Theater der Zeit 05/2019

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Künstlerinsert Benjamin Verdonck / Porträt Sebastian Hartmann / Neustarts in Karlsruhe und Trier / Das ZPS und der § 129 / Erinnerung an Andrzej Wirth / Schmelztiegel Théâtre National du Luxembourg

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Mai 2019 • Heft Nr. 5

Berliner Theatertreffen

Unendliches Spiel Der Schauspieler André Jung


Stücke 2019 11. Mai – 1. Juni 11. Mai

Sibylle Berg

Wonderland Ave. Schauspiel Köln

14. + 15. Mai Wolfram Höll

Disko

Schauspiel Leipzig

17. Mai

Elfriede Jelinek

Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier) Schauspiel Köln

24. + 25. Mai

Konstantin Küspert

Der Westen

ETA Hoffmann Theater Bamberg

27. + 28. Mai Clemens J. Setz

Die Abweichungen Schauspiel Stuttgart

28. + 29. + 30. Mai Thomas Köck

atlas

Schauspiel Leipzig

31. Mai + 1. Juni Enis Maci

Mitwisser

Schauspielhaus Wien

stuecke.de

44. Mülheimer Theatertage NRW

kinder

Stücke.2019 12.– 17 Mai

12. + 13. Mai

15. Mai

Oliver Schmaering

Ich, Ikarus

Theater an der Parkaue, Berlin

16. Mai

Dirk Laucke

Haydi! Heimat!

Die größte Gemeinheit der Welt

13. + 14. Mai

16. + 17. Mai

Die Eisbärin

Ich lieb dich

LTS Memmingen Eva Rottmann

Theater Kanton Zürich

Junges Schauspiel Düsseldorf Kristo Šagor

Schauburg München serres, design.

Katja Hensel

kinderstuecke.de Veranstalter

Gefördert von

LEONHARD-STINNES-STIFTUNG


editorial

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I

Extra Der Aboauflage liegt bei IXYPSILONZETT – Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater

m Mai hat man die Wahl oder die „10er Auswahl“: In zehn Bundesländern stehen Kommunalwahlen an, die in Brandenburg, Sachsen und Thüringen als Gradmesser für die Landtagswahlen im Herbst gelten. In Brandenburg hat der CDU-Chef Ingo Senftleben angekündigt, notfalls eine Koali­ tion mit der Linken einzugehen, während sein Parteikollege, der Bundestagsabgeordnete und frühere Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) Martin Patzelt sich auf Bundesebene nach 2021 eine Koalition mit der AfD vorstellen kann. Die Neuorientierung der CDU ist mindestens widersprüchlich. In Sachsen hat CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer einen von konservativen Kräften in der Landes-CDU lancierten „Plan B”, der das Planspiel einer Koalition mit der AfD nahelegte, dementiert. Und in Thüringen? Dort hatte Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken „wenig Verständnis“ für die staatlichen Ermittlungen gegen die Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit (ZPS). Gegen das ZPS, namentlich gegen Leiter Philipp Ruch war 2017 ein Verfahren nach § 129 ­wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet worden, eine Woche nachdem das ZPS auf dem Nachbargrundstück von AfD-Politiker Björn Höcke einen Nachbau des Berliner HolocaustMahnmals errichtet hatte. Ramelow twitterte: „Ein Rechtsstaat zeichnet sich aber gerade dadurch aus, genau keine politischen Weisungen zu erteilen.“ Die Ermittlungen wurden eingestellt. Jakob Hayner geht in diesem Heft auf diesen Fall politischer Justiz gegen die Kunstfreiheit ein und hinterfragt die entsprechenden Paragrafen. Die Kommunal- und Landtagswahlen stehen in direkter Spiegelschau zur Europawahl am 26. Mai. Im Vorfeld werden die Vielen sich erneut zu einer glänzenden Demonstration für ein „Europa der Vielen“ auf den Straßen deutscher Städte versammeln, und zwar am 19. Mai, dem vorletzten Tag des diesjährigen Berliner Theatertreffens, das vom 3. bis 20. Mai stattfindet und in seiner so benannten „10er Auswahl“ die bemerkenswertesten Arbeiten der Bühnen im deutschsprachigen Raum präsentiert. Mit dabei ist „Erniedrigte und Beleidigte“ vom Staatschauspiel Dresden, eine Inszenierung von Sebastian Hartmann. Thomas Irmer stellt diesen außergewöhnlichen wie umstrittenen ­Regisseur in einem Porträt vor, hat mit ihm über dessen Annäherung an die von ihm bevorzugten Romanstoffe gesprochen. Ebenfalls beim Theatertreffen zu erleben ist der Schauspieler André Jung in Thorsten Lensings Inszenierung „Unendlicher Spaß“. Christoph Leibold hat den Protagonisten ohne Allüren getroffen und einen Blick auf dessen sensibles wie hochgradig sprachbewusstes Spiel geworfen, für das ihm in diesem Jahr der Gertrud-Eysoldt-Ring verliehen wurde. Als sensationelle Entdeckung präsentieren wir das Stück „Anna Iwanowna“ von Warlam Schalamow, dessen überragende schriftstellerische Bedeutung als Chronist der Menschheitsverbrechen inzwischen auch hierzulande anerkannt wird. Bevor ab Mai die unzähligen großen und kleinen Festivals unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen, gilt es noch zwei wesentliche Neustarts an deutschen Stadt- und Staatstheatern zu resümieren: Anna Bergmann startete als Schauspielchefin am Staatstheater Karlsruhe äußerst programmatisch durch – sie engagierte ausschließlich Regisseurinnen. Elisabeth Maier hat geschaut, ob und wie dieses Konzept aufgeht. Am Theater Trier ist nach schweren finanziellen und personellen Querelen mit einem neuen Intendanten nicht nur Ruhe an der Bühne eingekehrt − Björn Hayer war für uns vor Ort und stellt fest: „Haltung und Unterhaltung finden unter der Intendanz von Manfred Langner auf fabelhafte Weise zusammen.“ Nur ein paar Kilometer vom grenznahen Trier entfernt, hat wiederum Frank Hoffmann in ­Luxemburg 1996 mit der Gründung des Théâtre National du Luxembourg den Traum von einem ­Nationaltheater im Großherzogtum Wirklichkeit werden lassen. Wie in einem Land mit drei Amtssprachen, von dessen Einwohnern etwa 47 Prozent aus anderen Ländern stammen, eine nach innen und außen wirksame nationale Repräsentation gelingt, beschreibt Sascha Westphal in einem Beitrag. Einen Einstand in die Festival-Saison stellt unser Künstlerinsert dar, in dem wir den belgischen Künstler Benjamin Verdonck vorstellen, dessen Schaffen sich weder auf ein Genre noch auf ein Format oder ein Thema festlegen lässt, sich vielmehr in Projekten, Installationen, Manifesten, Performances, Videos oder Büchern formuliert. Bei den Wiener Festwochen wird sein „Liedlein für Gigi“, beim Kunstfest Weimar die vier Kurzstücke „Gille learns to read“, „One More Thing“, „Sag mir wo die ­Blumen sind“ und „Waldeinsamkeit“ zu sehen sein. // Die Redaktion

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Inhalt Mai 2019 thema berliner theatertreffen 10

künstlerinsert

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Christoph Leibold Kraftvoll, zart, luzide Der Schauspieler André Jung – ein Protagonist ohne Allüren

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Thomas Irmer Auf der Suche nach dem totalen Ereignis Der Regisseur Sebastian Hartmann hat die Auseinandersetzung mit Romanen auf der Bühne in eine neue Freiheit geführt

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Arbeiten von Benjamin Verdonck

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Martin Baasch Von der Beiläufigkeit großer Fragen Der belgische Künstler Benjamin Verdonck erprobt Modelle für eine bessere Welt − auf der Bühne und in der sogenannten Wirklichkeit

kommentar

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Jakob Hayner Politische Justiz Gegen das Zentrum für Politische Schönheit wurde wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt – eine Bedrohung für die Kunstfreiheit

kolumne

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Kathrin Röggla Die geöffnete Tür

protagonisten

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Gunnar Decker Aufklärers Traum Dem Schriftsteller Volker Braun zum 80. Geburtstag

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Sascha Westphal Ein utopisches Paradox Mit dem Théâtre National du Luxembourg hat Intendant Frank Hoffmann im Schmelztiegel Luxemburg eine Art Welt-Nationaltheater begründet

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Elisabeth Maier Innovative Ästhetik aus dem Zwölftonner Die Landesbühnentage in Tübingen zeigen das künstlerische Potenzial der Abstechertheater – politische Stoffe und anspruchsvolles Musiktheater in der Fläche

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Elisabeth Maier Aus der Perspektive starker Frauen Schauspielchefin Anna Bergmann überlässt in Karlsruhe ausschließlich Frauen das Regiepult – ein Zeichen für die Gleichheit der Geschlechter

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Björn Hayer Eroberung im Herzen Europas Nach Querelen und Skandalen gelingt dem Theater Trier ein erstaunlicher Neubeginn: mit Unterhaltung, Politik und großen Gefühlen

38

Thomas Irmer Theater ohne Andrzej Wirth Eine Erinnerung an den großen Theatertheoretiker

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inhalt

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look out

auftritt

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Paula Perschke Humor als Waffe Die Jenaer Schauspielerin Mona Vojacek Koper versteht sich als Theateraktivistin und Überbringerin drängender Zeitfragen

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Jakob Hayner Wann, wenn nicht jetzt Die Regisseurin Rebekka David bringt die Diskuse unserer Zeit auf die Bühne – unter Verwendung neuester Gesellschaftstheorien

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Bonn „Oh wie schön ist Panama Malta“ (UA) von Volker Racho und Ensemble in der Regie von Simon Solberg (Martin Krumbholz) Braunschweig „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht in der Regie von Dagmar Schlingmann (Gunnar Decker) Dresden „König Macius der Erste“ von Janusz Korczak in der Regie von Wojtek Klemm (Michael Bartsch) Frankfurt am Main „Anders hören“ von Marina Abramović (Claus Leggewie) Greifswald / Stralsund „Weißer Raum“ von Lars Werner in der Regie von Reinhard Göber (Gunnar Decker) Hamburg „Die Stadt der Blinden” nach dem Roman von José Saramago in der Regie von Kay Voges (Anja Nioduschewski) Plauen-Zwickau „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht in der Regie von Roland May (Michael Bartsch) Rottweil „Raub der Europa“ von Peter Staatsmann in der Regie von Peter Staatsmann (Elisabeth Maier) St. Pölten „Am Königsweg“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Nikolaus Habjan (Margarete Affenzeller) Tübingen „Bestätigung“ von Chris Thorpe in der Regie von Thorsten Weckherlin (Elisabeth Maier)

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Erik Zielke Kolyma in Miniatur Das Lager auf die Bühne bringen – Zu Warlam Schalamows Stück „Anna Iwanowna“

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Warlam Schalamow Anna Iwanowna

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Grips macht Mut Das erfolgreichste Kinder- und Jugendtheater der Welt wird 50 Anarchie mit klaren Regeln Mit dem Theater Arche eröffnet in Wien eine neue freie Bühne – das erste Stück „Anstoß“ von Jakub Kavin dreht sich um die Abgründe des Sportbusiness Geschichten vom Herrn H. Neuestes aus dem Kulturkampf Die Pionierin In Gedenken an Geesche Wartemann, die erste Professorin für Kinder- und Jugendtheater Historische Tiefenbohrungen Zum Tod des Leipziger Theaterwissenschaftlers Manfred Pauli Der lange Schatten des Stalinismus Unter dem Titel „DDR neu erzählen!“ wird am Berliner HAU über das Geschichtsbild des Ostens diskutiert Bücher Bernd Stegemann, Mirjam Meuser, Cornelia Klauß, Ralf Schenk, Karlheinz Braun

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Meldungen

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Premieren im Mai 2019

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TdZ on Tour in Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Felix Ensslin im Gespräch mit Sascha Westphal

44

stück

magazin 73

aktuell

was macht das theater?

Titelfoto: André Jung (in Teilen seiner Maske zu „Unendlicher Spaß“). Foto Ben Wolf

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Arbeiten von Benjamin Verdonck: „Song for Gigi“ am Toneelhuis in Antwerpen (2017). Rechts: „The Great Swallow“ in Brüssel (2004). Seite 6/7: „lodz/boot/boat“ in Łódź (2012). Fotos Kurt Van der Elst (oben) / Alexis Destoop (rechts) / Maxim Hectors (S. 6 / 7)





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Von der Beiläufigkeit großer Fragen Der belgische Künstler Benjamin Verdonck erprobt Modelle für eine bessere Welt − auf der Bühne und in der sogenannten Wirklichkeit von Martin Baasch

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wei Fußballtore stehen halb versunken inmitten eines kleinen Sees im Stadtpark von Antwerpen. Enten ziehen ihre Kreise auf dem Wasser, finden den Weg ins Netz oder gleiten knapp am Pfosten vorbei. Seniorinnen und Senioren zu beiden Seiten des Sees verfolgen das Geschehen eher nachlässig. Familien schlendern vorbei, vereinzelt feuert ein Kind eine der Enten an. Den Enten scheint das herzlich egal zu sein. Die Sonne geht langsam unter, der Park leert sich. Das Spiel geht weiter. Es ist eine dieser simplen Anordnungen, wie sie Benjamin Verdonck nun schon seit über zwanzig Jahren immer wieder gelingen. Er setzt Alltagsgegenstände, Orte und Menschen zueinander in Beziehung und schafft damit kleine und große Erzählungen, für alle, die bereit sind, sich darauf einzulassen. Ist hier ein Kinderspielplatz einem fundamentalistischen Landschaftsgärtner zum Opfer gefallen − oder steigt der Wasserspiegel in Belgien so dramatisch? „The Finale“ (2015) war Teil des zweijährigen Projektes „Even I Must Understand It“, in dem sich Verdonck mit den Auswirkungen des Klimawandels, kollektiver Verantwortung und der Frage beschäftigte, wie man vom Wissen zum Handeln kommt. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch Verdoncks künstlerisches Schaffen, das sich ansonsten weder auf ein Genre noch auf ein Format oder ein Thema festlegen lässt. Seit Jahren entwickelt er Projekte, die sich im Laufe des Prozesses von Installationen zu Manifesten, von Performances zu Videos oder ­Büchern

entwickeln. Oft schließen sie intensive Gespräche mit lokalen Communities, Expertinnen und Experten oder politisch Verantwortlichen mit ein oder entstehen aus der genauen Beobachtung eines bestimmten Ortes. Schlagartig bekannt wurde Verdonck 2004 mit seiner Installation „The Great Swallow“, einem über­ dimensionalen Vogelnest, das im 13. Stock an der Fassade eines Hochhauses in der Brüsseler Innenstadt klebte und später auch in Rotterdam und Birmingham gezeigt wurde. Sieben Tage verbrachte Verdonck jeweils in diesem Nest, warf hin und wieder Stroh oder Federn auf die unten vorbeieilenden Geschäftsleute; trauerte um ein riesiges Ei auf dem Bürgersteig, döste, beobachtete und übte Flügelschlagen. In den ersten Tagen bemerkte kaum jemand das fremdartige Objekt in der Höhe, doch schnell bildeten sich kleine Menschenaufläufe, die irritiert hinaufschauten und versuchten, mit dem seltsamen Mann dort oben zu kommunizieren − allerdings ohne Erfolg. Lediglich eine Wildgans gesellte sich angeblich zu Verdonck und machte es sich im Nest gemütlich. Am letzten Tag war das Nest verwaist; ein Notarztwagen parkte an der Stelle, an der ein paar Tage zuvor das Ei gelegen hatte. Vor allem diese Arbeiten im öffentlichen Raum – sei es nun das seltsame Nest, eine überdimensionale Abschussrampe für ein kleines Ruderboot oder der Miniatur-Nachbau eines Seniorenheims in Form eines Baumhauses – haben immer wieder für Aufsehen gesorgt und Verdonck Einladungen zu den großen europä­ ischen Kunstfestivals beschert. Sie stehen für ihn gleichberechtigt neben seinen Bühnenstücken, Soloperformances und den vielen kleinen, ephemeren Interventionen, die ihn meist allein und nahezu unbemerkt von einer Kunstöffentlichkeit durch die ­

„The Finale“ im Stadtpark von Antwerpen (2015). Foto Griet Stellamans

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­ traßen von Brüssel, Gent, Antwerpen oder Rotterdam führen. S Es sind kleine poetische Verirrungen, psycho-geografische Wanderungen oder surreale Kraftanstrengungen, die aber immer aus einer politischen Debatte oder einem lokalen Ereignis heraus entstehen. Zum Beispiel versuchte Verdonck, im Rahmen seines ganzjährigen Projekts „Kalender09“, als Statement zur CityMarketing-Debatte, einen Tag lang ein riesiges A quer durch Antwerpen zu schieben, oder er erklärte sich selbst zum „Hausmeister“ eines Unterschlupfs von Wohnsitzlosen am Stadtrand, den er regelmäßig säuberte, verbesserte und mit frischen ­Möbeln versah, ohne die Bewohnerinnen und Bewohner je zu treffen („Junk House“, 2009). Stets sind diese Aktionen Versuche eines poetischen Denkens, das nicht ergebnisloses Sinnieren bleibt, sondern ein konkretes Handeln herausfordert, das in die Wirklichkeit eingreift. Zu Hause ist dieses Denken und Arbeiten in einem Vorort von Antwerpen. Vor ein paar Jahren hat Verdonck zusammen mit Freunden und deren Familien ein Grundstück samt Haus er­ worben und dieses umgebaut. Hier läuft ein großer Teil von ­Verdoncks Arbeiten, Denken, Proben und Schreiben zusammen; kreatives Einzelgängertum und gelebte Gemeinschaft verschränken sich hier. In dem Werkstatt-Atelier, das zum Haus gehört, ­befindet sich auch seine wuchernde Sammlung von Objekten, Zetteln und Fundstücken, verwahrt in Schränken, Regalen, Schachteln und Dosen, sortiert nach Farben, Themen und Fundorten. Eine Konstante unter vielen, die sich durch die Sammlung zieht, ist das Verhältnis von Mensch und Natur. „Wewilllivestorm“ (2006) ist eine von Verdoncks frühen Theaterarbeiten, in der er gemeinsam mit seinem Vater und dem langjährigen Kollaborateur und Musiker Tomas Desmet auf der Bühne stand. Es ist ein Abend über das Meer – irgendwo zwischen „The Tempest“ und Hemingway, zwischen ihm und seinem Vater, zwischen Wunderkammer und Kinderzimmer. Die Bühne ist ­voller Schnüre und kleiner Apparate, Holzschiffe tauchen aus Pappkartons auf und versinken wieder. Ein Paar alte Wander­ stiefel macht sich selbständig, ein Sturm zieht auf und legt sich wieder. Ein Schaukelpferd bewegt sich, von Verdonck an einem Seil gezogen, langsam über die Bühne, berührt eine Holzkugel, die in die entgegengesetzte Richtung rollt und einen Mechanismus auslöst, der eine lange Holzleiste samt Messer herabfallen lässt. Das Messer köpft das kleine Schaukelpferd. Ein kurzer Blick zwischen Vater und Sohn. Ein Schulterzucken. Nächste Szene. Schon in diesen frühen Theaterarbeiten finden sich die Elemente, mit denen Verdonck heute Theaterbühnen und internationale Festivals bespielt von Avignon bis zum Kunstenfestival­ desarts in Brüssel – größtenteils als Soloperformances, aber auch in Zu­sam­menarbeiten mit Künstlern wie Pieter Ampe. Es sind schlichte, aber minutiös geplante Versuchsanordnungen, in denen jedes einzelne Element seine Rolle hat. Dabei geht es nicht um den ­großen Bühneneffekt. Es ist vielmehr die Beiläufigkeit, die den Zauber von Verdoncks Arbeiten ausmacht – allerdings eine hoch konzentrierte. Verdonck selbst ist in seinen Modellwelten Performer und Bühnentechniker, Conférencier und staunendes Kind zugleich. In den letzten Jahren hat er eine Reihe von mobilen ­Theatern, die sogenannten „Tafeltonelen“ (Tischtheater), entwickelt. Manche von ihnen passen auf einen Biertisch, andere

benjamin verdonck

haben die Größe von mittleren Puppentheatern. Mit umtriebiger Finger­fertigkeit bewegt er seine Mikrokosmen, Vorhänge öffnen und schließen sich, Sätze oder einzelne Worte erscheinen und verschwinden. „Song for Gigi“ ist der jüngste Teil dieser Serie von Hand bewegter Bühnenwelten. Deutlich größer als die Tafel­ tonelen und begleitet von zwei Musikern, erinnert die Per­ formance fast ein wenig an Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Es sind in letzter Zeit auffallend ruhige Abende wie „Waldeinsamkeit“ oder die Videoinstallation „Aren“, die mit langen Bögen und der Dehnung von Zeit spielen. Sehr formal und geführt wirken sie im Vergleich zu den kleinen furiosen Tischfeuerwerken wie „Gille Learns to Read“ oder „The Childhood ­Memory“. Es sind unaufdringliche Gesamtkunstwerke. Verdonck versteht sie als Statements und zärtliche Rituale gegen die Hektik und den immer ­irrwitzigeren Beschleunigungszwang unserer (Kunst-)Welt. Auf dem Teich im Stadtpark von Antwerpen kreisen die Enten immer noch um die beiden versunkenen Fußballtore, obwohl es längst dunkel ist und niemand mehr die Tore zählt. //

Benjamin Verdonck, geboren 1972, lebt und arbeitet in der Nähe von Antwerpen. Seine künstlerische Praxis umfasst Theaterstücke, Installationen und Aktionen im öffentlichen Raum sowie Texte, ­ Zeichnungen und Objekte. Er arbeitete als Performer u. a. mit ­Johan Simons, Ivo van Hove und Alain Platel und ist mit seinen Arbeiten regelmäßig Gast internationaler Festivals. Aktuell sind ­seine Produktionen im Rahmen der Wiener Festwochen und des Kunstfests Weimar zu er­leben. Foto Vincent Delbrouck

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„Bestenschauveranstaltungen“ – unter diesen Begriff fällt für Regisseur Sebastian Hartmann wohl auch das Berliner Theatertreffen. Diese Schau der bemerkenswertesten ­Inszenierungen im deutschsprachigen Theater eröffnet die kuratierte und von Jurys bestallte Festival-Saison. Wir stellen zwei Protagonisten des diesjährigen Theater­ ­ treffens vor: den Schauspieler André Jung, gerade erst ausgezeichnet mit dem GertrudEysoldt-Ring 2019, zu sehen in der zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierung ­„Unendlicher Spaß“ von Thorsten Lensing, und Sebastian Hartmann, dessen Dresdner Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“ in Berlin gezeigt wird.


berliner theatertreffen

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Kraftvoll, zart, luzide Der Schauspieler André Jung – ein Protagonist ohne Allüren

von Christoph Leibold

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in Montag im März. Von den vier Stühlen rund um den ­Kaffeehaustisch wählt André Jung zufällig den aus, der zwanzig Zentimeter kleiner ist als die übrigen. Mit dem Ergebnis, dass er nun deutlich tiefer sitzt als sein Gegenüber. Ob ihn das nicht ­störe, so von oben herab befragt zu werden? Jung winkt lächelnd ab: „Darüber bin ich längst hinaus!“ 65 Jahre ist er jetzt alt und hat im Theater so ziemlich alles erlebt. Wieso sollten ihn da Kleinigkeiten irritieren? Dazu die vielen Auszeichnungen. Zwei Mal „Schauspieler des Jahres“ zum Beispiel. Und am Tag vor dem Interview ist er aus Bensheim gekommen, wo ihm der Gertrud-Eysoldt-Ring verliehen wurde. Die Jury würdigte ihn als einen der „feinsinnigsten, radikalsten und erstaunlichsten Bühnenkünstler unserer Zeit“. „Ich habe tolle Sachen über mich gehört!“, freut sich Jung. Die Auszeichnung hat ihn aber auch ins Grübeln gebracht. Zum Beispiel über den Preis, den man als viel beschäftigter Schauspieler im P ­ rivaten zahlt. Sein sechzehnjähriger Sohn hat ihn nach Bensheim begleitet. Er kommt auch oft zu Besuch aufs Filmset, wenn André Jung auswärts dreht. „Wir vermissen einander halt auch ab und zu.“ In der Nachdenklichkeit im Gespräch findet man jenen ­André Jung wieder, den man von der Bühne kennt. Es ist dieser intensive Blick aus irgendwie traurigen Augen, der einen auch dann berührt, wenn man in den hinteren Reihen des Zuschauerraumes sitzt. Aus der Nähe betrachtet fällt einem dagegen noch stärker ein spitzbübischer Zug um die Mundwinkel auf. Nimmt man beides zusammen – die melancholischen Augen und das ver-

In den Sand gesetzt? – André Jung besticht selbst im Scheitern noch, wie in Johan Simons Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ an den Münchner Kammerspielen (2013), mit Jung als Großbauer Lear. Foto Julian Röder

schmitzte Lächeln –, könnte man das Bild vom traurigen Clown bemühen. Wenn es nur nicht so ein Klischee wäre. Allerdings: André Jung bekennt sich selbst dazu. „Clownerie ist mir nicht fern. Ein guter Clown lebt vom Understatement.“ Was das bedeutet, ist in Thorsten Lensings Bühnenfassung des Romanwälzers „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace zu erleben. In der Inszenierung, die zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen ist, spielt Jung einen der drei Incandenza-­ Brüder, deren Vater Selbstmord begangen hat. Die Söhne Orin und Hal kommen damit nicht wirklich klar. Orin, der älteste, ist ein sexbesessener Footballspieler. Hal, der jüngste, ein Tennis­ crack und Nervenbündel. André Jung spielt das Sandwichkind in der Mitte: den schwerbehinderten Mario. Lensings Inszenierung ist ein Allstar-Projekt (mit Schauspielgrößen wie Ursina Lardi, Devid Striesow oder Sebastian Blomberg) und eine Art Nummernrevue, die jeder Figur ihren Moment schenkt. Vor allem Striesow und Blomberg ziehen dabei große Slapstick-Shows ab und geben die Stars in der Manege. ­André Jung sieht ihnen gern dabei zu. Ganz ähnlich wie er als Mario das Treiben seiner beiden Brüder aufmerksam verfolgt. Und während die Rampensäue Striesow und Blomberg dem lauthals lachenden Publikum unendlich albernen Spaß bescheren, erfüllt einen Jungs Spiel eher mit stiller, aber umso tieferer Freude. „Man kann mit körperlichen Defiziten nicht rampensäuisch umgehen“, sagt Jung. Und auch nicht, indem man solche Gebrechen möglichst naturgetreu zu kopieren versucht. In Hollywood war es eine Weile so etwas wie Leistungssport für Großschauspieler, Menschen mit Handicaps zu spielen. Daniel Day-Lewis in „Mein linker Fuß“. Dustin Hoffman als „Rainman“. Oder Robert De Niro in „Zeit des Erwachens“. André Jung ist daran nicht interessiert. „Es wäre mir höchst suspekt, wenn ich eine bekannte Krankheit imitieren würde. Die Abstraktion ist viel stärker.“ Also hat er sich einfach einen simplen Haushaltsgummi um den Kiefer geschnallt, der ihm die Mundwinkel einschneidet. Das erschwert die Artikulation. Zudem steckt seine linke Hand unter einem Gürtel am Bauch, um die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Wenn André Jung dann mit der freien Hand ein hellblaues Kissen an seine

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thema

Wange hält (wie einst das Comic-Kind Linus in den „Peanuts“ seine Schmusedecke) steht da tatsächlich ein kleiner, gehandicapter Junge auf der Bühne, der aus neugierigen Augen erstaunlich schlau in die Welt blickt. Denn dieser vermeintlich zurückgebliebene Mario Incandenza hat seinen Brüdern – zumal so wie André Jung ihn spielt – einiges an Wissen über das Leben voraus. Auch, weil er als Einziger der Brüder den Gedanken an den toten Vater an sich heranlässt. Im Grunde war auch schon der Hund, den André Jung in Lensings Dostojewski-Adaption „Karamasow“ spielte, so ein stiller Beobachter. Wobei der weniger an tiefen Einsichten als an der Befriedigung primärer Bedürfnisse interessiert war. „Erst sollte ich auf allen Vieren gehen und mir einen Schwanz umbinden“, erinnert sich Jung, „aber man kann einen Hund auch auf zwei Beinen spielen und mit der Hand wedeln.“ Anfangs einmal bellen, das hat gereicht, damit die Leute wissen, um was für eine Kreatur es sich handelt. Ansonsten entwickelte André Jung seinen Hund aus der Frage, was so ein Tier bewegt. Antwort: „Der interessiert sich für nix außer Fressen. Und vielleicht noch für eine Fliege, die er ausgiebig mit den Augen verfolgt.“ Was Jung denn auch getan hat mit einem imaginären Insekt, das er kopfwiegend betrachtete. Als Meister des Understatements wird André Jung für diese Art der Darstellungskunst regelmäßig gefeiert. „André zeigt im

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Kleinen das Brillante. Aber das wird dann automatisch groß. Es reicht, wenn er wenig tut, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen“, meint dazu Frank Baumbauer, unter dessen Intendanz Jung am Theater Basel engagiert war und später auch am Hamburger Schauspielhaus sowie den Münchner Kammerspielen. Diese große Karriere war ihm allerdings nicht vorgezeichnet. An der Schauspielschule in Stuttgart, erzählt Jung, habe ein Lehrer prophezeit: „André wird immer am Theater bleiben. Er ist zwar nicht besonders gut. Aber er sitzt gern in der Kantine!“ Zunächst lernte Jung tatsächlich eher die Kantinen von Bühnen in der sogenannten Provinz kennen. Engagements führten ihn nach Esslingen, Ulm und Heidelberg. Zwischendurch dann aber auch an größere Häuser in Frankfurt am Main und Zürich. Dort fiel er Baumbauer auf, als der seine Basler Mannschaft zusammenstellte. Jung wurde einer der Schlüsselspieler in Baumbauers Erfolgs­ team. Ein Protagonist ohne Allüren. Ein Ensemblespieler, der mehr noch als Kantinen die Kontinuität in der Zusammenarbeit mit Kollegen wie Regisseuren schätzt. Mit Christoph Marthaler, dem er während dessen Intendanz nach Zürich folgte, verbindet ihn die clowneske Ader. Werner Düggelin, prägender Regisseur seiner frühen Jahre, fühlt er sich bis heute verbunden. Den EysoldtRing bekam er für die Rolle als Erzähler in Büchners „Lenz“ in Zürich – unter Düggelins Regie. Die Laudatio hielt Jossi Wieler, mit dem André Jung viele wichtige Arbeiten verbinden, unter anderem Elfriede Jelineks „Rechnitz“ an den Münchner Kammerspielen (2008). Wieler lobte in Bensheim die „Luzidität, Sensibilität und Zartheit“, mit der Jung im „Lenz“ auftrete. Und er rühmte Jung als einen, der wie kaum ein Zweiter „erhaben und würdevoll Scheitern“ spielen könne: „Ich glaube, neben Buster Keaton kann das nur André in dieser Perfektion.“ Da ist er wieder: der ClownVergleich! Trotz der Treue zu einigen Regisseuren, sagt Frank Baumbauer, „war André nie ein Schauspieler, der nur mit bestimmten Leuten arbeiten wollte. Es ging auch nie um die Frage: Was spielt André Jung? Er hat immer mit derselben Offenheit mit RegieNeulingen in kleinen Spielstätten gearbeitet wie mit namhaften Regisseuren auf der großen Bühne.“ Jung blieb den Münchner Kammerspielen auch treu, als 2010 Johan Simons auf Frank Baumbauer als Intendant folgte. Unter Simons Regie hatte er schon vorher regelmäßig gespielt. Heiner Müllers „Anatomie Titus“ (2003) sowie „Hiob“ nach dem Roman von Joseph Roth waren gemeinsame Meilensteine. Simons reduktionistischer Regiestil, der auf wenige, dafür umso ausdrucks­ stärkere Zeichen setzt, kam Jung dabei sicher entgegen. Ebenso sicher ist es kein Zufall, dass die letzte gemeinsame Arbeit von Jung und Simons floppte, weil hier die eher üppige Ausstattung die Auseinandersetzung mit dem Stück ersetzte. 2013 zeigt Simons Shakespeares „König Lear“ als Großbauern, umgeben von leibhaftigen Schweinen als Live-Deko in Dorfkulisse. Recht viel mehr als die hilflos gegen ihre grunzenden Konkurrenten anspielenden

André Jung als schwerbehinderter Mario Incandenza in Thorsten Lensings Inszenierung des Monumentalromans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace, hier in den Sophiensaelen in Berlin (2018). Foto David Baltzer/bildbuehne.de


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Schauspieler ist von dieser Aufführung denn auch nicht in Erinnerung geblieben. „Das haben wir in den Sand gesetzt“, stellt ­André Jung lakonisch fest. Mehr will er dazu nicht sagen. Er deutet nur an, dass seine und Simons Vorstellungen von Theater damals begonnen hatte auseinanderzudriften. Das und die Ankunft von Matthias Lilienthal in München bewogen Jung 2015 dazu, fortan frei zu arbeiten. Nach rund vier Jahrzehnten in festen Engagements. Er dreht nun verstärkt. Zuletzt war er in seiner Heimat Luxemburg, wo er 1953 geboren wurde, in „Superjhemp retörns“ auf der Leinwand zu erleben, als Titelfigur einer Superhelden­ parodie. Superjhemp ist eigentlich einfacher Staatsbeamter, der aber Superkräfte entfaltet, wenn er Kachkéis verzehrt. Kochkäse ist eine luxemburgische Spezialität. Im Großherzogtum war der Film 2018 ein Kassenschlager. André Jung hat der Part diebische Freude bereitet. Wenn er davon erzählt, weitet sich das spitzbübische Lächeln zu einem breiten Grinsen. Und wahrscheinlich sind solche Auftritte auch ein gesunder Ausgleich zu Rollen von der Art, wie er gerade eine in Hamburg am Schauspielhaus spielt. „Die Übriggebliebenen“ hat Regisseurin Karin Henkel ihre Kompilation aus drei Texten von Thomas Bernhard genannt, darunter die finstere Komödie „Vor dem Ruhestand“. André Jung spielt darin den einstigen SSOffizier Rudolf Höller, einen Ewiggestrigen, der auch nach dem Ende des NS-Regimes regelmäßig den Geburtstag Heinrich Himmlers feiert. Bei Jung wirkt dieser Höller, trotz blitzblanker SS-Uniform, nicht wie ein Fanatiker. Eher wie einer, der tatsächlich nicht begreifen kann, was an der Ideologie, die ihn fürs Leben geprägt hat, falsch gewesen sein soll. Jungs Höller ist ein melancholisches Monster, aber natürlich trotzdem eine „verkommene Drecksau“, wie Jung betont. Nur eben erschreckend normal. Sanft beinahe.

Melancholisches Monster und verkommene Drecksau – so legte André Jung den SS-Offizier Rudolf Höller in der Thomas-BernhardKompilation „Die Übriggebliebenen“ in der Inszenierung von Karin Henkel am Schauspielhaus Hamburg (2019) an. Foto Lalo Jodlbauer

Zu diesem Eindruck trägt auch Jungs weich modulierte Sprache bei. Als Kind hat er zunächst Luxemburgisch und Französisch gelernt. Deutsch kam dann in der Grundschule dazu. Er beherrscht es akzentfrei. Und doch liegt stets etwas Fremdes, Plastisches in seiner Rede. So, als würde er sich behutsam durch die Sätze tasten und ihnen nicht ganz über den Weg trauen. Ja, fast scheint es, als lauschte er den Worten hinterher, ehe er sie freigibt. Und in der Luft bleiben dabei Fragezeichen hängen. So macht Jung Texte transparent, verleiht ihnen zugleich etwas Fremdes, und lädt das Publikum ein, das Gesagte förmlich zu betrachten und abzuwägen. „Manchmal kommen mir ganz normale Wörter vollkommen absurd vor“, beschreibt André Jung dieses jähe Befremden, aus dem eine Befragung von Texten erwächst. Eine Auseinandersetzung, die so nur auf der Bühne möglich scheint und für ihn essenziell ist. Bei aller Leidenschaft fürs Drehen sind es eben nicht nur die Kantinen, die André Jung am Theater nicht missen möchte. Noch so ein Preis, den man als (freier) Schauspieler zahlen muss: Man ist viel auf Achse und geht daher oft ­auswärts essen. Das ist teuer. André Jung sagt dazu die schönen Sätze: „Ohne den Film könnte ich nicht ins Restaurant gehen. Aber ohne das Theater kann ich nicht leben.“ Er ist über vieles längst hinaus. Nur ganz bestimmt nicht über das Theaterspielen. // Beim Berliner Theatertreffen ist André Jung in Thorsten Lensings Inszenierung von „Unendlicher Spaß“ am 4. und 5. Mai in den Sophiensaelen sowie am 18. und 19. Mai an der Volksbühne zu sehen.


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Auf der Suche nach dem totalen Ereignis Der Regisseur Sebastian Hartmann hat die Auseinandersetzung mit Romanen auf der Bühne in eine neue Freiheit geführt von Thomas Irmer


berliner theatertreffen

Gruppenarbeit und Gruppenbild des Ensembles – in Sebastian Hartmanns Inszenierung „Hunger. Peer Gynt“ nach Knut Hamsun und Henrik Ibsen am Deutschen Theater Berlin (2018). Foto Arno Declair

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roße Romane, also die großen Erzählungen von Menschen als Gesellschaft, sind für Sebastian Hartmann keine Herausforderungen fürs Theater, das wäre das falsche Wort. Schon 1999, nach seiner OffOff-Theaterzeit mit dem ziemlich wilden wehrtheater hartmann, inszenierte er „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess am Jungen Theater Göttingen, das damals als quirlige Durchgangsstation neuer Theaterentwicklungen galt. Bei „Clockwork Orange“ dachte man eher an Stanley Kubricks Alex-ist-allesVerfilmung und seinerzeit auch an Castorfs Helmut-Kohl-Ver­ einigungsscheiße aus den frühen Jahren seiner Volksbühne. Dort fiel, nach seinem grandiosen Debüt mit I­ bsens „Gespenster“, auch sein Interesse an erzählender Literatur auf und zeigte sich 2001 mit einer in die Gegenwart der Erin­nerung verkanteten Version von Christa Wolfs allseits geschätztem Werk „Der geteilte Himmel“, als komisches Traumspiel einer DDR, für die sich der westdeutsche Mainstream seltsamerweise gerade zu interessieren begann. Christa Wolf war die Inszenierung ihres Buchs aus den frühen 1960er Jahren entsetzlich unheimlich, doch Hartmann lag mit der surreal grotesken Entleerung der DDR-Produktions- und Liebeswelt ästhetisch auf dem Kamm der Welle von Castorfs Volksbühne, allerdings ohne große Schnittmenge mit Christa-Wolf-Lesern. Rund zwanzig Jahre später hat der Regisseur mit einer ganzen Dostojewski-Linie an Theaterhäusern in Leipzig, Frankfurt am Main und Dresden („Schuld und Sühne“ als vierter Streich zum Ende des Monats) und nach inkommensurablen Unternehmungen wie Tolstois „Krieg und Frieden“ 2012 in Leipzig und dem „Ulysses“ nach James Joyce 2018 am Deutschen Theater Berlin praktisch eine eigene Methode entwickelt, mit solchen Groß­ romanen der Weltliteratur umzugehen. Man könnte sie als dialogisches Prinzip zwischen ihm und dem Autor bezeichnen, das

sich entwickelt „über das Verhältnis, wie ich in dem Roman meine Geschichten finde“, erklärt Hartmann. „Das ist ein wahnsinnig spannender Vorgang, der durchaus noch mit den Verfahren von Castorf zu vergleichen ist, in Geschichten unsere Geschichten zu suchen. Das ist mir inzwischen klar geworden: dass ich anfange, das zu beherrschen, dem Ausdruck zu verleihen. Dabei ist mir das bürgerliche Narrativ vollkommen egal. Auch egal, was andere in den Geschichten sehen oder suchen. Für ­meine Arbeit ist wichtig, meine Geschichte in einer anderen G ­ eschichte zu finden.“ Das schließt die intensive Begegnung mit dem Autor ein, die existenziellen und philosophischen Probleme, die ein Werk grundieren und den tiefer liegenden Antrieb fürs Erzählen bedeuten. „In bestimmten Geschichten, Romanen stoße ich irgendwann auf den Autor, der seinen Bewusstseinshorizont freilegt. Bei Dostojewski ist das wahnsinnig beeindruckend, wie autobiografisch das ist, was er geschrieben hat, und wie sehr er über seine Romane seine Pädophilie verarbeitet hat. Wenn man nicht dem literaturwissenschaftlichen Gestus des Einsortierens folgt − das gehört dahin, das dahin −, dann wird man in der eigenen Bearbeitung des Stoffes auch freier – wie beim ‚Ulysses‘, wo es ja durchaus schon große Bühnenadaptionen gab.“ Es fällt auf, dass Hartmann auf der Bühne dafür immer mit einer Gruppe von Schauspielern ohne feste oder durchgehende Rollenzuweisung arbeitet. Ein wesentliches Verfahren, sowohl für die Erarbeitung in den Proben als auch für die Aufführungspraxis, die es den Schauspielern teilweise überantwortet, die Vorstellungen selbst (weiter) zu gestalten. Diese Gruppe verhandelt den Stoff, indem sie zusammen mit dem Regisseur gemeinsam durch ihn hindurchgeht und letztlich dadurch zu anderen Vorstellungen und szenischen Fantasien als vielleicht jenen im literarischen Material nahegelegten kommt. Das kann sich sehr weit von dem entfernen, was man unter einer Bühnenadaption in der Technik des Romanbearbeitungsgroßmeisters John von Düffel versteht. Denn es ist nicht mehr eine Bearbeitung für die Bühne, die da entsteht, sondern eher eine Bearbeitung auf der Bühne, in ihrem Entstehen transparent gemacht. Diese Gruppenarbeit war zum Beispiel gut in der Inszenierung des „Ulysses“ zu beobachten, wo die herkömmlichen Topoi von Vater und Sohn in einer Dubliner Szenerie mit all ihren Anlehnungen an Homer nicht mehr vorkamen, sondern der Romanstoff als Gruppenbild auf leerer Bühne bewegt wurde. Für den Autor-Regisseur ging es dabei um „das Individuum, das sich ununterbrochen Gruppen zuordnet, in gesellschaftlichen Gruppen unkenntlich wird, in ihnen aufgeht, darin atmet. Genauso wie man zwar mit der Lunge atmet, aber doch auch über die Haut mit der Außenwelt verbunden ist. Die Steuererklärung ist ein individuelles und gesellschaftliches Ereignis. Man zahlt zum Beispiel für Dinge, die auch Krieg bedeuten können, ohne dass es einem bewusst ist. Das beschäftigt mich seit Jahren. Deshalb sind mir beim ‚Ulysses‘ eben nicht Vater und Sohn oder Generationssprünge wichtig, sondern das Mäandern darin. Ich beeinflusse ja auch meinen Vater in seiner Beeinflussung von mir.“ Gerade der „Ulysses“ zeigt viel von Hartmanns selbst­ bewusstem Umgang mit Romanen, die man eigentlich auf der Bühne für unmöglich hält. „Bei ‚Ulysses‘ war es die größte Freude aller Zeiten, bei aller Qual damit, so aufgefächert denken zu dürfen.

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thema

Das Individuum, das sich Gruppen zuordnet, in ihnen unkenntlich wird, in ihnen aufgeht – verbildlicht durch das Ensemble in Hartmanns „Ulysses“ nach James Joyce am Deutschen Theater Berlin (2018). Foto Arno Declair

Bei einer Probe habe ich gesagt, wenn ich sieben Jahre Zeit dafür hätte, würde ich gern das Buch zerschneiden lassen und dann selbst wieder zusammensetzen und dabei herausfinden, was mit mir dabei passiert und wie diese Odyssee auf mich wirkt. Und es dürfte kein Buchstabe auf dem anderen bleiben.“ In der Mitte der Inszenierung kommt zwar die berühmte Stelle, dass, wenn die Welt untergeht, man Dublin mit dem Buch in der Hand wieder aufbauen könnte. Aber sie steht eigentlich für alles, was die Inszenierung auslässt, konfrontiert vielmehr Zuschauer mit entsprechender Lektüreerfahrung mit einem Theater, das gerade einem solchen Nachvollzug von Lektüre entgegensteht. Dafür hat Hartmann in seiner Vorbereitung einen großen Bogen geschlagen. „Ich war dafür auch in Griechenland, mit Homer im Gepäck, und habe die dort beschriebenen Orte zunächst physisch erfahren. Ich merkte unmittelbar: Nichts ist Verzierung, alles hat seine Berechtigung. Im bürgerlichen Roman tritt einem eher das Halbepische entgegen, aber bei Homer das Epische mit Tiefe – dokumentarisch und dem Leben verwandt. Man brauchte in der Antike lange Zeit, um nach Epidauros zu reisen und dort

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wiederum eine Woche lang sich Geschichten bei einem Fest anzuhören. Geschichten in einer ungeahnten Breite. Wo wir heute oft hören, Theater muss Spielfilmlänge haben, was das gemeinsame geistige Fest gar nicht mehr zulässt. Wir unterliegen der Hollywood-Dramaturgie in allen unseren Fasern. Als ich das herausfand, hatte das gerade auf die ‚Ulysses‘-Bearbeitung einen sehr starken Ausschlag. Wenn Joyce den Odyssee-Reiseplan in einen 24-Stunden-Plot innerhalb Dublins transponiert, was bedeutet das für mich 2018 im Deutschen Theater? Aus den 24 Stunden wurden 240 Minuten, und es war klar, dass ich dabei alles verlassen muss, was Identifizierung mit Figuren bedeutet, um zu einer anderen ästhetischen Übersetzung und theatralen Sprache zu kommen. Das hatte viel mit der Erzählstrategie von Joyce zu tun. Joyce hatte zwar sein Personal, das an die antiken Figuren angedockt ist, aber er brauchte eine literarische Realität, um jenen Bewusstseinsstrom sprachlich so zu staffeln, dass daraus ein mäandernder Vorhang wird, in dem du ein Bewusstsein lesen kannst. Das im Theater über Figuren und Orte zu etablieren, wäre ein Rückschritt. Man würde in ein wirbelndes Bühnenbild mit Zeitverweisen katapultiert, wie bei Castorf.“ Diese Absetzung von Castorfs Theater der assoziativ historischen Schichtungen ist sicher der wichtigste Punkt in der Diskus­ sion der neueren Arbeiten Hartmanns, der lange, von ihm selbst bekannt, als der am meisten von dessen Ästhetik beeinflusste ­Regisseur angesehen wurde – auch wenn dies nie in Form einer Nachahmung geschah. Hartmann, der nach den Volksbühnen-­ Jahren und einem längeren Abstecher als Hausregisseur ans ­Hamburger Schauspielhaus, die Intendanz am Schauspiel Leipzig übernahm und dort vieles von der Volksbühne einpflanzte – auch mit personellem Bezug, sei es durch Schauspielerinnen wie Sophie Rois oder Kathrin Angerer, mit dem Regisseur Herbert Fritsch oder einem kuratierten Musikprogramm −, sieht sich als Regisseur seit einiger Zeit frei von diesen prägenden Einflüssen. Frei auf dem Weg einer eigenen Assoziationskunst. Diese Jahre als Regisseur und Intendant in Leipzig, von 2008 bis 2013, haben wesentlich dazu beigetragen, dass Hartmann bei aller Affinität zur Volksbühne seine Forschungen an einer Ästhetik des Dialogischen mit dem Autor einer Romanvorlage entwickeln konnte. Als reisender Regisseur wäre ihm das, wie er sagt, in Form einer methodischen Entwicklung nicht möglich gewesen. Leipzig war aber auch der Ort, wo sich diese Entwicklung hart bewähren musste, denn auch viel beachtete Arbeiten wie „Krieg und Frieden“ trafen dort auf den Vorbehalt gegen ein solches Theater des assoziativen Dialogs mit dem Werk. Bis zum Ende seiner Intendanz blieb Hartmanns Theater, in dem er nicht zuletzt auch heute bekannte Regietalente auf den Weg brachte, in der Stadt, geprägt durch eine kunstkonservative Theatertradition, umstritten. „Polarisierung, auch die in einer Stadt wie Leipzig, ist gut. Wir hatten ein interessantes Publikum, das sich erst entwickeln musste. Und es kamen ja nicht nur Fachleute und Politiker, das zu beurteilen, sondern ausgesprochen ­viele Kollegen, auch aus dem Ausland. Ich wollte von Anfang an nur fünf Jahre machen – was die Politiker dort irritiert hat, aber wohl schon vergessen war, als die Verlängerungsverhandlungen anstanden. Heute würde ich sagen, dass ein von vornherein ­größer angelegtes Zeitfenster sowieso besser wäre, für das Thea-


berliner theatertreffen

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ter insgesamt. Wie in Skandinavien, wo eine Intendanzperiode meist auf sieben Jahre angelegt ist. Aber hier wird schon im dritten Jahr ein abschließendes Urteil über fünf Jahre gefällt. Wenn das Gespräch nach vier Jahren stattgefunden hätte, wäre ich da vielleicht mit einer anderen Einstellung herangegangen: für das Längerfristige als Entwicklung. Nicht zu vergessen: Es war auch eine Etatdiskussion damit verbunden, die letztlich auch den Spielplan und die Schauspieler betraf.“ Mit dem Leipziger Versuch, in einem Stadttheater eine eigene Handschrift, Ästhetik und strukturelle Beweglichkeit zu eta­blie­ren, hat Sebastian Hartmann ­längerfristig zu einer Diskussion beigetragen, die die Frage nach künstlerischen Positionen und ihrer ­ ­ Arbeitswirksamkeit in der gesamten deutschsprachigen The­a­­ terlandschaft be­ trifft: „Das liberale Theater heute kann beinahe jede Position integrieren, von Schlingensief bis zum Musical. Das kann man ausbalanciert nennen, hat aber auch dazu geführt, dass die Theater sich künstlerisch kaum noch positionieren, auch nicht gegeneinander. Das sieht man auch daran, dass die meisten Schauspieler nicht an einem bestimmten Theater sind, weil es i­hnen um dessen spezielle Auffassung von Theater geht. Denn es geht an den Häusern immer um alle Auffassungen auf einmal. Für die Regisseure gilt das Gleiche. Durch die allmähliche Ausrichtung der Subventionen an Zuschauerzahlen hat das Theater sehr an Selbstbewusstsein eingebüßt. Und seit einigen Jahren geht der Vergleich eben nur noch über Formen, die als solche erkennbar sind, von den Intendanten gut sortiert eingesammelt und bei den entsprechenden Bestenschauveranstaltungen dann besonders markant nebeneinandergestellt werden.“ Gegenwart des Betriebs und Gegenwart Hartmanns. Einen Roman der Weltliteratur, wie zuletzt Hamsuns „Hunger“ in Kom-

Die Aufführung in ihrem Entstehen transparent gemacht − „Erniedrigte und Beleidigte“ nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski, unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz am Staatsschauspiel Dresden (2018). Foto Sebastian Hoppe

bination mit Ibsens „Peer Gynt“ 2018 am DT in Berlin, ins Theater hereinzuatmen, das ist für den Autor-Regisseur ein „Akt der ­ ­Suche nach dem theatralen Ereignis, das sich an das Nichts heranwagt“. Das ist auch für Literatur allerhand – und fürs Theater programmatisch. //

Beim Berliner Theatertreffen wird Sebastian Hartmanns Inszenierung von „Erniedrigte und Beleidigte“ am 13. und 14. Mai an der Volksbühne gezeigt.

THEATER TREFFEN THORSTEN LENSING

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kommentar

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Politische Justiz Gegen das Zentrum für Politische Schönheit wurde wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt – eine Bedrohung für die Kunstfreiheit von Jakob Hayner

de Stadtsoziologe wurde am 31. Juli 2007 in seiner Wohnung von einem Sondereinsatzkommando mit gezogenen Waffen festgenommen. Danach saß er mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Sein Vergehen? Er hatte in seiner Forschung Wörter wie „Prekarisierung“ und „Gentrifizierung“ verwendet, die heute in   urch eine Kleine Anfrage von Steffen Dittes, Abgeordneter des Thüringer Landtags für die Partei Die Linke, war bekannt geworden, aller Munde sind. Diese tauchten damals auch in den Bekennerschreiben jener „militanten Gruppe“ auf, die vor allem durch das dass am 27. November 2017 durch die Staatsanwaltschaft Gera genächtliche Anzünden von Autos bekannt geworden war. Findige gen eine Gruppe von Aktionskünstlern ein Verfahren nach § 129 des Strafgesetzbuches eingeleitet wurde – wegen Bildung einer Ermittler hatten die Wörter in eine Internetsuchmaschine ein­ gegeben und waren so auf Holm aufmerkkriminellen Vereinigung. Es handelte sich ­ ­dabei um das Zentrum für Politische Schönsam geworden. Daraufhin wurde der Wisheit (ZPS), Beschuldigter war dessen Leiter senschaftler knapp ein Jahr lang überwacht. ­Philipp Ruch. Am 22. November hatte das Seine E-Mails wurden mitgelesen, sein Telefon wurde abgehört, seine Wohnung ausgeZPS einen Nachbau des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas auf dem späht, Beamte verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Zugleich wurde sein gesamtes Umfeld Nachbargelände des AfD-Politikers Björn Höcke errichtet. Eine lange Verfahrensdauer miterfasst. Und das alles nach § 129a: Bildung einer terroristischen Vereinigung. ist bei Ermittlungen nach § 129 sowie § 129a Die 129er-Paragrafen missachten Grund­ und § 129b, Bildung einer terroristischen rechte wie die Freiheit der Wissenschaft. KriVereinigung im In- und Ausland, nicht ungewöhnlich. Die Besonderheit dieser Paratische Wissenschaft gerät ins Fadenkreuz staatlicher Verfolgung. Auch die Kunst ist grafen liegt darin, dass sie den Strafverfolgungsbehörden weitgehende Befugnisse nach dem Grundgesetz frei. Sie darf freilich einräumen – ohne dass eine konkrete Strafkeine anderen Rechtsgüter einschränken, tat verfolgt würde. Es handelt sich dabei um was im Zweifelsfall – wie beim ZPS gescheTelekommunikationsüberwachung, Observa­ hen – ein Gericht feststellt. Dem ZPS ist nun aber das passiert, was Wissenschaftlern tion, Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern, Erstellung von BewegungsprofiUmstrittene Kunstaktion – Philipp Ruch (r.) wie Holm und zahlreichen linken Gruppen und Stefan Pelzer vom ZPS auf der Presse­­ seit Jahren widerfährt (nie aber der Deutlen, also Maßnahmen, die auf die Aus­ konferenz zu „Soko Chemnitz“. setzung von Grundrechten zielen und desschen Bank, an die man möglicher­weise bei Foto David Baltzer/bildbuehne.de dem Wort kriminelle Vereinigung als Erstes wegen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen sollten. Außerdem wird außer denken könnte): Sie werden als missliebige Opposition mit dem § 129 verfolgt. Das ist Kraft gesetzt, dass ein Beschuldigter in einer Sache nicht mehrmals belangt werden kann. Doch trotz politische Justiz. Sollte man sich nun einfach freuen, dass das Verdes Urteils des Landgerichts Köln vom 15. März 2018, das fest­ fahren gegen das ZPS eingestellt wurde? Oder die Sache mit dem stellte, dass die Kunstaktion des ZPS nicht die Privatsphäre Hinweis auf die politischen Sympathien des zuständigen Staatsvon Höcke verletze, lief das Verfahren nach § 129 weiter – bis es anwalts in Richtung AfD abtun? Das reicht nicht. Es ist nicht zu am 8. April dieses Jahres wegen mangelnden Tatverdachts eingeakzeptieren, dass die Kunst unter Recht­ fertigungsdruck steht, stellt wurde. dass sie als potenziell kriminell betrachtet wird und ihre Unschuld Alles noch mal gutgegangen? Durchaus nicht. Zumindest, zu beweisen hat – eine Situa­tion wie in Kafkas „Process“. Das darf solange es Paragrafen gibt, die so etwas möglich machen. Unliebin einem Staat, der die ­Freiheit seiner Bürger, der Kunst und der Wissenschaft garantieren soll, nicht der Fall sein. Verfolgung und same Personen oder Gruppierungen werden heimlich ausgespäht, ohne Verdacht auf konkrete Straftaten. Die 129er-ParagraÜberwachung ohne Anlass stehen im Widerspruch zu den Prinzifen werden deswegen als Überwachungs-, Schnüffel- und pien des Rechts­staates. Es gibt nur eine Konsequenz, die aus dem Gesinnungsparagrafen bezeichnet. Vor ein paar Jahren traf es Fall zu ziehen ist: Die Paragrafen 129 sowie 129a und 129b gehören ersatzlos ­gestrichen. // Andrej Holm. Der an der Humboldt-Universität zu Berlin lehren-

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Schiller und die Ăźberhitzte Gesellschaft: Theaterfestival am Nationaltheater Mannheim w w w. s c h i l l e r t a g e . d e


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Drei STARKE STÜCKE vom Berliner Theatertreffen ab 4. Mai in 3sat


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kolumne

Kathrin Röggla

Die geöffnete Tür

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ch bin anderer Meinung. Diesen Satz zu schreiben kostet heute nicht viel, und ich kann ihn hier schreiben, selbst wenn ich anderer Meinung als die Redaktion bin. Ich wäre die Dinge anders angegangen, als sie in der April-Ausgabe von Theater der Zeit zu lesen waren. Ich weiß, aus Österreich kommend, was passiert, wenn man das Bild demokratischer Spiegelung des Wählerverhaltens in Zeiten von Rechtspopulismus auf die kulturjournalistische Medienebene überträgt, die, anfällig für spektakuläre Antagonismen, sich schneller in einen rechten Kulturkampf verwickeln lässt, als ihr vielleicht oft lieb sein mag. Auch unabhängig vom Kulturjournalismus ist die Erfahrung nach 4000 „Sagern“ von Jörg Haider, dass rechtspopulistische Über­tretun­gen des gesellschaftlich Sagbaren immer größere Resonanz bekommen als andere Äußerungen, gleichzeitig aber durch ihr Ausgesprochenwerden in diesem demokratischen Rahmen sich normalisieren. Die Grenze des Sagbaren verschiebt sich. Ich bin anderer Meinung. Diesen Satz zu schreiben suggeriert auch, dass wir alle auf einem gemeinsamen imaginären Podium stehen und frei Argumente austauschen können. Das ist aber nicht immer so. Wenn schon mal von der Positionierung her kein symmetrischer Raum herrscht und man den Parteipolitiker mit dem Politologen sprechen lässt, wird sich Ersterer positionieren, Zweiterer diese Position kritisch befragen. Und so war es dann ja auch in weiten Teilen zu lesen. Ansonsten wurden diesem Gespräch künstlerische Positionen gegenübergestellt. Auch kommen von dem AfD-Politiker so viele Aussagen, denen zu widersprechen wäre, wie es in einer Gesprächsdramaturgie gar nicht machbar ist. Wenn nach einem längeren Wortwechsel zu „Fear“ am Ende die Aussage stehen bleibt, dass Falk Richter „kein Unschuldiger“ sei, schließe ich daraus, dass er deswegen irgendwie an den Morddrohungen selbst schuld sei. Die Vielen werden als eine Art Zensurbehörde stilisiert. Auch wenn es dazu Widerspruch gibt, wird weiter auf diesem rechten Mythos einer linken Hegemonie, die von oben herab ihre Vorstellungen in die Kulturszene durchreicht, insistiert. Rechtspopulisten können sich als Opfer einer aggressiven und feindseligen Theaterszene darstellen, als wären die symbolische Ebene und die reale einerlei beziehungsweise wäre das Reale Reaktion auf die symbolische Antwort, um es paradox zu formulieren – wobei pluralistische Theaterproduktionen nur noch als aggressive Antwort auf rechtspopulistische Positionen verstanden werden. Mittels Dementi und Relativierung von Gerichtsurteilen entsteht dazu ein vager Raum, der Kritik von sich weist. Unabhängig davon, dass ich nicht finde, dass es der Demokratie förderlich ist, wenn rechte Mythen sich verbreiten können, stellt sich mir die Frage, was es rein vom Inszenatorischen her heißt, ein Gespräch zu führen, schließ-

lich geht es üblicherweise mit der Vorstellung einher, dass es ein Versuch ist, sich zu verständigen, auch wenn man verschiedene Positionen hat. Und, noch viel wichtiger, es suggeriert symmetrische Sprecherpositionen. Der Schriftsteller Hubert Fichte wusste, mit wem er sprach und mit wem eben nicht. Er wollte in den frühen 1980er Jahren kein Interview mit dem Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker machen, weil dieser verwickelt war in die Entwicklung der Atombombe unter den Nazis. Gründe, sich nicht gemeinsam öffentlich an den Tisch zu setzen, können die fehlende gemeinsame Augenhöhe sein, Machtfragen oder gar zu großer Respekt, aber auch Gründe, die den Kontext des Gesprächs betreffen, der gar nicht hereinzuholen ist. Natürlich kann es ein Gewinn sein, eine gewisse Widersprüchlichkeit (und ein fehlendes kulturpolitisches Programm) vorzuführen, wie es im April-Heft der Fall war. Die Scheinliberalität, die in der Aussage des Vertreters der AfD liegt, für den wahren Pluralismus zu stehen, aber nur für eine Art eigenen Pluralismus, der den aller anderen ausschließt und eigentlich keiner ist, usw. Die Position, es wäre normal, rechts von rechts zu sein, ja, eigentlich eine Art Mitte, kann sich dennoch Raum verschaffen, was auch für mich, die ich von dem Gespräch grundsätzlich wusste, überraschend war. Was habe ich erwartet? Wie widerspricht man den beständigen Narrativen einer linken Hegemonie, die sich verschworen habe gegen die Mitte der Gesellschaft? Es gibt Dinge, über die kann man nicht mehr geteilter Meinung sein, da geht es auch nicht um Meinung und Moral. Die Vielen haben sich nicht zusammengeschlossen, weil sie selbstgerecht sind oder um sich besser zu fühlen, sondern weil es konkrete Anfeindungen, Bombendrohungen gar und konkrete Destruktionsversuche gegen Theaterhäuser gibt. Kunst- und Kultureinrichtungen fühlen sich eben nicht nur bedroht, sie werden bedroht. Das Spiel der AfDMitglieder, solche Vorfälle immer auf das andere Mitglied der Partei zu schieben, das gerade nicht präsent ist, die Distanzierungen von dem, was man gestern gesagt hat, sind Teil der politischen Strategie. Dazu gehört auch der Umgang mit dem Ideologiebegriff. Als wären Menschenrechte und Grundgesetz ideologisch. Heute und hier mag das noch absurd klingen, in anderen Ländern schon nicht mehr. Was mich besonders irritiert hat, ist das Argument des ­Guten der Kunst, das der Parteipolitiker an gewissen Stellen gegen das Politische einfordert – was das sein soll, bleibt nebulös. Den Umkehrschluss mag ich mitmachen, aber so gefasst, landen wir nicht nur im Kunsthandwerk. Das Gute der Kunst wird gerade in dem Moment seiner Ausrufung als Nichtpolitisches nicht nur ein Behübschungskomplize, sondern gerade politisch, allerdings jenseits der Aufklärung (am Ende in autoritärer Staatskunst). Und wer will dahin kommen? //

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protagonisten

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Aufklärers Traum Dem Schriftsteller Volker Braun zum 80. Geburtstag

von Gunnar Decker

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a beginnt einer über sich hinaus zu schreiben, in eine Zukunft, die die gelebte Vergangenheit mit einschließt, vor allem jene, für die Ernst Bloch das ebenso schöne wie mysteriöse Wort „unabgegolten“ fand. Volker Braun wird am 7. Mai achtzig Jahre alt, und sein ­Schreiben trägt diesem Datum Rechnung. Die Zeit wird knapp? So rechnen nur die Krämerseelen, zu denen Braun, der weiträumige Geist, nie gehörte. Aber sein Schreiben verändert sich, letzte Worte, die etwas von ersten Worten erlangen − das gibt seinen Lesern, die ebenfalls von der vergehenden Zeit malträtiert werden, neue Hoffnung. Wie Heiner Müller wandelten sich auch für Braun nach 1990 die Koordinaten des Schreibens. Aus den Dramatikern wurden Epiker, wütende Melancholiker, hoffnungshungrige Kommentatoren eines bis heute kaum verstehbaren Zeitenwechsels. Wie hält eine Biografie von achtzig Jahren das zusammen? Nur als kaum aushaltbarer Widerspruchsschmerz. Dazu lese man Volker Brauns Werktagbücher. Jenes von 1977 bis 1989 geführte endet mit dem Eintrag vom 31. Dezember 1989: „nun haben wir eine biographie. aus dem widerstand und den geducktheiten tretend, haben wir jeder eine geschichte durchlaufen, unter die ein harter strich gezogen wird. unter die alten wahrheiten, unter die alte zukunft. aber wir werden nicht loskommen davon, weil wir sie nicht gelebt haben, weil nichts war (wie paul bauch sagte) ... während wir alle hinüber gehn, in die schöne fremde.“ Da ist es noch einmal, das Thema des Übergangs, über das er ein wichtiges Stück geschrieben hatte − „Die Übergangsgesellschaft“, von Thomas Langhoff 1988 am Berliner Gorki Theater uraufgeführt, mit dem für jede Dogmatik verräterischen Satz da­ rin, die Revolution könne nicht als Diktatur ins Ziel gelangen. Dann der Zeitsprung ins Werktagebuch von 1990 bis 2008, das nur drei Tage später, am 3. Januar 1990 aus einer ganz anderen Perspektive auf sich selbst zurückblickt: „ich dachte vor nicht langer zeit, mit alten chinesischen schriften in den garten zu gehen, einen weg nach innen suchen. gespräche unter bäumen! Jetzt verfliegt der selige plan, und die geschichte kommt dazwischen.“ Das klingt nach Rilkes Gedicht „Imaginärer Lebenslauf“: „Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.“ Geschichte oder Gott, vielleicht auch das schicksalsschwere Nichts – es kommt darauf an, so

erfuhr Volker Braun, im Dennoch-Modus die Gespräche im Garten, auch die mit sich selbst, weiterzuführen, ohne darum doch aus der Geschichte zu fallen, das Geheimnis in aller Klarheit zu bewahren. So lese ich auch die beiden neuen Bücher, die zu Volker Brauns achtzigstem Geburtstag im Suhrkamp Verlag erschienen sind: „Verlagerung des geheimen Punkts“ (Schriften und Reden) sowie „Handstreiche“. Es sind elegische Rückzugsweisen eines Autors aus den Vorgärten des Zeitgeistes. Jedoch dabei den närrischen König Lear in sich nicht verleugnend, der leichtfertig alles vor der Zeit wegschenkte (und am ausbleibenden Dank dafür irre wurde). Der Kontrapunkt in dieser Harmonie ist der scharf einer selbstgefälligen Gegenwart Widersprechende. Ein Gewitter zieht über dem Garten herauf – es ist der ewige Terror der Geschichte, die sich hierzulande gern mit Sanftheit maskiert, als wäre sie gar nicht mehr anwesend. Der Leser trägt sein Bild des Autors durch seine eigenen Krisen, die bestenfalls Wandlungen werden. Mein Bild von Volker Braun und seiner − im Sinne Robert Havemanns − praktizierten Dialektik ohne Dogma ist geprägt durch hitzige Debatten unter Philosophiestudenten an der Humboldt Universität in Berlin Mitte der achtziger Jahre. Anlass waren das Theaterstück „Lenins Tod“ und sein „Hinze-Kunze-Roman“ − skandalöse Korrekturen im offiziösen Selbstbild einer siegreichen Geschichte (und insofern auch dieser Gegenwart anempfohlen). Die von Braun praktizierte Dialektik war auf atemberaubende Weise anders, jener negativen Adornos durchaus verwandt. Mit Lenin wussten wir, dass Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte waren − aber wer wurde alles von ihnen überrollt? Irgendwann blieben sie in den Leibern der Überfahrenen einfach stecken. Und dann seine beiden, das Herr-Knecht-Schema aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ aufnehmenden Figuren Hinze und Kunze: Wer von beiden verkörperte denn das aktive Element des Knechts, das sich anstelle des passiven Herrn zu setzen vermochte? Kunze ist Funktionär und Hinze sein Fahrer − wohin geht beider Reise? „Verlagerung des geheimen Punkts“ schlägt einen weiten Bogen in der Zeit der Geschichte, aber in seinen Texten scheinen die Wege von einem zum anderen dennoch kurz. Auch „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“ von 1983 wurde in den Band aufgenommen − ein Text, dessen mystisches Zugleich von Innen und Außen der Zeit, von dichterischem Werk und Zerstörung des Menschen, der es hervorbrachte, mich nicht aufhört zu beschäftigen.


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volker braun

Weiträumiger Geist im Wider­spruchsschmerz − der Schriftsteller Volker Braun. Foto Peter Peitsch

Braun bekennt: „Wir können nur über uns etwas sagen.“ Und er sagt, was er mit Rimbaud im Gepäck zu sagen hat über jene weltanschauliche Gouvernante, die seine Generation erzog: „Schon gut, sie hatte den blauen Blick, der lügt. Wir sollten rein bleiben, Muttersöhnchen des Sozialismus. Sie hat uns wie Kinder gehalten, als wir längst Männer werden wollten. Das muß zu einem Aufbegehren führen, wie es sich das Krokodil, tränenden Augs nicht träumen läßt.“ Das gefährliche Denken stürzt ab in jene gedankenlos-zerstörerische Praxis, gegen die es doch gerade immunisieren sollte! Rimbaud endet als der koloniale Ausbeuter, Braun dagegen sucht in Zwiesprache mit dessen Dichtung seinen Weg jenseits des Verwendbarseins durch fremde Zwecke, die suggerieren, die unvermeidlichen Folgen der eigenen Gedanken zu sein. Sein Fazit hat bis heute einen bodenlosen Bestand: „Unser Ekel war ein doppelter Ekel: wir haben an mehreren Welten zu würgen. (Aber wir saugen sie auch ein, lassen sie auf der Zunge zergehn, lecken sie, genießen sie.)“ Der Band ähnelt jenen barocken Wunderkammern, in denen man immer wieder auf Sagenhaftes stößt: die unerwartete gedankliche Verbindung zwischen scheinbar weit Auseinanderliegendem, in der sich plötzlich Horizonte weiten. So in dem Text „Raskolnikow Trotzki Gorbatschow“, den jeder lesen sollte, der wissen will, was der dauernde russische Selbstverständigungskampf zwischen Slawophilen und Westlern mit dem langen Schatten der Geschichte auf unserer Gegenwart zu tun hat: „Stalins Aufstieg der Coup des Mittelmaßes, nach dem die erschöpfte Geschichte schrie.“ Aber wie immer, wenn man in der Geschichte versucht, es sich einfach zu machen, wird man bald doppelt schwer daran zu tragen haben. Und so hängt eben eines mit dem anderen zusammen: „Die Axt, mit der Raskolnikow die Pfandleiherin erschlug, fand sich am 20. August 1940 sieben Zentimeter tief in Trotzkis Schädel.“

Die letzten dreißig Jahre im wiedervereinigten Deutschland sind in der Perspektive Volker Brauns der Versuch einer Verschleierung der Kolonisierung der DDR, die sich fahrlässig arglos dem Westen übergab, weil sie so auf schnelle Weise einen Ausweg aus der eigen Krise suchte. Braun bleibt Auf­ klärer auch darin, die Ge­ genrechnung, die niemand ­sehen (geschweige denn begleichen) will, dennoch aufzumachen wie in „Vom Fortbestehen. Eine Drein­ rede“: „Der Volksentscheid 1946 in Sachsen über die Enteignung von Kriegsverbrechern war ein gerechteres Grundgesetz als die Treuhandmanöver zur Volksenteignung. Der Segen der letzten Volkskammer für die Umwandlung des Volkseigentums war das Ermächtigungsgesetz für das Kapital. Er bedeutete die größte Umverteilung von Eigentum seit dem Dreißigjährigen Krieg. Praktische Entmündigung, Unzucht mit Abhängigen nannte es Hilbig hier am Ort. Die Entlassung fast der gesamten Arbeiterklasse mit ihren technischen F­ähigkeiten kam der Depravierung der geschlagenen Bauern im Bauernkrieg gleich.“ Wundert es da noch jemanden, wenn man heute hier über Selbst- und Fremdenhass reden muss? Der dramatische Sinn für Geschichte also ist dem achtzigjährigen Volker Braun ebenso wenig abhandengekommen wie der für drastische Formulierungen. Er findet nur eine andere Form, die mehr und mehr ins Aphoristische zu zielen scheint, wie in „Handstreiche“, in denen er wie ein später Abkömmling jenes La Rochefoucauld auftritt, der als Jansenist im 17. Jahrhundert den überaus fruchtbaren (weil letztlich scheitern müssenden) Widerspruch verkörperte, gleichzeitig die Erbsünde und Descartes’ ­mechanistisches Weltbild zu bejahen. Über jene „Oase der Utopien“, der die „Wüste des Wohlstands“ folgte, heißt es in „Handstreiche“: „Was denn für ein Hun­ ger? Wir hatten andere Appetite, als man mit einer Banane abspeist.“ //

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Ein utopisches Paradox Mit dem Théâtre National du Luxembourg hat Intendant Frank Hoffmann im Schmelztiegel Luxemburg eine Art Welt-Nationaltheater begründet von Sascha Westphal

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ine erstaunliche Unruhe geht von dem namenlos bleibenden Mann aus. Er ist fortwährend in Bewegung. Mal klettert er auf das kleine Bühnenplateau, das sich vor den Zuschauerreihen wie ein übergroßer Altar erhebt. Mal irrt er rastlos zwischen den in Sitzsäcken versunkenen Zuschauerinnen und Zuschauern hin und her. Eigentlich dürfte er dabei kein einziges Wort sagen. So sieht es zumindest Salat Lehel, der Autor von „Europe – My Heart Will Be Broken and Eaten“, in seinen Regieanweisungen vor. Der nicht mehr ganz junge Mann ist dazu verdammt, stumm zu bleiben. Sprechen darf nur die junge Frau, mit der er, ein verheirateter Familienvater, eine kurze Affäre hatte. Sie, die versucht, als Schauspiele-

rin Fuß zu fassen, kommt einfach nicht mehr von ihm los. Wie die Frau in Jean Cocteaus Einakter „Die geliebte Stimme“ spricht sie unaufhörlich in ein Telefon. Der Dialog findet nur mehr als mäandernder Monolog statt. Die Antworten des Mannes sind die Leerstellen, um die Salat Lehels Text geradezu manisch kreist. Mal ist die junge Rumänin Sirene, mal Erinnye. Sie umgarnt den Mann und hält ihn auf Distanz, erzählt von sich und dringt in ihn. Das einseitige Liebesdrama weitet sich mehr und mehr zur politischen Parabel vom Ungleichgewicht zwischen West- und Osteuropa.

Erosion männlicher Vormachtstellung – verkörpert durch den Tänzer Jean-Guillaume Weis in „Europe – My Heart Will Be Broken and Eaten“ von Salat Lehel, inszeniert von Armin Petras am Théâtre National du Luxembourg. Foto boshua


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Armin Petras lockert am Théâtre National du Luxembourg das starre Korsett des Textes ein wenig. Die Verhältnisse erweisen sich als komplexer, als Salat Lehel sie darstellt. In seiner Inszenierung spricht der von dem Tänzer Jean-Guillaume Weis verkörperte Mann. Allerdings nicht mit der jungen Frau. Sie ist nur auf den Filmbildern zu sehen, die parallel über die drei im Raum verteilten Leinwände flimmern. Ihre Welt bleibt Projektion, zum Greifen nah und doch unendlich fern. Indessen wendet sich Weis immer wieder direkt ans Publikum. Meist sucht er Bestätigung, einmal provoziert er gezielt Widerspruch, um sich dann in eine Tirade über die Gängelung und Unterdrückung älterer weißer Männer hineinzusteigern. Die Konfliktlinien verlaufen längst nicht mehr nur zwischen Ost- und Westeuropa. Der Westen selbst ist dabei zu zersplittern. Und der von Weis verkörperte Luxemburger Geschäftsmann, der innerhalb weniger Sätze vom Englischen ins Französische und vom Französischen ins Deutsche wechselt, um dann wieder zum Englischen zurückzukehren, trägt als Vertreter einer internationalen Wirtschaftselite seinen Teil dazu bei. Sein bewusst fabrizierter Wutausbruch zeugt von der steten Erosion seiner Vormachtstellung und verrät die Verzweiflung, mit der er versucht, gegen alle Widerstände an seinen Privilegien festzuhalten. Auf der nicht sonderlich großen, aber sehr variablen Bühne des in einer ehemaligen Schmiede beheimateten Théâtre National du Luxembourg wirkt Weis fast schon wie ein Fremder. Nur seine tänzerischen Bewegungen verraten den Performer. Ansonsten könnte dieser Mann auch irgendwo im Publikum sitzen und würde zwischen den übrigen Zuschauern kaum auffallen. So nah kommt Armin Petras mit seiner Inszenierung der luxemburgischen Wirklichkeit und damit letztlich auch der Idee, die hinter dem von Frank Hoffmann gegründeten und geleiteten Theater steht. Der Gedanke an ein luxemburgisches Nationaltheater liegt nicht unbedingt auf der Hand. Gibt es in dem Großherzogtum mit Luxemburgisch, Französisch und Deutsch doch gleich drei Amtssprachen, die jeweils unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Lebens prägen. Zu den drei offiziellen Landessprachen kommen dann noch all jene Sprachen, die die große Zahl der Immigranten aus ihren Heimatländern mitgebracht haben. Schließlich ist Luxemburg mit seinen Banken und Fondsgesellschaften, seinen unzähligen Maklerbüros und den Niederlassungen internationaler FranchiseUnternehmen fast so etwas wie ein Musterbeispiel für ein modernes Einwanderungsland. Zu Beginn des Jahres 2018 stammten etwa 47 Prozent der gut 600 000 Einwohner Luxemburgs aus anderen Ländern. Ein besonders großer Anteil der Zugezogenen kommt dabei aus Portugal und aus Italien. Und auch auf diese Entwicklungen reagiert Frank Hoffmann: „Neben Inszenierungen in Deutsch und Französisch, den beiden für Luxemburg so zentralen Sprachen, denen ich im Spielplan ungefähr den gleichen Raum gebe, haben wir Produktionen in portugiesischer und in dieser Spielzeit zum ersten Mal in italienischer Sprache im Programm. Wir möchten auch diese Bevölkerungsteile ins Theater locken.“ Die Geschichte des Théâtre National du Luxembourg reicht ins Jahr 1995 zurück, als Luxemburg europäische Kulturhauptstadt war, und ist untrennbar mit dem Wirken der damaligen Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges verbunden. Ihr Engagement für die Kultur im Großherzogtum hat es Frank Hoffmann

théâtre national du luxembourg

1996 gemeinsam mit vier Mitstreitern ermöglicht, seinen Traum von einem Nationaltheater Wirklichkeit werden zu lassen. Erstmals formuliert hatte er ihn im Jahr zuvor in seiner Dankesrede für den Prix Lions. In einer Zeit, in der der luxemburgische Staat sich nicht an der Finanzierung der Theater beteiligt hatte, konnte Hoffmann mit seiner Rede, wie er beinahe ein Vierteljahrhundert später nicht ohne Stolz erzählt, „ein neues Denken über das Theater und seine Bedeutung für die Gesellschaft anstoßen“. Hoffmann schwebte von Anfang an ein Theater vor, „das grundsätzlich den Anspruch hat, Luxemburg auch außerhalb von Luxemburg zu repräsentieren“. Dazu gehören auch internationale Gastspielreisen. So war das Théâtre National du Luxembourg im Januar mit Frank Hoffmanns hybrider Musik- und Tanztheaterproduktion „New Angels / Black Cat“ in Los Angeles und Bogotá. Diese Form der Repräsentation muss natürlich vor allem die Internationalität des Landes und die unterschiedlichen Traditionen spiegeln, die sich in seinem Theater treffen. Diesem Ansatz ist Hoffmann, der von 2005 bis 2018 auch die Ruhrfestspiele Recklinghausen geleitet und dort viele Koproduktionen mit dem Théâtre National du Luxembourg realisiert hat, bis heute treu geblieben, auch in seinen eigenen Regiearbeiten. Zu Beginn dieser Spielzeit war seine im Juni 2018 in Recklinghausen uraufgeführte Dostojewski-Adaption „Die Spieler“ in Luxemburg zu sehen. Der doppeldeutige Titel, der auf Dostojewskis Roman „Der Spieler“ verweist und zugleich den Blick auf das Ensemble und SchauSpiel lenkt, war dabei Programm für eine Inszenierung, die auf wunderbar leichte und zugleich tiefgründige Weise das performative Element des Theaters zelebriert. Wenn am Ende Wolfram Koch in die Rolle der Erbtante schlüpft, die nach Roulettenburg kommt und alle Hoffnungen ihrer gierigen Verwandtschaft enttäuscht, ist das keine Travestienummer, sondern ein beeindruckendes Spiel mit Vorstellungen und Erwartungen. Dieser deutlich vom deutschsprachigen Theater und seinen Diskursen geprägten Arbeit steht Hoffmanns zweite Inszenierung in dieser Spielzeit gegenüber. Mit seiner Einrichtung von Yasmina Rezas „Le dieu du carnage“ hat er sich vor dem zeitgenössischen französischen Theater und seinen Texten verbeugt. Mit Produktionen wie diesen oder eben Armin Petras’ multimedialer und multilingualer Inszenierung, die die Risse zwischen Ost- und Westeuropa, Frauen und Männern, einem gut situierten Bürgertum und einem neuen, oft hervorragend ausgebildeten Prekariat im Wechselspiel von Live-Performance und Videoinstallation sehr direkt erfahrbar macht, gelingt es dem Théâtre National du Luxembourg tatsächlich, den Begriff „Nationaltheater“ neu zu füllen. Im Gespräch verweist Frank Hoffmann darauf, dass schon „Lessings Idee von einem deutschen Nationaltheater ein utopisches Paradox“ war. Er hat sie schließlich in einer Zeit entwickelt, als Deutschland nichts als eine Ansammlung von Kleinstaaten war. In diesem Sinne ist auch ein luxemburgisches Nationaltheater ein „utopisches Paradox“, das offen ist für eine Vielzahl von Nationalitäten, Sprachen und Traditionen. So gesehen könnte das Théâtre National du Luxembourg ein Vorbild für ein „Welt-Nationaltheater“ sein, das Globalisierung nicht als etwas versteht, das alles gleichmacht, sondern als Möglichkeit, produktiv mit Differenzen und Eigenarten umzugehen. Etwas kommt zusammen, ohne Eins werden zu müssen. //

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Innovative Ästhetik aus dem Zwölftonner Die Landesbühnentage in Tübingen zeigen das künstlerische Potenzial der Abstechertheater – politische Stoffe und anspruchsvolles Musiktheater in der Fläche von Elisabeth Maier


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it dem ökologischen Fußabdruck des Gastspiels seiner Landesbühne Niedersachsen Nord in Tübingen hadert der Schauspieler Stefan Faupel, der als König Richard III. auf der Bühne steht. „Die weite Fahrt mit dem Zwölftonner wegen sechs Holzbrettern“, sagt er und spielt dabei auf das klar strukturierte, weiße Bühnenbild von Regisseur Sascha Bunge und Christine Bertl an. Das Konstrukt ähnelt einem Käfig. In diesem Versuchslabor zeigen die Akteure ein packendes Spiel um Macht. Das Ensemble mit Sitz in Wilhelmshaven bespielt zwölf Kommunen, erreicht etwas mehr als 100 000 Zuschauer im Jahr. Bei den Landesbühnentagen in Reutlingen und Tübingen zeigte die Abstecherbühne mit dem Schauspiel „Richard III. – Bin durch Sümpfe gewatet, menschliche oder nicht“ des flämischen Dichters Peter Verhelst ein bemerkenswertes Beispiel neuer Dramatik. Die Inszenierung ist eine deutschsprachige Erstaufführung. Bunge offenbart anhand des Stücks nicht nur die menschliche Seite von William Shakespeares großer, tragischer Figur, die als Inkarnation des Bösen schlechthin gilt. Die Schauspieler rocken Verhelsts ­griffige, leidenschaftliche Sprache, die Shakespeares tragischen Helden ins Hier und Jetzt holt. Faupel legt seine Rolle als die eines Manipulators nach heutigem Zuschnitt an. Nicht allein diese ­Arbeit offenbart die Kraft, die in deutschen Landesbühnen steckt. Trotz schwieriger Produktionsbedingungen bringen sie innova­ tive Stoffe in die Fläche, machen so auch ein Publikum, das wenig Theatererfahrung hat, mit neuen Ästhetiken vertraut. Wie faszinierend dieser Spagat sein kann, zeigten die unterschiedlichen Häuser mit ihren Produktionen. Zwanzig Landesbühnen aus ganz Deutschland kamen an fünf Tagen nach Tübingen in Baden-Württemberg. Schon Wochen vor der Werkschau war die Universitätsstadt mit der historischen Kulisse der Neckarfront und dem idyllisch am Wasser gelegenen Hölderlinturm mit weißen Plakaten übersät – pulsierende rote Herzen, die für das Theater schlagen, kündigten die Großveranstaltung an. Thorsten Weckherlin, Intendant des Landestheaters Tübingen (LTT), hatte das Festival der zeitgenössischen Dramatik gewidmet. Dem Theaterchef, der im Vorstand der Landesbühnengruppe des Deutschen Bühnenvereins sitzt, ging es aber auch um den Austausch der Häuser und der Theatermacher ganz verschie-

Eine Spur zu komisch geraten? − Christian Quitschkes Inszenierung „Europa verteidigen“ von Konstantin Küspert am Rheinischen Landes­ theater Neuss. Links: „Richard III. – Bin durch Sümpfe gewatet, mensch­liche oder nicht“ von Peter Verhelst an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven, inszeniert von Sascha Bunge. Fotos Björn Hickmann/Stage Picture (o.) / Beinhorn Fotografie

landesbühnentage

dener Sparten untereinander. Das Festival stieß beim Publikum auf riesiges Interesse. Die Platzausnutzung lag bei 86 Prozent. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nannte das Festival „ein wunderbares Schaufenster für zeitgenössisches Theater“. Mehr als fünfhundert Hotelbetten hatten Festivalleiterin ­Ramona Rath und ihr Team für die Gäste aus ganz Deutschland reserviert. Alle Teams bekamen nach dem Auftritt auf der Bühne eine Rose. „Der Abstecherbetrieb ist hart“, weiß die Künstlerische ­Betriebsdirektorin des LTT. Deshalb hat sie an den fünf Tagen im Tübinger Landestheater, das einst eine Stuhlfabrik war, Begegnungen initiiert und Theatermenschen miteinander in Kontakt gebracht. „Es tut gut, mal zu sehen, was die anderen Bühnen machen“, sagte die Wilhelmshavener Schauspielerin Franziska Kleinert. Bevor sie in der Produktion von Sascha Bunge auf der Bühne stand, besuchte sie vier Tage lang die Vorstellungen der anderen Theater, ließ sich lustvoll auf deren ästhetische Konzepte ein und kam ins Gespräch. „Wir bespielen die Fläche und bringen das Theater an Orte, die sonst keinen Zugang zur Bühnenkunst hätten“, hebt Intendant Weckherlin die Bedeutung des Modells Lan­desbühne hervor. „In Baden-Württemberg denken wir vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst mit den Theatermachern und anderen Kulturträgern darüber nach, wie wir die Kultur noch besser in die Orte jenseits der Zentren tragen können“, sagte Staatssekretärin Petra Olschowski bei der Eröffnung der Landesbühnentage. Über neue Konzepte wird ­derzeit auf vielen Ebenen diskutiert. Die grün-schwarze Landes­ regierung Baden-Württembergs bekennt sich klar zum Modell der Theater mit Abstecherbetrieb, setzt gleichzeitig aber auf dessen Weiterentwicklung. Das ist nach Thorsten Weckherlins Worten umso wichtiger, „da die Leitungen der Kulturämter sehr oft konservativ sind“. Wie neue Theaterkonzepte gelingen können, zeigten Weckherlin und sein Team mit T ­ heaterprojekten auf der Schwäbischen Alb. Da ging es zum Beispiel im beschaulichen Städtchen Winterlingen um die Suche Geflüchteter unterschiedlicher Generationen nach einer Heimat. „Ein großer Erfolg“, zieht Weckherlin Bilanz. Allerdings ist die finanzielle Förderung der Kulturstiftung des Bundes ausgelaufen. Ob es weitergeht, steht noch auf der ­Kippe. „Mit unserem wenigen Personal ist das nicht zu stemmen“, verweist der LTT-Chef auf das Dilemma. Er wünscht sich bei solchen innovativen Vorstößen Nachhaltigkeit. Das sehe er auch als Notwendigkeit, um die Zuschauer bei der Stange zu halten. In Stadthallen lasse sich kein neues Publikum mehr gewinnen. Dass Abstecher auch mit aufwendigen Opern-, Musicalund Ballettproduktionen möglich sind, zeigten die zwanzig Häuser ganz unterschiedlichen Zuschnitts bei ihren Aufführungen bei den Landesbühnentagen. In die geheimnisvolle Unterwasserwelt des Märchens „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen entführte Can Arslan, Tanzchef und Choreograf am

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protagonisten

Nordharzer Städtebundtheater, das Tübinger Publikum. Das Dreispartenhaus spielt rund 500 Vorstellungen im Jahr und ist damit in der Region Harz einer der wichtigen Kulturträger. Neben den vier Bühnen in Quedlinburg und Halberstadt bietet das Haus Freilichttheater im Harzer Bergtheater Thale, auf der Waldbühne Altenbrak und im ganzen Harzkreis. „Mit unseren vielen Spiel­ orten erreichen wir ein sehr breit gefächertes Publikum mit ganz unterschiedlichem Hintergrund“, sagt Bertram Beier, Disponent und Marketingleiter der Landesbühne, deren Tanzkompanie acht fest angestellte Tänzerinnen und Tänzer beschäftigt. Beim Gastspiel in Tübingen waren auch die Mädchen des theatereigenen Kinderballetts dabei, die unter anderem als Fische die großen und kleinen Zuschauer verzauberten. Die Bustour ins Schwabenland war für die Tanzelevinnen ein Abenteuer. „Es ist ein Kraftakt, mit einer so aufwendigen Produktion auf Reisen zu gehen“, sagt Beier. Fünf Mal hat er „Die kleine Meerjungfrau“ auf ­Reisen geschickt. Allein die gemalten Bühnenkulissen von Joanna ­Surowiec, die die zauberhafte Fremde der Unterwasserwelt spiegeln, mit Lastwagen zu transportieren, fordert die Technik an jedem Spielort aufs Neue heraus. „Wenn man gewisse Abstriche macht und improvisiert, geht das schon“, fügt Beier mit vielsagendem Schmunzeln hinzu. Im Stammhaus sehe das Bühnenbild noch mal anders aus, „aber das wird dem Publikum kaum auffallen.“ Als europäische Erstaufführung zeigte das Theater für Niedersachsen in Hildesheim das Rock-Musical „Jasper in Deadland“ von Ryan Scott Oliver und Hunter Foster. Am Broadway in New York war das mitreißende Musiktheater der „Generation Y“, das die altgriechische Orpheus-Sage vor dem Hintergrund heutiger Zeiterfahrung neu beleuchtet, zuvor schon auf große Resonanz gestoßen. Freundschaft und Lebensmut sind die Themen, die zehn Musicaldarsteller in Bart de Clercqs atemloser Show aufrollen. Andreas Unsicker, der die musikalische Leitung innehat, bringt den oszillierenden, hämmernden und auch melodiösen Sound mithilfe von viel Technik grandios auf die Gastspielbühne im Tübinger Theater, das als reine Sprechtheaterbühne eigentlich nicht für Musiktheaterproduktionen ausgelegt ist. Sechzig Städte und Gemeinden in Niedersachsen versorgt das Fünfspartenhaus des Intendanten Jörg Gade mit Theater. Zwanzig Neuinszenierungen, die jedes Jahr entstehen, gehen auch auf Reisen. Der Theater-

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Mit dabei bei den Landesbühnentagen in Tübingen und Reutlingen – (v.l.n.r.) Anke Gregersen, Torben Schumacher, Dorothee Must, Ramona Rath, Thorsten Weckherlin, Lara Guhl, Jörg Gade und Stefan Dörr. Foto Thomas Müller

chef ist Präsidiumsmitglied des Bühnenvereins und betonte hier, wie wichtig das Theater „als Ort kommunikativer Prozesse“ sei. Wie wichtig Landesbühnen auch für neue Dramatik und ihre Verbreitung sind, zeigte Christian Quitschke mit seiner Inszenierung „Europa verteidigen“ von Konstantin Küspert. Das extrem tiefenscharfe Stück über die Krise des Kontinents, der nicht erst durch den Brexit in untereinander zerstrittene Teile zerfällt, hatte Regisseurin Cilli Drexel im Oktober 2016 in Bamberg uraufgeführt. Quitschkes Nachspiel am Rheinischen Landestheater Neuss ist eine Spur zu komisch geraten, kapriziert sich stark auf die humoris­ tische Ebene, mit der Küspert leidenschaftlich spielt, aber dennoch aktuelle gesellschaftliche Debatten in den historischen Horizont spannt. 40 400 Besucher hat das Theater in Neuss, 29 800 sind es an den Gastspielorten. Der rege Gastspielbetrieb erstreckt sich weit über Nordrhein-Westfalen hinaus. 2019 übernimmt Caroline Stolze die Intendanz an dem Haus, das pro Jahr zwölf Premieren im Schauspiel sowie im Kinder- und Jugendtheater herausbringt. Theater für Kinder und Jugendliche ist ein wesentliches Element in der Arbeit der Landesbühnen. Mit dem Klassenzimmerstück „Pro An(n)a“ von Marzena Ryłko gastierten die Uckermärkischen Bühnen Schwedt an einem Gymnasium bei Tübingen. Christine Bossert spricht mit ihrer einfühlsamen Regie nicht nur Mädchen ab 14 Jahren an. „Wir haben den Gastspielbetrieb noch nicht lange, experimentieren da mit Formaten“, sagt Schauspieldirektor André Nicke, der ab der kommenden Spielzeit Intendant des Hauses mit 120 000 Gästen pro Jahr wird. „Deshalb war der Austausch mit Kollegen aus anderen Häusern in der ganzen Republik für mich besonders spannend.“ In zwei Jahren wird Nickes Bühne in der brandenburgischen Kleinstadt mit gut 30 000 Einwohnern die nächsten Landesbühnentage ausrichten. Um das Festival noch mehr bei den Zuschauern zu verankern, denkt er über neue Formate nach. Ihm schwebt vor, dass die Künstlerinnen und Künstler bei Privatleuten übernachten. Es ist also erneut ein reger Austausch zu erwarten. //


erlangen nürnberg fürth schwabach

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24. mai – 2. juni 19

figuren objekte bilder 180 vorstellungen / 70 compagnien / 20 länder / www.figurentheaterfestival.de Akhe | Lindy Annis | Berlin | Christoph Bochdansky | BOT | Compagnie Yoann Bourgeois | Susanne Carl | Romeo Castellucci / Socìetas Raffaello Sanzio | Bühne Cipolla | Compagnie 111 / Aurélien Bory | Moran Duvshani | Florian Feisel | florschütz & döhnert | flunker produktionen | foolpool | Lutz Großmann | Theater Gustavs Schwestern | Kurt Hentschläger | Julian Hetzel | Samuel Koch & Robert Lang | Theater Kuckucksheim | Livsmedlet Theatre | Puppentheater Ljubljana | Barbara Matijević & Giuseppe Chico | Michikazu Matsune | Julika Mayer + Mylène Benoit | Meinhardt & Krauss cinematographic theatre | Eva Meyer-Keller | Chloé Moglia / Rhizome | Compagnie Mossoux-Bonté | Rabih Mroué | Numen Company | O-Team + Antje Töpfer | Das Papiertheater Nürnberg | Philippe Quesne / Vivarium Studio | Rimini Protokoll | Olivier de Sagazan | Compagnie Philippe Saire | Theater Salz+Pfeffer | Schauspielhaus Graz / Nikolaus Habjan | Rike Schuberty | Compagnie Selon l’Heure & Ali Moini | Michael Sommer | steptext dance project | Synchret Theatre Company | TAMTAM objektentheater | Tangram Kollektiv | Tanzwerk Vertikal | Thalias Kompagnons | Theater Chemnitz | TJP Strasbourg / Renaud Herbin | TOLL | United Puppets | Dries Verhoeven | Via Negativa | Theater Waidspeicher | Miet Warlop | Figurentheater Wilde & Vogel | Sarah Wissner | David Zinn und andere


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Aus der Perspektive starker Frauen Schauspielchefin Anna Bergmann überlässt in Karlsruhe ausschließlich Frauen das Regiepult – ein Zeichen für die Gleichheit der Geschlechter von Elisabeth Maier

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as konsequent weibliche Konzept der Karlsruher Schauspielchefin Anna Bergmann war sogar der New York Times einen Bericht wert. Seit September führen am Badischen Staatstheater nur Frauen Regie. Dass ihr deutliches Zeichen im Zuge der #MeToo-

Debatte für so viel Aufsehen sorgen würde, hatte die profilierte Opern- und Schauspielregisseurin nicht erwartet. Mit ihrem Team will sie in ihrer ersten Spielzeit „ein Zeichen setzen für die Gleichheit der Geschlechter“. Und die ist im hierarchisch strukturierten Theaterbetrieb noch lange nicht durchgesetzt. Nach einer Statistik des Vereins Pro Quote Bühne stammen rund siebzig Prozent der Inszenierungen von Männern. Mit stilprägenden Regisseurinnen und vielversprechenden Talenten der deutschen und europäi-


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Kunstfiguren im ästhetischen Nichts der Medienwelt − Ute Baggeröhr in Sláva Daubnerovás Inszenierung von Elfriede Jelineks „Am Königs­ weg“ am Staatstheater Karlsruhe (2018). Foto Felix Grünschloß

schen Theaterszene präsentieren Bergmann und ihr Leitungsteam zudem einen Spielplan, der auch durch Autorinnen und starke Frauenrollen aufhorchen lässt. „Wir versammeln starke, ästhetisch sehr unterschiedliche Regiehandschriften am Haus“, sagt Anna Bergmann, deren Theaterfassung des Filmstoffs „Persona“ von Ingmar Bergman als eine der zehn besten Inszenierungen im deutschsprachigen Theater im Mai zum Theatertreffen in Berlin eingeladen ist. Diese herausragende Arbeit hat sie am Deutschen Theater Berlin als Kooperation mit dem Stadsteater Malmö inszeniert. Mit der Ibsen-Überschreibung „Nora, Hedda und ihre Schwestern“ der Dramatikerin Ulrike Syha hat sie zum Auftakt ihrer Schauspieldirektion in Karlsruhe die selbstbewussten Frauenfiguren des Norwegers aus weiblicher Perspektive neu betrachtet. Sie befreien sich aus den Fesseln eines Patriarchats, das auf Katharina Faltners klug strukturierter Simultanbühne anachronistisch wirkt. Doch die verkrusteten Strukturen aufzubrechen, fällt den Protagonistinnen schwer. Ihre Kämpfe um eine würdige Existenz bringt Bergmann mit einem Ensemble junger Schauspielerinnen und Schauspieler und mit erfahrenen Ensemblemitgliedern auf die Bühne, die eines gemein haben: die Lust, sich auf neue ästhetische Konzepte einzulassen. Für Kontroversen sorgen die rein weiblichen Regiebesetzungen der Schauspielchefin bei den 308 000 Einwohnern der Stadt des Bundesverfassungsgerichts kaum. Viele Karlsruher sehen die geballte Frauenpower in der Führungsriege des Staats­ theaters mit Operndirektorin Nicole Braunger, Ballettchefin Birgit Keil und Volkstheater-Leiterin Stefanie Heiner als ein Aushängeschild. Beim „Picknick auf Parkett“ auf der Bühne des Kleinen Hauses, zu dem das Volkstheater regelmäßig an Sonntagen einlädt, ist aus den Reaktionen der Männer und Frauen Neugier herauszulesen. Zugleich sind sie stolz auf die Pionierinnen, die Gleichberechtigung am Theater personell wie im Spielplan umsetzen. „Was ich bisher von den Regisseurinnen gesehen habe, finde ich einfach interessant“, sagt ein Besucher, für den das Geschlecht der Künstler „erst mal zweitrangig“ ist. Dann diskutieren die Gäste aller Generationen an Tischen bei Blätterteigtaschen und Nudelsalat über politische Themen, die sie bewegen. Der ehemalige SPD-Politiker und Richter Jan Stöß, inzwischen Mitarbeiter am höchsten deutschen Gericht in der badischen Großstadt, hält einen Impulsvortrag zum Thema Rassismus. Darüber wird an den Tischen engagiert gestritten. Schilfhalme aus Plastik und Lichterketten sorgen für entspannte Atmosphäre. „Es ist schön, dass die Stadtgesellschaft an einem Sonntagmorgen ins Theater kommt und über Themen diskutiert, die uns bewegen“, lobt der Jurist die Offenheit des Hauses am Ettlinger Tor. Auch das Schauspiel hat eine eigene Reihe initiiert. Anna Haas, die stellvertretende Chefin der Sparte, stellte im Rahmen des neuen Formats „Die Zukunft ist weiblich“ die Karlsruher SPD-Politikerin Gerlinde Hämmerle vor, die seit mehr als fünfzig

staatstheater karlsruhe

Jahren für die Rechte der Frauen kämpft. Emanzipation hat in der Stadt Tradition. Dass der Austausch auch über die Grenzen der Sparten hinweg reibungslos klappt, freut Anna Haas. Gibt es denn eine weibliche Ästhetik, wie sie etwa die französische Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous in den 1980er Jahren postulierte? „Ich glaube nicht, dass man das so einfach sagen kann.“ Einen Unterschied sieht die Dramaturgin aber doch. „Frauen zweifeln eher, und das kann sehr produktiv sein.“ Anna Bergmann formuliert es drastischer. „Männer zeigen ihre Zweifel höchstens auf dem Klo.“ Dass Frauen selbstkritischer sind und verschiedene Blickwinkel zulassen, ist aus der Sicht der Spartenchefinnen sehr fruchtbar für den Inszenierungsprozess. Zugleich bildet dieser Ansatz die Vielfalt der Gesellschaft ab. Die Perspektive von Frauen auf allen Ebenen ins Theater zu tragen, so umschreibt Anna Haas das Ziel der aktuellen Spielzeit. Da nimmt sie auch Beruf und Familie nicht aus. Schauspielchefin Anna Bergmann hat einen dreijährigen Sohn. Die Tochter von Anna Haas geht in die Grundschule. Sonja W ­ alter,

Anna Bergmann, geboren 1978 in Stendal, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Anglistik an der Freien Universität Berlin, anschließend Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch”. Seit 2003 arbeitete sie als Regisseurin u. a. am Deutschen Nationaltheater Weimar, am Saarländischen Staatstheater ­Saarbrücken, in Oberhausen, Göttingen, Heidelberg, Konstanz, Lübeck, am Thalia Theater Hamburg, am Berliner Maxim Gorki Theater, den Münchner Kammerspielen, am Burgtheater Wien und dem Malmö Stadsteater. Seit der Spielzeit 2018/19 ist Anna Bergmann Schauspieldirektorin des Staatstheaters Karlsruhe. Mit ihrer Inszenierung von „Persona”, die als Koproduktion des Deutschen Theater und des Malmö Stadsteaters entstanden ist, ist sie zum Theatertreffen 2019 eingeladen. Die Inszenierung ist am 9., 10., 18. und 19. Mai am Deutschen Theater Berlin zu sehen. Foto Thorsten Wulff

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die geschäftsführende Dramaturgin, ist nach kurzer Elternzeit auf Teilzeitbasis wieder ins Berufsleben zurückgekehrt. Rücksichtnahme und Achtsamkeit sind da für Anna Haas ein Muss: „Für die Kinder muss im Theaterberuf Platz sein.“ Bei der Auswahl der Regieteams zählt für das Leitungstrio die künstlerische Qualität. Zum einen wollen Anna Bergmann und Anna Haas junge Talente fördern, zum anderen mit erfahrenen Regisseurinnen und deren stilbildenden Arbeiten die Linie des Hauses prägen. Zum Beispiel mit Suse Wächter, einer der wichtigen deutschen Puppentheater-Regisseurinnen. Sie hat im April die Uraufführung von Konstantin und Annalena Küsperts „Unantastbar?“ zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes realisiert. Auch der internationale Horizont liegt Anna Bergmann am Herzen. Deshalb kooperiert sie nicht nur mit europäischen Bühnen wie jetzt mit dem Theater im schwedischen Uppsala für das von ihr inszenierte Bluegrass-Konzert „The Broken Circle“ von Johan Heldenbergh und Mieke Dobbels (auch verfilmt von Felix Van Groeningen). Sie holt auch internationale Regieteams ans Haus. Wie vielschichtig ein neuer Blick auf einen Klassiker gelingen kann, zeigt die britische Regisseurin Lily Sykes mit Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Die Meisterin konsequenter Text­ arbeit taucht tief in die doppeldeutige Sprache des englischen Klassikers hinein. Sie verführt das Ensemble dazu, das Drama nicht nur auf den Geschlechterkampf zwischen Benedikt und ­Beatrice zu reduzieren. Thomas Schumacher und Claudia Hübsch­ mann zelebrieren die Gefechte zwischen den Geschlechtern mit viel Witz. Doch hat Sykes im Stück noch eine andere, zeitgenös­ sische Ebene aufgespürt. Jelena Miletić hat Kostüme geschaffen, die männliche und weibliche Mode filigran kombinieren. Lily ­Sykes interpretiert Shakespeares Drama vom Spiel um die Liebe als Suche nach dem eigenen Ich von Mann und Frau in einer Welt, deren Triebfeder Diversität ist. Wie schwer es für eine Frau ist,

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Ibsens Frauenfiguren aus weiblicher Perspektive neu betrachtet − Ulrike Syhas Ibsen-Überschreibung „Nora, Hedda und ihre Schwes­tern“, inszeniert von Schauspielchefin Anna Bergmann am Staats­theater Karlsruhe (2018), hier mit Bea Brocks und Sina Kießling. Foto Felix Grünschloß

ihre Identität zu finden, zeigt vielschichtig und kraftvoll Sonja Viegener als Gouverneurstochter Hero. Tiefe lässt dagegen Sláva Daubnerovás „Am Königsweg“ missen. Der starke, politisch dichte Text Elfriede Jelineks über einen Herrscher, der seinem Volk in Donald-Trump-Manier das Ende der Schulden und der Arbeitslosigkeit verspricht und daran scheitert, entgleitet der slowakischen Regisseurin und Performerin zu sehr ins ästhetische Nichts. Sebastian Hannaks Bühnenraum öffnet eine Medienwelt, in der Blender das Sagen haben. Die mythischen Könige, die die österreichische Nobelpreisträgerin in Beziehung zum tiefen Fall des weißen Mannes setzt, geraten zu Kunstfiguren. Für die vielversprechenden jungen Handschriften in der ­Regie steht Jenny Regnet, Assistentin am Haus, die Samantha ­Ellis’ leichte Komödie „How To Date a Feminist“ in Szene setzte. Ganz ohne Verbissenheit überprüft sie feministische Theorien anhand eines jungen Paars, das im Geschlechterkampf der Eltern gefangen ist. Eine spannende Entdeckung ist auch Charlotte Sprenger, die mit ihrer Werkstatt-Inszenierung „Bambi oder eine Suche“ neue Formen kollektiven Arbeitens mit dem Ensemble erprobte. „Wir haben viele starke Regisseurinnen, mit denen wir weiter arbeiten wollen.“ Beispielhaft nennt Anna Bergmann Christina Paulhofer und Mizgin Bilmen, die am Staatstheater bereits das Bürgerinnenprojekt „Radikale Akte“ realisiert hat. In der nächsten Spielzeit soll es mit Regisseurinnen weitergehen. „Und in unserer Hauptspielstätte, dem Kleinen Haus, wird es nur Urund Erstaufführungen geben.“ //


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THEATERFESTIVAL WILLKOMMEN ANDERSWO ICH.STADT.WIR 16.-19. Mai Bautzen DO 16.5., 19.30 Uhr DREI SCHWESTERN IN BAUTZEN Bürger*innenbühne Thespis Zentrum Bautzen

22. — 26. Mai 2019 Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau Theaterring 12 | 02763 Zittau

Programmhighlights: 22.05.2019 – 21:00 Uhr Koproduktion des Gerhart-Hauptmann-Theaters mit dem Divadlo F. X. Šaldy Liberec Zehn Chats nach Arthur Schnitzler »Reigen-Korowód-Rej«

FR 17.5., 19.30 Uhr GEFÜHLSLABOR Samstagsclub, Staatstheater Nürnberg SA 18.5., 19.30 Uhr DAS LAND, DAS ICH NICHT KENNE B Film- und Theaterprojekt von Georg Genoux Täglich Rahmen- und Diskursprogramm NEUE NARRATIVE mit Workshops, Diskussion, Performance

Verschiedene Spielstä�en in der Stadt. Informa�onen zu Programm und Tickets: kontakt@thespis-zentrum.de www.thespis-zentrum.de

23.05.2019 – 18:00 Uhr Koproduktion des TheaterJugendClubs Zittau mit dem Schauspielensemble Jugendstück von Daniel Ratthei | URAUFFÜHRUNG »The Walking Z« 24.05.2019 – 20:00 Uhr Slovensko narodno gledališče Nova Gorica Monolog von Jean Cocteau »Die menschliche Stimme« 25.05.2019 – 19:30 Uhr Teatro Libero Milano Schauspiel von Andrea Brunetti »Malamore« Alle Festivaltermine finden Sie unter www.g-h-t.de

Ein Projekt des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen. Gefördert durch den Freistaat Sachsen im Rahmen des Landesprogramms Integra�ve Maßnahmen.


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Eroberung im Herzen Europas Nach Querelen und Skandalen gelingt dem Theater Trier ein erstaunlicher Neubeginn: mit Unterhaltung, Politik und großen Gefühlen von Björn Hayer

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ie oft erlebt man schon einmal, dass nahezu das gesamte Publikum eines großen Hauses am Ende einer Vorstellung Standing Ovations gibt? Eher selten. Und wenn das doch einmal der Fall sein sollte, hat man es als Kritiker schwer, etwaige Einwände vorzubringen. Im Fall von Ryan McBrydes Inszenierung von ­William Shakespeares Klassiker „Romeo und Julia“ ist dies tatsächlich auch nicht nötig. Im Gegenteil: Aller Jubel ist gerechtfertigt und schon lange ersehnt. Die Aufführung scheint wie ein frischer Atemzug durch das gebeutelte Theater Trier zu ziehen. Schließlich ist es kaum zwei Jahre her, dass der Vertrag mit dem vorma­ ligen Intendanten Karl Sibelius wegen eines satten Defizits von drei Millionen bei zudem rückläufigen Besucherzahlen aufgelöst ­wurde. Jenseits der medialen und politischen Schlammschlacht führte der Skandal sogar zu staatsanwaltlichen Ermittlungen und der generellen Infragestellung des Spielstandortes an der Mosel.

Und dann kam Manfred Langner, vormals Intendant der Schauspielbühnen in Stuttgart und überdies ausgebildeter Steuerinspektor – für ein derart in Finanzeklats geratenes Dreispartenhaus zweifelsohne eine gute Kombination. Denn dass mit der Ernennung seines Vorgängers der kaufmännische Verwaltungsdirektorenposten weggefallen und dadurch die künstlerische mit der haushälterischen Leitung zusammengelegt worden war, hatte ­sicherlich auch zur Misere beigetragen. Mit Langner ist nun ein solider Allrounder in Amt und Würden, ein charmanter und wortgewandter Retter, den es als freien Regisseur eigentlich gern nach Nizza verschlagen hätte, wäre da nicht das Angebot der rheinlandpfälzischen Universitätsstadt gewesen. Neben einer verantwortungsvollen Personalplanung sinnt der 1958 in Wiesbaden geborene Theatermann insbesondere auf

Pathologisch und morbid – Shakespeares „Romeo und Julia“ am Theater Trier in einer Inszenierung von Ryan McBryde. Foto Marco Piecuch


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neue Akzente im programmatischen Bereich. Um „verlorenen ­Boden wiedergutzumachen“, so der Intendant im Gespräch, setze man auf ein „niederschwelliges Angebot“. Das breite, aber ebenso politische Publikum soll erreicht werden – zum Beispiel mit der Uraufführung „Marx’ Bankett“ von Joshua Sobol oder der erstmals in Deutschland präsentierten Realisierung von Salomé ­Lelouchs „Politisch korrekt“. Erstere versetzt den Zuschauer ins 19. Jahrhundert, wo er in Trier, der Geburtsstadt des Autors des „Kommunistischen Manifests“, auf einem Revolutionstreffen auf zeitgenössische Anhänger und Kritiker des polarisierenden Vordenkers stößt. Ereignet sich hier die Spiegelung der Gegenwart noch eher im historischen Format, erweist sich das zweite Stück als unmittelbar unserer Realität entsprungen. Liebende, welche ihre ideologische Zugehörigkeit trennt, versinnbildlichen in ­diesem Werk anschaulich die Spaltung der westlichen Gesellschaften an der Naht zwischen rechts und links, konservativ und progressiv. Von einer folgenreichen Opposition erzählt natürlich auch die bereits erwähnte Inszenierung von „Romeo und Julia“. Versetzt wird die Geschichte zweier Jugendlicher, deren Liaison d’amour aufgrund der Verfeindung ihrer Elternhäuser nicht sein darf, in die Kulisse einer Pathologie (Bühne und Kostüme James Button). Die Bühnenhelfer treten in entsprechender Berufs­ kleidung auf. Und der oberste Gerichtsmediziner ist – ob auf dem berühmten veronesischen Balkon oder der unteren Bühne – ­omnipräsent. Dadurch wird uns die im Text durch zahlreiche ­Verweise und Vorausdeutungen vermittelte Allpräsenz des zu erwartenden Todes von Anfang an bewusst. Er umzingelt förmlich die unmögliche und absolute Liebe. Die Umgebung erscheint ­völlig denaturiert. Wohin wir schauen, erblicken wir weiße, sterile Kacheln. Es ist ein unwirtlicher, kalter Ort. Selbst der Maskenball, auf dem sich die beiden Protagonisten, hingebungsvoll und ­leidenschaftlich verkörpert von Anna Pircher und Robin Jentys, kennenlernen, verstärkt mit Skelettkostümen eine morbide ­Atmosphäre. Während die „Lieb’ aus großem Hass entbrannt“ ist, vernehmen wir im Hintergrund Popballaden oder sphärische ­Melodien. Es wird getanzt und gefeiert. Obgleich derartige inszenatorische Kunstgriffe nach Effekthascherei klingen mögen, verhelfen sie zu einer überzeugenden Verdichtung des Stoffes. Die Tragödie zeigt Ryan McBryde als Rausch der Gefühle und Affekte. Hass und Eifer der Eltern – in der spätmodernen Version als Vertreter zweier verfeindeter Clans – kollidieren mit der unstillbaren Sehnsucht ihrer Nachkommen. Nur knapp verpassen sich Letztere am Ende und wählen als einzige Möglichkeit der Freiheit den Tod: „Ein größeres Elend gab es nirgendwo, als das von Julia und ihrem Romeo“, so der letzte Satz dieser mitreißenden und bedeutsamen Inszenierung. Shakespeares Drama dokumentiert das Leben in einem Zwischenraum – ein Zustand, der den Bewohnern der Stadt Trier keineswegs unbekannt ist, wie der Intendant meint. Denn die „kleine Großstadt“ befinde sich seit jeher in einer „Abgeschiedenheit“. Nachdem sie unter Napoleon als Frontbastion diente, wurde sie mit der Eroberung durch die Preußen 1814 zum Grenzgebiet. Dabei sei sie Langner zufolge „eigentlich ein idealer Ort im H ­ erzen Europas“. Zwischen Deutschland, Luxemburg und nicht weit von Belgien gelegen, steht sie für den Ge-

theater trier

danken internationalen und interkulturellen Austausches. Genau diese Situation gelte es zu nutzen, weswegen man wohl auch fremdsprachige Aufführungen bei der Erstellung des Spielplans berücksichtigt hat. So kann man das Stück „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ unter der Regie von François Camus ebenso auf ­Französisch sehen. Abgesehen von dieser offenherzigen Geste für die europäische Nachbarschaft wird dem Publikum allerdings nur eine spröde und einfallslose One-Man-Show (François Camus oder Gideon Rapp) geboten. Statt den durchaus lebendigen Text des Bestsellerautors Éric-Emmanuel Schmitt bunt und ideenreich auf die Bühne zu bringen, wird er inmitten einer spärlichen Requisite aus Lampe, Holzsessel und -kisten vom Protagonisten szenisch paraphrasiert. Natürlich knüpft man damit an die arabische Tradition der mündlich-epischen Erzählweise an. Aber eignet sich dieses Scheherazade-Verfahren überhaupt für die konfliktfreudige und dialogisch angelegte Form des Theaters? Wohl kaum. Denn die Bühne verkommt hierbei tatsächlich zur schnöden und überflüssigen Kulisse. Hinzu zur unterkomplexen Darstellung kommt ferner das unausgeschöpfte Aktualitätspotenzial. Die Handlung um die besondere Freundschaft zwischen dem 13-jährigen Momo und dem titelgebenden muslimischen Kolo­ nial­warenhändler, der mithilfe seines Korans als Ratgeber in allen ­Lebenssituationen fungiert, wird von Camus kaum für die Botschaft von Verständigung und Toleranz genutzt, um dadurch Aussagen über die schwelenden Religionskonflikte unserer Zeit zu generieren. Also ein klassischer Fall eines verschenkten Stoffs! Angesichts des durchweg überzeugenden Spielplans mit seiner ausgewogenen Mischkalkulation aus Klassikern wie ­„Macbeth“ und neueren Werken wie „Sechs Tanzstunden in sechs ­Wochen“ oder der an die französische Chansonnière angelehnten Realisierung „Piaf“ fällt der Fauxpas kaum ins Gewicht. Haltung und Unterhaltung finden unter der Intendanz von Manfred Langner auf fabelhafte Weise zusammen. Trier mag zwar geografisch am westlichen Rand der Republik zu finden sein, künstlerisch läuft es mit seinem neuen Theater hingegen keineswegs Gefahr, wieder allzu rasch ins Abseits zu geraten. Dessen Leistung kann sich ohne Zweifel sehen lassen. //­

Manfred Langner, geboren 1958 in Wiesbaden, machte zunächst eine Ausbildung zum Steuer­ inspektor. Nach vier Jahren verabschiedete er sich als Betriebsprüfer vom Finanzamt und nahm ein ­Jurastudium auf. Nebenbei war er bei Filmproduktionen beschäftigt und arbeitete sich vom Kabelträger über den Aufnahmeleiter zum Filmgeschäfts­ führer hoch. Schließlich ging er als Regieassistent an das Staatstheater Darmstadt und später ans Grenzlandtheater ­Aachen, wo er als Dramaturg und Regisseur anfing und das er von 1994 bis 2009 als Intendant leitete. Ab 2009 war er Intendant der Schauspielbühnen Stuttgart. Seit vielen Jahren ist Manfred Langner zusätzlich als Autor und Übersetzer tätig. Seit der Spielzeit 2018/19 ist er Intendant des Theaters Trier. Foto Martin Kaufhold

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protagonisten

Theater ohne Andrzej Wirth Eine Erinnerung an den großen Theatertheoretiker von Thomas Irmer

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ei der Trauerfeier am 6. April in Berlin-Baumschulenweg gab es zehn lange Minuten der Unterbrechung, des stillen Eingedenkens und Betrachtens. Keine Schweigeminute, zu der man sich üblicherweise erhebt, sondern eine Situation ganz im Geiste des Verstorbenen. Denn eine der Lieblingstheorien von Andrzej Wirth galt einem „Theater ohne Publikum“. Nun war beim Abschied deren Umkehrung zu erleben: ein von ihm versammeltes Publikum ohne Theater. Ein Publikum freilich, das, von dem ­Theoretiker geschult, diesen Moment erkennen konnte und zu schätzen wusste als letzte Performance dieses großen Theatermanns aus drei Ländern, der wie kaum ein anderer Theorie und Praxis des Theaters, dessen Geschichte und Gegenwart bis in seine letzten Tage munter zusammenbrachte. Geboren am 10. April 1927 in Włodawa, im Grenzland zwischen Polen, Weißrussland und der Ukraine, wuchs Wirth als Sohn eines Offiziers und einer dem polnischen Adel entstammenden Mutter in unruhiger Zeit auf. Der Hitler-Stalin-Pakt und die Besetzung Ostpolens durch sowjetische Truppen bedeuteten das Ende einer behüteten Kindheit und später den Besuch eines Untergrund-Gymnasiums in Warschau unter deutscher Besatzung, die für Polen keine höhere Schulbildung zuließ. Theater lernte er unter den Umständen der Okkupation nur als heimliche Rezita­

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tionsabende kennen, nicht als Bühnenereignis. Gleichwohl hatte er im Untergrund hervorragende Lehrer, die ihn auf das Studium der Philosophie in Łódź und Warschau nach dem Krieg vorbereiteten, ein Studium, das Wirth noch lange später in seiner Anschauung und Lehre des Theaters beeinflussen sollte. Im stalinistischen Nachkriegspolen, wo man ohne große Vorahnung schnell in ein Verhängnis geraten konnte, legte der deutsch-affine Publizist sich ein Programm als Übersetzer zurecht, das von Horaz über Johannes R. Becher bis zu Kafka und Dürrenmatt (zusammen mit seinem Freund Marcel Reich-­ Ranicki) einen Bogen spannte und stets nach den damals fast weggesprengten Brücken zur deutschen Literatur suchte. Der entscheidende Eindruck und Einfluss war jedoch Brecht, zunächst durch die Gastspiele des Berliner Ensembles in Warschau, vor ­allem aber über die Lyrik und dann auch über Brechts theoretische ­Darlegungen, die in der polnischen Theaterkultur eine noch geringere Grundlage vorfanden als in der frühen DDR. Wirth übersetzte „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“, das 1957 in Warschau uraufgeführt wurde, promovierte über die „Stereometrische Struktur der Stücke Brechts“, eine raffinierte Analyse vorbei an der gerade erst beginnenden ideologischen Vereinnahmung, und wartete ab 1955 auf ein Visum für einen Arbeitsaufenthalt am Berliner Ensemble. Er bekam es ein Jahr später, was Wirth dann sein Leben lang als seine mysteriöse Verspätung beschäftigte: In Berlin kam er zwei Monate nach Brechts Tod an, in Warschau verpasste er deshalb den Beginn des „polnischen Oktober“, die Liberalisierung des Landes zu sozialistischen Bedingungen. Diese nutzte Wirth in den folgenden zehn Jahren in herausragender Weise als Vermittler in seiner Tätigkeit als Kritiker, Redakteur, Literaturwissenschaftler und Herausgeber. In Ost­ ­ Berlin verfolgte er die Entwicklungen des Theaters nach Brechts Tod, in West-Berlin hielt er auf Einladung Walter Höllerers Vor­ lesungen über polnische Literatur und regte die Einladung von Witold Gombrowicz aus dem argentinischen Exil an, auch mischte er in der Gruppe 47 mit. In Polen veröffentlichte er einen Vorabdruck aus Grass’ „Blechtrommel“ und trug wesentlich zur ­Wiederentdeckung von Stanisław Witkiewicz bei. Er besprach die frühen ­Arbeiten von Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor mit dem Weitblick auf eine internationale Theaterkultur, die damals noch gar nicht als solche gedacht wurde. Es waren für den nach allen Seiten sprühenden Intellektuellen die produktivsten Jahre in Polen. 1963 gründete er die Zeitschrift Nowa Kultura, von ihm selbst scherzhaft als „Neue Wirthschaft“ bezeichnet, und machte sie zum ­großen Forum zwischen Ost und West – Begierige in der Sowjetunion lernten extra Polnisch, um die im Schwarzhandel ­gekauften Hefte lesen zu können. 1966 wurde Nowa Kultura verboten, und Wirth befürchtete mehr als nur Einschränkungen seiner inzwischen viel beachteten Tätigkeiten in Polen. Ein letztes Visum für die Tagung der Gruppe 47 in Princeton 1966 nutzte er dafür, in den USA Fuß zu fassen, wo er keinesfalls so bekannt war wie in den mitteleuropäischen Kulturkreisen des Kalten Kriegs. Wirth gelang in Amerika eine akademische Karriere, die ihn über die University of Massachusetts an die kalifornische Stanford University und später an verschiedene Universitäten der Ostküste brachte. Aus dem Vermittler und Kritiker wurde nun ein Professor, der wiederum in der praxisbezogenen Anlage der amerikani-


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schen Theaterwissenschaften seine neue Chance erkannte. Wirth begann an den Universitätstheatern zu inszenieren, die in Amerika völlig unbekannten Stücke von Witkiewicz zum Beispiel als Teil einer neuen Avantgarde, und seine Seminare wurden zu Theaterproben mit anschließender Diskussion. Von Brechts in New York lebendem Sohn Stefan holte er sich die Genehmigung, die Mikrofiches der „Maßnahme“ und „Fatzer“-Entwürfe abschreiben zu dürfen, und inszenierte die umstrittene und damals noch von Brecht selbst für Aufführungen gesperrte „Maßnahme“ mit Tänzerinnen, gleichsam als Entspannung seines gefährlichen Inhalts, aber nicht ohne Bedacht für diesen. Wirth vertiefte seine BrechtSpur aus den polnischen und Ost-Berliner Jahren, aber der eigentliche Ertrag dieser Experimente sollte sich erst später zeigen. Als Wirth nach fast zehn Jahren als Staatenloser in den USA eingebürgert wurde, hatte er an der Küste von South Carolina ein Haus bauen lassen und eine Familie gegründet – aber der Blick ging stets zurück nach Europa, während von ihm in New York jede neue Produktion von Robert Wilson wahrgenommen wurde und die Theatertheoriebildung sich auch aus anderen Kontexten speiste. Mit Wirths Namen wird der Begriff des „postdramatischen Theaters“ verbunden bleiben, der später zu einer Art Richtung, für manche sogar Theater-Epochenbegriff wurde. Der polnische BrechtÜbersetzer in Amerika, der jede dramaturgische Wendung des Theaters nach Brecht genauestens verfolgte, veranstaltete 1972 in New York ein Seminar zu den frühen Sprechstücken von Peter Handke, die bekanntlich wie „Publikumsbeschimpfung“ weder Handlung noch Figuren kennen oder vorstellen. Der Begriff des „Postdramatischen“ lag für einen auch im sprachlichen Ausdruck so gewitzten Betrachter des Neuen praktisch in der Luft, zumal sich damals auch die ersten akademischen Diskussionen zur Postmoderne in New York regten. Es war geradezu zwingend ein Begriff, den Andrzej Wirth in seiner Auffassung des epischen Theaters nach Brecht gut in Anschlag bringen konnte, auch wenn der junge Handke, mit dem er übrigens bei der Tagung in Princeton zusammenkam, mit Brecht nichts am Hut hatte. Der wichtigste Text dazu ist „Vom Dialog zum Diskurs“ (1980) als Versuch einer Synthese der nachbrechtischen Theaterkonzepte, als konzise und visionäre Theorie, die dem Theater die Aufgabe wirkender Kommunikation stellt. Genau dafür wurde in der letzten großen Synthese aller vorherigen Erfahrungen (im dritten, aber längst vertrauten Land) mit einer Professur auch gleich ein Institut nach eigenen Regeln erstritten. Das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, von Andrzej Wirth 1982 gegründet, wirkte zunächst wie ein aus fremden Zivilisationen gelandetes Raumschiff in der akademischen Landschaft wie auch in den Sphären des Theaters, auf dessen Praxis die Ausbildung vornehmlich zielte. Mit einer Inkubationszeit neuer Ansichten – und dann vielen Künstlern und großem Publikum, gebildet von einer Jahrhundertfigur. 2008 erhielt er für sein Lebenswerk den Theaterpreis des Internationalen ­Theaterinstituts. Andrzej Wirth starb am 10. März 2019 in einem Berliner Krankenhaus. //

Jahrhundertfigur – Andrzej Wirth 2017 bei einer Jubiläumsveranstaltung zur Gruppe 47 in Waischenfeld. Foto Stefan Dörfler

andrzej wirth

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Humor als Waffe Die Jenaer Schauspielerin Mona Vojacek Koper versteht sich als Theateraktivistin und Überbringerin drängender Zeitfragen

K

OPER“ steht in großen, rot leuchtenden und unübersehbaren Buchstaben auf dem Kapuzenpullover jener Schauspielerin, die schnellen Schrittes und mit großen, strahlenden Augen direkt von der Probe in das Jenaer Theatercafé hereinspaziert kommt. Ihre silbern glitzernde Sporttasche lässig über der Schulter hängend, braucht sie nicht lange, um sich für Bier statt Tee zu entscheiden. Für die 26-jährige, in Bremen aufge­ wachsene Künstlerin ist Kneipenkultur ein wesentlicher Ausdruck sozialen Miteinanders. Wir stoßen an. Mona Vojacek Koper hat Schauspiel an der Otto Falckenberg Schule in München studiert. Das Engagement am Theaterhaus Jena ist ihr erstes. Mit ihrer Studienkollegin Henrike Commichau gründete sie im zweiten Studienjahr das Künstlerinnenkollektiv #monike. Was ver­birgt sich hinter dem Hashtag? Unermüdliches Recherchieren, Dokumen­ tieren und schließlich Performen – die Themen sind aktuell, verhandeln femi­ nistische Fragestellungen und Forderungen, wie etwa die Debatte um die Paragrafen 218 und 219a. Gemeinsam haben sich die beiden auch für das Ensemble des neuen ­Leitungskollektivs Wunderbaum in Jena beworben. Beide oder keine. Nun steht ein Abend zum Thema Abtreibung an. „Damenwahl“ lautet der Titel, Mona Vojacek ­Koper ist begeis­tert. „Wir wollen eine Dauerwerbesendung ­machen, denn wenn die Ärztinnen und Ärzte nicht informieren dürfen, machen wir es.“ Die Schauspielerin, die sich vielmehr als Theatermacherin versteht, zeigt sich energisch, fröhlich und hochmotiviert, gleichzeitig leidenschaftlich fragend und fordernd. Auf der Bühne will sie Frauenrollen erarbeiten, wie sie sie vorher noch nie gesehen hat. Grundsätzlich aufgeschlossen für das Neue, fordert sie radikale Offenheit und Diversität in den Geschichten. „Ich kann so lange graben wie ich will, aber mit dem bürgerlichen Trauerspielmädchen werde ich mich trotzdem nicht identifizieren ­können.“ Deshalb erfindet sie stets neue Rollen und Formate, wie etwa ihre One-Woman-Show „Sorry Not Sorry“, bei der sie auf

der kleinen Bühne des Theatercafés über die stetige Objektifizierung des weiblichen Körpers spricht. Für ihre Recherchen reist die engagierte Allrounderin auch gern mal zum Oktoberfest und gibt sich mit versteckter Kamera als Promilletesterin aus. Berührungsängste hat sie keine. Am liebsten würde sie das Licht im Zuschauersaal anmachen, um zu sehen, wer da eigentlich sitzt. Auch mit der vierten Wand kann sie wenig anfangen, ebenso mit Hierarchien in der Theaterarbeit. In Jena scheint sie daher goldrichtig zu sein, denn das Haus unterstützt ihre künstlerische Entwicklung in der Doppelfunktion als Schauspielerin und Performerin. Da­rüber hinaus hat sich die Theater­aktivistin auch am diesjährigen Frauen­streik in Jena beteiligt. Künstlerisch versteht sich, denn was sie umgibt, verwandelt sie in Theater. Lernen will sie dafür noch eine ganze Menge, gerne auch Breakdance, sollte es für eine Rolle erforderlich sein. Und wenn nicht, dann vielleicht einfach nur zum Spaß. Humor und Leichtigkeit sind die ästhetischen Waffen, mit denen Mona Vojacek Koper ihre Rollen füllt. So spielte sie zuletzt in der Ensemble­ produktion „Thüringen Megamix“ eine Figurendarstellerin, die, verkleidet als überdimensionaler Kloß, ihren Lebens­ alltag in einem Freizeitpark fristen muss. Die Schauspielerin hat es geschafft, ihrer hinreißend komischen Rolle eine zugängliche Tiefe zu verleihen und so eine deutliche Kritik an prekären Lohnarbeitsverhältnissen zu formulieren. Sie betont, dass erst durch Humor die Absurditäten zum Vorschein kommen können. Mona Vojacek Koper will mitdenken und mit­ bestimmen. Sie wünscht sich für die Zukunft weiterhin ein angstfreies und offenherziges Arbeiten, denn nur dann kann sich Kreativität ent­ falten. Von dem Geniekult um den depressiven Künstler hält sie nicht viel. „Wir müssen nicht leiden, um gute Kunst zu machen.“ Sagt sie und grinst über beide Ohren. // Paula Perschke Mona Vojacek Koper. Foto Stefan Klüter

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„Damenwahl“ von und mit Mona Vojacek Koper hat am 9. Mai Premiere am Theaterhaus Jena. Außerdem ist sie dort am 16., 17. und 18. Mai in „Nackt“ zu sehen.


Look Out

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Wann, wenn nicht jetzt Die Regisseurin Rebekka David bringt die Diskurse unserer Zeit auf die Bühne – unter Verwendung neuester Gesellschaftstheorien

ie blickt von ihrem Buch auf, die beiden aufgeschlagenen Seiten sind mit zahlreichen Anstreichungen versehen. Das sei in Vorbereitung auf das neue Stück, erzählt Rebekka David. In dem geht es um den Verlust der Zukunft aufgrund der Durchökonomisierung aller sozialen Beziehun­ gen. Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ sei da eine hilfreiche Lektüre. Im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie unter anderem auch Oliver Nachtweys „Die Abstiegs­ gesellschaft“, Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und Heinz Budes „Gesellschaft der Angst“ gelesen hat. Sollte man sich wundern, dass eine Theater­ regisseurin geradezu exzessiv soziologische Theorie liest? Wohl kaum. Es kann nur von Nutzen sein, die Gesellschaft möglichst ­genau zu kennen. Sie könnte ja auch Gegenstand des Theaters sein. Oder sollte es sein, wenn es nach David geht. Denn mit Historismus, der der Gegenwart entflieht, kann sie nichts anfangen. Das hat sie schon früh bemerkt. Bevor sie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin ein Regie­ studium begann, hospitierte die 1993 Geborene am Deutschen Theater Berlin und assistierte am Theater Basel. Auf der Bühne können Probleme verhandelt werden – und warum nicht jene, welche die Menschen gerade jetzt haben? Für ihr Stück „Nora oder Die Macht des GeschlechterNorman“ in der Berliner Brotfabrik hat sie Henrik Ibsens Vor­ lage bearbeitet. „Das mag damals ein emanzipatorisches Stück gewesen sein, aber heute haben wir schon einen anderen Blick darauf“, sagt sie. Es geht um Macht und Geschlecht, um Normen. In ihrer Version wechseln die vier Schauspieler, zwei Frauen, zwei Männer, auch die Rollen. So entgehe man einer Naturalisierung der Effekte von Macht und lenke den Blick eher auf das sozial Hergestellte des Geschlechts. In einer der beein­ druckendsten Szenen des Stückes lässt David vier Positionen des zeitgenössischen Feminismus aufeinandertreffen, die man ungefähr als kapitalistischen Feminismus à la Taylor Swift, als

Rebekka David. Foto Florian Kiehl

S

rechten Feminismus à la Birgit Kelle, als linksakademischen Queerfeminismus à la Judith Butler und als antikapitalistischen Feminismus à la Laurie Penny begreifen kann. Nun lassen sich diese Positionen unmöglich auf einen Begriff von Feminismus bringen. Gegenseitige Vorwürfe des Ausschlusses der Lebenswelten bestimmter Frauen oder von Transsexuellen führen in eine Situation der völligen Blockade. „Geht es überhaupt, nie jemanden aus­ zuschließen? Oder macht das handlungsunfähig?“, sagt David. Diese Fragen müsse man sich stellen. Das Einbeziehen zeitgenössischer Gesellschaftstheorie ist ein auffälliges Merkmal von Davids Inszenierungen. Es geschieht aber nicht ornamental, sondern wird selbst zum formbildenden Prinzip der Arbeiten. Deutlich konnte man das in ihrer Stückentwicklung „Brave New Work“ am Studiotheater bat in Berlin sehen. Das Thema der Verwandlung des Lebens in ein Projekt und der Selbstausbeutung im Spätkapitalismus wurde im Laufe der Proben auf sich selbst bezogen. Etwas zu kritisieren heißt auch, sich selbst zu kritisieren. Und wer von sich ausgeht, kann auch über sich selbst hinausgehen. So sei die Erkundung der Welt des Neoliberalismus auch zu einer Selbsterkundung geworden, erzählt David. Mit der Folge, dass sich die Schauspieler auf der Bühne der demokratischen Kontrolle des Publikums aussetzen mussten, das entscheiden durfte, wer am Ende den begehrten Hamlet-Monolog bekam. Jede Performance ziele schon auf eine künftige Wertschätzung, also Inwertsetzung, sagt David. Das schlage aber auch um in Angst, Stress und Panik. Darum geht es in ihrem neuen Stück am Staatstheater Braunschweig – um die Angst, etwas zu verpassen oder gar herauszufallen. „FOMO oder Ich war nicht da als es geschah“ ist eine Reflexion auf den Verlust der Zukunft, gefangen zwischen Konkurrenzangst und der Sehnsucht nach Solidarität. // Jakob Hayner „FOMO oder Ich war nicht da als es geschah“ von Rebekka David am Staatstheater Braunschweig ist wieder am 15., 16., 23. und 24. Mai zu sehen.

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Die aktuelle KUNSTFORUM Ausgabe 259:

Staunen

Plädoyer für eine existenzielle Erlebensform

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Mehr erfahren: www.kunstforum.de


Buchverlag Neuerscheinungen

Das renommierteste Festival für den professionellen Regienachwuchs Radikal jung präsentiert jährlich in München eine Bandbreite von Heran­ gehensweisen junger TheatermacherInnen. Inszenierungen aus dem deutschen Sprachraum bilden die stetige Veränderung der Theater­ landschaft ab, internationale Beiträge erweitern die Perspektive. In aus­ führlichen Werkporträts werden in diesem Buch 14 junge KünstlerInnen vorgestellt, die schon jetzt die Theaterlandschaft von morgen prägen.

Buchpremiere am 07.05.2019, HfS Ernst Busch Berlin

Radikal jung 2019 Das Festival für junge Regie Kilian Engels und C. Bernd Sucher (Hg.)

Viola Schmidt Mit den Ohren sehen Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schaus­ pielkunst Ernst Busch Berlin

Paperback mit 112 Seiten ISBN 978-3-95749-204-3 EUR 10,00 (print) EUR 7,99 (digital)

Die Sprechwissenschaftlerin Viola Schmidt hat die Methode des gesti­ schen Sprechens entscheidend mitgeprägt und kann dabei auf eine langjährige wie internationale Erfahrung zurückgreifen. In diesem Praxis­ handbuch diskutiert sie die theoretischen Grundlagen des gestischen Sprechens und veranschaulicht diese durch verschiedene Spiele und Übungen. Ein unentbehrliches Buch für Schauspieler, Regisseure, Drama­ turgen und alle, die das Sprechen im öffentlichen Raum interessiert.

Paperback mit 352 Seiten, mit zahlreichen Illustrationen ISBN 978-3-95749-192-3 EUR 19,50 (print). EUR 16,99 (digital)

Buchpremiere am 06.05.2019, Stadeum Kultur- und Tagungszentrum Dieses Buch wirft einen konzentrierten Blick auf den ländlichen Raum in unserer Theaterlandschaft, lässt die Theatermachenden zu Wort kom­ men und fragt nach den Aufgaben, aber auch den Herausforderungen und Potenzialen. Wie gestalten Theateranbieter und Theaterveranstalter das Programm? Wie erreichen Landesbühnen und Gastspieltheater ein Publikum? Welche Projekte ermöglichen kulturelle Vielfalt und künstler­ ische Teilhabe? Welche Theaterpolitik braucht das Land?

„Ist der Osten anders?“ war ein Gespräch zwischen Prof. Heinz Bude und Gregor Gysi betitelt, das am Schauspiel Leipzig stattfand. Unter der Gesprächsleitung von Dr. Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung), hat sich über zwei Spielzeiten das theatrale Geschehen mit Fragestellungen der Gegenwart verbunden. Dieser Band dokumentiert elf Gespräche und Vorträge mit Beiträgen von u. a. Prof. Karl Schlögel, Prof. Martin Sabrow, Willi Winkler, Daniel Cohn-Bendit und Roza Thun.

Recherchen 146 Theater in der Provinz Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz (Hg.)

RECHERCHEN 143 Ist der Osten anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig Jens Bisky, Torsten Buß und Enrico Lübbe (Hg.)

Paperback mit 248 Seiten ISBN 978-3-95749-195-4 EUR 18,00 (print) EUR 13,99 (digital)

Paperback mit 164 Seiten ISBN 978-3-95749-200-5 EUR 16,00 (print) EUR 12,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


Foto

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Auftritt Bonn „Oh wie schön ist Panama Malta“ (UA) von Volker Racho und Ensemble  Braunschweig „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht  Dresden „König Macius der Erste“ von Janusz Korczak in einer Fassung von Wojtek Klemm und Ulrike Leßmann  Frankfurt „Anders hören“ von Marina Abramović  GreifswaldStralsund „Weißer Raum“ von Lars Werner  Hamburg „Die Stadt der Blinden“ nach José Saramago in einer Fassung von Kay Voges, Bastian Lomsché und Matthias Seier  Plauen-Zwickau „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht Rottweil „Raub der Europa“ von Peter Staatsmann  St. Pölten „Am Königsweg“ von Elfriede Jelinek

Tübingen „Bestätigung“ von Chris Thorpe


auftritt

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BONN Steueroasen im Herzen Europas

Beweise für Geldwäsche-Operationen bei­

ziehen“, wird erneut deutlich, dass Aufklä-

zubringen. Die Mafia lässt sich ungern in die

rung ihren Preis hat. Wenn Theater wie das

Karten schauen, letztlich sind es aber hoch-

Bonner ihren Beitrag dazu leisten, stellt dies

rangige Politiker in der Europäischen Union,

in aller Bescheidenheit den Versuch dar, „re-

die durch konsequentes Wegsehen Methoden

levanten Dingen“, wie es im Stück heißt, „ei-

am Rand oder sogar jenseits der Legalität er-

nen Raum zu geben“. // Martin Krumbholz

möglichen.

THEATER BONN: „Oh wie schön ist Panama Malta“ (UA) von Volker Racho und Ensemble Regie und Bühne Simon Solberg Kostüme Franziska Harm

Die Details sind wahr, aber unglaublich: Für relativ wenig Geld kann jeder Beliebige in Malta Staatsbürger werden. Die Investition lohnt sich auf jeden Fall, denn die

BRAUNSCHWEIG

Körperschaftssteuer beträgt unterm Strich – qua Rückerstattung – ganze fünf Prozent. Davon profitiert der maltesische Staat, vor

„Es gibt keine neuen Beweise“, heißt es, die

­allem aber die Firma, die ihre Gewinne an-

Erwartungen dämpfend, gleich am Anfang

geblich dort erwirtschaftet. Eine profitable

des „Recherche-Thrillers über europäische

und wenig durchschaubare Branche ist die

Steueroasen“ des Regisseurs Simon Solberg

Glücksspiel-­Industrie. Vor Kurzem erst wurde

(Textcollage Volker Racho und Ensemble).

eine groß­angelegte Kampagne gefahren, bei

Das Faktum brutum lässt sich im Grunde in

der pro­­minente Sportler (wie der ehemalige

einem einzigen Satz bündeln: Große Firmen

Bayern-Profi Sebastian Schweinsteiger) auf ­

entwickeln Steuervermeidungsstrategien auf

etwas verdeckte und scheinbar unschuldige

Mörderischer Schönredner STAATSTHEATER BRAUNSCHWEIG: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht Regie Dagmar Schlingmann Bühne Sabine Mader Kostüme Inge Medert

Kosten des Gemeinwohls. Die „Panama-­ Art und Weise für Glücksspiele warben. Papers“ haben diese Strategien vor einiger

­Online-Glücksspiele sind, anders als in ande-

Zeit anhand eines Datenlecks in großem Stil

ren europäischen Ländern, in Deutschland

Der Grünzeughandel in Chicago überlässt

aufgedeckt, aber Panama ist nicht der einzige

verboten. Dennoch gibt es zahlreiche Anbie-

eigentlich nichts dem Zufall. Wirtschaft,

Staat, in dem Briefkastenfirmen geduldet

ter, die ihren Firmensitz nicht in Deutschland

Politik und Medien sitzen alle im gleichen

werden – und Malta auch nicht der einzige

haben, aber auf dem hiesigen Markt präsent

Boot, alle verdienen sie mit bei den Geschäf­

Staat in Europa. Auch Deutschland ist eine

sind. Wer auf diese Weise illegale Profite ein-

ten des Trusts. Aber es hilft nichts, der Karfiol

Steueroase, im Jahr 2018 belegt Deutsch-

fährt, ist auf Geldwäsche-Operationen an­

verfault, niemand kauft ihn. Wenn schon der

land Platz sieben im „Schattenfinanzindex“,

gewiesen. Gesetze, die Steuerhinterziehung

Blumenkohl keine Zukunft hat, was wird

deutlich vor Panama oder den Bahamas. Fast

durch Geldwäsche verhindern sollen, existie-

dann aus denen, die davon leben, ihn zirku-

überall auf der Welt kann man Gewinne

ren natürlich; aber Gesetze sind lückenhaft,

lieren zu lassen?

verschwinden lassen – durch Geldwäsche­ ­

und Staaten wie Malta nutzen methodisch

Als Brecht 1935 nach New York kam,

prozeduren aller erdenklichen Art. Es heißt,

solche Lücken, um ihren Geschäftspartnern

sah er erstaunt, dass hier Gangster zu Medien­

dass dem deutschen Staat 160 Milliarden

eine Freude zu machen, indem sie ihnen ten-

stars wurden. Der bekannteste: Al C ­apone.

Euro jährlich durch Steuervermeidung verlo-

denziell unbegrenzte Gewinne verschaffen.

Die Zeitungen waren voll von groß aufge-

Solbergs Low-Budget-Inszenierung in

machten Berichten, im Kino liefen Gangster-

Simon Solberg und sein Team ent­

der Bonner Werkstatt nutzt ihrerseits die Fan-

thriller – ein Spektakel, das Brecht tief beein-

wickeln aus den haarsträubenden Daten in

tasie und die Spielfreude des Teams, um über

druckte. Jede Zeit hat die Helden, die sie

der Werkstatt des Theaters Bonn einen knap-

die aufklärerische Substanz hinaus blanke

verdient!

pen, lustvollen Theaterabend. Fünf Spieler –

Schaulust zu erwirtschaften. Mit geringen

Arturo Ui liegt derweil faul herum, war-

Doris Dexl, Alois Reinhardt, Annika Schilling,

Mitteln feiert man eine Art Verwandlungs-

tet auf seinen großen Auftritt, von dem er weiß,

Gustav Schmidt und Klaus Zmorek – erzählen

und Requisitenfest, Papierschnipsel werden

er wird kommen. Denn dem Blumenkohl ist

in ständig wechselnden Rollen eine beiläufig

zu Spaghetti, Twitter-Tauben zu Telefon­

mit legalen Mitteln nicht zu helfen. Der Trust

skizzierte Recherche-Story: Eine Rundfunkre-

hörern, ein Schweizer spricht mit übertriebe-

hat schon versucht, mittels einer betrügeri-

porterin reist nach Malta und wird dort Zeugin

nem Schweizer Akzent, ein Juncker mit über-

schen Anleihe zum Bau von Kaianlagen wie-

des Mordes an der Journalistin Daphne Caru-

triebenem Luxemburger Akzent, aus einem

der zu Kapital zu kommen. Aber das hat der

ana Galizia, die ebenfalls darum bemüht war,

Pass wird ein „Spass“ oder ein „Ass“ – der

alte Dogsborough, die graue Eminenz der lo-

Impro-Stil des eineinhalbstündigen Abends

kalen Politik, durchschaut – und verhindert.

hintertreibt den bitteren Ernst eines Sujets,

Jetzt ist die Stunde des Arturo Ui, speziali-

das sonst Gefahr liefe, in einer düsteren Lek-

siert auf Drohungen, Erpressungen und Mord.

tion zu stranden. Als die Reporterin Laura am

Alles im Dienste der Konjunktur des Karfiols.

Ende sieht, dass infolge ihrer Recherchen

So kalkuliert der Trust, aber er kalkuliert

auch ihr Privatleben Schaden nimmt und sie

falsch: Denn Arturo Ui plant seinen eigenen

darangeht, wie man sagt, „die Reißleine zu

Aufstieg, mit allen unerlaubten Mitteln.

ren gehen.

Lebe lieber steuerfrei – Simon Solbergs knapper wie lustvoller Recherche-Thriller „Oh wie schön ist Panama Malta“ (hier mit v.l.n.r.: Gustav Schmidt, Annika Schilling und Klaus Zmorek). Foto Thilo Beu

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auftritt

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licher Mittel („Osthilfeskandal“) macht ihn erpressbar. Die ganze Verbrecherbande gibt sich nach außen viel Mühe, seriös zu wirken. Man täuscht vor, mit Blumen (oder eher Blumenkohl) zu fechten, dabei liegen am Ende ganz real die Toten am Boden – während die Schönredner nicht aufhören, zu suggerieren, alles gehe immer ganz legal zu. Stimmt ja auch – und verbrecherisch ist es dennoch. // Gunnar Decker­­

DRESDEN Kinder an die Macht Politthriller mit gegenwärtig erscheinendem Gangsterkolorit – „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ in der Regie von Dagmar Schlingmann. Foto Birgit Hupfeld

mit dem kriminellen Milieu – Arturo Ui hat seinen großen Auftritt. Die Bühne von Sabine Mader: derangierte Glitzerwelt knapp neben dem Müll der Hinterhöfe. Ein gelbgrüner Vorhang, der wie Ekelschleim wirkt, öffnet sich, und die hin­

THEATER JUNGE GENERATION: „König Macius der Erste“ von Janusz Korczak in einer Fassung von Wojtek Klemm und Ulrike Leßmann Regie Wojtek Klemm Bühne Michał Korchowiec Kostüme Julia Kornacka

Dagmar Schlingmann hat diesen Griff nach

reißende Gertrud Kohl, als Dockdaisy immer

der absoluten Macht in Szene gesetzt – auf

hautnah am Geschehen, haucht ihre smarten

eine verblüffende Weise. Ganz anders als Hei-

Kommentare zu dieser unerfreulichen Ge-

ner Müller, der in seiner legendären Inszenie-

schichte ins Mikrofon. Ein allgegenwärtiger

Herbert Grönemeyers Song „Kinder an die

rung von 1995 am Berliner Ensemble Arturo

Medienschatten, zugleich auch der Rest von

Macht“ ist seit 33 Jahren ein Klassiker. Drei

Ui von Martin Wuttke als eine Art Caliban

einem antiken Chor, der Unheil verheißt.

Jahre nach Erscheinen, also 1989, wurde von

spielen ließ. Der ist anfangs schwer sprachbe-

Dieser klugen Spielanordnung folgen

der UN-Vollversammlung die Kinderrechts-

hindert und läuft auf allen vieren herum –

die weiteren Stationen jenes Aufstiegs des

konvention angenommen. Als Vater dieser

erst dank Helfershelfer entwickelt er sein

Kleinkriminellen Arturo Ui zum Großkriminel-

Kinderrechte gilt der 1878 geborene polni-

Rednertalent so weit, dass er überhaupt an-

len – bis ganz an die Spitze der Macht. Eine

sche Kinderarzt, Pädagoge und Buchautor

dere zu manipulieren vermag. Bei Schling-

Revue mit Abgründen. Die Mittel dieser sub-

Janusz Korczak. Er ging in die Geschichte

mann ist die Medieninszenierung von Anfang

tilen Inszenierung, eine degenerierte Gesell-

ein, als er 1942 die Kinder seines Waisen-

an gesetzt. Der smarte Arturo Ui, den Cino

schaft transparent zu machen, sind mitunter

hauses vom Warschauer Getto in das Vernich-

Djavid wie einen Bewerber im Casting um

verblüffend einfach. Da gibt es Eimer mit

tungslager Treblinka begleitete und dort mit

„Deutschland sucht den Superstar“ präsen-

Kreide, auf denen steht in großen Buch­

ihnen ermordet wurde. Am Theater Junge

tiert, braucht das Reden nicht erst zu lernen –

staben „Angst“. Eine Handvoll Kreide im Ge-

­Generation (tjg) in Dresden begegnen wir sei-

er weiß genau, wie man auftreten muss, um

sicht, und die Figuren sind wie Tote gezeich-

ner bekanntesten Erzählung über den Kinder-

mehr zu scheinen, als man ist. Und dennoch

net. Das ist gewiss ein plakatives Mittel wie

könig Macius aus dem Jahr 1923.

hat er ein Geltungsproblem: „Ich bin jetzt

aus dem Zirkus, aber das stört nicht: Die

Zweifellos sind Kinder nicht nur schutz-

Mitte dreißig, Anfang vierzig, fast fünfzig und

Show, die hier gegeben wird, ist billig und

bedürftig, sondern dürfen auch in ihrer eman-

bin immer noch nichts.“ Er wartet auf seine

bleibt billig, gerade weil es ständig nur um

zipatorischen Entwicklung nicht gebrochen

Chance.

Geld und Macht geht.

werden. Aber können sie aufgrund ihrer Un-

Diese kommt, wenn saturierte Bürger

Der Bogen, den diese Art von Politthril-

verbrauchtheit als die „besseren Menschen“

wie der alte Dogsborough (Klaus Meininger)

ler mit immer gegenwärtig erscheinendem

gelten? Können sie den deformierten und

sich vom kriminellen Geld verführen lassen.

Gangsterkolorit schlägt, ist ein weiter. Von

korrumpierten Erwachsenen gar vormachen,

Als er sich vom Karfioltrust eine Reederei weit

New York mit seiner Prohibition bis nach Ber-

wie man besser regiert?

unter Preis vermitteln lässt, sitzt er in der

lin, wo sich ein billiger Politclown 1933 an

Exemplarisch verhandeln lassen sich

­Falle, und Dockdaisy mag gar nicht mehr auf-

die Macht gaunerte. Hindenburg wirkt dabei

solche Fragen, wenn tatsächlich ein Kind an

hören, es zu summen wie einen Schlager:

wie eine Art Dogsborough, denn auch der

die Macht kommt. So vielfach geschehen in

„Dogsborough hat Dreck am Stecken!“ Es ist

Reichspräsident hat Dreck am Stecken, seine

Dynastien – und auch in Korczaks „König

der Sündenfall der Politik, ihre Vermählung

Protektion der Großagrarier mittels öffent­

­Macius der Erste“. Als der König früh stirbt,


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muss sein neunjähriger Sohn Verantwortung übernehmen. Aber Hänschen, so die deutsche Namensbedeutung von Macius, ist eben noch ein Kind und möchte lieber spielen, als den Kommandos und Einflüsterungen des mächtigen Generals und der Minister folgen. Die drei Nachbarkönige nutzen die Situation aus und überziehen das Land mit Krieg. Aber Macius und seine Streiter schlagen sie zurück. Von da an beginnt der kleine König wirklich zu herrschen und startet eine Reformation von oben. Aus dem Versagen der Erwachsenen folgt eine Herrschaft der Kinder, aber eine demokratische mit einem Kinderparlament. Janusz Korczak verarbeitet hier seine Erfahrungen mit neuen Mitbestimmungsformen in seinen Waisenhäusern. „Reformen sind das schwierigste – mit großer Macht kommt große Verantwortung“, erkennt Macius. Die erahnten Probleme bleiben nicht aus. Das Land funktioniert nicht mehr, wieder

Klemm einen hervorragenden polnischen

gibt es Krieg, und diesmal verliert Macius. Er

­Regisseur verpflichtet. Studiert hat er an der

verliert auch seinen Freund und Berater Felek

Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“, an

sowie beinahe am Ende in der Gegenrevolte

deutschsprachigen Bühnen, in Jelenia Góra,

sein eigenes Leben. Dabei wollte er doch Kö-

Krakau und Israel gearbeitet. Von der ersten

nig aller Kinder der Welt werden! Das Gegen-

Minute an weist sein „Macius“ Anklänge

teil von „gut“ ist also „gut gemeint“?

Riot Kids – Wojtek Klemms Inszenierung von „König Macius der Erste“ lässt an die „Fridays for Future“-Demonstrationen denken. Foto Marco Prill / tjg

an polnische Klassiker des Absurden und

Dieses Unheil infolge der Kinderherrschaft

Es gibt kein Happy End, nicht einmal

Grotesken auf wie Witold Gombrowicz oder ­

wird zunächst auf der Bühne, dann ausgiebig

eine klare Moral, vielmehr werden diese Fra-

Sławomir Mrożek. Die Schüler im Saal goutieren

mit den jungen Zuschauern diskutiert. An

gen gemeinsam mit dem Publikum ab zehn

diese Überhöhungen, finden sich überdies

Stringenz geht dabei viel verloren. Wenn das

Jahren verhandelt. Unwillkürlich denkt man

in den eher nach Fitnesscenter aussehenden

befragte junge Publikum erwartungsgemäß

an die Äußerung von FDP-Chef Christian

Typen wieder, die sich als regierende Kinder

weniger Schule, längere Ferien und iPods für

Lindner im Zusammenhang mit den „Fridays

spaßeshalber eine Königskrone aufsetzen.

alle wünscht, lässt sich daraus nicht viel de-

for Future“-Demonstrationen, Klimaschutz sei

Hauptdarsteller Florian Thongsap Welsch

mokratische Mitverantwortung konstruieren.

etwas für Profis. Wann müssen Kinder zumin-

muss sich weder in gespielter Naivität noch in

Man solidarisiert sich natürlich mit Macius,

dest gehört werden? Hintergründig steht so-

vermeintlich zielgruppengerechter Flapsigkeit

als er abgeurteilt werden soll. Die lange klar

gar der Vergleich zwischen der Mühseligkeit

anbiedern, sondern überzeugt in seiner Ehr-

erscheinende Botschaft, dass auch Erwach-

einer breiten demokratischen Mitwirkung und

lichkeit. Ein faszinierendes Bühnenbild von

sene von Kindern lernen können, wird im letz-

autokratischen Systemen im Raum.

Michał Korchowiec beschäftigt permanent

ten Drittel ziemlich verwässert. Erst ein am

Bei diesen Erörterungen nach der Pause

das Auge: drei schwarze surreale dämonische

Ausgang ausliegender Fragezettel für das

zerfasert leider die Inszenierung, die im ers-

Kopfgestalten, die sich aus Kulissenwänden

Kinderbüro im Dresdner Rathaus führt zum

ten Teil so mitreißend beginnt. Das tjg hat mit

lösen und mit ihren vereinzelten Katzenaugen

Ausgangspunkt zurück. //

dem 1972 in Warschau geborenen Wojtek

eine unheilvolle Atmosphäre verbreiten.

Michael Bartsch

Künstlerhaus Mousonturm Mai 2019 „So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen – zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch »jenseits der Grenze« vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging.“ Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main


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FRANKFURT AM MAIN

fen sich noch stumme Gesten zu, bevor sie den sehr dicht schließenden Kopfhörer aufsetzten. Zu hören war jetzt nur der eigene

Präsenz zeigen

Atem (und womöglich Tinnitus), hier und da

Zeit, gelöst vom Chronometer, dehnt und staucht sich – „Anders hören“ von Marina Abramović in der Alten Oper Frankfurt. Foto Alte Oper Frankfurt/Norbert Miguletz

gedämpft ein Stolperschritt. Freundliche, schwarz gekleidete Helferinnen nahmen ei-

ALTE OPER FRANKFURT: „Anders hören“ von Marina Abramović

nen an die Hand, man konnte den Parcours

ten Teilnehmer machten sich beschwingt auf

aber auch allein durchlaufen. Er bestand aus

den Heimweg.

sieben Teilen: Stehen mit geschlossenen

Wer am nächsten Morgen zum zweiten

­Augen, extrem verlangsamtes Gehen, Durch-

Workshop kam, wurde eventuell enttäuscht:

Mit so abgenutzten Begriffen wie Achtsam-

tasten einer Dunkelzone, Entspannen auf

genau das Gleiche noch einmal! Die Enttäu-

keit und Entschleunigung würde man Marina

dem Feldbett, Fixieren von Rechtecken mit

schung verflog, denn der Ablauf war doch ein

Abramović nicht assoziieren, doch hat sie ihre

den drei Grundfarben, das von Abramović und

ganz anderer. Wer den Parcours schon kennt,

Methode „Anders hören“ in der Alten Oper in

ihrem Partner Ulay aus den späten 1980er

wandelt freier und selbständiger, noch ruhi-

Frankfurt am Main unter solche Überschrif-

Jahren bekannte Gegenübersitzen mit einer

ger, lässt manches aus, macht anderes inten-

ten gestellt. Die simple Idee: Wir verfolgen

fremden Person, Sortieren und Zählen eines

siver und länger – und wundert sich, wenn

Theater, Oper und die performativen Künste

Häufleins schwarzer Linsen und weißer Reis-

nach gefühlten anderthalb Stunden tatsäch-

nicht konzentriert, haben Kopf und vor allem

körner. Keine Gefahr also: Niemand wurde

lich wieder dreieinhalb vergangen sind. Diese

Körper nicht frei. Dagegen versammelten die

geritzt, keiner musste sich zwischen Nackten

kurzweilige Repetition eines sattsam bekann-

Performance-Künstlerin, die erst einmal nicht

hindurchschlängeln oder sonst etwas Pein­

ten Vorgangs ist die eigentliche „Sensation“:

präsent war, und ihre künstlerische Leiterin

liches tun.

Zeit, gelöst vom Chronometer, dehnt und

Lynsey Peisinger das Publikum über insge­

Wer den Blick weitete, nahm den leer

samt zwölf Stunden an drei Tagen zu zwei

geräumten Opernsaal als große Bühne für

Der dritte Teil hatte dann endlich mit

Workshops und einem Konzert.

eine Spontan-Performance von Leuten wahr,

Hören zu tun, eröffnet durch eine tibetische

Der erste Teil war ein Parcours durch

die sich weder kannten noch absprechen

Atemübung (U, O, A, Äi, M) durch Abramović

den Großen Saal, Smartphone und Uhr muss-

konnten: Ruhende, Peripatetiker, Dösende,

herself. An wechselnden Orten inmitten der

ten vorher abgegeben werden. Die Abramović-

Paare im Augen-Blick, hoch konzentrierte

Zuhörer boten virtuose Solisten wie Fazil Say

Methode, eher eine Aneinanderreihung wohl-

Sortierer, da und dort Beobachter wie Sta­

(Piano), Lingling Yu (Pipa), Hindol Deb

vertrauter Methoden der Körpererfahrung,

tuen. Es lief, wer das erwartet hatte, keine

­(Sitar), Carolin Widmann (Violine), Sean Shi-

begann mit Lockerungs- und Atemübungen

Aufführung außer der, die man selbst lieferte.

be (Gitarre) und das Aris Quartett kurze Mu-

der leger gekleideten Hundertschaft Normal-

Am Schluss – hatte das jetzt lang oder kurz

sikstücke dar. Doch der Saal war zu unruhig,

menschen. Dann galt es, drei Stunden kom-

gedauert? – führten die sanften Helferlein

das Programm zu beliebig, das Rein und

plett zu schweigen. Teilnehmende Paare war-

alle in der Bühnenmitte zusammen. Die meis-

Raus zum Buffet zu störend, als dass noch

staucht sich.


auftritt

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viel von den meditativen Vortagen übrig ge-

chen. Aber sie sind eben doch verschieden.

Einiges erscheint überscharf, anderes ver-

blieben wäre. Manche wanderten ab, die

Und das ist immer wieder auch eine schmerz-

schwimmt, einiges wird sogar ganz ausge-

meisten blieben bis zum begeisterten Schluss­

hafte Erfahrung.

blendet. Das ist eine Realität im Übergang, in

applaus. Mitnehmen konnte man jedenfalls

Eine Frau wird am verlassenen Provinz-

dem keiner weiß, wohin. Doch gibt es ein

Abramović’ Konzept der Präsenz. Zu viel an

bahnhof überfallen. Sie ruft laut um Hilfe. Ver-

neues radikales Bedürfnis nach Klarheit:

Vergangenheit und Zukunft denkend, schaf-

suchte der Marokkaner Munir Bounou sie zu

­Marie, die Journalistin, wehrt sich vehement

fen wir nicht, hic et nunc zu sein. Das be-

vergewaltigen? Man wird es nicht erfahren,

dagegen, einer wie Uli könnte sie „gerettet“

deutet weder Vergangenheitsvergessenheit

denn Uli, der Gleiswärter (Mario Gremlich), ist

haben. „Macht mich nicht zum Opfer!“,

noch Zukunftsblindheit, es will die Konzen­

der Frau zu Hilfe geeilt. Er schlägt so stark auf

schreit sie. Sie könne sich sehr gut selbst ver-

tration von Herz und Verstand auf das, was

den Angreifer ein, dass dieser stirbt. Ist Uli ein

teidigen, brauche keine selbsternannten Be-

Claus Leggewie

Held, der die Frau vor einer Vergewaltigung

schützer. Auch sie radikalisiert sich, scheint

rettete, oder hat er eher den Anlass gesucht,

nur noch auf ein Thema fixiert: zu beweisen,

mal an einem der ihm verhassten Araber all

dass Uli den Marokkaner aus Fremdenhass

seine Aggressionen auszulassen? Wollte er ihn

tötete. Sie schreibt darüber jetzt nicht mehr

am Ende gar töten? Die angegriffene Frau ist

nur für die Provinzpresse: „Das ist deine

Journalistin (Maria Steurich), sie geht der Sa-

überregionale Karrierechance!“, sagt ihr ein

che mit unheimlich wirkendem Eifer nach.

Journalistenkollege.

jetzt ansteht. //

GREIFSWALD/ STRALSUND Gefangen in der ideologischen Blase THEATER VORPOMMERN: „Weißer Raum“ von Lars Werner Regie Reinhard Göber Ausstattung Stefan Heyne

Werner breitet ein Figurenpanorama der

Regisseur Reinhard Göber hat den Text

ostdeutschen Provinz aus. Aufsteiger und Ab-

von Lars Werner, in dem ein großes Unbeha-

steiger, vom Aufschwung schlicht Vergessene,

gen gärt, als eine Art Sturm und Drang von

die mit ihrem Schicksal hadern, ohne dabei je

heute verstanden. Über die einzelnen Inhalte

ihre Selbstgerechtigkeit aufzugeben. Schuld

kann man streiten, unstrittig ist der Wille, die

haben an allem immer die anderen. Konfronta-

Decke der Lügen, die über allem liegt, end-

tion, Militanz, das ewige Entweder-oder be-

lich fortzureißen.

stimmen hier die Szenerie. Was wächst da?

Zum Personal des „Weißen Raums“

Nichts Gutes. Kein Wunder, dass den Autor die

gehört auch Patrick (stark im Ungeschliffe-

Frage umtreibt: „Für wen arbeitest du?“ Das

nen: Tobias Bode), der Sohn von Uli, dem

scheint mehr eine Unterstellung als eine Fra-

Gleiswärter. Patrick ist ein verurteilter Neona-

Die Bühne von Stefan Heyne liegt da wie eine

ge, auf die noch in der DDR Sozialisierte aller-

zi, auch er rebelliert auf seine Weise gegen

Eiswüste, in der sich Schollen aufeinanderge-

gisch reagieren – steht denn immer einer hin-

die herrschende Verlogenheit. Die einzige

schoben haben: ganz weiß. Unbefleckt? Nein,

ter mir, der mich lenkt, glaubt denn keiner,

Sprache, die Wirkung zeigt, ist für ihn die

eher tödlich, so wie in Georg Trakls „Psalm“,

dass ich mich durchaus selbst lenken kann?

­Gewalt. Aus dem Gefängnis heraus plant er Aktionen, lässt seinen Vater Uli an seiner

wo es heißt: „Es ist ein Raum, den sie mit

Doch die Generation der heute Dreißig-

Milch getüncht haben.“ Autoreifen, ein ver-

jährigen hat andere prägende Erfahrungen

gessener Weihnachtsbaum, Büroreste und

gemacht, solche wie den NSU-Prozess, wo

Es gibt in diesem Stück Handlungs-

eine Art Hochsitz: alles erscheint wie in einen

keiner der ist, der zu sein er vorgibt. „Weißer

stränge und Motive, die sehr konstruiert

weißen Schutzanzug gesteckt. Die Szenerie

Raum“ hat darum auch mit den weißen Fle-

­wirken und auch nicht immer überzeugend

wirkt aber nicht nur sehr kalt, sondern auch

cken in unserer Selbstwahrnehmung zu tun.

verknüpft sind. Etwa wenn eine Bewährungs-

sehr gefährlich. Weiß, das ist die Farbe des Todes oder, wie der Autor Lars Werner (geboren 1988) sagt, der offenbar an Grafikdesign denkt: „Zwischen zwei geschriebenen Zeilen ergibt sich durch den Weißraum eine optische Grenze.“ Werner hat mit seinem Stück, für das er 2018 den Kleist-Förderpreis erhielt, ein Experiment unternommen. Er untersucht die unsichtbaren Grenzen, die uns trennen, nicht mehr nur Ost und West oder Junge und Alte, auch jene, die sich äußerlich gesehen glei-

Nicht nur kalt, sondern auch gefährlich – Die Szenerie in Lars Werners „Weißer Raum“ (hier mit Tobias Bode und Saskia von Winterfeld). Foto Vincent Leifer

Stelle Reden halten, die er ihm schreibt.

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helferin Patrick zugleich erpresserische Angebote eines Geheimdienstes offeriert oder eine Pfarrerin am Grab von Munir Bounou ihre Sympathie für Ulis verquast-nationalistische Rhetorik zeigt (in beiden Rollen: Susanne Kreckel). Da schwingt dann selbst Verschwörungstheorie mit. Überzeugend an diesem intensiv gespielten Abend aber ist die Botschaft, den in sich eingesponnenen Selbstbildern aller hier Beteiligten nicht zu glauben. Alle scheinen hier etwas, was sie nicht sind. Alle zeigen immer nur auf andere. Keiner existiert jenseits der ideologischen Blase: Die Entfremdung, so der Befund, beschädigt alle. // Gunnar Decker

HAMBURG Tierischer Überlebensmodus vorstellungen unter Extrembedingungen auf-

SCHAUSPIELHAUS HAMBURG: „Die Stadt der Blinden” nach dem Roman von José Saramago in einer Fassung von Kay Voges, Bastian Lomsché und Matthias Seier Regie Kay Voges Bühne Pia Maria Mackert Kostüme Mona Ulrich

geben, um zu überleben. Der Autor lässt in einer namenlosen

Multimediales Irrenhaus – Kay Voges Version von José Saramagos „Die Stadt der Blinden“. Foto Marcel Urlaub

Großstadt Menschen an einer mysteriösen, milchig-weißen Blindheit erkranken, dem „weißen Übel”, das scheinbar ansteckend

sche und andere Hilfe von außen, versorgt mit

ist. Da immer mehr Menschen erkranken, für

spärlichen Essens­rationen und trotz Ordnungs-

Panik und Chaos sorgen, stellt die Regierung

ambitionen ist die Vermüllung und hygie­nische

diese unter Quarantäne, zum Beispiel in einer

Degenera­tion nicht aufzuhalten. Meirelles’ Film

leer stehenden Irrenanstalt, streng bewacht

zeigt die Verwahrlosung in krassen Bildern,

von Soldaten, isoliert, sich selbst überlas-

Voges bringt das mit seinem Ensemble in ­

So viel Werktreue auf deutschen Bühnen ist

sen. ­ Diese Vorgeschichte lässt Kay Voges

­schonungslosem Filmrealismus auf die Bühne:

selten. Das klingt erst einmal überraschend,

sehr ­effizient in einem schnell geschnittenen

die kotverschmierten Wände, Kleider und Ge-

wenn es um die Adaption eines Romans für die

­Video-Einspieler mit Nachrichtenschnipseln

sichter, die ungewaschenen nackten Körper,

Bühne geht, auch wenn dieser Roman sich zu-

abzurren, um nun mit den 21 Darstellern in

infizierten Wunden, den Kampf um Lebens­

gleich als Essay, als Versuchsanordnung und

die eigentliche Geschichte der Entmensch­

mittel, die Vereinzelung von Menschen, die aus

philosophische Erzählung versteht, also eine

lichung einzusteigen. Von der Seitenbühne

der gegenseitigen Wahrnehmung herausfallen,

reflexive und hypothetische Anlage wie einen

her ziehen, unsicher ihren Weg suchend, die

umherirren und irre werden. Und zwar in Nah-

Regietheateransatz in seinem Textkorpus birgt.

ersten Erblindeten in das zweistöckige, viel-

aufnahme. Denn wie oft bei Voges folgt eine

Wie Werktreue in Zeiten filmischer Mit-

leicht um 1900 erbaute Irrenhaus ein, das

Live-Kamera den Schauspielern, durch die

tel auf der Bühne, mit Bezügen auf den Film-

Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert hinter

Gänge und Zimmer, werden die Bilder auf Pro-

kanon aussehen kann, das ist in Kay Voges’

einem hohen Absperrzaun zentral auf die

jektionswände übertragen.

Inszenierung von „Die Stadt der Blinden”

Drehbühne gesetzt hat. Saramago interes-

Sandra Gerling als sehende Ehefrau ist

nach dem Roman von José Saramago am

siert nicht der zoologische Blick auf diese

die „unsichtbar” helfende Hand. Allein mit

Hamburger Schauspielhaus zu sehen: Sie

hilflos umher­ tapernde Gemeinschaft. Er

den Bildern des Elends, ist sie die letzte Zeu-

sieht in großen Teilen so aus wie Fernando

schleust die nichterkrankte Ehefrau eines

gin, sieht die zunehmende Verrohung, das tie-

Meirelles’ Verfilmung von 2008. Nur dass das

erblindeten Arztes ein, als einzig Sehende

rische Not-Programm des bedrängten Men-

leider nicht im Programmheft steht.

unter den Blinden. Sie wird stellvertretend

schen, der im Überlebensmodus auch wieder

Saramagos dystopischer Roman ist

zur Zeugin einer fortschreitenden Eskalation

das Recht des Stärkeren durchsetzt, mit Ge-

eine Allegorie auf den modernen Menschen,

unter den Internierten, die mit der Sehkraft

walt. Ähnlich wie Julianne Moore im Film läuft

führt vor, wie dünn der Firnis der Zivilisation

auch die Kontrolle über die einfachsten All-

sie stoisch durch die Szenerie, wischt die

ist, wie schnell wir unsere Wert- oder Moral-

tagsverrichtungen verlieren. Ohne medizini-

Scheiße vom Boden, sieht sich schon bald als


auftritt

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Marienerscheinung im Spiegel, teilt das Leid, indem sie sich wie die anderen Frauen für Es-

PLAUEN-ZWICKAU

sensrationen vergewaltigen lässt, über die eine Gruppe von Blinden Kontrolle erlangt hat. Bis sie es doch nicht mehr erträgt und einen Mord vielleicht im Namen der Mensch-

maturgisch absolut stimmige und gut gebaute Inszenierung – nicht zuletzt, weil das Ensemble schauspielerisch viel leistet, wie auch die Video-Crew. Doch erst als die ganze Welt erblindet ist, also auch die bewachenden Sol-

unten etwas mehr an – und staatliche Abfederung mildern zwar heute Elendsfolgen. Aber

Weichgezeichneter Brecht

Ausbeutungsmechanismen erkennen offenbar auch heutige Jugendliche wieder. Der Plauen-Zwickauer Intendant Roland May kann solche Parabeln plausibel erzählen.

lichkeit oder der Rache begeht. Voges gelingt eine ästhetisch und dra-

ganz oben viel mehr haben, kommt auch ganz

THEATER PLAUEN-ZWICKAU: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht Regie Roland May Bühne Oliver Kostecka Kostüme Thurid Goertz

daten, und die Insassen „frei” durch das Cha-

Er hat bei Heiner Müller gelernt und den Grundwiderspruch des Kapitalismus als Schulstoff verinnerlicht. Seiner Johanna-Version muss man erst einmal ihre Durchschaubarkeit und Verständlichkeit zugutehalten. Denn Systemerkenntnis könnte auch durch das Bemühen gefährdet werden, die komplexen Wirtschafts-

os der Stadt ziehen, findet Voges eine eigene

handlungen um den Fleischkrieg zu Chicago

Bildsprache, die die Verfilmung hinter sich

„Ist das eigentlich Schulstoff?“, fragen sich

möglichst detailgenau zu veranschaulichen. Die

lässt. Vor einer grell aufleuchtenden und ins

Besucher des Plauener Theaters beim ange-

Tricks muss man nicht im Einzelnen verstehen,

Dunkel zurückfallenden Lichtwand arrangiert

regten Gespräch nach der Vorstellung. Die

um auch in Plauen die Moral mitzunehmen,

er seine Darsteller zu fast scherenschnittarti-

angesprochene Zielgruppe der Heranwach-

dass die Besitzenden immer oben bleiben und

gen Tableaus, die wie Nachbilder auf der

senden ist jedenfalls auffallend zahlreich ver-

die Habenichtse stets verlieren.

Netzhaut hängenbleiben. Die Sehende wird

treten und applaudiert mit dem heute übli-

Zur Entstehungszeit des Großwerkes

zur Erzählerin der Katastrophe. Und sie sieht:

chen Begeisterungskreischen. Es ist nun

während der 1929 beginnenden Depression

„Der Himmel ist ein undurchdringliches, grel-

einmal der unnachahmliche Brecht, der kapi-

waren die Verhältnisse auch noch durchschau-

les Weiß. ” Man könnte auch sagen: leer. Sara-

talistische

exemplarisch

barer zu personalisieren. Heute verwirrt die

mago schrieb eine Dystopie auf Probe. Am

und lebenswirklich auf die Bühne gebracht

Zwitterstellung des Shareholders eindeutige

Ende können alle wieder sehen, was aber nicht

hat wie hier in der „Heiligen Johanna der

Frontstellungen. Mauler ist noch der personifi-

Anja Nioduschewski

Schlachthöfe“. Der „Sickereffekt“ – wenn die

zierte Großkapitalist, der „Fleischkönig“, und

heißt „erkennen”. //

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Funktionsmuster

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gerät zu einer absurden Sozialpartnerparty, erst ein Pas de deux zwischen Mauler und der ­Heldin, schließlich ein Danse macabre. Schulstoff, ja, und am Ende kam das Kulinarische auch nicht zu kurz. //

Michael Bartsch

ROTTWEIL Ein Kontinent ohne Seele ZIMMERTHEATER ROTTWEIL: „Raub der Europa“ von Peter Staatsmann Regie und Bühne Peter Staatsmann Kostüme Bettina Schültke

Es beginnt immer wieder von vorn – weil die Besitzer der Produktionsmittel über­ leben: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ in der Regie von Roland May. Foto Sermon Fortapelsson

die materielle Abhängigkeit an. Aber die Mittel

Der Traum von einem vereinten Kontinent zer-

des epischen Theaters, die eine Gegenüber-

bröselt den Menschen in den Händen. Peter

stellung der eiskalten, sterilen, entfremdeten

Staatsmann, der Intendant des Zimmertheaters

Welt des großen Geldes und des Versuchs der

Rottweil, spürt in seiner Stückentwicklung

Verteidigung mitmenschlicher Wärme angebo-

„Raub der Europa“ den Widersprüchen die-

ten hätten, nutzt May nur selten.

ses fragilen politischen Konstrukts nach. Dazu

mit seinen ausgetricksten Konkurrenten Crid-

Von der verbalen Drastik Brechts geht

nimmt der Regisseur zwei Alt-68er in den

le und Lennox empfindet man auch wenig

so einige Schärfe verloren. Theo Plakoudakis

Blick, die beim Marsch durch die Marktwirt-

Mitleid. Er beherrscht das Spiel mit der Mani-

als Fleischkönig Mauler ist doch eigentlich

schaft ihre Menschlichkeit auf der Strecke

pulation von Angebot und Nachfrage ebenso

ein akzeptabler Kumpel, neudeutsch Sozial-

gelassen haben. Virtuos spielt er mit dem My-

wie das geschickte Ausdeuten der auf Psy-

partner. Makler Slift ist hier eine Maklerin,

thos vom Raub der Europa durch Zeus. In

chologie und Informationsvorsprüngen basie-

aber einen gefährlichen Zynismus strahlt

Gestalt eines Stiers entführte der olympische

renden Börsenkurse. Das führt nicht nur bei

Else Hennig nicht aus. Auch Johanna wirkt

Gott die phönizische Königstochter. Die His-

Brecht, sondern eben auch in der Wirklichkeit

in ihrem Vermittlungsversuch zwischen Oben

torikerin Annette Kuhn hatte vor Jahren die

bis heute immer wieder zu den von Marx ana-

und U ­ nten, mit ihrem Appell an eine über

patriarchalische Überlieferung des Ovid aus

lysierten zyklischen Krisen. Und es beginnt

den dominierenden Wirtschaftsgesetzen ste-

feministischer Sicht neu interpretiert. Diese

regelmäßig von vorn, weil die Besitzer der

hende Humanität meist harmlos. Anna Strie-

Befreiung aber bleibt den Frauen in der viel-

Produktionsmittel überleben.

sow gilt als großes Talent. Aber sie bleibt lan-

schichtigen Regiearbeit versagt.

Es empfiehlt sich, vor der Vorstellung

ge das Naivchen, die stürmische Gärung, die

diesen Basiskurs Finanzökonomie im Plauener

zu den sehr unvermittelt deklamierten großen

Programmheft zu lesen. Dann wird der Kon­

Welteinsichten führt, ist ihr kaum anzumerken.

trast zwischen knallhartem Ökonomismus und

Ihre starken Momente und die der ge-

dem subjektiv-humanen Faktor in Gestalt

samten Inszenierung kommen mit der Zuspit-

Johanna Darks deutlicher. Den versucht ­

zung nach der Pause, mit dem Abrutschen in

­Roland May zwar mithilfe des Bühnenbildes

Elend und Krankheit. Bis dahin geht es eher

von Oliver Kostecka herauszuarbeiten: eine

authentisch und nett und gar nicht stilisiert,

Matrix von vier Garagentoren, zwei oben, zwei

verfremdet oder gar didaktisch zu. Die Vertreter

unten. Im geschlossenen Zustand dienen sie

der Unterschicht wirken ohne Überzeichnung

zugleich als Videoprojektionsfläche. Geöffnet

am überzeugendsten. Mit der Verwendung von

zeigen sie oben eine Art Kommunikations­

Dampfhandys der ersten Generation und einer

zentrale und ein Appartement, wo die strategi-

Schaltzentrale wie aus der ersten „Raum­

schen Unternehmensentscheidungen fallen.

patrouille“ gelingt ein Brückenschlag in die

Unten das Milieu der Proletarier, eine Armen-

Gegenwart auch nur ansatzweise. Die Steige-

küche, das Quartier der Heilsarmee. Bei Brecht

rung hin zu der von Schiller entlehnten Apothe-

heißen deren Mitglieder „Schwarze Strohhüte“

ose bringt dann aber doch das lange vermisste

und bieten auch Placebo-Trösterchen gegen

starke Brecht-Gefühl. Johannas Heiligsprechung


auftritt

/ TdZ  Mai 2019  /

Auf einen faszinierenden Spagat lässt sich

Deutschlands bietet. Diese Ebenen denkt

Spieler und Publikum überfordert, ist ihm ein

Staatsmann mit dem zweieinhalbstündigen

Staatsmann in seinem komplexen Text mit,

starker Abend gelungen, der gesellschaftliche

Theaterabend ein. Der skrupellose Manager

den der Autor in der kleinen Zimmertheater-

Diskurse meisterhaft im Privaten spiegelt. //

Richard, von Peter Raffalt knallhart karikiert,

Bühne über der Stadtbücherei eingerichtet

ermöglicht seiner Frau ein Luxusleben. Zwi-

hat. Dass Kunst und Kultur in der aufstreben-

schen Bildbänden und Gemälden sucht das

den Stadt keinen leichten Stand haben, ist

Wohlstandsweib Marie verzweifelt nach ei-

zwischen den Zeilen zu lesen. „Ohne Kultur

nem Lebenssinn. Tizians „Raub der Europa“

gibt es keine Gesellschaft, ohne Kunst keine

hängt als Kunststück an der Wand. Petra Wei-

Seele.“ Da zitiert Staatsmann die Kommunal-

mer verkörpert die Leere der Unternehmersgat-

politikerin Heide Friedrichs, die um die Kultur­

tin mit all ihren dunklen Konsequenzen. Betti-

einrichtungen in der Stadt kämpft.

Elisabeth Maier

ST. PÖLTEN Die Puppen sind los

na Schültkes Kostüme zeigen den sozialen

Seine Dialoge sind klug gestrickt.

Kontext klar und doch schlicht. Staatsmanns

Zwi­ ­ schen schwere Passagen, die sich mit

Bühne ist ein Wohnzimmer, das Bildungs­

internationaler ­

bürgerlichkeit und Wohlstand spiegelt. Hier

­mischen sich die nicht immer ganz ernst zu

machen die Alten ihre Kinder, die von einer

nehmenden Beziehungskisten der vier Akteu-

besseren Welt träumen, zu willenlosen Mario-

re. Dabei verlieren die Schauspieler bisweilen

netten. Tochter Anna (Margarita Wiesner) ist

die Fallhöhe ihrer Figuren aus den Augen, die

Grundschullehrerin und will die Welt retten.

der Regisseur und Autor stark herausgearbei-

Mit ihrem Freund Ludwig (David Gundlach),

tet hat. Dass die Freiheit Europas nur mit

einem schwulen Schauspieler, soll sie beim

­freien Frauen möglich ist, wie es die feminis-

Firmenevent ihres Vaters R ­ ichard reden. Die

tische Lesart des „Raubs der Europa“ nahe

In keinem Stück von Elfriede Jelinek ist das

Schauspieler zeigen ihre zwei Gutmenschen

legt, kommt da zu kurz. Die Vergewaltigung

Autorinnen-Ich so präsent wie in „Am Königs-

mit Witz.

der Tochter durch den Stiefvater täuschen

weg“. Noch nie hat die Dramatikerin den

Politik

auseinandersetzen,

LANDESTHEATER NIEDERÖSTERREICH: „Am Königsweg“ von Elfriede Jelinek Regie Nikolaus Habjan Bühne Jakob Brossmann Kostüme Cedric Mpaka

Rasant bewegt sich Staatsmanns Text

Raffalt und Wiesner allzu flüchtig an. Auch

mutmaßlich verlorenen Posten ihrer gesell-

von der antiken Mythologie in die globale

Petra Weimer geizt mit der Verzweiflung ihrer

schaftskritischen Dichtkunst so ausgeleuch-

Wirtschaft und in die Rottweiler Kommunal-

Marie, die für die Ehe ihren Beruf und die

tet und offensiv thematisiert. Seit geraumer

politik. Baden-Württembergs älteste Stadt

Ideale geopfert hat. David Gundlach als jun-

Zeit reflektiert Jelinek ihre „alte Leier“ (mit

befindet sich im Spannungsfeld zwischen

ger Schauspieler Ludwig säuft sich geradezu

der sie ihr jüngstes Stück „Schnee Weiß“ so-

Tradition und Technologie. Hinter dem Heilig-

in die Hoffnungslosigkeit hinein.

gar untertitelt hat) in den Texten mit. Das ist

Kreuz-Münster ragt der Aufzug-Testturm des

„Raub der Europa“ ist Teil zwei einer

schon mal ein Grund, sie, die Autorin, „leib-

Weltkonzerns Thyssen empor, der auf 232

Trilogie, in der Peter Staatsmann die aktuel-

haftig“ auf die Bühne zu bringen. In der Ur-

Metern

len Krisen der Gesellschaft untersucht. Mit

aufführungsinszenierung von Falk Richter am

„Wenn der Kahn nach links kippt, setze ich

Deutschen Schauspielhaus Hamburg über-

mich nach rechts“ zum Thema Rechtspopu-

nahm Ilse Ritter voller Grandezza diese sich

lismus hatte der Theatermann in der vergan-

selbstbefragende Jelinek-Rolle. Am Landes-

genen Spielzeit seine Studien begonnen.

theater Niederösterreich, das auf Wunsch der

Auch wenn die Komplexität der Neuauflage

Autorin nun die Österreich-Premiere des

die

höchste

Aussichtsplattform

Von was ist die Rede, wenn von Freiheit die Rede ist? – „Raub der Europa“ von Peter Staatsmann. Foto Roland Zimmerer

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auftritt

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Ich, ich und nochmal ich – Nikolaus Habjan entwarf für „Am Königsweg“ von Elfriede Jelinek eine Horde Klappmaulpuppen, darunter in dreifacher Ausführung die Autorin selbst. Foto Alexi Pelekanos

leichtgewichtig. Die Absicht, den unendlich langen Redeschwall zu ordnen und zu verkürzen, ist verständlich und in gewisser Weise auch notwendig – wie vielfach bewiesen. Der Versuch der Bändigung in eine übersichtliche Erzählung an schlüssigem Schauplatz scheint mit Jelineks Schreiben samt seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit aber wenig kompatibel zu sein. In Nikolaus Habjans Fassung und Inszenierung gewinnt die Figur Trumps an seiner präsidialen Wirkungsstätte durchaus Moment. Damit lässt sich ein Teil von Jelineks Text gut erzählen. Es dreht aber den Fokus weg von einer Welt, von der wir wissen wollen, warum sie so gleichgültig nach billigen Erlösern schreit, hin zur Erlöserfigur selbst, die keine ist. // Margarete Affenzeller

Stücks ausrichtete, geht Nikolaus Habjan

Piggy, Gonzo und natürlich Waldorf und Stat-

mit Puppen ans Werk.

ler sowie eine Donald-Trump-Babypuppe, die

Tatsächlich erbat sich Jelinek in einer

TÜBINGEN

im Verlauf des Abends übel zugerichtet wird.

Gefangen in der Filterblase

der wenigen Regieanweisungen Figuren aus

Jelineks Text entspringt jenem Schock-

der Muppet Show. Daran knüpfte Regisseur

moment, ab dem über Nacht der US-amerika-

Habjan an und entwarf eine kleine Horde

nische Präsident Donald Trump hieß. Die

­seiner gespenstischen Klappmaulpuppen, da-

­Autorin umkreist eine Zeit, die faschistoide

runter in dreifacher Ausführung auch die

Züge zeigt und die wieder einmal keiner vor-

­Autorin mit roten langen Haaren. Figürliche

ausgesehen geschweige denn verhindert hat.

Kopien Jelineks (meist waren es Zopf-Dou­

Die Kraft von „Am Königsweg“ geht aller-

bles) haben schon in einigen Inszenierungen

dings zu einem nicht geringen Teil davon aus,

für Furore gesorgt. In der Konfrontation der

dass Trump als konkrete politische Figur ein

literarischen Schöpferin mit ihrem eigenen

ferner Bezugspunkt und ungenannt bleibt.

Stimmengewirr liegt nun einmal Spannung.

Nicht jetzt den Mann noch auf die Bühne

In den Tassen dampft Kaffee, der zu wässrig

Die Jelinek-Puppe ermöglicht Habjan aber

stellen! Jelinek wälzt sich in ihrem Text viel-

geraten ist. Dazu bedienen sich die Zuschau-

auch die Abbildung eines signifikanten

mehr durch das politische Paradigma der

er aus der Keksdose. Als der Schauspieler

Gedankens: Alle Agierenden sind „blinde ­

Ego-Shooter und deren Fans beziehungsweise

Jürgen Herold auf der Studiobühne des Tü-

­Seher“, die Autorin inklusive, ihr (der Puppe)

Wähler, das Menschenverachtung in Kauf

binger Landestheaters mit seiner Versuchsan-

werden die Augen gleich zu Beginn splatter-

nimmt, chauvinistisch und jederzeit gewalt-

ordnung beginnt, fühlen sich die meisten

haft herausoperiert.

bereit agiert.

wohl. „Bestätigung“, die Schocktherapie des

LANDESTHEATER TÜBINGEN: „Bestätigung“ von Chris Thorpe Regie und Ausstattung Thorsten Weckherlin

Aber: Der Puppenkosmos, der sich in

Die Engführung auf ein blondes Trump-

Autors und Performers Chris Thorpe aus der

und rund um ein mittig sich drehendes Oval

Püppchen wie hier in St. Pölten, auf eine von

Arbeiterstadt Manchester in England, wird

Office (Bühne Jakob Brossmann) ausbreitet,

den Muppets (der Unterhaltungsindustrie) gie-

die traute Atmosphäre stören. Am Schreib-

bremst das Textungetüm und seine wilden

rig verschluckte und verdaute Politik, nimmt

tisch mit Laptop mitten im Raum startet Jür-

Pfade aus: Die Puppen und ihre in gewisser

dem Text einen Gutteil seiner Schlagkraft. Be-

gen Herold in Thorsten Weckherlins Inszenie-

Weise sensationelle Daseinsform auf der Büh-

sonders deutlich wird dies in jenem Moment,

rung sein psychologisches Experiment. Die

ne entschärfen die Erzählung. Neben Fanta-

wenn Jelinek mit Trump auf einer Couch lan-

Bühne ist ein leeres Labor.

siefiguren treten auf – geführt von den En-

det, als wären sie zwei Kontrahenten.

Unvermittelt fällt Herold aus der Gast-

sembleschauspielern, die ihrerseits auch als

Nicht die Reduktion des Textes von 93

geberrolle, wenn er erläutert, was „Bestäti-

blinde Seher unterwegs sind: Kermit, Miss

auf 47 Seiten macht hier den Abend seltsam

gungsfehler“ sind, um die es im Stück geht.


auftritt

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Das ist nach den Worten des Autors Thorpe „die Neigung, jede Information so zu interpretieren, dass sie ins eigene Weltbild passt“. Der britische Performer hat den Text gemeinsam mit der amerikanischen Regisseurin Rachel Chavkin entwickelt, die ihn am 4. August 2014 an der Northern Stage at King’s Hall in Edinburgh zur Uraufführung brachte. Protagonist ist ein linker Gutmensch, der die Weltsicht eines Rechtsradikalen verstehen will. Katharina Schmitts deutsche Übersetzung ist in Theater der Zeit 2/2016 abgedruckt. Seinen unverfänglichen Plauderton lässt Herold in latente Aggression kippen. Dabei bewahrt er ironische Distanz. Klug kitzelt LTTIntendant Weckherlin die Selbstherrlichkeit des Menschen heraus, der einen Rechts­ radikalen und Holocaust-Leugner mit seinem Weltbild in Einklang zu bringen versucht. Wie ein Liebender strebt er an, mit den Augen des anderen zu sehen. Doch der vermeint­ liche Austausch ist zum Scheitern verdammt.

weißen Hautfarbe gedemütigt hätten. Diese

Schnell durchschaut er die Verkaufsstrategie

Erfahrungen verarbeitete er 1981 im Song

des Rassisten Glen. „Ich bin hergekommen,

„Guilty of Being White“. Das Lied, das

um über Politik zu sprechen, und ich werde

sich gegen Rassismus richten sollte, wurde

mit einer scheiß Heizdecke abziehen.“

­Jahrzehnte später von Rechtsradikalen auf-

Thorpe konfrontiert das Publikum mit

Ein linker Gutmensch, der die Weltsicht eines Rechtsradikalen verstehen will – Jürgen Herold in Chris Thorpes „Bestätigung“. Foto Martin Sigmund

gegriffen.

Argumenten der Rechten, wie sie durch die

Regisseur Weckherlin interessiert das

sozialen Medien geistern. Manchmal er-

freundliche Lächeln der rechtsradikalen Ver-

scheinen diese erschreckend schlüssig. Weil

führer. Bei Kaffee und Keksen lullt denn auch

„Bestätigung“ von Chris Thorpe quält

die Linken in ihrer Filterblase gefangen blei-

Jürgen Herold das Publikum mit deren The-

das Publikum mit dem Weltbild der Rechts­

ben, sind sie ohnmächtig angesichts solcher

sen ein. Das klingt in seinem sachlichen Vor-

radikalen. Längst geistern deren Argumente

Bedrohung. Oft bemerken sie die Manipula-

trag sogar plausibel, manchmal jedenfalls.

durch die politische Mitte. Jürgen Herold

tion nicht mehr. Das Streiten haben sie ver-

Dann schlägt der Ton um. Es bleibt nicht al-

bremst Emotionen, ringt um Sachlichkeit.

lernt. So zieht sich durch die europäischen

lein bei dem Versuch, die islamophoben Ar-

Der Schauspieler porträtiert seinen Linken

Gesellschaften ein Riss, der gefährlichen

gumente des norwegischen Massenmörders

mit lustvoller Selbstironie. Weckherlins Regie

Populisten den Weg bahnt. Vor allem dann,

und Rechtsterroristen Anders Breivik nachzu-

konzentriert sich auf die Reflexion des Man-

wenn sie nicht mehr als solche zu erkennen

vollziehen. Schließlich steht auch der Holo-

nes, dessen politische Haltung verwässert. Zu

sind. Wie schwer es ist, Grenzen zu ziehen,

caust zur Debatte. Haben die Nationalsozia-

kurz kommen in diesem fesselnden intellek-

zeigt das Beispiel des amerikanischen Punk-

listen in Auschwitz ein Schwimmbad für die

tuellen Gedankenspiel die Wut und die Hilflo-

Rockers Ian MacKaye. Als 18-Jähriger sei er

Juden gebaut? Haben sie tatsächlich sechs

sigkeit einer jungen Generation, die der briti-

in der Highschool von schwarzen Mitschü-

Millionen kaltblütig ermordet, oder waren es

sche Autor in seiner kraftvollen Sprache zum

lern gemobbt worden, die ihn wegen seiner

nur vier Millionen? Der Zynismus solcher Fra-

Ausdruck bringt. //

Die Hauptstadt Schauspiel nach Robert Menasse Regie Mark Zurmühle

Ab 17.05.19

gen ist kaum auszuhalten. Was dann bleibt, ist Sprachlosigkeit.

Elisabeth Maier

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magazin

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Kolyma in Miniatur Das Lager auf die Bühne bringen – Zu Warlam Schalamows Stück „Anna Iwanowna“ Das Lager erzählen. Das ist die Prämisse für das Schreiben von Warlam Schalamow. Der russische Schriftsteller (1907–1982) musste das GULag-System während mehrerer erzwungener Aufenthalte in den zwanziger, dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren am eigenen Leib erfahren. Dabei war er nicht der antikommunistische Dissident, als den der Westen sich ihn gewünscht hatte. Schon gar nicht sehnte er Russland – wie der Literaturnobelpreisträger und gänzlich andere Chronist des Lagers, Alexander Solschenizyn –

setzte er zahlreiche literarische Texte aus Thomas Reschke, 1932 in Danzig geboren, absolvierte an der Berliner Humboldt-­ Universität ein Studium der Slawistik. Von 1955 bis 1990 war er Redakteur und Lektor der DDR-Verlage Kultur und Fort­ schritt und Volk und Welt. Seit 1956 ist er als Übersetzer aus dem Russischen tätig. Thomas Reschke wurde für seine Über­ ­ setzungen vielfach ausgezeichnet, unter anderem wurde ihm 2000 das Bundes­ verdienstkreuz verliehen.

dem Russischen ins Deutsche. In den letzten Dekaden hat Reschke, Jahrgang 1932, sich übersetzerisch vor allem den schwierigen ­Kapiteln sowjetischer Geschichte gewidmet: Verbannung, Lagerhaft, Repression. Und viel hat der Kulturmittler auch für das Theater ­getan: Gogol und Gorki, Pristawkin und die Brüder Presnjakow hat er unter anderem übertragen. Seine Übersetzungen waren die Grundlage für Frank Castorfs Spielfassungen nach Texten von Michail Bulgakow.

­zurück ins Zarenreich. Er gehörte zur linken

Noch im Erscheinungsjahr von „Schock­

Opposition in der Sowjetunion, die in den

therapie. Kolyma-Geschichten“ gab der neu

Jahren Stalin’scher Herrschaft erbarmungslos

scher und französischer Übersetzung war sei-

formierte Bühnenvertrieb henschel SCHAU-

verfolgt wurde. Nach kleineren publizisti-

ne Prosa ohnehin zu lesen.

SPIEL den Übersetzungsauftrag für Schala-

schen Arbeiten in den dreißiger Jahren wid-

Ein weitaus breiterer Leserkreis und

mows Drama „Anna Iwanowna“ an Reschke.

mete er sich seit Beginn der Chruschtschow-

eine angemessene wissenschaftliche Rezep­

Wenn auch nicht gänzlich erschlossen, so war

Ära einer Aufgabe, für die er bereits in seiner

tion entwickelten sich – in Russland wie im

doch zumindest bekannt, dass Schalamows

Haftzeit mit seinen „Kolymaer Heften“ den

deutschsprachigen Raum – aber doch erst

Œuvre journalistische und essayistische Ar-

Grundstein gelegt hatte: Er wollte das Lager

mit dem Zerfall der Sowjetunion. 1990 er-

beiten, Kurz- und Langprosa wie auch Ge-

erzählen und hat dafür eine große Literatur

schien im Verlag Volk und Welt ein Prosaband

dichte beinhaltet. Das Stück allerdings ist

geschaffen, die Worte für die Unmenschlich-

mit dem bezeichnenden Titel „Schockthera-

eine Überraschung: Das Werk, das dem Koly-

keit sucht.

pie. Kolyma-Geschichten“. Das Kolymagebiet

ma-Kosmos entstammt, wird auch in Russ-

Für dieses Thema eine Öffentlichkeit

ist jene Gegend im Osten Sibiriens, in der

land kaum gespielt. In Deutschland steht die

zu finden in dem Staat, der doch angetreten

eine Reihe von Arbeitslagern errichtet wurde;

Erstaufführung noch aus; das Stück ist, dem

war, mehr Menschlichkeit hervorzubringen,

Schock ist die Erfahrung der Häftlinge ange-

zunehmenden Interesse an dem Autor zum

war freilich schwer. Wenn auch der Mythos,

sichts von unmenschlicher Arbeit, enormer

Trotz, nahezu unbekannt.

es sei unmöglich gewesen, nicht stimmt, viel-

Kälte, der Bedeutungslosigkeit des einzelnen

Reschke hörte von Schalamow erst-

mehr Unkenntnis der Bedingungen für das

Lebens. Übersetzt hat dieses Buch Thomas

mals nach dessen Tod 1982. In den achtziger

literarische Arbeiten im Realsozialismus of-

Reschke, der seit den fünfziger Jahren in Ost-

Jahren wurde er allmählich zum Thema im

fenbart. Zwischen Samisdat und Tamisdat

Berlin zuerst im Verlag Kultur und Fortschritt,

literarischen Leben der Sowjetunion, was auch

erkämpfte Schalamow sich ein Publikum; in

dann im erwähnten Verlag Volk und Welt, der

in die DDR durchdrang. „Anna Iwanowna“

den Literaturzeitschriften der Sowjetunion er-

zehn Jahre nach der Wiedervereinigung seine

zeichne sich durch die Sprache, die Atmo­­

schienen vereinzelt seine Werke, in der

endgültige Abwicklung erfahren hat, als

sphäre aus. Das Thema benennt Reschke

Hauptsache Lyrik. Unter anderem in deut-

­Lektor arbeitete. Neben dieser Tätigkeit über-

knapp: „diese furchtbare Entmenschlichung,

Eine Ausstellung mit 60 Bühnenbildmodellen und Zeichnungen von Martin Fischer 18. Mai - 14. Juli in der Kloster- und Schlossanlage 17159 Dargun, Südarkaden Vernissage 18. Mai 2019 um 16:00 Uhr Zur Austellung erscheint ein Buch. Dienstag bis Freitag 10:00 – 12:00 Uhr und 13:00 – 17:00 Uhr, Sonnabend und Sonntag 13:30 – 16:30 Uhr Eine Ausstellung des Vereins KULTUR IM KLOSTER e.V., gefördert durch die Stiftung für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in Mecklenburg-Vorpommern, den Bund der Szenograf*innen und die Stadt Dargun

© www.martin-fischer-buehnenbild.de

UTOPISCHE ARCHÄOLOGIE


stück

/ TdZ  Mai 2019  /

die da stattgefunden hat“. „Die Notwendigkeiten des Einzelnen sind nichts; das Individuum ist nichts.“ Den Voraussetzungsreichtum benennt er als große Hürde. Man müsse doch einiges wissen über das Lagersystem: „Es gibt eine riesige Unwissenheit über die Geschichte des Lagers in Deutschland, zumal in Westdeutschland.“ Das Ausmaß der Gewalt, die Unzahl der Toten dürften hierzulande tatsächlich kaum bekannt sein. „Stirb du heute, ich morgen“ – dieses Zitat aus dem Drama beschreibe den eigentlichen Grundsatz für das Leben im Lager. „Im Lager hatten die Kriminellen die Vorherrschaft, keineswegs die Politischen – die ja größtenteils Intellektuelle waren. Es gibt in Russland seit der Zeit Peters des Großen eine Mafia, eine uralte ­Tradition des Ganoventums. Die Mafia existierte an der Oktoberrevolution vorbei und konnte zu Kriegszeiten sogar die Herrschaft erlangen.“ Bis heute sei das ein russisches Problem. Und das Verhältnis zu Solschenizyn? „Schalamow mochte ihn nicht“, so Reschke. Er habe „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ gelesen und sei entsetzt gewesen. Schalamow fühlte sich der Wahrheit ver­ pflich­tet. Solschenizyn habe die Freude an der Arbeit beschrieben, die es so nicht ge­ geben habe. Im Lager sei, so Reschke, das Krankenhaus, wo doch Tod und Leben so nah beieinander liegen, noch der hoffnungsvollste Ort gewesen, der Ort, „wo man der Schinderei für ein paar Tage entkommen konnte, der unmenschlichen Sklavenarbeit, und etwas ­ Essen bekam, wenn auch nicht sättigend“. Das zeigt sich auch in „Anna Iwanowna“. Aber ist das entsetzliche Grauen ein Stoff für die Bühne? „Das ist tatsächlich die entscheidende Frage“, sagt Reschke. Das Stück ersetzt nicht die Geschichtsstunde. Aber es kann eine Vorstellung davon

Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, studierte zunächst sowjetisches Recht in Moskau. Nach seiner Verhaftung wegen „konterrevolutionärer Agitation“ wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt und in die KolymaRegion im Nordosten Sibiriens deportiert, wo er heimlich begann, seine „Erzählungen aus Kolyma“ zu schreiben. 1956 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1982 starb. In seinen auto­biografischen Schriften stellt er Willkür, Tortur und Grausamkeit des GULag-Systems dar. Seine Werke sind in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz verlegt. Foto dpa

geben, wie Entmenschlichung entsteht, was sie aus den fragilen Beziehungen der Personen untereinander im Lager macht. Der Überle-

mitten des Schreckens. Das Lager ist ein kon-

torisieren, um die politische Brisanz zu

benskampf bestimmt alles. Das Krankenzim-

fliktreicher Ort mit archaischen Machtstruktu-

reduzieren. Und doch musste jedem, der das

mer sei, so heißt es im Stück, „Kolyma in Mi-

ren. Wer hier scheitert, der stirbt. Derjenige,

Drama zu lesen bekam, der es gesehen hätte,

niatur“. Hier herrschen eigene Regeln: Der

der es geschafft hat, darf leben. Soll das kein

klar gewesen sein, dass die Schrecken in gar

Gefangene, der gerade noch als Arzt arbeiten

dramatischer Stoff sein? Man muss die Kon-

nicht allzu ferner Vergangenheit liegen. Ein

konnte, wird im nächsten Augenblick zur

frontation damit nur aushalten können.

weiterer Satz aus dem Nachwort ist überaus bemerkenswert, formuliert er doch äußerst

Schwerstarbeit in die Kälte geschickt; wer sich

Im Nachwort des 1964 verfassten

gerade noch in vorteilhafter Situation wähnte,

Stücks heißt es: „Der Autor weiß selbstver-

knapp

liegt vielleicht schon bald mit einer Schuss-

ständlich, dass es in dem Jahr, in dem sein

Menschen und zugleich keine Menschen.“

wunde im Krankenbett und geht dem Tod ent-

Stück spielt, Penicillin und Maschinenpisto-

Vielleicht sind die fünf Bilder, die sich hier zu

gegen; wen die Arbeit schon zu vernichten

len noch nicht gab. Das Stück ist ein Vor-

einem Bühnenwerk fügen, selbst Kolyma in

drohte, der findet hier vielleicht Genesung in-

kriegsstück.“ Eine Vorsichtsmaßnahme: his-

Miniatur. //

das

Ungeheuerliche:

„Alle

sind

Erik Zielke

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stück

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Warlam Schalamow

Anna Iwanowna (Originaltitel: Anna Ivanovna) Stück in fünf Bildern Aus dem Russischen von Thomas Reschke Dem Andenken G. G. Demidows gewidmet PERSONEN: Anna Iwanowna Rodina1 Bauleiter Ermittler Arzt Chefarzt Sanitätschef Grischa Ganove Vorarbeiter NKWD-Mann Diensthabender Großer Natschalnik Kleiner Natschalnik Und die anderen – Häftlinge und Freie, Tote und Lebende

ERSTES BILD Trassenkantine Abend oder Nacht, egal. Winter. Eine Trassenkantine, in der es nur tagsüber Essen gibt. Vier kleine Tische, ein geheiztes Öfchen aus einem halben Metallfass. Ein Büfetttresen. Darüber – wie über tausend anderen ­Tresen – das Bild „Drei Recken“ von Wasnezow. Hier arbeitet die Büfetteuse Anna Iwanowna. An den Tischen Kraftfahrer, Durchreisende. Sie essen Mit­ ­ gebrachtes und holen sich vom Büfett nur Tee, heißes Wasser in Blechbechern oder Sprit, den Anna Iwanowna mit einer blechernen Maßkelle schöpft. Herein kommt Erster Kraftfahrer. Erster Kraftfahrer: Anna Iwanowna, dein Kerl ist angekommen. Anna Iwanowna: Wo steckt er denn? Erster Kraftfahrer: Ins Büro gegangen. Anna Iwanowna: Also fahren wir weg. Zur geologischen Erkundung. 1

Rodina (russ.) – Heimat

Erster Kraftfahrer: Das Büfett gibst du auf. Sowas Einträgliches. Anna Iwanowna: Alles Geld kann man nicht verdienen. Erster Kraftfahrer: Aber danach streben sollte man. (Lacht.) Und wohin mit dem Kind? Anna Iwanowna: Fürs Erste ins Internat. In die Taiga nehmen wirs nicht mit. Erster Kraftfahrer: Ihr habt also schon alles bedacht. (Die Tür geht auf und lässt eine weiße Dampfwolke herein – jemand hält die Tür fest. Sowie sich der Dampf zerstreut hat, sehen wir im Vordergrund bei dem stark geheizten Eisenöfchen vier gleich aussehen­ de Männer, bekleidet mit alten Steppjacken und abge­ tragenen M ­ atrosenjoppen, schwarzen „Bam-LagerMützen“2, geflickten Stepphosen und abgetragenen Filzstiefeln, deren Schäfte aus alten Steppjacken ge­ näht sind. Als Schal dienen schmutzige Handtücher oder Fußlappen. Geflickte Fäustlinge. Die Gesichter sehen alle gleich aus – verquollen, gedunsen, bleich vom langen Sitzen im Lagerkarzer. Allen vieren sind ihr künftiges Schicksal, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart zutiefst gleichgültig. Auch alles, was sie vor sich sehen. Etwas seitlich von ihnen stehen zwei Be­ gleitposten mit umgehängter Maschinenpistole.) Erster Kraftfahrer: Nach Magadan? Begleitposten: Nach Magadan. Erster Kraftfahrer: Zum Verhör? Begleitposten: Nein, sie sind schon verurteilt. (Die Gesichter der Häftlinge zeigen keinerlei Ausdruck. Sie drängen sich um den Ofen, ohne ihre Jacken aufzu­ knöpfen.) Anna Iwanowna: Und wo ist der Fahrer? Begleitposten: Der hat sich im Wagen schlafen gelegt. Im Fahrerhaus. Er kann nicht mehr fahren. Wenn er sich bisschen ausgeruht hat, gehts weiter. Ihr da, zieht euch im Warmen die Schuhe aus … 2

Bam (russ. Abkürzung) – Baikal-Amur-Magistrale

(Die Häftlinge ziehen sich nacheinander die Schuhe aus.) Erster Häftling: Eine Kippe möcht ich aufrauchen, Bürger. Begleitposten: Rauch ich denn, siehst du was? Wenn ich mir eine anbrenn, kannste mal ziehen. Anna Iwanowna: Zweihundert Gramm oder hundert? Begleitposten: Wir dürfen unterwegs keinen Sprit trinken. Kein heißer Tee da? Anna Iwanowna: Tee haben wir. Begleitposten: Gieß uns jedem einen Becher ein, denen auch. Für uns doppelt Zucker. Anna Iwanowna: Bei uns kriegen alle gleich. Begleitposten: Na, dann gib allen gleich. (Anna Iwanowna bringt Tee und verteilt ihn an die Häftlinge. Sie halten die heißen Blechbecher mühsam in den Händen. Schließlich gelingt es einem, einen Schluck zu nehmen.) Erster Häftling: Süß! Herein kommt Zweiter Kraftfahrer. Zweiter Kraftfahrer: Wie wärs, Anna, kochst du 3 uns Tschifir ? Anna Iwanowna: Da steht der Ofen, macht euch selber welchen. Zweiter Kraftfahrer: Und auf dem Herd? Anna Iwanowna: Der ist kaputt. Morgen kommt der Töpfer und setzt ihn um. Da ist heißes Wasser. Tee. (Der Zweite Kraftfahrer macht sich am Ofen zu schaf­ fen, um Tschifir zu bereiten. Die rötliche Flamme aus der offenen Ofenklappe beleuchtet die Kantine auf neue Weise. Herein kommen der Dritte Kraftfahrer und ein Goldsucher.) Dritter Kraftfahrer: Tag, Anna. Anna Iwanowna: Tag. Dritter Kraftfahrer: Gieß uns was ein. Anna Iwanowna: Hundert Gramm für jeden? Dritter Kraftfahrer: Zweihundert. Die Tour ist zu Ende. Es war eine verfluchte Tour. Hier hast du. Anna Iwanowna: Du kriegst was wieder, Kolja. Dritter Kraftfahrer: Behalts, Anna. Ich fahr aufs Festland. Hab mein ganzes Geld gekriegt. Anna Iwanowna: Und, Passierschein in der Tasche? Dritter Kraftfahrer: Den kriegen wir in Magadan. Anna Iwanowna: Nimm dein Geld. Dritter Kraftfahrer: Willst du mich beleidigen, Anna? Goldsucher: Nimm! Der Plan – steht! Das Gold – stimmt! (Holt Geld hervor.) Nimms nur. Das erste Metall! Anna Iwanowna: Dich kenn ich überhaupt nicht. Kolja hat hier wenigstens schon paarmal gegessen. 3

Tschifir – extrem starker Tee

THEATERPREIS DES BUNDES 2019 TAGUNG »DIALOG MIT DER STADTGESELLSCHAFT« UND PREISVERLEIHUNG 27. MAI 2019 — THEATER GERA WWW.ITI-GERMANY.DE/THEATERPREIS


warlam schalamow_anna iwanowna

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Goldsucher: Nimms ruhig, Mütterchen. (Öffnet den Koffer, der ist voller Geld.) Anna Iwanowna: Ich bin nicht dein Mütterchen. Goldsucher: Dann eben Töchterchen. Anna Iwanowna: Auch nicht. Steck dein Geld ein. So kommt ihr nie aufs Festland. Goldsucher: Doch. Und wenn wir dieses verlieren, wir haben noch mehr. Wir sind doch nicht von gestern. Anna Iwanowna: Wieso habt ihr Gold bei euch? Ich habe gehört, in den Flugzeugen filzen sie jeden, wie im Moskauer Butyrki-Gefängnis. Egal ob Freier oder Häftling, sie gucken in alle Löcher. Goldsucher: Was du schon gehört hast … Anna Iwanowna: Dann müsst ihr euch nochmal für zehn Jahre verpflichten. Erster Kraftfahrer: Für länger. Anna Iwanowna: Dmitri, nimm sie mit nach Magadan. Erster Kraftfahrer: Die sind ja besoffen, wie soll ich die mitnehmen? Besser, sie schlafen sich hier aus und fahren morgen. (Herein kommt Bauleiter.) Bauleiter: Grüß dich, Anna. Wir fahren. Anna Iwanowna: Weiß ich schon. Wohin? Bauleiter: Zur geologischen Erkundung. Ich fahre als Natschalnik, Anna, als kleiner zwar, aber als ­Natschalnik. Anna Iwanowna: Das freut mich. Bauleiter: Leider gibts da kein Kino. Aber in der Siedlung ist eins, da können wir hinfahren. Zusammen. Dafür gibts dort Beeren, wir werden Konfitüre kochen. Blaubeeren, Preiselbeeren. Und Pilze sollen dort wachsen, so groß wie ein Hund. Der liebe Gott züchtet sie auf Hydrokultur. Ich

nehme mein Gewehr mit. Dort sind Nusshacker und diese … na … Anna Iwanowna: Erdhörnchen? Bauleiter: Nein, nicht Erdhörnchen. Was gibts da zu lachen? Ziesel, die gibts. Ziesel. Goldsucher: Wer ist das da? Erster Kraftfahrer: Der Mann von Anna Iwanowna. Goldsucher: Ich kann mich bloß wundern. An der Kolyma werden Weiber mit Gold aufgewogen. Jeder flotte Feger wird zur Königin. Und auf einmal so eine schöne Frau. (Zum Bauleiter:) Wie hast dus gemacht, so eine schöne Frau zu kriegen? Wie bloß? Mit viel Geld? Glaub ich nicht. Für sie spielt Geld keine Rolle. Bauleiter: Du bist besoffen, schlaf dich aus. Erster Kraftfahrer: Komm, Sascha. Erster Häftling (liest eine Kippe auf): Im Kreis­ parteikomitee, da kamen Kippen zusammen … Tante Raja, die Putzfrau, hat nach den Sitzungen imner einen halben Eimer voll rausgetragen, und geschimpft hat sie. Aber hier sind anständige Kippen nicht zu finden. Alle lutschen sie aus bis an den Fingernagel. Zweiter Häftling: Was warst du denn in Freiheit? Erster Häftling: In Freiheit? Was ich war? Kann dir das nicht egal sein? Zweiter Häftling: Ist mir auch egal. (Das Geräusch eines haltenden Fahrzeugs.) Erster Kraftfahrer: Wer mag das sein? Anna Iwanowna: Der Linienbus aus Magadan. Erster Kraftfahrer: Nein, für den ist es zu früh, und der Motor klingt auch anders. Das ist ein Pkw. (Herein kommen drei Männer. Vornweg der Fahrer, angezogen wie ein Polarflieger, in der linken Hand

Ein Projekt des Bündnis Internationaler Produktionshäuser: FFT Düsseldorf, HAU Hebbel am Ufer Berlin, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, PACT Zollverein Essen, tanzhaus nrw Düsseldorf.

e­inen großen Koffer. Ihm folgt, in tausend Kleidungs­ stücke gehüllt – gewaltige jakutische Pelzmütze, Fuß­ decke aus Bärenfell, Pelzmantel, Uniformmantel, Pelzweste, Uniformrock mit Schulterklappen, Wollpul­ lover, hohe Pelzstiefel – der kleine Natschalnik, den von hinten der Ermittler an beiden Ellbogen stützt. Er stützt ihn nicht nur aus Ehrerbietung, nicht nur, weil der wie in Kohlblätter gekleidet und daher plump, son­ dern auch, weil der kleine Natschalnik stockbetrunken ist. Der Ermittler trägt einen Pelz, unter dem ein Uni­ formmantel hervorschaut. Respektvoll wickelt er seinen winzigen Natschalnik aus. Der Platz am Tresen wird freiwillig geräumt.) Kleiner Natschalnik (mit lauter Stimme): Für jeden zweihundert Gramm, meine Schöne. Ermittler: Ich trinke nicht, Genosse Natschalnik. Kleiner Natschalnik: Was, du trinkst nicht? Dann wirst dus weit bringen. Einmal zweihundert Gramm, meine Schöne. (Trinkt am Tresen.) (Der Ermittler sucht für sich und den Natschalnik ei­ nen Platz. Der beste Platz ist am Ofen, aber da stehen die vier Häftlinge.) Ermittler: Was sind das für welche? Begleitposten: Transport nach Magadan, Genosse Natschalnik. Ermittler: Nimm sie da weg. Bring sie raus zum Austreten, solange der Natschalnik isst. Begleitposten: Aber draußen sind fünfzig Grad Frost, Genosse Natschalnik. Ermittler: Führ den Befehl aus. (Begleitposten führt die Häftlinge hinaus in die Kälte, sie tragen es mit Gleichmut. Nur einer von ihnen wird lebendig, er stürzt sich auf die Kippe, die der Fahrer des kleinen Natschalniks weggeworfen hat.)

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Ermittler (schiebt den Tisch dicht an den Ofen): Jetzt hat alles seine Ordnung. Kleiner Natschalnik: Gib uns was zu essen. Ermittler: Wenn Sie gestatten, packe ich aus. Wurst, Speck, Schinken. Kleiner Natschalnik (trinkt und isst): Was guckst du? Iss! Ermittler: Aber ich bitte Sie. Kleiner Natschalnik: Ich sage dir, iss. (Ermittler nimmt ein dünnes Scheibchen Wurst und isst.) Und Tee? Wenn du keinen Tee trinkst, wie willst du zu Kraft kommen? Kennst du das Sprichwort? Nicht? Du wirst es kennenlernen. Du hast alles noch vor dir. Wenn sie mich wegen Suff absetzen und du meinen Posten kriegst, brauchst du nicht mehr in so klapprigen Autos zu fahren. Dann steht dir eine Limousine zu. Eine Limousine mit elektrischer Heizung. Ab gehts! Fahrt frei für Furajew! (Der Ermittler hüllt den kleinen Natschalnik wieder in seine zahlreichen Kleidungsstücke. Die drei Männer gehen hinaus. Der Ermittler kommt wieder herein, wi­ ckelt die übriggebliebene Wurst – eine große Seltenheit an der Kolyma – in eine Zeitung und steckt sie in die Tasche. Dann geht er. Man hört den Lärm des anfah­ renden Wagens.) Anna Iwanowna: Nie hätte ich das gedacht, nie. (Die Begleitposten und die vier Häftlinge kommen so­ fort wieder herein. Die Häftlinge gruppieren sich eben­ so gleichmütig um den Ofen.) Erster Kraftfahrer: Lasst mich ran, Jungs, ich schmeiß noch was nach. (Legt Holz in den Ofen.) Begleitposten: Wer waren die? Erster Kraftfahrer: Die Recken von heute. Siehst du die drei Recken? (Zeigt auf das Bild.) Früher sahen sie so aus und heute so. Recken. Herren über ­unser Leben und unsern Tod. Begleitposten: Und wer waren sie nun wirklich? Erster Kraftfahrer: NKWD-Leute aus Magadan. Der Kleine heißt Furajew. Er ist schon lange hier an der Kolyma, den Langen seh ich zum ersten Mal. Den kenn ich nicht. Wirtin, gieß mir hundert Gramm ein, nicht mehr. (Sucht in der Tasche und gibt ihr Geld.) (Der NKWD-Mann, genauso angezogen wie der unbe­ kannte Mann, schiebt sich nach vorn und schießt mit seiner Pistole zweimal aus nächster Nähe auf den ­unbekannten Mann. Der stürzt rücklings zu Boden und reißt im Fallen Geschirr vom Tresen.) NKWD-Mann: Zwei Monate war ich hinter dem Lumpen her. Jetzt hab ich ihn erwischt. (Alle außer den vier Häftlingen sind bestürzt.) Anna Iwanowna: Ins Krankenhaus! Einen Arzt! Petja!

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Bauleiter: Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Anna Iwanowna (zum Ersten Kraftfahrer): Mitja, lauf schnell ins Krankenhaus. Das Lagerkrankenhaus ist ganz in der Nähe. Hol schnell jemanden her. (Erster Kraftfahrer läuft hinaus.) Zweiter Kraftfahrer: Was machst du, ohne Warnung? NKWD-Mann: Als ob der dich gewarnt hätte. Ich hab meinen Befehl. (Kniet sich hin und schlägt den Halbpelz des Verwunde­ ten auf. Heraus fallen ein Kleinkalibergewehr mit abge­ sägtem Lauf, ein paar Patronen und ein Revolver.) Als ob der dich gewarnt hätte. So geht das Spiel bei uns – ich ihn oder er mich. Zweiter Kraftfahrer: Sieh dir das an. NKWD-Mann: Eben – sieh dir das an. (Arzt mit Koffer kommt hereingelaufen.) Arzt: An den Ofen mit ihm. Zieht ihn aus. (Anna Iwanowna hilft, den Verwundeten auszuzie­ hen. Ein tätowierter Körper kommt zum Vorschein.) Erster Kraftfahrer: Guck dir die Tätowierungen an. (Liest:) „Es gibt kein Glück im Leben.“ (Der Verwundete wird umgedreht.) Und das „Wie wenig Wegs zurückgelegt, / doch wieviel Fehler schon begangen.“ (Rasch und geschickt untersucht und befühlt der Arzt den Verwundeten.) Bauleiter: Jessenin. Lieblingsdichter der Ganoven. Anna Iwanowna (zu ihrem Mann): Hilf doch. Arzt: Wir werden schon selber fertig. Haltet mal seinen Arm, ja, so. Zwei Steckschüsse im Bauch. (Horcht das Herz ab.) Er lebt. Bringt ihn ins Krankenhaus. Es ist wenig Hoffnung, aber trotzdem. NKWD-Mann: Ich habe geschossen. Arzt: Kommen Sie mit, wir schreibens dort in die Krankengeschichte. NKWD-Mann: Ich muss erst meinen Vorgesetzten anrufen, dann komm ich. Wo ist hier ein Telefon? Erster Kraftfahrer: Im Büro der Trassenaufsicht. Bauleiter: Moment mal. (Beugt sich zu dem Verwun­ deten.) Was für einer bist du? (Alle hören interessiert zu.) Was für einer bist du?, frag ich dich. (Zum Arzt:) Ob er mich hört? Arzt: Ja. Bauleiter: Was für einer bist du? Unbekannter (dumpf): Suka!4 Alle: Su-ka! Bauleiter (begeistert): Also nicht zu uns. Eine HünHündin (russ. suka) wurden diejenigen Ganoven genannt, die sich nicht an die Gesetze der Unterwelt hielten. 4

din! Das Krankenhaus in unserm Bezirk ist nur für gesetzestreue Ganoven. Hündinnen haben da nichts zu suchen. Die werden abgestochen, und dann hat sichs. Arzt: Hört nicht auf ihn, bringt ihn ins Kran­ken­haus. Na, Wirtin, schönen Dank für die Hilfe. Gute Arbeit. Ich brauche im Krankenhaus eine Operations­schwes­ ter. Das ist eine Stellung für eine Freie. Wollen Sie nicht weg vom Büfett? Überlegen Sie sichs. Anna Iwanowna: Ich würds ja tun, aber ich gehe morgen weg. Zur geologischen Erkundung. Ich verlasse diese „Goldgrube“. Arzt: Na schön, entschuldigen Sie mich. (Ab.) NKWD-Mann: Mich hätten Sie fragen sollen. Dieser Mann ist uns seit Langem bekannt. Es ist Sanka Korsuby. Erster Kraftfahrer: Aus der Bande von GriechenIwan? NKWD-Mann: Selber Griechen-Iwan. Die Bande von Griechen-Iwan, das sind gesetzestreue Ganoven. Dieser ist von der Hündinnen-Bande des ­Königs, von der Königsbande. Erster Kraftfahrer: Und dann gibt es noch die „­ Roten Mützen“, die „Machno-Leute“, die „Grenzenlosen“. NKWD-Mann: Von allem ein bisschen. Wo, sagst du, ist das Telefon? ZWEITES BILD Krankenzimnmer Ein Krankenzimmer. Fadenscheinige Decken mit der gestickten Schrift „Füße“ auf schmutzigen gestreiften Matratzen mit Füllung von Legföhrennadeln. Keine Laken. An einem Nagel ein schmutziger „Jedermanns­ kittel“, in dessen Ärmel jetzt Grischa fährt, der Sanitä­ ter, einer der Patienten. Zwölf Krankenbetten. Bei dem letzten Bett, am Fenster, der Arzt. Eine leere Spritze und zerbrochene Ampullen liegen auf der Decke des Bettes, bei dem der Arzt steht. Der Arzt fühlt den Puls des Patienten, prüft mit den Fingern die Augenreflexe und zieht langsam die Decke über das Gesicht. Die Ampullen und die Spritze fallen zu Boden, der Sanitä­ ter Grischa hebt sie auf. Grischa: Exitus? Arzt: Ja, Grischa, Exitus. Archiv Nummer drei. Er ist tot. Kein Wunder. Bauchschuss. Wie bei Puschkin. Und wie Puschkin ist er gestorben, weil wir kein Penicillin haben. Penicillin gab es damals noch nicht, Grischa, darum musste Puschkin sterben. In unserer Zeit wäre es d’Anthès5 nicht gelungen … Fleming war damals noch nicht geboren, Grischa. Weißt du, wer Fleming ist? Grischa: Nein. 5

d’Anthès – Puschkins Duellgegner

Rotterdam Presenta 2.5. (Premiere) – 4.5.

accident exercises

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Arzt: Fleming hat das Penicillin entdeckt. Weißt du, was Penicillin ist? Grischa: Ja. Arzt: Auch wer Puschkin war? Grischa: Sie immer mit Ihren Scherzen, Sergej Grigorjewitsch. Puschkin war ein Schriftsteller. Arzt: Genau. Ein Dichter. Gedichte hat er geschrieben. Was meinst du, wer ist wichtiger für die Gesellschaft, Puschkin oder Fleming? Grischa: Weiß ich nicht, Sergej Grigorjewitsch. Arzt: Ich auch nicht, aber ich weiß, wenn wir Penicillin hätten, wäre dieser Mann mit der PuschkinWunde noch am Leben. Und Blut hätten wir übertragen müssen. Eine Bluttransfusion hätte ihn gerettet. Na, und die Puschkin-Wunde hätten wir nach den Regeln behandelt, die über hundert Jahre alt sind, Grischa. Zwei Stunden noch, dann ins Leichenhaus. Erster Patient: Sergej Grigorjewitsch, kann ich das Bett haben? Meins ist sehr hart, ich werd mich wohl wundliegen. Ich stell sozusagen einen Antrag. Arzt: Warte noch. Du da, mit der Wirbelsäule, willst du dich ans Fenster legen? Zweiter Patient: Mir ist alles egal. Arzt: Dann soll der das Bett haben, der darum bittet. Keine Fieberkranken da? Grischa: Ich glaub, nein. Arzt: Also braucht keiner ein Thermometer. Passt mir auf diese Kolymaschen Kostbarkeiten auf. ­Grischa, das Frühstück. (Grischa zieht den Jedermannskittel aus, wäscht sich unter dem Wassergefäß die Hände, bindet sich das Handtuch wie einen Gürtel um und beginnt, das Früh­ stück zu verteilen. Zuerst bringt er Brot, dann auf ­einem Sperrholztablett Heringsportionen. Allgemeine Belebung.) Patienten: Heute gibts Schwänze, Schwänze. Arzt: Ja, heute gibts Heringsschwänze … Morgen Köpfe. Wie oft kam es zum Aufruhr, manchmal ­sogar blutig, wenn der eine den Schwanz kriegte und der andere den Kopf, darum gibts jetzt den Befehl: Alle kriegen entweder Schwänze oder Köpfe. P ­ sychologie! Kenner der menschlichen Seele. Unser Krankenhaus ist zwar klein, aber Befehl ist Befehl. (Grischa bringt Blechschüsseln mit Suppe und verteilt sie. Alle trinken aus der Schüssel.) Grischa (zum Zweiten Patienten): Du kannst meinen Löffel haben. Zweiter Patient: Auf der Goldmine braucht man keinen Löffel. Ob Kascha oder Suppe, du kannst beides aus der Schüssel trinken und notfalls mit dem Finger nachhelfen. Und die Schüssel auslecken, das lernt sich leicht. Leichter als eine Lore vollschippen. Ein Löffel ist unnötige Sorge.

warlam schalamow_anna iwanowna

Grischa: Nein, noch schlimmer, du musst dem Brigadier, dem Vorarbeiter was zustecken. Zweiter Patient: Die Vorarbeiter essen nicht mit der Brigade, und der Brigadier hat selber einen Löffel. Grischa: Was ist mit der Ration für den Toten, Sergej Grigorjewitsch? Arzt: Die kriegt sein Bettnachbar, der geholfen hat, ihn zu pflegen. Das ist üblich. Erster Patient: Wär schön, hier zu sterben. Arzt: Warum sterben? Ist doch nicht schlecht für einen Häftling, hier zu liegen, da muss er nicht noch sterben wollen. Erster Patient: Nein, Sergej Grigorjewitsch, es ist schon so. Auf der Mine habe ich nur um das eine gebetet, in einem sauberen Bett zu sterben, nicht in der Baracke, meinetwegen vor Hunger, aber in einem sauberen Bett, nicht in der Schürfgrube, nicht von Schlägen und Fußtritten. Arzt: Kein schlechter Wunsch. Zweiter Patient: Und ich möchte ein Krüppel ohne Arme und Beine sein, ein menschlicher Rumpf, verstehst du, Doktor? Damit mein Körper mir nichts mehr zu sagen hat, damit meine feigen Arme und Beine mich nicht mehr zwingen, vor Schmerzen zu schreien wegen der Erfrierungen. Warum will ich ein Krüppel sein? Um denen mitten ins Maul zu spucken. Arzt: Beruhige dich. Bis zum Krüppel hast du’s noch weit. Dritter Patient: Ich war früher in einer anderen Mine gelegen, da haben sie uns Feuerspritzen verpasst. Arzt: Das war Kalziumchlorid oder ein Vitamin gegen die Pellagra. Dritter Patient: Genau, Vitamin. Mir haben sie eine ganze Kur verordnet, und wir haben die Spritzen gegen Brot getauscht. Ich habe meine ganze Kur für Brot hergegeben und mich erholt. Mal ein bisschen sattgegessen. Arzt: Wem hast du die Spritzen gegeben? Dritter Patient: Den Kriminellen, Doktor. (Herein kommt Chefarzt.) Chefarzt: Sergej Grigorjewitsch, ich habe heute früh nach Ihnen geschickt, aber Sie sind nicht gekommen. Eine wichtige Neuigkeit. Arzt: Ich hatte mit einem Patienten zu tun. Bauchschuss. Chefarzt: Der aus der Trassenkantine? Der gefasste Ausbrecher? Verlorene Liebesmüh. Arzt: Eine Bluttransfusion hätte ihn gerettet. Ich habe doch gestern Abend jemanden zu Ihnen geschickt. Ob es einen Universalspender gibt. Sie ließen mir antworten, Sie hätten keinen. Chefarzt: Einen hätte ich. Er ist Hypertoniker, da wäre der Nutzen beidseitig gewesen. Und unser Spender hätte nicht schlecht verdient.

Arzt: Und wo liegt der Haken? Chefarzt: Der Universalspender ist einer der NKWDBevollmächtigten vom Kreis. Wie hätte ich sein Blut einem Häftling übertragen können? Arzt: Darf das etwa nicht sein? Gibts beim Blut Unterschiede? Ich meine, fünfhundert Gramm bestes Tschekistenblut hätte unsern Patienten wieder auferstehen lassen. Chefarzt: Reden Sie keine Dummheiten. Wenn der Staat das so sähe wie Sie, wäre das Spenderblut eines Freien nicht zehnmal so teuer wie das eines Häftlings. Soll ich Sie zur Buchhaltung bringen? Arzt: Ist jetzt sowieso egal. Chefarzt: Sie hätten sich nicht mit ihm abgeben, nicht auf den Schlaf verzichten sollen. Ein Gutachten – inoperabel, ich hätte unterschrieben, und fertig. Dann wären Sie schlafen gegangen. Sie ­haben ja sowieso nicht operiert, Sie haben nur Ihre Zeit vertan und wertvolle Medikamente vergeudet – Koffein, Kampfer, sogar Glukose haben Sie injiziert, wie ich an den Ampullen im Mülleimer sehe. Für künftig verbiete ich Ihnen, solchen Patienten Glukose zu spritzen. Glukose ist für besondere ­Fälle. Arzt: Ja, natürlich. Chefarzt: So, und nun schlagen Sie sich das Ganze aus dem Kopf, waschen Sie sich und kümmern Sie sich um eine wichtige Angelegenheit. Ein Telefonanruf. Der große Natschalnik kommt. Persönlich. Also bringen Sie alles rasch in Ordnung. Arzt: Laken haben wir sowieso keine. Chefarzt: Ich habe alles bedacht. Schicken Sie ­Grischa in meine Wohnung, meine Frau gibt ihm, fünfzehn bis zwanzig Laken, für eine Stunde. Arzt: Aber darauf werden Sie doch hinterher nicht mehr schlafen wollen. Chefarzt: Die werden desinfiziert, und fertig. Und meine Fürsorge wird man zu schätzen wissen. Arzt: Grischa! Grischa: Hier! Arzt: Hast du alles mitgekriegt? Lauf sofort zum Bürger Natschalnik in die Wohnung und hol die Laken. Ihre Frau weiß Bescheid? Chefarzt: Ja, ich habs ihr gesagt. Ist ja nicht das erste Mal. (Grischa läuft hinaus.) Arzt: Ich hoffe, unser Admiral wird nicht mit dem Taschentuch den Fußboden prüfen wie ein Schiffsdeck. Chefarzt: Ich glaube nicht. Dies ist schließlich ein gewöhnliches Minenkrankenhaus. Legen Sie die Krankengeschichten der Reihe nach zurecht und wischen Sie den Staub ab. Ach ja, und der Sanitäter, der Patient … Arzt: Grischa?

THEATER MARIE

29.4. «Frau im Wald» Julia Haenni, Heidelberger Stückemarkt

27.4./3.5. «Schleifpunkt» Maria Ursprung, Dramenprozessor

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JOËL POMMERAT DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS Regie: Yvonne Kespohl

Pfalztheater Kaiserslautern Premiere: 18.5.2019

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

Chefarzt: Was weiß ich, wie er heißt. Der soll sich ins Bett legen. Sanitäter sind in unserm Stellenplan nicht vorgesehen. Arzt: Solch einen Besuch haben wir auch in dem Krankenhaus erwartet, wo ich letztes Jahr gearbeitet hab. Da wurde jeder Patient in die Liste eingetragen und die Diagnose dazugeschrieben. Chefarzt: Na bitte. Arzt: Im Korridor hat ein Patient Glasscheiben eingesetzt, der kam nicht mehr weg. Der Natschalnik fragt: „Und dieser, was hat er?“ Unser Chef sagt: „Der hat Glasitis.“ So wurde es in die Liste eingetragen; Diagnose – Glasitis. Itis, das ist die Endung bei Entzündungen: Appendizitis, Pleuritis, Glasitis … Chefarzt: Sie immer mit Ihren unpassenden Scherzen. (Grischa kommt hereingelaufen.) Grischa: Hier sind die Laken. (Alle außer zwei oder drei unbeweglich daliegenden Patienten und dem Toten am Fenster helfen dem Sani­ täter, dem Arzt und dem Chefarzt, die gestärkten, knisternden, steifen Laken, die in diesem Krankenzim­ mer geradezu absurd aussehen, über die Betten zu breiten. Man hört das Geräusch eines Autos.) (Springt in den Korridor und kommt sofort wieder he­ rein:) Der Natschalnik! (Er reißt sich den Kittel herunter und legt sich in sein Bett.) Chefarzt: Ach mein Gott, mein Gott! (Läuft hinaus, kommt wieder herein.) Kittel für die Leibwache des Natschalniks! (Verschwindet.) Arzt: Sollen sie im Korridor bleiben oder ohne Kittel reinkommen.

(Herein kommen die Leibwächter ohne Kittel. Wie ge­ wohnt nehmen sie ihre Positionen ein. Eine unsichtba­ re Hand öffnet beflissen die niedrige Tür, und herein zwängt sich mühsam der in einen aus den Nähten platzenden weißen Kittel gehüllte große Natschalnik in blankgewienerten Stiefeln und Uniformrock unterm Kittel. Ihm folgen der Sanitätschef, der Chefarzt und noch mehrere Personen.) (Rapportiert:) Im Krankenzimmer des Lagerkrankenhauses befinden sich zwölf Patienten, Haeff. Diensthabender Arzt Haeff Platonow. Großer Natschalnik: Das heißt nicht Haeff, das heißt einfach Häftlinge. (Ohne jemandem die Hand zu geben.) Guten Tag. (Undeutliches Gemurmel der Patienten.) Arzt: Wir haben hier nur ein Krankenzimmer. ­Chirurgische und therapeutische Fälle müssen zusammen liegen. Sozusagen ein Krankenhaus in Miniatur. Großer Natschalnik: Kolyma in Miniatur. Arzt: Vollkommen richtig, Bürger Natschalnik. Großer Natschalnik: Zeigen Sie mir die Patienten. Arzt: Beginnen wir mit der „chirurgischen Abteilung“. Dieser Mann hat eine traumatische Beschädigung der Wirbelsäule. Anamnese: Der Mann wurde im Schurf von Soldaten geschlagen. Sanitätschef: Behandlung? Arzt: Nach Symptomen. Wir bereiten ihn vor zum Abtransport ins Invalidenlager. Sanitätschef: Der nächste. Arzt: Multiple Rippenbrüche. Anamnese: Der Mann wurde im Schurf von Soldaten geschlagen. Sanitätschef: Der nächste. (Der nächste ist Grischa, der Sanitäter.) Arzt: Ausgedehntes trophisches Geschwür am rechten Unterschenkel. Auf dem Wege der Besserung. Wird demnächst entlassen. Sanitätschef: Trophisches Geschwür – ein Simulant ist das, ein Selbstverstümmler. Arzt: Vielleicht ein Simulant, vielleicht auch nicht. Sanitätschef: Es ist Ihre Pflicht, Simulanten zu entlarven. Arzt: Es ist meine Pflicht, Patienten zu kurieren. Sanitätschef: Sie sind Häftling? Arzt: Ja, Häftling. Sanitätschef: Verurteilt nach welchem Artikel? Arzt: Nach SV. Sanitätschef: Was heißt das – SV? Arzt: Spionageverdacht. Großer Natschalnik: Dann sagen Sie doch – Spionageverdacht. Die Sprache wird ja verhunzt durch diese Abkürzungen. (Alle lauschen ehrerbietig dem großen Natschalnik.) Sanitätschef: Der nächste.

Arzt: Die nächsten drei Patienten haben Magen­ geschwüre. Sie werden therapeutisch behandelt. Sanitätschef: Warum operieren Sie sie nicht? Sie belasten doch Ihren Bettenfonds. Ihre Bettenauslastung ist schlimm. Arzt: Der Hintergrund sieht nicht gut aus. Großer Natschalnik: Was bedeutet „Hintergrund“? Sanitätschef: Hintergrund, Genosse Natschalnik, das ist der Allgemeinzustand des Patienten. Er will sagen, der Mann hat Polyavitaminose. Arzt: Ja, Polyavitaminose, Dystrophie und extreme physische Erschöpfung schaffen den Hintergrund, bei dem wir nicht mit Erfolg operieren können. Darum behandeln wir ihn therapeutisch. Sanitätschef: Sie haben dafür zu sorgen, dass diese Patienten dahin verlegt werden, wo man sie operieren kann. Arzt: Man kann sie nirgendwo operieren, Bürger Natschalnik. Sanitätschef: Aber sie nehmen die Betten weg. Arzt: Egal, wo diese Patienten liegen, sie nehmen überall die Betten weg. Sanitätschef: In irgendein Invalidenstädtchen. Chefarzt: Invalidenstädtchen nehmen solche Pa­ tienten nicht auf. Sanitätschef: Der nächste. Arzt: Erfrierung beider Füße. Ein frischer Fall. Amputation der Füße. Verband, Jodeinreibungen, Behandlung durch Aeration. Großer Natschalnik: Aeration? Arzt: Frische Luft, Bürger Natschalnik. Sanitätschef: Nehmen Sie den Verband ab und zeigen Sie den Zustand der Wunde. Großer Natschalnik: Ein Simulant? Sanitätschef: Durchaus möglich. Eine Kontrolle kann nicht schaden. (Der Verband wird abgenommen.) (Prallt vor der Wunde zurück, wendet sich ab.) Der nächste. Arzt: Der nächste hat Dysenterie, genauer gesagt, Pellagra. Sanitätschef: Dysenterie oder Pellagra? Arzt: Dysenterie auf der Grundlage von Pellagra. Sanitätschef: Im allgemeinen Krankenzimmer? Arzt: Andere Räume haben wir nicht. (Der Sanitätschef tritt ans letzte Bett. Er schlägt die Decke zurück, fühlt den Puls und horcht am Herzen des Toten.) Sanitätschef: Sie haben hier einen Toten. Der Pa­ tient ist gestorben. Während Sie rumgeredet haben. Arzt: Er ist vor einer Stunde gestorben. Sanitätschef: Habt ihr ihn absichtlich bis zu unserer Ankunft hier behalten? Ihr hättet ihn sofort ins Leichenhaus schaffen müssen.


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Arzt: Nein, nicht sofort. Laut Vorschrift zwei StunChefarzt: Zu Befehl, Genosse Natschalnik. Wird den nach dem Tode. Außerdem haben wir kein gemacht. Leichenhaus, bloß einen Schuppen. Großer Natschalnik: Und ihr hier lasst euch beGroßer Natschalnik: Halten Sie uns hier nicht zum handeln, erholt euch und kehrt zurück ins ArbeitsNarren mit den Vorschriften der Sanitätsverwaltung. leben. Man muss jede Vorschrift vernünftig aus­legen. (Undeutlicher Chor von Abschiedsworten. Die Besu­ Arzt: Das ist keine Vorschrift der Sanitätsver­ cher, der große Natschalnik an der Spitze, gehen, und waltung, Bürger Natschalnik. Das stammt aus dem Stille tritt ein.) Lehrbuch der Medizin. Die Merkmale des Todes … Erster Patient: Die Sprache wird verhunzt, sagt er, Großer Natschalnik: Halt den Mund, red mich du lieber Gott. nicht dumm, ich habe noch nie ein Krankenhaus Zweiter Patient: Kolyma in Natur habt ihr hier, sagt gesehen, wo die Toten neben den Lebenden liegen. er. (Der Sanitätschef stürzt zu den bereits besichtigten Erster Patient: Nicht in Natur, in Miniatur. ­Pritschen und zerrt unter dem Kopfkissen des ersten Zweiter Patient: Selber Miniatur. Solche Wörter Patienten ein Holzscheit hervor.) gibts ja gar nicht, „in Miniatur“. Sanitätschef: Und was ist das? Auch ein Toter? Erster Patient: Doch, die gibts. Sergej GrigorjeAuch für zwei Stunden? Auch laut Vorschrift? witsch, gibts das Wort „in Miniatur“? Auch wegen der Todesmerkmale? Dritter Patient: Oder nicht? Lass ihn. (Grischa, der Erster Patient: Bürger Natschalnik, ich brauche das wieder den Kittel angezogen hat, zerrt die Laken un­ als Kopfstütze, damit der Kopf bisschen höher liegt, ter den Patienten hervor und legt sie schnell zusam­ dann hab ichs leichter. men.) Sanitätschef: Kopfstütze – ich zeigs dir gleich! SoGrischa: Die braucht man vielleicht gar nicht zu fort entlassen den Mann. waschen. (Zum Arzt:) Sie sollen also mit uns entArzt: Diesen Patienten kann man nicht entlassen. lassen werden, Sergej Grigorjewitsch? Sanitätschef: Man kann nicht? Dann entlasse ich Arzt: Ja, Grischa. dich, verstehst du das? Grischa: Sprechen Sie doch mit dem Chefarzt, Arzt: Ich verstehe. Sergej Grigorjewitsch, der ist ja kein schlechter Sanitätschef: Die Antwort hat zu lauten: Ich versteMensch. Er ist bloß im Beisein der Natschalniks he, Bürger Natschalnik. Steh gefälligst anständig. zum Satan geworden. Arzt: Ich verstehe, Bürger Natschalnik. Arzt: Ja. Kinder, Familie, und doch ein Vieh, wie in Chefarzt: Ich wollte Sie schon lange um die Ab­ dem Witz. lösung dieses Arztes bitten. Da arbeitet man und Grischa: Wenn Sie ihn bitten, dass er mit dem Naarbeitet, und hier liegt ein Balken unterm Kissen, tschalnik der Mine spricht, setzt der Sie als Brigaund man kriegt Knüppel zwischen die Beine. dier ein, dann brauchen Sie wenigstens nicht SteiSanitätschef (zum großen Natschalnik): Sehen Sie, ne zu schleppen wie ein Lastesel. was für Krankenhäuser wir haben? Knisternde Arzt: Nein, Grischa, Brigadier kann ich nicht sein. Laken, doch wenn man genauer hinsieht, findet Lieber will ich sterben. Im Lager gibt es keinen geman Balken unterm Kopfkissen. Unsere Arbeit ist meineren und schrecklicheren Arbeitsposten als sehr schwer, Genosse Natschalnik. den des Brigadiers. Fremder Willen bringt die eigeGroßer Natschalnik: Sie inspizieren zu selten.­ nen Kameraden um. Ein blutrünstiger Posten. In Der Mann benimmt sich wirklich viel zu dreist. der Mine beginnt und beendet die Brigade Iwanow Schicken Sie ihn auf die Goldmine, wenn er nicht die Goldsaison. Nach drei Monaten, am Ende der arbeiten will. Wo ist der Chefarzt? Saison, ist in der Brigade nur noch der Brigadier Chefarzt: Hier, Genosse Natschalnik. der alte, alle übrigen haben in diesen SommermoGroßer Natschalnik: Zu Ihren Pflichten gehört naten dreimal, viermal gewechselt. Die einen sind nicht nur die sozusagen berufliche Anleitung, sonabgekratzt und begraben, andere liegen im Krandern auch die politische Erziehung und die politikenhaus, noch andere sind unheilbare Invaliden. sche Kontrolle. Und das sozusagen bei doppelter Aber der Brigadier lebt! Und er lebt nicht nur, er Subordination. Erstens, und das ist die Hauptsasteht gut im Futter, er bekommt „Prozente“! Der che: Er ist Häftling, und Sie sind frei. Und zweiBrigadier ist der wirkliche Mörder, mit dessen tens: Sie sind der Natschalnik, und er ist der UnterHänden alle umgebracht werden. Das weiß doch gebene. Sie haben darauf zu achten, dass die jeder, der die Mine gesehen hat. Krankenhäuser nicht zu Brutstätten feindlicher Grischa: Ach, Sergej Grigorjewitsch, das Hemd ist Agitation werden. mir näher als der Rock. Stirb du heute, ich morgen.

Arzt: Nein, Grischa. In den Lagern über den Willen, das Leben anderer verfügen zu wollen, das ist ein blutiges Verbrechen. Mit den Händen der Brigadiere – von den Kriminellen einmal abgesehen – werden die Häftlinge in den Lagern umgebracht. Der Brigadier ist der Exekutor alles dessen, was uns in den Zeitungen angedroht wurde. Der Chef der Goldmine schlägt dich mit dem Handschuh ins Gesicht, Grischa, und bestätigt das Protokoll, und der Brigadier, der dieses Protokoll aufgesetzt hat, schlägt dich obendrein mit dem Knüppel – dafür, dass du hungrig bist oder, wie er dem Natschalnik sagen wird, dass du ein Faulenzer und Verweigerer bist. Der Brigadier ist viel schlimmer als die Wachposten und sämtliche Aufseher. Der Aufseher dient entsprechend seinem Vertrag, der Posten leistet seinen Militärdienst, er führt Befehle aus, aber der Brigadier, der Brigadier, dein Kumpel, der mit dir in demselben Transport hergekommen ist, der macht dir nach und nach den Garaus, um selber zu überleben. Grischa: Sie sollten das alles ein bisschen lockerer sehen, Sergej Grigorjewitsch. Arzt: Das kann ich nicht, Grischa. Mein Charakter lässt es nicht zu. Was tun? Ich werde im Lager jede Arbeit machen: Loren schieben, Scheiße räumen. Aber Brigadier werde ich niemals sein. Grischa: Sie haben also solch ein Gesetz. Arzt: Ja. Das Gesetz des Gewissens. (An der Tür klopft es. Grischa geht hinaus und kommt gleich wieder herein.) Grischa: Eine Frau will zu Ihnen, Sergej Grigorjewitsch. Arzt: Eine Frau? Illegale Abtreibung. Na, hol sie rein. Wer ist es denn? Anna Iwanowna: Ich bins. Arzt: Aah, die Büfetteuse von der Trassenkantine. Anna Iwanowna: Sehr richtig. Anna Iwanowna. Arzt: Was kann ich für Sie tun, Anna Iwanowna? Anna Iwanowna: Sie haben gestern gesagt, dass Sie für das Krankenhaus eine Schwester brauchen. Das heißt, eine Operationsschwester, eine Krankenschwester. Ich möchte als Schwester arbeiten, ich könnte es lernen. Arzt: Ein Häftling hat nicht das Recht, über den Tag und die Stunde hinaus zu planen. Das Schicksal des Häftlings liegt in der Hand des Natschalniks. Ich habe meine Arbeit verloren, Anna Iwanowna, während Sie Ihren Entschluss fassten, und ich werde zu den allgemeinen Arbeiten geschickt. Ich brauche keine Schwester mehr. Anna Iwanowna: Nun, entschuldigen Sie, dass es so gekommen ist. Arzt: Ich bitte Sie, ich habe mich zu entschuldigen, dass es so gekommen ist. So ist das Leben.

Kristof Magnusson

Eine große Kulturgeschichte des deutschen Theaters und Films aus erster Hand: Karlheinz Braun über Thomas Bernhard Bertolt Brecht Hans Magnus Enzensberger Rainer Werner Fassbinder Max Frisch Peter Handke Nino Haratischwili Elke Heidenreich Wolfgang Hildesheimer Ursula Krechel Hartmut Lange Dea Loher Gert Loschütz Heiner Müller Botho Strauß F. K. Waechter Martin Walser Peter Weiss Wim Wenders Urs Widmer u.v.a. 680 Seiten. Gebunden. Lesebändchen Mit umfangreichem Personenregister Großformat 15,5 x 24 cm. € 32,00 / € [A] 32,90 ISBN 978-3-89561-254-1 Auch als E-Book

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© Inge Werth / Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

»Karlheinz Braun hat Theatergeschichte geschrieben!«

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DRITTES BILD Geologische Erkundung Eine „Grabung“, kleine Schürfabstiche zur geologi­ schen Erkundung, etagenartig übereinander angelegt – man sucht nach Kohlenflözen. Auf den beiden oberen Schichten lümmeln Kriminelle. Ganz unten arbeitet der Arzt. Von oben, wie vom Himmel herab, steigt der Bauleiter in dieses Amphitheater der Schicksale, aber die Kriminellen rühren sich nicht. Ihre Schaufeln und Spitzhacken lehnen in einer Ecke. Bauleiter: Na, wie stehts? Krimineller: Wir arbeiten, Bürger Natschalnik. (Der Bauleiter in der obersten Schicht hebt eine Spitz­ hacke auf und betrachtet sie. Auf der Abstichkante liegt eine gewaltige qualmende Selbstgedrehte, für die eine ganze Streichholzschachtel voller Machorka ver­ braucht wurde.) Bauleiter: Du hast dir eine Prämie verdient – für sorgfältigen Umgang mit dem Werkzeug. Krimineller: Oho, eine Prämie! Geben Sie mir lieber was zu rauchen, Pjotr Christoforowitsch. Bauleiter: Du rauchst ja schon. Krimineller: Das ist aber proletarischer Machorka, und Sie haben Belomör-Zigaretten. Bauleiter (holt eine Schachtel hervor und setzt sich auf den Rand der Schürfgrube): Schäm dich was, Genka, gar nichts zu tun. So ein kräftiger Kerl, ein „Lulatsch“ bist du, wie ihr ja sagt. Krimineller: Ich hab meine Kuben, meine Kubikmeter, beim Kartenspiel gewonnen, und ich kann rumhängen bis Weihnachten. Dazu habe ich das Recht. Bauleiter: Im Kartenspiel? Von wem? Krimineller: Vom Chef. Bauleiter: Aber der Vorarbeiter hat mir gesagt, er nimmt es nie in die Hand, dieses … Krimineller: „Gebetbuch“? Bauleiter: Genau. Spielkarten. Neulich seh ich, meiner Frau ist ein Band Victor Hugo abhanden gekommen. In der Taiga. Wer braucht hier Victor Hugo? Wer hat Nutzen davon? Das Buch ist auf ­gutem Papier gedruckt. Dickes Papier, Hochglanz. Krimineller: Aus solchem Papier werden eben Karten gebastelt, da braucht man nicht ein paar Blätter zusammenzukleben. Wenn man nur Zeitungs­ papier hat, muss man kleben – eine Arbeit mehr. Bauleiter: Ich verstehe und merks mir für die ­Zukunft. Aber ich habe auch meine Berichte und meine Leistungsnormen. Da genügt es nicht, aus Victor Hugo Karten zu machen … ein Gebetbuch. Was meinst du? Krimineller: Bestimmt genügt es nicht. Bauleiter: Und wie soll ich nun abrechnen, was für Leistungen aufschreiben?

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Krimineller: Erdrutsch, Pjotr Christoforowitsch. Erdrutsch, wir müssen noch mal von vorne anfangen. Der Chef ist zwar ein Freier6, aber ein geschlagener Mann, und er kennt das Leben. Sie werden auch keine Lust haben, sich vor dem Natschalnik zu verantworten, dann werden Sie womöglich noch abgesetzt. Ach, Pjotr Christoforowitsch, ohne Schmu und Ammonal … Bauleiter: … gäbs nicht den Belomor-Kanal. Das stimmt, aber wenn ich Erdrutsch angeben soll, muss wenigstens etwas getan sein, wenn auch nur ganz wenig. Du könntest wenigstens Schürfgruben markieren. Krimineller: Darüber lässt sich reden, Pjotr Christoforowitsch. Bauleiter: Hängt es dir nicht zum Halse heraus, den lieben langen Tag hier rumzuliegen? Krimineller: Wir erzählen uns Romane. „Fürst Wjasemski“, „Die Bande der roten Buben“. Interessiert Sie das nicht, Pjotr Christoforowitsch? Bauleiter: Nein, kein Interesse. An dein Gewissen will ich gar nicht appellieren, Genka. Krimineller: Daran tun Sie recht. Da, wo andere ein Gewissen haben, ist bei uns ein Horn gewachsen. Bauleiter: Ich kann mich bloß wundern, den lieben langen Tag … Ist doch langweilig. Wenn ich in deiner Grube arbeiten würde … (Nimmt eine Spitzhacke und fängt an zu arbeiten. Der Erdhaufen neben der Grube wächst rasch.) Da, in einer knappen Minute. Krimineller: Sie haben eben Talent, Sie sind berufen für diese Arbeit. Bauleiter: Berufen oder nicht, körperlich arbeiten kann ich. Aber zum Teufel, hab ich das nötig? Krimineller: So denke ich auch, Pjotr Christoforowitsch. Was zum Teufel hab ich das nötig. Bauleiter: Für diese Arbeit setz ich dich auf Strafration. Krimineller: Ich bin auch mit der halben Ration zufrieden, wenn die Schüssel so groß ist wie ein Pferdeeimer. (Der Vorarbeiter geht zum nächsten Abbau, wo am Rand der Grube unbeweglich der Zweite Kriminelle liegt. Auch hier ist kein Aushub zu sehen.) Bauleiter: Wie stehts bei dir, Snegirjow? Zweiter Krimineller: Das wird die Messung zeigen. Bauleiter: Du kriegst Strafration. Zweiter Krimineller: Ach, Bürger Natschalnik, in der Taiga gilt das Gesetz: Im Lager tötet die große Ration, nicht die kleine. 6 fraer (russ.) – aus dem deutschen Gaunerjargon übernommene Bezeichnung für Nicht-Ganoven

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Bauleiter: Wirklich, ohne Erdrutsch gehts nicht. (Geht zum nächsten Abbau, wo der Arzt arbeitet.) Na, wie fühlst du dich? Nach dem Arztkittel? Arzt: Bürger Natschalnik, ich kann jede Arbeit tun. Ich könnte sogar Bauleiter bei der Erkundung sein. Bauleiter: Halt lieber den Mund. Welchen Artikel hast du? Arzt: Danach fragen Sie mich nicht das erstemal. Bauleiter: Das geht dich nichts an, antworte, wie es sich gehört, wenn der Natschalnik dich fragt. Arzt: Artikel achtundfünfzig, Bürger Natschalnik. Bauleiter: Und genauer? Arzt: Großbuchstaben, Bürger Natschalnik, SV. Bauleiter: Also Großbuchstaben? Arzt: Ja, Bürger Natschalnik. Bauleiter: Das ist schlecht. Arzt: Ja, Bürger Natschalnik. Bauleiter: Sag mal, weshalb kommt mir dein Gesicht so bekannt vor? Sind wir uns schon mal begegenet? Arzt: Nein, Bürger Natschalnik, das muss ein Irrtum sein. Ich habe ein ganz gewöhnliches Gesicht. Ich komme vielen Menschen bekannt vor. Wenn sie dann genauer hinschauen, kennen sie mich doch nicht. Bauleiter: Nein, ich habe ein gutes Personengedächtnis. Warst du nicht voriges Jahr in der Trassenkantine, als auf einen Mann geschossen wurde? Du hast dem Verwundeten Hilfe geleistet. Krimineller: Du bist wohl durchschaut, Kurpfuscher? Arzt: Wirklich, Sie irren sich, Bürger Natschalnik. Solche Schießereien passieren dort jeden Tag. Bauleiter: Also – arbeite ehrlich, gib dir Mühe, und wenn du die Norm übererfüllst, setze ich dich wieder als Arzt ein. Arzt: Danke, Bürger Natschalnik. (Herein kommt der Vorarbeiter.) Bauleiter: Ach, Herr Vorarbeiter, ich habe Informationen, dass Sie wieder Kubikmeter verspielt haben. Vorarbeiter: Schwindel, Pjotr Christoforowitsch, Lüge, ich komme, um Ihnen zu sagen, in den Abbaugruben dort hinten hat der gestrige Regen die Erde weggespült, und die Gruben sind eingestürzt. Erdrutsch. Wir brauchen ein Protokoll. Bauleiter: Gestern hats ja gar nicht geregnet. Vorarbeiter: Kann auch vorgestern gewesen sein. Bauleiter: Vorgestern hats auch nicht geregnet. Deinen Erdrutsch sehen wir uns gleich mal an, und wenn es stimmt – diese Gruben hier (Zeigt.) nimmst du auch gleich zu Protokoll. Vorarbeiter: Klarer Fall! (Es wird gegen die Schiene geschlagen.)

3X3 AUFFÜHRUNGEN 02. – 05.05. NANA OU EST-CE QUE TU CONNAIS LE BARA? 09. – 11.05. WOLFGANG 16. – 18.05. SUPERBIA

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Bauleiter (sieht nach der Armbanduhr): Wer schlägt da gegen die Schiene, Vorarbeiter? Vorarbeiter: Bestimmt Anna Iwanowna. (Anna Iwanowna kommt herein.) Bauleiter: Weshalb läutest du? Du bist noch nicht auf dem Festland. Anna Iwanowna: Das Mittag ist fertig. Bauleiter: Nein, lass die Scherze, bring die Arbeiter nicht durcheinander. Wir haben keine Glocke und keine Uhr, wir arbeiten nach der Sonne. Anna Iwanowna: Ich muss mit dir sprechen. Bauleiter: Vorarbeiter, lass uns allein. Schick die Arbeiter zum Essen, wenn schon die Schiene geschlagen wurde. (Arbeiter und Vorarbeiter ab.) Anna Iwanowna: Weshalb hast du unsern Arzt abgelöst und zur allgemeinen Arbeit geschickt? Er hat doch gar nichts zu tun mit dem Gespräch, von dem dir Foma Meldung gemacht hat, wo es um die Zustände in Kolyma ging. Du hättest das besser untersuchen sollen. Bauleiter: Anna, dafür gibt es tausend Gründe. Erstens, der Arzt unterliegt der Sonderanweisung, er ist nach Großbuchstaben verurteilt. Es gibt ein Papier direkt aus Moskau, wonach er nur zu ­ schwerer körperlicher Arbeit unter den Bedingungen des Hohen Nordens eingesetzt werden darf. Wenn ich ihm also erlaube, in seinem Beruf zu arbeiten, verstoße ich nicht nur gegen einen Befehl, sondern auch gegen die höchste politische Linie des Staates. Soweit erstens. Anna Iwanowna: Aber sie haben ihn doch hergeschickt, damit er als Arzt arbeitet. Bauleiter: Das hat jemand hintenrum gefingert. Ich weiß zwar, dass so etwas mit den Achtundfünfzigern vorkommt, aber ich muss die Ohren steif halten, und du misch dich nicht in meine Politik. Anna Iwanowna: Ich verstehe. Bauleiter: Nein, du verstehst noch gar nicht. Der zweite Grund: Ein richtiger Natschalnik muss alle seine Helfer, die Häftlinge sind, doppelt haben, nicht nur einen, sondern zwei, verstehst du? Anna Iwanowna: Nein. Bauleiter: Zwei Köche, zwei Buchhalter, zwei Ärzte, zwei Vorarbeiter, zwei Stubendienste. Der eine arbeitet drinnen, der andere ist draußen bei den allgemeinen Arbeiten, der schuftet im Abbau, verstehst du? Anna Iwanowna: Nein. Bauleiter: Wer auf einem Druckposten arbeitet, klotzt nach Kräften ran, um den Posten zu behalten. Denn dabei kann er überleben. Er ist zu allen Gemeinheiten bereit, nur um bei dieser leichten Arbeit zu bleiben. Warum funktioniert die Information bei mir immer so gut? Weil bei mir alle

Druckposten doppelt besetzt sind. Niemand fühlt sich unersetzlich. Der kleinste Missgriff, und ab zu den allgemeinen Arbeiten. Anna Iwanowna: Du bist ganz anders … Du bist klüger, als ich dachte. Bauleiter: Und das ist noch nicht alles. Der zweite Mann, der bei den allgemeinen Arbeiten, der schindet sich ab, um wieder auf den Druckposten zu kommen. Er übererfüllt die Norm. Verstehst du? Die Arbeiter draußen erzählen mir noch mehr als die auf den Druckposten, und die Produktion gewinnt dabei! Gesetz! Ordnung! Wer ist der beste Bauleiter in Dalstroi7? Pjotr Christoforowitsch Kusnezow, der Bauleiter und Psychologe. Anna Iwanowna: Der Kenner der menschlichen Seele, der Verehrer von Jack London. Bauleiter: Jack London, das ist Romantik von gestern, Anna, eine fremde Romantik. Das, was ich dir sage, das ist das Leben. Anna Iwanowna: Du weißt ja, bei mir als Frau ist nicht alles in Ordnung. Und dieser Foma Troizki, den du als Arzt eingesetzt hast, der bezeichnet die traumatischen Krankheiten als dramatische Krankheiten. Bauleiter: Nicht schlecht. Er ist ein Philosoph, unser Foma. Nein, Anna, du sollst nicht denken, dass ich eine Bestie bin, darum will ich den Doktor wieder als Arzt einsetzen. So ist es besser. Wenn mir irgendwann mal gesagt wird, unter meinen Hilfskräften ist ein Faschist, kann ich beweisen, dass dieser Faschist mehr mit Spaten und Spitzhacke gearbeitet hat als mit Skalpell und Sonde, mit anderen Worten, er hat geschuftet. Verstehst du? Anna Iwanowna: Du könntest durchaus Verwaltungsleiter sein. (Die Arbeiter und der Vorarbeiter kommen vom Mit­ tagessen zurück.) Bauleiter: Vorarbeiter, setze die Herren Ganoven zu einer anderen Arbeit ein, und der Doktor soll die Norm erfüllen. Komm, ich zeig dir, wo du sie hinstellst. (Vorarbeiter und Kriminelle ab.) Also, Platonow, morgen ist deine Zwangsarbeit zu Ende. Mach weiter bis zum Abend, und morgen gehst du wieder zu deiner alten Arbeit. Nur, du und Foma, ihr müsst ein Übergabe-ÜbernahmeProtokoll aufsetzen. Arzt: Danke, Bürger Natschalnik. Bauleiter: Bedank dich bei Anna Iwanowna. Sie hat hier Tränen vergossen. Und ich bin ein schwacher Mann. Dalstroi – Großbetrieb zur Erschließung des sibirischen Nordostens durch schwere Häftlingsarbeit, vor allem der Kolyma-Goldfelder. 7

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Arzt: Danke, Bürger Natschalnik. (Bauleiter ab.) Ich danke Ihnen, Anna Iwanowna. Anna Iwanowna: Keine Ursache. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Arzt: Sie? Mir? So? Anna Iwanowna: Ich habe ein Anliegen an Sie. Arzt: So? Anna Iwanowna: Ja. Nächste Woche, man möchts nicht glauben, gehts aufs Festland. Ich fliege mit meinem Sohn. Mein Sohn ist ja hier im Kindergarten, im Internat. Haben Sie das nicht gewusst? Arzt: Nein. Aber warum sollten Sie keinen Sohn haben? Anna Iwanowna: Mein Mann und ich – ich war damals mit einem anderen zusammen, er wurde von einem Baumstamm erschlagen –, wir lebten damals in der finstersten Taiga. Ich habe mein Kind allein zur Welt gebracht, ohne jede menschliche Hilfe. Mein Mann war auf Dienstreise. Ich möchte Ihnen sagen, Sergej Grigorjewitsch, Sie haben viel für mich getan. Soll ich vielleicht einen Brief an Ihre Angehörigen mitnehmen? Ich mach das. Arzt: An meine Angehörigen? Naja, eine Adresse habe ich wohl. Ich habe nichts für Sie getan, Anna Iwanowna, weder Gutes noch Schlechtes. Anna Iwanowna: Ich kann es nicht so ausdrücken. Ich habe so wenig Menschen gesehen, auch auf dem Festland. Manchmal glaube ich, alles, was mit uns geschieht, ist nur ein Traun, ein böser Traum. Oder unser früheres Leben ist ein Traum, und unser richtiges Leben ist das hier: Blut, Dreck … Also, schreiben Sie den Brief. Arzt: Ja, ich habe einen Brief. Es ist ein langer Brief, mehrere Hefte. Ein Goldklumpen, achthundert Gramm schwer. Achthundert Gramm Gedichte. Anna Iwanowna: Gedichte aus dem Lager? Arzt: Nein, aus den Wolken. Nehmen Sie sie mit, Anna Iwanowna? Ich bereite alles vor. Im Flugzeug ist ja jedes Gramm teuer. Anna Iwanowna: Das macht nichts. Geben Sie es mir am Sonnabend. Ich nehme es mit. Gedichte, davon verstehe ich gar nichts Arzt: Sie riskieren viel. Ihr Mann … Anna Iwanowna: Was ist er mir schon für ein Mann? Mein Kolyma-Mann. In Elgen hat er mich mitgenommen, als ich freikam. Auf dem berühmten Heiratsmarkt hinter dem Pferdestützpunkt hat er mich ausgeguckt. Heiratsmarkt mit Probe im Gebüsch. Eine Frau mit Kind hat es sehr schwer in Kolyma. Arzt: Sie waren Häftling? Anna Iwanowna: Natürlich. Ich lebe zwangsweise hier als Freie. Nicht ohne Erfolg. Arzt: Wie lange schon?

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Anna Iwanowna: Acht Jahre. Nach Artikel hundertachtunddreißig. „Mord aus Eifersucht … Arzt: … und anderen niederen Beweggründen“. Den Ehemann? Anna Iwanowna: Nein, sein Liebchen. Mit der Pistole meines Mannes. Mein Mann war Militärflieger. Es ist uns gut gegangen. Zuerst hat er in Fernost gedient. Das war eine glückliche Zeit. Die Taiga. Schnee, Sonne. Wir sind Ski gelaufen. Der Schnee ist dort ganz anders als hier, nicht so locker, bösartig, verräterisch. Dort ist der Schnee frisch wie das Leben. Später wurde mein Mann versetzt. Ans Schwarze Meer. Da hat er sich eine Freundin angeschafft. Die Frau unseres Majors. Die habe ich erschossen. Auf einer Abendgesellschaft. Arzt: Was es nicht alles gibt. Anna Iwanowna: Ja. Also bereiten Sie alles vor. Ich überbringe den Gruß von Ihnen. Man wird das Wichtigste erfahren – dass Sie leben. Arzt: Ich bin längst gestorben. Ich habe mich vergessen. Anna Iwanowna: Das kommt wieder. Sogar bei mir kommt alles wieder. Arzt: Das Leben kommt nicht wieder. Nun, ich danke Ihnen, ich mache den Brief fertig. (Ab.) (Herein kommt Bauleiter.) Bauleiter: Worüber hast du mit dem Arzt gesprochen? Anna Iwanowna: Er hat mich gebeten, einen Brief aufs Festland mitzunehmen. VIERTES BILD Zimmer des Ermittlers Kleines Arbeitszimmer eines Ermittlers im Hohen Norden. Der Diensthabende hilft dem eintretenden Er­ mittler beim Ablegen. Ermittler: Ist der Bus aus dem Gefängnis schon da? Diensthabender: Schon längst, eine halbe Stunde. Ermittler: Ich bin ein bisschen spät dran, das Gutachten aus Moskau ist da. Hast du auch bei Furajew Dienst gehabt? Diensthabender: Ja, auch bei Furajew. Der hat manchmal schon früh morgens mit dem Saufen angefangen. Bei ihm an der Wand hing eine Hausapotheke. Er hat Baldriantropfen und alle möglichen Aufgüsse in ein Glas gekippt, davon ist er etwas lustig geworden. Das Apothekenschränkchen hat ziemlich hoch gehangen, und Furajew war ja man klein. Also, er hat sich einen Stuhl geholt und ist raufgestiegen, dann reichte er hin. Ich hab ihn manchmal gefragt: „Haben Sie keine Angst, das alles zu mischen? Das ist doch giftig.“ Da hat er mir gesagt: „Erstens heißt das Cocktail und ist im

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Ausland überall üblich. Und zweitens, wenn meine Mutter krank war, und auf den Fläschchen war kein Etikett, dann hat sie alles zusammengemengt, hat sich bekreuzigt und das Zeug getrunken. Was machst du da, Mama?, hab ich gesagt. Ich hab mich übergeben, sagte sie dann, nun fühl ich mich besser.“ Ermittler: Du bist ja eine Plaudertasche. Hast du das bei Furajew gelernt? Diensthabender: Ja, ich musste ihn unterhalten, wenn er angetrunken war, er hat sich immer gelangweilt. Ermittler: Nun, wir werden uns nicht langweilen. Hier hast du die Liste, da stehen Nummern an der Seite, in dieser Reihenfolge lässt du sie rein. (Diensthabender ab. Herein kommt Anna Iwanowna.) Nehmen Sie Platz, Bürgerin Uschakowa. Anna Iwanowna: Ich heiße nicht Uschakowa. Ermittler: Es sollte ein Scherz sein. Nehmen Sie Platz, Bürgerin Kusnezowa. Anna Iwanowna: Ich hätte nicht erwartet, dich in dieser Aufmachung wiederzusehen. Ermittler: Liebe versetzt Berge. Darum bin ich hergekommen. Anna Iwanowna: Dich wird wohl eher die Polarration hergelockt haben und das große Geld. Ich habe dich voriges Jahr an der Trasse gesehen, und ich wollte meinen Augen nicht trauen; ich dachte, das ist ein Fehler, wie es in der Schule heißt. Ermittler: Eine optische Täuschung. Anna Iwanowna: Ja, optische Täuschung. Ermittler: Du siehst nicht schlecht aus. Anna Iwanowna: Weswegen bin ich verhaftet? Ermittler: Darüber reden wir gleich. (Gibt ihr einen Fragebogen.) Ich habe deinen Fragebogen aus dem Gedächtnis ausgefüllt. Sieh nach, ob alles richtig ist. Ich glaube nicht, dass ich mich geirrt habe. Außer den letzten zehn Jahren natürlich. Anna Iwanowna (sieht den Fragebogen durch): Alles richtig. Also, weswegen bin ich verhaftet? Und mein Sohn … Ermittler: Dein Sohn ist nach wie vor im Internat, wo er war. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Anna Iwanowna: Nun sag schon – weswegen? Ermittler: Das kannst du dir nicht denken? Wegen des Versuchs, ein Militärgeheimnis ins Ausland zu geben. Mildernde Umstände lassen sich – vielleicht! – finden, da du nicht gewusst hast, dass es sich um ein Militärgeheimnis handelt. Anna Iwanowna: Ich verstehe kein Wort. Ins Ausland? Was denn für ein Militärgeheimnis? Ermittler: Sie haben von dem Arzt, dem Haeff Platonow, den Auftrag übernommen, dieses Dokument aufs Festland zu bringen?

Sa 4.5. bis Mi 8.5. Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula (CH/ZA) The Ecstatic

Anna Iwanowna: Ja, Hefte mit Gedichten. Ermittler: Sie habens übernommen, und Sie haben geglaubt, es wären Hefte mit Gedichten. Sie sehen, wir üben keinerlei Druck aus. Das, was Sie sagen, schreiben wir auf. Anna Iwanowna: Hefte mit Gedichten sollen ein Militärgeheimnis sein? Ermittler: Für Sie sind das Hefte mit Gedichten, aber für Moskau ist das ein Plan der Festungen an der Kolyma. Anna Iwanowna: Aber an der Kolyma gibts ja gar keine Festungen. Ermittler: Das kannst du nicht wissen. Anna Iwanowna: Du mein Gott, was für ein Unsinn. Ermittler: Du warst die Frau eines Offiziers. Du musst wissen und verstehen, was das ist — Geheimcode, Chiffre, Dechiffrierung. Wir haben diese Gedichte nach Moskau geschickt, und gestern kam die Antwort mit der Entschlüsselung des Codes. Es ist der Plan der Festungen an der Kolyma, und er ist für die ausländische Spionage bestimmt. Ich sehe mal nach, für welche Spionage. (Sieht auf dem Schreibtisch nach.) Für die japanische Spionage. Es ist uns gelungen, einen gefährlichen Feind unschädlich zu machen, einen feindlichen Dolch herauszureißen. Ich bin stolz darauf, dass ich dazu beitragen konnte, eine solche Bestie zu fangen. Und du solltest dich möglichst abgrenzen von solch einem Verbrechen und dem Staat helfen. Ich sage dir das aus alter Freundschaft. Wir sind doch schließlich nicht verfeindet. Anna Iwanowna: Was muss ich tun, damit dieser Fall abgeschlossen werden kann? Ermittler: Du meinst, was nur dich selber betrifft? Anna Iwanowna: Ja doch. Ermittler: Du weißt es selber, du bist kein Kind mehr. Anna Iwanowna: Mit dir schlafen, das ist nicht schwer aus alter Freundschaft. Ermittler: Mit mir schlafen? Das hättest du mir im Fernen Osten sagen können oder in Jalta, aber nicht im Hohen Norden. Anna Iwanowna: So ist das also. Also habe ich mich geirrt. Du bist erwachsen geworden. Du kennst jetzt das Leben. Ermittler: Hilf dem Staat, die Feinde zu entlarven. Damit kannst du deine Schuld verringern. Anna Iwanowna: Ich bin in keiner Weise schuldig. Ermittler: Ich könnte dich zwingen. Schon mal vom dritten Grad gehört? Anna Iwanowna: Ja. Ermittler: Aber ich werde es nicht tun. Ich habe Achtung vor dem Mut deines Mannes, der uns alle

Do 9.5. & Sa 11.5. Alice Ripoll (BR) aCORdo

So 19.5. Altin Gün (NL/TR)

Fr 10.5. & Sa 11.5. Alice Ripoll (BR) Cria

Do 23.5. bis So 2.6. Wildwuchs Festival 2019

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Informationen gegeben hat, die wir brauchen, um einen Erzfeind der Sowjetmacht zu verhaften. Anna Iwanowna: Wer ist schon Feind, wer ist schon Freund … Ermittler: Kurz und gut, sie werden dich nicht schlagen. Aber such die Schuld bei dir, sei mir nicht böse. (Läutet. Herein kommt Diensthabender.) Ins Gefängnis. (Anna Iwanowna wird abgeführt. Ermittler geht im Zimmer auf und ab. Sein Gesicht ist unbewegt. Herein kommt Krimineller.) Setzen! Häftling Korabljow! Krimineller: Fjodor Iwanowitsch. Ermittler: Weiter! Krimineller: Orlow, Gennadij Iwanowitsch. Ermittler: Weiter! Krimineller: Koslow, Fjodor Polikarpowitsch. Ermittler: Alles derselbe! Welcher Name ist richtig? Krimineller: Orlow, Gennadi Iwanowitsch. Ermittler: Artikel fünfunddreißig, hundertzweiundsechzig, neunundfünfzig, das sind drei. Ein Artikel fehlt. Krimineller: Welcher denn, Bürger Natschalnik? Ermittler: Achtundfünfzig – vierzehn, fünfundzwanzig und fünf. Konterrevolutionäre Sabotage. Krimineller: Den Artikel haben sie mir in der Mine angehängt, Bürger Natschalnik. Sie wollten mich zum Politischen machen und mir die saubere Visage versauen, aber da haben sie eine Niete gezogen. Ermittler: Wir betrachten euch nicht als Politische. Wir halten euch nicht für Volksfeinde. In Gegenteil, wir wollen euch in den Kanpf mit den wirklichen Feinden einbeziehen. Krimineller: So, so. Ermittler: Dir ist vieles verziehen worden, Korabljow alias Orlow. Hier habe ich einen ganzen Packen Protokolle wegen Arbeitsverweigerung. Die gesammelten Werke des Fjodor Iwanowitsch Korabljow alias Orlow alias alias. Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, auch den Artikel achtundfünfzig zu kriegen, Paragraph vierzehn: konterrevolu­ tionäre Sabotage? Krimineller: Worauf wollen Sie hinaus, Bürger Natschalnik? Ermittler: Das will ich dir sagen. Du bist nicht dumm, im Gefängnis sitzen keine Dummköpfe! Anspielungen können wir uns sparen. Wir haben Informationen, dass euer Arzt, der Häftling Platonow, die Ermordung von Natschalniks geplant hat. Terroristische Absprachen und so weiter. Es muss herauskommen, dass er die Morde mit euch geplant hat. Er hat sich sozusagen mit der Verbrecherwelt verbündet. Amalgam – schon mal gehört? Ist ja ein Modewort.

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Krimineller: Nein, nie gehört. Ich hab mich nie an Instituten rumgetrieben. Der Vorschlag passt mir nicht. Ermittler: Warum nicht? Wir garantieren dir die Freiheit. Krimineller: Ich will Ihnen was sagen, Bürger Na­ tschalnik. Dieser Arzt, dieser Kurpfuscher Platonow, ob der auf die Schnauze fliegt oder nicht, ob der abgeknallt wird oder sonstwie krepiert, das ist mir scheißegal. Stirb du heute, ich morgen. Hier gehts um was anderes. Sie sind schließlich ein erwachsener Mensch, aber Sie behandeln mich wie einen Freien. Wenn Platonow wegen Terror aufgehängt wird oder seine Strafe nach Gewicht kriegt – neun Gramm Blei! –, dann krieg ich doch als Mitschuldiger mindestens fünfundzwanzig Jahre, oder was meinen Sie? Sie wollen mit einem Schuss zwei Hasen treffen. Soll ich Ihnen sagen, wie das in unserer Sprache heißt? Wir haben da so einen Ausdruck, aber ich trau mich nicht, dies ist ja ein offizieller Raum. Ermittler: Ich kenne eure Ausdrücke. Krimineller: Also, ich bin in dieser Sache kein Partner für Sie. Machen wirs anders – ohne Terror. Irgendwas in Richtung „Asa“. Ermittler: Was ist denn das für ein Kauderwelsch? Krimineller: Das ist kein Kauderwelsch, sondern ’ne Abkürzung. Asa – antisowjetische Agitation. Ermittler: Interessant. Also in der Richtung können wir weitertanzen. Krimineller: Können wir. Ich bin überhaupt ein fröhlicher Mensch, Bürger Natschalnik, ich könnte jetzt hier ’ne Runde steppen. Ich kann Ihnen vortanzen, was Sie wollen, von mir aus den Leitartikel aus der „Magadaner Prawda“. Ermittler: Den brauchst du mir nicht vorzutanzen. Aber helfen musst du mir! Krimineller: Wir haben Ihnen schon geholfen. Wir haben Ihnen einen Kassiber geschickt. Darin steht, dass der Kurpfuscher Platonow einen Brief aufs Festland mitgegeben hat. Der Frau des Bauleiters. Wir haben also unsere Treue bewiesen. Ermittler: Richtig, der Brief war ein Signal von euch. Da hats mehrere Signale gegeben. Der moralisch-politische Zustand des Lagers ist also völlig in Ordnung. Aber helfen willst du mir nicht. Krimineller: Wir haben geholfen und werden weiter helfen, Bürger Natschalnik. Wir wissen Vertrauen zu schätzen. Aber verwickeln Sie mich nicht in Gruppen, Organisationen und so weiter. Unsereiner hat es schwer, sich aus solchen Fangnetzen wieder herauszuwickeln. Sie sind doch kein Kind, Bürger Natschalnik. (Ermittler läutet. Herein kommt Diensthabender.)

Vielstimmigkeit?! Verhandlungen des Politischen im Theater Fachtagung mit Workshops 23. bis 25. Juni 2019

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Ermittler: Abführen. (Krimineller und Diensthaben­ der ab.) (Durch die Tür:) Der Nächste. (Herein kommt Vorarbeiter, ein Häftling, und bleibt an der Tür stehen.) Du bist Vorarbeiter im Erkundungsbereich Kusnezow? Vorarbeiter: Ja, Bürger Natschalnik. Ermittler: Du weißt, warum ich dich herbestellt habe? Vorarbeiter: Nein, Bürger Natschalnik. Ermittler: Wer hat diesen Brief geschrieben? Setz dich hin und sieh ihn dir an. Vorarbeiter: Den habe ich geschrieben, Bürger Nat­ schalnik. Ermittler: Daran hast du recht getan. Du hast gemeldet, dass die Frau des Bauleiters einen Brief des Häftlings Platonow aufs Festland mitnimmt. Du hast deine Pflicht getan. Aber du warst der Zehnte, der es mir gemeldet hat. Na? Warum hast du es mir als Zehnter gemeldet und nicht als Erster? Deswegen habe ich dich kommen lassen. Warum? Vorarbeiter: Ich weiß nicht, Bürger Natschalnik. Ermittler: Du weißt es nicht? Du bist verpflichtet, es als Erster zu wissen. Wenn ich was von dir erfahre, heißt das, ich kriegs aus zehnter Hand. Wird Zeit, dass du zur allgemeinen Arbeit kommst. Vorarbeiter: Wie Sie meinen, Bürger Natschalnik. Ermittler: Erzähl von den ganzen Schweinereien. Vorarbeiter: Am sechzehnten kamen Jakuten, und der Bauleiter hat von ihnen eine jakutische Pelzmütze gekriegt und ihnen dafür eine Stoffmütze aus dem Laden gegeben. Ermittler (schreibt): War das eine Pelzmütze für Frauen? Vorarbeiter: Nein, eine Männermütze. Die machen doch da keinen Unterschied. Ermittler: Und weiter?

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Vorarbeiter: Er hat immer Kondensmilch aus dem Vorratslager in seine Wohnung mitgenommen. Ermittler: Und weiter? Vorarbeiter: Die Kriminellen arbeiten nicht, sie dreschen Tag und Nacht Karten und bemogeln die Häftlinge. Ermittler (schreibt): Wen zum Beispiel? Vorarbeiter: Verschiedene. Das kann man sich nicht merken. Ermittler: Eure Siedlung ist nicht groß, da kann man sich alle merken. Noch was? Vorarbeiter: Die Kriminellen kriegen StachanowRationen für Bestarbeit in den Erkundungsgräben. Ermittler: Wer schreibt die Arbeitsleistungen auf? Vorarbeiter: Ich, und der Bauleiter bestätigt sie. Ermittler: Wieso kriegen die Kriminellen solchen Stachanow-Lohn? Es gibt doch Messungen, Leistungsberechnungen. Vorarbeiter: Das geht auf Konto Erdrutsch. Ermittler: Erdrutsch? Vorarbeiter: Ja, Erdrutsch. Ermittler: Was ist denn das? Vorarbeiter: Ein nicht vorhandener Graben wird von nicht vorhandenem Erdreich zugeschüttelt. Naturgewalt. Einsturz. Nicht gearbeitet und doch Arbeitsergebnisse. Ermittler: Echte Dialektik. Sehr interessant. Verstehe. Und wer ist verantwortlich für die Naturgewalt? Vorarbeiter: Bauleiter Kusnezow. Ermittler: Das ist ja ein Wirtschaftsverbrechen. Vorarbeiter: Wir sagen einfach Schmu. Ermittler: Was kannst du mir von eurem Arzt erzählen, dem Häftling Platonow? Vorarbeiter: Den kenn ich schon von der Goldmine. Der Natschalnik dort hatte eine lockere Hand. Ermittler: Locker? Vorarbeiter: Ja. Wenn der zuschlug, kippte man aus den Latschen. Es gibt ja welche, die haben ein gutes Herz, die tragen dabei Handschuhe, aber der nahm die bloße Faust. Reine Gewohnheit, verstehen Sie. Ermittler: Ich frage nach dem Arzt. Vorarbeiter: Und ich antworte darauf, Bürger Na­ tschalnik. Wir haben in der Baracke über diesen Natschalnik geredet. Platonow hat gesagt: „Solch ein Natschalnik muss, wenn seine Obrigkeit kommt, öffentlich eins aufs Maul kriegen. Mit dem Handschuh oder der bloßen Faust, ganz egal. Ein solcher Schlag“, hat er gesagt, „muss durch ganz Kolyma krachen, dann wird der Natschalnik abgesägt.“ Und was meinen Sie … Ermittler: Schluss mit dem Geschwätz. Ich hab dir voriges Mal gesagt, schreib alles auf. Gedächtnisprotokoll. Vorarbeiter: Mach ich ja. Ich habs mitgebracht. (Holt ein Blatt Papier hervor.) Ermittler (überfliegt das Geschriebene): Hier fehlt was. Die Frau des Bauleiters, Anna Iwanowna, hatte ein Verhältnis mit dem Arzt Platonow. Vorarbeiter: Davon weiß ich nichts. Platonow kommt nie zu den Zelten der Freien. Er wohnt in der Baracke, wo das Ambulatorium ist. Anna Iwanowna war nie bei uns in der Baracke, ich bin ja immer dort. Ermittler: Dann müssen sie sich irgendwo in der Taiga getroffen haben. Stell das fest und schreibs auf. (Gibt ihm das Papier zurück.) Vorarbeiter (schreibt an Ort und Stelle und gibt das Papier dem Ermittler): Fertig, Bürger Bevollmächtigter. (Ermittler läutet. Herein kommt Diensthabender.)

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Ermittler (entlässt den Vorarbeiter): Wir sind fertig. (Vorarbeiter und Diensthabender ab. Herein kommt Bauleiter.) Nehmen Sie bitte Platz, Genosse Kusnezow. Bauleiter: Danke. Ermittler: Füllen Sie bitte den Fragebogen aus. Bauleiter: Mit Vergnügen. (Schreibt.) Fertig. Ermittler: Ich hätte da eine Frage an Sie. Sie haben geholfen, einen wichtigen Verbrecher unschädlich zu machen. Der Mann ist so wichtig, dass wir ausführlicher darüber reden müssen als letztes Mal. Bauleiter: Ich stehe zu Diensten. Ermittler: Sagen Sie, Genosse Kusnezow, wann haben Sie den Häftling Platonow kennengelernt? Bauleiter: Den Häftling Platonow hat mir die Sanitätsverwaltung als Feldscher auf den Erkundungsabschnitt geschickt, denn ein Arzt steht uns etatmäßig nicht zu. Ermittler: Können Sie sich erinnern, wer in der Sanitätsverwaltung die Verlegung Platonows zu Ihnen unterschrieben hat? Bauleiter: Ich kann mich nicht erinnern, aber das muss ja in den Archiven zu finden sein. Ermittler: Ach, Archive, Archive. Heute sind es Archive und morgen Rauch, leere Flecke. Bauleiter: Platonow fing als Feldscher an, aber da er sich äußerst herausfordernd benahm, war ich schon bald gezwungen, ihn zu den allgemeinen Arbeiten zu versetzen. Ermittler: Worin bestand das herausfordernde Benehmen des Häftlings Platonow? Bauleiter: Na, alle möglichen Bemerkungen (Zeigt nach oben.) und überhaupt. (Zwirbelt einen nicht vorhandenen Schnauzbart.) Ermittler: Alles klar. Bauleiter: Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass der Häftling Platonow nach Großbuchstaben verurteilt ist, ein Volksfeind, und ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen. Er arbeitete dann wieder als Arzt, aber nicht für lange. Ich wollte ihn bald wieder zu den allgemeinen Arbeiten ver­setzen. Ermittler: Das sagen Sie jetzt, wo wir Platonow verhaftet haben. Bauleiter: Ich bitte Sie, Genosse Ermittler, hier habe ich die Kopien (Holt sie aus der Tasche.) meiner Anweisungen für den Abschnitt, rechtzeitig vom Notariatsbüro beglaubigt. Darin zeigen sich glasklar die Tätigkeit Platonows und meine ganz offizielle Einstellung dazu. Ermittler (sieht die Papiere durch): Sie sind ein umsichtiger Mensch. Bauleiter: Das lernt man so im Leben. Ermittler: Ja, Sie haben der Untersuchung sehr geholfen. Vorhin sagten Sie, dass Platonow diesen (Zeigt nach oben.) und diesen (Zwirbelt den nicht vorhandenen Schnauzbart.). Können Sie eine Beurteilung Platonows geben, die speziell diese Seite des Falls charakterisiert? Bauleiter: Ich habe eine solche Beurteilung vorbereitet. (Sucht in seiner Tasche und bringt ein Papier zum Vorschein.) Aber Sie werden staunen, wenn ich Ihnen sage: Ich habe den Beweis in Händen, dass Platonow ein ausländischer Spion ist. Ermittler: Sie sind ein erstaunlich umsichtiger Mensch. Bauleiter: Das lernt man so im Leben, Genosse ­Ermittler. Ermittler: Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Würden Sie der Untersuchung noch in einer weiteren ­Frage helfen? In anderer Richtung?

Bauleiter: Geht es um Anna Iwanowna? Ermittler: Nein, nicht um Anna Iwanowna. Obwohl wir auch über sie reden müssen. Sagen Sie, Genosse Bauleiter der geologischen Erkundung, was bedeutet das Wort „Schmu“? Bauleiter: Schmu, das ist Betrug, Augenwischerei. Ermittler: Erzählen Sie bitte, was ein Erdrutsch in Ihren geologischen Gräben ist und was es damit auf sich hat. Wenn nach Regenfällen Erdreich in den Graben rutscht, ist es so, als wäre der Graben gar nicht ausgehoben worden. Was macht das aus, einen Monat, zwei? Bauleiter: Ach das meinen Sie! Sie haben Informationen, wonach auf meinem Abschnitt Arbeit abgeschrieben wurde wegen Erdrutsch, Elementarkraft, Naturgewalt? Ermittler: So ungefähr. Bauleiter: Ich habe diese Frage vorausgesehen. Das ist Lüge, Verleumdung. (Sucht in seiner Tasche.) Hier sind die Protokolle, aufgesetzt in Gegenwart des von mir eigens herbestellten Chefingenieurs und anderer hoher Natschalniks. Nach jedem Regentag wurden alle Arbeiten geprüft und notfalls Protokolle geschrieben. Da kann mir keiner was anhängen, Genosse Ermittler. Ermittler: Und wenn ich Ihnen die Aussagen Ihres Vorarbeiters zeige? Bauleiter: Den Vorarbeiter gehen diese Dinge nichts an. Protokolle über Erdrutsche sind vom Chefingenieur und vom Abschnittsleiter unterschrieben. Ermittler: Sie sind ein vorsichtiger Mensch. Bauleiter: Das lernt man so im Leben. Ermittler: Nun eine letzte Bitte.Wir sind Ihnen unendlich dankbar für Ihre Hilfe bei der Entlarvung eines so wichtigen Verbrechers. Ihm winkt die Höchststrafe. Geben Sie uns im Zusammenhang mit unserem heutigen Gespräch eine Charakteristik Ihrer Frau Anna Iwanowna. Bauleiter: Ich habe eine solche Charakteristik mitgebracht. Sogar zwei, eine positive und eine negative. Soweit ich das beurteilen kann, wird für den Fall die negative benötigt. (Gibt ihm das Papier.) Ermittler: Ich danke Ihnen. Bauleiter: Kann ich gehen? Ermittler: Ich habe noch eine Frage. Ist Ihnen bekannt, dass Ihre Frau mit dem Häftling Platonow ein Verhältnis hatte? Bauleiter: Ich glaube nicht. Nein, glaube ich nicht. Nein, da bin ich sicher. Ermittler: Woher nehmen Sie diese muntere Sicherheit? Sie waren doch oft dienstlich unterwegs. Eine erfahrene Frau wie Anna Iwanowna braucht doch nicht viel Zeit für solch eine Romanze. Bauleiter: Wissen Sie, ich habe sichere Informationsquellen. Das ist ein Selbstschutzsystem. So ähnlich wie waffenlose Selbstverteidigung. Freiwillige Informanten sozusagen. Ermittler: Ach so. Nun, unsere Informanten sagen, dass Anna Iwanowna mit diesem Arzt ein Verhältnis hatte. Bauleiter: Von mir aus, Ihre Informanten mögen das besser wissen. Ermittler: Ich will Sie nicht länger aufhalten. Geben Sie mir Ihren Passierschein zum Unterschreiben. Wenn wieder etwas passiert, brauchen wir Ihre qualifizierte Hilfe. Bauleiter: Jederzeit, Tag und Nacht. Auf Wiedersehen, Genosse Oberst. Ermittler: Ich bin noch nicht Oberst. Bauleiter: Entschuldigen Sie den Irrtum, auf Wiedersehen.


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(Ermittler läutet. Herein kommt Diensthabender.) Ermittler: Bring den Genossen Bauleiter hinaus. (Diensthabender und Bauleiter ab. Herein kommt Arzt.) Ermittler: Setz dich, Platonow. Dein Fall steht vor dem Abschluss. Arzt: Das freut mich sehr. Ermittler: Wir haben Antwort von unseren Moskauer „Literaturwissenschaftlern“. Ein Gutachten über deine Gedichte. Arzt: Na und, sind sie so gut wie die von Puschkin? Ermittler: Spiel hier nicht den klugen Mann. Du bist entlarvt. Arzt: Als was, als Nachfolger der Akmeisten, als jämmerlicher Epigone von Gumiljow? Ermittler: Gib nicht so an mit deiner Bildung, das hilft dir gar nichts. Runter mit der Maske! Arzt: Zu welchem Schluss sind denn Ihre Moskauer „Literaturwissenschaftler“ gelangt? Ermittler: Dass du ein ausländischer Spion bist. Arzt: Ein ausländischer? Welches Ausland? Ermittler: Japan. Arzt: Ich muss doch bitten, lassen Sie uns ernsthaft reden. Ermittler: Ich rede ernsthaft. Du bist es, der hier den Hanswurst spielt und die Sowjetmacht beleidigt. Aber es ist das letzte Mal im Leben! Arzt: So, so. Ermittler: Deine Gedichte sind Chiffren, mit denen du militärische Staatsgeheimnisse weitergeben wolltest. Die Einberufungspläne von Kolyma, die Standorte der Armeeeinheiten … Woher hast du diese Informationen? Sag mir, mit wem du Verbindung hast, dann bleibst du am Leben. Wir können vergeben. Arzt: Was für ein Unsinn, ein Alptraum! Bei meiner letzten Untersuchung gab es ja schon genug ungereimtes Zeug, aber für eine so ungeheuerliche Provokation muss ich damals noch nicht reif gewesen sein. Ermittler: Es reicht. Hier ist das Resultat des Gutachtens, lies es, du Akmeistenepigone. Denk nach und schreib alles ehrlich auf – Namen und Fakten! Nenne alle Leute, mit denen du bei deiner finsteren Arbeit Verbindung hattest. Setz dich da an den Tisch und schreib. Du hast es weit gebracht. Das Einzige, was dich retten kann, ist ein vollständiges Geständnis. Arzt: Ich verstehe nicht, ich will nicht verstehen. Ermittler: Stell dich nicht dumm. Schreib, und solange du schreibst, wirst du leben! Von Protokoll zu Protokoll, von Verhör zu Verhör wirst du leben. Schriftsteller. Schreiberling. Schreib übrigens auch alles über deine nächste Helferin, Anna Iwanowna

Kusnezowa, mit der du ein Verhältnis hattest. Du hast sie zu deiner Agentin gemacht, zur Ausführerin deiner ungeheuerlichen Pläne. Auch für sie ist dein aufrichtiges Geständnis Rettung, Milderung, Strafminderung. Wenn du untergehst, ziehe sie nicht mit! Arzt: Ich sags noch einmal. Anna Iwanowna wusste nicht, was in dem Umschlag war. In meinen Umschlag waren Gedichte. Ermittler: Japanische Poeme. Arzt: Sie irren sich. Ermittler: Wir irren uns niemals. Schreib deine Aussagen. Arzt: Nein. Ermittler: Noch einmal – wirst du schreiben? Oder nicht? Arzt: Nein. (Ermittler läutet dreimal. Herein kommen vier Män­ ner.) Ermittler: Das Gutachten ist das eine, aber das eigene Geständnis ist am besten. FÜNFTES BILD Transport Hof eines Gefängnisses oder eines Lagerdurchgangsge­ fängnisses. Erster Posten (setzt sich hin und zündet sich eine Zi­ garette an): Hast du gestern den Film gesehen? Zweiter Posten: Ja. Den ersten Teil haben sie zweimal gespielt. Der Natschalnik war zu spät gekommen. Sie hatten lange gewartet, aber er kam nicht. Da haben sie angefangen. Ein Teil war schon gelaufen, als er kam. Na, da hat der Vorführer zurückgekurbelt und noch mal von vorne angefangen. Erster Posten: Das ist ein Leben hier. Kino, Klub. Aber wir müssen wieder Posten schieben oder auf Fahrt gehen. Zweiter Posten: Hast du die Transportliste gesehen? Erster Posten: Noch nicht, die hat der Postenführer. Zweiter Posten: Der läuft irgendwo rum. Erster Posten: In dieser Partie ist eine Freie, eine frühere Gefangene, die Alte von unserm Bauleiter. Sie ist kürzlich verurteilt worden. Zweiter Posten: Wofür? Erster Posten: Weil sie den Amerikanern die Pläne aller Festungen gegeben hat. Zweiter Posten: Wo hatte sie die denn her? Erster Posten: Häftlinge haben sie ihr gegeben. Ihr Mann soll sie entlarvt und die Heimat gerettet haben. Zweiter Posten: Tüchtig, der Bauleiter. Erster Posten: Sie soll schon im Flugzeug gesessen haben. Mit ihrem Kind, mit dem Sohn, zur Tarnung. Der Kontrolleur hat gesagt: „Kommen Sie

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mal in den Raum hier.“ Durchsuchung! Sie sagt: „Ich habe kein Gold bei mir.“ Darauf die: „Wir ­suchen kein Gold!“ Sie haben sie nackt ausgezogen und den Plan der Festungen von Kolyma ­gefunden. Sie kriegt bestimmt die volle Frist auf­ gebrummt! Zweiter Posten: Fünfundzwanzig und fünf? Erster Posten: Fünfundzwanzig und fünf. Zweiter Posten: Und die ihr den Plan gegeben haben? Erster Posten: Die kommen auf den Mond. Strafe nach Gewicht! Trockenration. Neun Gramm Blei und ab auf den Mond. Zweiter Posten: Richtig. Erster Posten: Anna heißt sie, Anna Iwanowna. Du musst sie kennen. Wir sind oft bei ihr vorbeigekommen. Sie war Büfetteuse in der Trassenkantine. Zweiter Posten: Nein, kann mich nicht erinnern. (Herein kommen Leutnant und Postenführer.) Postenführer (mit der Liste in der Hand): Wieder eine gemischte Gruppe. Kriminelle und Achtundfünfziger. Und ein Haufen Ganoven. Und Langzeithäftlinge. Nein, Genosse Leutnant, es sind zu wenig Begleitposten. Leutnant: Aber das sind doch Weiber. Postenführer: Mit den Weibern hat man noch mehr Ärger. Letzten Sommer hat eine Frau, eine Gefangene, einem Soldaten die Maschinenpistole entrissen und eine Garbe auf ihn abgefeuert, die hat ihn mittendurch geschnitten. Er wollte sie in die Kantine führen. Leutnant: Ich kenne die Geschichte. Er wollte sie nicht in die Kantine führen, sondern ins Gebüsch. Kurz und gut, mehr Begleitposten gibt es nicht. Ihr müsst zurechtkommen. Du fährst mit Sidorow, Gussarow setze ich woanders ein. Als Postenführer. Die Transporte kommen Tag und Nacht, aber mehr Leute krieg ich nicht. Seht zu, wie ihr fertig werdet. Postenführer: Zu Befehl. (Leutnant und Postenführer ab. Man hört den Motor­ lärm eines Lastwagens.) Zweiter Posten: Der Wagen ist da. Postenführer: Also los. Ich stehe hier, wir zählen ab, und dann auf den Wagen, da hast du das Kommando, Sidorow. Du stellst dich beim Fahrerhaus hin und lässt sie mit dem Rücken zu dir sitzen. (Ruft:) Her die Leute! (Die Kulisse links füllt sich mit Frauen, die viele Bün­ del, Säcke und Koffer bei sich haben. Sie müssen ste­ henbleiben, dürfen nicht weiter gehen. Rechts erschei­ nen ein paar Angehörige mit Lebensmittelpaketen in der Hand, unter ihnen der Ermittler in Zivil und der Bauleiter.) Antreten. Alles hört auf mein Kommando. Wen ich aufrufe, der antwortet mit Name, Vorname, Artikel,

19.04. bis 25.05.2019

Eröffnung am 18.04.2019, 19 bis 22 Uhr

kuratiert von Solvej Helweg Ovesen im Rahmen von SoS (Soft Solidarity)

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Haftdauer. (Zu den Angehörigen:) Was wollt ihr hier, wie kommt ihr her? Außenstehende haben hier nichts zu suchen. Ermittler: Wir sind keine Außenstehenden. Postenführer: Was sonst? Angehörige? Pakete habt ihr gebracht? Räumt den Platz. Herein kommt Leutnant. Ermittler: Ich sage dir, wir sind keine Außenstehenden. Leutnant: Verzeihung, Genosse Bevollmächtigter, der Soldat hat Sie nicht erkannt. Ermittler: Macht nichts. Ich wäre ja auch verpflichtet, Uniform zu tragen. Beginnen Sie mit dem Verladen. Postenführer: Melden! Agajewa! Kriminelle: Xenia Iwanowna! Postenführer: Porfirjewa! Dieselbe Kriminelle: Maria Sergejewna! Postenführer: Ramischwili! Dieselbe Kriminelle: Tamara Iwanowna! Postenführer: Grigorjanz! Dieselbe Kriminelle: Wieder Xenia Iwanowna! Postenführer: Richtig. Seliwerstowa! Dieselbe Kriminelle: Vor- und Vatersname vergessen. Postenführer (macht sorgfältig eine Notiz in der Lis­ te): Geh! (Die Kriminelle geht mit leeren Händen zum Wagen, und hinter ihr schweben aus den Kulissen ihre zahlrei­ chen Koffer und Bündel.) Halt! Halt! (Die „Bündel“ bleiben stehen.) Wem gehören diese Sachen? Kriminelle: Das sind meine Sachen! Postenführer: Legt sie auf die Erde! (Die Bündel werden auf die Erde gelegt, die Kriminelle tritt zurück.) Steig ein. Nachher kriegst du deine Klamotten. Sidorow, übernimm! (Kriminelle geht zum Wagen. Auf der Bühne ein Berg von Bündeln.) Chrustaljowa! Gefangene: Shanna Wassiljewna, hundertzweiundvierzig, acht Jahre. Postenführer: Geh! (Die Gefangene geht, unterwegs eines der Bündel greifend, zum Fahrzeug. Das gleiche tun die übrigen, als sie aufgerufen werden.) Kolomkarowa! Zweite Gefangene: Sofja Pawlowna, achtundfünfzig, zehn und elf, fünfzehn Jahre. Postenführer: Geh! (Zweite Gefangene ab.) Galliulina!

Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

frei zur DSE

Yannis Tsiros

WILDKRAUT (1 D, 2 H)

Krimi, Sozialstudie, moderne Tragödie – und nicht zuletzt Spiegel für das vorurteilsbelastete deutsch-griechische Verhältnis

Dritte Gefangene: Aischa! Hundertzweiundsechzig, fünf Jahre. Postenführer: Und der Vatersname? Dritte Gefangene: Bei uns gibts keine Vatersnamen. Postenführer (blickt in die Liste): Stimmt. Geh. (Dritte Gefangene ab.) Gratschowa! Vierte Gefangene: Gratschowa ist hier! Das bin ich! Aber ich gehe nicht! Sie sollen mich mit meinem Kind gehen lassen, ich habs dem Natschalnik gesagt. Leutnant: Dumme Gans! Es wird hier künstlich ernährt. Und du musst arbeiten. Arbeiten. Hast du überhaupt Milch? Vierte Gefangene: Ich gehe nicht! Ich lasse mein Kind nicht hier! Eure künstliche Ernährung kenne ich. Leutnant (zum Postenführer): Streich sie einstweilen! Wir klären das. Postenführer (streicht den Namen): Gratschowa, tritt zurück. Vierte Gefangene (zum Leutnant): Danke, Natschal­ nik! (Eilt davon.) Ermittler: Wenig Ordnung hier. Leutnant: Das ist immer so bei den Transporten. Postenführer: Worobjowa-Kapelmejster! Fünfte Gefangene: Hier! Postenführer: Namen? Fünfte Gefangene: Jewgenia Pawlowna, hundertzweiundneunzig d, sechs Jahre. Postenführer: Geh! (Fünfte Gefangene ab.) Selenzowa! Sechste Gefangene: Sofja Pawlowna, hundertzweiundsechzig, fünf Jahre. Postenführer: Geh! (Selenzowa geht nicht, aber der Postenführer bemerkt es nicht.) Peterson! Siebte Gefangene: Rimma Iwanowna, achtundfünfzig vierzehn, zehn Jahre. Postenführer: Geh! (Peterson und Selenzowa gehen umarmt ruhig zum Wagen.) Leutnant: Unser Brautpaar. Ermittler: Was ist denn das für eine Schweinerei? (Leutnant sagt ihm etwas ins Ohr.) (Spuckt angewidert aus.) Man hätte sie an verschiedene Plätze schicken sollen. Leutnant: Wir haben es mit anderen versucht. Von denen gibts viele. Krach, Angriff auf den Natschalnik, Arbeitsverweigerung … So ist es einfacher. Postenführer: Rodina! Anna Iwanowna (mit einer Einkaufstasche in der Hand): Anna Iwanowna! Achtundfünfzig sieben, acht, elf. Fünfundzwanzig und fünf. Postenführer: Wo sind deine Sachen? Anna Iwanowna: Ich habe alles bei mir. Leutnant (tritt zu ihr): Rodina, eine Sendung für dich. (Gibt ihr ein Päckchen.) Anna Iwanowna: Geben Sie es dem zurück, von dem Sie es haben. Ich habe keine Angehörigen. Achte Gefangene: Die ist ja wirklich verrückt. Wenn Sie erlauben, nehm ichs. Leutnant: Ihnen darf ichs nicht geben. (Legt das Päckchen auf die Erde.) Postenführer: Djatschkowa! Achte Gefangene: Lilia Petrowna! Postenführer: Lidia Petrowna! Achte Gefangene: Nein, Lilia. Achte Gefangene: Richtig, Lilia. Geh. (Achte Gefangene ab.)

Leutnant: Unterschreib für den Transport. (Schlägt das Buch auf.) Postenführer: Wo denn? Leutnant: Hier. (Postenführer quittiert.) Du hast ja vielleicht ’ne Klaue! Postenführer: Meine Schrift ist normal. Auf ­Wiedersehen. (Ab.) (Sogleich ertönt der Motorlärm des anfahrenden Wa­ gens, er wird immer leiser.) Bauleiter: Weg ist sie, unsere Anna Iwanowna. ENDE

NACHWORT DES AUTORS Das Stück enthält wenig Argot. Der Autor hofft, dass die echte, furchtbare Seele der Verbrecherwelt und ihr zersetzender Einfluss auch ohne Gaunerjargon deutlich werden. Wenn Jargonausdrücke vorkommen, gibt der Autor fast jedes Mal eine Erklärung bei nach der Methode, die als erster Bunin anwandte, als er „Hiawatha“ übersetzte – er stellte in der lebendigen Gedichtzeile die Übersetzung neben das Fremdwort. Das Wesen des ersten Bildes ist seine Gewöhnlichkeit. Der Mord darf niemanden verwundern. Das zweite Bild zeigt das „Glück des Häftlings“, eine Krankenhauspritsche für einen Arbeiter und Arbeit in seinem Beruf für einen gefangenen Arzt. Aber dieses Glück ist brüchig, nicht von Dauer, und es wird zerstört durch einen Zusammenstoß mit den „höheren Mächten“, die krampfhaft, eilfertig die Rolle aller möglichen Natschalniks spielen. Das dritte Bild ist das Zentrum des Stückes. Hier wird alles über die Vergangenheit erzählt und die Zukunft vorausgesagt. Für alle. Nach dem Labyrinth der „geometrischen Zeichnungen“ im Zimmer des Ermittlers (viertes Bild) folgt der Narrenkarneval des Transports. Im fünften Bild tun alle fröhlich und gleichgültig ihr Werk. Niemand, weder die Natschalniks noch die Häftlinge, denken über den Sinn des Geschehens nach. Alle sind Menschen und zugleich keine Menschen. Der Autor weiß selbstverständlich, dass es in dem Jahr, in dem sein Stück spielt, Penicillin und Maschinenpistolen noch nicht gab. Das Stück ist ein Vorkriegsstück.

© des Originalstoffes bei Matthes & Seitz © der Übersetzung bei henschel SCHAUSPIEL


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Schweizer Theaterpreise 2019 Preisverleihung 24. Mai 2019 Das Bundesamt für Kultur vergibt im Rahmen des 6. Schweizer Theatertreffens zum sechsten Mal die Schweizer Theaterpreise.

Théâtre Crochetan Avenue du Théâtre 9 1870 Monthey Infos unter theaterpreise.ch Tickets unter crochetan.ch

GOLD AUSSTELLUNG WANDELKONZERTE PERFORMANCES WORKSHOPS KLANG- UND VIDEOINSTALLATIONEN mit Manuela Kerer Marion Steiner Sarah Maria Sun Les Passions de L’Ame Bernhard Schimpelsberger Michel Godard Wolfram Koch Ensemble Constantinople u.v.a

SCHLOSSMEDIALE WERDENBERG INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR ALTE MUSIK, NEUE MUSIK UND AUDIOVISUELLE KUNST 7. – 16. JUNI 2019 SCHLOSS WERDENBERG SCHLOSSMEDIALE.CH


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Magazin Grips macht Mut Das erfolgreichste Kinder- und Jugendtheater der Welt wird 50  Anarchie mit­ klaren Regeln Mit dem Theater Arche eröffnet in Wien eine neue freie Bühne – das erste Stück „Anstoß“ von Jakub Kavin dreht sich um die Abgründe des Sportbusiness  Geschichten vom Herrn H. Neuestes aus dem Kulturkampf  Die Pionierin In Gedenken an Geesche Wartemann, die erste Professorin für Kinderund Jugendtheater  Historische Tiefen­bohrungen Zum Tod des Leipziger Theaterwissenschaftlers Manfred Pauli  Der lange Schatten des Stalinismus Unter dem Titel „DDR neu erzählen!“ wird am Berliner HAU über das Geschichtsbild des Ostens diskutiert  Bücher Bernd Stegemann, Mirjam Meuser, Karlheinz Braun, Cornelia Klauß, Ralf Schenk


magazin

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Grips macht Mut Das erfolgreichste Kinder- und Jugendtheater der Welt wird 50 Im Anfang war das Wort, in geschliffenen

Seitdem ist das populäre Berliner

Versen, präsentiert in pointierter Form,

U-Bahn-Drama im Repertoire und war

immer als politische Aussage auf der

auf Gastspielen in allen Erdteilen eben-

Bühne. Das West-Berliner Reichskabarett

so zu sehen wie in vielen Stadttheatern

war Teil der Studentenbewegung und agi-

in Deutschland. Andere Klassiker des

tierte mit Spott und Satire gegen die alte

Jugendtheaters waren „Eine linke Ge-

Bundesrepublik, die Große Koalition und

schichte“ (1980) als selbstkritische

den amerikanischen Imperialismus. Nach

­Retrospektive zur Generation der 68er

drei Jahren kam es dann zur Geburt des

und „Ab heute heißt du Sara“ (1989)

Grips Theaters. „Das Kabarett habe ich

nach der Autobiografie „Ich trug den

aufgegeben“, sagt Gründungsvater Volker

gelben Stern“ von Inge Deutschkron.

Ludwig, „weil wir nur Publikum hatten,

Mittlerweile ist das Grips meter-

das sowieso unserer Meinung war.“ Kin-

weise in Bachelor- und Masterarbeiten

der waren als neue Zielgruppe entdeckt,

erforscht, wurde weltweit über die

das erfolgreichste Kindertheater der Welt

­Theatralik der Kindheitsbilder und die

erfunden. „Wir waren ein sozialistisches

Auseinandersetzungen um Adoleszenz

Theater, und für uns waren die Kinder

promoviert. Akademische Zuschreibun-

eine unterdrückte Klasse. Und wir ver-

gen sprechen vom emanzipatorischen,

suchten, ihnen ein bisschen Selbstbe-

sozialutopischen oder neorealistischen

wusstsein beizubringen.“

Kinder- und Jugendtheater, das Grips versteht sich selbst gerne als Mutmach-

Das ist nun 50 Jahre her, Grund ge-

Theater.

nug in der Arena-Bühne am Hansaplatz zu feiern; denn das Grips hat in der Tat Neuland in den darstellenden Künsten betreten, in Themenwahl, Dramaturgie sowie musikalischer Akzentuierung und immer wieder gerne auch als moralische Instanz. Wolfgang Kolneder, dritter im künst­

Neuauflage eines Klassikers – „Linie 1“ von Volker Ludwig (Musik Birger Heymann und No Ticket, Regie Wolfgang Kolneder, Grips Theater Berlin 2018). Links: „Die fabelhaften Millibillies“ von Volker Ludwig (Grips Theater Berlin 2012, hier mit Jennifer Breitrück). Fotos David Baltzer/bildbuehne.de

lerischen Bunde mit dem Autor Ludwig

„Wir haben eine Verantwortung zukünftigen Generationen gegenüber“, sagte der amtierende Theaterleiter ­Philipp Harpain vor Kurzem auf einer Pressekonferenz zum Jubiläum, „unsere Welt ein Stück weit lebenswerter, friedlicher und gleichberechtigter zu machen.“

und dem Komponisten Birger Heymann,

Das Archiv ist mittlerweile im Besitz

hat einmal das Spezifische der Grips-Stücke

und ihnen auch flammende Appelle auf den

der Akademie der Künste, viele Dokumente

beschrieben, deren Grundregel die Genauig-

Heimweg mitzugeben. In „Nashörner schie-

noch einmal in der aktuellen Festschrift „Für

keit in Einzelheiten sei, im Typischen, mit

ßen nicht“ (1975) hämmerte zum Beispiel

die Z ­ ukunft“ nachzulesen. Und im Juni gibt

Konzentration auf das Wesentliche. Die Spiel-

der Chor aller Mitspieler am Ende dem Publi-

es nicht nur eine Neufassung von „Balle,

weise war geprägt von Recherchen vor Ort.

kum ins Ohr: „Dass ihrs wisst, nichts muss

Malle, Hupe und Artur“, eines der ersten

„Auf Schulhöfen, in Heimen und Diskotheken

bleiben, wie es ist, ganz egal woran du bist,

Grips-Stücke „für Menschen ab 6 Jahren“,

beobachteten wir, welche Jacken, Schuhe,

nichts muss bleiben wie es ist. Das tut gut,

sondern auch einen Festakt mit Festival so-

Kleider diese Leute tragen“, notierte der 2010

wenn man sich zusammen tut, wehe dem der

wie ein i­nternationales Symposium zum The-

verstorbene Hausregisseur, „sammelten wir

das vergisst, nichts muss bleiben, wie es ist.“

ma „On the Child’s Side“, ganz im Sinne des

Redewendungen, Sprüche, Kalauer, belausch­

Die Kinderlieder „Doof gebor’n ist keiner“

Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention, in

ten Unterhaltungen, Streitigkeiten, Flirts.“

(„Doof bleibt doof“, 1973), „Trau dich, trau

der der jungen Generation die freie Teilnahme

dich, auch wenn es daneben geht“ („Mensch

am kulturellen und künstlerischen Leben ga-

geprägt

Mädchen“, 1978) oder „Wir werden immer

rantiert wird, eine Garantie, die das Grips als

durch eingängige Songs. Sie übernehmen das

größer“ („Die fabelhaften Millibillies“, 2012)

Theater seit fünf Jahrzehnten einlöst, weil es

Resümieren, sie sollen die Handlung reflek-

fanden wie viele andere weite Verbreitung.

nach wie vor mit Vers und Verve konsequent

Viele der Stücke aus der Feder des Prinzipals

waren

dramaturgisch

tieren und haben die didaktische Aufgabe,

1986 gelang dem Grips sogar ein

den Zuschauern − wie im Brecht’schen Lehr-

­Welterfolg, die „Linie 1“, das erfolgreichste

theater − allgemeine Besinnung nahezulegen

deutsche Musical seit der „Dreigroschenoper“.

auf der Seite von Kindern und Jugendlichen steht. // Wolfgang Schneider

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magazin

/ TdZ Mai 2019  /

Anarchie mit klaren Regeln Mit dem Theater Arche eröffnet in Wien eine neue freie Bühne – das erste Stück „Anstoß“ von Jakub Kavin dreht sich um die Abgründe des Sportbusiness Das Theater Arche in Wien (vormals Theater

des besonnener Theatermensch, hat für sei-

Sportdressen: als die zum Attentat getriebene

Brett) liegt in einer der zauberhaftesten

nen riesigen Themenaufriss (das einzige Pro-

Eiskunstläuferin Tonya Harding oder als der

Ecken Wiens, der Münzwardeingasse in Ma-

blem

Seiten

alkoholkranke Fußballer Uli Borowka, als Ju-

riahilf, und ist eine dieser einzigartigen, lange

recherchiert und zu einem dreistündigen

doka und Trump-Kritikerin Ronda Rousey

wild gewachsenen Neighbourhood-Bühnen,

Stück verdichtet. „Anstoß“ erzählt vom Sport

oder als zwangsgedopte DDR-Kugelstoßerin

die frei und ein wenig stur ihren Spielplan

als kapitalistischer Maschine, von der Opfe-

Heidi Krieger (später: Andreas Krieger). Un-

kreieren. Jakub Kavin hat den Standort nun

rung des Körpers (Doping, Verletzungen, Diä-

terfüttert werden die auf dokumentierten

von seinen Eltern Ludvik Kavin und der 2018

ten), vom tabuisierten psychischen Druck

Aussagen beruhenden Erfahrungsberichte von

verstorbenen Nika Brettschneider übernom-

und den Depressionen der Einzelnen, von

literarischen oder philosophischen Texten von

men und mit einem fabelhaften Stück im

­Rivalität und Homophobie.

David Foster Wallace, Ödön von Horváth oder

der

Produktion)

Tausende

Kavin führt unterschiedliche Stimmen

dem Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-

„Anstoß“ befasst sich mit den Abgrün-

zusammen, Sportler, Fans und Angehörige,

Dengler („Sport ist die schönste ­Anarchie mit

den des Sportbusiness. Ein an Theatern rares

Trainer und Bosse, Journalisten, Ärzte und

Thema, an das sich nach Einar Schleefs ge-

Schiedsrichter. Auf der an zwei Seiten von

waltigen Chorszenen in Elfriede Jelineks

Zuschauertribünen gesäumten Bühne agieren

„Sportstück“ 1998 keiner mehr so richtig

13 Schauspielerinnen und Schauspieler in

rangetraut hat. Kavin, ein kämpferischer in-

wechselnden Rollen. Sie tragen diverse

­Februar unter neuem Namen eröffnet.

Sport als kapitalistische Maschine – „Anstoß“ von Jakub Kavin am Theater Arche in Wien. Foto Jakub Kavin


magazin

/ TdZ  Mai 2019  /

klaren Regeln“). Elisabeth ­ Halikiopoulos spricht diese Texte wie eine Subtextmoderatorin erhöht auf einer Leiter stehend, so akkurat und feierlich, dass es einen schaudert. Apropos Stehleiter: Das Theater Arche

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Neuestes aus dem Kulturkampf

operiert mit einfacher Bühnentechnik. Es muss seinen Betrieb gänzlich ohne Förder­

„Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem

ben. Die Zeiten haben sich geändert. Nun

gelder bestreiten und ist auf Crowdfunding

Kulturkampf von rechts“ lautet der Titel ei-

sorgt man sich vor allem um die Freiheit der

und Spenden angewiesen. Die notwendige

ner kürzlich erschienenen Broschüre für die

Kunst. Das ist verständlich angesichts der

Renovierung der Räume vor der Neuübernah-

Bühnenwelt. Das dort geschilderte Szenario

Versuche der Rechten, diese mit staatlichen

me wurde einzig von Dutzenden ehrenamtli-

eines Kulturkampfs von rechts mag zu-

Mitteln einzuschränken. Aber man sollte

chen Helfern ermöglicht. Nichtsdestotrotz

nächst reichlich dramatisch klingen, als

auch den Blick aufs Ganze nicht vergessen.

sind für den Herbst drei Eigenproduktionen

müsse man sich vor jeder Theaterauffüh-

Nicht, dass am Ende die Rechten triumphie-

geplant, darunter wieder zwei Stückentwick-

rung durch Massen rechter Demonstranten

ren, weil die Linken sich aufs falsche Feld

lungen, eine davon zu 30 Jahre Mauerfall.

kämpfen. Das ist zum Glück nicht so, selbst

drängen lassen und es zugleich unterlassen,

Von einer riesigen Stehleiter wird spä-

wenn engagiertes Theater ohne

selbst zu agieren. Eine über-

ter in einer kunstvollen Choreografie auch

entsprechende Reaktionen eben

zeugende Strategie gegen die

die Bergsteigerin Gela Allmann (Johanna

auch nicht zu haben ist. Auf

Rechten dürfte nicht im Rück-

König) zum Selbstprotokoll ihres drama­ ­

eine solche rhetorisch erzeugte

zug auf den Kulturkampf be-

tischen Unfalls „abstürzen“. Lance Arm­

Bedrohungslage sollte man aber

stehen. Sie müsste vor allem

strong (Bernhardt Jammernegg) liefert seine

zugunsten einer nüchternen

eine Idee beinhalten, die für

Doping- und Krebsgeschichte auf einem

Analy­se der Lage verzichten. Im

eine wirkliche Demokratisie-

Hometrainer. Die österreichische Skirenn-

Moment konzentrieren sich die

rung von Wirtschaft und Ge-

läuferin Annemarie Moser-Pröll steigt im

Rechten darauf, zur Legitima­

sellschaft steht.

Dirndlkleid aus einer Nische. Weitere Sport-

tion staatlichen Eingreifens Be-

Eine ernsthafte Bedro-

lerstimmen kommen von Tennisspieler M ­ ichael

griffe wie Ideologiefreiheit und

hung demokratischer Freiheits­

Stich, Fußballerin Hope Solo, Skifahrerin Anna

Neutralität strategisch zu be-

Veith oder Johan, einem schwulen­hollän­ di­

nutzen – als ob es das gäbe! Völlig zutreffend

Ausweitung der Befugnisse der Polizei- und

schen Fußballer.

rechte ist gegenwärtig die

ist die in der Broschüre vertretene These,

Geheimdienstbehörden. Also genau jener

Kavin massiert die Texte – mittels Cho-

dass antidemokratische Ansichten auch in

Institutionen, bei denen man in jüngster

reografien, in Zeitlupenmanövern und chori-

der selbsterklärten „Mitte der Gesellschaft“

Zeit vor lauter Einzelfällen von Rechtsextre-

schen Passagen. Es entsteht so ein modulier-

zu finden sind, was den Erfolg der Rechten

mismus beim besten Willen keinen Zusam-

ter, vielstimmiger Erzählstrom, der allein

begünstigt. Ein Befund, der sich allerdings

menhang erkennen mochte – zumindest

schon durch die Menge an zusammengetra-

ins Gegenteil verkehrt, wenn er statt kriti-

vonseiten der Politik. Eine der wichtigsten

genem Material beeindruckt. Der Abend hält

scher Einsicht nur Selbstgerechtigkeit und

Aufgaben einer demokratischen Ö ­ ffentlich­keit

die Spannung, ausgenommen am Ende, wenn

Etikettendenken befördert.

ist aber die Kontrolle der bewaffneten Staats-

die schiere Fülle an Aspekten des Sports

Ist der Kulturkampf von rechts zurzeit

organe, vor deren willkür­lichem Zugriff der

noch weiterführt in einen Ausblick auf eine

die größte Bedrohung der Demokratie? Hört

Einzelne geschützt werden muss. Wer häu­

posthumane Zukunft.

man sich in an Kunst und Kultur interessier-

figer an Demonstrationen teilnimmt – und

„Anstoß“ verhandelt auch Missbrauch

ten Kreisen um, so ist das allseits zu verneh-

zwar an solchen, die nicht nur das eigene

im Sport. Im Vorjahr hatte die österreichische

men. Spricht man mit Leuten, die ihre Zeit

gute Gewissen spazieren führen, sondern

Skirennläuferin Nicola Werdenigg sexuelle

nicht nur im Theater verbringen, sieht die

ein entschiedenes Vor­haben auf die Straße

Übergriffe erstmals öffentlich angeprangert

Sache freilich etwas anders aus. Aber so ist

zu bringen versuchen –, weiß sehr wohl, dass

und damit Vorwürfe gegen Trainer, Kollegen

das manchmal, aus der eigenen kleinen Welt

schon heute die demokratischen Grund-

und Serviceleute erhoben. Werdenigg stand –

kommt man schwer heraus. Gehen wir ein-

rechte nur so weit reichen, wie der lange

neben anderen Special Guests der Inszenie-

mal davon aus, dass beides nicht völlig

Arm des Polizisten mit dem Knüppel es er-

rung – auch einige Male selbst auf der Bühne.

falsch ist. Der Kulturkampf ist eine Erschei-

laubt. Kürzlich hat gar die UNO die Unter-

In einer gescripteten Interviewszene, die wie

nung des rechten Hegemoniestrebens –

suchung der exzessiven ­ Polizeigewalt bei

ein Selbstgespräch inszeniert wird, in der

­unter anderen. Das Bündnis von Konservati-

Demonstrationen in Frankreich gefordert.

Schauspielerin Eszter Hollósi als Werdenigg-

ven bis Völkischen, in dessen Zentrum die

Nun schränken die Herrschenden die

Double die Fragen stellt, bringt sie als leib-

AfD steht, will ja nicht in erster Linie die

Grundrechte ein, die einst zu ihrer Kontrolle

haftiges „Opfer“ des Sports ihre Stimme ein.

Theaterbühnen, sondern die Staatsmacht er-

gedacht waren, um sich vor denen zu schüt-

Jakub Kavin hat sich für sein Mammutwerk

obern. Das wollten die Linken nebenher auch

zen, die sie in Anspruch nehmen. Wem das

von allen das Beste abgeschaut, von Einar

einmal, bevor sie sich dann teils doch mit

nützt? Sicher nicht der Demokratie. //

Schleef bis Rimini Protokoll. //

den Theaterbühnen zufriedengegeben ha-

Margarete Affenzeller

Jakob Hayner

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magazin

/ TdZ Mai 2019  /

Foto Uwe Gössel

Die Pionierin In Gedenken an Geesche Wartemann, die erste Professorin für Kinderund Jugendtheater

Sie promovierte in Kulturpädagogik, arbeitete

ihrer Hildesheimer Thesen auf nachtkritik.de.

als Theaterpädagogin am Staatstheater Braun­

„Heute zeichnen sich die Theater für junge

schweig und war Deutschlands erste Univer-

Zuschauer dadurch aus, dass sie ihr Publi-

sitätsprofessorin für Kinder- und Jugendthea-

kum schon im Produktionsprozess einbezie-

ter: Geesche Wartemann lehrte und forschte

hen und ihm immer mit Neugier begegnen.“

in Hildesheim, engagierte sich regional in der

2009 folgte Geesche Wartemann für

Lehrerausbildung für Darstellendes Spiel und

zwei Jahre einem Ruf an die Universität von

international als Präsidentin von ITYARN,

Agder im norwegischen Kristiansand, später

dem akademischen Netzwerk der Vereinigung

wurde sie für drei Amtszeiten in das Kuratori-

des Theaters für Kinder und Jugendliche, das

um des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in

auf ihre Initiative hin gegründet wurde.

der Bundesrepublik Deutschland berufen, ver-

Schwerpunkte ihrer Interessen waren das

anstaltete Tagungen wie „Arts Meets Re-

Theater für die Allerkleinsten und die partizi-

search“ oder beim Weltkongress der ASSITEJ

pativen Formate in den darstellenden Küns-

in Warschau. Sie publizierte zu „Authentizität

ten für ein junges Publikum.

als Darstellungsform“ oder „Perception of the

„Gerade im Vermittlungsbereich ist es

Contemporary Child“, ihr Wirken hat weit über

wichtig, eine eigene Haltung zu entwickeln

Deutschland hinaus entscheidende Beiträge

und Theaterbegriffe zu reflektieren, damit man

zur Theaterwissenschaft geleistet. „Ohne Gee-

nicht nur den zahlreichen Erwartungen, die

sche“, heißt es in einer Kondolenz ihrer Kolle-

von verschiedensten Seiten an einen herange-

gen, „würde es das Forschungsnetzwerk nicht

tragen werden, willfährig dient, sondern

geben und die Forschung im Bereich des Kin-

selbstbewusst einen eigenen Weg entwickelt“,

der- und Jugendtheaters würde noch in den

schrieb sie in dem Rechercheband „Theater-

Kinderschuhen stecken: isoliert, selbst in Zei-

machen als Beruf“ bei Theater der Zeit.

ten von Google schwer zu finden, und verzwei-

Theater für junge Zuschauer seien die

felt auf der Suche nach Anerkennung.“

Vorreiter in der Entwicklung und Reflexion

Am 28. März 2019 ist Geesche Warte-

von Modellen der Vermittlung, von denen alle

mann in Berlin an Krebs gestorben. // Wolfgang Schneider

Theater profitieren könnten, lautet eine

Historische Tiefen­ bohrungen Zum Tod des Leipziger Theaterwissenschaftlers Manfred Pauli

einem Praktikum am Berliner Ensemble noch selbst kennenlernen konnte. Nach dem Studium arbeitete er bis 1966 als Dramaturg in Zwi-

Foto privat

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ckau und Erfurt, in beiden Häusern zuletzt als Chefdramaturg. Er fand seine eigentliche Bestimmung als erfolgreicher Dozent an der ­ Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig, später am neu gegründeten Institut für Thea­ terwissenschaft

der

Leipziger

Universität.

­Seine Vorlesungen und Seminare waren histo­ rische Tiefenbohrungen, und die Studierenden schätzten seine menschliche Art und Ansprache. Als Buchautor ist er unter anderem Verfasser eines umfänglichen Standardwerks über das dramatische Werk von Sean O’Casey, von Büchern über Begriff und Geschichte des Volkstheaters (das Thema seiner Habilitationsschrift), über Leipziger Theatergeschichte sowie

Am 20. Februar verstarb in Leipzig Manfred

über Stücke, die – wie etwa der „Sommer-

Pauli in seinem 86. Lebensjahr. In der gären-

nachtstraum“ oder die Werke P ­ irandellos – das

den, überaus kreativen Leipziger Atmosphäre

Theaterspiel selbstreferenziell thematisieren.

hätten. Manfred Pauli hat sie einer sehr selte-

der frühen fünfziger Jahre studierte er – unter

Da die letztgenannten, wichtigen Bücher in

nen, über viele Jahre zunehmend Lähmungen

anderen gemeinsam mit Uwe Johnson – als

kleinen

bewirkenden Krankheit, die er in Gesprächen

Schüler Hans Mayers Germanistik und Theater-

unterhalb der Schwelle der kapitalistischen

niemals

wissenschaft. Hier fand er zu seiner lebenslan-

Aufmerksamkeits­ökono­mie liegen, sind sie lei-

Selbstdisziplin und Geduld abgerungen. //

gen bewundernden Liebe zu Brecht, den er bei

der weniger beachtet worden, als sie es verdient

Verlagen

erschienen

sind,

die

erwähnte,

mit

bewundernswerter Gottfried Fischborn


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Der lange Schatten des Stalinismus

Unter dem Titel „DDR neu erzählen!“ wird am Berliner HAU über das Geschichtsbild des Ostens diskutiert Mehr Vielfalt in der Auseinandersetzung mit der DDR – So lautete die Forderung im HAU, hier „little red (play): ‚herstory‘“ von andcompany&Co. Foto Barbara Braun

Manches braucht seine Zeit. So beginnen

Wertung gleich mitliefern. Dominiert wurde

sich dreißig Jahre nach der Öffnung der Gren-

dieses Bild nicht durch die Geschichtswis-

ze auch die Debatten über die DDR zu öffnen.

senschaft, sondern vor allem durch Opferver-

„DDR neu erzählen!“ heißt es – selbstbewusst

bände und Politiker. 1992 und 1995 wurde

mit Ausrufungszeichen versehen – Mitte März

im Bundestag jeweils eine Enquete-Kommis-

im Berliner HAU Hebbel am Ufer bei der zen-

sion eingerichtet, aus denen die Bundesstif-

sondern abstrakt gleichgesetzt. Laut der

tralen Diskussionsveranstaltung des Festivals

tung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur her-

1985 in Ost-Berlin geborenen Publizistin

„Comrades, I Am Not Ashamed of My Com-

vorging – etwas Vergleichbares gibt es in

­Luise Meier müsse man auch berücksichti-

munist Past – Erinnerungspolitik 30 Jahre

Bezug auf die Naziverbrechen nicht. Die Bun-

gen, dass es viele Menschen gebe, die 1989

nach dem Fall der Berliner Mauer“, bei dem

desstiftung ist, obwohl dort kaum akademi-

demonstrierten, denen aber am 3. Oktober

Stücke wie She She Pops „Schubladen“ und

sche ­Historiker tätig sind, finanziell großzügig

nicht zum Feiern zumute sei, hatte man doch

„little red (play): ‚herstory‘“ von and­ com­

ausgestattet, im Gegensatz zur universitären

etwas anderes als den Beitritt gewollt. Sie

pany&Co. gezeigt wurden. Schon am Wochen-

DDR-Forschung. Das führt, wie der Historiker

schildert außerdem, dass sie die Rede von

ende zuvor hatten die Berliner Festspiele den

Ilko-Sascha Kowalczuk 2016 feststellte, zu

der SED-Diktatur als ein Mittel zum Abbruch

Palast der Republik wiederauferstehen lassen,

einer staatlichen Monopolisierung nichtakade-

von Debatten wahrnehme. Wenn man heute

zahlreiche Gäste – Intellektuelle aus aller

mischer Geschichtsschreibung. Die Aufarbei-

zum Beispiel angesichts der offensichtlichen

Welt – diskutierten über das Ende der DDR

tung sei gescheitert, schlussfolgerte er. Folgt

Katastrophen des Neoliberalismus von der

und die fortschrittlichen Ideen der Demokrati-

man Rudnicks Argumenten, bestätigt sich die-

Notwendigkeit von Enteignungen und einer

sierung des Sozialismus, die an den Runden

ser Eindruck. Die Geschichte der DDR werde

Planung der Wirtschaft spreche, werde dies

Tischen damals zwar erörtert, aber nicht ver-

entkontextualisiert und gerade in Bezug auf ­

mit Verweis auf die DDR abgeschmettert.

wirklicht worden waren. Verpasste Gelegenhei-

die BRD nachträglich entflochten. Auch der

Hier widersprach Klaus Lederer, der Berliner

ten sind auch verlorene Utopien. Und auf die

Mythos der friedlichen Revolution blende ­

Kultursenator für die Partei Die Linke. Aus

Runden Tische folgten die forcierte Währungs-

wichtige politische Entscheidungen, in Ost­

seiner Erfahrung seien es die Gleichen gewe-

und Wirtschaftsunion, der übereilte Beitritt zur

wie West sowie auf weltpolitischer Ebene, aus.

sen, die vor 1989 im Staatsbürgerkundeun-

BRD und die wenig rühmliche Geschichte der

Der Schriftsteller und Journalist Kars-

terricht von der Diktatur des Proletariats ge-

Privatisierung und Abwicklung einer gesamten

ten Krampitz, der 2016 sein Buch „1976 –

sprochen, sich nach 1990 jedoch beschwert

volkseigenen Wirtschaft durch die Treuhand.

Die DDR in der Krise“ veröffentlichte, verweist

hätten, wenn die DDR als Diktatur bezeichnet

Aus der DDR wurde Geschichte gemacht – und

darauf, dass die Kultur- und Sozial­geschichte

wurde. Gerade aus den Debatten seiner Par-

als solche wurde sie Gegenstand erbitterter

der DDR sträflich vernachlässigt werde – sieht

tei, früher SED, dann PDS, könne er sagen,

Debatten und Kämpfe um die Deutungshoheit.

man einmal von Gunnar Deckers „1965 –

dass eine harte Kritik der DDR-Verhältnisse

Im HAU eröffnete die Historikerin

Der kurze Sommer der DDR“ oder Gerd Diet-

die Aufgabe all jener sein müsse, die eine

­Carola S. Rudnick die Debatte. 2011 erschien

richs im vergangenen Jahr veröffentlichter

neue linke Utopie schaffen wollen. Man müs-

ihr Buch „Die andere Hälfte der Erinnerung“

2500-seitigen „Kulturgeschichte der DDR“

se aus dem langen Schatten des Stalinismus

über die DDR in der deutschen Geschichtspo-

ab, die schon jetzt als Standardwerk gerühmt

heraustreten. Das Podium ist sich mit dem

litik nach 1989. Sie attestiert, dass die Auf-

wird. Differenzierung tue unbedingt not.

Publikum dahingehend einig, dass es in der

arbeitung der DDR durch einen verengten

Denn der inhaltlich unpräzise Totalitarismus-

Auseinandersetzung mit der DDR dringend

Blick geprägt ist. Stalinismus und Staats­

begriff führe nicht zu neuen Erkenntnissen.

mehr Vielfalt brauche, also andere, bisher un-

sicherheit – so lasse sich das vorherrschende

Auch werde, wo der ohnehin schon fragwür­

erhörte Perspektiven neben den allzu bekann-

Geschichtsbild des sozialistischen Staates

dige Vergleich mit der Naziherrschaft bemüht

ten. //

auf zwei Schlagwörter bringen, die zudem die

werde, im Grunde nie faktisch verglichen,

Jakob Hayner


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magazin

/ TdZ Mai 2019  /

Wer hat das Mikro? – Auch die Abgeordneten des deutschen Bundestags tappen gerne in die Moralfalle. Foto By Times – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/ index.php?curid=11470038

mussten. Um seine Argumentation zu illus­ trieren, erzählt Stegemann das berühmte Märchen vom Hasen und Igel. Darin fordert der Igel den Hasen zum Wettlauf heraus. Sobald das schnelle Langohr als vermeintlicher Sieger heranrast, streckt das Stacheltier den Kopf heraus und sagt: „Ich bin schon da.“ Der Trick: Der Igel hat seine Frau im Ziel platziert, sodass der Hase auch 74 Wiederholungen verliert und am Ende tot umfällt. Der Hase, das ist bei Stegemann die sozialpolitisch orientierte Linke. Und der Igel, das ist für ihn die identitätspolitische Linke, die Kategorien wie Geschlecht und Rasse als neue Hauptwidersprüche des Kapitalismus

Moral zum Wohlfühlen

schen Kommunikation eine Tendenz zum

ausgemacht und darüber vergessen habe,

aggressiven Moralisieren fest: „Die Verurtei-

dass Deutschland eine Klassengesellschaft

Im Februar 2018 debattierte der Deutsche

lung des Schlechten in der Welt hat weder zur

sei. Diese Linke habe sich in ihrer Wohlfühl-

Bundestag in einer Aktuellen Stunde zum

Ursache noch zum Ziel, an diesem Elend et-

blase eingeigelt und trete seit mehreren Jahr-

Thema „Erinnerungskultur“. Der Grünen-Ab-

was ändern zu wollen, sondern dient allein

zehnten doppelt auf.

geordnete Cem Özdemir stand am Redner-

der Aufwertung desjenigen, der sich über die

pult. Gerade hatte er mit gespielter Verwegen-

Schlechtigkeit empört.“

Ein Beispiel: Bundesgesundheitsminis­ ter Jens Spahn (CDU) möchte den Pflege­

heit in der Stimme die Abgeordneten der AfD

Es ist noch kein Jahr her, da beschrieb

notstand beheben, indem er Arbeitskräfte aus

als „Rassisten“ bezeichnet. Applaus brandete

der konservative Autor Alexander Grau in sei-

ganz Europa anwirbt. Die populäre Linkspar-

auf, in den hinein Özdemir „Diese Damen und

nem Buch „Hypermoral“ eine „neue Lust an

tei-Politikerin Sahra Wagenknecht kritisierte

Herren hier“ sagte. Immer wieder sagte er:

der Empörung“. Moral sei im linksliberalen

diese Idee mit dem Hinweis darauf, dass eine

„Diese Damen und Herren hier“, und dabei

Meinungsmainstream zu einem Religionser-

solche Migration die Löhne im Pflegebereich

stach sein ausgestreckter Zeigefinger mehr-

senken würde. Diese Position wiederum wie-

mals anklagend in Richtung der AfD-Fraktion.

sen die Grünen zurück, weil sie darin Natio-

„Ich hab’ das Mikrofon, und Gott sei Dank können Sie es mir nicht abstellen“, rief er. „Ich weiß, in dem Regime, von dem Sie träumen, könnte man das Mikrofon abstellen. Aber das können Sie hier nicht. Und Sie werden es nicht schaffen, glauben Sie es mir.“ Dabei hätte ihm in diesem Moment niemand

Bernd Stegemann: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 205 Seiten, 18 EUR.

das Mikrofon abstellen wollen, erst recht nicht

nalismus erkannt haben wollten. Grüne und Christdemokraten haben sich also verbrüdert, um eine klassenpolitische Argumentation moralisch auszuhebeln. Als strategische Stütze dieser Allianz macht Stegemann die sprachpolizeilichen Aktivitäten der Linken aus. Über das beharrliche Desinteresse der meist aus der gehobenen Mit-

die AfD. Denn die weiß ganz genau, dass der

satz geworden, meint Grau. Stegemann, der

telklasse stammenden Genderaktivisten für

Grüne wieder einmal das Spiel der Rechten

als Professor an der Berliner Hochschule für

die soziale Frage hat der Philosoph Robert

spielte – und ihnen mit dieser kurzen Rede

Schauspielkunst „Ernst Busch“ sowie als

Pfaller eigentlich bereits Ende 2017 in seinem

weitere Wähler geschenkt haben dürfte.

Dramaturg am Berliner Ensemble im Theater-

Buch „Erwachsenensprache“ alles gesagt.

Bernd Stegemann verfolgt offenbar

betrieb und damit im Zentrum dieses linksli-

Stegemann dagegen ist an den Stellen

nicht allzu oft Bundestagsdebatten. Vielleicht

beralen Deutungsspektrums arbeitet, ergänzt

brillant, an denen er seine Ausgangsthese ex-

ist das auch gut so, denn dann wäre sein neu-

die lesenswerte Analyse von Grau nun um

emplarisch anwendet. In der Auseinanderset-

es Buch „Die Moralfalle“ unmöglich zweihun-

eine Moralkritik von links.

zung mit dem 2016 erschienenen Buch „Ge-

dert Seiten schlank geblieben, so viele Belege

Und die hat es in sich. Es dürfte seit

gen den Hass“ der Journalistin Carolin Emcke

für seine zentrale These hätten sich aufge-

Jahren die saftigste Standpauke sein, die sich

arbeitet er etwa systematisch die blinden

drängt. Der Mitinitiator der linken Samm-

die deutschen Linken von einem Autor aus

Flecken des linksliberalen Moralismus her-

lungsbewegung Aufstehen stellt in der politi-

dem eigenen politischen Spektrum anhören

aus. In diesem Werk werden Demonstranten


bücher

/ TdZ  Mai 2019  /

aus Ostdeutschland pauschal als rassisti-

sagte er, „widmen wir der in Wiesbaden tot

scher, sexistischer Mob diffamiert.

aufgefundenen Susanna. Sie wurde 14 Jahre

Wenn von Flüchtlingen oder Minderheiten von der „moralisch guten Seite“ die Rede

Nachtseite der Vernunft

alt. Aus der Erde kommst du, und zur Erde

Das Werk Heiner Müllers ist unverwechselbar,

wirst du werden.“

seine Sprache einzigartig – und trotzdem ist es

ist, da verniedliche Emcke plötzlich ihren Ton.

Das Mädchen wurde ermordet, tatver-

außerordentlich schwierig, diese Eigenheiten

An einer Stelle sei zu lesen, dass „mit den sy-

dächtig war ein Flüchtling. Seitz schloss die

auf einen Begriff zu bringen. Es trotzdem zu

rischen Geflüchteten auch andere Erfahrungen

Augen und schwieg. Die AfD-Fraktionsmit-

versuchen, kann allerdings durchaus erkennt-

und andere Perspektiven auf den Staat Israel

glieder erhoben sich. Sitzungspräsidentin

nisfördernd sein, wie Mirjam Meuser mit ihrer

zu uns“ kommen. Der Begriff des Antisemitis-

Claudia Roth (Grüne) bat Seitz, zur Tagesord-

kürzlich veröffentlichen Studie „Schwarzer

mus tauche nur im Zusammenhang mit Neo-

nung zu sprechen oder den Platz frei zu ma-

Karneval – Heiner Müllers Poetik des Grotes-

nazis auf. Hier, so Stegemann, offenbaren sich

chen. Als er nicht reagierte, entzog Roth ihm

ken“ zeigt. Es handelt sich dabei um die Dis-

„Doppelstandards der Moral“. Die Mainstream­

das Wort. Die AfD wollte moralisieren, aber die

sertation der Dramaturgin, die am Theater

linke habe sich eine „Gated Community der

Präsidentin ließ ihm das nicht durchgehen.

Heilbronn arbeitet. Sie untersucht darin Mül-

Wohlmeinenden“ aufgebaut, „vor deren Toren

Doch dann betrat der nächste Redner

lers dramatisches Verfahren, das weder tra-

die Arena: Carsten Schneider von der SPD.

gisch noch komisch zu nennen sei, sondern

Wer diese Leute nicht ernst nehme,

Seine ersten Worte: „Der Bundestag ist ein

grotesk. Der Begriff des Grotesken ist wohl

sondern sie nur arrogant abkanzele, der stär-

Ort der politischen Debatte, aber nicht der

kaum trennscharf zu bestimmen, zu fließend

ke jene rechten Parteien, die sich ihrerseits

politischen Instrumentalisierung von Opfern.

sind die Übergänge zum Parodistischen und

als Opfer inszenieren können. Die Moral sorge

Sie sollten sich schämen!“ Anstatt zumindest

Karnevalesken, zum Absurden und Bizarren,

als Autorität dafür, „dass sich die Guten nicht

dieses eine Mal nicht über das Stöckchen der

zur Travestie und zum Unheimlichen. In der

mit den unbequemen und bösen Teilen der

AfD zu springen, antwortete der sich als guter

Begriffsgeschichte weist Meuser auf prägende

Gesellschaft beschäftigen müssen“.

Mensch präsentieren Wollende dem Mo-

Bestimmungen in der Renaissance und vor al-

Das eindrücklichste Beispiel dafür trug

ralapostel mit der Moralkeule. Und die Frakti-

lem in der Epoche der Romantik hin. Gegen

sich im Juni 2018 zu – erneut im deutschen

on der AfD lachte sich wieder einmal ins

die Regelmäßigkeit des Klassizismus wider-

Parlament. Damals sprach der AfD-Abgeord-

Fäustchen: Die SPD war in die „Moralfalle“

setzte sich das Groteske in ästhetischer Un-

nete Thomas Seitz zu einem Antrag zur Ge-

getappt. Wieder einmal – und gewiss nicht

stimmigkeit und Regellosigkeit. Das Groteske

schäftsordnung. „Die vorgesehene Redezeit“,

zum letzten Mal. //

Christian Baron

grenzt sich vor allem von einem Ideal ab. Eine

sich immer mehr Wütende sammeln“.

Festival und Labore

Parkaue City. Die klügere Stadt 20.– 29. Mai 2019 In Kooperation mit:

Gefördert durch:

/ 79 /


/ 80 /

magazin

/ TdZ Mai 2019  /

Der weibliche Blick?

dorfs launigen Dialogen: „Wenigstens gibt’s hier Frauen.“ – „Schon. Aber kein Rankom-

Zeitreise und Fundgrube zugleich ist dieses

men.“ Da ist viel vom lakonischen Gestus der

Buch, das die Geschichte von Regisseurinnen

Nouvelle Vague darin. Ingrid Reschke kam bei

der DEFA und ihrer Filme darstellt. Vermut-

einem Autounfall ums Leben. Jenny Gröllmann

lich wäre es den meisten der im Buch Vertre-

dazu 1994: „Dieser Unfall, denke ich, wäre

tenen nicht unbedingt recht gewesen, von

nicht passiert, wenn man diese Frau nicht so

ihren männlichen Kollegen derart separiert zu

fertiggemacht hätte wegen des Films.“ Wun-

werden – denn die Geschlechter definierten

derbarerweise gehören zwei DVDs zum Buch,

sich in der DDR nicht gegeneinander, son-

mitsamt langen und kurzen Filmen, darunter

weitere Bestimmung erfährt der Begriff nach

dern über den gemeinsamen Gegenstand, der

auch der komplette „Kennen Sie Urban?“.

Meuser in der modernen Dramentheorie durch

hier der Film ist.

Mirjam Meuser: Schwarzer Karneval – Heiner Müllers Poetik des Grotesken. De Gruyter, Berlin und Boston 2019, 484 Seiten, 99,95 EUR.

Ja, es sind in diesem Buch starke Men-

Friedrich Dürrenmatt, der das Groteske als Re-

Aber aus heutiger Sicht ist es dennoch

schen mit einem hohen künstlerischen An-

aktion auf die verwaltete Welt deutet, in der die

interessant zu erfahren, wie viele Frauen unter

spruch versammelt. Darunter auch Barbara

Bedingungen eines tragischen oder komischen

den DEFA-Regisseuren waren und auch, warum

Junge, die mit ihrem Mann Winfried Junge

Helden nicht mehr gegeben seien. Die Wirk-

manch eine nicht so bekannt geworden ist, wie

die Langzeitchronik der „Kinder von Golzow“

lichkeit selbst tendiere zur Tragikomödie. So

sie es verdient hätte. Dieses im alphabe­tischen

(insgesamt 19 Filme) realisierte, oder Sibylle

deutet Meuser auch Müller, der mit den Mitteln

Lexikon-Stil aufgebaute Buch erlaubt es, sich

Schönemann, die als junge Regisseurin Ende

der Groteske die Menschen als Objekte, nicht

gleichsam assoziativ in ihm zu bewegen. Oft

der achtziger Jahre einen Ausreiseantrag

Subjekte der Geschichte zeigt.

kennt man die Namen, aber nicht die Biografie

stellte. An ihr und ihrem Mann statuierte man

Vor allem anhand von „Leben Gund-

dazu. So die von Marion Keller, frühe Lebens­

daraufhin ein Exempel, sie kamen ins Ge-

lings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf

partnerin von Kurt Maetzig, mit dem sie die

fängnis und wurden schließlich vom Westen

Traum Schrei“ und „Die Umsiedlerin oder das

DEFA-Kino-Wochenschau „Augenzeuge“ grün-

freigekauft. 1990 drehte sie dann über diese

Leben auf dem Lande“ untersucht Meuser

dete. Als sich Maetzig nach seinem Spielfilm-

Gefängniszeit eine der wichtigsten Wende-

den Einsatz grotesker Stilmittel bei Müller,

debüt „Ehe im Schatten“ (1947) mehr und

Dokumentationen: „Die verriegelte Zeit“.

mit denen auch schon Surrealisten und Ex-

mehr eigenen Projekten widmete, leitete sie

Heute macht sie keine Filme mehr, die Zwän-

pressionisten arbeiteten. Entstellte Körper,

den „Augenzeugen“ von 1947 bis Ende

ge im Westen, sagt sie, erwiesen sich als ge-

brutale Gewalt und rohe Sexualität, Traumbil-

1949 allein, getreu dem Motto eines demo-

nauso unannehmbar wie die im Osten. //

der, Doppelgänger, Wiederkehr des Verdräng-

kratischen Neuanfangs: „Sie sehen selbst,

ten – die Nachtseite der Vernunft wird nach

Sie ­ hören selbst, urteilen Sie selbst.“ Die

außen gekehrt, das Obszöne ausgestellt. Ist

neue DEFA-Wochenschau sollte das Gegenteil

Müller in der „Umsiedlerin“ noch deutlicher

zur Propaganda der Nazi-Wochenschau sein:

am Karnevalesken und Komischen interes-

­zuerst sachliche Information. Aber dann, so

siert, so wird seine Poetik im Laufe der Jahre

Maetzig, verschwand der Vorspruch und mit

Alles begann in den fünfziger Jahren bei den

dunkler, düsterer, ein schwarzer Karneval.

ihm der Anspruch. Marion Keller musste kurz

Erlanger Theaterwochen. Beim Treffen der

Das ist, wie Meuser zeigt, auch eine Entwick-

nach der Gründung der DDR das Studio ver­

Studententheater, so erzählt es Karlheinz

lung von Brecht zu Shakespeare, wobei schon

lassen – und ging bald darauf in den Westen.

Braun, begegnete sich alles, was später ein-

bei Brecht Elemente eines grotesken Realis-

Die Gefahr politischer Stigmatisierung

mal Rang und Namen haben sollte in der

mus enthalten sind, während es bei Shakes-

traf Frauen genauso wie Männer, gerade die-

Theaterszene. Man unterschied seinerzeit

peare eine wahre Fülle grotesker Mittel gibt,

jenigen mit einem starken politischen An-

zwischen „Hüpftheater“ und „Sitztheater“.

mit der Einschränkung, dass es bei Shakes­

spruch. Eine Regisseurin, die mir sehr am

Ersteres verband man mit Sprüngen und aus-

peare überhaupt die größte Fülle an drama­

Herzen liegt, ist Ingrid Reschke, deren einzi-

ladenden Gesten, Letzteres war „alles, was

tischen Mitteln aller Art gibt. Meuser inter-

ger Spielfilm „Kennen Sie Urban?“ (mit Jen-

mit dem Denken zu tun hat“. Braun selbst

pretiert Müllers Poetik des Grotesken als

ny Gröllmann) blieb, nach einem Szenarium

hatte es eher mit dem Denken.

Arbeit am Unmöglichmachen der Wirklich-

von Ulrich Plenzdorf. Ein Roadmovie von

Karlheinz Braun, der Gründer und lang-

keit, als Arbeit an der Utopie. Diese Poetik sei

1971, avantgardistisch gefilmt mit Plenz-

jährige Leiter des Verlags der Autoren, hat sei-

Gunnar Decker

Der Verlagsdramaturg

ausgerichtet auf „das Subversive, Randstän-

ne Erinnerungen zu Papier gebracht, und das

dige, Asoziale, auf die Unterbrechung durch

in imponierender Gründlichkeit. Der volumi­

den Schrecken, die ein Eingreifen in den scheinbar immer gleichen Ablauf der Geschichte ermöglichen soll“, schreibt Meuser. Eine kenntnisreiche Studie über Müller, die sich nicht scheut, sein Werk auf einen Begriff zu bringen, wobei auch die immanenten Entwicklungen und Differenzierungen deutlich werden. //

Jakob Hayner

Sie – Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme. Cornelia Klauß, Ralf Schenk (Hg.), DEFA-Stiftung Schrif­tenreihe, Bertz u. Fischer, Berlin 2019, 416 Seiten plus zwei DVDs, 29 EUR.

nöse Band „Herzstücke“ ist eine erfrischende Mischung aus detailfreudiger Autobiografie, die auch das fränkische Kellerbier nicht auslässt, und einer Theatergeschichte der zweiten Jahrhunderthälfte aus erster Hand. Braun promovierte in Frankfurt über den Roman „Stiller“ von Max Frisch. Ein Suhrkamp-Thema sozusagen, so war der


bücher

/ TdZ  Mai 2019  /

Sprung ins Büro von Peter Suhrkamp verblüf-

gegen Polizisten verhaftet und verbrachte eine

fend leicht. Wenige Wochen vor seinem Tod

Nacht im Knast. Dabei handelte es sich bei

vermittelte der Verleger den so ehrgeizigen

Karlheinz Braun: Herzstücke. Leben mit Autoren. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019, 676 Seiten, 32 EUR.

wie selbstbewussten jungen Mann als Regieassistent an Harry Buckwitz, den Frankfurter Intendanten. Suhrkamps Nachfolger Siegfried Unseld wiederum gründete, vor allem

dieser Uraufführung um nichts weniger als die Geburt des postdramatischen/performativen Theaters, aber das war den Beamten entgangen. Handkes erste Sprechstücke verkauften sich fast 50 000 Mal. Fritz Kortner prägte den schönen Satz:

aus kommerziellen Gründen, einen eigenen Bühnenvertrieb, für dessen Leitung er im Juli

Karlheinz Braun schildert anschaulich die

„Zu jedem Stück muss einem ja noch ein Re-

1959 Braun engagierte.

komplexen Entstehungsgeschichten später be-

gie-Stück einfallen.“ Martin Walser (dessen

Suhrkamp war damals ein kleiner Ver-

rühmter Texte und Aufführungen. Gerade ein

Debüt Kortner inszenierte) hat ihn in seinem

lag mit kaum mehr als einem Dutzend Ange-

geniales Stück wie Peter Weiss’ „Marat/Sade“

Tagebuch festgehalten. Walser wurde übrigens

stellten. Die Reihe Spectaculum hatte noch

durchlief einen schier unendlichen Prozess

Brauns Nachfolger als kommissarischer Leiter

Peter Suhrkamp begründet, den Grundstock

der Veränderungen – das Work in Progress par

des Suhrkamp-Theaterverlags – als Braun

bildeten die vier Autoren Brecht, Eliot, Frisch,

excellence. Irgendwann drohten alle Beteilig-

nach dem sogenannten „Lektorenaufstand“

Shaw. Beckett war also noch gar nicht dabei.

ten den Überblick zu verlieren. Erst die fünfte

1969 seinen eigenen Verlag gründete, eben

Der bundesdeutsche Brecht-Boykott ging zu

Auflage wurde zur Ausgabe letzter Hand.

den Verlag der Autoren. Ihm blieb Braun treu,

Ende, in der Spielzeit 1959/60 gab es

Nicht weniger spektakulär die Urauffüh-

bis auf eine Ausnahme: Zweieinhalb Jahre,

65 deutschsprachige Brecht-Inszenierungen.

rung der „Publikumsbeschimpfung“ von Peter

von 1976 bis 79, fungierte er als Geschäfts-

Braun bezeichnet den eigenen Job als den

Handke am Frankfurter Theater am Turm am

führer des Schauspiels Frankfurt. Wie es ihm

eines „Verlagsdramaturgen“. „Theaterautoren

8. Juni 1966. Braun erzählt, wie bewusst

dabei ergangen ist, teilt er nicht mit. Er

leiden unter der ephemeren Existenz ihrer

Claus Peymanns Inszenierung mit vier Akteu-

schreibt nur lapidar: „Der Verleger, der bisher

Stücke“, notiert er. Immerhin enthielten drei-

ren an die Performance der Beatles angelehnt

mit den Stücken der Autoren ein Produkt her-

ßig der ersten hundert Bände der edition

war; der Popstar Handke saß, quasi in der Rol-

stellte und an die Theater vertrieb, stand plötz-

suhrkamp Theaterstücke. (Heute haben zum

le eines Brian Epstein, an der Rampe und warf

lich auf der anderen Seite, da wo das Produkt

Teil Magazine wie Theater der Zeit diese

Kusshände in ein enthusiasmiertes Publikum.

genutzt wird.“ //

Funktion übernommen.)

Anschließend wurde der Autor wegen Krawalls

Martin Krumbholz

30. Mai – 8. Juni

Vorsicht, Zerbrechlich! NRW-THEATERTREffEN 2ol 9 ZEHN HERAusRAgENDE INsZENIERuNgEN Aus NRW Lesungen, Konzerte, Podien & Partys am Theater Münster

nrw-theatertreffen.de theater-muenster.com

HANDLE WITH CARE

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aktuell

/ TdZ Mai 2019  /

Meldungen

denden Klausurtagung und der erstmalig

Montagabenden im Juni und Juli 2019 wird

statt­ gefundenen Konferenz der Landes­ ver­

sie in Saarbrücken über das Komische im

bände einen neuen Vorstand. Die bisherige

Theater sprechen.

■ Susanne Keuchel ist neue Präsidentin des

Vorsitzende, Janina Benduski (Berlin), sowie

Deutschen Kulturrates und damit die erste

ihre beiden Stellvertreter*innen, Anne-Cath-

■ Der Theaterregisseur Ersan Mondtag erhält

Frau an der Spitze des Kulturdachverbands.

rin Lessel (Sachsen) und Tom Wolter (Sach-

den mit 10 000 Euro dotierten 3sat-Preis beim

Sie wurde als Nachfolgerin für den bisherigen

sen-Anhalt), wurden in ihren Ämtern bestä-

diesjährigen Theatertreffen für seine Inszenie-

Präsidenten Christian Höppner gewählt. Su-

tigt. Auch die beiden Beiräte Ulrike Seybold

rung „Das Internat“ am Schauspiel Dortmund.

sanne Keuchel studierte Musikwissenschaft,

(Niedersachsen) und Harald Redmer (Nord-

„Ersan Mondtag zeigt sich in ‚Das Internat‘

Germanistik und Soziologie an der Universität

rhein-Westfalen) wurden erneut von den Dele-

einmal mehr als bildmächtiger Regisseur, der

Bonn und der Technischen Universität Berlin,

gierten gewählt. Als Beiräte neu gewählt wur-

gekonnt mit den Ängsten der Zuschauer spielt.

war geschäftsführende Direktorin des Zentrums

den Elisabeth Bohde (Schleswig-Holstein)

Kongenial verbindet er Regie, Bühne und

für Kulturforschung, Direktorin der Akademie

und Matthias Schulze-Kraft (Hamburg).

­Kostüm zu einer Installation der Angst, einem

der Kulturellen Bildung in Remscheid, Hono-

Diorama der Unterdrückung“, so die 3sat-

rarprofessorin am Institut für Kulturpolitik

Preis-Jury. Die Produktion „Das Internat“, die

der Universität Hildesheim und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Der Bewerbungsprozess für die neue Intendanz am Volkstheater Wien ist vorerst gestoppt. Das meldete unter anderem die österreichische Tageszeitung Die Presse. Die Findungs-

Jens Harzer. Foto Armin Smailovic

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sich seit Juli 2018 nicht mehr im Spielplan des Theaters Dortmund befindet, kann aufgrund von Schwierigkeiten bei der Termin- und Spielstättenfindung beim diesjährigen Theatertreffen nicht gezeigt werden.

■ Die französische Autorin und Regisseurin Caroline Guiela Nguyen wurde mit dem mit

kommission habe beschlossen, keine Kandida-

15 000 Euro dotierten Jürgen Bansemer & Ute

ten für die Nachfolge von Direktorin Anna

Nyssen Dramatikerpreis ausgezeichnet. Geehrt

Badora vorzuschlagen, weil eine Neuausrich-

wurde sie für ihr Theaterstück „Saigon“, das

tung des Hauses nur mit mehr Geld möglich

2017 beim Festival d’Avignon und 2018 am

sei. Die Fehlsumme wird auf drei Millionen

Theater Odéon in Paris gezeigt wurde.

Euro jährlich beziffert. Es wurde außerdem an-

■ Der russische Theaterregisseur Kirill Serebren­

gedeutet, dass der Bewerberkreis nicht ganz den Vorstellungen der Kommis­ sion entspre-

■ Der Bühnen-, Film- und Fernsehschauspie-

nikow ist nach eineinhalb Jahren aus dem

che: Nur mit einer zusätzlichen Dotierung sei-

ler Jens Harzer ist neuer Träger des renom-

Hausarrest entlassen worden. Allerdings darf er

en sowohl weiterführende Gespräche mit Kan-

mierten Iffland-Rings. Harzer war an den

weiterhin ohne Genehmigung der Polizei die

didaten, die am Hearing teilnahmen, als auch

Münchner Kammerspielen sowie am Bayeri-

Stadt Moskau nicht verlassen, Auslandsreisen

die „Erweiterung des Kreises“ der Bewerber

schen Staatsschauspiel engagiert, seit 2009

bleiben ebenso verboten. Serebrennikow wurde

um „jene Personen, die auf der Grundlage der

ist er Ensemblemitglied des Thalia Theaters

am 22. August 2017 wegen angeblicher Ver-

jetzigen finanziellen Situation von einer Be-

Hamburg. Harzer erhält den Iffland-Ring in

untreuung öffentlicher Mittel in Höhe von 133

werbung bedauerlicherweise Abstand genom-

Nachfolge des im Februar verstorbenen

Millionen Rubel (2 Millionen Euro) verhaftet.

men haben“, möglich, zitiert Die Presse aus

Schweizer Schauspielers Bruno Ganz.

Die Unterstützer des Künstlerischen Direktors des Moskauer Gogol Centers vermuten, die

dem Protokoll der Kommission.

■ Die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf über-

gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen seien ­

■ Der Bundesverband Freie Darstellende Künste

nimmt die achte Saarbrücker Poetikdozentur

politisch motiviert. Barrie Kosky, Intendant ­

wählte im Rahmen seiner jährlich statt­ fin­

an der Universität des Saarlandes. An drei

der Komischen Oper Berlin, kündigte an, Sere-


aktuell

brennikow bereits in der kommenden Spielzeit

und ab 1. Januar 2020 um weitere 3,17 Pro-

für die Inszenierung von Igor Strawinskys Oper

zent, mindestens aber um 90 Euro. Die Ver-

„The Rake’s Progress“ an sein Haus zu holen.

gütungserhöhungen für die Künstler*innen an Landesbühnen richten sich danach, welchem

■ Das Deutsche Zentrum des Internationalen

der genannten Tarifbereiche die jeweilige

Theaterinstituts (ITI) hat eine deutschlandweite

Landesbühne zugeordnet ist. Hessen ist kein

Umfrage zu Visa-Restriktionen für Künstler*in­

Mitglied in der Tarifgemeinschaft der Länder

nen im Schengenraum gestartet. Es gibt „deut-

(TdL), deswegen einigten sich die Tarifparteien

liche Anhaltspunkte, dass die Zahl der Fälle,

für die Hessischen Staatstheater, das Thea­ter

in denen Künstler*innen die Einreise nach

Gießen und das Theater Marburg auf die An-

Deutschland verweigert wird, in letzter Zeit zu-

wendung der TV-L-Regelungen. Ab 1. Februar

nimmt“, so der Direktor des ITI Deutschland

2020 gilt dann auch für diese Theater der

Thomas Engel. Entsprechende Anträge wür-

weitere Erhöhungsschritt des Tarifbereichs TV-L.

Götz Argus. Foto Jörg Reichardt

/ TdZ  Mai 2019  /

den, besonders bei jungen Künstler*innen, aufgrund der „fehlenden positiven Rückkehr-

■ Das ehemalige Gebäude der Hochschule

prognose“ immer häufiger abgelehnt, unab-

für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Ber-

spielhaus Graz, Bayerischen Staatsschauspiel,

hängig davon, ob es vertragliche Abmachungen

lin-Schöneweide wird zum größten Produk­

Staatstheater Stuttgart und am Düsseldorfer

gibt, künstlerische Begegnung oder Austausch

tions­ standort für freischaffende darstellende

Schauspielhaus gehörte er von 2011 bis 2018

aus öffentlichen Mitteln gefördert werden oder

­Künst­ler*innen der Stadt. Das geplante Pro-

zum festen Ensemble am Münchner Resi-

nicht. Unter https://survey.iti-germany.de/in-

duktionszentrum könne den größten Teil des

denztheater unter der Intendanz von Martin

dex.php/756296 können sich Theater, Pro-

akuten Bedarfs an Probenräumen unter-

Kušej. Weitere Zusammen­ arbeiten verban-

duktionshäuser, Institutionen, Festivals und

schiedlicher Größe für die freie Szene decken,

den ihn unter anderem mit den Regisseuren

Theatergruppen an der Umfrage beteiligen.

so die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Dimiter Gotscheff, Michael ­Thalheimer und

Das Haus soll professionellen Schau­ spie­

Frank Castorf.

■ Am 1. April 2019 haben sich der Deutsche

ler*innen, Tänzer*innen, Sänger*innen, Regis­

Bühnenverein und die Künstlergewerkschaf-

seur*in­nen, Performer*innen und Nach­wuchs­

■ Am 22. März 2019 starb in Leipzig der

ten Genossenschaft Deutscher Bühnen-Ange-

künstler*innen eine angemessene I­ nfrastruk­tur

langjährige Rektor der Theaterhochschule

höriger, Vereinigung deutscher Opernchöre

mit technisch flexibel ausgestatteten Proben-

„Hans Otto“ Rolf Rohmer. Der 1930 geborene

und Bühnentänzer und Deutsche Orchester-

räumen und Studios bieten. Die Räumlich­

Germanist und Professor für Theatergeschichte

vereinigung in Köln auf die sinngemäße Über-

keiten ­stehen vorwiegend für eine kurz- und

amtierte von 1969 bis 1982 als Rektor dieser

tragung der Lohnabschlüsse des öffentlichen

mittelfristige Nutzung, ohne kuratierte Aus-

Leipziger Hochschule. Anschließend leitete

Dienstes auf alle Künstler*innen geeinigt. Die

wahl durch den Betreiber, zur Verfügung. Das

er drei Jahre lang das Deutsche Theater Ber-

Tarifparteien vereinbarten detaillierte Lohn-

Gebäude wird für die Inbetriebnahme um-

lin als Intendant. In seinen letzten Lebens-

anpassungen für die Beschäftigten an Thea-

fänglich saniert.

jahren widmete er sich unter anderem der Archivierung des Lebenswerkes von Fritz

tern und Orchestern. An Stadttheatern steigen die Löhne rückwirkend zum 1. April 2019 um

■ Der Schauspieler Götz Argus ist am 27. März

Bennewitz. Ein ausführlicher Nachruf folgt

3,09 Prozent und ab 1. März 2020 noch mal

2019 nach längerer Krankheit verstorben.

im nächsten Heft.

um 1,06 Prozent. Für die künstlerisch Be­

Geboren 1961 in Greiz in Thüringen, ab­

schäftigen an Staatstheatern werden die

solvierte er sein Schauspielstudium an der

Vergütungen mit Bezug auf den Tarifvertrag

Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig.

für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L)

Nach Stationen am Neuen Schauspiel Leipzig,

rückwirkend ab 1. Januar 2019 um 3,17 Pro-

an der Volksbühne Berlin, am Schauspiel

zent, mindestens aber um 100 Euro erhöht

Frankfurt, am Mousonturm Frankfurt, Schau-

APRIL - DEZEMBER 2019 DAS FESTIVAL ZUR DEKOLONISIERUNG UNSERER GEGENWART PERFORMANCES . PANELS . LITERATUR WORKSHOPS . VIDEO www.ballhausnaunynstrasse.de

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BECOMING MY BODY

LESUNG KURATIERT VON CHIMA UGWUOKE

PERFORMANCE VON BISHOP BLACK

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aktuell

/ TdZ Mai 2019  /

Premieren Aachen Theater K. Küspert: Der Westen (R. Messing, 02.05.); N. Haidle: Für immer schön (M. C. Lachmann, 10.05.); Ö. v. Horváth: Kasimir und Karoline (M. Helle, 11.05.) Augsburg Staatstheater H. v. Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe (C. v. Treskow, 04.05.); D. Dath: Die nötige Folter (A. Bücker, 11.05., UA); L. Vekemans: Judas (M. Barrawasser, 18.05.) Baden-Baden Theater M. Uhl: Welterben (M. Uhl, 24.05., UA) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater B.Strauß: Die Zeit und das Zimmer (S. Broll-Pape, 17.05.); E. Maci: Die Mitwisser (E. Jach, 24.05.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater n. G. Hendrich: Fidlaŕ Kito (T. Thomaschke, 09.05., UA) Berlin Ballhaus Ost Cabinet of cool (D. Dröscher/M. Bausback/D. Dresselhaus/ Schröder & Statkus, 04.05.); J. Frank: Rock Around The Cock (J. Frank, 08.05.); R. Aslan/C. Gylee: Dogs of love – a queer quantum love story (R. Aslan/C. Gylee, 16.05.) Berliner Ensemble W. Busch: Max und Moritz. Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene (A. Romero Nunes, 22.05.) Deutsches Theater D. Grossmann: Kommt ein Pferd in die Bar (D. D. Pařízek, 05.05., DEA) Theater an der Parkaue M. Milisav­ ljević: Geschichten aus dem Bauwagen (I. Buschmann, 21.05., UA); theaterdiscounter I. Wyrypajew: Juli (L. Skverer, 16.05.) Volksbühne K. Brunner: Die Hand ist ein einsamer Jäger (P. Karabulut, 23.05., UA); F. Wedekind: Lulu (S. Pucher, 30.05.) Bielefeld Theater E. Walsh/D. Bowie: Lazarus (M. Heicks, 18.05.); C. Priego/C. ­Gebert: PReVolution – Ein Science Fiction Ensemble Projekt (L. Graser/L. Schiedeck, 24.05., UA) Bonn Theater E. Tandler: In and Out Hannah Arendt (E. Tandler, 23.05.); V. Lösch/C. Lang: House of Horror – Theater. Frauen. Macht. (V. Lösch, 24.05., UA) Bregenz Vorarlberger Landestheater F. Grillparzer: König Ottokars Glück und Ende (J. Lepper, 04.05.); L. Kittstein/B. Mikeska: Diorama Bregenz :: Der letzte Mensch (B. Mikeska, 09.05.); F. Hochwälder: Der Flüchtling (B. Hebenstreit, 24.05.) Bremen Theater n. W. Shakespeare: Fuck Identity – Love Romeo (L. Böhm, 03.05.); A. Zandwijk/L. Lenshoek: Mütter (A. Zandwijk, 08.05.); A. Pfundter: Ich bin nicht du (A. Pfundter, 25.05.) Bremerhaven Stadttheater B. Erasmy: Brand. Eine deutsche Familiengeschichte (T. Rott, 11.05.); D. Mamet: Oleanna – Ein Machtspiel (M. Barrawasser, 31.05.) Bruchsal Die Badische Landesbühne H. C. Andersen: Des Kaisers neue Kleider (J. Bitterich, 03.05.); stadt raum körper: Wer ist Bruchsal? Teil I (P. Jenni/M. Hedderich, 10.05.); Junges Bürgertheater: Die Grenzen einer Gesellschaft (J. Ferstl, 18.05.) Celle Schlosstheater Haesler, für ein neues Celle (S. Richter, 09.05., UA) Chemnitz Theater N. Baudy: Rauschen (B. Bell, 03.05., UA); A. T. Jensen: Adams ­Äpfel (C. Knödler, 11.05.) Cottbus Staatstheater H. Ibsen: Ein Volksfeind (J. Fabian, 25.05.)

Mai 2019

Stille. So ist das Leben. Und es kommt nicht mehr. Ödön v. Horváth, Kasimir und Karoline

Götz Argus * 6. April 1961

† 27. März 2019

In tiefer Trauer um unseren ehemaligen Kollegen, den einzigartigen Schauspieler und verletzlichen Kraftkerl. Martin Kušej Das Ensemble und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Residenztheaters

Dessau Anhaltisches Theater n. H. Müller/ B. Brecht/S. Jessenin/U. Jürgens: Heißer Sommer (G. Marrer/K. P. Kecsek, 17.05.); A. Wenig: Katja und der Teufel (Čert a Kača) (J. Peters-Messer, 25.05.) Detmold Landestheater M. v. Mayenburg: Der Hässliche (K. Trosits, 04.05.); Spatz und Engel (R. Nemack, 17.05.) Dinslaken Burghofbühne E. Kaut: Pumuckl zieht das große Los (M. Schombert, 09.05.) Dortmund Theater E. Kästner/B. Zobel: Emil und die Detektive / Ein Solo für Gustav (B. Zobel, 18.05., UA); T. Örn Arnasson/M. Torfason: Im Irrgarten des Wissens (T. Örn Arnasson, 25.05., UA) Dresden Staatsschauspiel Ö. v. Horváth: Kasimir und Karoline (N. Schlocker, 11.05.); n. J. Steinbeck/F. Galati: Früchte des Zorns (M. Salehpour, 16.05.); F. M. Dostojewski: Schuld und Sühne (S. Hartmann, 31.05.) Theater Junge Generation Auf der Suche nach dem unschätzbaren Wert der Dinge (K. Kunze, 25.05., UA) Düsseldorf Schauspielhaus C. Palahniuk: Fight Club (R. Vontobel, 18.05.); I. Bergman: Fanny und Alexander (S. Kimmig, 25.05.); Bürgerbühne: Perfect Family (H. Biedermann, 26.05., UA) Eggenfelden Theater an der Rott J. Crouch/P. McDermott/The Tiger Lillies: Shockheaded Peter (B. Liepold-Mosser, 03.05.); A. Schmitz: Bürgerprojekt Eggenfelden (A. Schmitz, 25.05.)

Essen Schauspiel A. Tschechow: Der Kirschgarten (A. Buddeberg, 04.05.); n. Sarah V. & Claude K. Dubois: Stromer (compagnie toit végétal, 25.05.) Flensburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester Theaterjugendclub Flensburg: Romeo und Julia (J. Wolf/C. Hellrigl, 28.05.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Schulausflug (Hain / Kapsner / Mahlow / Romanowski, 09.05., UA); Paare sind feindliche Inseln (J. Pinsker/W. Bernhardt, 21.05., UA) Schauspiel F. Richter: Rausch (R. Pape, 03.05.); J. Raspail: Das Heerlager der Heiligen (H. Schmidt-Rahmer, 16.05.); H. Ibsen: Peer Gynt (A. Kriegenburg, 18.05.) Theater Willy Praml Molière: Don Juan. Molière (W. Praml, 16.05.) Freiberg Mittelsächsisches Theater T. Reffert: Let´s play: Reality (T. Reffert, 03.05., UA); n. Aristophanes/P. Hacks: Der Frieden (R. Schulze, 11.05.) Freiburg Theater M. Kaiser/B. Grubel/C. Heigel: Das Leben des Anderen (M. Kaiser/B. Grubel/C. Heigel, 11.05.); A. Wesker: Die Küche (A. R. Koohestani, 18.05.) Gera Theater & Philharmonie Thüringen M. Kressin: Als der Herzog über den Herzog herzog (C. Thum, 12.05., UA) Graz Schauspielhaus n. G. Hauptmann/E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (B. Mottl, 11.05.); M. Amis: Pfeil der Zeit (B. Rádóczy, 24.05., DEA)

Greifswald Theater Vorpommern H. v. Kleist/F. Steiof: Michael Kohlhaas (O. Scheer, 09.05.) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater M. Herl: Captain´s Dinner (F. Blumenthal, 10.05.) Hamburg Schauspielhaus M. A. Müller: Abgrenzung (A. Bader, 05.05., UA); M. Mosebach: Rotkäppchen und der Wolf (M. Höfermann, 17.05.) Thalia Theater M. A. Yasur: In der Schwebe (A. Niemiro, 10.05.); n. D. Charms: Besiegt am Feld des Lebens (J. Pohl, 11.05.); H. v. Kleist: Amphitryon (L. Haußmann, 11.05.) Hannover Schauspiel M. Mosebach: Rotkäppchen und der Wolf: Ein Drama (T. Kühnel, 23.05.) Heilbronn Theater A. Miller: Hexenjagd (U. Koschel, 04.05.); E. Assous: Unsere Frauen (M. Everding, 10.05.) Hildesheim Theater für Niedersachsen n. H. v. Kleist: Michael Kohlhaas (M. N. Koch, 01.05.); P. Lund/T. Zaufke: Elternabend (C. Simmons, 11.05.) Ingolstadt Stadttheater R. Schimmelpfennig: Die arabische Nacht (M. A. Schäfer, 04.05.) Innsbruck Tiroler Landestheater M. Plattner: Phantasma X (V. Koch, 04.05., UA); J. Soyfer: Astoria (E. Hartmann, 11.05.) Kaiserslautern Pfalztheater S. Berg: Mein ziemlich seltsamer Freund Walter (T. Feichtinger, 10.05.); J. Pommerat: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas (Y. Kespohl, 18.05.) Karlsruhe Badisches Staatstheater M. Mohren/B. Herbordt: Das Dorf (M. Mohren/B. Herbordt, 03.05., UA); J. C. Mitchell: Hedwig and the Angry Inch (O. A. Thoß, 12.05.); J. W. v. Goethe / Euripides: Iphigenie (L. Rupprecht, 26.05.) Kassel Staatstheater F. Aydemir: Ellbogen (P. Rosendahl, 05.05.); A. Baker: The Aliens (S. Schug, 09.05., DEA); B. Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder (L. Linnenbaum, 10.05.) Kiel Theater T. Letts: Mary Page Marlowe – Eine Frau (D. Yazdkhasti, 17.05.) Klagenfurt Stadttheater S. Berg: Mein ziemlich seltsamer Freund Walter (D. Schneider, 07.05.); H. Kretschmer/C. Steuber: Die Geschichte von den Frohlobos (H. Kretschmer/C. Steuber, 15.05.); J. Winkler: Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe (S. Schug, 29.05.) Köln Schauspiel n. A. Döblin: Pardon wird nicht gegeben (R. Sanchez, 24.05., DEA) Konstanz Theater A. Lygre: Ich verschwinde (P. Stemann, 04.05., DEA); J. Fosse: Meer (W. Twiehaus, 11.05., DEA); n. R. Menasse: Die Hauptstadt (M. Zurmühle, 17.05.) Krefeld Theater L. Kittstein: Himmel über Paris – Eine musikalische Odyssee (M. Gehrt, 17.05.) Leipzig Cammerspiele Carminski Hauser Kollektiv: Schön ist es auch anderswo und hier bin ich sowieso (Carminski Hauser Kollektiv, 23.05., UA) Theater der Jungen Welt E. Rottmann: Die Eisbärin (J. Zielinski, 09.05., DEA) Linz Landestheater A. Ostrowski: Der Wald (S. Suschke, 03.05.); G. Hauptmann: Einsame Menschen (C. Diem, 18.05.)


aktuell

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Lübeck Theater A. Tschechow: Drei Schwestern (L. Sykes, 17.05.); H. Müller: Quartett (F. Harmstorf, 29.05.) Magdeburg Puppentheater O. Dassing/M. Hirche: Die fabelhaften Drei. Geschichten über Angst und Mut. (O. Dassing/M. Hirche, 11.05., UA) Theater W. K. Zwieback: Tanz im Netz (17.05., UA) Mainz Staatstheater n. R. Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (L. Bihler, 17.05.); n. A. Pehnt: Der Bärbeiß (J. Kracht, 22.05.) Marburg Hessisches Landestheater A. Tschechow: Der Kirschgarten (S. Khodadadian, 04.05.); Brüder Grimm: Hans im Glück (X. Zweni, 18.05.) München Kammerspiele For the last time (K. Hmeidan, 02.05.); n. A. Schimmelbusch: Hochdeutschland (K. Barz, 24.05.) Münster Wolfgang Borchert Theater K. Küspert: Europa verteidigen (T. Weidner/I. Nagel, 23.05.) Neuss Rheinisches Landestheater A. Tschechow: Der Kirschgarten (M. Peters, 10.05.); n. Aischylos: Die Perser (A. Linz, 18.05.); n. A. Klobouk: Polymeer – Eine apokalyptische Utopie (F. v. Boeckel, 25.05.) Neuwied Landesbühne Rheinland-Pfalz n. I. Calbérac: Frühstück bei Monsieur Henri (W. Ullrich, 02.05.) Potsdam Hans Otto Theater D. Greig: Monster (C. Fillers, 10.05.) Regensburg Theater L. Regahl/A. Burani: Und dazwischen Ich (L. Regahl/A. Burani, 18.05., UA); K. Koppelmaar: Die Steigerung des Glücks (K. Kusenberg, 26.05., UA)

Reutlingen Theater Die Tonne tonnejugendforum: Copycat (S. Omlor, 04.05., UA); Liebe dann den nächsten (E. Urbanek, 09.05., UA) Rostock Volkstheater AKA:NYX: Das Land dazwischen – Teil 1: Linien (N. Gühlstorff, 03.05.); D. Sheik/S. Sater: Spring Awakening (S. Brauer, 03.05.); Das Grüne Ungeheuer (C. Lange, 17.05.); Family Issues (S. Moritz, 17.05.) Rudolstadt Theater R. Pape/C. Fillers: Die Nibelungen (C. Shidlowsky, 15.05.); S. Hensel: Robin Hood (T. Voigt, 21.05.) Schaan TAK – Theater Liechtenstein n. d. Gebrüder Grimm: Grimm&Co: Das tapfere Schneiderlein (J. Beck, 18.05.) Schleswig Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester J. Ford: Schade, dass sie eine Hure war (W. Apprich, 05.05.); Theaterjugendclub Schleswig: Für immer und wenig (C. Schmidt/T. Schleheck, 23.05.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen A. Kratzer/J. Kratzer: Oh, wie schön ist Panama (C. Bossert, 22.05.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater BzgA: Trau dich! (T. Ott-Albrecht, 07.05.); L. Albaum/D. Jacobs: Dat Wunner von San Miguel (R. Petersen, 22.05.) St. Gallen Theater Jugendtheaterclub: Follow me, like me, love me (M. Franchi/D. Dengler/R. Dudler, 14.05., UA); Verminte Seelen (B. Brüesch, 28.05., UA) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt R. Westhoff: Wir sind die Neuen (R. Heinersdorff, 10.05.) Junges Ensemble M. Gather: Astronauten (S.

Schwab, 17.05., UA) Schauspiel M. Rau: Lam Gods (Der Genter Altar) (M. Rau, 03.05.); G. Grünewald: Thaddäus Troll. Kein Heimatabend (G. Grünewald, 04.05. UA); E.T.A Hoffmann: Der goldene Topf (A. Freyer,18.05.); E. Jelinek: Wolken.Heim. (F. Heller, 24.05.) Tübingen Landestheater J. Raschke: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (G. Bering, 17.05.) Ulm Theater N. Decar: Das Tierreich (M. Borowski/F. M. Pößl, 04.05.); G. Kaiser: Von morgens bis mitternachts (J. Brandis, 23.05.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle On the Edge (H. Weber, 11.05.); P. Marber/n. I. Turgenjew: Drei Tage auf dem Land (J. Kann, 30.05.) Wien brut S. Sourial: Colonial Cocktail Volume 2: Spirits (S. Sourial, 02.05.); E. B. Tambwe: Pink Eye (E. B. Tambwe, 02.05.) Burgtheater R. Alfieri: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen (M. Gredler, 10.05.); R. Pollesch: Deponie Highfield (R. Pollesch, 24.05.) Kosmos Theater K. Brunner: geister sind auch nur menschen (B. Falter, 08.05., ÖEA) Wiesbaden Hessisches Staatstheater C. Bechtel/M. Obexer: Verlorene Kämpfer (C. Bechtel, 01.05., UA) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater F. Schiller: Die Räuber (O. Wildgruber, 11.05.) Zürich Schauspielhaus n. T. Mann: Die große Gereiztheit (K. Henkel, 11.05.); n. J. Joyce: Die Toten (B. Frey, 16.05., SEA); n. U. A. Boschwitz: Der Reisende (M. Pfrunder, 22.05., UA) Theater Kanton n. G. Keller:

Kleider machen Leute (E. Perrig, 16.05., UA) Theater Neumarkt M. Kaute/S. Godamer: This Time Tomorrow (M. Kaute/S. Godamer, 17.05., UA); L. Danulat: Entschuldigung (P. Kastenmüller, 31.05., UA) Theater Winkelwiese E. Becker/N. Spenzer: Schlaf! (J. Zielinski, 11.05., UA) Zwickau Theater E. Kästner: Pünktchen und Anton (F. Ritter, 19.05.)

FESTIVAL Baden-Baden Theater 24. Baden-Wüttembergische Theatertage (24.05.–02.06.) Berlin English Theatre The 2019 Expo Festival (28.04.–04.05.) Deutsches Theater Autorentheatertage (24.05.-07.06.) Dresden Staatsschauspiel Our Stage – 4. Europäisches Bürgerbühnenfestival (18.05.– 25.05.) Kassel Staatstheater Hessische Theatertage (11.05.-18.05.) Wasserburg a. Inn Belacqua Theater 15. Wasserburger Theatertage – Treffen der bayerischen Privattheater (29.05.–09.06.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater Internationale Maifestspiele 2019 (30.04.–31.05.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater JOS – Trinationales Theaterfestival (22.05.-26.05.)

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Seit 25 Jahren bringt das Festival Starke Stücke international herausragende Dramatik für ein junges Publikum auf die Bühnen der Rhein-Main-Region. Das Jubiläum war Anlass, um über ästhetische und kulturpolitische Strukturen der darstellenden Künste in Hessen nachzudenken. Das Buch „Starke Stücke – Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main“ vereint Artikel von Autorinnen und Autoren, die einen kritischen Blick auf diese Theaterlandschaft werfen, sowohl freie Projekte als auch die Arbeit von Festivals und Stadttheatern ins v.l.n.r.: TdZ-Geschäftsführer Paul Tischler sowie die Herausgeber Nadja Blickle und Wolfgang Schneider. Foto Katrin Schander

Auge fassen und Ausbildungsmöglichkeiten und Nachwuchsformate thematisieren. Die Herausgeber Nadja Blickle und Wolfgang Schneider stellten das Buch am 20. März im Zoo-Gesellschaftshaus in Frankfurt am Main vor.

Auf der Leipziger Buchmesse war der Verlag Theater der Zeit gleich zweimal vertreten. Anja Nioduschewski präsentierte am 23. März den Dialog­ band „Von Tieren und Menschen – Neue Theater­stücke aus Tschechien“ im Rahmen einer Lesung im Schauspiel Leipzig. Thomas Irmer sprach am 24. März im ARD-Forum der Leip­ ziger Buchmesse über den von ihm herausgegebenen Band „Heiner Müller – Anekdoten“.

v.l.n.r.: MDR-Moderatorin Ellen Schweda, TdZ-Autor Thomas Irmer und Hörspielregisseur Stefan Kanis. Screenshot MDR

TdZ on Tour n 06.05. Buchpremiere „Theater in der Provinz – Künstle­ rische Vielfalt und kultu­relle Teilhabe als Programm“, Stadeum Kultur- und Tagungszentrum, Stade n 07.05. Buchpremiere „Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schau­ spielkunst Ernst Busch“, Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin

v.l.n.r.: TdZ-Redakteurin Anja Nioduschewski, Herausgeberin Kamila Černá, der Übersetzer Ondřej Staněk sowie die Übersetzerin und Kulturmanagerin Martina Pecková Černá. Foto Theater der Zeit

n 13.05. Buchvorstellung „Starke Stücke“, Hessisches Staatstheater Wiesbaden n 23.05. Buchpremiere „Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater“, Theaterbuchhandlung Einar & Bert, Berlin Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

Thomas Wieck. Foto Franziska Huhn

Der Regisseur Herbert König war ein Ausnahmekünstler, seine radikale Thea­ tersprache galt durchaus als verstörend. Der Dramaturg Thomas Wieck hat in „Regie: Herbert König. Über die Kunst des Inszenierens in der DDR“ dessen Schaffen und Wirken anschaulich und engagiert nachgezeichnet. Ergänzt wird diese theatergeschichtliche Betrachtung durch Kritiken, bisher unveröffentlichtes Archivmaterial und zahlreiche Fotografien. Am 4. April stellte Thomas Wieck das Buch in der Berliner Theaterbuchhandlung Einar & Bert vor.


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Vorschau

AUTOREN Mai 2019 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien

Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Gottfried Fischborn, Theaterwissenschaftler, Leipzig Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Claus Leggewie, Politikwissenschaftler, Gießen Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin Wolfgang Schneider, Kulturwissenschaftler, Hildesheim Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Lektor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/05

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Eva Merkel (Korrektur), Anastasia Klimovskaya (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: Kollin Medien GmbH, Neudrossenfeld 74. Jahrgang. Heft Nr. 5, April 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 01.04.2019

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Protagonisten Seit vielen Jahren spielt sie nicht nur Theater, sondern ist regelmäßig auch im Fernsehen zu bewundern: Gabriela Maria Schmeide ist eines der erfolgreichsten Ensemblemitglieder des Thalia Theaters Hamburg. Als Tochter sorbischer Eltern fing sie als Souffleuse mit Spielverpflichtung am Theater Bautzen an. Dort entdeckte sie ein Dozent der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. „Ich war total frei beim Spielen, denn ich wollte niemanden davon überzeugen, wie toll ich bin“, berichtete sie vor ein paar Jahren der Neuen Osnabrücker Zeitung von dieser Zeit. Eine Freiheit, die bis heute ihr Spiel prägt. TdZ-Redakteur Gunnar Decker hat Gabriela Maria Schmeide für ein Porträt im nächsten Heft getroffen.

Gabriela Maria Schmeide. Foto Armin Smailovic

Christian Baron, Kulturjournalist und Autor, Berlin

Stück Er zählt zu den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit: Der Essayist, Schriftsteller und seit jüngster Zeit auch Dramatiker Dietmar Dath. Sein neuestes Stück „Die nötige Folter. Spiel für sechs Unschuldige und ein Bild“ wird Mitte Mai am Theater Augsburg uraufgeführt – durch André Bücker, der bereits zwei frühere Werke von Dath inszenierte. „Die nötige Folter“ ist ein rätselhafter Text, in dem zunächst nur eines klar ist: Menschen werden gefangen gehalten und gefoltert. Doch warum? Und wozu? Wir drucken das Stück in unserer Juni-Ausgabe, TdZ-Redakteur Jakob Hayner hat mit Dietmar Dath gesprochen.

Dietmar Dath. Foto Udoweier – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https:// commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63609791

Martin Baasch, Dramaturg, Graz

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2019.


Was macht das Theater, Felix Ensslin? Herr Ensslin, welche Bedeutung hat Hannah

zungen drehen sich daher auf der Agora

Arendts Leben und Werk für unsere heutige

oder der Bühne weniger um die morali-

Zeit?

sche Beurteilung der Motive oder des

Hannah Arendt ist ein Stachel im Fleisch

Charakters der Beteiligten, sondern sie

unserer politischen Gegenwart. Wir verste-

beziehen sich auf das Urteil über die

hen Politik heute oft als Kampfplatz der

Auswirkungen von Handlungen auf die

Interessenvertretung oder greifen zum Me-

politische Realität.

gafon, um unsere Bedürfnisse zu artikulieren. Arendt dagegen verstand die griechi-

Ania Michaelis’ Inszenierung „Hannah Arendt

sche Agora, den Marktplatz im Zentrum

auf der Bühne“ richtet sich an ein Publikum

der Stadt, als einen vorbildhaften politi-

ab zehn Jahre. Wie reagieren Kinder auf

schen Raum. Menschen stellen sich dort

diese Ideen und Fragestellungen?

durch ihre Handlungen, nicht durch ihr

Die Inszenierung ist ein Beleg für die

Selbstbild zur Schau, während die Zu-

Möglichkeit, gleichzeitig und gleichwer-

schauenden das Gesehene beurteilen. Ar-

tig Theater für Kinder und Erwachsene zu

tikuliert durch die unterschiedlichen Akti-

machen. Kinder helfen dabei, weil sie

vitäten der Menschen, vermitteln Handeln,

großartige Dramaturgen sind. Unfassbar,

Urteilen und Denken so eine noch uner-

was sie alles sehen! Nicht jeder sieht al-

hörte, eine noch ungesehene Zukunft.

les, also führen sie das Gesehene im gemeinsamen Gespräch zusammen. Er-

Wie kann das Theater auf das Theatralische

wachsenen geht das genauso, aber

der Politik reagieren?

Kinder bleiben mehr bei dem, was sie

„Theatralik“ meint im Deutschen so et-

gesehen und erlebt haben. Durch sie ent-

was wie „Showmanship“ im Englischen:

steht im urteilenden und erzählenden

Gauklerei, das heißt die Schaffung von

Nachgang zur unmittelbaren ästheti-

Evidenz für falsche Tatsachen. Denken Sie aktuell etwa an die Brexit-Debatte, das Phänomen Donald Trump, die AfD und so weiter. Dagegen steht der „Raum der Erscheinung“ für das Verhältnis von Handelnden und Zuschauern. Befreit von der Identifikation mit den eigenen Geschichten, Bedürfnissen und Forderungen, ermöglicht dieser Raum die Einnahme immer neuer Rollen. Am Horizont entsteht so möglicherweise die Gestalt einer anderen Zukunft, eines anderen Gemeinwesens, einer anderen Politik.

Vor knapp zwei Jahren hatte die erste Arbeit des deutschen Regisseurs und Dramaturgen Felix Ensslin am Agora Theater im ostbelgischen Sankt Vieth Premiere. Mit „Animal Farm – Theater im Menschenpark“ deutete sich eine leichte Neuausrichtung des 1980 von Marcel Cremer gegründeten Theaterkollektivs an. Diese Entwicklung hin zu einem Theater, das die großen gesellschaftlichen Fragen noch einmal neu stellt, setzt sich nun mit Ania Michaelis’ Inszenierung von „Hannah Arendt auf der Bühne“ fort. Dabei kommt Hannah Arendt auch in Felix Ensslins Denken und Theaterpraxis eine ganz besondere Bedeutung zu. Foto Luisa Banki

schen Erfahrung das Stück ein zweites Mal. Und damit eine neue Agora, eine neue Öffentlichkeit. Es fällt auf, dass sowohl „Animal Farm – Theater im Menschenpark“ als auch „Hannah Arendt auf der Bühne“ philosophische Ansätze und Themen aufgreifen. Zeichnet sich da eine Linie ab? Ja. Aber geht es nicht eher darum, inwieweit Theater schon immer „Philosophie“ ist? Wir sollten eher von einer Erneuerung der „dramaturgischen Schärfe“ des Theaters sprechen. Theater bebildert oder ver-

Was heißt das für das Theater?

sprachlicht keine Philosophie. Für uns ist

Wie im Theater geht es um das Verhältnis zwi-

im öffentlich-politischen Raum. Die Bühne

Theater das ästhetische Medium schlechthin,

schen Darstellern und Zuschauern. Bei Arendt

ist nicht vorrangig Repräsentationsort für die

in dem gedankliche und sprachliche Formen,

ist konstitutiv, dass die Rollen immer wech-

Erzählung identitätsstiftender Geschichten.

also Erzählungen und Geister, Gespenster

seln: Die Urteilende ist potenziell Handelnder

Eher sind die Agora und das Theater Orte, die

und Geschichten, mit der körperlichen und

und die Handelnde ist potenziell Urteilender.

Selbstentfremdung ermöglichen. Die Entfer-

physischen Präsenz der Spieler zusammen-

Dieses Denken einer Gleichzeitigkeit von

nung von der Dringlichkeit der eigenen Exis-

kommen können. Unsere Wette lautet daher:

Identität und Differenz macht Hannah Arendt

tenz ermöglicht es, mit anderen gemeinsam

Die erneute Schärfung des dramaturgischen

extrem aktuell. Sie fordert uns als Theater­

etwas Neues zu schaffen, etwas, das es vor-

Blicks ermöglicht dem Theater die Realisie-

macher auf, diese Aktualität mit künstleri-

her so noch nicht gab, kurz gesagt: Theater zu

rung seines politischen Potenzials. Es ist

schem Leben zu erfüllen.

machen. Geschichte zu machen und Ge-

nicht nur Verhandlungsort, sondern ein Ver-

schichte zu schreiben sind für Hannah Arendt

wandlungsort der Handelnden und Urteilen-

Was kann es denn konkret leisten?

nicht eins. Die Unterscheidung zwischen ei-

den, es ist das Labor einer erhofften und er-

Jede Handlung ermöglicht potenziell und

ner Handlung und ihrer Repräsentation ist für

wünschten Zukunft. //

temporär die Schaffung eines „Ensembles“

sie grundlegend. Streit und Auseinanderset-

Die Fragen stellte Sascha Westphal.


Illustration: Christoph Feist

MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG VON


#theatertreffen

Die Berliner Festspiele werden gefördert durch

Das Theatertreffen wird gefördert durch die

Medienpartner

Artwork: Andro Wekua // Photo: Thomas Beetz

3.5.– 20.5.19


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