Theater der Zeit 04/2019

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Gespräch: Claus Leggewie und Marc Jongen / Schreiben gegen rechts: Thomas Köck, Elfriede Jelinek, Kathrin Röggla / Kolumne Josef Bierbichler / Kunstinsert: Katrin Brack / Lars von Trier über Bruno Ganz

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

April 2019 • Heft Nr. 4

Umkämpfte Vielfalt Das Theater und die AfD


27/04 – 05/05 CAFÉ POPULAIRE UA Regie: Nora Abdel-Maksoud DURÉE D‘EXPOSITION UA Regie: Camille Dagen MEDUSA BIONIC RISE UA Künstlerische Leitung: THE AGENCY ANGSTPIECE UA Regie: Anta Helena Recke DIE HAUPTSTADT ÖE Regie: Lucia Bihler [50/50] OLD SCHOOL ANIMATION UA Regie: Peter Mills Weiss und Julia Mounsey YUNG FAUST Regie: Leonie Böhm DRITTE REPUBLIK UA Regie: Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck AMSTERDAM DSE Regie: Sapir Heller REVOLT. SHE SAID. REVOLT AGAIN. DSE MAR-A-LAGO UA Regie: Christina Tscharyiski

OPERATION KAMEN UA Regie: Florian Fischer DER MIETER Regie: Blanka Rádóczy UM DIE WETTE Regie: Philipp Moschitz

RADIKAL

JUNG

DAS FESTIVAL FUR JUNGE REGIE ..

WHITE [ARIANE] UA Regie: ARIAH LESTER

www.muenchner-volkstheater.de


editorial

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Extra Der Aboauflage liegt bei Double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater

ie Freiheit der Kunst ist ein Gradmesser gesellschaftlicher und demokratischer Freiheit. Die Länder bekennen sich dazu, diese Freiheiten zu schützen und zu einem Maßstab ihrer Kulturpolitik zu machen.“ Mit dieser Erklärung setzte Mitte März die neu gegründete Kulturministerkonferenz in Deutschland ein deutliches Zeichen gegen rechts. Denn spätestens seit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag wird die Freiheit der Kunst öffentlich infrage gestellt. Parlamentarische Anfragen, Forderungen nach Subventionskürzungen und Strafanzeigen vonseiten der AfD in den Landesund Kommunalparlamenten nehmen zu. Ihr Vorwurf: die angebliche Dominanz linker Positionen in der Kulturszene. Besonders in Fragen der Migrationspolitik würden, laut AfD, Künstler als Sprachrohr der Regierung auftreten, finanziert durch Subventionen und staatliche Förderprogramme. Dieser Aussage setzen die Kulturminister ihre Erklärung entgegen: „Nach übereinstimmender Auffassung der Kulturministerkonferenz besteht kein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot staatlich finanzierter Einrichtungen, wenn die Verteidigung verfassungsrechtlicher Grundfreiheiten Gegenstand der Aktivitäten ist. Kultureinrichtungen ist die Möglichkeit zu sichern, sich zu gesellschaftlichen oder politischen Problemlagen zu äußern und auch kritisch Stellung zu beziehen. Dies ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes gedeckt.“ Trotz solcher Statements, die Initiativen wie Die Vielen mit ihren bundesweiten Glänzenden Demos flankieren, muss und wird die Arbeit an der Aufrechterhaltung zivilgesellschaftlicher Frei­ räume im Kleinen, in den Städten und Kommunen, stattfinden. Anja Nioduschewski zeichnet in ­ihrem Einführungstext für unseren Schwerpunkt „Umkämpfte Vielfalt“ eine Landkarte der Konflikte ­zwischen Theatern und AfD und beschreibt Strategien des Umgangs damit. Denn sicher ist: In Bundesländern wie etwa Sachsen ist eine CDU-AfD-Koalition nach den kommenden Landtagswahlen im September nicht mehr auszuschließen. Michael Bartsch war für uns in Dresden unterwegs, um die Konfliktlinien zwischen AfD-Landtagsfraktion und Theatern abzuschreiten. Sein ernüchterndes ­Fazit: Der Kampf um die Kultur in Sachsen ist in vollem Gange. Trotz der aufgeheizten Stimmung sollte die scharfe Analyse der Situation und ihrer Akteure indes nicht aufgegeben werden. Was steckt hinter dem Kulturkonzept der AfD? Hat sie eines? Was wäre im Falle eines von der AfD besetzten Kulturministeriums auf Länderebene zu erwarten? Der renommierte Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der mit seinem 1993 erschienenen Buch „Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“ Maßstäbe in der Diskussion um ein pluralistisches Miteinander setzte, hat für unseren Schwerpunkt den Kulturpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion Marc Jongen zum Streit­ gespräch gebeten. Was genau stört die AfD an den Spielplänen der Theater? Was konkret steckt hinter der Aussage, Förderkriterien grundlegend hinterfragen zu wollen? Zwei von vielen Fragen, die ­Leggewie beantwortet wissen wollte – jenseits von Parolen und Sprachverdrehungen. An Letzterem arbeitet sich auch das Autor*innenkollektiv Nazis & Goldmund ab. 2016 von Jörg Albrecht, Thomas Arzt, ­ Sandra Gugić, Thomas Köck und Gerhild Steinbuch gegründet, betreibt es Kritik und­ Widerstand mit poetischen Mitteln. Anja Nioduschewski hat mit Thomas Köck über diese Arbeit an der Sprache gesprochen. Zudem veröffentlichen wir als Stückabdruck Texte von ihm, Elfriede Jelinek und Kathrin Röggla, die im Rahmen der Diskursreihe „Die Zukunft des Widerstands“ von Nazis & Goldmund entstanden sind. Das Theater Ulm unter seinem neuen Intendanten Kay Metzger hat die „Erklärung der Vielen“, der sich deutschlandweit viele Kulturinstitutionen angeschlossen haben, nicht unterzeichnet. Stattdessen hat das Haus eine eigene Stellungnahme gegen jede Form der Ideologisierung abgegeben, die Metzger, so berichtet es Sabine Leucht, differenzierter findet. Künstlerisch ist das Theater mit einem Mix aus globalen und lokalen Themen, darunter eine Uli-Hoeneß-Wurstiade, erfolgreich gestartet. Ebenfalls viel Gutes hat Elisabeth Maier aus dem Zimmertheater Tübingen zu berichten, das sich unter den neuen Intendanten Dieter und Peer Ripberger zu einem Institut für theatrale Zukunftsforschung verwandeln soll. Schauspieler-Avatare treffen auf Marx’ Klassenkampf-Theorie auf einer Reise in die digitale Zukunft. Einen prominenten Abschied bereitet in diesem Heft Filmregisseur Lars von Trier dem Schauspieler Bruno Ganz, der im März mit 77 Jahren in Zürich verstorben ist. „The House that Jack Built“ heißt von Triers jüngster Film, in dem Ganz den Serienkiller Jack als Anti-Engel in die Hölle geleitet. Als Schauspieler, schreibt Gunnar Decker in seinem Nachruf, sei Bruno Ganz immer beides ge­ wesen, halb Engel, halb Teufel. „Die Irritation“, die sein Spiel auslöste, „tragen wir mit uns.“ // Die Redaktion

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Inhalt April 2019 thema umkämpfte vielfalt

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Anja Nioduschewski Kulturkampf oder alles nur Theater? Wie die AfD mit ihrer Kulturpolitik die Theater attackiert – und glänzendem Protest begegnet

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Bitte konkret! Ein Streitgespräch zwischen dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Marc Jongen, dem kulturpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion

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Michael Bartsch Auf Kollisionskurs Die Konfliktlinien zwischen Theatern und der AfD in Sachsen

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Fiesta Antifa Der Dramatiker Thomas Köck über die mit vier Kollegen gegründete Autor*inneninitiative Nazis & Goldmund im Gespräch mit Anja Nioduschewski

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Die Kunst des Widerstands: Thomas Köck blühende landschaften – wir werden sie jagen! Elfriede Jelinek Worte schweigen, flüstern Geigen Kathrin Röggla Unschärfe Stellung

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stück

künstlerinsert

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Bühnen von Katrin Brack

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Die Bühne spricht Katrin Brack über Pollesch, Hitchcock und das Eigenleben ihrer Bühnen. Ein Gespräch anlässlich der Verleihung des Hein-Heckroth-Preises mit Dorte Lena Eilers

kolumne

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Josef Bierbichler Die Erniedrigten und Beleidigten Über das aggressive Wirtschaften der Reichen und Reichsten

kommentar

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Dorte Lena Eilers Auf die Straße, Intendanten! Der Gesellschaftsvertrag der TOOH muss verändert werden, um statt destruktiver Strategiespiele eine funktionierende Leitungsstruktur in Halle zu ermöglichen

protagonisten

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Gunnar Decker Zwischen Himmel und Hölle Zum Tode des großen Schauspielers Bruno Ganz

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From Lars von Trier Bruno Ganz

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Bodo Blitz Sender und Empfänger Sehnsucht nach der großen Narration. Das Theater Freiburg peilt mit Intendant Peter Carp ehrgeizige Ziele an

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Das Entdeckerhaus Der Freiburger Intendant Peter Carp im Gespräch mit Bodo Blitz

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Jakob Hayner Bildkorrektur Christoph Hein wird 75 Jahre alt – und schließt in seinem jüngsten Buch die Wirklichkeit eines geteilten Landes auf

Foto Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

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inhalt

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protagonisten

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Sabine Leucht Wir und die Stadt Der neue Intendant Kay Metzger erobert Ulm mit einem Mix aus lokalen und globalen Themen – und einem Schauspielensemble, das Spaß macht

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Elisabeth Maier Mit Marx und Siri im Bälleparadies Innovative Kunst im Digitalzeitalter – Unter der neuen Intendanz von Dieter und Peer Ripberger soll aus dem Zimmertheater Tübingen ein Institut für theatrale Zukunftsforschung werden

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Jens Fischer Du sollst dir ein Bildnis machen … von dieser Emanzipation: „Lulu“ in Zeiten von #MeToo in Wilhelmshaven und Bremen

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Theresa Schütz Fort Grrrrrl Das Berliner Kollektiv Henrike Iglesias betreibt humorvoll und explizit feministische Aufklärungsarbeit

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Elisabeth Maier Die Sehnsuchtsforscherin Zwischen entsetzlichem Fremdsein und emanzipatorischer Kraft – die Karlsruher Schauspielerin Anna Gesa-Raija Lappe

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Berlin „Elfie“ (UA) von Wolfgang Böhmer und Martin G. Berger nach „Eine Mordgeschichte“ von Tankred Dorst in Mitarbeit von Ursula Ehler in der Regie von Martin G. Berger (Dorte Lena Eilers) Bremerhaven „Extremophil“ von Alexandra Badea in der Regie von Tim Egloff (Jens Fischer) Heidelberg „Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)“ (UA) von Zinnure Türe (Björn Hayer) Leipzig „atlas“ (UA) von Thomas Köck in der Regie von Philipp Preuss (Anja Nioduschewski) Linz „Mythos VOEST“ (UA) von Regine Dura in der Regie von Hans-Werner Kroesinger (Margarete Affenzeller) Stuttgart „Die Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ von Kurt Weill / Bertolt Brecht und Peaches in der Regie von Anna-Sophie Mahler, featuring Peaches (Otto Paul Burkhardt) Wien „Rojava” (UA) von Ibrahim Amir in der Regie von Sandy Lopičić (Theresa Luise Gindlstrasser) Wiesbaden „Was ihr wollt“ von William Shakespeare in der Regie von Ulrike Arnold (Shirin Sojitrawalla)

magazin

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Hoffnung im Widerspruch Zum dritten und letzten Mal erlebte Augsburg das Brechtfestival unter der Leitung von Patrick Wengenroth Heraus aus den Halbkreisen der Selbstvergewis­serung Die Freiheit der Kunst war das bestimmende Thema auf dem flausen+bundeskongress#2 im Freien Werkstatt Theater in Köln Geschichten vom Herrn H. Armutsursachen bekämpfen Monolith mit Passion – ein Theater voller Leben! Leben! Leben! Zum Tod des Schauspielers Joachim Tomaschewsky (Un)heilige Mütter In Erinnerung an die Schauspielerin Christine Gloger Bücher Lion Feuchtwanger, Ulrich Eckhardt

aktuell

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Meldungen

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Premieren im April 2019

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Sonja Laaser im Gespräch mit Sascha Westphal

look out

auftritt 54

was macht das theater?

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Titelfoto: Glänzende Demo der Vielen im Mai 2018 in Berlin. Foto Die Vielen e.V.

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Bühnen von Katrin Brack zu „Schnee“ von Oran Pamuk (Regie Luk Perceval, NTGent 2016), zu „Radetzkymarsch“ (links) nach Josef Roth (Regie Johan Simons, Burgtheater Wien 2017) sowie auf Seite 4/5 zu „Carol Reed“ von René Pollesch (Burgtheater Wien 2017). Fotos Katrin Brack / Marcella Ruiz Cruz (S. 6)


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Die Bühne spricht Katrin Brack über Hitchcock, Pollesch und das Eigenleben ihrer Bühnen. Ein Gespräch anlässlich der Verleihung des Hein-Heckroth-Preises von Dorte Lena Eilers

K

atrin Brack, in René Polleschs „Carol Reed“, einer Ihrer jüngsten Arbeiten am Burgtheater Wien, werden Sie bezichtigt, das Bühnenbild geklaut zu haben. Die Schauspieler betreten die Bühne und sind total perplex. „Mon Dieu, wo ist denn das Bühnen­ bild!?!“, fragt Martin Wuttke. Birgit Minichmayr hat sofort Sie in Verdacht: Madame Brack hat es mitgehen lassen. Genau, sogar mein Name fällt (lacht). Da war ich ganz schön baff. Natürlich kenne ich das aus anderen Pollesch-Stücken. Da wird alles zum Material, alles wird verhandelt, auch das Bühnenbild: Ist es das richtige oder das falsche? Aber so ausführlich habe ich es noch nicht erlebt. Ich habe ihn anfangs sogar gebeten, diese Passa­ gen etwas zu reduzieren. Seine Stücktexte entstehen ja während der Proben. Stattdessen hat er zusätzlich meinen Namen eingefügt. Ungewohnt! Aber spannend. Eine ganz neue Erfahrung. Sie haben mit Regisseuren wie Dimiter Gotscheff und Luk Perceval gearbeitet. „Carol Reed“ ist Ihre erste Zusammenarbeit mit Pollesch. Wie verlief diese Kollaboration? René hat zu mir gesagt: Mach ein Bühnenbild. Weiter nichts. Für ihn ist ja jeder autonom, die Kostümbildnerin, die Schauspieler, die Beleuchter … Auch das war für mich neu, gleichzeitig aber wahnsinnig toll, weil es einem eine unglaubliche Freiheit gibt. Ich habe ihm vorgeschlagen, mit den Scheinwerferbrücken, die norma­ lerweise nie zu sehen sind, zu arbeiten. An diesem Punkt haben wir uns, glaube ich, getroffen: Meine Materialien kommen oft aus dem Theater. Die Scheinwerfer existieren bereits im Theater, nur werden sie nie so eingesetzt wie bei Ihnen. Genau. Ich habe sie schon einmal bei „Krankenzimmer Nr. 6“ am Deutschen Theater Berlin verwendet. In Wien allerdings gibt es eine ganz andere Ausgangssituation. Bei „Krankenzimmer Nr. 6“ waren es neun verschiedene Scheinwerferbrücken, die sich unterschiedlich bewegt haben, immer sehr langsam, sie wurden von den Schauspielern auch oft nicht beachtet. Bei „Carol Reed“ hingegen sind es drei Züge, die genauso breit sind wie das Portal, riesige Konstrukte, die sich eher schnell bewegen. Die Schauspieler interagieren mit ihnen, sprechen sie sogar an. „Die Movinglights schütteln die Köpfe“, heißt es in den Regie­ anweisungen. Martin Wuttke fühlt sich von ihnen verfolgt.

Sie bekommen etwas sehr Menschliches, und trotzdem sind sie zweifelsohne Maschinen. Wie gehen Sie an den Entwurf eines Bühnenbildes heran? Normalerweise lese ich mehrfach den Text und überlege mir, wie ich den Spirit und die Atmosphäre des Gelesenen in einen Raum übersetzen kann, ohne illustrierend zu sein oder es naturalistisch anzugehen. Ich verwende einfache Mittel, Mittel, die aus anderen Kontexten stammen, ganz oft auch theaterimmanente Mittel. Bei Pollesch indes hatte ich zunächst gar nichts. Was es gab, war der Titel „Carol Reed“. So heißt der US-amerikanische Filmregisseur, der unter anderem den Film „Der dritte Mann“ gedreht hat. In dem Film – der in dem Stück allerdings überhaupt nicht vorkommt – ist die Beleuchtung der Szenen von großer Bedeutung. Für mich das Schönste an dem Film. Daher kam ich wieder auf die Scheinwerfer. Die Art und Weise, wie sie sich bewegen, ist zwar von mir intendiert, in der Interaktion mit den Schauspielern entstehen aber völlig neue Situationen. Das ist ja das Tolle am Theater. Es gibt nicht nur eine Idee, sondern jeder hat seine Ideen, und dann entstehen Momente, die sich nicht planen lassen. Die Fahrten sind zwar programmiert, aber die Schauspieler lassen sich ja nicht programmieren … … sodass ihnen die Scheinwerfer mitunter plötzlich auf den Pelz rücken. Ja, die Scheinwerfer entwickeln ein Eigenleben. Da ist viel Zufall im Spiel. Und auf den kann der Schauspieler reagieren. „When too perfect lieber Gott böse“, zitieren Sie gerne Nam June Paik. Ihre Bühnen aber sind nicht in dem Sinne unperfekt, dass ständig etwas kaputtgeht. Es ist der Zufall, der das Unperfekte aus­ macht … … oder die klimatischen Bedingungen … … wie bei „Iwanow“, wo der Nebel je nach Luftdruck auch mal in den Zuschauerraum waberte. Die Materialien führen ein Eigen­ leben und sorgen so für ein eigenes Leben auf der Bühne. Im Idealfall. Ist leider nicht immer so (lacht). Manchmal sind einem diese Zufälle auch unangenehm, und man denkt: „Scheiße!“ Überblickt man die Spanne Ihrer Bühnenentwürfe, entdeckt man eine interessante Serialität. Es gibt den Schnee in „Molière“ und „John Gabriel Borkman“, es gibt die Scheinwerfer in „Kranken­ zimmer Nr. 6“ und in „Carol Reed“. Wer nur die Bilder sieht, könnte meinen, das sei immer das Gleiche.


katrin brack

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Ein Kritiker hat mal in Bezug auf das Konfetti in „Kampf des Negers „Schande“ treten die Schaufensterpuppen nicht einzeln, son­ und der Hunde“ gesagt: Es sieht aus, wie wenn es die ganze Zeit dern in Masse auf. Mich interessiert das Serielle sehr stark. Wenn etwas in Masse aufdasselbe wäre, aber es ist nie dasselbe. Der Schnee bei „Molière“ war als Kontrast zu der extremen Sprache von Feridun Zaimoglu taucht, entfaltet es eine andere Wirkung. Ich mag es beispiels­ weise auch, wenn ein Schauspieler ein bestimmtes Textfragment und Günter Senkel gedacht. Die fünf Stunden, die er fällt, hatten etwas überschwänglich Barockes. Viele Zuschauer haben mir hinmehrfach wiederholt. Ja ich, ja ich, ja ich, ja ich … Da ist man ­zunächst genervt, aber plötzlich entsteht etwas ganz Neues, Unterher erzählt, der Schneefall habe auf sie meditativ gewirkt, einige hatten sogar psychedelische Erlebnisse, dachten, dass sich Wände vorhergesehenes. verschieben. Aber da hat sich nix bewegt. Bei „Borkman“ war es anders. Da war von Beginn an ein so hoher Schnee auf der Bühne, Wie im absurden Theater. In Ionescos „Die Unterrichtsstunde“ wiederholen die Figuren ständig das Wort Messer, Messer, Messer … dass die Spieler, bis auf Borkman und Ella Rentheim, unter dem Schnee liegen konnten und so auch aufgetreten sind. Der Großteil bis man irgendwann gar nicht mehr weiß, was ein Messer ist. Genau, da macht sich das Wort plötzdes Stücks spielt in einem Haus. Hier war es die surreale Situation, die mich lich selbstständig, fliegt förmlich in Katrin Brack ist eine der bedeutendsdie Luft. interessiert hat. Beispielsweise war ten Bühnenbildnerinnen im deutschdas Telefon unter dem Schnee begrasprachigen Raum. Für ihre BühnenWie empfinden die Schauspieler Ihre ben. Man hört das Klingeln, sieht aber entwürfe erhielt sie zahlreiche Preise, nur Schnee. Plötzlich taucht Birgit Bühnen? Als großen Freiraum? Oder darunter den Faust (2006), den Nestals zu großen Freiraum? In „Carol ­Minichmayr aus dem Schnee auf und roy-Preis (2007 und 2017) sowie den sucht das Telefon. Von Anfang an also Reed“ scheinen alle zunächst ge­ Goldenen Löwen auf der Theaterbienschockt, dass sie sich nicht einfach eine ganz andere Situation als bei nale in Venedig (2017). Dreimal war sie Bühnenbild­ auf ein Sofa setzen können. „Wie sol­ „Molière“. nerin des Jahres. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit len wir denn hier drin spielen?“, fragt verbindet sie seit den neunziger Jahren mit dem RegisBirgit Minichmayr. Eigentlich paradox: Obwohl Schnee, seur Luk Perceval, ab Beginn der nuller Jahre entstanNatürlich ist man erfreut, wenn man Nebel, Scheinwerfer ganz konkrete den weitere prägende Bühnen für Inszenierungen von sich auf der Bühne einfach auf ein Materialien oder Dinge sind, ist der Dimiter Gotscheff. Seit 2009 ist ­Katrin Brack Profes­ Sofa setzen kann. Wenn da gar nichts Zuschauer sehr frei in seinen Asso­ sorin für Bühnenbild und -kostüm an der Akademie der ist, wird es schwierig. Aber die Schauziationen. Weil die Materialien nicht Bildenden Künste München. Am 7. April wird ihr in spieler können damit natürlich total mit einer bestimmten Bedeutung ­Gießen der Hein-Heckroth-Preis verliehen. Foto dpa super umgehen. ­belegt sind. Der Schnee soll keinen echten Schnee symbolisieren, denn Eine schöne Metapher für das Leben. dann würde man sagen, ach ja, jetzt Statt es sich in vermeintlich gewohnter und damit sicherer Umge­ schneit’s halt wieder. Aber dieser Kunstschnee, der als solcher bung bequem zu machen, ist es viel spannender, die großen Freiauch erkennbar sein soll, hat eine andere Qualität. und Assoziationsräume zu nutzen. Und dadurch entsteht eine Art Unschärfe in der Betrachtung, sodass Wobei bei „Carol Reed“ tatsächlich viele Zuschauer dachten, es Zuschauer mitunter Dinge sehen, auf die ich im Leben nie gekomgebe kein Bühnenbild. men wäre. In jedem Abschnitt des künstlerischen Prozesses, während ich das Modell entwickle, auf der Probe, während der VorstelUnd dafür bekommen Sie nun auch noch einen Preis. Anfang lung, beginnt das Material, sich mit neuen Bedeutungen aufzuladen. April wird Ihnen in Gießen der Hein-Heckroth-Preis verliehen. Haben Sie einen Bezug zu dem Namensgeber des Preises? Sie bauen Modelle? Das kann man sich bei so flüchtigen Elemen­ Ich hatte mich bis dahin noch nicht mit Hein Heckroth beschäften kaum vorstellen. Ich baue sogar ziemlich große Modelle, eins zu zwanzig. Selbst tigt. Er hat ja einen Oscar gewonnen für seine Ausstattung für den Film „Die roten Schuhe“. Es gibt ein wunderbares Interview auf wenn es nur auf sehr abstrakte Weise möglich ist, die Bewegungen oder Lichtveränderungen zu simulieren. Ich brauche Modelle, YouTube, eine Talkshow in Frankfurt, zu der dann auch Alfred Hitchcock dazustößt … muss sie jeden Tage sehen, um zu versuchen, meine Ideen auf den Punkt zu bringen. Das dauert mitunter ziemlich lange. Selbst … auf dessen „39 Stufen“ Tino Hillebrand Sie in „Carol Reed“ ge­ der Nebel! Da habe ich immer reingeraucht. Damals habe ich noch sehr viel geraucht! sehen haben will, auf der Flucht, mit dem Bühnenbild unter dem Arm. Hitchcock hat auch, das wird im Stück thematisiert, den Das wird die Raucher freuen! MacGuffin erfunden. Hat es. Bei der Bühnenbildpräsentation mussten alle mitrauchen. Ein Element, das an sich bedeutungslos ist, aber die Handlung Wäre heute so auch nicht mehr möglich (lacht). entscheidend vorantreibt. Serialität existiert bei Ihnen nicht nur zwischen verschiedenen Bühnen­entwürfen, sondern auch innerhalb eines Entwurfs. Bei

Wie Konfetti. Oder Nebel. Ganz genau. //

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Parlamentarische Anfragen, Forderungen nach Subventionskürzungen, Strafanzeigen: Die AfD betreibt Kollisionspolitik. In ihrem Fokus: der Kampf gegen eine vermeintlich links dominierte Kultur. Ist dies schon Angriff oder bloß leere Rhetorik? Der Politikwissen­ schaftler Claus Leggewie analysiert im Streitgespräch mit dem Kulturpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion Marc Jongen das Kulturkonzept der AfD. Anja Nioduschewski beschreibt die Konfliktlinien zwischen Theatern und AfD, Michael Bartsch wirft einen Blick auf den Spezialfall Dresden. Zudem sprechen wir mit dem Dramatiker Thomas Köck über das Kollektiv Nazis & Goldmund und veröffentlichen Texte von ihm, Elfriede Jelinek und Kathrin Röggla, die sich literarisch mit rechten Strategien auseinandersetzen.


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umkämpfte vielfalt

Kulturkampf oder alles nur Theater? Wie die AfD mit ihrer Kulturpolitik die Theater attackiert – und glänzendem Protest begegnet

von Anja Nioduschewski

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as Theater war immer der Ort, an dem eine Gesellschaft auch ihre Konflikte verhandelte, indem auf der Bühne die widerstreitenden individuellen, religiösen oder politischen Interessen, die das Miteinander bestimmten, gestalteten und gefährdeten, von den Figuren stellvertretend ausagiert wurden. Dass dies heute nicht mehr ausschließlich im Sinne einer Übersetzung ins Fiktionale, Mythologische oder Symbolische geschieht, sondern sich die Konflikte der Gegenwart unmittelbar auf der Bühne abbilden, ist nicht nur neuen interventionistischen, Dokumentartheater- und Bürgerbühnen-Formaten oder dem Artivism eines Milo Rau oder des Zentrums für Politische Schönheit geschuldet, die die Realität zu ihrem Stoff machen. Und es sei auch dahingestellt, ob schlechte politische Zeiten gute Zeiten für das Theater als Kunstform sind. Doch angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche und politischen Verwerfungen in Deutschland, in Europa und weltweit kann sich ein Theater, das sich immer noch als Agora der Gesellschaft, vielleicht auch als moralische oder paradigmatische Anstalt begreift, tatsächlich nicht nicht dazu verhalten. Zurzeit aber ist das Theater selbst zum Gegenstand eines politischen Konflikts geworden: genannt „Kulturkampf von rechts“. Und die Frage ist, ob dieser Kampf auf einer realen oder symbolischen Ebene stattfindet. Ob es bei diesem Kampf ausschließlich um die Freiheit der Kunst geht oder eben um viel mehr. „Rechts“ meint hier im Kern die AfD, die mit einer nationalistischen und völkisch-identitären Agenda gezielt und öffentlichkeitswirksam das symbolische Feld der Kultur beackert und gerne

Glänzende Demo – Während sich die AfD am 27. Mai 2018 in BerlinMitte versammelte, formierte sich die Berliner Kulturszene auf dem Pariser Platz. Foto Fritz Engel / Zenit

auch bestellen würde. Ausgehend von ihrer Kampfansage an sogenannte Eliten und linkes Mainstream-Denken im Fahrwasser der 68er, werden spätestens mit dem Einzug der AfD in die Landesparlamente und den Bundestag deutschlandweit von ihr Kulturinstitutionen ins Visier genommen und attackiert. Attackiert wird alles, was AfD-kritisch ist oder in ihren Augen eine „Ideologie des Multikulturalismus“ fördert. Die AfD geht dabei sowohl mit rechtlichen als auch mit ­politischen Mitteln vor. So klagte die AfD-Politikerin Beatrix von Storch im Herbst 2015 gegen das an der Berliner Schaubühne ­uraufgeführte Stück „Fear“ von Falk Richter, da Fotos von ihr auf der Bühne Verwendung gefunden hatten. In Paderborn zeigte 2018 der dortige Parteikreisverband das Theater wegen Verleumdung und Volksverhetzung an: weil im Programmheft zu Max Frischs „Andorra“ in einer Grafik Wahlergebnisse der AfD und der NSDAP gegenübergestellt wurden. Als systematisches Instrument in ihrer Auseinandersetzung mit unliebsamen Theatern hat die Partei jedoch parlamentarische Anfragen für sich entdeckt, in denen sie die Zulässigkeit von öffentlichen Förderungen für ­Theater und Projekte infrage stellt. So „erfragte“ Ende des ver­ gangenen Jahres der AfD-Abgeordnete Andreas Kalbitz anlässlich des Theaterstücks „KRG. – Eine Heimatbetrachtung“ am Piccolo Theater in Cottbus von der Landesregierung eine Aufschlüsselung der Fördergelder der Bühne – vor allem hinsichtlich von Stücken „mit dezidiert aktuellem gesellschaftlichem und oder politischem Bezug ähnlich dem Theaterstück ‚KRG.‘“. In diesem hatte der Theaterjugendclub das Szenario einer faschistischen Diktatur in Deutschland entworfen, das die Menschen zur Flucht zwingt, und zwar in den Nahen Osten. Solche vermeintlich neutralen, sach­ lichen Anfragen fungieren als symbolische Infragestellungen der jeweiligen Institution, indirekt auch als Drohungen. Gerade in Bundesländern, in denen die AfD bei kommenden Wahlen vielleicht bald mehr oder Schlüsselpositionen in den Parlamenten besetzen und ihre Androhung von Kürzungen öffentlicher Förderungen umsetzen könnte – wie es der kulturpolitische Sprecher

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thema

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der AfD in Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, schon 2016 für Intendanten, die ein „zu buntes Agitprop-Repertoire mit Regenbogen-Willkommens-Trallala auf die Bühne bringen“, androhte. Die AfD werde ganz genau auf die Programmatik der Bühnen schauen, und gegebenenfalls „würden wir natürlich sagen, das Ding muss zugemacht werden. Ganz einfach.“ 2017 hat die Berliner AfD im Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten gleich für drei Theater Kürzungen beantragt. Dem Maxim Gorki Theater wie dem Deutschen Theater wurde vorgeworfen, „Gesinnungstheater“ zu machen und eine einseitige politische Agenda zu verfolgen. Der AfD-Abgeordnete Hans-Joachim Berg warf DT-Intendant Ulrich Khuon vor, Propagandatheater wie in einer Diktatur zu veranstalten. Khuon hatte in seiner Funk­ tion als Präsident des Deutschen Bühnenvereins geäußert, Aktivitäten gegen Rechtspopulismus und rechtsnationale Parteien zu stärken. Dafür sollte sein Theater nun geschädigt werden. Dem Gorki, an dem viele Ensemblemitglieder einen Migrationshintergrund haben und Flüchtlinge in einem Exil Ensemble spielen, warf man vor, seiner Aufgabe, breite Teile der Bevölkerung zu erreichen, angeblich nicht gerecht zu werden. Und damit auch jedem klar wurde, dass hier mit großer Perfidie reine Symbolpolitik betrieben wurde, forderte man für den Friedrichstadt-Palast, dessen Intendant Berndt Schmidt sich zuvor gegen die AfD ausgesprochen hatte, eine Kürzung um genau 12,6 Prozent – entsprechend dem Wahlergebnis, mit dem die AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden war. Die Anträge wurden abgelehnt. Es sind diese inszenierten, weil von vornherein bloß ­rhetorischen, politisch nicht durchsetzbaren Angriffe, die einen dazu verführen, das Ganze nur als politisches Schmieren­ theater abzutun, dessen Inszenierung auf die bloße Herstellung medialer Öffentlichkeit abzielt. Aber die Strategie der AfD im Sinne ihres Selbstverständnisses als „Bewegung“ ist eine auf lange Zeiträume hin gedachte, und sie spielt mit ihrer ­janusköpfigen Erscheinung – nationalkonservativ plus rechtsradikal – ein Vexierspiel. Zunächst einmal, um sich den einzelnen Wählergruppen immer mit dem passenden Gesicht zu zeigen, aber auch, um die Ausrichtung ihrer Kulturpolitik zu verschleiern. Auch wenn Marc Jongen, der Kulturpolitische Sprecher der AfD im Bundestag, eine rechte Hegemonie als kulturpolitische Zielvorgabe verneint und die von ihm angekündigte „Entsiffung“ eines angeblich linken Kulturbetriebs nur noch als Entideologisierung desselben verstanden wissen will (siehe Gespräch S. 13), dem Theater wirft er nichtsdestotrotz vor, sich auf eine „antifaschistische Erziehungsanstalt“ zu reduzieren. „Man führt auf deutschen Theaterbühnen einen paranoiden Kampf gegen rechts ...“, so Jongen in einer Bundestagsrede im Mai 2018. Und man mache Konservativen „Schauprozesse“. Diese für die AfD typische Täter-Opfer-Umkehr funktioniert ­

a­ llerdings nicht, wenn Jongen die Rechtsextremen in der eigenen Partei unter den konservativen Teppich kehrt, auch nicht, wenn er sich gerade einmal vier Monate zuvor selbst noch im Angriffsmodus gefiel, sich als „Abteilung Attacke“ bezeichnete, die keiner „hemmenden Neutralitätspflicht unterworfen“ sei. Neutralität wird seitens der AfD nun aber ständig von den Theatern eingefordert, da sie doch mit öffentlichen Mitteln finanziert würden. Ein Irrtum. Die AfD will vor allem politisch Anders­ denkende neutralisieren. Wenn sie das Grundgesetz weiterhin anerkennen will, wird sie wohl im Sinne der Kunst- und Meinungsfreiheit eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Politik auf deutschen Bühnen ertragen müssen. Auch einen Nachbau des Holocaust-Mahnmals auf dem Nachbargrundstück im Dorf. In Sachsen-Anhalt schlägt die AfD schon seit Längerem direktere Töne an als die Bundestagsfraktion. Als das Anhaltische Theater in Dessau 2016 eine ­Performance über Fremdheits- und Fluchterfahrungen mit Flücht­lingen realisierte, wurde vom AfDLandtagsabgeordneten Gottfried Backhaus nicht nur gefragt, ob man solche Stücke künftig überhaupt noch fördern müsse, er stellte in einer Podiums­diskussion Artikel 5 im Grundgesetz infrage – das Grundrecht der Kunstfreiheit. Wie die Spielpläne der Theater aussehen sollten, steht inklusive Regieanweisung im Parteiprogramm: klassische deutsche Stücke, so inszeniert, „dass sie zur Identifikation mit ­unserem Land anregen“. Mit solchen Verbalattacken, Anfragen und Anzeigen konfrontiert, haben sich die Theater untereinander kurzgeschlossen und öffentlich wahrnehmbar solidarisiert. Im Deutschen Bühnenverein und bei den Vielen. Außerdem hat man sich beraten lassen – wie in Berlin von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die eine Broschüre „Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts“ herausgegeben hat (und dabei selbst in Kritik geriet, weil sie fälschlicherweise behauptet hatte, dass Ulrich Greiner, der ehemalige Literaturchef der Zeit, die rechte „Erklärung 2018“ unterzeichnet habe). Fast alle Theater haben die „Erklärung der ­Vielen“ unterzeichnet. Circa 2400 Kunst- und Kulturinstitutionen haben sich der Kampagne gegen Angriffe auf die Kunstfreiheit durch rechtspopulistische und -extreme Parteien und Gruppierungen angeschlossen. Das Ulmer Theater setzte allerdings eine eigene Erklärung auf (siehe S. 44). Auch Theatergruppen und freie Häuser wie Kampnagel in Hamburg sind dabei. Amelie Deuflhard, die Künstlerische Leiterin, koordiniert die Regionalgruppe der Vielen für Hamburg. Vor vier Jahren hatte die AfD sie wegen Schlepperei und eines Verstoßes gegen das Ausländergesetz angezeigt, weil auf dem Kampnagel-Gelände ein künstlerischer Aktionsraum für Flüchtlinge entstanden war. Es kam nie zur Anklage. Im Vorfeld der Europawahl am 25. Mai 2019 wollen Die Vielen nun erneut ein Zeichen setzen und rufen für den 19. Mai 2019 zu bundesweiten Glänzenden Demonstrationen für ein „Europa der Vielen“ auf. //

Nationalkonservativ plus rechtsradikal – ein Vexierspiel


Foto David Baltzer / Zenit

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Bitte konkret! Ein Streitgespräch zwischen dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Marc Jongen, dem kulturpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion

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laus Leggewie: Herr Jongen, zum Aufwärmen: Was haben Sie als Letztes im Theater gesehen? Marc Jongen: Das war, wenn ich nicht irre, an der Berliner Schaubühne ein Stück mit dem famosen Lars Eidinger: „Dämonen“ von Lars Norén. Eine sehr hysterische Inszenierung von Thomas ­Ostermeier, allerdings grandios gemacht, inklusive Urinieren und allem, was so zum modernen Regietheater noch dazugehört. Leggewie: Das stört Sie?

Jongen: Nicht notwendigerweise, wenn es gut gemacht ist. Mich stört nur, wenn solche Effekte in klassischen Stücken benutzt werden, die das gar nicht nötig haben, wo der Effekt das Stück dann verzerrend überlagert. Bei diesem Stück war alles kohärent. Leggewie: Ich fand „Die Perser“ von Aischylos in der Inszenierung von Ulrich Rasche am Schauspiel Frankfurt großartig. Ein Stück, in dem der Autor eines siegreichen Volkes sich in die Position eines besiegten Volkes, nämlich die Perser, hineinversetzt und in deren Leid. Das bringt mich gleich zu einem Stück, das Ihr Parteikollege Andreas Edwin Kalbitz sehr angegriffen hat: „KRG. –


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Claus Leggewie, geboren 1950 in WanneEickel, studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte und habilitierte an der Universität Göttingen. Er lehrte als Profes­ sor u. a. an der Justus-Liebig-Universität ­Gießen, an der Universität Paris-Nanterre und der New York University und war ­Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von 2007 bis August 2017 leitete er das Kulturwissenschaftliche Institut Essen. Derzeit ist er Inhaber der ­Ludwig-Börne-Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Herbst erscheint sein Buch „Jetzt! Protest, Opposition, Widerstand“ bei Kiepenheuer & Witsch. Foto Georg Lukas

Eine Heimatbetrachtung“ am Piccolo Theater in Cottbus. Dieses Stück macht fast dasselbe wie Aischylos. Es versetzt uns in die ­Situation von Geflüchteten, nur unter umgekehrten Vorzeichen, wir müssen in ein anderes Land fliehen, weil Deutschland eine faschistische Diktatur geworden ist. Und Ihr Kollege Kalbitz hat in einer kleinen Anfrage im Landtag dann sehr kleinlich wissen wollen, aus welchem Grund dieses Stück und ähnliche Theaterarbeiten gefördert werden. Warum? Alle sagen, das sei ein hervorragendes Stück. Aber die AfD fragt: Wie viel Geld kriegen die? Wofür kriegen die das? – Was stört Sie? Jongen: Ich habe das Stück nicht gesehen, von dem Fall nur gehört. Was das problematische Element war, das zu dieser Nachfrage geführt hat, kann ich aus Ihrer Schilderung nur erahnen. Es ist aber allgemein eine Tendenz an Theatern auszumachen, die unsererseits – zugespitzt gesagt – als propagandistische Begleitmusik zu einer bestimmten Politik der Regierung im Zusammenhang mit Migration und Einwanderung wahrgenommen wird. Die Frage der künstlerischen Qualität tritt dann völlig in den Hintergrund, und es geht nur noch darum, die richtige, politisch korrekte Gesinnung auf die Bühne zu stellen. Oft wird das auch kombiniert mit sehr harschen Attacken von der subventionierten Bühne herab gegen alle, die mit dieser Tendenz eben nicht einverstanden sind. Es gab einschlägige Fälle, in denen ganz explizit entweder die AfD als Partei oder einzelne Exponenten unserer Partei angegriffen worden sind. Da haben wir in der Tat dann auch parlamentarische Anfragen gestellt. Wir nehmen leider eine Theaterszene wahr, die aggressiv und feindselig gegen uns vorgeht. Da hat sich offensichtlich einiges an gegenseitigem Misstrauen und Ablehnung aufgeschaukelt. Ich bedauere das, aber man kann die Ur­ sachen dafür sicher nicht nur auf der Seite der AfD suchen. Leggewie: Noch mal zurück zum Piccolo Theater: Da ist es ja genau nicht so. Es ist ein Stück über Empathie, keine, wie Sie sagen würden, Pro-Migrations-Propaganda. Und es war einfach nur die Thematik, die Herrn Kalbitz gestört hat. Jongen: Das ist aber mit Herrn Kalbitz zu besprechen. Ich habe diese Anfrage nicht gestellt und würde das, wenn es so ist, wie Sie es jetzt darstellen, auch nicht tun. Kann es aber wie gesagt nicht beurteilen. Leggewie: Dann möchte ich Sie zitieren: „Unser Ziel ist es, die Förderkriterien grundlegend zu untersuchen und die bisherige Förderung politisch korrekter Projekte runterzufahren.“

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Jongen: Das ist korrekt, ich nehme damit beispielsweise Bezug auf das Programm der Kulturstiftung des Bundes, das sich wie eine Liste all jener Programmpunkte liest, die seitens der Regierung politisch durchgesetzt werden sollen und auf kultureller Ebene jetzt von A bis Z durchfördert werden – sei es Diversity, die Migration, Antirassismus, Gender und so weiter. Das sind für uns ideologische Einstellungen, die zwar immer auch einen richtigen Kern haben, die in einer gewissen Dosis akzeptabel wären, die aber so überdreht und ins Dogmatische übertrieben werden, dass die Kulturförderung ihren Hauptschwerpunkt darauf nicht setzen darf. Dazu möchten wir ein Gegengewicht schaffen. Leggewie: Sehen wir uns doch mal das subventionierte Theater der Bundesrepublik Deutschland an: Was gespielt wird, ist der absolute Mainstream. Ich hab hier die Premieren des Monats März aus der FAZ dabei: deutsche Klassiker wie „Der Schimmelreiter“, „Die Räuber“, zweimal „Die Nibelungen“, da sind Euripides, Tschechow, Molière, da sind moderne Klassiker wie Frisch, Dürrenmatt, Arthur Miller, dann gibt’s ein paar neuere deutsche Autoren, Nuran David Calis und so weiter. Wenn Sie das Profil nehmen und vergleichen mit den Statistiken der meistgespielten Stücke, dann ist das der absolute Mainstream. Was stört Sie daran, wenn mal ein Stück dabei ist, das Ihrer ideologischen Position nicht entspricht, wo Sie sagen, hier wird Diversity, Multikulti und sonst was propagiert, was ich zudem auch nicht glaube, weil es ja immer noch Theater ist. Jongen: An diesem Spielplan stört mich gar nichts. Leggewie: Ja, eben. Jongen: Wir haben nie gesagt, dass an deutschen Bühnen nur falsche Stücke gespielt werden. Das Regietheater verzerrt sie nur leider oft zur Unkenntlichkeit. Leggewie: Und dagegen möchten Sie Förderkriterien unter­ suchen, Projekte runterfahren? Jongen: Erst mal noch zu diesem Spielplan, damit wir uns richtig verstehen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass an deutschen Bühnen fantastische Arbeit geleistet wird. Die deutsche Theaterlandschaft ist wahrscheinlich einmalig in der ganzen Welt. Durch die deutsche Kleinstaaterei haben wir hier in allen Landeshauptstädten unsere Theater, und ich will festhalten, dass das auch für mich ein Wert ist, der absolut erhaltenswert ist. Leggewie: Ich konstatiere Einigkeit. Jongen: Dass das staatlich gefördert wird, ist auch richtig. Leggewie: Jetzt kommt das Aber. Jongen: Das Aber ist das Folgende: Unsere Partei ist nicht gegründet worden, nur staatstragend alles Bestehende zu verteidigen. Das werden wir sicher tun, wenn wir regieren werden. Dann werden wir selbstverständlich andere Akzente setzen. Im Moment sind wir in der Opposition, und da ist es unsere Aufgabe, den Finger in die Wunden zu legen und das zu benennen, was schiefläuft. Unser Hauptaugenmerk liegt nicht auf der Kulturpolitik, sondern auf übergeordneten politischen Fehlentwicklungen: Migration, Finanz- und Währungskrise, Souveränitätsverlust. Wenn wir dann sehen, dass die Kultur dazu gebraucht wird – ich sage es jetzt mal vorsichtig –, um diese Fehlentwicklungen zu flankieren, dann gerät natürlich auch die Kulturpolitik in unseren Fokus. Leggewie: Bitte mal konkreter: Das, was Sie ankündigen – Förderkriterien grundlegend hinterfragen, dass Leute, die lange


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mit dem öffentlichen Förderticket gefahren sind, es zukünftig nicht mehr so leicht haben werden, Sätze wie „Wir wollen die Stimmung im Land insgesamt drehen“ – das sind doch Drohungen. Und jetzt frage ich Sie: Was wollen Sie machen? Und Sie antworten mir: „Es ist eigentlich alles gut.“ Jongen: Nein, es ist nicht alles gut. Leggewie: Dann sagen Sie doch bitte einmal, was Sie effektiv an Falk Richters Stück „Fear“ an der Berliner Schaubühne gestört hat, gegen das Ihre Parteifreundin Beatrix von Storch geklagt hat. Das Gericht hat gesagt, dass noch nicht einmal ihr Persönlichkeitsrecht verletzt wurde. Jongen: Ein Richter entscheidet so, ein anderer so, das bleibt ein Streitfall. Ich glaube nach wie vor, dass Falk Richter die Kunstfreiheit missbraucht hat, indem er konkrete Personen auf die Bühne gestellt und gegen sie in hetzerischer Weise agitiert hat. Leggewie: Sie sind nur zitiert worden, diese Personen. Jongen: Sie sind in einen Kontext gestellt worden, in dem sie mit Zombies verglichen wurden, denen man in den Kopf schießen müsse. Kurz danach ist das Auto von Hedwig von Beverfoerde angezündet worden, die zwar nicht in unserer Partei ist, aber gemeinsam mit Frau Storch geklagt hatte. Exponenten und Befürworter unserer Partei werden regelmäßig von Linksradikalen attackiert. Das sind Entwicklungen, die Sie eigentlich auch besorgt machen müssten. Leggewie: Mich macht zum Beispiel besorgt, dass Falk Richter, der Autor dieses Stückes, Morddrohungen erhalten hat. Ich er­ halte aus Ihrem Milieu ebenfalls Drohungen. Jetzt könnten Sie sagen, es sind ja nicht unsere Leute, die mit Mord drohen, auf der anderen Seite sind das nicht die Leute von Falk Richter, die den Anschlag auf das Auto verübt haben … also das wollen wir uns jetzt alles gegenseitig aufrechnen?! Jongen: Moment mal, da muss man schon ein bisschen genauer hinsehen. Politiker der SPD, der Linken und der Grünen demonstrieren teils offen auf den Straßen gemeinsam mit Antifa-Gruppen. Also mit den Leuten, die auf ihrem Portal indymedia genau zu solchen Anschlägen aufrufen. Wenn dann ein Falk Richter diese Stimmung auf offener Bühne anheizt, subventioniert mit Steuergeld, dann ist das kein Kavaliersdelikt mehr, dann ist das etwas, was zu Recht vor Gericht kam. Ich akzeptiere natürlich diesen Urteilsspruch, was denn sonst … Leggewie: … der genau konstatiert hat, was Kunstfreiheit im Grundgesetz bedeutet, diese hochhält und verteidigen muss. Jongen: Aber Sie können das nicht so darstellen, als wäre hier ein Unschuldiger bedroht von bösen Rechten, die seine Existenz infrage stellen. Sie müssen schon zur Kenntnis nehmen, dass diese Aggression erst mal auch von bestimmten Kunstschaffenden ausgeht, und dass diese auch am längeren Hebel sitzen. Denn die Theatermacher, die Direktoren und die Regisseure, haben die I­nstitutionen und die staatlichen Subventionen hinter sich. Wir haben das nicht. Es gibt kein einziges Theater, es gibt wahrscheinlich keinen einzigen Intendanten in Deutschland, der von sich sagen würde: „Ich bin rechts.“ Leggewie: Würden Sie das anstreben? Jongen: Ich fände es gut, wenn es das gäbe, weil ich für Pluralität bin. Während alle, die immer von Pluralität sprechen, diese unterbinden, sobald es ernst wird, sprich: man tatsächlich einmal über

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Marc Jongen, geboren 1968 in Meran, war nach einem Studium der Philosophie, Volkswirtschaft, Geschichte und Indologie in Wien zunächst als Journalist tätig. Von 2003 bis 2017 war er wissenschaft­licher Mitarbeiter für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, bis 2015 auch Assistent des Rektors Peter Sloterdijk, der auch sein Doktorvater war. Im April 2013 wurde Jongen Mitglied des Landesvorstandes ­ der AfD Baden-Württemberg, im März 2017 Landesvorsitzender. Seit September 2017 ist er Mitglied des Deutschen Bundestags und Kulturpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Foto Achim Melde / Deutscher Bundestag

unterschiedliche Positionen an Theatern diskutieren sollte. Das ist, vorsichtig gesagt, kein kohärentes Verhalten. Man muss den Worten ja auch Taten folgen lassen. Natürlich würde ich anstreben, dass in der Kultur wie in den Medien unterschiedliche politische Positionen, vielleicht auch extrem unterschiedliche, einen Platz fänden. Ich möchte aber nicht, um auch das klarzustellen, dass es nur noch AfD-Journalisten, nur noch AfD-Theaterleute und so weiter gäbe. Diese Homogenität ist, glaube ich, dem Kulturleben nicht förderlich. Leggewie: Es wäre der absolute Horror. Da erinnere ich mal an den Ausdruck, den Sie benutzt haben: „Entsiffung“. Ich glaube, Sie haben sich von dem schon distanziert?! Von dem Wort oder von dem, was damit verbunden wird? Jongen: Von beidem. Ich habe auch schon des Öfteren erklärt, wie das zustande kam. Leggewie: Ich finde den Ausdruck abscheulich! Jongen: Der Ausdruck war eine Reaktion auf die massive Abwehrfront dagegen, dass womöglich die AfD den Vorsitz im Kulturausschuss des Bundestages übernehmen könnte. Dieser Vorsitz, das weiß jeder, hat eine sehr geringe politische Bedeutung. Der Vorsitzende kann die Richtung der deutschen Kulturpolitik nicht bestimmen, nicht mal die des Kulturausschusses, er hat eigentlich nur organisatorische Aufgaben. Es ist aber ein symbolischer Posten, der gezeigt hätte: Es ist normal, dass auch die AfD eine solche Funktion übernimmt. Das war aber schon zu viel für die Verhinderer. Von Claudia Roth abwärts, über Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat haben Hunderte Kulturschaffende einen Aufruf unterschrieben, dass das nicht sein darf. Nachher haben sie triumphiert, als die AfD den Vorsitz nicht bekommen hat. Und in dem Moment … Leggewie: … waren Sie sauer. Jongen: … war ich in der Tat sauer und habe, um auszudrücken, dass das für mich ja eigentlich eine Befreiung von organisatorischen Aufgaben bedeutet und ich mich jetzt voll der politischen Arbeit in der Opposition zuwenden kann, zu einem zugegebenermaßen unschönen Ausdruck gegriffen, der ein Zitat war von dem Krawall-Autor Akif Pirinçci. Leggewie: Wegen Volksverhetzung verurteilt. Jongen: Aber nicht wegen dieses Ausdrucks.

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Leggewie: Aber Herr Pirinçci ist wegen Volksverhetzung verurteilt. So einen Menschen zitiert man besser nicht. Herr Meuthen, von dem kam das. Jongen: Der hat das auch verwendet, richtig. Leggewie: Das ist ein tiefer Griff in das „Wörterbuch des Unmenschen“, tut mir leid. Jongen: … des Unmenschen? Leggewie: Ja, Sie wissen, was ich meine. Verfasst von Dolf Sternberger und anderen nach 1945. Wer von „entsiffen“ redet, will sich entweder eine moderne Jugendsprache aneignen – was immer peinlich ist für Leute in Ihrem Alter, erst recht in meinem –, oder aber er meint genau, was er sagt. Und „Entsiffung“ war da ja nun schon länger in der Diskussion: Es ging um die rot-grün versiffte Multikultirepublik. Jongen: Ihre Assoziation ist sehr weit hergeholt, ich will diesen Begriff aber gar nicht rechtfertigen, mir kommt es darauf an … Leggewie: Auf die Sache? Jongen: … auf den Hergang. Was mich stört an dieser übertriebenen Empörung, ist, dass man die ganze Vorgeschichte weglässt. Ich bin ja ursprünglich sehr moderat und zivilisiert an die mögliche Wahl zum Vorsitzenden im Kulturausschuss herangegangen. Wenn Ihnen dann derart rabiat begegnet wird, dann machen Sie auch mal einen verbalen Fehlgriff. Und ich sage ganz offen, dass das ein Fehlgriff war. Leggewie: Gut, dann belasse ich es auch dabei und frage: Wie würden Sie es übersetzen? Würden Sie von Reinigung, von Korrektur – wovon würden Sie denn reden? Jongen: Ich würde von Entideologisierung sprechen, oder, sagen wir es noch etwas neutraler: von Pluralisierung. Eine Erweiterung dieses Feldes würde ich mir wünschen, in dem Positionen, die von einem bestimmten linken Mainstream abweichen, nicht von vornherein ausgegrenzt werden. Ich wünsche mir, dass man dagegen nicht sofort mit einer „Erklärung der Vielen“ reagiert, sondern eher sagt: „Auch wenn es nicht unsere Position ist, bedeutet es trotzdem eine Bereicherung des Kulturlebens.“ So würden wir miteinander in faire Konkurrenz treten und kämen auch zu einer ehrlicheren Debatte über diese Themen – und diese vermisse ich. Leggewie: Wissen Sie, wie mir das vorkommt? Wie Identity-Politik, nur in die andere Richtung. Sie verlangen namens einer angeblich vernachlässigten weiß-männlichen Mehrheit so etwas Ähnliches wie eine Kulturquote. Sie möchten auch vorkommen. Sie haben einmal gesagt: „Unerhört und skandalträchtig wäre es aber, es würden ein junger Autor, eine junge Regisseurin – welche

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Schule hat es versäumt, sie anderweitig zu konditionieren? – die Liebe zu ihrem Land und ihrer Kultur auf offener Bühne zelebrieren.“ Das ist das, was Sie haben wollen. Jongen: Ich fände es nicht schlecht, wenn es das auch gäbe. Was haben Sie denn dagegen? Leggewie: Ich habe überhaupt nichts dagegen. Wenn es diesen Autor gibt, wenn der ein gutes Theaterstück schreibt, wenn es Regisseure gibt, die sagen: „Das inszeniere ich“ … Jongen: … Ich behaupte aber, dass es in der Kulturszene Mechanismen gibt, die es diesem Menschen extrem schwer machen, überhaupt bis zu dem Punkt der Inszenierung und Aufführung vorzudringen, weil er schon viel früher entweder entmutigt, nicht zugelassen oder ausgegrenzt wird. Leggewie: Das ist eine Verschwörungstheorie. Wo sind die Erfahrungen, die das belegen? Jongen: Ich verweise nur auf die „Erklärung der Vielen“. Leggewie: Damit wird doch kein Autor gehindert, ein Stück zu schreiben! Jongen: Aber es herrscht eine Mentalität in der Kulturszene, die doch ganz klar vorgibt, was die Mehrheit zu denken hat und wer beispielsweise auf den Bühnen keinen Platz finden darf. Es gibt jetzt eine „Handreichung“ für Theater zum Umgang mit Rechten, wo eine Community sich verschworen hat … Leggewie: … Nein, keine Verschwörung! Denen ist ein blöder Fehler unterlaufen in Bezug auf Ulrich Greiner. Ich hab hier den kritischen Artikel dazu aus der aktuellen Zeit … Jongen: … um das noch zu Ende zu bringen: Hier manifestiert sich doch, dass man sich in einer dogmatischen Position verschanzen und dafür sorgen will, dass diese hegemonial dominant bleibt in den Kultureinrichtungen, seien es Theater, Stiftungen, Universitäten oder was auch immer. Das ist doch der Beweis dafür, da müssen Sie gar nicht von Verschwörung reden. Leggewie: Nein, das ist kein Beweis dafür, weil in der Presse ein paar Tage nachdem das veröffentlicht wurde, sofort eine Korrektur kommt, sofort! Wo fehlt da der Pluralismus? Sie reden Allgemeinplätze, ich frage mich immer noch, worauf es eigentlich bei Ihnen hinausläuft. Sind Sie der berühmte Tiger, der mit großen Worten startet: „Wir werden den Kulturbetrieb auf den Kopf stellen. Wir werden sie jagen, auch im Kulturbetrieb“, oder sind Sie der Tiger, der irgendwo als Bettvorleger landet, weil am Ende gar nichts ­passiert?! Außer dass Sie das gesunde Volksempfinden vertreten, indem Sie sagen: „Es muss auch mal ein anderes Stück gespielt werden, wir wollen nicht nur Onanisten auf der Bühne sehen.“

Künstlerhaus Mousonturm April 2019

Rimini Protokoll (Haug) Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn 11.–13.4. / Susanne Zaun/Judith Altmeyer Schlaflos in… Frankfurt 26.4. / F. Wiesel Bermuda 27.–29.4. Tony Rizzi/Bad Habits a performance by nobody, going nowhere, for no one in particular 5.–7.4. / Lisbeth Gruwez / Voetvolk It’s going to get worse and worse and worse, my friend 16. & 17.4. / Paula Rosolen/Haptic Hide Merce Cunningham Homage – 100:100 28.4. Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main


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Machen Sie uns nur ein bisschen Angst, indem Sie ein bisschen drohen? Wollen Sie ein bisschen quotieren – oder wollen Sie nicht tatsächlich in eine Richtung gehen wie zum Beispiel Orbán in Ungarn, wo fast alle Theaterdirektoren und Museumsdirektoren ausgetauscht worden sind, wo jetzt die Akademie der Wissenschaften regelrecht enthauptet wird, wo die Central European University vertrieben wurde? Es wäre gut, wenn Sie mal Tacheles reden, wenn Sie entweder einräumen: „Nein, wir sind nur das bisschen konservativer, was die CDU leider nicht mehr ist.“ Oder eben: „Wir wollen ein ganz anderes Theater, wir wollen die kulturelle Hegemonie.“ Ich werde nicht schlau aus dem, was Sie da machen. Das ist immer Larifari. Bei Herrn Höcke weiß ich wenigstens, woran ich bin. Jongen: Ja, man bezieht sich immer sehr gern auf Plakatives, weil man das leicht einordnen kann. Leggewie: Ich lass ihn gerne weg, aber dann sagen Sie als kulturpolitischer Sprecher Ihrer Partei etwas. Jongen: Ich bin vor allem nicht der Meinung, dass Kulturpolitik die Menschen zu bestimmten Haltungen erziehen soll. Und ich meine es ernst mit der Pluralität und einer größeren Spannbreite von Positionen. Und um es zu wiederholen: Eine Hegemonie im Sinne einer einzigen, politisch rechten Ausrichtung von Kultureinrichtungen wäre für mich schlicht erdrückend, langweilig. Ganz persönlich möchte ich das nicht haben. Aber ich möchte auch diese erdrückende linke Hegemonie nicht haben. Daher will ich meine Möglichkeiten dazu nutzen, diesen Block, der sich in den Vielen artikuliert, etwas aufzusprengen und dafür zu sorgen, dass auch andere Positionen ihre Stimme erheben können. Es ist sehr wichtig, da sollte eine offenere Debatte über viele wichtige Schicksalsfragen dieses Landes in Gang kommen. Die Kultur ist ein Feld, auf dem diese Fragen in einer symbolischen Form durchdiskutiert und ausgefochten werden. Das sollte mit fairen Mitteln geschehen. Leggewie: Sie möchten auch nicht, dass es so weit geht wie in Ungarn?! Jongen: Nein, das möchte ich nicht. Leggewie: Was ist falsch an dem, was in Ungarn passiert? Jongen: Ich kenne die Situation in Ungarn nicht genau. Leggewie: Aber ich habe Ihnen ja gerade ein paar Beispiele genannt. Jongen: Soweit kenne ich die Beispiele auch. Aber die Ungarn werden das wahrscheinlich noch einmal von einer anderen Warte aus erzählen. Man ist ja oft sehr blind für den Balken im eigenen Auge und sieht den Splitter im Auge des anderen. Leggewie: Zugegeben.

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Jongen: Und deswegen ist es immer leicht, die anderen zu kritisieren, während man gerne übersieht, nach welchen Kriterien bei uns zum Beispiel Direktoren ausgewählt werden. Ich habe in Wien studiert, da haben an der Akademie der Bildenden Künste die Phantastischen Realisten als Professoren gelehrt. Die wurden alle irgendwann in Pension geschickt, und Konzeptkünstler ­haben das Ruder übernommen. Würden Sie da auch sagen, die werden ausgetauscht, es wird enthauptet? Leggewie: Nein! Jongen: Da ist eine bestimmte Schule ausgelaufen und eine andere hat übernommen. Leggewie: Also: Ich bin gegen jede Art von politischer Einflussnahme auf die Besetzung von Posten. Ich bin dagegen, dass Intendantenposten politisch besetzt und Museumsdirektoren politisch gewählt werden. Der Unterschied zu dem, worüber Sie gerade reden, besteht darin, dass das einen fortlaufenden Prozess in der Kunstgeschichte, in der Theatergeschichte, im Kunst- und Kulturbetrieb überhaupt beschreibt: dass sich Richtungen ändern, dass es so etwas gibt wie Moden, dass es auch Paradigmenwechsel gibt. Und das entscheidet nicht die Politik! Das ist der Unterschied! Es sagt nicht die Politik: „Okay, wir malen jetzt realistisch.“ Das ist SED-Politik! Jongen: Da gebe ich Ihnen recht. Leggewie: Und wir wollen gar nicht erst über die Reichskultur­ kammer reden. Das ist der Unterschied. Jongen: Völlig d’accord. Leggewie: Sie haben ja vorhin gesagt: „Wenn wir die Regierung übernommen haben …“ Gesetzt, Sie werden in einer künftigen CDU-AfD-Regierung in Sachsen oder in Baden-Württemberg Kultur- oder Wissenschaftsminister. Was würden Sie denn als Kulturminister … Jongen: Moment, wir sind über einen wichtigen Punkt ein bisschen schnell hinweggegangen. Sie sagten, das sind Moden, Tendenzen, die sich abwechseln. Das klingt so unschuldig, als ginge es nur um einen Wechsel des Zeitgeistes, der sich quasi wie ein Naturgesetz einfach vollzieht. Dahinter sind aber politische, auch metapolitische Prozesse im Gange, und auch die Akteure, die dann jeweils das Ruder übernehmen, sind meistens auf irgendeine Art und Weise parteipolitisch gebunden. Es ist nicht einfach nur ein ideeller Kampf zwischen ästhetischen Richtungen. Leggewie: Zurück zu meiner Frage: Wenn Sie als Kulturminister in einer politischen Entscheidungsrolle wären und nicht mehr in der Opposition, Sie könnten nicht nur Kleine oder Große Anfra-

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gen stellen oder sonst irgendwas, sondern Sie hätten eine politiJongen: Kein Mensch ist davor gefeit. Leggewie: Herr Poggenburg zum Beispiel? Der zwar jetzt seine sche Verantwortung und auch Handlungsmöglichkeiten. Was machen Sie denn anders als die Kultur- und Bildungsminister, die wir eigene Partei hat, damals aber im Namen der AfD denkwürdige gerade haben? Formulierungen setzte. Dem würden Sie dahingehend wahrscheinlich auch nicht vertrauen?! Jongen: Wir würden ganz sicher bestimmte Förderlinien nicht Jongen: Das muss ich jetzt nicht kommentieren. mehr weiterführen, wir würden eine mit unserer sonstigen Politik Leggewie: Das ist bei einem, der „Kümmelhändler“ und „Kamelkohärente Kulturpolitik betreiben. Das heißt, wir würden beispielsweise die Gender- oder auch die Diversity-Programme einstellen. treiber“ aus dem Land jagen will, doch nicht so schwer … Leggewie: Sie waren doch für Pluralität. Jongen: … Das ist doch zu billig. Nehmen Warum einstellen? Sie das doch mal als Zugeständnis zur Jongen: Weil die sich einfügen in eine GeKenntnis, dass man auch selbstkritisch samtpolitik, die stark auf Zuwanderung sein kann. Ich werde doch jetzt nicht irkulturfremder Menschen setzt und die – gendwelche Leute ans Messer liefern. Leggewie: Dann nehmen wir den ganzen um Ihren Begriff aufzunehmen – den Multikulturalismus als Leitbild fördert. „Flügel“. Es gibt in ihrer Partei Tendenzen, die weit über das hinausgehen, was Das ist bekanntlich nicht unser Leitbild. So Sie gerade gesagt haben, und bei denen weit, glaube ich, darf die Gestaltungsmacht der Politik schon gehen – muss sie das, was Sie gerade gesagt haben, tiefstes auch gehen, sonst würde sie völlig beliebig. Missfallen erregen könnte: weil Sie nicht Politik darf und muss Akzente setzen und weit genug gehen. Weil von diesen Leuten dann auch Förderprinzipien festlegen. Das eigentlich intendiert ist, wirklich Remegeschieht immer, und wer anderes bedur zu schaffen, wirklich Zensur zu üben. Und das wissen Sie doch, dass das in hauptet, der ist entweder naiv oder er lügt. Was nicht geschehen darf, ist eine direkte ­Ihrer Partei so ist. Jongen: Es gibt in allen Parteien Flügel, Einflussnahme auf Spielpläne des Theaters, ist ein Hineinregieren der Politik in oder, sagen wir mal, Grundsätzlichere die einzelnen Kulturinstitutionen. und solche, die kompatibler sind mit Leggewie: Wenn Sie dann aber am Geldmöglichen Koalitionspartnern. Ich ver­ trete hier die Position der Bundestagsfrakhahn sitzen, können Sie natürlich viel machen. tion; was in den Bundesländern passiert, Jongen: Das wird doch jetzt gemacht. Perbei denen bekanntlich die Kulturhoheit Demo – Kundgebung von Pegida in Dresden manent. liegt, ist wieder etwas anderes. Ich sehe 2015. Foto Fritz Engel / Zenit Leggewie: Aber wenn es jetzt permanent aber nicht, dass es eine Mehrheit für gemacht würde und Sie das kritisieren, einen anderen Kurs gäbe, als ich ihn hier dann können Sie ja nicht sagen: „Das mavertrete. Das steht auch so in unserem chen wir dann aber genauso.“ Es wird ja nicht richtiger, wenn Sie Grundsatzprogramm und in den Wahlprogrammen. Dass wir dasselbe in die umgekehrte Richtung machen. Ich als parteiloser aber noch um Positionen ringen, sei zugestanden. Kulturkonsument würde mich schärfstens dagegen wehren, dass Leggewie: Bei den Grünen war es irgendwann eindeutig so, dass überhaupt irgendjemand mir erklärt, welches Programm wie gebestimmte Fundi-Positionen nicht mehr gingen. So alt ist die AfD jetzt auch, um sagen zu können: Wir sind Gaulands „gäriger Haufördert wird, nach einer gesamtpolitischen Einstellung, die Sie ja fen“, und das wird sich irgendwie noch ausmendeln. Nur sehe ich: jetzt Rot-Grün unterstellen. zugunsten der radikalen Fraktion. Es ist doch ganz klar, dass die Jongen: Meine Position ist diese: Es muss bei allen Besetzungen AfD über die Jahre immer weiter nach rechts gerückt ist. Sie sind von Stellen, bei allen Förderprogrammen, Preisen und so weiter mit Herrn Lucke eingetreten. immer die künstlerische Qualität, wie immer schwierig diese festzustellen ist, im Vordergrund stehen. Und es müssen diejenigen, Jongen: Ich bin kurz nach Gründung eingetreten, im April 2013. die davon am meisten verstehen, diese Stellen bekommen und Leggewie: Genau. Und die Partei hat doch heute ganz andere diese Preise vergeben. Der Einfluss der Politik auf diese konkreten Schwerpunkte als das, was Herr Lucke gesagt hat, und sogar noch, Entscheidungen muss möglichst gering gehalten werden. Solange was Frau Petry vertreten hat. ich in der Kulturpolitik etwas zu sagen habe, wird das für die AfD Jongen: Schauen Sie mal: Herr Lucke war ja schon der Nazi, Frau gelten. Das heißt, Prämien darf es auf die politisch korrekte rechte Petry war die Nazi, alle ganz schlimm. Seit sie ausgetreten sind, spricht kein Mensch mehr so über sie. Jetzt sind sie plötzlich ganz Gesinnung genauso wenig geben wie auf die linke – in diesen spiegelbildlichen Fehler dürfen wir nicht verfallen. honorige Menschen, selbst rückwirkend gilt das. Das sollte doch mal zu denken geben im Hinblick auf diejenigen, die jetzt vorne Leggewie: Sehen Sie eine Gefahr? Jongen: Die Gefahr ist immer gegeben, natürlich. stehen und genauso dämonisiert werden. Ich hätte aber auch Leggewie: Sehen Sie die Gefahr bei Ihren Leuten im weitesten noch eine Frage an Sie: Sie haben ja als Erster den Begriff des Sinne? Multikulturalismus in Deutschland in die Debatte eingebracht,


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1990, zu einer völlig anderen Zeit als heute. Später haben Sie das Leggewie: Aber was heißt sein Satz: „Etwas Besseres als die FlüchtBuch noch einmal herausgegeben … linge konnte uns gar nicht passieren“? Leggewie: 2012. Jongen: Ich habe diesen Satz nicht gesagt und kann ihn auch nicht Jongen: … und soweit ich weiß, keinen Anlass gesehen, die Kernganz nachvollziehen. Leggewie: Das hat er aber gesagt. thesen zu verändern. Wie sehen Sie die Sache heute? Gibt es ein Kontinuum in Ihrem Denken oder hat dieser Einschnitt im Jahr Jongen: Das hat er gesagt, weil er aus der Parteilogik heraus gesprochen hat. Aber die Parteilogik ist, ich denke auch bei ihm, der Sorge 2015 auch bei Ihnen zu Korrekturen, zu einem Umdenken geführt? um das Land letztlich ganz nachgeordnet. Bei mir war das Gefühl, Leggewie: Nicht, was das Grundkonzept betrifft. Den Begriff, das als die Grenzen offen waren, ein derart muss ich noch kurz anmerken, habe ich ­negatives, dass ich an die Partei in dem quasi importiert, der kommt von einer ­Moment gar nicht gedacht habe. Ich hatte Jazzband des Jazztrompeters Don Cherry da nur noch einen Gedanken im Kopf: Wie in New York. geht das weiter? Das kann nicht gut gehen. Jongen: Das habe ich im Zuge der VorbeAber jetzt zu Ihrer Positionierung. Sie hareitung gelesen. Leggewie: Wer das Buch früher mal geleben erwähnt, dass „Multikulti“ der Name einer Jazzband war. Das scheint mir sympsen hätte, was so gut wie niemand getan hat von denen, die Multikulti gern vertomatisch zu sein für Ihren Blick auf diese Dinge insgesamt. Eine Jazzband ist ja etwas höhnen oder angreifen, hätte gesehen, dass dieses Beharren auf einer immer Heiteres, etwas Schönes, Ästhetisches; und noch ethnischen Leitkultur, dass das sodie Tatsache, dass Sie diesen Titel gewählt ziologisch gesprochen völlig unterkomhaben – es mag gar nicht bewusst so geweplex ist. Solche homogenen Gesellschafsen sein –, zeigt für mich, dass Sie das ganten gibt es nicht, und jemand, der wie Sie ze Feld der Kultur eher ästhetisch betrachaus Südtirol kommt, weiß genau, wo­ ten. Es ist einfach schön, viele Kulturen zu haben, die alle wunderbar zusammenleben, rüber ich rede. Das ist, woran ich festhalte und was ich heute noch radikalisieren viel bunter und interessanter als diese eine Monokultur. würde. Es gibt bestimmte Erscheinungen von Identity-Politik, die mir missfallen, Leggewie: Das ist mal ein Wort! Jongen: Soweit kann ich Ihnen folgen und weil sie die universalistische Basis, die eine Gesellschaft überhaupt noch komwürde Ihnen in gewisser Weise sogar recht geben. Aber ich fürchte, Sie haben die mensurabel macht, verlässt. Weil sie sagt: „Jeder kann nur für sich reden.“ Das sind Und Gegendemo – „Clown statt braun“, ein Rechnung ohne die harte Realität gemacht. Protestzug gegen Magida in Magdeburg Das ganze Feld der Realpolitik bleibt weitTendenzen einer radikalisierten Identity2015. Foto Fritz Engel / Zenit Politik, die ich immer schon kritisiert gehend ausgeklammert, Kultur ist eben nicht nur ein ästhetisches Phänomen. habe. Ich war immer gegen Affirmative Action, gegen positive Diskriminierung. Wenn Sie sagen, Sie würden die Politik genauso machen wie die Regierung, sie nur besser erklären, dann ist Jongen: Da sind wir uns sogar einig. das ein sehr akademischer Ansatz. Sie als Professor würden das Leggewie: Deshalb ist der Gebrauch des Multikulturalismus in Ihrer Propaganda absolut oberflächlich und enthält nach wie vor erklären – nur: Was fangen die Menschen in den einfachen WohnRessentiments gegen Minderheiten, vor die ich mich schützend vierteln mit dieser Erklärung an, die die Probleme, die die multikulturelle Gesellschaft mit sich bringt, tagtäglich auszubaden stellen will. Und zur Flüchtlingsfrage, das war ja Ihre Frage, ob ich ­haben? Denen ist damit wenig geholfen. Die ganz realen Folgen nach 2015 etwas gelernt hätte: Ich lerne nach 2015 auch etwas, was dieser Politik werden mit Erklärungen nicht aus der Welt geich 1990 schon kritisiert habe – nämlich dass man keine Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik machen will, ohne sie zu erkläschafft. Und Ihre Antwort zeigt mir im Grunde, dass Sie diese Folgen entweder nicht sehen oder einfach nicht in den Blick nehren. Man kann à la longue keine andere Politik machen, als letztendlich auch Grenzen zu öffnen. Ich würde aber versuchen, das men wollen. Obwohl Sie selber schon zugegeben haben, wie ich zu erklären. Ich würde sagen: So ist die Welt. Das ist die Aufgabe las, dass die multikulturelle Gesellschaft gar nicht so harmonisch, soziologischer Aufklärung und widerspricht konträr dem, was von nett und schön ist, sondern dass es darin harte Konflikte gibt. Ihrer Seite andauernd kommt. Alexander Gauland hat mir gegen­Daniel Cohn-Bendit hat etwas Ähnliches in einem oft zitierten über zugegeben, dass dieses Thema wunderbar geeignet war, die Aufsatz geschrieben: Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, AfD stark zu machen. Sie haben sich extrem gefreut, dass diese schnell, grausam und wenig solidarisch. Flüchtlinge da waren. Extrem gefreut. Die ganze Sorge, die Sie im Leggewie: In meinem Buch stand: „We never promise you a rose Bundestag äußern, halte ich, ehrlich gesagt, für gespielt. garden.“ Im Präsens. Jongen: Das ist eine ziemlich bösartige Unterstellung, weil das tatJongen: Was bedeutet denn das? Leggewie: Die Unumgänglichkeit von Migration. sächlich unterstellt, dass man einen kurzfristig politischen GeJongen: Aber das, Entschuldigung, grenzt doch an Zynismus. winn über das Wohl des Landes stellt.

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Leggewie: Nein. Jongen: Sehr wohl. Leggewie: Zynismus ist, wenn Sie sagen: „Wir machen die Grenzen zu.“ Und schießen notfalls. Das ist Zynismus. Jongen: Nein, Zynismus ist es, den Menschen zu sagen: „Wir ­haben es euch ja nicht besser versprochen, ihr müsst es jetzt aushalten.“ Leggewie: Nicht „ihr“. Jongen: Sondern? Leggewie: Wir. Wer sagt, dass die Kosten von Migration einseitig auf den Schultern von Unterprivilegierten lasten müssen? Jongen: Das ist aber de facto so! Leggewie: Und das ist grundfalsch! Jongen: Was schlagen Sie dann vor? Leggewie: Eine Politik sozialer Gerechtigkeit, die farbenblind ist. Dass Lasten einseitig auf Kosten Unterprivilegierter geladen werden, ist doch nicht neu, das habe ich überhaupt noch nie anders erlebt in der Geschichte der Bundesrepublik. Und das kritisiere ich sehr! Wir haben eine sehr ungleiche und ungerechte Gesellschaft, und das hat mit der Migrationsfrage erst mal überhaupt nichts zu tun. Jongen: Die Villenbewohner und die Bessergestellten sollen also vermehrt zu Kasse gebeten werden, in deren Vierteln sollen auch die Flüchtlingsunterkünfte gebaut werden und so weiter? Ist es das, was Sie wollen? Leggewie: Ja. Ich habe mich mal mit Herrn Gauland über Parallelgesellschaften unterhalten. Da habe ich ihm die für mich relevanteste Parallelgesellschaft genannt: die Panama Boys, die ihr Geld außer Landes schaffen. Das ist eine Parallelgesellschaft. Jongen: Das lässt sich leicht sagen. Noch sind auch Sie persönlich von all diesen Realfolgen unberührt. Leggewie: Woher wissen Sie das? Ich kümmere mich schon um das, was ich „angerichtet“ habe mit Multikulti. Jongen: Akademisch. Leggewie: Nein, nicht akademisch. Jongen: Auch konkret um Migranten? Leggewie: Das halte ich für das Beste, was man in dieser Lage tun kann. Ich muss noch mal drei Sachen sagen: Nicht ich als Professor muss das erklären, nein, die Bundeskanzlerin und der Bundestag. Schon Helmut Kohl hat versäumt, die Wirklichkeit anzuerkennen: „Deutschland ist ein Einwanderungsland.“ Der zweite Punkt ist Ihr schönes Bild von der Jazzband. Die Mischungen, von denen ich rede, spiegeln sich schon im Goethe’schen Begriff von Weltliteratur wider, oder wenn heute ein Oskar Pastior oder eine Herta Müller oder ein Feridun Zaimoglu oder ein Nuran David Calis gerade deswegen gute deutsche Literatur und Theater machen, weil sie woanders herkommen, weil sie einen anderen Sprachklang haben, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben – dann ist das genau wegen ihrer Multikulturalität. Das ist gut für den kulturellen, sozialen, politischen Wandel. Das ist drittens genau das Paradigma für die Gesellschaft at large. Kultur ist kein Nebenschauplatz, das haben Sie selber gesagt, das ist der Hauptschauplatz – symbolisch gesprochen. Jongen: Das sind Beispiele aus der Kultursphäre, die Sie aber als Paradigma auf andere Bereiche übertragen … Leggewie: Genau. Jongen: … was eben nicht geht.

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Leggewie: Warum nicht? Jongen: Weil eine derartige Übertragung ein Kategorienfehler ist und dazu beiträgt, die real auftretenden Probleme weichzuzeichnen. Im ästhetischen Bereich bleibt man auf das Rezipieren oder Genießen beschränkt und damit in einer gewissen Unverbindlichkeit – bei allem Ernst, der hinter den Künsten steht. Wenn wir aber in den Bereich der Religion überwechseln, namentlich auch der politischen Religion, wie es der Islam ist, dann greift diese rein ästhetische Betrachtung nicht mehr. Sie können heute islamische Sufi-Musik hören, Sie können morgen afrikanische Klänge hören und das alles Jazz-Fusion-mäßig mischen, das ist überhaupt kein Problem. Niemand wird Ihnen böse sein, und nichts Schlimmes wird geschehen. Aber Sie können nicht so problemlos heute Moslem sein und morgen Christ und übermorgen Atheist. Da gibt es sehr harte Friktionen, weil wir heute leider eine Rückkehr der Religion erleben, die damals, als Sie den Begriff geprägt haben, noch gar nicht vorausgesehen werden konnte. Leggewie: In dem Buch finden Sie eine durchaus fundamentale Kritik an einem Verband wie Ditib. Jongen: Warum bewegen Sie sich dann in Moscheen oder geben Tipps, wie man am besten Moscheen baut? Leggewie: Weil ich natürlich für Religionsfreiheit bin und natürlich auch Moscheen gebaut werden können. Jongen: Aber das ist ein Widerspruch! Leggewie: Nein! Das ist keiner. Wir haben dargelegt, wie man die – von Ihrer Seite radikalisierten – Moscheekonflikte durch Form­ gebung, also ästhetisch, rechtlich und politisch lösen kann. Jongen: Das ist jedenfalls eine Inkonsequenz. Wenn Sie die Aufklärung wirklich verteidigen würden – und vielleicht ist das etwas, was wir beide von uns behaupten würden –, dann können Sie nicht dem Bau von Moscheen das Wort reden, in denen dann dezidierte Gegner der Aufklärung und unserer freiheitlichen Trad­i­ tionen ein Spielfeld bekommen und sich ausbreiten können. Leggewie: Wogegen wir beide etwas haben ist eine Entsäkularisierung unserer Gesellschaft. Aber das bedeutet nicht, dass man Religion abschafft oder das Christentum monopolisiert, wie das viele AfD-Anhänger gerne hätten, es meint die Trennung von Staat und Kirche, und die ist im Fall Ditib noch nie vorhanden gewesen. Aber Moscheen dürfen gebaut werden, das gehört zur Religionsfreiheit, und das gehört zur Versammlungsfreiheit. Und da wird Ihnen jedes Bundesverfassungsgericht sofort in die Parade fahren, wenn Sie daran tasten, genauso, wie wenn Sie an der Kunstfreiheit rütteln. Jongen: Aber es ist ein großer Unterschied, ob man das naiv fördert oder ob man zwar die Religionsfreiheit anerkennt, aber sehr genau darauf blickt, ob in Moscheen wirklich verfassungsfeind­ liche und gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtete Predigten gehalten werden. Der Verfassungsschutz nimmt dieses Milieu nicht ohne Grund unter die Lupe. Ich bin hier sehr, sehr skeptisch, was die Kompatibilität dieser Tendenzen mit unserer Lebens­weise angeht. Leggewie: Und ich bewundere gerade, wie Sie und Ihre Partei das hinkriegen, dass man, egal über welches Thema man redet – wir hatten über Theater gesprochen –, am Ende doch bei den Muslimen landet. //


Buchverlag Neuerscheinungen

Schauspielhaus Zürich

Das 25. Festival-Jubiläum von „Starke Stücke“ gibt Anlass, über ästhe­ tische und kulturpolitische Strukturen der darstellenden Künste in Hessen und Rhein-Main nachzudenken. Präsentiert werden Projekte der freien Szene sowie die künstlerischen und pädagogischen Programme der dortigen Theaterfestivals und Staatstheater. Die Publikation versteht sich als Forum von Expertisen und plädiert für die Vernetzung. Buchvorstellung am 13.05.2019, Hessisches Staatstheater Wiesbaden Starke Stücke Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main Herausgegeben von Wolfgang Schneider und Nadja Blickle Eine Veröffentlichung der KulturRegion FrankfurtRheinMain und der Starke Stücke GbR Paperback mit 124 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-193-0 EUR EUR 16,00 (print). EUR 14,00 (digital)

Newton Moreno Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose)

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Silvia Gomez Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro Das Ende aller Wunder Sergio Roveri Hängepartie (mit Innenansichten)

Keine Intendanz wie jede andere. Dieses Buch führt mit Bildern und Texten durch zehn Jahre Theater am Schauspielhaus Zürich unter der Intendanz Barbara Freys und lässt prägende Theaterschaffende und Weggefährten dieser Zeit zu Wort kommen: Lukas Bärfuss schreibt über die Veränderung Zürichs und das Spannungsverhältnis des Theaters dazu, während Beatrice und Peter von Matt mit Barbara Frey über Klassiker und die absurde Forderung nach einer „Stunde Null“ in der Literatur sprechen. Buchpremiere am 10.04.2019, Schauspielhaus Zürich Schauspielhaus Zürich 2009–2019 Paperback mit 444 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-191-6 EUR 28,00 (print). EUR 22,99 (digital)

Was passiert, wenn Dorfbewohner entdecken, dass eine Frau als Mann seine/ihre große Liebe gelebt hat, erzählt Wüstes Land, Agreste von Newton Moreno.

Grace Passô Für Elise

Theaterstücke aus Brasilien

ilianinschaft profiiens erausgenoAugusto eretzt.

auftritt

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Unbeherrschbare Ereignisse, Gefühle und Kontrollzwang bringen in Grace Passôs Für Elise vier Personen einander näher als erwünscht. „Alles unter Kontrolle“, erklärt die Krankenschwester in Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm über die Sehnsüchte und Ängste ihrer Patientin. Theaterstücke von Newton Moreno Grace PassÔ Silvia Gomez Pedro Brício Paulo Santoro Sérgio Roveri

In Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh improvisieren und streiten vier Schauspieler auf einer Theaterprobe über die Mathematik der Liebe und des Theaters. In Paulo Santoros Das Ende aller Wunder philosophieren ein alter Professor und seine Frau im Rollstuhl über den Kosmos und bezahlten Sex im Alter. In Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten) lästern und lamentieren zwei Fensterputzer an einem Hochhausturm über die da drinnen und die da draußen über dem Abgrund.

Dieser Band versammelt sechs Theaterstücke aus Brasilien, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen.

Dieser Band versammelt sechs Theaterstücke aus Kuba, die erstmalig in deutscher Sprache vorliegen.

Newton Moreno: Wüstes Land, Agreste (Malven-Rose) Grace Passô: Für Elise Silvia Gomez: Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm Pedro Brício: Fast verlorene Liebesmüh Paulo Santoro: Das Ende aller Wunder Sergio Roveri: Hängepartie (mit Innenansichten)

Yerandy Fleites Pérez: Passion King Lear Carlós Celdrán: Zehn Millionen Agnieska Hernández Díaz: Mehr, Macbeth! (Ein dokumentarisches Fest) Reinaldo Montero: Eldorado Yunior García: Jacuzzi Abel González Melo: Mechanismen (Ein Spiel mit den Gesetzen der Bewegung)

Aufführungsrechte: vertrieb@theaterderzeit.de

Aufführungsrechte: vertrieb@theaterderzeit.de Dialog 28 Theaterstücke aus Brasilien Herausgegeben von Henry Thorau

Dialog 30 Theaterstücke aus Kuba Herausgegeben von Omar Valiño

Paperback mit 214 Seiten ISBN 978-3-95749-152-7 EUR 22,00 (print). EUR 18,00 (digital)

Paperback mit 300 Seiten ISBN 978-3-95749-154-1 EUR 22,00 (print). EUR 18,00 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


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Auf Kollisionskurs Die Konfliktlinien zwischen Theatern und der AfD in Sachsen von Michael Bartsch

A

uf dem langen Flur der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag hängen zwischen den Abgeordnetenbüros Porträts berühmter Deutscher. Ob es immer nachahmenswerte Vorbilder sind, sei dahingestellt, denn Karl der Große beispielsweise hatte um 800 nach Christus gerade den Sachsen übelst mitgespielt. Aber auf die Weimarer Dichterfürsten, auf Carl Maria von Weber, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und erst recht Wilhelm von Humboldt oder Gotthold Ephraim Lessing wird man sich ver­ ständigen können. Hoffnungsvolle Auspizien auf ein Gespräch mit den weit und breit einzigen kulturaffinen Politikern der AfD Sachsen, zumal beide der „Alternativen Mitte“ zuzurechnen sind. Die Grafikdesignerin Karin Wilke hat lange im westdeutschen Norden gelebt und ist die kulturpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion. Ihr Mitarbeiter Thomas Hartung hat als Germanist promoviert und steckt hinter den kulturpolitischen Passagen des Programms zur Landtagswahl am 1. September 2019. Was aber auch in einem offenen Gespräch nicht gelingen will, ist die Verständigung auf Grundwerte, für die all jene Dichter und Denker und Maler und Komponisten draußen auf dem Flur stehen. „Wir empfinden uns als die Verteidiger des Grundgesetzes“, erklärt Karin Wilke leidenschaftlich und meint damit in erster Linie die Meinungsfreiheit des Artikels fünf. Zugleich stellt Thomas Hartung die Allgemeinverbindlichkeit solcher Werte infrage. „Dieses schleichende gesinnungsethisch orientierte Bild einer idealen Gesellschaft, das man vielleicht noch aus DDR-Zeiten hinübergerettet hat, versucht man unter allen Umständen durchzudrücken und sich als der Bessere zu verstehen, anderes gar nicht mehr zuzulassen!“ An diesem Punkt scheitern alle Verständigungsversuche. Anknüpfen ließe sich bestenfalls an die Kunstdefinition Karin Wilkes, die Kunst als die „Entdeckung des Unbekannten und Neuen“ bezeichnet, ginge es nicht auch hier um Ideologie. Denn Kunst in ihrer derzeitigen Erscheinungsform ist für die AfD ein „links­ besetzter Bereich“. Deshalb müsste die Partei, so Wilke, wahre Kunstfreiheit wiedererkämpfen, indem man die Kunst aus dem Leid linker Indoktrination befreie. In einer ähnlich schiefen Gedankenoperation deutet die AfD Maßnahmen zur Demokratieförderung gerne als „Kampf gegen rechts“. Bei dieser Argumentation ist die von der gesamten Neuen Rechten vielfach bekannte Selbstviktimisierung mit den Händen zu greifen. Der Vorhalt, dass doch die Attacke, der Kampf um die kulturelle Hegemonie, von der

Rechten ausgehe, läuft ins Leere, weil die AfD diesen Kampf als Befreiungskampf versteht. Dieser Kulturkampf sei nicht mehr nur eine Befürchtung, sondern längst real, konstatiert der Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, Joachim Klement. Allerdings hat es in Sachsen, das sonst bei allen unrühmlichen Statistiken wie etwa zu politisch motivierten Gewalttaten oder Übergriffen gegen Fremde und Journalisten an der Spitze liegt, noch keine direkten Störungen von Kulturveranstaltungen oder Theatervorstellungen gegeben wie in Berlin und einigen westdeutschen Städten. Die Ausein­ andersetzung findet entweder auf der Straße oder in zerstrittenen bürgerlichen Zirkeln statt, die sich immer weiter voneinander ­abgrenzen. Skatrunden oder Geburtstagsfeiern zerfallen auch in akademischen Kreisen, weil eine Verständigung auf gemeinsame Grundwerte nicht mehr möglich ist. Die Unfähigkeit zu einer gemeinsamen Sprache hat auch alle öffentlichen Debattenformate sterben lassen. Denn Dresden gilt nicht nur als „Hauptstadt der Bewegung“, es war infolgedessen eine Zeit lang auch Hauptstadt der Dialogversuche. Durch Pegida aufgeschreckt, wandten Parlamentarier und die Freistaatsregierung in ganztägigen Gesprächsfestivals mit Tausenden Teilnehmern das Gesicht zum Volke. Ähnlich großformatig versuchte es der andere Teil „besorgter Bürger“, etwa mit dem Kreuzkirchendialog. Was also tun? Sich positionieren und auf die Einhaltung humanistischer Werte verweisen? Oder die Verständigung versuchen? Sächsische Künstler und Kulturinstitutionen neigten bei dieser Frage eher zum Appell und zur verbalen Kampfansage. Zwar hatte auch der ehemalige Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz das Theater immer wieder als den Ort bezeichnet, an dem die Probleme der Stadt verhandelt würden, und das nicht erst seit der Herausforderung durch die aufkommenden Pegida-Demonstrationen Ende Oktober 2014. Aber zum Verhandeln braucht es Partner. Anhänger der Neuen Rechten sind in Theatern oder im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau eher selten anzutreffen. Zumindest soweit ersichtlich, „wir fragen Besucher natürlich nicht nach ihrem Parteibuch“, erklärt Joachim Klement. So sehr aber die Theater und das Staatsschauspiel die Einladung und das Angebot an Andersdenkende betonen, so wenig findet es Resonanz. Dabei standen die „Vorläufer“ von Pegida, wenn man so will, sogar schon auf der Bühne. Die spektakuläre und bundesweit debat­ tierte „Weber“-Adaption Volker Löschs brachte 2004 den Dresdner Bürgerchor ins Schauspielhaus, der da bereits gegen die Medien und „die da oben“ motzte. Verglichen mit der damaligen Heftigkeit der Debatten, blieb die Resonanz auf die jüngste Dresdner Arbeit von Volker Lösch, Thomas Freyer und Ulf Schmidt dagegen eher überschaubar.


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„Das blaue Wunder“ spinnt Originalzitate von AfD-Propheten wie Alexander Gauland, Björn Höcke, André Poggenburg (ehemals AfD, jetzt mit eigener Partei) oder Alice Weidel weiter und illustriert anhand historischer Erfahrungen, was nach einer „Machtergreifung“ der AfD zu erwarten sei. Nämlich das blaue Wunder, wie Dresdens bekannteste Elbbrücke genannt wird, im sprichwörtlichen Sinn. Die gar nicht so fiktive Story spielt auf einem Boot, das ebenso sprichwörtlich immer zu voll ist, oder besser gesagt: auf einem richtigen Schiff, auf dem die Kerndeutschen endlich ungestört unter sich sind. Auch sie schwärmen vom Aufbruch ins Neue und Unbekannte, den

Endlich allein – unter Deutschen? „Das blaue Wunder“ von Volker Lösch, Thomas Freyer und Ulf Schmidt am Staatsschauspiel Dresden imaginiert eine Zeit nach einem Wahlsieg der AfD. Foto Sebastian Hoppe

möglicherweise AfD-Kulturpolitikerin Wilke meint. Aber alle Probleme, für die sie sonst die fremden „Maschinenmenschen“ unten in der Ankerkammer verantwortlich machen konnten, entstehen unter ihnen selber und führen zur Katastrophe.


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Das ist zwar kein plumpes Agitproptheater, aber eindeutiger Wahlkampf gegen die AfD, geradezu ein Menetekel. Zwischendurch treten Vertreter von Dresdner Vereinen und Initiativen auf und berichten von ihren Aktivitäten für ein friedliches Zusammenleben mit Ausländern oder von der Seenotrettung im Mittelmeer. Auch in der dritten ausverkauften Repertoirevorstellung gibt es dafür häufigen Szenenapplaus. Nur im ersten Publikumsgespräch war eine AfDGruppe aus der Kleinstadt Großenhain anwesend, die sich „amüsiert“ äußerte über die plakativen Warnungen. Keine Spur von Tumul­ten. Als derselbe Volker Lösch im November 2015 in „Graf Öderland“ von Max Frisch den Chor umfangreiche Originalpassagen von Pegida-Rednern und Teilnehmern zitieren ließ, gab es höchstens grummelnde Unmutsäußerungen. Ähnliche Erfahrungen machten Bürgerbühnenspieler im Journalistenstück „Zuerst die gute Nachricht“. Statt heißer Debatten über die „Lügenpresse“ nur auffallend warmherzige Publikumsgespräche. Jeder sitzt in seiner Blase. „Die Sachsen sind weniger bereit, sich als Einzelpersonen öffentlich kenntlich zu machen“, versucht Schauspielintendant Klement eine Erklärung. Er habe auch kein vordergründiges Interesse an einer Skandalisierung. Vielmehr wolle er aufklären und überzeugen und, ja, sich positionieren in einem gar nicht immer politisch intendierten, aber politisch wirkenden Theater. Dirk Lauckes „Früher war alles“ an der Bürgerbühne befasst sich hingegen sehr konkret mit der Stadt Freital bei Dresden, die durch Über­ griffe auf ein Asylbewerberheim sowie die Terrorgruppe Freital überregional in ein schlechtes Licht geriet. Das Erinnerungstheater geht nachsichtig mit Freital um, will DDR-Hintergründe und die Folgen der Deindustrialisierung nach der Wende aufzeigen und stellt eher freundliche Flüchtlingshelfer in den Vordergrund. Generell dominiert seit dem Auftauchen von AfD und Pegida eher das Statement, nicht nur bei den darstellenden Künsten. Im Widerstand gegen den „nationalen Widerstand“ von Pegida hatten Dresdner Künstler die originellsten Ideen. Die Brass-Band Banda Internationale veranstaltete zum Beispiel eine „Angsthasendemo“, mit Tausenden Besen wurden die von einem Pegida-Zug benutzten Straßen symbolisch sauber gefegt. Auf dem Theater zeigen sich bei weitem nicht nur die Bühnen der Landeshauptstadt engagiert. In Zittau holte „Der Fleck“ Gastarbeiter aus dem Dunkel ihrer Arbeitsverhältnisse, die Landesbühnen Sachsen haben Brechts „Arturo Ui“ gänsehauterregend aufgefrischt. Intendant Roland May vom Theater Plauen-Zwickau erhielt im Vorjahr den Preis des Sächsischen Theatertreffens für „German History“, einen Heiner-Müller-Abend. Die Dresdner AfDPolitiker regt es auf, dass das gleiche Theater mit Janne Tellers ­Gedankenexperiment „Krieg – Stell dir vor, er wäre hier“ schon Zwölfjährige in Klassenzimmern aufsucht. Kultur- und Theaterleute haben auf ihrem Feld bislang auch kein adäquates Gegenüber im nationalkonservativen Spektrum. Politiker wie Karin Wilke und Thomas Hartung sind da nur noch Exoten, die bedauern, dass Kulturpolitik in ihrer Partei „nur sekundär behandelt wird“. Ein albernes und primitives Trojanisches Pferd, in mehreren sächsischen Städten für einige Tage stationiert, stellte bislang den Gipfel an „Kunstaktionen“ der Neuen Rechten dar. Mit dabei die Dresden-Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen, die mit der „Charta 2017“ gegen die Übergriffe auf rechte Verlage bei der Frankfurter Buchmesse protestierte. Sie

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stellte sich immerhin in diesem Januar einer Diskussion, die den Vorwürfen nachgeht, ihre Buchhandlung mutiere mehr und mehr zu einer Filiale des ultrarechten Antaios-Verlages. Den Schriftsteller-Schaukampf zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein vom März 2018 nimmt heute niemand mehr ernst, so sehr hat sich Tellkamp dabei selbst entlarvt. Eine konsistente Kulturpolitik der Dresdner AfD ist nicht erkennbar. „Sie stellen keine Anträge und beteiligen sich kaum an ­Debatten“, schätzt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Dresdner Stadtrat, Christiane Filius-Jehne ein. „Feuerwerke sind Kulturgut“, teilt die AfD-Fraktion mit und fordert weniger Reglementierung beim Ballern. In der Haushaltsdebatte wollten AfD-Stadträte zwar dem Deutsch-Russischen Kulturinstitut mehr Geld geben. In der Soziokultur aber sitze der Leibhaftige, dort werde nach ihrer Auffassung indoktriniert und umerzogen. Eine seltsame Allianz mit der SPD gibt es im Kampf gegen die öffentliche Finanzierung von Hellerau, wo doch im Grunde die von Karin Wilke postulierten künstlerischen Entdeckungs­ versuche stattfinden – was natürlich eines gewissen Budgets bedarf. Aber die Abgeordnete misst den Erfolg von Kunst auch an den verkauften Eintrittskarten. „Der gesunde Menschenverstand sagt, dass Hellerau nicht förderungswürdig ist“, fügt Thomas Hartung hinzu. Im Sächsischen Landtag herrscht seit der einstimmigen Verabschiedung des Kulturraumgesetzes 1993 in kulturpolitischen Fragen ein beachtlicher Grundkonsens. Die AfD zieht da nicht mit, lehnte im Dezember 2018 beispielsweise die Aufstockung der Mittel für kulturelle Bildung ab, weil auch dahinter linke Propaganda vermutet wird. Der altböse Feind lauert überall, die Phobien der Lutherzeit erscheinen dagegen harmlos. Ein AfD-Landeswahlprogramm 2019 indes gibt es noch nicht. In der vorläufigen Zehn-Punkte-Agenda zur Wahl kommen Kunst und Kultur nicht vor. 2014 nahmen sie eine reichliche halbe Seite ein. Wichtigster Punkt war die Absage an einen „Verordnungsstaat, der durch Fördermittel und Auszeichnungen in die Kulturproduktion eingreift“, aber auch die Absage an Kommerzkultur. Die Passagen 2019 würden sich kaum unterscheiden, kündigt Thomas Hartung an. Eine „fragwürdige Forderung“ wie die der AfD Sachsen-Anhalt aus dem Landeswahlprogramm 2016 werde Sachsen nicht über­ nehmen. „Museen, Orchester und Theater sind in der Pflicht, einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“, hieß es da. Bei der Verabschiedung im Landtagsbüro bleibt der Eindruck, dass diese beiden von der Entwicklung der AfD überholten Pioniere aus der Lucke-Gründerzeit ehrlich von der Notwendigkeit einer Kunstbefreiung aus linken Fesseln überzeugt sind. Eine Diskussion darüber, dass diese „linken Werte“ nichts anderes als die Fortschreibung der über Jahrhunderte mühsam errungenen urchristlichen, humanistischen und aufklärerischen Ideen darstellen, wie sie beispielsweise in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 formuliert wurden, ist nicht möglich. Beide Seiten wähnen sich im Verteidigungsmodus. Beide? „Nur Barbaren können sich verteidigen“, lautet der Titel eines Buches aus dem Antaios-Verlag, das zur radikalen Absage jeglicher Kompromisse aufruft. Verleger Götz Kubitschek verkündete im Dresdner Kulturpalast, die Gräben in der Gesellschaft müssten vertieft werden. Und Buchhändlerin Susanne Dagen will „Sprengstoff“ in die Gesellschaft tragen. Das nennt man dann wohl Angriffe im Pelz der Verteidigung. //


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umkämpfte vielfalt

Fiesta Antifa Der Dramatiker Thomas Köck über die mit vier Kollegen gegründete Autor*inneninitiative Nazis & Goldmund im Gespräch mit Anja Nioduschewski

Die Strategie von Nazis & Goldmund folgt ja dem Prinzip: Kunst als Waffe. Sie bezeichnen sich als vielköpfiges poetologisches Monstrum, das auch in den online gestellten „Hydra“-Texten lite­ rarisch Gestalt annimmt. Stößt man mit literarischen Mitteln an Grenzen, wenn man politisch wirksam sein will? In welchen   homas Köck, Sie haben 2016 zusammen mit Jörg Albrecht, Thomas Arzt, Sandra Gugić und Gerhild Steinbuch die Autor*in­ ­Resonanzraum stoßen diese Texte vor? Unser Schreibgestus, der Fokus auf die Sprache, war zu Beginn nengruppe Nazis & Goldmund gegründet, zunächst in Form einer Internetplattform, auf der Sie wöchentlich mit künstlerischen und eher eine Reaktion auf eine bestimmte Sprachverdrehung, die allerdings 2016 gerade in Österreich noch ein klein wenig subtiler essayistischen Texten auf rechte, nationalistische und autoritäre war als heute. Mittlerweile ist politische Tendenzen weltweit völlig offensichtlich, dass der reagiert, ja, gegen sie ange­ Neoliberalismus und der Faschrieben haben. Die öffent­ liche Einmischung von Künst­ schismus außergewöhnlich lern in den politischen Diskurs gut im Bett miteinander können. Der Rassismus ist ja ein erlebt mit dem erstarkenden wunderbares Mittel, um den Extremismus eine Renais­ sance, ein kollektiver Zusam­ neoliberalen Umbau der Gemenschluss ist allerdings die sellschaft, die Umverteilung Ausnahme. Warum haben Sie von unten nach oben durchzuführen. Momentan wird’s sich zusammengeschlossen? allerdings tatsächlich surreal. Ich glaube, zu einem großen In Österreich wurden unter Teil, um sich überhaupt erst anderem die Erstaufnahmemal irgendwie zu äußern. Zu zentren vor Kurzem in „Ausder Zeit drehten sich alle Gespräche zwischen uns eigentreisezentren“ umbenannt – da ist keine Subtilität mehr. Es lich immer um die gleichen Themen: den Rechtsruck und müsste ja jeder sehen, was da passiert; umso erschreckendie offensichtliche SprachverSchreiben gegen rechts – Nazis & Goldmund mit Thomas Köck (hinten links) sowie v.l.n.r. Sandra Gugić, Gerhild Steinbuch, Jörg Albrecht drehung der Neonationalisder ist gerade die Zustimund Thomas Arzt. Foto Sabrina Richmann ten, die sich wunderbar mit mung, die diese Regierung in diesem neoliberalen, pseudo­ der Öffentlichkeit erfährt. Interessant war für uns, dass freundlichen Managerdeng­ wir nach den ersten Texten relativ viel Zuspruch bekamen und lisch ergänzen. Außerdem wollten wir so eine Art digitale Antwort mittlerweile andere Initiativen angestoßen haben – es gibt da also auf die digitalen Netzwerke der Identitären Bewegung kreieren und offensichtlich ein Bedürfnis nach anderen Gemeinschaften. natürlich die Alternativrealitäten im Internet spiegeln. Wichtig war uns auch, auf eine daraus resultierende Verflachung von Inhalten Auch auf rechtsnationalistischer Seite positionieren sich Schrift­ und Themen zu reagieren, die mit dem neoliberalen Umbau einhergeht. Das hängt ja alles zusammen: die Kürzung von Finanzmitteln steller, zum Beispiel Uwe Tellkamp. Allerdings bis dato nicht mit für Bildungseinrichtungen, der Umbau von Universitäten zu Unterliterarischen Mitteln. Auch Durs Grünbein zog in seiner Reaktion nehmen, die wie verrückt Drittmittel einwerben und im citation auf Tellkamp die Diskussion oder den Essay vor. Warum verfolgen index raufklettern wollen, die sogenannte Buchkrise, die Theater­ Sie einen anderen Weg? Beispielsweise in Ihrem in diesem Heft krise, die Zeitungskrise, das muntere Treiben von Verschwörungsabgedruckten Text „blühende landschaften – wir werden sie ja­ theoretikern und eine recht offensichtliche Verblödung großer Landgen“ (siehe Seite 27), in dem Sie versuchen, das rechte Narrativ literarisch zu kapern und angriffslustig umzukehren. striche mitten in Europa.

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Das war ein bisschen auch die Regel, die wir uns gegeben haben bei Nazis & Goldmund: mit sogenannten literarischen Mitteln zu arbeiten. Und ich empfand das als die recht selbstverständliche, alltägliche Arbeit am Begriff. Eine Sprache, eine Narration, eine Art zu erzählen, reflektiert und denkt halt entweder ihr Narrativ, ihre Repräsentationen, Ausschlüsse und Unabbildbarkeiten mit und arbeitet sich an und mit denen ab oder halt nicht. Das merkt man im Übrigen ja auch bei Tellkamp, dieses Reaktionäre taucht ja nicht aus heiterem Himmel auf, das sucht eine Sprache, eine Haltung schon unentwegt heim und spiegelt sich in ihr. In den 1990er Jahren hatte Botho Strauß mit seinem „Anschwel­ lenden Bocksgesang“ die Literaturszene verstört – galt aber als singuläre Erscheinung. Schaut man heute unter Autoren genauer hin? Und ist das so klar, dass Theater immer links ist? Ich würde mich davor hüten, von einer Autor*inneninitiative auf einen ganzen (Theater-)Betrieb zu schließen, der nach wie vor feudalistisch und hierarchisch strukturiert ist, in dem die Intendanz immer noch einen x-fachen Lohn von Schauspielerinnen und Schauspielern am selben Haus bekommt, ganz zu schweigen von dem Gefälle in künstlerischen Teams oder so. Das hat ja alles nichts mit links zu tun. Das ist das Grundsatzproblem des Liberalismus: Man ist aufgeklärt, setzt sich für Gleichberechtigung ein und so weiter, aber die ökonomische Basis ist knallhart auf den kapitalistischen survival of the fittest ausgerichtet – und daran wird erst mal auch nicht gerüttelt. Schon gar nicht mit einer Spielplanposition zum Thema X. Man müsste den Betrieb umstrukturieren. Aber Theater sind halt staatliche Institutionen, und als solche spiegeln sie im Sinne Althussers halt auch weiterhin hauptsächlich den Staat. Dass das alles zusammenhängt und ohne Umbau der ökonomischen Basis der Rest nur Symptombehandlung bleibt – geschenkt. In diesem Sinne: Nichts ist klar, und man muss noch viel genauer hinschauen. Nazis & Goldmund hat seinen Aktionsrahmen und sein Netzwerk kontinuierlich erweitert. 2018 haben Sie im Ballhaus Ost in Berlin bei einer Konferenz unter dem Titel „Ängst is now a Weltanschau­ ung“ für mehrere Tage Künstler in Arbeitsgruppen, Workshops und Gesprächen versammelt. Da stand schon die Frage nach der eigenen Rolle in der Gesellschaft zur Debatte, wie auch die nach konkreten Visionen und Aktionsräumen. 2019 folgt nun am brut in Wien und an der Berliner Volksbühne die Diskursreihe „Die Zukunft des Widerstands“ – im Schulterschluss mit Die Vielen.

Billinger & Schulz

Ist diese Reihe ein konsequenter Schritt ins Realpolitische? Oder nur eine Übersetzung vom Digitalen ins Analoge? Eine Partei gründen wir, glaube ich, einstweilen noch nicht. Letztlich hatten wir zwei Dinge festgestellt, während wir unsere Texte für den Blog geschrieben haben. Nämlich, dass erstens die Zeit der Reaktion vorbei ist. Es langweilt mittlerweile ein bisschen, nur noch auf den Diskursschmarrn der Neonationalen aufzuspringen. Das wollen die ja gerade. Die andauernde Empörung. Stattdessen lieber eigene Entwürfe formulieren. Agieren. Es fehlt ja auch an alternativen ökonomischen Modellen und Systemen. Und zweitens, dass wir aus dieser neoliberalen Zersplitterung und Entsolidarisierung raus möchten, die ja diesen Neofaschismus nur noch mehr stützen, und stattdessen an neuen Koalitionen und Bündnissen interessiert sind. Die versuchen wir so gut das halt geht in neuen Formaten und Räumen zu kreieren. Wie sieht die Zukunft des Widerstands aus? Ziemlich gut. Ich glaube, der Neoliberalismus und die Rechten können so gut miteinander, weil sie beide an der Entsolidarisierung wachsen, von ihr profitieren. Darin findet man die Zukunft des Widerstands. – Um Die Türen zu zitieren: Fiesta Antifa. Die folgenden Texte von Thomas Köck, Elfriede Jelinek und Kat­hrin Röggla entstanden für nazis&goldmund.de und die Diskursreihe „Die Zukunft des Widerstands“ am brut in Wien. Thomas Köck, geboren 1986 in Steyr, Oberösterreich, studierte in Wien Philosophie und Literaturwissenschaft, anschließend Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. In der Spielzeit 2015/16 war er Hausautor am Nationaltheater Mannheim und konzipierte Lese- und Veranstaltungsreihen in Wien, Berlin und Mannheim. Für „paradies fluten (verirrte sinfonie)“ erhielt er 2016 den Kleist-Förderpreis, 2017 war das Stück zu den Autorentheatertagen eingeladen, 2018 gewann es den Mülheimer Dramatikerpreis. Mit Gerhild Steinbuch, Jörg Albrecht, Sandra Gugić und Thomas Arzt gründete er das Autor*innenkollektiv Nazis & Goldmund, das die Entwicklungen der europäischen Rechten kritisch beobachtet und kommentiert. Seit Januar 2019 veranstaltet das Kollektiv im brut Wien die monatliche Diskursreihe „Die Zukunft des ­Widerstands 1: Interspeeches“ sowie im Grünen Salon der Volksbühne die Reihe „Die Zukunft des Widerstands 2: Solidarity Solos“. Die nächste Veranstaltung in der Volksbühne findet am 18. April statt.

11.4. (Premiere) – 13.4.

Zeit / Temps

fft-duesseldorf.de


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thomas köck_blühende landschaften – wir werden sie jagen!

Thomas Köck

blühende landschaften – wir werden sie jagen! vielleicht sollte man sich wieder mit dem gespenst beschäftigen, vielleicht gerade jetzt, denkt sich ein chor, während er etwas erschöpft durch den immerwiederkehrenden deutschen herbst läuft. und immer wieder das gleiche: keine blühenden landschaften mehr, wo sind die denn bloß hin? diese blühenden landschaften, die einst versprochen wurden? blühende landschaften, paradiesische gärten und leuchtende wiesen wurden doch versprochen. jetzt sieht der chor wie immer nur all das laub, das über den boden weht, verlassene bahn­ höfe, verschlossene türen, vergessene wege, verschlossene hauseingänge, unbewohnte mietshäuser, zerschlagene fassaden, jedes jahr das gleiche, denkt er sich, der chor und abgerissene wahlplakate hängen da auch noch an der wand an der der müde chor vorüberspaziert. vielleicht sollte man sich einfach wieder mit dem gespenst beschäftigen, wann auch immer dieses jetzt einmal gewesen sein wird, wann auch immer dieses jetzt einmal stattgefunden haben wird, denkt sich ein chor, dem gerade die worte fehlen, weil er müde ist, immer wieder die gleichen probleme in immer wieder der gleichen leier anzukreiden, weil er müde geworden ist, dieser chor, immer wieder und immer wieder dabei zuzusehen, wie immer und immer wieder, seit es chöre gibt, man sich mit den gleichen problemen, mit den gleichen flachpfeifen, denkt er sich, der chor, herumschlagen muss. immer der gleiche blödsinn, hoffnung als marketingtool für den stimmenfang missbraucht. die abrechnung folgt erst in der nächsten generation. vielleicht also doch mit dem fluch sich beschäftigen, der diese blühenden landschaften heimsucht. mit dem fluch und mit dem gespenst, das wieder und wieder und wieder und immer wieder durch diese blühenden landschaften zieht, die ja eigentlich noch nie wirklich geblüht haben, nur im sommer kurz einmal, denkt sich der chor, aber das erzählen sich alle hier nur unentwegt, keiner weiß tatsächlich, ob das wirklich einmal so war, weil sich keiner mehr wirklich daran erinnern kann, an diese zeit, die heute so fremd erscheint. all die gespenster hier, die durch die straßen schwärmen, denkt sich der chor, während er weiter durch die verwelkenden landschaften spaziert, über all diese gespenster könnte man jetzt eigentlich reden, und man könnte jetzt wieder über den rechtsruck – könnte man. oder über den neoliberalismus, könnte man. oder über den imperialismus, der sich heute liberal nennt, und mit plakaten, werbetafeln und bomben wild um sich schmeißt, bis das eine nicht mehr vom anderen, könnte man. man könnte über die vergessenen und über den osten, könnte man. man könnte über geschichtslosigkeit, posthistoire, den ausverkauf der kommunen, der innenstädte, die neue schere zwischen arm und reich, die abgehängten, die zurückgelassenen, die enttäuschten, die man wieder zurückgewinnen muss, über all diese dinge könnte man, denkt sich der chor, der durch die welkenden landschaften irrt, immer weiter vom weg abkommt, mit seiner letzten stange zigaretten, weil er eigentlich längst zu rauchen aufgehört hat. darüber könnte man. über all das könnte man, und es wird auch andauernd, über all das wird auch andauernd und ewig wird darüber und wiederholte male und immer und immer und immer wieder wird darüber, gute güte! denkt er sich der chor, wir haben darüber doch schon so oft, denkt der sich, und wir haben keine lust mehr, immer und immer und immer und immer und immer wieder über die alternativlosigkeit über ideenlosigkeit und zukunftslosigkeit, wir haben einfach keine lust mehr, denkt sich der chor und raucht heimlich seine stange weiter. und vielleicht müsste man stattdessen vom gespenst, nämlich von dem, das immer kommen wird, dass immer durch europa spaziert, neben den chören gibt es immer die gespenster und über die müsste man doch eigentlich, weil den geistern die zukunft gehört. aber da hört der chor schon durch die stille herauf ein paar schreie, mitten in den verwelkenden landschaften hört der die:

wir werden sie jagen, wir werden sie jagen, wir werden spazierenmarschieren, wir werden sie hinausfegen! und immer wieder denkt sich der chor, seit jahrtausenden endet alles hier gleich, immer wieder, und immer wieder die gleiche leier und immer wieder die gleichen erklärungen und immer wieder die gleichen geschichten – ist das nicht das problem, der ewige gleichförmige loop der ausweglosen gegenwart, und die billige ironie, der schlechte zynismus als pfand für all die alltäglichen, kleinen verdrängungen, die sich im körper ab­ lagern, die den körper heimsuchen, und vielleicht ist es gerade jetzt wieder wichtig über das gespenst und über das erbe, aber der chor hört sich kaum denken, weil die schon wieder schreien: und wir werden uns unser volk und unser land zurückholen! und der chor, denkt sich, während er die letzte stange raucht, nur, dass sich da jemand geschnitten, dass da jemand etwas nicht so richtig verstanden, weil wir werden sie jagen. durch die verwelkenden landschaften werden wir sie jagen, und nicht umgekehrt. wir werden sie hinausfegen aus diesem kontinent für immer, ins mittelmeer werden wir sie werfen, wir werden sie mit tulpen bewerfen und unsichtbar ihre wege blockieren, wir werden ihre abgründe offenlegen, wir werden ihnen jamben entgegenschleudern, wo sie vor hass sprühen und wir werden uns unbewaffnet und schweigend auf allen straßen dieser erde ihnen entge-

EVOLUTION GYÖRGY LIGETI, KORNÉL MUNDRUCZÓ Musiktheater / Uraufführung ab 05. Sept Jahrhunderthalle Bochum

Das gesamte Programm 2019 finden Sie unter ruhrtriennale.de

Gesellschafter und öffentliche Förderer

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genstellen und scheiß auf die blühenden landschaften, die eh nie jemand wollte, wir werden sie jagen, und kein volk der welt werden sie von uns kriegen, weil wir keines sind, nie eines waren, denkt sich der chor, nie eines sein wollten, denkt sich der chor, wer um himmels willen will denn das überhaupt, denkt er sich, ein volk, wer will denn bitteschön so ein volk um himmels willen, wer will denn so ein land, denkt er sich und nein, scheiß auf die blühenden landschaften, durch die jetzt nur wieder die verwelkten zombies geistern, diese verdrängten gespenster, die unter diesen leuchtenden wiesen immer schon begraben waren und scheiß auf deren volk und scheiß auf deren land, denkt er sich, und wir werden sie jagen, wir werden ihnen rosen streuen, wo sie leichen sehen wollen, wir werden ihre argumente durch den kakao ziehen, wir werden ihre rhetorik vorführen und ins lächerliche werfen und wir werden sie mit theaterblut übergießen und mit glit­zer bewerfen, wir werden ihnen goldene decken um­hängen, wenn sie in reih und glied aufmarschieren wollen, wir werden ihnen keinen einzigen zentimeter, nicht einen tausendstel milimeter werden wir ihnen, weil wir sie jagen werden, und heimsuchen und verfolgen, und sie überwachen werden auf schritt und auf tritt und wo auch immer sie aufmarschieren, werden wir ihnen im weg stehen, im aufzug, auf den treppen, in den ubahnen, auf fahrrad­wegen, auf autobahnen, in clubs und taxis, auf kreuzungen und autobahnraststätten, in internetforen und in billigen kaschemmen, in rotlichtvierteln, auf flohmärkten, auf bahnhöfen und in den hinterzimmern gescheiterter mittelständlerischer träume, werden wir sie heimsuchen. in kinos werden wir ihnen von hinten ins ohr flüstern, wir werden dich jagen, wir werden dir keine ruhe lassen, wir werden deinen sexistischen scheiß, deine rassistischen entgleisungen, deinen populistischen dreck, deine nationalistischen alpträume, deine bullshit-hate-speech-rhetorik, deine alte-abgehängte-männer-vision von einem volk und einem land, voller zombies auf blühenden wiesen werden wir dir nicht durchgehen lassen und wir werden dich nerven, rund um die uhr darauf kannst du gift, wir bitches und freaks, wir werden dich in deinen albträumen aufsuchen und dich wachschreien, wir werden dich jagen, wir werden dich hetzen, wir werden dich treiben, wir werden dich hinausfegen, wir werden ihnen keinen zentimeter, nicht einen zentimeter dieses bodens, nicht einen einzigen, wir werden ihnen auf dem kopf herumtanzen, und wir werden keine angst, nicht im ansatz, müde

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Arbeit am Begriff – Die Konferenz „Ängst is now a Weltanschauung“ von Nazis & Goldmund im Juni 2018 im Ballhaus Ost Berlin. Foto Sabrina Richmann

vielleicht, weils immer anstrengend ist mit idioten zu sprechen, aber angst? nicht die geringste, weil wir geister sind, immer schon gewesen sind, denkt sich der chor, denen die zukunft gehört und keinem volk und keinem land gehört hier irgendeine zukunft, und schon gar nicht deinem volk, das eh schon längst untergegangen ist, vom volk und vom land wird man sich immer wieder einmal nur erzählt haben, wie von einer untergegangenen zivilisation und dabei auf die gräber und die schützengräben zeigen und die passbehörden auf die stacheldrähte, die wahlkampfumfragen und auf die grenzzäune, die dann nur noch im wind wackeln, während kühe an ihnen vorbeispazieren und wir werden sie jagen, jeden einzelnen von ihnen werden wir vor uns hertreiben, bis sie nicht mehr können und warm anziehen, denkt sich der chor, warm anziehen können die sich jetzt in ihren verwelkenden landschaften, durch die wir sie noch eine lange zeit jagen werden, wenn nötig, auch wenn das erst einmal nach viel arbeit klingt, denkt sich der relativ erschöpfte chor, aber gut, wie sagt sich der chor oft, chöre wurden ja nun einmal nicht dazu geschaffen, einen nebenjob zu erledigen, sondern um das unmögliche zu schaffen. wir werden sie jagen, denkt er sich, was für ein hässlicher, hässlicher satz, eines alten mannes, während er durch die verwelkenden landschaften spaziert mit der letzten stange zigaretten in den händen (die allerallerletzte, versprochen!) und sich die anoracks zumacht, weil es wieder ein bisschen kälter geworden ist.

Copyright © Thomas Köck, 2017


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elfriede jelinek_worte schweigen, flüstern geigen

Elfriede Jelinek

Worte schweigen, flüstern Geigen Ich bin jetzt so lang neben den Mächtigen hergerannt und habe nach ihren Knöcheln geschnappt, ohne daß sie auch nur einen Kratzer davongetragen hätten, ich laufe immer noch, aber jetzt habe ich das Gefühl, daß aus dieser Sandbahn heraus – die Strecke ist noch hie und da mit altem Blut gesprenkelt – etwas nach mir schnappt. Und ich kann nichts davontragen, nicht einmal eine Wunde, und ich habe nichts mehr davon, daß ich schreie und beiße, es tut niemandem weh, und es befreit mich selbst nicht. Niemand hat etwas davon, die Wirklichkeit ist wie Gallerte, halb durchsichtig, aber weiter unten, in der Tiefe, sieht man nichts mehr, man sieht nur, was man uns an der Oberfläche sehen läßt, und das schaut doch recht harmlos aus. Auch das Neujahrskonzert wird nicht abgesagt, flüstern mir die Geigen zu. Und ich fürchte mich trotzdem. Das ist nur teilweise auf mein Alter zurückzuführen, in dem man sich natürlich hilfloser fühlt. Hätte ich noch den Mut, den ich einmal hatte, würde ich die Erstürmung des Bundesamts für Verfassungsschutz mit Hilfe einer bewaffneten, wenn auch wahrscheinlich unbedarften Polizei-Einheit, die Durchsuchung nach Akten, wer weiß, welchen Inhalts, wer kann es sich denken?, einen Putschversuch nennen, einen versuchten Staatsstreich der äußersten Rechten, die jetzt ganz legal in der Regierung sitzt, dorthin haben sie sich vorgearbeitet, jahrzehntelang, und jetzt sind sie da, die Burschen, aber nein, so war es nicht. So nenne ich diesen harmlosen Streich nicht, es war eh nur der erste Streich, der nächste folgt sogleich. Ich trau mich das Benennen nicht mehr. Doch es fehlen mir andrerseits andere Worte dafür, vielleicht auch die Identität, die mich selbstbewußt machen würde, während uns schon die Identitären, von keinem Zweifel angekränkelt, als Jungmänner-Phalanx fröhlich entgegentreten, manchmal auch auf Dächer klettern, auch aufs Burgtheater, damit sie auf uns herunterschauen können, grüß Gott, und auch sonst ordentlich hintreten, selbstbewußt, wie sie inzwischen sein können, sie wurden ja von einem Gericht freigesprochen und sind daher unbescholten. Ich trau mich daher nicht, sie zu schelten. Wehe, ich sage etwas gegen sie, dann bin ich dran, also ist das hier nicht gesagt. Vergessen Sies! Andre haben sie noch, ihre gesunde Identität, die alles Schwache oder sonstwie Andersartige, das nicht ruhig und artig sein mag, verachtet, schau an, dieses hübsche Posting über mich, hier in der Presse, längst verschwunden, es sagt, man solle doch bitte die Gesetze ändern, damit kranke Menschen wie ich endlich eingesperrt werden können. Das Posting wurde gelöscht wie so viele, auch Teile meiner Familie, ausradiert, das Verschwinden geht ja schnell, das Herstellen macht Spaß, der Rest aber ist etwas mühsamer und dauert länger, die Frauen haben viel Arbeit damit. Doch wenn ein neuer Staat hergestellt werden soll, dann kann genauso schnell gehen – inzwischen ist er ja schon groß, schau, wie der gewachsen ist, der Bursche, bald wird er Farbe zeigen! –, was sie sich so lange gewünscht haben, einen neuen Staat also, in dem nicht mehr gestritten, dafür aber gehetzt wird. Wir liegen vor ihnen wie ein Ameisenhaufen, in den man spucken kann, und schon spritzt die Säure. Die wahre Zeit ist Ankunft des Gewesenen, sagt Heidegger in Bezug auf Trakl. Und jetzt ist es halt angekommen, das Gewesene, um das jahrzehntelang viel Gewese gemacht wurde, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!, damit es nur ja nicht wiederkommt, und doch, jetzt ist es bald da, man kann die Umrisse schon erahnen. Hitler war ein politisch fertiggestellter Mensch, der seinen ­Antisemitismus aus Schundheftln in Österreich gelernt hatte, als er ohne ­größere Mühen die Grenze überschritt und seine blutige Autobahn zu bauen begann. Jetzt, würde ich sagen, neigen wir uns wieder dem Osten zu, dem Autoritären, den Westen haben wir aufgegeben, für den haben wir zu wenig Personal; ein Krieg wird nicht mehr nötig sein, wir ergeben uns der Despotie mit ihrer Ablehnung alles Fremden, auch des Juden, klar, der muß doch dabei sein, ohne den gehts nicht, ohne daß der weg muß, geht es nicht. Wir hören die alten Rufe und die alten Lieder, die noch, wie ein eingefrorener Posthornton, in der Luft hängen, die neue Sprache ist aber schon eingezogen und macht sauber und kehrt aus und spricht und sagt und, so nennt man das jetzt, führt eine sogenannte Indexierung der Beihilfszahlungen ein, die ausländische Hilfs-

kräfte bekommen werden, meist Frauen, die geborenen Hilfskräfte, welche unsere Hilflosen und Alten pflegen. „Unser Geld für unsere Kinder!“ Für rumänische Kinder die Hälfte, damit sind sie immer noch gut bedient, während wir von ihren Müttern bedient werden. Noch sind wir nicht so weit, daß Kranke ins Gefängnis geworfen werden. Aber die Kinder dürfen es schon mal ausbaden. Nach einem autoritären Führer namens Orbán richten wir uns aus, wir tun, was er uns ausrichtet, und machen es nach; der war gescheit, der nimmt erst gar keine Fremden auf, die dann womöglich Ungarisch lernen müßten, dem wären sie eh nicht gewachsen, und hier, schauen Sie, hier haben wir was ganz Neues, in Gestalt eines liebenswürdigen jungen Mannes, nennen Sie mich Basti, das ist ihm am liebsten, sagt er, nur kein Aufwand, Holzklasse im Flieger und Bundeskanzler genügen mir vollkommen! Junge Frauen umarmen ihn selig und inbrünstig am Nationalfeiertag, dem Tag der offenen Tür, und merken nicht, daß die Tür hinter ihm schon längst aufgestoßen wurde (nur für die Fremden bleibt sie zu) und sie auf eine opake, aus unzerstörbarem Plexiglas geschnittene Schablone blicken, welche vage eine Form von Menschlichkeit hat, durch die jedoch etwas hindurchschimmert, das nicht jung, sondern sehr alt ist, zum ersten, zum zweiten, zum dritten, wie der junge Anführer gerne sagt, wenn er etwas aufzählt, das nichts ist, weil nichts mehr zählt, weil wir alle nicht mehr zählen, viele sind auch noch stolz drauf und glauben, jetzt, jetzt sind sie endlich dran!, ja, jetzt sind die dran, nach denen sich früher keiner ein zweites Mal umgedreht hätte. Dafür sehen sie nicht, was vor ihnen liegt. Ohne schreckliche Bilder wirds nicht gehn, so höre ich. Und der junge Mann, unser Bundeskanzler, ist undurchschaubar, auch wenn er selbst und alles andere vollkommen transparent erscheinen. Alles, was er sagt oder tut, ist sehr einfach. Darunter, wenn wir die weichen Vorhänge seiner Sprachübungen heben, ist etwas anderes, das ich noch nicht kenne, wir erwarten alle seine Ankunft, die einen ungeduldig, die anderen angstvoll, wir erwarten also – das Jesuskind ist ja schon da – die Ankunft des Alten, Gewesenen, das wir die ganze Zeit nicht wiedererkannt haben, bis es uns ins Gesicht gesprungen ist. Ich sage nicht, was kommt, weil ich mich fürchte und es vielleicht schon da ist, wovor ich mich so gefürchtet habe. Daß Arbeitnehmer (Arbeiter sagt man nicht mehr, ist wohl ein schmutziges Wort. Man muß auch aufpassen, daß diese Leute sich die Arbeit nicht einfach nehmen, sonst kriegen sie eins auf die Finger), daß die Vertreter der Beschäftigten also aus vielen Gremien verdrängt, verstoßen werden, egal, ob Krankenkassen oder Nationalbank, überall bricht ein Teil der Menschen jetzt weg, nein, er wird weggebrochen wie morsche Pfeiler und ist nicht mehr vertreten und wird nicht mehr vertreten, und die Schritte unserer Füße, die noch nicht recht sehen, wohin es geht, Hauptsache, es ist neu, werden, wieder mit Trakl, zurück in den Anbeginn gelenkt, der der wahre genannt wird, aber mit Wahrheit nichts zu tun hat. Jetzt haben wir also den wahren Anbeginn von etwas, das ich nicht zu benennen wage, weil ich mich ebenso fürchte. Es gibt unerschrockene Kämpfer, meist sind sie selbst Opfer gewesen, auch in meiner Familie, die sagen, was jetzt passieren könnte, und davor warnen. Ich kann das nicht mehr: warnen, ja, genau: weil ich mich fürchte. Außerdem macht man sich oft lächerlich damit und wird dann ausgelacht. Na, war das so schlimm? Es ist doch nichts passiert! Ich sehe etwas, das du nicht siehst, weil wir irgendwo falsch abgebogen sind, und jetzt sind wir bald da, aber woanders, als wir sein wollten.

Copyright © by Elfriede Jelinek, 2019, c/o Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

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Kathrin Röggla

Unschärfe Stellung Manifeste alleine sind es nicht. Die reichen nicht aus. Inflationär erscheinen sie in diesen Tagen, immer wieder tauchen sie auf, und dann tauchen sie wieder ab, Kundgebungen, Stellungnahmen, öffentliche Positionierungen. Immer wieder erzeugen sie Medienaufmerksamkeit, dann verpuffen sie wieder. Dann wird es wieder still. Solidaritätsadressen sind gut, reichen aber auch nicht aus. Umso besser, wenn das direkte Gespräch dazukommt. Einfach mal anrufen – braucht ihr etwas? Aber Solidarität zu zeigen reicht auch nicht immer aus, man sollte erst einmal fragen, ob sie überhaupt gewünscht ist und wie sie gewünscht ist. Sich in Verbindung zu setzen reicht insofern nicht aus. Die Frage, wann Solidarität in etwas anderes umschlägt, ist sehr umsichtig im Vorfeld zu stellen. Wann sie übergriffig wird, das kann man schnell übersehen. Es kann manchmal darum gehen, Sichtbarkeit für die Akteure vor Ort zu schaffen, die sich oft seit Jahren gegen Angriffe wehren. Und sie nicht mit der eigenen Sichtbarkeit zu verdrängen. Plötzlich gibt es nur noch Feine Sahne Fischfilet. Plötzlich kommt Berlin. Oder Wien. Und zeigt der Provinz, wie das geht. Mit welchen Mitteln man Solidarität zeigt, das zu fragen reicht auch nicht aus. Die künstlerischen Mittel geraten an Grenzen, weil sie vielleicht von denen nicht wahrgenommen werden, die jenseits dieser Grenzen leben. Hat man immer wieder gesagt, aber dieses Statement alleine genügt nicht. Das Reaktive reicht nicht aus. Andauernd reagieren wir auf den rechten Mob, auf den rechten Rand, der kein Rand mehr ist, auf die Sager von irgendwo. Wir – wer wir? – sagen permanent „nein“ zu dem, was da kommt. Wir – wer wir? – lassen uns anscheinend die Themen vorsetzen. Wir lassen uns die Schlagzeilen vorsetzen. Sie agieren, wir reagieren. Wir verhalten uns permanent Antifa-mäßig. Wir sind dann die, die sich gegen rechts wehren, die Nazis aufspüren. Sie benennen. Das Benennen reicht nicht aus. Was ist gewonnen, wenn es benannt ist, vielleicht Klarheit? Doch Klarheit alleine reicht auch nicht aus. Pure Analyse führt uns ebenfalls nicht ans Ziel. Wir wissen, was das Problem mit dem Antisemitismus ist. Er zielt auf uns alle, auf unsere offene Gesellschaft. Er zielt auf die Moderne. Er beschädigt unsere Lebensform. Antisemitismus trägt tiefe antidemokratische Züge, er sagt: Das Geld ist schlecht, die Moderne ist schlecht, die Stadt ist schlecht. Das zu erkennen ist zu wenig. Das Wissen darum muss weiter gehen, nur wohin geht es? Die Bestandswahrung reicht nicht aus. Ist es nicht so? Alle wollen derzeit die Demokratie bewahren, immer bewahren und festhalten. Von beinahe allen Seiten tun wir alles, damit es so bleibt, wie es ist. Die Demokratie neu erfinden wollen kommt manchmal hinzu, reicht aber auch nicht aus. Eigene, neue Utopien dazu zu entwickeln, voluntaristisch hervorgebracht in Theaterprojekten, genügt nicht, Einzelgruppenporträts von Idealisten, die sich im bloßen „Wir“Sagen ermuntern. Bloßes „Wir“-Sagen hilft nicht weiter. Aber auch nicht „wir“ sagen reicht nicht aus. Wir sind kein schwammiges Kollektiv von besorgten Bürgern gegen rechts. Wir sind die Vielen, das sind wir wohl, aber wir sind nicht als Einheit zu beschreiben. Wir sind nicht das Gegenstück zu dem Wir-

sind-das-Volk-Gebrüll der anderen. Wir dürfen den Rechtsextremen den Kollektivbegriff nicht überlassen, doch das zu ändern erfordert einiges. Das Gespräch mit anderen reicht nicht aus. Aus unserer Blase rauskommen, wie es immer heißt, über Blasen sprechen reicht nicht aus, denn das ÜberBlasen-Sprechen ist immer auch ideologisch. Es tut so, als lebten wir in getrennten Räumen, die es nicht wirklich gibt. Wir leben eben nicht in Blasen, sondern in einer Welt der Interessensgegensätze, der Herrschaft über andere, der gesellschaftlichen Zwänge und Widersprüche. Wir leben in einer Welt, in der Selbstständige gegen Angestellte, prekär Beschäftigte gegen die mit fixem Vertrag, Unternehmer gegen Rentnerinnen und Rentner gegen Schülerinnen und Schüler stehen. Die Sechzigjährigen gegen die Zwanzigjährigen, die Eltern gegen die Kinderlosen, die Kranken gegen die sogenannt Gesunden. Die Fahrgemeinschaften gegen die Fahrradfahrer, die Autoabhängigen gegen die Zugfahrer, die Städter gegen die Landbewohner etc. Der Blick auf die Ökonomie reicht nicht aus. Nazis wollen Nazis sein. Frauenfeinde sind nicht zufällig Frauenfeinde und Rassistinnen nicht zufällig Rassistinnen. Sozialpsychologische Erklärungen reichen nicht aus, aber Identitätspolitik bekämpfen alleine auch nicht. Polizeiverhalten wird uns nicht helfen. Das heißt Identifikation und Festmachen, Festsetzen und Linienübertretungen markieren. Die rote Linie kann es eben auch nicht immer sein. An ihr entlang sich zu bewegen … kann einen selbst an sie binden. Immer wieder klarzumachen, wer sie jetzt übertritt, färbt auf einen ab. Unser Gang wird schwankend sein. Kunstschaffende haben schwankende Gänge an roten Linien, andere bringen sie nicht zustande. Das Menschliche dabei beschwören reicht nicht aus, die Menschlichkeitsurkunden sich gegenseitig ausstellen, als kleinsten gemeinsamen Nenner, auf diesem kleinsten gemeinsamen Nenner unterwegs sein und keine Bremsspuren dabei hinterlassen reicht nicht. Zusammenrücken reicht nicht aus, wir brauchen Platz. Uns gegenseitig bekräftigen ist eine Hilfe, aber wir müssen es aushalten, dass wir voller Widersprüche sind. Noch mal: Wir sind nicht der eine Haufen und schon gar nicht der eine abgrenzbare Haufen. Das Pochen auf den Rechtsstaat reicht nicht aus, auf das Grundgesetz, die Verfassung, die Menschenrechte, das ist alles hilfreich - die Grundlagen unserer Gesellschaft zu benennen, auf die zurückzukommen (der kleinste gemeinsame Nenner?). Es scheint sich aber zu verbrauchen, auch weil es als rhetorische Geste zu oft von jenen Leuten beansprucht wird, die die Menschenrechte schon an den nördlichen Stränden des Mittelmeers enden lassen. Es scheint sich auch zu verbrauchen, weil kaum jemand die Verfassungen liest, während sich längst gewisse Präsidenten zu gewissen Unterhaltungen treffen. Weil die Widersprüche im Land drängender werden. Prozesse begleiten reicht nicht aus, Angehörigenarbeit nicht und auch nicht, Rechtsanwälte zu kennen und sie in Listen anzuführen, damit man jemanden hat, den man anrufen kann. Rechtliche Tricks kennen ist durchaus hilfreich, man muss sie verbreiten. Man muss sie gleichzeitig unsichtbar machen können, vor allem für den politischen Gegner. „Politischer Gegner“ sagen reicht nicht aus.

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Es reicht nicht, aufs Land zu gehen und sich dort umzusehen. Es reicht nicht, einen Gemüsegarten zu betreiben, eine Kommune zu eröffnen, mit dem Bürgermeister auf Du und Du zu sein. Es reicht nicht einmal aus, dieser Bürgermeister selbst zu sein, zum Beispiel der neapolitanische Bürgermeister, der die Häfen offen hält. Jemanden kennenlernen reicht nicht aus, also jemanden von der anderen Seite, eine Andersdenkende beispielsweise, und zu diskutieren. Zum einen kennen wir bereits jede Menge Andersdenkende, wir sind selbst immer wieder Andersdenkende, wir sind ja unterschiedlich, zum anderen wäre es zu nahe an der Erzählung von dem einen, den man kennt und der einem Weltoffenheit bescheinigt, wie es viele Rechte machen. „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, ich bin ja mit diesem oder jenem befreundet oder arbeite mit denen zusammen.“ Ein Wort durch ein anderes austauschen reicht auch nicht aus. Besser schon, den Tag der offenen Tür in einem Flüchtlingsheim stattfinden zu lassen, diesen oder jenen Begegnungsort zu initiieren, um Bedrohungsszenarien auszuhebeln, Bekanntschaften zu stiften und menschliche Begegnungen zu fördern, in denen Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden. Dazu gehörte aber mindestens noch, den Abstand zu halten - man kann nicht mit allen auf Du und Du sein. Differenzen aushalten reicht aber auch nicht aus. Respektsabstand halten und gleichzeitig Beweglichkeit beweisen? Nein, da waren wir schon, da treten wir auf der Stelle – kommen wir endlich weiter! Aber endlich weiterkommen reicht nicht aus. Mobile Beratung gegen rechts deswegen um einen Workshop bitten kann helfen, sich nicht in einem Kampagnentonfall zu verlieren und unfreiwillig Anfragen der AfD zu publizieren. Deren Maschen aushebeln, Öffentlichkeit diesbezüglich herzustellen, reicht nicht – wenn man dann den Rechten noch mehr Bühne verschafft. Nein, es muss darüber hinausgehen. Eine Regierung abzuwählen. Politiker zu befragen und polnische und ungarische Vergleiche zu ziehen. Daneben Parteien gründen oder stärken, ins poli­ tische Tagesgeschäft einsteigen und dort herumsteigen, an Bewegungen ­denken oder an Gelbwesten – das Gelbwestenprinzip importieren und dabei aber die nationalistischen Tendenzen weglassen. Das subtrahierte Gelbwestenprinzip also als Internationale? Europawahlen vor sich sehen und da aktiv werden, das europäische Projekt nicht vergeigen und dabei aber das gesamte politische System erneuern – doch Erneuern alleine reicht nicht aus, Wahlsysteme, Amtszeiten, Repräsentationsmodelle, bevor die Grundrechte abgeschafft werden, die Gewaltenteilung vollends verrutscht, der Datenschutz ausgehebelt wird und eine ständige Verschärfung des Asylrechts durchgeführt wird. Erneuern reicht nicht aus, man muss auch zurückblicken in all der Demokratiestandswahrung – ja, in die Geschichte blicken und aus ihr wieder herausblicken. In sie tiefer hineinblicken und sie dann an sich heranzoomen, weil wir nur so, mit einer dynamischen Bewegung, uns ins Verhältnis setzend, aus ihr lernen können. Aber auch mal in der näheren Geschichte hängen bleiben, vielleicht genügt es, aus den 1990ern zu lernen oder aus dem letzten Jahr, dem Chemnitz-Jahr? (Nein, lieber die Jahre nicht bezeichnen, es verfälscht.) Sozusagen beinahe in der Gegenwart ankommen und da einen Moment innehalten und feststellen, wie es von oben und unten gleichzeitig kommen kann? Also beispielsweise über den NSU-Prozess nachdenken, über Chemnitz, über Seehofer, Kickl und Co. nachdenken, über den Verfassungsschutz doch etwas länger. Forderungen stellen, beispielsweise Rücktrittsforderungen an Minister? Das genügt alles nicht. Von der neuen Klasse der Alles-Übersteher sprechen nicht. Von der Populismusfalle sprechen auch nicht und von der Aufmerk­ samkeitsmasche aus den langen Haider-Jahren, die uns immer noch überwachsen. Auf Franz Josef Strauß zurückkommen nicht. Das Phänomen ­Blocher entlarven und auf Trump pfeifen alleine führt auch nirgendwohin. Dass es von oben (Staat) und von unten (Schläger) gleichzeitig kommt, feststellen und dabei ganz schön durcheinandergeraten. Eigene Statistiken anfertigen nicht. Daraus unterschiedliche Forderungen wachsen lassen. In der ­Geschichte ein Muster erkennen und dabei noch den inneren Feind aufspüren, nicht nur außen suchen. Den globalen Kontext wahrnehmen, das heißt, nach links und rechts sehen und vorauseilende Selbstzensur in China bemerken und soziale Überwachungen konstatieren, Antikorruptionsverfahren in Russland und in Polen, türkische Gesetzesänderungen wahrnehmen, Steuerbetrugsaffären als politisch motiviert enttarnen reicht dabei noch lange nicht aus. Die Wirtschaft dabei nicht aus den Augen verlieren, die ökonomischen Zusammenhänge, Cui bono? zu fragen nicht. Den globalen Kontext wahrnehmen und dann wieder zurückkommen zu unserer Globalisierung. Plötzlich die neuen Fremdengesetze an den heimischen Universitäten bemerken, in den Sprachkenntnisnachweisen nicht nur Hürdenhochsteller, das eigene

kathrin röggla_unschärfe stellung

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e g a t Sisches r u O. Europäühnen 4 erb l 19 Bürg a v i F e s t Mai 20 5. 2 – . 18

Es erwarten Sie elf Produktionen aus zehn Ländern und ein Rahmenprogramm mit 38 Veranstaltungen. Griechenland THE FAN-MAN OR HOW TO DRESS AN ELEPHANT von En Dynamei Theatre Ensemble

& Eleni Efthymiou � Frankreich STADIUM von Mohamed El Khatib & Collectif Zirlib � Dänemark A DOLL’S HOUSE von Fix&Foxy � Schottland

THE BALLAD OF THE APATHETIC SON AND HIS NARCISSISTIC MOTHER von 21Common � Österreich EVERY BODY ELECTRIC von Doris

Uhlich � Ungarn ADDRESSLEsS von Lifeboat Unit – STEREO AKT � Spanien PENDING VOTE von Roger Bernat / FFF � Südafrika & Deutschland HILLBROWFICATION von Constanza Macras/ DorkyPark � Ungarn LONG LIVE REGINA! von Self-Theatre � Belgien INVITED von Seppe Baeyens / Ultima Vez � Deutschland DER HAMILtonKOMplex von Lies Pauwels Das Bürgerbühnenfestival wird gefördert durch die

In Kooperation mit der ETC – European Theatre Convention, HELLERAU- Europäisches Zentrum der Künste, Societaetstheater www.buergerbuehnenfestival.de www.staatsschauspiel-dresden.de www.facebook.com/buergerbuehnenfestival

Privilegiertsein dabei etwas herausstellend, reicht nicht, aber es übersehen wäre ganz verkehrt. Wissen, wer sprechen kann und wer nicht. Anderen eine Stimme geben. Als Lautsprecher auftreten, als Vergrößerungsformel, als Sichtbarkeitsherstellung, sich wiederholen reicht nicht aus, sich immer wieder wiederholen. Nicht einmal, wenn es darum geht, die derzeitige Leistung deutscher Gerichte zu betonen und die derzeitige Leistung der Medien. Keine Wiederholung? Gut. Fassen wir es also kurz und bündig zusammen: Zweisprachigkeit reicht nicht aus, Künstlersein auch nicht. Sich nicht an die Wand fahren lassen nicht, auch wenn das schon ziemlich viel ist. In Gesprächen Wendigkeit zeigen, verblüffen und immer genau wissen, wo die Attacke herkommt. In die rechte Ecke stellen reicht nicht, aus der rechten Ecke herausstellen auch nicht. Holen wir Luft und sagen: Ein Notfalltelefon alleine einrichten wäre zu wenig. Einen Alarmknopf für Geschädigte? Dahinter müsste schon jemand stehen, da müsste jemand reagieren können. Wer stellt sich zur Verfügung? Wer fährt nach Polen? Wer fährt nach Cottbus? Wer fährt nach Brandenburg? Ungarn? Wiener Neustadt? Versprechen machen reicht also nicht aus, man muss sie auch halten können. Einen Alarmknopf für Geschädigte und einen Stotterknopf für den Kulturrat, nein, die rote Liste des Kulturrats einsehen reicht nicht, bedrohte Veranstalter, bedrohte Institutionen, bedrohte Einzelpersonen anführen nicht. Eine Landkarte der Unterstützung in bunten Farben oder ohne diese malen nicht. Sprechen wir weiter: „Die Komplexität der Welt“ – „Die Architektur der Angst“ – „Die Instrumentalisierung der Unterschiede“ – „Die Ausbeutung des migrantischen Prekariats“ – in Schlagworte ausbrechen reicht nicht aus und auch nicht zu bemerken, dass Debatten nicht im luftleeren Raum stattfinden. Erneut ins Stottern kommen wäre zu wenig. Ins Schlingern und Trudeln und dabei auf Abwege geraten, sich irren dürfen, sich täuschen können, sich Platz verschaffen. Silencing als Problem wahrnehmen: die Wissenschaftlerin, die nicht mehr redet, die Wissenschaftlerin, die nicht mehr arbeitet, die Wissenschaftlerin, die nicht mehr da ist. Die Journalisten, die plötzlich den Mund zumachen. Die Journalistinnen, die nicht mehr auftauchen, die Journalisten, an die man sich nicht mehr erinnert, die Journalistinnen, die plötzlich weg sind. Von Kunstschaffenden ganz zu schweigen. Nein … Nicht zu schweigen! Lieber wieder zurück an den Start und das Weitermachen der politischen Vertreter erneut einfordern, von dem Bundestagsabgeordneten, dem Kreisvorsteher, der Linkenpolitikerin, der Grünenreferentin, dem Sozialdemokraten. Aber das reicht nicht. Den Sozialdemokraten nicht alleine im Regen stehen lassen. Die Morddrohungen, die bei anderen eintreffen, wahrnehmen, die plötzlichen Anrufe, das Geschehen in den Redaktionen. Die Adressen, die veröffentlicht werden, die Kindernamen, die genannt werden, die Drohgesten, die unbemerkt bleiben sollen und von Polizeiseite kommen, sichtbar machen nicht. Dies als zweischneidiges Schwert begreifen, aber nicht aus Angst gleich verschwinden. Den Aufschrei genügend laut machen, von wo das jetzt schon herkommt. Rechte Netzwerke in der Polizei und im Bundesheer benennen, ahnden, herausfinden reicht nicht. Es nicht mehr hören können, es einfach nicht mehr hören können. Es einfach wirklich nicht mehr hören können reicht nicht aus. Nicht mehr weiterwissen, Erschöpfung bemerken nicht, Erschöpfung und Burn-outs konstatieren, weil es immer an einem selbst hängen bleibt, was zu tun ist, weil man finanziell und kräftemäßig an eine Grenze kommt. An eine Grenze kommen nicht. Und immer wieder in die Gefängnisse hineinsehen, den Kunstschaffenden in Gefängnissen nicht nur zuwinken, sich bei ihnen melden, für sie Forderungen stellen, ihnen sagen, dass man sie sieht, dass sie da sind, dass sie nicht vergessen werden, reicht nicht. Plötzlich nur noch eine Variante einer Aussage bemerken nicht. Wenn niemand mehr etwas sagt, wenn plötzlich eine Stille herrscht, das bemerken, wenn es ganz leise ist und nur noch die eine Stimme dann und wann zu hören ist, die uns den Ton vorgibt, den Ton angibt, die uns klarmacht, wohin die Fahrt geht. Das Ende dieser Geschichten herbeiwünschen, ohne eine Rhetorik des Endes im Mund zu führen. Die Sache vom Ende her sehen reicht nicht aus. Aber das Ende übersehen eben auch nicht. Einen Schlussstrich ziehen wäre allerdings ganz verkehrt. Nicht verkehrt sein wollen reicht nicht, und es wäre vielleicht noch nicht einmal ein wirklicher Anfang. Keinen wirklichen Anfang machen wollen, sondern anknüpfen wäre schon mal ein Anfang, und die anderen dabei sehen, denn sie sind ja da. Ja.

© Kathrin Röggla, 2019

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kolumne

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Josef Bierbichler

Die Erniedrigten und Beleidigten Über das aggressive Wirtschaften der Reichen und Reichsten

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ann sein, dass bei den Franzosen in letzter Zeit mehr Politik ins kulturelle Gefüge gesickert ist als bei den Deutschen. Auf der Berlinale jedenfalls, die als politisches Festival gilt, hoben bei der diesjährigen Preisverleihung zwar einige Gewinner in ihren Dankesreden das jeweilige Thema ihres Films in den Vordergrund. Etwa die Hälfte der anderen Gewinner aber machte eher den Eindruck, als ob vor allem die Chance zum Eintritt in die gesellschaftliche Welt des Films, beziehungsweise das tiefere Eindringen in diese, Antrieb gewesen wäre, ein irgendwie politisch geartetes Thema gewählt zu haben. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Immerhin rechtfertigte keiner dieser Filme das Dealen mit Waffen – wie zum Beispiel die Bundesregierung mit halsbrecherischen Verrenkungen immer wieder aufs Neue. Wenn man Interviews derzeitiger Stars des literarischen französischen Kulturbetriebs liest, geht es ebenfalls ums Politische im sozialen und gesellschaftlichen Raum – um Ursache, Wirkung und Parteilichkeit also, und die Antworten gehen meist an die Wurzeln. Virginie Despentes zum Beispiel bezeichnet in einem Gespräch mit dem Schweizer Tagesanzeiger „die Austeritätspolitik in allen Ländern Europas“ als „Vernichtungskrieg, der alle sozialen Errungenschaften … zerstören soll. Man will die europäischen Bevölkerungen auf das Armuts- und Elendslevel des 18. Jahrhunderts zurückfahren … Nie war die Klasse der Reichsten entschlossener, einen derart gewalttätigen Krieg gegen die arbeitenden Schichten zu führen. Es ist, als ob die Reichsten sich krass rächen wollten, als ob sie den Eindruck hätten, die letzten fünfzig Jahre erniedrigt worden zu sein … Die Reichsten ertragen es nicht mehr, dass ihre Macht irgendeine Begrenzung erfährt – ökologisch, politisch oder ethisch.“ So einleuchtend unversöhnlich hab ich das noch nicht gelesen. Und selber auch noch nicht gedacht. Hier beschreibt Despentes die Wirkung, die siebzig Jahre unfreiwillig ertragene Systemkonkurrenz durch den real existierenden Sozialismus in den Psychen der Kapitaleigner der westlichen Welt angerichtet haben muss, als sie nicht so durften, wie sie damals schon hätten wollen. Dass die Lesenden nicht in Schockstarre vor den Rachegelüsten der Reichsten erlahmen, gibt Despentes noch einen Nachschlag, sie kapituliert nicht. „Die humanistischen Werte sind gar nicht mehr das Wichtigste. Inzwischen geht es darum, das Überleben auf der Erde zu bewahren. Notwendig ist eine Revolution wider den Neoliberalismus, und ich glaube nicht, dass meine Ge-

neration das packt. Es sind die Jugendlichen von heute, die Wähler von morgen, die vielleicht sagen werden: Wir wollen atmen und Wasser trinken können, ohne dadurch Krebs zu bekommen.“ Hier bleibt nur die Hoffnung, sie möge recht behalten. Aber nur im unversöhnlichen Blick werden Ignoranz und kriminelle Struktur des neoliberalen Wirtschaftens kenntlich, weil gerade dieses Wirtschaften den Blick bei den meisten schon komplett harmonisiert, also korrumpiert hat – im Sinn der Wirtschaft. Es geht nicht nur um immensen Profit, es geht auch um niederste Instinkte von Menschen. In diesem Fall um die der sogenannten Elite. Diesbezüglich hat sich nichts geändert, es ist, wie es war, als hochangesehene Wirtschaftsführer die abartigsten Auswüchse in den KZ, in denen sie unter Aufsicht der SS produzieren ließen, nicht nur zugelassen, sondern mitgestaltet haben. Sie wurden in den Nürnberger Prozessen verurteilt. Ja klar. Später sind alle von den westlichen Siegermächten wieder in die globale Wirtschaftswelt eingegliedert worden. Es begann die Mär vom grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstum. Hork­ heimers berühmtes Diktum, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden will, auch vom Faschismus schweigen soll, zielte genau da hin. Das Kapital kann zum haltlosen Gedeih keine skrupulösen Vollstrecker brauchen. Es braucht Charaktere, die nicht anfällig sind für Mitleid, dafür aber umso aggressiver auf demokratisch geforderte Regulierung ihres Wirtschaftens reagieren, die sie offensichtlich als persönliche Beleidung begreifen – und damit die demokratische Gesellschaftsform überhaupt. Nirgends zeigte sich das unverblümter als an den teilweise geradezu fassungslosen Reaktionen der Autolobbyisten auf die Forderungen der Betrogenen und Umweltverbände nach Nachrüstung der manipulierten Abgasvorrichtungen auf Kosten der kriminellen Verursacher. Und selten wurde deutlicher, wie sehr die Politik sich gemein macht mit der Ignoranz des industriellen Managements gegenüber demokratischen Abläufen. Das immer wieder zur Fratze ausgerenkte Gesicht des amtierenden Verkehrsministers und sein damit einhergehender missbräuchlicher Umgang mit der deutschen Sprache zeugen, stellvertretend, gut ausgeleuchtet von dieser demokratiezersetzenden Symbiose zwischen Industrie und Politik. Mittlerweile geben auch deutsche Gerichte das Ihre dazu, wie die richterliche Aufhebung der Gemeinnützigkeit von Attac zeigt. Bald werden sie sich auch der Umwelthilfe auf diese Art entledigen. Derweil schwänzen die Wähler von morgen jeden Freitag die Schule, weil sie den Lehren nicht mehr folgen wollen, auf deren Pfaden ihre Eltern unbelehrbar dem eigenen Untergang entgegentrotten. //

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Die aktuelle KUNSTFORUM Ausgabe 259:

Staunen

Plädoyer für eine existenzielle Erlebensform

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Mehr erfahren: www.kunstforum.de


kommentar

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Auf die Straße, Intendanten! Der Gesellschaftsvertrag der TOOH muss verändert werden, um statt destruktiver Strategiespiele eine funktionierende Leitungsstruktur in Halle zu ermöglichen von Dorte Lena Eilers

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chach ist ein Spiel für Strategen. Da wird taktisch kalkuliert, um den eigenen Wirkungsbereich zu vergrößern. Auch jenseits des Bretts beherrschen einige dieses Spiel perfekt. Betrachten wir den Theaterstreit an der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle (TOOH), der am 22. Februar mit der Nichtverlängerung des Opernintendanten Florian Lutz in eine neue Runde ging, daher einmal als Schachspiel. Da gibt es auf der einen Seite diejenigen, die im Laufe der Intendanz von Lutz die Freude an der Oper verloren haben. Dazu gehören ein schwer zu beziffernder Teil des Publikums, ein Großteil des Orchesters, die designierte Generalmusikdirektorin Ariane Matiakh sowie eine knappe Mehrheit der neun Aufsichtsratsmitglieder der TOOH. Auch TOOH-Geschäftsführer Stefan Rosinski zählt dazu. Auf der anderen Seite stehen der ebenso schwer zu beziffernde andere Teil des Publikums, ein Großteil der Presse, über neunzig Unterzeichner eines offenen Briefes (darunter etliche Intendanten), sowie der Hallenser Oberbürgermeister Bernd Wiegand, der gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender ist. Künstlerisch gesehen könnte dieses „Spiel“ durchaus spannend verlaufen. Lutz vertritt eine Ästhetik, die frei mit der Geschlossenheit eines Werkes umgeht: Die Musik darf unterbrochen werden, das Sujet wird aktualisiert, Sänger, Musiker, Zuschauer sitzen mitunter im ganzen Raum verteilt. Den Aufsichtsrats­ mitgliedern muss diese an anderen Opernhäusern mit Erfolg erprobte Ästhetik derart gut gefallen haben, dass sie Lutz und sein Team nach Halle holten. Drei Jahre später ist dies offenbar nicht mehr so. Auch Teile des Orchesters und der Zuschauer fanden die klangliche Qualität beeinträchtigt, die politische Lesart zu didaktisch. Halle kann sich nicht damit rühmen, dass dieser Streit besonders „böse“ sei. Er ist – ein Opernkenner wie Rosinski sollte das wissen – im Gegenteil absolut klassisch, seit Regisseure an­ gefangen haben, mit dem Material Oper freier umzugehen. Und: Er kann sogar ungemein lustvoll sein. Das Leitungsteam jedenfalls bot mit ihrer Reihe „Agitation und Revolte“ regelmäßig solche Streiträume an. Rosinski indes hatte offenbar wenig Lust, sich in der Öffentlichkeit anderen Meinungen als der seinen zu stellen. Stattdessen wetterte er vor wenigen Wochen auf nachtkritik.de, dass in diesem Streit jeder, der eine andere Position vertrete, zum Gegner gemacht werde. Damit hat er recht. Es ist die Grunddynamik von Gesellschaften, dass konträre Meinungen im Streitfall zu gegnerischen Positionen werden. Für einen Geschäftsführer, der einen Betrieb von über 450 Mitarbeitern managen will, sollte dies nicht

neu sein. Es ist nicht die Abwesenheit von politischer Kultur, wie Rosinski beklagt, sondern die Ermöglichung einer politischen ­Kultur, dafür Austragungsräume zu schaffen, um sich eben nicht wie beim Schach vom Feld zu kicken. In der Demokratie heißen diese Räume Parlamente. Ein Glücksfall also, dass Aufsichtsräte städtischer Institutionen mehrheitlich aus Politikern bestehen, die der politischen Streit­ kultur mächtig sind. Dumm ist nur, dass die TOOH die Struk­ turen dafür nicht bietet. Kurioserweise hat laut Gesellschaftsvertrag lediglich derjenige permanentes Anhörungsrecht vor dem Aufsichtsrat, der in dieser Kunstinstitution das Geld verwaltet – und nur das Geld –, im Falle Rosinskis aber permanent ästhetische Einschätzungen abgibt. Die Verantwortlichen für die Kunst hin­ gegen lädt der Aufsichtsrat nur bei Bedarf ein. Er verstehe absolut, beteuerte SPD-Aufsichtsratsmitglied Detlef Wend jüngst im Hallen­ ser Radio Corax, wenn ihn die Intendanten auf der Straße ansprechen, um ein Gläschen trinken zu gehen. Auch habe er auf alle Schreiben reagiert. Wie soll man diese politische Kultur bloß nennen, die sich auf der Straße, per E-Mail und an der Theke a­ bspielt? Es ist kaum verwunderlich, dass die TOOH damit Räume für destruktive Strategiespiele eröffnet. Wer lancierte im Frühjahr 2017 Geschäftszahlen an die Presse, die zu dem Zeitpunkt nur der Geschäftsführer und der Aufsichtsrat kennen konnten? Warum wird eine Pressesprecherin durch den Geschäftsführer zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit ersetzt, wenn Redakteure im Folgenden außer Statements des Geschäftsführers keine Pressemitteilungen mehr erhalten? Warum richtet sich eine designierte GMD mit der Empfehlung an den Aufsichtsrat, Lutz zu feuern, wenn sie sich doch in vollem Bewusstsein für diese Stelle und damit für eine Zusammenarbeit mit Lutz entschieden hat? Wer brachte intern ein an den Geschäftsführer übersandtes Tondokument in Umlauf, in dem ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses davon spricht, Lutz und Co. am liebsten an die Wand zu stellen? Wer wie Linken-Aufsichtsratsmitglied Bodo Meerheim bestreitet, dass eine Änderung des Gesellschaftsvertrags der TOOH dringend nötig ist, ist blind für eine nicht funktionierende Struktur. Einzig Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) hat die Initiative ergriffen. Er will Ende März im Stadtrat eine Änderung des Vertrags bewirken. Möglich wäre, einen künstlerisch wie geschäftlich ­verantwortlichen Generalintendanten zu installieren. Wiegand ­jedoch plädiert für ein mehrköpfiges Modell mit gleichem ­Rederecht von Geschäftsführung und Intendanten vor dem Aufsichtsrat. Er ist ebenfalls der Einzige, der zu wissen scheint, dass künstlerische Neuausrichtungen Zeit brauchen. Er hätte Lutz verlängert. Ja, es sind bald Wahlen in ­Halle. Aber auch im Wahlkampf lassen sich gute Entscheidungen treffen. //

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protagonisten

Zwischen Himmel und Hölle Zum Tod des großen Schauspielers Bruno Ganz von Gunnar Decker

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r wirkte wie ein Vertrauter, aber blieb dabei fremd. Kein Unbekannter, jedoch ein Unerkannter, der sein Geheimnis zu hüten wusste – und das bis zuletzt. So kann man im Werk, das Bruno Ganz uns hinterließ, immer wieder neu auf Entdeckungsreise gehen. Seine Theaterarbeiten bleiben allein im Gedächtnis derer, die dabei waren, sofern sie nicht aufgezeichnet wurden (und das sind einige), aber welch gewaltiger Kosmos an Filmen, die er prägte! Wer denkt an Volker Schlöndorffs „Die Fälschung“ von 1981! Allein diese Rolle als Kriegsberichterstatter Georg Laschen würde ausreichen, ihn als Filmschauspieler unsterblich zu machen. Wer fälscht hier was? Wir blicken nach Beirut zur Zeit des Bürgerkriegs. Wie wir die Konflikte in dieser Region seit Jahrzehnten wahrnehmen, das ist eine Frage der Bilder und der damit verbundenen Meldungen, die uns erreichen – oder auch nicht. Der Journalist als ein Fälscher im Dienste politischer Interessen? Diese Anmutung des auf einem Buch von Nicolas Born beruhenden Films möchte ich gern zurückweisen. Wie sie auch Georg Laschen im Film zurückweist. Er lügt doch nicht! Aber dann haben wir teil an einer gefährlichen Reise ins Ich von Laschen, mitten in den Straßen von Beirut, wo „am Tage die Heckenschützen ihre Waffen putzen und die Opfer der kommenden Nacht noch viel vorhaben“. Er hat keinen Grund, mit sich einverstanden zu sein, er kann, was er hier an grauenhaften Dingen sieht, seinem Magazin in Hamburg nicht vermitteln, ohne dass die Geschichte unterwegs zu etwas ganz anderem würde. Ist er ein Voyeur des Krieges, ein zynischer Händler mit Sensationen? Nein, gewiss nicht. Oder doch?

Der etwas eckige und kantige Autorenfilm hebt an mit einem inneren Monolog: „Ich habe keine Angst davor, mein Leben zu fälschen. Nur davor, dass ich es nicht mehr bemerke.“ Wir sind immer die Guten, jedenfalls niemals die Bösen – und außerdem berichten wir bloß über das, was hier anderen passiert, sind selbst gar nicht Teil des schrecklichen Geschehens. Das funktioniert für Georg Laschen nicht mehr, er gerät immer tiefer in die Krise. Und da zeigt sich die ganze Größe von Bruno Ganz, damals fast vierzig Jahre alt. Je stärker seine Unruhe wird, desto mehr versteinert er. Man muss sich als Zuschauer konzentrieren, die Folgen des inneren Ausnahmezustands in der immer minimaleren Mimik und Gestik auszumachen. Und diese geforderte Zunahme an Konzentration prägt den Film. Er zeigt die Stille vor jener Explosion, von der unklar ist, ob und wie Laschen sie überstehen wird. Seine Ehe ist gescheitert, die Redaktionskonferenz in Hamburg, wo man meint, das Thema Beirut sei doch nun aber wirklich „abgefrühstückt“, verlässt er mit einem Blick, in dem pure Angst wohnt. Das letzte Bild zeigt ihn regungslos in seinem Wagen bei strömendem Regen, vor seinem Haus, das nicht länger sein Haus ist, gefilmt durch die Frontscheibe hindurch. Der darauf prasselnde Regen verwischt sein Gesicht dahinter – und wäre das Glas nicht dazwischen, man könnte meinen, er wüsche es ab von allem Schmutz. In vielen seiner Filmen ist solche Katharsis zu spüren, die beinahe erfolgt, wäre da nicht die verdammte Glasscheibe zwischen dem Ich und der Welt. Ganz: der intime Distanzspieler. Die Unruhe, die dieser Film beim Anschauen bereitet, wird nicht geringer dadurch, dass er vor vierzig Jahre gedreht wurde und doch auf ähnliche Weise noch heute entstehen könnte, wenn jemand die Gewissensfrage so radikal stellen würde wie Schlöndorff und sein Hauptdarsteller Bruno Ganz.


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Engel auf Reisen – Bruno Ganz (links) als Damiel und Otto Sander als Cassiel in Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“ (1987). Foto dpa

So kann man in das Filmwerk dieses großen Schauspielers ein­ treten – mindestens zwanzig prägende Filmrollen lassen sich aufzählen – und wieder heraustreten. Die Wirkung seines Spiels ist immer eine homöopathische – er überwältigt nicht mit grellem Effekt, er insistiert durch die beharrliche Behauptung einer ­Abweichung von der Norm. Die darauf folgende Irritation tragen wir mit uns wie Ikonen des modernen Lebens, das mit seiner Unlebbarkeit kämpft. Immer geht es ihm um das fragile Verhältnis von innen und außen: um schwer erträgliche, aber leicht zu übersehende Ungleichzeitigkeiten. Woher stammt dieser Mensch, dessen Spiel trotz aller Zurückgenommenheit, die man weder mit Milde noch Schwäche verwechseln sollte, zur ständigen Grenzverletzung wurde? In seiner Art zu sprechen klang die Suchbewegung nach einem Verstehen mit, das den Sprechenden selbst verwundert, vielleicht sogar verwundet. In Zürich wurde Ganz 1941 als Sohn eines Schweizer Arbeiters geboren, seine Mutter war Italienerin. Schulabbrecher kurz vor dem Abitur, wollte er bloß eins: schnell Schauspieler werden, mit 21 Jahren kam er ans Junge Theater Göttingen, dann zu Kurt Hübner nach Bremen, an das damals wohl radikalste deutschsprachige Theater. Hier fand Ganz auch die beiden Regisseure, die ihn prägen sollten: Peter Stein und Peter Zadek, sowie den Bühnenbildner Wilfried Minks. Sein Aufstieg in Bremen muss kometenhaft gewesen sein. 1965 war er Moritz Stiefel in „Frühlings Erwachen“, im gleichen Jahr Hamlet, ein Jahr später Franz Moor und Macbeth. Und so ging das weiter, von Spielzeit zu Spielzeit, eine Hauptrolle nach der anderen. 1970 kam er an die Schaubühne nach Westberlin, setzte hier die Arbeit mit Peter Stein fort, war 1972 sein Prinz von Homburg, 1975 Empedokles in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Hölderlins „Tod des Empedokles“.

­ ereits mit dreißig Jahren hatte Ganz fast alle großen KlassikerB rollen gespielt. Er war ein eher stiller Star, der um seine Fähigkeiten wusste, aber sich nicht in den Vordergrund drängte. Die Schaubühne war Anfang der siebziger Jahre aber nicht nur eine künstlerisch avantgardistische Bühne, sondern auch ein soziales Labor, wo um Mitbestimmung der Kollektive und Genossenschaftsmodelle gestritten wurde. Man wollte eine Brücke von den Künstlern zu den Arbeitern bauen. Eine Art Bitterfelder Weg West. Damit konnte man Bruno Ganz, dem Zürcher Arbeiterkind, wenig imponieren. Sein Mitspieler und Freund Otto Sander berichtete: „Wenn alle in Jeans, im Arbeiterlook rumliefen und den Proleten heraushängen ließen, kamen er und ich in maßgeschneiderten Anzügen ins Theater. Ich fand das wunderbar damals. Dieser Eigensinn von Bruno faszinierte mich, sein Gesicht, das zu sagen schien: Ich lass mich hier doch nicht uniformisieren.“ Der Widerspruch von Kunst und Politik wurde auf hohem Niveau ausgetragen. Doch für Bruno Ganz stand in der Folge der Auseinandersetzungen fest: „Ich bin, was Kunst betrifft, absolut gegen jede Demokratie. Total. Ich halte die Vorstellung, dass alle gleich gut in einer bestimmten Sache sind, für unwahr.“ Derart mit Polemik beladen, ging das Schaubühnen-Ensemble mit Peter Stein dann auch in die Arbeit zu Gorkis „Sommergästen“, wo es genau um dieselben Fragen geht: Sind wir noch am Anfang oder schon am Ende? Was haben wir als Künstler der Gesellschaft überhaupt zu sagen, hört unserer ewigen Selbstbespiegelungs­ litanei überhaupt noch jemand zu? Vielleicht müsste man diese ganze Kunst sein lassen und etwas Nützliches tun, Arzt oder Arbeiter werden? Der Diskurs kreist und kreist bis zur völligen Ermüdung – aber mit welcher Virtuosität! 1973 kam die Inszenierung an der Schaubühne heraus, 1976 verfilmte sie Stein selbst mit dem Schaubühnen-Ensemble, doch jenseits der Bühne, mitten in einem Birken- und Datscha-Ambiente unter freiem Himmel. Diese filmgewordene Inszenierung verströmt immer noch die mit komplizierten Lebenstheorien aller Art aufgeladene Atmosphäre Mitte der siebziger Jahre und zeigt gleichzeitig die Sehnsucht nach einem einfachen Leben in der Natur mitsamt Familie und Kindern. Stein entzaubert das mit Gorki sofort wieder. Mitten in einer kranken Gesellschaft kann es keine Idyllen geben. Was sind wir? Der Klageruf ist unüberhörbar: Immer bloß Sommergäste im eigenen Land, die wenig vom wirklichen Leben wissen, aber umso angestrengter und selbstgefälliger darüber debattieren. „Sommergäste“ ist ein selten kostbares Kleinod der Schauspielkunst geworden. Botho Strauß schrieb das Drehbuch, Karl-Ernst Herrmann entwarf das Szenenbild, Michael Ballhaus führte die Kamera. Das Schaubühnen-Ensemble, von Edith Clever über Ilse Ritter, Otto Sander, Gerd Wameling bis Jutta Lampe, versammelte sich auf engstem Raum. Man kann die angespannte Atmosphäre förmlich mit Händen greifen. Und Bruno Ganz als Schriftsteller Jakow Schalimow? Sitzt wie unbeteiligt daneben, als hätte er mit alldem nichts zu tun. Das

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protagonisten

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konnte Ganz eben auch – sich aus der Szene schleichen, unsichtbar werden. Um dann mit einem schlichten, überaus leise gesprochenen Satz, der doch wie ein Donner aus Stille klang, den lauten Streit zu unterbrechen. Aller Augen richten sich auf ihn, den ­Lebensüberdrüssigen, der, als man insistiert, was er denn gerade schreibe, mit fast jenseitigem Furor flüstert: „Nichts schreibe ich, was soll ich schreiben, wenn ich nichts verstehe?“ Ein Bekenntnis des Ekels vor dem falschen Leben, das sich nicht wortreich damit rechtfertigt, dass das richtige Leben doch noch gar nicht möglich sei. „Alles völlig bedeutungslos“, sagt Schalimow, dieses unsichtbare Zentrum der „Sommergäste“, der genau für dieses Bedeutsamkeitspathos nicht länger herhalten will. Den Hut tief ins bärtige Gesicht gezogen, sich hastig Wein eingießend, wendet er sich am Ende einfach ab. Botho Strauß wird Ganz einen Schauspieler nennen, der wohl noch nie über einen Satz hinweggesprochen habe, einen „Fremdling unter den sorglosen Resteverwertern der Epoche“. Ist das nun eine Auszeichnung oder eher ein Kainsmal? Bruno Ganz steht 1975 als Theaterschauspieler im Zenit seines Erfolgs, mit noch nicht einmal Mitte dreißig. Er trinkt viel zu viel, er ist süchtig. Und in diesem Moment wagt er den Absprung, kündigt an der Schaubühne, geht zum Film – und wieder wird jede seiner Arbeiten erfolgreich und jede weitere noch erfolgreicher. Wie soll man das aushalten? Vielleicht, indem man probeweise immer in die Rolle emi­ griert, die man gerade spielt? Ja, aber nur bei jederzeit spürbarem Vorbehalt, einem Verschmelzen gleichsam unter Protest. Die Filmfiguren, die bis heute – vielleicht wegen ihres inneren Widerspruchs, den Ganz gesucht hat – erstaunlich frisch wirken, sind zu zahlreich, um sie alle aufzuzählen. Natürlich ist da vor allem sein Engel in Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“ von 1987, der in die da noch geteilte, brüchige, schmutzige und provisorische Stadt fällt – um zu bleiben. Eine Ikone – ohne Goldgrund. Mein Lieblingsfilm aber ist „Brot und Tulpen“ von Silvio Soldini aus dem Jahr 2000. Es ist ein Venedig-Film der beson­ deren Art, wie von unten gesehen, vom Schmutz der Kanäle aus. In dieser Stadt besaß Ganz eine Wohnung, die hier herrschende ­Mischung aus Märchen und Lüge faszinierte ihn auch jenseits des Drehs. In „Brot und Tulpen“ ist er ein melancholischer Kellner, ein potenzieller Selbstmörder mit Strick unterm Bett, für alle Fälle. Aber wenn die – bei Italienern übliche – geringschätzige Rede auf die minderwertige chinesische Küche kommt, dann wird er staatsmännisch streng: Das sei eine jahrtausendealte Kultur, über die zu

urteilen uns nicht ansteht. Venedig war auch so eine Liebe unter Vorbehalt von Ganz, eine Stadt, von der er wusste, die größten hier erreichbaren Privilegien bestehen in einem Bootsliegeplatz vor der Tür und einer Badehütte auf dem Lido in der ersten ­Reihe – beides nicht für Geld zu kaufen, nur in alten venezia­ nischen Familien vererbbar. In den letzten zwei Jahrzehnten lebte er abstinent, spielte auch häufiger wieder Theater, auch bei Peter Stein. In der Arena in Berlin-Treptow sah ich ihn 2001 als Faust in Steins 22-Stunden„Faust“-Marathon. Da wirkte er allerdings wie eine entseelte Textsprechmaschine. Der einstige Theaterrevolutionär Stein hatte allzu epigonal-brav vom Blatt inszeniert. Bruno Ganz gestand später, nach seiner Rolle des Faust gefragt, damit habe er eigentlich nichts zu tun gehabt. Stoiker konnte er auch sein. 2004 wurde er Hitler in Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“. Ein eingebunkerter Psychopath, mit einem Foto von ­Friedrich dem Großen auf dem Nachttisch. Ganz zelebriert mit nüchterner Akribie die Agonie eines Größenwahnsinnigen, der dabei dennoch in seiner Darstellung auch ein verirrter Mensch bleibt. Andere hätten nach einer solchen Hitler-Performance größte Schwierigkeiten gehabt, in neuen Rollen Akzeptanz zu ­finden. Nicht so Bruno Ganz, der jedes Jahr seine Filme drehte. 2010 spielte er bei Jo Baier in „Das Ende ist mein Anfang“ den sterbenden italienischen Schriftsteller Tiziano Terzani im Interview mit seinem Sohn. Berührend seine hier gezeigte Todesnähe ohne Scheu, die von Lebensintensität kündet. In Matti Geschonnecks Verfilmung von Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ war er der neunzigjährige SEDFunktionär Wilhelm Powileit. Mit blauer Solarium-Brille (die letzte einer Reihe von Ganz-Ikonen!) schaut dieser dogmatisch-debile Greis dann so unverwüstlich-schalkhaft umher, als wäre er ein alt gewordener Andy Warhol. Ganz konterte mit Vorliebe Erwartungs­ haltungen, die andere seinen Rollen entgegenbrachten, immer mit hintergründiger Lust an den skurrilen Havarien des allzu ­Naheliegenden. Sein Auftritt in Lars von Triers Thriller „The House that Jack Built“ von 2018 gehört zu diesen vorsätzlichen Seh-Irritationen. Ein in seiner eigenen Diabolik vom perversen Serienkiller Jack noch übertroffener Anti-Engel bringt diesen schließlich dahin, wohin er gehört: in die Hölle. Aber auch das nicht, ohne die Grenzen des Poetischen auszutesten. Nun ist Bruno Ganz, der als Schauspieler immer halb Engel, halb Teufel war, mit 77 Jahren in Zürich an Krebs gestorben. //

8. – 13.4.19 tanz- und theaterpreis der stadt stuttgart und des landes baden-württemberg

festival der freien darstellenden künste am theater rampe

6tagefrei.de


Filmhelden unter sich – „Der amerikanische Freund“ von Wim Wenders mit Dennis Hopper (links) und Bruno Ganz (eine digital überarbeitete Version ist seit Januar bei Studiocanal Home Entertainment auf DVD erhältlich). Foto Studiocanal Home Entertainment

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Sender und Empfänger Sehnsucht nach der großen Narration. Das Theater Freiburg peilt mit Intendant Peter Carp ehrgeizige Ziele an von Bodo Blitz

eter Carp und sein Team begreifen das Freiburger Theater auch in der zweiten Spielzeit als „Weltempfänger“. Dieses Kommunikationsbild aus den Anfängen des Radios vereint die Zuschauer als Empfänger mit internationalen Regisseurinnen und Regisseuren als Sender. In Freiburg inszenieren mit dem Belgier Stef Lernous oder dem Iraner Amir Reza Koohestani bereits am Theater Oberhausen bewährte Kräfte. Neue Sendeplätze gingen etwa an die Polin Ewelina Marciniak oder an den Slowenen Jernej ­Lorenci, den Träger des Europäischen Theaterpreises für neue theatrale Realitäten. Der Radar überregionaler Aufmerksamkeit ist Carp sehr wichtig. Insbesondere im Großen Haus bleibt der Ehrgeiz spürbar, den großen Wurf zu landen. Wen der Freiburger Intendant als langjähriger und ausgewiesener Spezialist für internationale Regie sich entwickeln lässt, der kann – wenn es gut läuft – vielleicht eine oder zwei Spielzeiten später an den großen Häusern inszenieren. Carps Energie gilt vielversprechenden Künstlern, nicht Konzepten. Ein Blick auf die beiden aktuellen Inszenierungen Marciniaks und Lorencis zeigt, welche Theatermittel dabei hoch im Kurs stehen: Bildhaftigkeit und Narration. Lorenci adaptiert mit „Das Nibelungenlied“ eine der großen europäischen Erzählungen, und das auf diskursive Weise. Die Narration, indes nicht im klassisch psychologischen Sinne, steht bei ihm im Mittelpunkt: Schauspieler in ihrer Rolle als Schauspieler betreten die Bühne, setzen sich auf den leeren Bühnenboden, beginnen mit der Erzählung ihrer Sichtweise auf die Aventüren. Alle Texte wurden von den Schauspielern selbst entwickelt, welche sozusagen als Co-Autoren fungieren. Dieses Konzept radikaler und moderner Subjektivität überrascht und begeistert im ersten Teil der Exposition nicht zuletzt durch das Prinzip der kollektiven Erzählweise. Im zweiten Teil wird die Gesamtnarration zunehmend von Michael Witte als großartigem Hagen dominiert. Diese starke männliche Note irritiert innerhalb eines Epos, das doch im Hintergrund maßgeblich von weiblichen Charakteren angetrieben wird. Nach Siegfrieds Tod zerfasert die Inszenierung an Etzels Hof zum ästhetischen Versgenuss. Der Abend, anfangs fast vier Stunden, gerät insgesamt aus den Fugen. Die Improvisationslust des Ensembles schien ­einer stärkeren Verdichtung von außen widerstanden zu haben. Geschichten lassen sich über Worte erzählen, bedürfen aber auch der Bilder. Diese Qualität ist besonders wichtig, wenn eine Produktion in fremder Sprache gesehen wird. So stießen Carp und sein künstlerisches Team auf die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak. Ihre Arbeiten sind betörend bildmächtig. Marciniak adaptierte in der vergangenen Spielzeit Botticellis „Die Geburt der Venus“ für das gesamte Bühnenbild ihres „Sommernachtstraums“. Auch ihre aktuelle Inszenierung der „Bartholomäusnacht“ evoziert Sinnlichkeit durch opulente Ausstattung. Das Zeitalter der Renaissance spiegelt sich in grandiosen Kostümen und ästhe­ tischen Bildzitaten. Marciniak beherrscht die Kunst des Tableaus

Betörend bildmächtig – „Die Bartholomäusnacht“ (hier mit Angela Falkenhan (l.) und Martin Hohner) nach Alexandre Dumas in der Regie von Ewelina Marciniak. Foto Birgit Hupfeld


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und würzt das mit thematischer Radikalität, was den kritischen Umgang mit Patriarchat und Religion betrifft. Sie fordert dem Freiburger Ensemble dabei viel ab, bringt es auch weiter. Hatte sie beim „Sommernachtstraum“ mit Shakespeare allerdings einen begnadeten Autor an ihrer Seite, so fehlt dieser Boden für ihre Kunst bei der „Bartholomäusnacht“. Die Freiburger Fassung kommt salopp und umgangssprachlich daher. Schwerer wiegt die Verengung des Pogroms auf eine königliche Familiengeschichte. In Anlehnung an Alexandre Dumas’ gleichnamigen Roman bildet eine politisch motivierte Zwangsheirat über die Religionsgrenzen hinweg den Ausgangspunkt für einen explosionsartigen Gewaltexzess der Katho­liken an den Hugenotten. Wenn am Ende der Inszenierung schwarze Leichensäcke vom Bühnenboden regnen, so ist das zwar ästhetisch eindrucksvoll, es hängt aber dramaturgisch im wahrsten Sinne des Wortes „in der Luft“. Die große Leerstelle der Inszenierung bleibt eine Erklärung für die ungeheuerliche Breite des Pogroms jenseits der fokussierten Herrschaftsebene. Die angeprangerte Instrumentalisierung von Religion wäre in Polen vielleicht skandalös. Für das Freiburger Publikum ist diese Kritik nicht neu. Gegensätzlicher als die Arbeiten Marciniaks und Lorencis können Inszenierungen von ihrem Ansatz her kaum sein. Ähnlich wie beim Radio geraten Freiburger Zuschauer in sehr kurzer Zeit von einem Sender zum nächsten oder wechseln von diesem Regie­ stil zu jenem. Wer die überaus geglückte Synthese von Narration und Bildlichkeit erleben möchte, der muss in Freiburg aktuell ins Musiktheater gehen. Dort hat Peter Carp selbst inszeniert. Sein „Eugen Onegin“ ist wunderbar. Das spielfreudige Sängerensemble interpretiert Tschaikowskys Oper mit Lust und viel Freiraum. Carp gelingt es, die Geschichte einer weiblichen Emanzipation über einprägsame Bilder sinnlich erfahrbar zu machen. Das hölzerne Landgut im ersten Akt wirkt als Sehnsuchtsbild. Es ­

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v­erschränkt die Enge im jugendlichen Leben der weiblichen Haupt­figur Tatjana (Solen Mainguené) mit der Weite poetischer Imagination. Tatjanas ungestümer Liebesbrief an Onegin (Michael Borth), ein Manifest des Ausbruchs aus diesem Landgut, wird von Carp inszenatorisch zum berührenden Symbol ihres inneren Reichtums vergrößert. Die Zurückweisung durch Onegin steht dazu im schroffen Kontrast. Wenn Tatjana am Ende als erfolg­ reiche Künstlerin Onegin noch einmal begegnet, dann bildet die geschäftige Welt einer Vernissage den einprägsamen sinnlichen Rahmen für ihre Karriere sowie für den Preis, der dafür zu bezahlen ist – den Verlust absoluter Liebe. Wie wesentlich eine überzeugende Partitur ist, das zeigt sich nicht nur in Tschaikowskys glasklarem Libretto, sondern auch in Enda Walshs grandiosem Stück „Ballyturk“. Den internationalen Aspekt bei dieser Freiburger Erstaufführung liefert die Textvorlage des irischen Autors, nicht der Regisseur (Bastian Kabuth). Das Stück handelt von zwei namenlosen Figuren, die gegen das Verschwinden und Sterben anerzählen. Sie erfahren Existenz in selbst erfundenen Geschichten und wiederkehrenden Spielsituationen. Beides garnatiert eine surreal anmutende Alltäglichkeit. Michael Witte als älterer und Lukas T. Sperber als jüngerer Spielpartner brauchen sich gegenseitig. ­Sie verkörpern das mit einer überzeugenden Mischung aus Melancholie und Artistik, aus Stillstand und Hektik. Das Bühnenbild von Maria Eberhardt nimmt die vielen Regieanweisungen der Stückvorlage wörtlich und versinnbildlicht Weite und Enge der surrealen Existenz fast filmisch konkret: ein hyperrealistisches Alltagsgefängnis. Die Genauigkeit von Musik und Sounddesign kommt hinzu. Vielleicht liegt in der scharfsinnigen, sprachlich äußerst elaborierten Textvorlage ein Schlüssel zum Gelingen des „Weltempfängers“ – eben in der Kongruenz von Regie und Autorentheater. //

Das Entdeckerhaus Der Freiburger Intendant Peter Carp im Gespräch

mit Bodo Blitz

err Carp, Ihre einprägsame Metapher für das Theater Frei­ burg, der „Weltempfänger“, gilt weiterhin, inzwischen sind Sie in der zweiten Spielzeit. Auf welche Resonanz stößt Ihre Arbeit in der Stadt? Freiburg ist eine international ausgerichtete „Geistesstadt“. Von daher passt der „Weltempfänger“ sehr gut. Er beschreibt die Tatsache, dass wir mit vielen verschiedenen Regisseurinnen und

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Regisseuren aus unterschiedlichen Ländern, ja Kulturkreisen arbeiten. So präsentieren wir viele unterschiedliche Blickwinkel des Theaters auf die Welt. Eine Bereicherung nicht nur für das Publikum und das Ensemble: Davon profitieren die Häuser als Institutionen. Auch wenn es am Anfang viel kommunikativer Arbeit bedarf. Können Sie diese Kommunikationsarbeit im Sinne einer ­Herausforderung konkretisieren? Sie brauchen ein internationales Netzwerk, um gute Empfehlungen zu bekommen, und reisen viel. Dabei sieht man nicht nur Dinge, die einen begeistern. Es ist eine aufwendigere Vorgehensweise, weil man die Institution und die Künst­lerin / den Künstler zusammenbringen muss. Welche Folgen für die Art der Narration hat Ihr Modell des Welt­ empfängers? Narration ist mir sehr wichtig. Ich fand immer, dass die Menschen, die aus der rein deutschen Theatertradition kommen, sehr stark über Form und Mittel reflektieren. Mir kam es wenigstens so vor, als ob ihr Schwerpunkt weniger auf dem Inhalt oder auf dem lag, was man erzählen will. Vielleicht hatten sie auch nicht so viel zu erzählen, oder auch nicht genug erlebt, um viel erzählen zu können. Ich stellte dann fest, dass Menschen aus anderen Ländern – mit anderen Problema­ tiken und verschärfteren gesellschaftlichem Klima – auf der Bühne für mich interessantere Dinge und mehr zu erzählen haben.

Praxeologie Das weiß in Gießen jedes kind: Fragen nach inhalt Scheinbar sind. Lediglich kommt es In betracht Wie man das theater macht. (Andrzej Wirth) Er hat es mehr als gut gemacht. Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen trauert um seinen Gründer

Prof. Dr. Andrzej Wirth 10.4.1927 – 10.3.2019 Prof. Dr. Bojana Kunst Prof. Dr. Xavier Le Roy Prof. Dr. Gerald Siegmund Prof. Dr. h.c. multi Heiner Goebbels Prof. Dr. Helga Finter mit allen Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und Studierenden

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Das Mehrspartenhaus gleicht einem Tanker, in dem parallel meh­ rere Crews arbeiten und den Kurs bestimmen. Wie beurteilen Sie diese Fahrt bezüglich der Sparten Musiktheater und Tanz? Die Leitung eines Mehrspartenhauses war für mich neu. Der Start verlief ohne große Holperer. Es geht um das Zusammenbringen von vielen unterschiedlichen Perspektiven auf das, was auf der Bühne stattfinden soll. Das Musiktheater läuft sehr gut, weil wir ein junges und wirklich tolles Ensemble haben und dadurch eine steigende Akzeptanz bei jüngerem Publikum. Und der Tanz ist in guten Händen von Adriana Pees. Sie kuratiert das großartig, die internationale Vernetzung ist enorm und findet extrem positive Resonanz hier in der Stadt, überhaupt im Dreiländereck. Übrigens bietet der Tanz derzeit einen starken Frankreichschwerpunkt. Und im Schauspiel? Wir sind in Freiburg angetreten mit der Aufgabe und dem Willen, das Schauspiel noch weiter zu stärken. Da sind wir dran, das tun wir. Was ich sehr positiv empfinde, ist Folgendes: Wir bekommen oft Besuch von Kollegen aus größeren Häusern. Ein Teil von unseren Regisseurinnen und Regisseuren, die wir hier präsentieren, werden in der nächsten Spielzeit an Häusern wie dem Thalia Theater Hamburg oder am Deutschen Theater Berlin, auch am Berliner Ensemble arbeiten. Mir sagen die Kollegen: „Freiburg ist wieder ein Entdeckerhaus“. Gleichwohl ist im Schauspiel noch etwas Luft nach oben. Es ist zudem schwieriger, die Sparte noch einmal stärker zu profilieren, weil wir dem Ensemble die klassischen Glanzrollen bisher nicht geboten haben. Aber ein traditionelles oder vorhersehbares Programm wollen wir in Freiburg auch nicht machen. Wohin geht die Fahrt? Wir werden wie bisher mit sehr unterschiedlichen Regiehandschriften arbeiten. Passend zur Frage: Was ist in Europa in den letzten dreißig Jahren geschehen, und wohin geht die Reise? Ich hoffe, dass die Fahrt weiterhin von steigenden Besucherzahlen begleitet wird, wie im Moment. Obwohl sich die Qualität einer Aufführung natürlich nicht darin bemisst, wie gut besucht sie ist. Vor allem aber konnten wir mit der Stadt eine neue Zielverein­barung aushandeln, die uns Planungssicherheit für die nächsten fünf Jahre gibt. Im Rahmen dessen sind Sanierung und Umbau des Kleinen Hauses festgeschrieben. Dafür stellt die Stadt eine Summe von zehn Millionen Euro innerhalb der nächsten fünf Jahre zur Verfügung. Mit das Beste an dieser Zielvereinbarung war die beschließende Sitzung im Gemeinderat: Dort legten alle Fraktionen und politischen Gruppierungen ein ganz klares, deutliches Bekenntnis zum Theater ab. Dazu waren die Gruppierungen nicht gezwungen – das wollten sie tun. //

TdZ ONLINE EXTRA Eine Langfassung dieses Interviews finden Sie unter www.theaterderzeit.de /2019/04

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Bildkorrektur Christoph Hein wird 75 Jahre alt – und schließt in seinem jüngsten Buch die Wirklichkeit eines geteilten Landes auf

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5 Jahre ist es her, da sollte der Schriftsteller und Dramatiker Christoph Hein der Intendant des Deutschen Theaters in Berlin werden. Ein unglaubliches Rauschen ging durch den deutschen Blätterwald, von „Ostalgie“ und ähnlichem war in den M ­ edien die Rede, als ob man schon aus moralischen Gründen verhindern müsse, dass einer, der in der DDR lebte und arbeitete, das erste Theater der neuen Bundeshauptstadt leite. Widerstand kam auch aus der Politik. „Man kann dem Senat nicht vorwerfen, irgendetwas unterlassen zu haben, um meine Intendanz zu verhindern“, resümiert Hein in seiner jüngsten Suhrkamp-Veröffentlichung „Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“. In der Sammlung von Anekdoten ist jene über die gescheiterte Intendanz die umfangreichste, wenn auch ohne Pointe. Außer vielleicht jener, dass noch in den Diskussionen um Chris Dercons Berufung an die Berliner Volksbühne etwas widerhallte von der erzwungenen Aufgabe Heins – zwei Momente in den Verteilungskämpfen der ehemals geteilten Stadt, geprägt durch westelbische Arroganz. Am 8. April wird Christoph Hein 75 Jahre alt. Verstand er sich selbst mehr als Dramatiker, ist er doch vor allem für seine Prosa bekannt. Mit „Gegenlauschangriff“ blickt der Schriftsteller zurück, auf die DDR, den Beitritt zur BRD und all die Verwicklungen, die sich im Anschluss daran ergeben haben. Der Rückgriff auf das Bild des Krieges hilft, die Geschichte nicht als die Vollendung einer überzeitlichen nationalen Idee zu betrachten. Der Verweis auf das wiedergewonnene Nationale, so sehr er auch seit 1990 mit desaströsen Folgen bemüht wird, verfängt nicht. Schon die materielle Ungleichheit steht dagegen. Hein beobachtet eine reiche Münchner Dame in einem Café. Als sie demonstrierende Ostdeutsche im Fernsehen sieht, ruft sie aus: „Ja, ihr seid das Volk. Und das sollt ihr auch bleiben.“ Das ist ein Paradox der Berliner Republik. Das vereinigte Staatswesen lässt die innere Spaltung nur noch realer hervortreten. Umso mehr, als der Einheit genannte Beitritt selbst eine Erfahrung der Spaltung war, der ­Abspaltung von Geschichte. Nichts sollte mehr die Züge der verfem-

ten DDR tragen. Abwicklung ihrer Institu­tionen, Zerstörung der Industrie, Ab­wertung der Kultur, das waren die Zeichen der Einheit, wenn man vom Osten aus blickte. Eine weitere Anekdote Heins illus­ triert, inwieweit das Phantasma der ­Unterentwicklung des Ostens durch die Realität Lügen gestraft wurde. Ein Beamter des kulturellen Aufbau Ost kommt von einer Reise durch Thüringen und Sachsen zurück. Dort gebe es alle dreißig, vierzig Kilometer ein Symphonieorchester, sagt er. „Das müssen wir schnellstens auf bundesdeutsches Niveau bringen!“ Man weiß, was das bedeutete: Kahlschlag. Eine kurze Reflexion zu „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck hatte durch einen Vorabdruck in der Süddeutschen Zeitung schon im Vorfeld für Diskussionen gesorgt. Dieser überaus erfolgreiche Film sei ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spiele, aber nicht die achtziger Jahre in der DDR beschreibe, so Hein. Die Pointe des Textes ist, dass ein befreundeter Professor von Studenten berichtete, die derart überzeugt waren, dass die DDR eine Art Freiluftgefängnis gewesen sei, dass sie mit Verweis auf den Film schlicht in Abrede stellten, dass Hein auf dem Schriftstellerkongress der DDR 1987 eine Rede gegen die Zensur habe halten können, ohne in Bautzen zu landen. Ein falsches Bild, aber ein überaus wirkmächtiges. Hein will dieses Bild korrigieren. Seine gut erzählten Anekdoten schließen einen Teil der Wirklichkeit auf, sie gehen von der einzelnen Begebenheit ins Allgemeine. Sie zeugen von Interesse für die Widersprüche und Verwerfungen des deutschen Staates. Wie es weitergehen kann? Die letzte Anekdote des Bandes gibt einen Ausblick. Zwei ältere literaturinteressierte Damen aus dem Südwesten werden dieser Tage gefragt, ob sie auch ostdeutsche Autoren lesen würden. Sie antworten pikiert: „Nein, so etwas interessiert uns nicht.“ Hein mag darin schon einen Fortschritt erkennen. Immerhin seien beidseitige Abneigung und gereizter Widerwille Gleichgültigkeit und Desinteresse gewichen. Doch täuscht sich der Schriftsteller hier möglicherweise? Denn was wäre, wenn die Teilnahmslosigkeit und die Nichtbeachtung, die bestimmte gesellschaftliche Kreise an der Lebensrealität anderer Menschen pflegen, zur Quelle neuer Abneigung geworden wäre? // Christoph Hein. Foto dpa

von Jakob Hayner

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Wir und die Stadt Der neue Intendant Kay Metzger erobert Ulm mit einem Mix aus lokalen und globalen Themen – und einem Schauspielensemble, das Spaß macht von Sabine Leucht

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eigschmeckt“ steht auf dem Spielzeitheft 2018/19 des Theaters Ulm. Das ist Schwäbisch und signalisiert, dass die Neuen am Haus nicht aus dem „Ländle“ kommen. Innen im Heft sieht man Fotos der unterschiedlichsten Ulmer Bürger in ihren unterschiedlichen Wohnzimmern. Und ganz unten auf dem ansonsten reinweißen Cover des Heftes sitzt ein Ulmer Spatz mit Halm im Schnabel. Ein mehr als deutliches Signal der neuen Leitung des Dreispartenhauses, die bei dessen erster Neuausrichtung nach zwölf Jahren freundlich Hallo sagen und dezente Duftmarken setzen muss. Das Thema Bürgertum und das neue Spatzenlogo sind zwei davon. Ja, sagt Kay Metzger, das mit dem Spatzen habe nicht jedem gefallen. Man habe als „Neigschmeckte“ nicht damit gerechnet, dass es den Ulmern gar nicht so lieb sein könnte, wenn ihr traditionelles Signet plötzlich überall auftaucht. „Wir wollten eigentlich nur unterstreichen: wir und Ulm.“ Dennoch fühlten sich einige

zu penetrant umarmt. Aber alles in allem, so der neue Intendant, sei dieser Sturm im Wasserglas längst verebbt. Ende Februar hat das Team um Metzger Inhalte und ästhetische Stoßrichtung ­seiner zweiten Spielzeit am ältesten Stadttheater Deutschlands ­bekanntgegeben und für die erste dabei offenbar nur Lob ein­ geheimst. Die Schwäbische Zeitung zitierte einen Stadtrat, der im Kulturausschuss von steigender „Suchtgefahr“ schwadronierte. Freilich kann ein Politiker sich auch allein schon an den elf Lettern „Ausverkauft“ berauschen, die die Website des Hauses pflastern, als hätte einer umsonst virtuelle Aufkleber verteilt. Was aber machen Metzger und Co. neu und anders in Ulm? „Wir zeigen sehr klar, dass wir für Ulm arbeiten. Mit Themen – und indem wir uns nicht in unseren heiligen Hallen verschanzen, sondern sie öffnen und auch rausgehen mit einzelnen Projekten.“

Die enthemmten Player des Turbokapitalismus – „Zeit der Kannibalen“ (hier mit Benedikt Paulun (l.) und Maurizio Micksch) in der Regie von Jasper Brandis. Rechts: Die Uli-Hoeneß-Wurstiade „Aufstieg und Fall des Uli H.“ in der Regie von Stephan Dorn. Fotos Martin Kaufhold


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Etwa mit Lot Vekemans’ „Judas“-Monolog ins Ulmer Münster – „das Herzstück der Stadt“. „Und“, fährt er fort, „ich glaube, wir verströmen eine gewisse Theaterlust und -energie, die ansteckend ist.“ Die schreibt er vor allem dem Ensemble zu – „einer guten Mischung zwischen bewährten Kräften und Neuzugängen, die Identifikation erlaubt“: Im Tanz ist das Team um den Ballettchef Reiner Feistel komplett neu, im von Metzger verantworteten ­Musiktheater kaum jemand, im Schauspiel etwa die Hälfte. Die meisten davon hat Metzger vom Landestheater Detmold mit­ gebracht, wo er zuvor Intendant war – gewissermaßen auch den neuen Schauspielchef Jasper Brandis, mit dem er dort bereits „gut und gerne“ gearbeitet hat. Ihn gewonnen zu haben, hält Metzger für „eine glückliche Fügung“. Denn der bis dato in Deutschland, Italien und Belgien aktive freie Regisseur hat zuvor auch schon in Ulm inszeniert und „uns so einen gewissen Heimvorteil verschafft“. Brandis’ bereits abgespielte Eröffnungsinszenierung von Schillers „Die Räuber“ und seine stets ausverkaufte Studio-Inszenierung „Zeit der Kannibalen“ kann man leider nur noch auf Konserve besichtigen. Die Laufzeiten sind kurz in Ulm und selbst die begehrtesten Produktionen schnell abgespielt, weil man keine ­externen Kulissenlager hat. „Unsere Achillesferse“, sagt Metzger. Aus beiden Produktionen spricht ein reduzierter, sich seiner Mittel bewusster Stilwille, der aus dem Text und der Eigengesetzlichkeit des S ­ tückes erwächst – und ein großes Vertrauen in die Schauspieler. In den „Räubern“ flüstern sie chorisch Schillers Regieanweisungen und springen ohne Requisiten in diverse ­ ­Rollen, wobei man spürt, wie sie zu ihnen stehen. So lässt etwa Gunther Nickles den Vater Moor übertrieben greisenhaft zetern, reingerufene Kommentare machen das Befremden über Situationen und Figuren deutlich. Das Theater selbst wird zum Thema – und an einer Stelle sogar das Theat­er Ulm: Denn der Spatz ist auch das Signum der Räuberbande. Was Spiegelberg nicht gefällt, der lieber das Rad der Berliner Volksbühne genommen hätte. Maurizio Micksch und Benedikt Paulun spielen Karl und Franz Moor und machen auf unterschiedliche Weise transparent, wie die Legitimität der Gewalt wächst, wenn einer Familie oder Gesellschaft der ideelle und emo­tio­­ nale Zusammenhalt flöten geht. Und sie spielen auch die ideell und emotional enthemmten Unternehmensberater in „Zeit der Kannibalen“ nach Johannes Nabers Film von 2014 in der Nebenspielstätte Podium im Souterrain des Hauses. In dessen offener Raumbühne sitzt das Publikum rund um einen sechseckigen Sportplatz, auf dem nichts als ein Drehstuhl

theater ulm

steht – und wo sich aus den entspanntest anmutenden Situa­ tionen blitzschnell ungeheure Übergriffe auf die Nebenfiguren ereignen, die im globalen Verwertungskosmos des Turbokapitalismus devote Inder oder sexuell ausbeutbare afrikanische Zimmermädchen sind, die sich weitere Akteure als lebensgroße schlaffe Puppen vor die Brust geschnallt haben. Dieses böse Stück, in dem Regisseur Brandis die Absurdität der Verhältnisse allmählich auch auf die Schauspielerkörper überspringen lässt, die handfest aufeinanderprallen oder sich in absurden Tänzchen in sich selbst verhaken, gehört zu jenem Teil des Spielplans, der auf die Gegenwart schaut und kritisch danach fragt, ob das noch die Welt ist, in der wir auch in Zukunft leben wollen. Die „Erklärung der Vielen“ gegen die Vereinnahmungen von rechts, der sich deutschlandweit viele Kulturinstitutionen angeschlossen haben, hat das Theater Ulm nicht unterzeichnet, dafür aber nach internen Diskussionen auf Leitungsebene eine eigene Stellungnahme gegen jede Form der Ideologisierung mit dem Titel „Haltung zeigen!“ abgegeben, die Metzger differenzierter findet als die „Erklärung“. „Da hatte ich schon beim Lesen kein gutes Gefühl, insbesondere was den Aktionskatalog angeht“, in dem er viele „bloße Gesten“ sieht. Die „Ulmer Erklärung“ dagegen beruft sich auf die „Mittel der Kunst“, mit denen man sich – so ihr Wortlaut – gegen „die Diffamierung Andersdenkender und rassistisch motivierte Gewalt, gegen jegliche Formen von Zensur und die Unterdrückung religiöser oder politischer Anschauungen, sexueller Orientierungen, sowie des Rechts der freien Meinung“ positionieren wolle. Da dürfe man „nichts schönreden“, sagt Metzger. Auch für die im Mai anstehenden Kommunalwahlen der Donaustadt stehe die AfD in den Startlöchern. Deshalb

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habe er für die kommende Saison Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ auf den Spielplan gesetzt. Etwas angestaubt, gibt er zu, und dennoch das Stück zur Stunde. Und neben Kleists „Der zerbrochne Krug“ eine der wenigen sicheren Banken im neuen Spielplan, der mit spartenübergreifend sieben Uraufführungen (dank 80 000 Euro Extrazuschuss der Baden-Württemberg-Stiftung) den fünfzigsten Geburtstag des Ulmer Theatergebäudes von Fritz Schäfer feiert. Im Schauspiel wird Ulf Schmidt ein Auftragsstück zum „Schneider von Ulm“ Albrecht Ludwig Berblinger schreiben und John von Düffel eine Variation des „Ikarus“-Stoffes mit Ulm-Bezug.

Kay Metzger, geboren 1960 in Kiel, studierte Theaterwissenschaften in München und assis­ tierte August Everding unter anderem bei Wagners „Ring“ in Warschau 1988. 1994 war er Everdings Co-Regisseur bei den „Meistersingern“ in Meiningen. Als Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters (1999–2004) und des Landestheaters Detmold (2004– 2018) machte Metzger sich hauptsächlich um Wagner-Opern und zeitgenössische Musik­ theateraufführungen verdient und initiierte Wettbewerbe für den Kompositions- und Autoren-Nachwuchs. Für seine Inszenierung von Kleists „Hermannsschlacht“ wurde Metzger neben Karin Beier und Dimiter Gotscheff 2009 für den Theaterpreis FAUST in der Kategorie „Beste Regie Schauspiel“ nominiert. Seit der Spielzeit 2018/19 ist Metzger Intendant des Theaters Ulm. Foto Kerstin Schomburg

Der „Schneider“, der 2020 250 Jahre alt würde, ist ein auf ganz andere Weise berühmter Sohn der Stadt als, sagen wir, Albert Einstein – oder Uli Hoeneß. „Aufstieg und Fall des Uli H. – Eine deutsche Wurstiade“ heißt der Abend, den Metzger gewiss unter die Kategorie „Unterhaltung ist auch nicht verboten“ fassen würde. Frei nach Sarah Kohrs inszenierte Stefan Dorn so etwas wie die Krisenproduktion der bisherigen Spielzeit; es heißt, es gab Krach – und es raunt aus dem Abend, dass dahinter die Anwälte des bekanntesten Wurstfabrikanten und Steuersünders Deutschlands stecken könnten. Und doch ist die eher kabarettistisch und anekdotisch bleibend Revue ein herrlicher Beweis für die Spielenergie

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Mi 3.4. und Do 4.4. Stefan Kaegi / Rimini Protokoll Granma. Posaunen aus Havanna

www.kaserne-basel.ch

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dieses Ensembles, das sich in Trikots mit dem Aufdruck 4028 BEA – offenbar das Nummernkonto von Hoeneß’ Schweizer Bank – mit Lust und Würde durch Fanlieder und Umdichtungen bekannter Melodien arbeitet, zwischen aufblasbaren Riesenwürsten nach den Fetzen der Biografie eines umfassend Geschäftstüchtigen taucht, mit ähnlich wehen Knien niedersinkt, die Hoeneß’ Fußballkarriere früh beendeten, und mit jener Dreistigkeit wieder aufsteht, die den Präsidenten des FC Bayern doch zu einer grausig-faszinierenden Figur macht. Zur Parabel wie der im Titel anzitierte „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ wird der Abend nicht, und dennoch in meinem Fall zu einem gelungenen Erstkontakt mit den Ulmer Schauspielern und deren Musikalität, gleich ob sie Sinatras „My Way“ mehrstimmig singen oder nur im Hintergrund wie Orgelpfeifen auf und ab hüpfen. In „Soul Kitchen“ im großen Haus aber stimmt irgendwie die Chemie nicht. Auf Anja Furthmanns Kneipenbühne lässt sich das Dach absenken und zum Beispiel in einen riesigen Tisch verwandeln, an dem Kneipenbesitzer Zinos mit seiner Freundin und ihrer Oma speist. Dass sie dabei anders als in Fatih Akins gleichnamigem Film nur zu dritt sind, lässt sie schön klein wirken und ihr Einander-Ausgeliefertsein groß. Das Arbeiten der Hydraulik allerdings unterbricht immer wieder den ohnehin stockenden Rhythmus der Inszenierung von Alexander Flache, und der ist nicht der Live-Band um den Trompeter Joo Kraus anzulasten. Die spielt aufs Trefflichste Rockklassiker und den Soul, der Zinos’ ­Restaurant seinen Namen gibt, aber eigentlich weniger den Sound als die Seele meint. Die des Filmes ist schmutzig, schräg und ­exzentrisch; Flache hat geputzt und inszeniert eine Art Musical, zwischen dessen Songs die Ulmer Schauspieler Akins Schauspieler kopieren. Das machen sie unterschiedlich gut. Genau wie das Singen. Franziska Maria Pößls „I Love You More You’ll Ever Know“ greift einen ans Herz. Lukas Schrenk emanzipiert sich als Zinos nur unzureichend von Adam Bousdoukos’ Vorbild, überzeugt aber als Sänger. Und Benedikt Paulun, der Zinos’ spielsüchtigen Bruder spielt, lässt mit einem körperlich wie stimmlich hemmungslosen „Sexy M. F.“ erahnen, was aus dem Ganzen hätte werden können, wenn die Regie den Mut gehabt hätte, dem im Kern sentimentalen, mit Stereotypen operierenden Großstadtmärchen ein paar Extraumdrehungen ins Grotesk-Abgefahrene zu verpassen. Doch die Mischung, die sonst so stimmig scheint, sie stimmt hier nicht. Das kommt in den besten Häusern vor. Auch in Ulm. //

Mi 10.4. bis So 14.4. It’s The Real Thing Basler Dokumentartage 2019 Theater der Verwundbarkeit Sa 27.4. Jazzfestival Basel 2019: Kamaal Williams, Faraj Suleiman Trio


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Mit Marx und Siri im Bälleparadies Innovative Kunst im Digitalzeitalter – Unter der neuen Intendanz von Dieter und Peer Ripberger soll aus dem Zimmertheater Tübingen ein Institut für theatrale Zukunftsforschung werden von Elisabeth Maier

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vatare übernehmen die Rollen der Schauspieler in Peer Ripbergers Stückentwicklung „Im Rausch der Maschinen oder Das Recht auf Faulheit“. Im historischen Gewölbe des Zimmertheaters Tübingen experimentiert das neue Leitungsteam mit digitalen Medien. Karl Marx’ Theorie des Klassenkampfs liest das Ensem­ ble neu. Immer mehr Arbeitsabläufe werden automatisiert, weshalb also nicht die Spielerinnen und Spieler ersetzen? „Siri, zeig mir meinen Avatar.“ Augenblicke später sprechen deren Eben­ bilder auf vier Bildschirmen, gezeichnet im Comic-Stil. Daneben räkeln sich die vier Akteure auf dem Bett. Ripbergers Sprache ist griffig. Die Sätze hämmern mitreißend wie Techno-Sound. „Zu-

sammen sind wir mehr als ein Virus, zusammen sind wir ein Faulheitsgerinnsel“, doziert das mediale Ebenbild von Christopher Wittkopp. Derweil genießt der Spieler, der kurz zuvor noch sozialistische Thesen hinterfragte, die Auszeit, die ihm die Technik schenkt. In einer Kombination aus Kingsize-Bett und Bällebad, die der Designer Stephan Potengowski schuf, vermittelt das Quartett das Lebensgefühl einer Generation, für die das Recht auf Faulheit selbstverständlich wird. Peer Ripbergers Theater bietet Denkanstöße statt Antworten. Sein Stil ist spielerisch. Der Autor und Regisseur fordert, dass

Siri, zeig mir meinen Avatar – „Im Rausch der Maschinen oder Das Recht auf Faulheit“, eine Stückentwicklung von Peer Ripberger. Foto Alexander Gonschior

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die Schauspieler über das nachdenken, was sie verkörpern. Er nennt sie Performer: „Ich möchte mit Leuten arbeiten, die mit dem Publikum direkt kommunizieren.“ Diesen Draht finden die Akteure leicht: „Vielleicht müssen wir nur etwas weniger arbeiten und könnten dann wieder klarer denken“, ruft Thea Rinderli. Mit ihrer Sprachkraft weckt sie Lust, das eigene Leben im Hamsterrad zu reflektieren. Klug plädiert die wendige Anaela Dörre für Entschleunigung. Behutsam stemmt sie sich gegen den Zeitgeist, der auf Tempo setzt. Mario Högemann tanzt verführerisch. Energisch verkauft er den Traum von einer Freiheit, die jenseits der Arbeit lockt. Elektronische Musik bestimmt den Takt der Collage. Peer Ripberger ist eine jener starken Stimmen der Gegenwart, die eine Ästhetik für das Theater des digitalen Wandels entwickeln. Nach der Vorstellung, die ein altersgemischtes Publikum in das Stadttheater am malerischen Hölderlinturm lockte, ist der Abend nicht vorbei. Wer mag, bekommt neben Getränken an der Bar Pasta vom italienischen Restaurant über der Straße. An den Tischchen wird über das Gesehene ebenso engagiert diskutiert und gestritten, wie es die Akteure auf der Bühne vorgemacht haben. Lässt sich Karl Marx’ Kapitalismuskritik mit Schriften ­ wie „Maschinenfragment“ oder „Das Recht auf Faulheit“ seines Schwiegersohns Paul Lafargue überhaupt ins digitale Zeitalter übertragen? Die Botschaft des Ensembles ist klar. Künstliche Intelligenz kann die Chance auf ein Leben jenseits der Ausbeutung bedeuten. „Uns liegt es am Herzen, dass sich Zuschauer und Künstler begegnen“, sagt der Kulturmanager Dieter Ripberger. Der 31-Jährige leitet seit dieser Spielzeit das Haus zusammen mit seinem gleichaltrigen Ehemann. Getroffen haben sich die beiden an der Universität in Hildesheim. Da studierten sie Szenische Künste. Professor Wolfgang Schneider habe ihren Begriff von politischem, gesellschaftlich relevantem Theater geprägt. Dieter Ripberger sattelte in Zürich ein Kulturmanagement-Studium drauf, arbeitete am Theater Konstanz als Assistent von Intendant Christoph Nix und als Referent für Kulturpolitik im Bundestag. Nun machen die zwei im Tübinger Zimmertheater innovative Kunst für die Universitätsstadt mit fast 90 000 Einwohnern. Ihre Vorgänger waren unter anderem Theatergröße Vera Sturm sowie das Intendantengespann Christian Schäfer und Axel Krauße. Die einstige Burgtheater-Dramaturgin Sturm setzte auf zeit­genössisches Theater von Thomas Bernhard und anderen namhaften Autoren

Festival zeitgenössischen europäischen Theaters und Tanzes

Dieter Ripberger (links), geboren 1987 in Schwäbisch Gmünd, studierte Philo­sophie, Musik und Kulturmanagement an der Universität Hildesheim. Nach Regieassistenzen und freien Arbeiten als Dramaturg und Produktionsleiter war er unter anderem als Referent des Intendanten am Theater Konstanz, als Betriebsdirektor am Theater Lindau, als Mitarbeiter Marketing & Development am Thalia Theater Hamburg und als Referent für Kulturpolitik im Deutschen Bundestag tätig. Peer Ripberger, geboren 1987 in Flensburg, studierte von 2008 bis 2011 Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis sowie von 2011 bis 2013 Inszenierung der Künste und der Medien an der Univer­ sität Hildesheim. Seit 2013 war er als freiberuflicher Regisseur tätig, unter anderem am Theater Augsburg, dem Theater Trier, dem Jungen Theater Göttingen und der Theaterwerkstatt Pilkentafel, wo er zuletzt Mitglied der künstlerischen Leitung war. Seit der Spielzeit 2018/19 leiten Dieter und Peer Ripberger das Zimmertheater Tübingen als Doppelspitze. Foto Marko Knab

sowie auf bekannte Schauspieler. Schäfer, der 2013 nach Gütersloh wechselte, und Krauße wagten neue Dramatik und Stückentwicklungen, ließen mit Uraufführungen bundesweit aufhorchen. Die Ripbergers stehen für eine neue Theatergeneration, die auf performative Konzepte setzt. Allen Vorurteilen zum Trotz schaffen es die zwei, das Stammpublikum nicht zu vertreiben und neue, auch junge Zuschauer anzusprechen. Vor ihrem Amts­ antritt gerieten die beiden in die Kritik. Das Schwäbische Tagblatt fragte: Verspielt das Zimmertheater, an dem immerhin auch ­Größen wie George Tabori inszenierten, mit seiner Aufkündigung von Dramen und Klassikeradaptionen gar seinen guten Ruf? Da­ rüber lächeln die zwei, denn das immense Interesse des Publikums im ersten halben Jahr bestätigt ihren Kurs. Auch zur ­wöchentlichen „Sitzung“ strömt die Öffentlichkeit – als der Theologe und Top-Manager Ulrich Hemel, Direktor des Weltethos-­ Instituts an der Uni, zu Gast war, reichten die Sitzgelegenheiten im Foyer nicht mehr. Tagsüber ist das Haus auch offen. Studierende wie Senioren schauen vorbei, um das WLAN zu nutzen oder um Theaterzeitschriften zu lesen. „Wir konfrontieren das Publikum mit neuen Ästhetiken“, sagt Dieter Ripberger. Die will das Intendantenpaar behutsam vermitteln. „Wir nehmen die Tübinger mit“, beschreibt Peer ­ ­Ripberger den Ansatz. Theater soll kein elitärer Ort sein, sondern


zimmertheater tübingen

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sich mit der multikulturellen Stadtgesellschaft auseinandersetzen. Neben den Eigenproduktionen des festen ­Ensembles sind Kollektive eingeladen, im Fachwerkhaus in der Bursagasse zu leben und zu arbeiten. „Mit zehn Gästezimmern haben wir die Möglichkeit, Teams der freien Szene gute Produk­tionsbedingungen zu bieten.“ Da sieht der Theaterchef und Regisseur auch in der relativ gut geförderten deutschen S ­ zene erheb­liche Defizite. Mit dem Neustart hat die Leitung einen Prozess in Gang gebracht. Denn das Theater soll sich zum Institut für theatrale Zukunftsforschung entwickeln. Dass in dem sperrigen Begriff, lässig mit ITZ abgekürzt, ein beispielhafter Ansatz steckt, zeigen die neuen Formate, die das Publikum zur Partizipation ver­ führen. Zu jedem Probenbeginn sind Zuschauer eingeladen, mit dem Ensemble oder mit Gastkollektiven ins Gespräch zu kommen. Bei Zitronenkuchen, Kaffee und Tee diskutierten Ariane Trümper, Sebastian Rest und Stephan Mahn von Monster Control District (MCD) über ihr Projekt „Welcome“; Premiere ist am 6. April. Da geht es um das Verhältnis von privaten und öffent­ lichen Räumen im 21. Jahrhundert. „Die Kontrolle, die soziale ­Medien über uns haben, macht mir Angst“, brachte eine ältere Tübingerin ihre Sorgen auf den Punkt. Sebastian Rest machte die Zuhörer mit kurzen Impulsvorträgen mit dem Projekt vertraut. „Schwellen können uns an der Haustüre oder in digitalen Medien begegnen.“ Die will das Kollektiv in Tübingen untersuchen. Zum 60-jährigen Bestehen des Hauses hat das Kollektiv außerdem die Historie des Zimmertheaters digital dokumentiert. Die Chance, im Theater mit Blick auf den Neckar zu leben und zu arbeiten, ist für die Videokünstlerin Ariane Trümper wertvoll. „Wir kommen in Kontakt mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und dürfen die Zimmer-Bühne für den Aufbau nutzen.“ Für das technisch aufwendige Projekt sei das wichtig. Großartig findet Stephan Mahn Impulse von Zuschauern. „Die fließen in die Produktion ein.“ Den Künstler hat die Geschichte einer Frau berührt, deren Partner Syrer ist. „Für ihn ist es unvorstellbar, die Wohnung mit Schuhen zu betreten. Da mussten sie und ihre Freunde umdenken.“ Vernetzt sind die Ripbergers in der europäischen Szene. Das Züricher Kollektiv Neue Dringlichkeit brachte in Tübingen „Der Widerspruch – ein Lehrstück“ heraus. In der Co-Produktion mit dem Performance-Zentrum Gessnerallee in der Schweizer Metropole, dem Stuttgarter Autorentheater Rampe und anderen Partnern untersucht die Gruppe den Prozess, wie sich Menschen in digitalen Gesellschaften radikalisieren. Die Kommunikation mit dem Publikum an wechselnden Orten bietet den Künstlern die Chance, das Thema im Alltag zu untersuchen. „Mit Drittmitteln im sechsstelligen Bereich bestreiten wir derzeit etwa ein Sechstel unseres Etats“, sagt Dieter Ripberger. Was das Öffnen solcher Fördertöpfe angeht, müsse er „ein Künstler sein“, sagt der Kulturmanager. So wurde auch die Produktion „European Freaks“ mit dem ungarischen Kollektiv Stereo Akt möglich. Regisseur Martin Boross entwickelte mit seinen Performern und Bürgerinnen und Bürgern eine Vision vom Europa der Zukunft. Die Theaterszene in seinem Heimatland Ungarn empfinde er als sehr konservativ. Die Lust am Experiment, die er in Tübingen erlebt, bringe ihn künstlerisch weiter: „Das öffnet Horizonte.“ //

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Prague uadrennial of Performance Design and Space

Industrial Palace

Prague Exhibition Grounds

600 events 800 artists 79 countries/regions

www.pq.cz PQ is organized and funded by the Ministry of Culture of the Czech Republic and realized by Arts and Theatre Institute.

General Partner:

Supported by:

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Du sollst dir ein Bildnis machen … von dieser Emanzipation: „Lulu“ in Zeiten von #MeToo in Wilhelmshaven und Bremen von Jens Fischer

ie Angstlust des Mannes vor der begehrenden Frau wird Gestalt im „Urweib“ als „wildem Tier“. So wie Frank Wedekind seine Lulu in der schwül temperierten „Monstertragödie“ wider die wilhelminische Heuchlermoral entwarf. Eine Femme fatale der vorletzten Jahrhundertwende, undomestiziert, unwiderstehlich, ungezügelt – Unheil bringend. In den Hirnen des Stückpersonals irrlichtert sie als Ausbund fataler Weiblichkeit, bedroht also das klassische Geschlechterbild von männlicher Dominanz – und regt die derart Verunsicherten an, Macht über Lulu zu gewinnen, also Gewalt auszuüben. Das zu tun, was dank der längst überfälligen #MeToo-Debatte mal wieder grundsätzlich angeprangert wird. Nicht um dummdösige Verfehlungen einiger widerlicher Machos geht es, sondern um alltägliche Anzüglichkeiten, die ein Klima schaffen für verbal grobe Belästigungen, dreiste Berührungen, rohe Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen. So scheint es heute unmöglich, zumindest am politisch sensiblen Stadttheater, Wedekinds kerlig provokante Sicht zu reproduzieren, die sinnlich ­schillernde Lulu zur Täterin zu machen, die ihre ungezügelte ­Lebens- und Liebesgier befriedigt, während die kirre gemachten, übergriffig gewordenen Männer abwinken dürfen: Sie seien ja auch nur aus Fleisch und Blut. Diese Perspektive verschwand allerdings bereits im vergangenen Jahrhundert von deutschen ­ Bühnen. Regisseure entwerfen vielmehr Sittenbilder der Ent­ würdigung und Verdinglichung als Ausdruck sozialer Kräfteverhältnisse. Lulu ist Opfer einer patriarchal verkorksten Welt – und mutiert zu ihrem wesenlosen Symbol. Als Ausgeburt real existierender Männerfantasien und damit auch als Verweis auf ein gesellschaftlich weiterhin virulentes Frauenbild. Um jedweder ­ Anfeindung vorzubeugen, damit gemeinsame Sache zu machen, erlebt die erotische Inszenierung des Lulu-Körpers – ihre un­ gehemmt ausgelebte Sexualität, alles, was sie an- und zu Tode treibt – geradezu ein Bilderverbot. Lulu anno 2019 ist eine Gedankenfigur für Sexismus-Diskurse. Die düster rockballadeske Überschreibung des Stoffes mit 18 Songs der britischen Band The Tiger Lillies ist für Armin Petras der Ausgangspunkt seiner Text- und karnevalesken Bildassoziationen, die er nach der Stuttgarter Premiere 2017 mit Schauspielern des Theaters Bremen neu inszeniert hat. Hauptdarstellerin bleibt Sandra Gerling. Ihre Lulu lungert schon beim Einlass um Besucher herum, macht mit absichtsvoll beiläufigen Gesten ihren Job als gelangweilt frivole Animateurin deutlich. Emotional unbeteiligt wirkt sie, als wäre dies die hundertste Vorstellung ihrer Show, Stereotypen der Lulu-Rezeption zu reanimieren. Als kennte sie keinen anderen Umgang mit sich, als zur Verfügung zu stehen als Geliebte, Kunstobjekt, Modeaccessoire oder Mutterersatz. Warum? „Sell your body … show your legs and show your tits!“, wird Lulu angesungen und wendet sich mit angeekeltem Blick ab. Petras zeigt, dass ihr Vater sie bereits so gesehen hat und an ihr herumgrabbelte … später wird sie von diesen Erfahrungen in Märchenform erzählen – anhand von „Allerleirauh“ der Brüder Grimm. Ja, es war einmal ein zudringlicher König, der seine Tochter heiraten wollte. Kindesmissbrauch. Lulu versucht sich anschließend zu ­recken und zu strecken und robbt dann wie querschnittsgelähmt über den Boden. Traumatisiert startet sie ins Leben und unterwirft


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sich prompt mit rot transparentem Tüllkleid den Anforderungen des männlichen Blicks, rückt einem Lutscher mit Oralsexpraktiken zu Leibe, rekelt ihren Körper als Warenangebot auf einem Stuhl. Die affektgesteuerten Mannsbilder werden da schnell zu notgeilen Tieren, die Lulu auf allen vieren umhecheln, übelst chauvinistische Comedy-Scherze kommen genauso zu Gehör wie frauenverachtende Gangsta-Rap-Reime. Lulu verkriecht sich zunehmend an den Rand des Geschehens, das aus Liedersingen und Showtanzeinlagen schrill herausgeputzter Glitzervögel des Nachtlebens besteht. So erklärt Petras, dass Lulu im Varieté-Tohuwabohu nicht um Freiheit und Selbstbestimmung kämpft. Nicht handelt, nur missmutig hinnimmt, Sexobjekt zu sein. Wenn die Inszenierung nicht so Revue-trubelig banalisierend daherkäme, wäre eine zeitgemäß psychologische Fokussierung des Stoffes zu loben. Auch an der Landesbühne Nord in Wilhelmshaven, wo eine Kurzfassung des Wedekind-Textes Premiere feierte, bleibt Lulu (Anna Gesewsky) unerlöst. Empfangen wird das Publikum mit Kabarett zu aktuellen Genderdebatten, das in der naiven Frage mündet: „Was ist eigentlich so schlimm daran, ein Mädchen ein Mädchen sein zu lassen?“ Lulu ist als solches nicht erzogen worden, also unwissend offen für alles. In Unterwäsche und mit angedeuteter Clownsschminke steht sie da. Nicht anzüglich, einfach noch nicht fertig angezogen. Und wenn sie sich für den Straßenstrich einen Leopardenfellmantel überstreift, hat das auch nichts Nuttiges. Wirkt eher so, als hätte ein Kind sich mal im Kleiderschrank der Mutter bedient. Zum Ausprobieren von Zuschreibungen, die aber nie passen. Ihre angeblich „Morgenfrische“ ausstrahlenden Haare sind ungepflegt strähnig, ihre angeblich lasziven Blicke kommen aus übernächtigt geschminkten Augen. „Sie beschämen die kühnste Fantasie“, sagt einer der alten weißen Männer, wenn sie somnambul durch einen Bilderrahmen stiert. „Ich will zum Anbeißen sein“, lautet ihre Schlussfolgerung aus den männlichen Einflüsterungen. Woraufhin Uwe Cramer seine Inszenierung mit höchst affektiertem Spiel zur Farce übers rast­ lose Experimentieren mit Rollenklischees stylt. Den Unterschied zwischen würdevoll und würdelos kennt Lulu dabei nicht, schämt sich nie. Will schließlich gepeitscht werden, wird von hinten genommen und schreit: „Ich bin eine Frau.“ Ihr Überwältiger gibt sich enttäuscht: „Du spürst nichts.“ Ja, diese Lulu verheddert sich auf der Suche nach geschlechtlicher Identität. Die ja auch nur eine „kulturelle Konstruktion“ sei, wie ihr verkündet wird. Die angesprochene Frigidität scheint bitteres Zeichen des Scheiterns zu sein. Die ganze Aufführung eine ohnmächtige Bestandsaufnahme des Kriegs der Geschlechter, zwischen denen kein freies Kräftemessen von Begierde und Abhängigkeiten möglich ist. Da die ­Regie offenbar anderes intendierte, wird auch mal die Regenbogenfahne geschwenkt. Marco Štormans Lulu-Adaption mittels der Alban-BergOper entzaubert am Theater Bremen den Opfermythos wieder. Indem die Protagonistin antizipiert, für Männer als Projektionsfläche ihrer Wünsche, nur in all diesen Möglichkeitsformen real zu sein, spielt sie dieses Wissen zu ihren Gunsten aus und ist am Ende die Einzige, die aufrecht und quietschfidel auf der Bühne steht. Nur einen Widersacher hat sie in diesem Zwölftonklangwunderwerk: Dr. Schön. Er ist einer von uns, kommt aus dem Parkett auf die Bühne, ein Durchschnittsbiedermann. Alle ande-

„lulu“ in wilhelmshaven und bremen

ren Figuren sind ebenso gekleidete Alter Egos oder Variationen des Männerstereotyps, jede gibt ihrer blind begehrten Lulu einen eigenen Vor- oder Kosenamen. Die Drehbühne bringt Bewegung ins groteske Spiel – indem sie ein kaleidoskopartiges Spiegelkabinett rotieren lässt, in dem die Männer den Abbildern Lulus als Visionen der Ideale von Weiblichkeit hinterherirren und sich dabei verirren. Lulu streift ein puschelig weißes Gewand über und ist damit Objekt der Lüste. „Durch dein Kleid empfinde ich deinen Wuchs wie Musik“, wie ein Anbeter formuliert. Ja, von der unschuldig süßen Kindfrau über die Grande Dame bis zum unersättlichen Raubtier ist in dieser Aufmachung alles vorstellbar. Für Lulu selbst interessiert sich niemand. Seifenblasen der Illusion begleiten die Chimäre. „Ich habe nie etwas anderes scheinen wol-

Ausgeburt real existierender Männerfantasien? – „Lulu“ (oben) von Frank Wedekind in der Regie von Uwe Cramer, „Lulu“ (links oben) von Alban Berg in der Regie von Marco Štorman und „Lulu – Ein Rock-Vaudeville“ (links unten) von The Tiger Lillies in der Regie von Armin Petras. Fotos Martin Becker /Jörg Landsberg

len, als wofür andere mich gehalten haben“, gibt Lulu zu. All das durchschauend, kann sie selbst die Fäden der Verführung in der Hand und die Männer in Abhängigkeit halten. Was auf Dauer aber auch keinen Spaß macht. Lulu entledigt sich ihres Betörungszaubertextils und reicht es an einen Tänzer weiter. Nun wird der von den Männern angeschmachtet. Sie ist raus aus der Nummer. Im zweiten Akt wird die Bühneninstallation zurückgebaut, im dritten Akt sind nur noch Gestänge zu sehen. Eingeschweißt in Plastikfolie steht Lulu da, zieht Hose und Jackett darüber. Über Leichen gegangen ist sie, hat sich zunehmend den männlichen Zugriffen entzogen und Autonomie gewonnen. Jetzt erfindet sie sich selbst. Ein starkes Stück. Saustark konsequent die Inszenierung. Und Sängerdarstellerin Marysol Schalit bietet eine ganz starke Rollengestaltung. Du sollst dir ein Bildnis machen von dieser Emanzipation. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Fort Grrrrrl Das Berliner Kollektiv Henrike Iglesias betreibt humorvoll und explizit feministische Aufklärungsarbeit

H

ello from the other side, I must have called a thousand times.“ Wenn Sie diese Liedzeile lesen, haben Sie möglicherweise sofort die Stimme der Sängerin Adele im Ohr. Immer wenn ich nun diese kraftvolle Herzschmerz-Ballade über vergangene Liebesbeziehungen höre, sehe ich Marielle Schavan vor mir, wie sie den Song, über Videokamera vergrößert, von ihrer Vulva schamlippensynchronisieren lässt. In der Performance „Oh My“ von Henrike Iglesias tritt die Frau nicht mit ihrem Verflossenen, sondern buchstäblich mit ihrer eigenen „Scham“ in Dialog. Diese überraschend explizite und humorvolle Umdeutung des Songs gehört zu den denkwürdigsten Szenen meines vergangenen Theaterjahrs. Bereits seit 2012 – also weit vor den Debatten um #aufschrei und #MeToo und vor den auf die Institution Stadttheater bezogenen Aktivitäten des Vereins Pro Quote Bühne und der Vernetzungs­ plattform Theater.Frauen – bringt das ­Kollektiv Henrike Iglesias dezidiert feministische Diskurse, Perspektiven und Darstellungspraktiken auf die Theaterbühnen Deutschlands und der Schweiz. Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth haben sich während ihres Studiums in Hildesheim kennengelernt und bilden das queerfeministische Kollektiv Henrike Iglesias, zu dem inzwischen auch Eva G. Alonso (Licht, Video) und Malu Peeters (Sounddesign) zählen. Die Produktion „I Can Be Your Hero Baby“ (2014) verschränkte „Germany’s Next Topmodel“ mit dem gesellschaftlich breit diskutierten Feld der Sexarbeit und wurde auf der Grund­ lage von Recherchen und Interviews entwickelt. Gleiches gilt für „Grrrrrl“ (2016), eine szenische Collage zum Motiv der „bösen“, widerständigen Frau*. (Das Kollektiv spricht immer von „Frauenmit-Sternchen“, um queere und Trans-Identitäten mit einzuschließen, Anm. d. Red.) Auch für „Grrrrrl“ schöpfen Henrike Iglesias aus selbst geführten Interviews (unter anderem mit einer praktizierenden Hexe oder einer Domina), vorgefundenen Gesprächen aus Pop- und Netzkultur (zum Beispiel eines, in dem Lady Gaga auf einen sexistischen Interviewer reagiert) und ergänzen

diese durch Material der je eigenen Erfahrungen mit normativen Zuschreibungsprozessen und möglichen subversiven Selbstinszenierungsstrategien. Dabei entwickeln sie die Idee vom utopischen „Fort Grrrrrl“ als Ort weiblichen Widerstands zwischen Debattierclub, Hexenschule und queerer WG, wo Frauen* aus aller Welt zusammenkommen können, um an einer zukünftigen, gleichberechtigten Gesellschaft mitzuwirken. Das reale Pendant bildet die 2017 entwickelte „Academy“. Sie beinhaltet begleitende, feministische Diskurs- und Workshop-Formate mit geladenen Expertinnen. Der thematische „Grrrrrl“-Strang um bewusst vielseitig gelebte, weibliche* Sexualität als Empowerment-Strategie wird 2018 in der Performance „Oh My“ fortgeführt. Inspiriert von feministischen Pornografie-Reihen wie „XConfessions“ von Erika Lust, inszeniert das Kollektiv dreizehn Porno-Miniaturen, darunter ­Marielles „Hello“ singende Vulva. Hierbei geht es vor allem darum, nicht mehr die immer gleichen (männlich dominierten, sexistischen) Perspektiven auf Frauen* und weibliche Sexualität zu reproduzieren. Wie die aktuellen Beststeller von Laurie Penny, Margarete Stokowski und Mithu Sanyal betreiben auch die Performances von Henrike Iglesias ein Stück weit feministische Aufklärungsarbeit. Denn Gleichberechtigung betrifft eben auch die Sexualität – und wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist sie gegenwärtig alles andere als durchgesetzt. Die neue Produktion „Fressen“ hat dank des DoppelpassFonds der Kulturstiftung des Bundes Ende April an den Münchner Kammerspielen Premiere und beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, ob und inwiefern Essenspraktiken und -vorlieben nicht nur kulturell, sondern auch geschlechtsspezifisch kodiert sind. Mit der Altersfreigabe 14+ adressiert das Kollektiv nun auch dezidiert ein jüngeres Zielpublikum – aber mit einer charmant-provokanten feministischen Lektion à la Henrike Iglesias kann man vielleicht gar nicht früh genug anfangen. // Theresa Schütz „Fressen“ von Henrike Iglesias ist am 28., 29. und 30. April an den Münchner Kammerspielen zu sehen.

Henrike Iglesias (v.l.n.r. im Uhrzeigersinn: Marielle Schavan, Anna Fries, Laura Naumann und Sophia Schroth). Collage Henrike Iglesias

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Look Out

Die Sehnsuchtsforscherin Zwischen entsetzlichem Fremdsein und emanzipatorischer Kraft – die Karlsruher Schauspielerin Anna Gesa-Raija Lappe

ie dunkle blaue See zieht Ellida Wangel in den Bann. Henrik Ibsens „Frau vom Meer“ zeigt die Schauspielerin Anna GesaRaija Lappe als eine Fremde. Wie im Fiebertraum bewegt sie sich durch das Haus des Arztes Wangel, ihres Ehemanns, der ihre Sehnsüchte nicht erkennt. Eisige Kälte umfängt die Künstlerin in dem schmerzhaften Augenblick, wenn sie sich von ihrem Gatten emanzipiert. Doch sie erkennt ihre eigene Kraft. Wie existen­ ziell dieser Kampf für Ibsens Dramenfigur aus dem 19. Jahrhundert ist, zeigt die 28-Jährige in Anna Bergmanns Inszenierung „Nora, Hedda und ihre Schwestern“. Klug und fesselnd verkörpert sie die Rolle. Das entsetzliche Fremdsein ist in jeder Geste, in den widerstrebenden Bewegungen ihres sportlichen und doch zarten Körpers zu spüren. Seit September gehört die Hamburgerin fest zum Ensemble der Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann. Der Aufbruch mit dem weiblichen Führungsteam, das auch am Regiepult ausschließlich mit Frauen arbeitet, fasziniert Lappe. Aber die junge Schauspielerin betrachtet die Szene realis­ tisch, sieht, dass noch viel passieren muss, bis sich die Strukturen am Theater so ändern, bis sie für Frauen gerechter werden. Der Blick von Regisseurin Bergmann und Autorin Ulrike Syha auf Ibsens starke Frauen war für Anna Gesa-Raija Lappe ein Auftakt nach Maß. „Theater spielen bedeutet für mich zu forschen. Das Theater muss neben dem Produzieren auch ein Labor bleiben.“ Nicht nur über ihre Rollen denkt sie intensiv nach. Immer sieht die belesene Schauspielerin, die ihre Worte präzise reflektiert, den Kontext der Dramengeschichte. Das verleiht den Gesprächen mit ihr Tiefe – wie auch ihrer Schauspielkunst, die nichts Flüchtiges hat. Lappe fragt nach, hakt nach und widerspricht. Konstruktive Diskurse hat sie an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg schätzen gelernt. „Die Unerhörte“ von Anna-Elisabeth Frick war dort für sie prägend. In ihrer

Anna Gesa-Raija Lappe. Foto Felix Grünschloss

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Abschlussarbeit spiegelte Regisseurin Frick Christa Wolfs „Kassandra“ im antiken Drama des Aischylos. Anna Gesa-Raija Lappe verkörperte die Seherin Kassandra. Eine Figur in unterschiedlichen Epochen zu betrachten, das reizte die Sehnsuchtsforscherin. Mit der Inszenierung siegten Frick und ihr Team 2016 beim Körber Studio für junge Regie in Hamburg. Die Kontakte mit dem Spitzennachwuchs haben Lappe beflügelt. Von jungen Dramatikern wünscht sie sich, dass sie mehr über ihre eigene Zeit und Biografie hinaus dächten. Sich an klassischen Stoffen zu reiben, reizt sie ebenso wie der Umgang mit neuen Texten. Ab Mai steht sie neben Valery Tscheplanowa für den Debütfilm „Trümmermädchen“ von Oliver Kracht vor der Kamera. In ihrer jüngsten Arbeit in Karlsruhe kam dem Ensemble und der Regisseurin Charlotte Sprenger der Text von Bonn Park abhanden. Das Theater gab den Uraufführungsauftrag der Berliner Festspiele zurück, weil die Fassung aus der Sicht der Leitung nicht reif für die Bühne war. Stattdessen entstand eine Werkstattinszenierung, in der das Ensemble die dunkle Seite des Kinderbuchs „Bambi“ von Felix Salten untersucht. Da schlüpft Anna Gesa-Raija Lappe ins Dinosaurierkos­tüm. Der Augenblick, wenn sie vor dem Fernseher hockt, berührt. Wie ein verträumtes Mädchen kauert die starke Spielerin mit dem hellblonden Haar auf dem Boden, rezitiert den Text der Disney-Fassung. Dann taucht sie in ein Spiel um Liebe und Tod ein. Selbst wenn sie geht, wirkt es manchmal so, als tanzte sie im Raum. Im Tanz bildet sich die Schau­ spielerin, die sich „mehr spartenübergreifende Projekte“ wünscht, kontinuierlich fort. Dass in der Werkstattinszenierung die ­Perspektive der Schauspieler stärker zum Tragen kam, hat ihr gefallen. „Wir haben viel über den Tod geredet und über das Leben“, sagt die Grenzgängerin, die Diskussionen braucht und Elisabeth Maier liebt. // „Nora, Hedda und ihre Schwestern“ mit Anna Gesa-Raija Lappe ist das nächste Mal am 5. April am Staatstheater Karlsruhe zu sehen.

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Auftritt Berlin „Elfie“ (UA) von Wolfgang Böhmer und Martin G. Berger nach „Eine Mordgeschichte“ von Tankred Dorst  Bremerhaven „Extremophil“ von Alexandra Badea  Heidelberg „Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)“ (UA) von Zinnure Türe  Leipzig „atlas“ (UA) von Thomas Köck  Linz „Mythos VOEST“ (UA) von Regine Dura  Stuttgart „Die Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ von Kurt Weill / Bertolt Brecht und Peaches  Wien „Rojava“ (UA) von Ibrahim Amir  Wiesbaden „Was ihr wollt“ von William Shakespeare


auftritt

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BERLIN In den dunklen Häusern liegen Leichen NEUKÖLLNER OPER: „Elfie“ (UA) von Wolfgang Böhmer und Martin G. Berger nach „Eine Mord­ geschichte“ von Tankred Dorst in Mitarbeit von Ursula Ehler Regie Martin G. Berger Ausstattung Sarah-Katharina Karl

„DAU“ wieder im Gespräch ist, hat unter an-

ken könnte, ein etwas aus der Zeit gefallenes

derem mit Rainer Werner Fassbinder, Wim

Emanzipationsdrama einer frustrierten Ehe-

Wenders und Michael Haneke gearbeitet. Mit

frau. Die Oper zeichnet vielmehr das Modell

Dorst drehte er 1982 den Film „Eisenhans“,

einer Gesellschaft, die den Fliehkräften des

doch die „Mordgeschichte“ blieb liegen, weil

Menschseins in all seiner Vielgestaltigkeit

sie keinen Produzenten fanden. Glocksin

nicht gewachsen ist.

übergab das Drehbuch nun dem Komponis-

Immer wieder tauchen in der Musik von

ten Wolfgang Böhmer und dem Regisseur

Wolfgang Böhmer Anklänge an konventionelle

Martin G. Berger, die aus dem Stoff, begleitet

Musikformen auf wie Walzer, Tango, Swing,

von Glocksins dramaturgischer Beratung, die

der, so Böhmer, „musikalisch feste Boden un-

Oper „Elfie“ schufen.

ter unseren Füßen“. Auch Elfies Ehemann,

Bühnenbildnerin Sarah-Katharina Karl

der Mathematiklehrer Steinheuer (Clemens

hat den sehr kleinen, in der Regel schwer zu

Gnad), vermag seinem Schmerz und seinem

bespielenden Raum der Neuköllner Oper in

Unverständnis gegenüber seiner Frau in me-

eine atmosphärische Raumbühne verwandelt.

lodiösen Linien Ausdruck zu verleihen. Doch

Die Zuschauer sitzen im Viereck um ein drei

zwischen wehmütigem Akkordeon und kno-

Elfie Steinheuer lebt in einer beschaulichen

mal drei Meter großes Podest herum, das als

chigem Xylophon zerstückelt sich die Musik

Welt. Die Fenster der zweistöckigen Fach-

Setting für die Eisenbahnlandschaft dient,

immer mehr, entwickelt einen fast Woy­

werkhäuser sind heimelig beleuchtet. Es ist

gleichzeitig aber auch als Bühne genutzt

zeck’schen Sog, der die Figuren zwischen pa-

Feierabendzeit. Zeit für die Familie, die Kin-

wird, sodass die lebensgroßen Spieler, völlig

rallel geschalteten Szenen hektisch durch

der oder die Probe des Männergesangsver-

deplatziert, wie dieser Welt längst entwachsen

den Raum hetzen lässt, atemlos, fatal, bis an

eins. Zufriedene Menschen. Hinter jedem

wirken. Was im Grunde auch so ist, würden sie

Steinheuers Händen plötzlich Blut klebt. War

Fenster wohnt das Glück. Zu kaufen gibt es

sich nicht verzweifelt daran klammern.

es Mord? Oder nur ein Albtraum, der von dem

dieses bei der Modellbaufirma Noch im Inter-

Zwar gibt es Ausbruchsversuche – eine

net. „Stadt, Land und Dorf – Idylle und Be-

Gartenparty bei den Nachbarn, ein Besuch in

schaulichkeit“ heißt die Kategorie, unter der

der Bahnhofskneipe – Szenen, die hinter den

man die Bestandteile dieses Wohlfühlszena­

Zuschauern auf Emporen spielen, doch set-

rios im Miniaturformat bestellen kann. Mach

zen spätestens die Videos von Roman Rehor

dir deine Welt, wie sie dir gefällt. Aber wehe,

den Alltagsfluchten ein Ende. Egal, wohin man

es kommt jemand und spielt sein eigenes

schaut, begegnen einem auf Leinwänden im

Spiel mit diesen Puppen.

ganzen Raum grotesk vergrößerte Modelleisen-

Tankred Dorsts bislang unveröffentlich-

bahnmenschen, deren Gesichter im Zoom der

tes Drehbuch „Eine Mordgeschichte“ aus dem

Kamera tot wirken wie die wächserne Physio-

Jahr 1988 erzählt von einer schaurigen Klein-

gnomie von Mumien. „Wie im Original“ lautet

stadt und ihren Menschen. Alles wirkt dort

der Slogan der Firma, die im Internet mit vie-

sehr konventionell und überschaubar, wäre da

lerlei Figuren wirbt, nur Menschen, die nicht

nicht der ICE, der wie eine lauernde silberne

eindeutig weiblich, eindeutig männlich, ein-

Schlange auf Sarah-Katharina Karls Bühne die

deutig weiß sind, findet man in dieser Welt,

Modelleisenbahnstadt unablässig umkreist.

mit der auch unser Bundesinnenminister so

Bernhard Glocksin, Leiter der Neuköll-

latenten Aggressionspotenzial einer Gesellschaft erzählt? // Dorte Lena Eilers

BREMERHAVEN Authentizität? Überleben! STADTTHEATER BREMERHAVEN: „Extremophil“ von Alexandra Badea Regie Tim Egloff Ausstattung Cornelia Schmidt

gerne spielt, nicht.

ner Oper und enger Freund Tankred Dorsts,

Elfie, Lehrergattin und Namensgeberin

Flugzeuge, Schmetterlinge, rosa gebratener

hat sich mit der Adaption des Drehbuchs zwei

dieser Oper, ist der Störfaktor in diesem Spiel.

Lammlachs, wohlige Wohlstandssattheit –

Jahre nach dem Tod des Dramatikers einen

Bei Inka Löwendorf, Mitgründerin des be-

nein, sie spüren nur „diese Leere im Bauch“.

Wunsch erfüllt. Eines Tages, schreibt er im

nachbarten Heimathafens Neukölln, kommt

Haben immer schneller, besser, schöner

Programmheft, habe Dorst ihm dieses Manu-

sie derart unkonform daher, dass die Not der

Markttauglichkeit bewiesen und sich dabei

skript in die Hände gedrückt. „Hat mir der

anderen, mit dieser Energie umzugehen, un-

verloren. Ihr Leben ist die Arbeit, ist nur Mit-

Jürgen Jürges vorbeigebracht“, habe Dorst

mittelbar einleuchtet. Diese Elfie treibt es mit

tel zum Karrierezweck, längst nicht mehr ge-

gemurmelt. Jürges, der derzeit als Kamera-

jedem – vor allem aber hin zu dem Musik­

nussvoller Ausdruck, also Verwirklichung der

mann von Ilya Krzhyanowskys Mammutprojekt

kritiker Hermann Dechant (Guido Kleineidam),

Persönlichkeit. Eine Entfremdung. Die damit

der wie sie den Konformitätsdruck dieser

einhergehenden Kompromisse und Lebens­

­Miniaturgesellschaft verabscheut. „Ich glaube,

lügen führen allerdings nicht zum Vergessen

ich komme nur deswegen herauf zu dir, weil

der eigentlichen Motivation, etwas zu tun.

oben Licht ist … und alle anderen Häuser

Alexandra Badea gönnt in ihrem Stück „Extre-

sind dunkel, und überall in den dunklen Häu-

mophil“ drei anonymen Figuren eines durch-

sern liegen Leichen“, sagt sie. „Elfie“ ist da-

ökonomisierten Alltags daher einen Moment

mit nicht, wie man auf den ersten Blick den-

der Einkehr, über den verlorenen Glauben an

Rebellion gegen den Konformitätsdruck der Kleinstadtwelt – Inka Löwendorf als namensgebende „Elfie“ in der Oper von Wolfgang Böhmer und Martin G. Berger. Foto Matthias Heyde

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auftritt

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Anpassung, Entfremdung, Lebenslügen – Frank Auerbach, Max Roenneberg und Elif Esmen als müdes Trio in „Extremophil“ von Alexandra Badea, inszeniert von Tim Egloff am Stadttheater Bremerhaven. Foto Manja Herrmann

streitet er im Geiste über seinen Verlust jedweder Integrität, bleibt jedoch allein „in seinem eigenen Abgrund, von Angesicht zu ­Angesicht mit seinen innersten Wünschen“. Genauso „von der ganzen Welt abgekoppelt“ fühlt sich eine Mikrobiologin (Elif Esmen). Sie erklärt auch den Stücktitel: Extremophile Tiere können sich zum Überleben an härteste Bedingungen anpassen – wie Badeas Protagonisten. Die Forscherin wollte einmal solche Tiere in der Tiefsee entdecken, träumte gleichzeitig vom Einfamilienhausglück mit Kind und Freund. Der aber wurde entsorgt nach die individuelle Autonomie zu räsonieren. Lässt

Interaktionen zu verzichten. Da aber alle den

seiner harschen Kritik an ihrer Entscheidung,

Erinnerungen an Identitätsentwürfe aufsteigen,

gleichen Gemütszustand artikulieren – näm­

bei einem Konzern einzusteigen, der Boden-

dazugehörende moralische Werte und Ziele.

lich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit beruf-

schätze am Meeresboden ausbeuten will und

Daraus müsste sich doch in Midlife-­ Crisis-

lich erfolgreich, privat unglücklich geworden

damit das dortige Ökosystem zerstören wird.

Zeiten noch mal Energie gewinnen lassen.

und in ein fremdes Leben geschlittert sind –,

Und dann ist da noch ein IT-Freak (Max Roen-

In Tim Egloffs Inszenierung am Stadt-

mischen sie sich ab und an als kritische Zweit-

neberg), dessen Leidenschaft für Online-

theater Bremerhaven hockt das müde Trio in

stimme in die Gedanken ihrer Zeitgeistkolle-

Spiele ihn nicht zum Programmierer solcher

einer trostlos sterilen Wartehalle. In sich ver-

gen ein, wenn auch nur als dezente klangliche

Gut-gegen-Böse-Abenteuer gemacht hat –

sunken, ausdruckslos starrend. Nie wird ihnen

Ergänzung der einzelnen Mono­dramen.

jetzt steuert er für die US-Armee in geheimer

der Ausruf entgegenschallen, dass nun ein

Da ist der zynisch wichtigtuerische Typ

Mission Drohnen zur Beobachtung und Auslö-

Flugzeug, Zug oder Bus zur Abfahrt bereitstehe,

PR-Manager (Frank Auerbach). Mit dem Wis-

schung von potenziellen Terroristen in Pakis-

also einen Ausweg aus ihrem monadisch iso-

sen um die Veränderbarkeit der Welt ging er

tan. Nach einem Selbstmordversuch hofft er

lierten Zustand anböte. Den muss jeder selbst

in die Politik, wollte mit seinem Gang durch

nun: „Du nimmst dein Leben wieder in die

finden. Aus der Distanz der zweiten Person

die Institutionen das System verändern, aber

Hand.“ Das ist Badeas ratlos geäußerte Bot-

Singular werden in inneren Monologen eigene

es hat ihn verändert. Als Stabschef eines

schaft. Die Schauspieler artikulieren allesamt

Frustrationen analysiert. Abwechselnd reißen

­Ministers macht er die Welt nicht zu einer

beeindruckend präzise, agieren beklemmend

die Darsteller auf der Bühne die Augen auf,

besseren, sondern betrügt sie jeden Tag mit

intensiv und verhelfen dieser Anklage inau-

drehen sich sitzend zum Publikum oder ge-

Imagewerbung für seinen Chef. Den Frust

thentischen Daseins zu schönster Klarheit.

hen an die Rampe, reden los: stur geradeaus

fickt er sich in homosexuellen Affären vom

Überlassen es dabei jedem Zuschauer, selbst

gegen die vierte Wand, als wäre sie ein Spie-

Leibe, was er seiner Familie verschweigt. Mit

zu imaginieren, wie der leeren Hölle voll-

gel zur Selbstbefragung. In eisiger Einsam-

seinem aktuellen Geliebten Ahmat, einem

gestopften Daseins zu entkommen ist. //

keit. Also gehört es zum Regiekonzept, auf

linksradikalen Anti-Globalisierungs-Aktivisten,

Jens Fischer

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auftritt

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HEIDELBERG Polyphonie der Schicksale THEATER HEIDELBERG: „Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)“ Rechercheprojekt von Zinnure Türe (UA) Regie Zinnure Türe Ausstattung Stephanie Karl

Stücke über Migration, wohin man schaut. Überall begegnen uns Flüchtlingsschicksale, traurige Biografien, die von Entwurzelung und nicht erreichter Ankunft zeugen. Man kennt diese Stücke, wo sich dann im Laufe des Abends die Identitäten vermischen und natio­ nale Grenzregime als Konstruktionen entlarvt werden. Zweifelsohne sind auch solcherlei inzwischen verstetigte Erzählmuster in der Uraufführung von „Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)“ vorzufinden. Doch Zinnure Türe, Autorin und Regisseurin des Stücks, bietet

wanderungen im Zuge von Erdoğans Staats-

erfreulicherweise auch abseitige Momente,

umbau hin zu einer autoritären Ordnung,

die dem Fremden seine Rätselhaftigkeit und

über das Glück des sorglosen Lebens im Wes-

Exotik lassen.

ten, über die traurige Suche nach der Heimat.

Unvollendete Migrationsgeschichten, erzählt in verrätselten Bildern – Hicran Demir in „Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)“ uraufgeführt von Zinnure Türe am Theater Heidelberg. Foto Sebastian Bühler

Zu Beginn wird nicht lange gezetert.

Aber ebenso über die Sehnsucht nach Liebe

Auf die Bühne stürzen durch die Tür nach

in Zeiten von Tinder oder die Angst vor dem

und nach vier Schauspieler. Man weiß nicht,

Kontrollverlust über den eigenen Körper. Ein-

was sie trieb oder woher sie kommen. Sie ge-

gestimmt auf diese Überlagerungen von Er-

Gang. Ideen und Bezüge schimmern kurz auf,

hen durch den Raum, der mit einem Lauf-

zählungen wird man anfangs durch einen po-

um sogleich auch wieder zu verschwinden. Es

steg, einem Schreibtisch und einem hängen-

lyphonen Klangteppich, den die Schauspieler

dominiert das Fragmentarische. Nicht zuletzt

den Leuchter ausgestattet ist. Mal werden sie

durch das Reiben von Glasrändern erzeugen.

aus diesem Grund mag wohl Demir die sich

sich mit Pfauenfederkragen schmücken, mal

Die Erfahrungsvielfalt der Figuren wird zu-

beim Kämmen ihrer schwarzen Lockenpracht

Popcorn von einem am oberen Bühnenrand

dem stets einer Außenperspektive ausgesetzt;

verfangende Bürste bis zum Ende in ihren

befind­lichen, schwarzen Automaten empfan-

wenn sie von ihren Schicksalen berichten,

Haaren hängen lassen. Nichts lässt sich zäh-

gen, mal wird auf einem Overheadprojektor

werden sie hier immer von anderen gefilmt.

men, nichts vollenden. Derartig einfallsreiche

ein Gemisch aus Wasser, Brause und Insek-

Dadurch ist insbesondere der westliche Blick

Detailmetaphern tragen „Zwischenraum (Is-

tenbeinchen erzeugt. Und gleich zu Beginn

permanent Teil der Inszenierung.

tanbul – Heidelberg)“ und heben das Werk

erlischt für kurze Zeit das Licht, bevor Chris-

Um ihn zu brechen, unterläuft Türe von

von nicht selten zu sehenden Belehrungs-

tina Rubruck mit Streichhölzern durch die

Anfang an die gängigen Stereotypien. Zwar ist

inszenierungen zur Frage der Migration deut-

Dunkelheit zieht und fragt: „Wohin geht der

Hicran Demir die einzige Darstellerin mit

lich ab. Mit ihm hat das Heidelberger Stadt-

Mensch, wenn er geht?“ Dass sich an diesem

deutsch-türkischer Herkunft, allerdings verkör­

theater einen hervorragenden Auftakt für den

Abend nur die wenigsten Bilder ganz erschlie-

pern genauso die übrigen drei Protagonisten

im April stattfindenden Stückemarkt gefunden:

ßen, ist nicht unbedingt ein Malus. Vielmehr

ehemalige Bewohner des Landes am Bospo-

Weder haben wir es mit Sozialromantik noch

ergibt sich daraus eine szenische Collage, de-

rus. Neben eindeutigen nationalen Zuordnun-

mit einer Ästhetik der Angst zu tun. Der Titel

ren Uneinheitlichkeit allen Versuchen, etwas

gen lösen sich zudem jene zwischen den Ge-

hält, was er verspricht. Türe führt uns in Zwi-

zu vereindeutigen, zuwiderläuft. Die Bot-

schlechtern auf, wenn zu einem Folkloretanz

schengefilde, die sich plakativer Zuschreibun-

schaft: Jeder Hintergrund, jede Regung ist

etwa auch die Frauen – neben dem einen

gen entziehen. Politisch ist das Arrangement

individuell und nicht auf banale Klischees

„echten“ Mann, gespielt von Andreas Seifert –

schon, obgleich es sich nicht aufdrängt. Noch

kultureller Herkunft zurückzuführen.

Schnurrbärte tragen.

viel mehr aber entspringt es dem Leben – mit

In Monologen werden uns aber auch

Viel passiert auf der Bühne. Die Regis-

reichlich Geschichten präsentiert – über Aus-

seurin setzt einen Wirbel aus Assoziationen in

all seinen Wendungen und Überraschungen – selbst. //

Björn Hayer

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Vietnamesisch-deutsche Familienaufstellung am Schauspiel Leipzig – Denis Petković, Sophie Hottinger, Marie Rathscheck und Ellen Hellwig in „atlas“ von Thomas Köck, in der Uraufführungsinszenierung von Philipp Preuss. Foto Rolf Arnold

suchten, unsichtbar zu bleiben. Doch auch in der alten BRD bildete sich eine vietnamesische Community, nachdem in den 1970er Jahren infolge des Vietnamkriegs viele geflüchtete „boat people“ dort Asyl gefunden hatten, vor dem Sozialismus. Köck lässt diese Vergangenheit tröpfchenweise in die Gegenwart einsickern, wieder delay im Sinne von suspense, bis allmählich klar wird, dass eine alte Frau, die die junge Protagonistin mit einem vergilb-

LEIPZIG

beit ist, sondern politische Traumata-Arbeit.

ten Foto konfrontiert, ihre Großmutter ist und

Anhand einer einzigen Familiengeschichte be-

Totgeglaubte auf beiden Seiten der Mauer leb-

Traumata-Arbeit

treibt „atlas“ eine Geschichtsschreibung, die

ten; und so erzählt das Stück eine verborgene

von den menschlichen Kollateralschäden der

Geschichte zwischen Ost- und Westdeutsch-

Weltpolitik erzählt, unausgesprochen vererbt

land, Nord- und Südvietnam.

SCHAUSPIEL LEIPZIG: „atlas“ von Thomas Köck (UA) Regie Philipp Preuss Ausstattung Ramallah Aubrecht

über Generationen.

Auf die Uraufführung in der Spielstätte

Der Tan Son Nhat International Airport

Diskothek des Schauspiels Leipzig durch

in Ho-Chi-Minh-Stadt im Süden Vietnams, auf

Hausregisseur Philipp Preuss konnte man in-

dem die junge Frau unfreiwillig festsitzt, ist

sofern gespannt sein, als dieser in seinen

Zwischenstopp einer Recherchereise, auf der

Leipziger Inszenierungen von „Ein Sommer-

sie nach dem Tod ihrer Mutter einer Familien-

nachtstraum“ und „Gespenster“ durch große

Delay, Verspätung, ist eines der Schlüsselwör-

tragödie nachgeht. Es wird eine vietname-

Bildfindung auffiel – und hier nun auf den

ter in Thomas Köcks Stück „atlas“. Ein verspä-

sisch-deutsche Familienaufstellung, inklusive

hochgradig sprachbewussten und in seiner

teter Anschlussflug reißt ein Loch in die Zeit,

Kaltem Krieg, Exil, Mauerfall und dauernder

rhetorischen Hefe aufgehenden Text von Tho-

Wartezeit für eine junge Frau, „totzeit die /

Angst. Also auch eine Migrationsgeschichte:

mas Köck stieß. Das Ergebnis: Reduktion. Ein

einzig wahre utopie vielleicht“, heißt es. Ort-

Die Mutter, angeblich ein Waisenkind, kam als

quasi von Soundeffekten akustisch getrage-

los, eingespannt im Transitbereich eines Flug-

vietnamesische Vertragsarbeiterin in die DDR,

nes, in seinen Bildern sparsames Arrange-

hafens, füllt sich dieses Loch, stürzen von den

bekam dort trotz Ausreiseandrohung im Falle

ment, die Situation abstrakt. Der weitgehend

Bewusstseinsrändern her fragmentarisch erin-

einer Schwangerschaft ein Kind, diese Toch-

leere Bühnenraum von Ramallah Aubrecht

nerte Szenen, Geschichten, Lebensläufe, Orte

ter. Vor 1989 in Wohnblöcken kaserniert, wa-

konzentriert sich ganz auf die drei großen

und Zeiten hinein, heften sich vage aneinan-

ren diese Vietnamesen in den Umbrüchen der

Fenster der Diskothek, hinter denen man den

der, formieren sich zu einer Geschichte und zu

Wendezeit fast ohne Status, von den ehemals

Verkehr auf der nächtlichen Ringstraße vor-

Geschichte. Denn auch die großen Zeitläufte

staatlichen Betrieben entlassen, rassistischen

beifahren sieht und hört. Die Straße ist nicht

scheinen angehalten – Historie tritt in die

Übergriffen ausgesetzt, eigentlich Illegale, die

nur Kulisse, auch die Schauspieler werden

REM-Phase, in der die Ereignisse verarbeitet

Jeans nähten und auf Märkten verkauften, um

dort – eingehüllt in dicke Jacken und mit Mi-

werden. Nur dass das bei Köck keine Traumar-

ihre Existenz zu sichern, ansonsten aber ver-

kroports – den Raum in die Tiefe verlängern.


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Die Abstraktion ist jedoch auch die Krux des Abends. Er bleibt ein Hörbild, in dem die vier Schauspieler (Ellen Hellwig, Sophie Hottinger, Denis Petković und Marie Rathscheck) Positionen und Vorgänge suchen, die oft hergestellt wirken oder bebildern, mit viel Jeanskleidung oder noch mehr Kleiderbügeln (mit denen vietnamesische Frauen verzweifelte Abtreibungen vornahmen). Oft bleibt auch der Außenraum bloßes Hintergrundbild, verlaufen sich dort die Darsteller mit ihrem Text. Am besten funktioniert der Abend da, wo das Sprechen als solches Fahrt aufnimmt oder wo es wie bei der größtenteils unbeweglich auf einem Stuhl sitzenden Großmutter von Ellen Hellwig ein mühsames In-sich-hineinhörenMüssen, eine Tiefenbohrung durch die Sedimente des Schweigens, des Verdrängten ist. Erst ganz am Ende zeigt Philipp Preuss, was passiert, wenn er seine Interpretation nicht einer Textexegese anheimgibt: Dann rollt draußen eine Kutsche mit zwei Schimmeln vor, in die die mittlerweile historisch gewandeten Schauspieler steigen und davonfahren.

brödel unter den österreichischen Lan­ des­

Da findet die Geschichte ihr inszenatorisches

haupt­ städten. Und trotzdem trägt Linz den

Anja Nioduschewski

Beinamen Stahlstadt selbstbewusst. Auf den

Wurmloch. //

Stahlkonzern VOEST, den größten Arbeiter­ geber des Landes, ist die Bevölkerung stolz. So wie die Turiner auf Fiat oder die Wolfsbur-

LINZ

Regionalgeschichte als ein mit Liedern aufgefrischter Dokumentarfilm? – Das Recherchetheaterprojekt „Mythos VOEST“ vom Duo Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura am Landestheater Linz. Foto Norbert Artner

ger auf VW. Diesem hohen Identifikationsgrad

Durst vorm Hochofen LANDESTHEATER LINZ: „Mythos VOEST“ von Regine Dura (UA) Regie Hans-Werner Kroesinger Ausstattung und Videodesign Rob Moonen

trägt das Landestheater mit einem neuen

ausgiebig recherchiert, Interviews geführt,

Stück Rechnung. Das Dokumentartheaterduo

Dokumente zusammengetragen und alles auf-

Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura er-

bereitet zu einer die Höhen und Tiefen des

zählt in den Kammerspielen des Hauses die

Konzerns chronologisch durchlaufenden Show.

turbulente Geschichte des 1938 als Her-

Warum aber den Linzerinnen und Linzern ihre

mann-Göring-Werke gegründeten Unterneh-

eigene VOEST-Geschichte vorspielen? Trägt

mens nach. Und besiegelt das Ganze schon

man damit nicht Torf ins Moor? Das ist die

im Titel als „Mythos VOEST“.

eine Crux dieses Inszenierungskonzepts. Die

Eine sagenhafte Geschichte steht also

andere: Eine quasi abgeschlossene, histo-

an, und diese wird geliefert. In zweieinhalb

risch ausgewogene Rückschau birgt keine

Stunden spielen fünf Schauspielerinnen und

großen Konfliktangebote. Man referiert das

Der Himmel und die Donau: grau. Linz galt sei-

Schauspieler in rasantem Tempo die Firmen-

Bekannte, das macht die Sache als Theater-

ner Schwerindustrie wegen immer als Aschen­

geschichte nach. Dura und Kroesinger haben

abend durchaus zäh.

ERB STÜCKE 26.04. – 05.05.2019

Festival zu Erbe und Tradition in der zeitgenössischen Kunst Mit Rocío Molina, Eszter Salamon, Forced Entertainment, Trajal Harrell, Saša Asentic, Hermann Heisig, Alexandra Bachzetsis u.a. www.hellerau.org/erbstuecke

Tanz Performance Installationen Gespräche

Mit freundlicher Unterstützung


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auftritt

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Ein mittig auf der Drehbühne platzierter, aus

kretes fehlen würde. Man blickt auf diesen

Hochkulturferne Profis wie Peaches, die seit

Stahlgittern bestehender Kubus wird von den

Abend wie auf einen mit Liedern aufgefrisch-

Jahren mit queeren Songs wie „Fatherfucker“

in wechselnden Rollen agierenden Schauspie-

ten Dokumentarfilm, der ein Stück Regional-

gegen Rollenzwänge ansingt, könnten für fri-

lern bespielt. Raus aus dem Blaumann, rein in

geschichte abbildet und am Ende mit einem

schen Wind sorgen, so das Kalkül. Peaches

den Vorstandsanzug. Sie klettern auf den

Ausblick in eine „smart factory“ sogar die Stahl­

hatte schon in Monteverdis „Orfeo“ am Ber­

Stahlkubus und markieren ihn als Werksgelän-

technologie der Zukunft imaginiert (Stichwort

liner HAU gezeigt, dass sie mehr kann als

de (zum Beispiel in einer Choreografie mit

„denkende Sägeblätter“).

Porno-Poesie zu Groovebox-Sounds.

Blechkübeln) oder betreten ihn durch die Stä-

Es wäre vielleicht gewinnbringender

Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat

be hindurch, um darin verschollene Akten zu

gewesen, den VOEST-Stoff einer Bürgerbühne

den

entdecken. Dahinter im Bühnenhintergrund

zu überantworten, deren Laiendarsteller sich

dreiteilige Collage angelegt. Den Auftakt

und deshalb leider nur etwa zur Hälfte sichtbar

weniger einer „objektiven“ Geschichtsschrei-

­bildet das Brecht-Weill’sche Ballett mit Ge-

werden Bilder auf eine große Leinwand proji-

bung verpflichtet gefühlt hätten, sondern viel-

sang „Die Sieben Todsünden“ (1933), an

ziert, die das Erzählte beglaubigen: historische

mehr auf individuellen Perspektiven hätten

dem Peaches als singende Erzählerin der

Fotos von jenem zur Stadt gehörigen Dorf St.

beharren können. //

Margarete Affenzeller

Hauptfigur Anna mitwirkt. In einem zweiten

Stuttgarter

„Todsünden“-Abend

als

Peter, das für die Erschließung des Firmen­

Durchgang, betitelt als Gegenentwurf: „Seven

geländes geschliffen wurde; Bilder vom ver-

Heavenly Sins“, agiert Peaches als Peaches,

rauchten Himmel über den Fabrikschloten oder vom legendären Werksportverein SK VOEST,

STUTTGART

heute FC Stahl Linz. Auch die hässlichen Kapitel dieser Industriegeschichte schlägt das Ensemble auf,

zentrationslagern bis zur späteren Verstrickung in Waffengeschäfte („Noricum-Affäre“, 1981 ff.). Mehr Vergnügen bereiten da Impressionen vom Sozialismus der 1950er Jahre, die ruhmreiche Pflege der Arbeiterkultur. Diese nostalgische Schlagseite verliert die Inszenierung auch dann nicht, wenn vom verkappten Alkoholismus der Hochofenarbeiter die Rede ist. „Mythos VOEST“ möchte freilich einen

himmel abseilen und interpretiert die Tod­ sünden mal ganz anders – ­hedonistisch, femi-

Dick in the Air

nistisch, offensiv. Im Schluss­teil zu Charles Ives’ mystisch raunender Musik „The Un­ answered Question“, bei der sieben Mal ein

beginnend bei der Errichtung der Anlage ab 1938 mit Tausenden Zwangsarbeitern aus Kon-

lässt sich wie eine ­Punk-Queen vom Bühnen-

STAATSTHEATER STUTTGART: „Die Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ von Kurt Weill / Bertolt Brecht und Peaches Regie Anna-Sophie Mahler, featuring Peaches Musikalische Leitung Stefan Schreiber Choreografie Louis Stiens Bühne Katrin Connan Kostüme Marysol del Castillo

fragendes Motiv ertönt, tanzt die 64-jährige Melinda Witham das letzte Solo ihrer langen Ballettkarriere. Die verbindende Idee des Ganzen: Eine Frau namens Anna blickt auf ihr Leben zurück. Die Regie verknüpft somit drei Frauenbiografien, beginnend mit der von Brecht in zwei Alter Egos aufgespaltenen Anna. Die wird von ihrer besitzgeilen Familie bis hin zur Prostitution dazu missbraucht, auf einer Tour durch US-Städte so viel Geld anzusammeln,

kritischen Blick zurück werfen, eine reflektie-

dass es für ein Häuschen in Louisiana reicht.

rende Perspektive einnehmen, aber auch diese Geschichte ist längst geschrieben. Und so

„Fuck the Pain Away!“ Zu diesem Song der

Als Kontrast folgt die Ich-Performance von

wirkt der Abend in seiner Narration allzu er-

kanadischen Elektroclash-Performerin Peaches

Peaches, die die Errungenschaften sexueller

wartbar. Zugleich hat er aber auch zu wenig

soll angeblich Madonna ihr Fitness-Training

Befreiung in postpunkigen Songs zu häm-

Mut, um sich den vielfach in den Text einge-

absolviert haben. Derzeit donnert er, live

mernden Rhythmen ins Mikro röhrt und dabei

wobenen Werbeslogans der VOEST tatsäch-

skandiert von Peaches herself, in einer Pro-

vielbrüstig wie die Göttin Artemis zwischen

lich kritisch zu stellen.

duktion der Stuttgarter Staatstheater von der

tanzenden Riesenvulven und aufblasbarem

So bleibt der „Mythos“ lau. Weder wer-

Bühne. Und zwar in „Die Sieben Todsün-

Megapenis die Lust wechselnder Gender-

den Nostalgiker vergrämt, noch könnte man

den / Seven Heavenly Sins“, einem Dreispar-

Identitäten ausagiert. Als Epilog zelebriert die

der Inszenierung vorwerfen, dass etwas Kon-

ten-Projekt von Oper, Ballett und Schauspiel.

Tänzerin Witham ihren Abschied vom Berufs-


auftritt

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deriert. Was bleibt? Ein Genre-Clash über weibliche Identität, der die Grenzen des Musik­ thea­ ters zwischen Oper und Club kreativ knirschen lässt: bissig, knallig, mit fragendem Ende. //

Otto Paul Burkhardt

WIEN Kriegsromantik VOLKSTHEATER WIEN: „Rojava” von Ibrahim Amir (UA) Regie Sandy Lopičić Ausstattung Vibeke Andersen Wie die vielbrustige Göttin Artemis: Peaches herself – hier mit Josephine Köhler (l.) in „Die Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ von Kurt Weill und Bertolt Brecht, inszeniert von Anna-Sophie Mahler. Foto Bernhard Weis

Diese Geschichte führt uns aus Europa ins Kampfgebiet des sogenannten IS. Es ist die Geschichte von Michael, der von Wien nach Rojava reist, um als Kämpfer die Demokrati-

leben als verhaltene Solo-Choreografie; ange-

nenrand singt Peaches die vom Staatsorches-

sche Föderation Nordsyrien, ein de facto

strahlt von Scheinwerfern vollzieht sich dies

ter schillernd aufbereiteten Chansons – stark

­autonomes Gebiet, gegen den IS, gegen das

als langsamer, graziler, nachdenklicher Gang

und stilsicher, kühl, scharf, schmissig, bitter.

Assad-Regime, gegen die Türkei zu verteidi-

ins Licht. So erleben wir eine Trias, die von

Gut, in der folgenden, ganz von Peaches

gen. Autor Ibrahim Amir erzählt sie in seinem

Unterdrückung, Befreiung und Reflektion er-

­dominierten Wummer- und Stroboskop-Show

neuen Stück „Rojava”, erzählt von einem

zählt – auch von Kritik, Aufbruch und Rück-

recycelt die 52-jährige Kultfigur im Grunde

idealistischen Europäer, der mithelfen will, ­

schau. Drei Wege, drei Stadien weiblicher

nur ihre teils betagten Songs wie „Put Your

einen kurdischen Traum, ein „modernes, de-

Identitätsfindung. Ein schlüssiges Konzept.

Dick in the Air“ samt Parolen wie „Shake the

mokratisches System, ökologisch orientiert”

Und eine zeitgemäße Neu-Kontextualisierung

System“ und „Eliminate the Class“. Der Bezug

aufzubauen. Am Volkstheater Wien hat Regis-

des Brecht-Weill-Klassikers.

ihrer Best-of-Auswahl zum Ganzen – es geht

seur Sandy Lopičić sie uraufgeführt.

Der erzählt Annas Weg in sieben Episo-

nun um himmlische, nicht mehr zerstöreri-

Nachdem 2016 die Uraufführung von

den einer bizarren Anschaff-Tournee durch

sche Sünden – ist eher vage. Zuweilen stellt

Amirs Text „Homohalal” am Volkstheater

das Sündenbabel der Tanzlokale und Holly-

sich ein Redundanzgefühl ein, als sei das

kurzfristig abgesagt worden war und vergan-

wood-Studios; Mahlers Regie ersetzt diese

einst Widerständige ihrer Auftritte längst vom

gene Spielzeit mit „Heimwärts” ein am

Vielfalt durch ein einziges, durchgehendes,

Mainstream umarmt worden. Doch mag der

Schauspiel Köln uraufgeführter Text in der

etwas abgenutztes Bild: einen Boxring, in dem

Empowerment-Teil von Peaches ästhetisch

kleinen Spielstätte Volx/Margareten zu sehen

sich, gecoacht und angefeuert durch die von

auch unterkomplex daherkommen, im Kern

gewesen war, schaffte es „Rojava” nun auf

vier Männern verkörperte Familie, die beiden

outdated ist er noch lange nicht. Zudem wird

die Bühne des großen Hauses. Dort hat Büh-

Alter-Ego-Annas (Josephine Köhler, Louis

er mit Zitaten aus Virginie Despentes’ Essay

nen- und Kostümbildnerin Vibeke Andersen

­Stiens) bis zum Knock-out prügeln. Am Büh-

„King Kong Theorie“ diskurstauglich anmo-

den Kriegsschauplatz als eine Art Stonehenge

BENJAMIN VAN BEBBER & LEO HOFMANN RITOURNELLE: ENTWÜRFE FÜR EIN SESSHAFTES LEBEN REGINA ROSSI 2LIPS KRASS FESTIVAL u.a. mit Panaibra Gabriel Canda, Selma Selman, Branko Šimić, Mable Preach, Jan Nikolai Nelles EUROPACAMP – REACT. ACT. DEMOCRACY! MONSTER TRUCK & THE FOOTPRINTS OF DAVID SORRY A MBURG H L E G A GINTERSDORFER / KLASSEN & THEATER BREMEN K A MPN

9 1 0 2 R AP

NATHAN DER WEISE

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Kurdische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Hollywood-Story verpackt – „Rojava” von Ibrahim Amir, uraufgeführt von Sandy Lopičić am Volkstheater Wien. Foto www.lupispuma.com / Volkstheater

Dem psychologischen Plot und Spiel stehen Informationsmonologe gegenüber. Da wird das Publikum über kurdische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft informiert und auf den Feminismus Hêvîns eingestimmt. Inhaltlich sind das die spannenderen Passagen, im Kontext einer Hollywood-Story ­ kommen sie arrangiert: Zerbrochene Betonplatten und ge-

andere nach Wien, trifft Mutter Ursula. Wäh-

aber als Störfaktoren daher. Regisseur Lopičić

kappte Strommasten bilden einen Halbkreis.

rend der eine als Kämpfer für die kurdische

begegnet diesem Auseinanderfallen des Tex-

Michael, den der Schauspieler Peter Fasching

Sache nach Rojava kommt, geht der andere

tes mit musikalischer Einheit. Eine Band

spielerisch auf sehr jugendliche Aufregung

in der Hoffnung auf Normalität. Ursula wäre

(Golnar Shahyar, Mona Matbou Riahi, Maria

abonniert, steht dort mit Gitarrenkoffer und

es lieber anders herum: „Hier wimmelt es

Petrova, Yasemin Lausch und Imre Lichten-

Weltverbesserungswunsch und trifft auf die

nur so von Typen wie dir. Ihr seid so feige!

berger Bozoki) spielt auf, baut Stimmungen,

Realität, also auf Krieg. „Entschuldige! Du

Warum befreit ihr eure Länder nicht selbst?

initiiert Spielsituationen. Das hält den Abend

bist, wie mir scheint, ein Opfer deiner

Ihr lasst eure Leute im Krieg alleine und haut

zusammen und ist hervorragend anzuhören. //

Zwangsstörungen, du leidest am Helfersyn-

einfach ab.”

drom oder sowas Ähnliches. Oder hast du

Die Gegenbewegungen der Protagonis-

etwa Depressionen und willst dich umbringen

ten sind clever, aber auch sehr symmetrisch

lassen?”, wird er begrüßt.

gebaut. Will sagen: alles sehr gewollt. Holz-

Theresa Luise Gindlstrasser

WIESBADEN

Auch Michaels Mutter Ursula hält des-

schnittartige Figuren sagen holzschnittarti-

sen revolutionären Tatendrang für schmafu.

gen Text, Hollywood-Dramaturgie. Der blinde

Er aber sendet ihr Videos und berichtet von

Cousin Kaua, den Sebastian Pass verschro-

gelebter

Claudia

ben als weisen Seher etabliert, sorgt für

Sabitzer schlurft in übergroßen Wollsocken ­

­comic relief. Und die Kämpferin Hêvîn, die

und übergroßer Wolljacke sorgenvoll vor dem

Isabella Knöll mit harter Schale und weichem

Publikum herum. Die Videos sind fröhliche

Kern zeichnet, komplettiert das Figurenper-

Comic-Zeichnungen, projiziert auf Gaze. Sie-

sonal einer Romantikkomödie. „Wenn du uns

ben Monate später ist Michael tot, Kopf-

was erzählen willst, dann verpack es in eine

schuss und aus. Die Geschichte, die Amir er-

Geschichte. Wir lieben Geschichten. Eine Fa-

zählt, verläuft mit Zeitsprüngen sieben Monate

miliengeschichte zum Beispiel!”, legt Amir

vorwärts, rückwärts, vorwärts und so weiter.

dieser von Michael begehrten Hêvîn in den

Gegenbewegungen gibt es auch beim Perso-

Mund. Und erzählt selber vor allem eine Lie-

Dieses Stück ist eines der übergeschnapptesten

nal. Dem wienerischen Michael steht der kur-

besgeschichte. Eine dramatische, weil un-

im Dramenkosmos William Shakespeares.

dische Alan gegenüber, den Luka Vlatković als

glückliche, weil unmögliche, weil es zwischen

Schon sein Titel lässt nichts Ernstes vermu-

leisen, aber bestimmten Pragmatiker gibt.

den Soldatinnen und Soldaten keine Bezie-

ten: „Twelfth Night, or What You Will“. Die

Während der eine nach Syrien reist, reist der

hungen geben darf.

zwölfte Nacht meint den zwölften Tag nach

Utopie.

Schauspielerin

La-La-Shakespeare-Land HESSISCHES STAATSTHEATER WIESBADEN: „Was ihr wollt“ von William Shakespeare Regie Ulrike Arnold Bühne Bartholomäus Martin Kleppek Kostüme Anne Buffetrille

Theater Marie argovia philharmonic Heitere Fahne Bern 8. / 9.3.2019

Musiktheatralische Inszenierung der 3. Symphonie von Ludwig van Beethoven in einer komponierten Interpretation von Bo Wiget


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v Changierende Geschlechtergrenzen in der Spiegelschau – Ulrike Arnold inszeniert Shakespeares „Was ihr wollt“ als launigen Abend am Staatstheater Wiesbaden.

Weihnachten, den Dreikönigstag also, der

und wähnen sich später mutter­ seelen­ allein

einstmals ganz im Zeichen von Jux und Tolle-

und den jeweils anderen tot. Viola (Lina

rei stand. In Wiesbaden indes beginnt alles

­Habicht) verkleidet sich kurzerhand als halb-

wunderbar förmlich. Der Pianist und Schau-

starker Kerl Cesario und heuert beim Herzog

spieler Andrej Agranovski, der an diesem

Orsino von Illyrien an (Matze Vogel). Dieser

Abend als Narr fungiert, betritt die Bühne des

wiederum ist unsterblich verliebt in die reiche

Kleinen Hauses, setzt sich ans dort wartende

Gräfin Olivia (Llewellyn Reichman). Die aber

Klavier, popelt fachmännisch in und an den

erweist sich wahlweise als furioses Flinten-

Michael Birnbaum gibt Ersteren als in der

Saiten herum, präpariert hier und dort und

weib oder als trauernde Eisprinzessin, die

­Analphase festsitzenden Totalentertainer, wäh-

entlockt dem schwarzen Zauberkasten so-

sich höchstens für den feinsinnig femininen

rend Tobias Lutze Bleichenwang als groß­

dann die Geräuschkulisse eines veritablen

Cesario erwärmt. Nach zwei Stunden haben

äugig tollpatschigen Clown hinlegt. Berühm-

Schiffbruchs, samt Sturmgetöse und hefti-

sich alle Figuren ausgiebig verwechselt und

ter als die beiden dürfte noch Malvolio sein,

gem Wellengang. Genau das steht schließlich

wieder schön in die Reihe gebracht. Zum

aufrechter Haushofmeister bei der schwarz­

am Beginn von Shakespeares Stück.

Spaß gehören natürlich noch Sir Toby Rülps

romantischen Gräfin Olivia, der sich im Ver-

Die beiden Zwillinge Sebastian und V ­ iola

und Sir Andrew Bleichenwang, die dem Stück

lauf des Stücks auf offener Bühne zum Gespött

werden auf diese Weise auseinander­gerissen

traditionell derbe Lachnummern bescheren.

macht und sich dabei in seinem Begehren

Foto Karl & Monika Forster

VOGEL UGEND G R O S S E

B Ü H N E

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Schauspiel Leipzıg TENNESSEE WILLIAMS

R E G I E . . . . . . . . C L AU D I A B AU E R

6. 4. 19

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M

I

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R

E

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auftritt

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punkt, der sich bestens in die melancholi-

Dabei gibt es eine Szene, die alles, was sonst

sche, kühle Bühnenwirklichkeit von Bartho­

geschieht, allein aufgrund der schauspieleri-

lomäus Martin Kleppek fügt: ein schmaler,

schen Klasse in den Schatten stellt: Matze

mit spiegelnden Fassaden versehener Guck­

Vogel als Herzog von Illyrien begegnet der

kasten, unter dessen Decke dunkelglänzende

jungen Viola in der Verkleidung als Cesario,

Luftballons hängen, angeleuchtet von bull­

und zwar splitternackt, also er. Das Besonde-

äugig glotzenden Scheinwerfern an der Rück­

re? Der nicht zum ersten Mal herausragende

seite, ein echter Hingucker. Die derart pro­

Schauspieler Matze Vogel spielt das in jedem

duzierten Spiegelbilder changieren dabei

dieser zum Glück herrlich langen Augenblicke

schön mit den changierenden Geschlech­ter­

genauso ernst, als sei er vollständig bekleidet.

grenzen der Figuren. Wer hier wen wie nimmt,

Lina Habicht als Cesario/Viola beugt sich so-

ist nämlich keineswegs ausgemacht und

dann den nackten Tatsachen und ihrem Hun-

bereitet immer wieder lauten Spaß. Warum

ger nach Haut, beherzt musikalisch illustriert

die Liebe trotz diverser Heiterkeit auch heut-

vom Pianisten und dem mitreißend intonier-

zutage noch wehtut, hat etwa die israelische

ten Song „Crazy“. Ein symptomatischer Mo-

ebenso sehr verheddert wie in seinen lächer-

Soziologin Eva Illouz umfassend beschrieben.

ment an diesem Abend, an dem nicht etwa

lich gelben Strumpfbändern. Selten einmal

Digitale Sendeplätze und Partnerbörsen sta-

altmodisches Liebesleid auf dem Programm

hat man diesen armen Mann so soigniert,

cheln zur ständigen Selbstbespiegelung und

steht, sondern reinstes, flackerndes Begeh-

gentlemanlike und beinahe ernst genommen

-darstellung an, die immer abhängiger wird

ren. Die zwar etwas beliebig scheinende, aber

gesehen wie bei Rainer Kühn, der ihn als

von der Bewertung anderer (auch bei Arnold

effektsichere musikalische Rahmung rückt

traurig Strammen in einer schräg gebürste-

läuft an einer Stelle ein Emoji über die

das Ganze in die Nähe einer nicht immer ge-

ten Welt verkörpert. Einzig bei ihm scheint

Bühne). Die Fähigkeit zu Liebe und Partner-

schmackssicheren Revue. Humormäßig stellt

so etwas wie ein wahres Gefühl aufzuschim-

schaft indes scheint weiter zu schrumpfen.

dieses Shakespeare-Stück sein Publikum von

mern.

Schade, dass derartige Gender- und Liebes-

jeher auf harte Proben, auch in Wiesbaden ist

Janosch

OH, WIE SCHÖN  IST PANAMA

Premiere: 11. April 2019 Theater Trier, Tuchfabrik

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Der Regisseurin und Schauspielerin

diskurse in dieser Inszenierung höchstens

längst nicht alles einen Lacher wert. Zumin-

Ulrike Arnold dient er an diesem launigen

ins Lächer­ liche kippen und nie ernsthaft

dest aber gelingt Ulrike Arnold ein alberner

Abend durchaus als berührender Kontra-

akut werden.

Spaß. //

Shirin Sojitrawalla

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/ TdZ  April 2019  /

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vergibt zum Wintersemester 2019/20 neue Studienplätze. Näheres zu Bewerbungsvoraussetzungen, Profil, Kooperationspartnern und Dozenten unter: www.dramaturgie.uni-frankfurt.de Bewerbungsschluss: 31. Mai

/ 65 /

I NTE R NATIO NAL MASTER C O M PA R AT I V E D R A M AT U R G Y AND PERFORMANCE RESEARCH

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Magazin Hoffnung im Widerspruch Zum dritten und letzten Mal erlebte Augsburg das Brechtfestival unter der Leitung von Patrick Wengenroth  Heraus aus den Halbkreisen der Selbstvergewisserung Die Freiheit der Kunst war das bestimmende Thema auf dem flausen+bundeskongress#2 im Freien Werkstatt

Geschichten vom Herrn H. Armutsursachen bekämpfen  Monolith mit Passion – ein Theater voller Leben! Leben! Leben! Zum Tod des Schauspielers Joachim Tomaschewsky  (Un)heilige Mütter In Erinnerung an die Schauspielerin Christine Gloger  Bücher Theater in Köln

Lion Feuchtwanger, Ulrich Eckhardt


magazin

/ TdZ  April 2019  /

Hoffnung im Widerspruch Zum dritten und letzten Mal erlebte Augsburg das Brechtfestival unter der Leitung von Patrick Wengenroth Ein Festival für „Städte­ bewoh­ ner*in­

Näher an realer Geschichte sind da

nen“ sollte es werden – für, in und mit

andcompany&Co mit „Colonia Digital:

den Menschen aus Augsburg. Dazu

The Empire Feeds Back“, wenngleich

wurden die Spielorte in der gesamten

sie in ihrer Frontalperformance die Ge-

Stadt gestreut, die Lage „marginali-

schichte des Internets eher g­ egen den

sierter“ Menschen in der Stadt „sicht-

Strich bürsten. An dessen ­Anfang: die

bar“ und die Zuschauerinnen und Zu-

Utopie – die Utopie einer „Kommunis-

schauer selbst zu Spielenden gemacht.

musmaschine“, die im Dienste des Men-

In seiner letzten zu ver­antwor­tenden

schen die Verwaltung und Produktion

Festival-Ausgabe

Patrick

steuern soll: „Cybersyn“. Das gab es

Wengenroth wieder mal verschiedene

wirklich, und zwar in Chile unter dem

performative Formate und Gruppen

sozialistischen Präsidenten Allende,

nach Bayern, deren Arbeiten er im Jar-

der mittels Technologie die gerechte

gon des Engagements unter dem Festi-

­Gesellschaft organisieren ­wollte. Doch

val-Motto subsumierte: „Moral to go“.

mit seinem Sturz durch Pinochet starb

brachte

Ästhetischer Schwerpunkt war die ­Erweiterung des Begriffs der Theaterkunst aus der Perspek­ tive des Per­

Brecht in der Virtual Reality – „Antigone::Comeback“ von Raum+Zeit. Links: „Colonia Digital: The Empire Feeds Back“ von andcompany&Co. Fotos Raum + Zeit / Dorothea Tuch (l.)

formativen, für die Thea­ terkollektive

auch die Utopie. andcompany&Co versenkt hier sein Echolot in die Katakomben eines stillgelegten sozialistischen Internets. Ganz plastisch durchtauchen

wie Raum+Zeit, and­company&Co oder

die Protagonisten dabei die Bühnen-

She She Pop stehen, auch im Sinne einer

klug-dreiste Installation geschaffen, die auf

elemente und rütteln an den S ­ teckern der

„Konfrontation Brechts mit der Gegenwart

eine Realität verweist, in der dauerhaft zur

verkabelten Welt – liefern eine Mischung aus

und der Gegenwart mit Brecht“, so Wen­

Probe angetanzt werden muss. Durch die

aufklärendem Vortrag und epischem Spiel.

genroth.

komplexe Form der Selbst- und Fremdspiege-

So übte sich auch das diesjährige Fes-

Die Gruppe Raum+Zeit (Alexandra Alt-

lung durchschlägt die Szene den ­Rahmen der

tival in einer Kombinatorik aus geistreichen

hoff, Lothar Kittstein und Bernhard Mikeska)

Probe und reflektiert gleichsam spätmoderne

Stücken und überfrachteten Interpretationen –

holte in ihrer szenischen Installation „Anti­

Arbeitsverhältnisse, in denen immer mehr die

gedeckelt durch den moralischen Impetus

gone::Comeback“ Brecht dann auch ganz

eigene „Performance“ zählt.

des Festivalleiters, der aber nicht selten ab­

wörtlich in die Gegenwart – in die der Besu-

Auch Regisseurin Mareike Mikat ver­

strakt plakativ wirkte. Widersprüche, die das

cherinnen und Besucher, die nicht mehr nur

ortete ihre Inszenierung von Brechts „Baal“ am

Brechtfestival fruchtbar machten. Ab 2020

zusahen und zuhörten, sondern angesehen

Theater Augsburg in einer Art Probenraum:

werden die Regisseure Tom Kühnel und Jür-

und angesprochen wurden. Die Situation:

Baal als Sänger einer Punk/Rock-Band – ge-

gen Kuttner die Leitung übernehmen. //

Proben zu Brechts „Antigone“. Mittels einer

spielt von einer Frau. In einer Tour de Force

VR-Brille, als Helene Weigel auf der Bühne

durchreist er/sie die Welt als Bühne, führt

stehend, wurde man von Brecht angewiesen,

sich auf wie Sau, oszillierend zwischen ver-

vor allem aber zurechtgewiesen – so sollte der

krachtem Genie und misogynem Saukerl, und

Seelenzustand Weigels während der Proben

geht am Rummel der Musikindustrie selbst

info@theaterstueckverlag.de

selbst erfahren werden. Beklemmende Szenen,

kaputt. Baal, der Rockstar, als Vorhut von

www.theaterstueckverlag.de

die jedoch gegen das, was noch kommen sollte,

Punk, als ambivalente ­Mischung von Protest

harmlos wirkten: Nichts sehend wurde man in

und Unterdrückung? Flankiert werden die

einen Raum geführt, setzte die Brille ab und

Szenen mit revueartigen Anleihen bei Punk

war im Angesicht von Weigel, nun real – und

und Pop. Vieles bleibt an diesem Abend of-

doch im Spiel. Weigel bereitete sich für die

fen, teilweise ab­strakt und beliebig, wie der

nächste Szene vor, vor einem Spiegel sitzend,

Bezug auf Kurt Cobain, der eben nicht „über

man selbst hinter ihr stehend, von Weigel als

Leichen ging“, wie es in der Ankündigung zu

Spiegelbild gesehen und mit Blicken bearbei-

Brecht heißt, und auch nicht für frauen­

tet. In jedem Sinne übergriffig, wurde eine

verachtende Ausfälle bekannt war.

Chris Weinhold

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Heraus aus den Halbkreisen der Selbstvergewisserung

Die Freiheit der Kunst war das bestimmende Thema auf dem flausen+bundeskongress#2 im Freien Werkstatt Theater in Köln Von einem glücklichen Zufall zu sprechen

wicklungen in Dresden eine klare Stoßrich-

ter und Künstler immer wichtiger. Und ge-

verbietet sich natürlich von selbst. Trotzdem

tung. „Die Brüsseler Erklärung wurde am

nau an diesem Punkt setzt das von dem

hat der „Offene Brief zur Situation in Dres-

1. Juli 2018 erdacht, und ich hätte nicht

Oldenburger Theatermacher Winfried Wrede

den“, den das Landesbüro Darstellende

gedacht, dass es jetzt schon so schnell in

ins Leben gerufene flausen-Projekt an.

Künste Sachsen e. V. am 6. Februar 2019

Deutschland Tendenzen geben würde, die

Der Bundeskongress, der vom 5. bis 7.

veröffentlicht hat, dem zu ebendiesem Zeit-

diesen Appell für die Freiheit der Kunst nö-

Februar zum zweiten Mal in Köln stattfand,

punkt im Freien Werkstatt Theater statt­

tig machen.“ Diese Beobachtung, die der

ist nur ein Aspekt der Arbeit des flausen-

findenden flausen+bundeskongress#2 eine

Bundestagsabgeordnete

90/Die

Netzwerks, dem mittlerweile 24 freie Theater

zusätzliche Dringlichkeit verliehen. Während

Grünen) und Mitinitiator der „Brüsseler Er-

aus 13 Bundesländern angehören. Am An-

in Köln Theatermacher aus Deutschland und

klärung“ Erhard Grundl im Rahmen einer

fang von flausen stand die Idee, mittels För-

dem Ausland unter dem doppeldeutigen

Paneldiskussion mit dem Titel „Zwischen

derungen an den beteiligten Häusern wie

­Motto „The Politics of Art“ über die Gefähr-

Freiheit und Auftrag - die Kunst in unsiche-

dem Oldenburger Theater Wrede+ und dem

dungen wie über die Möglichkeiten der freien

ren Zeiten“ gemacht hat, wurde zur Mah-

Kölner Freien Werkstatt Theater Residenzen

Szene in einer Welt gesprochen haben, in der

nung. Die Zeiten, in denen sich die freie

für freie Theaterkünstlerinnen und -künstler

populistische Strömungen immer stärkeren

Theaterszene aus den alltäglichen politi-

zu schaffen. Im Rahmen eines vierwöchigen

Einfluss gewinnen, hat sich im Rat der Stadt

schen Debatten in den Stadträten und Lan-

Aufenthalts in einer Stadt sollten sie die Mög-

Dresden eine neue bürgerlich-konservative

desparlamenten heraushalten konnte, sind

lichkeit bekommen, zu forschen und Ideen

Allianz formiert, die mit der Unterstützung

vorbei. Darüber herrschte während des Kon-

auszuprobieren. Während dieser Zeit haben

der AfD-Stadträte eine längst beschlossene

gresses große Einigkeit. In politisch unsiche-

sie freien Zugang zum Theater und seinen

Erhöhung der Fördermittel für Projekte aus

rer werdenden Zeiten, in ­denen Theaterauf-

Räumen, können auf dessen Technik zugrei-

den Bereichen kommunale Kultur, Soziales

führungen von Identitären gezielt gestört

und Gleichstellung zurücknehmen wollte und

und Förderungen für freie Gruppen vonsei-

dies dann am 8. Februar zumindest in Teilen

ten der AfD durch parlamentarische Anfra-

auch getan hat.

gen wie etwa in Hamburg nachhaltig infrage

(Bündnis

Die auf dem flausen-Kongress geführ-

gestellt werden, wird eine städte- und länder­

ten Diskussionen bekamen durch die Ent-

übergreifende Zusammenarbeit freier Thea-

Künstlerisches Ritual – „The Karma Accele­ra­tor“ von den Performancekünstlern Chris Gylee und Richard Aslan aka Once we were Islands beim flausen+bundes­kongress#2. Foto Robin Junicke


magazin

/ TdZ  April 2019  /

fen und werden von einem Mentor betreut. Außerdem bekommen die Stipendiatinnen und Stipendiaten 1400 Euro Unterhalt für den Monat ihrer Residenz. Am Ende des ­Aufenthalts muss keine abgeschlossene Pro-

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Armutsursachen bekämpfen

duktion stehen. Sie können die Ergebnisse ihrer Arbeit in einer offenen Form als Work-in-

Ich weiß nicht, was Sie sehen, wenn Sie vor

bereithält. Und weil es ein Dokumentar­

Progress oder auch als eine Art Making-of

die Tür gehen. Vielleicht das Meer oder den

stück ist, wird am Bühnenbild angegeben,

präsentieren.

Wald oder die Berge. Natur ist schön, sie

wo die Figur wohnt. In meiner Parallelstraße!

Diese Offenheit prägt als zentrales

hat so etwas Unschuldiges. Wenn ich vor

Jetzt habe ich doch den Alltag auf der Bühne!

Merkmal von flausen auch den Bundes­

die Tür gehe, sehe ich Armut. Ich sehe nicht

Aber – zu meiner eigenen Überraschung – ist

kongress. In den drei Tagen in Köln ging es

nur Obdachlose und Bettler, sondern Men-

der Monolog das Beeindruckendste, was ich

weniger um Antworten und klare Handlungs-

schen, denen die Entbehrung ins Gesicht

seit Langem auf einer Bühne gesehen habe.

vorgaben als um Fragen. Schon die Keynote

geschrieben ist. Armut macht keine zarten

In den wechselnden Gefühlen, in den ver-

von Nikita Dhawan von der Justus-Liebig-

Gesichtszüge, sondern harte. Arme Men-

schiedenen Haltungen, die die Figur noch

Universität in Gießen war eine deutliche

schen sterben im Durchschnitt

in der größten Demütigung

Aufforderung an die Kongressteilnehmerin-

ein Lebensjahrzehnt vor den

ausprobiert, um Würde zu be-

nen und -teilnehmer, die, wie es Erhard

reichen. Édouard Louis hat da-

wahren, wo es unmöglich

Grundl in der Diskussion mit Blick auf die

rüber in „Wer hat meinen Vater

scheint, und es letztlich auch

klassische Panel-Anordnung formuliert hat,

umgebracht“ geschrieben. In

misslingt, wird eine Welt ge-

„Halbkreise der Selbstvergewisserung“ zu

dem Berliner Stadtteil, in dem

spiegelt, in der Konkurrenz,

verlassen. Mit der Frage, ob politisches

ich lebe, sind über ein Viertel

Ausschluss und Unterdrückung

Thea­ter überhaupt auf Empathie oder Mit-

der Menschen auf Sozialleis-

System sind. Und dass in die-

leidserzeugung setzen darf oder ob es damit

tungen angewiesen, sie sind

sem Land immerhin niemand

nicht die Opfer von politischer, ökonomi-

aus verschiedenen Gründen, die

verhungern müsse, ist kein Ein­

scher oder sexueller Gewalt noch ein weite-

außerhalb ihres Einflusses lie-

wand. Das sollte eine Selbst-

res Mal zu Opfern macht, hat Dhawan das

gen, nicht in der Lage, ihr Über-

zentrale Problem politischer ­Ästhetik formu-

leben zu bestreiten – gleichzeitig steigen

Doch fast 1,5 Millionen Menschen

liert. Mit einer weiteren Frage, ob linke Posi-

die Mieten berlinweit am stärksten. Selten

sind in Deutschland auf die Tafeln angewie-

tionen nicht jegliche Glaubwürdigkeit ver­

sieht man solches Elend auf den Theater-

sen. Fast eine Million sind ohne eigene

lieren, solange die Künstler als europäische

bühnen. Ich bin persönlich nicht daran in-

Wohnung. Fast 14 Millionen Menschen sind

Konsumenten noch von postkolonialen Aus-

teressiert, dass man die Armen auf die Büh-

nach dem Armutsbericht des Paritätischen

beutungsverhältnissen profitieren, hat sie

nen der Republik zerrt, damit sie dort wie

Wohlfahrtsverbandes arm. Und das sind

gleich auch noch das Selbstverständnis

Exoten begafft werden. Außerdem sehe ich

nicht nur die Arbeitslosen, es sind Men-

vieler Theatermacherinnen und Theater­ ­

das ja jeden Tag. Warum also auch noch im

schen, die arbeiten (auch gebildete), Kin-

macher in ein kritisches Licht gerückt. Na-

Theater? Zeigen muss man, wie die Armut

der, Mütter, Alte. Wissen Sie eigentlich, wie

türlich konnte der Kongress keine Antworten

ursächlich mit dem Reichtum entsteht. Das

viel Rente man nach 45 Jahren Schuften

auf diese Fragen geben. Die müssen die

hat etwas mit der eigentümlichen Produk­

zum Mindestlohn bekommt? Nicht einmal

Künstler letzten Endes dann doch für sich

tionsweise zu tun, die unserer Gesellschaft

788 Euro pro Monat. Dass sich die Leute

selbst beantworten. Aber schon die Blicke

zugrunde liegt. Die funktioniert nämlich in

angesichts dessen nicht zu Tausenden ir-

über den eigenen Teller­rand, die der Kon-

Widersprüchen. Und ein Widerspruch des

gendwelche gelben Westen anziehen und

gress durch Vorträge von Theaterkünstlerin-

Kapitalismus ist, dass die Armut nicht

erstmal das Brandenburger Tor umschub-

nen und -künstlern aus Bulgarien und Kana-

durch den Reichtum beseitigt, sondern

sen, ist mir persönlich völlig schleierhaft.

da, Italien und Dänemark ermöglicht hat,

durch den Reichtum hervorgebracht wird.

Wenn man die Armutsberichte der letzten

verständlichkeit sein.

konnten andere Perspektiven eröffnen. Und

Mit diesen Gedanken machte ich

Jahre verfolgt, steht immer das Gleiche

auch wenn am Ende in Dresden doch die

mich auf den Weg ins Berliner Ensemble zu

drin: Armut breitet sich flächendeckend

Mittel für die freie Szene gekürzt wurden,

„Auf der Straße“, das Stück wurde kürzlich

aus. Und wenn das jedes Jahr festgestellt

das Zeichen der Solidarität, das der Kon-

auch beim Brechtfestival in Augsburg

wird, heißt das nicht, dass die Entwicklung

gress gesetzt habt, bleibt in Erinnerung.

gezeigt. Es geht um Obdachlosigkeit und ­

stagniert. Das ist wie mit den Rüstungsaus-

Wenn es einen Weg gibt, die Aus­höhlung der

Armut. Dann kommt ein Monolog von einer

gaben: Wenn die jedes Jahr steigen, nimmt

Kunstfreiheit in Deutschland und in Europa

alleinerziehenden Mutter, die von Hartz IV

die Anzahl des Kriegsgeräts und Mordwerk-

aufzuhalten, dann nur, wenn die Akteure so

leben muss, sanktioniert wird, zur Tafel

zeugs auch absolut zu. Überhaupt: Was

wie bei flausen gemeinsam auftreten und

geht – das volle Programm der Ernied­

macht eigentlich die Regierung? Die Armut

durch stetes Fragen den Gewissheiten der

rigung, die der „aktivierende Sozialstaat“

bekämpfen? Oder die Waffenlager füllen, um

Populisten Alternativen entgegensetzen. //

für die Schwächeren dieser Gesellschaft

die Armen zu bekämpfen? // Jakob Hayner

Sascha Westphal

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magazin

/ TdZ April 2019  /

Monolith mit Passion – ein Theater voller Leben! Leben! Leben! Zum Tod des Schauspielers Joachim Tomaschewsky In seinem späteren Spiel lag et-

halten, es nicht fassen können. Das

was Majestätisches, Stolzes –

lange Leben, vielleicht schon das Ende

durchzogen von Wärme, auf den

vor Augen, gibt den einen Moment, der

Punkt fixiert in Sprache und Ak­

den Sinn des menschlichen Daseins of-

tion. Joachim Tomaschewsky, ein

fenbart, frei: die Liebe. Groß zu sehen

Gentleman, ein Doyen auf der

in einer Übertragung auf die Leinwand –

Szene, der seinen Stachel pfeil-

eine anrührende Szenerie. Da war Tomy

schnell ins Ziel bringen konnte,

schon 87. Er, der bis zu Frank Castorfs

genauso wie er es verstand, in

Antritt schon viel mit Theater konfron-

stummer Präsenz zu glänzen. Un-

tiert war und auch tief in die Abgründe

vergessen in den Inszenierungen

des Stadttheaters geblickt hatte, fängt

von Frank Castorf: Herr Korbes –

noch mal an, während andere aufhören,

eine Figur nach dem gleichnami-

wird effektiv: Ihm genügen ein paar

gen Grimm’schen Märchen in

­Sätze und ein Blick, um vom Publikum

„Räuber nach Schiller“, ab 1992

nachhaltig bemerkt zu werden. Tomy

als

böse

kam früh zur Bühne – an die Volks­

Mann Korbes, der mit seiner An-

bühne 1962! – und bespielte die Bret-

wesenheit den Vorgang des Unlös-

ter mehr als sieben Jahrzehnte! Er woll-

baren anzweifelt, um am Schluss

te dabei sein, nie aufhören. Tomy war

festzustellen: „So ist es!“ Ein-

ein einzigartiger Teil dieser ungewöhn­

fach, still und groß. Oder im

lichen Ära des Rock ’n’ Roll. Dieses

Jahr 1996 in „Golden fließt der

Vierteljahrhundert wirkte auf ihn wie ein

der

wiedergeborene

Jungbrunnen. Nie hat er sich nach frü-

Stahl / Wolokolamsker Chaussee“ von Karl Grünberg / Heiner Müller – Joachim Tomaschewsky als Frau Mucha: Verfremdung durch

Anrührende Affinität – Joachim Tomaschewsky (1919–2019) mit Susanne Düllmann in Frank Castorfs Inszenierung „Gier nach Gold“ an der Berliner Volksbühne (2006). Foto Thomas Aurin

Zurückhaltung und Ruhe für eine

her gesehnt. Nie sagte er, früher wäre alles besser gewesen. Keine Besserwisserei, kein Zynismus. Mit über neunzig Jahren stand er noch auf der Bühne, hat

irritierte kopfscheue Figur. Dann

sich jede Premiere angesehen und

das Abenteuer mit Christoph Schlingensief.

in „Gier nach Gold“ nach Frank Norris: Eine

konnte sich begeistern. Leben! Leben! Leben! –

Wieder eine neue Erfahrung, es kam ein an-

Tasse Tee wird zum Fetisch einer großen Affi-

dieser Ausruf von Tomy ist verbürgt und verrät

deres wildes Leben! Leben! Leben! ins Schiff.

nität, der sich beide nicht versichern können.

Freude und Forderung gleichermaßen. Wir

Später, im Jahre 2006, eine Sternstunde des

Da wurde umeinander geschlichen in laut­

vermissen Dich. Leb wohl, Tomy! //

Theaters, eine Szene mit Susanne Düllmann

loser Unsicherheit. Das Begehren zurück­

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(Un)heilige Mütter In Erinnerung an die Schauspielerin Christine Gloger Ihr Weg zum Theater war ein Kraftakt, einer

Brecht-Stücken. Das Rollenverzeichnis ist lang,

von vielen. Denn aufgewachsen war die 1934

von Virginia in „Leben des Galilei“, Mascha in

in Schwerin geborene Christine Gloger in

„Die Mutter“ von Brecht/Gorki, Jane Larry in

­einem Kinderheim. Ende der vierziger Jahre

„Im Dickicht der Städte“, Amalie in „Trom-

begann sie in Rostock-Warnemünde in einer

meln in der Nacht“ bis zu Dascha Tschumalo-

Weberei zu arbeiten. Plötzlich aber findet sie

wa in Heiner Müllers „Zement“. Von Helene

sich 1954 auf der Theaterhochschule in Leip-

Weigel übernahm sie die Titelrolle in „Die Ge-

zig wieder. Etwas, das so wohl nur in der

wehre der Frau Carrar“ – all das am BE der

stößt man unweigerlich auf Herrmann Zscho-

­frühen DDR möglich war, wo, wer es wirklich

Wekwerth-Ära, wo man keine Tabus mehr brach,

ches „Hälfte des Lebens“ von 1985, mit Glo-

wollte, solche Träume leben konnte.

sondern Brechts Ästhetik zu konservieren ver-

ger in der Rolle der an Geist, Leib und Seele

Markant, direkt – Christine Gloger als Lene in „Mein Taubentraum – Drama für die Stimme meiner Mutter“ von Ralf-Günter Krolkiewicz in der Inszenierung von Hans-Joachim Frank am theater 89 Berlin (2009). Foto Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

Wahrscheinlich verhalfen ihr die Härten

suchte. Wenn die Aufführungen trotzdem

harten Mutter von Hölderlin (gespielt vom jun-

ihrer Biografie, die sie doch nie haben ab-

glaubwürdig waren, dann lag das nicht zuletzt

gen Ulrich Mühe), ein dunkel-krankmachender

stumpfen können, dazu, eine ideale Brecht-

auch an der Präsenz einer Christine Gloger.

Vogel des Verderbens für alles Zerbrechliche

Schauspielerin zu werden. Als sie in ihrem

In ihren späten Jahren beeindruckte sie

am Dichter. „Du bist schwächlich, mein Jun-

Erstengagement in Meiningen mit der „Drei-

am Berliner theater 89, etwa 2004 in „Effis

ge. Deine Schwäche beherrscht dich.“ Christi-

groschenoper“ am Berliner Ensemble gastier-

Nacht“ von Rolf Hochhuth oder 2009 in

ne Gloger schlägt hier ganz unaufdringlich den

te, ließ ihre Polly sofort aufmerken. Es war

„Mein Taubentraum“ von Ralf-Günter Krolkie-

Bogen zu den (un)heiligen Müttern der Deut-

diese markant-direkte Art, die ihrem Spiel

wicz. Expressive Härte im Ausdruck, Anmut

schen, von der kirchenfrommen Hölderlins bis

Wucht gab. Helene Weigel engagierte sie so-

und Charme im Umgang mit anderen Men-

zu Brechts Frau Carrar im Schatten des Krie-

fort, und so spielte sie ab 1959 drei Jahr­

schen wurden ihr oft bescheinigt. Will man

ges. Jetzt ist sie, kurz vor ihrem 85. Geburts-

zehnte lang prägende Rollen, vor allem in

sich davon heute in Filmen überzeugen, dann

tag, gestorben. //

Theater der Jungen Welt Leipzig

SPLIKIFANT

Ein deutsch-georgisches Theaterstück für Kinder | Eine Koproduktion mit dem Nodar Dumbadze Professional State Youth Theatre Tiflis Uraufführung [3 plus] Ab 13. April 2019 Karten 0341.486 60 16 // www.tdjw.de

Gunnar Decker


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magazin

/ TdZ April 2019  /

Zu Gast bei den Huxleys – Lion Feuchtwanger (r.) und seine Frau Marta (l.) 1933 im franzö­­sischen Badeort Sanary-sur-mer, in dem sie wie viele Emigranten Zuflucht suchten. Foto Aldous Huxley

Objekt seiner Begierde war und er das auch so „ungefiltert“ zum Ausdruck brachte, macht ihn nicht gerade sympathisch. Gerne würde man mehr erfahren über den Entstehungsprozess seiner Werke, über seine Bekanntschaft mit Wedekind, das gemeinsame Arbeiten mit Brecht. Die Einschätzung der Münchner Räterepublik, der Sowjetunion, die er 1937 besuchte, der sogenannten Machtergreifung der Nazis fallen kurz aus.

Ich!

Blick auf den Schreibtisch des Genies ge-

Und doch findet man Aufregendes in den

währt. Die Notizen galten ihm selbst, sind voll-

über sechshundert Seiten fassenden Auf-

Mit 21 Jahren beginnt Lion Feuchtwanger da-

kommen unliterarisch, nehmen in den meisten

zeichnungen: Eindrücke vom Bohemeleben,

mit, ein Tagebuch zu führen. Eine Gewohn-

Fällen nur zwei, drei Zeilen in Anspruch und

dem Feuchtwanger durch das erzwungene

heit, der er in der Folge fast ausnahmslos

setzen mitunter ein Wissen voraus, das der Le-

täglich nachging und die er bis an sein Le-

ser nicht haben kann. Der Verlag wirbt für das

bensende nicht aufgeben sollte. In diesem

Buch mit dem Slogan „Feuchtwanger ohne

Alter kommt Feuchtwanger auch zu der Er-

Filter“ – und doch fühlt man sich mitunter um

kenntnis, dass er Grabbe ähnele, sicher bes-

die wesentlichen Informationen betrogen.

sere Stücke als Oscar Wilde schreiben könne,

Wenn Feuchtwanger im Theater war, notiert er

und fasst den Entschluss, ein „großes“ Dra-

es. Doch nicht, was er gesehen hat. Hat er mit

ma zu verfassen. Auch ein Titel fällt ihm ein:

Brecht gemeinsam gearbeitet, hält er lediglich

„Ich!“ Das ist keine unverzeihliche Arroganz,

fest: „Nett.“ Hat ihn eine Kritik eines seiner

sondern die Arroganz eines jungen Mannes,

Werke geärgert, lässt sich nicht erfahren, was

der weiß oder nur ahnt, dass aus ihm ein be-

Anstoß des Ärgernisses gewesen ist.

deutender Schriftsteller werden wird.

Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Hg. von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn, Michaela Ullmann, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 640 Seiten, 26 EUR.

Eine Ausnahme bildet das intime Le-

Aufschluss über Feuchtwangers Weg

ben Lion Feuchtwangers, bei dem er eine ge-

zu seinen großen Werken – und zu seinem

wisse Akribie an den Tag legte: Jede Form der

Exil entrissen wurde, der Kampf um Erfolg in

Ruhm – geben die nun erstmals unter dem

Selbstbefriedigung (und jedes selbst aufer-

jungen Jahren – und manchmal auch ums

Titel „Ein möglichst intensives Leben“ publi-

legte Masturbationsverbot, an das sich zu hal-

Überleben –, seine zahlreichen Kontakte in

zierten Tagebücher, ein zweifelsohne editori-

ten er nur wenige Tage in der Lage war), jede

den internationalen Kulturbetrieb, Lektüre-

sches Mammutprojekt, an dem sich der Auf-

Zusammenkunft mit einer Prostituierten und

eindrücke, im Glücksfall auch kurze Skizzen

bau Verlag versucht hat.

mit seinen zahlreichen Liebschaften hielt er

zu geplanten Arbeiten. Für die Literaturwis-

Feuchtwanger hat hier keine Aufzeich-

fest, bewertete sie mitunter. Dass jede Frau,

senschaft ist das Buch mehr als aufschluss-

nungen für die Nachwelt gemacht, keine Ver-

ob zufällige Bekanntschaft oder Partnerin ei-

reich; um ein breiteres Publikum wieder für

teidigung abgegeben oder einen großzügigen

nes seiner Schriftstellerkollegen, zuallererst

Feuchtwanger zu interessieren, dürfte es zu

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bücher

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spielen und am Schauspielhaus Bochum (sie-

Ulrich Eckhardt: Über Mauern geschaut. Was Kultur kann – und soll. Siebenhaar Verlag, Berlin 2018, 320 Seiten, 29,90 EUR.

he TdZ 01/2019) ist man unlängst auf die Idee gekommen, seine Romane für die Bühne zu adaptieren. Eine Wiederentdeckung seiner Dramen für die Spielpläne wäre ein mehr als erfreuliches Zeichen. //

Erik Zielke

Choreografie, Dramaturgie & Regie für Tanztheaterstücke Workshop mit I. ThuwisDe Leeuw & B. Dethier 5. Juli bis 7. Juli 2019

Der geniale Impresario bestellte. Die Preußen-Ausstellung im wieder­

www.bundesakademie.de

schwerfällig sein. An den Münchner Kammer-

Als Ulrich Eckhardt, promovierter Jurist und

aufgebauten Martin-Gropius-Bau, die „Topo­­

ausgebildeter Musiker, 1973 aus Bonn, wo er

graphie des Terrors“ als Lernort auf dem Ge-

drei Jahre als Kulturreferent gewirkt hatte,

lände des einstigen Gestapo-Hauptquartiers

nach Westberlin berufen wurde, um die Posi-

und der Moses-Mendelssohn-Pfad von 1987

tion eines Intendanten und Geschäftsführers

waren Hauptstationen auf einem Weg umfas-

Welt am andern Tag eine von Grund auf verän-

der Berliner Festspiele zu übernehmen, da

sender geschichtlicher Vergewisserung.

derte war, ohne dass alle dies gleich begriffen.

hatte ein Mann seinen Ort gefunden und der

In einem 2001 geführten Gespräch,

An der Spitze eines hocheffektiven Teams

Ort seinen Mann. Der 39-jährige Westfale

das am Anfang des Buches steht, bekennt

machte er es möglich, dass Leonard Bernstein

trat, zwei Jahre nach dem Grundlagenvertrag

sich Eckhardt zu der „besonderen politischen

an der durchbrochenen Mauer Beethoven diri-

zwischen den beiden deutschen Nachkriegs-

Einheit Westberlin“, dem im Osten festge-

gierte, und richtete am 4. Oktober Berlins „Fest

staaten, mit dem festen Vorsatz an, in der

schriebenen, im Westen verpönten Begriff,

der Einheit“ aus. Es gab große und kleine Aus-

ehemaligen Frontstadt ein Tor zu öffnen, das

der ihm genau die Sonderstellung der West-

stellungen (die ersten über Bühnenbildner und

bisher verschlossen gewesen war, das Tor zu

stadt bezeichnete; „das Atoll“ nennt er sie an

Theaterplakate aus der DDR) und thematische

dem östlichen, sozialistisch formierten Euro-

anderer Stelle. Von hier aus ging er mit stu-

Großprojekte wie „Deutschlandbilder – Kunst

pa. Um nicht in Konflikt mit dem sozialisti-

pendem Einfallsreichtum daran, aus dem We-

aus einem geteilten Land“, „Marianne und Ger-

schen Lager zu geraten, das die Dreisektoren-

sen dessen, was Kultur ist –­ spielerisch-form-

mania“, „Berlin-Moskau / Moskau-Berlin“ und

stadt wegen ihrer Anbindung an die deutsche

bewusste Grenzüberschreitung ­–, den Status

„Jüdische Lebenswelten“.

Westrepublik mit einem Bann belegt hatte,

quo einer festgemauerten Lagerbildung zu

Sein Buch mündet in „Zehn Gebote

war er auf den Gedanken gekommen, die vor

überbrücken. Er fuhr in den nächstgelegenen

des Eventmanagers“, die eine Pflichtlektüre

allem mit Bundesmitteln finanzierten Fest-

Osten, nahm Verbindung zu zahlreichen

auch der Kulturpolitiker sein sollten. Diese

spiele aus einer Institution des Senats in eine

Künstlern auf (drei von ihnen, dem Dichter

Edition ist eine Fundgrube, als Erinnerung an

GmbH zu überführen; fortan firmierte sie als

Jens Gerlach, der Komponistin Ruth Zechlin

eine zwei Epochen umgreifende Kulturperiode

Privatunternehmen. So war er bestens gerüs-

und dem Maler Peter Graf sind in dem Band

und als Einblick in jene Haltung, die Kultur-

tet für eine Aufgabe, die er 28 Jahre lang mit

kleine Porträts gewidmet), fand in dem DDR-

management zu einer ins Innere der Zeit grei-

einer Empathie, Erfindungslust und Motivie-

Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann ei-

fenden Tätigkeit macht. Ihr Stoff wird durch-

rungsgabe erfüllte, die geografisch wie the-

nen verständnisvollen Partner und brachte im

strahlt von der prätentionslosen Lebendigkeit,

matisch keine Grenzen kannten, obwohl er

Februar 1989 seine Ausstellung zur „Topo-

der zupackenden Frische, die diesen habituel-

realiter immer wieder an solche stieß.

graphie des Terrors“ in die Hauptstadt der

len Projektemacher bis heute auszeichnen. Im

In einem Buch, das im Berliner Sie-

DDR. „Ideologische Konfrontationen existier-

Ruhestand hat er sich, der einmal Kapellmeis-

benhaar Verlag erschienen ist, hat Eckhardt

ten für mich gar nicht“, erinnert er sich am

ter und Korrepetitor war, aufs Neue der Musik

unter dem Titel „Über Mauern geschaut. Was

Ende des Buches, und als er in dem Ein-

verschrieben, er spielt Klavier und Orgel, wo

Kultur kann – und soll“ Bericht über seine

gangsgespräch gefragt wird, wie er mit den

immer es geht, führt die Galerie seiner verstor-

Berliner Arbeit gegeben, deren fantastische

zehn Kultursenatoren ausgekommen sei, die

benen Frau weiter (ihr ist das Buch gewidmet)

Vielfalt zwischen zwei Buchdeckel zu bannen

er im Amt erlebt habe, lautet die Antwort:

und sieht inmitten aller Aktivitäten seinem 85.

sich als gelungenes Kunststück erweist. In

„Das einzige war, dass ich immer wieder Leu-

Geburtstag entgegen. Wenn dann Freunde und

sieben mit Abbildungen durchsetzten Haupt-

te neu anlernen musste, das zu verstehen,

Würdenträger gratulierend vor seiner Tür ste-

kapiteln (Gestaltung Ramón Bögge) gibt der

was ich machte.“ Die Senatoren begriffen,

hen, wird er allen Lobreden wehren und auf

vorzüglich ausgestattete Band mit Kommen-

dass Kultur die einzige wirkliche Ressource

das verweisen, was hier und heute nottut, um

taren, Konzeptpapieren, Briefen und Gesprä-

der eingeschlossenen Stadt war, und gaben

die Gegenwart aufzuhellen und der Zukunft

chen Einblick in die Reichweite eines Tuns,

ihm freie Hand. Was ihn zu alledem befähig-

vorzuarbeiten. Wie er das zu seiner Zeit ge-

das sich an den Festspielen mit seinen Haupt­

te, war ein aus Heiterkeit, Intelligenz, Men-

schafft hat, verrät er am Ende einer „Checklis-

veranstaltungsreihen Theatertreffen, Film­ fest­

schenfreundlichkeit

Verführungsgabe

te für Kulturarbeiter“: „Sich immer dessen

spiele, Jazzfest und Festwochen nicht er-

gemischtes Temperament; es ist die Verbin-

bewusst sein, innerhalb einer Equipe tätig zu

schöpfte, sondern mit großen und kleinen

dung, die den genialen Impresario ausmacht.

werden, von sich selbst absehen, der Sache

Ausstellungen, Projekten und städtischen

Denn das war er, und er war es erst recht,

dienen und den Geist zielgerichteter Gemein-

I­nszenierungen großen Stils ein weites Feld

als die Mauer sich eines Tages öffnete und die

und

samkeit pflegen.“ //

Friedrich Dieckmann

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Preis ausgezeichnet. Der Theaterpreis der

■ Die Auswahl für den Autor*innenpreis des

Hamburger Lions Clubs zeichnet Persönlich-

diesjährigen Heidelberger Stückemarkts steht

keiten aus, die „durch ihr Lebenswerk einen

fest. Nominiert wurden: Teresa Dopler mit ih-

■ Axel Krauße wird neuer Intendant des Thea­

bedeutenden Beitrag zur Darstellenden Kunst

rem Stück „Das weiße Dorf“, Björn SC Deigner

ters Ansbach. Damit löst er zur Spielzeit

in Hamburg geleistet haben“. Meyerhoff war

mit „Der Reichskanzler von Atlantis“, Caren Jeß

2020/21 Susanne Schulz ab, die den Posten

jahrelang am Deutschen Schauspielhaus

mit „Bookpink“, Daniel Ratthei mit „Werther in

seit 2015 bekleidete. Von 2007 bis 2018

Hamburg als Schauspieler tätig und habe die

Love“, Magdalena Schrefel mit „Ein Berg, vie-

war Krauße als Intendant und Geschäfts­

Szene der Stadt geprägt, so die Jury.

le“ und Nadja Wieser mit „Honig“. Das Gast-

Sewan Latchinian. Foto Anatol Kotte

führer am Zimmertheater Tübingen tätig.

■ Der ehemalige Intendant des Volkstheaters

land des Stückemarkts ist dieses Jahr die Tür-

■ Die Regisseurin Anta Helena Recke erhält zu-

kei, das internationale Programm wurde von

sammen mit dem Ensemble von „Mittelreich“

Gülhan Kadim kuratiert. Eröffnet wird das Fes-

den diesjährigen Preis des Internationalen Thea-

tival am 26. April mit dem Gewinnerstück des

terinstituts (ITI) für ihre „Schwarzkopie“ der

letztjährigen Wettbewerbs, der Uraufführung

gleichnamigen Inszenierung von Anna-Sophie

von Ulrike Syhas Stück „Drift“. Neben dem

Mahler an den Münchner Kammerspielen. „Mit

Autor*innenpreis werden zudem der Nachspiel-

seiner genreübergreifenden Ästhetik ist ‚Mittel-

preis, der mit einer Gastspieleinladung zu den

reich‘ eine unübersehbare Arbeit an der Ver-

Autorentheatertagen des Deutschen Theaters

fasstheit

Die

Berlin im nächsten Jahr verbunden ist, und der

Darsteller*innen von ‚Mittelreich‘ und ihre

Jugendstückepreis vergeben. Das beste Jugend­

­Regisseurin haben mit ihrem zukunftsweisen-

stück wird im Rahmenprogramm der Mülhei-

den Projekt ein Stück Theatergeschichte ge-

mer Theatertage 2020 gezeigt.

der

Diversität

hierzulande.

schrieben“, so die Begründung der Jury.

Rostock Sewan Latchinian wird ab der Spiel-

■ Das Impulse Theater Festival, eine der bedeu-

zeit 2019/20 Künstlerischer Leiter an den

■ Die Besetzung des neu gegründeten Europa

tendsten Werkschauen der freien Szene, hat

Hamburger Kammerspielen. Latchinian wird

Ensembles steht fest. Die beteiligten Theater

die Auswahl für den diesjährigen Showcase

das Programm des 1918 gegründeten Privat-

(Schauspiel Stuttgart, Nowy Teatr in War-

bekannt gegeben. Elf Produktionen, u. a. von

theaters in Hamburg-Eimsbüttel gemeinsam

schau und Zagreb Youth Theatre) und der

Dragana Bulut, Chicks* freies performance-

mit dem bisherigen Leiter Axel Schneider und

künstlerische Leiter des Projekts Oliver Frljić

kollektiv, Club Real, Hauptaktion, Julian Het-

der Dramaturgin Anja Del Caro verantworten.

haben je eine Schauspielerin und einen

zel, Markus&Markus, Johannes Müller/Philine

Schauspieler aus Deutschland, Polen und

Rinnert, Markus Öhrn, Charlotte Pfeifer, Mar-

■ Der Autor und Regisseur Falk Richter ist ab

Kroatien ausgewählt: Tenzin Kolsch, Claudia

cel Schwald/Chris Leuenberger, Jan Philipp

sofort Professor for Performing Arts an der

Korneev, Tina Orlandini, Adrian Pezdirc,

Stange, werden vom 13. bis 23. Juni 2019 zu

Danish National School of Performing Arts in

Jaśmina Polak und Jan Sobolewski. In den

sehen sein.

Kopenhagen. Im Rahmen des Masterstudien-

kommenden zwei Jahren wird das Ensemble

gangs wird er eine eigene internationale

in allen Ländern Erfahrungen sammeln sowie

■ Die Jury des Stückemarkts des Berliner

­Masterclass leiten, die in diesem Jahr in Ko-

Raum und Zeit bekommen, um sich gemein-

­Theatertreffens hat nach einer weltweiten Aus-

penhagen, Berlin und Hamburg stattfindet

sam der Frage zu widmen, wie Europa neu

schreibung aus insgesamt 361 Einsendungen

und sich in den nächsten Jahren auf weitere

gedacht werden kann und welche gesell-

aus 65 Ländern fünf Arbeiten, sowohl Texte

Orte erstrecken wird.

schaftspolitischen Utopien das europäische

als auch Projekte, ausgewählt: „Fall on Pluto“

Projekt stärken könnte. Jedes der beteiligten

von Sashko Brama und Ensemble (Ukraine),

■ Der Schauspieler, Regisseur und Buchau-

Theater wird dabei pro Jahr eine Inszenierung

„Pussy Sludge“ von Gracie Gardner (USA),

tor Joachim Meyerhoff wurde mit dem mit

produzieren und die beiden anderen Regie­

„Die Burg der Assassinen“ von Amir Gudarzi

15 000 Euro dotierten Gustaf-Gründgens-

arbeiten als Gastspiele zeigen.

(Iran/Österreich), „Vantablack“ von Nazareth

Applied Theatre –

künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft ! MASTERSTUDIUM NEU an der Universität Mozarteum Salzburg

Studienbeginn Herbst 2019

Weitere Informationen unter http://schauspiel.moz.ac.at/seiten/applied-theatre/info.php

Bewerbungen bis 5. Mai 2019


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Hassan (USA) und „Estado Vegetal“ von Manu-

wird seit 1992 jährlich von der Berliner Mor-

ela Infante (Chile). An einen der eingeladenen

genpost im Gedenken an den Theaterkritiker

Künstler wird der von der Bundeszentrale für

Friedrich Luft vergeben.

politische Bildung g­ eförderte Werkauftrag vergeben. Dieser ist verbunden mit der Realisierung

■ Das Kuratorium des 6. Schweizer Theater-

einer Arbeit am Schauspielhaus Bochum.

treffens, das vom 22. bis 26. Mai 2019 im Wallis stattfinden wird, hat seine Stück­ aus­

■ Der ehemalige TV-Sender ZDF.kultur ist als

wahl bekannt gegeben. Nominiert sind sie­

Onlineangebot in der ZDF Mediathek wieder-

ben Stücke aus Chur, Bern, Zürich, Lugano,

belebt worden. Ursprünglich ist ZDF.kultur

Lausanne und Genf: „Antigone::Comeback“ ­

aus dem Theaterkanal entstanden, von 2011

(Regie Bernhard Mikeska), „Café Populaire“

existierte es als Fernsehkanal und Teil des

(Regie Nora Abdel-Maksoud), „Coco – Ein

digitalen Fernsehprogrammangebots, wurde ­

Trans­ gendermusical“ (Regie Stefan Huber),

jedoch 2016 eingestellt. Das neue Digital­

„Gaia Gaudi“ (Regie Michael Vogel), „Les

angebot wurde in Zusammenarbeit mit 35

­Misérables“ (Regie Eric Devanthéry), „Phèd-

Kulturinstitutionen erarbeitet. Neben den

re!“ (Regie François Gremaud) und „Sara – Mon

klas­sischen Formaten aspekte oder Kulturzeit

Histoire Vraie (1)“ (Regie Ludovic C ­ hazaud).

werden auf der Seite drei interaktive Tools und fünfzehn Webvideoformate zu Musik und

■ Der Schauspieler Jörg Schröder ist tot. Er

Theater, Kino, Kunst, Kabarett, Lesen, Reisen,

starb am 6. Februar im Alter von 74 Jahren.

Design und Gaming angeboten.

TdZ on Tour n 02.04. Lesung: Christian Grashof. Kam, sah und stolperte – Gespräche mit Hans-Dieter Schütt, Karl-Liebknecht-Haus, Berlin n 04.04. Buchvorstellung: Regie: Herbert König. Über die Kunst des Inszenierens in der DDR, Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin n 10.04. Buchpremiere: Schauspielhaus Zürich 2009-2019, Schauspielhaus Zürich n 27.04. Buchpremiere: Radikal jung 2019. Das Festival für junge Regie, Münchner Volkstheater Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

Schröder war nach seinen Anfängen am Zimmertheater Münster am Stadttheater Pforz-

wandte Theaterwissenschaften Andrzej Wirth

■ Bei der diesjährigen Festival-Ausgabe von

heim, an den Städtischen Bühnen Osnabrück,

verstarb am 10. März nach kurzer Krankheit.

radikal jung am Münchner Volkstheater werden

am Deutschen Theater Göttingen und Schau-

Wirth, geboren 1927 in Wlodawa (Polen),

vom 27. April bis 5. Mai 2019 wieder 14 her-

spiel Hamburg engagiert und gehörte bis zu

wurde in seinem Heimatland zunächst als

ausragende Inszenierungen junger Nach­wuchs­

seiner Pensionierung 2012 dem Ensemble des

Theaterkritiker und Übersetzer bekannt, be-

regisseure präsentiert. Eingeladen sind Arbei-

Theaters Basel an. In Basel und Hamburg ar-

vor er 1966 in die USA ging und dort an ver-

ten von Nora Abdel-Maksoud, Lucia Bihler,

beitete er u. a. mit Regisseuren wie Frank Cas-

schiedenen Universitäten lehrte. 1982 kam

Leonie Böhm, Camille Dagen, Florian Fischer,

torf, ­ Dimiter Gotscheff, Matthias Hartmann,

er in die Bundesrepublik und wurde Professor

Sapir Heller, Elsa-Sophie Jach und Thomas

Karin ­Beier und Stefan Bachmann.

für Theaterwissenschaften in Gießen, wo er

Köck, Ariah Lester, Philipp Moschitz, Blanka

eine ganze Reihe von Schülern mit seinen

Rádóczy, Anta Helena Recke, The Agency,

■ Der Schweizer Bühnenbildner und Künstler

Ideen für zeitgenössisches Theater prägte,

Christina Tscharyiski, Peter Mills Weiss und

Toni Businger ist am 15. Februar im Alter von

zum Beispiel René Pollesch, Moritz Rinke

­Julia Mounsey. Zum Abschluss wird ein vom

84 Jahren gestorben. Businger begann in den

sowie Helgard Haug und Daniel Wetzel von

Freundeskreis des Theaters gestifteter Publi-

1950er Jahren als Assistent von Teo Otto.

­Rimini Protokoll. Ein ausführlicher Nachruf

kumspreis in Höhe von 3000 Euro vergeben.

1957 entstand seine erste Arbeit für das Zür-

folgt in der nächsten Ausgabe.

cher Schau­spielhaus. Im Laufe seines künst-

■ Die Berliner Produktionen „#BerlinBerlin“

lerischen Schaffens wirkte er an rund 80

von Jörg Steinberg am Theater Strahl und

Opern- und Schauspielhäusern in Europa,

„Drei Milliarden Schwestern“ von Bonn Park,

den USA und Kanada.

die an der Volksbühne entstand, erhalten zu gleichen Teilen den diesjährigen Friedrich-

■ Der Theaterwissenschaftler, Autor und

Luft-Preis. Der mit 7500 Euro dotierte Preis

Gründer des Gießener Instituts für Ange-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

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Premieren Annaberg-Buchholz Eduard-von-Winterstein-Theater G. E. Lessing: Nathan der Weise (D. Kunze, 07.04.) Basel Theater F. G. Lorca Yerma (M. Koležnik, 11.04.); Theater der Bilder (D. Kranz, 16.04., UA) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater Aischylos: Die Orestie (M. Holetzeck, 26.04.) Berlin Berliner Ensemble W. Shakespeare: Othello (M. Thalheimer, 13.04.); M. Salazar: Amir (N. Oder, 27.04., UA) Deutsches Theater H. Müller: Die Umsiedlerin (T. Kühnel/J. Kuttner, 06.04.); G. Brant: Am Boden (A. Berndt, 18.04.); B. Kraft/n. H. C. Andersen: ugly duckling (B. Kraft, 25.04., UA) Maxim Gorki Theater n. Ö. v. Horváth/T. Müller: Jugend ohne Gott (N. Erpulat, 12.04.) Schaubühne am Lehniner Platz M. Zade: abgrund (T. Ostermeier, 02.04., UA); S. Mitrović: Danke Deutschland – Cám o’n nu’ó’c Đú’c (S. Mitrović, 04.04., UA) Sophiensaele J. Müller/P. Rinnert: Das weiße Rössl am Central Park (J. Müller, 05.04., UA); Hauen und Stechen u. Theater HORA: Tristan und Isolde. Oder Luft! Luft! Mir erstickt das Herz! (26.04., UA) Theater an der Parkaue T. Pascal: Unterscheidet euch! Ein Gesellschaftsspiel (T. Pascal, 04.04.); F. Salten: Bambi (M. Bues, 30.04.) Theater Ramba­ Zamba M. Frayn: Der nackte Wahnsinn (J. Höhne, 12.04.) Volksbühne C. Macras/ Dorky Park: Der Palast (C. Macras/Dorky Park, 04.04., UA); H. Müller: Quartett (M. Bilmen, 18.04.) Bonn Theater N. Gogol: Die Nase (F. Werth, 26.04.); Ö. v. Horváth: Jugend ohne Gott (D. Friedel, 27.04.) Bremen Theater F. Abt/K. O. Knausgård: Knausgard VI: Kämpfen (F. Abt, 04.04., UA) Bremerhaven Stadttheater L. Hübner: Aussetzer (F. Schütz, 05.04.); F. Braband: Dree Damens In‘n Harvst (B. Kruse, 13.04.) Celle Schlosstheater A. Bovell: Dinge, die ich sicher weiß (C. May, 12.04.) Dessau Anhaltisches Theater G. Puccini: Manon Lescaut (K. Thoma, 05.04.); H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (J. Weigand, 20.04.) Detmold Landestheater N. Simon: Sonny Boys (K. Wolff, 26.04.) Döbeln Mittelsächsisches Theater P. Shaffer: Amadeus (A. Wöhlert, 06.04.) Dortmund Theater D. S. Craig: Agent im Spiel (J. Weißert, 05.04.) Dresden Staatsschauspiel M. Ossorgin: Eine Straße in Moskau (S. Baumgarten, 05.04., UA); W. Ziemilski: In meinem Namen (W. Ziemilski, 06.04., UA); M. v. Boxen: Ich bin Muslima – haben Sie Fragen? (M. v. Boxen, 14.04., UA) Theater Junge Generation n. O. Preußler: Der starke Wanja (N. Zapfe, 13.04.) Düsseldorf Schauspielhaus W. Shakespeare: Coriolan (T. Köhler, 18.04.); F. Hebbel: Maria Magdalena (K. Schumacher, 27.04.)

April 2019

Eine poetische Überfahrt für Schauspieler und Orchester

Die Welt auf Der Welle (ua) Steffen Mensching/Michael Kliefert

Premiere: 13.04.2019

Eggenfelden Theater an der Rott C. Calvo: In Evas dunklen Gärten (J. M. Krasanovsky, 05.04.) Essen Schauspiel H. Pinter: Der stumme Diener (T. Schattmaier, 26.04.) Esslingen Württembergische Landesbühne L. Kristl/Ö. v. Horváth: Glaube Liebe Hoffnung (A. Müller-Elmau, 06.04.); A. Stifter: Bergkristall (J. Müller, 06.04.); Finn-Ole Heinrich u. Dita Zipfel: Zonka und Schlurch (B. Grubel, 07.04., UA) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm a performance by nobody, going nowhere, for no one in particular (T. Rizzi/ Bad Habits, 05.04., UA); Bermuda (F. Wiesel, 27.04., UA) Schauspiel A. Klüssendorf/T. Pletzinger/A. R. Strubel: Stimmen einer Stadt IV-VI (A. Weber, 06.04., UA); H. Haug: Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn. (H. Haug, 11.04., UA); M. Droste/P. Boos: Weiße Flecken (M. Droste/ P. Boos, 26.04.) Freiberg Mittelsächsisches Theater Die Welt ist rund, denn dafür ist sie da (K. Fischer, 10.04.) Freiburg Theater Kidz (T. Schneider/G. Smith, 27.04.) Gießen Stadttheater R. Kricheldorf: Villa Dolorosa (T. Goritzki, 06.04.)

Göttingen Deutsches Theater W. Shakespeare: Macbeth (C. Mehler, 13.04.); S. Münnich/J. P. Stange: Science and Fiction (Faust II) (J. P. Stange, 25.04., UA); M. Frisch: Biografie: Ein Spiel (C. Haninger, 26.04.) Graz Schauspielhaus Schöne neue Welt: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (A. M. Wohlfahrt, 17.04., UA) Greifswald Theater Vorpommern Sophokles: Antigone (A. Kruschke, 06.04.) Halle Neues Theater D. Seidler: The King‘s Speech (Die Rede des Königs) (M. Brenner, 12.04.) Hamburg Schauspielhaus R. Pollesch: Probleme Probleme Probleme (R. Pollesch, 06.04., UA); S. Gößner: lauwarm (M. Spaan, 07.04., UA); J. Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (A. Riemenschneider, 13.04.) Thalia Theater M. Davydova: Checkpoint Woodstock (M. Davydova, 27.04., UA) Hannover Schauspiel Landerer&Company: Hikikomori (F. Landerer, 04.04., UA); A. Karschnia/N. Nord/S. Sulimma: Fake Youth (A. Karschnia/N. Nord/S. Sulimma, 26.04., UA); Realität für Fortgeschrittene (A. Kpok, 27.04., UA) Heilbronn Theater S. d. Velasco: Tigermilch (A. Kuß, 27.04.)

Hildesheim Theater für Niedersachsen A. Bovell: Dinge, die ich sicher weiß (J. Gade, 06.04.); B. Britten: Tod in Venedig (F. Seiler, 20.04.) Ingolstadt Stadttheater n. K. Cave/n. C. Riddell: Irgendwie Anders (K. Weber, 27.04.) Jena Theaterhaus A. Hinderlich: Alien­(n)ation (A. Hinderlich, 06.04.) Karlsruhe Badisches Staatstheater J. Heldenbergh/M. Dobbels: The Broken Circle (A. Bergmann, 04.04., DEA); K. Küspert/A. Küspert: Unantastbar? (S. Wächter, 13.04., UA) Kiel Theater W. Shakespeare: Hamlet (D. Karasek, 12.04.) Klagenfurt Stadttheater Sophokles: Antigone (L. Stefanek, 11.04.) Köln Schauspiel S. Ellis: How to date a Feminist (R. Sanchez/Y. Jansen, 05.04.); n. Euripides/ A. Tarkowskij: Medea.Opfer (R. Borgmann, 12.04.) Konstanz Theater J. Masteroff: Cabaret (R. Gilmore, 12.04.); Faust_In* (R. Schubert, 26.04.) Landshut Landestheater Niederbayern W. M. Bauer: Bayernsonate (W. M. Bauer, 12.04., UA); Matthieu Delaporte, Ale­ xandre d. l. Patellière: Das Abschieds­ dinner (C. Tröger, 20.04.) Leipzig Cammerspiele n. F. Kafka: Fragmente aus Heften und losen Blättern (J. Müller, 11.04.) Schauspiel T. Williams: Süßer Vogel Jugend (C. Bauer, 06.04.); B. Studlar: Nacht ohne Sterne (G. Kämmerer, 20.04.); H. v. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (P. Preuss, 27.04.) Theater der Jungen Welt Splikifant (J. Kracht, 13.04., UA) Linz Landestheater J. Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (N. Neitzke, 12.04.); R. Schimmelpfennig: Idomeneus (B. Hebenstreit, 13.04.) Lübeck Theater AnderLand (K. Wink­mann/ S. Boles, 01.04.); T. Kindermann/S. Kara/ A. E. Şipal: Istanbul (P. Holzwarth, 05.04.); Findet mich das Glück? (C. Mosler, 17.04.) Magdeburg Theater J. Conrad: Der Geheimagent (Prinzip Gonzo, 05.04.); A. Kühne: Düsterbusch City Lights (C. Crombholz, 13.04., UA) Mainz Staatstheater T. Uhlmann: Sophia, der Tod und ich (A. Baumann/H. Momann/J. v. Hansemann, 05.04.); Klangjäger (J. Gaudet, 10.04.); V. Sorokin: Ljod – Das Eis – Die Trilogie (J. Gockel, 26.04.) Marburg Hessisches Landestheater n. F. Richter: Fear (R. Lehmann, 18.04.) Meiningen Staatstheater G. Büchner: Leonce und Lena (G. Stoev, 05.04.) Memmingen Landestheater Schwaben R. W. Fassbinder: Die bitteren Tränen der Petra von Kant (K. Minkowski, 05.04.); Á. Kristóf: Das große Heft (M. Claessen, 12.04.) Mönchengladbach Theater A. Jendreyko: Jin Jiyan – Der Aufbruch (A. Jendreyko,


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06.04., UA); G. Büchner: Leonce und Lena (A. Panse, 13.04.) München Kammerspiele n. E. Jünger: Gläserne Bienen (10.04.); n. A. Tschechow/S. Kennedy: Drei Schwestern (S. Kennedy, 27.04.); Henrike Iglesias: Fressen (Henrike Iglesias, 28.04.); n. J. W. v. Goethe: Werther’s quest for love (J. Bongers, 29.04.) Residenztheater A. Hilling: Sinn (A. Sczilinski/A. Horn/R. v. Bommel, 27.04.) Münster Theater Ö. v. Horváth: Kasimir und Karoline (F. Behnke, 27.04.) Wolfgang Borchert Theater I. Abuelaish: Ich werde nicht hassen (T. Weidner, 05.04.) Neuwied Landesbühne Rheinland-Pfalz Lili Marleen – Ein Lied geht um die Welt (B. Montazem, 04.04.) Nürnberg Staatstheater O. Zahn: Teutona (O. Zahn, 04.04., UA) Oldenburg Staatstheater F. Aydemir: Ellbogen (J. M. Polasek, 18.04.); H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (P. Hailer, 27.04.); AndersLand (S. Ostertag, 28.04., UA) Osnabrück Theater H. v. Kleist: Die Familie Schroffenstein (D. Foerster, 06.04.); G. Waldron: Natives (P. Wieandt, 27.04.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater J. D. Heße: Hallo & Tschüss (J. D. Heße, 28.04.) Pforzheim Theater n. R. Bradbury: Fahrenheit 451 (H. Hametner, 18.04.) Potsdam Hans Otto Theater n. T. Fontane: Auf dich, Theo! oder Der Staub vergeht, der Geist besteht (A. F. Huber, 11.04.); H. Fallada: Jeder stirbt für sich allein (A. Pullen, 12.04.); H. Melville: Bartleby – Ich

möchte lieber nicht (N. d. l. Parra, 27.04.) Radebeul Landesbühnen Sachsen n. N. Weger: Ein Krokodil taucht ab (K. Tscherning, 13.04.); O. Bukowski: Wer seid ihr (T. Quaas, 26.04., UA) Regensburg Theater E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (R. Teufel, 06.04.); A. Lehmann: Die letzte Sau (J. Prechsl, 13.04., UA) Reutlingen Theater Die Tonne K. Eppler/n. F. Fühmann: Nibelungen (K. Eppler, 06.04.) Rostock Volkstheater H. Ibsen: Peer Gynt (K. Lauterbach, 05.04.); Theater d. Generationen: We don’t need no education (C. Lange, 13.04.); Rote Rosen und Skandale (A. Langhoff, 18.04.) Rudolstadt Theater S. Mensching/M. Kliefert: Die Welt auf der Welle (S. Men­sching/ M. Kliefert, 13.04.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater Luca Pauer u. d. Junge Ensemble: Ich, Ikone (L. Pauer, 27.04.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater B. Friel/n. I. Turgenev: Väter und Söhne (S. Hawemann, 26.04.); M. A. Nexø: Pelle der Eroberer (M. Nimz, 27.04.) St. Gallen Theater K. Küspert: sterben helfen (M. Bürgin, 04.04., SEA); A. Tschechow: Der Kirschgarten (M. Huber, 12.04.) Stralsund Theater Vorpommern L. Werner: Weißer Raum (R. Göber, 06.04.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt W. Shakespeare: Wie es Euch gefällt (C. P. v. Maldeghem, 26.04.) Junges Ensemble C. Wijs: Wir/Die (

P. Neukampf, 27.04., DSE) Schauspiel S. Stephens: Rage (S. Bodamer, 06.04.); Imaginary Europe (O. Frljić, 10.04.); N. Abdel-Maksoud: Café Populaire (A. Schoenwald, 20.04., DEA); W. Shakespeare: Otello (B. C. Kosminski, 27.04.) Tübingen Landestheater W. Shakespeare: Maß für Maß (N. Hartnagel, 11.04.); A. Akhtar: The Who and the What (J. Mayr, 12.04.) Zimmertheater Monster Control District: Welcome (Monster Control District, 06.04.); Götzendämmerung. PostFuck-Tische Ergüsse Zum Zeitgeschehen (P. Ripberger, 27.04.) Ulm Theater SuperHelden (S. Reimold, 07.04., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle D. Busch: Das Recht des Stärkeren (J. Neumann, 04.04.) Wien brut B. Ruder: How to go viral (B. Ruder, 05.04., UA); Club Real: Weg mit der Natur – Her mit der Politik! (Club Real, 26.04., UA) Kosmos Theater M. Schrefel: Sprengkörperballade (C. Bossard, 02.04., ÖEA) Wiesbaden Hessisches Staatstheater n. F. M. Dostojewski: Der Idiot (B. Savić, 26.04.); C. Bechtel/M. Obexer: Verlorene Kämpfer. Vom Ende der Roten Armee Fraktion (C. Bechtel, 28.04., UA) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord E. Lubitsch/N. Whitby: Sein oder Nichtsein (To Be or Not to Be) (U. Cramer, 13.04.); C. Way: Piraten! (M. Constantine, 28.04.) Würzburg Mainfranken Theater G. Bekas:

Sisyphos auf Silvaner (A. Schroeder, 04.04., UA) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater A. Schnitzler: Reigen (D. Szalma, 12.04.) Zürich Schauspielhaus N. Öziri: Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch (S. Nübling, 04.04., UA); F. Dürrenmatt: Justiz (F. Castorf, 13.04.)

FESTIVAL Berlin Schaubühne am Lehniner Platz FIND 2019 – Festival Internationale Neue Dramatik (04.04.–14.04.) Meiningen Staatstheater Die Festwoche (04.04.–14.04.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater Internationale Maifestspiele 2019 (30.04.– 31.05.)

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impressum/vorschau

AUTOREN April 2019 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Josef Bierbichler, Schauspieler und Autor, Ambach Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Otto Paul Burkhardt, Theater- und Musikkritiker, Tübingen Friedrich Dieckmann, freier Schriftsteller, Essayist und Kritiker, Berlin Jens Fischer, Journalist, Bremen Theresa Luise Gindlstrasser, freie Autorin, Wien Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Claus Leggewie, Politikwissenschaftler, Gießen Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Lars von Trier, Regisseur, Kopenhagen Chris Weinhold, freier Autor, Leipzig und Augsburg Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Lektor, Berlin Sabine Zielke, Dramaturgin, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/04

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau

Protagonisten: Haben Sie Fragen, wie sich Theater mit den Ideen von Nation und Identität verträgt? In Luxemburg kann man s­ ehen, wie das geht: am Nationaltheater Théâtre National du Luxembourg, in einem Land, das fast zur Hälfte von Einwanderern bevölkert wird, in dem allein schon drei Amtssprachen gesprochen werden. Intendant Frank Hoffmann setzt in seinem Spielplan und bei der Vernetzung seines Hauses auf Internationalität und versteht sich zugleich als künstlerische Stimme Luxemburgs im europäischen Kontext. Dafür steht in der aktuellen Spielzeit symp­ tomatisch Armin Petras’ Inszenierung von „Europe – My Heart Will Be Broken and Eaten”. Ein Hausporträt.

„Erniedrigte und Beleidigte“ am Staatsschauspiel Dresden. Foto Sebastian Hoppe

Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens (Korrektur), Anastasia Klimovskaya (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 74. Jahrgang. Heft Nr. 4, April 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.03.2019

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Armin Petras’ Inszenierung von „Europe - My Heart Will Be Broken and Eaten“ am Théâtre National du Luxembourg. Foto boshua

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Protagonisten: Er ist einer der eigenwilligsten und formstärksten Theatermacher derzeit: Regisseur Sebastian Hartmann, zum Berliner Thea­tertreffen eingeladen mit seiner Dresdner Version von „Erniedrigte und Beleidigte”, bilanziert im Gespräch mit Theater der Zeit die fünf Jahre nach dem Ende seiner Leipziger Intendanz, reflektiert seine Auseinandersetzung mit dem Erbe der Volksbühne und erklärte seinen Drang zu großen Romanen und bildender Kunst auf der Bühne. Ein Porträt.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Mai 2019.


Was macht das Theater, Sonja Laaser? Frau Laaser, sind angesichts der Kolonial­

solche Diskussion wird Teil des notwen-

geschichte alle weißen Europäerinnen

digen Prozesses. Es ist nur schade,

und Europäer Rassisten?

wenn die Klausel lediglich als Angriff

Nein. Ich sage nicht, dass wir Rassisten

gewertet und kritisiert wird und keine

sind, sondern frage, ob unsere Gesell-

konkreten Vorschläge kommen, wie

schaft ein strukturelles rassistisches

man sie oder die Situation an sich än-

Thema hat. Man muss unterscheiden:

dern könnte. An der weiteren Gestal-

Ist eine Aussage rassistisch oder ist der,

tung der Klausel kann jeder mitwirken.

der sie macht, rassistisch? Nicht jeder,

Ich würde mir auch eine direkt an uns

der sich einmal rassistisch äußert, ist

gerichtete Reaktion des Bühnenvereins

auch ein Rassist. Aber die Aussage ist

wünschen, um gemeinsam ins Ge-

gegebenenfalls ein Ausdruck dieser ras-

spräch zu kommen.

sistischen Strukturen. Ziehen Sie persönlich aus den Vorgängen Inwieweit kann man diesem strukturellen

in Oberhausen Konsequenzen in Bezug

Rassismus mit einer Vertragsklausel be-

auf die Klausel?

gegnen?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt zum einen

Dass man das kann, ist auf jeden Fall

das Bestreben, sich noch einmal mit

Julia Wisserts und meine Überzeugung

Beteiligten und anderen Juristen zu-

bei der Klausel. Aufklärung hilft! Mir

sammenzusetzen, um die Klausel wei-

haben Workshops, Bücher etc. gehol-

terzuentwickeln. Zum anderen bin ich

fen, einen anderen Blick auf die eige-

zu dem Schluss gekommen, dass es

nen Denkmuster zu bekommen. Wenn

besser gewesen wäre, der Klausel von

ich aus einer Gesellschaft komme, in der strukturell rassistische Denkmuster existieren, muss ich erst einmal eine Außenperspektive einnehmen, um das zu erkennen. In dieser Hinsicht funktio­ nieren Workshops sehr gut. Die Klausel setzt zwar an einem anderen Punkt an. Aber kann sie auch etwas an der Situation ändern, dass Hauptrollen auf deutschsprachigen Bühnen meist von weißen Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert werden?

Gemeinsam mit der Regisseurin Julia Wissert hat die Rechtsanwältin und Dramaturgin Sonja Laaser eine AntiRassismus-Klausel für Werkverträge am Theater entwickelt. So will sie das Bewusstsein für den strukturellen Rassismus in der Gesellschaft schärfen und die Betroffenen aus der Pflicht befreien, sich ständig erklären zu müssen. Das Kollektiv Technocandy wollte die Klausel in seinem Vertrag für die Produktion „Schaffen“ am Theater Oberhausen verankern, ist aber am Widerstand der Verwaltung gescheitert. Seit dies bekannt ­geworden ist, wird über die Klausel nicht nur in Oberhausen gestritten. Foto Frank Eidel

Anfang an einen Leitfaden beizufügen, der klarer formuliert, was jenseits der Definition mit Rassismus gemeint ist. Es geht eben nicht darum, nach einem Vorfall jemanden als Rassisten zu brandmarken. Insofern wünschte ich mir, mehr Brücken geschlagen zu haben, damit die Klausel gar nicht erst als Angriff wahrgenommen worden wäre. Außerdem hätte ich Ansprechpartner benennen sollen, an die sich Künstler wie Theater bei Fragen und Konflikten im Zusammenhang mit der Klausel wenden können.

Die Art und Weise, in der Rollen besetzt werden, hat auf jeden Fall eine starke Außenwirkung. Die Klausel dockt na-

einzubinden, auf Ablehnung vonseiten der Ver-

Wer entscheidet am Ende darüber, ob ein Bezug

türlich erst einmal an einen Bereich an, der

waltung gestoßen. Hat Sie diese Reaktion über-

zwischen der im Vertrag zitierten Rassismus-

eher betriebsintern ist. Aber ich bin davon

rascht?

Definition und dem als rassistisch empfundenen

überzeugt, dass jemand in dem Moment, in

Ich war nicht in die Verhandlungen in Ober-

Vorfall besteht?

dem er für die bestehenden Strukturen sensi-

hausen involviert und habe auch erst spät von

Ich bin überzeugt, dass die Häuser, die die

bilisiert wird, nicht nur diesen einen Bereich

den Vorgängen erfahren. Die Klausel ist noch

Klausel aufnehmen, bei Zweifelsfragen ein

anders wahrnimmt. Er wird im Ganzen wacher

jung, und wir sind froh, wenn wir Rückmel-

Interesse daran haben, einen Workshop oder

für das Thema und fängt an, Entscheidungen,

dungen zu ihr bekommen. Wir haben mit drei

Ähnliches anzubieten, und dass es nicht zu

gerade auch Besetzungsentscheidungen, stär­

anderen Häusern über die Klausel gespro-

einer gerichtlichen Überprüfung kommen

ker zu reflektieren. Das ist zwar nicht die

chen, dabei auch Feedback erhalten und dar-

wird. Es geht um Sensibilisierung und Aufklä-

Hauptintention der Klausel, aber ein Neben-

aufhin Details abgeändert. Diesen Prozess

rung. Im Streitfall könnte ein Zivilgericht die

effekt, der sich meiner Ansicht nach zwangs-

habe ich als sehr angenehm empfunden, weil

Entscheidung treffen. Es geht hierbei nicht

läufig ergeben wird.

es ein gemeinsames Arbeiten und kein Ge-

um ein Strafverfahren. Die in der Klausel ge-

geneinander war. Grundsätzlich würde ich

forderten Maßnahmen sind keine Strafe. Das

Am Theater Oberhausen ist der Wunsch des Kol-

sagen: Dass so eine Klausel eine Diskussion

ist ein Missverständnis. //

lektivs Technocandy, die Klausel in die Verträge

auslöst, ist erst einmal nicht verkehrt. Eine

Die Fragen stellte Sascha Westphal.


SOPRO

VON TIAGO RODRIGUES / TEATRO NACIONAL D.MARIA II

7. UND 8. JUNI THEATER AN DER WIEN

Wiener Festwochen 10. Mai – 16. Juni 2019 www.festwochen.at #festwochen2019 © Filipe Ferreira


DAS THEATER FESTIVAL

26. April – 5. Mai 2019


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