitätsmodelle.

schnell ein wichtiger Bestandteil. Es war

einmal völlig selbstverständlich dazugehörten.

Aber eigentlich steckt hinter all dem Reden

klar, dass die Figuren in ihrer abgerissenen

Aber es war tatsächlich das erste Mal, dass

ein mehr oder weniger bewusstes Sich-­ Situation und ihrer Unsicherheit keine ge-

sich inhaltlich und formal eine solche Weiter-

Abwenden von denen, die keinen Zugang zu

standene Sprache zur Verfügung haben

führung angeboten hat, auch wenn noch andere

einer Welt haben, wie wir sie hier als etwas

­würden. Gleichzeitig war es schwer, sich in

Arbeiten zwischen diesen beiden Texten lagen.

Selbstverständliches verstehen. Das Stück ist

ihre Isoliertheit, in ihr Verbanntsein hinein-

ein Versuch, diesen eurozentrischen, west­

zudenken. An diesem Punkt war für mich

Für mich zeigen sowohl „kein Land. August“ als

lichen Blick zu überwinden. Ich glaube nicht,

eine wesentliche Frage, wie viel Reflektiert-

auch „letztes Licht. Territorium“ wie keine

dass das in jeder Hinsicht gelingt. Aber es ist

heit die Sprache verträgt, wie viel Bewusst-

­anderen mir bekannten Gegenwartsstücke die

vielleicht ein Anfang.

sein eine Figur für die eigene Situation.

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thomas freyer_letztes licht. territorium

/ TdZ  März 2020  /

Es gibt in dem Stück eine nahezu klas-

meinsam entwickeln lässt, als einsam

sische dramatische Situation, in der es

an einem Text zu sitzen. Die meisten

um Schuld und Rache geht. Doch an­

Häuser sind begeistert von Formaten

gesichts der übergeordneten Tektonik

jenseits der althergebrachten Art, wol-

der Macht wird diese menschliche Tra-

len es finanziell aber nicht umsetzen.

gödie nahezu bedeutungslos. Dass man

Mit einem halben Dramaturgiehonorar

nur lebt, weil jemand anderes stirbt,

ist es nicht getan.

scheint normal geworden zu sein, weil die Welt nun einmal ist, wie sie ist.

„letztes Licht. Territorium“ wurde, wie

­Inwieweit ist das sogenannte alterna-

bereits „kein Land. August“, von Jan

tivlose Räderwerk versachlichter Herr-

Gehler uraufgeführt. Frühere Stücke

schaft eine Herausforderung für das

brachte Tilmann Köhler zum ersten Mal

Schreiben dramatischer Texte und Kol-

auf die Bühne. Wie intensiv ist Ihre je-

lisionen?

weilige Zusammenarbeit mit den Regis-

Es bildet den Rahmen jeder denkba-

seuren Ihrer Uraufführungen?

ren Handlung. Es geht wohl darum,

Ich arbeite fast ausschließlich mit

dieses „Räderwerk“ anzutasten, es

den beiden, was für mich ein absolu-

einzubeziehen in die Frage, wie wir

ter Glücksfall ist. Obwohl beide ganz

leben wollen. Vor allem aber geht es

unterschiedliche Arten haben, auf

darum, es infrage zu stellen. Es ist

meine Texte zuzugreifen, gibt es diese

nicht alternativlos, erscheint uns aber

Gemeinsamkeit, dass wir uns sehr

oftmals so, weil beispielsweise die

früh während des Schreibprozesses,

­Logik, die hinter den Vorgängen in den

schon während der ersten grund­

politischen Machtzentren oder den in-

legenden Gedanken zu einem neuen

ternational verschränkten Wegen des

Text austauschen. Ich habe weder bei

Geldes steckt, in einer Art komplex

Tilmann Köhler noch bei Jan Gehler

ist, die es uns schwer macht, einen

das Gefühl, etwas schützen zu müs-

Orientierungspunkt zu finden, einen

sen. Das entlastet mein Schreiben

Halt. Oder einen Punkt, der die Mög-

sehr. Gerade sitze ich an einem Text,

Gedanke ist nicht gerade neu, und

Thomas Freyer, geboren 1981 in Gera, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Sein Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“ gewann 2006 den Förderpreis des Berliner Theatertreffens und dessen Hörspiel­ fassung im selben Jahr den Prix Europa. Im Januar 2017 wurde ihm der Lessing-Förderpreis des Freistaates Sachsen verliehen. „letztes Licht. Territorium“ knüpft thematisch an das ebenfalls in Theater der Zeit (02/2017) abgedruckte Stück „kein Land. August“ an und wurde am 13. Februar 2020 im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. Am 25. April folgt die Uraufführung seiner aktuellsten Arbeit „Gertrude“ am Theater Junge Generation in Dresden.

trotzdem beschäftigt er mich. Gerade

Foto Matthias Horn

ben hat für mich immer etwas mit

lichkeit von Teilhabe, Einmischung, Einfluss bietet. Am leichtesten erscheint oftmals die Perspektive, über das eigene Konsumverhalten ein­ zu­ greifen. Dieser Weg ist aber, und das ist fast zynisch, ein Teil dieses ­„Räderwerks“, stärkt es letztlich, weil das, was wir „den Markt“ nennen, ­keine feste Gestalt hat und dementsprechend wandelbar, flexibel ist. Der

beim Schreiben. Für mich bleibt jetzt,

der zusammen mit Tilmann Köhler in der nächsten Spielzeit am Staatsschauspiel

Dresden

uraufgeführt

­werden soll. Er war von Anfang an eingebunden in den, in diesem Fall, etwas komplizierten Prozess. Es gibt viele Texte, viele Szenen, Versuche, die schlussendlich nicht im fertigen Stück zu finden sein werden. Es wäre für mich deutlich schwerer, das allein am Schreibtisch auszuhalten. SchreiScheitern zu tun.

wo dieses Stück geschrieben ist, die Zuletzt die Frage: Wie kommt es, dass

Frage, wie losgelöst voneinander diese beiden Ebenen sind – die Geschichte der

Ich glaube nicht, dass man das so klar von­

Ihre Stücke so selten oder gar nicht nach­

­Figuren im Territorium zum einen, die über-

einander trennen kann. Die Frage ist, wie

gespielt werden? Das verwundert mich, verhan-

geordnete Macht, die ins Geschehen ein-

man den Begriff der Autorenschaft abgrenzt.

deln sie doch die Konflikte der Gegenwart in

greift, auf der anderen Seite.

­Warum sollte eine Autorin, ein Autor nicht ein

poetischer Sprache, wie die Kritik auch regel-

selbstverständlicher Teil eines Entwicklungs-

mäßig anlässlich der Uraufführungen feststellt.

Wie verstehen Sie die Aufgabe des Stücke-

oder Rechercheprozesses sein. Meine Erfah-

Offenbar ohne Folgen für den Theaterbetrieb.

schreibens – gerade in einer Zeit, in der mehr

rung ist eher die, dass sich die Theaterhäuser

Oder täusche ich mich?

und mehr Stückentwicklungen oder Recherchen

schwer mit Prozessen tun, die ungewöhnli-

Das täuscht ganz und gar nicht. Ich hätte es

auf die Bühnen der Theater kommen, also das

cher erscheinen. Da geht es, um es klar zu

natürlich viel lieber, wenn meine Texte nach-

Begreifen von Wirklichkeit mittels dramatischer

sagen, um Bezahlung. Es ist nicht mehr oder

gespielt werden würden. Darüber, warum das

Literatur augenscheinlich nicht besonders hoch

weniger Aufwand, als Autorin, als Autor an

oft nicht der Fall ist, könnte ich mutmaßen.

im Kurs steht?

einem Projekt beteiligt zu sein, das sich ge-

Aber das will ich gar nicht. //

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stück

/ TdZ März 2020  /

Thomas Freyer

letztes Licht. Territorium 1 (zwischen den Hütten) ZAUDA  Verlass ist auf den. Wie ichs gesagt hab. MAGEL  Verlass? Auf den? Auf dein Wort, Zauda. Wie immer. ZAUDA  Also. Auspacken, Freunde. BYOSCH Auspacken. MAGEL Jawohl. ZAUDA  (zu Ander) Du? Schon wach? ANDER Wach. Ja. Vielleicht. Ist manchmal gar kein Unterschied. ZAUDA Ach. MAGEL  Ganz matt. Junge. Siehst du aus. ANDER  Ist zäh. Manchmal. Wenns Licht angeht. Plötzlich. Wenn einer die Sonne ranmacht. Ein­ fach so. Da oben. An den Himmel. BYOSCH  Wie du immer sprichst. ZAUDA Wie eine Katze. Sag ich euch. Dieser Bainz. Schleicht sich nachts um die Hütten. Alter Hund. Und stellt die Kisten in den Sand. Auf ­Socken, sag ich. Macht der das. Auf Socken, wenn alles pennt. MAGEL  Bainz. Ja. Der. Nichtsnutz. ZAUDA  Er bringt uns, was wir brauchen. ANDER  Ich brauch den nicht. ZAUDA  Red nicht so, sag ich. Über deinen Vater. Wären längst weg. Ohne ihn. Längst verreckt. ANDER  Der. Und sein Protokoll. Wenn da nicht steht, alle tot. Ja, dann leben wir wohl noch. ZAUDA  Bist sein Sohn. BYOSCH  Wenn schon. ZAUDA  Du hältst den Mund. ANDER  Wenn ich von drüben käme. Mit meinem Gesicht. Der würde mir die Hand geben. Freund­ lich. Und fragen, wer ich bin. BYOSCH  Die Kiste. Ich krieg die nicht auf. MAGEL Bisschen dünn. Wenn man mich fragt. Dieses Morgengrauen. Das bisschen Licht. Am Ende. Das es bis hier runter schafft. Ich hab so schlecht geschlafen. Da saß was auf der Brust. ZAUDA Lass das Jammern, Magel. Und hilf Byosch mit den Kisten. MAGEL  Zu Befehl, meine liebe Zauda. ZAUDA  Alles muss ins Lager.

MAGEL  Alles ins Lager. Jawohl. ZAUDA Und dann wird erst mal gegessen. Der Tag. Der ist doch gut. Ist doch schön, dass wir zu­ sammen sind. Und dass es weitergeht. Vorwärts. MAGEL  Wenn nur dieses halbe Licht nicht wär. ZAUDA  Wenn nur dein Gerede nicht wär. MAGEL Manchmal träum ich, dass ich aufsteh. Und rausgeh. An den Strand. Und dass ich da steh. In der Sonne. Und dass mich das beruhigt. Der Blick da raus. Auf die Wellen. Weil alles so schön ist. Und. Manchmal wach ich dann auf. Und seh. Dass alles so aussieht wie im Traum. Und dann geh ich raus. Und. Stille. MAGEL  Jetzt weiß ich auch nicht mehr, was ich sagen wollte. So ist das. Mit dem Kopf, was? BYOSCH Schon wieder weniger. Halb voll nur noch. Und immer das Gleiche zu fressen. ZAUDA  Wird schon reichen. BYOSCH Paar Päckchen Mehl. Die Windeln für Magel. Ein bisschen Wasser. ZAUDA  Morgen kommt Nachschub. MAGEL  Die Windeln. Natürlich. ANDER  Morgen ist ein neuer Tag, nicht wahr? BYOSCH  Und trotzdem. Ist zu wenig. Einfach. ZAUDA  So viele sind wir nicht mehr. ANDER Sind Hunde. Wir alle. Und wedeln mit dem Schwanz, wenn man uns das Fressen vorsetzt. ZAUDA  Nimm die Wasserkanister, sag ich. Und bring sie ins Lager. Sind Hunde, ja. Aber halten zusammen. Haben wir immer schon. Und keiner hat die Beine hochgelegt. Einfach. Und gewartet. Dass noch was vom Himmel fällt. Und jetzt. Jetzt bringen wir die Sachen ins Lager. Oder, unser ­geschätzter Ander hat noch einen besseren Vor­ schlag? ANDER  Ich arbeite daran. ZAUDA  Du arbeitest. ANDER  Immer grinst du in dich rein. ZAUDA  Schlaf. Mein Junge. Bisschen Schlaf fehlt dir. Dass du die Gedanken wieder geradekriegst. Alles nur Spiegel da drin. Hab ich recht? Im Kopf. Alles wirft zurück. Und dreht dich. Immer rum. Aber egal, wohin du guckst. Da ist immer nur der kleine Ander drin. Wird schon vorbeigehen.

ANDER  Lass das. ZAUDA Bist doch groß geworden. Hier. Ein Mann. ANDER  Ein Mann. ZAUDA  Hast alles gekriegt. Ist doch alles dran an dir. ANDER Wird schon gut sein. Alles. Wenn kein Arm fehlt. MAGEL  Dass alles immer herunterhängen muss. An den Knochen. Am Ende. Die ganze Haut. Wie eine vertrocknete Qualle. Wie eine Puddinghaut. Eine kalte. Meine Hose. Die muss noch in der Hüt­ te liegen. Die. Muss ich wohl vergessen haben. Ist mit der Haut wie mit den Gedanken. ­Alles schlaff. Magel ab. ZAUDA  Wirst uns jetzt das Essen machen. BYOSCH  Ja, Mutter. ZAUDA  Wie du das sagst? BYOSCH  Soll ich es nicht sagen? ZAUDA  Kannst sagen, was du willst. Oder hab ich dir was anderes beigebracht? Den Rücken ge­rade. Mädchen. Ist ja keine Haltung. Das. BYOSCH Hast mir beigebracht, was ich brauch. Hast gemacht, was ich bin. ZAUDA  Wirst wohl auch deinen Anteil haben. An dir. Und jetzt beeil dich. Bis dahin wird Magel sei­ ne Hose wohl gefunden haben. Der. Alte. Macht mich ganz duselig. Mit seiner ewigen Vergesslich­ keit. ANDER Nicht seine Schuld. Das. Werd ihm hel­ fen. ZAUDA  Wenn alles im Lager ist. Ander ab. BYOSCH  Habs gewusst. ZAUDA Was? BYOSCH  Die haben die weitergezogen. ZAUDA  Was gezogen? BYOSCH  Die Mauer. Ins Meer. Da. Schau. Immer weiter rein. Die machen das. Nachts. Ich hörs manchmal. So ein Schleifen. Ein Hämmern. Ganz weit weg. Die Motoren der Maschinen. Da drau­ ßen. Auf dem Meer. Der Wind trägt das hierher. Ist wie ein Sirren im Kopf. So ein leises. Und manch­ mal weiß ich früh nicht, obs nur im Kopf war. ZAUDA  Ist doch gut.

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thomas freyer_letztes licht. territorium

/ TdZ  März 2020  /

BYOSCH Was? ZAUDA  Wenn hier Ende ist. BYOSCH  Würd gern wissen, wie es da aussieht. Weißt du? Auf der anderen Seite. Was die für ein Leben haben. ZAUDA  Die leben halt. BYOSCH  Meinst du, Ander hat recht? Sitzen die da? An vollen Tischen? Essen Dinge, die wir gar nicht kennen? ZAUDA  Ander ist ein dummes Kind. BYOSCH Frag mich, obs hier auch mal so war. Früher. Ob wir mal mehr gefressen haben als im­ mer nur bisschen dürren Fisch und Mehl? ZAUDA  Ist noch keiner verhungert. Wird besser. Sag ich. Irgendwann. Müssen durchhalten. Weißt du doch. BYOSCH  Sagst du immer. ZAUDA Durchhalten. BYOSCH Ja. ZAUDA  Halt dich an das, was jetzt zu tun ist. BYOSCH  Ja, Mutter. ZAUDA  Wie du immer sprichst. Stille. BYOSCH Ja. ZAUDA Mutter. BYOSCH  Tut mir leid.

2 dass wenn zurückblickt man auf die Geschichte dieses Orts die Jahre abgenutzter Zeit Jahrzehnte die vergraben liegen die Unordnung vergessener Ereignisse man nur die Enden sieht an denen alles hängt dass erst wenn man von vorn beginnt die einen kamen dann die anderen mit militärischem Gerät der Ort zu einem Land gehörte über Nacht dann Tage später plötzlich eine neue Fahne wehte am Strand wo sich die Wellen brachen dort wo die klamme Luft sich wie ein Keil unter die Hütten schob bevor sie sich im Wald verfing zwischen den Ästen Zweigen Nadeln dass man nach draußen nicht mehr ging die Kinder stets zurückhielt auch am Tag wenn sie nach draußen wollten sehen was zu sehen war die fremden Offiziere Panzer Einsatzgruppen Pferde

dass man herumreicht sie auf einer Karte dorthin schiebt wo man sie braucht wo man sie haben will dass man zum Unterpunkt sie macht in den Verträgen dass man sich schnell gewöhnt an die Verhältnisse die täglich wechselnden dass Unbekannte nachts durch alle Hütte ziehen nach denen suchen die zum Feind man hat erklärt dass man nicht schläft auch nicht am Tag wenn hier das Meer die Wellen stumm ans Land schiebt und der Regen steigt am Hang die Wolken schwer und langsam ins Gebirge greifen dass man die Sachen packt die wenigen dass man zum ­Aufbruch heimlich sich bereit gemacht dass man im Mantel schläft in Schuhen dass man zum Schweigen jetzt die Kinder hier erzieht dass man nicht spricht mit ihnen nicht erklärt warum man diesen Ort verlässt dass man ein halbes Leben auf die Wege wirft den Kindern zärtlich in die Haare greift dass auf den Grund die Dinge trudeln durch ein Meer aus rückwärtiger Zeit dass man nicht umdreht sich dass man landeinwärts zieht dort nichts erzählt von dem was hinter einem liegt dass man sich etwas schneidet aus dem Fleisch dass es am Strand verfaulen kann dass die die Tage später kommen die in den leeren Hütten schlafen saufen und ihre Panzer auf den Wegen lassen dass die nichts finden hier als eine abgelegte Zeit

3 (zwischen den Hütten) MAGEL  (leise) Dass sie mir auf dem Kopf sitzen müssen. Immerzu. Und auf dem Hals. Dass sie ihre Schnäbel an mir reiben. An der Wange. Sich das Gefieder ordnen nachts. Auf mir. Dass ich sie nicht vergesse. Am Tag. Meine Brut. SUU  Entschuldigen Sie bitte. MAGEL  Was? Entschuldigen Sie was? SUU  Ich wollte Sie nicht stören. MAGEL  Sie stören. SUU Entschuldigung. MAGEL  Habe ein Hemd zu finden. Wissen Sie? Und eine Hose. Haben Sie meine Hose gesehen? SUU  Eine Hose. Nein. MAGEL Nein?

SUU Ich. Bin gerade erst angekommen. Mein Name ist Suu. MAGEL Verlegt. Hab ich die. Irgendwo. Es ist mir. Etwas peinlich. Dieser Aufzug. Magel. So ­heiße ich. Magel. So ein dummer Name. SUU  Soll ich Ihnen beim Suchen helfen? MAGEL  Gefällt es Ihnen hier? SUU Hier? MAGEL Ein guter Ort. Das Meer. Schauen Sie. Das ist ein bisschen grün. Ein wenig blau. Man kriegts nicht auseinander. Ganz hell am Stand. ­Unter der Gischt. Und immer tiefer dann. Und dunkler. Sehen Sie? Dort draußen? Bevor die ­Wellen brechen. Und hinter uns. Am Hang. Da standen Kiefern. Wissen Sie? Ein ganzer Haufen. ­Ganzer Wald voll früher. Schön, nicht? SUU  Ja. Bestimmt. MAGEL Wir. Haben uns schon einmal gesehen, nicht? SUU Wir? MAGEL Ja. SUU Nein. MAGEL  Hab das wiedererkannt. SUU Das? MAGEL Gesicht. SUU Ja. MAGEL  Die Stirn. Die ist. Ist besonders irgendwie. SUU  Die Stirn. MAGEL Und wie die Wangenknochen liegen. Seltsam. Kommen Sie doch. Bitte. Etwas näher. Ein Stückchen nur. Meine Augen. Die alten Dinger. Ich frag mich, woher Sie so plötzlich gekommen sind? Wer Sie hier abgestellt hat? SUU  Ich bin das erste Mal hier. Im Territo­rium. MAGEL Seltsam. SUU  Leben Sie hier? MAGEL  Dumme Frage. SUU Ich meine, in welcher der Hütten wohnen Sie? Vielleicht ist die Hose ja in Ihrer Hütte. MAGEL  Ja. Die Hütte. Sie haben recht. Die Hose. Die vielen Vögel. Verstehen Sie? SUU  Nein. Ich. MAGEL So ein Knacken. Ein Schaben. Flattern. Die Hütte ist voll damit. Niemand hier hat so ein Gesicht. So eine Stirn. Man wird sich wundern. Sehr wundern. Über Sie. SUU Warum? MAGEL Ach. SUU Gut. MAGEL Muss nicht gut sein. Meine Hose. In der Hütte. Sie liegt wohl unter den Vögeln. Bestimmt. Sit­ zen überall. Weiß gar nicht, wie ich zu denen gekom­ men bin. Wissen Sie? Sie sind sehr freundlich zu mir. SUU  Ich kann Sie stützen.

VERDECKT Uraufführung

von Ariane Koch

THEATER MARIE ab 29.2.2020 Theater Tuchlaube Aarau

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stück

MAGEL  Ein paar Schritte. SUU  Warum nicht? MAGEL  Kalte Finger. SUU  Immer schon. MAGEL Angst? SUU Nein. MAGEL  Manchmal steigt die in die Knochen. SUU In die Knochen, ja. Aber die Haut. In die steigt nichts. Die ist dick, wenn es sein muss. Und man sieht es ihr nicht an. Man fasst sie an und spürt nichts. MAGEL  Die Angst. Wissen Sie. Ist eine gefrä­ßige. Die will weiter. Will überall hin. Und in den Kno­ chen. Da nistet sie sich ein. Manchmal. SUU  Ich glaube, Sie brauchen mich gar nicht. MAGEL Wie? SUU  Sie könnten ohne Probleme allein gehen. MAGEL Natürlich. SUU  So sicher, wie Ihr Gang ist. MAGEL  Ich habe starke Beine. Sehen Sie? SUU  Sie brauchen eine Hose. MAGEL  Wie heißen Sie? SUU  Suu. Ich bin Suu. Byosch dazu. BYOSCH  Was macht die da? MAGEL  Byosch, meine liebe Byosch. BYOSCH  Wer ist das? MAGEL  Meine Hose. Suu hilft mir, sie zu ­suchen. BYOSCH Suu? MAGEL  (zu Suu) Sie ist manchmal etwas schroff. Aber ein gutes Herz. Das hat sie. (Zu Byosch) Nicht wahr, Byosch? Das ist ganz weich. Dein Herz. Vom vielen Blut kommt das. Muss man nur schaun. Und aufpassen drauf. Gut. Dass es nicht zerkocht. Irgendwann. Und auseinanderfällt. BYOSCH  Ich frag, was die hier will. SUU  Ich. Es tut mir leid. Ich komme vom Konti­ nent. Meine Firma hat mich hierhergeschickt. BYOSCH  Vom Kontinent? SUU Ja. Wir prüfen momentan verschiedene Standorte. Für die Industrie. Werkhallen. Monta­ gehallen. Ich suche für verschiedene Auftraggeber. Konzerne. Ich. Ich mach das noch nicht so lang. Die Neuen schicken sie immer an den Rand. Aber. Ich will Sie nicht langweilen. Mit meinem Gerede. (Zu Magel) Was ist mit ihr? MAGEL  (zu Suu) Byosch. Sie ist. Ein wenig eigen. Sie braucht etwas Zeit manchmal. Wenn was durch den Kopf rutscht. SUU  Durch den Kopf? MAGEL  Gedanken. Erinnerungen. Wer weiß schon, wie es da drinnen aussieht. Kein Grund jedenfalls zur Beunruhigung. Es hört in den allermeisten Fällen ganz von allein auf.

IMPACT VON EDAN GORLICKI / INTER-ACTIONS TANZPERFORMANCE PREMIERE 25.03.2020

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SUU  Sie bewegt sich nicht mehr. MAGEL  Kommt vor. Geht vorbei. Von ganz allein. SUU  Ich will nichts Böses, Byosch. Hören Sie? MAGEL  Es bringt nichts. SUU  Die sieht ganz hart aus. Die Haut. MAGEL  Weiches Herz. SUU  Vielleicht hätte man mich ankündigen sollen. MAGEL Vielleicht muss man das wechseln. Die­ ses Ding. Diese. SUU Windel? MAGEL  Läuft mir an den Schenkeln runter. Ganz langsam. So voll schon. Ich bin Magel. Übrigens. SUU Ja. Zauda dazu. ZAUDA  Wer ist das, Magel? MAGEL  Ich weiß nicht. Eigentlich. (Zu Suu) Wir kennen uns ja überhaupt nicht, oder? ZAUDA  (zu Suu) Besuche sind hier selten. Müs­ sen Sie wissen. SUU  Guten Tag. Ich. Ich bin Suu. ZAUDA  Willkommen bei uns, Suu. Willkommen im Territorium. Ich bin Zauda. Darf ich mich fra­ gen, warum Sie hier sind? SUU  Ich komme vom Kontinent. ZAUDA So? SUU Ja. ZAUDA  Das erste Mal im Territorium? SUU Ja. ZAUDA  Hat Bainz Sie geschickt? Hat er Sie rüber­ gebracht? SUU  Ich kenne keinen Bainz. Meine Firma, wis­ sen Sie, hat mich hierhergeschickt. Es geht um ei­ nen möglichen Standort. Für eine Werkhalle. ZAUDA  Standort für was? SUU  Zerteilen. Aufbereiten. ZAUDA Zerteilen? SUU Schweine. ZAUDA Schweine? SUU  Schweinereste. Es ist der Auftraggeber, der schlussendlich darüber entscheidet. Ich gebe le­ diglich meine Expertise dazu ab. Gibt es hier ein Hotel? ZAUDA  Sie sind schlecht vorbereitet, junge Frau. SUU  Eine Pension vielleicht? ZAUDA  (zu Magel) Geh in die Hütte. Es ist zu kalt für diesen Aufzug. SUU  Seine Windel ist voll. ZAUDA  (zu Magel) Ich schicke dir Byosch nach, sobald sie wieder unter uns weilt. Magel ab. ZAUDA  Wie ist es, Suu? Dort drüben? SUU  Wie es ist? Es ist gut. ZAUDA Gut? SUU Ja.

ZAUDA  Ist es nicht das Paradies? SUU  Das Paradies? ZAUDA  Ich weiß nicht. SUU  Es ist normal. ZAUDA Ja. SUU  Wie soll es schon sein? ZAUDA  Sie wissen nicht, wie es hier ist. Sie wis­ sen nichts über uns dort drüben, nicht wahr? Gibt es dort viele wie dich? SUU  Ich versteh nicht. ZAUDA  Ich hab gehört, dass sie euch dort hassen. Dass sie euch verfolgen. Eure Häuser anzünden. Weil sie euch nicht haben wollen. Dass sie auf euch zeigen. Und es nicht aushalten. In eurer Nähe. SUU  Was meinen Sie mit euch? ZAUDA  Solche mit solchen Haaren. SUU  Die Haare also. ZAUDA Wissen Sie? Wir haben hier nicht viel. Die Mauer. Das bisschen trockenes Land. Den Strand, ja. Und das Meer. Es sieht alles schön aus. Nicht wahr? Man könnte ein paar schöne Bilder da­ von m ­ achen. Die Sonnenuntergänge ziehen sich hier über Stunden. Hassen sie euch auf dem Kon­ tinent? SUU  Ich weiß nicht. Ich. Denke nicht. Nein. ZAUDA  Ich denke, dass sie das tun. Mein Mann ist dort. Irgendwo drüben. Ich denke, dass sie auch ihn hassen. Aber euch. Euch hasst man mehr. Es gibt Abstufungen, verstehen Sie? SUU Abstufungen? ZAUDA  Du bist dort geboren, nicht wahr? SUU Ja. ZAUDA  Das ändert nichts. SUU  In Ihren Augen vielleicht. ZAUDA Vielleicht. SUU Jedenfalls. Ich müsste für einige Zeit hier­ bleiben und mir alles ansehen. Gibt es jemanden, der mich herumführen kann? ZAUDA  Es sind nur ein paar Meter. An der Mauer entlang bis zum Strand. 173 Schritte. Vom äußers­ ten Zipfel des Strands bis zur Ebene 162. 178 am Strand selbst. Dahinter. Das kann man nicht sehen von hier. Weil es so hell ist, wissen Sie. Da steigt das Gebirge hoch. Ein paar Schritte nur. Man denkt, es wär der Himmel. Weil es so blau ist. Das Gestein. Sie werden sich schnell und ganz ohne unsere Hilfe einen Überblick verschaffen können. SUU  Was ist dahinter? ZAUDA Dahinter? SUU  Hinter dem Gebirge? ZAUDA  Kein Durchkommen. Das Gebirge ist Teil der Mauer. Eine Art Kostenersparnis. SUU  Warum schauen Sie so? ZAUDA  Gibt es Geld?


thomas freyer_letztes licht. territorium

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SUU Geld? ZAUDA  Wenn hier gebaut wird. Und Arbeit? Für uns? SUU  Ich weiß nicht. ZAUDA  Der Auftraggeber. Der entscheidet so was, nicht wahr? SUU Ja. ZAUDA  Können Sie nicht mit ihm reden? SUU  Ich. Also ich kenne den Auftraggeber nicht. Nicht persönlich. Ich liefere meinen Bericht. An meinen Chef. Das ist alles. ZAUDA  Es muss doch möglich sein. SUU  Ich habe bereits gesagt, was möglich ist. Stille. ZAUDA Natürlich. SUU  Ich brauche in erster Linie Ruhe. Die Arbeit ist komplexer, als sie für Außenstehende zu sein scheint. ZAUDA  Das verstehe ich. SUU Danke. ZAUDA  Sie gefallen mir, Suu. Stille. SUU Also. ZAUDA  Sie gefallen mir außerordentlich gut. Stille. SUU Danke. ZAUDA  Dafür können Sie wirklich nichts. SUU  Ich bin müde. Die Reise. ZAUDA Sie können in einer der leerstehenden Hütten wohnen, solange Sie hier sind. Ander wird Ihnen alles zeigen. Ich werde ihn holen. Stille. ZAUDA  (lacht) Ein Hotel.

4 (in einer leeren Hütte) SUU Willst du mich noch ein wenig länger an­ schauen, bevor du reinkommst? ANDER  Nein. Ich. Gibt nur. Nur noch dieses Ding hier. Wir. Haben alle nur alte Matratzen. SUU  Du bist Ander. ANDER  Hab noch eine Decke gefunden. Drüben. Im Lagerraum. Ist ein bisschen kratzig. Aber. Die gewöhnt sich dran. Die Haut. Wahrscheinlich. SUU  Was ist mit deinen Händen passiert? ANDER  Meine Hände? SUU  Sie sind verbunden. ANDER  Nichts. Es ist. Die Matratze? SUU  Leg sie da drüben hin. Stille. ANDER Gefällt es dir hier? Ich meine. Hier bei uns?

SUU Ich bin zum Arbeiten hier. Es muss mir nicht gefallen. ANDER  Der Strand ist schön. Der Sand. Der ist ganz hell. Und so klein. Die Körner. Ich muss da oft hin. Am Abend. Setz mich vor die Wellen. Weil das so lange dauert. Wie die Sonne dahinter ver­ schwindet. So ewig lang. Stille. ANDER  Magel mag dich. Hab ich gesehen. SUU  Du hast uns beobachtet? ANDER Wenn Magel dich mag, mag ich dich auch. Er braucht seine Hose. Eine frische Windel. Jeden Tag. Dreimal. Hab es vergessen. Passiert manchmal. Hab zu tun. Jede Menge. Immer hab ich zu tun. Ich kann dich rumführen. Wenn du willst. Kann dir die Hütten zeigen. Den Strand. Die ganze Gegend. Magel sagt, früher standen am Hang lauter Kiefern. Jetzt sieht man die blanke Ebene. Stille. ANDER  Wenn du willst. Ich kann dir alles zeigen. SUU Ja. Stille. SUU Später. ANDER Ja. SUU Vielleicht. Stille. ANDER  Schweine also, was? SUU Was? ANDER  Schweine. Zerteilen. Vielleicht. Die Werk­ halle. Der Auftraggeber. Habs gehört. Vorhin. Wär gut für uns. Wenn was passiert. SUU  Man muss sehen, was wird. ANDER  Ist wie abgestellt. In eine Ecke. Der ganze Ort. Irgendwo in ein altes Regal. Ganz nach hinten. Wo mans vergessen kann. Ganz leicht. Im Dun­ keln. SUU  Wie alt bist du? ANDER Warum? Stille. ANDER  Jedenfalls. Kein Kind mehr. SUU  Du schaust so. So wütend. ANDER  Sagen alle. SUU  Und? Stimmt es? ANDER  Weiß nicht. Egal. SUU  Bist du hier geboren? ANDER Bainz. Mein Vater. Der hat mich herge­ bracht. Als ich noch klein war. Als die Mauer noch nicht stand. Eigentlich kommen wir von der ande­ ren Seite. Vom Kontinent. Aber früher. Da war das alles ein Land. Mein Vater. Der arbeitet hier. Der passt auf, dass alles so bleibt, wie es ist. Ist ein ­Idiot. Mein Vater. Wie groß soll die denn werden? Die Halle?

SUU  Du musst mich nicht so anstarren, Ander. ANDER  Tut mir leid. SUU  Schon gut. ANDER  Es ist. Das Kinn. Das ist. Das ist schön. Bei uns. Da sieht das so anders aus. SUU  Ich weiß. ANDER  Ich machs nicht mehr. SUU Ja. ANDER  Wirklich nicht. Stille. SUU  Danke, dass du mir die Sachen her­gebracht hast. ANDER  Byosch hat gesagt, sie haben dich hierher­ geschickt. Weil es ein Dreck ist hierherzukommen. Sie haben dich geschickt. Und keinen von ihnen. SUU  Glaubst du das auch? ANDER  Weiß nicht. Stille. ANDER  Ist mir egal. Eigentlich. Stille. SUU  Gut. Also. ANDER Ja. SUU  Ich muss jetzt schlafen, Ander. Die Reise war anstrengend. ANDER Ja. SUU Ja.

5 (in der Küchenhütte) BYOSCH  Die Fremde. Stille. BYOSCH  Die gefällt mir nicht. Wie die läuft. Hast du gesehen. Wie die sich die Haare aus der Stirn wischt. Wie die die Beine übereinanderschlägt. Das Kinn auf dem Handrücken abstützt. ZAUDA  Sie weiß, was sie tut. BYOSCH Wie eine Maschine. Alles wiederholt. Alles immer gleich. ZAUDA  Du merkst nur, dass alle sie anschauen. Dass sie zusammenstehen. Und reden. BYOSCH  Was will die? Ausgerechnet hier? ZAUDA  Nicht deine Angelegenheit. BYOSCH  Weiß Bainz Bescheid? ZAUDA  Du kochst. Und gut. BYOSCH  Mit dem bisschen. ZAUDA  Was da ist, ist da. BYOSCH Die ist oben. Die Fremde. Auf der ­Ebene. Hab das gesehen. Vom Küchenfenster aus. Wie die hochstolziert ist. Macht mich ganz blöde. Wirklich. Wie die sich bewegt. Ist immer so ein Schwung drin. So ein ganz überflüssiger. ZAUDA Und?

13. + 14. März Monster Truck

Phaedra

fft-duesseldorf.de

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stück

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BYOSCH  Die soll weg. ZAUDA  Wegen der schwungvollen Bewegung? BYOSCH  Ich bin auch eine Frau. Stille. BYOSCH  Ich auch. ZAUDA  Sei zufrieden mit dem, was du hast. Stille. ZAUDA  Warum zuckst du so? BYOSCH Wie? ZAUDA So. BYOSCH  Tu ich nicht. ZAUDA  Immer, wenn ich zu dir komm. BYOSCH  Ich zuck nicht. ZAUDA  Hab ich dich jemals geschlagen? BYOSCH Nein. ZAUDA  Hab ich? BYOSCH  Hast du nicht. Nein. Stille. ZAUDA  Hab ich nie. BYOSCH Nein. Stille. ZAUDA  Ruf mich, wenn das Essen fertig ist. Und mach das Fenster auf. Ist ein Geruch hier drin. BYOSCH  Ist nur Fisch. ZAUDA  Fisch riech ich gar nicht mehr.

6 (in Magels Hütte) ANDER  Rutscht alles nach. Verdammter Sand. Ich mach einen Meter und drei rieseln mir in den Tunnel. Wenns so weitergeht, Magel. MAGEL Holz. Du brauchst Holz, um den Gang abzustützen. ANDER  Gibt kein Holz. MAGEL  Musst vorsichtig sein. ANDER  Wenn die kommen. Irgendwann. Wird im­ mer heißer im Süden. Irgendwann kommen die. Müssen die. Zu Hunderten. Und wollen rüber. Dann muss ich bereit sein. Der Tunnel, Magel. Goldgrube. MAGEL  Wenn dein Vater dich drankriegt. ANDER  Wird er nicht. Niemals, Magel. Hörst du? MAGEL Ja. ANDER  Bombensicher alles. MAGEL Wird dich abführen lassen. Grenzverlet­ zung. ANDER Hat mich doch abgelegt. Rausgetan. Kriegt mich nicht mehr. Soll kommen. Soll er doch. MAGEL  Wenn das auf dich drauf rutscht. Junge. Wenn du nicht mehr rauskommst. ANDER  Geh ich lieber drauf. Wie meine Mutter. Wenn die tot ist. Wirklich. Wenn das stimmt. Über­ haupt. MAGEL  Kann schnell gehen. ANDER  Kann gut gehen. MAGEL  Der wusste das gar nicht. Damals. Dein Vater. Wie er das halten soll. So ein kleines Kind. Hat dich getragen. Ganz komisch. Als wärst du ein kleiner Stuhl. Ein Regal. Und du lagst da im Sand. Plötzlich. Und. Stille. MAGEL  Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich s­ agen wollte. ANDER  Schon gut, Magel. MAGEL  Vielleicht später. ANDER  Später. Bestimmt. MAGEL  Nur. Dass der nicht vorbeigeht. Der Tag. Und die Sonne. Dass die da oben festklebt. Und der nur aus dünnem Blech ist. Der Himmel. Hast du das gesehen?

ANDER  Ich muss, Magel. Der Tunnel. MAGEL  Der Tunnel, ja. ANDER Goldgrube. MAGEL Ja. ANDER  Was ist? MAGEL Musst aufpassen. Nur. Dass dich die Fremde nicht sieht. Wenn du hier gräbst. Weiß man nicht. Was die hier macht eigentlich. ANDER Die? MAGEL Ja. ANDER  Ist in Ordnung. Weiß ich.

7 (in der Esshütte) ZAUDA  Gibt nicht viel zu sagen. Ihr kennt mich. Das Nötigste. Kurz und klar, bevor ihr euch das Es­ sen reinstopft. Ich möchte, dass ihr die Fremde, dass ihr Suu wie einen Gast behandelt. Jedem von euch, auch dir, Magel, ist klar, was ich damit meine. MAGEL Selbstverständlich. ZAUDA Ich weiß. Wir sind ein wenig miss­ trauisch geworden. Mit der Zeit. Das Territorium ist ein einsamer Ort. Aber die Fremde, unser Gast. Wenn es stimmt, was sie sagt. Es wäre doch eine Möglichkeit. Für uns. Endlich. Eine feste Arbeit. Etwas Geld. Damit es wieder aufwärtsgeht. Mit ­allem. Damit wir uns hier draußen etwas aufbauen können. Wir sind noch da. Wir sind fleißige ­Menschen. Wir haben Hände. Und Köpfchen. BYOSCH  Ich trau der nicht. ANDER  Du traust niemandem. ZAUDA Sie ist unser Gast. Sie kann sich frei ­bewegen. Wenn sie Hilfe braucht, werden wir h ­ elfen. BYOSCH  Nie ist hier jemand hergekommen. Nie hat einer was gewollt von uns. So ist es. Immer ge­ wesen. ZAUDA  Es hat dich, Byosch, niemand nach d ­ einer Einschätzung gefragt. ANDER  Zauda hat recht. MAGEL  Sie ist unser Gast. ZAUDA Verwechsle deine Eifersucht nicht mit der Sorge um die Gemeinschaft. BYOSCH  Wirst sehen. ZAUDA  Ich hab genug. Es ist beschlossen. Helft, wenn es sich machen lässt. Seid freundlich. Wir haben noch etwas vor. Mahlzeit. MAGEL  Mahlzeit. Jawohl. BYOSCH Ihr alle werdet sehen. Dass sie das Schlechte bringt. Dass sie auf uns herabschauen wird. Am Ende. So wie es alle tun. Weils gar ­keinen Grund gibt. Dafür. Dass man uns behandelt, als wären wir wie sie. Wir sind fleißige M ­ enschen? Ja. Aber das ändert nichts. Gar nichts für uns. ZAUDA  Kein Wort mehr von dir. BYOSCH Ja. ZAUDA  Und lass dieses Zucken. Stille. BYOSCH Ja. ANDER  Schmeckt fürchterlich.

8 (in der leeren Hütte) ZAUDA  Ich hab Ihnen Essen mitgebracht. SUU Danke. ZAUDA  Schon gut. SUU  Ihre Tochter. Byosch. Sie mag mich nicht. ZAUDA  Essen Sie nur.

SUU  Was ist das? ZAUDA  Jede Nacht bringt uns Bainz Kisten vom Kontinent. Wir nehmen, was wir kriegen. SUU  Was verlangt er dafür? ZAUDA Bainz ist privater Sicherheitsunterneh­ mer. Er kontrolliert den territorialen Teil der Mauer. Es gibt ein gegenseitiges Interesse, dass hier alles ruhig bleibt. SUU  Seit wann gibt es die? Die Mauer? ZAUDA  Schon lang. Sie ist. Größer geworden. Mit der Zeit. Und zieht sich weiter ins Meer. Anfangs stand hier nur ein Zaun. Drüben waren S ­ oldaten stationiert. Irgendwas Internationales. Mittlerweile ist alles in privater Hand. Hier. Und drüben auch. Bainz ist ein guter Mann. Wir wären nichts ohne ihn. Weil hier nichts ist. Früher, ja. Da kamen wel­ che. Haben sogar Urlaub gemacht. L ­agen am Strand. Aber jetzt. Reicht der Fisch kaum für uns. Die Bäume verdorrt. Der Boden, wissen Sie, wird immer sandiger. Immer trockener. Mit jedem son­ nigen Tag. Mit jedem ausbleibenden Regen. Der Sandstreifen dort unten wird immer breiter. Wächst uns in das bisschen Land. Verdammte Dürre. Weiß man das? Bei euch da drüben? Auf dem Kontinent? Wie es hier aussieht? Wie man hier lebt? SUU  Nicht alles. ZAUDA  Nicht alles. Stille. ZAUDA  Dass Sie hier sind, Suu. Dass Sie einen Auftrag haben. Wir haben die nie aufgegeben. Die Hoffnung. Wir setzen auf Sie. Ich möchte, dass Sie das wissen. SUU Ja. Magel dazu. MAGEL  Hier bist du. ZAUDA  Ich komme gleich. MAGEL Die Vögel. Die hören nicht auf. Fliegen mir gegen den Kopf. Ist so ein Geflatter in der ­Hütte. Und Federn in der Luft. Dass man die ein­ atmet. Die ganze Zeit. Die kleinen. Ander. Der hat mir die Hose rausgelegt. Und jetzt kann ich sie nicht finden. ZAUDA  Wo ist Ander? MAGEL  Weiß nicht. Musste los. SUU  Ich kann Ihnen helfen. Mit den Vögeln. Und der Hose. MAGEL  Bin kein Idiot. SUU  Tut mir leid. ZAUDA  Beruhig dich, Magel. SUU  Er hat recht. MAGEL Sie sind sehr freundlich zu mir. Sie ­hatten es nicht leicht. Das sehe ich. SUU Ja? MAGEL Dort drüben. Man hat einiges über Sie gesagt, nicht wahr? Über Sie und Ihre Eltern. Man hat geredet. Auf der Straße. Man hat Sie angestarrt. Im Supermarkt. Sicherlich. Man kann versuchen, es zu überhören. Eine Zeit lang. Die Haut ist dick. Aber es kommt durch, Mädchen. Ist wie die Angst. Nur. Dass die von innen kommt. Und alles. Alles wohnt in den Knochen. Im weichen Kern. Es zieht nicht vorbei. Es will zerlegen. Auseinandersetzen. Zerteilen. Ihre Augen, Suu. Die schauen so. Mei­ nen Sie, ich könnte so einer sein? SUU  So einer? MAGEL  So einer, der starrt. Der redet. SUU Warum? MAGEL  Nun. Es interessiert mich. SUU  Aber mich nicht. MAGEL Nein? SUU  Sie wissen ja schon alles über mich.


MAGEL  Man sieht es. SUU  Man sieht es. ZAUDA  Lassen Sie ihn, Suu. Er ist nicht mehr der, der er war. SUU  Wer war er denn? MAGEL  Das. Weiß ich. Ich nicht mehr. Stille. SUU  Tut mir leid. Aber. Ich kann das nicht essen. Suu ab.

9

Kaserne

(in Anders Hütte) BYOSCH  Weiß, was du da unten treibst. Immer­ zu. ANDER  Verschwinde, Byosch. BYOSCH   Zauda sucht dich. ANDER  Deswegen kommst du zu mir? BYOSCH  Weiß nicht. Stille. ANDER  Willst mich wieder küssen? BYOSCH Nein. Stille. BYOSCH  Glaub nicht. ANDER Hab den gesehen. Meinen Vater. Letzte Nacht. Das erste Mal seit Wochen. Hat plötzlich seinen Kopf aus der Mauer gestreckt. Ganz lang­ sam. So. Wie ein scheues Tier. Reglos. Minuten­ lang. Hat nur gestarrt. Ins Nichts. Gelauscht. Hab dann gedacht. Jetzt ist er hin. Krepiert. Ist schon weg. Längst. Eigentlich. Muss nur noch umfallen. Zurückrutschen. In sein kleines Loch. Wollte schon hin. Zu ihm. Mir den anschauen. Mal. Aus der Nähe. Und das zurückschieben. Das alles. Zu­ rück in die Mauer drücken. Die Luke schließen. Hinter ihm. Aber plötzlich. Plötzlich hat er den Mund aufgerissen. So weit. Als würde der schreien. Und der Wind ist durch seine Haare gekrochen. Er hat sich an der Luke festgekrallt. Hat sich plötzlich rausgeschält. Aus der Mauer. Gestemmt. Dass der da noch durchpasst. Hab ich gedacht. Ist doch ver­ wunderlich. Der ganze Leib. Zwei Schritte vor­ wärts. Tapsend. Schaut sich um. Schaut in meine Richtung. Ganz knapp vorbei an mir. Alt geworden. Der. Hab ich gedacht. Dann war er plötzlich weg. Kann gar nicht sagen, wie. Nichts mehr zu sehen. Und Luke zu. So schnell. Der ist doch nicht so schnell. Stille. ANDER  Muss weitergraben. BYOSCH  Bis sie dich drankriegen. Abführen. Mit­ nehmen. ANDER  Solls so bleiben?

BYOSCH  Mutter sagt, wird wieder besser werden. ANDER  Glaub nur jedes Wort. Mach brav, was dir die Mutter sagt. BYOSCH  Sprich nicht so. ANDER Ja. BYOSCH  So nicht. Stille. ANDER  Weiß ich ja. BYOSCH Ja. Stille. ANDER  Im Süden. Weißt du? Wo früher die ­Lager waren. Tote Streifen jetzt. Hab ich gehört. Militär überall. Alles vermint. Die Strände da. Gepanzerte Fahrzeuge auf den Küstenstraßen. Kilometerweit ins Land. Endlose Zäune. Kostet Geld. Alles. Viel mehr als wir. Die paar Kisten. BYOSCH Blödsinn. ANDER  Weiß ich bestimmt. Und dass die dahin­ ter sind. Und warten. Hinterm Zaun. Dass die dort hocken, wo sie keiner mehr sehen kann. Die, die wegwollen. Keiner verschwindet einfach so. BYOSCH  Wie Bainz. ANDER  Der schon. Stille. BYOSCH  Mutter sagt, die bauen sich Städte in die Erde. Hundert Meter tief. Mit Gängen. Und Licht. Und Möbeln. Mit Straßen. Und Geschäften. Die leben einfach da. Während oben der Sturm ist. Und der Sand. ANDER Irgendwann kommen die. Keiner kann machen, dass keiner mehr durchkommt. Egal, was man baut. Mit was man schießt. BYOSCH  Irgendwann wirds hier wie dort sein. ANDER  Selbst wenn. Passen ja nicht alle unter die Erde. Und die haben ja keine Pflanzen. Und kein Licht. BYOSCH Mutter sagt, die haben riesige Platten. Aus Glas oder so. Spezialzeug. Und ganz dick. Mutter sagt, die wissen schon, was sie tun. Bauen riesige Mauern. Dämme. Wenn das steigt. Das Meer. ANDER  Sagt Mutter. BYOSCH Ja. Stille. ANDER  Ich weiß, was ich weiß. BYOSCH  Und woher? ANDER Woher? BYOSCH Ja. Stille. BYOSCH  Wenn Mutter dich erwischt. ANDER  Die weiß nichts. BYOSCH Vielleicht. ANDER  Und du hältst den Mund. BYOSCH  Und die Fremde?

Sa 7.3.– Do 12.3. Corinne Maier Premiere: Die Zufügung / Über das Altern und den Tod hinaus

Di 17.3. KIN-SHIP-ING – Künsterische Praxis als Beziehungsspinnerei Kadiatou Diallo + Anta Helena Recke

Sa 14.3. Poetry Slam – Einzelfinal Schweizermeisterschaften 2020 BL + BS

Mi 18.3. Fil Bo Riva

Chorisches Arbeiten mit Gruppen Workshop mit Manuel Moser

10. bis 12. Juli 2020

www.bundesakademie.de

thomas freyer_letztes licht. territorium

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ANDER  Suu. Der ist so was doch egal. Stille. BYOSCH  Ich mag dich, Ander. ANDER Ja. BYOSCH  Dich und deinen dummen Kopf. ANDER  Weiß ich.

10 der Ort in einem neuen Land das man erfunden hat nach einem Krieg das Meer ein immer gleiches Ding die die zurück gekommen sind sie finden ihre alte Zeit nicht mehr sie bauen Hütten wieder auf sie gehen fischen reden leis und nah der neue Feind der ihnen zugewiesen ist in dieser neuen Zeit das Gras wächst dort wo die verbrannten Häuser standen Kirche Marktplatz das Hab und Gut der längst Entfernten kein Blick zurück denn wohlgeordnet ist die Zeit und die erzählen könnten sterben früh und die die wussten wissen nichts die Kinder spielen nackt am Strand der Fisch so mager salzig klein hängt von der Decke überm Tisch dass man ein neues Leben hat jetzt weiß wozu man ist dass man nach einem langen Nichts schlussendlich auf der guten Seite steht der Feind er hat noch Blut im Maul die es an ihren Händen haben sie sind dort die neuen Herren bringen mit die neu gestaltete Vergangenheit man nimmt sie dankbar prägt sich jede Zeile ein

Fr 20.3.– Di 24.3. fleischlin/meser What Is Human – ein Abend über und mit Familie*

Konzert

www.kaserne-basel.ch

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spricht nach was jetzt gesprochen wird singt mit die neuen Lieder die so neu nicht klingen Kampf und Blut am Hang die Kiefern windschräg längst wie sie im Nebel stehen dort wo bleibt fragt man herum der Regen nur der Tag er endet heute früh

11 (auf der Ebene, Magel in der Ferne) SUU  Was macht er da? BYOSCH  Wer sind Sie? SUU Ich? BYOSCH Ja. SUU Suu. Stille. BYOSCH Ja. Stille. BYOSCH Stimmt. Stille. BYOSCH Magel. Der fängt sich einen neuen ­Vogel. Hat das Futter in der Hand. Wartet. Bis sich ein Vogel darauf setzt. Schließt die Hand. Irgend­ wann. Und packt den Vogel in die Kiste. Dort lässt er ihn. Für ein paar Tage. Gibt ihm Futter. Wasser. Grad so viel, dass er nicht stirbt. Manchmal ­vergisst er ein Tier. Dann vergräbt er die Kiste hier oben. SUU  Was passiert, wenn er ihn nicht vergisst? BYOSCH  Er lässt ihn frei. In der Hütte. Die ande­ ren Vögel hacken auf ihn ein. Vertreiben ihn vom Futterplatz. Entweder der neue verhungert, oder die anderen akzeptieren irgendwann, dass er da­ zugehört. Was machen Sie hier? SUU  Die Ebene vermessen. BYOSCH  Mit einer Schaufel? SUU  Ich muss sehen, wie der Boden beschaffen ist. Ob er trägt. Das Fundament. BYOSCH  Weiß Zauda davon? SUU  Ihre Mutter will, dass ich hier ungestört ar­ beiten kann. BYOSCH Weil meine Mutter und die anderen glauben, was Sie ihnen erzählt haben. Ich bin nicht dumm im Kopf. So eine wie Sie. Die passt nicht hierher. Und auch nicht auf den Kon­ tinent. SUU  Was passiert da eigentlich? BYOSCH  Passiert wann? SUU  Wenn du so unbeweglich bist. Ich hab noch nie jemanden so stehen sehen. So starr. BYOSCH  Meine Sache.

SUU Ja. BYOSCH Hat mich noch nie einer gefragt. Im Prinzip. SUU  Es interessiert mich, Byosch. BYOSCH  Wie Sie das sagen. Byosch. SUU Byosch. BYOSCH Ja. SUU  Kannst du zu mir sagen. BYOSCH Du. Stille. BYOSCH  Sie schlägt mich. Meine Mutter. Weißt du? Mit einer Schaufel. So einer. Sie schlägt die auf den Kopf. Immer wieder. Kann ihr Gesicht gar nicht erkennen. Aber ich weiß, dass sie das ist. Ich hör ihr Keuchen. So ein trockenes. Ich geh in die Knie. Weil mich die Schläge drücken. Mein Kopf auf dem Sand. Irgendwann. Ein Schlag noch. Weiß ich. Fehlt. Immer wieder träum ich das. Stille. BYOSCH Lustig. SUU Lustig? BYOSCH  Weil sie mich nie geschlagen hat. Nie. SUU  Könntest du die wieder wegnehmen? BYOSCH Was? SUU  Die Hand. BYOSCH Ja. SUU  Aus meinem Gesicht. BYOSCH  Ich hab was verraten. Weißt du? Deswe­ gen schlägt sie mich. Im Traum. Ich hätte zu ihr halten sollen. SUU  Was hast du verraten? BYOSCH  Weiß nicht. Irgendwas. SUU  Die Hand. BYOSCH Ja. SUU Byosch. BYOSCH  Du musst mir sagen, was du hier willst. Was du wirklich von uns willst. Warum du hier bist. SUU  Ich will meine Arbeit machen. BYOSCH  Für was sollen wir bestraft werden? SUU Es geht um den möglichen Standort einer Firma. BYOSCH  Aber du weißt, wovon ich rede. SUU Nein. BYOSCH Du weißt es. Ich sehs. Wie der weg­ rutscht. Dein Blick. Wie bist du eigentlich rüber­ gekommen? Über die Mauer? SUU  Man hat mich gebracht. BYOSCH Gebracht? SUU Das Sicherheitsunternehmen. Vom Kon­ ti­ nent. Man braucht bestimmte Papiere. BYOSCH So? Zauda dazu. ZAUDA  Loslassen! Byosch! BYOSCH  Ja, Mutter.

ANTA HELENA RECKE DIE KRÄNKUNGEN DER MENSCHHEIT MEINE DAMEN UND HERREN DIE STADT BIN ICH RABEA AL-SAYED / ANAS ABOURA REVOLUTIONARY SOUQ – EIN IMMERSIVER BASAR

JESSICA NUPEN THE NOSE FRANCK EDMOND YAO

0 2 0 2 MÄR KAM

DAS SANDWICH SYNDROM – PRIS EN SANDWICH ENTRE DEUX CONTINENTS

FUNDUS THEATER | THEATRE OF RESEARCH

ZAUDA Unverzüglich! BYOSCH  Es. Tut mir leid, Mutter. Sie hat. Ich hab nichts gesagt. ZAUDA Mädchen. BYOSCH  Nicht den Kopf abreißen. ZAUDA  Was denkst du denn? SUU  Es ist eigentlich nichts passiert. Alles gut. ZAUDA  Es tut mir leid, Suu. Sie ist. Sie hat wirres Zeug. Im Kopf, manchmal. Sie ist ein schwieriges Kind. Und die Gedanken sind schief. Man hat es gesehen. Von Anfang an eigentlich. Als sie da lag. In ihrer kleinen Wiege. Ich werde Ihnen sofort ­Ander schicken. Wenn Sie etwas brauchen. Das Mädchen. Sie will Ihnen nichts Böses. Magel näher dazu. MAGEL  Es ist. Nicht das Gesicht. Die Knie. Wie sie läuft. Die Fremde. Hab so was noch nie gese­ hen. Deswegen. (Zu Suu) Verstehen Sie das? ZAUDA  Sie müssen sich seine Geschichten nicht anhören. MAGEL  Diese Schaufel. SUU  Ich nehme eine Bodenprobe. MAGEL  Wie tief wollen Sie denn damit graben? SUU  Ich verstehe nicht. ZAUDA  Das Schaufeln wird nicht nötig sein. An­ der wird die Bodenprobe für Sie machen. Geben Sie ihm Anweisung. MAGEL  Es ist nicht gut, wissen Sie? SUU Was? MAGEL  Ich weiß nicht. ZAUDA  Du redest dummes Zeug, Magel. SUU Die Bodenprobe werde ich selbst vorneh­ men müssen. MAGEL  Zauda. Sie hat hier das Sagen. Wir rich­ ten uns nach ihren Worten, Suu. Und das. Das müssen auch Sie. ZAUDA  Sie sind unser Gast. MAGEL Als ich ein kleiner Junge war, sind die Männer hier im Ort jeden Morgen mit ihren Boo­ ten raus. Es gab Fisch da draußen. Krebse. Kraken. Hab die geliebt. Die Kraken. Meine Mutter. Sie hat die Kraken gebraten. In einem alten Messingtopf. Mit viel Öl und Knoblauch. Blutrot sind die gewor­ den. Oder die Fischsuppe. Mit Fenchel. Wie meine Mutter die Garnelen schälte. Mit geübter Hand die Köpfe abtrennte. Wie sie alles in den Topf gab. Wie alles im Raum plötzlich erfüllt war. Von diesem Geruch. Manchmal die Karkassen von Doraden auf dem Brett neben dem Herd. Die Innereien, die wir der Katze gaben. (Zu Byosch) Ist es wieder so weit, meine Liebe? ZAUDA  Lasst sie hier stehen. SUU  Das können wir doch nicht tun. ZAUDA  Tragen Sie sie runter. Wenn Sie wollen.

AUF ZUCKER

HAMB PNAGEL

URG


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MAGEL  Es passiert ja nichts. ZAUDA  Es ist immer das Gleiche. MAGEL   Ihre Geschichte, Suu. Sie reden so wenig. Aber. Ich interessiere mich dafür. Wenn Sie erzäh­ len wollen. Sie wissen ja, wo meine Hütte steht. Nur die Vögel. Es sind so viele. Ich weiß nicht, ob Sie das mögen. ZAUDA  Mein Mann. Der ist auch irgendwo dort drüben. Auf dem Kontinent. Ist einfach abgehau­ en. Irgendwann. Geld verdienen. Für uns. Hat mich allein gelassen. Mich und seine Tochter. Den hassen sie dort. Ich weiß es. SUU  Warum erzählen Sie das? ZAUDA  Damit Sie nicht vergessen, wo Sie hier sind. MAGEL Sehen Sie? Kein Stück ist die vorange­ kommen. Am Himmel. Die Sonne. Kein Stück geht der vorwärts. Der Tag. Alles klebt fest. Die ­Vögel. Man findet sie nur hier oben. Man muss sie brechen. ZAUDA Es ist seltsam, Suu. Eigentlich. Eine selt­ same Begebenheit. Wenn Sie so vor mir stehen. Wenn ich das sehe. Ihre Hände. Ihre seltsamen Hände. Aber Sie sind ein gutes Mädchen. Das spüre ich. Und Sie wollen uns helfen, nicht wahr? Uns allen hier. Ist nur. Dass wir mal die waren, die ­ ­solchen wie Ihnen geholfen haben. Geben Sie uns etwas Zeit. Damit wir uns daran gewöhnen können. SUU  Die Vermessung. Ich brauche Ruhe dafür. ZAUDA  Ich gebe Ander Bescheid. Er wird für Sie graben. Komm jetzt, Magel. MAGEL  Zu Befehl, meine Teure. ZAUDA  Lass das. MAGEL  Jawohl. Lassen. Beide ab. Ander nach einem Moment auf. SUU  Hast du mich wieder beobachtet? ANDER Dich? SUU  Was war hier früher? Hier oben? ANDER  Ein Wald. Die Kiefern. Nichts. SUU  Kaum bin ich hier oben, sind alle da. ANDER  Du kannst mit uns essen. Also. Wenn du willst, Suu. Das ist. Ein schöner Name eigentlich. Suu. Also. Wir essen dort unten. In der schrägen Hütte. Immer alle zusammen. Und jetzt gehörst du ja zu uns. Praktisch. Für eine Zeit. Wenigstens. SUU  Mach ich dir Angst? ANDER Angst? SUU  Du schaust so. Stille. ANDER  Hab nichts mit Frauen. SUU  Hab ich nicht gefragt. ANDER Ist nur. Dass hier sonst niemand her­ kommt. Alles hier. Gehört zu nichts, oder? Der ganze Sand. Die Hütten. Und dieses verdammte Ding.

SUU  Die Mauer? ANDER  Für euch da drüben gibts uns gar nicht. Längst nicht mehr. Und mein Vater. Was der macht. Die Berichte. Jeden Abend. Die Patrouille. Das Observieren. Alles nur Kinderkram. Alles ein Spiel. SUU  Hab ihn noch nicht gesehen. ANDER  Keiner sieht den. Ist nie da. Und hängt in seinem Loch. Hat seinen großen Auftrag. SUU  Und du? ANDER Ich. SUU  Was hast du? ANDER  Zu tun. Stille. ANDER Irgendwann. Da bricht alles ab. Bricht raus aus dem Rest. Und fliegt weg. Glaub ich. Nachts kann man es hören. Oft. Wie die größer werden. Langsam. Die Risse unter dem Sand. ­Unter der Mauer. Wenn ich rumlauf. Wenn alle schlafen. Spür ich das. Unter den Füßen. Ist ein Reißen. Ein ständiges. Irgendwann. Weißt du. Ir­ gendwann kommen wir weg. Ist so ein Schaben. Wie von Muschelrändern. SUU Du musst die wechseln. Die Verbände. Ist alles durchgesuppt. ANDER  Wenn alles wegbricht. Und du bist noch hier. Dann fliegst du einfach mit. Dann gehörst du zu uns. SUU  Kann sein. ANDER Ja. SUU  Das Graben mach ich selbst, hörst du? ANDER  Mir egal.

12 (in Magels Hütte) ZAUDA Hab dich immer beobachtet. In deiner Uniform. Wie du gelaufen bist. Damals. Immer den Weg rauf. Deine Runden. Oben. Und ich un­ ten. Heimlich aus dem Küchenfenster geschaut. Bis Mutter mich erwischt hat. Glotzen statt Ab­ wasch? Jetzt aber hurtig, Mädchen. MAGEL  Weiß nicht mehr. ZAUDA  War ja noch ein Kind. Ein halbes. Und du warst so groß. So schön. MAGEL Bisschen Haut über den Knochen. Was bleibt schon? ZAUDA  Krumm bist du geworden. Krumm und klein. Aber die Stimme, Magel. Die ist immer noch dieselbe. MAGEL  Wenn die frisch ist. Die Windel. Bin ich zufrieden. ZAUDA  Ander soll sich kümmern.

FLORENTINA QUEER HOLZINGER DARLINGS MIT JOANA TISCHKAU, TANZ NIMA SÉNE, CHICKS*,

SCHWALD/LEUENBERGER

TANZ/PERFORMANCE MÄRZ 05 06 07 08

FOKUS MÄRZ 23 — 28

MAGEL  Ist nicht hier. ZAUDA  Immer wieder hab ichs ihm gesagt. Im­ mer Ärger mit dem Jungen. Armer Bainz. MAGEL  Der ist tot. ZAUDA Tot? MAGEL Der Vogel. Siehst du? Dort in der Ecke. Liegt nur noch rum. Dünnes Ding. Gehören die mir? Die ganzen Biester? ZAUDA  Du liebst deine Vögel. MAGEL  Das tu ich. ZAUDA  Zitterst ja. MAGEL Ich? ZAUDA  An den Beinen auch. Und dein Kopf. MAGEL  Bin nicht da. ZAUDA  Bist da. MAGEL  Und weg. ZAUDA Stehst doch hier. Vor mir. Gib mir die mal. Die Hand. MAGEL Ist nur noch eine Maschine. Zauda. Hat man zusammengebaut. Irgendwann. Und irgend­ wann hört die auf. Ist der schon lange tot? Der Vogel? ZAUDA  Was hast du denn? MAGEL Seh mich. Weißt du? Wie ich dir die Hand geb. Von da drüben seh ichs. Wo der Vogel liegt. ZAUDA Spinnst. MAGEL Ja. ZAUDA  Wirst immer komischer. Weißt du? MAGEL Ja. ZAUDA Musst dich mal hinlegen. Mal Beine hoch. Mensch, Magel. MAGEL Ja. ZAUDA  Alter Kauz. MAGEL  Wird schlimmer. ZAUDA Werd dich zudecken. Gleich vorbei. Be­ stimmt. Kleine Attacke nur. Kenn ich. Kenn ich doch alles. MAGEL  Die Schaufel. ZAUDA  Was ist damit? MAGEL Irgendwas. ZAUDA  Sei ruhig. Und ruh dich aus. MAGEL  Alter Kauz, was? ZAUDA Ja. MAGEL Ja.

13 (in Anders Hütte) BYOSCH  Hab dich gesucht. ANDER  Hast mich gefunden. BYOSCH  Hab was mit. Für deine Hände. ANDER  Hab zu tun. Stille.

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stück

BYOSCH Die Hütte. Die ist schon ganz schief. Kann jeder sehen von draußen. Halb eingesackt alles. Sieht aus. ANDER  Alles zusammengerutscht. Plötzlich. Ver­ dammter Sand. Mein Bein. Habs noch rausgezo­ gen. Gerade so. Alles eingesackt über mir. BYOSCH  Der Sand. Der verschluckt die bald. Die Hütte. Weißt du? Hinterm Meer. Da brennt die Erde. ANDER Blödsinn. BYOSCH Hab den Rauch gesehen. Weit hinten. Über dem Wasser. Grad. Als ich zu dir bin. Da kommt keiner mehr. ANDER Blödsinn. BYOSCH Ganz dunkel. Der Horizont. Komm. Schau dir das an. Schwarzer Rand überm Meer. ANDER Die müssen. Irgendwann. Kommen. Muss weitermachen. Und neu. Den Schacht ­schmaler. Bisschen tiefer. Da, wo der feuchter ist. Der Sand. Verstehst du? Muss gehen. BYOSCH Wenn die auf dich drauf rutscht. Die Hütte. Dann zieh ich dich raus. Weißt du? Und putz dich. Ich hol dir den Sand aus den Ohren. Mit dem kleinen Finger. Aus dem Mund. Ganz vor­ sichtig. ANDER  Lass das! BYOSCH  Wollte immer ein Kind. Weißt du? Zum Kümmern. ANDER  Wolltest du nie. BYOSCH  Nein, nie. Weils dann so lebt wie ich. ANDER  Ist doch gut. BYOSCH  Du weißt nichts. ANDER Nein. BYOSCH  Gar nichts. Stille. BYOSCH  Will doch keiner. ANDER  Vielleicht hau ich auch ab. Wenn der fer­ tig ist. Der Tunnel. Wenn ich durch bin. Mit dem Graben. BYOSCH  Und nimmst mich mit? Stille. ANDER  Kann sein. Stille. BYOSCH  Musst vorsichtig sein. ANDER Ja. Suu dazu. SUU  Hier bist du. BYOSCH  Hier. Ja. SUU Meine Tasche. Meine Papiere. Alles. Es ist alles weg. BYOSCH  Hab nichts genommen. SUU  Ich werde mit Zauda sprechen. Du wirst mir alles zurückgeben. BYOSCH Kommst nicht zurück. Ohne Papiere. Hab ich recht? Auf die andere Seite. Bist dann. Ein­ fach. So wie wir. Bist dann nichts mehr. Und nichts bleibt. Von deinem schönen Gehabe. ANDER  (zu Suu) Du musst sie loslassen. BYOSCH Deine ganze Beherrschtheit. Dein Ge­ tue. Gezupfe an den Haaren. Dein Stimmchen. Ganz zart. Und wie du gehst. Mit den Hüften krei­ sen. Das ist dann plötzlich alles ganz sinnlos. SUU Dass du so bist, Byosch. Dafür kann ich nichts. ANDER  Lass sie los. BYOSCH  Kann dir bisschen Kleidung von mir ge­ ben. Paar Hosen. Eine Jacke. Und dir zeigen, wie man sich hier bewegt. Drück nur zu. Ein bisschen fester noch. Stille. BYOSCH  Weißt du? Es gefällt mir.

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ANDER Suu. BYOSCH Wenn die verbrannt sind. Angenom­ men. Die Papiere. Die Ausweise. Pässe. SUU  Hast du nicht. BYOSCH Ja? SUU  Dazu fehlt dir der Mut. BYOSCH Fester. SUU Nein. BYOSCH  Ein bisschen nur. SUU  Kein Stück. BYOSCH Suu! SUU  Lass das Geheule. Und gib mir die ­Sachen. BYOSCH  Ich. Hab sie nicht. Ich wünschte, dass ich sie hätte. Dass ich sie verbrennen könnte. Es wäre. Schön. SUU  Was willst du von mir? BYOSCH  Die Fremden. Die saßen da oben. Auf der Ebene. Es gab Zelte. Männer. Familien. Kinder überall. Und überall Schlamm. Immer mehr. Weiß nicht genau. Es gab einen Zaun. Irgendwann. ­Später. Ich war da nie. Seh alles nur von unten. Aus der Hütte meiner Mutter. Aus dem kleinen Fenster. Sie stützt sich mit den Ellbogen auf das schmale Fensterbrett. Die Abdrücke auf der Haut. Ein paar Männer in Uniform. Sie laufen. Haben ein Logo auf der Brust. Irgendeine Firma. Irgendwas. Blaues. Schwer zu erkennen. Von so weit weg. Aber ich seh. Sie patrouillieren. Es regnet. Es hört nicht mehr auf. Meine Mutter wird vom Fenster weg­ gerufen. Nichts für Kinder. Soll Abwasch machen. Zack. Nachts im Bett. Das Rufen von oben. Unver­ ständlich. Andere Sprache. Heulen. Von kleinen Kindern. Geschrei. Weiß nicht. Ich. Versteh nichts. Kann nicht schlafen. Manchmal Gesang. Selten. Sehr leise nur. Die haben doch Hunger. Die müs­ sen doch was essen. Und. Der Sand. Der Schlamm. Der deckt alles zu. Und. Ich seh nichts mehr. ­Brechen ab. Die Bilder. Immer wieder. Kommt mir was von jetzt in den Kopf. Die Mauer. Der Sand. Unsere Hütten. ANDER  Dummes Zeug. Was du da redest. BYOSCH  Ist alles nur. Alles Spaß. Alles gut, An­ der. Kann doch gar nichts wissen. War doch gar nicht hier. Nicht geboren. Und meine Mutter. Die war doch noch ein Kind. Ein kleines Mädchen. ANDER Spinnst. BYOSCH  Weiß ich. ANDER  Spinnst total. BYOSCH Total. Stille. BYOSCH  Guckst so erschrocken. ANDER  Ist nichts. BYOSCH  Hast Angst? ANDER Quatsch. BYOSCH  Seh ich doch. Sind so dunkel. Deine Au­ gen. Dass man fast durchgucken kann. ANDER  Hab nur an was gedacht. SUU  Das, was du da gerade gesagt hast? BYOSCH  Dummes Zeug. SUU  Ist das, was du siehst. Wenn du so starr bist. BYOSCH  Weiß nicht. ANDER Die Blicke unter den Alten. Gespräche, die abbrechen. Plötzlich. Das Schlucken. Das ­Stocken. Stammeln. Das Kratzen im Nacken. Das Wischen übers Gesicht. Das neue Thema. Das plötz­ liche Lachen. Aufstehen. Weggehen. Das Schwei­ gen. Schweigen. Diese Ruhe. Diese gottverdamm­ te Stille. Dass man den hören kann. Auf einmal. Den eigenen Herzschlag. Das Ansaugen der Atem­ luft. Ist wie mein Tunnel. SUU  Dein Tunnel?

ANDER Nichts. Das. Rutscht alles nach. Dass ja nichts leer steht. Dass keine Lücke bleibt. Und wir das Maul halten. Brav. Ja. BYOSCH  Wo willst du denn hin? SUU  Was ist da oben passiert?

14 dass man am Morgen aufsteht und das Land ist weg schon wieder dass dieses Meer das sture Ding so schamlos unverändert bleibt dass man schon wieder alles fallen lässt dass das was umständlich erlernt ein Nichts geworden ist weil anderswo die Köpfe rollten dass man den alten Feind sich frisch zum Freund gemacht dass man zum nächsten Größeren gehört dass man an das was lange galt nicht mehr an Wachstum aber glaubt dass man noch fischen geht in dieser Zeit wo doch der Fisch zum Kauf geboten wird die Kinder schweigen ein Gewohnheitsrecht man wirft viel ab doch etwas bleibt unter der Haut dass immer länger jetzt die Tage sind obwohl der Sommer längst vorbei dass bunte Sachen man in die Regale stellt und keine Lieder singt dass man das alte Zeug schnell auf die Wege schmeißt und sich das nächste Fleisch vom Leib reißt schnell der Wind pfeift links und rechts an uns vorbei ein dummer Scherz ist dieser Ort dass man jetzt frei ist frei wie soll man leben ohne Feind drei Leben hab ich schon gehabt und immer wieder wächst das Fleisch und wieder hängt der Fisch und alle lecken sich daran den Hunger krumm dass man nichts mehr zu tun hat jetzt und Gras wächst nicht man muss es kaufen und langsam treibt der Sand zum Hang und Boote plötzlich auf dem Meer die die noch können winken stumm die Sonne hoch an einem Himmel der fast durchsichtig blau schimmernd matt über dem Land zu schwimmen scheint das Meer liegt unruhig aufgebracht und hinter einem Wellenkamm verschwinden die die zu uns wolln für einen Augenblick

15 (in Magels Hütte, Suu mit einer Schaufel) MAGEL  Wer sind sie? SUU Magel. MAGEL Wer? SUU  Ihr Name. Sie heißen doch Magel. MAGEL  Kann sein. Ja. So ist es wohl. So ein Tag. Nicht wahr? So einer wie heute. Als hätte sich da was. Was verhakt. Im Getriebe. Und keinen Schritt gehts vorwärts. Sie müssten mir helfen. Wir ken­ nen uns? SUU  Wir haben miteinander gesprochen. MAGEL Natürlich. SUU  Ich bin Suu. MAGEL Ja. Suu. Meine Hose. Die. Ich kann sie nicht finden.


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SUU  Die Hose. Wie immer. MAGEL  Sie müssen wohl sehr freundlich zu mir gewesen sein, Suu. Anders nicht zu erklären. Dass Sie in meine Hütte kommen. Einfach so. Und. Und ich mich darüber freue. Mein Vater war ein Fischer. Früher. Früh am Morgen ist er immer raus. Mit den anderen. SUU  Die Schaufel. Ander will nicht kommen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat er zu tun. Aber eigentlich sitzt er nur herum. MAGEL  Hat viel nachzudenken. Der Junge. SUU Vielleicht. MAGEL Witzig. SUU Was? MAGEL  (deutet auf die Schaufel) Da läuft überall Blut herunter. SUU  Da ist kein Blut. MAGEL Ich muss einen Vogel begraben. Muss ihn vergessen haben. SUU  Ich weiß. Deswegen bringe ich die Schaufel. MAGEL Natürlich SUU  Ist das dort draußen auch einer Ihrer Vögel? Dort im Sand? MAGEL  Hab ich noch einen? SUU Viele. MAGEL  Auch tot. SUU  Die liegen überall. Vielleicht haben Sie die Tür offengelassen. MAGEL Wenn man die umdreht. Die Schaufel. Und den Griff abschlägt. Also. Dann kommt man tief rein. Ins Fleisch. Dann geht es schneller. SUU Schneller? MAGEL Leichter. SUU Was? MAGEL Sterben. SUU  Warum erzählen Sie mir so was? MAGEL  Ist im Kopf plötzlich. Weil. Das doch auf die Seele drückt. Schnell. Wenn einer so stirbt. So langsam. Weil man das mitträgt dann. Mit sich. Und wenn man ein bisschen hilft dabei. Weil man doch Mensch ist. Und sich nicht alles ansehen kann. Schlussendlich. SUU  Sie sollten die Vögel, die noch leben, wieder einfangen. Sie wissen nicht, wie man sich Futter sucht. MAGEL Vögel? SUU  Lassen Sie das doch endlich. MAGEL  Ich verstehe nicht. SUU Sie haben Ihre Vögel nicht vergessen. Ha­ ben Sie nie. MAGEL Es ist der Rücken. Die Art, wie Sie ihn bewegen. Wie Sie ihn beugen. Daran erkennt man Sie. SUU  Der Rücken?

thomas freyer_letztes licht. territorium

MAGEL Ja. SUU  Wenn Sie das sagen. MAGEL  Wo wollen Sie hin?

16 (in der Küchenhütte) BYOSCH  Wenn die uns töten will? ZAUDA  Die Fremde? BYOSCH  Wenn die deswegen hier ist? ZAUDA  Warum sollte sie? BYOSCH Warum? ZAUDA  Wir haben nichts gemacht. BYOSCH  Und Magel? ZAUDA Magel? Stille. ZAUDA  Was soll Magel gemacht haben? Was re­ dest du da, Mädchen? Frag mich, wie du auf so was kommst. Redest was daher. Einfach. Was dir in die hohle Birne kommt. Frag mich, was du meinst. Da­ mit. Was du dir wieder ausgedacht hast. Statt hier zu kochen. Wie ichs dir gesagt hab. Was ist da nur? In deinem schrägen Kopf? Was ist da? Mit Magel? Stille. ZAUDA  Kriegst du das Maul noch auf? BYOSCH  Wenn Vater noch hier wäre. ZAUDA  Was dann? BYOSCH Nichts. ZAUDA Ein dummer Hund ist der. Verreckt längst. Da drüben. Bestimmt. In irgendeinem Loch. BYOSCH  Besser als hier. ZAUDA  Beeil dich mit dem Kochen. Haben Hun­ ger. Alle. BYOSCH Ich seh alles. Wenn ich die Augen schließ. Stück für Stück kommt das. Gab kein Es­ sen mehr. Da oben. Kein Wasser. Und Magel in Uniform. Immer außen rum. Und plötzlich. Wa­ ren die weg. Die vom Kontinent. Die alles bewacht hatten. Die das gebaut hatten. Einfach weg. Und Magel. Allein. Mit ein paar anderen. Immer am Zaun entlang. Immer im Kreis. Pflicht erfüllen. Gute Arbeit. Gutes Geld. Und so ein Stöhnen. So ein Wimmern hinterm Zaun. Immer leiser ist das geworden. Das sollte doch aufhören. Das sollte doch schneller gehen. Aber das ging nicht. Ist nur leiser geworden. So ein Röcheln. So ein trockenes. Und die Kinder. Zauda schlägt ihr ins Gesicht. BYOSCH  Schau mal. Meine Hand. ZAUDA Zittert. BYOSCH Flattert. ZAUDA  Wie ein kleiner Flügel.

Rainer Galke spielt

Janosch

ZURÜCK NACH USKOW Bergkirche Osnabrück Premiere: 20. März 2020

MERLIN VERLAG

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BYOSCH  So doll. ZAUDA Und? BYOSCH  Trotzdem red ich weiter. ZAUDA  Nichts weißt du. Stille. ZAUDA Und dass du das Maul hältst. Endlich. Ziehst alle mit. In den Dreck. Mit deinen Geschich­ ten. BYOSCH Ja. ZAUDA  Was glotzt du noch? BYOSCH Hab dich beobachtet. Auf dem Weg zum Fischen. Immer wieder. ZAUDA Und? BYOSCH  Wenn du auf dem Weg plötzlich stehen bleibst. Wenn du dir in die Haare fasst. Dich kratzt. Dir das Gesicht reibst, bis es ganz rot geworden ist. Wenn du dann zurückläufst. Und doch nicht drauf kommst. Und den Weg wieder entlang. Seit wann hast du das eigentlich? ZAUDA  Sei still! BYOSCH Ist nur der Hunger, der dich auf Trab hält. Wart ab. Was die bringt. Die Zeit. Hast du das gesehen? ZAUDA  Was gesehen? BYOSCH Dass die sich nicht mehr bewegt. Die Sonne. ZAUDA  Hab keine Zeit für so ein Zeug. BYOSCH  Und den schwarzen Rand. Überm Meer. Immer größer wird der. Immer breiter und höher. Ist so ein Schaben in der Luft. So ein Knacken. Schiebt sich alles weiter. Musst du doch bemerkt haben. ZAUDA  Nichts hab ich. BYOSCH  So sieht die aus. Die Welt. So leben wir.

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ZAUDA  Red nicht so dünn. Stille. BYOSCH  Und Bainz. Wie lang ist der eigentlich schon verschwunden? Wie gehts denn weiter ohne den? Und. Dass du uns das eigene alte Zeug in die Kisten gelegt hast. Dass du uns die selbst in den Sand stellst. Seit Wochen. Hast du gedacht, das fällt niemandem auf? ZAUDA Du! BYOSCH  In zehn Minuten ist das Essen fertig. Suu dazu. SUU  Sie hat meine Sachen. Meine Papiere. ZAUDA  Wer ist das? BYOSCH  Wer? Das weißt du doch. ZAUDA Ja. BYOSCH Suu. ZAUDA Ja. BYOSCH  Die Fremde. ZAUDA  Suu. Ja. BYOSCH  (zu Suu) Hab gehofft, dass du hierher­ kommst. SUU  Ich will meine Sachen. ZAUDA Warum sollte sie Ihre Sachen haben? Was sollte sie damit anfangen? BYOSCH  Weißt du, Suu. Meine Mutter. Sie weiß nicht mehr, wie die Dinge hier laufen. Es ist eine neue Zeit. Sie ist alt. Sie lebt in ihrer. Wenn du ­etwas willst, musst du schon mit mir sprechen. ZAUDA  Halt dein Maul. BYOSCH  Wie du willst. SUU  Sie hat mich bestohlen. ZAUDA  Die Tasche können Sie wiederhaben. Die Papiere bleiben bei mir. SUU  Sie haben das gemacht? ZAUDA  Sie zeigen mir Ihren Bericht. Sobald er fertig ist. Und wenn er so ist, wie es gut ist. Für uns hier. Dann kriegen Sie die Papiere zurück. BYOSCH  Mach dich nicht lächerlich. ZAUDA  Du. Gehst mir aus den Augen. Sofort. BYOSCH  Du hast ihre Papiere nicht. Und die da. Die Fremde. Die ist auch nicht hier, um einen ­Bericht zu schreiben. Oder irgendeine Halle zu bauen. Die ist hier, um das zu beenden. ZAUDA  Was beenden? BYOSCH Uns. ZAUDA Nein. BYOSCH  Das Territorium. SUU Ohne meine Papiere werde ich diesen Be­ richt nicht schreiben. BYOSCH  Ohne deine Papiere kannst du hier mit uns verrecken. ZAUDA  Sie werden diesen Bericht schreiben. BYOSCH  (zu Suu) Sie hat deine Papiere nicht. ZAUDA  Dir den Kopf einschlagen. Werd ich. Wenn du dein verdammtes Maul nicht endlich halten kannst. Alles machst du. Kaputt. Mit deinem Wahn. BYOSCH  (zu Suu) Ich weiß, was du willst. SUU Ja? BYOSCH  Ich sag dir, dass ich nichts. Nichts damit zu tun hab. Dass alles, alles ohne mich abgelaufen ist. Alles vor mir. SUU  Ich dachte, ich weiß, warum ich hier bin. Ich dachte, es ist alles ganz einfach. Und dass es nichts mit mir zu tun hat. Aber seit ich hier bin. Seit ich das alles sehe. Alles vor mir habe. Es ist. Ist kom­ pliziert. ZAUDA  Wie meinen Sie das? SUU  Ich weiß noch nicht. BYOSCH  Hörst du, was sie spricht? ZAUDA  Die Schweine. SUU  Die Schweine, ja.

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ZAUDA  Ja. Der Bericht. Suu. Sie müssen diesen Bericht schreiben. BYOSCH  (zu Suu) Du kommst mit. SUU  Lass mich los. BYOSCH Mitkommen! ZAUDA  Ich weiß nicht, was sie meint. BYOSCH  Deine Zeit, Mutter. Die hattest du. Heut muss ich lachen, wenn ich daran denk. Dass ich einmal Angst hatte. Vor dir. Jetzt schau mich nicht so an. Schließ die Tür hinter uns. ZAUDA Byosch. BYOSCH Keine Sorge. Ich kümmere mich um das Essen. Zehn Minuten. (Zu Suu) Mitkommen!

17 (in Magels Hütte) ANDER  Bist du hier? Magel? Stille. ANDER Magel? MAGEL  Ander, mein Junge. ANDER  Was machst du da? MAGEL  Mein Vater war früher Fischer. ANDER  Weiß ich doch. MAGEL  Deine Hände, Ander. Die sehen nicht gut aus. Musst du was tun. Dass dir die nicht abfaulen. Was ist denn mit dir? ANDER  Nichts ist. Habs nur verstanden endlich. Die Blicke. Die halben Worte. Dein Vergessen. MAGEL  Hast ja überall Sand im Gesicht. ANDER  Ist wieder abgerutscht. Fang von vorn an. Muss immer wieder anfangen. Verdammter Tun­ nel. Muss mich durchgraben. Bis drüben. MAGEL  Wir müssen dieses Ding wechseln. ANDER  Die Windel. MAGEL  Ja. Die. ANDER  Kann warten. MAGEL  Schon ganz schwer. Und da läuft was. An den Schenkeln runter. Sieh mal. Immer läuft es an den Schenkeln. ANDER Später. MAGEL  Mein Vogel, weißt du? Stille.  MAGEL  Der ist tot. Muss ihn begraben. Endlich. ANDER Die sterben. Weißt du? Weil die was ­wissen. Weil die was gehört haben. Müssen die ver­ recken. Wo das doch ein andrer müsste. MAGEL  Was machst du da? Mit der Schaufel? ANDER  Die Fremde. MAGEL Ja? ANDER Suu. MAGEL  Was ist mit ihr? ANDER Weißt du jetzt, warum sie dir bekannt vorkommt? MAGEL  Mein Kopf. Weißt doch. Da fällt alles ein­ mal durch. Und was bleibt, ist kalt. Wie eine löch­ rige Decke aus Eis. Kommst da nicht durch. Aber die Kiefern. Die Kiefern am Hang. Die standen so dicht. Das weiß ich noch. Und wie die sich ge­ bogen haben. Im Wind. ANDER Ja. MAGEL  Da. Läuft dir was. In die Armbeuge. Ganz gelb. Von deinen Händen? ANDER  Kann sein. MAGEL  Warum bist du denn so nah? ANDER Den kannst du nicht so liegen lassen. ­Deinen Vogel. MAGEL  Sind alle ausgeflattert. ANDER  Du musst sie füttern. Dich um sie küm­ mern, Magel. Bist doch verantwortlich für die.

MAGEL  Du musst. Musst mir ein bisschen Platz machen, Ander. Das ist. Du bist so nah. Du guckst so. ANDER Ja. MAGEL  Was willst du denn von mir? ANDER  Dass du mitkommst. MAGEL  Nimm doch die Schaufel runter. ANDER  Wirst die brauchen. Stille. ANDER Komm!

18 (zwischen den Hütten) ZAUDA  Was hast du mit ihr gemacht? BYOSCH  Sie in die Hütte gesperrt. ZAUDA Mädchen. BYOSCH  Hast du mir nicht zugehört? ZAUDA  Du sollst mich nicht so anschreien. BYOSCH Die bringt uns um. Für das, was ihr ­getan habt. ZAUDA  Wir haben nichts getan. BYOSCH Ihr habt sie getötet. Die Fremden. Im Lager. ZAUDA Du kannst nichts wissen. Warst noch nichts. Als die hierherkamen. Wir haben denen ­geholfen. BYOSCH  Ihr habt sie erschlagen. ZAUDA  Wir haben die aus dem Wasser ge­zogen. Wir haben ihnen Kleider gegeben. Essen. Wasser. BYOSCH  Du lügst. ZAUDA  Du kannst nichts wissen. BYOSCH  Ich. Weiß das alles. Längst. Ist alles hier drin gewesen. Die ganze Zeit. Alles Einzelteile. Hab lange nicht gewusst, was damit anzufangen ist. Ein einzelner Schrei. Ein Geruch. Verbranntes irgendwo. Der Matsch. Die Hände hinter dem Zaun. Bis ich immer mehr ausgegraben hab. Im­ mer mehr Teile. Sie zusammengesetzt habe. Und dein Gesicht, Mutter. Dein Gesicht war da. Habs gleich erkannt. Auch wenn du viel jünger darauf bist. Und es hat gepasst. Zwischen die anderen. ZAUDA  In deinem Kopf. BYOSCH  Über mich lachst du nicht mehr. ZAUDA  Drohst du mir? BYOSCH Erzähl. ZAUDA Was? BYOSCH  Wie es anfing. ZAUDA Ich. BYOSCH Weiter. ZAUDA  Ich durfte anfangs nicht mit den Kindern spielen. Die Angst meiner Eltern. Aber es sind im­ mer mehr geworden. Alles wurde unübersichtlich. Also haben wir alles geteilt. Aber es ging nicht mehr. Es waren zu viele. Und es kamen ­ständig neue. Magel ist oft raus. Mit dem alten Boot seines Vaters. Und hat sie rausgezogen. Die Fremden. BYOSCH  Mit der Schaufel auf den Kopf. ZAUDA  Als die Ersten weiterzogen, kam Militär. Weiß nicht, woher. Und aus welchem Land. Und so plötzlich. Die hatten Zelte. Und haben das Lager eingerichtet. Dort oben. Die Fremden weigerten sich anfangs. Über Nacht haben die Soldaten den Zaun aufgestellt. Die hatten alles dabei. Haben die bewacht. Aber irgendwann. Als alles eingezäunt war. Da waren die plötzlich weg. Die Soldaten. Ein paar von uns hatten für sie gearbeitet. Wachschutz. Niedere Aufgaben. BYOSCH Magel. Stille.


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ZAUDA Ja. BYOSCH  Ihr hättet sie freilassen können. ZAUDA  Ich war ein Kind. BYOSCH  Einfach freilassen. ZAUDA  Es waren so viele. Wir hatten zu wenig. Wir hätten alle sterben können. BYOSCH  Und so sind lieber die anderen gestor­ ben. Stille. ZAUDA Ja. BYOSCH  Und dann wurde die Mauer gebaut. ZAUDA  Es kamen andere Soldaten. Wir kannten sie nicht. Sie haben uns am Strand zusammenge­ drängt. Wir haben dort den Tag verbracht. Und die Nacht. Und hinten haben die Maschinen ge­arbeitet. Als alles fertig war, durften wir zurück in die ­Hütten, die sie stehen gelassen hatten. BYOSCH  Und die Trockenheit kam. ZAUDA Ja. BYOSCH  Suu. Sie will sich an uns rächen. ZAUDA Vielleicht. BYOSCH  Was sonst? ZAUDA  Vielleicht ist es Zufall. Sie ist freundlich. BYOSCH  Das ist nicht meine Geschichte. ZAUDA  Du zitterst wieder. BYOSCH Nein. ZAUDA  Sie ist ein Teil geworden. Längst. Von dir. BYOSCH  Ich hab nichts getan. ZAUDA  Du hast sie in die Hütte gesperrt. Weil sie eine Fremde ist. BYOSCH  Weil sie uns umbringen will. ZAUDA  Du weißt nichts. BYOSCH  Genügt das? ZAUDA Nein. BYOSCH  Lass das. Stille. BYOSCH  Nimm die weg. Die Hand. ZAUDA  Dass die so weich ist. Deine Haut da. Im Gesicht. Hab ich gar nicht gewusst. BYOSCH  Du sollst das lassen. ZAUDA  Wo willst du hin?

19 (auf der Ebene) ANDER Graben. MAGEL Ander. ANDER  Du sollst graben! MAGEL  Ich bin ein alter Mann. In einer Windel. Ohne Hose. ANDER  Ich schlag dem alten Mann den Kopf ein, wenn er nicht macht, was ich sage. MAGEL  Was ist passiert? Mit dir, Ander? Wir sind. Sind doch gut miteinander ausgekommen. Immer. ANDER Ja. MAGEL  Ich. Kann mich erinnern. Wie du hierher­ gekommen bist. Mit Bainz. Wie der dich hier abge­ setzt hat. Einfach so. Auf den Boden. Weil er nicht wusste, was er mit dir anfangen kann. ANDER  Bainz ist ein Schwein. MAGEL  Ich hab mich um dich gekümmert. ANDER  Wie ein Vater. MAGEL Ja. ANDER Und jetzt kümmere ich mich um dich. Und deine Erinnerungen. Grab schon. Los. MAGEL  Warum hier? ANDER  Halts Maul!

20 (Suu in ihrer Gasthütte, Zauda davor) SUU  Sie müssen mich freilassen. ZAUDA  Sie müssen mir. Mir sagen, wer Sie sind. SUU  Suu. Ich bin Suu. ZAUDA  Suu also. SUU  Sie kennen mich. ZAUDA Ja. SUU  Wir haben miteinander gesprochen. ZAUDA Natürlich. SUU  Warum erkennen Sie mich nicht? ZAUDA  Ich muss wissen, warum Sie hier sind. SUU  Das wissen Sie. ZAUDA Und wenn sie recht hat. Byosch. Wenn Sie sich nur rächen wollen. Wenn Sie deswegen zurückgekommen sind. SUU  Zurückgekommen? Ich muss meinen Bericht schreiben. ZAUDA  Ich kann Sie nicht freilassen. SUU  Was ist los? ZAUDA Schwindel. Ein bisschen. Wird schon ­gehen. SUU  Lassen Sie mich frei. ZAUDA Ja. SUU Zauda. ZAUDA Ja. Stille. ZAUDA  Ja, ja. Stille. ZAUDA  Kurz setzen. Nur. Kurz ausruhen.

21 ein Knacken unterm Sand ein Rauschen ein Ziehen tief dort wo die Mauer sich so unnachgiebig in den Boden gräbt ein Rieseln dann und so als ob etwas in eine hohle Welt hineinzufallen scheint der dunkle Rand wächst übers Meer das Licht obwohl die Sonne im Zenit auf einen Himmel aus Papier genagelt ist und Bainz der in der Mauer hockt weitab der seinen Wanst der fett geworden mit der Zeit nur mühsam in die Höhe stemmt aus seinem Loch heraus der hinter sich die Luke schließt ein letztes Mal der schnauft die Hand auf seiner Brust die Schritte schwer gehts durch den Sand ein wüstes Land und unter einem Zaun hindurch gräbt Bainz mit Händen sich in Richtung Kontinent der Herzschlag im Stakkato jetzt ein Stottern unter der verschwitzten Haut hebt Bainz den Blick auf einen fernen Wald als etwas anspringt ihn als etwas ihm den Hals durchquert und nass die Haut und warm dort wo der Schmerz brennt dort wo wie ein Biss vielleicht ein Stich die Haut zerteilt ein Stück davon Bainz blickt sich um kein Schwein zu sehn wo kommt die Wut so plötzlich her der Zorn das Krampfen in der Haut erst jetzt hört er den Schuss jetzt sieht er auch das schwarze Ding das ein paar Meter vor ihm in den Sand gegraben ist der Lauf zielt auf den Kopf es spricht zu ihm die Stimme seltsam hohl in einer Sprache zwar die Bainz nicht spricht und trotzdem hebt die Arme er

steht reglos atmet flach das Herz längst stumm und kalt wird ihm leck mir das Herz denkt er und du vergiftest dich daran

22 (auf der Ebene) ANDER  Was ist das? Was hast du da? MAGEL  Ich kann nicht mehr. ANDER  Zeig her. MAGEL  Es ist eine. Wie nennt man das? Ich. Bin wirklich müde, Ander. ANDER  Ein Tasse. Du musst woanders weitergra­ ben. Dort drüben. MAGEL Ich kann. Die Schaufel. Ich kann sie nicht mehr halten. ANDER  Mach schon. MAGEL Zwei Handys. Der Schuh. Eine vergam­ melte Plastiktüte. Die kleine Jacke. Ein alter Löffel. Und diese. Diese. ANDER Tasse. MAGEL  Was zur Hölle willst du denn finden? ANDER Grab. MAGEL Ander. ANDER  Grab, hab ich gesagt! Stille. ANDER  Ich hab mich oft versteckt. Als ich klein war. Hinter Türen. Oder Büschen. Ohne Grund ei­ gentlich. Hab wohl gehofft, dass sich was auflöst. Was von mir. Verstehst du? Dass man nicht mehr alles sehen kann. Von dem, was ich war. Und. Ich konnte nicht aufhören damit. Herumzukriechen. Stillzuhalten. Hinter einem Baum. Unter einem Tisch. Jede Bewegung so langsam, dass sie kein Geräusch mehr von sich gab. Nicht barfuß auf dem Steinboden. Wissen, wo die Dinge aufschrien, wenn man sie berührte. An sie stieß. Sie streifte. Außerdem. Das Kratzen hinter dem Ohr. Das An­ einanderreiben der Hosenbeine. Das Rascheln der Haare. Aufschlagen der Wimpern. Das Öffnen der Lippen. Das Darüberlecken. Knirschen der Zähne. Das trockene Rasseln toter, abfallender Zellen. Auf jede vermeidbare Bewegung verzichten. Die unver­ meidbaren so lautlos wie möglich vollführen. MAGEL  Warum erzählst du mir das? ANDER  Irgendwann. Weißt du? Irgendwann war es nicht mehr nötig. Das Verstecken hinter Bäu­ men und Türen. Ich war da. So oft. Aber niemand bemerkte es mehr. Ich war nicht mehr vollständig. Etwas war verschwunden. Über den Rest konnte mühelos hinweggesehen werden. Ich stand dabei. Wenn sie miteinander sprachen. Die anderen. Saß am Tisch. Während sie stritten. Lag neben Betten in der Nacht. Ich hab so viel gehört, was nicht für meine Ohren bestimmt war. MAGEL Blödsinn. ANDER  Was du denen gesagt hast. MAGEL Wem? ANDER  Deinen Vögeln. Nachts. Wenn sie wieder auf deine Stirn geflogen kamen. Auf dir herumsa­ ßen. Auf der Brust. Den Beinen. Stundenlang. Du hast angefangen, mit ihnen zu reden. Hast ihnen erzählt, was du noch weißt, ohne die Augen zu öff­ nen. Von früher. MAGEL  Was weiß ich schon. ANDER  Tiefer graben! Stille. ANDER  Du hast sie erschlagen. MAGEL  Ich weiß nichts.

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stück

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on v bo it A n- Ze e u sz nt der e bi t d tz tu ter Je S s hea a D T

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ANDER Die Fremden. Du weißt es. Du hast es deinen Viechern gebeichtet. Ich dachte, sie müss­ ten auf dich einhacken. Eigentlich. MAGEL Nein. ANDER Mit ihren kleinen spitzen Schnäbeln. Aber sie haben dich nicht verstanden. Sie liefen auf dir herum. MAGEL  Meine kleinen Vögelchen. ANDER Das, was dir fehlt. Da oben. In deinem Kopf. Diese Jahre. Magel. Die waren nie weg. Heb die wieder auf, sag ich. Die Schaufel. MAGEL  Ich hab nichts gemacht. ANDER  Du weißt alles. MAGEL  Nimm die doch runter. Die. Machst mir. Mir doch Angst, Ander. ANDER Geflüstert hast du. Gezittert, wie ein nacktes Schaf im Schnee. MAGEL  Wenn ich mich nur erinnern könnte. ANDER  Ist es das, was du dir wünschst? Ja? Stille. ANDER  Da ist was. MAGEL Was? ANDER  Schön vorsichtig. MAGEL Aber. ANDER  Grab mit der Hand weiter. Los. Ganz be­ hutsam. Und knie dich hin. Mach schon. Hol es raus. MAGEL  Da ist. Stille. MAGEL  Ein Loch drin. ANDER Ja. MAGEL  In diesem. Diesem. ANDER Schädel. MAGEL Ja. Byosch dazu. BYOSCH  Warum erschlägst du ihn nicht einfach? MAGEL Byosch. BYOSCH  (nimmt den Schädel) Und dann legen wir den dazu. MAGEL  Das hab ich nicht getan. BYOSCH  (zu Ander) Hast du ihm gesagt, dass du es gehört hast? ANDER Ja. BYOSCH  (zu Magel) Hör auf damit. Es ist ekel­ haft. Wie du mich anschaust. So. Hast den lang genug gespielt. Den alten Mann. Wie viele hast du erschlagen? Wie viele waren es? ANDER  Lass ihn weitergraben. BYOSCH  Gib mir die Schaufel, Ander. MAGEL  Bitte nicht. Suu und Zauda dazu. ZAUDA Schluss! BYOSCH Du? ZAUDA  Was treibt ihr hier?

ANDER  (auf Suu weisend) Wer ist das? ZAUDA  (auf Magel weisend) Was tut er da? ANDER  Er gräbt in seinen Erinnerungen. BYOSCH  Ist sie das? ZAUDA Wer? BYOSCH  Die Fremde. ZAUDA Natürlich. BYOSCH  Was will sie hier? ZAUDA  Ich hab sie freigelassen. ANDER  (zu Magel) Weitermachen! ZAUDA  Den Alten hierher zwingen. Ihn graben lassen. Was soll das ändern? BYOSCH  Er bezahlt. Für das, was er getan hat. ZAUDA  Und das entscheidest du? MAGEL Ich kann nicht mehr. Ich. Kann mir je­ mand hochhelfen? BYOSCH  (zu Ander) Du lässt den weitergraben! SUU  Es interessiert mich nicht. ANDER Was? SUU  Was hier passiert ist. Früher. BYOSCH  Nein, nein. Deswegen bist du hier. Jetzt schau. Schau ihm zu. Das ist seine Strafe. Siehst du? SUU Nein. BYOSCH  Er hat es verdient. ZAUDA  Lasst ihn doch aufstehen. ANDER  Er wird hier graben, bis alle draußen sind. Aus dem Sand. Bis jede seiner verschissenen Erin­ nerungen zurück ist. ZAUDA  Er wird krepieren. ANDER  Weiß nicht. Möglich. BYOSCH Du wirst ihm helfen. Du und all das, worüber du geschwiegen hast. Hock dich zu ihm. Hilf ihm graben. SUU  Wir werden alles zubetonieren. ANDER Wir? SUU Morgen wird eine Baufirma kommen. Ich habe alles ausgemessen. Sie werden hier ein groß­ flächiges Fundament legen. BYOSCH  Aber. Das sind. Deine Leute, die da ver­ graben sind. SUU  Ich kenne keinen Einzigen von ihnen. ANDER  Er hat sie erschlagen. BYOSCH  Und sie hat geschwiegen. SUU Ja. BYOSCH  Und die sind durchgekommen. Mit ih­ ren Lügen. So lang. SUU  Die beiden sind genauso irrelevant wie euer Vorhaben. Morgen Nachmittag wird alles versiegelt sein. Ander erschlägt Magel. ZAUDA  Ander, verdammt. Was tust du da? BYOSCH  Sie ist die Nächste. Sie hat alles gesehen. Sie hat ihr Maul gehalten all die Jahre. SUU Sie hat nichts gesehen. Vom Fenster der Hütte aus war das Lager nicht zu überblicken. BYOSCH Was? SUU  Sie konnte es nicht sehen. BYOSCH  Sie hat. Ich weiß, dass sie es gesehen hat. ANDER  Die Kiefern. SUU Ja. ANDER  Der ganze Hang war voll damit. BYOSCH  Aber sie hat es gewusst. Du hast es ge­ wusst. SUU Vermutlich. BYOSCH  (zu Zauda) Knie dich hin. ZAUDA  Mädchen. Bitte. BYOSCH  Du sollst dich hinknien. SUU Die Papiere hab ich mir aus deiner Hütte wiedergeholt. Sie waren ohnehin, abgesehen da­ von, dass es sich um Fälschungen handelt, nicht

notwendig für den nächsten Schritt. Wir haben Fehler gemacht. Damals. BYOSCH Wir? SUU Der Kontinent. Wir haben ein paar Dinge falsch eingeschätzt. Die humanitäre Situation da­ mals. Wir haben aus diesen Fehlern gelernt. ANDER  Und eine Mauer gebaut. SUU  Es gibt keinen Grund mehr zurück­zublicken. BYOSCH  Ander, wo willst du hin? ANDER  Weiß nicht. BYOSCH  Bleib stehen. ANDER Lass. Byosch nimmt die Schaufel. SUU  (zu Byosch) Du solltest nicht noch mehr Un­ sinn machen. Es ist spät geworden. Die Sonne. Seht ihr das? Ein bisschen noch, und sie ist hinter dem Meer verschwunden. Seltsam, nicht? BYOSCH Was? SUU  Dass sie so plötzlich untergeht. Dass der Tag. Dieser lange Tag so plötzlich zu Ende geht. ZAUDA  Werdet ihr uns helfen? SUU Wir? ZAUDA  Die Vorräte. Wir haben seit Tagen nichts mehr bekommen. Bainz. Ich hab. Hab ihn nicht gefunden. SUU  Er ist tot. ZAUDA Tot. SUU  Er liegt im Dreck. Ein paar Meter hinter der Mauer. ZAUDA  Das Trinkwasser ist fast aufgebraucht. SUU Ja. ZAUDA  Ich weiß, dass du uns helfen kannst. SUU  Ich kann nichts. Ich hab meine Arbeit. Und die steht nicht über dem Gesetz. Ich bin hier, um mich um die Ebene zu kümmern. Ein Thema mit einer gewissen außenpolitischen Brisanz. BYOSCH  Wir sind Hunde. ZAUDA Ja. Stille. SUU  Es tut mir leid. ZAUDA  (zu Byosch) Sie hätte verschwinden müs­ sen. Sofort verschwinden müssen. BYOSCH Ja. SUU  Ich hätte nicht kommen müssen. Ich wollte es. Obwohl man alles hätte bequem vom Kontinent aus regeln können. Aus dem Büro. Eine Karte auf­ rufen. Die Ebene markieren. Den Auftrag formu­ lieren. Rausgeben. Ich musste hierherkommen. ZAUDA  Und die Fabrik? Die Schweine? BYOSCH  Mach dich nicht lächerlich, Mutter. ZAUDA Verschwinde. SUU  Sie wird dich umbringen. ZAUDA Wahrscheinlich. SUU  Sie hasst dich. Es tut mir leid. BYOSCH Ja. ZAUDA Ja. BYOSCH  Und jetzt?

23 Und über Bainz der wie ein weicher Stein dort auf dem Staub der sich mit kaltem Schweiß und Blut am Hals und ringsherum verwischt vom Wind vermischt zu einem Streifen Dreck zieht eine Sonne blass herab dass man zurückschaun muss dass man den Blick doch wendet in ein altes Licht dass man im Laufschritt auf die Halden steigt die nur aus dünner Zeit ge­ macht


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dass man die Länder in der Hand stumm dreht die man auf diesen Ort gelegt und unter allem liegt ein Schweigen und über Bainz ein Fliegenschwarm und Suu mit einem großen Schritt steigt über ihn und ohne Blick und dort im Rücken noch ein Tag der geht beginnt ein Zucken Schütteln in der rechten Hand zuerst wie eine Vibration fast unmerklich kein Halt in den Bewegungen so schnell nimmt sie sich Raum der hier so menschenleer sich zeigt da ist etwas auf ihrer Haut da bleibt etwas zurück das Schütteln immer stärker jetzt der Arm die Schulter Beine Kopf dass sie kaum vorwärts­ kommt ein Surren in den Knochen ein Klacken dort wo sie auf andre treffen da haftet was da klebt ein Ding da kriecht etwas in sie hinein das auch kein Schütteln Zappeln von ihr werfen kann vergiss nichts denk recht oft an uns sagt Bainz der nichts sagt und nur liegt die Fliegen landen schon auf seinem Kopf und Suu die stolpernd vorwärtstreibt zum Wald hin wo ein Wagen jetzt dort wo die Straße abgeschnitten ist auf ihre Ankunft warten soll die umfällt aufsteht umständlich die sich mit grobem Griff die Haare ordnen will nach einer Haltung sucht in der das Zucken ihren Weg nicht so erschwert die umfällt liegen bleibt und schließlich doch beschließt zu warten nichts zu tun bis alles ausbleibt jede Regung über ihr ein Himmel der zusammenklappt ein Lidschlag langsam rundherum nur Warten noch auf etwas das geschieht nur Warten noch auf diese Dunkelheit dass sich der Lauf des schwarzen Dings von ihr längst abgewendet hat kein Selbstschuss heißt dass sie zurück darf über diese Grenze dass ihre Pflicht erfüllt der Auftrag ausgeführt dass sie die Ausführung bestätigt hat der Datensatz in das System gespeist und damit wie das Recht es will legal zurückreist ihren Aufenthalt damit verlängert hat und Lid auf Lid

thomas freyer_letztes licht. territorium

dringt durch die dünne Haut noch etwas Licht ein kleiner Punkt der wie ein Tier wie ein verletztes das Blut verklebt im dichten Fell mit aller Kraft vorüberflieht ein letztes Stück das sich nun fügt in eine neue Dunkelheit und zwischen nichts und nichts der Ort die Hütten jetzt die Toten treiben hoch man sieht sie sitzen stehen miteinander reden dort am Strand das Schweigen bricht im letzten Lichtstrahl

24 (auf der Ebene, Zauda begräbt Magel) ZAUDA  Hast es geschafft, mein Lieber. Hinter dir. Und alles ganz verpasst. Wie man uns abgelegt hat. Einfach so. Wie ein Ding, bei dem man nicht mehr weiß, was man damit anfangen soll. Stille. ZAUDA Hörst du? Das Knacken? Hörst es be­ stimmt. Die Ohren. Auf die war Verlass. Bis zum Schluss. Ich bring dich jetzt da rein. In den Sand. Ist wohl dein Platz jetzt. Und dann bin ich in der Nähe. Immer. Nur. Kurz ausruhen. Kurz Luft ho­ len. Die Kraft. Die rutscht mir aus den Knochen, hörst du? Zusammenreißen, Zauda. Muss doch getan werden. Kann man doch nicht liegen lassen. Hier. Den alten Magel. Stille. ZAUDA  Frag mich, ob du nur feig warst. Einfach. Und das Maul gehalten hast. Und ich? Hab dich nie gefragt. So. Waren wir also beide ganz ohne Mut. Stille. ZAUDA Jetzt reißt es wieder. Hörst du das? Kommt von tief. So ein Grollen. Unter der Mauer. Als würd man einen Knochen rausdrehen. Ganz langsam. Aus dem Gelenk. So einen riesigen. Spürst du das? In den Beinen? Zuckt so komisch. Der Boden. Und die Sandkörner. Siehst du das noch? Die springen schon. Ja. Die Kiefern. Ich habs gar nicht sehen können. Das Lager. Eigent­ lich. Die Fremden. Und hatte die doch im Kopf. Die Bilder. Und dass Mutter mich vom Fenster wegschickt. Hab gedacht. Die ganze Zeit. Dass ich alles gesehen hab. Und. Wir haben doch mit denen gespielt erst. Und bisschen später. Waren die schon tot. Und das waren doch wir. Die gespielt haben. Die totgeschlagen haben. Frag mich, wie dus gemacht hast. Wie dus machen konntest. Biss­ chen tiefer muss ich noch. Dass du da reinpasst.

Auch. Wenn da was rausguckt. Von dir. Eine Hand. Ein Fuß. Wie sieht das denn aus? Nein, nein. Muss alles weg. Musst jetzt allein sein. Mit denen. Stille. ZAUDA Ja.

25 (in Anders Hütte, Ander halb verschüttet) ANDER Du. BYOSCH Ja. ANDER  Ging zu schnell. BYOSCH  Habs gesehen. Von draußen. Kippt fast um. Die Hütte. Und nur das Dach schaut noch raus. Deine Ohren. Weißt du? Die mag ich beson­ ders. Dass da so viel reinpasst. So viel Sand. Am besten ist vielleicht, ich lass dich hier. Hier liegen. ANDER  Früher. Als Kind. Da hatte ich Angst vor dir. Hab immer gedacht, da ist was Irres. In dei­ nem Kopf. Dass du immer so rumstehen musst. Und dein Gesicht aus Plastik. Plötzlich. BYOSCH Ja. ANDER  Hast du sie erschlagen? Deine Mutter? BYOSCH  Noch nicht. ANDER Wenn wir abbrechen. Das Territorium. Und wir raustreiben. Aufs Meer. Dann sind wir doch weg. Von allem. BYOSCH Ja. ANDER Und wenn wir nie wieder anlegen. Nie mehr irgendwo dazugehören. Immer draußen bleiben. BYOSCH  Die Alten bleiben die gleichen. ANDER  Magel ist tot. BYOSCH  Mutter begräbt ihn. ANDER  Du erschlägst sie. BYOSCH  Nicht bevor sie fertig ist. ANDER  Die Fremde ist weg. BYOSCH  Wir sind hier. ANDER Ja. Stille. BYOSCH  Jetzt bricht es.

Copyright © Thomas Freyer, 2020. Aufführungs­ rechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2020

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Magazin Magische Theaterbilder gegen die Gewalt

Beim iberoamerikanischen Theaterfestival ¡Adelante!

am Theater Heidelberg werden vor allem die sozialen und politischen Brandherde Lateinamerikas sichtbar

Ist Theater ein Gemeingut? Die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Gent diskutierte den Umbau der Institution Stadttheater als Commons  Geschichten vom Herrn H. Männergift und Schniedelkritik  Dramaturgie in Jahrhundertbögen In Gedenken an den herausragenden Dramaturgen und Publizisten Alexander Weigel  Empfindsames Ohr Ein Ade an die Übersetzerin Monika The  Immer wieder Shakespeare Dem Übersetzer, Publizisten und Dramaturgen Maik Hamburger zum Gedenken  Bücher Annette Leo, Jacques Rancière, Tamina Kutscher / Friederike Meltendorf


magazin

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Magische Theaterbilder gegen die Gewalt Beim iberoamerikanischen Theaterfestival ¡Adelante! am Theater Heidelberg werden vor allem die sozialen und politischen Brandherde Lateinamerikas sichtbar Wütend klammert sich ein Mädchen an ihrem

sack explodierte. Gonzalo Venegas hat das

erste Auflage des iberoamerikanischen Festi-

Vater fest. Sie schreit und weint, spricht von

Verhör-Theater in einem klaustrophobischen

vals ¡Adelante! veranstaltete. Das Motto lau-

Gewalt in der Familie. Der Mann liest Zei-

Raum inszeniert. Immer enger schließen sich

tet „mach weiter“.

tung, nimmt sie nicht wahr. „Paisajes para no

die Mauern um die Zeugen. Ihre Aussagen

Kuratorin Ilona Goyeneche, langjährige

colorear“ (Nicht auszumalende Landschaf-

lenken den Blick auf die Armut und auf die

Mitarbeiterin des Goethe-Instituts in Mexiko,

ten) des Teatro La Re-Sentida aus Santiago

extreme soziale Ungerechtigkeit, die im neo-

hat mit Schultze, mit Dramaturgin Lene

de Chile ist eines der 13 Gastspiele aus elf

liberalen Chile herrschen. Mehr als die Hälfte

Grösch und dem Journalisten Jürgen Berger

Ländern, die beim Festival ¡Adelante! des ­

der Chilenen verdient im Monat nur 500

ein Programm gestaltet, das die Vielfalt der

Thea­ters Heidelberg zu sehen waren. Mit neun

Euro, und das bei hohen Lebenshaltungs­

Szene unterstreicht. „Da gilt es, auch mit

Jugendlichen hat Regisseur Marco Layera das

kosten. Von der Zerrissenheit der Gesellschaft

Vorurteilen über Lateinamerika aufzuräu-

Tabuthema Gewalt gegen Mädchen thema­

zeugen die Massenproteste, die im Herbst

men“, sagt die Wahl-Mexikanerin, die viel auf

tisiert. Erfahrungen der jungen Frauen im

und Winter 2019 oft in gewalttätigen Aus­

Festivals in Iberoamerika unterwegs war. Wie

­Pubertätsalter fließen ebenso ein wie dokumen-

einandersetzungen zwischen Polizei und

sich das Bild des lateinamerikanischen

tarische Berichte, etwa von Teenie-Müttern.

­Demonstranten gipfelten.

­Macho und das damit verbundene Frauenbild

der

In dieser politisch aufgeladenen Situa-

wandelt, zeigte beim Festival die bolivia­

­Expertinnenberichte lockern Layera und das

tion beziehen die Theatermacher konsequent

nische Regisseurin Claudia Eid Asbún in

Ensemble mit Filmsequenzen und Tanz auf.

Position. Das gilt auch für vermeintlich un­

„Princesas“ (Prinzessinnen). In ihrer dynami-

Die Lust und die Kraft, mit der die jungen

politische Stoffe wie „La flauta mágica“.

schen Performance bringt sie Frauen auf die

Frauen das Publikum hier in ihr Innerstes bli-

Nach Motiven der „Zauberflöte“ von Mozart

Bühne, die lustvoll und kritisch Klischees wie

cken ließen, rissen das Publikum mit. „Ge-

und Schikaneder hat der chilenische Autor

das der kleinen Meerjungfrau Arielle oder der

walt gegen Frauen und Mädchen ist auch in

Guillermo Calderón eine Text geschrieben,

Indianerprinzessin Pocahontas reflektieren.

Deutschland ein großes Thema“, sagte Hei-

der aktuelle Themen der chilenischen Gesell-

Wie sehr auch das Bild vom „korrupten Lati-

delbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner

schaft aufgreift. Pamina liegt im Kranken-

no“, das etwa die rechtsgerichtete Regierung

im Nachgespräch. Dass strukturelle Benach-

haus, sexuell missbraucht von ihrem Onkel

Jair Bolsonaros in Brasilien ebenso propagiert

teiligung keine Grenzen kennt, hat er selbst

Sarastro. Regisseur Antú Romero Nunes, der

wie Medien in den Vereinigten Staaten und in

erfahren. „Ich bin mit 18 Vater geworden,

in Deutschland arbeitet, aber aus einer chile-

Europa, das Selbstbewusstsein der Menschen

damals sind wir von der Schule geflogen.“

nisch-portugiesischen Familie kommt, balan-

zerstört, brachte der Wissenschaftler Jessé

Solche Offenheit des OB begeisterte die

ciert gesellschaftskritischen Biss klug mit der

Souza bei einer Diskussion über S ­ ozialproteste

Schülerinnen und Schüler im Zuschauer-

bildbewohnten Theatersprache Lateinameri-

und Kulturkriege auf den Punkt: „Aufgabe

raum. „Die besten 6,50 Euro, die ich je in-

kas. Blumen und wilde Vögel schweben im

der Kunst ist es, dem positive Bilder entge-

vestiert habe“, schrieb ein Jugendlicher den

Raum. Horacio Salinas hat eine Musik ge-

genzusetzen.“ //

Theaterleuten ins Gästebuch.

schrieben, in die Elemente der deutschen

Das

dramaturgische

Schema

Dass strukturelle Gewalt in Chile viele Gesichter hat, zeigte das Gastspiel des Teatro

Klassik

ebenso

einfließen

wie

quirliger

Latino-­Pop.

La Junta. „Muerte y explosión de un anar-

Doch in diese Traumwelt platzt ein

quista chileno“ (Tod und Explosion eines chi-

­Polizist. „Bei der Premiere in Chile gab es da

lenischen Anarchisten) basiert auf einem rea-

Buh-Rufe“, erzählt Holger Schultze. Bei sei-

len Fall. 2009 starb Mauricio Morales, als

nen Besuchen im Land hat er die Situation

eine selbstgebastelte Bombe in seinem Ruck-

als „explosiv“ erlebt. Gerade in dieser Zeit war es dem Intendanten des Theaters und ­Orchesters Heidelberg wichtig, mit „La flauta

Gesellschaftskritischer Biss und lateinamerikanische Bildwucht – „La flauta mágica“ nach Motiven von Mozarts „Zauberflöte“, inszeniert von Antú Romero Nunes in einer internationalen Koproduktion beim Festival ¡Adelante!. Foto Susanne Reichardt

mágica“ eine Koproduktion mit Künstlerinnen und Künstlern aus Chile, Uruguay, Mexiko, Italien und Deutschland zu realisieren. Nachhaltigen Austausch zwischen deutschen und lateinamerikanischen Künstlern wollte Schultze etablieren, als er vor drei Jahren die

Elisabeth Maier

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Ist Theater ein Gemeingut? Die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Gent diskutierte den Umbau der Institution Stadttheater als Commons Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass

Mit dem Titel „Common. Allies, Activists and

bis zu Campo und Vooruit in Gent, waren als

für den Auftakt der Jahrestagung der Drama-

Alternatives in European Theatre“ signalisier-

Gesprächspartner eingeladen. Viele ihrer Ideen

turgischen Gesellschaft (DG) etwa zweihun-

te die DG dann auch ihre Absicht, im europä-

wirken wie best practice-Beispiele, und das in

dert fast ausschließlich weiße Menschen aus

ischen Maßstab Impulse für die Gestaltung

einer Landschaft, die derzeit wieder massiv

der deutschsprachigen Theaterlandschaft im

des Umbaus der Institution Stadttheater zu

von Einsparzwängen betroffen ist. Die Wellen

kolonialen Prunkfoyer Lully der 1840 eröffne-

sammeln. Zwei mögliche Impulsgeber sind

des Protests gegen die Kürzungen, die der

ten Oper Gent zusammenkommen, um über

das NT Gent und die Opera Ballet Vlaan­

rechte Ministerpräsident und Kulturminister

strukturelle Zugangs- und Ausschlussmecha-

deren, die die diesjährige Tagung mitinitiiert

Jan Jambon unlängst beschlossen hat, schei-

nismen des Systems Stadttheater nachzu­

und mitfinanziert haben. Milo Rau startete

nen (zumindest in den Institutionen, die

denken. Dass das deutsche Stadt- und

2018/19 mit dem Genter Manifest die insti-

nicht ganz so hart getroffen sind wie die freie

Staatstheatersystem in vielerlei Hinsicht re-

tutionelle Erprobung eines „Stadttheaters der

Szene) etwas abgeebbt. Stefan Bläske, Chef-

formbedürftig ist, ist spätestens seit der so­

Zukunft“, das Strukturen von Stadttheater

dramaturg des NT Gent, merkte an, dass das

genannten „Stadttheaterdebatte“ im öffentli-

und freier Szene verbindet und als Landes-

von der liberalen Vorgängerregierung durch-

chen Bewusstsein. Der engagierten Arbeit von

bühne gleicher­maßen für die Region wie auch

Pro Quote Bühne oder dem ensemble-­ für ein internationales Publikum Theater netzwerk ist es zu verdanken, dass sich in

macht. Es brauche in der Zukunft „globale,

Sachen Geschlechtergerechtigkeit, verbesser-

postnationale Institutionen“, so Rau in seiner

ter Vertrags- und Arbeitsbedingungen sowie

Begrüßungsrede.

im Hinblick auf die Durchsetzung von Anti-

Zahlreiche Akteure aus der Kultur­

diskriminierungsmaßnahmen derzeit wirklich

szene Belgiens, von der Koninklijke Vlaamse

etwas bewegt.

Schouwburg und dem Kaaitheater in Brüssel

Wem gehört die Kunst? – (v.l.n.r.) Barbara Gessler (Creative Europe), Jan-Philipp Possmann (Zeitraumexit), André Wilkens (European Cultural Foundation), Janina Benduski (Bundesverband Freie Darstellende Künste) und Marc Grandmontagne (Deutscher Bühnenverein). Foto Ali Ghandtschi


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gesetzte „Tax Shelter“-System immerhin weiterhin Gültigkeit habe und finanzielle Schäden abpuffere. Zudem wollen die Genter

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Männergift und Schniedelkritik

Kunstinstitutionen in Zukunft stärker zusammenarbeiten, Ressourcen teilen und Festivals gemeinsam ausrichten, um damit solidarisch

Männer und Frauen, das war auch ange-

Radikale Schniedelkritik auch auf den Büh-

auf die kulturpolitische Lage zu reagieren.

sichts der diesjährigen Auswahl des Thea-

nen: So wird am Berliner Ensemble einer

Der Tagungstitel „Common“ verwies auf

tertreffens wieder Thema. Erstmals wurde

Barbie der Riesenpimmel abgezupft, und

die jüngste Publikation „Commonism“ des

die Vorschrift, mindestens die Hälfte der

bei einer Premiere an der Volksbühne wich-

Keynote-Sprechers Pascal Gielen, der an der

Regisseure müsse weiblichen Geschlechts

sen Kennedy, Clinton und Trump mit ent-

Universität Antwerpen an der Schnittstelle

sein, zur Anwendung gebracht. Stolz wurde

blößten Schwänzen um die Wette. Soll es

von Soziologie und Kunst arbeitet. Seine

allerorten die Planübererfüllung gerühmt.

am Ende wirklich der biologische Unter-

Überlegungen zur gesellschaftlichen Nach-

Doch gibt es prinzipielle Zweifel, die

schied sein, mit dem sich die Welt erklären

haltigkeit künstlerischen Schaffens sind von

nicht ausgeräumt sind: Neben

lässt? Die Philosophin Alenka

den postoperaistischen Denkern Michael

dem irritierenden Fokus auf die

Zupančič hat in ihrem kürzlich

Hardt und Antonio Negri geprägt. „Common“

­Regie kommt die Quotierung ei-

erschienenen Buch „Was ist

ist am präzisesten mit „Allmende“ ins Deut-

ner Auswahl von bemerkens-

Sex?“ darauf aufmerksam ge-

sche übersetzt und meint materielle und im-

werten

einer

macht, dass das Denken der

materielle Formen gemeinsamen Guts, an

nachträglichen Entlastung gleich.

sexuellen Differenz weder Bio-

dem Mitglieder eines Gemeinwesens Nut-

Das ist symptomatisch für den

logie noch bloßes Sprachspiel

zungsrecht haben. Beispiele innerhalb unse-

vorherrschenden Abzählfeminis­

ist. Über vergeschlechtlichte

rer Wissensgesellschaft sind die kostenlose

mus, der sich kaum um die

Subjektivität zu sprechen, er-

Nutzung von Open-Source-Software oder

allgemeinen ­

schert,

gibt Sinn nur als Diagnose einer

Wikipedia (vorausgesetzt, man verfügt über ­

Hauptsache, von jeder Art ist

Gesellschaft, in der diese Diffe-

einen Internetzugang, woran man sieht, dass

jemand repräsentiert. Eine Arche Noah des

renz Ausdruck eines tieferen Risses zwi-

auch Commons nicht ganz frei von Ausschlüs-

liberalen Bürgertums, während drum herum

schen der technischen und ökonomischen

sen sind).

die Welt untergeht. Der Vorteil: Die schal

Rationalität und dem darin nicht Aufgehen-

Die Tagung fragte: Wie können Theater

gewordene Ideologie, dass es in dieser

den ist. Die Kunst ist ein Medium, in dem

zu Commons werden? Wie müssen die Insti-

Gesellschaft doch noch jeder und jede ­

sich dieser Riss artikulieren kann. Ob das

tutionen umgebaut werden, damit mehr Men-

schaffen kann, wird aufpoliert. Nur leider

überhaupt noch geschieht, wäre eine femi-

schen an ihnen teilhaben, sie nutzen und

stimmt es nicht.

nistische Frage fürs Theater. Vielleicht mehr

Inszenierungen

Zwänge

aktiv mitgestalten können? In Brüssel experi-

Gesellschaftliche Krisen mit bösen

mentiert man bereits mit Formaten von

Männern zu erklären hat zurzeit Konjunktur.

Der konformistische Feminismus hat

„open-source curating“, was bedeutet, dass

Sei es als intime Selbstentblößung oder pla-

sein Subjekt verloren. Der Naturalisierung

Akteure aus der Stadtgesellschaft das Pro-

kative Anklage. Oder weinerliche Selbst­

des Gesellschaftlichen, sei es auch mit kri-

gramm mitbestimmen. Das Panel „Wem ge-

kritik. In einem Programmheft ist zu lesen:

tischem oder ironischem Gestus, sollte kein

hört die Kunst?“ offenbarte, dass es hierzu-

„Theater, Repräsentationskultur, eine Kul-

Vorschub geleistet werden. Der Riss verläuft

lande nicht nur bei der Programmgestaltung,

tur von Männern für Männer entworfen und

heute wie seit jeher zwischen Produktion

sondern bereits auf der Ebene der Kunst­

gepflegt. Ein Autor (Mann, tot), ein Inten-

(toll, Mehrwert!) und Reproduktion (bäh,

förderung ein klares Demokratiedefizit gibt

dant (Mann), ein Regisseur (Mann), ein

kein Mehrwert …). Er zeigt sich als Zeitpro-

(Stichwort mangelnde Bürgerbeteiligung).

als Quoten.

­Dramaturg (Mann).“ Besser kann man Frau-

blem, siehe die berüchtigte Unvereinbarkeit

Auf der Ebene der Verwaltung öffent-

en gar nicht aus dem Theater und der Welt

von Beruf und Familie. Zeit aber ist Geld,

lich geförderter Stadttheater ging es auf der

streichen. Kritik ist doch am schönsten,

also Ökonomie. Es geht um die gesell-

Tagung darum, wie Macht (neu) verteilt wer-

wenn man weiter nur über sich selbst reden

schaftliche Verteilung von Arbeit. In diesem

den müsste, wie Vielfalt nicht nur auf, son-

kann. Der Vielplauderer Klaus Theweleit ist

Sinne wäre jenseits aller moralischen Ver-

dern auch hinter der Bühne gestaltet werden

mit der Neuauflage seiner Monumental­

teufelungen und bloß symbolischer Schul-

kann und wie man für eine angst- und dis­

collage „Männerphantasien“ gefühlt durch

terklopferei die unverzügliche Einführung

kriminierungsfreie Arbeitsatmosphäre Sorge

jedes zweite Berliner Theater getingelt. Der

des gesetzlich geregelten Vierstundentags

trägt. Auch wenn die Zusammensetzung der

aufgeklärte Theatermacher von heute be-

eine vernünftige feministische Sache. Und

Teilnehmenden die existierenden Ausschlüsse

sucht freilich auch einen Workshop zu

abseits davon? Gilt Heiner Müllers Wort

in der Institution Stadttheater ex negativo

toxischer Männlichkeit. Wenn man das ­

aus der „Weiberkomödie“: „Dass zwischen

sichtbar machte, leistete die Tagung durch-

nächste Mal die Schauspieler auf der Probe

Mann und Frau der Unterschied / Nur dazu

aus wertvolle Bewusstseinsarbeit, die jedem

zusammenschreit, zaubert man dann das

da ist und dafür gut / Dass man für sein und

tatsächlichen Wandel vorauszugehen hat. //

Detox-Zertifikat aus der Tasche. Schöne

ihr Vergnügen damit etwas tut.“ //

neue Welt. Theresa Schütz

Jakob Hayner

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Dramaturgie in Jahrhundertbögen In Gedenken an den herausragenden Dramaturgen und Publizisten Alexander Weigel Dem Deutschen Theater in Berlin war Alexan-

wurde Heiner Müller bei seinen drei Insze­

der Weigel verbunden wie kaum ein anderer.

nierungen am DT von 1986 bis 1991. Für

Über fast vier Jahrzehnte, von 1964 bis

„Lohndrücker“, „Hamlet/Maschine“ und „Mau­

2001, stand er als Dramaturg den Regisseu-

ser“, zeitlich gesehen Vorwende, Ende und

ren Adolf Dresen, später Heiner Müller und

Nachwende der DDR, waren Jahrhundert­

schließlich Jürgen Gosch zur Seite und prägte

zusammenhänge

mit seiner Arbeit für herausragende Produkti-

Weigel mehrere Publika­ ­ tionen entwickelte,

onen mehrere wichtige künstlerische Phasen

die heute zu den Basis­ materialien dieser

dieses Theaters mit. Weigel ist aber auch für

­Produktionen gehören. Die Idee, für die acht-

­seine publizistische Tätigkeit als Autor und

stündige „Hamlet/Maschine“ einen – damals

Herausgeber zu würdigen, die sich oft mit ­

frappierenden – Klimawandel von der Eiszeit

dem Deutschen Theater verband.

zur Heißzeit atmosphärisch zu gestalten, geht

1935 in Zwickau geboren und im säch-

aufzubereiten,

für

die

auf ihn zurück. 1986 rief er die von Max Reinhardt

sischen Döbeln aufgewachsen, ging er zum Studium der Geschichte an die Leipziger

Alexander Weigel (1935–2020).

einst begründeten „Blätter des Deutschen

­Karl-Marx-Universität, wo er als Gasthörer der

Foto Michael Benk

Theaters“ wieder ins Leben, in denen viele Texte von und über Heiner Müller erschienen,

legendären Vorlesungen von Hans Mayer und

aber auch Literaturhistorisches, so das Son-

Ernst Bloch 1954 an die Studentenbühne der Universität gelangte, die, von Adolf Dresen auf

Dresen nun unter ganz anderen Bedingungen

derheft zum Expressionismus, oder Gedichte

Anregung Mayers gerade gegründet, später als

fortsetzte. Er gehörte dort zu ­einer Gruppe jün-

von jüngeren Autoren wie Durs Grünbein. Der

Poetisches Theater bekannt wurde. Weigel gab

gerer Künstler, denen Möglichkeiten geboten

Dramaturg verstand sich damit im besten

auf dieser halbprofessionellen Bühne sein

wurden, die jedoch unter den kulturpolitischen

Sinne nicht nur als denkender und gestalten-

­Debüt als Schauspieler in „Der eifersüchtige

Argus­augen des SED-Plenums von 1965 vor-

der Partner einer Inszenierung, sondern auch

Alte“ von Cervantes, später spielte er auch in

sichtig auszuloten waren. In der Arbeit an

als ihr Wegbegleiter mit weiteren Anregungen

Brechts „Furcht und Elend des Dritten Rei-

­Dresens „Faust“ 1968, einer klugen, mitunter

fürs Publikum und als Gedächtnis von Thea-

ches“ in der Regie von Dresen – prägende Jahre

frechen Befreiung von der ideologischen Vor­

terkultur – so in dem 1999 veröffentlichten

im ­Nebeneinander von Hörsaal und Bühne.

gabe, wie mit dem klassischen Erbe umzuge-

Buch „Das Deutsche Theater. Eine Geschich-

Nach ersten Stationen als Assistent am

hen sei, dürfte Weigel endgültig erkannt haben,

te in Bildern“ und als kommentierender Her-

Volkstheater Rostock und Dramaturg in Greifs-

welche Aufgaben ein guter Dramaturg im Thea-

ausgeber der gesammelten Schriften und

wald wurde er 1963 für ein Jahr Redakteur von

ter der DDR wahrnehmen kann und muss.

Theaterkritiken von Siegfried Jacobsohn. Am

Theater der Zeit, bevor er ans Deutsche Theater

Der für Weigel wohl wichtigste Regis-

ging und dort seine Arbeit mit und für Adolf

seur nach Dresen (der 1975 die DDR verließ)

Empfindsames Ohr

13. Januar ist Alexander Weigel in Berlin verstorben. //

Thomas Irmer

seit Längerem an einem Lungenemphysem, was ihr das Leben nicht gerade leicht gemacht hat. Sie beschritt gerne unkonventionelle Wege,

Ein Ade an die Übersetzerin Monika The

konnte auch sperrig sein, wodurch man es manchmal nicht leicht mit ihr hatte, weder als Autorin noch als Lektorin. Die Qualität ihrer Arbeiten gab ihr aber letzten Endes recht.

Unser niederländischer Autor Theo Fransz hat

Sachbücher aus dem Niederländischen ins

Da Blessuren beim Übersetzen unvermeidlich

mir die traurige Nachricht überbracht, dass

Deutsche übertragen hat. Sie war natürlich

sind, galt für sie immer, diese sensibel und

Monika The verstorben ist.

nicht nur unsere langjährige Übersetzerin, des

sprachmächtig zu minimieren. Es war wun-

Theaterstückverlags. Allein auf www.theater-

dervoll, wie es Monika gelang, den Rhythmus

texte.de finden sich fünfzig Einträge.

ebenso schön einzufangen wie die Einspreng-

Im September 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg in Berlin geboren, war sie eine deutsche literarische Übersetzerin, die seit den

Nach der Überwindung einer schweren

sel aus Umgangs- und Fachsprache, wenn die

1970er Jahren Belletristik, Theaterstücke und

Krebserkrankung vor etwa zehn Jahren litt sie

Sätze dem Prinzip der Steigerung oder, umge-


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kehrt, der kunstvollen Einschränkung folgten,

­zwischen dem eigenen Empfinden und dem

liches aufgehoben war und zugleich als Ver-

wenn diese Sätze beweglich waren, ab und an

der Schriftstellerinnen und Schriftsteller –

trautes erschien. Monika The wird noch da

weite Bögen zogen. Monika übertrug präzise

und fand gleichzeitig originelle Lösungen für

sein, sie wird durch ihr übersetzerisches Werk

nicht nur den Inhalt des Ausgangstextes, son-

deren eigenwilligen, bildhaften Stil. Sie hatte

bei uns bleiben.

dern auch seine Zwischentöne, die Stillage,

ein großes Gespür für Satzbetonung und

Am 19. Januar 2020 ist sie im Alter

Assoziationen und Anspielungen. Sie verband

-melodie, sprachbezogene Gestaltung und ­

von 79 Jahren in Amsterdam friedlich einge-

stetes Engagement mit Sachkompetenz und

für die Färbung einer Figurenrede. Und

schlafen. Theo Fransz hat es so formuliert:

einem subtilen Verständnis für die feinen

vermutlich hatte kaum jemand ein empfind-

„Eine großartige, manchmal komplizierte,

­Nebenklänge im Schreiben eines Autors. Sie

sameres Ohr für einen falschen Zungen-

aber dann wieder so nette Freundin ist auf

empfand sprachlich lebhaft nach, traf den

schlag. Sie verlieh übersetzten Texten eine

Reise gegangen.“ //

Ton des Originals durch den Gleichklang

lebendige Gestalt, in der all ihr Eigentüm­

Brigitte Korn-Wimmer

Immer wieder Shakespeare Dem Übersetzer, Publizisten und Dramaturgen Maik Hamburger zum Gedenken Er hieß Michael, aber in Büchern und Auf­

John-Donne-Edition bei Reclam und der Band,

sätzen nannte er sich, um Verwechslungen

den er im Jahre 2000 bei Theater der Zeit

mit dem gleichnamigen Lyriker zu vermeiden,

herausgab. Er heißt „Wieviel Freiheit braucht

Maik, eine Verdeutschung des Namens, mit

die Kunst?“ und enthält Reden, Briefe, Verse

dem ihn seine Mitschüler und Mitstudenten

und Spiele von Adolf Dresen, dem eminenten

in Großbritannien gerufen hatten. Geboren

Regisseur, mit dem Hamburger seit dessen

wurde er 1931 in Schanghai, wo seine Mutter,

Engagement am Deutschen Theater drama-

die später Ruth Werner hieß und eine Schwes-

turgisch zusammenarbeitete. Er hatte das

ter Jürgen Kuczynskis war, von Richard Sorge

schottische Aberdeen, wo er Philosophie stu-

Maik Hamburger (1931–2020).

für den Geheimdienst der Roten Armee ange-

dierte, 1951 mit Leipzig vertauscht, um Phy-

Foto Gerrit Wittenberg

worben wurde. Von China, wo ihr Mann, der

sik zu studieren, und hatte Dresen beim dor-

Architekt Rudolf Hamburger, eine nachhalti-

tigen Studententheater kennengelernt, eine

ge Aufbauarbeit leistete, führte ihr Weg über

Begegnung, die sein Leben prägte. Nach dem

Bühnen der Deutschen Demokratischen Re-

viele Zwischenstationen nach London, wo sie

Studium ging er zum Theater, als Dramaturg

publik“, das sich am besonderen Gegenstand

später als Kontaktfrau zu Klaus Fuchs, der als

(dreißig Jahre lang blieb das DT seine berufli-

wie eine Theatergeschichte dieses kunstfreu-

Kernphysiker Mitarbeiter am amerikanischen

che Heimat) und als Übersetzer nicht nur von

digen Landes liest. Er war ihm so sehr verbun-

Bombenprojekt war, eine weltpolitische Rolle

John Donne, sondern auch von Sean O’Casey,

den, dass eines Tages die Sicherheitsorgane

spielte. Rudolf Hamburger hatte unterdes in

Tennessee Williams und Arthur Miller, vor allem

auf ihn aufmerksam wurden; zeitweilig wurden

Persien geheimdienstlich für die Sowjetunion

aber von Shakespeare. Fünfzehn seiner Stücke

wir in einem Operativen Vorgang observiert.

gearbeitet; dorthin entlassen, lohnte es ihm

übertrug er im Lauf der Zeit ins Deutsche und

Auch über dieses Kapitel seines Lebens hat

das Vaterland aller Werktätigen, indem es ihn

erreichte damit viele Bühnen; in der Deut-

er mit leichter Hand geschrieben, in einer Dre-

zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilte. Erst

schen Shakespeare-Gesellschaft spielte er zu

sen-Edition, die ebenfalls bei Theater der Zeit

1955 sah Maik Hamburger seinen Vater wie-

DDR-Zeiten und danach eine hervorgehobene

erschienen ist: „Der Einzelne und das Ganze“.

der; er nahm seinen Architektenberuf wieder

Rolle.

Hamburger wäre am 12. Februar 89

auf und schrieb Erinnerungen, die der Sohn

Nach dem Ende seiner Dramaturgen­

Jahre alt geworden. Seiner gedenkend,

2013 herausgab, das erschütternde Doku-

tätigkeit führten ihn Vorträge und Lehrauf­

kommt es mir vor, als wäre dieser zarte und

ment einer katastrophenreichen Epoche.

träge weit herum. 2011 publizierte er mit

heitere, humorbegabte und wunderbar ge-

Maik Hamburger ist trotz anhaltender

­Simon Williams bei Cambridge University Press

sprächsfähige Mann wie ein Ariel durch die

Ermunterung nicht dazu gekommen, seine

„A History of German Theatre“, ein Werk,

geistige und mitmenschliche Welt geschrit-

eigenen Erinnerungen zum Buch zu formen.

dessen Übersetzung ins Deutsche er gewiss

ten, die er um sich zu versammeln wusste.

Aber es gibt Bruchstücke, und ein solcher

gern übernommen hätte. Wilhelm Hortmanns

Ihn zu lesen, mindert den Verlust, den eine

Text ist im Internet mühelos auffindbar, er

Buch über „Shakespeare und das deutsche

große

heißt „Das verschenkte Glasperlenspiel“. Ab-

Theater“ enthält von Hamburgers Hand ein

macht es ihn umso deutlicher. //

rufbar sind auch seine Bücher, darunter eine

großes Kapitel über „Shakespeare auf den

Freundesschar

betrauert;

zugleich

Friedrich Dieckmann

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Widersprüchliche Beziehung zur Sowjet­ union – Bertolt Brecht und Sergej Eisenstein 1932 in Moskau. Foto AdK, BBA FA 06/136, Sergej Tretjakow

Erläuterungen benötigte. Brechts 1956 veröffentlichte antistalinistische Gedichte sind nach den Möglichkeiten der Zeit direkter. Das Aufwiegen der Taten des „verdienten Mörders des Volkes“ beschreibt Literaturwissenschaftler Dieter Henning als eine verzögerte, teils euphemistische Anklage. In weiteren Beiträgen von Tatjana Hofmann, Annett Gröschner, Annette Leo, ­ Michael Rohrwasser, Holger Teschke, B. K. Tragelehn und den abgedruckten Publikumsgesprächen wird der Vorwurf des „Doppelsprech“ vertieft. Wiederholt wird festgestellt, dass dem großen Moralisten mehr Irrtümer in seiner Beziehung zur Sowjetunion eingeräumt werden müssen, wenn nicht gar ein „intellek-

Gesammelte Irrtümer

wichtiges Verbindungsglied dar. 1937 wird

tuelles Versagen“, wie es ihm Wolfgang Thier-

Tretjakow als „japanischer Spion“ zum Tode

se vorwirft. //

Lara Wenzel

Bertolt Brechts Beziehung zur Sowjetunion

verurteilt und hingerichtet. Dem „Mord“ wid-

ist von Widersprüchen geprägt. Bereits zu den

met Brecht ein Gedicht. Wie der Historiker

Brecht-Tagen im Jahr 2000 wurde unter dem

Reinhard Müller in Auseinandersetzung mit

Titel „Rot = Braun“ die komplizierte Bezie-

den Moskauer Prozessen zeigt, ist es eines

hung des Autors zum Stalinismus beleuchtet

der seltenen Zeichen öffentlichen Zweifels. In

(Recherchen 4, Theater der Zeit). Die Brecht-

Gesprächen mit Walter Benjamin äußerte

Die Szene ist einer der zentralen Begriffe des

Tage 2017 griffen mit „Brecht und die

Brecht sich kritisch gegenüber den sowjeti-

französischen Philosophen Jacques Rancière.

Sowjet­union“ das Thema wieder auf. Die dort

schen Entwicklungen. Sonst schwieg er meist

Bereits in seinem frühen Werk „Das Unver-

gehaltenen Vorträge sind nun in dem von der

zu Prozessen und Verhaftungen, nahm sogar

nehmen“ (2002) hatte er sie für seine Auf­

Historikerin Annette Leo im Verbrecher Verlag

in unveröffentlichten Manuskripten den het-

fassung von Politik als Streit (und nicht als

erschienenen Band „,Ich bereite mich auf

zerischen Ton der Ankläger auf. Die Literatur-

institutionalisierte Ordnungsmacht) als eine

meinen nächsten Irrtum vor …‘. Bertolt

und Politikwissenschaftlerin Sabine Kebir

„Bühne der Sichtbarmachung“ errichtet. Die

Brecht und die Sowjetunion“ versammelt. Als

versucht, Brechts widersprüchliches Handeln

Rancièr’sche Szene ist für die dort in Erschei-

Quellen werden Briefe, Stücke, Gedichte

produktiv zu machen, endet aber bei einer

nung tretenden Akteure immer auch eine

Brechts sowie seine Kaderakte herangezogen,

historischen Relativierung.

Schlüsselszene – insofern, als sie ihre Prota-

um die Gleichzeitigkeit seiner Faszination,

Die Bühne des Denkens

gonisten immer in einem Moment beschreibt,

Überzeugung und Desillusionierung von der

in dem sie sich als politische Subjekte von

Räterepublik zu diskutieren.

Annette Leo (Hg.): „Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor …“. Bertolt Brecht und die Sowjetunion. Verbrecher Verlag (lfb texte 9), Berlin 2019, 312 S., 24 EUR.

Brechts Interesse galt neben dem politischen System auch der russischen Theateravantgarde. Ab 1923 arbeitete er mit der Schauspielerin Asja Lācis aus Sankt Petersburg zusammen und fragte sie zu Alltag und Theater in der Sowjetunion aus. Die Theater-

gesellschaftlichen Ordnungen emanzipieren. Weshalb die so verstandene Politik natürlich auch immer der Streit um diese Bühne selbst ist, da die Emanzipation eine gesellschaft­ liche Neuaufteilung provoziert. Gleiches gilt für Rancières vielfache Betrachtungen der Kunst. Hier verfolgt er nicht weniger als die Aufhebung aller Hierar-

wissenschaftlerin Sabine Zolchow verfolgt unter der Fragestellung „Inwieweit war

chien, die ihr aus einem kunstgeschicht­

Brechts episches Theater von Meyerhold und

Auch mit Stalin setzte sich Brecht in seinen

lichen Verständnis anhaften. Jenseits von

Eisenstein inspiriert?“ die Informationen, die

Gedichten

des

Zweckmäßigkeit, Repräsentation, Handwerk

Brecht von Lācis – ab 1931 auch von dem

Brecht-Archivs Erdmut Wizisla legt dar, wie

oder Wirksamkeit setzt er die individuelle

Autor Sergej Tretjakow – zugänglich waren.

Brecht 1938 Benjamin die „Ansprache des

sinnliche Erfahrung in den Fokus der Be-

Tretjakow und sein Drama „Ich will ein Kind

Bauern an seinen Ochsen“ zeigte. Die Stalin-

trachtung, ein rein „ästhetisches Regime“.

(haben)!“ stellen für viele der Beiträge ein

Kritik darin ist so versteckt, dass sein Freund

Ausgehend davon kritisierte er bereits in „Der

auseinander.

Der

Leiter


bücher

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emanzipierte Zuschauer“ (2010) Formen kri-

dass Brechts V-Effekt andere Wahrnehmungs-

zu kritisieren. Aber natürlich ist die Realität

tischer Kunst, die gesellschaftliche Missstän-

formen ermögliche. Usw. usf. Ein emanzipier-

des Landes komplexer.

de beseitigen wollen oder pädagogische Wir-

ter Theaterzuschauer ist aus Rancière noch

kungen erzielen möchten. Nicht zuletzt

nicht geworden. // Anja Nioduschewksi

deshalb wird er auch im Theater skeptisch

Die 2015 von Tamina Kutscher und Friederike Meltendorf gegründete Online-­ Plattform dekoder.org bietet daher zahl­reiche

gelesen, insbesondere von Vertretern des Arti-

Artikel, die, aus liberalen russischen Medien

vism. Obwohl Rancières Begriffswahl dem

übersetzt, ein vielfältigeres Bild des Landes

Theater entspringt, fanden in seinen unzähli-

zeichnen. Ein wichtiges Projekt, das im Vor-

gen Arbeiten zur Ästhetik vergleichsweise nur

Wenn der FSB dreimal klingelt

wenige Theaterreferenzen Eingang.

wort des nun bei Matthes & Seitz e­ rschienenen „dekoder“-Jahrbuchs lediglich mit etwas zu

Die Rancièr’sche Szene ist jedenfalls

Was solltest du tun, wenn der FSB bei dir

viel Pathos daherkommt. „Je mehr man über

keine Theaterszene, sie ist vielmehr ein Zu-

klingelt? Wer eines der umfangreichsten jour-

Russland hört, desto mehr Fragen tauchen

stand, in dem Rancières Denken selbst die

nalistischen „Entschlüsselungsprojekte“ zu

auf, desto mehr Verwirrung entsteht“, schrei-

Bühne betritt und sich entgrenzt. Wir sehen

Russland mit dieser Frage beginnt, schraubt

ben die Herausgeberinnen. Das aber dürfte

ein Denken bei der Arbeit, das hierarchielos

das Erregungslevel sogleich auf Agentenkri-

mit jedem Land der Welt der Fall sein, sogar

Ereignisse, Kunstwerke, Wissensbausteine

mi-Niveau. In „Der FSB und mein riesiger

mit demjenigen, in dem man lebt, gilt doch

und Recherchen in seinem Kopf aufeinander-

rosa Schwanz“ berichtet die junge Journalis-

seit jeher, dass eine eingehende Betrachtung

treffen lässt – ein Neuronengewitter, in dem

tin Olga Beschlej, wie sie eines Tages von

die Realität in der Regel verkompliziert.

sich neue Verknüpfungen herstellen.

einem Mitarbeiter des russischen Inlands­ ­

Nichtsdestotrotz ist „dekoder“ ein spannen-

geheimdienstes FSB angerufen wird und sich

des und umfangreich informierendes Projekt,

daraufhin fragt, was nun zu tun sei. Geheim-

das nicht nur Zustandsbeschreibungen lie-

diensterfahrene Kollegen, so Beschlej, wür-

fert, sondern auch in Fußnoten und soge-

den einem raten, auf der Stelle in allen sozi-

nannten Gnosen ein weitverzweigtes Wissens-

alen Netzen darüber zu berichten. Diesen

netz aufspannt, in dem sogar der verqueren

Hinweis indes erhält sie erst sehr viel später.

Weltsicht von Putins Spindoktor Wladislaw

In der Zwischenzeit sind bereits einige Telefo-

Surkow Platz eingeräumt wird.

Jacques Rancière: Das Verfahren der Szene. Gespräche mit Adnen Jdey. Diaphanes Verlag, Zürich 2019, 160 S., 18 EUR.

nate erfolgt, deren Wortlaut auch einem Inspektor-Clouseau-Film entstammen könnte. FSB: „Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Genuss ich Ihr Facebook lese.

In dem bei Diaphanes erschienenen Buch

Diese Ironie, dieser Humor.“ – Beschlej: „Im

„Das Verfahren der Szene“ geht der tunesi-

Ernst? Sie lesen mein Facebook?“ – FSB:

sche Philosoph Adnen Jdey nun mit Rancière

„Sie haben eine große Zukunft. Sie können

in sechs Gesprächsrunden, die die Dramatur-

uns helfen … Hier, zum Beispiel, am 5. März:

gie und theoretische Belastbarkeit dieses

‚Ich will kein Büro-Nerd sein, ich werde jetzt

Denkens und seiner Begriffe nachvollziehen

Bond-Girl.‘ Olga Iljinitschna, darf ich Ihr

wollen. Es ist ein sehr theoriefixiertes Unter-

James Bond sein?“

dekoder. Russland entschlüsseln 1. Hg. von Tamina Kutscher und Friederike Meltendorf, Matthes & Seitz, Berlin 2019, 335 S., 20 EUR.

fangen. Jdeys Fragen winden sich qualvoll in

Mit Witz und Charme schildert die

Besonders deutlich wird die Komplexität der

einem parenthetischen Nominalstil von Be-

Autorin, wie sie im Folgenden wie im Wahn

Lage in dem Transkript einer heimlich mitge-

griffen, nahe der Unverständlichkeit. Ranci-

ihre ganze Wohnung ausmistet, um ver-

schnittenen Diskussion in einer Schule im

ères Antworten mäandern, referieren den

meintlich kompromittierendes Material zu

Oblast Brjansk anlässlich der zeitweiligen

Stand seines bereits dokumentierten Den-

vernichten. Erst als sie einen lange ver-

Verhaftung eines Mitschülers, der auf VKon-

kens, weichen den Widersprüchen aus.

schollen geglaubten Dildo wiederfindet, hält

takte zu einer Demonstration für Alexej

Allerdings unternimmt Jdey einige An-

sie inne. Es ist eine Reportage, die lässig

­Nawalny aufgerufen hatte. Während des hefti-

läufe, dem Theaterverständnis Rancières auf

und frech ein ernstes Thema verhandelt, mit

gen Wortwechsels zwischen Schülern und

die Spur zu kommen: Und dieses ist äußerst

ihrer Poleposition im Buch allerdings auch

Schuldirektorin wird klar, warum besonders

widersprüchlich. Denn die Basis seiner Kritik

das Vorhaben der Herausgeberinnen konter-

Vertreter der älteren Generation das Handeln

an Theaterformen ist ein sehr lineares Sen-

kariert, Russland jenseits der in Europa be-

der Regierung verteidigen. Jene, denen die ge­

der-Empfänger-Aussage-Wirkung-Schema

kannten Bilder zu erzählen. Seit dem Vergif-

waltvollen neunziger Jahre noch in den Kno-

zwischen Bühne und Zuschauerraum, das er

tungsversuch an Ex-Agent Sergei Skripal,

chen sitzen, sehen in jedem Angriff auf die

sonst für die Kunstrezeption grundsätzlich

den Prozessen gegen Künstler wie Kirill

Stabilität des Putin-Systems einen erneuten

verneint. Da findet Kunst immer als „dritte

Serebrennikov und Pussy Riot, den regel­ ­

Schritt in Richtung Bürgerkrieg. Die Schüler

Sache“ zwischen beiden Seiten statt. Und

mäßigen Verhaftungen Oppositioneller wie

indes finden für das Vorgehen des Staates ei-

man ist schlicht verwundert, worüber er sich

Alexej Nawalny wimmelt es vor negativer

nen gänzlich anderen Begriff. Für sie ist es

wundert: zum Beispiel, dass Theaterstücke

Berichterstattung in den Medien – und das

schlicht Willkür. //

verschiedene Interpretationen zuließen oder

zu Recht, sind diese Fälle doch entschieden

Dorte Lena Eilers

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aktuell

/ TdZ März 2020  /

Meldungen

■ Falk Richter, Regisseur und Dramatiker,

■ Für den mit 15 000 Euro dotierten Mülhei-

wechselt ab der Spielzeit 2020/21 als Haus-

mer Dramatikerpreis sind folgende Autor*innen

regisseur unter der Intendanz von Barbara

nominiert: Ewald Palmetshofers mit „Die Ver-

Mundel an die Münchner Kammerspiele. Seit

lorenen“, von Nora Schlocker am Residenz-

■ Wolfgang Schneider wurde am 3. Februar

2017 war Richter als Hausregisseur am Schau-

theater München inszeniert; Sivan Ben Yishai

2020 erneut zum Vorsitzenden des Fonds

spielhaus Hamburg beschäftigt, zuvor an der

mit „LIEBE/ Eine argumentative Übung“,

­Darstellende Künste gewählt. Als Stellvertrete-

Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.

von Jakob Weiss am Nationaltheater Mann-

rin bestätigt wurde die Rechtsanwältin des

heim inszeniert; Caren Jeß mit „Bookpink“,

Deutschen Bühnenvereins Ilka Schmalbauch.

von Anja Michaela Wohlfart am Schauspiel-

Drittes Vorstandsmitglied ist die Figurentheaterspielerin und Regisseurin Ute Kahmann.

■ Im Theater Hora in Zürich kommt es zu Veränderungen in der Künstlerischen Leitung ab der Spielzeit 2020/21. Die Schauspielerin und Kuratorin Yanna Rüger und der Schauspieler, Regisseur und Performer Stephan Stock übernehmen die Künstlerische Leitung.

Das Schauspiel Frankfurt. Foto Birgit Hupfeld

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haus Graz inszeniert; Thomas Melle mit „Ode“, von Lilja Rupprecht am Deutschen Theater in Berlin inszeniert; Bonn Park mit „Das Deutschland“, von ihm am ETA Hoffmann Theater Bamberg inszeniert; Falk Richter mit „In My Room“, von ihm am Maxim Gorki Theater in Berlin inszeniert; Kevin Rittberger mit „IKI.Radikalmensch“, von Rieke

■ Das marode Schauspiel- und Operngebäude in

Süßkow am Theater Osnabrück inszeniert;

Frankfurt am Main soll abgerissen werden. Dass

Felicia Zeller mit „Der Fiskus“, von Chris-

das Haus weichen muss, hat eine finanzielle

toph Diem am Staatstheater Braunschweig

Hochrechnung der Sanierungskosten ergeben,

inszeniert. Die für den KinderStückePreis 2020

die sich auf bis zu 918 Millionen Euro belaufen

nominierten Dramatiker*in­nen, die um die in

■ Ab der Spielzeit 2020/21 wird Caspar

würden, verkündete Frankfurts Kulturdezernen-

diesem Jahr auf 15 000 Euro ange­ hobene

­Sawade die Leitung des Theaters Lübeck als

tin Ina Hartwig. Je nachdem ob Schauspiel oder

Auszeichnung konkurrieren, sind unter fol-

Geschäftsführender Direktor übernehmen.

Oper ein Interimsquartier beziehen, würde ein

gendem Link einsehbar: www.stuecke.de.

Die kommende Spielzeit bringt zwei weitere

Neubau „nur“ 809 beziehungsweise 859 Milli-

Die Stücke 2020 werden vom 16. Mai bis

personelle Änderungen mit sich. Generalmu-

onen Euro Kosten verursachen.

zum 6. Juni gezeigt, die Kinderstücke vom

Das Labor, die Kulturwerkstatt am Theater Hora, wird mit einer weiteren Co-Leitung aus Amadea Schütz und Ivna Žic besetzt.

25. bis zum 29. Mai. Das Programm des

sikdirektor Stefan Vladar übernimmt das Amt wechselt

■ Die 10er-Auswahl zum 57. Berliner Theater-

Mühlheimer Dramatikerpreises wird Mitte

Bernd Reiner Krieger auf die Position des

treffen vom 1. bis 17. Mai steht fest: „Die

März bekannt gegeben.

Künstlerischen Betriebsdirektors des Musik-

Kränkungen der Menschheit“, inszeniert von

theaters.

Anta Helena Recke, produziert von den

■ Der Kleist-Förderpreis für junge Drama­

des

Operndirektors.

Außerdem

Münchner Kammerspielen; „Anatomie eines

tikerin­ nen und Dramatiker geht 2020 an

■ Ende des Jahres 2020 wird die gemein­

Suizids“ von Alice Birch, inszeniert von Katie

Magdalena Schrefel für ihr Stück „Ein Berg,

same Intendanz von Johannes Öhman und Sa-

Mitchell am Deutschen Schauspielhaus in

viele“. Neben der Dotierung mit 7500 Euro

sha Waltz, die erst im August 2019 begann,

Hamburg; „Der Menschenfeind“ von Molière,

ist der Preis auch an eine Uraufführungs­

am Berliner Staatsballett vorzeitig beendet wer-

inszeniert von Anne Lenk am Deutschen

garantie – dieses Jahr am Schauspiel Leipzig –

den. Der Grund für das frühe Ende ist Öh-

Thea­ter in Berlin; „Eine göttliche Komödie.

ge­bunden.

mans Wechsel zum Dansens Hus in Stock-

Dante < > Pasolini“ von Federico Bellini, in-

holm, der größten Bühne für zeitgenössischen

szeniert von Antonio Latella am Residenzthe-

■ Das französische Kulturministerium ehrt

Tanz in Schweden. Waltz zeigte sich von die-

ater in München; „Hamlet“ von William

das

ser Entscheidung überrumpelt, ihre Entschei-

Shakespeare, inszeniert von Johan Simons

Hoghes mit dem Orden der Künste und der

dung über ihre zukünftige Rolle am Staats-

am Schauspielhaus Bochum; „Süßer Vogel

­Literatur. Die Auszeichnung wurde dem 1949

ballett steht noch aus.

Jugend“ von Tennessee Williams, inszeniert

geborenen Autor, Tänzer und Choreografen

von Claudia Bauer am Schauspiel Leipzig;

am 31. Januar nach der Premiere ­ seiner

■ Der Intendant des Theaters Vorpommern

„Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten

Produktion „Postcards from Vietnam“ am

Dirk Löschner verlässt das Haus im Sommer

aus dem Zwischenhirn“, inszeniert von Hel-

Tanzhaus NRW in Düsseldorf überreicht.

2021. Die Stelle hatte er seit August 2012

gard Haug, produziert vom Schauspiel Frank-

inne, nachdem sein Vorgänger Anton Nekovar

furt, Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt)

■ Am 26. Januar wurde der Schauspielerin

fristlos gekündigt wurde. Im NDR wurde be-

und Rimini Protokoll; „The Vacuum Cleaner“,

Lilith Stangenberg der Ulrich-Wildgruber-Preis

richtet, dass Löschner mit seiner Arbeit zu-

inszeniert von Toshiki Okada an den Münch-

verliehen. Die mit 10 000 Euro dotierte Aus-

frieden sei und er das Gefühl habe das Haus

ner Kammerspielen; „Der Mensch erscheint

zeichnung wurde ihr im Rahmen des Neu-

in einem stabileren Zustand zu verlassen. Die

im Holozän“, inszeniert von Alexander Gie-

jahrempfangs im St. Pauli Theater in Ham-

freie Stelle wird bereits in wenigen Wochen

sche am Schauspielhaus Zürich; „Tanz. Eine

burg übergeben. Bereits im Dezember wurde

ausgeschrieben, um Planungssicherheit zu

sylphidische Träumerei in Stunts“, inszeniert

die vielseitige Schauspielerin in Theater der

gewähren.

von Florentina Holzinger.

Zeit (12/2019) porträtiert.

künstlerische

Lebenswerk

Raimund


aktuell

/ TdZ  März 2020  /

n 08.04. Buchpremiere: The European Balcony Project. The Emancipation of the European Citizens, Werkraum, Berliner Ensemble Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

■ Günther Fleckenstein, der von 1966 bis

tion im Bereich der darstellenden Künste in

1986 das Deutsche Theater in Göttingen lei-

Berlin realisieren möchten. Einsendeschluss

tete und prägte, verstarb im Alter von 96 Jah-

ist der 15. April 2020.

ren in Hamburg. Der 1924 in Mainz geborene Intendant bekleidete von 1951 bis 1954 die

■ Das Theater Kosmos in Bregenz sucht

Position des Spielleiters am Mainzer Schau-

Stücke von jungen Autor*innen für den ­

spiel und inszenierte u. a. an Theatern in

­Stückewettbewerb Kosmodron unter dem Mot-

Ulm, Gelsenkirchen und Essen.

to „Life in 2050“. Bis zum 29. Mai 2020 können Theatertexte für den mit 3000 Euro dotierten Preis eingereicht werden, die die

■ Der Berliner Autor Dorian Brunz wurde als

(Un-)Möglichkeiten menschlichen Lebens

Leonhard-Frank-Stipendiat für 2020 ausge-

im Jahr 2050 erforschen.

wählt. Er arbeitet für ein Jahr eng mit der Dramaturgie des Mainfranken Theaters Würz-

■ Die Berlin Summer University of the Arts

burg zusammen, das das Stipendium vergibt.

an der Universität der Künste Berlin bietet

Ziel ist die gemeinsame Entwicklung eines

für ihr Workshop-Angebot von Juni bis Sep-

Theatertextes, der im Rahmen einer Inszenie-

tember Teilstipendien für Künstler*innen an,

rung oder Lesung präsentiert wird.

die ihr Studium bald abschließen werden oder dies vor nicht mehr als einem Jahr getan

■ Am 8. Februar verstarb der Schauspieler

■ Theatermacher*innen aus Europa mit Kon-

haben. Der

Volker Spengler kurz vor seinem 81. Geburts-

zepten für ein Musiktheaterprojekt, das die

12. April.

Bewerbungsschluss

ist

der

tag. Geboren 1939 in Bremen, erzählt seine Karriere von einer Theaterepoche des Ex­

Zusammenarbeit mit den Opernhäusern in Bremen und Wuppertal einschließt, können

■ Die Berliner Senatsverwaltung für Kultur

periments. Bis 1961 studierte Spengler

sich bis zum 15. März 2020 für die Förder­

und Europa hat eine neue Projektförderung

am Max-Reinhardt-Seminar in Wien Schau-

initiative NOperas! bewerben. Die ausgewählte

im Bereich Diversitätsfonds und IMPACT-­

spiel. Danach begann eine Schauspieler­

Produktion wird am Theater Bremen erst­

Förderung eingerichtet, ausgestattet mit

karriere, die ihn mit allen richtungsweisenden

produziert und dann an der Oper Wuppertal

280 000 Euro. Ziel ist es, marginalisierte

Regisseur*innen der zweiten Hälfte des

weiterentwickelt und aufgeführt.

Positionen im Kulturbetrieb verstärkt in den

20. Jahrhunderts zusammenbrachte. Darun-

Fokus zu rücken. Bewerbungsschluss ist der

ter Pina Bausch, Einar Schleef, Heiner Mül-

11. März 2020.

ler, Frank Castorf, René Pollesch, Christoph

■ Junge Autor*innen können sich für das ­Forum Text in Graz bewerben. Das Workshop-

Schlingensief und Vegard Vinge. Einem brei-

und Mentoring-Angebot des Drama Forum der

■ Die Pill Mayer Stiftung schreibt zwei För-

teren Publikum wurde Spengler durch seine

Kulturinitiative uniT ist für die sieben ausge-

derpreise für Projekte aus, in deren Zentrum

zahlreichen Rollen in Filmen Rainer Werner

wählten Dramatiker*innen kostenfrei und bie-

der interkulturelle Dialog steht. Bewerbun-

Fassbinders bekannt. Ein ausführlicher Nach-

tet eine Möglichkeit, das eigene Schreiben

gen sind bis zum 1. Mai 2020 und 1. Mai

ruf folgt in der Aprilausgabe.

weiterzuentwickeln. Interessent*innen unter

2022 aus allen künstlerischen Sparten

vierzig Jahren können sich bis zum 2. April

möglich, unter anderem auch Theater und

2020 bewerben.

Tanz. Mit dem mit 1000 Euro dotierten Preis können bereits beendete Projekte

■ Der Kostümkollektiv e. V. fördert zweimal

und innovative Konzepte ausgezeichnet

im Jahr im Rahmen eines Fundus-Stipendiums

werden.

www.hellerau.org

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

04.03. – 07.03.2020 Watch Out! Festival für Jung und Alt

20./21.03.2020 FLAGS Paula Rosolen/Haptic Hide (DE)

14.03.2020 9. Lange Nacht der Dresdner Theater mit The Saxonz (DE)

27. – 29.03.2020 Hybrid Cutting Edge Canada Powered by MUTEK

Volker Spengler 2003 in „Forever Young“ (Regie Frank Castorf) an der Volksbühne in Berlin. Foto David Baltzer

TdZ on Tour

Kostümbildner*innen, die eine freie Produk-

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aktuell

/ TdZ März 2020  /

Premieren Aachen Theater M. Zade: Status Quo (S. Sobottka, 05.03.); F. Schiller: Die Jungfrau von Orléans (S. Klöfer, 07.03.); D. Foster Wallace: Kurze Interviews mit fiesen Männern (T. Krone, 13.03.); S. Sondheim: Sweeney Todd (J. A. Rechi, 29.03.) Altenburg Theater F. Zeller: Vater (J. Hasse, 27.03.) Baden-Baden Theater M. Delaporte/A. d. l. Patellière: Der Vorname (K. Hentschel, 13.03.) Bamberg E.T.A.-Hoffmann-Theater Ö. v. Horváth: Jugend ohne Gott (E. Jach, 06.03.); T. Köck: Paradies fluten/hungern/ spielen (C. Drexel, 14.03., DEA) Basel Theater T. Wilder: Unsere kleine Stadt (A. L. Sarks, 19.03.); A. Molinari: Hier ist noch alles möglich (C. Bossard, 28.03., UA) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater D. Ratthei: Greta (R. Hensel, 04.03.); Prěki – Durich – Loborka (M. Brankatschk, 20.03.) Berlin Berliner Ensemble E. Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde (F. Castorf, 28.03.) Chamäleon Theater Circus OZ: Le Coup (C. McGuffin, 12.03., DEA); Deutsches Theater F. Schmalz: jedermann (stirbt) (D. Tavadze, 01.03.); K. Serebrennikov/n. G. Boccaccio: Decamerone (K. Serebrennikov, 08.03.); A. Strindberg: Fräulein Julie (T. Kuljabin, 21.03.); T. Williams: Die Katze auf dem heißen Blechdach (J. Steckel, 27.03.) Heimat­ hafen Neukölln J. Brandt: Eine Wohnung in der Stadt. Ein Haus auf dem Land (N. Oder, 21.03.) Sophiensæle F. Holzinger: Tanz (F. Holzinger, 05.03., DEA); V. Stern: La Dernière Crise – Frauen am Rande der Komik (V. Stern, 20.03., UA) Theater an der Parkaue R. Weyrauch/M. Jordan: Als die Mauer fiel (R. Weyrauch, 15.03.) Volksbühne A. Eisenach: Der Kaiser von Kalifornien (A. Eisenach, 19.03., UA) Biel / Solothurn TOBS W. Shakespeare: Romeo und Julia (V. Schubert, 07.03.) Bielefeld Theater G. Hauptmann: Rose Bernd (A. Buddeberg, 14.03.); K. Kästner: Das Material (K. Kästner, 20.03., UA); Molière: Der eingebildete Kranke (C. Schlüter, 21.03.); E. Labiche: Die Affäre Rue de Lourcine (M. Heinzelmann, 26.03.) Bonn Kleines Theater Bad Godesberg J. Osborne: Blick zurück im Zorn (S. Krause, 04.03.) Theater I. Bergman: Szenen einer Ehe (J. Neumann, 27.03.) Bremerhaven Stadttheater A. McCarten: Superhero (F. Schütz, 27.03.); A. Petras/n. F. Akin: Aus dem Nichts (T. Egloff, 28.03.) Bruchsal Badische Landesbühne R. W. Fassbinder/F. Müller-Scherz: Welt am Draht (C. Ramm, 05.03.); P. Hoeg: Der Susan-Effekt (M. Mederlind, 07.03., UA); T. Brasch: Hexagon (A. Schilling, 12.03.);

März 2020

Für die

Burgfestspiele Mayen ab der Spielsaison 2022 ist die Stelle des

Intendanten/Künstlerischen Leiters zu besetzen.

Die Stadt Mayen ist ein Mittelzentrum im Landkreis Mayen-Koblenz mit 20.000 Einwohnern. Viele Märkte und Veranstaltungen sowie die jährlich stattfindenden Burgfestspiele sind Anziehungspunkt für Gäste und Touristen. Die Burgfestspiele Mayen werden seit 32 Jahren mit mindestens 3 eigeninszenierten Stücken als Freilichttheater im Burginnenhof der Genovevaburg Mayen sowie der Kleinen Bühne im Hof des Alten Arresthauses durchgeführt. Mehr als 30.000 Theaterbesucher finden jährlich den Weg zu den Burgfestspielen in die Stadt Mayen. Gesucht wird eine engagierte und kreative Persönlichkeit mit künstlerischen Erfahrungen im Theaterwesen sowie mit organisatorischen Fähigkeiten zur Übernahme der Intendanz/Künstlerischen Leitung der Burgfestspiele Mayen. Erwartet wird darüber hinaus ein Engagement bei städtischen Veranstaltungen, der Brauchtumspflege und Marketingmaßnahmen im Bereich Innenstadt und Umland, um eine über die Spielzeiten hinaus gehende nachhaltige Präsenz der Burgfestspiele zu erreichen. Neben dem Intendanten/Künstlerischen Leiter obliegt die Verantwortung für den kaufmännischen Bereich dem Verwaltungsleiter der Burgfestspiele. Die Vertragsdauer soll zunächst 3 Festspieljahre ab der Spielzeit 2022 betragen mit der Option auf Vertragsverlängerung. Im Rahmen des Frauenförderprogramms der rheinland-pfälzischen Landesregierung streben wie eine Erhöhung des Frauenanteils an und sind daher an Bewerbungen von Frauen besonders interessiert. Schwerbehinderte werden bei entsprechender Eignung bevorzugt eingestellt. Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen, Honorarvorstellungen, Referenzen der bisher ausgeübten Tätigkeiten sowie konzeptionellen Vorstellungen werden bis zum 19. April 2020 erbeten an Stadtverwaltung Mayen, Fachbereich 1, Burgfestspiele, Postfach 1953, 56727 Mayen.

Starter: Was geht mich die Welt an (J.

Theater Junge Generation n. R. Reid/J.

Gundersdorff, 21.03.); S. Berg: In den

Fischer/M. Köhler: Movie Star (M. Köhler,

Gärten oder Lysistrata Teil 2 (C. Tschary-

07.03., UA)

iski, 29.03., DEA)

Esslingen Württembergische Landesbüh-

Celle Schlosstheater A. Miller: Ein Blick von der Brücke (M. Kindervater, 27.03.) Chemnitz Theater J. W. v. Goethe: Die Leiden des jungen Werther (J. Kerbel, 20.03.); J. Schwarz: Der Drache (H. Weber, 21.03.) Coburg Landestheater n. M. Rukov/n. T. Vinterberg: Das Fest (M. Straub, 28.03.) Darmstadt Staatstheater A. Tschechow: Drei Schwestern (K. Plötner, 27.03.); A. Lepper: Seymour (M. Rippert, 29.03.) Dinslaken Burghofbühne E.T.A. Hoff­ mann/M. Schombert: Der Sandmann (M. Schombert, 06.03., UA) Dortmund Theater A. Beck/T. Bihegue: Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle (T. Bihegue/A. Beck, 07.03., UA); Theaterpartisanen: Voll normal und einzigartig (S. Jasinszczak, 14.03.); E. Ionesco: Delirium zu zweit auf unbestimmte Zeit (P. Magelli, 28.03.) Dresden Staatsschauspiel G. F. Walker: Suburban Motel (P. Lux, 20.03.); W. Shakespeare: Macbeth (C. Friedel, 21.03.)

ne Sophokles: Antigone (A. Müller-Elmau, 20.03.); B. Cappagli: Gefühlsstrudel (B. Cappagli, 29.03., UA)

Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Lou Reed in Offenbach (O. Augst, 13.03., UA); Die Kollektion (Mobile Albania, 20.03., UA); Till It’s Over (SKaGeN/R. Jackson, 25.03., DEA) Schauspiel J. Steinbeck: Früchte des Zorns (R. Vontobel, 27.03.) jugend-kultur-kirche Sankt Peter J. Zeh: Good Morning, Boys and Girls (J. Dittgen, 04.03.) Theater Willy Praml E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (M. Weber, 20.03.)

Freiberg Mittelsächsisches Theater L. Hübner/S. Nemitz: Furor (E. Undisz, 07.03.); N. Poiret/S. Blanc: Zwei Lügen, eine Wahrheit (K. Fischer, 14.03., DEA) Freiburg Theater n. W. Shakespeare/J. Czapliński/E. Marciniak: Der Widerspenstigen Zähmung (E. Marciniak, 13.03., UA); M. Grau: Die Nacht, als Lu vom Himmel fiel (M. Grau, 22.03.); D. Lauke: Nur das Beste (B. Kabuth, 27.03., UA)

Göttingen Deutsches Theater A. Abbasi/P. Löhle: Bombe! (P. Löhle, 13.03., UA); n. L. Visconti: Gewalt und Leidenschaft (J. Weiss, 28.03.)

Graz Schauspielhaus W. Shakespeare: Macbeth (S. Rottkamp, 27.03.)

Greifswald Theater Vorpommern D. Kubju­ weit/S. Löschner: Angst – Der Feind in meinem Haus (S. Löschner, 19.03.); H. Ibsen: Nora (R. Göber, 28.03.) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater D. Mamet: Oleanna (R. Vogtenhuber, 14.03.) Halle Thalia Theater M. Riml: Der Junge auf dem Baum (D. Rahnefeld, 11.03.) Hamburg Lichthof Theater n. A. Veiel: Unser.Himbeer.Reich (S. Rudolph/C. Pfei­ fer, 12.03.) Schauspielhaus N. AbdelMaksoud: Café Populaire (S. Kreyer, 13.03.); Studio Braun: Coolhaze (Studio Braun, 14.03.); Finn-Ole Heinrich u. Dita Zipfel: 3 heben ab (C. Sachs, 15.03., UA) Thalia Theater n. F. Schiller: Ode an die Freiheit (A. Romero Nunes, 28.03.) Hannover Schauspiel Petschinka/R. San­ chez: Mohamed Achour erzählt Casa­ blanca (R. Sanchez, 06.03.); F. Hebbel: Judith (L. Rupprecht, 20.03.); n. L. Strömquist: Der Ursprung der Welt (F. Autzen, 22.03.) Heilbronn Theater Y. Reza: Bella Figura (F. Braband, 07.03.); A. Frane/S.­ Huber/ K. Tietje: Born to be wild? (S. Huber, 14.03., UA); J. Raschke: Was ­ das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (K. Brankatschk, 22.03.) Hildesheim Theater für Niedersachsen R. Keiser: Der hochmütige, gestürzte und wieder erhabene Croesus (S. T’Hooft, 14.03.); D. Kelly: Waisen (J. Gade, 28.03.) Ingolstadt Stadttheater F. Melquiot: Die Zertrennlichen (Les Séparables) (J. Kracht, 01.03.); A. Tschechow: Drei Schwestern (C. Mehler, 27.03.); D. Kehlmann: Tyll (A. Nerlich, 28.03.) Innsbruck Tiroler Landestheater W. Moua­ wad: Vögel (S. Weber, 01.03.); E. Jelinek: Am Königsweg (E. Hartmann, 06.03.) Jena Theaterhaus K. Lenhart: Jellyland – Institut für zukünftige Gegenwart (K. Lenhart, 20.03.) Kassel Staatstheater O. Sylvestre: Das Gesetz der Schwerkraft (M. v. Boxen, 07.03.); n. F. u. Attar/F. Richter: Welcome to Paradise Lost (G. Rueb, 19.03., UA); Euripides: Medea (J. Wehner, 20.03.) Kiel Theater L. Penny: Everything belongs to the future (A. Pullen, 01.03.); S. Perel/J. Ender: Hitlerjunge Salomon (J. Ender, 21.03.) Klagenfurt Stadttheater H. Schober/n. Homer: Odysseus am Sand (H. Schober, 24.03.)


aktuell

/ TdZ  März 2020  /

Köln Schauspiel L. Engler: Das unmögliche Theater, Teil 3: Der Mörtel der Nation (C. Grönniger, 13.03., UA); H. Ibsen: Nora (R. Borgmann, 27.03.); M. Nielsen: Der endlose Sommer (L. Bihler, 28.03., UA)

Konstanz Theater I. Silone: Wein und Brot (O. Vorwerk, 13.03., UA) Krefeld Theater n. W. Herrndorf/R. Koall: Tschick (M. Delinic, 04.03.); I. Bergmann: Szenen einer Ehe (M. Gehrt, 06.03.); J. Lorenzen/M. Ophelders: Ol´ Blue Eyes (T. Goritzki, 12.03.); A. Dvorak: Rusalka (A. Weigner, 15.03.) Landshut Landestheater Niederbayern E. Jelinek: Am Königsweg (P. Oberdorf, 06.03.) Leipzig Cammerspiele D. Wagner/M. Graf: Die sieben Todsünden (D. Wagner, 27.03.) Schauspiel E. L. Karhu: Eriopis – Medeas überlebende Tochter erzählt alles (A. Mahler, 06.03., UA); n. M. Bulgakow: Meister und Margarita (C. Bauer, 07.03.); L. Talamonti: Soulmachine – das selbstlernende Robotaxi (L. Talamonti, 11.03.); L. Majdalanie/R. Mroué: Last but not last (R. Mroué/L. Majdalanie, 20.03.); Euripides: Medea (M. Bothe, 28.03.) Theatrium F. Köpp/J. Kern: Back to the Future (F. Köpp/J. Kern, 06.03., UA); F. Schiller: Kabale und Liebe (C. Burger, 27.03.) Linz Landestheater F. Molnár: Liliom (P. Wittenberg, 13.03.) Lübeck Theater L. L. Oppermann: Was wir dachten, was wir taten (K. Winkmann, 04.03.) Magdeburg Puppentheater H. Hawemann: Die Katze, die tut, was sie will (A. Scheibler, 22.03.) Mainz Staatstheater H. Biedermann: Wer werden (H. Biedermann, 03.03., UA); H. Böll/S. Hogarth: Fish Forward (A. Dalferth, 25.03., UA) Marburg Hessisches Landestheater n. T. Melle: Die Welt im Rücken (E. Lange, 14.03.) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr L. Vekemans: Judas (M. Schlappig, 20.03.) München dasvinzenz F. X. Kroetz: Münchner Kindl (C. Maschner/S. Gross, 24.03.) Metropol Theater S. Kutschke: Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden (J. Schölch, 08.03.) Kammerspiele Étude for an Emergency (F.

­tribühne e. V. M. Karge: Jacke wie Hose (R. Arnold, 25.03.)

MASTERSTUDIUM

APPLIED THEATRE künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft

Tübingen Landestheater W. Shakespeare: Hamlet (F. Brunner, 27.03.)

Wasserburg Theater F. Bruckner: Krankheit der Jugend (S. Hecker, 20.03.)

Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle A. Akhtar/S. Massini: Junk / 7 Minuten (M. V. Linke, 31.03.)

Weitere Informationen unter http://schauspiel.moz.ac.at

Wien brut I. H. Hákonardóttir: Again the Sunset (07.03., ÖEA); L. Passage/I. B. Myhre: Panflutes and Paperwork (07.03.,

Bewerbungen bis 30. März 2020

ÖEA); M. Fankha: Oxy Moron – A Cyborg Utopia (09.03., ÖEA); L. Lukkarila: Nyxxx (13.03., UA); A. O‘Gorman: the way of ink ••º• (19.03.); I. Gappmaier: protect. There is no wind in geometrical worlds (26.03., UA); C. Lomoschitz: Soft Skills

Holzinger, 01.03.) Residenztheater F. X.

ler: Der Fiskus (K. Mayr, 21.03.); F. Dür-

(26.03., UA); A. F. Zehetbauer: We come

Kroetz: Der Drang (L. Steier, 12.03.); K.

renmatt: Der Besuch der alten Dame (N.

bearing gifts (28.03.) Burgtheater n. L.

Hamsun: Spiel des Lebens (S. Kimmig,

Bussenius, 28.03.)

Fuks: Der Leichenverbrenner (N. Habjan,

20.03.); T. Kushner: Engel in Amerika (S.

Reutlingen Theater Die Tonne H. Kondschak: Keine Macht für niemand (H. Kondschak, 27.03.) Rostock Volkstheater F. Schiller: Die Räuber (D. Pfluger, 07.03.); D. Mamet: Oleanna – Ein Machtspiel (J. Strauch, 14.03.) Rudolstadt Theater B. Brecht: Die Dreigroschenoper (M. Holetzeck, 28.03.) Saarbrücken Überzwerg - Theater am Kästnerplatz F. Melquiot: Die Zertrennlichen (L. Divanovic, 01.03.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen G. Bitton/M. Munz: Meine Braut, sein Vater und ich (U. Koschel, 13.03.); W. Jens/. Sophokles: Antigone (J. Steinberg, 20.03.) Schwerin Mecklenburgisches Staats­ theater G. Hauptmann: Rose Bernd (A. Müther, 07.03.) St. Gallen Theater T. Fransz/n. W. Shakes­ peare: Träume einer Sommernacht (T. Fransz, 07.03., UA) Stralsund Theater Vorpommern J. M. Jakobsen: Das Abendland (D. Löschner, 21.03., DEA) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komö-­ die im Marquardt W. Goldman/n. S. King: Misery (E. Hosemann, 13.03.); T. v. Blom­ berg/C. Gerlitz/K. Wolff: Himmlische Zeiten – Altwerden ist nichts für Feiglinge (K. Wolff, 14.03., UA) Schauspiel D. Pešut/S. Spahić: The Clickworker (S. Spahić, 07.03., UA); E. Jelinek: Rechnitz (Der Wür­ geengel) (J. Wieler, 28.03.) Theater

13.03., UA); R. Schimmelpfennig/n. H. C.

Stone, 27.03.)

Münster Wolfgang Borchert Theater N. Gogol: Der Revisor (M. Zanger, 05.03.) Neuss Rheinisches Landestheater J. Ford: Schade, dass sie eine Hure war (K. Mädler, 07.03.) Nürnberg Staatstheater Prinzip Gonzo: No work and all play (Prinzip Gonzo, 05.03.); A. Henrich: Halt mich auf / Ustavi me (E. N. Lampič, 12.03., UA); H. v. Kleist: Amphitryon (A. Lenk, 21.03.) Oldenburg Staatstheater J. W. v. Goethe: Faust. Eine Tragödie. (R. Gerloff, 07.03.) Osnabrück Theater L. Hübner/S. Nemitz: Willkommen (E. Finkel, 14.03.); E. M. Remarque: Die Nacht von Lissabon (D. Schnizer, 15.03.) Paderborn Theater L. Hübner/S. Nemitz: Furor (H. Holstein, 20.03.); W. Shakespeare: Was ihr wollt (K. Kreuzhage, 28.03.) Passau Landestheater Niederbayern J. v. Düffel/n. S. Verhoeven: Willkommen bei den Hartmanns (M. Bartl, 21.03.) Potsdam Hans Otto Theater P. Löhle: Die Mitwisser (M. Becker, 13.03.); H. Ibsen: Die Stützen der Gesellschaft (S. Hawemann, 20.03.) Regensburg Theater W. Shakespeare: Richard III. (G. Schmiedleitner, 28.03.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ des­theater und Sinfonieorchester F. Zel-

5./ 6./ 7. 3. 20 20 , 20 Uhr 8. 3. 20 20 , 19 Uhr

28./ 30./ 3 1. 3. 20 20 , 20 Uhr 29. 3. 20 20 , 1 9 Uhr

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Eine Performance von Magda Korsinsky

Eine Tanzperformance von Magda Korsinsky www.ballhausnaunynstrasse.de

Andersen: Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin (M. Constantine, 22.03., ÖEA)

Wiesbaden Hessisches Staatstheater M. Gorki: Wassa Schelesnowa (E. Titov, 07.03.); K. Lange: König Midas – ich! Oder: Wie werde ich klug? (R. Fiedler, 15.03.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersach­ sen Nord F. Schiller: Die Jungfrau von Orleans (F. Brunner, 07.03.); L. Trolle: ­ Hermes in der Stadt (S. Bunge, 21.03.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater n. M. Schäuble: Endland (P. Hachtel, 14.03.) Zürich Schauspielhaus G. Büchner: Leonce & Lena (L. Böhm, 12.03.); D. ­ Roth: Das Weinen (Das Wähnen) (C. Marthaler, 14.03.); L. Haug/n. F. Wedekind: Frühlings Erwachen (S. Gürler, 27.03.) Theater Kanton W. Allen: Central Park West (R. Burbach, 26.03.) FESTIVAL Marburg Hessisches Landestheater KUSS Theater sehen! Theater spielen! (22.03.– 28.03.) Wien brut imagetanz 2020 (07.03.–28.03.)

TdZ ONLINE EXTRA Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www www.theaterderzeit.de

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tdz on tour

/ TdZ März 2020  /

Am 17. Januar wurde der Jubiläumsband „fünfzig. Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020“ im Foyer des Düsseldorfer Schauspielhauses vorgestellt. Das vom Architekten Bernhard Pfau entworfene Gebäude ist einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der siebziger Jahre. Nach

(V.l.n.r.) Theaterkritiker Martin Krumbholz, Intendant Wilfried Schulz, Schauspielerin Manuela Alphons, Dramaturgin Felicitas Zürcher und TdZ-Verlagsleiter Harald Müller bei der Buchpremiere. Foto TdZ

einer umfassenden Sanierung und der vollständigen Wiederinbetriebnahme erstrahlt das Haus zum Jubiläum erneut in vollem Glanz. Aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens erschien bei Theater der Zeit eine umfangreiche Publikation über die Geschichte des Theaters, unter anderem mit Beiträgen des Autors und Architekturkritikers Till Briegleb, des Theaterkritikers Martin Krumbholz, des Schauspielers Wolfgang Reinbacher und vieler anderer Persönlichkeiten, die dem Haus verbunden sind. Während der Buchpremiere wurde der von vielen Fotografien durchsetzte Band von den Herausgebern, der ­Dramaturgin Felicitas Zürcher und dem Intendanten des Schauspielhauses Wilfried Schulz, wie auch von dem Journalisten Martin Krumbholz, der Schauspielerin Manuela Alphons und

(V.l.n.r.) Harald Müller, Felicitas Zürcher, Manuela Alphons und Martin Krumbholz im Foyer des Düsseldorfer Schauspielhauses. Foto TdZ

Das Februar-Heft von Theater der Zeit hatte sich den Themenschwerpunkt „Theater im Anthropozän“ gesetzt. Den Titel entlehnte es einem von der Naturwissenschaftlerin Antje Boetius und dem ­ Dramaturgen Frank Raddatz neu gegründeten Theater, das unter der Schirmherrschaft der ­ ­Humboldt-Universität zu Berlin ab dem Frühjahr 2020 mit Kulturlaboren, Inszenierungen, in transdisziplinären Initiativen und Diskursen zu einer global vernetzten Plattform entwickelt werden soll. Frank Raddatz hat für dieses ambitionierte Theaterkonzept 13 Thesen verfasst, abgedruckt in ­der Februar-Ausgabe, ergänzt durch ein Gespräch mit Antje Boetius und thema­ tische Beiträge, die Theater, Klimawandel und Raubbau an der Natur ins Verhältnis ­setzen. Zum Launch des Hefts am 12. Februar in der Buchhandlung Einar & Bert begaben sich Antje Boetius und Frank Raddatz ins ­Gespräch mit TdZ-Chefredakteurin Dorte Lena Eilers und diskutierten ihre Visionen von einem Kurzschluss zwischen Kunst und Wissenschaft.

TdZ-Verlagsleiter Harald Müller feierlich präsentiert.

Naturwissenschaftlerin Antje Boetius Foto Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath (CC-BY 4.0)


impressum/vorschau

/ TdZ  März 2020  /

Nuran David Calis, Autor und Regisseur, München Friedrich Dieckmann, Schriftsteller, Essayist und Kritiker, Berlin Felix Ensslin, Philosoph und Autor, Köln Theresa Luise Gindlstrasser, freie Autorin, Wien Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Brigitte Korn-Wimmer, Autorin und Verlegerin, München Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Johanna Lemke, Theaterredakteurin, Dresden Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Reingart Sauppe, Moderatorin, Redakteurin und Autorin, Saarbrücken Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Slavoj Žižek, Philosoph, Ljubljana

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik

Debatte Der Diskurs darüber, wie sich Fragen von Identitätspoli­ tik, Rassismus, Sexismus oder kultureller Aneignung jenseits mo­ ralischer Verbote, Quoten und einer Einschränkung künstleri­ scher Ausdrucksweisen im Theater verhandeln ließen, bestimmt zur Zeit die Debatten und künstlerischen Strategien auf und hin­ ter den Bühnen. Entlang der Konfliktlinien, die auch die künstle­ rische Freiheit betreffen, formieren sich Fronten. Mit seinem Es­ say „Unter dem Shitstorm der Strand. Ein Versuch über Öffentlichkeit, Moral und Kunst“ umreißt Jakob Hayner die we­ sentlichen Fragen, die an das Theater herangetragen werden.

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Lara Wenzel (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 3, März 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.02.2020 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Ausland Unter dem Begriff „Unabhängigkeitskampf“ firmieren derzeit die unterschiedlichsten politischen Bewegungen. Auch der Brexit Großbritanniens verstand sich als solcher. Die Künstler­ gruppe Costa Compagnie untersucht in einer zweijährigen Serie unter dem Titel „Fight (for) Independence“ die Ambivalenzen, die dieser und anderen Unabhängigkeitsbewegungen innewohnen. Der dritte und letzte Teil „Independence for You“, der im Mai beim flausen+Banden!-Festival am Oldenburgischen Staats­theater Premiere hat, folgt der Schauspielerin Helen Wendt nach Mosam­ bik, zu ihrer Familie väterlicherseits und setzt sich dort mit dem Befreiungskampf des Landes auseinander sowie mit der Frage, ob es für das Individuum eine Unabhängigkeit von weißen Iden­ titätspolitiken geben kann. In der kommenden Ausgabe von ­Theater der Zeit berichtet die Costa Compagnie in ­einem Reise­ tagebuch von ihren Recherchen. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. April 2020.

Demonstrationszug ehemaliger mosambikanischer Vertragsarbeiter in der DDR („Madgermanes“) durch Maputo. Foto Philine von Düszeln / Costa Compagnie

Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden

„Ode“ von Thomas Melle, uraufgeführt am Deutschen Theater in Berlin. Foto Marcus Lieberenz

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN März 2020

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/03

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Was macht das Theater, Peter Luppa? Herr Luppa, Sie sind vermutlich der dienst­

Haben Sie sich mit der Geschichte der Klein-

älteste kleinwüchsige Schauspieler im deut-

wüchsigen im Theater beschäftigt? Lange spiel-

schen Stadttheater. Wie kamen Sie zur Bühne?

ten die ja nur im Zirkus oder den amerikani-

Ich war Zahntechniker und dachte mir, es

schen Freakshows eine Rolle.

gibt einen höheren Grund, warum ich als

Vorher waren sie auch als Hofnarren sehr ge-

kleiner Mann auf die Welt kam. Petrus hätte

fragt.

mir eine Aufgabe gegeben, die ich aber erst finden müsse. Als Kind hatte ich mir vorge-

In den 1970er Jahren gab es Regisseure wie

stellt, dass Gott die Kinder zusammenbaut,

Jérôme Savary und seine Truppe Le Grand M ­ agic

aber auch manchmal gern feiert – sodass

Circus, wo Kleinwüchsige statt im Zirkus nun im

auch mal was schiefgeht, ein Arm zu wenig

Theater auftraten.

oder wie bei mir das Ganze zu kurz. Was ma-

Savary war eine wichtige Inspiration für mich,

che ich damit? Umtauschen geht ja nicht,

und ich überlegte sogar, ob ich nicht zu ihm

und der Kopf beschäftigt sich damit, was

nach Paris gehen sollte. Denn was die Klein-

mit dem Körper darunter ist. Ich begriff,

wüchsigen bei ihm machten, war ja etwas

dass ich diese Situation zur Einheit bringen

anderes als bei uns im Zirkus, wo den Lilipu-

musste. Auch wurde mir klar, dass ich mich

taner-Clowns immer noch derbe Streiche mit

in dem Zahnlabor vor der Gesellschaft ver-

Wasser übern Kopf und Mehl ins Gesicht ge-

steckte und nur so tat, als wäre alles normal.

spielt wurden.

In einer Zeitschrift aus dem Wartezimmer las ich über einen kleinwüchsigen Mann, der im Theater gelandet war. Das war für mich wie ein Signal. Ich schrieb ihm, aber er antwortete nicht, vielleicht weil er in mir einen möglichen Konkurrenten sah, denn seine Geschichte war ja so einmalig damals. Ich bewarb mich bei Agenturen, dann auch bei den staatlichen Schauspielschulen. Die Antwort war fast immer gleich: Herr Luppa, bleiben Sie bei Ihrem Beruf. Ein Kleinwüchsiger würde nicht in das Konzept der Ausbildung passen. Sie waren dann aber doch ohne Schauspielschule im richtigen Moment zur Stelle. Eine Münchner Künstleragentur hatte Bilder von mir, und Franz Xaver Kroetz suchte einen Kleinwüchsigen für seine Uraufführung von „Der Nusser“ am Residenztheater. In dem

Diversität und Inklusion werden an deutschen Bühnen heute hoch gehandelt – vor allem bei der Zusammenstellung von Ensembles oder bei der Besetzung von Stücken. Wie sieht das bei Menschen mit körperlicher Behinderung aus? Freie Theater wie RambaZamba oder das Thea­ ­ter Thikwa haben seit 1990 programmatisch behinderte und nicht­ behinderte Schauspieler gemeinsam auf die Bühne gebracht. Peter Luppa ist seit zwanzig Jahren Schauspieler am Berliner E ­ nsemble, und er ist kleinwüchsig. ­Seine Karriere im deutschen Theater ist durchaus einzig­ artig. Gemeinsam mit Klaus Pohl ent­ wickelte er nun den Solo-Abend „Auch Zwerge haben klein angefangen“, den man am 19. März wieder im Berliner Ensemble sehen kann. Foto Katharina ­Poblotzki

Haben Sie manchmal Diskriminierung, etwa nur durch Blicke, erfahren? Dass jemand Sie nicht als Schauspieler, sondern als eine ins Theater gesetzte Zirkusfigur sah? Nie. Zunächst mal gab es die Anerkennung der Kollegen, auch von denen hinter der Bühne. Zuschauer haben mich nicht abgelehnt, oft gratuliert. Was denken Sie über das gerade viel diskutierte Thema Diversität im Theater? Speziell geht es um die Bewertung körperlicher Behinderung, und da müsste man von ganz unten anfangen. Bei den Schauspielschulen. Die müssten sich öffnen für Leute, die im Rollstuhl sitzen oder nur einen Arm haben, aber Lust darauf, auf die Bühne zu gehen, und dafür eine Chance nach Anlage ihres Talents bekommen sollten. So weit sind

Stück nach Ernst Tollers „Hinkemann“ ging

die Schulen noch nicht, auch wenn es schon

es um einen Soldaten, dem im Krieg die Eier

einzelne Beispiele dafür gibt, dass Klein-

weggeschossen wurden. Dieser geschlechts-

wüchsige in Bewerbungsverfahren weit nach

lose Mann, den Sepp Bierbichler spielte, trifft

achtete, dass ich die anderen Schauspieler

vorn kamen. Aber das ist wenig bekannt, was

auf ein Zwergerl, der ihm sagt: Du hast eine

kopierte: Peter, du kriegst das hin! So fing

auch zu dem Problem gehört.

Behinderung, aber man kann damit trotzdem

alles an. Ihr autobiografischer Abend, den Sie nun am

weiterleben. Steh dazu! Ich sagte zu Kroetz: Damit kann ich etwas anfangen, das ist mein

Immerhin der Beginn von mittlerweile 35 Jahren

Berliner Ensemble herausgebracht haben, ent-

Thema. Steh dazu! Genau so lebe ich mein

als Schauspieler. Unterscheidet sich denn diese

lehnt den Titel einem Film Werner Herzogs, in

Leben. Kroetz war etwas skeptisch, denn ich

Laufbahn von anderen Schauspielerkarrieren?

dem Kleinwüchsige eine anarchistische Revolu-

hatte ja keine Ausbildung und keinerlei Er-

„Der Nusser“ wurde nach Bochum übernom-

tion vorführen.

fahrung. Er meinte, klein sein reicht nicht. In

men, aber 15 Jahre hab ich erst mal nur gas-

Die machen nichts, was die Großen nicht

zwei Wochen Proben würde er herausfinden,

tiert. Das Angebot lautete immer: Wir suchen

auch machen wollen. Und nicht hinkriegen. //

ob ich auch spielen kann. Und er wollte unbe-

für die und die Rolle einen kleinwüchsigen

dingt wissen, ob ich mir etwas antun würde,

Mann. Ich wusste, ich bin deshalb am Thea-

wenn er mich wegschicken muss. Er beob-

ter etwas Besonderes.

Die Fragen stellte Thomas Irmer.


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Fotos: o. links, u. rechts Viviane Wild, o. rechts, u. links Holger Herschel

Einar & Bert Theaterbuchhandlung & Café Winsstraße 72 / Heinrich-Roller-Str. 21 D-10405 Berlin Mo – Fr 11.00 – 18.00 Uhr Sa 12.00 – 18.00 Uhr Tram 02 – Metzer Straße (250 m) Tram 04 – Am Friedrichshain (250 m) S+U Alexanderplatz (1,3 km)

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