TdZ 4/2023 – Freie Szene

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Theater der Zeit

40. Heidelberger Stückemarkt

Theater der Zeit Freie Szene

28.4.— 7.5.2023

Mit

Christian Martin „Zinnwald“

Isabel Lewis Jenny Erpenbeck Markus Fennert Barbara Ehnes Knut Klaßen René Heinersdorff Christian Martin Tamás Jászay Tuǧsal Moǧul

Das Theater Festival

April 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de

April 2023

Gastland Schweden

Occasions

Ereignisse im Raum


RADIKAL JUNG DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE 27 APRIL BIS 5 MAI 2023

volkstheater DREI URAUFFÜHRUNGEN in der Langen Nacht der Autor:innen am 30. April

DEM MARDER DIE TAUBE von Caren Jeß

RADICAL HOPE – EYE TO EYE von Stef Van Looveren

SISTAS!

GAIA AM DEUTSCHEN THEATER (GÖ)

Regie: Isabelle Redfern Glossy Pain / Volksbühne Berlin

von Nele Stuhler

Regie: Annalisa Engheben Schauspielhaus Hamburg

VERFÜHRUNG

DSCHINNS

von Lukas Bärfuss

ZEHN GASTSPIELE Marco Damghani Rainald Goetz Elfriede Jelinek Caren Jeß Ariane Koch Lasse Koch Jan Koslowski Kim de L’Horizon Thomas Melle Sasha Marianna Salzmann Nele Stuhler Artwork: Esra Gülmen

ZWIEGESPRÄCH

Regie: Rieke Süßkow, Burgtheater Wien

zu Gast: Schauspiel Köln / Düsseldorfer Schauspielhaus Schauspielhaus Zürich Thalia Theater Hamburg Theater Basel Schauspiel Frankfurt Pfalztheater Kaiserslautern Theater Heidelberg Bühnen Bern Schauspiel Leipzig

Mit freundlicher Unterstützung:

deutschestheater.de

DAS EREIGNIS

Regie: Selen Kara Nationaltheater Mannheim

ODYSSEE

Regie: Stas Zhyrkov Düsseldorfer Schauspielhaus

GONDELGSCHICHTEN Institut für Medien, Politik & Theater Tiroler Landestheater Innsbruck

MEIN LEBEN IN ASPIK Regie: Friederike Drews Deutsches Theater Berlin

DER MEISTER UND MARGARITA Regie: Luise Voigt Nationaltheater Weimar

THE DAN DAW SHOW von Dan Daw

GRM. BRAINFUCK Regie: Dennis Duszczak Theater Dortmund

8 1/2 MILLIONEN Regie: Mathias Spaan Münchner Volkstheater

Woyzeck

Regie: Jan Friedrich, Theater Magdeburg

KARTEN 089.523 46 55 www.münchner-volkstheater.de


Theater der Zeit Editorial

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Foto Rolf Arnold/ Schauspiel Leipzig

ie freie Szene, diese zweite Säule der deutschsprachigen Theaterlandschaft, ist das Thema dieses Heftes. Von der Pandemie und ihren Folgen noch härter betroffen als die Theater in staatlicher und kommunaler Trägerschaft, bekommt die Diskussion um ihre Förderung in Deutschland eine neue Dringlichkeit, wie der Dramaturg und Experte Henning Fülle schreibt. Die Post-Corona-Perspektive bildet aber nur einen Teil dieser Diskussion, die letztlich zu neuen förderpolitischen Entscheidungen führen will. Denn in den letzten zwanzig Jahren haben sich die Produktionsverhältnisse verändert. Die einst einzeln und frei produzierenden Gruppen – Autonomie galt ihnen als höchster Wert – hängen heute oft an den größeren organisatorischen, finanziellen und kuratorischen Zusammenhängen von koproduzierenden Festivals und Produktionshäusern. Eine durchaus ambivalente Entwicklung. In Thüringen wird ein solches Produktionshaus gerade geplant, und unser Thüringen-Redakteur Michael Helbing weiß, warum dafür noch nicht einmal der Standort feststeht. Stefan Keim stellt die inzwischen sehr ausdifferenzierte Programmarbeit des Mülheimer

Theater der Zeit 4 / 2023

Ringlokschuppens vor, Elisabeth Maier das mit dem Faust-Theaterpreis ausgezeichnete Schaudepot in Stuttgart. In Ungarn geht es indes um die Existenz der freien Szene, deren Protagonist:innen wie Árpád Schilling oder Béla Pintér einst das internationale Theateraushängeschild des Landes waren. Mit der kulturpolitischen Ausrichtung der Regierung von Viktor Orbán ab 2010 wurde die besondere Bedeutung der Freien in Abrede gestellt und man setzte sie vor allem finanziell unter Druck. Gleichwohl rückten neue Talente nach wie der inzwischen auch international viel beachtete Kristóf Kelemen und – wie anderswo auch – neue Kollektive. Für November ist die erste Post-Corona-Ausgabe von Dunapart geplant, dem frei organisierten Budapester Festival für Tanz und Theater, das dann der diesjährigen internationalen Theaterolympiade in Budapest gegenüberstehen wird. Tamás Jászay betrachtet in seinem Beitrag die Verhältnisse in Ungarn kritisch. Im Kunstinsert stellt Ute MüllerTischler die US-amerikanische Künstlerin Isabel Lewis vor, die in ihren „Occasions“ Performance und Partizipation verbindet und jüngst am Schauspiel Leipzig neue Erfahrungsräume eröffnete. Es sind nicht nur Gelegenheiten für Ereignisse, die der von Lewis selbst für ihre Arbeiten geprägte Begriff meint, sondern ganzheitliche Erfahrungen – also im erweiterten Sinn auch Theater. Die umfangreiche Online-Erweiterung dieses Hefts finden Sie unter tdz.de. T Nathalie Eckstein

Thomas Irmer

„Total Romance: Partial Repair“ von Isabel Lewis, Schauspiel Leipzig

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Theater der Zeit

Thema Freie Szene 12 Essay Und jetzt, freie Szene? Die zweite Säule der deutschen Theaterlandschaft braucht eine umfassende Neudiskussion des gesamten Fördersystems Von Henning Fülle

18 Nordrhein-Westfalen Das umarmende Haus Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim entstand als soziokulturelles Zentrum und ist heute Heimat der darstellenden Künste im Ruhrgebiet Von Stefan Keim

22 Thüringen Angewandte Strukturpolitik Wie Emma Wörtmann und Kathrin Schremb ein Produktionshaus der freien Szene in Thüringen planen Von Michael Helbing

24 Porträt Stadtraum-Theater in der alten Fliesenlegerwerkstatt Als Genre-Springer erweitern Bernhard Herbordt und Melanie Mohren mit ihrem Schaudepot in Stuttgart den Kultur­begriff Von Elisabeth Maier Isabel Lewis. Im Kunstinsert werden ihre Arbeiten in Zürich und Leipzig vorgestellt.

Weitere Texte zur freien Szene finden Sie als eigenständige Rubrik unter tdz.de/freie-szene

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Foto links oben Lutz Edelhoff, unten Joanna Seitz, rechts oben andreiuc88 – stock.adobe.com, unten Martin Agryroglo

Markus Fennert im Ensemble „Viel Lärm um Nichts“ von William Shakespeare, Regie Fabian Hagedorn, Sommerkömodie Erfurt


Inhalt 4 / 2023

Akteure 28 Porträt Der Menschenfreund Aus dem Schauspieler Markus Fennert wurde ein Komödiant am Regiepult Von Michael Helbing

34 Kunstinsert Erweiterung des Menschlichen Die Künstlerin Isabel Lewis inszeniert Räume als Organismen, in Zürich und am Schauspiel Leipzig Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

41 Nachruf „Wir hatten Wurzeln, gegen den Wind“ Zum Tode des Regisseurs und Schauspielers Friedo Solter Von Hans-Dieter Schütt

Stück 42 Stückgespräch Das Theater träumt nicht mehr

Diskurs & Analyse

Christian Martin und Generalintendant Dirk Löschner vom Theater Zwickau-Plauen über die Uraufführung von „Zinnwald“ im Gespräch mit Michael Bartsch

68 Neustart Nachhaltig nachspielen

45 Stück „Zinnwald“

Der Neustart in Regensburg unter Schauspieldirektorin Antje Thoms Von Christoph Leibold

72 Serie Warum wir das Theater brauchen #03 Grundbedürfnis Fantasie Von René Heinersdorff

Von Christian Martin

Magazin 4 Bericht Zirkulare Bühnen Von Knut Klaßen

Report 76 Ungarn Zwischen zwei Realitäten Die Situation der in Ungarn besonders wichtigen freien Szene wird sich weiter verschlechtern Von Tamás Jászay

80 Festival Gastspiel der Geister Das Berliner Hebbel am Ufer probiert ein Festival über die Verknüpfungen von Magie und Digitalität Von Nathalie Eckstein

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Stefan Keim, Michael Helbing, Michael Bartsch und Thomas Irmer

8 Kolumne Einfach Theater Von Jenny Erpenbeck

84 Buch Anpfiff auf der Bühne Von Michael Helbing

85 Buch Solche Träume haben Folgen Von Iven Yorick Fenker

86 Brecht-Tage Einfachheit oder artistische Montage Von Thomas Wieck

88 Was macht das Theater, Tuğsal Moğul? Im Gespräch mit Stefan Keim

1 Editorial 82 Verlags-Ankündigungen 87 Autor:innen & Impressum 87 Vorschau

„Fantasmagoria“ von Philippe Quesne im Rahmen des Festivals Geister, Dschinns & Avatare im HAU, Berlin

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Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: Double – Magazin für Puppen-, Figurenund Objekt­theater

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Magazin Bericht

Ressource Bühnenbild Zirkulare Bühnen am Beispiel von Barbara Ehnes und Eva Lochner Von Knut Klaßen

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Nachhaltig am Theater zu produzieren rückt nicht zuletzt durch den Fonds Zero der Bundeskulturstiftung in den Fokus. Dabei ist der Begriff Nachhaltigkeit so dehnbar, dass er kaum die notwendige Herangehensweise beschreibt. Er wurde in der Forstwirtschaft geprägt und meint, den Status quo zu erhalten. Das können wir uns aber nicht mehr leisten, wir brauchen eine sozial-ökologische Transformation in Richtung Schonen. Schon seit Längerem arbeitet Barbara Ehnes, Bühnenbildnerin, Regisseurin und Professorin an der Hochschule für Bildende Künste (HfBK) Dresden, an Ideen, wie Theater zu Laboren des zirkularen Denkens werden können. Sie sind ideale Forschungsorte, befinden sich doch verschiedene Gewerke in dichter Verzahnung in einem Haus. Es benötigt nur eine kleine Zelle von Mitarbeiter:innen, die Fragen stellen: Woher kommt unser Material? Wie verbinden wir Materialien reversibel? Wie vermeiden wir Verbund? Wie müsste ein modulares, wiederverwendbares Hinterkonstruktionssystem aussehen? Gibt es neue Materialien, die selbst wachsen, cool aussehen, kompostierbar sind? Können wir auch Zeit zur Demontage einplanen? Zu jeder Montagehalle kommt jetzt auch eine Demontagehalle, sagt Nadia Fistarol, Bühnenbildnerin und Professorin an

der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK). Barbara Ehnes und Nadia Fistarol haben im Zusammenhang ihrer Hochschulen StuFF gegründet – ein Open-Source-Projekt –, mit dem Ziel, gemeinsam mit engagierten Theaterschaffenden ein vermehrt ökologisches und nachhaltiges Denken, Forschen und Handeln im Theater zu erwirken. Für das Stück „Solastalgia“, Text und Regie Thomas Köck, eine Koproduktion von Schauspiel Frankfurt und Kunstfest Weimar 2022, haben Barbara Ehnes und ihr Team im Frankfurter Theater Myzel wachsen lassen. In einem provisorischen Wärmeraum wurden über Wochen Platten wie Pflanzen gezüchtet. Sie können Styropor ersetzen, wenn sie auch nicht so bruchfest sind. Jede Platte ist ein Unikat und Wertobjekt und kann nach der letzten Vorstellung kompostiert werden. Entstanden ist eine beeindruckende halbkreisförmige Bühne, geprägt durch Myzel, in das Abdrücke von weg­ geworfenen Dingen eingewachsen sind. Um Begehbarkeit und Transportierbarkeit zu gewährleisten, entschied sich Ehnes für eine Unterkonstruk-tion aus Holz – es gilt immer abzuwägen, wie rein neue Materialien eingesetzt werden können. In den Niederlanden gibt es schon länger Myzel-Know-how, es werden Pilzpartys

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Fotos Robert Schittko

Ensemble von „Solastalgia“ von Thomas Köck in eigener Regie, Schauspiel Frankfurt, Koproduktion Kunstfest Weimar


Magazin Bericht gefeiert, bei denen auf Myzel getanzt wird, bis das Material verdichtet genug ist, um damit Taubenhäuser zu bauen. Auch davon beeinflusst entstehen Versuchszellen an verschiedenen Theatern. Die Hoffnung ist, dass der Energieverbrauch bei der Herstellung des Myzelwerkstoffs sich für den Vorteil der Kompostierbarkeit rechnet. Erstmal gilt es zu recherchieren und Edelpilzzüchterbetriebe in der Nähe zu finden, die die abgeernteten Edelpilzblöcke auf Holz- oder Heubasis zur Weiterverarbeitung zu neuen Formen abgeben. Daran arbeitet auch Eva Lochner am Theater Braunschweig, die unter anderem bei Barbara Ehnes Bühnen- und Kostümbild studiert hat, für das im Fonds Zero geförderte Stück „Funken“; Premiere ist am 26. Mai 2023. Ehnes’ Frankfurter Bühne war für die Werkstätten in Braunschweig das entscheidende Argument, es mit Myzel zu versuchen. Es wurde eine Allianz aus örtlichen Initiativen und dem Fraunhofer Institut für Holzforschung gebildet, um aus Pilzen der Gattung Glänzender Lackporling Formen nach dem Vorbild von Caspar David Friedrichs „Eismeer“ herzustellen. Durch den Fonds Zero ist es möglich, neue Materialien wissenschaftlich zur Serienreife zu bringen. Eines hat das Fraunhofer Institut schon herausgefunden: Elefantengras vom Bauernhof um die Ecke ist als organische Verbundfaser sogar CO2-negativ. Und: Höhere Festigkeit als das Myzel erreicht man mit CaseinProteinen. Wichtig ist für Eva Lochner, den Pilz nicht als Ausbeutungsressource zu behandeln, sondern alle Erkenntnisse in eine Open-Source-Struktur für ökologische Produktionstechniken einfließen zu lassen. Neben der Verwendung von Materialien mit positiv bewerteter Herkunft, Beschaffenheit und Recyclebarkeit sollte auch der CO2-Verbrauch kompensiert werden. Im Fonds Zero geförderte Kultureinrichtungen müssen mit 1 Prozent Kompensation des anfallenden CO2-Verbrauchs auskommen. Das klingt wenig, aber im Moment kostet eine Tonne CO2 nur 30 Euro. Als Beispiel: Bei einem Budget von 140.000 Euro könnten 50 Tonnen CO2 zum Beispiel durch Zertifikate kompensiert werden, bezogen auf alle Vorstellungen innerhalb von zwei Jahren. CO2-Rechner im Internet geben Auskunft darüber, was möglich ist. Wichtig bleibt: Erst Emissionen soweit wie möglich vermeiden und reduzieren, dann kompensieren. Dabei muss real CO2 aus der Atmosphäre genom-

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men und nicht nur CO2 mit Projekten für erneuerbare Energien gegengerechnet werden. Da sind wir wieder bei der Forstwirtschaft: Bäume pflanzen. Zu empfehlen sind Kompensationen mit dem Goldstandard. Das eine ist, ressourcenschonend zu produzieren, das andere, wiederzuverwerten. Das bedeutet nicht nur die Demontage zu neuem Baumaterial, sondern auch, Innovationsgeschwindigkeit und Alleinstellungsmerkmal infrage zu stellen. Warum nicht eine Bühne für viele Stücke? Bert Neumanns Praterbühnen, die eine Spielzeit durchstanden, haben es vorgemacht. Bei Gintersdorfer/Klaßen kommt seit 2010 dasselbe Alusystem in neuen Zusammenstellungen zum Einsatz. Ein Akt der Widerständigkeit gegen andauernde Innovation. Ist es nicht auch möglich, weniger in Große-Bühne-Forma-

ten zu arbeiten, sondern mehr in Richtung Weiternutzung in der Lebenswelt? Aus dem Alusystem wird der Esstisch. Oder: Wenn wir auf Gastspiel gehen, lassen wir die große Bühne weg und spielen minimal. Oft gehen die zirkularen Ideen von Bühnenbildner:innen und Theatern aus, seltener von der Regie. Die Entwicklungsarbeit bringt die autonome Entwicklung von Bühnen voran. Die Bühne hat das Gesamte im Auge wie auch die Regie. Der Diskurs mit Initiativen und wissenschaftlicher Forschung verbessert die theaterinterne Kommunikation. Alles ist aber so komplex, dass heutige Annahmen bald infrage gestellt werden. Wichtig ist der zirkulare Drive, der nicht die künstlerische Freiheit limitiert, sondern als Katalysator wirkt, um gegen determinierte und hierarchische Theaterformen zu arbeiten. T

Miriam Schiweck, Mateja Meded in „Solastalgia“ von Thomas Köck

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Magazin Kritiken

Schlosstheater Moers

Friedhof der Kuschelmenschen „#vergissmeinnicht“ von Sandra Höhne und Ulrich Greb – Inszenierung Ulrich Greb, Bühne Birgit Angele, Kostüme Jochen Hochfeld

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in geliebter Mensch stirbt. Hinterbliebene können nicht loslassen. Den Tod zu akzeptieren, fällt vielen schwer. Die Literatur ist voll davon, oft sind es Gruselgeschichten. Sandra Höhne und Ulrich Greb spielen nun am Schlosstheater Moers aktuelle technische Möglichkeiten der Unsterblichkeit durch. In „#vergissmeinnicht“ bietet ein IT-Unternehmen den Service an, alle verfügbaren Daten und Erinnerungen eines Menschen hochzuladen und in einen Androiden zu übertragen. Höhne und Greb zeigen eine Familie – Vater, Mutter und zwei Söhne. Sophia, eine Naturwissenschaftlerin, wird sterben und soll durch ein künstliches Wesen ersetzt werden. Das Leben soll weiterlaufen, der Übergang vom echten Menschen zum humanoiden Androiden kaum spürbar sein. Und nebenbei möchte Marc, der Ehemann der Versterbenden, noch ein paar nervige Kleinigkeiten korrigieren. Seine Ersatzfrau muss ja nicht so trottelig sein wie die alte und ständig Dinge fallen lassen. Das Publikum sieht auf eine doppelte Wohnung. Zwei Betten, zwei Schränke, zwei Tische, dazwischen ein transparenter Vorhang. Marc stürzt sich begeistert auf die Rekonstruktion seiner Ehefrau, während die echte tot im Bett liegt. Die Söhne allerdings kommen mit der Ersatzmama nicht gut klar und entfremden sich von ihrem Vater.

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Melanie Hultsch in „Faust – eine Tragödie“

stellwerk Weimar

Der Teufel aus dem Reclamheft „Faust – eine Tragödie“, Stückent­ wick­lung nach Johann Wolfgang von Goethe – Künstlerische Leitung Till Wiebel, Bühne Philipp Münnich und Till Wiebel

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öchst selten bekommen wir tatsächlich einen Pudel zu sehen, wenn „Faust“ gegeben wird. Im stellwerk, Weimars Jungem Theater, zeigen sie uns einen, auf der Leinwand. Und dessen Kern ist immer noch der Geist, der stets verneint. Nur heißt er nicht Mephisto; den gibt’s hier gar nicht. Er heißt: Goethes Faust – der Klassiker. Er ist der Teufel aus dem Reclamheft. „Faust – eine Tragödie“, das ist hier anders gemeint, als man meinen mag. Wir sehen: die – allerdings oft sehr lustige – Tragödie dieser Tragödie, die unter ihren Zuschreibungen fast verschwunden schien. „Ich bin“, ruft sie, „das Stöhnen der Oberstufe, deine gymnasiale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Lebensversicherung deines Deutschlehrers …“ Was es heißt, „Faust“ vom Sockel zu holen, weiß erst, wer diese Aufführung sieht: mit fünf Laien um die Zwanzig, inszeniert von Till Wiebel, wofür, nach langer Vorbereitung, drei Wochen reichen mussten. Sie reichten, was Spiel- und Sprechweisen angeht, nicht ganz. Da ist Luft nach oben. Und doch ist’s ein furioser Siebzig-MinutenAbend, der heiter und mit heiligem Ernst ein Denkmal stürzt, es dekonstruiert, nicht zertrümmert, ihm auf die Füße tritt, nicht auf ihm herumtrampelt. Wir sehen in dieser Inszenierung, die kaum Figuren kennt, aber Parodien, die eine Gruppe formt und einen Chor, eine gegenwärtige Hassliebesgeschichte. Den Weltschmerz, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Liebens, Lernens, dieses Sehen, dass wir nichts wissen können, überschreiben und überlagern sie zeitgenössisch. Auch optisch: auf einer Leinwand, die ein Vorhang ist, vor der Hauptbühne als Greenscreen mit Livekamera. So stehen sie plötzlich im Himmel und auf Weimars Gassen, so geben sie Faust, Mephisto und Goethe ihre jugend­ lichen Gesichter. Das ist gleichsam ihre Hexenküche. Ihr Kerker gilt Faust. Alter Mann verführt Minderjährige? „Der Typ gehört in den Knast, nicht ins Zentralabitur!“ Ein wütender Klagechor im Finale. Eine Abrechnung. Tabula rasa. „Faust“ wird gerichtet, gerettet aber auch. // Michael Helbing

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Foto links oben Jakob Studnar, unten stellwerk – junges theater, rechts oben Miroslaw Nowotny, unten Gianmarco Bresadola

Joanne Gläsel und Emily Klinge in „#vergissmeinnicht“

Regisseur Ulrich Greb hält die Aufführung in der Schwebe. Das Ensemble spielt psychologisch und nachvollziehbar in einer surrealen Atmosphäre. „#vergissmeinnicht“ ist nicht in erster Linie ein Gedankenspiel mit den wissenschaftlichen Möglichkeiten. Es geht im Kern um den Tod als eines der letzten Tabus, um die Unfähigkeit, das Sterben zu akzeptieren. Flankierend zur Aufführung zeigt das Schlosstheater im Pulverhaus nebenan eine kleine, berührende Ausstellung. Die spanisch-niederländische Künstlerin Vanesa Abajo Pérez hat sich von Menschen vom Niederrhein Stühle ausgeliehen, die Verstorbenen gehört haben. Wer drauf sitzt, kann mit dem Handy einen QR-Code scannen und sich Erzählungen über die Toten anhören. // Stefan Keim


Magazin Kritiken

Maja Adler und Ralph Hensel in „Widerstand“

Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Anamnese ostdeutscher Rebellionen

„Widerstand“ von Lukas Rietzschel – Regie Jan Jochymski, Ausstattung Katharina Lorenz

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igentlich lernt man in Lukas Rietzschels „Widerstand“ erst einmal ganz anständige Leute kennen, sogar einen Vater Frank, der seine todkranke Frau pflegt. Hinter einer einsamen Tür in der leeren Bühnenmitte wird sie fiktiv angeredet. Ist doch nur verständlich, dass ihm Physiotherapeutin Peggy ersatzweise Nähe und Berührung gibt, ihn sogar liebt. Und Tochter Isabell, die Ärztin aus Leipzig, ist wieder mal da und besucht „Vati“. Aber sie beobachtet sensibel, was auch der Autor allmählich einsickern lässt. Glücklich ist hier irgendwo im Ländlichen niemand, in einem der „traurigen Orte zum Vorbeifahren“. Die Brecht’schen „Verhältnisse“, sie sind nicht so. Der erst 28-jährige Rietzschel ist in seinem Element, untersucht die Verhältnisse mit viel Empathie für seine Figuren, lässt deren erschreckende Wandlung zu Widerständlern plausibel erscheinen. Man könnte ihm höchstens vorhalten, dass er darin der materialistischen These „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ folgt. Eine subjektiv möglicherweise verzerrte Wahrnehmung der Zustände wird nicht diskutiert. Es sind die manchmal klischeehaft geschilderten Attribute abgehängter Räume. Schon die weitgehend leere Bühne von Katharina Lorenz wirkt trostlos. Rechts vorn liegen die Schwellen einer demontierten Bahnlinie, Vater Frank hat auf Versiche-

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er erste große Auftritt ist ein Baum. Eine Platane, deren Blätterwerk die vorderen Reihen des Sitzhalbrunds überwölbt und Zuschauer als Raumbaum einbezieht. Jan Pappelbaum hat den Baum, den man sich irgendwo in der Nähe Berlins denken kann, mit höchster Handwerkskunst bauen lassen. Thomas Ostermeier hat dazu den Schauspielern die Aufgabe gestellt, ihre Figuren nach eigenen Vorstellungen weiterzuerzählen. Eine der schwierigsten Szenen des Stücks, nämlich wie Kostjas avantgardistisches Theaterstück gezeigt wird, entscheidet ganz wesentlich darüber, ob der Kunst- und Theaterdiskurs in dem Stück ernst zu nehmen ist. „Menschen Löwen Adler Rebhühner“ geht hier zwar eindeutig in Richtung Öko-Apokalypse, aber die Performance, die Laurenz Laufenberg in einem Nylonstrumpf-Kostüm aufführt, während Alina Vimbai Strähler als Nina in einem mit Strandmüll besetzten Kleid dasteht, wirkt in ihrer grellen Unbeholfenheit beinahe denunziatorisch. Das kann natürlich nichts werden mit der Warnkunst. Die Arkadina, die Stephanie Eidt entschlossen als Star zweiten Ranges spielt, dreht sich bei ihren höhnischen Kommentaren um Zustimmung heischend zum Publikum. Damit wird der Boden bereitet für Joachim Meyerhoff als Schriftsteller Trigorin. Meyerhoff verfügt mit jedem Wort und jeder Geste über Triple-Präsenz: der erfolgreiche Schauspieler, der zugleich ein erfolgreicher Schriftsteller ist und mit dieser Ausstattung den erfolgreichen Trigorin spielt, der die eigenen Bücher eigentlich nicht lesen würde. Sein hinreißender Auftritt verzerrt das Handlungsnetz verfehlter Liebe, mit dem Ostermeier sein Ensemble doch immer wieder zusammenbringt. Komik entsteht hier vor allem aus der sozialpsychologischen Zeichnung der Figuren. Die kann man ohne Weiteres genießen, auch als bedeutungsvollen Bruch mit der im deutschen Theater Axel Wandtke, Joachim Meyerhoff, Stephanie Eidt, immer noch gängigen Tschechow-MelanLaurenz Laufenberg und David Ruland in „Die Möwe“ cholie. // Thomas Irmer

rungsvertreter umlernen müssen, in der Nähe gibt es nur noch eine Kuhfabrik.Der Satz „Ich habe immer nur alles gehen sehen“ beschreibt die Stimmung in den von Kanzler Kohl einst so verheißenen blühenden Beitrittslandschaften. Lange lässt Regisseur Jan Jochymski die Familiengeschichte dominieren. In der Erstfassung des Stoffes als Leipziger Theaterfilm ahnte man den Gärprozess in der Hermetik das Raumes früher. Überraschend kommt die Erkenntnis, was Vater Frank und sein Freund und Polizist Steffen bei ihren Treffen in der Garage zusammenbrauen. Der Frust macht sich Luft. Ralph Hensel trifft die Facetten der Vaterfigur zwischen traditioneller Wertbindung und Anarchie gut. Dem Innenminister wird anonym ein Plastikgewehr zugeschickt. „Ich will, dass die in Panik geraten“, erklärt der liebe Vati. Und beschafft sich über Freund Steffen eine Armbrust. Sein Ziel sind nicht Ausländer oder Juden als Sündenböcke. „Wenn ich jemanden erschießen müsste, dann den Staat!“ Es regt sich im Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen auch angedeuteter Beifall nach solchen Hass­ ausbrüchen. Der Autor kennt seine Mit­ men­ schen. Eine Erklärungsvariante für die ­„Widerstand“-Rufe der Straße liefern Lukas Rietzschel und die Bautzener Inszenierung allemal. // Michael Bartsch

Schaubühne Berlin

Komik unterm Laubwerk „Die Möwe“ von Anton Tschechow – Regie Thomas Ostermeier, Bühne Jan Pappelbaum, Kostüme Nehle Balkhausen

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Einfach Theater Von Jenny Erpenbeck

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iese Kolumne, so hoffe ich, bringt mir meine Jugend zurück. Bringt mir die Zeit zurück, da das Theater mich mit Haut und Haaren gepackt hielt, da das Theater mich so begeistert hat, dass ich Theater studiert habe und selbst ans Theater gegangen bin, für einige Jahre. Für diese Kolumne, so hoffe ich, kehre ich wieder in die Zeit zurück, in der ich im Dunkel des Zuschauerraums mit aufgerissenen Augen vor dieser oder jener Bühne in Berlin oder anderswo saß. Das eigene Kind ist erwachsen, die Maskenpflicht abgeschafft, und nun will ich, mindestens jedes Vierteljahr, aber vielleicht auch wieder viel öfter, ins Theater gehen. So wie früher. Freunde sagen mir: Ich mag eigentlich nicht mehr ins Theater gehen, weil ich fürchte, dass es schlecht ist. Ich selbst habe vor drei Monaten einen Abend gesehen, der einfach großartig war, und dann habe ich vor zwei Wochen einen Abend gesehen, der weniger großartig war. Und nun ist das Vierteljahr um, und ich will ein weiteres Mal ins Theater gehen, um – vielleicht – darüber zu schreiben. Anderthalb Stunden sitze ich vor dem Bildschirm meines Computers und schlage die Spielpläne auf. Klicke auf diesen oder jenen Titel. Klicke auf diesen oder jenen Trailer. Klicke auf die Kritiken. Klicke auf die Besetzung, diesen oder jenen Schauspieler, diese oder jene Schauspielerin, diesen oder jenen Regisseur, diese oder jene Regisseurin. In dem einen Theater ist an dem Abend, an dem ich ausgehen will, eine Premiere. Ausverkauft, lese ich, und stelle mir ein ausverkauftes Haus vor, die ganze Aufregung vor und hinter der Bühne, das Parfum, den Regisseur, wie er die Aufführung extra nicht ansieht, weil das Unglück bringt, oder extra ansieht, weil er drauf pfeift, ob das Unglück bringt. Den Sekt, der in der Pause getrunken wird, und der hinterher getrunken wird, weil die Aufführung ein Erfolg war oder weil sie ein Misserfolg war. Auf einer anderen der großen Bühnen dieser Stadt findet ein Leseabend statt. Das dritte Haus, das infrage kommt, spielt ein Stück nach einem Dichter. Nun gut. In der Staatsoper wird ein Liederabend gegeben. Ich klicke weiter. Lese eine Kritik, lese „beliebig“, lese „Trubel“, lese „zwei Stunden ohne Pause“. Möchte ich für die Kritik spenden? Weil Journalismus Arbeit macht? Ja, möchte ich. Möchte ich in die Aufführung gehen? Nein. Ich klicke weiter. Ach, sieh mal einer an, denke ich, in der Deutschen Oper läuft noch immer die „Tra-

viata“ in der Regie von Götz Friedrich aus dem Jahr 1999. Anderthalb Stunden sitze ich vor dem Computer, so lange, wie es bei einer herkömmlichen Inszenierung bis zur Pause dauert – nur um herauszufinden, in welche Aufführung ich gehen möchte. Und dann sehe ich etwas vergleichsweise Bescheidenes: einen Ein-Personen-Abend am anderen Ende der Stadt, im Schlosspark Theater. Der hervorragende Peter Bause, dessen Rotschopf meine Kinder-, Jugendund junge Erwachsenen-Jahre begleitet hat, steht also noch immer auf der Bühne. Lange war er Berliner, jetzt kommt er aus Hamburg auf Gastspiel. Ein Heimspiel ist es dennoch nicht wirklich, dazu hätte er ins Maxim Gorki gehört oder in die Kammer des Deutschen Theaters, nicht nach Steglitz. Aber immerhin. Es gibt noch andere wie mich und meinen Vater, die offensichtlich aus dem Osten Berlins angereist sind und jetzt zum ersten Mal im Leben die Deckenbemalung im Foyer des ehemaligen Vergnügungsetablissements studieren, auf der zu lesen steht: „Jung gewohnt und alt getan, mit Trinken fängt das Leben an.“ Von den 50 Reihen des kleinen Theaters sind zehn voll besetzt. Knapp 200 Zuschauer. Viele grauhaarig. Und dann steht der 81-jährige Peter Bause phänomenale eineinviertel Stunden auf der Bühne mit einem Stück von Reinhold Massag, das heißt „Die Judenbank“. Das Stück ist gut. Die Dekoration ist eine Bank vor einem schwarzen Quadrat. Wir hören zu. Wir denken nach. Der Text ist nicht in Fragmente zerhackt, er ist nicht beliebig, es gibt keinen Trubel, und das Bühnengeschehen wird auch nicht parallel auf einen großen Bildschirm übertragen. Es gibt genau 1 Menschen auf 1 Bühne. Wie schön. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schrifststellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

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Fotos Schauspiel Wuppertal Creativum, Kaserne Basel Donata Ettlin, Heimathafen Neukölln Verena Eidel, Sophiensaele Berlin Laurent Paillier, Theater Rampe Mario Plachy, Theater Nestroyhof Hamakom Claudia Tondl, Projekttheater Dresden Julius Zimmermann

Magazin Kolumne


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präsentiert Kaserne Basel In der Lecture Performance YES! YES! YES! untersuchen Corinne Maier und Ntando Cele die Wirkungen von Highest Self-Industrie, Coaching- und Selbsthilfe-Kultur. kaserne-basel.ch 13.4. (Premiere), 15.4. und 16.4. Schauspiel Wuppertal DREAM ON – STADT DER TRÄUME von Anna-Elisabeth Frick & Ensemble Ein spezieller Theaterabend, an dem wir ­gemeinsam zum Traumzentrum der Stadt werden. Weitere Infos und Tickets unter schauspiel-wuppertal.de/dreamon „Festival der Träume“ 29.4. bis 7.5.

Theater Rampe, Stuttgart WER HAT NOCH LUFT ZUM ATMEN? ist eine urbane Tanzperformance von Donya Ahmadifar & Team, die StreetstyleKultur auf die Theaterbühne bringt. Im Rahmen von FREISCHWIMMEN. 22.4. (Premiere)

YES! YES! YES!

Uraufführung von „Schnee“ im Wiener Hamakom

SOPHIENSÆLE Berlin Zum vierten und letzten Mal präsentieren die Sophiensæle die beliebte Frühlingsreihe „Queer Darlings“. Die lokalen und internationalen Künstler:innen Alex Baczyński-Jenkins, Cade & MacAskill, Sorour Darabi, Astrit Ismaili und Liz Rosenfeld schaffen humorvolle, immersive, sinnliche und fantasievolle Bühnenwelten jenseits binärer Normen. 14.4. bis 23.4.

Theater Nestroyhof Hamakom, Wien Claudia Tondls „Schnee“ widmet sich poetisch und berührend der Ausgrenzung und E ­ insamkeit im Alter. Regie Ingrid Lang, Musik Lukas Lauermann hamakom.at/schnee 14.4. (Uraufführung) bis 11.5.23

ROXY Birsfelden Zwei Performer:innen folgen den Spuren moderner Über­ wachungstechnologie und rekonstruieren THE CONVERSATION ein vergessenes Ge­ von Hanisch/Methner spräch. Ist der Schutz (Basel/Berlin) der Privatsphäre privat oder eine Herausforderung für kollektives politisches Handeln? 19.4., 20 Uhr (Premiere)

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Sorour Darabi in „Natural Drama“

Heimathafen Neukölln, Berlin #Metoo, Machtmissbrauch, Korruption: FURIOS! ist eine theatralische Entdeckungs­ reise zum Thema Wut durch Mythologie, ­Soziologie, Medizin und Kulturgeschichte – und vor allem mitten durch die eigene Biografie. Ein wütendes Schauspiel mit fünf Göttinnen, Band und Seminarleiter. 26.4. und 27.4.

Projekttheater Dresden Das Tanzfestival „Inklusiv“ 2023 widmet sich dem bewussten Spiel der Identitäten. Künstler:innen mit Fusionen #2, „Elemente“. und ohne Behinde- Choreografie: Grégory Darc rung brechen die Komfortzonen auf und beleuchten die Leerstellen unserer heilen Welt. 19.4. bis 30.4.

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Theater der Zeit

Foto Peter R. Fiebig

Thema Freie Szene

Festspielhaus Hellerau Dresden

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In den letzten 25 Jahren hat sich das Feld der frei produzierenden Truppen stark gewandelt. Die Einrichtung von festen Häusern, ihre Institutionalisierung und auch Internationalisierung auf der einen Seite, die nie endende Diskussion um Förderstrukturen auf der anderen. Henning Fülle, als Theaterhistoriker Experte für dieses Thema, nimmt einen Rück- und Ausblick vor, der überraschend konstatiert, dass erst durch Corona die Zahl freier Theater bekannt wurde. Elisabeth Maier stellt das Schaudepot in Stuttgart vor, Stefan Keim untersucht den Mülheimer Ringlokschuppen und Michael Helbing die Pläne für ein Thüringer Produktionshaus. Zum Thema weiter in der Rubrik Report, wo Tamás Jászay über die neuesten Bedrängnisse der freien Szene in Ungarn berichtet und „Fantasmagoria“ von Philippe Quesne, eine internationale High-EndShow, besprochen wird.

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„NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“, Anne Tismer/Marie Schleef, 2020

Und jetzt, freie Szene? Die zweite Säule der deutschen Theaterlandschaft braucht eine umfassende Neudiskussion des gesamten Fördersystems Von Henning Fülle

„Natural Drama“ von Sorour Darabi in den Sophiensaelen

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Es ist paradox: Die drei Jahre der Pandemie, in denen Kultur wegen der Schutzmaßnahmen gegen das Virus kaum oder nur digital stattfinden konnte, haben den wirklichen Umfang und die Bedeutung der Freien Darstellenden Künste herausgestellt. Allein auf die ausgeschriebenen Hilfsprogramme für Recherche- und Prozessförderung für Einzelkünstler:innen und freie Gruppen, die von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien finanziert und vom Fonds Darstellende Künste administriert wurden, haben sich im Jahre 2020 etwas mehr als 7.100 Antragstellende beworben. Für 2021 ist diese Zahl auf etwa 8.000 angestiegen. (Die Zahlen für 2022 liegen derzeit noch nicht vor.) Damit zeigt sich näherungsweise das Feld der freien Szene, die mit einem weiten Netz freischaffender Künstler:innen über das gesamte Bundesgebiet ausgebreitet ist. Dabei entsprechen die Anteile der Anträge in den Bundesländern ungefähr dem Verhältnis zu den jeweiligen Einwohner:innenzahlen, ausgenommen Berlin als statistischer Ausreißer mit weit über 2.500 Antragsteller:innen. Das Besondere an diesen Hilfsprogrammen war, dass sie nicht auf die Produkte bezogen waren – die Premiere und ihre Erarbeitung in der „normalen“ Projektförderung; vielmehr wurden künstlerische Prozesse gefördert: Recherchen, Konzeptionierungen, Reflexionen der künstlerischen Arbeiten, also jene Arbeiten, die bei der „normalen“ Projektförderung zumeist unberücksichtigt bleiben. Damit wurde in der Pandemie auch noch einmal undiskutierbar deutlich, dass es sich bei den Freien keineswegs nur um jene „Leuchttürme“ handelt, die im Zweifel auch immer wieder von den Theateranstalten engagiert werden, womit die Behauptung von der Obsoletheit der Unterscheidung zwischen freier Szene und institutionalisiertem Theater begründet wird. Es zeigte sich, dass die Rede von der „zweiten Säule“ der deutschen Theaterlandschaft keineswegs nur eine kulturpolitische Parole ist: Die Freien bilden ein ausgedehntes System von produzierenden Künstler:innen, Spielorten, Produktionshäusern, Ausbildungsstätten, Netzwerken und Organisationen der kulturpolitischen

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Foto oben links Lea Hopp, unten links Laurent Paillier

Thema Freie Szene


Thema Freie Szene Mehr als 15 Jahre ist es her, dass im Bericht der EnqueteKommission des Bundes­ tages diese zweite Säule offizielle Anerkennung erfuhr. Ein Ritterschlag, nach mehr als vierzig Jahren am Katzen­tisch kulturpolitischer Aufmerksamkeit.

Interessenvertretung. Einen eigenständigen Theaterkosmos, der aus Selbstermächtigung und Engagement (allerdings auch durch Selbstausbeutung und systemische Überforderung) besonderes Theater für die Breite der Gesellschaft gestaltet – von Flensburg bis Lörrach, von Aachen bis Frankfurt/Oder. Inzwischen ist es mehr als 15 Jahre her, dass im Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages „deutsche Kultur“ diese zweite Säule der Theaterlandschaft höchst offizielle Anerkennung erfuhr. Das klang damals nach Ritterschlag, nach mehr als vierzig Jahren am Katzentisch kulturpolitischer Aufmerksamkeit. Neben dem zeitgenössischen Tanz und dem Kinder- und Jugendtheater, das für Westdeutschland von freien Gruppen gleichsam „erfunden“ wurde (während es in der DDR mit Berlin, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg schon seit den 1950er Jahren fünf feste Häuser ausschließlich für junges Publikum gab), schuf die freie Szene diesen Kosmos postdramatischen Theaters für die Gesellschaft der Postmoderne im Anschluss an internationale Entwicklungen der Theaterkunst, die von den Stadt- und Staatstheatern weitgehend verpasst wurden. Nach einer Phase des politischen Agitprop nach 1968/69 entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine mächtige Welle von Gründungen alternativer Gruppen. Vor allem in Workshops bei den internationalen Größen des zeitgenössischen Theaters wie Eugenio Barba, Jacques Lecoq, Yoshi Oida, des Teatr Laboratorium Jerzy Grotowskis, des Method Acting der Strasberg Studios oder auch

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bei Jango Edwards’ „Academy of Fools“, dem italienischen Straßentheater oder der niederländischen Mime-Bewegung organisierten sich die Akteur:innen Inspiration und Qualifizierung für ihre Visionen eines zeitgemäßen Theaters. Seit 1979 wurde das Projektstudium der szenischen Künste bei Hartwin Gromes und Hajo Kurzenberger an der Uni Hildesheim angeboten und ab 1982 kam das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft hinzu, wo Andrzej Wirth die Brecht’sche LehrstückÜberlieferung mit den Formen der Performancekunst verband. Aber schon bevor in den 1990er Jahren René Pollesch, Hans-Werner Kroesinger und Rimini Protokoll, Gob Squad, She She Pop, Showcase Beat Le Mot oder die Hildesheimer Mahagonis mit Uli Jäckle, Albrecht Hirche und Kathrin Krumbein oder Julia Lochte und Viola Hasselberg auf der Bildfläche erschienen, bestand längst die breite Bewegung der alternativen Theaterkultur, die vor allem aus der Kraft der Selbstermächtigung entstanden war.

Mittelvergabe Zum selbsttragenden System mit einer prekären Stabilität war diese Bewegung bereits durch die ersten spartanischen Förderungen in den westdeutschen Bundesländern und Großstädten geworden, die, ausgehend von Westberlin, in den 1980er Jahren entwickelt wurden. „Projektförderung“ lautete das Zauberwort aus dem Instrumentenkasten des Zuwendungsrechtes, mit dem die Ansprüche der zunächst in den Groß- und Universitätsstädten stetig wachsenden Szene ansatzweise befriedigt wurden, oftmals auch mit kaum verhüllten Intentionen der Befriedung. Dieses Instrument des Zuwendungsrechtes, mit dem vor allem die Schaffung neuer „Subventionstatbestände“ vermieden werden sollte, sieht engmaschige restriktive Regelungen vor: Vergabe der Mittel auf Antrag ohne Rechtsanspruch, Jährlichkeit und Produktorientierung der Förderung, Kleinteiligkeit und Verbindlichkeit der Budgetansätze mit der Verpflichtung auf „Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“, das Verbot von Investitionen und Rücklagen sowie die Subsidiari-

tät (andere Einkünfte reduzieren automatisch die Förderung der öffentlichen Hand); die umfangreichen ANBest-P (Allgemeine Nebenbestimmungen Projektförderung), die Zuwendungsempfänger nach erfolgreicher Antragstellung mit dem Bewilligungsbescheid zugesandt bekommen, atmen vor allem diesen Geist von lückenloser Kontrolle und haben schon manchem Zuwendungsempfänger schlaflose Nächte bereitet. Diese Regeln stehen der Dynamik künstlerischer Prozesse diametral entgegen: Die Finanzierung lediglich der unmittelbaren Produktionsprozesse „bis zur Premiere“, verbindliche Kostenund Finanzierungspläne und immerfort neue Anträge anstelle von verlässlicher Kontinuität sind die massivsten Einschränkungen. Und auch wenn das Prinzip der Jährlichkeit inzwischen mancherorts durch die Ermöglichung mehrjähriger „Konzept-Förderung“ aufgeweicht wird, stehen die fortgeltenden Grundregeln der Projektförderung immer noch im Widerspruch zu den Erfordernissen der Souveränität der Künstler:innen im Umgang mit den Ressourcen und der Produktionsweise von Theaterkunst. Die immense Bedeutung dieser Szene für die Theater- und Kulturlandschaft soll der jüngst im Auftrag des Fonds Darstellende Künste mit Neustart-Kultur-Mitteln produzierte Film „Dennoch! – Zur Lage der freien Künste“ von Janina Möbius zeigen, der seit Januar 2023 durch Spielstätten und Produktionshäuser tourt. In der Tat präsentiert er ein beeindruckendes Panorama der Vielfalt, Diversität und Qualität der künstlerischen Arbeiten der Freien. Es soll offenbar die bange Frage insinuiert werden, was geschehen wird, wenn die Neustart-Mittel nach dem Ende der Pandemie wegfallen. Doch diese Kampagne zur Fortführung dieser Förderprogramme greift zu kurz. Zwar ist die kulturpolitische Forderung grundsätzlich richtig, die in der Pandemie erschlossenen Fördermöglichkeiten qualitativ und quantitativ zu erhalten. Doch die von Fonds-Geschäftsführer Holger Bergmann demonstrativ vorgetragene Behauptung der „bundesweiten trans- und internationalen Bedeutung“ der Freien Darstellenden Künste, die ei-

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Der Zentralismus der NeustartProgramme war eine – sehr hilfreiche und unbedingt notwendige – Notlösung.

ner „ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung angemessenen Förderung“ bedürfe, führt in die Irre. Gerade wegen ihrer inhaltlichen, gesellschafts- und kulturpolitischen Bedeutung und ihrer inneren Verfassung brauchen die Freien Darstellenden Künste keine zentral verwaltete gesamtstaatliche Förderung, wie sie die Pandemie als – erkenntnisfördernde – Notbehelfe hervorgebracht hat. (Und im Übrigen auch kein zentrales Steuerungsmonster, wie es Thomas Schmidt in seiner Studie zum „Fasziensystem der deutschen Kulturpolitik“1 entwirft.) Mal ganz abgesehen von der grundgesetzlichen „Kulturhoheit der Länder“, die solchem Zentralismus gar keine Chance gäbe, entspräche so etwas auch „in keinster Weise“ den Arbeits- und Organisationsformen der Freien Darstellenden Künste selbst: Auch mit dem höchsten Niveau von Professionalisierung geht es ihnen immer noch vor allem um Handgemenge mit dem Publikum, Selbstermächtigung und Souveränität, was künstlerische und organisatorische Entscheidungen angeht, ohne die die Vitalitätsquellen der Freien Darstellenden Künste verschüttet würden. Der Zentralismus der Neustart-Programme war eine – sehr hilfreiche und unbedingt notwendige – Notlösung, für deren flinke und effektive Umsetzung dem Fonds und allen Beteiligten zu danken ist! Aber als Blaupause für die notwendige Etablierung auskömmlicher und angemessener Finanzierung der Freien Darstellenden Künste taugen sie aber höchstens in quantitativer Hinsicht, was

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Und der „Osten“?

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1 In: Wolfgang Schneider, Fonds Darstellende Künste e. V. (Hg.), Transformationen der Theaterlandschaft. Zur Fördersituation der Freien Darstellenden Künste in Deutschland, 2. erw. Auflage, transcript, Bielefeld 2022, S. 582–648, insbes. S. 613 ff.

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das Spektrum der Fördermöglichkeiten jenseits der Produktions-Projektförderung angeht. Es zeichnet sich aber auch schon ab, dass aus den Kreisen der selbstorganisierten, selbstermächtigten Künstlerinnen und Künstler die notwendigen Überlegungen und Lösungsansätze für die Überwindung der Pferdefüße der bisherigen Förderchaotik entwickelt werden: Über das Projekt „Weggefährten“ der Flensburger Theaterwerkstatt Pilkentafel wurde hier (TdZ 12/2022) ja schon berichtet; und nun nimmt sich auch das Bündnistreffen des flausen+-Netzwerkes im März in Hamburg der Thematik an: Nicht nur die Fragen der Archivierung und Digitalisierung der künstlerischen Tradition der Freien Darstellenden Künste, sondern auch die Weitergabe der geschaffenen Strukturen und Institutionen an nachwachsende Generationen werden zum Thema. Dazu heißt es in einer fiktiven „ungehaltenen Rede“ von Kaja Jakstat zum Ende des WeggefährtenKongresses im vergangenen November: „Die Länder und Kommunen […] werden […] ein klares Bekenntnis zu den Häusern der Freien Darstellenden Künste, vor allem zu den Spielstätten in den Flächen abgeben, eigene Haushaltstitel einrichten und insbesondere dafür sorgen, dass diese Häuser […] auch in Zukunft und für kommende Generationen erhalten werden. Das tun sie auch vor allen Dingen mit einer langfristigen Strukturförderung für die Häuser. Darüber hinaus denken sie über neue Fördertöpfe nach, die zum Beispiel 50plus-Akteur:innen adressieren oder auch Stipendien und Rechercheförderungen (speziell zu den Themen Generationenwechsel, Altern, Transformation, Erbe etc. ) bereitstellen.“ Das wär’ doch was, oder!?

Foto 1 Theater E-Werk Freiburg, 2 Theater LOFFT Leipzig, 3 Theater im Pumpenhaus Münster, 4 Mousonturm Frankfurt am Main, 5 Theater Schwere Reiter München

Es gilt ja nachgerade als ausgemacht, dass es eine freie Theaterszene in der DDR nicht gegeben habe – ja, gar nicht geben konnte, wegen der zentral gesteuerten Kulturpolitik unter der Fuchtel der SED. Doch diese ziemlich fest gefügte Beurteilung beruht vor allem darauf, dass die westdeutschen Narrative meist als allgemeingültige Normalität angenommen werden. Doch auch

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1 Foto M. Doradzillo, 2 Foto Tom Dachs, 3 Foto Hanna Neander, 4 Foto Jörg Baumann, 5 Foto Oliver Jaist

Thema Freie Szene


Erlangen Nürnberg Fürth Sc hwabach


O Himmel Blau, 2007, Uhraufführung, Zinnober

jenseits der bekannten Namen, die sich nicht so einfach in die Kulturpolitik des „sozialistischen Realismus“ einfügen ließen – Brecht, Besson, Müller, Biermann vor allem und einige mehr – hat es in der DDR weit mehr Ansätze gegeben, Alternativen zum herrschenden Theater zu entwickeln, ohne dabei gleich dem bürgerlichkapitalistischen Westen zu folgen. Diese Entwicklungen sind weitgehend noch

unerforscht, da sich meist die westlichen Erzählungen von Diktatur und Dissidenz durchgesetzt haben. Versuche kollektiver Intendanzen von Regie-Absolventen in Altenburg und Rudolstadt, die Künstlergemeinschaft Mecklenburg, Circus Lila in Gera, Mime-Gruppen in Ostberlin, Aficionados des Flamenco und viele andere sind so gut wie vergessen. Und auch unter dem Schirm des Zirkelwesens der Kultur-

„panem et circensis“ der Auto-Perforations-Artisten, HfBK Dresden 1988, Via Lewandowsky, Micha Brendel, Rainer Görß

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häuser, unter dem Dach der Kirchen und in den Samisdat-Netzwerken gab es vielfältige Initiativen, und noch dazu hatte das Laientheater in der DDR – auf dem „Bitterfelder Weg“ – ganz andere Qualitäten als im Westen. Nach der Wiedervereinigung wurde dann aber in den neuen Bundesländern sehr schnell das westdeutsche Fördersystem für freies Theater übernommen. Die Infrastruktur für alternative Produktion, die in Gestalt großer Zahlen von Kultur- und Klubhäusern durchaus vorhanden war, wurde ebenso rasch weitgehend aufgegeben. Der Verband der Theaterschaffenden – ein Berufsverband, der im Westen keine Parallele hatte – richtete nach der Wende zwar rasch in Berlin das „Büro freie Gruppen“ ein, aber das „Angebotsfestival“, das er unter dem Titel „ZUGRIFF“ im Sommer 1990 im Berliner Palast der Republik ausrichtete, muss wohl, wenn man die (sehr wohlwollende!) Berichterstattung im Fachorgan Theater der Zeit im August 1990 nachliest, ein ziemliches Desaster gewesen sein. Die Gruppen, die ihre anderen Vorstellungen von Theater sporadisch schon in der Endphase der DDR zeigen konnten – Jo Fabian Department, Zinnober, die Dresdner Auto-Perforations-Artisten – waren dort gar nicht vertreten. Wie in vielen Bereichen der Gesellschaftspolitik wurden auch im Feld des Theaters die westdeutschen Regeln durchgesetzt und übernommen, im Zusammenspiel der mehr oder weniger sanften Gewalt der „Berater“ aus dem Westen und der verbreiteten Ablehnung von Strukturen, Institutionen und Akteuren von Politik und Gesellschaft der DDR. Die Akteur:innen der freien Gruppen lernten rasch, das komplexe Antragswesen der Projektförderung zu bedienen. Die Institutionen der Kulturpolitik der DDR wurden abgelehnt und im Zweifel ausgeweidet, wie beispielsweise die Stiftung Kulturfonds, in die das Vermögen aus den „Kulturgroschen“ der DDR eingebracht wurde. Damit wurde nun der Übergang von Kunst und Künstler:innen in das westdeutsche System gefördert – bis die Stiftung 2006 aufgelöst wurde. Differenzen zwischen ästhetischen und dramatur-

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Foto links oben Theater o.N., unten Ernst Goldberg

Thema Freie Szene


Thema Freie Szene Es ist an der Zeit, die prekäre und perspektivlose Finanzierung der Freien Darstellenden Künste zu überwinden und für diesen bedeutsamen Bereich der deutschen Theaterland­schaft tragfähige institutionelle Formen zu finden.

gischen Ansätzen im Verhältnis zu Gesellschaft und Politik wurden und werden im Feld der Theater- und Kulturpolitik kaum offen ausgesprochen, geschweige denn diskutiert. Vielmehr ging es sehr schnell um das Überleben, und das hieß: Aneignung der Regelwerke der Förderung im Westen und Anpassung an deren Kriterien und damit Einebnung oder auch Ein-

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schluss des Differenzbewusstseins. Hier ist Dirk Oschmanns Essay „Wie sich der Westen den Osten erfindet“ (FAZ vom 4. Februar 2022) zuzustimmen.

Fazit Es ist an der Zeit und dringlich, die prekäre und perspektivlose Finanzierung der Freien Darstellenden Künste zu überwinden und für diesen bedeutsamen Bereich der deutschen Theaterlandschaft tragfähige institutionelle Formen zu finden – jenseits der Hilfskonstruktionen und halbherzigen Konzessionen, die die chaotische Förderlandschaft bislang prägen. Dieser Aufgabe müssen sich alle Beteiligten und Betroffenen annehmen: die Künstlerinnen und Künstler selbst, Organisationen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, die Kulturpolitik. Dabei sollten auch die Aspekte der Überlieferung der künstlerischen Traditio-

nen – also die Archiv-Frage – eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie die Übertragung von Strukturen, also Häusern und Organisationen, und ihre Sicherung. Und neben dem Generationswechsel – die Gründergeneration des freien Theaters ist dabei, abzutreten, in den „wohlverdienten“, oftmals aber auch von Altersarmut überschatteten Ruhestand – sind dabei mit Blick auf die jüngere Vergangenheit die Differenzen zwischen den ost- und den westdeutschen Traditionen aufzuarbeiten. Um die Felder der Digitalisierung, der „Zeitenwende“ in den geopolitischen Verhältnissen, die Konflikte um Rassismus, Diversität, Klassismus, Postkolonialismus, Gewaltverhältnisse, aber auch um Wokeism, Identitätspolitik oder Cancel Culture und so weiter ist mir gar nicht bange: Derlei Themen gehen die Künstlerinnen und Künstler in frei produzierenden Zusammenhängen ganz von selbst an. Das ist schließlich ihr Job. T

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Thema Freie Szene

Das umarmende Haus Der Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim entstand als soziokulturelles Zentrum und ist heute Heimat der darstellenden Künste im Ruhrgebiet Von Stefan Keim

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Ein typischer Samstagabend im Ringlokschuppen. Im kleineren Saal zeigt der Tänzer Mani Obeya aus Nigeria eine Tanzperformance über seine Biografie. Während nebenan in der großen Halle der Autor und Kabarettist Frank Goosen seinen neuen Fußballroman vorstellt. In der Pause vermischt sich das Publikum, denn es gibt nur ein Foyer. Das ist Konzept. „Wir sind ein umarmendes Haus“, sagt der künstlerische Leiter und Geschäftsführer Matthias Frense. „Wir schaffen Begegnungen und wollen damit ein bisschen der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken.“

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Foto Björn Stork

Der Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr


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Thema Freies Theater

Am Nachmittag hat es übrigens auch eine Veranstaltung gegeben. Einen Vortrag mit Diskussion zum Thema „Frau*! Leben! Freiheit!“ in arabischer, türkischer, englischer und deutscher Sprache. Veranstaltet vom Frauen-Empowerment-Netzwerk der Silent University Ruhr. Das ist ein Projekt, das ursprünglich vom Theaterfestival Impulse initiiert wurde, um Wissen von Migrant:innen öffentlich sichtbar zu machen. Der Ringlokschuppen führt es weiter. Eine außergewöhnliche Spielstätte ist dieser Ringlokschuppen Ruhr. Seit 1900 standen im riesigen halbrunden Bau bis zu

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24 Lokomotiven. Heute gibt es hier drei Veranstaltungssäle verschiedener Größe und ein vegetarisches Restaurant. Nebenan befinden sich das Schloss Broich und die Camera Obscura, ein Museum für Filmgeschichte und Fotoausstellungen, alles verbunden durch einen Park. Und die Stadthalle ist auch nicht weit. Da veranstaltet der Ringlokschuppen ein rundes Dutzend Kabarettabende mit Satirestars, die eine Menge Publikum anziehen. Hier wird ein Teil des Geldes verdient, um sich ein anspruchsvolles Programm zu leisten. Denn der Ringlokschuppen hat längst überregionale Bedeutung erlangt. Nicht nur wenn er Spielort der Mülheimer Theatertage oder des Impulse-Festivals ist. Hier haben andcompany & Co., Gintersdorfer/Klaßen, Boris Nikitin und viele andere wichtige Schritte in ihrer Entwicklung gemacht. Der Ringlokschuppen vergibt Residenzen an junge Künstler:innen und Kollektive. Dass sie danach international Karriere machen, nimmt Matthias Frense sportlich: „Die sind uns dann irgendwann entwachsen.“ Er sieht es auch als Bestätigung der Arbeit, die sein Vorgänger Holger Bergmann begonnen und die Frense fortgeführt hat. Oder wie es die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß einmal formuliert hat: „Der Schuppen ist ein Haus zum Anfangen.“ „Gastspiele zeigen wir nur noch selten“, erklärt Frense, „vor allem setzen wir auf Koproduktionen.“ Es zieht mehr Publikum an, wenn in Mülheim geprobt wird, wenn das Publikum miterlebt, wie Formsprachen entstehen. Auch weil viele Kollektive ihre Proben auf den sozialen Medien begleiten. CocoonDance, die Compagnie um die Kubanerin Maura Morales, KGI, das kainkollektiv oder Anna Kpok sind bekannte Gruppen, die regelmäßig im Ringlokschuppen arbeiten und inzwischen zur künstlerischen DNA des Hauses gehören. Das HundertPro Festival richtet sich ganz konkret an postmigrantische Künstler:innen, die bisher unbekannt sind. „Sie haben viel zu wenige Auftrittsmöglichkeiten“, sagt Frense. „Außerdem gibt es oftmals Schwierigkeiten im kryptischen Förderdschungel.“ Im Ringlokschuppen finden sie Starthilfe, egal, in welchem Format sie unterwegs sind. Von der Performance bis

In dubio von Maria Ursprung

Uraufführung 25.4.2023 in Baden

FESTIVAL FOR PLEASURE, SOLIDARITY & HEALING

5.5. – 14.5. fft-duesseldorf.de


Thema Freie Szene

zur Comedy reicht die Bandbreite. Ein Teil des Programms wird kuratiert, der Rest entsteht durch einen Open Call. „Beim ersten Mal bekamen wir 70 Einsendungen“, erzählt Matthias Frense, „heute sind es über 220.“ Auch über den Zeitraum des Festivals hinaus stellt der Ringlokschuppen Proberäume zur Verfügung und hilft, wo er kann. Es gibt auch HundertPro-Residenzen. Gerade arbeitet die aus Venezuela stammende Choreografin, Tänzerin und Übersetzerin Maria Mercedes Flores Mujica an einem Projekt über transnationale Erfahrungen.

Nicht immer stand der Ringlokschuppen so gut da wie heute. Es gab heftige Krisen und Publikumseinbrüche. Das Projekt stammt aus der soziokulturellen Bewegung und ist hier auch heute noch fest verwurzelt. Früher als andere Häuser hat sich der Schuppen auf die Darstellenden Künste spezialisiert, ohne die diskursiven Formen aus dem Auge zu verlieren. Es gab Probleme mit Partys, die früher wichtig waren und heute nur noch selten stattfinden. Eine Erhöhung der Fördermittel durch das Land Nordrhein-Westfalen half dabei, das Profil zu schärfen und sich in die heutige Richtung zu entwickeln. Viele, die vorher an der Armutsgrenze arbeiteten, bekamen feste Jobs. So entstand ein starkes Team. Das sich nun stark verändern wird. Matthias Frense und die kaufmännische Leiterin Andrea Friedrich hören im Sommer auf. Der Generationswechsel kommt in Form von Daniele G. Daude und Leonie Arnold. Daude hat als Dramaturgin bei ei-

nigen Festivals und Theatern Erfahrungen gesammelt und auch Musiktheater studiert. Ihre Pläne mag sie noch nicht verraten, der Schuppen wird sich aber wohl musikalischer präsentieren, mit Konzertperformances, vielleicht sogar einer zeitgenössischen Oper. Einen radikalen Bruch wird es allerdings nicht geben. Viele Förderungen sind mittelfristig angelegt, und die Struktur des Hauses hat sich etabliert. Nach der Pandemie strömt das Publikum noch nicht wieder in dem Maß wie früher, ist unberechenbarer, weniger im Bereich Tanz/Performance, aber in den popkulturellen Veranstaltungen. Doch das wird den Ringlokschuppen nicht im Kern erschüttern. Oft träumen Theaterleute in der Region ja von einer „Kampnagel-Fabrik für das Ruhrgebiet“. Ist das der Ringlokschuppen schon? „Das wäre eine Hybris“, sagt Matthias Frense. „Da geht es fördertechnisch um ganz andere Dimensionen.“ Aber das Potenzial ist da. T

Foto Björn Stork

Nicht immer stand der Ring­ lokschuppen so gut da wie heute. Es gab heftige Krisen und Publikumseinbrüche. Das Projekt stammt aus der soziokulturellen Bewegung.

Ein Sommerabend am Ringlokschuppen

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Thema Neue Dramatik

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Angewandte Strukturpolitik Wie Emma Wörtmann und Kathrin Schremb ein Produktionshaus der freien Szene in Thüringen planen Von Michael Helbing

Seit Jahren hört Kathrin Schremb immer wieder: Haben wir überhaupt eine freie Szene in Thüringen? Zwar hält sie die Frage für teilberechtigt. „Aber ja, wir haben eine. Die Leute sind da, sie können nur eben hier nicht arbeiten.“ Ästhetisch und in der Arbeitsweise ist das Theaterhaus Jena als allerdings öffentlich geförderte Privatbühne der Szene zuzurechnen. Außerdem gibt es das Tanztheater Erfurt. Andere Truppen sind längst wieder Geschichte: das freie eisenacher burgtheater, die Theaterscheune Teutleben oder das Theaterhaus Weimar. Auch das Neue Schauspiel Erfurt,

Emma Wörtmann und Kathrin Schremb (Thüringer Theaterverband) planen ein Produktionshaus für Thüringen

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Foto Nikolaus Stein

Thema Freie Szene


Thema Freie Szene wie das Eisenacher einst in Reaktion auf eine Spartenschließung entstanden, gibt es nicht mehr. In dessen Nachfolge erarbeitet allerdings die Sommerkomödie Erfurt weiter Freilichtinszenierungen. Ein Produktionshaus der Freien Darstellenden Künste, für das Schremb seit Jahren im, mit dem und für den Thüringer Theaterverband trommelt, würde unterdessen dafür sorgen, dass diese Szene nennenswerter und sichtbarer wird. So die Idee. Es diente demnach gewiss der Förderung zeitgenössischer Künstler, bedeutete aber eben auch angewandte Strukturpolitik. Damit vor allem hat man die aktuelle Minderheitsregierung an seiner Seite: Das Produktionshaus steht im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag von 2020. In jenem Jahr wechselte Schremb als dafür vom Land bezahlte Projektkoordinatorin zum Theaterverband, dessen Geschäftsführerin sie inzwischen geworden ist. Zuvor hatte sie das Stellwerk, ein junges Theater mit Spielstätte im Weimarer Hauptbahnhof, geleitet. Dort treten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als Amateure in einem professionellen Umfeld auf. Das Stellwerk steht, wie vergleichbare Bühnen in Erfurt, Eisenach, Gotha, Mühlhausen oder Jena, für das, was freie Szene in Thüringen (auch) bedeuten kann. Aus solchen Häusern rekrutieren sich viele der rund 250 haupt- und freiberuflichen Theatermacher, die der Verband vertritt, neben mehr als 2.000 Ehrenamtlern. Der Anteil der Profis wächst – und soll weiterwachsen auch durch eine Satzungsänderung, die „hybride Leute“ zulässt: Thüringer, die nicht mehr in Thüringen leben. Dazu gehören, nur zum Beispiel, Theatermacher wie Nadja Sühnel, Marten Flegel oder Stephan Mahn. Sie stehen stellvertretend für eine oft dauerhafte Abwanderung aus dem nominellen Freistaat, dem es an Arbeitsstrukturen mangelt. Nächstmöglicher Zufluchtsort: Leipzig. Also ein eigenes Produktionshaus. Den Bedarf bestätigte eine Erhebung des Theaterverbandes. Das Konzept steht und zumindest informell ist man bereits ans Netzwerk Freier Theater und flausen+ angeschlossen. Man braucht zwischen 2.500 und 3.200 Quadratmeter Fläche, für einen Theatersaal, Probebühnen, Ate-

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liers und Werkstätten, Seminar- und Büroräume, Lager und Technik. Das Haus soll als „Akademie“ auch der Weiterbildung dienen und als Netzwerkstelle Kooperationen und Gastspiele vermitteln helfen. Zunächst zwölf, am Ende achtzehn Stellen sind eingeplant. Das Ganze soll im Jahr 1,4 Millionen Euro kosten, institutionell vom Land gefördert. Bleibt die Standortfrage. Die Kulturstadt Weimar wäre naheliegend. Dort sind potenzielle Partner nicht weit, dort sitzt, nach vielen Rudolstädter Jahren, inzwischen auch der Theaterverband. Dorthin fließt allerdings sowieso schon viel Geld für die Kultur. Außerdem würde das ins Auge gefasste E-Werk, bislang Spielstätte des Nationaltheaters, frühestens 2030 frei. Und die Regierung, insbesondere Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke), will mit einem solchen Produktionshaus ohnehin Strukturpolitik auch in einem anderen Sinne betreiben: Dort, wo sonst nicht (mehr) viel los ist, sollte es in die Lücke springen.

Standortfrage Eisenach steht deshalb hoch im Kurs. Dem Landestheater, über Jahrzehnte geschleift, bis ein Ballett und ein Junges Schauspiel übrig blieben, fehlen Perspektiven. Über eine gemeinsame Kulturstiftung mit dem Staatstheater Meiningen verbunden, aber nicht fusioniert, sucht es nach Profil. In Jahren relativer Eigenständigkeit galt ein angedocktes Produktionshaus als Option, befördert ausgerechnet durch Brandstiftung: Das Werkstattgebäude ging 2018 in Flammen auf, jetzt geht es um dessen Sanierung nebst Anbau. Das Produktionshaus ist dabei vom Tisch, weil die Zeit drängt und der neue Doppelintendant von Meiningen und Eisenach dem bislang auch wenig abgewinnen konnte. Und das mit einigem Recht. Nirgends sonst steht ein Produktionshaus der freien Szene an der Peripherie. Eisenach fehlt auch nennenswerter Resonanzraum für zeitgenössische Theaterkunst. Gleichwohl werden dort, am Fuße der Wartburg, nun noch einmal fünf alternative Standorte geprüft, die sich zwischen einzugsfertig bis sanierungsbedürftig be-

Man braucht zwischen 2.500 und 3.200 Quadratmeter Fläche, für einen Theatersaal, Probebühnen, Ateliers und Werkstätten, Seminar- und Büroräume, Lager und Technik.

wegen. Parallel denkt man über die Landeshauptstadt Erfurt nach, die gerade einen halböffentlichen „Theatertransformationsprozess“ versucht. Jüngst kam auch Apolda ins Gespräch. Dort steht der Egon-Eiermann-Bau, ein Industriedenkmal, das die in diesem Jahr endende Internationale Bauausstellung Thüringen zum Vorzeigeobjekt entwickelte. Die Vermarktung gestaltet sich jedoch schwierig. Da käme ein Produktionshaus als gleichsam hybride Lösung gerade recht: in einer strukturschwachen Stadt, zugleich aber nahe Weimar und Jena. Materialisieren wird es sich wohl nicht mehr vor der Landtagswahl 2024. Gleichwohl arbeitet es bereits, in Form eines Residenzprogramms, das Emma Wörtmann als neue Projektkoordinatorin betreut. Dazu werden, nach einer Ausschreibung, zehn Künstler „mit Thüringen-Bezug“ eingeladen, die vorwiegend im Sommer an vier Partnerhäusern zu den Bereichen Text, Raum, Musik und interdisziplinäre Recherche arbeiten, um am Ende einen ersten Stand zu präsentieren. Darüber hinaus organisiert Wörtmann Gastspiele Thüringer Theatermacher mit außerhalb des Landes entstandenen Produktionen. Erklärtes Ziel dabei: die Honoraruntergrenze einzuhalten. Perspektivisch streitet der Verband deshalb gerade auch für einen erheblichen Aufwuchs der Projektförderung. T

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Thema Freie Szene

Stadtraum-Theater in der alten Fliesenlegerwerkstatt Als Genre-Springer erweitern Bernhard Herbordt und Melanie Mohren mit ihrem Schaudepot den Kultur­ begriff. Die Performer inszenieren Dörfer, Institutionen und Gesellschaften rund um Stuttgart Von Elisabeth Maier

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Mit roter Sprayfarbe aus der Dose markiert der Architekt Hannes Schwerdtfeger eine Spitzwegerichpflanze, die aus einer Ritze im Gehweg sprießt. In der noblen Stuttgarter Halbhöhenlage ist er mit einer Gruppe unterwegs, um sogenannte Trittpflanzen in Szene zu setzen. Den Stadtspaziergang mit dem Stuttgarter Bureau Baubotanik haben Melanie Mohren und Bernhard Herbordt initiiert. „Den Blick schärfen für die Natur im Stadtraum“ möchten Schwerdtfeger und sein Kollege Oliver Storz mit der Aktion. An einer Tankstelle bleiben zwei Passanten stehen, schließen sich der Gruppe an. Sie staunen über die blaue Blüte, die da aus dem Asphalt sprießt. „Früher hätten wir die einfach zertrampelt“, raunt eine junge Frau. „Kleine Wunder der Prärie“ heißt das interaktive Format. So macht der Performer auf die Zurückdrängung der Natur in der Stadt aufmerksam. Ein Trend, der in die Klimakatastrophe führt. Seit 2021 betreiben Herbordt und Mohren, die beiden Grenzgänger der Darstellenden Künste, ihr Schaudepot in der ehemaligen Werkstatt eines Fliesenlegers im Altenbergweg. Da unten im Stuttgar-

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Fotos Dominique Brewing

„Die Gesellschaft“, Adaption für das Schaudepot, Ausstattung: Hannes Hartmann, Leonie Mohr


Thema Freie Szene ter Kessel gibt es viele Mietwohnungen. „Unser Grundgedanke ist es, Theater ins Wohnviertel zu tragen“, bringt Herbordt das Konzept auf den Punkt. In der Mittagspause oder nach Arbeitsschluss schauen Menschen vorbei und lassen sich Videos der Produktionen zeigen, die das Kollektiv Herbordt/Mohren seit 2012 realisiert. Für ihre gesellschaftspolitischen performativen Projekte wurden die beiden in der Kategorie Genre-Springer 2022 mit dem Deutschen Theaterpreis Der Faust ausgezeichnet. Diese „große Ermutigung“ hat sie bestärkt. Beim Blick aus dem Fenster bleibt Bernhard Herbordt an den Balkonen der Geschosswohnungen auf der gegenüberliegenden Seite hängen. Da steht ein Mann, der eine Zigarette raucht. Das könnte ein potenzieller Zuschauer sein. „Wir wagen hier das Experiment eines Theaters, in dem sich jeder zu seiner eigenen Zeit seine eigene Vorstellung zusammenstellen darf“, sagt Melanie Mohren. „Man kann sich Aufzeichnungen der Performances ausleihen, wie in einer Bibliothek.“ Ob sich so ein Stammpublikum für das Theater im Kleinformat generieren lässt, das betrachtet das Kollektiv Herbordt/Mohren als Experiment. Mehr Besucher wünschen sich die zwei immer. Ihr Konzept setzt sich in kleinen Schritten durch. Vor dem Schaudepot kommen die kommunikativen Allroundkünstler mit den Nachbarn ins Gespräch. Oder sie laden mit Zetteln in den Briefkästen zu Aktionstagen ein. Der Austausch wirkt unkompliziert. In einer Zeit, da städtische Bühnen wie auch die freien Häuser angesichts angespannter kommunaler Haushalte mehr denn je beweisen müssen, dass sie gesellschaftlich relevant sind, tragen die Performer mit ihren Konzepten Kunst ins Wohnquartier. Neue Kulturräume wie das Schaudepot sind da unverzichtbar. Viele der Nachbarn aus dem Stuttgarter Süden waren noch nie im Theater. Doch sie schauen neugierig vorbei, wenn das Depot seine Pforten für Aktionen und Performances öffnet. Diesen Begriff kennt man eigentlich aus der Bildenden Kunst. Doch in den Räumen werden keine Gemälde gelagert, sondern Performances aus der Konserve.

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Dennoch steht für Herbordt/Mohren das Event im Mittelpunkt. Verführerischer Duft orientalischer Gewürze lockt Schaulustige auf den Hof, in dem früher die Wagen des Handwerksbetriebs parkten. Da zelebriert der Kochkünstler Marcus Bergmann seine kulinarischen Performances. Er gehört fest zum Kollektiv, denkt die Konzepte mit. Beim gemeinsamen Essen auf dem Werkstatthof tauscht man sich über Kunst oder über das letzte Fußballspiel aus. Dass die Stadt Stuttgart das Projekt finanziell unterstützt und ermöglicht, schafft den freien Theatermachern Spielräume. Die Kooperation mit dem Autor:innentheater Rampe ermöglicht es dem freischaffenden Kollektiv, ihre innovativen

Formate umzusetzen. Dafür brauchen sie immer mal wieder eine Bühne. Ihre bevorzugten Spielstätten aber sind der öffent­ liche und der digitale Raum. Seit ihrem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen tragen Herbordt und Mohren ihre Theaterkonzepte in den Stadtraum. Dabei geht es ihnen um Niederschwelligkeit. Mit ihrem Format „Das Festival“, das 2019 in Donau­eschingen Premiere feierte, bringen sie Menschen aller Generationen zum Musizieren. Oder sie erkunden Kunsthotels und Galerien, die es nur in Gedanken gibt. „Wir präsentieren eine Sammlung unmöglicher Programmbeiträge“, sagt Melanie Mohren über das fiktive Format. Das Ziel

Inszenierung „Die Gesellschaft“, Adaption für das Schaudepot

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Thema Freie Szene ist politisch: „Wir bleiben radikal ortsspezifisch, entwerfen andere Institutionen und Nachbarschaften.“ Stets geht es in den künstlerischen Konzepten darum, Visionen für ein neues Miteinander zu entwerfen. Radikal setzten sie dieses Konzept bereits 2015 in Michelbach an der Lücke um. Was wäre, wenn ein ganzes Dorf inszeniert würde? Mit dieser Frage forderten sie 90 Menschen heraus, das Projekt gemeinsam zu realisieren. Mit Bussen kamen die Zuschauer:innen aus Stuttgart in das 800-Seelen-Dorf bei Schwäbisch Hall. Sie schlenderten durch den Ort. In einer Scheune stellten Künstler:innen aus der Region ihre Arbeiten aus. Das Kellergewölbe des Schlosses wurde zum Kino umfunktioniert. In einem Film erzählten Menschen, warum sie gerne in Michelbach leben: „Ich hab’ so viele Sachen erlebt, gute und schlechte, ich war mit Leib und Seele Wirtin.“ Das sagt die Rentnerin Klara Dietrich, die das Deutsche Haus führte. Für das Kulturprojekt öffneten sie und die Köchin Renate Schenkel die Pforten ihrer Gaststätte noch einmal. Beim Sonntagsbraten mit Soße und Spätzle lernten die Gäste dörfliche Kultur sinnlich-kulinarisch kennen. Bei dem Projekt ging es nicht allein um das Happening. In Interviews kamen die Theatermacher:innen mit den Menschen über ihre Erfahrungen mit Flucht oder Krieg ins Gespräch. Die dunkle Seite des dörflichen Lebens, über die viele nicht gerne sprechen, thematisierten sie beherzt. So ebneten sie dem Erinnern den Weg. Die erste Michelbach-Sinfonie schrieb der Essener Komponist Gordon Kampe. Aufgeführt wurde sie von versierten Musiker:innen aus den Vereinen sowie von Menschen, die einfach mitspielten. Bevor es wieder in den Bus ging, bekam manch

Als Genre-Springer einen ebenso elitären wie überkommenen Kulturbegriff zu erweitern, prägt das künstlerische Schaffen des Kollektivs Herbordt und Mohren. 26

einer eine Trommel oder einen Topf in die Hand gedrückt und wurde zum Orchestermusiker. „Unser Wunsch ist, dass die Musik an anderen Orten nachgespielt wird“, sagt Melanie Mohren. Mit dem gemeinsamen Spiel auf dem Dorfplatz endete die besondere Landpartie.

Überalterte Dörfer Die Aufzeichnungen dieses offenen Musikprojekts sind heute im Schaudepot archiviert und dürfen nachgehört werden. Ein bebildertes Buch dokumentiert die Entwicklung. Mit der Volkstheater-Sparte des Staatstheaters Karlsruhe entwickelten die Künstler das Projekt 2019 weiter. In der Produktion „Das Dorf“ dachten Menschen über die Probleme ländlicher Kommunen nach. Da wandern junge Leute ab, weil sie keine Perspektiven für die Zukunft sehen. Die Dörfer überaltern. In gesellschaftlichen Diskursen wie diesen verorten die Künstler alle ihre Arbeiten. Mit der Eröffnung ihres Schaudepots im Juli 2021 ging für Herbordt/Mohren ein Traum in Erfüllung. Mitten in Zeiten der Corona-Isolation eine Anlaufstelle zu kreieren für Kunstschaffende und ihr Publikum, das hat die beiden gereizt. Mit einer schwarzen Theke im kleinen Foyer und einem roten Vorhang im Vorführraum setzten die Bühnenbildner:innen Leonie Mohr und Hannes Hartmann ästhetische Akzente. Die Fliesen auf dem Boden sind nur flüchtig poliert. Dass da früher eine Werkstatt war, denken sie mit. Heute hängt an der Tür allerdings kein Firmenschild mehr. „Die Institution“ hat das Performance-Kollektiv in schwarzen Lettern auf weißem Hintergrund auf eine lange Tafel drucken lassen. Das begreift Bernhard Herbordt durchaus als Provokation: „Wir sind keine starre Institu­ tion.“ Die seien aus der Zeit gefallen und schafften es längst nicht mehr, die drängenden politischen Probleme zu lösen. „Gemeinsam mit dem Publikum neue Lösungsmöglichkeiten ausprobieren“, das ist für Melanie Mohren eine spannende Perspektive. Im Schaudepot denken sie mit den Zuschauer:innen die Institution Theater neu. Jede und jeder gestaltet das Programm mit.

Mit einem Beamer und Flachbildschirmen haben die Besucher:innen nicht nur die Qual der Wahl, welche der Performances sie sehen möchten. Die digitalen Medien eröffnen dem Kollektiv auch die Chance, sich bei den unterschiedlichen Formaten mit Partner:innen in aller Welt zu vernetzen. Trotz Kontaktbeschränkungen dachten Wissenschaftler:innen und Künstler:innen mit dem Publikum in „Die Gesellschaft“ über Ideen nach, wie die Welt verbessert werden könnte. Dieses Projekt geht auf eine Idee der Max-Planck-Gesellschaft zurück: Dort werden nie realisierte Vorschläge von unabhängigen Projektmacher:innen gesammelt. Vom europäischen Mütterrat über „Formeln zur Erlangung des stabilen Weltfriedens“ reicht das schräge Spektrum. Die Akten sind unter der Aufschrift „Spinner!“ archiviert. „Warum wurden die Projekte nie realisiert?“, fragten die Mitglieder der Gesellschaft. Sie saßen an ihren Bildschirmen in Stuttgart, Berlin, Madrid oder Istanbul. Der Austausch findet in aller Regel auf Englisch statt. Doch die Kurator:innen setzen auch auf nonverbale Kommunikation. Beim gemeinsamen Würfelspiel oder beim Kamerablick in die jeweiligen Wohnzimmer lernen sich die Menschen auf einer anderen Ebene kennen. Als Genre-Springer einen ebenso elitären wie überkommenen Kulturbegriff zu erweitern, prägt das künstlerische Schaffen des Kollektivs Herbordt und Mohren. Mit Bildender Kunst, Musik und digitaler Ästhetik bauen sie Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen. Dabei fällt den kommunikativen Performer:innen der Spagat zwischen Theorie und Praxis nicht schwer. In ihrem Theaterlabor in der ehemaligen Werkstatt des Fliesenlegers machen sie nicht nur den Alltag der Menschen zum Kunstwerk. Der nachbarschaftliche Kontakt mit einem Publikum, das wenig theateraffin ist, fordert die Kunstschaffenden und ihre Diskurse heraus. Im Fokus stehen die Menschen und ihre Geschichten. T

Weitere Texte zur freien Szene finden Sie als eigenständige Rubrik unter tdz.de/freie-szene

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Akteure

Foto Ute Müller-Tischler

Ausstellungsansicht INTIM/E, Isabel Lewis & Dirk Bell, 2021/22, Galerie Wedding, Berlin

Porträt Wie aus dem Schauspieler Markus Fennert ein erfolgreicher Komödiant am Regiepult wurde Kunstinsert Isabel Lewis inszeniert in Zürich und Leipzig Räume als Organismen Nachruf Regisseur und Schauspieler Friedo Solter

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Akteure Porträt

Der Menschenfreund Wie aus dem Schauspieler Markus Fennert ein erfolgreicher Komödiant am Regiepult wurde

Foto links Christian Kern, Foto rechts Lutz Edelhoff

Von Michael Helbing

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Akteure Porträt

Ensemble „Viel Lärm um Nichts“ von William Shakespeare, Regie Fabian Hagedorn, Sommerkömodie Erfurt

Das Lustspiel als Luftspiel: „Der zerbrochne Krug“ in Rudolstadt. In der Mitte des Raumes, vor blutroten Wänden, ein aufblasbares Objekt, knallorange. Eine Hüpfburg wie eine dreistufige Maya-Pyramide. Das Ding taugt zu Statusspielen, versinnbildlicht veränderliche Hierarchien. Darauf rutscht Dorfrichter Adam – „wert, selbst vor dem Gericht, ein armer Sünder, dazustehn“ – umher, ab und aus. Der ist in Panik, zunächst innerlich; allerdings sehen wir gleich zu Beginn, wie ihn seine Dämonen hetzen: ein üblicherweise nur erzählter Albtraum, hier ins Bild gesetzt. Als er erwacht, ist sein Körper ein Krampf. Verschlagen, wie er ist, zerschlagen, wie er aussieht, verteidigt er seine Burg. Die aber wackelt – bis die Luft raus ist. „Wir hatten richtig Angst, ob das funktioniert“, erzählt Regisseur Markus Fennert über sich und Ausstatterin Teresa Monfared. „Wir bestellten das Ding, dann stand es da.“ Er wollte unbedingt jeden Anschein von dampfendem Bauerntheater vermeiden und Kleists Lustspiel in die völlige Abstraktion treiben. Er inszenierte vor allem ein sehr genaues Spiel mit der Sprache. Der Abend zeugt vom Willen zur sinnbildlichen Form, die Schauspielern zugleich Freiraum und Halt bietet. Matthias Winde wurde für Fennert zur Idealbesetzung des Adam. Nachdem die Premiere in der Pandemie ein ums andere Mal verschoben werden musste, erkrankte der allerdings später, als Abstecher bei den Partnern in Eisenach und Nordhausen/Sondershausen anstanden. Intendant Steffen Mensching übernahm die Rolle, mit höchst achtbarem Ergebnis.

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Fennert weiß, „wie sich dieser Adam fühlt und wie schwer es ist, diese Rolle zwischen Despoten und lächerlichem Mann zu spielen“. Er hat es selbst hinter sich. Fünfzehn Jahre ist das her: eine Inszenierung im Nationaltheater Weimar, die weder Fisch noch Fleisch wurde. „Wir hingen zwischen den Genres fest. Es war nicht komisch, aber auch nicht tief.“ Und er fand sich, mit 45, zu jung dafür. Seit diesem Februar betrat Markus Fennert wieder beinahe täglich Weimars Nationaltheater. Bald zehn Jahre ist es her, dass er es verließ – verlassen musste. Es war ihm, länger als geplant, stärker als erwartet, künstlerische Heimat geworden, als die er zuvor die Off-Szene empfand. Sein erstes Festengagement – und sein einziges. Dann wechselte die Intendanz, auf Stephan Märki folgte Hasko Weber. Nichtverlängerung. Für den Schauspieler, der sich stets vor „Verbeamtung“ fürchtete, war das „erstmal ein Schock“, vor allem, weil er es nicht selbst in der Hand hatte. Nun ist er gastweise zurück am Theater jener Stadt, die ihm, was damals nicht absehbar war, zur Wahlheimat wurde. Er spielt den Haushofmeister in „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss. Für seine aufwendige Inszenierung erhielt Martin G. Berger 2020 den Theaterpreis Der Faust. Doch lag sie seit der Premiere brach. Pandemie. Jetzt wird sie wieder aufgenommen. Fennert kam neu hinzu. „Es schließt sich ein Kreis. Mein erstes Stück hier war auch eine Oper.“ Mozarts „Idomeneo“, Anfang 2006. Die Regie hatte die dunkle Seite des Titelhelden ausgelagert und zum Schatten der

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Akteure Porträt

Lukas Bergmann, Cindy Weinhold und Eric Seehof in „Viel Lärm um Nichts“

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niemals mit ihren Ambitionen an einem Theater vorbeiinszenieren würden, die vielmehr den Ort und dessen Umfeld stets mitdenken. Und andererseits steht Fennert, der vornehmlich auf „Unterhaltung mit Tiefgang“ abonniert ist und, mit George Tabori, den Sinn des Theaters darin sieht, „Schauspieler zu Menschen zu machen“, doch ganz für sich allein. Cooler Typ, aber warmherzig, nachdenklich, nicht verkopft, nahbar, nicht distanzlos, frohgemut, aber ernsthaft, selbstbewusst, nicht selbstbezogen.

Nirgends mehr als zwei Stücke Kurz: ein Menschenfreund. Der demnächst den „Menschenfeind“ inszeniert. „Das ist ja nicht das klassische Sommertheaterstück, weil sehr viel darin verhandelt wird.“ Gleichwohl wird es, nach „Cyrano de Bergerac“, seine zweite Inszenierung für die Sommerkomödie Erfurt sein, die alljährlich in eine Kirchenruine lädt. Dort trat Fennert 2013, kurz nach dem Abschied vom Nationaltheater, erstmals auf: Touchstone in „Wie es euch gefällt“. Es folgten Zettel im „Sommernachtstraum“, Lady Bracknell in „Bunbury“, die er zur Matrone machte wie zuvor seine Imelda Marcos in Weimar („Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel“ von Theresia Walser), ein egozentrischer Dottore in „Diener zweier Herren“, dem es gefällt, die Welt zu verachten und zu verlachen, nur nicht sich selbst. Zuletzt mal wieder ein Finsterling: Don Juan in „Viel Lärm um nichts“. Und wieder schließt sich ein Kreis: Molières „Menschenfeind“ war Fennerts erste Inszenierung, als Zuschauer bei den

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Foto oben links Lutz Edelhoff, oben rechts Anke Neugebauer

Macht erklärt. Dunkle Seiten seiner Figuren beleuchtete Fennert in den Folgejahren immer wieder: Woyzecks Hauptmann, Tassos Antonio, Präsident von Walter. Oder der Dorfrichter Adam. Inzwischen ist er es nicht mehr so gewohnt, in ein Theater zu kommen und erstmal auf die Tagespläne zu schauen. Für Fennert drückt auch dergleichen „diese starren Hierarchien“ aus. Es macht ihm jedoch Spaß, „hier ohne dieses Angestelltengefühl frei zu arbeiten“. Damals, nach dem Abschied, war da „eine große Leere“. Heute ist er „heilfroh“ über seine Freiberuflichkeit, als Schauspieler, vor allem aber als Regisseur. Inszeniert hatte er immer wieder mal, auch in Weimar. Inzwischen aber kippte seine Künstlerbiografie regelrecht auf diese Seite. Auf der Bühne steht er heutzutage vergleichsweise selten. Seine „Neigung zum Komödiantischen“ nahm er von dort mit ans Regiepult. Es kommt ihm dabei nicht darauf an, möglichst viele Lacher zu provozieren. „Der Grund, weshalb man lacht, ist mir wichtig, nicht der Lacher selbst.“ Bestimmte Komödien fasse er deshalb nicht mal mit der Kneifzange an. Markus Fennert kann hier einerseits Pars pro Toto stehen: für Theaterleute, die sich keinen großen Namen machten, aber eben doch einen Namen, und deren Arbeit mit redlichem Handwerk zwar richtig, zugleich jedoch völlig unzureichend beschrieben wäre. Solche, die den Namen des Theaters mit Sinn und Sinnlichkeit hoch­ zuhalten verstehen gerade dort, wo die großen Scheinwerfer der Aufmerksamkeit üblicherweise vorbeileuchten. Er steht zugleich für jene gar nicht mal so häufig anzutreffenden Regisseure, die


Akteure Porträt

Fennert, der vornehmlich auf „Unterhaltung mit Tiefgang“ abonniert ist und, mit George Tabori, den Sinn des Theaters darin sieht, „Schauspieler zu Menschen zu machen“, steht ganz für sich allein. Cooler Typ, aber warmherzig.

Ulrike Gronow und Michael Goralczyk in „Tatortreiniger“ am Theater Rudolstadt, Regie Markus Fennert

Ruhrfestspielen. „Ich war sechzehn und fand es einfach furchtbar.“ Nach drei Minuten klinkte er sich innerlich aus. „Ich hatte ganz schnell das Gefühl: Das hat mit meinem Leben nichts zu tun.“ Das hübsche Mädchen neben ihm interessierte ihn viel mehr. Später hat er in der Komödie selbst zweimal gespielt, jeweils einen Grafen in München und in Weimar. Beide Male ist ihm „nichts dazu eingefallen“. Nun wird er Sechzig und wird sich was einfallen lassen, als Regisseur. Er wird’s nicht lässig angehen, mit einer gewissen Gelassenheit aber bestimmt. Bis dorthin war es ein weiter Weg. Fennert nennt sich einen absoluten Quereinsteiger: Arbeiterkind aus bildungsfernem Haushalt in Herford, abgebrochenes Studium in Marburg, Kontakt zur Studentenbühne, wo er spielte und gleich Regie führen musste. Private Schauspielschule in München. Er hat sich dann „so durchgeschlängelt“. Auf solides Handwerk konnte er sich noch nicht stützen. Auch deshalb fühlte er sich an größeren Häusern nicht sonderlich wohl: Münchner Kammerspiele, Christian Stückls Koltès-Inszenierung „Roberto Zucco“ mit Jens Harzer, später Peter Stamms „Après Solei“ am Schauspielhaus Zürich (Regie: Christiane Pohle). „Ich bin mit dem Druck und der Atmosphäre nicht zurechtgekommen. Ich hatte auch unglaublich großen Respekt vor ,großen‘ Kollegen. Da hat sich die Schulter von allein verkrampft.“ Engagements auch in Marburg oder Konstanz. Nirgends mehr als zwei Stücke. Länger wollte er sich an kein Haus binden. Bis Weimar kam, wohin ihn Stephan Märki holte, dem er viel

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zu verdanken habe. Man kannte sich vom Teamtheater in München, später war Fennert unter dessen Intendanz Gast in Potsdam. Jetzt wurde ihm Weimar zur finanziellen Rettung, nachdem die Berliner Shakespeare Company in die Pleite gerutscht war. Eigentlich wollte er nur zwei Jahre bleiben. Es wurden sieben daraus. „Man bleibt da ja auch erstmal, wenn man nicht ganz überehrgeizig ist.“ Erfurts Sommertheater wurde danach ein erster Anker. Kurz darauf die erste Regie in Rudolstadt: der Judas-Monolog von Lot Vekemans. Es folgte ein Heinz-Erhardt-Abend aus eigenem Recht: keine Kopie, keine Parodie, eine konsequente Aneignung. Komödien wie „Der Vorname“ und „Sonny Boys“. Dann „Das Original“ von Stephen Sachs: ein Abend für zwei versierte Schauspieler (Ute Schmidt und Matthias Winde), die sich lakonische Dialoge wie Bälle zuspielen und dabei unter die tragikomische Oberfläche gelangen können. Er und Rudolstadt, vierzig Kilometer südlich von Weimar, das sei „ein gutes Match“, sagt Fennert. Soeben inszenierte er dort „Der Tatortreiniger“: vier der 31 lebensklugen TV-Comedy-Episoden von Mizzi Meyer alias Ingrid Lausund. Wiederum kopiert Fennert das nicht, hat aber mit Michael Goralczyk eine adäquate Entsprechung für den politisch unkorrekten Heiko „Schotty“ Schotte zur Verfügung, den einfachen Mann aus dem Volk, der sein Herz auf der Zunge trägt, sich um Kopf und Kragen redet, aber zur Selbstreflexion fähig ist: „das Gegenteil von woke“, so Fennert, aber „ein Charmebolzen“. Ende 2021 inszenierte er die-

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Akteure Porträt

ses „Binge Watching im Kleinen“ bereits am Jungen Theater Göttingen, bis auf eine Ausnahme mit anderen Episoden; dort gibt’s demnächst eine Fortsetzung. Göttingen ist inzwischen Fennerts weitgelegenster Arbeitsort. „Ich mache nichts mehr, was nicht im Umkreis von 200 Kilometern liegt.“ Der Familie wegen. Er will seine Söhne aufwachsen sehen: neunjährige Zwillinge und ein jüngerer, der bald in die Schule kommt. „Ich bin ja ein alter Sack als Vater.“ Aber das sei inzwischen die Hauptrolle seines Lebens, die man nur leider nicht proben könne. „Das hat mein Ego ganz schön durch den Fleischwolf gedreht. Aber es hat auch die Hysterie des Theatergeschäfts sehr relativiert. Wenn das Kind krank ist, ist es eben krank.“

Emotional sehr offen Über seinen eigenen, emotional dauerabwesenden Vater hat er zuletzt viel nachgedacht. Anlass dazu bot ihm seine zweite Regiearbeit am Theater der Jungen Welt in Leipzig: Duncan Macmillans Solo „All das Schöne“, eine Lebenszwischenbilanz zur Suche nach Lebensfreude angesichts einer Mutter, die einst wiederholt versuchte, sich das Leben zu nehmen, bis es ihr gelang. Das ist ein Stück über Depressionen, kein depressives Stück. „Das Publikum“, so der Autor, „wird die ganze Zeit beteiligt sein und soll sich entspannt und sicher fühlen.“ Der Spieler, die Spielerin ist angewiesen auf die Zuschauer, die Texte und Rollen übernehmen. Den Vater zum Beispiel. Der Text braucht deshalb, so

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Fennert, „auf jeden Fall jemanden, der emotional sehr offen ist und der Angst in Lust verwandeln kann“. Auf Anna-Lena Zühlke trifft das absolut zu. Sie selbst wollte den Text machen und schlug ihn vor. Fennert hat ihn zunächst unterschätzt: „Ja, ganz geschickt geschrieben“, dachte er nur. Bei den Proben aber hat’s ihn selbst regelrecht erwischt. Mit Zühlke, flankiert vom Musiker Marco De Haunt, programmierte er eine emotionale Achterbahnfahrt: ein intensives durchlässiges Spiel mit der Gleichzeitigkeit widerstreitender Gefühle. Eine uns zugewandte und verbindliche Atmosphäre rahmt, das Bild einer erwachsenen Frau darinnen, in der ein trauriges und wütendes Mädchen wohnt, bekommt aber zusehends Risse und Flecke. Da versucht sich jemand sehr verzweifelt in Zuversicht und schreit nach Liebe. Es treibt der Schauspielerin Tränen in die Augen. Damit bleibt sie nicht allein. Denkbar, dass Fennert während der Proben gerufen haben könnte: „Weiter geht’s! Vorwärts in die Vergangenheit!“ So war es jedenfalls bei einer jener inszenierten Stadterkundungen, die er mit der Künstlerin Anke Heelemann mehrfach fürs Kunstfest Weimar und den Jenaer Kulturbetrieb erarbeitete. Er führte, lakonisch im Ton, mit subtiler Ironie, so leichtfüßige wie tiefschürfende Wanderung durch Raum und Zeit an, jenseits ausgetretener Pfade auf den Spuren der Weimarer Moderne, der Plattenbaustadt Jena-Lobeda oder des jüdischen Rechtsgelehrten Eduard Rosenthal, Vater der ersten Thüringer Verfassung. Derart eroberte sich ein Komödiant die Stadt als Bühne. T

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Foto Tom Schulze

Anna-Lena Zühlke in „All das Schöne“, Regie Markus Fennert, Theater der Jungen Welt, Leipzig


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SELIG SIND DIE HOLZKÖPFE! Eine musiktheatralische Séance um Paula Roth von Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried, Martin Bieri und Jonas Knecht

ab 1. April 2023 im UM!BAU theatersg.ch

WI N D

AUSSTELLUNG WANDELKONZERTE PERFORMANCES WORKSHOPS KLANG- UND VIDEOINSTALLATIONEN

mit Lei Ban Daniel Ott Capella De La Torre Edward B. Gordon Franziska Baumann Georg Aerni Louise Jallu Lukas Niggli Peter Conradin Zumthor Sonar Quartett Ueli Jaeggi

SC H L OSSM E D I A L E W ERD EN B ER G INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR ALTE MUSIK, NEUE MUSIK UND AUDIOVISUELLE KUNST 26. MAI – 4. JUNI 2023 SCHLOSS WERDENBERG SCHLOSSMEDIALE.CH


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„Scalable Skeletal Escalator“, 2020, Isabel Lewis mit Dirk Bell, Mo Stern, Kewin Bonono, Lara Dâmaso, The Field, Rafał Pierzyń ski, PRICE (Mathias Ringgenberg), Juliette Uzor, Marcelo Alcaide, Yolanda Zobel, LABOUR, Matthew Lutz-Kinoy und Sissel Tolaas in der Kunsthalle Zürich

Erweiterung des Menschlichen

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Fotos Andrea Ebener

Die Künstlerin Isabel Lewis inszeniert Räume als Organismen, in Zürich und am Schauspiel Leipzig. Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

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„Scalable Skeletal Escalator“, Kunsthalle Zürich

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Fotos Rolf Arnold/ Schauspiel Leipzig

„Total Romance: Partial Repair“ von Isabel Lewis, Schauspiel Leipzig

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Isabel Lewis (geb. 1981) ist eine US-amerikanische Künstlerin mit dominikanischen Wurzeln. Lewis arbeitet in den Bereichen Theater, Tanz und Musik. Sie erweiterte das Feld der zeitgenössischen Kunst um das Format der Occasions. Ihre Arbeiten waren in zahlreichen Ausstellungsorten zu sehen, unter anderem in der Tate Modern, Kunsthalle Basel, Liverpool Biennale, Serpentine Galleries, Kunsthalle Zürich sowie bei Tanz im August und auf Kampnagel. Sie ist Professorin für performative Künste an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.

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In der Kunsthalle Zürich wollten Sie mit „Scalable Skeletal Escalator“ die körperlosen Denksysteme des Westens hinterfragen. Ein längst überfälliges Anliegen, das sich mit den erstarrten institutionellen Strukturen des Kulturbetriebs in Europa auseinandersetzt. IL: Ich habe beobachtet, dass zeitgenössische kreative Praktiken und Denkweisen bestimmte Vorurteile und blinde Flecken, die wir von der europäischen Aufklärungskultur und der Moderne geerbt haben, dekonstruiert werden. Manchmal gelingt es auch, diese zu überwinden. Anscheinend leben Europas akademische, kulturelle, rechtliche und staatliche Systeme den Kater der Moderne aus. Ich beobachte zombifizierte bürokratische Systeme, die die Gewalt der Standardisierung weder angezweifelt noch infrage gestellt haben und sich mit wenigen Variationen weiter reproduzieren. Der Körper bleibt in diesen Systemen ein problematisches, überflüssiges Material, das objektiviert wird und beherrscht werden muss. Dem Körper wird also sein Ausdruck verwehrt, weil unsere bürokratischen Systeme nicht über die erkenntnistheoretischen Mittel verfügen, den Körper „real“ zu machen. Mit „real“ meine ich, dass er ein Sein hat, das über seine potenzielle Nützlichkeit hinausgeht. Körper, die lediglich als Material betrachtet werden, werden nicht als dynamische, lebendige Prozesse mit spezifischen Fähigkeiten anerkannt, und so bleibt die Interaktion mit

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Foto picture alliance/EPA-EFE | ENNIO LEANZA

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Isabel Lewis, auf der Suche nach Ihrer künstlerischen Homebase landet man bei einem Video aus der Vogelperspektive. Zu sehen ist eine Performance auf einem riesigen Platz vor einem lichtdurchfluteten Gebäude. Details sind nicht auszumachen, aber ein choreografisches Raumbild springt dem Auge entgegen wie ein Superorganismus, der sich endlos zu drehen scheint. Welche Bedeutung haben Raum und Distanz für Ihre Arbeit? IL: Distanz ist in meiner Praxis so wichtig, weil sie das ist, was gesellschaftlich, kulturell und physisch immer zwischen uns bleibt und uns so auch miteinander verbindet. Ich glaube nicht, dass Distanz etwas ist, das es zu beseitigen gilt, sondern vielmehr etwas, für das man sensibel sein muss und das man bewusst im Verhältnis zueinander steuern sollte. Ich bin nie über das grundlegende Phänomen des Sehen-und-gesehen-Werdens, des Wahrnehmen-und-wahrgenommen-Werdens hinweggekommen. Ich denke, dass ich mich zunächst zu Performance, Theater und Choreografie hingezogen fühlte, um mit diesem grundlegenden Schock des Inbeziehungsetzens fertigzuwerden. Raum und Distanz sind kompositorische Elemente in Bezug auf Zeit und Dramaturgie, die komponiert werden können, um bestimmte räumlich-zeitliche Spannungen zu erzeugen, die sich auf die körperliche Erfahrung des Publikums auswirken. Es freut mich, dass Sie das Wort „Superorganismus“ benutzen, denn ein Leitmotiv meiner künstlerischen Arbeit in den letzten Jahren war die Figur des Holobionten als eine multiorganismische Kooperation zwischen Lebewesen. Ich arbeite mit einem erweiterten Sinn für das Choreografische, um kollektive Kompositionen zu schaffen, die nicht nur durch den Körper des Performers ausgedrückt werden, sondern auch die räumlichen, zeitlichen und materiellen Beziehungen zwischen Dingen, Menschen, Geschichten, Architekturen und anderen kulturellen Codes einschließen.


Akteure Kunstinsert den Institutionen bestenfalls ein unbehaglicher Tanz, je nachdem, in welcher Position man sich ihnen gegenüber befindet. Ich habe in meiner Rolle als Künstlerin viele Erfahrungen mit Kultureinrichtungen gemacht und musste feststellen, dass der Produktionsprozess selbst ein wichtiger Ort der Vermittlung und der potenziellen und vorübergehenden Veränderung der institutionellen Arbeitsweise ist. Als Künstlerinnen und Künstler werden wir zu Gastmitgliedern dieser Institutionen und haben während unserer kurzen Verweildauer in ihnen ein gewisses Maß an Einfluss. Ich habe festgestellt, dass es möglich ist, andere Wege des Handelns und der Kommunikation zu initiieren – von der nachhaltigen Beschaffung über die Wiederverwendung von Materialien bis hin zum Umgang mit Abfall und Energieverbrauch sowie der Überarbeitung von Grafik- und Kommunikationssystemen. Da meine Arbeit grundsätzlich kollaborativ ist und die gemeinsamen Anstrengungen so vieler Menschen innerhalb und außerhalb der Institutionen sowie die Beteiligung der Öffentlichkeit erfordert, verbringe ich viel Zeit damit, an den Choreografien der Versammlung und der Sozialität zu arbeiten. Sie verwenden oft transparente Folien und Text, egal ob sie für die Bühne oder eine Ausstellung gedacht sind. Die Wände können verschoben werden und bilden immer wieder andere Perspektiven. In der Arbeit verschwimmen die Grenzen zwischen Musik machen, Schreiben, der Arbeit als Choreografin oder Tänzerin. Ist eine räumliche Differenz oder funktionale Zuordnung für die Kunstproduktion, wie wir sie institutionell erleben, überhaupt noch möglich? IL: Ja, es gibt eine Sprache der Bildschirme, der Teil- und Unterbrechungsansichten und der multiplen Perspektiven, die sich in meiner Arbeit seit vielen Jahren entwickelt hat. Außerdem spreche ich in meiner Arbeit mehrere Sinne an. Das hängt mit meinem tiefen Misstrauen gegenüber dem Sehen zusammen, wie es in der europäischen Kulturtradition gelernt und praktiziert wird. Ich versuche so oft wie möglich, für alle Beteiligten, einschließlich des Publikums, Bedingungen zu schaffen, die eine Sensibilität für die körperliche Situation ermöglichen. Diese Bedingungen machen es unmöglich, eine objektive Distanz einzunehmen und sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Als Gast innerhalb des Werks muss man akzeptieren, dass die eigene Erfahrung von den Kontingenzen der eigenen Erfahrung in Zeit und Raum abhängt. Wenn du dich durch das Werk bewegst, sammelst du neue Erfahrungen, verlierst aber das, was sich in den Räumen entwickelt, die du hinter dir gelassen hast. In dieser und vielleicht auch in meiner künstlerischen Praxis gibt es eine Reihe von Abwesenheiten, die wichtig sind, um zu verstehen, was entsteht. Ich hoffe, es klingt nicht zu banal, wenn ich sage, dass es beim Schreiben die Abwesenheit von Bewegung gibt, beim Musizieren die Abwesenheit von Stille im Raum, beim Choreografieren von Bewegung die Abwesenheit von linearem Denken, beim Tanzen die Abwesenheit von standardisierten Bewegungscodes im urbanen Raum. Ich schätze, dass ich diese Formen der kreativen Praxis nicht wirklich als Unterscheidungen wahrnehme, die eine Voraussetzung für das Verwischen wären. Das soll aber nicht heißen, dass Handwerk

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und Spezialisierung für mich nicht relevant sind. Für mich sind das verschiedene Arten, die Wertschätzung ästhetischer Erfahrung in Raum und Zeit zu gestalten – im Wesentlichen choreografische Anliegen. Für Ihre Residency am Schauspiel Leipzig im letzten Jahr haben Sie „Total Romance: Partial Repair“ geschaffen und dabei die ästhetischen Techniken des Barocks und ihr subversives Potenzial, hinter die Grenzen des Realen zu blicken, erkundet. Eine magische Idee in dieser Zeit der unendlichen Dunkelheit. IL: Dirk Bell, mit dem ich für die Raumkonzepte zusammenarbeite, sagte einmal zu mir: „Jede Romanze ist eine Reparatur“, und ich fügte hinzu: „bestenfalls teilweise“. So fing es an. „Total Romance: Partial Repair“ ist ein Teil eines längeren Prozesses, den Dirk Bell schon seit Jahren verfolgt. Er und ich haben über die Verwendung von Ornamenten in der Kunst, der Architektur, der Kleidung und anderen Formen von Körper- und Raumschmuck diskutiert und geforscht. Als Lebenspartner sind die verschiedenen Schattierungen der Liebe „und ihre Unzufriedenheiten“ auch Teil unseres Prozesses. Während unserer Arbeit in Leipzig nutzten wir die Gelegenheit, uns mit der barocken Vergangenheit Leipzigs in seiner Architektur und Musik und ganz allgemein mit der deutschen Barocktradition zu beschäftigen. Unser Prozess ist tangential und intuitiv, aber innerhalb eines zweieinhalbmonatigen Aufenthalts in Leipzig waren wir in der Lage, eine spezifische Beziehung zu den barocken Methoden herzustellen. Wir erkannten in ihnen unsere eigenen zeitgenössischen künstlerischen und politischen Wünsche, die Sinne anzusprechen und affektive, gefühlte Räume zu schaffen. Unser Gespräch drehte sich um eine Neuinterpretation und eine Art Demokratisierung der barocken Theaterbühnen. Anstatt das Theater in seiner modernen Form zu verwenden, die auf einen einzigen privilegierten Blickwinkel ausgerichtet ist, wollten wir eine materielle szenografische Geste schaffen, die ständig wechselnde Blickwinkel erzeugt. Unser erster Schritt war, die rollenden Aluminiumwände in rechteckigen Formen zu gestalten, die eine ovale Form einrahmen. Wir übersetzten die barocken Strategien der Rahmung und Kombination verschiedener architektonischer Räume, um Dynamik zu erzeugen und Emotionen zu entfachen, in ein bewegliches System aus transparenten und halbtransparenten Oberflächen, die die Darsteller selbst aktivieren und verschieben konnten. Dirk entwickelte eine besondere Gestaltungsmethode, durch die eine dynamische, strukturierte Oberfläche entsteht, die mit dem Licht interagiert und als Malerei aber auch als Bildschirm gelesen werden kann. Dieser Materialprozess kam mit meiner Beschäftigung mit Sylvia Wynters Forschung über globale Karnevalstraditionen zusammen, die sie als Beweis für ein gemeinsames vorchristliches Kulturerbe der Menschheit betrachtet. Ihr politisches Projekt, mit dem ich mich sehr identifiziere, fordert uns auf, die Gattung des Menschlichen zu erweitern und in den gemeinsamen Traditionen des Karnevals ein vorläufiges „Wir“ zu erkennen, auf das wir uns beziehen können, wenn wir an der Praxis des Menschseins und der Menschwerdung arbeiten. T

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Akteure Nachruf

F R I E D O S O LT E R

Foto Marlies Kross

„Wir hatten Wurzeln, gegen den Wind“ Zum Tode des Regisseurs und Schauspielers Friedo Solter Von Hans-Dieter Schütt

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Die Stimme Klang, der Körper Kraft. Dieser barocke Kerl kam uns entgegen aus vollem Fleisch. Und lange Zeit umschwärzte das Gesicht ein Bart. Auch die Zigarre passte ins Bild. Friedo Solter war der erste Mackie Messer der DDR, war Fiesco, Wilhelm Tell, der Fieskönig Claudius im „Hamlet“, im Fernsehen ein behäbig schwelgender Danton, ein listiger Lügner Luka im „Nachtasyl“. Studierenden sowie BühnenNeulingen war er lange Zeit ein Lehrer mit Nachhall, er legte Talente frei, aber er setzte sie auch Belastungen und Prüfungen aus. Geboren wurde Solter 1932 in Reppen, dem heutigen polnischen Rzepin. Sohn einer Näherin und eines kaufmännischen Angestellten. Der Abiturient studierte Schauspiel, ging nach Senftenberg und Meiningen. Dann, über vierzig Jahre, Deutsches Theater Berlin. Mit Hans-Diether Mewes inszenierte er „Unterwegs“, den Schauspielstart für Dieter Mann und Christine Schorn. Legendär der „Nathan“ mit Wolfgang Heinz in der Titelrolle, der musikalisch-komödiantische Dauerbrenner „Zwei Krawatten“, wieder mit Dieter Mann, Majakowskis Satire „Schwitzbad“ mit Dieter Franke, „Wallenstein“ mit Eberhard Esche. Als Schauspieler beeindruckte er gleichsam als Pavarotti des gesprochenen, geschmeckten, verehrten, verstehen­ den, verhüllenden wie verheißenden Wortes. Auch als Regisseur blieb er stets ein Elementarier des literaturbezogenen Theaters, den an Stücken die dialogische Bindungsstärke reizte. Er entwickelte seine Inszenierungen gern aus handfester Robustheit: Die Dinge wissen, wohin sie zu laufen haben, aber Realität bleibt doch trotzdem reine Irrwegfreude. In den besten Arbeiten spielten sozialistisches Weltbild und träumerische Weltoffenheit klug und geradlinig eine Doppelrolle: „Torquato Tasso“, „Egmont“, „Der Stellvertreter“, „König Lear“, „Peer Gynt“, „Philotas“. 1983, nach langer Rekonstruktion, sollte das DT in Anwesenheit Erich Honeckers wiedereröffnet werden. Friedo Solter inszenierte „Faust II“. Bühnenbild: Gero Troike, Masken: Wolfgang Utzt, Titelrolle:

Alexander Lang, Mephisto: Dieter Mann. Eine Großmeisterversammlung. Aber: Ein Knäuel aus theatergigantischem Anspruch, bautechnischen Überforderungen, künstlerischen wie organisatorischen Zerwürfnissen, protokollarischer Ängstlichkeit führte zum Abbruch. Es ist das große Fehl in Solters künstlerischer Biografie. Aber just das Unerschwingliche kann groß Zeugnis ablegen – von einem staunenswert extravaganten, eigensinnigen Überspannungswillen. Als Solter Anfang des neuen Jahrtausends das Deutsche Theater verließ, muss er sich wohl fremd gefühlt haben. „Wir hatten Wurzeln, und mit Wurzeln stemmt man sich gegen den Wind. Die Wurzeln sind gerodet.“ Bei Wolfgang Langhoff, in den Fünfzigern, hatte für ihn alles begonnen, bei Intendant Thomas­ Langhoff und dessen Nachwende-Neugier auf andere Leute aus anderen Denkwelten endete ihm alles. Und so hat dieser Künstler erfahren, wie schnell ein Lebenswerk an Präsenz verlieren kann, wenn die Verhältnisse wechseln. Was Solter in der DDR auf besondere Weise­ mit verkörpert hatte – es musste nun gleichsam zur vagen Eignungsprüfung für den Theaterbetrieb in bundesrepublikanischer Zeit antreten. So jedenfalls empfand es der Regisseur; er war keiner, der gern zum Rapport antritt. Aber Resignation, die sehr nahe lag, kehrte er in neue Arbeit um: Regie in Schwäbisch Hall, Ulm, Cottbus, Göttingen, Meiningen. Er blieb sich treu: Er verabscheute die schnelle Reizbarkeit durch Aktualität, die Nutzung von alten Texten für Formstürzerei. Er war ein stolzer Vererber, mit seiner Kunst einprägsam, manchmal trotzig betulich, vorgeschaltet den Verderbern. Und weiterhin barock als Widerpart. In einem Interview 1998 sagte er mir: „Es sollten uns nicht die Worte Freiheit, Freiheit, Freiheit, Freiheit in eine boutiquenhafte Illusion bringen. Denn Freiheit kann auch heißen: Der freie Fuchs unter freien Hühnern.“ Mitte Februar ist Friedo Solter im Alter von 90 Jahren auf Usedom gestorben. T

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Stück Gespräch Lieber Christian Martin, viel zu lang sind Sie an deutschen Bühnen kaum noch wahrgenommen worden, haben aber gleichwohl weiter geschrieben. Im Verlag Theater der Zeit ist 2015 beispielsweise die „Vogtländische Trilogie“ erschienen. 2021 erschien „War nix is nix wird nix“, ein Karl-Valentin-Epilog. Bereitet es Ihnen Genugtuung, nun, am 22. April am Vogtlandtheater in Plauen endlich mit einem Auftragswerk wieder aufgeführt zu werden? CM: Auf alle Fälle, weil jahrelang wenig passiert ist mit meinen Texten. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich nicht irgendwelchen Moden unterliege, sondern so in der Traditions­ linie Büchner-Horvath-Kroetz schreibe. Das versuche ich schon seit 1983. 1995 habe ich dann aus meiner Akte erfahren, dass die Stasi Theater angewiesen hatte, meine Stücke nicht zu spielen. Erst ab 1990 folgten dicht etwa 30 Uraufführungen, darunter auch Märchen. Inzwischen könnte ich als ein „Dramatiker-Oldie“ gelten. Durch die sehr gute Bekanntschaft mit Dirk Löschner habe ich einen Partner mit gemeinsamer Wellenlänge gefunden.

Das Theater träumt nicht mehr Christian Martin und Generalintendant Dirk Löschner vom Theater Zwickau-Plauen über die Uraufführung von „Zinnwald“ im Gespräch mit Michael Bartsch

Wie kam es zu diesem Auftragswerk, lieber Dirk Löschner? Dies ist ja Ihre erste Spielzeit als Intendant in Zwickau-Plauen. DL: Es lief weniger hektisch als damals bei Roland May und ich hatte Zeit, mich mit der Geschichte der Theater in der Region, auch mit den immer wieder betonten Unterschieden zwischen Westsachsen und dem Vogtland vertraut zu machen. Dabei hörte ich von einem Dramatiker im Vogtland, vor der Haustür! Mir war Christian Martin bis dahin weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn über den Weg gelaufen. Das ist ja wie ein Geschenk für einen beginnenden Intendanten, dachte ich, als ich seine Stücke gelesen hatte! Und er hat über Jahrzehnte immer hier gelebt, die Zeitenwechsel erlebt und erlitten und begleitet! „Zinnwald“ lag also bei Ihrer ersten Begegnung vor zwei Jahren noch nicht vor? DL: Christian Martin brachte eine Idee mit, aber es fehlte noch ein Anlass. Ich wollte keine Alibi-Uraufführung auf der Kleinen Bühne. Solche zeitgenössische Dramatik gehört für mich mit dem Ensemble ins Große Haus. So haben wir uns kennengelernt und verständigt.

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Vogtländische Wälder

Es werden doch händeringend Dramatiker und Dramatikerinnen gesucht, die etwas zur Zeit schreiben können. Warum nicht auch gestandene Kräfte wie Sie? Nicht im Mainstream zu schwingen müsste doch gerade eine Empfehlung sein? CM: Müsste. Ich unterwerfe mich nicht irgendwelchen Moden wie Textflächen etc. Nichts ist so alt wie die Mode. Ich habe zum Beispiel immer schon gegen Rechtsradikalismus geschrieben, ob in „Bunker“, „Fighters“, „Formel Einzz“ oder „Abendglühn“. Es geht dabei auch um die SSH, die „Sturmstaffel Hundsgrün“. Der Name des vogtländischen Hundsgrün ist eine Metapher für die auf den Hund gekommene Welt, meiner „Trilogie der verlorenen Sehnsucht“. Der damalige Intendant Roland May hatte zwar den Mittelteil „Schneemond“ inszeniert, die Uraufführung von „Abendglühn“ in Plauen fand aber leider nicht statt. Im Text wird der Narr Dalli verbrannt, weil er nicht mehr gebraucht wird, wie vielleicht auch der originäre Dramatiker.


Stück Gespräch „Es gibt diese ländliche Idylle nicht. Die poetische Idee ist Zinnwald als Versuch einer Utopie, die es nicht mehr gibt. Das sage ich als melancholischer Fatalist.“

Wahrscheinlich wird die Premiere am 22. April ein Heimspiel für Sie, Herr Martin. Aber „Zinnwald“ ist kein vogtländisches Stück, eher ein exemplarischer Ausschnitt aus einer desillusionierten Nachwende-DDR. „Ein Stück Volk“, wie es im Untertitel heißt. Und Zinnwald ist ein ebenso realer wie fiktiver Ort. CM: Ich bin seit meiner Geburt im Elternhaus verwurzelt, das ich heute noch bewohne. Und ich bin vertraut mit der Sprache. Dieses Idiom wird im Stück nur angedeutet. CM: Ich schreibe ja keine volkstümlichen Stücke, eher im Kunstdialekt. Und Zinnwald ist einerseits ein realer Grenzort, andererseits eine Metapher wie das reale Hundsgrün zwischen Oelsnitz und Adorf. Aber ich brauche auch die konkreten Geschichten aus der Gegend, aus dem sogenannten Volk. Eine Figurengruppe aus diesem Volk begleite ich auf einem Stück ihres Weges. Dieser Weg ist einer des Werteverfalls im Turbokapitalismus, der Erosion auch zwischenmenschlicher Beziehungen. War diese Intention abgesprochen? DL: Das ist ganz und gar Christian Martins Werk, aber wir haben in bestimmten Etappen immer wieder miteinander gesprochen. Zum Beispiel über die Konkretisierung auf das Jahr 2002, als der Aufbruchsgeist der Wendezeit verflogen, aber auch einige Wirrnisse überwunden waren. Zugleich wurde damals etabliert, was uns bis heute bestimmt. Mit dem Auftrag sollte gewissermaßen ein eingeweihter Blick auf das Hiesige geworfen werden. Anders als die Blicke von außen, misstrauisch auf den seltsamen Osten, auf Sachsen, vielleicht sogar auf das Vogtland. Wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt, versteht man die Menschen auch nicht. Das Stück bietet viel Material, aus Erfahrungen, Biografien, Mentalitäten heraus zu verstehen, auch die daraus resultierenden Kollisionen. Alles sehr konkret und heimatverbunden. Es bietet aber kaum einen Hoffnungsschimmer, keinen Ersatz für Zerbrochenes an. CM: Nach den Glücksmomenten des Mauerfalls ist diese Hoffnung aber auch schnell in sich zusammengefallen. Es ging ja auch nach dem Ende des Kalten Krieges gleich weiter mit heißen Kriegen. Eine schiefe Ebene ist entstanden, die auf einen Abgrund zuläuft. DL: Auch die persönlichen Verbindungen sind schwer getroffen von den Weltläuften. Das zeigt sich schon an der Figurenauswahl, darin, wie die Außenwelt auf die kleine Innenwelt wirkt. Man könnte aber auch frei nach Karl Popper sagen: Wenn wir keine Unmöglichkeiten mehr zu bewältigen haben, dann fehlt uns auch etwas, dann sind wir tot.

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CM: Deshalb habe ich Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ zum Ausgangspunkt genommen. Die Flucht in den Ardenner Wald, um wieder Hoffnung aufbauen zu können. Sind wir jetzt Zinnfiguren im Zinnwald, nur noch Objekte, oder haben wir zumindest noch subjektive Veränderungsmöglichkeiten? Aber die Flucht in die ländliche Idylle, in das Hotel auf dem Gottesberg rückt ja nun gerade nicht die in Unordnung geratene Welt wieder gerade. Es gibt kein Happy End. CM: Es gibt diese ländliche Idylle nicht. Die poetische Idee ist Zinnwald als Versuch einer Utopie, die es nicht mehr gibt. Das sage ich als melancholischer Fatalist. Wir leben in einer Zeit der schändlichen Unterwerfung. Ich bin Kunde, also bin ich. Hinzu kommt der aktuelle Krieg. Und selbst das Theater träumt nicht mehr, wie es im Text heißt? CM: Da fällt mir der Ausspruch von Heinar Kipphardt ein: Es ist so entsetzlich folgenlos, Stücke in die Welt zu setzen. Aber nein, es gibt weiterhin Theater, und schön, dass wir noch spielen können. Im Stück stecken nach meiner Wahrnehmung zwei Beschreibungsoder sogar Erklärungsebenen: Dystopie statt Utopie, weil die Verhältnisse nicht so sind, wie Brecht sagte. Aber auch das Individuum, der Träger dieser Verhältnisse, ist labil, nicht auf Kontinuität und Stabilität und Idealismus ausgelegt. CM: Ja, das ist das eine. Aber ich kann nur über den Erfahrungshorizont hier schreiben, über einen Teil der sogenannten westlichen Zivilisation. Die Welt ist doch wesentlich größer. Nach zwei Weltkriegen, der Atombombe, Vietnam und so weiter hatten wir angenommen, dass die Menschheit zur Vernunft kommen sollte. Aber das ist nicht passiert. Putin droht wieder mit der Atombombe. DL: Ich muss intervenieren, weil wir es im Stück meines Erachtens nicht mit einer Dystopie zu tun haben. Es ist ein extrem empathisches Stück, das aber seinen Figuren weder irgendetwas durchgehen lässt noch ihnen Hoffnung macht. Die haben nur die Chance zu sehen, wie sie irgendwo Land gewinnen mit ihrem Floß im Meer. Dabei sind sie nicht chancenlos, nutzen diese aber kaum. Vielleicht haben in „Zinnwald“ die Figuren deshalb mehr Fleisch als in früheren Texten Martins. Ich bin gespannt, wie die Schauspieler:innen das umsetzen. Die Lebensnähe der Figuren scheint zu kollidieren mit der Anweisung „Das Stück ist stilisiert zu spielen.“ Aber nicht episches Theater? CM: „Stilisiert“ meint, dass es nicht um Volkstheater-Heiteitereitei geht. Die verdichteten lakonischen Dialoge sollten schon zur Wirkung kommen. Keine billige Effekthascherei. Der Text bietet aber auch einige sehr konkrete und aktuelle Anknüpfungspunkte. Der Bergarbeiterstreik erinnert sofort an den der Bischofferoder Kalikumpel 1993, russische Oligarchen kommen vor und der „Doppelwummsbums“. CM: Ja, Bischofferode habe ich aufgenommen, und Scholz hat einfach gepasst. Das soll den Figuren und den Zuschauern bei der Erkenntnis helfen, was mit uns passiert weltweit.

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Stück Gespräch „Es steckt ja auch der Tanz auf dem Vulkan drin, zu Walpurgis oben auf dem Gottesberg, und der wird durch die Frauen sichtbar und zugleich geerdet.“

Wie fiel die Wahl auf Hannes Hametner als Regisseur? DL: Das war meine Entscheidung, die ich natürlich mit Christian besprochen habe. Hannes ist ein Regisseur, der mit Texten sehr genau umgeht, der Sprache ihren Wert einräumt, hinhört und erfasst, was mitschwingt. Und er würde nie auf den Leim einer Banalisierung gehen, die ja Christian mit dem Hinweis auf Stilisierung bewusst vermeiden wollte. Bei unserer bisherigen Zusammenarbeit hat er auch diffizile Aufgaben stets bravourös gemeistert.

Für Lieder steht vor allem Sängerin Milli. Und Sie selbst waren einst ein Rocksänger … CM: Das Lied ist ja auch ein philosophischer Abgesang. Was ist aus dem SPD-Traditionslied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ geworden! Wo sind die Ideale geblieben? Es ist auch kein Zufall, dass ich Goethes Mignon „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ ausgewählt habe. DL: Für mich ist auf verschiedenste Weise im Stück immer wieder das Moment der Peinlichkeit vertreten. Was ist welcher Figur wem gegenüber warum peinlich? Wenn wir als Zuschauer das nicht nur voyeuristisch wahrnehmen, sondern auch das, was uns selber peinlich ist, kann das eine kathartische Wirkung haben. Man schreibt nicht unbedingt auf den Effekt hin, aber hoffen Sie beide auf eine Wirkung? CM: Das Stück hat ja erst einmal mit mir zu tun. Mich zwingt niemand, sondern ich muss schreiben, was aus mir herausdrängt. „Zinnwald“ ist für mich ein „bitteres Arkadien“, wie ich bei einem Shakespeare-Interpreten gelesen habe. DL: Ich wünsche mir, dass das Publikum im Stück die Freude am Verstandensein findet. T

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Christian Martin wird am 3.2.1950 in Ellefeld/ Vogtland geboren, macht 1968 Abitur, studiert Germanistik und Geschichte in Leipzig. Bis 1979 arbeitet er als Lehrer und ist Sänger in einer Rockband. 1981–84 Fernstudium am Literaturinstitut „J. R. Becher“, seit 1986 freischaffender Dramatiker, Hörspielautor und Märchendichter. Publikationen in den henschel SCHAUSPIEL editionen 5 #: Märchenspiele und 6 #: Stücke. 2015 erscheint der Band „Vogtländische Trilogie und andere Stücke“ im Verlag Theater der Zeit und 2021 der Stückband „War nix is nix wird nix“.

Dirk Löschner, geb. 1966 in Berlin, studierte an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Nach Stationen als Intendant in Stendal (2009 bis 2012) und am Theater Vorpommern (2012 bis 2021) ist er seit 2022 ­Generalintendant des Theaters Plauen-Zwickau. Er gab Christian Martin den Auftrag für ein neues Stück über die Region.

Fotos oben Hannes Hametner, unten André Leischner

Zu denen könnte jetzt auch der Umgang mit dem Spagat zwischen sexueller Dienstleistung und versuchter Erotik gehören. CM: Auch das hat es tatsächlich gegeben, dass eine Frau mit einem Gynäkologenstuhl durch Deutschland gereist ist und ihren Schoß betrachten ließ. In der Vorschau wird auch ein Chor der Bergarbeiterfrauen angekündigt, der so nicht im Text steht. Der Bergbau und der Streik sind doch aber eher Kulissen für das eigentlich zu Sagende. DL: Das Stück wächst ja noch in der Zusammenarbeit. Wir haben uns aber auch gewünscht, dass sichtbar wird, was unten im Berg brodelt. Mit den Bergarbeiterfrauen kommt vor allem Musik von Sebastian Undisz hinzu, ebenso eine Stilisierung. Es steckt ja auch der Tanz auf dem Vulkan drin, zu Walpurgis oben auf dem Gottesberg, und der wird durch die Frauen sichtbar und zugleich geerdet.

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Theater der Zeit

Stück Zinnwald Christian Martin

ein stück volk in 5 akten

ort: das hotelrestaurant „goldenes herz“ auf dem gottesberg nahe zinnwald

zeit: walpurgis nach 2002

hinweis: der ort zinnwald existiert zwar real, im text ist er eine fiktion und metapher zur spielweise: mein stück volk sollte unbedingt stilisiert gespielt werden

personen: ROSA anfang 40, besitzerin und chefin des hotelrestaurants JACKY mitte 40, schriftsteller und hausmeister MILLI ende 30, schauspielerin, die schwester von rosa KÜLLY mitte 50, im vorzeitigen ruhestand, ehemaliger offizier PLÜSCH ende 30, fernsehmechaniker KAPP mitte 40, polizeipräsident KRULL ende 20, journalist NEUMANN mitte 40, im vorstand der dresdner bank KRONZUCKER ende 30, pfarrer NODURF ende 30, bürgermeister LEA anfang 30, seine noch-ehefrau, aushilfe bei rosa DANA LANA beide noch nicht 20, ausländische prostituierte

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Stück Christian Martin

1. akt / 1. auftritt

D

© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2023 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds

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(das vestibül mit großer glastür nach draußen und zwei innentüren mit den jeweiligen aufschriften „restaurant“und „zum saal“ / über der mittigen rezeption ist eine uhr installiert deren zeiger genau auf sechs uhr stehen geblieben sind / ein seitlicher treppenaufgang / rechts davon eine bar mit gemütlichen sitzgelegenheiten tischen und pflanzen / das ganze wirkt geschmackvoll und relativ neu / die hübsche rosa ist chic gekleidet und kommt die treppe herab / sie rückt geschäftig drei tische zusammen / sie unterbricht ihre arbeit weil sie neumann – ein mann von welt – von draußen kommen sieht) NEUMANN na ROSA na bist eher NEUMANN (die uhrzeit vergleichend) das irritiert wirklich ROSA was net NEUMANN hier oben brrrh eine kälte ROSA ende april zwei drei grad weniger als im tal manchmal sogar vier jaja der gottesberg wird manchmal unterschätzt (pause) und alles geregelt NEUMANN dank dir war es relativ einfach alles schon vorgemerkt vom heim in das christliche hospiz ROSA ist wohl das beste so NEUMANN (pause /sich traurig räuspernd) tja meine mutter sie hat mich nicht mehr erkannt (pause) damals ich wollte bei mir in der nähe aber stur wie sie war ROSA heutzutag ises die regel die alten hier die jugend dort und einen alten baum verpflanzt man net neumann das weißt du so gut wie ich außerdem meine mutter und deine in einem zimmer sie haben sich gut verstanden NEUMANN ich weiß trotzdem ich nicht oft hier war ROSA und die wahrheit is halt so ungefragt wird man geboren

und dann (pause) tja und das letzte hemd hat keine taschen (pause) ich denk einfach mann sollt die dinge net so tragisch nehmen wie sie in wirklichkeit sind NEUMANN die rosa pragmatisch wie immer ROSA täusch dich net NEUMANN hier (ihr ein kuvert reichend) für dein kümmern ein bonus extra ROSA nicht doch NEUMANN bitte nimm das geld du kannst es sicher gut gebrauchen ROSA na gut sicher ist sicher danke NEUMANN im vertrauen zu dir ich bin jetzt reich ich habe am neuen markt spekuliert und rechtzeitig abgehoben insiderwissen ROSA der herr vorstandbanker bist jetzt auch ein nobler verbrecher NEUMANN du wieder (pause) ROSA jedenfalls nach der mauer hast die kurve gut hingekriegt im gegensatz zu den meisten NEUMANN mein vorteil war halt dass ich als direktor vorher rüberdurfte da hatte ich so meine beziehungen ROSA (etwas bitter lachend) na und ob vorher und nachher wie zu der treuhand und wir mondkälber frauen über nacht alle arbeitslos NEUMANN aber rosa die textilbranche der weltmarkt eine rettung war unmöglich früher billig jetzt zu teuer ROSA wie mein kredit NEUMANN kredit ROSA ich sitz in der fall (pause) hast einen augenblick zeit ich muss dir was beichten auch im vertrauen NEUMANN rosa die sünderin

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Stück „Zinnwald“ ein priester war ich nie aber schieß los ROSA ich bin pleite und brauch deinen rat NEUMANN dein hotel ich dachte eine goldgrube dank deiner besonderen (ironisch) initiativen ROSA jaja mein grab in der (bitter ironisch) blühenden landschaft (pause) einige zeit lief es ganz gut mit den grenzsoldaten war am abend hier immer remmidemmi seit ihrem abzug aber nur noch eine handvoll bundespolizei ich musste viel personal entlassen NEUMANN personal klingt gut ROSA (überhört es) und die kredite jetzt fressen mich auf (pause) kurz und gut ich möcht mein leben radikal verändern ich will verkaufen und das mit gewinn könntest du mir helfen ich hör NEUMANN oijoi klingt nicht gut aber weil du es bist nüchtern betrachtet das hier sind nicht die alpen oder die ostsee und nicht sylt touristen sind also mangelware ROSA was neues aber über 10 000 quadratmeter land ein hotelrestaurant komplett saniert ich hör weiter NEUMANN nur geduld seit dem terror in new york hat sich vieles verändert die betuchten wollen sicherheit und luxus nach wie vor das zauberwort heute heißt wellness mit allen raffinessen da sollte man nicht knausern und in größeren kategorien denken ROSA ja und NEUMANN vor den weltkriegen wie gerüchte behaupten soll tief unten im berg eine thermalquelle sprudeln

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ROSA wenn ja ist die längst verschüttet durch den bergbau NEUMANN na und das würde den preis enorm in die höhe treiben ROSA betrug NEUMANN seit wann bist du naiv ich kenne russische oligarchen die ihre so sauer erschufteten milliarden investieren wollen zum beispiel in immobilien das objekt hier ist für die pro forma entsprechend garniert ein absolutes schnäppchen wäre das so okay für dich (längere pause / lea – äußerst attraktiv – stellt die restauranttür fest und will mit tüchern die bartische eindecken / sie bleibt aber stehen weil sie neumann erkennt / sie starren sich an / lea geht schnell zurück) war war das nicht lea ROSA hast sie gleich erkannt alte liebe rost net oder NEUMANN sie hier oben ROSA sie liegt in scheidung und sucht arbeit einstweilen hilft sie aus NEUMANN aha ROSA walpurgis das wird heut eine lange heiße nacht (pause) NEUMANN ich würde gern noch bleiben mit dem zimmer ginge das ROSA kein problem NEUMANN millis auftritt möchte ich nun doch nicht verpassen ROSA na klar (pause / jacky – etwas verhärmt und nachlässig gekleidet – kommt mit zeitungen unter dem arm die treppe herab) NEUMANN dein zahlungskräftiger untermieter ROSA was soll der unterton JACKY hello mister neumann einen schluck wodka gefällig wodka gorbatschow NEUMANN hallo herr poet nein danke euch turteltauben möchte ich nicht stören (zu rosa) gib bescheid (zur treppe ab)

JACKY bescheid ROSA ach nur ob er länger bleiben kann JACKY bei dem leerstand (holt sich von der bar eine flasche wodka mit glas / setzt sich und trinkt etwas) jedenfalls der saal füllt sich ROSA lass die stichelei JACKY milli wird stinksauer sein ROSA sie bekommt ihr volles honorar JACKY sie müsste längst hier sein ROSA hast wohl sehnsucht (pause) sie wollte noch zu mutter ins heim JACKY das wird knapp mit der vorbereitung (zur rezeptionsuhr schauend) was denn schon um sechs quatsch ROSA neue batterien du solltest dich kümmern JACKY vergessen ROSA hauptsache zeitungen (sie steht auf und holt aus dem rezeptions­ mobiliar eine gut versteckte geldkassette hervor / sie will das geld von neumann einsortieren und stutzt dann aber beim nachzählen) es fehlt geld und nicht zu knapp JACKY (zeitungslektüre) wo nicht ROSA he ernsthaft hast du was herausgenommen jacky JACKY ich ROSA du wolltest doch JACKY was ich nicht alles wollte ROSA einen computer und so weiter JACKY jaja kann sein ROSA „kann sein“ hörst du mir zu nur wir beide du und ich wissen von der schwarzen kass JACKY schwarze katz wann bringt es unglück wenn sie von rechts nach links oder von links nach rechts läuft ROSA sei wann bist abergläubisch JACKY nur so ROSA ich weiß nur in der nacht sind net alle katzen grau JACKY aha wie kommst du jetzt darauf ROSA nur so (pause)

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Stück Christian Martin geld aus der kass also ja oder nein JACKY jahaaa ROSA sag mirs einfach JACKY gut wieder ROSA gut (sie verstaut die kassette und kommt zurück / sie nimmt ihm sorgsam die zeitung weg und setzt sich auf seinen schoß) und bitte heut abend trink net so viel du wirst noch gebraucht JACKY ich und gebraucht verbraucht klingt besser ROSA du wieder (versucht ihn zu liebkosen) jacky die hexen sind läufig heut nacht JACKY (wehrt die zärtlichkeiten behutsam ab) bitte ROSA störrisch wien esel JACKY was ist mit külly ROSA külly was soll mit ihm sein JACKY seit zig monaten ist er läufig rennt dir hinterher ROSA na und sein problem JACKY nur wegen dir ist er zurückgekommen (pause) ROSA damals das kurze techtelmechtel als er noch hier stationiert war für mich war das ohne bedeutung JACKY nicht für ihn ich denke er ist ein feiner kerl und hat ernste absichten und außerdem das hier (bewegung des geldzählens) ROSA he willst mich verscherbeln oder was ich leb mit dir zusammen (pause) und in zukunft wie es aussieht haben mir auch geld lass mich nur machen (pause) überhaupt seit einiger zeit was ist los mit dir begehrst mich nimmer ich will dich und

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du weißt was ich möcht JACKY aber ich nicht (pause) ich fühle mich alt und für mich macht es keinen sinn ROSA sinnsinn immer wieder sinn wir leben und wir sollten versuchen verdammt noch mal das bissel leben auszuhalten mit sinn oder ohne und wenn möglich es weitergeben deindein weltschmerz deine schwarzmalerei hilft uns net weiter mir sind noch im besten alter soll ich dir zeigen wie jung ich mich fühl (beginnt ihn sanft aber bestimmt zu küssen / schließlich gibt er nach / plüsch kommt mit einem kleinen werkzeugkoffer die treppe herab / er wirkt etwas vertrottelt und älter als er in wirklichkeit ist)

2. auftritt PLÜSCH (laut künstlich hustend / leicht angetrunken) ich bin fertig ROSA plüsch sie PLÜSCH wer sonst ROSA ich hatt sie glatt vergessen PLÜSCH macht doch nix bins gewohnt ROSA und PLÜSCH leider sieht net gut aus alle geräte haben ‚nen klatscher weg ROSA das bedeut PLÜSCH reparatur oder anschaffung neu ROSA das fehlt noch PLÜSCH is meistens billiger es sei denn sie haben ne gute versicherung ROSA die haben mir PLÜSCH auch das kleingedruckte ROSA was meinen sie PLÜSCH die klausel überspannung bei gewitter sollt man besser

antennen- und netzstecker ziehn ansonsten null haftung vor drei tagen das war aber auch eine donnergewalt und blitz auf blitz zinnwald hat es arg erwischt (pause) preisfrage der vorname von versicherung JACKY altbekannt ver PLÜSCH genau schauens in ihrer police nach ROSA überspannung wer denkt an so was PLÜSCH überspannung jaja wo die ganze welt darunter leidt deshalb sag ich immer vorsicht und gegenseitige rücksichtnahme is die mutter der porzellankist JACKY na plüsch wollen sie einen schluck PLÜSCH wodka gorbatschow da sag ich net ab JACKY (bedienend) ja dann prost PLÜSCH prost auf die arche noahs den spitzbub JACKY ha der ist auch gut (sie trinken) ROSA (sorgenvoll überlegend) die police wo JACKY wird sich finden PLÜSCH (auf die rezeptionsuhr blickend) was denn schon um sechs (resigniert) wieder verzettelt ROSA die uhr steht habens zufällig batterien dabei PLÜSCH net hier in der werkstatt (pause) JACKY und plüsch wie laufen die geschäfte PLÜSCH mal so mal so man sollt ja heilfroh sein hier dass man arbeit hat JACKY noch einen PLÜSCH winzig kleinen muss noch fahrn (sie trinken / draußen stoppt ein auto mit aufheulendem motor) ROSA klingt wie milli PLÜSCH milli heißt das ihr liederabend findet doch statt ROSA wie geplant

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Stück „Zinnwald“ PLÜSCH aber (kurz in erinnerung schwelgend) die milli JACKY sie kennen milli PLÜSCH von der grundschul wir waren in einer klass und jetzt is sie prominent ROSA das kann man wohl sagen jacky stimmt doch oder JACKY hmm

3. auftritt (milli – sehr hübsch und leicht übertrieben geschminkt betritt mit einem kleinen rollkoffer und handtasche etwas unbeholfen das vestibül) MILLI hallihallo ich bin da ich bin hier seht mich an und staunt rosa schwesterherz deiner einladung bin ich gefolgt (sie küssend) ROSA (trocken) hallo MILLI (giftig zu jacky) hallo jacky ich erkenne dich mit oder ohne zeitung JACKY hallo milli bist reichlich spät MILLI ich weiß aber zinnwald was ist da los ein auflauf von polizei und überall straßensperren JACKY liest du keine zeitung oder hörst radio MILLI sollte ich (auf die rezeptionsuhr schauend) hilfe schon um sechs das wird eine katastrophe wird das wie soll ich das schaffen (plüsch ihren zündschlüssel reichend) holen sie mein gepäck ROSA nur mit der ruhe die uhr steht MILLI (tief ausatmend) phuu (uhrenvergleich) aber trotzdem knapp ROSA wir fangen später an MILLI geht das so einfach das publikum wird ROSA ich regel das sei unbesorgt MILLI du bist ein schatz (zu plüsch) und sie sie stehen immer noch da sie komischer kauz worauf warten sie

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PLÜSCH aber milli hallo erkennst mich net MILLI ich sie haben wir gemeinsam schafe gehütet oder was PLÜSCH nee aber mit zinnsoldaten gespielt (pause) MILLI zinnsoldaten PLÜSCH bei uns im pfarrhaus als kinder (längere pause) schulfreund und clown dämmerts MILLI plüsch plüschi na klar es wurde licht bitte entschuldige habe dich nicht gleich erkannt PLÜSCH macht doch nix ich bin das gewohnt MILLI du arbeitest hier ROSA er is fernsehmechaniker MILLI was denn das fernsehen ist auch hier PLÜSCH äh ja ich mein nein MILLI wie aber rosa davon hast du JACKY irrtum milli er ist nicht das fernsehen das kommt voraussichtlich erst morgen für das geschehen unten im tal MILLI mein auftritt ist heute und hier oben PLÜSCH und ich dacht noch der fällt aus MILLI „fällt aus“ rosa ROSA das is kompliziert natürlich fällt der net aus aber MILLI aber JACKY es wird dünn MILLI „dünn“ JACKY sehr dünn mit dem publikum ROSA vor zwei wochen niemand hat gewusst was hier in zinnwald losgehn wird der streik die demonstrationen MILLI habt ihr nicht annonciert und nirgends ein plakat JACKY rosa hätte absagen den termin verlegen müssen

(pause / plüsch kramt aus seinem werkzeugkoffer einen flachmann hervor und reicht ihn milli) PLÜSCH nimm ein schluck flachmann dein trost und helfer MILLI hilfe nein danke (plüsch trinkt kräftig selbst) da lasst ihr mich hier auflaufen obwohl telefonieren ist wohl tabu JACKY rosa wollte MILLI die rosa wollte ROSA dein honorar steht nimm den zimmerschlüssel und hab dich net so es wird trotzdem ein bunter abend das versprech ich dir JACKY die einladung für kapp ROSA ja warum fragst du JACKY nur so (pause) MILLI aber einen recorder für kassetten den habt ihr ROSA na und ob eine top musikanlage warst ja lang net hier MILLI für die nummern jacky ich brauch dich JACKY geht klar MILLI na dann auf in den heroischen kampf PLÜSCH milli ich bleib und mein applaus wird frenetisch sein (pause) hättens bitte noch ein zimmer frei JACKY haben wir ROSA der preis wird verrechnet PLÜSCH danke ROSA milli ich muss vorher noch unbedingt mit dir reden MILLI und ich sowieso (zu plüsch) bist du so lieb und holst mein gepäck aus dem auto (zur treppe ab) PLÜSCH kommt sofort (eilt nach draußen) ROSA zählen wir zusammen kronzucker JACKY auf alle fälle külly dein ROSA he JACKY kapp ROSA vermutlich neumann ja JACKY krull

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Stück Christian Martin ROSA das schlitzohr führt was im schilde wenn ich nur wüsste was JACKY nodurf ROSA der herr bürgermeister wenn er seine frau hier sieht hoffentlich gibt es keinen skandal also lea dana und lana JACKY wir zwei beiden ROSA na also ein illustres publikum klein aber JACKY bunt gewürfelt LEA (mit tischdecken kommend) kann ich jetzt (deckt die bartische ein) ROSA und bleibt es dabei LEA wenn du zahlst warum net ROSA dein mann kommt auch LEA na und mir doch egal ich bin maskiert ROSA wie du willst (pause) in der küche wie weit sind dana und lana LEA ungeschick lässt grüßen ROSA ich schau nach (ab in das restaurant) JACKY (seine zeitungslektüre unterbrechend) dein mann war der früher nicht SED LEA bloß kandidat JACKY und jetzt CDU LEA wie das leben so spielt den mantel hängt man nach dem wind JACKY oder verdreht den hals war da früher nicht eigentlich mehr LEA das heb ich mir für die scheidung auf (vom restaurant her balancieren dana und lana auf überfrachteten tabletts flaschen gläser und snacks heran / sie tragen rosafarbene trainingsanzüge die ihre schlankheit verbergen / sie sind ungeschminkt mit hochgesteckten haaren) das büfett rollt an wenn das mal net in die hos geht vorsicht und schön langsam weniger is besser ich helf noch rosa (ab in richtung restaurant) DANA gutten tag jacky JACKY hallo na gut geschlafen LANA sehr gutt

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und danke für geld DANA auftrag wir machen JACKY und das geld später an rosa zurück versprochen LANA da [ja] JACKY und passt ja auf erst papiere dann zahlen DANA da (jacky mit den zeitungen treppauf ab / die beiden decken unbeholfen die tische ein / plüsch schleppt von draußen einen schweren koffer herein den er dann – ungewollt slapstickartig und noch mehr angetrunken – die treppe hinaufhievt)

2. akt / 1. auftritt (millis hotelzimmer / sie sieht aus dem fenster und weint leise vor sich hin / es klopft) MILLI (sich die tränen abwischend) herein (plüsch mühselig mit dem koffer kommend) stellen sie quatsch plüschi danke stell ihn da hin PLÜSCH (sich dann setzend) uff was was hast da eingepackt all deine kostüm MILLI wenn man so will ich bin jetzt viel unterwegs PLÜSCH milli milli meine sonn mein ewiger schwarm heut noch wie früher bist ein star MILLI nun übertreib nicht damals wir waren kinder und heute was ist schon heut (pause) gießt du noch zinnsoldaten PLÜSCH längst nimmer (pause) aber glaub mir all die jahr ich hab dich verfolgt MILLI ha plüschi warst du etwa auch bei der stasi PLÜSCH (entsetzt) ich MILLI ein spaß lach mal PLÜSCH hahahaa

is net lustig MILLI ich weiß doch dir haben sie übel mitgespielt keine FDJ also kein abitur kein studium obwohl du klassenbester warst PLÜSCH dafür bausoldat MILLI und nach der mauer keine theologie PLÜSCH (verneint heftig) ich bin jetzt in meiner freizeit autodidakt in sachen philosophie (unwillkürlich und überanstrengt singend) das größte vieh is die philosophie philosophie philooosophie philooo MILLI danke das reicht war beinahe fabelhaft PLÜSCH ich brauch nen schluck trockene kehl MILLI (im kühlschrank sortierend) das kenne ich und was PLÜSCH egal hauptsach 100 prozent MILLI ein kaffee wäre besser PLÜSCH den trink ich ganz zeitig und stark wenn ich vor der arbeit studier noch jedenfalls bei nietzsche bin ich hängengeblieben der übermensch in der einzigen weit du verstehst MILLI naja (reicht ihm zwei kleine schnapsflaschen die er auf ex trinkt) PLÜSCH das musst du mir glauben dass ich dich wirklich des öfteren besucht hab MILLI besucht mich aber PLÜSCH heimlich im theater bei jeder premier bin ich angereist wenn du gespielt hast allein „wie es euch gefällt“ mein lieblingsstück hab ich mindestens 10 mal gesehn

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Stück „Zinnwald“ die rosalind war dir wie auf den leib geschrieben (erhebt sich und rezitiert trunken pathetisch) „die ganze welt ist bühne und schauspieler nur all die fraun und männer sie treten auf und gehn auch wieder ab und mit der zeit spielt einer viele rollen durch sieben lebensakte hin zuerst ...“ MILLI (ihn unterbrechend) das ist aber der text von jaques PLÜSCH weiß ich doch und als einziger ist er im wald geblieben aber du du bist zurück lebendig in fleisch und blut von zinnwald in den ardenner wald und wieder zurück ein traum wird wahr (setzt sich wieder / sinkt erschöpft in einen sekundenschlaf) MILLI und wir „wir sind im unglück nicht allein“ oder (längere pause / sie sieht traurig in die ferne und ist wieder den tränen nahe) PLÜSCH (aufwachend und verzweifelt rufend) milli MILLI keine angst ich bin noch hier (pause) warum eigentlich hast du dich nie PLÜSCH warum wohl ich hässlicher niemand MILLI na PLÜSCH keine frau will mich deshalb deshalb bastle ich an einer pupp von den japanern hab ich sie abgekupfert eine roboterpupp die aussieht wie du MILLI ist nicht dein ernst PLÜSCH ich kann dir sagen die is so was von lieb MILLI du spinnst PLÜSCH aus bewunderung wurde millirosalind sie lernt jetzt laufen und einiges noch MILLI was noch PLÜSCH naja

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wenn man so einsam und allein im bett liegt sie liest mir jeden wunsch von der programmierung ab MILLI plüschi ich bin sprachlos sex mit einer PLÜSCH es sei denn du erbarmst dich meiner (pause / schräger blick millis) schon gut bitte entschuldige MILLI sex und liebe liebe und sex ist alles ein mysterium und wahnsinnig kompliziert in einem theaterstück von jacky steht „wo die liebe hinfällt fällt sie dahin“ oder (pause) traurig aber wahr mit oder ohne KI mensch bleibt mensch (plüsch ist inzwischen wieder eingeschlafen / es klopft)

2. auftritt MILLI ja ROSA (hereinkommend) ich bins na du schwesterherz kannst dir also zeit lassen dein auftritt is eine stund später MILLI danke ROSA nichts zu danken was macht plüsch noch in deinem zimmer MILLI erinnerungen an alte zeiten he plüschi aufwachen ich muss mich vorbereiten PLÜSCH (aufwachend) wo verzeihung ichich MILLI schon gut ROSA hier ihr zimmerschlüssel und wie gesagt PLÜSCH es verrechnet sich MILLI mein auftritt ist später hau dich ein wenig aufs ohr PLÜSCH aber bitte rechtzeitig wecken ROSA ich übernehm das PLÜSCH ja net vergessen (ab) ROSA (nimmt „anlauf“) milli bitte hör gut zu jetzt ich ich plane einen anschlag

auf dich und jacky und das heute nacht MILLI die letzte warnung der rasenden eifersucht hilfe ROSA du wieder jetzt mal ernsthaft du wirst pro forma mit deinem ex ins bett steigen MILLI (perplex) ich soll was na gut wenn du es so willst und er ROSA ich sagte pro forma natürlich werd ich es sein MILLI ich verstehe kein wort außerdem erkläre mir erst warum du meinen termin hier nicht verlegt hast ROSA das tu ich gerade weil mein eisprung war MILLI eisprung dann spring hinterher wozu brauchst du mich ROSA walpurgis milli und weil ich glaub dass jacky immer noch scharf is auf dich du bist der lockvogel MILLI lockvogel bei dir piept er ROSA seit einigen wochen nehm ich keine pill mehr und hab außerdem eine hormonbehandlung milli ich ich wünsch mir so sehr ein kind (längere pause) MILLI von jacky ROSA von wem sonst nur von ihm weil ich ihn MILLI liebe ROSA seitdem aber verweigert er sich er will kein kind mehr aber ich unbedingt MILLI ein kind es wird dein leben enorm verändern ROSA umso besser MILLI oder auch nicht (pause) ROSA wir du und ich werden ihn überlisten wenn du mitspielst du weißt doch noch

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Stück Christian Martin schwestern teilen alles MILLI auf einmal deshalb das ganze theater aber ist das fair ROSA fair hin und her meine letzte chance vor den wechseljahrn MILLI eine maya mit 60 hatte vierlinge nach einer hormonbehandlung stand in der zeitung BEIDE (unwillkürlich lachend) „eine indianerin kennt keinen schmerz“ (pause) ROSA weißt du noch als kinder wenn wir abends im bett lagen und beten sollten MILLI ich bin klein mein herz ist noch rein und bin ich erst groß BEIDE dann gehts richtig los (sie lachen) ROSA du warst die wilde die rebellin wolltest unbedingt raus und studieren und ich die ältere zahm und gehorsam wurde meisterin hier im textilkombinat und jetzt jetzt hab ich diesen mühlstein am hals MILLI du bist reich ROSA pah reich reich an erfahrung du weißt doch wie das alles lief papa bei der wismut unter tage uranerz viel geld dafür krebs dann schnell noch der kauf von dem anwesen hier und für mutter und mich nur plackerei MILLI auf das erbe ich habe verzichtet aber jetzt rosa ich brauche unbedingt geld und nicht zu wenig ROSA wegen benny ich weiß jacky hats mir erzählt schlimme sach MILLI und ROSA das alles hier war marode bis dahinaus es gab doch nix

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und dann der größte fehler meines lebens hab ich mich mit den investitionen zu weit aus dem fenster gelehnt milli ich sitz nackig auf ‚nem schuldenberg und im grundbuch steht die bank die hat jetzt das sagen MILLI ein berg also ohne aussicht ROSA zur zeit ja leider MILLI und da willst du trotzdem ein kind ROSA eben darum weil ich glaub dass einzig ein kind für mich noch sinn macht (pause) schwanger dann is man doch guter hoffnung etwa net MILLI die rosa die rosa hat ein sonniges gemüt ROSA was is nun blutsschwesternschaft oder net MILLI gut also von mir aus aber jacky wird er darauf reinfallen ROSA das liegt an dir du bist die schauspielerin außerdem wird er sanft beschwipst sein und in dieser nacht sind hexen hexen du auch MILLI danke kommt darauf an ROSA eben gib dir mühe (pause) ich muss runter das büfett überprüfen bald trudeln die gäste ein und jacky wartet in seinem zimmer auf dich bis später (ab) MILLI planwirtschaft zu walpurgis hilfe

3. auftritt (das arbeitszimmer von jacky mit zahlreichen büchern und einem stehpult / er blättert in einem buch und notiert etwas / milli klopft an

der halb geöffneten tür) MILLI ich bin es JACKY komm schon rein MILLI (sich neugierig umsehend) du hast dich also hier eingelebt und fühlst du dich wohl unter dem rock meiner schwester JACKY warum nicht friedliche koexistenz gepaart mit zuneigung was will man mehr und als hausmeister und mädchen für alles mein logis ist beinahe kostenfrei MILLI klingt gut „mädchen für alles“ du zartes sensibles frauchen mann o mann JACKY was soll das bist du etwa MILLI eifersüchtig ich pah es ist euer leben unseres ist doch wenn ich das richtig sehe den bach runter richtung meer (längere pause) und schreibst du noch JACKY ich muss nicht schreiben da ist kein affe mehr der mich beißt bei diesem wachstum und fortschritt der in wirklichkeit ein rasender stillstand ist außerdem „ist schon alles gesagt nur noch nicht von allen“ MILLI klingt ja sehr optimistisch JACKY schon vergessen ich bin ein melancholischer fatalist (pause) und auf der bühne sehe ich keine menschen nur karikaturen und ihr gebrüll das theater träumt nicht mehr und die poesie ist im sinkflug aber wem sage ich das MILLI dann halte dagegen ich warte immer noch auf einen monolog für mich du hast es versprochen JACKY war nix is nix wird nix das spukt in meinem kopf ein philosophisches testament

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Stück „Zinnwald“ und mein epilog für karl valentin den könnte mit maske entsprechend auch eine frau spielen (pause) die emanzipation marschiert sie lebe MILLI hoch jaja den valentin ich also „wird nix“ (pause) wie mit dem geld JACKY greif einem nackten mann in die tasche MILLI die nackten vom gottesberg blicken furchtlos ins tal und was sehen sie JACKY warten wir doch erst das urteil ab und vielleicht MILLI es gibt kein vielleicht machen wir uns nichts vor auf frischer tat ertappt ausgerechnet er zwei nobelkarossen in flammen und was denkst du wer das bezahlen muss wer (sie ist verzweifelt / jacky umarmt sie) drohende haftstrafe kein abitur benny unser sohn ein linksradikaler was haben wir falsch gemacht JACKY hast du nichts geahnt MILLI du bist gut du hast dich hierher verkrochen und ich die letzten jahre war allein mit ihm er hat sich von mir nichts mehr sagen lassen sich regelrecht abgekapselt das ganze system in frage gestellt (ist den tränen nahe) JACKY milli bitte versuche das jetzt auszublenden und dich zu konzentrieren es ist dein abend MILLI (sich wieder fangend) pah mein abend vor einer handvoll publikum die rosa JACKY hat darauf bestanden ich begreife das auch nicht MILLI nun ist es so wie es ist ich habe schon schlimmeres erlebt bei meinem getingel durch die provinz

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aber der höhepunkt war die begründung des neuen intendanten um meinen vertrag nicht zu verlängern wörtlich „schauspielerinnen über 35 interessieren ihn nicht“ JACKY ernsthaft MILLI lache ich (pause) sehe ich so alt aus JACKY aber nein nein im gegenteil du MILLI und die krönung war ein angebot für werbung im fernsehen ein abführmittel JACKY nicht etwa „weil es wirkt“ (sie lachen) MILLI vielleicht noch eine kleine rolle in einer seifenoper mit endlosfolgen JACKY dann schlag zu MILLI künstlerisch aber schrott JACKY zumindest wärest du abgesichert (pause) MILLI jacky heute nacht du musst mich trösten ichich sehne mich JACKY nach mir wieder einmal MILLI hmn auch der alten zeiten wegen erinnerst du dich damals am theater du als dramaturg ich als elevin „kabale und liebe“ die diskussion in der leseprobe thema verkauf der landeskinder und wir politische häftlinge gegen devisen was ist die DDR für ein land JACKY das alles konnte ich nachlesen in meiner stasiakte meine texte durften nicht mehr gespielt werden auch dass du wegen einer rolle mit dem schauspieldirektor aber lassen wir das ich hatte es ohnehin geahnt MILLI schnee von gestern (pause) also was ist wirst du kommen

JACKY ich bin kein lückenbüßer MILLI (umgarnt ihn schauspielend und singt) „nichts ist unendlich so sieh das doch ein“ unser trauriges lied JACKY traurig traurig MILLI walpurgis jacky man lebt nur einmal JACKY und kommt nie wieder MILLI mein wunschkonzert gegen die verzweiflung JACKY ich MILLI warte auf dich und jetzt zu diesem ausverkauften liederabend (reicht ihm einen tonträger) auf der kassette ist die begleitmusik ich sage die nummer an du spielst sie ab JACKY also fast wie im richtigen leben MILLI genau so bis dann und auf später (sie küsst ihn / dann ab)

4. auftritt (das vestibül mit eingedecktem büfett / kapp nodurf kronzucker neumann külly und krull stehen im halbkreis vor rosa /sie befinden sich untereinander im gespräch /im hintergrund warten dana und lana als bedienung / trotz minischürze sind sie aufreizend gekleidet und geschminkt / wenn sie später die gläser nach­ füllen werden sie von den männern – außer kronzucker – mit begehrenden blicken verfolgt) ROSA ich bitte sie meine herrschaften nur einen augenblick um gehör (es tritt ruhe ein) ich freue mich sehr dass sie meiner einladung gefolgt sind wenn auch unter besonderen umständen KAPP (stramme figur / er ist in uniform und bewaffnet / tritt einen schritt nach vorn) wenn ich bitte kurz ergänzen darf als polizeipräsident der region versichere ich ihnen dass alles geschieht zu ihrer eigenen sicherheit KRULL oho ja dann KAPP (überhört es) sie wissen zum teil ja selbst

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Stück Christian Martin wie sich des alles hier in den letzten wochen und tagen sehr negativ entwickelt hat der hungerstreik der kumpel tief unten im berg hat mächtig blasen gezogen KRULL blasen schöne umschreibung NODURF ruhe KAPP von überall her hat sich ein mob versammelt mit einer kriminellen energie die jederzeit in gewalt umschlagen kann KRONZUCKER keine gewalt sie muss vermieden werden KAPP sie sagen es KRULL abwarten KAPP die attacken der radikalen von links gegen rechts und umgekehrt und gegen die polizei werden unterbunden mit (unterbricht) KRULL aller härte KAPP disziplin jedenfalls wir haben des jetzt im griff auch morgen am 1. mai und die sympathiekundgebung für unsere bergleute wird garantiert friedlich verlaufen ich KRULL „unsere bergleute“ hört hört unser bayernimport mit buschzulage KAPP ich warne sie KRULL die polizei dein freund und helfer NODURF genau KRULL das ist doch wenn ich das richtig sehe ein verkappter bürgerkrieg KAPP ich wiederhole eine eskalation oder eine kleine revolution ha wird es mit mit net geben KRULL unsere hände wie immer waschen wir in unschuld KRONZUCKER nichts gegen freien journalismus aber dieser vergleich in richtung na sie wissen schon irgendwie hinkt der NEUMANN pilatus pilatus herr pfarrer KRONZUCKER genau NODURF ich versichere ihnen ebenfalls als bürgermeister des ortes

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alle maßnahmen wurden genehmigt von ganz oben KRULL also vom lieben gott persönlich KRONZUCKER ich bitte sie was soll das KAPP ihre hetzerei nervt ihre verdrehten artikel KRULL ich schreibe was ich sehe KRONZUCKER nur die wahrheit zählt KAPP von dem doch net ROSA bitte darf ich jetzt wieder (kurze pause / jacky kommt und stellt sich neben kapp) meine schwester kam deshalb hier mit verspätung an und ihr auftritt wird sich um zirka eine stunde verschieben KAPP (mit blick zur rezeptionsuhr) die geht falsch JACKY die steht KAPP wie originell heut (mit blick auf dana und lana) auf sex volltreffer die beiden sind die neu JACKY später ROSA als kleine entschädigung und zur überbrückung der wartezeit spendiert das haus dieses büfett auch die getränke sind frei (beifall) danke und greifen sie zu es ist hiermit eröffnet (allgemeines essen und trinken / der small talk findet mehr sporadisch und sprunghaft statt / dabei wird reichlich alkohol getrunken so als müsste man kostenlos etwas nachholen auch bezüglich der näheren betrachtung von dana und lana / die beiden nutzen das in ihrem sinne amüsant aus / kronzucker und jacky sprechen miteinander etwas abseits / külly sucht den blick von rosa die aber geschäftig hin und her eilt) NEUMANN (zu nodurf) und wird etwas erreicht NODURF im gespräch sind soviel ich weiß eine hohe abfindung plus umschulung NEUMANN wenigstens etwas tja das zinnerz hier der abbau ist nicht rentabel und der weltmarkt kennt keine gnade NODURF der hält wohl für alles her erst die treuhand nach der wende auf ein schlag 5 millionen arbeitslos dafür sind mir net auf die straß gegangen NEUMANN sie

(pause) fakt war doch eine marode wirtschaft in allen RGW-staaten NODURF trotzdem man hätt NEUMANN „hätt hätt“ der kapitalismus ist nun einmal mit dem profit liiert NODURF sie müssen es ja wissen jetzt mit ihrer abgekoppelten finanzwelt NEUMANN sie haben doch auch ihren marx studiert KAPP hör ich da marx wohl eher murks NEUMANN dieser kapitalismus ist wandlungsfähig und passt sich an wie ein chamäleon ob diktatur ob autokratie oder demokratie KRULL scheindemokratie NEUMANN ob krise ob keine der berappelt sich immer wieder den kapitalismus in seinem lauf halten weder ochs noch esel auf KRULL mit vollgas in die klimakrise NEUMANN und jeder ohne abstriche jeder sieht auf seinen wohlstand nodurf oder NODURF die idee vom sozialismus is doch net ausgeträumt oder einer herrschaft aller für alle außerdem hieß es richtig den sozialismus in seinem lauf KAPP (laut rufend) wir sind das volk ha KRULL im grundgesetz heißt es „alle staatsgewalt geht vom volke aus“ und weiter „sie wird vom volk in wahlen und in abstimmungen ausgeübt“ KAPP wollens uns belehren oder was KRULL (giftig) ich bin noch nicht fertig und künftig gibt es losverfahren politiker werden ausgelost und vielleicht haben wir glück KAPP ha der witz is gut den merk ich mir hundert nieten ein treffer ich sag ihnen was auch wenn sie des net hören wolln mir brauchen wieder einen kleinen diktator der rigoros durchgreift für ruh und ordnung sorgt

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Stück „Zinnwald“ (stille) KÜLLY bitte sagen sie mir wie klein der sein soll etwa so klein wie hitler (stille) JACKY (singt provozierend) „man ist nicht rechts man ist nicht links man ist vermittler – wie schon bei hitler“ KRULL die putschisten sind im anmarsch NODURF kapp sie reden sich um kopf und kragen KAPP is mir wurscht ich sag was ich denk und des net allein und net wie die politiker mit ihrem (hämisch) political-correctness-gelaber wie mich des nervt des ganze marionettentheater (pause) oder külly was sagen sie die haben sie abserviert wie ‚ne heiße kartoffel KÜLLY man hat mich nicht „abserviert“ ich habe vorzeitig um meine entlassung gebeten KAPP aber auch als ranghoher offizier a. D. müssens doch eine meinung haben was die grenz hier betrifft dass des ein riesiger fehler war die is jetzt offen wien scheunentor für diebstahl schleuser und flüchtling KRULL und noch so einiges (er geht zu dana und lana / die diskussion mit den beiden verläuft mehr gestikulierend) KAPP mir brauchen eine festung europa (jacky und kronzucker nähern sich und hören zu) dass unsere zivilisation überleben kann KÜLLY diese unsere zivilisation stakst doch auf sehr dünnem eis herum in eine äußerst fragwürdige zukunft JACKY da fällt mir gleich wieder ein spruch von karl valentin ein „die zukunft war früher auch besser“ KÜLLY ich bin kein hellseher aber ich vermute dass dieser furchtbare terroranschlag in new york der anfang und die fortsetzung neuer und schrecklicher leiden wird KRONZUCKER es ist wirklich ein kreuz

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dass die erkenntnisse der bibel von uns menschen permanent ignoriert werden nehmen wir nur zum beispiel die bergpredigt jesu allein das schlussbild vom hausbau der kluge oder törichte mann worauf sollte er bauen fels oder sand KAPP predigens morgen herr pfarrer von der kanzel herab ROSA so meine herren genug politisiert etwa in zehn minuten beginnt im saal das programm KÜLLY (sich ihr nähernd / leise) rosa ich warte immer noch auf eine antwort ROSA bitte külly später KAPP (zu jacky auf krull weisend) was hat der mit den schwalben zu tun JACKY heute nacht aus mangel an kunden soviel ich weiß als zwillinge ein sonderangebot KAPP des sagens mir erst jetzt JACKY wäre noch passiert KAPP ein dreier mit den zwei beiden des wär obwohl eigentlich ich hab bereitschaft JACKY kein handy KAPP klar (pause) meine frau in garmisch sagt immer bevor ich losdüs mit meinem M3 tob dich dort aus dann hab ich hier meine ruh ha den dreier schnapp ich mir weg von dem schmierfink da und wenn ich draufzahlen muss die scharfen hexen solln ihr blaues wunder erleben (külly will schnell an kapp vorbei in richtung saal) külly eine letzte frag KÜLLY bitte KAPP vorzeitig freiwillig büßens da net ein haufen schmott ein KÜLLY das ist mir egal KAPP na hörens und überhaupt ihre schwarzmalerei des

kennens übrigens den den unterschied zwischen pessimist und optimist KÜLLY und KAPP der optimist sieht den käs der pessimist nur die löcher ha KÜLLY wie lustig ich bin realist und was ich da als blauhelmoffizier im balkankrieg erlebt habe diese gräuel selbst unter nachbarn das kann und werde ich niemals vergessen KAPP deshalb also warens dann hier KÜLLY erraten und jetzt kapp jetzt werden lieder gesungen KAPP (seine hacken zusammenknallend) zu befehl holladria holladrio (alle ab in richtung saal)

3. akt / 1. auftritt (ein kleiner saal mit bestuhlung auf der die männer des büfetts etwas im abstand und vereinzelt vor der bühne sitzen / seitlich im hintergrund befinden sich rosa dana und lana – die beiden jetzt ohne schürze – / jacky bedient das mischpult der musikanlage / milli – leicht gestylt und im abendkleid – steht vor dem mikrofon und verbeugt sich / sie hat gerade ein lied beendet / matter applaus) ROSA bravo (dana und lana animierend) DIE BEIDEN bravo MILLI danke (zu jacky) die sieben und jetzt folgt ein gedicht von goethe (sie trägt es mehr als raunenden und beschwörenden singsang vor) „kennst du das land wo die zitronen blühn im dunkeln laub die goldorangen glühn ein sanfter wind vom blauen himmel weht die myrte still und hoch der lorbeer steht kennst du es wohl dahin dahin möcht ich mit dir o mein geliebter ziehn“

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Stück Christian Martin (sie verbeugt sich / applaus) KRONZUCKER bravo wie geistvoll und diese sprache KAPP „dahin dahin“ son gesülz KRONZUCKER na hören sie das ist hochkultur KAPP des is für meine ohrn gehobener kitsch KRONZUCKER eine unverschämtheit sie beleidigen das erbe unseres dichterfürsten MILLI (giftig) „wenn ich das wort kultur höre entsichere ich meinen revolver“ KAPP wer sagt des MILLI ein nazi KAPP na hörens ich bin kein nazi KRULL was dann (stille) ROSA milli lass dich net störn weiter im programm DANA UND LANA weiter weiter KAPP singens doch etwas wie sagt man frivoles heut zu walpurgis hochkultur hin und her die geschmäcker sind halt verschieden mir wollen heut nacht die orgiastische höll was herr pfarrer oder net KRONZUCKER von mir aus bitte weiter KAPP habens net so was auf lager MILLI (zu jacky) die neun aus der dreigroschenoper (singt die erste strophe der „moritat von mackie messer“) NEUMANN brecht der zeigefinger KAPP ein verkappter schläfer in klammern linksradikal NODURF is der mensch denn ein raubtier KÜLLY mensch bleibt mensch KRULL ein wolf im schafspelz (in richtung kapp) wachhunde inbegriffen KÜLLY ich persönlich wäre ja für den kanonensong das antikriegslied aber nicht heute abend KAPP eben mir wollen stimmung und keine problem was urwüchsig freches

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erst das fressen dann die moral des is doch auch von dem und vorher der sex ha ROSA so störens net dauernd KÜLLY verehrte künstlerin bitte verzeihen sie uns es ist natürlich ihr programm singen sie bitte bitte weiter MILLI (war und ist jetzt nahe am abbruch) nein ich ROSA milli hab dich net so hast net so was gewünschtes auf lager MILLI also gut aber jetzt ohne unterbrechung wenn ich bitten darf (zu jacky) die zwölf dann gleich die dreizehn (singt die ersten vier zeilen der zweiten strophe von „denn wie man sich bettet“ aus Brechts „aufstieg und fall der stadt mahagonny“) KAPP na also warum net gleich so MILLI „man sagt die männer sind nur lückenbüßer […] nachgeborner welt“ [Aus: Bertolt Brecht, Gedichte über die Liebe, Ffm. 1982] ALLE (applaudierend) bravo weiter so MILLI (jetzt mit erotischer ausstrahlung und verve singend) „den abendhimmel macht das saufen […] wir leichtgeschwellt der hölle zu“ [Drei Strophen aus Brechts “Liebeslied“, a.a.O.] (sie verbeugt sich / frenetischer applaus und bravorufe / lea – im bademantel – schaut an der saaltür herein) MILLI danke danke vielen herzlichen dank KÜLLY (in richtung rosa) also ihre schwester ist eine großartige sängerin KAPP schauspielerin zum reinbeißen knusprig und der brecht ha ein filou NODURF das lob des kommunismus das kenn ich noch von der schul KRONZUCKER hätten sie bitte ein gedicht von goethe noch KAPP apropos schul und goethe da fällt mir was ein (er stürmt auf die bühne und nimmt milli seitlich in den arm / sie lässt es widerwillig geschehen)

der goethe nämlich war auch ein schlawiner als gymnasiasten hat man uns mit dem „faust“ geprügelt aber des hier sein geheimen nachtrag haben mir uns gemerkt (singt nervtötend falsch ins mikrofon und stampft dabei rhythmisch mit dem rechten fuß auf) „ihr mägdlein ihr stehet hier grad in der mitten ich seh ihr kommt alle auf besen geritten seid reinlich bei tage und säuisch bei nacht so habt ihrs auf erden am weitsten gebracht“ (allgemeine verblüffung dann stille) KAPP da staunt ihr he was der kapp alles drauf hat MILLI (sich vehement von ihm lösend) das reicht schluss aus jetzt mein programm ist hiermit beendet (sie eilt in richtung tür / lea ist verschwunden / milli hält kurz inne und betrachtet erstaunt das outfit von dana und lana / die strecken ihr die zunge heraus) ROSA für sie meine herren geht das programm weiter ein besonderer augenblick erwartet sie noch bitte folgen sie mir unauffällig im ganterschritt (die männer reihen sich hinter rosa ein und defi­lieren wie gewünscht an dana und lana vorbei die sich provokant und aufreizend präsentieren / sie verlassen den saal durch das vestibül in richtung treppe jacky trödelt hinterher / dana und lana räumen im saal die bestuhlung zur seite) NEUMANN rosa ist zu bewundern wie sie den laden hier schmeißt KÜLLY wem sagen sie das und auch so was für eine tolle frau KAPP und die schwester erst brüder und schwestern einig vaterland und die angeblichen zwilling da tropft der zahn saftiges frischfleisch KRULL alles billig für sie hier im osten frei haus sie mit ihrem zweifachgehalt KAPP schnauz oder KRULL oder was

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Stück „Zinnwald“ KAPP neidhammel haltens ihr schandmaul NODURF die rosa was hat sie noch vor NEUMANN lassen wir uns überraschen

2. auftritt (ein flur in der oberen etage / die männer folgen rosa weiterhin im ganterschritt / sie öffnet die tür zu einem abgedunkelten etablissement) ROSA bittschön meine herrschaften trippelns da hinein KAPP zappenduster KRULL etwa ein verkapptes fotolabor KAPP ksss NEUMANN abwarten NODURF (ängstlich) darf man gespannt sein KÜLLY (ironisch) aber nicht doch foltern ist wieder genehmigt von ganz oben KRONZUCKER kein guter scherz ROSA und jetzt schärfen sie ihre sinne (sie gibt jacky ein zeichen / er betätigt schalter / erst infrarotlicht dann regenbogenfarbige beleuchtung und sphärenmusik / in der mitte des raumes ist schemenhaft ein mit künstlichen blumengirlanden geschmückter gynäkologiestuhl zu sehen auf dem eine maskierte frau mit entblößtem schoß liegt) DIE MÄNNER aah ooh ROSA sehen sie sich satt berühren aber verboten und wieder der reihe nach eva aus dem paradies ist zu euch gekommen sie zeigt euch großen jungs wo ihr herkommt KAPP sensationell NEUMANN sehr mutig diese absolute offenheit KRULL in der tat frappierend NODURF ohne jegliche hemmung KAPP quatschens kein blödsinn schauens lieber das zarte rosa leicht violett NODURF aber das is das muttermal da am oberschenkel KAPP muttermal ha nodurf wie originell

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NEUMANN sieh da sieh da (jacky beginnt leise eine conga zu trommeln / nodurf verzieht sich in eine ecke und bedeckt mit den händen sein gesicht) ROSA meine herren jeder nimmt eine rassel (verteilt sie) im rhythmus bewegen und im tanzenden schritt den stuhl umkreisen JACKY huldigen sie dem mythos der schöpfung KRONZUCKER genial und lasset lust sein auf erden im ewigen frieden KÜLLY ja frieden denn wir menschen haben die pflicht zum glücklichsein KRULL das hier glaubt niemand KAPP dann sperren sie ihre glotzer auf sie KRULL poesie oder porno das ist hier die frage NODURF ein alptraum NEUMANN den feminismus in seinem lauf NODURF haltens ihr schandmaul das sind mir die richtigen mal da mal dort hauptsach knet scheffeln NEUMANN nu aberaber sie politische unschuld das liebe geld regiert bekanntlich die welt (die männer umkreisen den stuhl im ganterschritt tanzend / milli – die sich inzwischen umgezogen hat – erscheint an der tür und betrachtet erstaunt das geschehen) MILLI das das nagelt die miez an den apfelbaum was für ein affentheater ROSA tu net so pikiert als hättest grad deine unschuld verloren die einen treibens so die anderen anders wies halt gefällt MILLI und du ROSA was ich MILLI jacky JACKY rosa ist die chefin aber du bist nicht auf dem laufenden MILLI laufen oder läufig wo ist hier noch ein unterschied und überhaupt deine bedienung

das sind nicht etwa ROSA (nickend) ohaja MILLI o nein dann ist dein hotel jetzt ROSA reg dich net künstlich auf JACKY das alte und junge gewerbe ROSA meine kredit milli ich stotter sie ab net du und diese nacht wie du weißt haben mir gemeinsam was vor JACKY was vor was denn (pause) MILLI aahja du meinst den ringtausch ROSA genau wie besprochen JACKY ringtausch NODURF (eilt auf rosa zu) brechen sie ab sofort ROSA und was NODURF das fragen sie noch diese diese obszönität oder ich ROSA oder was NODURF rufe die polizei JACKY drehen sie sich um dort trippelt kapp NODURF man hat ja so einiges munkeln gehört über ihr (verächtlich) hotel aber das da schlägt dem fass den boden aus ROSA das fass ohne boden jaja ich zahl redlich steuern an das finanzamt herr bürgermeister ich verdien mein geld net im schlaf NODURF eine frechheit ihr unterton wollens mir etwa was unterstelln ROSA ich unterstell gar nix aber den konflikt hier tragens mit ihrer frau aus net mit mir es war ihre entscheidung net meine NODURF das hat ein nachspiel ROSA wenns unbedingt druck haben sexuelle dienstleistungen sind heutzutag erlaubt auch von ganz oben die zwilling wären noch frei für heut nacht brauchens einen termin NODURF net mit mir

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Stück Christian Martin und wie gesagt das ganze hat ein nachspiel ROSA von mir aus tun sie sich kein zwang an JACKY (hat das trommeln beendet) ob vorspiel ob nachspiel wir sind im endspiel nodurf dem erdball geht die luft aus und das internet plus künstlicher intelligenz besiegelt für uns die niederlage ob mit schiedsrichter oder ohne MILLI jacky der philosoph NODURF ich geh (aber nur scheinbar ab) ROSA tschühüss (in das etablissement) so meine herrschaften diesen akt schließen wir das programm aber noch lange nicht wir alle begeben uns zurück in den saal walpurgis ruft auf zum hexentanz (beifall / jacky schaltet alles ab und das licht im flur hell / die männer legen ihre rasseln ab und gehen auf den flur in richtung treppe / krull eilt zur toilette) NEUMANN clever rosa wirklich clever KAPP was ihnen so einfällt ich wiederhole mich sensationell (eilt krull nach) KRONZUCKER über geschmack lässt sich bekanntlich streiten aber der eulenspiegel mal weiblich warum nicht jacky hättest du zeit JACKY später okay KÜLLY rosa bitte (er zieht sie behutsam beiseite und diskutiert leise aber sehr emotional mit ihr / flüchtige blickwechsel der beiden mit jacky und milli) MILLI haben die was miteinander JACKY frag rosa MILLI und du heute nacht ich will dich JACKY du lässt nicht locker MILLI sollte ich JACKY nein aber wenn rosa MILLI von mir wird sie nichts erfahren (pause) dieser JACKY külly MILLI ist sehr attraktiv und rosa scheint nicht abgeneigt

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JACKY meinst du MILLI das sieht doch eine blinde mit krückstock und wir zwei beiden sind nicht geschieden also mein lieber zier dich nicht kein gewissen ist manchmal auch ein sanftes ruhekissen mit einer schönen begehrenswerten frau oder auf zum hexentanz (sie zieht jacky an den beiden vorbei / bejahender blickwechsel mit rosa / lea verlässt im bademantel das etablissement / sie wartet aber auf eine antwort von rosa ob ihr mann noch im hotel ist)

3. auftritt (toilette / krull wäscht sich die hände / kapp erscheint und überzeugt sich schnell ob sie allein sind / dann packt er krull im genick und drückt dessen kopf gegen den spiegel) KAPP so du schleimscheißer genug wischiwaschi jetzt bist dran KRULL he was soll das KAPP elender pressefuzzi des frag ich dich deine unverschämten artikel dein provozierendes gelaber des nervt des lässt bleiben sonst KRULL was sonst KAPP deine lügen stopf ich dir ins maul KRULL lügen pah fakten meine recherchen sind hieb- und stichfest beteiligung am schmuggel mit crystal meth KAPP des klär ich auf net du und zwar intern KRULL der bock zum gärtner KAPP du bockarsch dreh dich um (zieht seine pistole und richtet sie auf krull) KRULL wohl verrückt geworden KAPP gesteh KRULL was denn was KAPP die ausländischen miezen was du mit denen zu schaffen hast KRULL nichts KAPP die wahrheit raus damit

(entsichert seine pistole) KRULL dasdas dürfen sie nicht sind sie irre KAPP ich hör KRULL die die wollen unbedingt in eine großstadt service escort mehr geld mehr luxus ich vermittle nur KAPP gegen provision versteht sich provision KRULL ja KAPP ha krull der moralapostel (er öffnet die tür zum flur) jetzt schreist du schön laut „allahu akbar“ KRULL nein nein niemals KAPP doch doch (brüllt selbst mit verstellter stimme) „allahu akbar“ so mein bester jetzt darf ich dich erschießen (er steckt seine pistole weg) duu medienhiob und brandbeschleuniger aber sensationsgier wird net bestraft im gegenteil mir beschützen die noch (pause) so des war für morgen ein probedurchlauf schwirr ab du lüsterne schmeißflieg ich muss pinkeln (krull schnell ab)

4. auftritt (flur / lea – noch im bademantel – geht gemächlich in richtung ihres zimmers / nodurf hat ihr aufgelauert und verfolgt sie) NODURF bleib stehn LEA (versucht hastig die tür aufzusperren was aber misslingt) was willst du lass mich zufrieden NODURF (sie packend) na duu hast wohl ein schlechtes gewissen LEA auah du tust mir weh NODURF wenn ich könnt wie ich wollt LEA na los doch schlag zu du brutaler saubermann is gut für die scheidung NODURF tät dir so passen du schlamp

Theater der Zeit 4/ 2023


Stück „Zinnwald“ dassd dich net schämst LEA wofür NODURF dich so zu präsentiern da in dem raum obszön bis dahinaus die mutter meines kindes wenn die presse das rauskriegt meine frau ein skandal LEA dann halt die klapp NODURF (ihr den schlüssel abringend und die tür aufsperrend) los rein mit dir LEA nee ich bleib hier draußen NODURF ich sagte rein mit dir (erneut gerangel / ihr bademantel verrutscht) du nutt ich bezahl dich LEA (sich lösend) affengeil auch noch ich bezahl dich (wirft ihm geldscheine ins gesicht) verschwind lass mich in ruh NODURF lea sei doch LEA vernünftig net die alte leier familie und so heim und herd geborgenheit und wohlstand eigenheim mit gittern du heiliger strohsack in dein mief dein falsches getu komm ich net zurück NODURF damit beleidigst du auch unser kind LEA vaterunser in zinnwald es is net dein kind es is meins das ich mir zurückhol NODURF niemals das werd ich verhindern LEA und wie es is net von dir (pause) NODURF (konsterniert) wie net von mir LEA damals als ich net weiterwusst ich hab dich belogen NODURF infam und bösartig auch noch ich verlang einen gentest LEA den hast du auch net bestanden NODURF was „auch“ LEA denunziant und stasispitzel

Theater der Zeit 4 / 2023

deine akte von „horch und guck“ hättest besser vernichten solln die nostalgie deiner glorreichen vergangenheit NODURF bluff LEA ich hab sie durch zufall entdeckt beim großreinemachen (pause) bist sprachlos jetzt was der herr bürgermeister NODURF ichich nichtdoch man hat mich erpresst LEA du armes opfer im klassenkampf parole „wer wen“ (pause) im film sagens immer und das bis zur vergasung „es tut mir leid“ NODURF du willst mich also ruiniern und vernichten LEA ich will meine freiheit unterschreib die scheidung ohne wenn und aber deine kloakte kriegst dann zurück und von mir aus wisch dir den arsch ab damit doswidanija [auf wiedersehen] genosse vor dem anwalt NODURF erpresserin duu glaub ja net dassd mir so ungeschoren davon kommst (ab / lea hebt das geld auf und sperrt ihre zimmertür von innen zu)

4. akt / 1. auftritt (der beräumte saal / seitlich der eingangstür befindet sich jetzt eine minibar mit frei verfüg­ba­ ren getränken / es ist niveauvolle schlagermusik zu hören / die frauen – außer milli – haben sich als reizvolle hexen kostümiert / paarweiser tanz: lea mit neumann / rosa mit külly / milli mit jacky dana mit kapp / lana mit krull der immer kapp ausweicht / kronzucker trinkt an der bar traurig vor sich hin / die gespräche der protagonisten – jeweils im scheinwerferlicht – finden im vordergrund der bühne oder seitlich statt ebenso die während der trinkpausen / die musik ist dann entsprechend leise) KAPP wirklich zwilling DANA da KAPP eineiig oder zweieiig DANA nix verstehen

KAPP ha zwilling ei ei wers glaubt wird selig aber haupsach zwei flotte bien mit honigtopf summsumm DANA da summsumm KAPP bienchen summ herum wie wär des mit einem dreier DANA wie lotto KAPP net lotto ich otto du und dein schwester mir drei DANA okay aber teuer KAPP nix teuer ich denk angebot sonder DANA sonderangebot KAPP sag ich doch DANA okay KAPP also später dann ab in die heia DANA heia was is ----KRULL für die anzahlung habt ihr das geld LANA da KRULL wann und wo LANA im zimmer aber KRULL was aber LANA erst ausweis dann geld KRULL falsch erst geld dann papiere LANA nix papier ausweis ------NEUMANN meine [englisch] angelwitch wir waren doch glücklich LEA du mit deiner frau NEUMANN ich mit dir LEA deshalb hast mich geschwängert deine verliebte und willige sekretärin zumindest all die jahr hast heimlich und pünktlich gezahlt NEUMANN und nodurf hat nichts geahnt LEA net bis heut NEUMANN damals eine scheidung

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Stück Christian Martin wäre besser gewesen ich habe das oft und bitter bereut LEA und trotzdem bist noch verheirat NEUMANN wir leben wie fremde nebeneinander LEA wenn man halt allein bleiben will tut man heiraten (pause) tuttut freie bahn sonst stirbt die lust NEUMANN in meinen träumen hab ich dich immer sehr heiß begehrt LEA kitsch lass nach aber das stimmt unser sex war first class NEUMANN first class auch in der zukunft LEA zukunft welche zukunft NEUMANN angebot mit unserm kind kommst du zu mir in die stadt und ein job in der bank wäre auch drin LEA wieder als büropolster und zweitfrau NEUMANN lea ich meine es ernst LEA angebot du zahlst die wohnung und hunderttausend extra als schmerzgeld für die einrichtung NEUMANN naja also das heute nacht wollen wir darüber sprechen oder hast du was besseres vor LEA „in meinen träumen hab ich dich immer

sehr heiß begehrt“ okay sprechen wir ------ROSA bitte külly ich wiederhol mich der kopf sagt ja mein herz aber nein KÜLLY und der kopf ist machtlos gegen das herz ROSA hm ich mag dich aber das reicht net KÜLLY also gut oder nicht gut ich habe verstanden und gebe auf das glück ist ein flüchtiges reh mir läuft es immer davon ROSA eines tages aber KÜLLY vielleicht vielleicht auch nicht man trifft nur selten auf eine frau bei der man das gefühl hat das könnte eine liebevolle partnerschaft werden ROSA danke das kompliment geb ich gern zurück KÜLLY es war mir eine ehre morgen reise ich ab ROSA schon morgen bleib doch noch meine mutter sagt immer man soll den tag net vor dem abend loben und manche nacht (mit blick auf milli) birgt so ihre geheimnis KÜLLY rosa rosa ein rätsel mehr -------MILLI ich muss mal für kleine mädchen JACKY tu dir keinen zwang an (milli ab / jacky geht zu kronzucker)

wollen wir hier reden KRONZUCKER nicht hier in deinem zimmer JACKY ich kann jetzt nicht weg rosa braucht mich wegen der musik KRONZUCKER also gut dann später ich warte (hält ihm sein leeres glas hin) noch einen letzten zum abschied JACKY ich erkenn dich nicht wieder seit wann KRONZUCKER schenk ein JACKY (sich ebenfalls ein glas einschenkend) abschied was meinst du mit abschied KRONZUCKER nur so ist mir gerade eingefallen JACKY also dann prost auf den abschied die idee könnte von mir sein (sie trinken / er schenkt nach) du weißt ja auf einem bein (rosa kommt mit nachschub / dann nimmt sie jacky das glas weg) ROSA du hast genug intus kronzucker sie erlauben ich möcht jetzt tanzen zu meinem lieblingslied JACKY (er stellt am mischpult das lied von françoise hardy „frag den abendwind“ ein / rosa klatscht in die hände und schnappt sich jacky) ROSA hexenwahl (milli ist zurück und holt sich külly / dana krull / lana kapp / lea bleibt bei neumann / es folgt ein mehr oder weniger inniges tanzen / der refrain wird erst leise dann von einigen lauthals mitgesungen: „frag den abendwind […] das frage nicht“

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Highlights April 31. Dresdner Adam Linder Loyalty 14. & 15.04.2023

Know Your Roots 07. & 08.04.2023

Tage der zeitgenössischen Musik 19.04. – 07.05.2023

Foto: Diana Pfammatter

84’TIL & The Saxonz feat. ILL-ABILITIES


Stück „Zinnwald“ (kapp verdrängt krull von dana) KRULL he sie raufhold KAPP verzieh dich (er tanzt mit dana und lana weiter / krull holt sich an der bar eine flasche schnaps und kommt zurück) KRULL (zu dana und lana) dann auf später in meinem zimmer und ja nichts vergessen KAPP (nach ihm tretend) hau endlich ab ROSA kapp das geht zu weit KRULL bis dann (ab / nach dem liedende folgt von trio „da da da“ / das tanzen wir hektischer) KÜLLY (innehaltend) bitte seien sie mir nicht böse aber das ist mir zu blöd MILLI naja ironie halt KÜLLY wollen wir etwas trinken MILLI gern (sie holen sich einen drink und gehen damit an ein fenster) KÜLLY stört es sie wenn ich das fenster öffne MILLI nein KÜLLY ich brauche frische Luft MILLI wer nicht KÜLLY dort drüben ein höhenfeuer MILLI ist noch tradition hier das winteraustreiben KÜLLY und die sterne wie sie leuchten so wunderbar klar in der stadt hat man kaum eine chance mehr sie zu sehen MILLI leider (pause) als kind oft hab ich versucht sie zu zählen KÜLLY und

mit welchem ergebnis MILLI o o besser nicht KÜLLY ich wollte einmal alles über sternbilder wissen und ihre mythen und wie die seefahrer dann hinaus aufs meer MILLI und was ist daraus geworden KÜLLY eine landratte und blauhelmoffizier auf dem balkan und später hierher dann an die grenze habe ich mich versetzen lassen MILLI deshalb also kennen sie rosa KÜLLY rosa (pause) sie hat ihnen nichts von mir erzählt MILLI wir hatten zuletzt wenig kontakt (pause) KÜLLY tjaa „viele steine müde beine aussicht keine MILLI heinrich heine“ (sie müssen lachen) KÜLLY ihr auftritt übrigens hat mir sehr gut gefallen MILLI danke auf der bühne wenn ich in stimmung bin kann ich so einiges im leben aber (pause) schauspielerin das war mein traumberuf (pause) KÜLLY war MILLI spielen heißt für mich suchen wir aber leben

wie auf der flucht unfähig innezuhalten das war ist meine große sehnsucht KÜLLY tjaja wir sind dabei alles zu verspielen wir degradieren uns immer mehr zu objekten und die frage ist sind wir noch fähig uns eine chance zu geben (pause) aber plötzlich ist man alt MILLI nana sie sind doch im besten alter KÜLLY wenn sie das sagen MILLI ihr name spricht sich französisch aus KÜLLY ich entstamme einem alten hugenottengeschlecht damals meine vorfahren sind ausgewandert nach preußen die gründe sind ja bekannt MILLI leben sie in berlin KÜLLY zurzeit noch eigentlich hatte ich eine große weltreise geplant sozusagen eine kreuzfahrt ins glück immer den sternen nach ha MILLI dafür braucht man aber das nötige kleingeld KÜLLY das ist nicht mein problem aber so allein denke ich macht es wenig spaß (rosa eilt auf die beiden zu) ROSA darf ich dir meine schwester entführen KÜLLY nur ungern

Preisverleihung

17. Mai 2023 19.00 Uhr

HAU Hebbel am Ufer (HAU1) und auf www.fonds-daku.de


Stück Christian Martin ROSA komm schon komm MILLI (külly ihr glas reichend) sind sie so nett KÜLLY na klar ROSA auf jetzt gemeinsam zum hexentanz MILLI ohne kostüm ROSA macht nix zieh deine grimmige schnut mir legen gleich los so wie früher als teenager mit hummeln im hintern bist bereit MILLI (mit pioniergruß) immer bereit (rosa gibt jacky ein zeichen / er wechselt zum song „satisfaction“ von den rolling stones und schaltet das licht aus und ein stroboskopartiges blitzlichtgewitter an / die beiden schwestern führen einen wilden tanz auf der durch lea ergänzt wird / sie werden von dana und lana noch ekstatisch übertroffen / frenetisches beklatschen des reigens durch die männer / dann ein plötzlicher stromausfall / dunkelheit und längere stille / plötzlich kommt von links ein abgemagerter bergmann in zerschlissener arbeitskluft und mit grubenlampe auf die bühne / erschöpft marschiert er im kreis und singt mit brüchiger stimme sein lied) BERGMANN „brüder zu sonne zur freiheit brüder zum lichte empor hell aus dem dunklen vergangnen leuchtet die zukunft hervor seht wie der zug von millionen endlos aus nächtigem quillt bis eurer sehnsucht verlangen himmel und nacht überschwillt brüder zur sonne zur frei“ (unterbricht und bleibt stehen / spricht in richtung publikum) an alle kommt morgen zur kundgebung eure solidarität wir brauchen sie

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(geht nach rechts ab die strophe zu ende singend / wieder längere stille / erstes räuspern / plüsch taucht in unterwäsche und mit taschenlampe auf) PLÜSCH wasn los der berg rumort wohl ein schwarmbeben oder is die sicherung durch wo isn der kasten (laut rufend) milli milli wo bist du

5. akt / 1. auftritt (im arbeitszimmer jackys / er trinkt mit kronzucker schnaps und will dann auch bei ihm nachschenken) KRONZUCKER (abwehrend) danke (pause) JACKY nun red schon warum abschied du gefällst mir nicht KRONZUCKER (verkrampft lächelnd) ich weiß doch JACKY ich bin nun einmal anders gepolt also raus mit der sprache wir sind freunde (pause) KRONZUCKER mich mich hat es erwischt JACKY wie „erwischt“ KRONZUCKER meine große liebe hat mich betrogen JACKY das soll vorkommen aber verzeihen ist christlich oder KRONZUCKER das ist nicht so einfach JACKY die höhere art von liebe kann das nicht und verzeihen

ist immer auch ein abschied KRONZUCKER er er hat mich angesteckt JACKY etwa mit aids (kronzucker nickt) bewusst oder unbewusst KRONZUCKER er sagt unbewusst JACKY trotzdem eine katastrophe KRONZUCKER wem sagst du das JACKY und dein arzt hast du schmerzen KRONZUCKER starke medikamente und es kann dauern bis (unterbricht) deshalb habe ich meine versetzung beantragt denn für meine gemeinde hier wäre die offenlegung ein skandal und mit dem kirchenvorstand liege ich ohnehin im dauerclinch mit meinen wie sie sagen „provozierenden ansichten“ ostern zum beispiel im gottesdienst mit einer improvisierten schnurre habe ich die gemeinde zum lachen gebracht dass der tod sich an christus verschluckt hat (pause) ich habe keine angst mehr vor dem sterben aber die anonymität der stadt ist besser für mich JACKY dabei ist der tod die beste erfindung des lebens darauf trinken wir wieder einen letzten (er schenkt ihm nach / sie trinken) die sinnfrage für mich ist philosophisch gelöst sieh dir meine bibliothek an oder deine all die weisheiten von jahrtausenden was haben sie gebracht


Stück „Zinnwald“

EASY

FRAU CIA.

FIVE

JOANA

.C US ACHTHA

BEING

W

W W. SC HL

H

PINK

AIN’T

TRAPP

(flur / plüsch eilt aufgeregt zu millis zimmertür und klopft vehement) PLÜSCH milli milli (pause) MILLI (von drinnen) wer ist da PLÜSCH na ich bin es plüschi wer sonst MILLI was willst du PLÜSCH mit dir reden (pause) MILLI es ist spät PLÜSCH deinen zündschlüssel hier (hält ihn hoch) den habe ich noch MILLI (öffnet die tür und nimmt ihn) danke (pause) noch was PLÜSCH das war net fair MILLI was PLÜSCH dassd mich net geweckt hast zu deim auftritt MILLI so friedlich wie du geschlummert hast PLÜSCH pah friedlich und schummel net jetzt bist du mir was schuldig MILLI schuldig wie ich verstehe nicht PLÜSCH ich bin kein adonis ich weiß aber dein orlando könnte ich sein MILLI orlando orlando ich bin milli nicht rosalind PLÜSCH doch dein epilog is famos aber die hochzeitsnacht zwischen den beiden hat shakespeare nie geschrieben wir improvisieren und holen sie nach MILLI plüschi du fantasierst PLÜSCH meine fantasie ist real

du stehst leibhaftig vor mir (pause) was is willst mich hier draußen verhungern lassen oder proben wir drin von mir aus mach die augen zu aber bitte lass mich rein MILLI spinn nicht rum und komm runter das leben ist keine probe es findet statt jede sekunde ist eine premiere PLÜSCH dann lass sie stattfinden jetzt die premiere bereit sein ist alles (will in ihr zimmer) MILLI (ihn abwehrend) das geht nicht ich erwarte besuch PLÜSCH ich bin hier MILLI ich warte auf rosa PLÜSCH um ausreden warst du nie verlegen schon in der schul MILLI es ist die wahrheit PLÜSCH die wahrheit pah heutzutag aber is mehr schein als sein (rosa nähert sich im bademantel) ROSA plüsch was treiben sie hier MILLI meinen zündschlüssel ROSA zündschlüssel PLÜSCH zündschlüssel MILLI (ihn zeigend) ich hatte ihn vergessen ja dann plüschi danke noch einmal und vielleicht irgendwann PLÜSCH schon gut schon gut schon gut ich habe verstanden

LINES

2. auftritt

TISCHKAU

diese (spöttisch) sogenannte zivilisation ist ein furchtbares chaos und jetzt jetzt schafft sie noch die kultur ab (pause) und die sprache wird mehr denn je gefälscht (pause) erst stirbt die sprache dann der poet ha ich glaube nicht mehr an eine würdevolle zukunft von uns menschen (pause) erinnerst du dich an unseren besuch in güstrow KRONZUCKER und ob barlachs engel JACKY und wir im blindflug durch raum und zeit KRONZUCKER aber selbstmitleid bringt uns nicht weiter JACKY weiter wohin KRONZUCKER schreib empathie und trost wir haben sie bitter nötig JACKY nicht mehr heute ich werde erwartet KRONZUCKER darf man fragen von wem JACKY ist mein geheimnis KRONZUCKER oha wieder liebe der korintherbrief ist JACKY die große illusion nicht mehr nicht weniger magnet und fliehkraft zugleich KRONZUCKER (gähnt) ich bin müde JACKY wer nicht du kannst hier schlafen ich mache mich frisch


Stück Christian Martin prospero hat seinen zauberstab zerbrochen und kehrt zurück in die reale welt und ich ich troll mich und prob den caliban auf seiner einsamen insel ROSA prospero caliban MILLI theaterfiguren ROSA sie spielen auch PLÜSCH bloß laienspiel immer wenn sturm is buona notte ovvero non (ab) MILLI (zu rosa) komm rein

3. auftritt (im zimmer millis) ROSA wird jacky auch kommen MILLI er wird aber wohin soll ich ROSA entweder zu mir oder MILLI oder ROSA lass dir was einfallen du hast schauspiel studiert külly braucht trost MILLI das meinst du nicht ernst ROSA warum net es hat doch gefunkt zwischen euch beiden oder seh ich das falsch MILLI ha funkstation goldenes herz ROSA (zieht ihren bademantel aus und zeigt sich in aufreizender nachtwäsche) und MILLI he du bist mir eine ROSA du die andere (sie lachen) MILLI meine frisur noch (mit geübten griffen

verändert sie entsprechend die haare rosas) ROSA hätt ich glatt vergessen MILLI ja dann schau mich an perfekt walpurgis walpurga ROSA danke MILLI schon gut ich verschwinde (ab / rosa stellt leise musik an und dimmt das licht weit herunter / sie setzt sich auf das bett mit dem rücken zur tür und wartet / sehnsüchtig blickt sie nach draußen zu den sternen / es klopft leise / mit „millis“ stimme) herein

4. auftritt (im zimmer leas /sie sitzt mit neumann auf der bettkante und spielt mit ihrer hexenmaske / er betrachtet lea voller begehren / längere pause) LEA schau mich net so an NEUMANN wie LEA na eben so NEUMANN da in dem raum warst du sehr frei LEA na und auch weil ich geld brauch NEUMANN mein angebot steht lea (will sie küssen) LEA (abwehrend) net NEUMANN aber LEA nix aber NEUMANN vorhin beim tanz ich dachte du wärest einverstanden LEA das war vorhin NEUMANN und jetzt LEA ich will mein eigenes geld NEUMANN was oder wer spricht dagegen LEA du (pause) an kein tropf mehr niemals

das hab ich mir geschworen NEUMANN hört hört und wie bitte schön willst du das anstelln LEA escort-dame NEUMANN hä LEA was die so verdien summen da schlackerst mit die ohrn ich hab ein gespräch belauscht zwischen krull und die zwilling reiche geschäftsleut solche wie du was die zahln dreitausend euro pro abend und nacht das wär der job für mich NEUMANN das das meinst du nicht ernst LEA und ob NEUMANN aber du bist keine studentin mehr LEA aha NEUMANN was aha LEA nur so probiern geht über studiern außerdem liebe ich sex NEUMANN (ist resigniert und verfällt kurz in dialekt) wer net (pause) lea bittebitte du ich du weißt dass ich dich lie LEA (ihm schnell den mund zuhaltend) pschsch is das blödeste wort das ich kenn liebe (pause) net zwischen mann und frau NEUMANN wer sagt das LEA ich (pause)

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DER EINGEBILDETE KR AKE Stück über den Horror des Wissens von Wilke Weermann | Uraufführung [14 plus] Premiere: 29. April 2023 Infos & Karten 0341. 486 60 16 | www.tdjw.de


Stück „Zinnwald“ hast dich nie bei mir blicken lassen wenn du hier warst nur gezahlt aber is halt so jeder lebt für sich allein NEUMANN „stirbt“ der roman heißt so LEA von mir aus ob roman oder net wahrheit bleibt wahrheit NEUMANN und brautkleid bleibt LEA bleikraut (kurzes auflachen beider / dann längere pause) NEUMANN ich hab verstanden und geh jetzt wohl besser LEA tu dir kein zwang an (sie legt die maske weg und beginnt ihn zu liebkosen) der kopf denkt das herz lenkt sagt rosa immer NEUMANN soso die rosa („ergibt“ sich seufzend) aus dir werd einer schlau LEA sex der will der is net schlau der schreit bloß nach erfüllung auf teufel komm raus

5. auftritt (im etablissement von dana und lana mit entsprechender beleuchtung / während kapp im hintergrund noch im bett – es ist nur halb mit einem vorhang verhüllt – mit lana „beschäftigt“ ist macht sich dana leise im vordergrund am halfter der uniform kapps zu schaffen / sie tauscht die echte waffe gegen eine attrappe aus und wickelt sie sorgfältig in ein handtuch das sie in einen wäschekorb legt

/ sie stellt ihn vor die zimmertür) KAPP danastut hierher zu mir doppelwummsbums lana macht schlapp DANA dada LANA blaue pill zu viel KAPP dada die große reitschul hoppe hoppe reiter wenn er kommt dann schreit er endlich jetzt uaaah (sackt nach der ejakulation erschöpft in sich zusammen und schläft schnarchend ein / lana stößt ihn von sich weg) DANA okay LANA da (sie ziehen sich ihre bademäntel über und dimmen das licht höher / sie setzen sich an den tisch und trinken und rauchen / ab und zu sehen sie nach kapp ob er wirklich fest schläft / dann holen sie eine versteckte tasche und beginnen ihr geld zu zählen / es klopft / sie werfen die scheine schnell zurück in die tasche und verstecken sie wieder) DANA (die tür öffnend) krull KRULL darf ich DANA (ihn hereinwinkend und auf das bett zeigend) kapp noch da pssst KRULL (zögert kurz aber dessen schnarchen hemmt nicht mehr seine absicht) brutale raubsau (die ausweise zeigend) habt ihr das geld zusammen LANA wir haben DANA (holt die tasche hervor und zeigt es) KRULL na also fleißig fleißig (will das geld nehmen) DANA halt du warten

WILDE BÜHNE: HIER KOMMT KEINER DURCH! Von Isabel Minhós Martins und Bernardo P. Carvalho | Aus dem Portugiesischen von Franziska Hauffe [8 plus] | Premiere: 15. April 2023 | www.tdjw.de

KRULL worauf LANA wir nix wissen ob gut is KRULL was gut DANA gerrrmany und LANA job in stadt KRULL ha auf einmal euro euro euro was kost die welt LANA rosa is gut jacky DANA du net sie uns holen von straß KRULL illegal aber LANA nix aber DANA wir noch überlegen KRULL (mit den ausweisen winkend) einmalig die chance LANA zwei DANA da zwei LANA du gehen besser KRULL (rabiat zur tasche greifend) das geld her für die ausweise oder DANA (halblaut) herr kapp hilfe ein dieb LANA hilfe KRULL gutgut ich gehe galgenfrist einen tag DANA wer frisst galgen KRULL zwei (geht / sie nehmen das geld aus der tasche und suchen nach einem sicheren versteck)

6. auftritt (im zimmer küllys / morgendämmerung / milli steht mit ihm – gemeinsam in eine decke eingehüllt – am fenster / sie schmiegen sich aneinander und schauen nach draußen / längere pause) KÜLLY es ist schon phänomenal da erreicht uns das licht noch von sternen die längst erloschen sind MILLI was meinst du gilt das auch für uns


Stück Christian Martin

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wenn die mitte des lebens überschritten ist KÜLLY ich weiß nicht vielleicht wenn das begehren erlischt venus jedenfalls unser lieblingsplanet leuchtet noch immer im februar aber besonders hell die göttin der liebe und der schönheit (küsst sie) MILLI charmeur du kennst dich aus KÜLLY astronomie ist mein hobby (pause) MILLI und wen begehrst du jetzt rosa oder mich KÜLLY euch beide rosa aber mich nicht wie du weißt (pause) MILLI und ich einfach so mit einem fremden KÜLLY bereust du MILLI nein (pause) zufall und glück das ist alles sehr seltsam oder KÜLLY wie unser leben das große geheimnis aber die venus ist das paradies habe ich gelesen MILLI adam und eva haben es gründlich verdorben (pause) es war einmal heißt es im märchen KÜLLY aber wenn sie nicht gestorben sind

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BEIDE (lachend) dann leben sie noch heute (pause) MILLI deine kreuzfahrt ins glück (unterbricht) KÜLLY bitte sprich weiter MILLI könntest du dir vorstellen eventuell mit mir ich meine sterne gucken KÜLLY milli sage einfach ja und die buchung ist unterwegs MILLI vorher aber muss ich noch so einiges regeln das ist kompliziert KÜLLY dann lass dir helfen MILLI (ihn küssend) danke

7. auftritt (das schlafzimmer von rosa im licht von ersten sonnenstrahlen / sie steht im geöffneten bade­ mantel vor einem großen spiegel und streichelt müde aber glücklich ihren bauch / sie deutet dabei eine künftige schwangerschaft an / dann versucht sie millis goethe-gedicht und ihre vor­ tragsweise zu imitieren und verfällt aber zunehmend in einen ganz eigenen sehnsüchtigen ton) ROSA „kennst du ähm (hüstelt kurz) kennst du das land wo die zitronen blühn im laub im dunkeln laub die goldorangen glühn ein sanfter wind vom blauen himmel weht die myrte still und hoch der lorbeer steht kennst du kennst du es wohl dahin dahin möcht ich mit dir o mein geliebter ziehn“ (sie verbeugt sich lächelnd und legt sich dann schlafen)

8. auftritt (das vestibül im morgenlicht / die wege von kronzucker und kapp kreuzen sich vor dem ausgang) KRONZUCKER nach ihnen KAPP wollens mitfahrn KRONZUCKER sie sind noch betrunken

KAPP na und sonst halt ich die welt nimmer aus KRONZUCKER dann vertrauen sie gott KAPP gott gott ach gottchen wie mich des nervt wo schwirrt der rum wo der wahrsager orakelt in einem schwarzloch tausend lichtjahr entfernt und des als babyleich ha KRONZUCKER spotten sie nur auch ich weiß wir sind staubgeburten aber trotzdem der atem von gott ist in uns er ist die liebe und die barmherzigkeit güte und vertrauen wir sollten das leben KAPP ich predig net ich pragmatisier aus erfahrung denn abgrund dein name is mensch mit seinen todsünden sieben an der zahl KRONZUCKER wir brauchen die hoffnung eine feste zuversicht ohne angst KAPP na dann guten morgen ihr wort ins bewusstsein des raubtiers (pause / zur rezeptionsuhr blickend) was denn schon um sechs ich muss zum dienst KRONZUCKER die uhr steht doch KAPP (vergleicht) vergessen ha und wollens nun mitfahrn oder net vom gottesberg hinab nach zinnwald zum kampftag jeder gegen jeden aber ordnung geht vor gerechtigkeit dafür sind wir da es lebe der erste mai KRONZUCKER ich gehe zu fuß KAPP die weite streck kommens endlich und habens vertrauen zu ihrem lieben gott (beide nach draußen ab / dann stille / plötzlich fällt ein schuss)

ENDE

Theater der Zeit 4/ 2023


Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Foto Tom Neumeier Leather

Anna Kiesewetter in „Der Weg zurück“, Regie Philipp Becker, Theater Regensburg

Neustart Regensburg unter der Schauspieldirektorin Antje Thoms mit modernen Überschreibungen Serie Warum wir das Theater brauchen #03. René Heinersdorff über Fantasie und Kopfkino

Theater der Zeit 4 / 2023

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Diskurs & Analyse Neustart

Nachhaltig nachspielen Der Neustart in Regensburg unter Schauspieldirektorin Antje Thoms Von Christoph Leibold

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Der Eindruck nach der ersten Hälfte der Spielzeit ist schon mal positiv: „Die Regensburger lieben Theater. Das ist nach Corona und in vielen anderen Städten nicht selbstverständlich“, erklärt Antje Thoms, als Schauspieldirektorin zusammen mit Intendant Sebastian Ritschel im vergangenen Herbst neu angetreten: „Man hat das Gefühl, die Leute hier gehen gerne aus. Und sie reden gerne miteinander. Ob sie nun meckern oder sich freuen, ist erst mal egal. Hauptsache, sie sind unterwegs – weil das natürlich eine Grundvoraussetzung für Theater ist, dass die Leute nicht zu Hause Netflix gucken.“ Beste Bedingungen also. Aber wo ist alles schon so gut, dass es nicht noch besser werden könnte? Regensburg ist eine junge Stadt. Über 20.000 Studierende kommen auf gut 150.000 Einwohner:innen. Das macht sich im Stadtleben bemerkbar. Die Kneipendichte, heißt es, sei hier höher noch als in Berlin. Die malerische Altstadt wirkt daher, trotz UNESCO-Welterbe-Titel, kein bisschen museal. Von dieser Vitalität freilich spürte man unter früheren Intendanten, so der subjektive Eindruck bei regelmäßigen Stippvisiten, zu wenig in den Vorstellungen des Theaters. Das Publikum: eher bildungsbürgerlich als studentisch.

Theater der Zeit 4/ 2023

Fotos Tom Neumeier Leather

Silke Heise und Michael Haake in „Fräulein Agnes“, Regie Andreas Merz-Raykov, Theater Regensburg


Diskurs & Analyse Neustart Wie also das gehörige Potenzial besser ausschöpfen? „Ich glaube, dass Theater heute generell nicht mehr so funktioniert, dass man sagt: Ich habe eine Kasse, die hat eine Öffnungszeit, und da haben alle gefälligst hinzukommen“, sagt Antje Thoms. „Man muss sich mit anderen Institutionen vernetzen, auch mal Projekte im öffentlichen Raum machen und überhaupt neue Räume erschließen. Die Barriere, am Bismarckplatz ins Theater zu gehen, ist für viele einfach zu hoch.“ Im Theater am Bismarckplatz findet Schauspiel allerdings sowieso eher selten statt, das große Haus wird weitgehend mit Opern bespielt. Das Sprechtheater war bis vor Kurzem vor allem im sogenannten Velodrom gleich ums Eck beheimatet. Diese Spielstätte aber wird derzeit saniert. Ausweichquartier ist das Antoniushaus, ein 1950er-Jahre-Bau, bei dem es sich eher nicht um die Sorte von Ort handeln dürfte, die Thoms im Sinn hat, wenn sie von „neuen Räumen“ spricht, die es zu erschließen gelte. Und doch ein Ort, der nun vom Theater erschlossen werden muss, deutlich abseits der Kneipenmeilen der Altstadt gelegen, dafür vis-à-vis von einem Friedhof. Im Moment, so Antje Thoms, kämpfe man also erst mal darum, „dieses Antoniushaus lebendig zu kriegen. Es ist ein ehemaliger Gemeindesaal, das heißt, er wurde für Predigten gebaut.“ Wenn der Eindruck eines Wochentagsbesuchs im Februar nicht täuscht, dann ist das Theater Regensburg in diesem Kampf bereits auf einem guten Weg. An diesem Abend jedenfalls ist das Publikum zahlreich ins Antoniushaus gepilgert und wird tatsächlich mit einer Art (Hass-)Predigt begrüßt. In einer auf sehr muntere Weise missmutigen Litanei der Ablehnung erklärt Katharina Solzbacher, wen sie alles „satthabe“: Paare, Singles, Künstler und Kiffer, Fremdgänger und Treue, Rotweintrinker und Raucher, Alkoholiker und Abstinenzler und immer so weiter. Am Ende des mehrminütigen Monologs fällt einem keine Personengruppe mehr ein, die vor ihren Augen Gnaden fände. Kein Wunder, spricht Solzbacher doch als weibliche Wiedergängerin von Molières „Menschenfeind“ und Protagonistin der modernen Überschreibung des Stoffes unter dem Titel „Fräulein Agnes“ durch Rebekka Kricheldorf. Das Update war 2018 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Regensburg spielt das Stück nun nach, weil das im Sinne der Nachhaltigkeit sei (Thoms: „Ich finde es krass, wenn man ein Stück schreibt und es wird genau ein Mal inszeniert.“), aber auch, weil es zum Spielzeitmotto „Wahrheiten“ und überhaupt nach wie vor gut in die Zeit passe.

Regensburg ist eine junge Stadt. Über 20.000 Studierende kommen auf gut 150.000 Einwohner:innen. Das macht sich im Stadt­leben bemerkbar. Die Kneipendichte, heißt es, sei hier höher noch als in Berlin.

deihlichen Miteinanders angebracht wäre. Unübersehbar ist überdies, dass Agnes das Rundum-Bashing sadistische Freude bereitet, wobei sie nicht mal vor dem eigenen Sohn Halt macht (bei Joscha Eißen ein hibbeliger Neurotiker), dessen Popstar-Ambitionen sie mitleidslos niederbügelt. Einzig ihr jugendlicher Lover (Maximilian Herzogenrath als muskulöser Möchtegern-Performer) bleibt von Agnes’ Verrissen halbwegs verschont. Von diesen Anflügen der Milde abgesehen ist Kricheldorfs Menschenfeindin ein OneWoman-Shitstorm, der personifizierte Hatespeech unseres SocialMedia-Zeitalters. Und das Stück allerfeinstes Rollenfutter für das Regensburger Ensemble.

One-Woman-Shitstorm Agnes ist Kritikerin mit erfolgreichem Blog, zu dem der alte ­Maxim-Biller-Titel „100 Zeilen Hass“ perfekt passen würde. Denn die Verfasserin erläutert darin recht deutlich, was sie von all den Kulturschaffenden da draußen samt ihren Erzeugnissen hält. Das ist in aller Regel vernichtend für ihre Mitmenschen. Agnes hält es mit Ingeborg Bachmann – „die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“, übertreibt es mit dieser Maxime aber dermaßen, dass man sich nicht nur unweigerlich fragt, ob nicht die gelegentliche kleine Notlüge zur Abmilderung ihrer Urteile im Sinne eines ge-

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Anna Kiesewetter, Kathrin Berg, Jonas Niemann, Paul Wiesmann in „Der Weg zurück“

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Diskurs & Analyse Neustart Andreas Merz-Raykov inszeniert die Komödie denn auch als böses Boulevardstück in angedeuteter Designer-Wohnzimmer-Landschaft auf weißer Spielfläche, die sich im hinteren Bereich hochbiegt wie eine Halfpipe, sodass sie mit ein paar Turn- und Purzeleinlagen bespielt und mit Schriftzügen („Wahrheit“ etwa steht da zu lesen) bepinselt werden kann – was nicht groß stört, aber auch nichts weiter erhellt. Die Inszenierung punktet vor allem durch das schnörkellose Spiel der Darsteller:innen. Neben Solzbacher als sich genüsslich im Sarkasmus ergehender Titelheldin begeistert vor allem Max Roenneberg als Agnes’ Haus-Faktotum Elias, ein schräger Prophet und Ersatz-Jesus, der schon mal die windelweiße Unterhose abstreift, um als „die nackte Wahrheit“ über die Bühne zu hüpfen. Wie Agnes nimmt auch er kein Blatt vor den Mund, doch während sie sich selber bitterernst nimmt und ihren Spott gegen alle wendet, nur nicht gegen die eigene Person, kennt Elias Selbstironie. Roenneberg stattet die Rolle zudem mit so herrlich trockenem Understatement aus, dass er sie aller Durchgeknalltheit zum Trotz überzeugend als positive Kontrastfigur zur Protagonistin profiliert. Wahrheitstreue? Ja, gerne! Nur bitte nicht in Form von Agnes’ Tugendterror. Laster, das ist schon bei Molière so, sind ja nichts anderes als überzogen praktizierte Tugenden. Sparsamkeit etwa ist an sich erstrebenswert. Man kann es damit aber auch übertreiben. Was dabei dann herauskommt, kann man sich in Molières „Geizigem“ anschauen. Etwas Ähnliches passiert in „Der Weg zurück“ von Dennis Kelly, nur dass sein Stück kein Lustspiel ist, sondern ein zutiefst dystopisches Drama. Der britische Dramatiker erzählt in fünf Bildern und über ebenso viele Generationen hinweg von einer Gesellschaft, in der gesunde Fortschrittsskepsis umschlägt in eine wahnhafte Wut auf alle Wissenschaftlichkeit. Der Zweifel an vor allem technologischer Innovation, die neben der Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse dummerweise auch die Grundlagen ebendieses Lebens zu zerstören droht, zählt durchaus zu den Tugenden unserer Tage. Kategorische Forschungsfeindlichkeit als radikale Reaktion auf menschlichen Machbarkeitswahn indes darf getrost als Untugend bezeichnet werden. Kelly führt vor, wie ziviler Ungehorsam in neuen Despotismus kippen kann. „Regression“ nennt sich hier eine Bewegung, die den „Weg zurück“ einschlägt und sich zusehends durchsetzt. Mit absurden Konsequenzen. Die Empörung der Regressiven über das „Scheißwissenwollen“, das die Menschheit an den Rand des Abgrunds geführt hat, zeitigt immer dogmatischer Denkverbote, bis am Ende sogar mehrsilbige Wörter tabu sind. Kellys Stück, ursprünglich ein Auftragswerk fürs Berliner Ensemble (auch hier macht sich Regensburg also ums Nachspielen verdient), ist formal vielfältig. Da gibt es Szenen mit klassischen Figuren ebenso wie solche, die als Textflächen angelegt sind. Letztere sind in der Inszenierung von Philipp Becker nur

Regression freilich gibt es auch im Theater und bei seinem Publikum: den Wunsch nach einer Rückkehr zu mehr Titeln aus dem Kanon auf dem Spielplan und weniger Postdramatik. 70

bedingt überzeugend umgesetzt. Manchmal steht das sechsköpfige Ensemble eher unmotiviert verteilt im Raum herum und teilt auch den Text nur mehr oder weniger sinnfällig unter sich auf. Deutlich spannender sind da das erste und das letzte Bild, zwei klassische Monologe. Anfangs erleben wir Guido Wachter in der Rolle eines Vaters, dessen Frau bei der Geburt des gemeinsamen Kindes gestorben ist – offenbar aufgrund einer Komplikation infolge der vorhergegangenen künstlichen Befruchtung. Wie Wachter die ohnmächtige Verzweiflung dieses Mannes spielt und dessen Reue, sich mit seinem Kinderwunsch in die Hände der Wissenschaft begeben zu haben, ist klassisches Einfühlungstheater, das auf die Empathie des Publikums zielt und diese auch gewinnt. Unversehens ist man damit aufseiten der Regressiven, um im weiteren Verlauf ernüchtert nach und nach wieder auf Distanz zu gehen, ehe man zuletzt gebannt lauscht, wie Anna Kiesewetter im Schlussmonolog mit ausschließlich einsilbigen Wörtern (aber offenkundiger Faszination für das Verbotene) von einer Freundin berichtet, die Worte mit mehreren Silben verwendet. Der zarte Keim einer Revolution gegen die Regression und ihre Geistesfeindlichkeit.

Moderne Überschreibungen Regression freilich gibt es auch im Theater und bei seinem ­Publikum: den Wunsch nach einer Rückkehr zu mehr Titeln aus dem Kanon auf dem Spielplan und weniger Postdramatik. Da ist es fast ein bisschen schade, dass in „Der Weg zurück“ ausgerechnet die performativeren Szenen hinter den traditionelleren qualitativ zurückbleiben. Aber sei’s drum, das Publikum im Theater am Haidplatz, einer Nebenspielstätte in der Regensburger Innenstadt, ist tendenziell jung, und ja, auch das, erkennbar studentisch. Trotzdem wäre es zu einfach gedacht, man würde mit neuer Dramatik „per se ein jüngeres Publikum ansprechen“, gibt Schauspieldirektorin Antje Thoms zu bedenken. Vielmehr seien die Inhalte entscheidend. Dass die allerdings in zeitgenössischen Stücken eher auf der Höhe der Zeit sind oder sich zumindest für viele Zuschauer:innen leichter auf die Gegenwart beziehen lassen, ist kaum von der Hand zu weisen. Die Übersetzungsarbeit, die es bei einem Klassiker braucht, um ihn als Stück über unser Hier und Heute begreifen zu können, fällt weg. Im Falle von Molières „Menschenfeind“, der zu „Fräulein ­Agnes“ mutiert ist, hat Autorin Rebekka Kricheldorf diese Transferleistung übernommen. Dass man es dem Publikum damit zu leicht machen könnte, findet Thoms nicht. Zu Recht. Zum einen ist Kricheldorfs Version durch die Umarbeitung ja nicht unterkomplex geworden. Zum anderen geht es nicht um Verein­ fachung, sondern um Anpassung an eine veränderte Realität. „Die Rollenbilder in vielen Klassikern sind schlichtweg veraltet.“ (Kricheldorfs Titel „Fräulein Agnes“ spielt ironisch damit.) Thoms misstraut den Klassikern nicht durchgängig. Ihr Glaube an deren zeitlose Gültigkeit jedoch ist gleichfalls nicht unbegrenzt. Moderne Überschreibungen können da probates Mittel sein, fragwürdig gewordene Teile des Kanons zu retten. T

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e g a t 023 r 2 e t a XI. The rg 20.-23.4. u M b M n r A e R G B in PRO Diskurs & Analyse Neustart

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[K]EIN R E N Ö H C S LAND .DE ERNBURG B R E T A E TH

Donnerstag, 20. April 9 Uhr + 11 Uhr UND MORGEN STREIKEN DIE WALE Theater Naumburg Aufführung im Kurhaus Bernburg (ab 12 Jahren) 19:30 Uhr GRAVITAS Nordharzer Städtebundtheater Halberstadt Aufführung im Carl-Maria-von-Weber-Theater, Bernburg

Freitag, 21. April 9 Uhr + 11 Uhr DIE ZWEITE PRINZESSIN Hans-Otto-Theater Potsdam Aufführung im Kurhaus Bernburg (ab 7 Jahren) 17 Uhr DER TRINKER Bühnen Halle | neues theater Aufführung in der Studiobühne Metropol, Bernburg 20 Uhr ACHTSAM MORDEN Uckermärkische Bühnen Schwedt Aufführung im Carl-Maria-von-Weber-Theater, Bernburg 10–16 Uhr FACHKONGRESS* INTHEGA Konzertsaal Metropol, Bernburg Themen: 10 Uhr – Potentiale der Kulturarbeit in ländlichen Räumen; 11:30 Uhr – Podiumsdiskussion; 14 Uhr – Publikumsgewinnung; 15:30 Uhr Urheberrecht

Samstag, 22. April 17 Uhr FRAU ADA DENKT UNERHÖRTES Theater der Altmark Stendal Aufführung im Kurhaus Bernburg 20 Uhr ÜBER MENSCHEN von Juli Zeh, Neue Bühne Senftenberg Aufführung im Carl-Maria-von-Weber-Theater, Bernburg 10–16:30 Uhr FACHKONGRESS* INTHEGA Konzertsaal Metropol, Bernburg Themen: 10 Uhr – Das Theatre Green Book, Nachhaltigkeit ohne heiße Luft, 11:30 Uhr Lüftung und Energie: Sparpotentiale in Theaterbauten; 14 Uhr – Herausforderungen in der Suche und Bindung von (technischen) Fachkräften abseits der großen Metropolen; 15:30 Uhr – „Selbstständigkeit und/oder abhängige Beschäftigung in den Gastverträgen – wie verhalte ich mich rechtssicher“

Sonntag, 23. April 16 Uhr BARFUSS IM PARK Theater Eisleben Aufführung im Carl-Maria-von-Weber-Theater, Bernburg 10–14 Uhr FACHKONGRESS* INTHEGA und Bühnenverein Konzertsaal Metropol oder Metropol-Saal, Bernburg Gemeinsamer Brunch und Erfahrungsaustausch Verbindung zwischen der INTHEGA und dem Bühnenverein

Deutscher Bühnenverein Landesverband Ost

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Kartenverkauf Theater Bernburg, Schloßstr. 20 Stadtinformation Bernburg, Lindenplatz 9 03471-347940 | kartenverkauf@theater-bernburg.de

Karten unter

Der Eintritt zum Fachkongress ist frei. *Anmeldung für Fachpublikum erbeten unter m.hecker@theater-bernburg.de / T. 03471 3564913

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #03

Grundbedürfnis Fantasie Von René Heinersdorff

In der neuen Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesellschaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen. Und natürlich auch darüber, wer das Wir dieses Ganzen ist oder sein sollte. Diesmal René Heinersdorff aus der Perspektive eines Akteurs der Privattheater.

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# 03

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #03

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„Mama, was ist das, DRAUSSEN?“ – „Draußen, mein Kind, das ist da, wo der Pizzabote herkommt“, witzelte Dieter Nuhr einst und lieferte damit, vermutlich ungewollt, eine Erklärung, warum wir das Theater brauchen. Er machte mit dieser Pointe darauf aufmerksam, dass das Theater eines Tages der letzte Ort sein wird, wo wir physisch tatsächlich noch hinmüssen, um das zu erleben, was er verspricht. Das Theater bleibt das analoge Bollwerk jenseits der „Digitalität“, eine Wortschöpfung übrigens, die jedes Rechtschreibprogramm rot markiert, aber unglückseligerweise von Theatermachern immer mehr und penetrant beschworen wird, ohne zu bemerken, dass genau sie ein geeignetes Werkzeug ist, die Kraft des Theaters auszusetzen. Vor 30 Jahren schon haben im Gefolge von Castorf etliche Regisseure digitale Elemente und ganze Formate ins Theater hineinexperimentiert und nochmal 20 Jahre früher etablierte Nam June Paik die Digitalität (die technisch noch analog war) im Theater. Es geht also nicht um eine konservative Verteidigung des Theaters als historisches Archiv überholter Darstellungen. Konservativ und althergebracht ist die Digitalität im Theater allemal. Es geht darum, die einkalkulierbare Kraft der Anwesenheit von Publikum und dessen Fantasie zu nutzen, weil genau das der Grund ist, warum es kommt. Und genau dafür brauchen wir das Theater. Für das gesteuerte Einsetzen und Benutzen von Fantasie. Für die Möglichkeit, die Imaginationspotenziale des Betrachters auszuschlachten. Die Möglichkeit einer Szene zweier reicher Kaufleute etwa, die am Canale Grande in Venedig mit der Rialtobrücke im Hintergrund und vorbeiziehenden Gondeln um eine Frau buhlen, ohne dass der Canale, die Brücke, die Gondel oder die Frau überhaupt sichtbar sind. Sie können auf dem Theater sichtbar gemacht werden, allein im Kopf der Zuschauer. Das kann NUR das Theater – und natürlich ein Buch. Warum brauchen wir ­Bücher, es gibt doch Filme, wäre die parallele Frage dazu, warum wir das Theater brauchen. Auf dem Djemaa el Fna, dem zentralen Platz in Marrakesch, mit Garküchen, Schlangenbeschwörern und: Geschichtenerzählern, werden Abenteuer erzählt von durch Wüsten ziehenden Berbern, von Flaschengeistern und Berg­ elfen, von Piraten und Räubern, von Sultanen und Sultaninen, von Prinzessinnen und Haremsdamen. Für den europäischen Zuhörer bleiben die Geschichten, die in arabischer Sprache erzählt werden, meist rätselhaft. Aber allein in den Gesich-

Die Fantasie erlaubt den Zuhörern, mit eigener Kraft zu empfinden und ihr Kopfkino in Gang zu setzen, und selbst der Zuschauer, der die Zuhörer betrachtet, startet mit der Kraft seiner eigenen Fantasie beim Betrachten der Zuhörer wiederum sein Kopfkino. Theater der Zeit 4 / 2023

tern der arabisch sprechenden Zuhörer lässt sich ablesen, was passiert. Sie freuen sich, lachen, erschrecken, werden wütend auf einen in der Geschichte offenbar vorkommenden ungerechten Emir, atmen erleichtert aus, wenn die Begum in der Geschichte vermutlich aus den Fängen des bösen Aga Khan befreit ist, und lachen sich kaputt, wenn ein Khadim dem Sayid wahrscheinlich einen Tee über die Hose gegossen hat. Die Fantasie erlaubt den Zuhörern, mit eigener Kraft zu empfinden und ihr Kopfkino in Gang zu setzen, und selbst der Zuschauer, der die Zuhörer betrachtet, startet mit der Kraft seiner eigenen Fantasie beim Betrachten der Zuhörer wiederum sein Kopfkino.

Urform des Theaters In jeder Kneipe in Marokko hängen mindestens drei dauerhaft laufende und beschallende Fernseher. Dennoch bilden sich relativ große Menschentrauben um die Geschichtenerzähler herum, weil sie genau das auslösen. Sicher spielen auch die aristotelischen Postulate der seelischen Reinigung durch die Betrachtung einer Geschichte, die nicht die des Zuschauers ist, eine entscheidende Rolle bei der Rezeption. Der Arme hört vom unermesslichen Reichtum des Königs und der noch viel größeren Armut des Nomaden und kann seine eigene ­Situation seelisch besser einordnen. So wie der unglücklich Liebende die seine durch die Geschichte des Bettlers, dem es gelingt, die Prinzessin zu heiraten. Aber auch diese Katharsis ist so nachhaltig, weil sie die eigene Bilderwelt zu der Geschichte hinzuaddiert. Nebenbei: Das durch Corona in Deutschland gerade eingeführte Prinzip pay what you want gilt hier seit Jahrhunderten. Diese Funktion des Theaters ist heilsam, aber kein Alleinstellungsmerkmal. Das können auch Filme, Fußballspiele, Gottesdienste und gute Gespräche schaffen. Dennoch: Diese auf das Abstrakteste, Purste und Sparsamste reduzierte Urform des Theaters, die es möglich macht, die Fantasie des Betrachters bewusst und gesteuert anzuregen und einzusetzen, zeigt deutlich, warum wir das Theater brauchen, wenn wir es denn richtig einsetzen. Das, was in digitalen Formaten wie Film und Fernsehen oft einfach nur deshalb gezeigt wird, weil es gezeigt werden kann, kann und muss im Theater verborgen behauptet werden, damit sich diese Kraft entfaltet. Die große Enttäuschung, die entstehen kann, wenn man die Verfilmung eines Buches sieht, nachdem man das Buch gelesen hat, dokumentiert den Verlust der Möglichkeit, die Geschichte mittels der eigenen Fantasie zu illustrieren. Und oft kann man erleben, dass die thea­tralische Umsetzung eines Filmstoffes mittels einer Konzentra­­tion auf die wesentlichen Figuren, die Bündelung vieler Locations zu einem Spielort, die Zusammenfassung vieler Szenen zu einem Akt, die Unterlassung von Umbauten zugunsten einer Verdichtung Zuschauer dazu bringt, diese Form als eindrucksvoller zu empfinden als die filmische Umsetzung. Der Eindruck kann aber ausschließlich dadurch

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Die Frage nach der Existenzberechtigung des Theaters ist im Übrigen immer wieder gestellt worden. In meiner vergleichsweise kurzen Wirkungszeit von circa 40 Jahren wurde der Tod des Theaters, oder zumindest einiger seiner Genres, prognostiziert. Die Frage wurde sogar in verschiedenen Stücken thematisiert.

20. Mai – 29. Mai

2023

KÖLN

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foto: Eric Engel (fentemennes.com)

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entstehen, dass die theatralische Umsetzung den Raum lässt und ihn bewusst nutzt – und die Fantasie des Betrachters fliegen lässt. Die Frage nach der Existenzberechtigung des Theaters ist im Übrigen immer wieder gestellt worden. In meiner vergleichsweise kurzen Wirkungszeit von circa 40 Jahren wurde der Tod des Theaters, oder zumindest einiger seiner Genres, das Aussterben des Publikums, insbesondere das der Abonnenten, immer wieder prognostiziert. Dergleichen und andere Krisen des Theaters kann man bei Goethe nachlesen, bei Molière, bei Shakespeare und sogar Euripides. Die Frage wurde sogar in verschiedenen Stücken szenisch thematisiert. „Das Theater wird überleben, weil es immer Leute geben wird, die Theater spielen wollen“, orakelte Piero Rismondo. Theater wird überleben, so möchte ich ergänzen, weil es immer Leute geben wird, die das Einschalten ihrer Fantasie als anregend, heilsam entspannend und erotisch dringend benötigen. Es ist ein Grundbedürfnis wie Hunger und Durst, wie Sprache und Luft. Es handelt sich eben nicht um eine „kulturelle Grundversorgung“, deren Berufung Theater erscheinen lässt wie einen Tropf für einen kranken Patienten, sondern um ein vorhandenes natürliches Bedürfnis, das sich immer automatisch Bahn brechen wird. Daher ist die Frage „Warum brauchen wir das Theater?“ keine, die wir uns überhaupt stellen müssen. Wir werden es einfach immer brauchen. T

ZENTRUM füR ClowN, HUMoR UNd KoMMUNiKaTioN

Das Beste kommt erst noch... 01./02.04.2023 | Clown – Humor – Komik Clownesker Schnupperworkshop mit Udo Berenbrinker, Ort: Konstanz 13.–16.04.2023 | Clown Spezial: Flow Freude Glück Seminar mit Jenny Karpawitz und Udo Berenbrinker, Ort: Konstanz 25.–26.04.2023 | Mit Humor gegen Stress Online-Kurs (Zoom) mit Udo Berenbrinker und Jan Karpawitz 13.05.2023 | ·········· 40 Jahre Tamala ·········· Straßentheater und Große Jubiläumsshow: Best of Clowns

René Heinerdorff ist Schauspieler und Regisseur. Er gründete und leitete das Theater an der Kö in Düsseldorf und spielte an zahlreichen Privattheatern in ganz Deutschland sowie in Lars Kraumes Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“.

Anmeldung auf der Website: tamala-center.de

tamala-center.de || humorkom.de

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Theater der Zeit

Report

Foto Martin Agryroglo

„Fantasmagoria“ von Philippe Quesne im Rahmen des Festivals Geister, Dschinns & Avatare im HAU, Berlin

Ungarn Zwischen zwei Realitäten. Die Situation der freien Szene und die bevorstehende internationale Theaterolympiade in Budapest Berlin Das Festival „Geister, Dschinns & Avatare“ im Berliner HAU probiert die Verknüpfungen von Magie und Digitalität

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Zwischen zwei Realitäten Die Situation der in Ungarn besonders wichtigen freien Szene wird sich weiter verschlechtern Von Tamás Jászay

„Dioráma magyarokkal“ (Diorama mit Ungarn), Trafó House of Contemporary Arts

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Man muss kein Ungarn-Experte sein, um zu wissen, dass wir Ungarn seit mehr als einem Jahrzehnt unseren Alltag in extremer Spaltung leben. Die seit 2010 an der Macht befindliche rechte Regierung unter Viktor Orbán stellt sich das Leben als einen unaufhörlichen Krieg vor. Heute gibt es in Ungarn eine Generation, und zwar die jüngste, für die ständige Kriegsrhetorik, Berichte vom Sieg über einen abstrakten (Brüssel und die Europäische Union) oder sehr konkreten Feind (George Soros) durch staat­ liche Plakatkampagnen und Anzeigen in allen Medien zu einer täglichen Realität geworden sind. Derweil rumpelt die zentralisierte Medienmaschinerie nach 13 Jahren Fidesz-Herrschaft ungehemmt weiter, und wenn ich schreibe, dass 2023 das Jahr sein wird, in dem die letzten unabhängigen, kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht werden, dann übertreibe ich nicht. Vor genau fünf Jahren habe ich an dieser Stelle mit vorsichtigem Optimismus von der „Möglichkeit eines Generationswechsels“ im ungarischen Theater gesprochen (siehe TdZ 04/2018). Heute, im Frühjahr 2023, habe ich keinen Grund mehr, optimistisch zu sein, wie auch niemand, der sich für die freie Szene der darstellenden Künste in Ungarn interessiert. Damals ahnten wir noch nichts vom möglichen Ende dieser Theatermacher, die seit Jahrzehnten erfolgreich arbeiten. Sehr vereinfacht gesagt ist der eigentliche Grund das Geld, oder der Mangel daran, der eng mit der politischen Situation in Ungarn verbunden ist, aufgrund der bereits erwähnten Bedingungen. Kurz gesagt, Qualität zählt wenig, Parteitreue und Loyalität viel mehr, wenn es um die Vergabe von Geldern geht. Ich werde hier nicht versuchen, die komplexen Feinheiten des Systems der Kultur- und Theaterfinanzierung in Ungarn zu skizzieren, das selbst für die Beteiligten oft verwirrend ist. Es geht darum, dass die Kultur ein Bereich ist, der, wie in vielen Teilen Mittel- und Osteuropas, ohne staatliche Unterstützung nicht funktionieren kann. Der neue Minister für Kultur und Innovation, János Csák, der im Sommer 2022 ernannt wurde, will das aus vielen Wunden blutende, aber seit Jahrzehnten bestehende Fördersystem nun auf einen Schlag abschaffen. Im Februar dieses Jahres gab der Minister auf dem staatlichen Kulturportal ein langes Interview über seine Pläne und Ideen, zu denen auch die Wiedereinführung der privaten Finanzierung gehört, die von den „Bolschewiken“ abgeschafft wurde. Die ansonsten begrüßenswerte Absicht kann zusammen mit anderen Regierungserklärungen und angesichts einiger bereits anstehender Haushaltsbeschlüsse als offene Kriegserklärung – in Anlehnung an die Rhetorik der Orbán-Regierung – beispielsweise gegen die unabhängige Szene der Darstellenden Künste gelesen werden. Eingetragene unabhängige Theater- und Tanzcompagnien können beim Ministerium einen jährlichen Betriebskostenzuschuss beantragen, der nicht in erster Linie für die Produktion neuer Aufführungen, sondern für den Erhalt des Betriebs verwendet wird. Beim Nationalen Kulturfonds, der in diesem Jahr 30 Jahre alt wird, können sich die Freien noch um kleine Summen zur (Teil-)Finanzierung neuer Projekte bewerben. Allerdings wird es Gerüchten zufolge erst in der zweiten Hälfte dieses Jahres eine

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Fotos Hivessy Menyhért

Report Ungarn


Report Ungarn

„Dioráma magyarokkal“ von Patrik Kelemen, Rozi Mákó, Luca Petrányi, Lili Raubinek, János R. Szabó, Viktor Szeri Regie Lili Raubinek

neue Ausschreibung geben, sodass auch diese Förderung schon bald verschwinden könnte. Nach Angaben des Ministers wird das Ministerium ab 2024 bis auf wenige, noch nicht benannte Ausnahmen keine Unabhängigen mehr fördern. Die Uhr steht auf fünf vor zwölf: Das Gesamtbudget für die Einreichung von Anträgen ist dieses Jahr für Budapester Antragsteller um 41 Prozent geringer als in den letzten Jahren. Der verfügbare Betrag war von vornherein niedrig, aber da war noch nicht die Rede von Corona, Krieg, steigenden Energiepreisen … Die Freien haben die Wahl: aufgeben oder weiterkämpfen – aber wie lange noch? Ende Februar gab Réka Szabó bekannt, dass das von ihr gegründete Tünet-Ensemble nach zwanzigjähri-

Es geht darum, dass die Kultur ein Bereich ist, der, wie in vielen Teilen Mittel- und Osteuropas, ohne staatliche Unterstützung nicht funktionieren kann. Der neue Minister für Kultur und Innovation, János Csák, will das aus vielen Wunden blutende, aber seit Jahrzehnten bestehende Fördersystem nun auf einen Schlag abschaffen. Theater der Zeit 4 / 2023

gem Bestehen seine Tätigkeit einstellen wird. Szabós Film „The Euphoria of Being“ über die 90-jährige Holocaust-Überlebende Éva Fahidi und die junge Tanzkünstlerin Emese Cuhorka hat eine Reihe von Preisen auf internationalen Festivals gewonnen. Das Tünet-Ensemble ist (war) eine Besonderheit in der ungarischen Szene. Seine Aufführungen, die sich an der Grenze zwischen Theater und Tanz bewegten, ließen sich oft von den persönlichen Geschichten der Darsteller inspirieren, entbehrten nicht des Humors und bedienten sich auch innovativer Methoden, die das Publikum auf unterschiedliche Weise aktivierten. Réka Szabó kündigte in einem offenen Brief das Ende des Ensembles an: „Ich möchte keine Führungskraft sein, kein Arbeitgeber in einer Situation, in der es unmöglich ist, Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte nicht für immer meine Selbstachtung verlieren und dadurch unfähig werden, andere zu respektieren.“ Machen wir uns keine Illusionen: Die Schließung von Tünet ist erst der Anfang, und wir werden in den kommenden Monaten ähnliche Nachrichten über andere Truppen lesen. Die staatlichen Nachrichtenportale werden jedoch nicht über diese einzelnen und dabei sich häufenden Fälle berichten, denn sie werden sich vom 1. April bis zum 1. Juli ganz auf die 10. Theaterolympiade konzentrieren. Romeo Castellucci, Dimitris Papaioannou, Christoph Marthaler, Jan Klata, Tadashi Suzuki, Eugenio Barba, Simon McBurney und viele andere Künstler des Welttheaters kommen mit ihren aktuellen Produktionen nach Budapest. Eine große

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Report Ungarn Für die Orbán-Regierung ist Kultur vor allem eine Gelegenheit für repräsentative, spek­takuläre, symbolische Investitionen, bei der es keinen Platz für Basisinitiativen, für das Aufwerfen von Fragen oder Kritik gibt.

Vielfalt an Genres, kleinere Festivals, Ausstellungen, Workshops und andere Begleitveranstaltungen bereichern außerdem das Programm. Die Regierung stellt für die dreimonatige Theaterolympiade 4 Milliarden Forint (10,5 Millionen Euro) zur Verfügung, wohingegen 495 Millionen Forint (1,3 Millionen Euro) für den jährlichen Betrieb aller registrierten unabhängigen Theater- und Tanzcompagnien in Ungarn vorgesehen sind. Man darf sich nicht aufregen: Nach Aussage von Attila Vidnyánszky, als Intendant des Nationaltheaters die Nummer eins des ungarischen Theaters, ist das Budget für die Theaterolympiade – die natürlich von ihm und seinen direkten Mitarbeitern geleitet wird – im Vergleich zu früheren Olympiaden nichts Außergewöhnliches. Im Großen und Ganzen gesehen ist die Theaterolympiade eindeutig Teil einer Strategie. Für die Orbán-Regierung ist Kultur vor allem eine Gelegenheit für repräsentative, spektakuläre, symbolische Investitionen, bei der es keinen Platz für Basisinitiativen, für das Aufwerfen von Fragen oder Kritik gibt. Natürlich haben sich auch hier Tempo und Ausmaß geändert: Anfang der 2010er Jahre wurde Geld in regierungstreue Künstler gepumpt in der Hoffnung, die liberale Kulturelite zu demontieren. Aber als das nicht gelang, wurde beschlossen, das Feld komplett abzuräumen. Was bedeutet es also, wenn ein ehemaliger Kulturstaats­ sekretär – Zirkusmagier von Beruf – in einem offenen Brief in westeuropäischen Zeitungen damit prahlt, dass Ungarn im Verhältnis zum BIP die höchsten Ausgaben für Kultur in der Europäischen Union habe? Der Politiker lügt ja nicht, denn die fünfjährige Renovierung des Opernhauses, die riesigen neuen Museen im Stadtpark und die Programme für die Theaterolympiade verschlingen Unsummen an Geld. Während der Rest von uns hungert. Aber das stört die Politiker nicht, die sich auf den schicken Galaveranstaltungen präsentieren. All dies geschieht in einem Land, in dem die Regierung den Darstellenden Künsten, die die Pandemie nur knapp überlebt haben, keine nennenswerte Hilfe geleistet hat. In einem Land, in dem die Theater während der Pandemie nicht auf der Grundlage einer gut durchdachten Strategie arbeiteten, sondern auf der Basis von Improvisationsentscheidungen – zunächst mit radikal reduziertem Publikum auskommen mussten und dann monatelang geschlossen blieben. Wo jede Institution gezwungen ist, mit Energiepreisen umzugehen, die wegen des Krieges in der Ukraine im Durchschnitt auf das Sechs- bis Zehnfache gestiegen sind. Wo viele Theater auf diese Situation mit reduzierten Öffnungszeiten, abgesagten Vorstellungen und steigenden Ticketpreisen reagieren müssen. Die Frage lautet also: Müssen unter diesen Umständen Milliarden Forint für die Theaterolympiade ausgegeben werden?

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Bevor es jemand missversteht oder falsch interpretiert: In dieser Geschichte geht es nicht nur um Geld. Natürlich geht es auch darum, aber es geht mehr um die Denkweise und die Haltung der verantwortlichen Politiker gegenüber der Kultur sowie um die toxischen Bedingungen, die sie für diese geschaffen haben. In der Krisensituation sind die Rückbesinnung auf die einst glorreiche Vergangenheit und die unhinterfragte Betonung des Nationalstolzes in den Jahren seit 2010 umso wichtiger geworden. Initiativen wie das interaktive „Gruppenfoto mit Ungarn“ der Diorama-Gruppe, das im Winter 2022 präsentiert wurde, bleiben der breiten Masse verborgen. Gezeigt wurde es nur im Trafó – dem Budapester Haus der zeitgenössischen Künste, dem einzigen inklusiven Theater nach europäischen Maßstäben. Eine Aufführung zu erleben, bei der das Publikum gemeinsam mit den Darstellern eine ungarische Flagge ausmalt oder kollektiv einsammelt, was alle in ein neues Ungarn mitnehmen würden, ist an sich schon eine Geste des Widerstands. Im Finale wird eine Sonnenfinsternis mit dem kollektiven Singen der Nationalhymne überlagert – jeder darf dies nach Belieben verstehen.

Der Spiegel der Geschichte Diese Performance war noch einmal auf dem viertägigen Nextfest zu sehen, das Anfang März im Trafó mit einem minimalen Budget organisiert wurde – für die jüngste Generation von Künstlern, die trotz der Pandemie und des täglich wachsenden finanziellen und ideologischen Drucks das Gefühl haben, einen Beitrag zu der Welt, in der sie leben, leisten zu müssen. Ihre Vielfalt ist ihr Hauptvorzug: Sie sind sehr unterschiedlich in der Verwendung ihrer Werkzeuge, in ihrer Ästhetik und ihrem Denken. Ihre Darbietungen lassen sich nicht mehr in der Dichotomie von Tanz und Theater beschreiben, da Musik, Multimedia, Bildende Kunst und Performance-Kunst zusammenkommen. Eine besondere Erwähnung verdient auch das Team von Freeszfe, das ebenfalls auf dem Nextfest vertreten war. Im Herbst 2020 sorgte der „Umbau“ der Universität für Theater und Filmkunst Budapest (SZFE) und ihre Annektierung durch Attila Vidnyánszky und seine Genossen für einen internationalen Aufruhr. Freeszfe ist eine Budapester Partisaneninstitution von Studierenden und Lehrenden, die die Universität freiwillig verlassen haben oder von ihr ausgeschlossen wurden, in der mit einem minimalen Budget eine fundierte professionelle Arbeit geleistet wird. Besonders spannend und im lokalen Kontext beachtenswert sind die Aufführungen der Performance-Klassen, die in einer in Ungarn nicht gebräuchlichen Theatersprache die Welt um uns herum verhandeln. Unter den Mentoren der Darsteller finden sich emblematische Theatermacher wie Josef Nadj aus der Autonomen Provinz Vojvodina, László Hudi, Gründer der Gruppe Mozgó Ház Társulas, die in den 2000er Jahren große ­Erfolge in Deutschland feierte, oder Gábor Goda, der die Theatercompagnie Artus leitet. Die jungen Menschen, die sie betreuen – zum Beispiel Tózsa Mikolt, Kozma Zsófia Rebeka oder Noémi Noya –, legen mutig und persönlich Zeugnis davon ab, was es bedeutet, sich als junge weibliche Kreative in einem System zu

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behaupten, in dem die Regierungsrhetorik die Arbeit der Frauen ausschließlich als Dreifaltigkeit von Waschen, Kochen und Kindererziehung beschreibt. Es ist ein bekanntes Phänomen: Geldmangel fördert die Kreativität. In den letzten Jahren ist in der freien Szene ein deutlicher Anstieg der Zahl von Aufführungen zu beobachten, die sich mit ein oder zwei Performern auf die persönliche Lebensgeschichte konzentrieren und das Universelle im Individuellen zeigen. Eine der wichtigsten ist die Uraufführung von László Göndörs und Éva Katonas „Nagymama álmodtam“ („Ich träumte mit Großmutter“) im Herbst 2021. Während der ersten Welle der Pandemie zog der junge Schauspieler und Regisseur für einen Monat in die Wohnung seiner Großmutter, einer Überlebenden von Auschwitz, und zeichnete dort ihre Gespräche auf. Die Show ist viel mehr als eine Darstellung zweier sehr unterschiedlicher Generationen, die sich übereinander wundern: Wir werden mit der Tatsache konfrontiert, dass es einfach unmöglich ist, manche Geschichten in einprägsamen, provokanten und witzigen Szenen zu erzählen. Vielleicht zeigen diese Beispiele auch, dass die Mikro- und Makrogeschichte, die Spiegelung der gestrigen und heutigen ­Realität in Ungarn, ein beherrschendes Thema der unabhängigen Theaterexperimente ist. Kristóf Kelemen, der mit seiner Inszenierung der „Ungarischen Akazie“ auch in Deutschland aufgetreten ist, ist nach wie vor besessen von der Erforschung universell interpretierbarer, vergessener oder verborgener Episoden der ungarischen Vergangenheit. Seine Performance „NIKÉ, Statue of our Freedom“ ist in der Tat ein Live-Spaziergang durch die Stadt Pécs, bei dem der Künstler über die selektive Natur des sozialen Gedächtnisses durch die Erinnerung an die vergessenen Geschichten der Skulpturen im öffentlichen Raum spricht. „Die Witwe der Nation“, die im Örkény-Theater gezeigt wird, nimmt die Witwen von Politikern, die während der Revolution von 1956 hingerichtet wurden, als Ausgangspunkt und lenkt Elemente der Realität in eine fiktionale, dabei heute vertraute Welt. Auch die Singing Youngsters, zu den diesjährigen Wiener Festwochen eingeladen, wollen uns mit der Last der Vergangenheit konfrontieren: Das ironische Chortheater von Judit Böröcz, György Bence Pálinkás und Máté Szigeti stellt kommunistische Lieder der 1950er Jahre Popsongs von Künstlern gegenüber, die der heutigen Regierung ergeben sind. Die professionellen Sängerinnen und Sänger performen auch Zeitungsartikel und politische Reden: Das Vokabular, die Rhetorik und das Denken zweier Epochen, zweier Welten, treffen aufeinander und gehen sanft ineinander über. Und dabei seufzt der ungarische Zuschauer resigniert: Hier sind wir also angekommen. T Aus dem Englischen von Thomas Irmer

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Report HAU

„Fantasmagoria“ von Philippe Quesne im Rahmen des Festivals Geister, Dschinns & Avatare im HAU, Berlin

Gastspiel der Geister Das Berliner Hebbel am Ufer probiert ein Festival über die Verknüpfungen von Magie und Digitalität Von Nathalie Eckstein

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Eine männliche Stimme flüstert die Rahmenhandlung einer Séance über die Lautsprecher. Auf dem schwarzen Vorhang wirbeln Animationen menschlicher Knochen. Dann öffnet sich der Vorhang: Hinter einer Gaze ist die Bühne voller Klaviere. Sie scheinen von innen zu leuchten, sie atmen, sie heben und senken die Deckel, zwei schweben später in der Luft. Philippe Quesne lässt mit seiner Performance „Fantasmagoria“ Geister auf der Bühne auftreten. Bewegungen, Luftzüge, der Topos des sich-selbst-spielenden Klaviers. Mittels des Prinzips der Laterna magica tanzen dann die menschlichen Skelette aus dem Prolog auf der Gaze im Kreis. Die Laterna magica, eine frühe Projektionsapparatur, findet heute oft noch einen Platz im Kinderzimmer. Assoziativ stellt der Text dann auch Fragen eines Kindes vor dem Einschlafen: Haben Geister Familienbeziehungen? Können Blinde Licht beschreiben? Nehmen Geister Raum ein? Können Geister ihre Gedanken voreinander verbergen?

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Foto links Martin Agryroglo, rechts Danielle Brathwaite-Shirley

Report HAU Die Eröffnungsproduktion des Festivals Geister, Dschinns und Avatare am Hebbel am Ufer ist poetisch und atmosphärisch. Stimmungen, Licht und Feuer sind die Protagonisten auf der Bühne, gemeinsam mit den flüchtigen Projektionen der lebendig gewordenen toten Materie der Knochen. Die Musik orchestriert das Ballett der Maschinen, die Flammen auf der Bühne sind auf die Zehntelsekunde getaktet. Beim Applaus stellt sich kurz die Frage, wem der ohne menschliche Akteure auf der Bühne gilt, als die Projektionen der Skelette auftauchen und sich verbeugen. Neben den eingeladenen Gastspielen auf den Bühnen des HAU findet sich auch ein installatives Rahmenprogramm. Eine VR-Brille im Foyer öffnet den Blick auf „Data Death“ von Nadezhda Bey, eine digitale Installation, in der ein Begräbnisritual für nicht genutzte Daten inszeniert wird. Karin Ferraris Video aus der ­Serie „Decoding the whole truth“ geht der Frage nach dem kollektiven Unbewussten in der iPhone-X-Werbung nach, sucht nach Spuren der Implementierung des Internets in unserem Bewusstsein, schürft nach mythologischen Verknüpfungen und referiert sie dann nicht ohne ein Augenzwinkern. Die Schnittstelle zwischen Digitalität, Magie und Performance wird hier naheliegenderweise das Ritual. Die rituelle Praxis findet vielfältige Ausformung. Danielle BrathwaiteShirley hat mit ­„Pirating Blackness/BLACKTRANSSEA.COM“ eine interaktive Performance geschaffen, die eine mehrpfadige Geschichte als Computerspiel erzählt. Das Meer als Träger der Erinnerung entweder der verschleppten Körper der Versklavten oder der Kolonialisten, die ebenso übers Meer kamen, leuchtet als Netz aus wogenden Linien auf dem Boden. Das Publikum steht im Raum selbst um ein Boot mit – ebenso wie im Video – roten Segeln. Es gibt drei maßgebliche Farben im Video und in der Installation: Schwarz, Weiß, Rot. Die vielen Pfade und deren Verzweigungen werden über vier Knöpfe im Boot gesteuert und führen entweder zum apokalyptischen Untergang des Schiffes und letztlich auch der Welt in Glitches des (digitalen) Meeres oder zu einer Rückgewinnung des Zuhauses und einer gerechten Neuordnung der Welt. Ritual werden aber auch eine öffentliche Probe von She She Pop, die Musikperformance des Heilungsrituals „Mazaher“ oder das sogenannte Purimspiel in der Performance „Rites of Spring I: Purimspiel“ von Ariel Efraim Ashbel and friends, die die Geschichte des Buches Esther während einer Kostümparty erzählt, die im Mittelpunkt des jüdischen Purimfestes steht. Die Verkleidung, an der auch das Publikum teilnimmt, soll im Ritual zu einer Auflösung der Kategorien führen, zu einer Ununterscheidbarkeit von Selbst und Welt, Authentizität und Schein. Unter der Programmatik der „Wiederverzauberung der Welt“ haben die Kuratorinnen Petra Poelzl und Sarah Reimann ein vielfältiges Programm zusammengestellt. Dabei wirken aber die Linien nicht immer wie erhofft netzartig, sondern bloß sternförmig zum Ritualbegriff, während das Magische zu einer Art Universalwaffe stilisiert wird: als Wiederentdeckung systematisch ausgelöschten Wissens, als Dekolonialisationsbewegung, als rituelle Praxis in der Gemeinschaft gegen die neoliberale Logik der Ver-

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einzelung und als Wiederverbindung mit der Natur gegen ökologische Ausbeutung und Zerstörung. Das Magische hat Konjunktur. Silvia Federici, der nicht nur der feministische Klassiker „Caliban und die Hexe“ zu verdanken ist, sondern auch der Titel ihres Buches „Die Welt wieder verzaubern“, der in der Eröffnungsrede von den Kuratorinnen als Motto genannt wird. Die Formel „Wiederverzauberung der Welt“ erlebte schon in den 1980ern einen Aufschwung. Es ist kein Zufall, dass das Festival gut besucht ist. Im Magischen steckt das emanzipatorische Potenzial als Wiedererinnerung und Reetablierung an und von systematisch ausgelöschtes/m Wissen im Rahmen weißer, männlicher Wissensproduktion. Umso wichtiger, Fragen zu stellen und Potenziale auszuloten. So bleibt allerdings die Rückseite der Fragestellung nach dem Magischen im Digitalen etwas auf der Strecke. Welchen Einfluss digitale Medien haben, welche scheinbar magischen, rational aber erklärbaren Aspekte sich in ihren Funktionsweisen verbergen, das scheitert nicht nur an der Ästhetik, sondern auch an der Frage der performativen Realisierbarkeit. Theater und Ritual waren schließlich schon seit seiner Erfindung eins. T

„BLACKTRANSSEA“ von Danielle Brathwaite-Shirley im Rahmen des Festivals „Geister, Dschinns & Avatare” im HAU

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck Kurz vor dem Mauerbau hatte der 1936 in Dresden geborene B. K. Tragelehn Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Studenten der Hochschule für Planökonomie BerlinKarlshorst inszeniert. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch“, sie wird verboten. Strafarbeit im Tagebau. Neuerliche Inszenierungen, neuerliche Verbote. Ausweg Westen: Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin. Tragelehn avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, schreibt Gedichte. Als Brechts letzter Meisterschüler hat Tragelehn das gelernt, was ihn wohl auch sein bester Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert. Mit unverhohlener sächsischer Breitguschigkeit. Die Gespräche mit Hans-Dieter Schütt – für das Buch „Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.“ – offenbaren das wunderbare Talent: „Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischen setzen“.

Faszinosum Verwandlung

Foto Dietmar Gust

B. K. Tragelehn im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt

Buchpremiere 11. April im Berliner Ensemble und am 16. April im Staatsschauspiel Dresden

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Herr Tragelehn, das Majestätische hat seinen Augenblick, wenn eine Schauspielerin oder ein Schauspieler die Bühne betritt. B.K.T.: Gut. Reden wir über Schauspieler. Ich sehe sie – und dann erst den Dichter. Den Text hab ich zu Hause. Meine Vorstellung vom Stück auch – dort bleibt sie. Sonst schürt sie Erwartung. Erwartung ist nur scheinbar lobenswert. Wer sagen kann, was er im Theater erwartet, will etwas sehen, was er schon kennt – wie sonst könnte er dieser Erwartung Worte geben. Wir haben die Fassungslosigkeit, haben die Empfindung für die Leere verlernt, die uns nicht nur bei einer Katastrophe heimsuchen sollte, sondern auch, wenn wir uns der Kunst nähern. B.K.T.: Wenn ich den Fernseher einschalte, sehe ich viele gute Schauspieler, mit denen ich früher am Theater zusammengearbeitet habe. Adel im Untergang? B.K.T.: Sie nehmen ja ihr kostbares Handwerk mit. Und es gibt eine Qualität, die ist von Belanglosigkeiten eines Stoffes nicht beschädigt. Schauspiel ist Zauber, oder? B.K.T.: Das Schöne an Phänomenen ist, dass es welche sind. Schön ist also, dass Erklärungen abprallen. Ich habe das bei Peter Brombacher erlebt, mit dem ich in Stuttgart, Bochum, Düsseldorf, Frankfurt, ­München gearbeitet habe. Zum ersten Mal hatte ich ihn in Stuttgart gesehen, in Peymanns Inszenierung von „Drei Schwestern“. Brom­bacher spielte den Soljony. Die Rolle hat wenig Text. Aber es war unvergesslich. Er machte kaum was, aber man sah hin zu ihm, immer wieder. Ab und zu rieb er ein paar Spritzer Kölnisch Wasser zwischen seinen Händen. Warum? Was sollte das? Wenn Tschechow eine eigne ­Figur erklären sollte, sagte er immer sowas wie: Was soll ich Ihnen sagen – der Mann trägt gelbe Hosen! So kam mir das vor bei Brombacher und seinem Soljony: Kölnisch Wasser! Schauspieler sind keine konzeptionellen Vollstrecker, deren Namen man in Rezensionen unanständig karg hinter der jeweiligen Rolle zwischen zwei Klammern

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zwängt, und das war’s dann. Sie erst gründen das Stück – im Moment ihrer Verausgabungen. Sie sind Fleisch-Werdung des Textes. Sie sind Auferstehungskraft. B.K.T.: Eines meiner größten Theatererlebnisse hatte ich als ganz junger Mensch auf einer Umbesetzungsprobe der „Courage“ am Berliner Ensemble. Helene Weigel kam auf die Probe, mit energischem Schritt, mit scharfer Stimme jemandem eine Anweisung zurufend, kurz: jeder Zoll Intendantin. Und dann stieg sie zur über fünfzig Zentimeter hohen Rampe hinauf, schob die Brille auf die Stirn, und vor unseren Augen schrumpfte sie zusammen zu der kleinen Greisin, die nicht hört, nichts sieht; vor unseren Ohren schrumpfte die Stimme, und kleinen, unsicheren Schrittes ging sie den weiten Gang, eine Plane zu holen zum Zudecken der toten Tochter. Bei keiner Vorstellung ist mein Eindruck so groß gewesen wie bei dieser Probe. Ich sah eine offene Verwandlung. Kürzer kann ich es nicht sagen. Das ist ein Vorgang, den kann nur das Theater, der Film nicht. Der Film suggeriert! B.K.T.: Beim Film schluckt die Kamera das Faszinosum der offenen Verwandlung, die wir im Theater nie wirklich vergessen und die bei Brecht „zeigen“ heißt. Es bleibt die Frage: Wie machen die das? Du träumst dich weg, um doch immer wiederzukommen. Im Kino, wenn du in den Film eintauchst, willst du nicht wiederkommen. Was ist ein Schauspieler? B.K.T.: Den jungen Max Frisch hat verstört, was Brecht auf diese Frage geantwortet hat: Das ist ein Mensch, der etwas mit besonderem Nachdruck tut. Etwa ein Glas Wasser trinken oder so. Oder Suppe essen. Im Film „Code: unbekannt“ von Michael Haneke hat Josef Bierbichler als ein Mensch vom Dorf einfach nur Suppe gelöffelt, mehr nicht – man sah einen Mann das Leben auslöffeln, das er sich eingebrockt hatte. Suppe essen. So, dass Zuschauen ein Ereignis wird. Und kein Anhauch von Nachahmung. B.K.T.: Glaubwürdigkeit auf der Bühne wird gern mit Natürlichkeit, Privatheit verwechselt. Ist aber bei einem wie Sepp

höchste Gestaltung. Ist Hochzeit von Sein und Zeigen. Ist Arbeit und Geschenk: Ich muss karg werden. Ist solche Kunst – Wahrheit? B.K.T.: Wahrhaftigkeit. Statt nur Wirklichkeit. Der schauspielerische Ehrgeiz, zu interpretieren, ist nicht gut für den Text, wenn der Text gut ist? B.K.T.: Grausam ist, wenn der Text nur Rohstoff für die Interpretation bleibt. Aber lieber sag ich, was gut ist: wenn der Gestaltungswille sich nicht vordrängt. Die stärksten Müller-Lesungen veranstaltete Heiner selbst. Er sprach seine Verse mit tonlosem Desinteresse. Er wollte seinen Text nicht interpretieren, er ließ ihn, wie beim Schreiben, über sich ergehen. Weil er sie selber nicht verstanden hat? B.K.T.: Jeder gute poetische Text ist klüger als sein Autor. Aber es geht nicht um Klugheit. Das Problem beim Schauspieler: Er lebt von fremden Texten. Er will aber vorkommen in diesen Texten, und er will gefallen, er will das Publikum gewinnen. Er produziert, und er wird produziert. Und dann sagt man schnell: Er oder sie schenkt sich dem Publikum. Aber er oder sie verkauft sich. Was machen gute Schauspieler? Sie unterwerfen den Text der fortwährenden Prüfung. Die gute Übermittlung eines Textes besteht aus einer Anzahl von Tests, denen der Text unterworfen wird. T

Hans-Dieter Schütt B. K. Tragelehn. Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. Verlag Theater der Zeit, 206 Seiten, € 18

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Magazin Bücher

Anpfiff auf der Bühne Der Wallstein Verlag versammelt ­Thomas Brussigs Fußballmonologe Von Michael Helbing

Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de

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Geht ein Schauspieler auf die Bühne und sagt: „Theater ist nicht spannend.“ Klingt wie ein Witz. Ist im Grunde auch einer: eine Pointe und neue Dimension in einem alten, aber runderneuerten Monolog Thomas Brussigs, der im vergangenen Advent das Volkstheater Rostock und das Staatstheater Oldenburg erreichte. Steffen Schreier beziehungsweise Matthias Kleinert gaben den schlecht gelaunten Trainer des SV Börde. Der Mittfünfziger musste im Vereinsheim vertretungsweise eine Liveübertragung von der Fußball-WM in Katar betreuen. Die Originalspiele flimmerten übern Bildschirm, während er ins Reden kam, 45 Minuten lang. Nach der ersten Halbzeit war Schluss. Der Typ ist Wiedergänger jenes Trainers, den wir 2001 im doppelt so langen Monolog „Leben bis Männer“ kennenlernten. Jörg Gudzuhn spielte den frustrierten Ossi, dessen Ziehsohn aus der Fußballmannschaft im Mauerschützenprozess angeklagt wird, über einhundert Mal an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin. Insgesamt gab es über fünfzig Inszenierungen. Aus dem „Wendeverlierer“, so Brussig selbst, hat er nun einen „Wutbürger“ gemacht: immer noch mit DDR-Biografie, ungeimpft und beinahe an Corona verreckt, kein Freund von Frauen im Fußball sowie des Genderns. Der Titel „Mats Hummels auf Parship“ verweist auf ein bewusst schief gesetztes Bild, die Partnersuche der Ukraine in Europa betreffend. Brussig weitet unzeitgemäße Betrachtungen seines Protagonisten auch aufs Theater aus. Der verachtet „Theatergänger“, weil er sich von ihnen verachtet glaubt, er schreibt „Hamlet“ Goethe zu und meint: „Ein Stück von Shakespeare ist immer gleich, aber ein Fußballspiel ist immer anders.“ Das hebt auf Sepp Herberger ab, dem zufolge Leute zum Fußball gehen, „weil sie nicht wissen, wie es ausgeht“. Theater und Fußball – das ist eine ewige Liebesgeschichte, die in Gänze bislang unerzählt bleibt. Sie beginnt nicht erst bei Bertolt Brecht („Theater muss wie Fußball sein“) oder Bernhard Minetti und hört nicht bei Thomas Thieme auf, der den FC Energie Schaubühne gründete und trainierte (mit Lars Eidinger als „unserem Cristiano Ronaldo“) und aus dem Fußballer Jimmy Hartwig einen Theaterschauspieler machte. Ungezählt die Anekdoten, wie sich Schauspieler, während eine Vorstellung lief, in den Gassen über Spielstände informierten. Ku-

rios die Versuche, als der Fußballreporter (und Deutschlehrer) Günther Koch Schillers „Räuber“ im Staatstheater live kommentierte. Und Thomas Brussig, Dramatiker und Romanautor, initiierte beim DFB die Autorennationalmannschaft. Deren bekanntester Spieler (und Torschützenkönig) wurde Moritz Rinke, der die anhaltende Sehnsucht der Theaterleute nach Fußball damit erklärte, dass dort „der Zufall das Spiel regiert und nicht die Vereinbarung“. Das korrespondiert sehr mit Brussigs insgesamt drei Fußballmonologen, die der Wallstein Verlag nun zusammen herausgebracht hat. Zwei davon sind fürs Theater geschrieben, das Theater ist ihnen aber formal nicht unbedingt eingeschrieben. Dramatische Gewitterwolken, wie sie in „Leben bis Männer“ aufziehen, entladen sich nicht. Stattdessen lauter Anpfiffe: grummelnd von der Seitenlinie kommentierte Zeitgeschichte. Die dramatischste Figur bietet der undramatischste Text: „Schiedsrichter Fertig“ (2007), die an Thomas Bernhard geschulte Litanei eines ebenfalls aus der DDR stammenden Fifa-Schiedsrichters, die schließlich doch noch auf die Bühne gelangte. Als Angestellter einer Berufshaftpflichtversicherung trat er soeben vor Gericht zugleich als Kläger und Vertreter der Beklagten auf, nachdem ein Chirurg den Tod seiner Frau verursacht hatte. Nun entwickelt er einen dichten inneren Monolog, der oft in einen klugen Essay über Fußball und Gesellschaft kippt – und einen Satz auf den Platz stellt, der gleichermaßen Treffer und Fehlpass bedeutet: „Ein Spiel muss folgenlos sein, sonst ist es kein Spiel.“ T

Thomas Brussig: Mats Hummels auf Parship, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 140 S., € 18

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Magazin Bücher

Solche Träume haben Folgen Der Band zu den Brecht-Tagen 2022 diskutiert die Klassenfrage neu Von Iven Yorick Fenker

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An Anlässen, über das Werk Bertolt Brechts und dessen Wirkung nachzudenken, mangelt es nicht. Nun ist im Verbrecher Verlag ein Buch erschienen, das verschiedene Texte über Brecht versammelt, die sich lesen wie auf einer Premierenparty ausdauernd aufeinander antwortenden, leicht monologisierenden, zuweilen durchaus belehrenden Gesprächsbeiträgen zuzuhören und sich nicht losreißen zu können. Die Beiträge kommen von den Redner:innen der BrechtTage 2022, die im Literaturforum im BrechtHaus stattfanden. Unter demselben Titel und Motto der Werkstattgespräche liegt nun mit „Brecht und Klasse und Traum. Stärkende Träume brauchen Bodenhaftung“ der von Falk Strehlow herausgegebene Band vor. Die Bandbreite der Zugänge der Texte ist groß, sie schauen genau hin, oft mit einem direkten Appell. Das fällt durchaus auf, aber hier geht es ja auch um etwas. Denn die thematische Trias Brecht–Klasse–Traum lässt Bezugspunkte zwischen den Beiträgen sowie deren Widersprüche erkennen, in denen Brecht bekanntlich „unsere Hoffnung“ sah. Die Hoffnung, mit der die Lektüre dieses Bandes seine Leser:innen hinterlässt, ist jenes Gefühl, welches das Lesen von Text zuweilen herstellt: etwas gelernt, etwas verlernt zu haben und etwas besser machen zu wollen. Gerüstet werden die Leser:innen zum Beispiel durch den Text von Tanja Abou, der die bürgerlich moralische Macht, die die Realität durch Aufstiegsmythen vernebele, zum Thema hat. Diese habe für die besungene prekär arbeitende Jenny wenig mehr übrig, als sie als ein unterhaltsames, weil ungefährliches Paradebeispiel für die vom gewaltvollen Umsturz phantasierende „Unterschicht“ zu imaginieren. Abou beschreibt die Figurenanlage der Seeräuberjenny als „Phantasie in einer Phantasie“ und liefert eine eindrückliche Einführung darin, wem Marx und Engels eigentlich das Potenzial zur Revolution zutrauten und wem nicht. Die beschworene Piratenarmee als Lumpenproletariat wird als Denkfigur stehengelassen, um dann zu einer Analyse der aktuellen Klassenlage zu gelangen. Auf diesem Niveau geht es weiter. Falk Strehlow geht durch die Träume im Dreigroschenstoff, traumdeutend nach Freud und traumwandlerisch affirmativ mit Konsequenzen für die gewollte Möglichkeitswelt, denn so Brecht: „Solche Träume haben Folgen.“

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Marie NDiaye

DIE RACHE IST MEIN Schauspiel Stuttgart Uraufführung am 11. März 2023

Regie: Annalisa Engheben

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

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Sabine Kebir wagt einen differenzierten Blick auf Brechts Liebes- und Arbeitsleben, Ana Kugli beschreibt Klassensprünge anhand der Analyse von Brecht-Texten, durchgesetzt durch Gewalt, Heirat oder Liebe. Hans-Joachim Schotts Text eröffnet eine postkoloniale Perspektive auf Zombifizierung. Manfred Bauschulte und Peter Staatsmann beschäftigen sich mit „Fatzer“, dem „vielleicht bedeutendsten Theatertext des 20. Jahrhunderts“. Gerta Stecher denkt über die Liebesgedichte nach und kommt auf interessante Perspektiven. Bettina Andrae etabliert Klassismus als Diskriminierungs­ kategorie, spricht über Erstakademiker:innenscham und ruft zu „gemeinsamen eigenen Antworten“ auf. Daniela Dröscher definiert das revolutionäre Potenzial der Mittelklasse, Ingo Schulze erzählt eine OstWest-Klassenreise und Ingar Solty schließt mit einem Abriss über Klasse und Traum. Ein Band wie ein lebendiges Gespräch, das langwierige Diskurse langlebig und brauchbar macht. Brechts Traum war die klassenlose Gesellschaft. Was sein Werk diesem Traum bedeutet, wird in den Impulsen offenbar, die dieses Buch gibt. T

Brecht und Klasse und Traum. „Stärkende Träume brauchen Bodenhaftung“, hrsg. von Falk Strehlow, Verbrecher Verlag, Berlin 2023, 240 S., € 26

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Magazin Brecht-Tage

Einfachheit oder artistische Montage Die Brecht-Tage 2023 beschäftigten sich mit der „Kriegsfibel“ Von Thomas Wieck

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Als Ulrike Haß den Titel ihres Vortrags „Erdbebenzone Eurasien. ‚Die Troerinnen‘ und Folgen“, entliehen aus dem Metaphern-Tresor Heiner Müllers („Das Preußen des Heinrich von Kleist ist eine Erdbebenzone, von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riss zwischen Westrom und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht.“), aussprach, schrak sie angesichts des gegenwärtigen türkisch-­ syrischen Erdbebens auf. Frau Haß schlug die Gelegenheit aus, ihr Manuskript beiseitezulegen, das metaphorische Gespinst zu durchreißen, das Kalkül der deutschen nationalkonservativen Elite bloßzulegen und die geopolitischen Deutungen dieses Raums, der machtpolitisch immer das Glacis des Russischen Reiches war und der ihm, um es zu besiegen, entwunden werden musste, zu untersuchen und zu fragen, was das für die betroffenen Völker heute bedeutet. Ulrike Haß verknotete ungerührt die trüben Metaphern eines „romantischen Modernismus“ (Richard Herzinger), die Heiner Müller nach 1990 in alle Welt streute, extrahiert aus den manichäischen Weltbildern der nationalkonservativen Publizisten und Wissenschaftler Oswald Spengler, Al-brecht Haushofer und Carl Schmitt zu einem schicksalhaften Bedeutungsnetz, das sie über den ukrainisch-russischen Krieg warf und ihn damit zum aktuellen Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen Europa und Asien, überhöhte. Sie verharrte in der „Naturalisierung“ und „Mythologisierung“ der Menschheitsgeschichte, dem Hauptgeschäft der spekulativen deutschen Geschichtsphilosophie. Das Publikum nahm es gelassen hin. Da tat sich die Frage auf, was es noch mit Brecht im Sinne hatte, der 1949 einen besonderen Blick auf Kriege empfohlen hatte: „… von unten aus […] wird sichtbar, daß der ‚kriegerische Geist‘, der die Kriege ent-

fesselt, welche kein friedlicher Geist je zu fesseln vermöchte, der Geist der Geschäfte ist. Nicht so ist es, daß ein zerstörerisches, kriegerisches Element […] die friedliche Produktion unterbricht, sondern die Produktion selbst gründet sich auf das zerstörerische, kriegerische Prinzip.“ Die von den Projektleitern Erik Zielke und Zhenja Oks kontradiktorisch geplante Lesung mit Volker Braun unter dem Titel „KriegsErklärung“ musste ausfallen, soll aber, sobald Braun wieder gesund ist („Gute Besserung!“), nachgeholt werden. Der aus München zugeschaltete Alexan­ der Kluge kreiste um sein eigenes stoffträchtiges Werk, stellte einige seiner verrätselnden Kurzfilmmontagen und einige seiner allseits bekannten Texte von seinen obligaten Stichwortgebern Brecht, Benjamin und Müller vor. Besorgt fragte er mehrmals nach, ob man ihn auch gut höre. Warum fragte er nicht, ob man seine Absicht verstehe, zitierte er doch all das Material allein deshalb, um die „Einfachheit und Robustheit“ (Kluge) der „Kriegsfibel“ mit der artistisch anspruchsvollen und von ihm favorisierten „vertikalen Montage“ der Elemente zu einem neuen politischen ABC zu verbinden. Wie das zu bewerkstelligen sei, blieb ungewiss. In Kluges Auftritt selbst verbarg sich eine mögliche Antwort auf die Frage: Nicht die ausgewiesenen und berufsmäßigen Brecht-Leser:innen mustern unter sich die „Kriegsfibel“ auf ihren Gebrauchswert durch, vielmehr lesen Schüler:innen und Azubis miteinander die „Kriegsfibel“, testen sie auf ihre Art und erklären dann den Brecht-Exegeten ihr Verständnis der Texte. Nun könnten sie im generationsverbindenden Dialog, die Rollenzwänge der Lernenden und Lehrenden eindrucksvoll aufgelöst, gemeinsam das alte politische ABC prüfen, sich um ein neues mühen und griffige Begriffe/Instrumente für das Verstehen und die Kritik der Gegenwart miteinander erproben. T

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Fotos links Xu Xing, rechts Gabriela Neeb

Screenshots der Veranstaltungen (von links nach rechts: Alexander Kluge, Brechts Grab und Prof. Dr. Ulrike Haß


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz), Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Digitale Dienste), Sophie-Margarete Schuster (Hospitanz), Cecilia Hussinger (Hospitanz) Mitarbeit Helen Bauerfeind (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 4 / 2023 Jenny Erpenbeck, Schriftstellerin, Berlin Iven Yorick Fenker, Autor und Dramaturg, Berlin und Leipzig Henning Fülle, Theaterwissenschaftler, Berlin René Heinersdorff, Theaterleiter, Düsseldorf Tamás Jászay, Theaterwissenschaftler, Budapest Knut Klaßen, Regisseur, Berlin Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Kritiker, München Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin, Berlin Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Gestaltung Hannes Aechter (Konzeption), Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 9,50 (Print) / EUR 8,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 95,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 105,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Fur Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 4, April 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 03.03.2023

Vorschau 5 / 2023

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und Twitter Twitter theaterderzeit / Facebook theaterderzeit / Instagram theaterderzeit www.tdz.de Ela Demiriz, Klarivio Karzan Hermiz, Ervin Nimanaj, Dilara Demiriz, Karim Maanmar, Aziza Zinar Elias, Hassib Fazil in „Time Busters“ in der Regie von Martín Valdés-Stauber

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Mai 2023 Thema: Theater und Erinnerung – für dieses große Thema haben wir uns auf die Suche begeben. Was vermögen unterschiedliche künstlerische Formsprachen im Sinne der Erinnerung? Wie verändert sich unsere Erinnerungskultur, wenn wir die radikale Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennen? Inwieweit kann Theater dazu beitragen? An den Münchner Kammerspielen wird das Thema schon ­län­ger ventiliert. Mit einer ausführlichen Abschlussbetrachtung zum Festival

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„Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ und einem Inszenierungsbericht zu „Time Busters“ haben wir uns in München umgesehen. Außerdem: Zweimal Uwe Johnson in Sachsen: Romanadaptionen von „Mutmaßungen über Jakob“ und „Jahrestage“ kamen in Dresden und Leipzig erstmals auf die Bühne – eine Doppelkritik und mit der Bearbeitung von Johnsons Roman-Tetralogie auch ein Beitrag zum Thema Theater und Erinnerung.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Wie hat sich dein Stück „And now Hanau“ entwickelt, das den Anschlag vom 19. Februar 2020 zum Thema hat? TM: Ich habe damit 2021 am ersten Jahrestag angefangen. Ich bin seitdem eng mit den Angehörigen der Opfer verbunden, habe viel recherchiert und aufgeschrieben. Ich lege gern am ersten Probentag dem Ensemble ein fertiges Stück vor, aber da wird sich noch einiges entwickeln. Es war mir sehr wichtig, dass wir mit der gesamten Produktion nach Hanau gefahren sind, zum dritten Jahrestag.

Tuğsal Moğul kam 1969 als Sohn türkischer Einwanderer im westfälischen Neubeckum zur Welt. Er studierte parallel Schauspielerei und Medizin. Heute hat er eine halbe Stelle in einem Münsteraner Krankenhaus und ist im Theater vor allem als Autor und Regisseur tätig. Seine Spezialität sind Stücke mit medizinischen oder migrantischen Themen: „Die deutsche Ayşe“ (UA 2013 in Münster), „Auch Deutsche unter den Opfern“ (UA 2015 in Münster) und „Wir haben getan, was wir konnten“ (UA 2020 Deutsches Schauspielhaus Hamburg). Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen hat im Mai „And now Hanau“ Uraufführung, eine Koproduktion mit den Theatern in Oberhausen und Münster in Zusammenarbeit mit dem Maxim Gorki Theater Berlin.

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Hanau steht für eins von mehreren rechtsradikalen Verbrechen in den vergangenen Jahren. Warum interessierst du dich gerade dafür? TM: Nach dem Anschlag kam ein Lockdown. Ganz Deutschland sprach von Covid und der Pandemie. Und nach dem zweiten Jahrestag kam der russische Einmarsch in die Ukraine. Und jetzt war die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien. Das hat dazu geführt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft gar nicht richtig realisiert hat, was da in Hanau passiert ist. Einer der tödlichsten Anschläge der deutschen Geschichte. Außerdem ist es das erste Mal, dass nach so einem Anschlag weniger über den Täter geredet wird, sondern die Namen der Opfer genannt werden. Das ist die richtige Perspektive, und die muss noch mehr in die Köpfe der Menschen hinein.

„Ich will das Stück dort zeigen, wo die Judikative, Legislative und Exekutive versagt haben, in der Mitte der Gesellschaft. Nicht fürs normale Theater­ publikum, sondern im Rat­haus, im Landgericht, wahrscheinlich auch im Roten oder ­Schöneberger Rathaus in Berlin.“

Ihr spielt das Stück nicht auf normalen Theaterbühnen, sondern in Rathäusern und Gerichtssälen. Warum? TM: Durch den Anschlag sind in Hanau Menschen zusammengekommen, die sonst wenig miteinander zu tun haben. Das hat zu großer politischer Aufmerksamkeit geführt. Deshalb will ich das Stück dort zeigen, wo die Judikative, Legislative und Exekutive versagt haben, in der Mitte der Gesellschaft. Ich will damit auch andere Leute ansprechen als das normale Theaterpublikum. Dass wir im Rathaus sind, im Landgericht, wahrscheinlich auch im Roten oder Schöneberger Rathaus in Berlin, das ist für mich ein Statement. Es soll ein mobiles Stück werden, schnell aufgebaut. Arbeitest du eigentlich immer noch als Arzt? TM: Ja, mit einer halben Stelle. Aber im Moment bekomme ich immer mehr Theaterangebote. Im Krankenhaus stört mich die wachsende Ökonomisierung, das Theater ist eine Herzensangelegenheit. Andererseits ist die Arbeit als Arzt auch eine Quelle. T

Foto Bayram Tarakci

Was macht das Theater, Tuğsal Moğul?

Als du angefangen hast, Stücke zu schreiben und zu inszenieren, war der dokumentarische Ansatz im Theater etwas Ungewöhnliches. Heute gehören Recherchestücke zum Bestandteil der meisten Spielpläne. Wie findest du diese Entwicklung? TM: Das finde ich natürlich gut, habe aber selbst immer versucht, nicht nur Originaltöne auf die Bühne zu bringen, sondern eine Überhöhung – oder noch genauer: eine Vergrößerung – zu finden. Zum Beispiel geht es im Stück „Wir haben getan, was wir konnten“ in Hamburg um das deutsche Gesundheitswesen und unter anderem um die Morde auf den Oldenburger und Delmenhorster Intensivstationen. Ich habe das mit Barockmusik kombiniert, also für das dokumentarische Material eine andere Form gefunden. Ich sage ungern, dass ich Dokumentartheater mache. Das hört sich so trocken und spröde an. Ich will die Möglichkeiten des Theaters nutzen, um Emotionen auszulösen.

Theater der Zeit 4/ 4 /2023


RADIKAL JUNG DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE 27 APRIL BIS 5 MAI 2023

volkstheater DREI URAUFFÜHRUNGEN in der Langen Nacht der Autor:innen am 30. April

DEM MARDER DIE TAUBE von Caren Jeß

RADICAL HOPE – EYE TO EYE von Stef Van Looveren

SISTAS!

GAIA AM DEUTSCHEN THEATER (GÖ)

Regie: Isabelle Redfern Glossy Pain / Volksbühne Berlin

von Nele Stuhler

Regie: Annalisa Engheben Schauspielhaus Hamburg

VERFÜHRUNG

DSCHINNS

von Lukas Bärfuss

ZEHN GASTSPIELE Marco Damghani Rainald Goetz Elfriede Jelinek Caren Jeß Ariane Koch Lasse Koch Jan Koslowski Kim de L’Horizon Thomas Melle Sasha Marianna Salzmann Nele Stuhler Artwork: Esra Gülmen

ZWIEGESPRÄCH

Regie: Rieke Süßkow, Burgtheater Wien

zu Gast: Schauspiel Köln / Düsseldorfer Schauspielhaus Schauspielhaus Zürich Thalia Theater Hamburg Theater Basel Schauspiel Frankfurt Pfalztheater Kaiserslautern Theater Heidelberg Bühnen Bern Schauspiel Leipzig

Mit freundlicher Unterstützung:

deutschestheater.de

DAS EREIGNIS

Regie: Selen Kara Nationaltheater Mannheim

ODYSSEE

Regie: Stas Zhyrkov Düsseldorfer Schauspielhaus

GONDELGSCHICHTEN Institut für Medien, Politik & Theater Tiroler Landestheater Innsbruck

MEIN LEBEN IN ASPIK Regie: Friederike Drews Deutsches Theater Berlin

DER MEISTER UND MARGARITA Regie: Luise Voigt Nationaltheater Weimar

THE DAN DAW SHOW von Dan Daw

GRM. BRAINFUCK Regie: Dennis Duszczak Theater Dortmund

8 1/2 MILLIONEN Regie: Mathias Spaan Münchner Volkstheater

Woyzeck

Regie: Jan Friedrich, Theater Magdeburg

KARTEN 089.523 46 55 www.münchner-volkstheater.de


Theater der Zeit

40. Heidelberger Stückemarkt

Theater der Zeit Freie Szene

28.4.— 7.5.2023

Mit

Christian Martin „Zinnwald“

Isabel Lewis Jenny Erpenbeck Markus Fennert Barbara Ehnes Knut Klaßen René Heinersdorff Christian Martin Tamás Jászay Tuǧsal Moǧul

Das Theater Festival

April 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de

April 2023

Gastland Schweden

Occasions

Ereignisse im Raum


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