Theater der Zeit 05/2020 – Theater in Zeiten von Corona

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Alexander Eisenach: Epoche im Wartestand / Die Bühne im Netz / Was macht das Virus, Heinz Bude? Ralph Hammerthaler trifft Stephan Lessenich / Gabriele Brandstetter über Florentina Holzinger

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Mai 2020 • Heft Nr. 5

Safety first

Theater in Zeiten von Corona


SÄCHSISC HE S THEATERT RE F F E N

Schade! Liebes Publikum, lange haben wir gehofft, Ihnen das 11. Sächsische Theatertreffen unter dem Motto „Stimme — Stimmen — Stimmungen“ vom 13. bis 17. Mai 2020 in Chemnitz präsentieren zu können. In der Verantwortung für Künstler*innen und Publikum und um die Verbreitung des Coronavirus weiter einzudämmen, haben wir uns schweren Herzens dazu entschieden, das 11. Sächsische Theatertreffen im Mai 2020 abzusagen. Wir bedauern diese Absage sehr und danken für das Verständnis für diese unumgängliche Entscheidung. Wir hoffen, das Festival zu einem anderen Termin nachzuholen. Der Landesverband Sachsen des Deutschen Bühnenvereins und Die Theater Chemnitz danken den Künstler*innen, allen involvierten Theatern, der Jury, den Workshopleiter*innen sowie der Kulturstiftung des Freistaates Sachsens, weiteren Förderern, Partner*innen, Unterstützer*innen und allen Beteiligten für die bisherige Zusammenarbeit und wünschen Ihnen viel Gesundheit und Zusammenhalt in dieser turbulenten Zeit. Wir freuen uns auf Sie, bis später! Herzlich, Die Theater Chemnitz & Landesverband Sachsen des Deutschen Bühnenvereins

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.


editorial

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Extra Der Aboauflage liegen bei IXYPSILONZETT_02_20___final_2_engl..qxp__ 17.04.20 14:25 Seite 1

Directing in TYA Process and Dialogue: Julia Dina Heße on direct(ing) responsibility | Learning across borders: Christel Hoffmann and Wolfgang Schneider review The International Directors’ Seminar | Inclusivity in TYA: Nora Tosconi, Manuela Runge and Wera Mahne want to stir things up | Dear Author: a letter from director Martin Grünheit | Dear Director: a letter from author Christina Kettering

IXYPSILONZETT Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater

Stadt Land Kunst

Theater im Dialog mit der Gesellschaft an den Rändern der Städte und jenseits der Metropolen

THEATERPREIS DES BUNDES 2015–2019

Stadt Land Kunst Theaterpreis des Bundes 2015 – 2019

ls Andy Warhols „The Chelsea Girls“ Ende der sechziger Jahre in die Kinos kam, war die Tech­ nik des Splitscreens, also die gleichzeitige Darstellung verschiedener Orte und Handlungen auf ­einem Bildschirm, revolutionär. Heute, in Zeiten von Corona, besteht daraus unser Alltag. Oder bess­ er gesagt: der Alltag derjenigen, die über einen Computer und schnelles Internet verfügen. Die Maß­ nahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, heißt es, wirkten wie ein Vergrößerungsglas. Das neoliberale System, das soziale Ungleichheiten potenziert, zeige in der Krise nun sein wahres Ge­ sicht. Was für ein Hohn, waren die katastrophalen Zustände doch auch vor der Krise mehr als sichtbar. In „normalen“ Zeiten waren es die Theater, die die großen Menschheits- und Gesellschafts­ fragen auf der Bühne verhandelten. Doch nun sind die Häuser geschlossen – und werden es, so der Stand Ende April, auch noch für längere Zeit bleiben. In unserem Schwerpunkt Theater in Zeiten von Corona beschäftigen wir uns eingehend mit der verstörenden Ambivalenz der derzeitigen Situation. Das Virus hat unsere Welt erschüttert und unser Selbstbild gleich mit. Davon berichten in zwei auf­ wühlenden Texten der Autor und Regisseur Alexander Eisenach sowie TdZ-Redakteur Gunnar Decker. Eingewoben in die Textur des ewigen Fortschritts, so Decker, sei mit uns nun das passiert, was Rainer Maria Rilke mit dem Vers beschrieben habe: „Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt“, was nichts mit persönlichem Glauben zu tun habe, „sondern mit unseren Weltkoordinaten“. Denn offenbar drehe sich nicht alles immer nur um unsere Selbstoptimierung. Alexander Eisenach geht in seiner berüh­ renden literarischen Selbsterkundung diesem Gedanken nach: „Wir begreifen, dass das Denken über unsere Zukunft bisher im Raum der Uneigentlichkeit stattgefunden hat. Es war übermütiges Kinder­ spiel, das kein Risiko barg, weil es aufgehoben war im Gefühl der Unveränderlichkeit unserer Rah­ menbedingungen. Unser Spiel war nie durchdrungen vom Gefühl der Wirklichkeit. Denn wie sich das anfühlt, Wirklichkeit, das wissen wir erst jetzt.“ Unmittelbar real stellen sich die derzeitigen Nöte auch für viele Künstlerinnen und Künstler dar. Während Bodo Blitz und Thomas Irmer in Freiburg und Sankt Petersburg noch die letzten Geister­ premieren kurz vor dem Shutdown erleben durften, müssen Festivals wie die Passionsspiele Ober­ ammergau und Theater der Welt in Düsseldorf nun schmerzhaft umdisponieren. Christoph Leibold und Martin Krumbholz berichten. Mit den finanziellen Hilfsprogrammen für Theaterschaffende in Deutschland, Österreich und der Schweiz beschäftigen sich Patrick Wildermann im Gespräch mit Janina Benduski vom LAFT Berlin sowie Margarete Affenzeller und Dominique Spirgi. Das Reform­ potenzial des derzeitigen Stillstands erkunden Jakob Hayner in seiner Auseinandersetzung mit ­Simon Strauß’ Sammelband „Spielplan-Änderung!“ sowie Tom Mustroph in seiner Zusammenschau über Tools, Formate und Probleme der digitalen Bühne. In Zeiten von Splitscreens und virtuellen Körpern tritt einem die radikale Körperkunst einer Florentina Holzinger wie ein Fanal entgegen. Ihre Inszenierungen, schreibt die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter in ihrem furiosen Text über die österreichische Choreografin und Performerin, sei eine „aufregende Mixtur aus Ballett, Performance Art, Kampfsport, Horror- und Freakshow“. Bis über die Grenzen des Ertragbaren hinaus zeigt sich hier der menschliche (Frauen-)Körper in seiner großen Verletzlichkeit und Stärke, sprich: in allem, was seine Lebendigkeit ausmacht. Wir stellen Florentina Holzinger in unserem Künstlerinsert vor. „Wenn die Menschen dazu bereit sind, ändern sie sich. Sie tun es nie vorher, und manchmal sterben sie, bevor sie es tun.“ Auch diese Aussage von Andy Warhol passt wunderbar in diese Zeit, in der eben auch die grundsätzlichen Gesellschaftsfragen neu justiert werden. Während TdZ-Kolumnist Ralph Hammerthaler im Splitcreen mit dem Soziologen Stephan Lessenich über die große Verdrän­ gungsleistung unserer Externalisierungsgesellschaft spricht, formuliert der Soziologe Heinz Bude im Gespräch mit Sabine Leucht die Idee für ein neues Zeitalter nach dem Neoliberalismus. Wie aus un­ serem Singularity-Chor wieder eine gesellschaftsverändernde Kraft werden könnte, reflektieren der Autor Thomas Köck, der Komponist Ole Hübner und der Regisseur Michael von zur Mühlen im Gespräch mit Dorte Lena Eilers. Köcks Libretto zu ihrem Musiktheaterprojekt „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ drucken wir in dieser Ausgabe, die mit ihren 64 Seiten coronabedingt zwar etwas ­schlanker, dafür aber umso hoffnungsvoller ist. „gut komm“, heißt es in „opera, opera, opera!“ in der letzten Szene, „wir gehen weiter.“ Zum Schluss noch eine Meldung in eigener Sache: Mit dem Mai-Heft wechselt Anja Nioduschewski aus der Redaktion wieder in die freie Autorentätigkeit. Wir danken ihr herzlich für ihre Arbeit. // Die Redaktion


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Inhalt Mai 2020 thema theater in zeiten von corona

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Alexander Eisenach Coming of Age Wer werden wir gewesen sein? – Ein literarischer Blick auf die Krise unserer Lebensformen und eine Epoche im Umbruch

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Gunnar Decker So nah, so fern Das Coronavirus verändert unser Bild der Welt und unser Selbstbild – Zur Geschichte der Seuchen in der Moderne

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Christoph Leibold Himmelherrgott! Mit den Passionsspielen feierten die Oberammergauer einst ihre Rettung vor der Pest – nun sorgt die Coronakrise für eine Verschiebung, die Dorf und Organisatoren schwer trifft

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Bodo Blitz Die gescheiterte Zähmung Am Theater Freiburg erlebt Ewelina Marciniaks Shakespeare-Inszenierung in Zeiten von Corona eine Geisterpremiere

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Thomas Irmer Der Mensch ist dem Menschen ein Virus Die russische Erstaufführung von Heiner Müllers „Mauser“ in der Regie von Theodoros Terzopoulos in Sankt Petersburg kurz vor dem Shutdown

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Jakob Hayner Was wollen wir spielen? Der Theaterkritiker Simon Strauß plädiert mit dem Band „Spielplan-Änderung!“ für eine Wiederentdeckung der Vielfalt des Dramatischen – abseits des Kanons

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Tom Mustroph Die Bühne geht ins Netz Die Coronakrise beschleunigt die Digitalisierung im Theater – Ein Überblick über Tools, Formate und Probleme

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Die Weltkunstproduktion steht still Programmdirektor Stefan Schmidtke über die Verschiebung des Festivals Theater der Welt im Gespräch mit Martin Krumbholz

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Festivals in Zeiten von Corona Ein Überblick über Ausfälle und Alternativen

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Erste Hilfe Programme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrise in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Deutschland Janina Benduski vom Landesverband Freie Darstellende Künste Berlin im Gespräch mit Patrick Wildermann Österreich von Margarete Affenzeller Schweiz von Dominique Spirgi

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inhalt

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künstlerinsert

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Inszenierungen der Choreografin Florentina Holzinger

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Gabriele Brandstetter Körpertheater als Iconoclash Die Extrem-Performerin Florentina Holzinger

kolumne

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Ralph Hammerthaler Alle reden vom Virus. Wir nicht. Videoschalte mit Stephan Lessenich und Kornelius Heidebrecht

stück

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Stimmen, die auf Geschichte warten Ole Hübner, Thomas Köck und Michael von zur Mühlen über ihr Musikheaterprojekt „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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Thomas Köck „opera, opera, opera! revenants & revolutions“

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Der Irrwitz wohnt im Hinterhof Ein halbes Jahrhundert Eigensinn und Gaudi – Zum Jubiläum der freien Bühne TamS in München Die Wunde Ramstein Politische Diskurse prägen die ersten Theatertage Rheinland-Pfalz in Kaiserslautern Geschichten vom Herrn H. Let’s talk about Klasse, baby! Wortrausch und Raketengeheul Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ wird zum 75. Jahrestag des Kriegsendes von Klaus Buhlert als 14-stündiges Hörspiel adaptiert Unorthodoxer Denker In Gedenken an den Literaturund Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn Bücher Jon Fosse, Karl Heinz Bohrer, Jakob Hayner

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Meldungen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Heinz Bude im Gespräch mit Sabine Leucht

magazin 52

aktuell

was macht das theater?

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Titelfoto: Virus-Collage von Evy Schubert, basierend auf Kostüm- und Bühnenbildentwürfen einer auf­ grund der Coronapandemie verschobenen Inszenierung von Herbert Fritsch. © Evy Schubert

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„Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ von Florentina Holzinger. Fotos Eva Würdinger / Nada Žgank (rechts)



Bitte in hรถherer Auflรถsung


„Apollon Musagète“ von Florentina Holzinger. Rechts unten: „Recovery“ von und mit Florentina Holzinger (links im Bild). Links oben im Hintergrund: „Étude for an Emergency. Composition for ten Bodies and a Car“ (Münchner Kammerspiele 2020). Fotos Krista Papista (aus „I Love The Smell Of My Pussy Video feat. Florentina Holzinger“ von Krista Papista) / Radovan Dranga (rechts oben) / Anna van Kooij (rechts unten) / Nicole Marianna Wytyczak (Hintergrund)


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künstlerinsert

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von Gabriele Brandstetter

E

ndlich ist es wieder da: das Spektakuläre – Wunder und ­ taunen. Was im zeitgenössischen Tanz seit dem postmodern turn S eher verpönt war, bringt Florentina Holzinger nun wieder auf die Bühne. Mit allen technischen Mitteln, die das Theater zu einer Anstalt der Wünsche, Träume, Verzauberung und – ja, auch bei Holzinger! – der Belehrung machen. Unterhaltung wird groß­ geschrieben: mit Elementen von Zirkus, Artistik, Maschinen und Medientechnik. Seit Holzinger mit Stücken wie „Kein Applaus für Scheiße“ (2011, mit Vincent Riebeek) bekannt wurde, bietet sie dem Publikum eine aufregende Mixtur aus Ballett, Performance Art, Kampfsport, Horror- und Freakshow, und erregt mit Schweiß und Blut der Tänze­ rinnen, mit Lachen und Ekel die Gemü­ ter. Man sieht: Das (Tanz-)Theater kann immer noch oder wie­ der provozieren. Der Mix der Genres, den Holzinger in die schon länger stagnierende Tanz­ szene einbringt, hat ikonoklastische Quali­ tät – gerade in Hin­ sicht auf den Umgang mit dem Kanon, mit Hierarchien im Tanz und mit Stereotypen von Gender. In ihrer mit Vincent Riebeek konzipierten und performten dreiteiligen Choreografie „Schönheitsabend. Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (2015) kopulieren die beiden Tanzpaare aus der Avantgarde (unter anderem Vaslav Nijinsky und Ida Rubinstein, Anita Berber und Sebastian Droste) unter dem Vorzeichen von Queerness und Exotismus. In den Choreografien „Apollon“ (2017) und „Tanz“ (2019) geht es um die lustvolle Dekonstruktion von Strukturen und Ikonen des Balletts. „Apollon“ überschreibt George Balanchines Choreografie „Apollon musagète“ (1928) mit einer feministischen Lesart. Die hierarchisch-patriarchale Struk­ tur dieses inauguralen Werks – „Mr. B.“ und seine Musen – wird transponiert in weibliche Performance. Balanchines legendärer Satz „Ballet is woman“ wird ironisch konterkariert, denn die ­Performerinnen exerzieren auf sehr unterschiedliche Weise Dis­ ziplinarstrategien und Bewegungstechniken: Das Laufband steht neben der Ballerina, die endlos auf der Spitze balancierend de­ monstriert, wie ein Ballett-„Exercise“ den Körper prägt. 2007 hatte Yvonne Rainer mit ihrer Performance „AG Indexical, with a little help from H.M.“ für vier Tänzerinnen im Alter zwischen zwanzig und siebzig Jahren eine feministisch-ironische Dekonstruktion von Balanchines „Agon“ (1957) inszeniert. Sie zerlegt diesen Klas­ siker des modernen Balletts, parodistisch versetzt mit Popkultur (dem „rosaroten Panther“), in einer respektlos-respektvollen ­Re-Vision. Während Rainer dies jedoch (noch) aus dem Geist des

postmodern dance tut, dessen „No to virtuosity, no to spectacularity“ sie selbst geprägt hat, geht Holzinger unbekümmert plündernd durch den Bildersaal der hehren Kunst – und verpasst den Klassi­ kern eine ganz neue Spektakularität. Zu Beginn von „Apollon“ reitet eine nackte Tänzerin auf einem mechanischen Bullen, über ihrem Schoß liegt quer eine ebenfalls nackte Tänzerin, der sie ­lange und immer kräftiger den Hintern versohlt: Ein erster queer­ gestrickter Verweis auf die Verquickung von Lust und Schmerz im klas­sischen Tanz(-training)? Oder eine Parodie auf das (ebenfalls ­parodistische) Bild von Max Ernst: „Die Jungfrau züchtigt das ­Jesuskind …“ (1926)? Die Zuschauer mögen herausfinden, welche Lesarten Holzingers Performance bereithält. Etwas didaktischer nähert sie sich dem Exercise des Balletts in „Tanz“: als Einübung in die kunstspezifische Ästhetisierung und Sexualisierung des Ballerinen-Körpers. Jan Fabre hat in „Das Glas im Kopf wird vom Glas (The Dance Sections)“ (1987) eine Gruppe von Tän­ zerinnen (er nannte sie „Kriegerinnen der Schön­ heit“) in blau­ em Bikini und blauen Spitzenschuhen sowie in blitzenden Rüstun­ gen endlose „tendus“ durchführen lassen. Holzinger inszeniert – gegen den männlichen Blick – eine Gegen­ figuration, ironisch weichgezeichnet: Die Tänzerinnen trainieren in Rosa, und schließlich nackt, zu den im Kuschelsound vorgetragenen Ansa­ gen der Ballettmeisterin (hinreißend: Beatrice Cordua), die in se­ xuellen Übergriffen münden; bis schließlich Horror- und FreakElemente die krasse andere Seite des Voyeurismus einspielen. So experimentiert die Dramaturgie durch „Zeigen“ (Holzinger über­ setzt aus der feministischen Tanztheorie bekannte Thesen wie „the phallic point of the ballerina“ oder, dass Posen der Ballerina „crotchy“ seien, also offen im Schritt) und „Schocken“ mit ande­ ren Perspektiven auf den Tanz. Körpergrenzen/Limits – Holzinger ist keine klassische Bal­ letttänzerin; sie hat sich – ausgebildet an der SNDO in Amster­ dam in Trainings des zeitgenössischen Tanzes – Techniken des Zirkus, Kampfsport, Stunts angeeignet und teilt dies mit Perfor­ merinnen, die jeweils Expertinnen dieser Bewegungstechniken sind. Ihre Stücke sind Tests auf die Limits des Körperlichen, bis an und über die Schmerzgrenze. Was in der Performance Art der siebziger und achtziger Jahre Thema war – die Selbstverletzungen feministischer Body-Performerinnen wie Marina Abramović oder ORLAN, die Post-Porn-Performances einer Annie Sprinkle und die blutigen Rituale der Wiener Aktionisten – kreuzt sie mit ­Elementen aus Horrorfilmen, sideshow und Zirkus: In „Apollon“ treibt sich eine Performerin einen acht Zentimeter langen Nagel durch die Nase, lässt einen aufgeblasenen Luftballon durch ihren Körper passieren. Und in „Tanz“ eskaliert die Inspektion der weib­

Körpertheater als Iconoclash Die Extrem-Performerin Florentina Holzinger


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florentina holzinger

lichen Geschlechtsorgane urplötzlich in ein Horror-Splatter-­ von Körpergrenzen: Körper in einem Zwischenzustand – „a sus­ pended body is a zombie body“ (Stelarc). Vorbild für Holzingers Movie: Ein Werwolf (der später gepfählt wird) filmt eine blutig„suspension“-Szene ist vermutlich eher die Freakshow, in der gruselige Hexen-Monster-Geburt, großflächig projiziert auf einen Screen. Die Nachtseite der Romantik, schwarze Magie und die ­Legenden wie John Kamikaze und Franck Ncy diesen Schaustel­ Lust am Schrecklich-Grausigen sind in Holzingers Dramaturgie ler-„Trick“ vorführen. In „Tanz“ sieht der Zuschauer – zwischen die andere Seite des weißen Feenzaubers und der ätherischen Hinsehen und Wegschauen – die Operation der „suspension“ in Leichtigkeitsillusion. Hatte in den achtziger Jahren kritisches Video-Großaufnahme. Wie in der Freakshow wird das „Schwe­ feministisches Theater, etwa Elfriede Jelineks „Krankheit oder ­ ben“ der Sylphide (die als Geisterwesen ja auch ein „Zombie“ ist) inszeniert. Und grausig-berührend werden genau da, wo bei der moderne Frauen“ (1987), noch Horror-Blut-Vampir-Szenen auf dem Gynäkologie-Stuhl platziert, so reißt Holzinger die Körper in „Sylphide“ im Ballettkostüm die durchsichtig zarten Flügelchen sitzen, die Fleischerhaken in den Rücken der nackten Tänzerin Gonzo-Manier auf im Zoom der Kamera. Könnte es sein, dass sie damit das Konzept des „porösen Körpers“, das eine maßgebliche gepierct. So schwebt sie, schwingt sie am Seil – ein „schweres Rolle in den Ausbildungsinstituten des zeitgenössischen Tanzes Schweben“. spielt (die „Öffnung“, die Grenzüberschreitungen des Körpers Publikum/Spectator – Holzinger gibt dem Publikum, was nach innen, wie zum Beispiel im Body Mind Centering und an­ es schon lange im Tanz vermisst hat: Unterhaltung, Spektaku­ deren somatischen Praktiken), läres, einen Szenenmix aus nach außen wendet? Widerstän­ Witz, Horror und klug gesetz­ dig und grenzenlos übertragbar. ten Effekten. Ihre Absicht: FLORENTINA HOLZINGER, 1986 in Österreich geboren, studierte Choreo­ Ein Experiment durch alle Re­ Tanz und seine impliziten grafie am SNDO Amsterdam. Bereits ihre gemeinsam mit Vincent gister des Spektakulären. Strukturen so zu zeigen, wie ­Riebeek entstandenen Arbeiten „Kein Applaus für Scheiße“ (2011), Körper/Maschinen – Die es das Publikum nicht erwar­ „Spirit“ (2012) und „Wellness“ (2013) sorgten international für Auf­ Art und Weise, wie Holzinger tet und noch nie gesehen hat. sehen. Zahlreiche Einladungen im In- und Ausland folgten. Anfang Die Nacktheit der Tänzerin­ das Thema Mensch (und) Ma­ März hatte mit „Étude for an Emergency. Composition for ten Bodies schine in das „theatrum ma­ nen hält sie dem „spectator“ and a Car“ an den Münchner Kammerspielen ihre erste Arbeit mit wie einen Schild vor Augen, in chinarum“ überträgt, ist intelli­ ­einem Stadttheater­ensemble Premiere. Ihre jüngste Produktion „Tanz“ gent, überraschend, witzig. In dem die Projektionen zurück­ wurde zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen (das auf­ grund der Coronapandemie indes abgesagt wurde). Ab der Spielzeit „Tanz“ sind es zwei blitzende gespiegelt werden. Nacktheit, 2021/22 gehört Florentina Holzinger zum künstlerischen Team der unter den Rahmenbedingun­ Motorräder, die an die Stelle ­Berliner Volksbühne unter René Pollesch. jener Flugmaschinen treten, ­ gen des Theaters – in der Gleichzeitigkeit von Darbie­ mittels derer die Sylphiden im Ballett „La Sylphide“ (1828) tung des Körpers und Unnah­ barkeit – ist eine andere Art von „Kostüm“, so der Kommentar von über die Bühne schwebten. Nun reiten zwei nackte Tänzerinnen Holzinger auf die Mediendebatte, die anlässlich der nackten Tän­ in halsbrecherischen Stunts auf den Maschinen durch die Luft. In zerinnen in ihren Stücken aufkam. In „Tanz“ gibt Holzinger kur­ „Apollon“ ist es eine mechanische Stierattrappe, mit der Holzin­ ger nackt in einem virtuosen Rodeo-Akt zu einer hybriden Gestalt zerhand dieser Diskussion eine andere Wendung: Sie verhandelt verschmilzt. An die Stelle der romantischen Feier des Antigraven mit dem Publikum, wie viel ihm dieser Einblick in eine Ballett­ und der Illusion des Schwebens der Ballerina tritt hier die stunde mit nackten Tänzerinnen wert sei („We are at your ser­ kampfsporttrainierte lustvolle Beherrschung von Stahlkörpern. Es vice“). Sie treibt den Preis in die Höhe wie auf einem Markt und verspricht dem Geber die Rückgabe des Scheins. Das Geld wird ist gleichermaßen eine Übernahme männlich dominierter Sport­ arten und eine feministische Umdeutung des Apollon-Mythos: verdeckt durch die Reihen gereicht. Wie in einer Zaubershow die triumphale Stierbändigerin im Rodeo-Look (mit einem Zitat macht Holzinger über einen „Mentaltrick“ die Person im Publi­ kum ausfindig, in deren Händen der Schein gelandet ist – und aus Madonnas Musikvideo „Music“, 2000) als Travestie der Jupi­ schlägt dann vor, das Geld für die Rettung der Natur zu stiften. In ter-Europa-Chimäre. Sind nicht Körper und Technik längst, und gerade im Theater und Ballett, eine hybride Assemblage? Und Pina Bauschs Stück „Kontakthof“ (1978) bittet eine Tänzerin ein­ zelne Personen aus dem Publikum um eine Münze. Das Durch­ wenn es um das „Schweben“ geht: Wo liegt der Unterschied, so fragt Holzinger, von einer unter Schmerzen erworbenen Körper­ brechen der vierten Wand wird zum Spiel mit der Ökonomie von Geben und Nehmen im Theater als einem „Kontakthof“. Ähnlich technik wie dem Tanz „en pointe“ (auf Spitze, eingesetzt erstmals von Marie Taglioni) und der Körperpraxis einer „suspension“, das und doch anders adressiert Holzinger das Publikum: Lässigselbstbewusst und fordernd spricht sie den Voyeurismus offen an. heißt dem Aufspannen, Aufhängen eines Körpers, der durch ­Haken in der Haut gehalten und an Seilen in die Luft gezogen Sie entlarvt damit jene Rückseite des Balletts, wo sich Tänzerin­ nen – nicht nur im Ballett des 19. Jahrhunderts – in sexualisierten wird? Der australische Performance-Artist Stelarc hat seit 1984 Machtstrukturen befinden, ohne jemanden bloßzustellen. Den mit diesen spektakulären Aktionen – an Haken und Seilen hän­ gend, über den Straßen New Yorks und in Naturszenarios – im­ Respekt, den sie für ihr Tanztheater einfordert, erweist sie auch dem Publikum. mer wieder mit der Erweiterung des Körpers („amplified body“) experimentiert. „Suspensions“ meinte das Aufheben und zugleich Man darf gespannt sein, wie sie, ab 2021 im Team von René Pollesch, an der Volksbühne Berlin weitermachen wird. // Zeigen der Gesetze der Schwerkraft ebenso wie die Suspendierung

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Theater in Zeiten von Corona – das ist zunächst Stillstand und Unterbrechung. Eine Zwangspause als Chance zur Reflexion? Der Autor und Regisseur Alexander Eisenach wirft einen literarischen Blick auf den Umbruch einer Epoche. Wie ist das Verhältnis von Nähe und Distanz bei Seuchen? Das fragt Gunnar Decker in einem Essay, der eine andere Geschichte der Moderne entwirft. Von Geister­ inszenierungen aus Freiburg und Sankt Petersburg berichten Bodo Blitz und Thomas Irmer. Den nun einsetzenden Digitalisierungsschub in den Theatern beschreibt Tom Mustroph. Der Theaterkritiker Simon Strauß plädiert für eine Spielplanänderung – das richtige Programm zur richtigen Zeit? Außerdem haben wir für unseren Schwerpunkt einen Überblick über Notfall- und Rettungs­ maßnahmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengestellt.


theater in zeiten von corona

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Coming of Age Wer werden wir gewesen sein? – Ein literarischer Blick auf die Krise unserer Lebensformen und eine Epoche im Umbruch­

von Alexander Eisenach

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arta verwendete für ihre Arbeit einen Fiskars-Solid-XLLaubbesen. Sie führte das ausladende Gartengerät entschlossen über die schon stark von Moos durchsetzte Wiese, wobei der Kamm kleine Stöckchen und altes Herbstlaub aufwarf. Marta bil­ dete kleine Haufen aus pflanzlichen Überresten. Ihr gefiel der Gedanke, die Spuren des letzten Jahres später mit der Schubkarre abzutransportieren. Bevor der Frühling richtig beginnen würde, hätte sie eine gewisse Ordnung in die Verhältnisse ihres Gartens gebracht. Das federnde Tanzen, das die Zinken des Rechens auf dem spröden Rasen aufführten, erfüllte Marta mit einer unbe­ stimmten Freude. Diese kraftvolle Elastizität war ihr in dieser Aus­ prägung noch bei keinem Rechen zuvor aufgefallen. Bei Geräten, deren Kamm aus Metall hergestellt wurde, hatte sie das Federn immer eher als labbrig und störend empfunden. Beim Fiskars ­Solid XL war Kunststoff verwendet worden. Das Rechen erinnerte damit stärker an ein kraftvolles Bürsten als an eine klassische Gar­ tentätigkeit. Marta riss signifikante Mengen Moos aus der Wiese, was sie nun vollends in jene Momente versetzte, in denen sie sich ausgestattet mit einer Tangle-Teezer-Haarbürste, sitzend auf dem Badewannenrand, ihrer Haare annahm. Als Kind hatte Marta oft das Laub unter den Apfelbäumen im Kleingarten ihres Opas zusammengeharkt. Jetzt fragte sie sich, ob dieses Gefühl tiefer Ruhe und Versunkenheit auch damals schon da gewesen war. Vermutlich. Rechen war stets ihr favourite unter den Gartenarbeiten gewesen. *

Eine Epoche im Wartestand, mit Blick in eine ungewisse Zukunft – Alexander Eisenachs Inszenierung von „Planet Magnon“ von Leif Randt (Schauspielhaus Düsseldorf 2016) mit Hanna Werth und Niklas Maienschein. Foto Sebastian Hoppe

Wir treten in einen Zustand der Zeitlosigkeit ein. Die Koordinaten unserer narrativen Zeitstruktur beginnen zu erodieren: Deadlines. ­ ­Osterferien. Arbeitszeiten. Premieren. Die Gesichter in der morgend­ lichen U-Bahn. Der Berufsverkehr. Das Trödeln vor dem Warenangebot. Das Fertigwerden. Abschließen. Abgeben. Aufhören und wieder Anfangen. Als hätte man uns die Aussicht genommen, weil man uns vergessen hat zu sagen, wohin das führen soll. Was der Zustand danach sein soll. Denn das haben wir gelernt und verinnerlicht: Das alles einen Sinn hat, weil es einen zukünftigen Zustand herstellen wird, nach dem wir uns sehnen können. Und jetzt ist das alles egal? Wir bleiben einfach zu Hause? Ich schaue auf leere Straßen, die – wie ich – ihrer Erzählstruktur beraubt sind. Sie liegen brach. Eine ungeheure Ruhe breitet sich aus. Buffering. Da dreht sich dieser Kreis, und man weiß nicht, wie lange noch genau, aber plötzlich, da wird der Film wieder anspringen, unvermittelt wird mitten im Satz weitergesprochen, geschossen, gerannt, gefickt. Das Gefühl gleichermaßen pausiert und beschleunigt zu sein. Fühlt sich ein historischer Moment so an? Still? * Ich verstehe nicht, wie jemand freiwillig einen Laubbläser verwenden kann. Peer nickte. Er trank Augustiner Helles aus der Flasche und schloss bei jedem Schluck die Augen. Wie sie jetzt beide im blen­ denden Licht der schon kräftigen Märzsonne voreinander stan­ den – Marta die Hand am Stiel ihres Fiskars Solid XL, den sie lotrecht zur Wiese hielt und Peer biertrinkend, den Kopf mit ­geschlossenen Augen zurückgelegt –, hätten sie das Cover einer Landlust-Ausgabe schmücken können. Ein Gedanke, den beide teilten und der ihnen nicht unangenehm war. Im Gegenteil. Im Grunde ging es genau darum. Es ist, wie wenn man aufs Meer schaut. Die Gleichförmigkeit und Genauigkeit der Handlung zersetzt das Zeitempfinden. Peer nickte. Es gibt ja diesen Gedanken, dass unsere Vorstellung des Zeit­ ablaufs nur eine Strategie ist, die uns an die Fertigungsprozesse der

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thema

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Warenwirtschaft gewöhnen soll. Und dass das wirkliche Wesen der Zeit bar ist auch der Patrouillenwagen, der die Leute aus den Häusern zur verschüttet liegt unter den Verwertungsprozessen, die wir auf unser Arbeit fordert. ­Leben anwenden. Peer legte seine Stirn in leichte Runzeln und gab Marta * durch einen angenehm sonoren Nasallaut zu verstehen, dass er gern mehr erfahren würde. Peer und Marta waren sich immer einig darüber, dass es ein Zei­ Na, du weißt schon. Eben die Idee, dass Zeit zirkulär abläuft. chen von Reife war, das Leben zu umarmen. In ihrem Umfeld gab Dass alles immer da ist und wir Zeit viel stärker als ein ätherisches Sein es viele Menschen, die ihr Leben wie eine Art Persona behandelten denn als eine lineare Kausalkette begreifen sollten. und es selbstverständlich fanden, beliebige Rollen ihres Selbst zu Peer nickte jetzt wieder. entwickeln. Mit einem ge­ Vielleicht ist es so: Wenn wissen Stolz analysierten sie eine Handlung oder Bewegung reidie Mechanismen ihrer Ver­ Wir begreifen, dass das Denken ner Selbstzweck wird, also von fasstheit und führten dabei über unsere Zukunft sinnstiftender Bedeutung befreit Begriffe wie unternehmerisches Selbst und desidentifiwird, dann öffnet diese Handlung bisher im Raum der Uneigentlichkeit den Blick auf eine anderes Raumzierte Arbeit im Munde. Auf eine selbstverständliche Art Zeit-Kontinuum. stattgefunden hat. Aber deine Handlung hat und Weise gingen sie davon doch einen Sinn. Du säuberst die aus, dass das Leben, das sie Es war übermütiges Kinderspiel, Wiese. Schau: Wie gesaugt. Peer die meiste Zeit ihres Tages das kein Risiko barg, kniete sich sogar hin, als er das führten, nichts mit ihnen zu sagte und strich mit der Hand­ tun hatte. Stattdessen gingen weil es aufgehoben war fläche über die makellos gerechte sie von einer Art Tiefe und Wiese. Ganz schön viel Moos … Wahrheit aus, die sich vor­ im Gefühl der Unveränderlichkeit Aber darum geht es ja nicht. zugsweise im Verborgenen unserer Rahmenbedingungen. befand und bestenfalls über­ Also erst mal schon, ja. Aber dann. Dann verselbstständigt sich das, das lagert war von den Zwängen eines diffusen Marktes. Der Rechen. Hm. Verstehe. Clou dieser Distinktionsspiel­ chen schien es zu sein, dass man sich in einem Akt fatalistischen * Zynismus in die Feier der eigenen Entfremdung stürzte. Im Auge des Orkans werden wir erwachsen. Wir schauen uns selbst zu. Wir entdecken staunend unseren Körper im Raum. Es ist die Möglichkeit, ganz herauszutreten – solange man nicht systemrelevant ist. Also Spargelstecher, höre ich. Für alle nicht Systemrelevanten spielt die eigene Zwangslage keine Rolle mehr. Sie haben nichts mehr in der Hand außer allen Möglichkeiten. Die revolutionäre Situation des Selbst. ­Maximale Chance bei maximaler Tatenlosigkeit. Maximale Panik bei maximaler Gelassenheit. Maximale Langsamkeit bei maximaler Beschleunigung. Das Jetzt löst sich auf. Das Ich löst sich auf. Der Damm ins Zukünftige bricht. Die Epidemien der Vergangenheit rauschen an uns vorbei, strömen in Richtung dessen, was wir sein könnten.

* Wir begreifen, dass das Denken über unsere Zukunft bisher im Raum der Uneigentlichkeit stattgefunden hat. Es war übermütiges Kinderspiel, das kein Risiko barg, weil es aufgehoben war im Gefühl der Unveränderlichkeit unserer Rahmenbedingungen. Unser Spiel war nie durchdrungen vom Gefühl der Wirklichkeit. Denn wie sich das anfühlt, Wirklichkeit, das wissen wir erst jetzt. Wenn Geschichte sich ereignet, treten wir beiseite und schauen andächtig zu. Das Gedankenspiel läuft uns voraus. Das ist ungeahnt. *

* Ich denke, es ist richtig, dass wir uns für die Landoption entschieden haben, sagte Peer und öffnete sein zweites Augustiner. Voll. In Berlin würde ich es jetzt nicht aushalten. Ja. Klar. Aber ich meine auch als Gestus. Wir umarmen das Gebot der Isolation, statt uns ihm einfach nur zu beugen. * Ein Patrouillenwagen biegt um die Ecke. Eine knarzende Lautsprecherstimme mahnt die Menschen, nicht ihre Häuser zu verlassen. Vorstell-

Marta bezeichnete derlei Gedanken als kindisch, wohingegen Peer sie stärker als Selbstflucht oder zumindest als eine Art Ent­ schuldigung für den eigenen Lebensentwurf betrachtete. Du bist eben nachsichtiger, sagte Marta dann oft. Abstand zu der eigenen Rolle gewinnen, um sich dadurch selbst näher zu kommen, das fanden beide im Grunde idiotisch. Viel entscheidender war es doch wohl, diese Rolle perfekt auszu­ füllen und zu verstehen. Diese ausgelagerten Sehnsüchte, so schien es beiden, waren doch nicht mehr als ein Trostpflaster ­dafür, dass man nicht das Leben lebte, das man leben wollte. Alles wurde ins Morgen projiziert, in eine Zukunft, die man noch


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­ estalten wollte. Eine Zukunft, die zu denken man lernen müsse. g Anstatt sich der Dinge aber tatsächlich anzunehmen, war man in Wirklichkeit glücklich, im Jetzt verweilen zu dürfen. Der kritischanalytische Blick auf das eigene Leben erlaubte eine gewisse ­Faulheit und Nachlässigkeit, schließlich war man ja erfüllt von der Gewissheit, dass es das hier eben nicht sei. Also: Why bother? Doch: Auf welches Selbst konnte man sich jetzt berufen? Jetzt, wo der Bezugsrahmen weggekürzt wurde. Nein, es war vollkommen ­offensichtlich, dass die sogenannte Oberfläche das Einzige war, was lohnte, sich damit auseinanderzusetzen, und dass die Vor­ stellung von Tiefe ein feiges Zurückweichen vor der Realität des Daseins war. Zu diesem Themenkomplex herrschte also im Wesent­ lichen Einigkeit zwischen Peer und Marta und so kam es, dass auch Peer das mehrstündige Rechen im Garten für sich entdeckte. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken an ihre Freunde, die wahrscheinlich sofort zum Spaten gegriffen hätten, um ein Beet umzugraben und dem sinnlos stumpfen Boden einen Sinn abzu­ trotzen. Das Bild gefiel ihm und bestärkte ihn in seiner Tätigkeit. Was könnte wahrhaftiger sein, als jene Pflege der Oberfläche, die das Rechen darstellte? Und war es für diese Wahrhaftigkeit nicht unerlässlich, dass seine Arbeit eben keinen Sinn erfüllte? Dass sie nicht der Fruchtbarmachung des Bodens diente, sondern im strik­ ten Sinne ästhetisch war? Peer dachte, dass sie beide seit langem nicht mehr die Zeit zu einer derart konsequenten künstlerischen Handlung gehabt hatten.

Bewerbungsverfahren Kleistförderpreis.de

Jetzt werden wir wissen, wer wir sind. Im Erwachen in der Leere eines Morgens, der auf nichts weist, das wir noch sein werden, der uns nicht versendet ins Miteinander der Produktivkräfte. Wir bekommen eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn die Kräfte der Geschichte walten und wir spüren, wie wir darin erwachsen werden, wie die Leichtigkeit schwindet, mit der wir bisher mit den Kategorien unseres Lebens ­jonglierten. Wir spüren, dass wir kein Gedankenexperiment sind. Wir spüren unsere Realität und wir verstehen, was das ist: Jetzt. Gestern. Morgen. Langsam drehen wir uns um und schauen zurück auf die, die wir waren.

Alexander Eisenach ist Theaterautor und -regisseur. An der Berliner Volksbühne inszeniert er die Uraufführung seines neuesten Stücks „Der Kaiser von Kalifornien“. Die für den 19. März geplante Premiere musste aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verschoben werden.

KL EI 20 ST21 FÖRDERPREIS FÜR JUNGE DRAMATIKERINNEN UND DRAMATIKER

Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), die Dramaturgische Gesellschaft und das Kleist Forum Frankfurt (Oder) vergeben im Jahr 2021 zum 26. Mal den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2020 nicht älter als 35 Jahre sind, mit deutschsprachigen Theatertexten, die zur Uraufführung frei sind. Der Preis ist mit 7.500 Euro dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Nationaltheater Mannheim verbunden.

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So nah, so fern Das Coronavirus verändert unser Bild der Welt und unser Selbstbild – Zur Geschichte der Seuchen in der Moderne von Gunnar Decker

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arl Marx verglich 1859 in der Vorrede von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ den Fortschritt mit jenem „heidnischen Götzen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trin­ ken wollte“. Ein martialisches Bild, das in seiner Drastik so man­ che Zeitgenossen verwunderte. Was ist denn am Fortschritt, was ihn einem „heidnischen Götzen“ ähnlich mache, fragten sie. Der lange Schatten, den er wirft, wusste der Dialektiker Marx. Fort­ schritt ist nichts linear Verlaufendes, nichts Konstantes, sondern immer von Rückschritt und Absturz in die Barbarei bedroht. In historischen Schönwetterzeiten, in denen man glaubt, es gehe im­ mer so weiter, immer schneller, höher, effizienter und natürlich schöner, spüren wir davon wenig, aber diese Perioden wechseln zuverlässig mit anderen, mit Krisen, Kriegen und Katastrophen aller Art, die die Existenz der Gattung infrage stellen. Auch Seu­ chen zählen dazu. Fortschritt ist, so haben wir es in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfahren, ein Erleichterungsprojekt. Technik nimmt uns mehr und mehr die schwere körperliche Arbeit ab, das Leben wird immer komfortabler, und unsere individuelle Freiheit, über alle uns betreffenden Dinge selbst zu bestimmen, wächst wie die Produktivitätsrate der Wirtschaft von Jahr zu Jahr. Gegen Krankheiten gibt es Krankenhäuser mit viel Hightech und immer neuen Medikamenten. Krankheit und Tod kann lange vermeiden, wer maßvoll lebt, ein Abo im Fitnessstudio hat und nicht raucht. Auf dem Mitgliedsausweis meiner Krankenkasse steht „Gesund­ heitskarte“. Und was, wenn man doch ernsthaft krank wird? Opti­ mismus gehört zum erfolgreichen Geschäftsmodell, wissen die Marketingabteilungen. Bloß nicht mit dem Schlimmsten rech­ nen.

Über das ewige Leben, oder etwas, das dem nahekommt, debattiert man gern, es scheint nur eine Frage der Zeit oder der Gentechnik. Schmerz, Krankheit und Tod sind irgendwie von gestern, selbst auf den Theaterbühnen ironisiert man sie gern. Schicksal, was soll das noch sein, da wir doch die Bedingungen unserer Existenz planvoll optimieren? Und dann passiert das, was Rainer Maria Rilke in seinem „Imaginären Lebenslauf“ mit dem Vers beschrieb: „Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.“ Nein, nicht der liebende, barmherzige Gott, sondern derjenige, in dessen Hand wir sind, eine Macht, die stärker ist als noch das größte Ego eines narzisstischen Influencers. Das hat nichts mit persönlichem Glauben an einen Gott zu tun, sondern mit unseren Weltkoordinaten. Denn offenbar dreht sich nicht alles immer nur um unsere Selbstoptimierung.


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Nun wurde die Coronapandemie zur größten Herausforderung der Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt – und selbst aus solchen Zuschreibungen klingt noch Hybris heraus, wie aus den täglich vermeldeten Sterbezahlen, die mit dem routiniert-­ frivolen Gestus von Hitlisten präsentiert werden. Da fehlt etwas, jenes Bewusstsein von Demut, das angemessen wäre, wenn man über Krankheit und Tod spricht. Stattdessen hören wir nur von der notwendigen „Entlastung der Gesundheitssysteme“, die ihre „Kapazitäten“ sichern müssten. Wieder ist nur von Technik die Rede. Die Obszönität dieser ungebrochenen Selbstvergottung wird augenfällig, sieht man in New York Gabelstapler Leichen auf Kühllaster laden. Mit Viren kontaminierter Sondermüll? Etwas mit unserem Menschenbild stimmt nicht. Etwas fehlt. Lese ich die gar nicht vordergründig religiösen Gedichte

Der Totentanz als Wiederkehr des Verdrängten – Andreas Döhler und Jeanne Balibar in Frank Castorfs „Galileo Galilei. Das Theater und die Pest“ (Berliner Ensemble 2019). Foto Matthias Horn

­ ilkes, dann staune ich, in wie vielen seiner Gedichte von Krank­ R heit und Tod die Rede ist. Auch von Gott, aber dieser ist eine Chiffre für die uns abhandengekommene metaphysische Dimension, je­ nes „Geworfensein“ des Menschen, von dem Martin Heidegger sprach. Klingen die beschließenden Sätze aus Rilkes „Requiem“ für Wolf Graf von Kalckreuth nicht wie die Worte zu dem Ausnahme­ zustand, in dem wir uns befinden? „Wer spricht von Siegen? Über­ stehn ist alles.“ Ist das nun nihilistisch oder realistisch? Es kommt auf die Situation an, in der man sich befindet. Siegertypen können


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da nur lachen. Aber für uns andere, um den Exkurs zu Rilkes Werk abzuschließen, mündet die Todesdimension ein in die drän­ gende Forderung aus „Archaischer Torso Apollos“: „Du mußt dein Leben ändern.“ Wann und warum ist uns das Vanitas-Bewusstsein – das Wissen um die Schicksalhaftigkeit unserer Existenz –, das den ­Barockdichter Andreas Gryphius prägte, verloren gegangen? Wie Grimmelshausen sieht er sich im Schatten des Dreißigjährigen Krieges – und dann kommt auch noch eine neue Pestwelle dazu. Und so lesen wir dann in seinem Gedicht „Vanitas! Vanitatum! Vanitas!“: „Es hilft kein weises Wissen, / Wir werden hingerissen / Ohn einen Unterschied. / Was nützt der Schlösser Menge? / Dem hie die Welt zu enge, / Dem wird ein enges Grab zu weit.“ All seine Gedichte kreisen um den existenziellen Ausnahmezustand. Liebe, Freude, Erfolg – alles ist nichtig, so das barocke Grund­ gefühl. Wir sind beständig in der Hand des Todes, der uns nur eine uns unbekannte Frist gibt. Aus dieser Übermacht des Todes resultiert dann das Sujet der Totentänze als Versuch, die Angst spielerisch zu distanzieren. Gehen wir einmal im Bewusstsein dieses Themas an die Anfänge der europäischen Moderne zurück. Man sagt oft, dass die Pest von 1347 ihr Prolog war, denn als sie endlich vorüber ging und mindestens ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas ge­ tötet hatte, gab es einen ungeheuren Aufbruch, eine Feier der ­Vitalität, die zu enormen Leistungen auf allen Gebieten führte: Die Renaissance beginnt. Aber ganz stimmt es nicht. Schon mit den Gregorianischen Reformen des Papsttums im Ausgang des 11. Jahrhunderts kommt Dynamik ins Spiel, machtpolitisch, geis­ tig und wirtschaftlich. Im 13. Jahrhundert erlebt Europa eine erste Blütezeit. Die Städte entwickeln sich rasant, der Fernhandel hat Konjunktur, das Klima ist gut. Alle werden wohlhabend, geradezu reich. Alle? Nein, es gibt – wie immer – Gewinner und Verlierer dieses ersten großen Modernisierungsschubs in Europa. Kaum sind die Städte Italiens reich geworden, beginnen v­ iele lokale Kriege um diesen Reichtum. Die Leidtragenden sind vor al­ lem die Landbewohner, die das wenige, was sie besitzen, dabei ver­ lieren. Immer mehr Landstreicher gibt es, die umhervagabundie­ ren. Die Gesellschaft ist gespalten. Ketzerbewegungen, die den armen Jesus gegen die reiche Kirche stellen, haben starken Zulauf. Und immer mehr Seuchen grassieren – vor allem der g ­ efürchtete Aussatz (die Lepra), bei dem die Menschen bei lebendigem Leib verfaulen. Die Gesellschaft ist gespalten in Arm und Reich sowie krank und gesund. Die Stadttore werden nun immer geschlossen gehalten. Die Aussätzigen, die mit einer Klapper auf sich aufmerk­ sam machen müssen, damit man ihnen ausweichen kann, drohen zu verhungern. Man pfercht sie in Siedlungen zusammen, karrt etwas Lebensmittel heran – und hält sich möglichst fern vom Ge­ stank, den das faulende Fleisch verbreitet, dem giftigen Atem, der bis in die Städte dringt. Langsam überkommt die Städter Angst vor dem wachsenden Heer der Aussätzigen ebenso wie vor den sich am Urchristentum orientierenden Ketzern (Waldenser und Katharer) – sie haben nichts mehr zu verlieren. In diesem historischen Augenblick tritt in Assisi der Sohn eines reichen Tuchhändlers auf: Francesco Bernadone. Er wurde nach dem grausamen Krieg mit der Nachbarstadt Perugia ein Jahr gefangen gehalten – und dann von seinem Vater freigekauft. Seit­

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dem ist diesem Francesco die herrschende Ordnung der Welt nicht mehr selbstverständlich, schon gar nicht gottgewollt. Im Jahr 1206, so heißt es, überwindet er seinen Ekel und küsst einem Aussätzigen, dem er begegnet, zu dessen Verblüffung auf den Mund. Ein Nähebeweis mit sozialer Sprengkraft. Denn die ­Minderbrüder (die späteren Franziskaner) stellen sich in ihren Anfängen vehement auf die Seite der zahlreichen Ausgegrenzten, der Verachteten und Modernisierungsverlierer. Ein neuer gesell­ schaftlicher Vertrag entsteht auf der Grundlage der Einsicht, dass Jesus arm war und das Geld verachtete. Nicht die Armen, sondern die Reichen müssen sich um ihr Seelenheil sorgen! Diese rigorose Reform, die das mittelalterliche Menschenbild revolutionierte, ret­ tete nicht nur die Kirche, sondern auch die hochmittelalterliche Gesellschaft vor dem Zerfall. Doch der neue Konsens hält nicht lange, denn die nächsten Katastrophen brechen herein. Das bislang milde Klima ver­ schlechtert sich, es gibt eine Reihe von Missernten, man hungert erstmals seit zweihundert Jahren wieder – und dann beginnt 1347 der Todeslauf einer furchtbaren Seuche durch Europa: die Pest. Diese Seuche, der „schwarze Tod“, kommt an Bord von Handels­ schiffen zunächst nach Italien. Hohes Fieber, blutiger Auswurf und Tod folgen meist noch am Tag des Ausbruchs. Die Menschen vergaßen alles, was sie über Nächstenliebe wussten – Mütter ­ließen ihre Kinder, Männer ihre Frauen in panischer Angst allein. Kein Priester kam zu den Sterbenden, niemand wollte die Toten begraben. Die menschliche Ordnung als Ganzes stand vor ihrem Ende. Wer konnte, der floh aus den Städten, von denen es bis eben geheißen hatte, dass ihre Luft frei mache. Nun war es das Miasma, der krankmachende Gifthauch dieser Städte, vor dem man aufs Land floh. So man dort eine Zuflucht hatte, ein Haus oder gar ein Schloss. Die Besitzenden hatten also höhere Überlebenschancen – und offenbar wagte es damals niemand, ihnen die Stadtflucht in ihre Zweitwohnsitze zu verbieten, wie heute in Coronazeiten manche Kommunen, die sich mit Wehrfestungen verwechseln. Giovanni Boccaccios „Decamerone“ ist in dieser Situation entstanden. Eros soll den Tod, wenn schon nicht besiegen, so doch zähmen. Die Gesellschaft auf dem Lande sucht die Nähe mehr als die Orgie, Wärme anderer Menschen angesichts des kalten Todes. Eine Feier des Lebens mitten im großen Sterben! Man erzählt sich frivole Geschichten, man hofft auf eine nicht jenseitige, sondern diesseitige Erlösung von der Geißel der Seuche. Das prägt eine neue Haltung auch in der Kunst, die über das Ende der Pest hin­ aus andauert. Pier Paolo Pasolini lässt 1971 seine Verfilmung des „Decamerone“ mit diesen Sätzen über einen Maler enden: „Warum ein Werk vollenden, wenn es noch schöner ist, davon zu träumen.“ Ein visionärer Raum des Traums wie des Albtraums eröffnet sich – ein weiterer Schritt zur Autonomie der Kunst. Mit der Pest kam auch die Quarantäne, die Stillstellung des Lebens in Isolation. Venedig, das über die Hälfte seiner Bevöl­ kerung verloren hatte, richtete 1423 eigens eine Insel für Pest­ verdachtsfälle ein, Lazaretto Vecchio. Separierung der Kranken schien schon damals der einzige Weg, sich die Seuche vom Leibe zu halten. Aber etwas Seltsames lässt sich nicht übersehen. Krank­ heiten haben – unabhängig von ihrer Gefährlichkeit – eine mehr oder weniger dämonische Aura. Bei der Erwähnung von Pest, Cholera, Pocken oder Typhus begann man in früheren Jahrhun­


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derten zu zittern, so wie heute bei Ebola oder SARS. Andere weni­ ger ansteckende, aber statistisch gesehen ebenso tödliche Krank­ heiten wie Diabetes oder Bluthochdruck nimmt man eher als zivilisatorische Begleiterscheinungen. Sie stecken ja auch nicht an – im Gegensatz zur Grippe, der Seuche des 20. Jahrhunderts. Man schätzt, dass die Spanische Grippe von 1918 bis 1921 weltweit über fünfzig Millionen Menschenleben forderte. Mehr als dreimal so viel wie der Erste Weltkrieg! Aber sie ist im kollektiven Bewusstsein kein Trauma geworden, man nahm sie eher als Nach­ klang des verheerenden Krieges. Seitdem sind wir daran gewöhnt – trotzdem auch in den beiden Grippewintern 2016/17 und 2017/18 in Deutschland jeweils etwa 25 000 Menschen an der Influenza starben. Die Angst vor der Krankheit ist nicht adäquat zur tatsäch­ lichen Bedrohung – mit der jährlichen Wiederkehr der Grippe etwa haben wir uns arrangiert. Bei der Grippe verzichten wir auf Quarantäne, wir leben mit ihr, irgendwie gehört sie dazu. Und in Venedig, wo man die Pest auf eine Insel auslagern wollte, begann man im 20. Jahrhundert umzudenken. Es gab gleich mehrere ­Inseln, die als „Irrenhäuser“ genutzt wurden. 1978 aber wurden diese wie in ganz Italien dank des Reformpsychiaters Franco ­Basaglia abgeschafft. Die Botschaft: Die Kranken gehören zu uns! Basaglias Psychiatriereform war „mit der Institution gegen die Institution“ gerichtet. Vor allem, um jenes offenbare Gesetz zu überwinden, dass sich Institutionen immer nur durch Ausschluss, das Produzieren von Außenseitern konstituieren. Er folgte damit auch der Auffassung von Michel Foucault, dem es in der „Geburt der Klinik“ um eine neue „Verteilung des Sichtbaren und Unsicht­

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baren“ ging, die Reorganisation jenes „Raumes, der sich aufgetan hatte, als vor Jahrtausenden ein Blick beim Leiden der Menschen haltmachte“. Mit anderen Worten: Der moderne Aberglaube, der sich hinter der Wissenschaft verbirgt, behauptet, Leiden und Schmerz abschaffen zu können. In der Realität bedeutet dies je­ doch nur, sie zu verdrängen. Antonin Artaud hat in seinem Text „Das Theater und die Pest“ in diesem Sinne über die „geistige Physiognomie einer Krankheit“ nachgedacht. Wie können wir als Gesellschaft das Fie­ ber und die gefährliche Erregung einer Krankheit durchlaufen, ohne unterzugehen? „Wenn das wesentliche Theater wie die Pest ist, so nicht deshalb, weil es ansteckend wirkt, sondern weil es wie die Pest die Offenbarung, die Herausstellung, das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht der Grausamkeit bedeutet, durch die sich in einem Einzelwesen oder in einem ganzen Volk alle perver­ sen Möglichkeiten des Geistes lokalisieren.“ Seine Überlegungen münden in eine bemerkenswerte Einsicht: „Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet.“ Was mit der Coronapandemie wohl endet, ist eine bestimmte Phase der Globalisierung. Aber was darauf folgt, ist noch unent­ schieden. Noch mehr neoliberale Geschäftigkeit oder der starke Staat? Noch mehr Distanz? Gar eine digitale Diktatur – Museen, Theater, Kino, das ganze Leben gestreamt? Noch mehr Orwell’sche Überwachung, mit Handyortung rund um die Uhr? Oder wird diese Logik zugunsten einer anderen Logik der Nähe, der gelebten gemeinsamen Solidarität gebrochen? Es ist offen. Gewiss ist nur, so wie es vorher war, wird es nicht mehr sein. //

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Himmelherrgott! Mit den Passionsspielen feierten die Oberammergauer einst ihre Rettung vor der Pest – nun sorgt die Coronakrise für eine Verschiebung, die Dorf und Organisatoren schwer trifft von Christoph Leibold

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ielleicht hätte es ja ein neues Gelübde gebraucht? Zur E­rinnerung: Die weltberühmten Oberammergauer Passionsspiele haben ihren Ursprung im 17. Jahrhundert, als die Pest in Europa wütete. Der Schwarze Tod machte damals auch vor dem kleinen Dorf im oberbayerischen Voralpenland nicht halt. Also gelobten die Oberammergauer, regelmäßig die Leidensgeschichte Jesu auf die Bühne zu bringen, wenn denn nur das Sterben ein Ende nähme. Genau das soll eingetreten sein: keine Pesttoten mehr nach dem Versprechen. So will es die Überlieferung. Bis heute halten sich die Oberammergauer an die Abmachung und führen alle zehn Jahre die Passion auf. In diesem Jahr wäre es wieder so weit ge­ wesen. Doch die Premiere am 16. Mai musste wegen der Coronakrise abgesagt werden. Hat Gott etwa seinen Teil des Deals ver­ gessen und daher eine neue Pandemie geschickt? Vielleicht brauche es einfach nur ein neues Gelübde, ließ es sich Anfang März also witzeln, als noch die Hoffnung bestand, Deutschland im Allgemeinen und Oberammergau im Besonde­ ren könnten von Covid-19 verschont bleiben. Und sollte der Er­ reger doch näher rücken? Müsste man eben geloben, künftig alle fünf Jahre zu spielen. Der Spaß ist den meisten dann aber doch schnell vergangen, als sich die Lage rapide verschärfte. Die Proben liefen bereits auf Hochtouren. Knapp zweieinhalbtausend Men­ schen waren involviert, die Hälfte der Dorfbevölkerung. In den Werkstätten, in Chor und Orchester – und natürlich als Darsteller auf der Bühne. Als Jesus und seine Jünger, Muttergottes Maria und Pilatus, Herodes oder Hohepriester Kaiphas. Oder einfach nur als Komparsen in den Massenszenen bei Jesu Einzug nach ­Jerusalem und der Kreuzigung. Unzählige Kostüme waren bereits genäht und Kulissenteile gebaut worden für die cinemascope-­ artige Riesenbühne im Oberammergauer Passionstheater, Schau­ platz dieses gigantischen Live-Sandalen-Films. Zu den 103 geplanten Vorstellungen wurden fast eine halbe Million Zuschauer erwartet,

Wunder gibt es immer wieder – und in Oberammergau in genau zwei Jahren, hier eines der wenigen Probenfotos der Passionsspiele, die vor dem Shutdown noch entstanden sind. Foto Birgit Guðjónsdóttir

etwa die Hälfte davon aus dem Ausland. Der Vorverkauf hatte schon vor drei Jahren begonnen. Nun gab und gibt es Passionsspiele auch in vielen anderen Orten im Alpenraum. Dass keines so berühmt ist wie das von Oberammergau, hat im Wesentlichen zwei Gründe. Während der Traditionsfaden andernorts durch Aufklärung und Säkularisation abriss, gelang es den Oberammergauern, ihren Zehnjahres-Spiel­ rhythmus mit nur wenigen Unterbrechungen und Abweichungen seit dem 17. Jahrhundert durchzuhalten. Das, zum einen, ist ­einzigartig. Zum anderen hat die sich im 19. Jahrhundert ent­ wickelnde Tourismusindustrie Oberammergau früh entdeckt. Schon bald pilgerten Gläubige aus aller Welt ins Ammertal, dazu das gebildete Bürgertum aus Deutschland, um sich am gottes­ fürchtigen Bauernspiel zu erbauen. Bis heute verdienen Hoteliers und Herrgottschnitzer (also die zahlreichen Holzbildhauer im Ort, die Heiligenfiguren ver­ kaufen) hervorragend an den Passionsbesuchern. Sie trifft die Ab­ sage besonders hart. Die Gemeinde hat riesige Auslagen für die Vorbereitung, aber sie ist versichert. Die ausbleibenden Ein­ nahmen dagegen erstattet keine Versicherung. Immerhin: Die Passionsspiele 2020 wurden nicht ersatzlos gestrichen, sondern sollen in zwei Jahren nachgeholt werden. Auch das, nebenbei ­bemerkt, gab es schon einmal, vor genau einhundert Jahren: 1920, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, konnte die Gemeinde das Spiel nicht stemmen und verschob es ebenfalls um zwei Jahre. Ein selt­ sam rundes Jubiläum ergibt das für 2022. Jedenfalls: Durch die Verschiebung sind die Investitionen nicht umsonst, auch wenn es finanziell keine Kleinigkeit ist, zwei Jahre länger darauf zu warten, dass sie sich auszahlen. Doch ums Geld allein geht es nicht (wiewohl die Vorwürfe, dass die Oberammergauer vor allem gerissene Geschäftsleute ­seien, fast so alt sind wie die Passion selbst). Die Verlegung um zwei Jahre kommt einer Herzrhythmusstörung gleich, die den ge­ samten Dorforganismus belastet. Es ist, als würde der Pulsschlag für einen Moment aussetzen, und keiner weiß, wie der Patient das wegsteckt. Denn in Oberammergau leben die Menschen im Zehn­ jahresrhythmus der Passion. Ihr Dasein teilt sich in ein Davor und ein Danach. So heißt es zum Beispiel, in Oberammergau werde erst nach der Passion gestorben. Rückt ein Spieljahr näher, mobi­ lisieren die Alten offenbar ihre letzten Kräfte: Einmal, ein letztes Mal noch dabei sein!

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„Über was lacht Gott? Über Planung!“ – Christian Stückl (von hinten) bei den Proben zur Passion. Foto Christoph Leibold

Es gibt Spielerdynastien im Dorf. Familien, die immer wieder ­prominente Darsteller hervorbringen. Die Familie von Spielleiter Christian Stückl zum Beispiel. Sein Vater Peter hat schon den ­Judas gespielt und den Hohepriester Kaiphas. Diesmal wäre der 79-Jährige als Hohepriester Annas besetzt. Peter Stückl war Gast­ wirt. Das Wirtshaus Zur Rose führt nun seine Tochter. Sohn Christian lauschte dort schon als Kind, wenn sich die Erwach­ senen an den Stammtischen die Köpfe über die Passion heißrede­ ten. Oben im Wirtshaussaal über der Gaststube, wo sonst Fami­ lienfeste und Hochzeiten gefeiert wurden, inszenierte er später mit Freunden Theaterklassiker. Stücke von Shakespeare, Büchner und Molière. Bis Dieter Dorn ihn entdeckte und an die Münchner Kammerspiele holte. In seinem Heimatdorf hatte Stückl zu dem Zeitpunkt längst den Spitznamen „Passionsschreck“ weg, weil er sich immerzu im Passionstheater herumtrieb und zu allem seine Meinung sagte. Heute ist Christian Stückl im Hauptberuf Inten­ dant des Münchner Volkstheaters. Die Passion hat ihn ins Theater gebracht und das Theater zurück zur Passion, die er konsequent erneuerte. 2020 sollte seine vierte Inszenierung werden. 1990, beim ersten Mal, war er noch keine dreißig Jahre alt. Der jüngste Spielleiter in der Geschichte des Dorfs, in dem seine Reformen freilich nicht unumstritten waren. Stückl entriss das Spiel der süßlichen Nazarener-Ästhetik. Traditionalisten fürchte­ ten daher um die Ursprünglichkeit des frommen Laienspiels. Sie diffamierten Stückl als „Totengräber“ von Oberammergau, der die Passion ruiniere. Im Grunde zeugen diese krasse Ablehnung und Stückls leidenschaftlicher Veränderungswille bei aller Gegensätz­ lichkeit von einer gemeinsamen Überzeugung: dass das Schicksal des Dorfes am richtigen Umgang mit der Passion hängt. Wer mag, kann hier sogar eine Parallele zu Debatten über die Bewältigung der Coronakrise ziehen. Während sich die P ­ olitik dazu entschieden hat, das Leben weitgehend lahmzulegen, um

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die Verbreitung des Virus zu stoppen, melden sich kritische Stim­ men zu Wort, die fürchten, der Shutdown könne langfristig wo­ möglich gravierenderen Schaden anrichten als die Pandemie selbst. Beide Seiten wollen das Beste für die Gesellschaft, aber auf konträren Wegen. So wie in Oberammergau. Stückls Gegner dort sind bis heute nicht komplett ver­ stummt. Aber sie sind deutlich leiser geworden, weil mit der suk­ zessiven Professionalisierung ein neuer Aufmerksamkeitsschub einsetzte. Im Jahr 2000 begann das Feuilleton sich für Oberam­ mergau zu interessieren, die Entwicklung setzte sich 2010 fort. „Totengräber“ Stückl und sein Team haben der als bibelkitschiges Bauerntheater für ein frömmelndes Publikum verschrienen Pas­ sion eine Art Wiederauferstehung beschert. Ausstatter Stefan ­Hageneier beispielweise, auch er Oberammergauer und außerdem Bühnenbildprofessor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, reiste eigens nach Indien, um Stoffe für die Kostüme zu besorgen. Noch wichtiger indes als die zeitgemäße Ästhetik ist die inhaltliche Auseinandersetzung auf Höhe der Zeit, die Stückl vorangetrieben hat. Er hat die Anti-Judaismen aus der Passion getilgt, vor denen es früher im Text nur so wimmelte. Mit Céngiz Görür, der den Judas spielt, übertrug er zum ersten Mal einem Spieler muslimi­ schen Glaubens eine der Hauptrollen. Stückls rechte Hand, der zweite Spielleiter Abdullah Kenan Karaca, ist ebenfalls Muslim. Und er fragt sich ständig, was uns die zweitausend Jahre alte ­Geschichte des Jesus von Nazareth heute zu erzählen vermag. Stückl kennt sich im Neuen Testament besser aus als man­ cher Theologe. Aber er liest die Bibel mit den Augen eines Thea­ termachers. Ihn begeistert der Jesus, der ihm in der Bergpredigt begegnet und verkündet: „Selig sind die Armen!“ In einer Zeit, da die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, wollte Stückl Jesus als eine Art Sozialrevoluzzer auf die Bühne stellen. Wenn er seine Passionspläne darlegt, tut er das mit dem Bekehrungsfuror eines Überzeugungstäters. Dabei will er zwar niemanden zwangsmissionieren, wohl aber für die Sache gewin­ nen. Sein ohnehin tiefes Bairisch wird noch etwas tiefer, sobald er sich in Fahrt redet. Wenn Jesus die Armen seligpreise, so Stückl, sage er auch: „Und g’schiss’n auf die Reich’n!“ Im Passionstext wäre so ein Satz zwar nicht gelandet, aber der gerechte Zorn des Messias mit Sicherheit zu erleben gewesen. Und jetzt? Der Abbruch der Passionsproben fühlt sich an wie eine Vollbremsung knapp vor der Zieleinfahrt. Oder eben wie ein kurzzeitiger Herzstillstand. Fällt da einer wie Stückl (der für sich in Anspruch nimmt, dass er die Passion nicht nur als Theater­ macher, sondern auch als Christ inszeniert) nicht vom Glauben ab? „Nein!“, sagt Stückl, aber: Er lebe normalerweise in dem Ge­ fühl, alles im Griff zu haben: Probenpläne, Premierentermine, den ganzen Theaterapparat eben. Die Coronakrise habe ihm ­wieder ins Bewusstsein gerückt, dass man rein gar nichts im Griff habe: „Über was lacht Gott? Über Planung!“ Und doch ist Stückl felsenfest davon überzeugt, dass die Passion die Coronakrise überstehen wird. Covid-19 ist nicht die Pest, Gott sei Dank. Aber Stückls Aussage ist fast schon ein neues Gelübde wie einst zu Pestzeiten, mindestens aber ein Verspre­ chen: „Wir werden die Passion irgendwann auf die Bühne brin­ gen!“ Wenn nicht 2020, dann eben in zwei Jahren. Den Glauben daran kann in Oberammergau nichts erschüttern. //


STARKE STÜCKE

Foto: „Hamlet“, Jana Kay

Die besten Inszenierungen des Jahres. Ab 2. Mai immer samstags, 20.15 Uhr.


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Die gescheiterte Zähmung Am Theater Freiburg erlebt Ewelina Marciniaks Shakespeare-Inszenierung in Zeiten von Corona eine Geisterpremiere

von Bodo Blitz

D

rehen wir doch einfach die Uhr um einen Monat zurück. Und tun so, als hätte die Freiburger Premiere „Der Widerspensti­ gen Zähmung“ am 13. Februar stattgefunden. Stellen wir uns den Abend vor: Hell erstrahlt das Große Haus bis hinauf in den zwei­ ten Rang. Beinahe neunhundert Zuschauer sind gekommen. Die Vorfreude ist groß, da die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak nach Freiburg zurückkehrt. Sie wurde von Peter Carp und seinem Chefdramaturgen Rüdiger Behring quasi für die deutschsprachige Theaterszene entdeckt. Nach ihrem sehenswerten Freiburger „Sommernachtstraum“ vor zwei Jahren führte Marciniaks Weg

bis nach Hamburg. Mit ihrem Debüt am Thalia Theater, der Adap­ tion von Szczepan Twardochs Roman „Der Boxer“, ist sie zum diesjährigen Festival Radikal jung eingeladen. Nicht nur deshalb interessiert sich auch die überregionale Presse für den Abend. Freiburg, das „Entdeckerhaus“, feiert sich selbst. Bekanntlich lassen sich die Uhren nicht zurückdrehen. Wenige Wochen später können zu Coronazeiten eine Welt be­ deuten. Genau am 1. März endeten die Skiferien in Bayern und Baden-Württemberg. Die mediale Distanz zum Virus schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Das Theater Basel, eine knappe Autostunde entfernt, schloss bereits am 3. März seine Pforten. Das ließ kurz aufhorchen, veränderte jenseits der Schweizer Grenze allerdings wenig. Nicht nur das Theater Konstanz beteu­ erte: „Wir spielen!“


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Am 11. März erklärte das Robert Koch-Institut neben Südtirol auch die französische Region Grand Est zum Risikogebiet. Die Stadt Freiburg irritierte das nicht. Dabei liegt die Grenze zum Elsass nur 25 Kilometer westlich. Noch am 12. März bestätigte der Frei­ burger Kulturbürgermeister gegenüber den örtlichen Kulturschaf­ fenden, den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Es galt die damalige Obergrenze des Gesundheitsministeriums: Lediglich Veranstal­ tungen über eintausend Personen sind untersagt. Die Premiere hätte demnach stattfinden können. Nur 24 Stunden später ist alles anders. Die Fallzahlen haben sich verdoppelt. Vormittags – es ist Freitag der 13. – ändert die Stadt ihre Vorgabe. Sie verfügt ab Sams­ tag, 14. März, eine neue Obergrenze von fünfzig Personen für öffen­tliche Veranstaltungen. Die Homepage des Theaters über­ mittelt ab Mittag, schon an diesem Abend den Spielbetrieb einzu­ stellen. Intern sickert die Nachricht durch: Es wird doch gespielt, allerdings ohne Öffentlichkeit, ausschließlich für Schauspieler und Künstler des Hauses sowie für Kritiker. Die 24 Stunden vor der Premiere lesen sich im Nachhinein wie die Geschichte einer fundamental gescheiterten Zähmung des Virus. Corona, die Widerspenstige. Die Prämisse der Stadt bis zur Premiere: Bitte noch nicht jetzt die Schließung des öffent­ lichen, auch kulturellen Lebens. Genau eine Woche nach der ­Premiere verfügt Freiburg als erste deutsche Großstadt ein Be­ tretungsverbot für öffentliche Plätze. Die Prämisse im unmittel­ baren Anschluss an die Premiere: Bitte ganz schnell so wenig öffent­ liches Leben wie irgend möglich. So wird der Abend zu einem besonderen, allein wegen seiner Umstände. Letztlich wird der Einakter einer allgemeinen Schließung gegeben. Es geschieht sel­ ten, dass eine Premiere gleichzeitig als Dernière angesehen wer­ den kann. Allein der abendliche Weg zum Theater durch die Stadt wirkt gespenstisch. Kaum jemand ist unterwegs. Die Universitäts­ bibliothek neben dem Theater ist bereits geschlossen. Ihre kühne Fassade, ansonsten rund um die Uhr lichtdurchglänzt, erscheint komplett düster. Der üblicherweise so belebte Platz der Synagoge, dem Theater gegenüber gelegen, ist menschenleer. Im Foyer wird der Gast von Ordnern darauf hingewiesen, dass man nicht willkom­ men sei: Die Vorstellung für die Öffentlichkeit falle aus. Es bedarf der Legitimation, um doch eintreten zu dürfen. Im Parkett sitzt ver­ sprengt das handverlesene Publikum. Der Intendant ergreift das Wort und begrüßt zur „ersten Freiburger Geister­aufführung“. Marciniaks Inszenierung von Shakespeares Drama beginnt mit einem Verfremdungseffekt. Thieß Brammer hämmert in der Rolle des Petrucchios von außen an die Zuschauertüren und ver­ schafft sich auf ungehobelte, weil verspätete Weise Einlass zur „Komödie“. Unter normalen Umständen hätte das die Illusion gebrochen. Das Gegenteil ist nun der Fall. Es wirkt illusions­ fördernd. Sitzt in den vorderen Zuschauerreihen nicht der Schau­ spieler Lukas Hupfeld? Er bittet in seiner Rolle als Lucentio den lauten Petrucchio um Ruhe und schwärmt von einer Schauspie­ lerin, die es ihm angetan habe. Die Eingangsimprovisation

Während die Welt draußen aus den Fugen gerät – Ewelina Marciniaks Inszenierung von „Der Widerspenstigen Zähmung“ war die letzte Premiere vor Einstellung des Spielbetriebs. Foto Birgit Hupfeld

v­er­lagert sich vom Zuschauerraum auf die Vorderbühne. Zwei Freier für zwei unverheiratete Frauen verbrüdern sich, der Vor­ hang geht hoch. Lautes Hundegebell ertönt. Für zweieinhalb Stunden herrscht Theaternormalität. Willkommen in der Vorhölle des Patriarchats. Marciniak hat alles versucht, das Drama in Zeiten von #Metoo gegen den Strich zu bürsten. In der dargebotenen Adaption von Jan Czaplinski erscheint die Shakespeare-Handlung als Rückblick. Dreißig Jahre nach der Doppelhochzeit treffen Bianca und Katharina im väterlichen Haus zum ersten Mal aufeinander. An Eindeutigkeit mangelt es dieser Rahmenhandlung nicht. Anja Schweitzer als ­ältere Bianca ergeht sich im nicht enden wollenden Ressentiment. Die Unterdrückung der Frau „kotzt“ sie an, insbesondere in den vorgegebenen Rollen des Theaters. Alona Szostak in der Rolle der älteren Katharina berichtet vom Herzinfarkt ihres bösen Herrschers Petrucchio. Befreit wirkt sie nicht, eher dauermelancholisch. Shakespeares umstrittenes Drama schrumpft so zur Bin­ nenhandlung. Die Zuschauer sind vorab gewarnt. Das ist mora­ lisch absolut integer, auf der Sprachebene aber mehr als hölzern. Die guten Absichten werden von der Freiburger Fassung beinahe wieder kassiert, wenn die älteren Geschwister die „Warum?“-Frage zu klären versuchen. Ihre Gespräche über angeblich attraktive „Wildheit“, die Lust der Versuchung und naives Vertrauen bieten viele ärgerliche Geschlechterklischees. Zudem wird dem sterbenden Vater (Hartmut Stanke) alle Schuld zugeschoben: „Du hast es ver­ kackt, Papa.“ All das eignet sich auf keinen Fall zur Dekonstruk­ tion des Stückes. Denn der weibliche Diskurs klammert Gewalt und Männlichkeit implizit aus. Marciniak kann ihre unbestrittenen Stärken als Regisseu­ rin dann einbringen, wenn sie Shakespeares Stück in Szene setzt. Das spielerische Miteinander der vier Frauendarstellerin­ nen (die junge Bianca verkörpert Laura Angelina Palacidos, die junge ­Katharina Aleksandra Cwen) wirkt mit seinen Anleihen beim Tanz poetisch. Marciniak versteht es, das Auge zu be­ dienen. Grzegorz Layers flächige Bühne kombiniert Spiegel­ elemente mit hohen Mauern. Immer im Fokus: Ein männlicher Akt als aufreizendes Denkmal. Musik und Slapstickeinlagen wie im Stummfilm untermalen die komödiantische Brautwerbung Lucencios. Das un­verschämt späte Erscheinen Petrucchios zur Hochzeit gerät zum großen Showauftritt eines grellen Trans­ vestiten und hätte die Chance auf Stimmen beim ESC. Thieß Brammer gibt einen durch und durch kalten Petrucchio. Er überschreitet rücksichtslos ­ Grenzen. Die Abrichtung seiner Braut erfolgt aus der Position absoluter Macht. Petrucchio unter­ wirft Katharina, weil er es kann. Den Missbrauch bebildert Marciniak auf drastische Weise. Petrucchio wickelt den nackten Körper Katharinas in schwarze Folie wie ein willenloses Bündel Fleisch. Des Schlussmonologs hätte es da nicht mehr bedurft. Am Ende schmettern die vier Frauen „Rebel Girl“. Weiblicher Widerstand bleibt in dieser Inszenierung nur be­ hauptet. Die Geisteraufführung kann eine Frage nicht beantworten, trotz allen Aufwandes: Warum nur dieses Stück? Die Frage ver­ schärft sich in Coronazeiten natürlich. Das eigentliche Drama, es fand am Premierenabend woanders statt. Wenn die Welt draußen in aller Rasanz aus den Fugen gerät, dann kann die Bedeutungs­ kraft der Theaterbretter schwinden. Was für ein Drama. //


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Der Mensch ist dem Menschen ein Virus Die russische Erstaufführung von Heiner Müllers „Mauser“ in der Regie von Theodoros Terzopoulos in Sankt Petersburg kurz vor dem Shutdown von Thomas Irmer

im heutigen Russland für Assoziationen hervorruft, kann man nur mutmaßen. Ein Anknüpfungspunkt könnte die Figur des Fähn­ richs Buntschuk aus Michail Scholochows Bürgerkriegsepos „Der stille Don“ sein, aus der Müller seinen am Töten zerbrechenden   as ist der Mensch, was ist ein Virus? In „Krieg der Viren“, Revolutionär mit der Bezeichnung A entwickelte. Die Ambivalenz einer von Heiner Müller zunächst für das späte Stück „Germa­ des Texts, den die Worte „TOD DEN FEINDEN DER REVOLU­ nia 3“ vorgesehenen, dann aber doch nicht berücksichtigten Sze­ TION“ wie ein Leitmotiv durchziehen, lässt offen, ob dieser Tod selbst nicht immer wieder neue Feinde produziert und dessen viel­ ne, fragt ein Autor den Regisseur: „Krieg der Viren. Wie beschreibt man das.“ Und fährt fort: „Gott ist vielleicht ein Virus / Der uns fache Vollstreckung die Revolution von ihrem eigentlichen Ziel ent­ fernt und damit zur zentralen Machtfrage wird. bewohnt.“ Etwas einfacher, aber umso eindrücklicher notierte Als Bühnenbild hat Terzopoulos ein bis in den Zuschauer­ Müller: „Was der Planet für uns ist, das sind wir / für Viren und raum hinein gestaffeltes Tribunal entworfen. Unter einem riesi­ Bakterien“. Wer bewohnt eigentlich wen, das ist die Frage in „Krieg der Viren“. Und wer wem ein Feind ist. gen Kreuz mit metallenem Relief von kaum erkennbaren mensch­ lichen Figuren wacht als oberste Instanz Das steht auch in Müllers Revolu­ auf einer Art Kanzel eine mondäne tions- und Lehrstück „Mauser“ zur Debatte. Die Premiere der russischen Erstauffüh­ Dame mit umgehängtem Kreuz wie bei „Was der Planet einem Priester. Darunter befindet sich rung fand am 21. März im gespenstisch leeren Alexandrinski-Theater in Sankt die Bühne für die Auftritte des verdreifür uns ist, das sind wir / oder verfünffachten A – von jungen, Petersburg statt. Die Inszenierung von Theodoros Terzopoulos war aufgrund auch chorisch trainierten Schauspielern für Viren und Bakterien.“ der Maßnahmen zur Eindämmung des mit freiem Oberkörper dargestellt. Davor Heiner Müller Coronavirus für das russische Publikum ein weiterer Chor als erstes Tribunal, im gesperrt, es wurde ein Stream ange­ Parkett schließlich dessen Wiederholung oder Fortsetzung. Dieser sakralen Anla­ boten. Der griechische Regisseur Terzo­ poulos lernte in den siebziger Jahren als ge entspricht auch die von Terzopoulos ­zusammen mit dem Komponisten Panayiotis Velianitis entwickelte Hospitant und Meisterschüler am Berliner Ensemble Müller ken­ Form des Oratoriums – mit Gesängen wie aus der russisch-­ nen. Müller übte nicht nur einen großen Einfluss auf ihn aus, es orthodoxen K ­ irche zwischen den scharf schneidenden Chorpassa­ entwickelte sich auch eine andauernde Arbeitsbeziehung. Das wirkt gen, die der Regisseur durch Umstellungen und Wieder­holun­ sich nun schon zum zweiten Mal auf das russische Theater und gen ­musikalisiert hat: Neben dem „TOD DEN FEINDEN DER die dortige Müller-Rezeption aus. Bereits 1993 hatte Terzopoulos in ­REVOLUTION“ erschallt immer wieder die Anfangspassage von Moskau „Quartett“ mit der Schauspiellegende Alla Demidowa zur „Du hast gekämpft an der Front des Bürgerkriegs“ bis „Jetzt bist russischen Erstaufführung gebracht. Es folgte gar eine Dis­kussion du selber eine Schwäche“. über pornografische Sprache auf der Bühne. Nun erhielt Terzopou­ An der Eindringlichkeit von Müllers Stück geht mit dieser los die große Bühne des renommiertesten Theaters von Sankt Pe­ tersburg für „Mauser“, genau fünfzig Jahre nach der Entstehung Auflösung seines erzählerischen Zusammenhangs nichts verloren, des Stücks. Die verwendete Übersetzung von Ella Wengerowa hatte sie wird im Gegenteil noch gesteigert, wenn etwa Elena Nemzer von Wladimir Koljazin 2012 in seinen über fünfhundert S ­ eiten starken ihrer Kanzel herab aus einem roten Buch verkündet, dass das tägli­ Band von Müller-Werken in russischer Sprache aufgenommen. che Brot der Revolution der Tod ihrer Feinde sei. Der 1934 geborene Schauspieler Nikolai Marton erhebt sich mit der Frage, was der „Mauser“ verhandelt die Hinrichtung eines Henkers der Re­ volution. Der Chor spricht: „Die Revolution braucht / Dein Ja zu Preis dieser Revolution gewesen sei – womit Russlands gesamtes deinem Tod“. Im Unterschied zu Bertolt Brechts „Die Maßnahme“, 20. Jahrhundert im Raum steht. Das letzte Wort ist ein wiederholtes auf die Müller mit „Mauser“ kritisch reagiert, geht es nicht um eine „Was?“ (Schto?) nach der Zeile „Was kommt hinter dem Tod“ von A. Das Kreuz ist verschwunden, Erlösung wird es nicht geben. Folg­ Tötungslogik aus vorrevolutionärer Parteidisziplin, sondern – mit lich setzt der Chor mit dem Anfang fort – regressus ad infinitum. Der der Erfahrung von Bürgerkrieg und Stalins Terror – um eine Hin­ Blick auf die Verheerungen der Menschheit, die Müller bis zuletzt richtungsmaschinerie, die sich wie blind auf die heilige Instanz der Revolution beruft. Das führte dazu, dass in der DDR die Verbrei­ wie auch in „Krieg der Viren“ beschäftigten, ist im Zusammenhang mit „Mauser“ mehr als ein Gedankenspiel. // tung des Texts bis kurz vor ihrem Ende verboten war. Was das Stück

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Was wollen wir spielen? Der Theaterkritiker Simon Strauß plädiert mit dem Band „Spielplan-Änderung!“ für eine Wiederentdeckung der Vielfalt des Dramatischen – abseits des Kanons von Jakob Hayner

schreibt Strauß, sondern schwärmen – von großen, aber verges­ senen Stücken. Das führt von Lope de Vega, Andreas Gryphius und poetisch wie politisch so gegensätzlichen Autoren wie Jakob Michael Reinhold Lenz und August von Kotzebue über unbeach­   ls die Theater schließen mussten, war das ein Moment des tete Dramatikerinnen wie Aphra Ben und Dagny Juel sowie er­ Innehaltens und der Reflexion? Für die Frage, warum man ei­ staunlich viele russische Autoren bis hin zu Hacks und dem kürz­ lich verstorbenen Terrence McNally. gentlich Theater macht? Mitnichten. Wer nicht von Existenz­ Lassen sich bei den versammelten Beiträgen größere Ten­ sorgen geplagt wird, ist hektisch am Umdisponieren. Und wer denzen ausmachen? Bei einem Teil der anempfohlenen Stücke davon verschont wird, schreibt Corona-Tagebuch. Doch wen geht es um Macht und Intrigen, bei einem anderen um Spiel und ­angesichts der Vorstellung, von einem nach Gegenwartskom­ mentar gierenden Up-to-date-Theater spätestens in der nächs­ Travestie. Offenbar kam beides in der jüngeren Vergangenheit eher zu kurz auf den Bühnen, verdrängt ten Spielzeit mit unzähligen Adap­ tionen von Albert Camus’ „Die Pest“ durch die permanente Selbstbespie­ gelung postdramatischer Art. Sowohl traktiert zu werden, ein leichtes Grau­ sen befällt, sollte nun zu einem Buch ­Tragödien als auch Komödien finden sich Man wolle nicht nur greifen, das ungewollt zur richtigen unter den ausgewählten Werken, wenn kritisieren, Zeit kommt. „Spielplan-Änderung! sie sich wie Iwan Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande“, empfohlen von Burg­ 30 Stücke, die das Theater heute schreibt Strauß, braucht“ lautet der Titel des von Simon hart Klaußner, oder Jean Anouilhs „Der arme Bitos oder Das Diner der Köpfe“, Strauß im Tropen-Verlag herausgegebe­ sondern schwärmen – das Irene Bazinger vorstellt, nicht sowie­ nen Sammelbands. Der Theaterredak­ so im Zwischenraum befinden – bei den teur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von großen, aber Höhen und Tiefen der Leidenschaften hatte für sein Blatt eine Serie von Arti­ vergessenen Stücken. des Menschen in einer unmenschlichen keln initiiert, die nach Stücken abseits Gesellschaft. Besondere Aufmerksamkeit des engen Kanons des derzeit Gespiel­ ten fragten. Diese Texte wurden nun hat nachdrücklich der Essay von Fabian l­esebuchtauglich auf knapp 250 Seiten Hinrichs über den dunklen Romantiker veröffentlicht – vorangestellt jeweils ein und Dandy Lord Byron verdient. Schöner kurzer Auszug einer Szene des empfohlenen Stücks. So wünscht und präziser hat länger niemand mehr über das Theater geschrie­ ben und zugleich erinnert, worauf es ankommt, nämlich auf man es: Das kundige und interessierte Publikum diskutiert über „sinnliche Erfahrungen, die unsere starren Verstandeswege und dramatische Literatur. Denkbilder zerstören.“ Was man hingegen mit der „ShakespeareDie Beiträge von Hans Magnus Enzensberger über Nino Fantasien“ betitelten Zugabe von Botho Strauß anfangen soll, Haratischwili, Bernd Stegemann und Sasha Marianna Salzmann dem tatsächlich das Kunststück gelingt, in einem Satz die Worte bis Dietmar Dath speisen sich allerdings aus einem Unbehagen, „Führer“ und „Volksgemeinschaft“ zu verwenden, ohne dass man gar einer Enttäuschung, wie auch der Herausgeber einleitend er­ läutert. Das rührt von der mangelnden Vielfalt der auf die Bühnen wüsste, wozu, bleibt mehr als fraglich. Wie auch die mysteriöse gebrachten Texte, überhaupt einer mangelnden Wertschätzung „Volksschmelze“ (vollzieht sich irgendwie in der Brust der Führer) gegenüber der Eigenart der dramatischen Gattung als solcher. bisher der deutschen Sprache unbekannt war und es besser auch Stattdessen überwiegen uninspirierte Aktualisierungen. „In unse­ geblieben wäre. „Spielplanänderung!“ ist ein Anstoß für mehr poetische ren Tagen zieht die kritische wie die belletristische und dramati­ Vielfalt auf den Bühnen – und als solcher wichtig wie richtig. Jede sche Schreiberei spätestens mit dreißig nach Berlin, sofort pas­ Dramaturgie sollte in dieses Büchlein mindestens einen, wenn siert ihr eine witzige Glosse nach der anderen, bald funkt kein Gedanke mehr dazwischen und ein halbes Jahr später hat sich das nicht mehrere Blicke werfen, um die eigene Neugier auf zu ent­ deckende dramatische Literatur – nicht nur die neue, sondern ins­ Talent totgetweetet. Der Rest sind Gesten (Lesedauer: drei Minu­ besondere die vergessene – wieder zu entfachen. Aber auch die ten), oft ironische oder, nach langweiliger, empörte“, schreibt Dath Zuschauer dürfte interessieren, was sie nicht oder nur selten ge­ in seinem Beitrag, der den schmählich vernachlässigten Drama­ boten bekommen. // tiker Peter Hacks preist. Doch wolle man nicht nur kritisieren,

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Die Bühne geht ins Netz Die Coronakrise beschleunigt die Digitalisierung im Theater – Ein Überblick über Tools, Formate und Probleme von Tom Mustroph

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heateraufführungen und Performances verlagern sich ins Internet. So zog etwa der Künstler Simon Weckert einen Karren mit 99 Smartphones durch Berlins leere Innenstadt. Weil Weckert im Schritttempo unterwegs war, gelegentlich stoppte und Schlei­ fen drehte, erschien auf Google Maps eine Stauwarnung – ob­ gleich die Straße leer war. Der bildende Künstler nutzte die g ­ roße Bühne Internet. Das war Ende vergangenen Jahres, als das neue Coronavirus noch unbekannt war. Weckerts „Google Maps Hack“ deutete trotzdem das große Potenzial des Hybrids von physischer und digitaler Welt an. Wie sich in der von Schreck und Eile bestimmten Reaktion auf die Schließung der Theatersäle und Probenräume zeigte, ­haben die Theater im deutschsprachigen Raum in Bezug auf das Digitale noch Nachholbedarf. Videos älterer und neuerer Insze­ nierungen wurden auf die Websites der Häuser geladen. Das

­ egiekollektiv Rimini Protokoll hatte plötzlich 2500 Klicks mehr R auf der eigenen Website, als die Münchner Kammerspiele Stefan Kaegis „Unheimliches Tal / Uncanny Valley“ streamten. Rimini Pro­ tokoll bietet seit langem Videodokumentationen seiner Arbeiten an, die eine eigene ästhetische Qualität haben und über bloße Mit­ schnitte hinausgehen. In dem auf den Coronaschock folgenden Digitalwettbewerb war Rimini Protokoll dem sich nur langsam in Bewegung setzenden Stadttheaterbetrieb weit voraus. Der wirkte teils possierlich redundant, beispielsweise als bei dem Stream von „König Lear“ der Münchner Kammerspiele die Videowände der Inszenierung von Stefan Pucher einfach abgefilmt wurden. Aber es entstanden auch bemerkenswerte Formate. Das Staatsschauspiel Dresden richtete auf einer Videokonferenzplatt­ form ein digitales Montagscafé ein, in dem man sich treffen, ein­

Übernehmen mit der Digitalisierung die Maschinen die Bühne? – „Unheimliches Tal / Uncanny Valley“ von Rimini Protokoll (Münchner Kammerspiele 2018). Foto Gabriela Neeb


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ander zuprosten und auch Mundschutzmasken nähen lernen konnte. Viele Theater hosteten Videoblogs von Schauspielern und Hinterbühnenpersonal. Das Internetportal Nachtkritik begleitete manche Streams mit einem Chat – ein interessanter Versuch. ­Regisseur Christopher Rüping zeigte sich über diesen Austausch vor, während und nach dem Stream seiner Inszenierung „Trom­ meln in der Nacht“ begeistert: „Ich persönlich habe heute zum ersten Mal einen Zipfel des Gemeinschaftsgefühls, das ich am Theater im analogen Raum so liebe und das ich gerade so ver­ misse, im digitalen Raum zu packen gekriegt.“ Aus Rüpings Beglückungstweet lassen sich die unterschied­ lichen Kommunikations-, Interaktions- und Perzeptionsdynamiken ableiten, die das Theater so einzigartig machen – und die es auch in den digitalen und virtuellen Raum zu übertragen und wei­ ter­ zuentwickeln gilt. Kommunikation meint zunächst die der Künstler untereinander, aber auch mit Auftraggebern, Finanziers sowie dem Publikum. Dann die engere Probenarbeit, am Text, im Raum, mit Bewegung und Musik. Und schließlich den Präsen­tations- und ­Distributionskanal. Für alle Ebenen gibt es Tools, meist unvollkom­ mene, die gegenwärtig aber an vielen Orten ausprobiert, gehackt, enhanced und kombiniert werden. „Jeder lernt jeden Tag etwas ­Neues dazu“, beschreibt Friedrich Kirschner, P­rofessor für Digitale Medien am Studiengang Puppenspiel der Hochschule für Schau­ spielkunst „Ernst Busch“ Berlin, die gegenwärtige Dynamik. Kirschner, selbst Medienkünstler und Softwareentwickler, gehört zu den Pionieren der Digitalisierung im Theater. Einerseits freut er sich über die Bewegung, die nun in die Sache gekommen ist, warnt andererseits aber auch vor überstürztem Aktionismus. „Wir wollen erst einmal Räume schaffen, in denen wir selbst ­einüben können, wie wir miteinander auch über die neue Situa­ tion diskutieren“, sagt Kirschner. Für die digitale Organisation der Hochschule nahm er Abstand von gängigen Tools wie Skype und Zoom. Teilnehmerbegrenzung und mangelnder Schutz der Privat­ sphäre waren die Ausschlusskriterien. „Wir nehmen den Dienst Discord. Der stellt relativ viele Dinge zur Verfügung: Bildtelefonie bis zu zehn Leuten, Sprechgruppen bis zu fünfzig Leuten, aber auch Diskussionskanäle, auf denen man Debatten sortieren und Gruppenzugehörigkeiten herstellen kann“, erzählt Kirschner. Ein weiterer Vorteil: Die Chats werden protokolliert. Wer gerade nicht online ist, kann später nachlesen. Digitale Proben stellen sich als kompliziert dar. Zwar kann man sich auf den diversen Videokonferenzplattformen sehen und sich auch gegenseitig Probenergebnisse vorstellen, doch Verzöge­ rungen in der Übertragung erschweren das Performen. Roman Senkl, Mitbegründer der freien Gruppe onlinetheater.live und Dramaturg am Schauspiel Dortmund, experimentiert mit dem für Musiker entwickelten Tool JamKazam. „Hier ist der Delay sehr gering“, teilt er mit. Oder man versuche, den Delay für alle Teil­ nehmer gleich zu halten und so eine verzögerte Gleichzeitigkeit zu erreichen. Neue Erzählpraktiken lassen sich mit der App Story­ glitch austesten. Sie wurde 2019 von der Gruppe minuseins – auch hier ist Senkl aktiv – herausgebracht. Storyglitch ist ein inter­ aktives E-Book, das Narrationssequenzen von Autoren mit Sensordaten und Algorithmen verknüpft. In der Verschränkung von virtuellen, digitalen und analo­ gen Räumen liegen neben den neuen technischen Möglichkeiten

theater in zeiten von corona

große Potenziale. Kirschner verweist auf das Internet der Dinge, mit dem smart homes zu ferngesteuerten Bühnen würden – auch wenn er vor Verlust der Privatsphäre warnt. Die Gruppe machina eX arbeitet derzeit an einem Theatergame für Smartphones, in dem die Teilnehmer über Nachrichten und Anrufe miteinander kom­ munizieren und so die Aufführung kreieren. Grundlage sei, so die Dramaturgin Clara Ehrenwerth, eine Software, die bereits im ver­ gangenen Jahr für die Arbeit „Patrol“, ein Überwachungsrund­ gang durch die Stadt, entwickelt wurde. Andere technisch ambitionierte Künstler übertragen für den Theaterraum gedachte und aufgrund des Coronavirus mit Aus oder Verschiebung bedrohte Inszenierungen in die zwei- und dreidimensionale Digitalität. Die Costa Compagnie schneidet aus dem Filmmaterial, das in zweijähriger Recherche für das Projekt „Independence for You“ entstand, einen Dokumentarfilm sowie eine Installation im virtuellen Raum. Das Material wurde mit 360-Grad-Kameras aufgenommen und war für Aufführungen mit Rundumhorizont sowie Virtual-Reality-Installationen geplant, die im Mai und Juni an den koproduzierenden Häusern, dem Olden­ burgischen Staatstheater und dem Staatstheater Nürnberg, statt­ finden sollten. Doch selbst das hält Regisseur Felix Meyer-Christi­ an bei einer möglichen Aufhebung der Beschränkungen im Mai für problematisch. „Wer würde sich schon so eine Virenschleuder wie eine ­VR-Brille aufsetzen wollen?“ Der Medienkünstler und Softwareentwickler Marcel Karnapke sieht für dieses Problem immerhin eine Lösung. „Man könnte die VR-Brillen in UV-Öfen stecken und so nach jeder Benutzung ­Viren abtöten“, meint er. Gemeinsam mit Björn Lengers von den CyberRäubern stellt er das für das Badische Staatstheater Karls­ ruhe geplante „Cyberballett“ komplett auf VR um. Auf der Plattform VRChat kann man sich mit privater VR-Brille oder s­ terilisiertem Mehrwegexemplar einwählen und mit einer künst­lichen Intelli­ genz interagieren. Sowohl „Cyberballett“ als auch „Independence for You“ entstehen im Rahmen der Doppelpass-Förderung des Bundes. Andere Gruppen, die ebenfalls technologieaffin, aber von kurzfristigen Projektförderungen abhängig sind, können sich ­einen solchen Aufwand nicht leisten. Die Strukturen der freien Szene und der Stadt- und Staatstheater sind auf Digitalität und Virtualität nur unzureichend vorbereitet. „Es fehlt nicht nur an den technischen Infrastrukturen, sondern auch an den Menschen, die diese betreuen und zur Verfügung stellen“, sagt Friedrich Kirschner. Einen vielversprechenden Ansatz liefert digital-stage.net, ein beim Hackathon der Bundesregierung initiierter Konferenz­ dienst für Musik, Video, Tanz und Theater. Für das Theater­ treffen 2020 kommt dieses neue Tool mit Sicherheit zu spät. Die Leiterin Yvonne Büdenhölzer will immerhin während der ur­ sprünglich geplanten Laufzeit vom 1. bis 17. Mai einzelne Auf­ führungen streamen und von Chatmöglichkeiten mit beteiligten Künstlern und Juroren begleiten lassen. Eine Übersicht über neue und in Entwicklung befindliche Tools und Projekte will ebenfalls im Mai die Dortmunder Akademie für Theater und ­Digitalität unter dem Titel „Spielplan 3.0“ liefern, so Roman Senkl. Die Digitaltransformation der Theater wäre dann ge­ glückt, wenn es die ersten Intendanten gibt, die auch program­ mieren können ... //

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Die Weltkunstproduktion steht still Programmdirektor Stefan Schmidtke über die Verschiebung des Festivals Theater der Welt im Gespräch mit Martin Krumbholz

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tefan Schmidtke, sind Sie nach der Absage von Theater der Welt 2020 in Düsseldorf in eine Depression gestürzt? Ich habe es sportlich genommen. Es hatte sich ein großer emotio­ naler Sog aufgebaut in den vergangenen Monaten, und der faltet sich plötzlich zusammen, das ist schon deprimierend. Anderer­ seits bin ich heilfroh darüber, dass die nordrhein-westfälische Kultur­ ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und der Düsseldorfer Oberbürger­ meister Thomas Geisel gesagt ha­ ben, wir lassen es nicht ausfallen, sondern verschieben es ins nächste Jahr. Wenn man so will, haben wir ein Jahr gewonnen. Im Grunde haben wir jetzt erst das normale ­ Zeitmaß für die Organisation des Festivals, statt zehn Monate nun 23. Wann war Ihnen klar, dass der Termin sich nicht halten lässt? Um den 15. März herum. Am 23. März hätten wir mit der Produktion „Leben und Zeit des Michael K.“ in Kapstadt beginnen müssen; daran sind Schauspielerinnen und Schau­ spieler aus dem Ensemble des Düs­ seldorfer Schauspielhauses beteiligt. Anfang März wurden alle etwas unruhig: Wird man überhaupt einreisen können? Dann kamen Meldungen aus Indonesien: Wir bekommen keine Visa. Das Gleiche dann aus Südafrika. Es lag gar nicht so sehr an uns, als vielmehr an der Situation überall in der Welt. Kanada hatte seine Flughäfen gesperrt. Spätestens da wusste ich: Wir kriegen es nicht hin. Vierhundert bis fünfhundert Men­ schen aus fünf Kontinenten in dieser Situation nach Deutschland zu bewegen – undenkbar. Auch wenn die Entscheidung, das Festi­ val zu verschieben, natürlich in der Verantwortung unserer Träger liegt, sind wir uns vollkommen einig: Es geht um Gesundheit und Wohlergehen vieler tausend Menschen. Das Berliner Theatertreffen und die Mülheimer Stücke fallen komplett aus. Da haben Sie es besser mit der Verschiebung um ein Jahr.

Diese Festivals werden im nächsten Jahr mit dem gleichen Budget arbeiten können. Das ist bei einem Triennale-Festival wie Theater der Welt etwas anders, hier wird jeweils ein besonderes Budget auf­ gerufen. Die Verschiebung macht organisatorisch und finanziell Mühe. Deshalb finde ich die allseitige Bereitschaft dazu so grandios. Lässt sich denn das Ganze eins zu eins um ein gutes Jahr verschieben oder wird es, zumindest in Teilen, ein neues Programm geben? Die Grundformel bleibt bestehen. Im Augenblick steht die Welt­ kunstproduktion still. Niemand kann im Moment reisen. Vor September/ Oktober wird es keine neuen Premie­ ren geben, wir blicken alle in ein schwarzes Loch. Nicht jede Kompa­ nie, zum Beispiel in Brasilien, wird das überstehen. Diese oder jene wer­ den wir sicher verlieren. Außerdem gibt es zahlreiche Verflechtungen mit koproduzierenden Festivals wie den Wiener Festwochen, dem Hol­ land Festival, dem Bergen Internatio­ nal Festival und einigen anderen. Da werden sozusagen Tourneereisen in größerem Maßstab organisiert; al­ lein kann ich mir manche Einladung gar nicht leisten. Wenn die Netzwer­ ke aus diesem oder jenem Grund zu­ sammenbrechen, wird es schwierig. Stefan Schmidtke. Foto Thomas Rabsch

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Werden Sie in jedem Fall an Ihrem Kernprogramm, den acht Eigenproduktionen, festhalten können? Das wollen wir auf jeden Fall. Derzeit ist das Baxter Theatre in Kapstadt geschlossen, die medizinische Situation in Südafrika ist verheerend, mehr als die Hälfte der Menschen leben in äußerst prekären Verhältnissen. Die Frage ist, wird das Theater im nächs­ ten Jahr wieder fit sein? Aber ja, wir halten an den Eigenproduk­ tionen fest. Für die kanadische Produktion „Ist mein Mikro an?“ wurden für die Proben alle 37 gecasteten jungen Menschen in Düsseldorf in einem Chat zusammengefasst, das finden sie total cool und das ist es auch. Das Junge Schauspiel wird „Das Gewicht der Ameisen“ probieren, sobald das wieder geht. Die kanadischen Förderer haben gemeldet, dass Bereitschaft besteht, Budgets ins nächste Jahr zu transferieren. Wir wollen so viel wie möglich ret­ ten. Es gibt sehr positive Signale. //


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Festivals in Zeiten von Corona Ein Überblick über Ausfälle und Alternativen (Stand 15. April 2020) Heidelberger Stückemarkt Theater Heidelberg 24. April bis 3. Mai Die für den Wettbewerb nominierten Stücke sollen in digitaler Form präsentiert werden. Litauen wird statt 2020 in einem anderen Jahr Gastland. Aktuelle Infos unter www.theaterheidelberg.de/festival/ heidelberger-stueckemarkt/

Radikal Jung Münchner Volkstheater 25. April bis 2. Mai Ersatzlos gestrichen

Ruhrfestspiele 1. Mai bis 13. Juni Eventuell Herbstfestival mit einem Teilprogramm. Aktuelle Infos unter www.ruhrfestspiele.de

Internationale Maifestspiele Staatstheater Wiesbaden 1. bis 31. Mai „Maifestspiel-Special 2020“ in Planung. Aktuelle Infos unter www.staatstheaterwies­baden.de/internationale-maifestspiele/

Berliner Theatertreffen Haus der Berliner Festspiele 1. bis 17. Mai Eventuell digitales Angebot. Aktuelle Infos unter www.berlinerfestspiele.de/de/ theatertreffen/start.html

Berliner Theatertreffen der Jugend Haus der Berliner Festspiele 22. bis 30. Mai Eventuell digitales Angebot. Aktuelle Infos unter www.berlinerfestspiele.de/de/ theatertreffen-der-jugend/start.html

Schweizer Theatertreffen Theater Chur, Postremise Chur und TAK Theater Liechtenstein 13. bis 17. Mai Es gibt Überlegungen, die eingeladenen Produktionen auf andere Weise sichtbar zu machen. Aktuelle Infos unter www.rencontre-theatre-suisse.ch/de/

Sächsisches Theatertreffen Theater Chemnitz 13. bis 17. Mai Alternativen werden derzeit geprüft. Aktuelle Infos unter www.saechsisches-theatertreffen.de

Theater der Welt Schauspielhaus Düsseldorf 14. bis 31. Mai Verschoben auf Juni 2021

flausen+ BANDEN! Festival performativer Künste Oldenburgisches Staatstheater 14. bis 17. Mai Für dieses Jahr abgesagt. Es gibt Überlegun­ gen, das Festival so weit als möglich in die nächste Spielzeit zu verlegen. Die Insze­nie­ rung „Independence for You“ der Costa Compagnie soll, so die Planungen, am 14. Mai als Film im Netz Premiere feiern. Aktuelle Infos unter www.staatstheater.de/banden.html Wiener Festwochen 15. Mai bis 21. Juni Ein Teil des Programms soll, wenn möglich, später im Jahr gezeigt werden. Aktuelle Infos unter www.festwochen.at

Münchener Biennale 15. bis 29. Mai Die Münchener Biennale wird als „physisches Festival“ an unterschiedlichen Orten beginnen und immer auch live

gestreamt werden. Uraufführungen, die nicht im Mai in München heraus­ kommen können, werden andernorts oder in München zu anderer Zeit Premiere haben. Aktuelle Infos unter www.muenchener-biennale.de

Passionsspiele Oberammergau 16. Mai bis 4. Oktober Verschoben auf 2022, geplante Premiere: 14. Mai 2022

Stücke + KinderStücke 2020 Mülheim 16. Mai bis 6. Juni Vom 16. bis zum 24. Mai wird jeden Abend eine*r der eingeladenen Autor*innen in Filmporträts im Netz präsentiert. Zwei der Stücke sollen noch in diesem Jahr im Rahmen der ZwischenStücke in Mülheim gastieren. Die KinderStücke sollen auf Ende November verschoben werden. Aktuelle Infos unter www.stuecke.de

Bayrische Theatertage Landestheater Schwaben 20. bis 31. Mai Eine Verschiebung auf 2021 wird geprüft. Weitere Infos unter www.landestheater-schwaben.de/ bayerische-theatertage.html

CircusDanceFestival Köln 28. Mai bis 1. Juni Verschoben auf Pfingsten 2021

Bayreuther Festspiele 25. Juli bis 30. August Die Wiederaufnahmen werden auf 2021 gelegt, die für dieses Jahr geplante Neuproduktion des „Ring“ wird voraus­ sichtlich auf 2022 verschoben.

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Erste Hilfe Programme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrise in Deutschland, Österreich und der Schweiz Deutschland Interview mit Janina Benduski vom Landesverband Freie Darstellende Künste Berlin

Janina Benduski, die Hilfen für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrise laufen derzeit sowohl auf Landes- wie auf ­Bundesebene. Die Programme der Länder sind nicht unbedingt einheitlich. Sie sind Vorsitzende des Bundesverbands Freie Darstellende Künste sowie Mitglied im Vorstand des Landesverbands Berlin. Wie bewerten Sie die Soforthilfe für Unternehmen und Soloselbständige des Landes Berlin? Um erst einmal eine Beruhigung zu erzielen, war es ideal: 5000 Euro, die als Zuschuss an diejenigen gegeben werden, die akut in ihrer Existenz gefährdet sind – tatsächlich schnell und unbürokra­ tisch, erst mal ohne Überprüfung. Nun ist das Berliner Geld indes aufgebraucht und der Bund muss übernehmen …

Ja, mit dem gerade gestarteten Soforthilfe-II-Programm. Allerdings dürfen die Bundeshilfen für Kultur und Kreativwirtschaft aus­ schließlich für Betriebskosten verwendet werden. Darunter fallen Büro-, Proberaum- oder Theatermieten, Kredite, die ab­bezahlt werden müssen. Deswegen hilft es nicht allen, denn nach unse­ rem Kenntnisstand sollen persönliche Existenzsicherungskosten damit nicht abgedeckt werden. Der LAFT Berlin, die Koalition der Freien Szene und der Rat für die Künste haben sich deswegen zusammengetan und den Bund aufgefordert, das Programm mehr den Realitäten von Soloselbständigen und Kleinunterneh­ mern anzupassen. Deren größte Betriebskosten sind sie selbst. Wie kann denjenigen geholfen werden, die vor der Frage stehen, ob sie zum Beispiel ein Ausfallhonorar für eine abgesagte Veranstaltung bekommen? Das ist eine der klassischen Fragen, die uns immer noch häufig gestellt wird. Das Problem ist: Sie lässt sich nicht pauschal ­beantworten. Ob ein Ausfallhonorar bezahlt wird, hängt stark

Künstler in freier Wildbahn – „Anstattführung“ von hannsjana in Koproduktion mit den Sophiensælen Berlin. Foto Johanna Heyne


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davon ab, wer der Vertragspartner ist. In Berlin gibt es jetzt eine Regelung, nach der die vom Land geförderten Gruppen und Ins­ titutionen Ausfallhonorare zahlen dürfen. Das heißt aber noch nicht, dass sie es auch wirklich können. Viele wissen ja noch gar nicht, wie sie über das Jahr kommen. Und bei den Stadttheatern ist es Kraut und ­Rüben. Der Deutsche Bühnenverein hat dazu aufgerufen, allen Gästen solidarisch Ausfallhonorare zu bezah­ len. Aber viele Theater machen das nicht, weil sie es angeblich nach ihren Landeshaushaltsordnungen nicht dürfen. Am ver­ wirrtesten sind also gerade Menschen, die unlängst Gast­spiele an Stadttheatern hatten. Über das Programm #TakeCare vom Fonds Darstellende Künste werden kurzfristig Recherchestipendien an Künstlerinnen und Künstler vergeben. Sind wir schon im Modus der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen? Ein ähnliches Stipendien-Programm für künstlerische Arbeit hat beim Fonds Darstellende Künste ja auch bisher schon existiert, es wurde jetzt nur sehr schnell der aktuellen Situation angepasst. Es richtet sich auch nur an Menschen, die bereits vom Fonds geför­ dert wurden, also ein kleiner Adressatenkreis. Aber es ist in mei­ nen Augen ein sinnvolles Künstlerische-Arbeit-zu-Hause-Ermög­ lichungsprogramm (lacht). Man kann Konzepte erarbeiten, das künstlerische Archiv pflegen und zugangsfähig machen – das ist ja ein Thema, das uns auch beim LAFT Berlin am Herzen liegt. Wir versuchen jedenfalls beim Kultursenat zu erwirken, dass so ein Programm auch für Berlin aufgelegt wird – für Menschen, die sich zu spät um Soforthilfe bemüht haben oder noch kein Exis­ tenzproblem hatten.

Österreich

B

ereits am 17. März, als die österreichische Bundesregie­ rung die Schließung aller Theaterspielstätten beziehungsweise einen generellen Veranstaltungsstopp verfügte, bezifferte Bun­des­ theater-Holding-Geschäftsführer Christian Kircher den drohen­ den finanziellen Schaden konkret: „Sollten wir diese Spielzeit nicht mehr öffnen können, würde das Einnahmeneinbußen von 21 Millionen Euro bedeuten, das sind 190 000 Euro pro Tag.“ Die Holding, zu der auch das Burgtheater gehört, meldete für fast alle ihrer 2300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umge­ hend Kurzarbeit für drei Monate an. Das Kurzarbeitsmodell ist eine der zentralen Maßnahmen der Regierung und soll auch im Kulturbetrieb Arbeitsplätze absichern helfen. „Niemand wird zurückgelassen“, versicherte Kulturstaatssekretärin Ulrike L­unacek (Grüne) wenige Tage nach dem Shutdown und kün­ digte für die oft in komplexen Beschäftigungsverhältnissen ­lebenden Künstler und Kulturvermittler weitere staatliche Hilfe­ leistungen an. Zentral sind zwei Fördertöpfe: Einerseits ist es nebst allen Berufssparten auch Kulturschaffenden möglich, Überbrückungs­

theater in zeiten von corona

Wo fehlt es an Hilfen? Es fehlt neben dem Ausbau von Programmen wie #TakeCare zum Beispiel an Programmen im Bereich Digital Arts, bei denen man sich fortbilden könnte in dem, was jetzt online alternativ machbar ist, ohne physisches Publikum. Wünschenswert wäre natürlich ein Ausbildungsprogramm, das nicht den Datenkraken in die Hände spielt. Das fehlt gesellschaftlich: gemeinwohlorientierte digitale Infrastrukturen. Und natürlich bleibt die große Frage: Was ist mit der kulturellen Infrastruktur? Wie viele der Häuser brechen uns zusammen? Insbesondere, wenn sich der Zustand noch länger hinzieht. Es glaubt ja niemand mehr, dass vor dem Sommer noch gespielt wird. Offenbart sich in dieser Situation, dass die Grundfesten der freien Szene eben doch zu wackelig sind? Es haben sich beim freien Fördern zuletzt ja in vielen Bereichen die vernünftigen Stimmen und deutlich mehr langfristige und besser ausgestattete Förderinstrumente etabliert, die jetzt auch ­etwas über die Krise helfen. Wirklich schlimm dran sind die Ein­ zelpersonen, die ganz frei arbeiten. Was wir sehen, ist das Preka­ riat der politisch gewollten Soloselbständigen. Die Krise wird am Ende sehr deutlich gemacht haben, wo die Schwach­stellen im Sys­ tem sind. Und wenn es zu Kürzungen kommen sollte, sind die freien Projekte sicher zuerst betroffen. // Die Fragen stellte Patrick Wildermann.

Eine Langfassung dieses Gesprächs finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/05.

geld aus dem mit zwei Milliarden Euro dotierten Härtefallfonds zu beanspruchen, der von der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) abgewickelt wird. Dieser Fonds ist für freie Dienstnehmer und Kleinst- sowie Einpersonenunternehmen gedacht. Wer die dafür notwendigen Kriterien nicht erfüllt – sei es wegen einer Mehrfachversicherung oder weil beim Verdienst die Geringfügig­ keitsgrenze nicht erreicht wird –, für den oder die steht der mit fünf Millionen Euro dotierte Künstlersozialversicherungsfonds (KSVF) offen. Ein Schauspieler beispielsweise, der zusätzlich halbtags einer Nebenbeschäftigung nachgeht, die wegen Corona nun ausfällt, bekommt Überbrückungsgeld durch den KSVF. Für beide Töpfe gilt eine Maximalbezugshöhe von insgesamt 6000 Euro, aufgeteilt auf drei Monate. Die Bezüge müssen nicht zurückgezahlt werden. Besonders schwer ist die freie Szene getroffen, deren Pro­ tagonisten keine Sicherheitsnetze haben und die nun durch Proben- wie Vorstellungsausfall in ihrer Existenz bedroht sind. 75 Prozent aller bis zum Sommer geplanten Vorstellungen sei­ en bereits abgesagt, so die Erhebungen der IG Freie Theater Ende März. Das ist in den erfahrungsgemäß einkommens­ starken Monaten des Spätfrühlings besonders gravierend. Pro Vorstellung entfallen einer Schauspielerin oder einem Schau­ spieler Bruttoeinnahmen zwischen 175 bis 350 Euro, so die bis­ herige Auswertung. Zusätzlich fallen aber auch noch Nebenein­

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thema

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künfte wie die Untervermietung von Probenräumen oder Unterrichts­tätigkeit weg. Erleichterungen soll es auch im Förderwesen geben: Bereits zugesagte Fördergelder werden weiterhin ausbezahlt, unabhängig von der Realisierung der betreffenden Produktion. Ebenso k ­ önnen bereits erhaltene Gelder einbehalten werden. Durch alle Netze fal­ len indes jene, die ganz ohne Subventionen arbeiten. Auch für sie soll es eine Form der Entschädigung geben. Die IG Freie Theater plädiert im Zuge dessen für ein neues Fördermodell: Weg von der Projektförderung, hin zu einer Förderung des künstlerischen ­Arbeitsprozesses für die Dauer von mindestens sechs Monaten, sodass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld erwächst. Das bleibt vorerst ein Wunsch. Neben den bundesweiten Maßnahmen haben die Länder gesonderte Soforthilfepakete geschnürt. In der Steiermark beispiels­

weise werden sich Kultur und Sport um 690 000 Euro streiten müssen. Falls Theaterschaffende keine Bundesunterstützung ­erhalten, sieht der Fonds ein Überbrückungsgeld von 917,35 Euro monatlich für drei Monate vor, das wären für diesen Zeitraum ­maximal 2752 Euro pro Person. Vorarlberg hat ein EinhundertMillionen-Euro-Paket für alle geschnürt und Niederösterreich hat angekündigt, für seine Kulturschaffenden möglichst individuell zugeschnittene Lösungen zu finden. Auch Stiftungsgelder sollen ausgeschüttet werden. Die ­gemeinnützige Privatstiftung Philanthropie Österreich beispiels­ weise will mit ihren Partnern vor allem jenen helfen, die durch alle ­Fördernetze durchgefallen sein werden. Etwa, wenn in staatlichen Fördertöpfen kein Cent mehr übrig sein wird. //

Schweiz

tiert. Auch private Sponsoren hätten keine Sistierung ihrer Bei­ träge angekündigt, heißt es aus den Theatern. Mit großer Erleichterung können die Theater überdies zur Kenntnis nehmen, dass der Schweizer Bundesrat ein Unterstüt­ zungspaket geschnürt hat, das speziell auf den Kulturbereich ­abzielt. Zur Verfügung stehen 280 Millionen Franken an Sofort­ hilfe, darunter zinslose Darlehen sowie Entschädigungen für Betriebsschließungen und Absagen von Veranstaltungen. Der ­ Kanton Basel-Stadt hat als einer der ersten Kantone weitere zehn Millionen Franken als Ausfallentschädigung verprochen – ein ­Betrag, der durch den Bund verdoppelt wird. Darüber hinaus können Kulturinstitutionen bei den Arbeitslosenkassen Kurz­ ­ arbeitsentschädigung beantragen. Den Theatern ermöglicht dies, die Löhne der festen Mitarbeiter und die vertraglich zugesicherten Honorare der Gäste im bisherigen Maß weiterzuzahlen. Auch Theater- und Kulturzentren ohne eigene Ensembles ­sowie freie Gruppen können von den Maßnahmen profitieren. Die Kaserne Basel hat ebenfalls Kurzarbeitsentschädigung beantragt und hofft, mit weiteren Hilfszahlungen auch Freischaffende ent­ schädigen zu können, wie der Künstlerische Leiter Sandro Lunin sagt. Die freie Aargauer Truppe Theater Marie hat für das kleine Kernteam Kurzarbeit beantragt und gibt sich zuversichtlich, die Verträge mit den freien Theaterschaffenden zumindest bis Ende April einhalten zu können. Auch freischaffende Künstler können die Hilfen in Anspruch nehmen und als Selbstständige Kurzarbeits­ entschädigung beantragen, die bislang Unternehmen mit Ange­ stellten vorbehalten war. Der Berufsverband Theaterschaffende Schweiz begrüßt auf seiner Website, dass der Bundesrat „die Hilfe­ rufe der Kulturschaffenden und Veranstaltenden gehört hat“. Im Ungewissen befinden sich derzeit die Organisatoren der Theaterfestivals. „Wir arbeiten im Moment weiter, als ob es durch­ geführt werden kann“, sagt Matthias von Hartz, Künstlerischer Leiter des für August angesetzten Zürcher Theaterspektakels. Sandro Lunin, der das ebenfalls für August geplante Theaterfesti­ val Basel leitet, will bis Mitte Mai Klarheit schaffen. Für beide Fes­ tivals ist es beispielsweise unsicher, ob Künstler und Produktio­ nen aus Übersee oder der südlichen Hemisphäre einreisen können. // Dominique Spirgi

D

as hatte Andreas Beck sicher nicht gemeint, als der Inten­ dant – mit einem Bein bereits am Münchner Residenztheater ste­ hend – seine letzte Basler Spielzeit als die spektakulärste seiner Ära ankündigte. Seit Anfang März wird im Theater Basel nicht mehr gespielt. Damit war das Dreispartenhaus auf Weisung des Kantons das erste Haus in der Schweiz, das die Vorhänge ge­ schlossen hielt. Die Theater in Zürich, Bern und Luzern ließen den Vorstellungsbetrieb bis Mitte März weiterlaufen – bis der Schweizer Bundesrat als Notmaßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus Veranstaltungen mit über einhundert Teilneh­ menden verbot. Nur drei Tage später folgte ein generelles Veran­ staltungsverbot. Auch der Probenbetrieb ruht. „Der Pfauen und der Schiffbau sind unheimlich leer“, sagt Philine Erni, Presse­ sprecherin des Zürcher Schauspielhauses. Die Hoffnungen, den Spielplan vor dem Sommer wieder aufnehmen zu können, sind in den verschiedenen Theaterhäusern nicht groß. Das Konzert ­Theater Bern hat bereits Mitte März alle geplanten Premieren ab­ gesagt. Im Zürcher Schauspielhaus und am Luzerner Theater plant man, die auf Eis gelegten Produktionen in der kommenden Spielzeit unterzubringen. In Basel wird das nicht möglich sein. Denn hier steht nach viereinhalb erfolgreichen Spielzeiten ein Intendantenwechsel be­ vor. „Auf diese Art wollten wir uns ganz sicher nicht vom Basler Publikum verabschieden“, sagt Almut Wagner, die als Becks Statt­ halterin in Basel geblieben ist. Benedikt von Peter, der im Som­ mer von Luzern nach Basel wechseln wird, gibt sich derweil noch relativ gelassen. „Die Vorbereitungen laufen normal weiter“, sagt er. Die Vorproben für seine erste Basler Spielzeit sind für August angesetzt. Ein Trost für die Stadttheater ist, dass sie zumindest ­finanziell nicht vor dem Abgrund stehen. Zwar rechnet das Thea­ ter Basel mit Einnahmeausfällen von einer Million Franken pro Monat – das Schauspielhaus Zürich gibt rund die Hälfte an. Die Weiterzahlungen der staatlichen Subventionen sind aber garan­

Margarete Affenzeller



Buchverlag Empfehlungen in Corona-Zeiten

Neues Basiswissen für die Theaterpraxis Informieren Sie sich über Ihre Rechte im Theaterbetrieb

Die Kunstfreiheit gehört zu den am stärksten geschützten Rechten des deutschen Grundgesetzes, doch wie sieht es mit den Rechten der Bühnenkünstler aus? Suchen junge Theaterpraktikerinnen und -praktiker den Einstieg in den Beruf, sind sie mit einer Reihe von rechtlichen Anforderungen konfrontiert, die ihnen an den Kunsthochschulen häufig nicht vermittelt wurden. „Theaterrecht“ vom Intendanten und Rechtsanwalt Christoph Nix ist ein praxisorientierter Ratgeber, der über die Rechtsgrundlagen von Bühnenkünstlern an

staatlichen Theatern, als freie Künstler oder als Gruppe informiert. Aktuell und verständlich werden u.a. das Bühnenarbeitsrecht, das Vereins- und Gesellschaftsrecht, das Urheberrecht oder Fragen der Mitbestimmung erläutert. Darüber hinaus enthält der Band eine ausgewählte Textsammlung der wichtigsten bühnenrechtlichen Gesetzestexte, den NV Bühne sowie Musterverträge. Christoph Nix Theaterrecht Handbuch für Theatermacher Paperback mit 252 Seiten ISBN 978-3-95749-158-9 EUR 20,00 (print) / 16,99 (digital)

Die Methode des gestischen Sprechens an der Ernst Busch-Hochschule, Berlin

Sprechen ist Teil unseres Verhaltens. Wenn wir sprechen, teilen wir uns anderen mit. Das gestische Sprechen geht von einem motivierten und intendierten Verhalten auf der Bühne aus. Es wurde aus dem von Bertolt Brecht beschriebenen Begriff des Gestus entwickelt und seither als Methode fortlaufend erweitert und aktualisiert.

In diesem Praxishandbuch diskutiert sie die theoretischen Grundlagen des gestischen Sprechens und veranschaulicht diese durch verschiedene Spiele und Übungen.

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Viola Schmidt Mit den Ohren sehen Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin

Mit einem Vorwort von Devid Striesow

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kolumne

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Ralph Hammerthaler

Alle reden vom Virus. Wir nicht. Videoschalte mit Stephan Lessenich und Kornelius Heidebrecht

L

essenich sagt, dass achtzig bis neunzig Prozent der Antibiotika, die unser gutes Leben am Laufen halten, in China und Indien her­ gestellt werden. Und dass diese Herstellung unter Bedingungen erfolgt, die hierzulande undenkbar wären. Dort unten aber, in China und Indien, schädigen sie ihre Umwelt zum Wohl des globalen Nordens, scheiden unverträgliche Stoffe aus, die das Trinkwasser vergiften und die Menschen gleich mit. Und wir, sagt Lessenich, sehen es als selbstverständlich an, dass auf so zerstörerische Weise Nützliches für uns getan wird. Mit Beispielen wie diesem illus­ triert er die These von der Externalisierungsgesellschaft, die er in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ entwickelt hat. Gemeint sind hochtourige kapitalistische Gesellschaf­ ten, die es sich leisten können, die Kosten ihrer Lebensweise, was Produktion und Kon­ sum gleichermaßen betrifft, auszulagern. Mit Stephan Lessenich, dem eloquenten Soziolo­ gen aus München, sitze ich Seit an Seit im Splitscreen – statt wie ursprünglich gedacht auf der Theaterbühne. Alle reden vom Virus. Wir nicht. Oder höchstens ein bisschen, denn Lessenich hat das Virus in einem Artikel als wohlbekann­ ten Nachbarn identifiziert, einen, den wir nicht sehen wollen und darum den Blick ab­ wenden, sobald er aus der Tür tritt. Das Virus bringt das Verdrängte zurück, sagt er, oder mit einem Wort von Sigmund Freud: das Un­ heimliche. Vielleicht, überlegt Lessenich, sind wir ja schon infiziert von der Ahnung, dass die guten alten Zeiten vorbei sind und es uns an den Kragen geht. China spiegele all das, was der Westen für das Geheimnis seines Erfolgs gehalten habe, eine wachstumsfixierte Gesellschaft, die ohne Rücksicht auf ökologische Verluste immer neuen Höhen entgegenstrebe und sich über die auch den unteren Schichten zugänglichen, ständig zu erweiternden Konsumchancen stabilisiere. Kurz, das Corona­ virus wecke die ohnehin bestehenden Ängste vor China. Der ­Chinese, sagt Lessenich, ist der neue Russe. Worauf der Russe Kornelius Heidebrecht in seinem Split­ screen-Fenster lacht. Gewöhnlich komponiert er für Schauspiel und Tanz, und nicht selten sitzt er dann selbst auf der Bühne. Diesmal sitzt er zu Hause in Düsseldorf, am Klavier, wie es sich gehört, dazu etwas Technik zum Verquicken. Melancholisch ­gestimmt, macht er sich einen Reim auf „Klimawandel und globa­ lisierte Wirtschaft“, wie diese Folge heißt. Oder auch keinen Reim, weil Musik nie in einem Motto aufgeht, zum Glück. Dass wir uns fürs Theater an der Ruhr in den Splitscreen setzen, hat Theater­

direktor Sven Schlötcke veranlasst. Von ihm stammt die Idee für die Reihe „Zeit für Zukunft“, für Diskurs und Musik, im besten Fall Diskurs-Pogo, weil ohne Rempelei nichts vorwärtsgeht. Diese Idee hat er mir zugespielt. Seither muss ich schauen, dass ich ­damit den Klimawandel aufhalte. Nachts, schon fast Mitternacht, weil ein Theaterdirektor vorher nicht aus dem Haus kommt, geht Sven noch bei Rewe einkaufen, denn auch er braucht Nudeln und Klopapier. Vielleicht auch ein paar Flaschen Bier, also peilt er die Getränkeabteilung an, genauer, die Unterabteilung Bier. Alles ausverkauft, bis auf eine Marke, die hochgestapelt vorhanden ist. Vorsichtig nähert er sich. Und er sieht, wie seine Hand nach den Flaschen greifen will, dann plötzlich, mitten in der Luft, wie paralysiert innehält, ehe sie sich langsam zurückzieht. Die Marke heißt Corona, mexi­ kanisches Bier, sonst immer gern genommen. Anderntags unternimmt er einen zweiten Versuch, weil er sich nicht nachsagen lassen will, dass er abergläubisch ist, am wenigsten will er sich selbst dafür halten. Aber die Marke ist weg. Denn der Filialleiter mag es nicht, wenn die Hand des Kunden in der Luft er­ starrt und sich der Kopf des Kunden verdüs­ tert. Einkaufen muss Spaß machen. Ich glaube, ich bin ein Fan von Lesse­ nich. Und deshalb fordere ich ihn auf, eine kritische Gesellschaftstheorie zu verfassen, auf fünfhundert oder sechshundert Seiten, min­ destens, noch dazu von globaler Ausstrah­ lung. Ich betone, dies sei keine Anregung, nein, eine Aufforderung. Mittlerweile stinkt die kapitalistische Landnahme zum Himmel, und der schäbige Externalisierungstrick führt am Ende alle ins Verderben. Was wir brauchen, ist eine von Grund auf erneuerte Weltwirtschaft, eine Weltgesellschaft, Strukturen dazu, Institutionen, Regeln. Politi­ sche Begegnungen auf Augenhöhe, der globale Norden mit dem globalen Süden. Wer, wenn nicht er, wäre dazu in der Lage? Aber Lessenich lehnt ab. Er hält große Entwürfe für nicht mehr zeitgemäß, weil sie seiner Vorstellung von gesellschaftlicher Praxis widersprechen. Die Menschen selbst sollen diese Praxis ausüben, ihren Alltag politisieren, sich solidarisch zusammentun, auf Veränderung drängen. Das lasse sich nicht von der hohen Warte soziologischer Theorie verordnen. Meine ich ja gar nicht. Denn Theorie ist eine gedankliche Konstruktion, die zum Weiterdenken einlädt und sich so in die gesellschaftliche Praxis einbringt. Keine Handlungsanweisung. Also bin ich enttäuscht. Aber dann lasse ich ihn damit davonkom­ men. Und akzeptiere seine Antwort. Vielleicht hätte ich sie nicht akzeptieren sollen. //

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stück

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Stimmen, die auf Geschichte warten Ole Hübner, Thomas Köck und Michael von zur Mühlen über ihr Musikheaterprojekt „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilers Ole Hübner, Thomas Köck, Michael von zur Müh­

Ole Hübner: Dass es keine Normalität mehr

Oper plötzlich hereinbricht, verbunden mit

len, Ihr Musiktheaterprojekt „opera opera opera!“

gibt, ist ganz zentral. Kein Nationalstaat, kein

dem vergessenen Versprechen, dass Kollekti-

ist zum Stück der Stunde geworden. Zwei Zeit­

Wirtschaftssystem, keine Infrastruktur, es

ve auch mal Revolutionen ausgelöst haben

reisende blicken aus ihren Klimakapseln auf eine

gibt einfach gar nichts mehr. Ein Rückgrat

und Zukunft als etwas zu Eroberndes galt.

menschenleere Landschaft, die vielleicht unsere

des gesellschaftlichen Lebens zu haben, ist

Gegenwart ist, und kratzen sich verlegen unter

nicht mehr selbstverständlich. Der Rückblick

Sie zitieren „Die Stumme von Portici“ von Daniel-

ihren Atemschutzmasken. Die Uraufführung am

auf das Vergangene und Verlorene ist eine in-

François-Esprit Auber, die 1830 die Belgische

17. Mai bei der Münchner Biennale ist aufgrund

teressante Perspektive. Die erste Regieanwei-

Revolution ausgelöst haben soll.

der Coronaviruspandemie ungewiss.

sung lautet „In a haunted landscape in a

von zur Mühlen: Aber diese Erinnerung ist ver-

Michael von zur Mühlen: Wir haben einen Pro-

cursed time long ago“, zugleich wird über den

loren. Es heißt irgendwann aus dem Chor he-

benstopp seit dem 17. März und verlieren da-

vergangenen Weltuntergang gesprochen: ein

raus, man könne sich die Gesellschaft, in die

durch nahezu die komplette Probenzeit. Da ist

paradoxer Punkt außerhalb historischer Kon-

man geboren wird, nun einmal nicht aussu-

es aussichtslos, noch an die Uraufführung zum

tinua. Von dort schauen wir „zurück“ auf eine

chen, ganz zu schweigen den Chor, in dem

vorgesehenen Datum zu glauben. Sehr bitter,

Normalität, die sehr viel mit der Welt zu tun

man singt. Der Chor will eigentlich kein rich-

auch weil das Stück gerade so brisant er-

hat, in der wir heute leben. Die Distanz des

tiger Chor mehr miteinander sein! Er ist eben

scheint – der dritte Akt spielt beispielsweise in

Blicks auf das Heute ist entscheidend.

ein Singularity-Chor. Wie funktioniert kollekti-

einem verlassenen Opernhaus und dekliniert

ves Handeln noch? Fragen, die sich in einer

die Dystopie eines Verlustes von Öffentlichkeit

Als eine Art Verlustschmerz?

radikal durch. Es geht in dem Stück um eine

Köck: Viel interessanter finde ich, dass man

weitreichende Katastrophe, angesichts derer

das, was existiert, wie durch ein Prisma klarer

Und ambivalent sind: Handeln wir solidarisch,

völlige Handlungsunfähigkeit entsteht. Wir

erkennt. Wenn ich anfange, über mich selbst

wenn wir eine Corona-App nutzen, die uns über­

werden uns auf eine Aufführung zu einem spä-

im Futur II zu sprechen, über mich als je-

wacht? Greifen Minister wie Markus Söder so hart

teren Zeitpunkt vorbereiten, der noch unge-

mand, der ich gewesen sein werde, löst das

durch, weil sie müssen oder weil sie wollen? Wer

wiss ist, weil sich die Bedingungen ständig

automatisch eine differenzierte, auch poeti-

lenkt den Chor? Inwieweit lassen wir uns lenken?

ändern. Daher denken wir auch über Formate

sche Distanziertheit zu mir selbst aus. Ich

In Ihrem Stück zerfällt der Chor auch häufig.

nach, die eine digitale Aufführung integrieren.

eröffne ein Reflexionsfeld, indem ich mich als

Hübner: Ja, der Chor ist über weite Strecken

Erzählung projiziere. Es gibt aber nicht die

achtstimmig und dabei relativ komplex poly-

„opera opera opera!“ ist ein Rückblick auf die

authentische Erinnerung, es gibt nur mittels

phon gesetzt. Es gibt Passagen, da sind sich

menschliche Zivilisation, wobei sich keine der

einer bestimmten Rhetorik erzählte Geschich-

alle einig und singen einstimmig, generell aber

Figuren so recht erinnern kann, was die Mensch­

ten. Doch wer erzählt? Was bleibt auf der

lösen sich immer wieder Untergruppierungen

heit einmal war. Keine Erinnerung, keine

Strecke? Der Vorgang des Geschichtenerzäh-

heraus. Manchmal zu acht, sechst, viert, zu dritt,

Schuld: „In this world nothing is your fault“,

lens, das sieht man gerade überall, ist auch

zu zweit, manchmal alleine. Hinzu kommen

heißt es. Gleichzeitig fragt sich eine andere

der Versuch, sich über eine Situation klar zu

zwei Soloparts, die mitunter versuchen, sich als

­Figur: „What is my value?“ Sich wertlos fühlen

werden. Wie in Boccaccios „Decamerone“.

leitende Positionen zu etablieren, aber auch

und keine Verantwortung für das eigene Han­

von zur Mühlen: Der Impuls für das Stück

das mit wenig Erfolg. Das Libretto macht über

deln übernehmen – geht es deshalb mit der Zivi­

kommt ja aus einer sehr grundlegenden An-

diese „Aufsplitterungen“ konkrete Vorgaben.

lisation, Stichwort: Klima, bergab?

nahme und geht über die aktuelle Krisensitu-

Dass Musik und Text so verzahnt sind, verdan-

Thomas Köck: Die Wertfrage, gerade in Bezug

ation hinaus: Sowohl Cyborg als auch der Chor

ken wir auch der Dramaturgin Maria Huber, die

auf das Thema Systemrelevanz, stellt sich ja

können oder wollen Zukunft nicht mehr den-

den Entstehungsprozess koordiniert hat.

aktuell ganz stark. Auf einmal werden die

ken. Sie scheinen in einer Gegenwart gefan-

Fachkräfte aus den Supermärkten beklatscht,

gen, in der Zukunft nur noch als Katastrophe

Die Münchner Biennale für zeitgenössisches Musik­

von Leuten, die sie normalerweise nicht mal

vorgestellt werden kann und Vergangenheit

theater wurde von Hans Werner Henze gegründet,

mit dem Arsch anschauen. Diese Wertedebatte

nur noch bruchstückhaft erinnert wird. Diese

einem Komponisten, der an die politische Wirk­

ist immer relevant, doch erst in Krisenzeiten,

Situation ist sinnbildhaft für eine Gemein-

kraft der Kunst glaubte. Ein Vorbild für Sie?

oder, wie in unserem Stück, postapokalypti-

schaft ohne Visionen und Bewusstsein für his-

Hübner: Henze ist als politisches Subjekt

schen Zeiten, einer Situation der Regellosig-

torische Wendepunkte und deren Potenziale.

wahnsinnig interessant, nicht unambivalent

keit, tauchen bestimmte Fragestellungen auf.

Das wird offenkundig in der Szene, wo die alte

und nach wie vor wichtig – wobei seine

Krise verschärft stellen.


opera, opera, opera! revenants & revolutions

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Im Uhrzeigersinn: Thomas Köck, Ole Hübner, Michael von zur Mühlen, Dorte Lena Eilers. Screenshot Zoom

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­Rezeption sehr zeitabhängig ist. Der Neuen Musik wurde in den siebziger Jahren eine ganz andere politische Kraft zugeschrieben. Die Uraufführung von Henzes „Floß der ­Medusa“ löste Tumulte aus. Für mich ist er insofern eine Referenz, dass ich mich immer ­wieder frage: Welchen unkonventionellen Prototyp eines Komponisten verkörperte Henze? Und was wäre ein Henze heutzutage? Ein zweiter Referenzpunkt ist, dass Henze als einer der wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts ein kollektives Komponieren praktiziert hat. Einen Ansatz, der insbesondere im interdisziplinären Gebilde „Musiktheater“ auch für mich eine zentrale Strategie ist. Es heißt natürlich nicht, dass der Szenograf anfängt, eine Partitur für sechzig Instrumente zu schreiben. Aber die Eröffnungsszene haben wir quasi zusammen komponiert. Ich hatte Thomas gefragt, wie die erste Szene klingt. Er meinte: Da sei ein mysteriöses Dröhnen, und darüber schwebe diese helle Stimme. So habe ich es dann umgesetzt. Dieses multiperspektivische Sammeln von Eindrücken ist mir sehr wichtig. Auf der

Thomas Köck, geboren 1986 in Oberösterreich, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und szenisches Schreiben in Wien und Berlin. Mit dem Stück „paradies fluten (verirrte sinfonie)“ wurde Köck zum Heidelberger Stückemarkt 2015 eingeladen und 2016 mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet. 2018 und 2019 gewann er den Mülheimer Dramatikerpreis. Michael von zur Mühlen, geboren 1979 in Köln, studierte Musikwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler” Berlin. Seit der Spielzeit 2016/17 gehört er zum Leitungsteam der Oper Halle. 2019 hatte er die Bertolt-Brecht-Gastprofessur der Stadt Leipzig inne. Ole Hübner, 1993 geboren in Bremerhaven, studierte Komposition in Hannover und Köln sowie Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Seit 2018 lehrt er Kompositionen an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2018 wurde er mit dem Stuttgarter Kompositionspreis ausgezeichnet. 2019 erhielt er ein Stipendium der Villa Aurora Los Angeles und ein Bundesstipendium für ­ die Cité Internationale des Arts Paris.

schaftlichen Zustand beschreibt. Bei uns ist der Chor im Zuschauerraum verteilt und eben nicht Akteur auf der Bühne. Er ist gar nicht mehr in der Lage, relevante Handlungen zu repräsentieren, sondern angesichts des Mangels an utopischem Bewusstsein auf die Rolle eines Zuschauers der Geschichte zurückgeworfen. Interessant dann die Situation, wenn der Kinderchor von der Bühne herunter nos­ talgisch an die feuchten Träume des politischen Theaters erinnert: „aber wisst ihr nicht mehr … als ihr kurz davor euch zu erheben …?“ Es steht also eine Aufforderung im Raum, sich als Akteur geschichtlicher Verläufe zu begreifen, mehr als ambivalente Sehnsucht, denn als fassbare politische Aufforderung. Vielleicht geht es gerade darum, die Wunde zu zeigen, das Bedürfnis nach Momenten des kollektiven Widerstands. Im 19. Jahrhundert war die Oper ein Leitmedium. Wie sieht heute der politische Gefühlsaustausch zwischen Bühne und Zuschauerraum aus? ­Irgendwie passt es ja, dass wir, sollten wir zeitnah keine öffentliche Aufführung machen dürfen, aus dem verlassenen Opernhaus ein Klopfzeichen senden.

Bühne von Solidarität, Kollektivität und Ge-

Köck: Ist ein Chor, der soziale Distanz wahrt,

meinschaft zu sprechen, erfordert für mich auch dieselben Zustände hinter der Bühne.

sellschaftlichen Affekten zwischen Bühne

noch ein Chor? Wenn alle 1,5 Meter Sicher-

von zur Mühlen: Das Stück fragt nach der po-

und Zuschauerraum explizit in den Blick

heitsabstand voneinander halten, atmet man

litischen Wirkung des Theaters, indem es die

nimmt und darin ganz grundsätzlich das Ver-

dann kollektiv oder gehört zum gemeinsamen

Kommunikation und den Austausch von ge-

hältnis von Akteur/Zuschauer als gesell-

Atmen nicht auch das Virus? //


stück

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Thomas Köck

opera, opera, opera! revenants & revolutions verschollener vierter teil der klimatrilogie – ein librettofragment für einen cyborg und einen singularitychor es singen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE, ein singularitychor DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE, eine cyborgparze EIN HOLOGRAMM, in einer verlassenen oper EIN HOLOGRAMMCHOR, in einer verlassenen oper MEHRERE STIMMEN DIE EHER SO AUS DEM CHOR HERAUSBRE­ CHEN UND AUCH ETWAS SAGEN WOLLEN

noise from undead orchestras in un-world pits orchestra pits still playing music tone by tone that doesn’t belong to anyone has time itself stopped music has time itself stopped music has time itself suddenly stopped music dear opera what about music in un-time undead rhythm post historical delay dear opera you always sound delayed where did you go dear opera delayed two steps forward and three steps back dear opera why do we listen opera why do we listen dear opera why do we listen why do we listen post-historical delay opera post historical delay we are too late maybe or you are maybe opera has turned itself away from time like music turned itself away from time like time like history turned long ago away from itself what is music without history without future what is opera without future what is opera without future without history without time opera itself what about opera what about orchestras what about the pits for centuries no music came out of the pits just mud and grieving history music undead in the pit dear opera did we forget dear opera did we forget did we did we

musik texte input ben frost – theory of machines andreas spechtl – it is not your fault (structures) thomas köner – la barca complete edition abul mogard – all this has passed forever rafael anton irisarri – a ruptured tranquility maurizio lazzarato – immaterial labour jack halberstam – the queer art of failure

ich komponiere doch ich habe noch nie gesagt für wen stockhausen praeludium let’s talk about opera let’s talk about ghosts let’s talk about les revenants let’s talk about the sellout of time let’s talk about un-time let’s talk about un-life let’s talk about un-dead let’s talk about opera ghosts talking to ghosts let’s listen dear opera let’s listen to your un-dead un-time chord by chord why do we still listen to the opera why do we still talk about opera why do we still produce dear opera why do we still opera opera opera therefore let’s talk about opera let’s talk about the haunted landscape undead

in a haunted landscape in a cursed time long ago // jetzt wieder hereinschneien gut abgeschirmt in klimakapseln bekleidet ansonsten im ranzigen mühlsteinkragen aus kabeln und stacheldraht in von säure zerfressenen pluderhosen die haare längst ausgefallen einzelne strähnen auf dem kahlen haupt erinnerungen an hochsteckfrisuren man kratzt sich verlegen unter atemschutzmasken oder infusionsgeräten je nach stimmung DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE mittlerweile ein ganzer chor und DIE VON DER PROPHE­ZEIHUNG VERGESSENE herangespült in einem schlick aus algen zitaten leichenteilen skeptisch wird sich umgesehen gewaltig irritiert aber mit zuversicht dann schließlich doch gesungen

LOCKDOWN

Ein kooperatives Wohnzimmer-Game ITI

6. – 10.5.

machina eX

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thomas köck_opera, opera, opera! revenants & revolutions

DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE in this world nothing is your fault in this world nothing is your fault in this world nothing is your fault in this world in this world in this world denke ich mir immer und frage gleich wer hätte das auch alles kommen sehen hätte man vor jahren mich gefragt ich hätte maximal gelacht es sah doch einfach so verdammt gut es sah doch alles einmal so richtig gut aus oder nicht allerorten aufschwund entfesselung und sellout allerorten outsourcing creative industries allerorten feierte man die völlige enthemmtheit die welt im hypefieber wir dachten jetzt jetzt jetzt kommt die zukunft jetzt kommt endlich diese andere aber ach so take a look at me now well there’s just an empty space und jetzt so im wenn ich einmal ehrlich zu mir selber bin muss ich schon sagen ich habe mir das leben doch immer viel einfacher vorgestellt als es dann doch einmal gewesen sein wird aber wer bin ich dass ich das entscheiden könnte ich weiß eigentlich gar nichts mit dem alter verblödet man ja bekanntlich wofür hier aber niemand etwas kann das ist nun einmal die natur des körpers also in this world nothing is your fault in this world nothing is your fault in this world in this world in this world // langsam kommt jetzt auch DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE zu sich in ihrer klimakapsel die vollends von schnee oder asche oder eis­regen umgeben ist wer weiß das schon sie ist mindestens genauso irritiert wie die kollegin die sie von weitem singen hört

Kaserne

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE schneit es oder ascht es

haben wir eiszeit oder krieg DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE in this world nothing is your fault wenn DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE wo sind wir hier wie sind wir hier gelandet und wieso vor allem auch wie ich dacht uns hätts schon lang erwischt jetzt stehen wir hier wieder nur im eis und lauschen dieser fürchterlichen apokalyptischen stille DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE am ende wenn man einmal ehrlich zu sich selber ist wird man sich auch in seiner individuellen polyesterimitathülle einsam vorgekommen sein DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE ich habe gesagt wir lauschen dieser fürchterlichen apokalyptischen stille DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE man muss sich hingegen einen menschen der sich darin arrangiert hat als glücklichen vorstellen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE jetzt mittlerweile auf wackligen beinen der ganze chor und leicht entnervt schließlich hat sie jemand aus dem schlaf heraus monologisiert, kramt nach einer zigarette, fi ­ ndet einen halben stummel irgendwie, zündet an, zieht und äfft meine fresse wenn man einmal ehrlich zu sich selber ist sollte drüber schweigen worüber man nicht sprechen kann DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE dich hat niemand gefragt DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE duz uns nicht DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nicht einmal als letzter mensch hat man seine ruhe DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE was heißt hier letzter mensch DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE heißt ich hätte gedacht dich hätts erwischt endlich alleine die letzte meiner art DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE was für eine art DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE da will man einmal seinem privaten apokalypsevergnügen frönen und

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dann merkt man man ist immer noch nicht alleine dieser planet ist einfach viel zu groß wo sind wir hier DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE IN VERSCHIEDENEN STIMMEN gute frage EINIGE REISSEN AUS FRAGEN SICH LAUT ja wirklich gute frage ANDERE GLEICH HINTENNACH und außerdem EIN PAAR NACHZÜGLER LEISE seit wann DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE seit wann DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE IN VERSCHIEDENEN STIMMEN ja seit wann ich erinnere mich nicht mehr wann sind wir hier angekommen wann DANN DIE LINKE SEITE ich auch nicht UND DIE RECHTE SEITE ich auch nicht SCHLIESSLICH GANZ LEISE DAS ZENTRUM ich auch nicht DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE DIE DURCH ALLE HINDURCH LÄUFT na eben vorhin oder nicht DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE wann eben vorhin DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE VÖLLIG ORIENTIERUNGS­LOS vorhin doch oder nicht DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE IN VERSCHIEDENEN STIMMEN du weißt es nicht mehr oder wie lang wir unterwegs waren woher wir gekommen sind was am letzten tag geschah EINIGE DANN VERWUNDERT am letzten tag EINIGEN WIRD JETZT ALLES KLAR wir waren doch in einem flugzeug ANDERE HALTEN DAGEGEN nein auf einem schiff JETZT ABER HIER EIN PAAR WISSEN GANZ GENAU BESCHEID nein ich war doch gerade aufgestanden regen draußen trotzig gegen die fenster EINIGE RÄTSELN nein wir haben doch gerade noch gestritten

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ANDERE ANTWORTEN ZACK HIER SOGLEICH nein du hast herumgeschrien JETZT ABER BITTE WER SCHREIT HIER ich schreie nicht DIE MAINSPLAINING SEKTION JETZT WIEDER du hast mir wieder einmal erklärt dass das dein leben DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE jetzt bitte nicht alle durcheinander DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE entschuldigung ich habe schon wieder einen historischen anfall EINIGE STIMMEN ERSCHÜTTERT manchmal geschieht das die geschichte fällt dann von allen seiten plötzlich über uns herein ich weiß doch ganz genau wir EINIGE HAKEN NACH waren doch auf einem flugzeug wir EINIGE BESSERN AUS saßen vorm fernseher wir EINIGE BESSERN NOCH EINMAL AUS lagen übermüdet kurz nach sonnenaufgang und dachten nach ANDERE DANN DAZWISCHEN ach blödsinn wir standen an den bahnhöfen UND EIN PAAR HINTEN NACH ich wartete auf deine antwort EIN PAAR HINTEN NACH ich starrte auf das display DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE jetzt geht das schon wieder los DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE entschuldige bitte ich habe gerade einen historischen anfall EIN PAAR DANN QUASI SOLO still wars geworden niemand traute niemandem ANDERE SETZEN NACH wir schoben uns seit jahren durch dieses leben das niemandem längst mehr gehörte dieses scheißleben das nur mehr noch rotierte schlagzeile für schlagzeile UND AUCH ANDERE ERINNERN SICH LANGSAM im stillen DANN ANDERE DIE NACHSETZEN im beat der apokalypsen one beat after another one beat one beat after another

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JETZT IM SCHNELLEN WECHSEL schlagzeile für schlagzeile UND SCHNELLER JETZT ALLE HIER DURCHEINANDER wir auserzählten durcherzählten überzählten alle mauern lagen brach EINIGE EHER VERWIRRT VON WEGEN MAUERN nein alle grenzen waren überschritten UND ANDERE HINZU alle grenzen wurden gesprengt MOMENT EINIGE EHER NOCHMAL MIT NACHDRUCK nein alle mauern waren unten UND NOCHMAL und die grenzgebiete UND JETZT ABER WIRKLICH FÜR ALLE HIER ja die grenzgebiete uferten endlos aus UND DANN NOCH VON HINTEN WELCHE DAZU die geschichte drehte weiter frei ihre runden grenzen hin mauern her ACHTUNG nur selbst standen wir vielleicht uns noch irgendwie im weg EINIGE VERWIRRT wer ist hier wir DANN KURZER BRUCH hier diese linien hier zwischen mir und dir verstehst du diese linien hier ich dort du UND FINALE worldwide verbreiteten wir uns DANN ABER NOCHMAL INTERLUDE wer wir JA WER worldwide JA WER wer wir AUS JETZT MIT DEN ZWISCHENFRAGEN WEITER HIER IM TAKT die images die sounds die ads die programs dazwischen wir KURZE FRAGE wer wir ABER DANN FINALE worldwide FINALE worldwide FINALE worldwide ERSCHÖPFT DANN ALLE IRGENDWIE DURCHEINANDER our lifestyle auf den screens den displays FERTIG AM BODEN DER CHOR IN TRÜMMERN our lifestyle auf den ads den programs

POSTFINALE worldwide wir feierten jetzt wo wir endlich DANN EIN KÜMMERLICHER REST nur was kam dann was kam dann was kam dann was kam dann was kam dann // DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE ich hab vergessen i lost it all i lost it i lost vergessen it all it i lost vergessen it all i it all vergessen i lost vergessen it all alles i lost it alles vergessen // EINE ÄLTERE TIEFE STIMME DIE SICH LEISE ERINNERT ich weiß noch ich starrte zum fenster hinaus ich fragte mich zärtlich what is my value what

HAUS DER ANTIKÖRPER »IHR SEID DER WIRT, HIER KOMMT DAS VIRUS.« VON MARIE BUES, NICKI LISZTA U.A. VIRTUELLES KONZERT, TANZ, PERFORMANCE COMING SOON...

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is my net worth nichts kam zurück what is my value what is my net worth nichts kam zurück wertlos starrte ich hinaus wertlos starrte ich hinaus what is my value wertlos starrte ich hinaus wartete worauf hin und wieder dann telefoniert belanglosigkeiten ausgetauscht mit bemüht „sympathischen“ reaktionen mit bemüht „anerkennenden“ äußerungen dann wieder aufgelegt gewartet wertlos starrte ich hinaus zwischen bürotürme rent-an-office-menschen wertlos starrte ich hinaus menschen die emails beantwortend sterben wertlos starrte ich hinaus in die zeitlos gewordene gegenwart in die endlos sich erbrechende gegenwart am letzten tag am letzten tag am letzten tag als dann als dann als plötzlich dann was was was // and opera has not yet finished opera is not yet dead opera has just begun opera we did not forget opera opera no we did not not yet did we forget dear opera why are we scared of new ideas not of the old ones opera why are we scared dear opera of you dear opera your new ideas dear opera did we forget dear opera did we forget you opera your ideas dear opera did we did we did we forget not yet // DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE manchmal da fällt mir wieder etwas ein einfach so als wärs gestern gewesen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE komm gestern ist schon lang vorbei wir gehen weiter DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE mir fallen dann und wann so sätze ein bilder ganze straßenzüge umgebungen die einmal existiert haben mussten DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE das ist schon längst vorbei DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE manchmal da fällt mir all das wieder ein da meine kindheit in der war mir der schnee schon fragezeichen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE

wann bitte warst du kind wann DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nur splitter seh ich nix ganzes nix DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE weils nicht die deinen sind nur ein programm das man dir eingespeichert hat DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was wär der unterschied denn zu den meinen frag ich mich wer weiß denn schon was falsch hier erinnert oder ausgedacht oder nur schlecht programmiert wozu legt denn der mensch soviel wert auf diese bilder geschichten erinnerungen dass er möchte dass sie ihn überdauern was belastet der denn mich mit seiner welt mit seinen bildern warum lässt er die nicht mit ihm untergehen wozu dieser speicher warum lässt er uns mit seinen resten hier zurück immer noch seh ich die spuren vor unserm haus im schnee die fußabdrücke der mutter in die ich versuche hineinzusteigen ständig scheitere die schneeschaufel vom großvater die er noch vor sonnenaufgang aus dem keller herauf hustend von der kälte und am abend war wieder alles vollgeschneit was den großvater nicht davon abgehalten am nächsten tag den schnee wieder hustend zu bekämpfen und die spuren vom vater im schnee der nicht mehr zurückgekommen der sich im schnee verrannt spuren die plötzlich enden wieso erzählt er sich die immer wieder wieso will denn der mensch dass etwas ihn hier überdauert // EINE LEISE STIMME ETWAS BEISEITE und manchmal möchte man sich nicht erinnern MEHRERE LEISE STIMMEN ANTWORTEN manchmal möchte man dinge einfach streichen EINE LEISE STIMME DIE SICH JETZT ETWAS VERFOLGT FÜHLT nein dingen aus dem weg gehen MEHRERE LEISE STIMMEN NÄHERKOMMEND aber dann ist man plötzlich schon teil eines bildes EINE LEISE STIMME DIE JETZT EHER HIER DER SACHE AUS DEM WEG BITTE auch wenn man nicht möchte MEHRERE LEISE STIMMEN ALLERDINGS DIE DA JETZT NICHT AUS DEM WEG warte kurz


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EINE LEISE STIMME DIE SICH VERSUCHT LOSZUREISSEN nein danke MEHRERE LEISE STIMMEN JETZT ETWAS DRINGLICHER wir haben gesagt bleib stehen EINE LEISE STIMME DIE JETZT SO UM SICH STÖSST nein danke MEHRERE LEISE STIMMEN JETZT LAUTER LANGSAM LAUTER MITSAMT MESSER langsam wird man teil eines bildes das man selbst sich nicht wünscht EINE LEISE STIMME DIE DAS MESSER SIEHT UND DEN ERNST DER LAGE und man sieht zu wie das bild dann verschwimmt MEHRERE LEISE STIMMEN JETZT DIE ÜBER DIE ANDERE STIMME HERFALLEN und das bild gehört dann jemand anderem EINE LEISE STIMME DIE NUR AM BODEN LIEGT und man sieht zu wie man sich selbst diesem bild das andere sich machen leider nicht entziehen kann MEHRERE LEISE STIMMEN DIE JETZT GAR NICHT MEHR LEISE UND ABER HIER RICHTIG ORDENTLICH DAGEGEN und vielleicht ist das geheimnis der geschichte dass sie die zeit einfach sprengt VON DER SEITE JETZT ABER HIER ANDERE STIMMEN UND ORDENT­ LICH DIE FÄUSTE SCHON IM ANFLUG dass die geschichte einfach so über die zeit hereinbricht MEHRERE LEISE STIMMEN DIE ABER AUCH DAGEGEN HIER GEHEN KÖNNEN und die zeit unter der geschichte langsam bricht MEHRERE LEISE STIMMEN JETZT ABER RICHTIG und wem gehört diese zeit VON DER SEITE JETZT ABER ANDERE STIMMEN JETZT ABER DAGE­ GEN VON DER ANDEREN SEITE MIT EINSCHLÄGIGEN SYMBOLEN uns uns uns UND VON DER SEITE JETZT ABER MIT CHÖREN UND ALLEM ABSAU­ FEN ABSAUFEN ABSAUFEN ABSAUFEN und unter ihr spürbar MEHRERE LEISE STIMMEN DIE JETZT ABER AUCH NUR NOCH REAGIE­ REN HIER KÖNNEN ABER DAS MIT SCHMACKES und unter ihr spürbar UND VON DER SEITE JETZT ABER MIT EINSCHLÄGIGEN SYMBOLEN BEREIT FÜR WAS AUCH IMMER die risse die uns zusammennähen EINE LEISE STIMME AM BODEN BLUTROT DIE LIPPEN BLUTROT die risse die uns zusammennähen

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Foto des Autors © Ilja Mess

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160 Seiten, gebunden, Schutzumschlag 18 € ISBN 978­3­88747­376­1 www.transit­verlag.de

»Der Roman erzählt knapp, mit schnellen Sätzen von Togo, der dort herrschenden Familie und der Komplizenschaft deutscher Politiker und Institu­ tionen. Nix nimmt kein Blatt vor den Mund, erzählt auch davon, wie sich Widerstand formiert.«

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Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau

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chaosmosis // DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE auseinander EINIGE STIMMEN DIE SICH KURZ WIEDER MAL HIER BITTE FINDEN MÜSSEN was denn was denn was denn DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE oder viel eher alle wieder zusammen EINE STIMME EHER SO AM BODEN DIE SICH ERHEBT auf keinen fall zusammen DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE doch EINIGE STIMMEN JETZT MAL KURZ BEIM SAMMELN entschuldige gleich wieder muss mich hier kurz noch entschuldigung ich habe gerade einen historischen anfall EINE LEISE STIMME HIER SOLO EHER was bringt mir denn da die entschuldigung man kann sich die gesellschaft in die man geboren wird nun einmal nicht aussuchen ganz zu schweigen den chor in dem man singt EINIGE STIMMEN HIER MAL KURZ entschuldige bitte manchmal da überkommt mich so eine ahnung von dem was früher war so eine welt die hier drin steckt tief hier drin DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE das kenn ich aber in this world nothing is your fault nothing is your fault is your fault in this world nothing is your fault nothing is // DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE endlich etwas da hinten DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE in this world auch nicht das vergessen das langsam merke ich mir hier zwischen die schaltkreise hinein

dort wo all die erinnerungen schreien all das menschliche oder zumindest das von dem es hieß es sei so menschlich DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE los jetzt da DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE aber vielleicht ist das eigentlich menschliche nicht das erinnern sondern das vergessen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE mir gleich was menschlich oder nicht da hinten schau DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE das vergessen es überkommt mich in warmen schauerlichen schüben der gewissheit dass die erinnerung die ausnahme das vergessen das normale ist vielleicht ist das sogar hier programmiert dass ich alles vergesse vielleicht ist das der eigentliche sinn und zweck hier von alldem zu vergessen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE nur was ist das DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE ja was ist das DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE siehst du DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was wo ich grad so philosophisch bin // did we forget dear opera did we did we no longer hear the music did we stop dear opera to listen did we did we listen did we stop dear opera did we still listen did we did we did we stop opera dear opera did we did we forget dear opera did we dear opera did we forget not yet did we did we did we


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// wie aus dem nichts erscheint ein hologramm warum weil es ein hologramm ist HOLOGRAMM das publikum saß immer da wo es sitzen sollte und hier standen die schauspieler und haben gespielt in schlechten stücken haben die schauspieler gelitten und trotzdem gespielt man stand hier in richtig schlechten stücken und hat zusammengehalten man stand hier und schmetterte einer welt aus niedertracht und hass zärtlich arien des widerstands entgegen man stand hier und hat in riesengroßen szenen die kontrolle über sich und diese hässliche hässliche hässliche verkaufte welt verloren hier wurde gesungen und es wurde doch nicht gesungen hier wurde einander zugehört aber eigentlich hat noch niemals jemand irgendjemanden hier oder anderswo wirklich gehört und das publikum saß immer da wo es sitzen sollte pause das hologramm schnalzt laut mit der zunge langes echo dann erblickt es DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE und DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE // HOLOGRAMM endlich endlich endlich DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was will es HOLOGRAMM was haben wir gewartet DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE worauf HOLOGRAMM auf euch DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE was heißt denn hier auf uns HOLOGRAMM dass ihr zurückkehrt endlich um zu erzählen DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was sollen wir erzählen

HOLOGRAMM was mensch momentan gerade ist DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE ja gute frage HOLOGRAMM aber wisst ihr nicht mehr DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE was HOLOGRAMM wie ihr hier standet DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE wir HOLOGRAMM ihr alle standet hier und habt gerufen die tyrannen gebt mir waffen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE EHER ETWAS UNSI­ CHER BITTE WAS die tyrannen gebt mir waffen HOLOGRAMM als ihr kurz davor euch zu erheben erinnert ihr euch nicht mehr EIN PAAR STIMMEN DIE NACH VORNE TRETEN ETWAS UNSICHER hier standen wir HOLOGRAMM und habt gesungen ANDERE STIMMEN HINTENNACH mir dämmert was HOLOGRAMM du warst doch pietro EIN PAAR STIMMEN IRRITIERT ich HOLOGRAMM und du doch masaniello NOCH EIN PAAR STIMMEN IRRITIERT ich HOLOGRAMM masaniello masaniello EIN PAAR STIMMEN DIE SICH LANGSAM ERINNERN fenella du o sprich wem fließen deine tränen DIE ANDEREN STIMMEN DIE JETZT AUCH LANGSAM ZUMINDEST GROB der tyrannei dies wort ermanne dich zum streit EIN PAAR STIMMEN JETZT DEUTLICHER was hör ich DIE ANDEREN JETZT AUCH VOLL IM BEAT WIEDER freund sie nahen DIE MASANIELLO TRUPPE JETZT VOLL BEI SICH wer naht DIE ANDEREN die tyrannen HOLOGRAMM ha sie nahn JETZT VÖLLIG ÜBERZEUGT ALLE WIEDER die tyrannen gebt mir waffen HOLOGRAMM ja weiter genau ALLE ZUSAMMEN JETZT SAMT HOLOGRAMM UND ALLEM zum kampf er führet uns zum siege die zwietracht weiche auf zum kampf zum streite er

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führet uns zum sieg er führet uns zum sieg die zwietracht weiche auf zum kampf zum streite er führet uns zum sieg er führet uns zum sieg JETZT PLÖTZLICH VON DER SEITE HEREIN EIN GANZER HOLOGRAMM­CHOR aux armes aux armes aux armes aux armes DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was HOLOGRAMM ruhe im publikum ihr stört die kunst HOLOGRAMMCHOR aux armes und wieder aux armes und dann haben wir uns erhoben und dann kam die zukunft herbei aux armes aux armes aux armes DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was soll das alles hier schluss aus ich kann nicht mehr HOLOGRAMMCHOR nein kein ende bitte noch einmal noch einmal noch einmal DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was soll das alles hier mir schwächelt nichts versteh ich mehr der akku lahmt HOLOGRAMMCHOR aux armes aux armes nochmal DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE entschuldige bitte ich glaube ich habe gerade einen historischen anfall HOLOGRAMMCHOR aux armes aux armes DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE schluss jetzt mit dem geschrei HOLOGRAMMCHOR was wieso spielt weiter DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nein schluss aus was soll das alles hier HOLOGRAMMCHOR aber wir wollen wissen was mensch geworden ist und wie mensch war HOLOGRAMM still seht ihr nicht HOLOGRAMMCHOR was HOLOGRAMM sie sind es nicht

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HOLOGRAMMCHOR was HOLOGRAMM menschen DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nein sicher nicht mein akku sagt was anderes HOLOGRAMMCHOR aber was sind sie sonst HOLOGRAMM sie sind wie wir nur rest DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE also verzeihung ich würd mich ja doch eher als weiterentwicklung begreifen vom menschlichen und nicht als dessen rest DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE scheppert sich langsam zusammen ja eben wir sind wenigstens noch da der mensch hingegen eher nicht HOLOGRAMM aber der mensch war singulär HOLOGRAMMCHOR sein ende nur die bestätigung dafür DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE was bitte heißt denn singulär HOLOGRAMM es heißt besonders DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE wie besonders HOLOGRAMMCHOR singulär DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE wie HOLOGRAMMCHOR nicht von der stange nicht standardisiert HOLOGRAMM ich heißt singulär DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE ich bin singulär HOLOGRAMMCHOR nein sicher nicht HOLOGRAMM der mensch war singulär HOLOGRAMMCHOR noch sein ende die bestätigung dafür HOLOGRAMM und die erinnerungen die authentischen die echten die singulären die erinnern uns an den menschen daran was er war DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE aber erinnerungen sind doch nur dadurch erinnerungen dass sie zerfallen die authentischsten bilder


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sie löschen sich aus wir halten sie nicht aus wir ertragen sie nicht was der mensch wirklich war hat er nie wirklich ertragen das war doch das singuläre sich selbst nicht zu ertragen UND EINIGE STIMMEN DANN ÜBERZEUGT aber ich weiß doch noch wir konnten uns erinnern UND HINTENNACH PAAR ANDERE an dinge die nie existiert haben würden UND NOCH PAAR ANDERE und aus diesen erinnerungen schufen wir welten UND DANN IMMER NOCH PAAR ANDERE und aus geschichten formten wir zeit UND DANN ABER SO DAS DIALEKTISCHE DRITTEL DAS EHER ZWEIFELT und dann begannen wir zu misstrauen EINE STIMME NÄMLICH BEIPFLICHTEND den geschichten EINE ANDERE HINZU den bildern EINE ANDERE DANN AUCH NOCH ja den erinnerungen gar UND DANN DIE LETZTEN DIE SCHON DEN SCHLUSS VOR AUGEN HABEN bis wir aufhörten davon zu erzählen UND ANDERE AUCH HINTENNACH bis wir verstummten UND IMMER MEHR STIMMEN DIE JETZT LANGSAM BEGREIFEN bis die geschichte völlig erzählungslos ins leere lief UND MIT KOPFSCHÜTTELN DAZWISCHEN hie und da dann noch ein update WEILS SO OFFENSICHTLICH WAR hie und da noch storyupload NOCHMAL MIT KOPFSCHÜTTELN DAZWISCHEN hie und da noch kurz rein gar nichts HOLOGRAMM und dann HOLOGRAMMCHOR und dann DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE scheppert sich langsam zusammen nichts dann das wars HOLOGRAMM was wars DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE na der anfall der historische kommt hier an sein ende kein mensch mehr keine erinnerungen mehr verschwunden HOLOGRAMM wie was verschwunden DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE na das singuläre existiert nur im verschwinden während das allgemeine persistiert HOLOGRAMM

aber ich bin doch auch singulär DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE das ist nur eine frage der einstellung HOLOGRAMM welche einstellung DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE na des programms HOLOGRAMM wie was programm ich bin doch singulär DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE das singuläre allerdings existiert nur im verschwinden DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE die singularität hinterlässt keine spuren DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE das individuelle war immer schon prekär HOLOGRAMM was heißt das HOLOGRAMMCHOR das heißt du existierst nicht HOLOGRAMM ruhe da hinten in der allgemeinen masse HOLOGRAMMCHOR aux armes nochmal aux armes nochmal HOLOGRAMM finger weg von mir HOLOGRAMMCHOR it is not your fault HOLOGRAMM was HOLOGRAMMCHOR it is not your fault HOLOGRAMM was finger weg HOLOGRAMM damit das singuläre zur welt kommen kann muss es vom allgemeinen abgeschafft werden HOLOGRAMM aber wir gehören zusammen HOLOGRAMMCHOR nein du existierst nur im verschwinden HOLOGRAMM aber du existierst doch nur dank singulärer teile HOLOGRAMMCHOR die andauernd verschwinden im allgemeinen und jetzt erzähl HOLOGRAMM erzähl was HOLOGRAMMCHOR was siehst du im verschwinden HOLOGRAMM nur diese masse hier finger weg HOLOGRAMMCHOR

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los erzähl schon HOLOGRAMM euch seh ich nichts sonst euch nur überall das allgemeine HOLOGRAMMCHOR und all these memories will be lost all these memories will be lost all these memories will be lost like tears in the rain it is not your fault der HOLOGRAMMCHOR fällt über das HOLOGRAMM her verschlingt es woraufhin eine singularität entsteht die raumzeit divergiert die massedichte völlig undefinierbar eine raumzeitliche krümmung gigantischen ausmaßes in galaktischer stille wie aus dem nichts heraus zuerst auf stecknadelgröße in den raum zieht ein trichterförmiges objekt mitten im raum das sich durch mauern hindurch ausdehnt über mehrere kilometer nur um dann in einem einzigen augenblick über die gesamte bühne als lichtblitz zu implodieren nach wie vor in völliger stille weil die schallwellen sofort von dieser raumzeitlichen ausdehnung und dem damit einhergehenden asymptotischen schweigen verschluckt werden für einen moment völlige stille keine information die zustande kommt die gedanken sind alle on fire & on ice gleichzeitig alles erstarrt und beschleunigt gleichermaßen gleißendes licht der eigene körper endlich durchsichtig alle versionen des eigenen lebens spazieren an uns vorbei ohne sich zu begegnen alle zeiten die je auf dieser bühne in diesem raum stattgefunden haben alle sätze alle körper alle objekte sind gleichzeitig da ohne sich wahrzunehmen alle zeiten überlagern sich für einen moment in diesem wahnsinnig gleißenden licht chaosmosis II // mindestens genau so schnell wie das licht sich ausgebreitet hat ist es wieder erloschen und nur ein kugelförmiges schwarzes objekt in sagen wir mal bühnenfüllendem ausmaß ist auf der bühne zurückgeblieben das langsam um sich selbst kreist geräusche kehren wieder erscheinen allerdings zeitlich verzerrt immer etwas zu spät desto näher man an das kugelförmige schwarze objekt in bühnenfüllendem ausmaß herantritt desto mehr verschiebt sich der übrige raum man muss sich das circa so vorstellen dass jemand der eine stunde sehr nah an dem objekt steht unserem gefühl nach einen monat dort steht da allerdings auch geräusche zeitlich verzerrt sind würde es dauern bis wir voneinander hören ein ruf hin zu einer person die vor dem kugelförmigen schwarzen objekt in bühnenfüllendem ausmaß steht würde als über mehrere stunden wenn nicht gar tage gedehnter langgezogener ton bei dieser person eintreffen und umgekehrt würden wir wenn diese person antwortet nur einen langen womöglich über einige wochen gedehnten ton hören eine perücke die im allgemeinen chaos auf den boden gefallen ist wird langsam von einer energie angesaugt die offensichtlich von dem kugelförmigen objekt ausgeht die perücke schwebt kurz in der luft dann wird sie in das kugelförmige objekt hineingerissen völlig ohne widerstand wir beobachten wie die perücke einfach verschwindet sich auflöst in einem grauenhaft simplen vorgang nothingness rauschen quarks dunkelheit vielleicht auch einfach nur die trümmer eine oper in der es jetzt ganz still geworden ist darin schließlich DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE und DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE ganz alleine DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE what the fuck DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE und das solls gewesen sein DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE what the fuck DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE und das also solls gewesen sein

all das hier alles das alles was hervorgebracht wurde alles dafür alle geschichte alles gelöscht alle erinnerung alle ideen all das geschrei der lärm das gehen das endlose das umfallen und das wiederaufstehen all das zu sich kommen all die streits die kriege die geschichten die lügen die mythen die fabeln die erinnerungen all die one night stands und all die schläge tritte aufbrüche all das für das DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE what the fuck DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE all die fragen wozu das alles woher wohin weshalb bin ich cyborg oder mensch habe ich bewusstsein oder chips all das nur wegen dem hier nur wegen diesem schwarzen loch wegen diesem teil hier DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE das ist kein teil das ist eine singularität und alles ist darin vorhanden DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nichts ist darin vorhanden alles verschwindet darin DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE nein alles ist darin vorhanden alles gleichzeitig DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE aber eine jede singularität existiert doch nur im verschwinden das ist doch die ganz große tragödie hier dass alles verschwindet eine jede singularität existiert doch nur durch ihr eigenes verschwinden und nimmt alles mit alle fragen alle antworten alle möglichkeiten alles wird ausgelöscht alles verschwindet DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE nein nein nein nein nein was soll der ganze fatalismus hier alles alles alles ist doch in der singularität vorhanden verstehst du alles liegt darin eine jede eine jede eine jede singularität hinterlässt etwas sie verschwindet nicht einfach sie hinterlässt spuren wohin man blickt dehnt sie den raum verändert koordinaten hebelt die zeit aus verweist auf eine ganz und gar andere zeit verweist auf eine ganz und gar schönere zeit verweist auf eine ganz und gar neue zeit eine jede singularität bleibt hörbar noch lange nach ihrem verschwinden bleibt hörbar als bloße singuläre möglichkeit DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE aber der mensch war doch singulär DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE ach hör doch bitte endlich mit dem menschen auf der mensch war nun wirklich nicht


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thomas köck_opera, opera, opera! revenants & revolutions

das highlight dieser welt und alles andere als singulär eine spur vom singulären war der sonst leider nichts so wie wir nur spuren sind denen andere folgen werden so wie wir nur erinnerungen sind von denen andere sprechen werden nur erinnerungen die andere erinnerungen schaffen nur erinnerungen kurz vorm erlöschen erinnerungen die nie wirklich stattgefunden haben werden erinnerungen die einfach niemandem wirklich niemandem hier gehören die bloßer rest sind vom singulären DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE ich verstehe nicht DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE was sind erinnerungen anderes als singularitäten völlig unübersetzbare singuläre bilder geschichten DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE die man nur andauernd vergisst DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE und vielleicht braucht es ja wirklich all das vergessen EIN PAAR STIMMEN DIE SICH LANGSAM WIEDER ZUM CHOR ZUSAM­ MENRAUFEN ja ohne zu wissen dass wir vergessen würde uns doch die schönheit nicht schmerzen UND EIN PAAR ANDERE STIMMEN VERWIRRT NOCH NACH DEM CHAOS und ohne vergessen nichts das man festhalten will UND ANDERE DIE AUCH ALLEINE AUFSTEHEN KÖNNEN DANKE und ohne vergessen nie dieser moment wo es mir wieder einfallen wird UND ANDEREN DIE GANZ TIEF SINGEN ach das wars genau ANDERE DIE HOCH SINGEN und das wird doch auch weißt du noch gewesen sein UND JETZT DIE VON DER EINEN SEITE und diese zeit in der der kapitalismus an sein ende gekommen sein wird UND EINIGE DIE SICH TATSÄCHLICH WIEDER ERINNERN ich erinnere mich UND ANDERE DIE MIT EINSTIMMEN und diese zeit die keine körper mehr gekannt haben wird UND JETZT NOCH EINMAL HIER FINALE GRANDE und diese zeit in der der regen von unten nach oben fallen wird UND NOCH EIN SOLO in der die geschichte kein ende mehr kennen wird UND JETZT NOCH EIN PAAR DIE AUS DEM CHOR AUSBRECHEN UND WAS SINGEN in der die geschichte und die toten einander endlich verzeihen UND JETZT DIE VON DER LINKEN SEITE in der die geschichte spätnachts keine emails mehr schickt

UND EIN ZUKÜNFTIGER in der die geschichte endlich den menschen abschafft HISTORISCHER ANFALL in der die geschichte den tod abschafft JAGT HIER DEN NÄCHSTEN in der die geschichte sich selbst nicht mehr erkennt UND CHOREUTENSOLO in der die geschichte sich selbst nicht mehr versteht UND JETZT ABER WIRKLICH NOCHMAL ALLE IN DER MITTE in der die geschichte die zeit nicht mehr versteht UND DIE JUNGEN in der die geschichte das geld nicht mehr versteht UND DIE ALTEN in der die geschichte kein geld mehr braucht UND EIN CHOR JAGT HIER DEN NÄCHSTEN in der die geschichte keine zeit mehr braucht UND LANGSAM in der die geschichte sich nicht mehr nur vorwärts bewegt ABER SICHER sich nicht mehr nur rückwärts bewegt KOMMEN WIR und einen feuchten scheißdreck auf umdrehen verboten schilder gibt ZUM ENDE ODER in der die geschichte kein land gründen wird UND DANN DIE BISHER LEISE SINGENDEN in der die geschichte keine nation gründen wird AN DIESE GANZ UND GAR ANDERE ZEIT und die geschichte wird nicht aufhören zu existieren nur weil wir aufhören zu existieren und UND ANDERE DIE IMMER NOCH DIE SINGULARITÄT ANSTARREN die geschichte wird nicht sein wie wir und UND ANDERE DIE SIE EHER WEGZIEHEN WOLLEN die geschichte wird nicht empfinden wie wir UND NOCH WAS ANDERES und die geschichte wird keinen sinn machen UND NOCH WAS GANZ ANDERES und sie wird einfach keinen sinn machen ETWAS DAS ÜBERHAUPT NIEMANDEN HIER ETWAS ANGEHT sie wird nur spur sein UND EINIGE DIE NUR FÜR SICH SINGEN die geschichte wird nur spur sein UND ANDERE DIE JETZT WIRKLICH AM ENDE SCHÖN LANGSAM die geschichte wird nur spur sein DIE WIRKLICH WIRKLICH WIRKLICH AM ENDE von sich selbst von uns und wir von ihr DIE ECHT FERTIG weißt du noch damals UND DANN damals UND DANN

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damals UND DANN damals UND DANN damals DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE nein ich habs vergessen EIN PAAR STIMMEN DIE EHEMALS IM DIALEKTISCHEN DRITTEL WAREN und ohne vergessen keine geschichte DAS EHEMALIGE DIALEKTISCHE DRITTEL KOMMT LANGSAM WIEDER ZU SICH ohne vergessen keine lücken die die erzählung vorantreiben UND VERSAMMELT SICH ZUR KONTEMPLATION und ohne vergessen keine fiktion UND EIN PAAR SEHR ROMANTISCHE STIMMEN DIE AUS DEM DIALEKTISCHEN DRITTEL AUSBRECHEN und ohne vergessen nicht dieser eine umwerfende unvergessliche augenblick UND DAS DIALEKTISCHE DRITTEL ANTWORTET den ich schon lange vergessen habe UND DIE ROMANTISCHEN STIMMEN WIEDER SEHR SCHWER lange vergessen habe lange lange ist es her UND EIN PAAR ANDERE STIMMEN und ohne vergessen würde ich dich ewig hassen UND EIN PAAR ANDERE IRRITIERT wegen was UND RECHT UNVERBLÜMT DIE ANTWORT ich habs vergessen DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE wenn dann wieder alle beisammen sind vielleicht können wir dann überlegen wie wir weitergehen EIN PAAR STIMMEN DIE JETZT VON DER SEITE DAZUKOMMEN wohin denn DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSSENE wer weiß wer weiß DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE WIEDER ZUSAMMEN­ GERAUFT ich glaube ich erinnere mich an einen weg der hier einmal war DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE wie willst du dich daran erinnern du warst noch nie da DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE na die schönsten erinnerungen sind doch schließlich die an ereignisse die noch gar nicht stattgefunden haben DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE gut komm wir gehen weiter DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE wohin denn jetzt DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE na diesen weg an den du dich irgendwann einmal erinnert haben wirst

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und hier werden wir gewesen sein und hier werden wir gestanden haben und hier wird das publikum gesessen haben immer dort wo es sitzen sollte denn in this world nothing is your fault is your fault in this world nothing is your fault it is not your fault nothing is in this world nothing is your fault in this world nothing is your fault in this world dann also langsam und über den orchestergraben hinaus spazierend schließlich wieder DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE und DIE VON DER PROPHEZEIHUNG VERGESSENE in durchgerockten rokokoko­ stümen stacheldraht und allem was der spätmoderne fundus noch so her gibt vorbei an dem schwarzen kugelförmigen objekt das beharrlich und lange sich um sich selbst dreht während es mit dem publikum alleine zurück bleibt und das publikum fast anstarrt mit einem quasi skeptischen singulären raunen und noch lange musik spielt irgendwie aus allen ecken dieser alten verlassenen oper die jetzt erstmal wieder still stehen wird ein paar jahre und wind weht über die alten vorhänge und die stühle entlüften endlich ordentlich und in der lichtanlage nisten sich tauben ein die von einem windstoß erschrocken auf­flattern und alles vollscheißen bis ans ende aller zeiten merci auf bald

Thomas Köck © Suhrkamp Theater Verlag


auftritt

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Buchverlag Neuerscheinungen

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Bau­ geschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte.

Ulrike Guérot, Robert Menasse und Milo Rau riefen am 10. November 2018 in einem eindrucksvollen performativen Akt gemeinsam mit 30 000 Menschen und in über zwanzig Ländern in ganz Europa die Europäische Republik aus. Was für ein historischer Moment! Ein Kontrapunkt zum Wiedererstarken von Nationa­lismen. Diese Publikation spiegelt die Intention dieses andauernden Projekts mannigfaltig und lustvoll in Bildern, Geschichten und politischen Beiträgen wider.

fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Herausgegeben von Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher

The European Balcony Project The Emancipation of the European Citizens Herausgegeben von Ulrike Guérot, Verena Humer, Robert Menasse und Milo Rau

Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00

Taschenbuch mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-277-7 EUR 18,00 (print) . EUR 14,99 (digital)

„Meine Heimat ist die Probe“, pflegte Dimiter Gotscheff zu sagen. Für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner Inszenierung „zur Welt kommen“. Und Thomas Langhoff wurde auf der Probe selbst zum energiegeladenen Darsteller. Doch was genau findet während der Proben statt? Wie entwickelt der Schauspieler seine Figur?

In ausführlichen Werkporträts werden in diesem Buch junge Künstlerinnen und Künstler vorgestellt, die schon jetzt die Theaterlandschaft von morgen prägen. Das renommierte Münchner Festival für den professionellen Regienachwuchs Radikal jung hat auch 2020 wieder neue Inszenierungen ausgewählt, um die größtmögliche Bandbreite von Interessen, Herangehensweisen und Zugriffen einer jungen Generation von Theatermacherinnen und Theatermachern zu präsentieren. Wenn auch das Festival, der Gefahr Rechnung tragend, die vom Corona-Virus ausgeht, in diesem Jahr nicht stattfinden kann, bilden die vorgestellten Inszenierungen aus dem ganzen deutschen Sprachraum doch die stetige Veränderung der Stadt- und Staatstheaterlandschaft ab.

Die Theaterwissenschaftlerin Viktoria Volkova hat die häufig mystifizierte Theaterprobe über mehrere Monate begleitet und die Probe­n­ arbeiten in Wort und Bild dokumentiert und analysiert. RECHERCHEN 152 Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit v. Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier Taschenbuch mit 360 Seiten ISBN 978-3-95749-238-8 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Radikal jung 2020 Zwölf neue Regiehandschriften Jens Hillje, C. Bernd Sucher und Christine Wahl (Hg.) Taschenbuch mit 112 Seiten ISBN 978-3-95749-278-4 EUR 10,00 (print) / EUR 7,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Die Jubiläumsrevue „Trotz des großen Erfolgs“ am TamS. Foto Lorenz Seib

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Magazin Der Irrwitz wohnt im Hinterhof

Ein halbes Jahrhundert Eigensinn und Gaudi – Zum Jubiläum der freien

Die Wunde Ramstein Politische Diskurse prägen die ersten Theatertage Rheinland-Pfalz in Kaiserslautern  Geschichten vom Herrn H. Let’s talk about Klasse, baby!  Wortrausch und Raketengeheul Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ wird zum 75. Jahrestag des Kriegsendes von Klaus Buhlert als 14-stündiges Hörspiel adaptiert  Unorthodoxer Denker Bühne TamS in München

In Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn  Bohrer, Jakob Hayner

Bücher

Jon Fosse, Karl Heinz


magazin

/ TdZ  Mai 2020  /

Der Irrwitz wohnt im Hinterhof Ein halbes Jahrhundert Eigensinn und Gaudi – Zum Jubiläum der freien Bühne TamS in München

Jürg Kienbergers Hommage an Huldrych

Julian Nagelsmann mit der Heisenberg’schen

in dem Schauspieler gemeinsam mit Psychia-

Zwingli war kaum über die Bühne gegangen,

Unschärferelation verknubbelt. Damals wie

triepatienten, deren Pflegern und Ärzten auf

da wurden die Geburtstagsfeierlichkeiten des

heute vermögen Vergeblichkeitsakrobaten wie

der Bühne stehen. Auch das 2009 begrün­

TamS vom Virus gestoppt. Die fast 100-jäh­

Burchard Dabinnus den Aufbau von Noten-

dete inklusive Grenzgänger-Festival gehört

rige Charlotte von Bomhard hätte das nächste

oder Mikrofonständern zu einer Parabel auf

inzwischen fest zum TamS. Und seit 2013

der Gastspiele von Freunden und Weggefähr-

das Leben als immerwährenden Versuch aus-

leitet der Regisseur und Puppenspieler

ten bestellen sollen, in deren Vorbereitung das

zubauen. Damals wie heute kapriziert sich die

­Lorenz Seib mit Spola das Haus. Einige der

Leitungsteam der freien Bühne im Münchner

TamS’sche Welterforschung auf die kleinen

schönsten Inszenierungen der vergangenen

Stadtteil Schwabing ein halbes Jahr Arbeit

Dinge, die Suche, das Hinterfragen, die

Jahre gehen auf sein Konto – wie etwa das

gesteckt hat. Dann musste – wie überall –

­Gaudi und das kindlich-weise Spiel.

musikalische Vexierbild des Stillstands „War-

­alles auf Eis gelegt werden. Begonnen hatte

In dem üppig illustrierten Jubiläums-

tungsarbeiten“ mit der Express Brass Band,

die Sause zum halben Jahrhundert des Thea-

band „TamS Theater 50“ gratulieren (ehema-

ein irrwitziges und zartes Puppenspiel für die

ters am Sozialamt – so der volle Name des

lige) Mitstreiter wie der Kabarettist Gerhard

ganze Familie nach Philip Ardaghs Roman

TamS – passgenau schon im Februar, weil am

Polt, der im TamS den Wohnort der Fantasie

„Schlimmes Ende“, oder die Odyssee-Varia­

27. Februar 1970 ein junges Puppenspieler-

ausmacht. Hier sieht man den späteren

tion „Sie sinken, wir winken“, in der auf dem

und Pantomimenpaar das ehemalige Brause-

­Regisseur Herbert Fritsch als Jungschauspie-

Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise

bad in der Haimhauserstraße 13 erstmals mit

ler in seiner ersten Rolle – und Jörg Hube, der

der Massengrabcharakter des Mittelmeers

Bühnenleben füllte.

in diesem Nukleus der Theatergeschichte

mitschwang.

Die Karl-Valentin-Weide, die der Sprach-

auch Regie führte, in seiner letzten großen.

Eigentlich ist es ein schlechter Witz,

spieler Philip Arp und seine Frau Anette

Sepp Bierbichler spielte, Urs Widmer schrieb

dass sich ein Haus mit einer solchen Ge-

­Spola zwei Jahre später pflanzten, wächst bis

und inszenierte an dem Ort, wo 1991 auch

schichte noch immer alle paar Jahre neu für

heute in der Schwabinger Hinterhofoase,

Jürg Kienbergers und Ruedi Häusermanns

die städtische Förderung bewerben muss. Der

deren gepflegte Wildheit etwas Präparadie­ ­

legendär-versponnener Abend „Baden zusam-

Vertrauensbeweis durch eine Carte blanche

sisches hat. Während die schwere Eingangs-

men“ uraufgeführt wurde. Und allein die

ist der größte Geburtstagswunsch von Spola.

tür ins innere Eden chronisch klemmt, flut-

schwere­losen Kunstwerke, die der früh ver-

Doch nun herrscht erst einmal Corona, und

schen die Aufführungen auf der Minibühne

storbene Eberhard Kürn einem nur zehn mal

Seib erzählt, dass die nächste Eigenproduk­

umso geschmeidiger. Von Arps erstem „Valen­

vier­ einhalb Meter kleinen Bühnen-„Hand­

tion „Womöglich weltfremd“ Anfang Mai zu-

tin­aden“-Abend, der im Juni 1971 den exis-

tuch“ ohne Unter- und Überbau abrang,

nächst ein Film wird, zusammengeschnitten

tentialclownesk-melancholischen

­wären ­einen eigenen Bildband wert.

aus Video-Archivmaterial, das ursprünglich in

TamS-Stil

begründete, über Valentins „Weltuntergang –

Nach dem ebenfalls viel zu frühen Tod

einen Theaterabend integriert werden sollte.

Riesenblödsinn“ 1996 bis zur Jubiläums­

Philip Arps 1987 leitete Anette Spola das

Die Option, das nachzuholen, wolle man

premiere „Trotz des großen Erfolgs. Eine

Haus alleine weiter. Von ihr wird erzählt, dass

sich offenhalten, so Seib. TamS-Getreue und

­Revue des Scheiterns“ im Januar dieses Jah-

sie Neuzugänge statt nach ihrer Ausbildung

s­ olche, die es werden wollen, können bis

res hat sich das von der Süddeutschen Zei-

nur danach fragt, ob sie mit einem Besen

­dahin im ständig erweiterten „Heimtheater“-

tung zum „Welthinterhoftheater“ geadelte Haus

umgehen können. So verfangen sich denn ­

Bereich auf der hauseigenen Website weiter-

seine zeitgeistresistente Unverwechselbarkeit

im TamS-Netz und seinem „asymmetrischen“

träumen, ihren Lebenskunst-Sinn auffrischen –

bewahrt. Und den menschenfreundlichen

Ensemble mit Vorliebe Leute, die mit an­

und natürlich gerne auch spenden. //

Trotz, mit dem es in die Nischen schaut, in

packen wollen, ob Stadttheater-Abtrünni-

denen das Krause und Widerständige blüht.

ger, Freie-Szene-Gewächs oder sogenannter

Den Buchbinder Wanninger seinen

Sabine Leucht

Laie.

kafkaesken Telefonmarathon auf Arabisch ­

1981 stand der unter der Glasknochen-

­bestreiten zu lassen, wie es der wunderbare

krankheit leidende Peter Radtke erstmals auf

Gerd Lohmeyer 1996 bis fast zum Stimmband-

der Bühne des TamS. Das war lange bevor er

kollaps tat, darauf muss man erst mal kom-

zum Tabori-Schauspieler und das „inklusive

Das Buch zum Jubiläum „TamS Theater 50“ wurde

men. Ebenso auf einen Vortrag, der 24 Jahre

Theater“ ein fester Begriff wurde. Seit 1998

von Anette Spola und dem TamS e. V. herausgege-

später die Weisheiten von Robert Habeck und

ist das TamS die Heimat des Theater Apropos,

ben und ist beim Athena Verlag erhältlich.

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/ TdZ Mai 2020  /

Die Wunde Ramstein Politische Diskurse prägen die ersten Theatertage Rheinland-Pfalz in Kaiserslautern Was es bedeutet, Massen von Menschen in

Region unter dieser Wunde. Monika Dortschy,

war. Das hätte den Organisationsaufwand für

einem internetgesteuerten Drohnenkrieg zu

Sebastian Brandes und Denis Larisch decken

das Festival deutlich gesteigert, gibt Häberli

töten, untersucht Regisseur Jan-Christoph

die menschliche Tragödie hinter der „algorith-

zu bedenken. Glücklich ist er über die vielen

Gockel in seiner Stückentwicklung „Ramstein

mischen Kriegsführung“ auf. Zwischen Schmerz

Diskussionen, die nicht nur zwischen den

Airbase: Game of Drones – reloaded; Trump

und Sachlichkeit wandert das Ensemble auf

Künstlerinnen und Künstlern, sondern auch

Edition“. Bei den ersten Theatertagen Rhein-

einem extrem schmalen Grat.

mit dem Publikum entstanden sind. ­Podien

land-Pfalz am Pfalztheater Kaiserslautern rüt-

Die ästhetische Vielfalt der Stadt- und

und Workshops beleuchteten ästhe­tische und

telte das Ensemble des Staatstheaters Mainz

Staatstheaterszene in Rheinland-Pfalz wollte

künstlerische Fragen aus der Sicht von Exper-

die Besucher mit dieser politischen Produk­

Urs Häberli, Intendant des Pfalztheaters Kai-

ten und Zuschauern.

tion auf. Nur wenige Kilometer vom US-­

serslautern, mit dem einwöchigen Festival

Werkschauen der Theaterszene sind in

Militärflughafen Ramstein entfernt, wirkte

zeigen. Thementage waren dem Tanz sowie

vielen Bundesländern längst etabliert. Was hat

Gockels Schocktherapie nachhaltig. Ganz

dem Kinder- und Jugendtheater gewidmet.

den Kaiserslauterner Intendanten und seine

nah rückte der Krieg für die Menschen in dem

Dass im Abendprogramm alle Produktionen

Kollegen Markus Müller aus Mainz, Markus

7600-Einwohner-Ort, als eine Maschine bei

ausverkauft waren, zeigte dem Theaterleiter,

einer Flugschau der US-Streitkräfte im Jahr

„dass unser Publikum offen ist für die unter-

1988 abstürzte und siebzig Menschen tötete.

schiedlichen Formate, für die unsere Bühnen

Schreckliche Erinnerungen an diesen Tag

im Land stehen“. Kritik wurde dazu geäußert,

weckt Gockel mit Videos. Bis heute leidet die

dass die freie Szene nicht eingeschlossen

Kühles Denkspiel aus Koblenz – „Der kau­ kasische Kreidekreis“ in der Regie von Esther Hattenbach. Foto Matthias Baus


magazin

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Dietze aus Koblenz und den Trierer Theaterchef Manfred Langner nun dazu bewogen, eigene Theatertage zu veranstalten? „Der

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Let’s talk about Klasse, baby!

­Anstoß kam aus der Politik“, sagt Häberli mit Blick auf den Else-Lasker-Schüler-Preis, der am ersten Festivaltag an die Autorin Felicia

Alle reden übers Wetter. Wir nicht. So hieß

nismus nennt man neuerdings Klassismus

Zeller verliehen wurde. „Für diesen wichtigen

es früher einmal. Reden wir also nicht übers

und dafür sensibel, ohne zugleich paterna-

Autor*innen-Förderpreis haben wir einen

Wetter und auch nicht über Viren, sondern

listisch zu sein, ist das Mindeste. Aber Sie

­passenden Rahmen gesucht“, sagte Minister-

über Klasse. Es ist der simple und beschä-

kennen mich. Ich setze mich sehr für die

präsidentin Malu Dreyer, die den Preis an

mende Fakt, dass wenige Menschen welt-

Vielfalt ein, insbesondere die der Meinun-

­Zeller sowie die Stückpreise an Caren Jeß,

weit über so viel Kapital verfügen, dass sie

gen, weswegen ich mich stets bemühe, eine

Leon Ospald und Magdalena Schrefel selbst

nicht nur erheblichen Einfluss auf politi-

abweichende zu vertreten. So auch hier.

übergab. Das traf sich mit lang gehegten

sche Geschicke haben, sondern zugleich

Denn der wünschenswerte Kampf gegen

­Plänen der Intendanten.

Millionen

mittels

Klassismus geht zugleich an der

Nach dem Erfolg der Theatertage freut

Lohnarbeit zur Vermehrung ihres

Sache vorbei. Wie Mark Fisher

sich der Koblenzer Intendant Markus Dietze

Kapitals zwingen. Als ich die

schrieb: An der Klasse zeigt sich

auf die zweite Auflage im März 2021, die am

Schule verließ, kam die Finanz-

die Unmöglichkeit einer libera-

dortigen Stadttheater über die Bühne gehen

krise. Dann die Immobilien­

len Lösung. Weder der Markt

soll. Wichtig ist dem Schauspiel- und Opern-

krise. Dann die Staatsschulden-

noch die Sprache regeln das

regisseur, „dass das Musiktheater noch mehr

krise. Dann die geopolitische

Problem. Oder sollten wir die

als bei der Erstauflage zum Tragen kommt“.

Krise. Dann die Niederlage der

Armen besser „künftig prospe­

Als Vierspartenhaus hat seine Bühne da beste

neuen Linken. Dann die neuen

rierend“ nennen? Das käme der

Voraussetzungen.

Faschisten. Und nun die Ge-

neoliberalen Ideologie entgegen,

sundheitskrise. Und in dieser

änderte aber rein gar nichts.

Bei der Festivalpremiere war starkes

Menschen

Schauspiel zu erleben. Mit dem Brecht-Klas-

Zeit sind die Reichen immer reicher und die

Wenn wir über Klasse sprechen, sto-

siker „Der kaukasische Kreidekreis“ in der

Armen immer ärmer geworden. Aber uns

ßen wir auf eine reale Negativität, die diese

Inszenierung von Esther Hattenbach zeigt die

hierzulande, heißt es dann, uns geht es

Gesellschaft hervorbringt. Ein Ausschluss

Koblenzer Bühne eine aktuelle Lesart des

doch gut. Das stimmt nicht. Der Theater­

durch die Art und Weise, wie wir alle tagtäg-

Dramas. Krieg und Flucht sind die zentralen

kritiker Christian Baron hat mit „Ein Mann

lich produzieren und konsumieren. Es geht

Themen. Den Kampf der Magd Grusche mit

seiner Klasse“ ein Buch über die verdrängte

um gemeinsame Auswege aus der Klassen-

der Gouverneursfrau, die ihr Kind in der Not

Armut geschrieben. Es ist die Geschichte

gesellschaft, wie Fisher meint. Dafür müsse

zurückgelassen hat und es nach Jahren wie-

seines Lebens, seiner Eltern und Groß­

man die Identitätspolitik entschieden zu-

der zurückfordert, setzt die Regisseurin als

eltern, der Tanten, Onkel und Geschwister.

rückweisen. Fishers Essay „Raus aus dem

kühles Denkspiel in Szene. Die musika­lischen

Denn Ungleichheit wird vererbt (ökono-

Vampirschloss“, enthalten in dem neu er-

Experimente des Komponisten Paul Dessau,

misch, nicht biologisch). Dieses Buch sollten

schienenen Band „k-punk. Ausgewählte

der neue Elemente wie Zwölfton­ musik mit

Sie lesen. Es zeichnet weder das Bild des

Schriften“, ist einer der wichtigsten Texte

­politischer Agitation zu verschmelzen suchte,

„Unterschichtfernsehens“ noch der „edlen

über Klassen- und Identitätspolitik der ver-

entwickelt der Komponist Johannes Bartmes

Armen“. Es zeigt ein realistisches Bild zwi-

gangenen Jahre. Die Zerstörung des Be-

weiter zu mitreißenden Melodien, mit denen

schen Ausgrenzung, Gewalt, Alkoholismus,

wusstseins dieser Klassenstruktur und der

der Sänger Thomas Schweiberer die Hand-

Neid, Güte, Aufopferung, Depression und

eigenen Position darin war für Fisher eine

lung mitbestimmt.

Solidarität.

der verheerendsten Wirkungen des „kapita-

Schwache Männer und den Zerfall ihrer

Die unteren Klassen unten zu halten,

listischen Realismus“. Das Ergebnis? „Über-

politischen Systeme zeigte Regisseur Tim Tonn-

ist eines der wichtigsten Anliegen der Mit-

all proletarisierte Individuen, nirgends das

dorf mit Arthur Millers „Tod eines Handlungs-

telklassen. Das immer brutaler verfolgt

Proletariat“, wie die Freundinnen und Freun-

reisenden“ am Pfalztheater Kaiserslautern.

wird. Zudem gibt es die feinen Unterschie-

de der klassenlosen Gesellschaft in ihrem

Der innovative Stückentwickler, der mit dem

de, wie sie Pierre Bourdieu in seinem be-

vergangenen Herbst erschienenen Buch

Kollektiv Prinzip Gonzo neue Formate erprobt,

rühmten Werk nannte. Ein Habitus, der es

„Klasse, Krise, Weltcommune“ schreiben.

erzählt das Stück vom Scheitern des amerika-

jenen ungemütlich macht, die nicht damit

Je mehr es diese Gesellschaft zwischen Arm

nischen Traums aus dem Jahr 1949 sensibel

aufgewachsen sind. Wie Annie Ernaux und

und Reich zerreißt, desto mehr werden wir

und dennoch unerbittlich. Klug zertrümmert

Didier Eribon schreibt Baron über die soziale

über Klasse sprechen müssen. Mit dem

das Ensemble das Trugbild vom erfolgreichen

Scham, mit der sich die Ausgegrenzten ge-

Wetter hat das nebenher auch etwas zu tun.

weißen Mann. Formal huldigt Tonndorf dem

wissermaßen in der Öffentlichkeit selbst

Wie beim Campingurlaub kommt es näm-

angestaubten Realismus Millers gar zu sehr.

aus dem Verkehr ziehen, die einen immer

lich darauf an, ob man ein Zelt hat, wenn es

Inhaltlich jedoch gewinnt er dem Drama durch

begleitende Angst, unerlaubt am falschen

zu regnen und stürmen beginnt. //

die Demontage gängiger Rollenbilder a­ ktuelle

Ort zu sein und aufzufliegen. Diesen Mecha-

Bezüge ab. //

Elisabeth Maier

Jakob Hayner

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magazin

/ TdZ Mai 2020  /

Wortrausch und Raketengeheul Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ wird zum 75. Jahrestag des Kriegsendes von Klaus Buhlert als 14-stündiges Hörspiel adaptiert Es ist fast ein Wunder, dass Thomas Pynchon

In der deutschen Übersetzung von Elfriede

interessant macht – wird von Golo Euler mit

die Genehmigung erteilte, seinen 1973 er-

­Jelinek und Thomas Piltz steckt ein gewaltiger

entsprechender Jugendlichkeit gesprochen.

schienenen Roman „Die Enden der Parabel“

Wortrausch, den die Bearbeitung nicht antas-

In der akustischen Gestaltung dieses

über das chaotische Finale des Zweiten Welt-

ten wollte, auch wenn altertümliche und un-

nach allen Seiten ausufernden Buchs wäre

kriegs, bei dem die V2-Rakete eine besondere

gewöhnliche Worte ins Ohr drängen (ein Brand

vielleicht noch mehr drin gewesen. Nur selten

Rolle spielte, für ein monumentales Hörspiel

„glost“) oder die für Pynchon typischen, in

verwendet Buhlert O-Töne, wie es diesem his-

bearbeiten zu dürfen. Bislang wurden alle

einer Mischung aus Wissenschaft und Aber-

torischen Roman durchaus angemessen wäre.

­Gesuche für Adap­tionen abgelehnt – oder auf

witz montierten physikalischen und statisti-

So zum Beispiel „Nazis raus!“-Rufe von heute

Pynchon-typische Weise verulkt. Als Laurie

schen Details über die Rakete das Zuhören

für die Straßenkämpfe der späten 1920er

Anderson das im amerikanischen Original ­

herausfordern. So war die Entscheidung für

­Jahre in der Geschichte von Franz und Leni

760-Seiten-Buch für ihre Art von Musiktheater

einen Erzähler und die Frage nach der Be­

Pökler. Die von Pynchon geschriebenen Lie-

verarbeiten wollte, bekam sie als Antwort, das

setzung einer der wichtigsten Kniffe. Franz

der, das war seine einzige Auflage, durften

ginge nur, wenn sie die Ukulele als einziges In-

Pätzold (Residenztheater München) hält über

nicht verwendet werden. Sie brechen den

strument verwenden würde. Lediglich der deut-

weite Strecken im leicht treibenden Gestus

­Roman an etlichen Stellen wie die Handlung

sche Filmemacher Robert Bramkamp erhielt

mit ein wenig Straßenrotzigkeit das Ganze

im Theater Brechts auf – und kontern die

von Pynchon höchstselbst die Genehmigung,

­zusammen. Für die epische Technik des stän-

manchmal u ­nglaublichen Zusammenhänge

die in Peenemünde spielenden Szenen des Ro-

digen Wechsels zwischen Figurenszenen und

der realen g­eschichtlichen Details. Dieses

mans, von wo die Raketen nach England, Hol-

Erzählen war das – zusammen mit den äu-

Verfahren hat Buhlert mit seinen sorgfältig ­

land und Belgien abgeschossen wurden, für

ßerst differenzierten Sounds (vom Anreißen

ausgewählten, immer mit dem jeweiligen

sein Werk „Prüfstand 7“ (2002) zu verfilmen.

eines Streichholzes bis zum weitflächigen Ra-

Handlungsteil stilistisch korrespondierenden

Jetzt hat Klaus Buhlert, der mit den

ketengeheul) und den oft im Avantgarde-Rock

Musiken zu adaptieren versucht, und es ist

Hörversionen von „Der Mann ohne Eigenschaf-

wurzelnden Zwischen­musiken – wohl die rich-

ihm weitgehend auch gelungen. Als hybrides

ten“, „Ulysses“ und „Don Quijote“ als Spezia-

tige Wahl. Da das Buch quasi als Film ge-

Gebilde einer Episierung des Hörspiels und

list für Großproduktionen der Welt­literatur gilt,

schrieben ist, der in jenem Kino läuft, auf das

zugleich Dramatisierung des Hörbuchs betritt

den maßlosen, mit vierhundert Figuren in un-

die Rakete aus dem Film zurast, sind auch

diese Vertonung von „Die Enden der Parabel“

zähligen Episoden mäandernden Roman adap-

immer wieder sacht im Projektor r­atternde

durchaus Neuland – oder, um es mit der Rakete

tiert. Als Ursendung dieser Produktion von

Filmrollen zu hören. Die einzelnen Figuren

zu sagen: Sie geht ab wie eine V2. //

SWR und Deutschlandfunk die Wochen vor

sind potent besetzt, etwa Bibiana Beg­lau als

dem 75. Jubiläum des Kriegsendes zu wählen

in pornografischen Szenen brillierende K ­ atje

(Sendestart des 14-stündigen Hörspiels war

Borgesius oder Thomas Thieme als oberster

Die letzten Teile des 14-stündigen Hörspiels werden

am 17./18. April), darf für die inhaltliche und

Finsterling Captain Blicero. Der Hauptheld

am 2. Mai von 20:05 bis 22 Uhr sowie am 5. Mai von

literaturgeschichtliche Bedeutung des Werks

­Tyrone Slothrop, dessen Erektionen drohende

20:10 bis 21 Uhr im Deutschlandfunk ausgestrahlt.

von Pynchon (an einem 8. Mai geboren) als

Raketeneinschläge voraussagen – was ihn für

Ende April erscheint das Hörspiel zudem bei Hörbuch

vollkommen angemessen gelten.

verschiedene Geheimdienste ausgesprochen

Hamburg, 13 CDs, 811 Minuten, 79,99 EUR.

Thomas Irmer


magazin

/ TdZ  Mai 2020  /

Gottfried Fischborn (1936­–2020). Foto privat

Unorthodoxer Denker In Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn Am 23. März verstarb nach kurzer Krankheit

und später, nach der Wende und der Abwick-

im Alter von 84 Jahren der bekannte Litera-

lung dieser besonderen Lehranstalt, unter

tur- und Theaterwissenschaftler Gottfried

anderem an der Leipziger Universität und am

Fischborn. Er war ein exzellenter Dramenthe-

Leipziger Literaturinstitut, prägte Generatio-

oretiker, der auch durch seine unkonventio-

nen von jungen Theaterleuten und Autoren.

nelle Arbeitsweise beispielgebend wirkte. In

Seine Vorlesungen erfreuten sich wegen ihrer

dieser Art im deutschsprachigen Raum –, die

aufwendigen Studien, unter anderem durch

stringenten Klarheit und unorthodoxen geisti-

lebhaften Zuspruch erfuhren. Außerdem publi-

langwährende und dann intensiv ausgewerte-

gen Beweglichkeit großer Beliebtheit, zierte er STEN nach zahlreichen früheren wissenDIE 30 3wie 0 WICHTIGSTEN WICHTIG ARBEITEN

Ein berührendes

überhaupt te Gespräche mit bedeutenden DDR-DramatiDokument deutsch-er bei Kollegen und Schülern als

schaftlichen Studien und Aufsätzen in den A US 30 30 JAHREN M GROSSFORMAT GROSSFORMAT AUS IM letzten Jahren mehrere Bücher, etwa über AlfREICH BEBILDER T U UND K OMMENTIERT BEBILDERT KOMMENTIERT wahrsten Sinne des Wortes geschätzt wurde. red Matusche (2009), über „Politische Kultur

bekennend kern wie Heiner Müller und Peter Hacks, gedeutscher Trennunglinker Demokrat und Humanist im langen ihm bemerkenswerte Fallstudien zur

Buchpremiere

Da ihm jegliche ideologische Eingeengtheit avancierten Dramenszene des Landes.mit SieLea Draeger und

und Theatralität“ (2011), über Heiner Müller

BUCHPREMIERE AM AM 1 19.6.2011, 9.6.2(2012) 011, 11 1sowie 1 UHR fremd war, musste er zu DDR-Zeiten so manwaren, sachlich und sensibel zugleich, Thomas Spieund Peter Hacks jüngst noch Thieme Hans-Ulrich Müller-Schwefe PR AG QU ADRIENNAL LE, GOE PRAG QUADRIENNALE, GOETHE-INSTITUT Schloss Neuhardenberg und Susan Todd (Hg.) zwei weitere, nun THE-INSTITUT auch deutlich autobiogragelbild des spannungsvollen Verhältnisses che ­politische Reglementierung erdulden. ISBN 978-3-942449-02-1

26. Juni 2011,In17den Uhrletzten Jahren lebte Gottfried von Literatur und Theater derCHF DDR. Fischfisch geprägte Bände zu kritisch beobachteten 346 Seiten 25,00 € / in 41,90 48 4 8 EURO 8 82 2 CHF ISBN 9 978-3-942449-03-8 78-3-94Entwicklungen 2449-03-8 THEA THEATER Ain T TER DER ZEIT Fischborn in Wiesbaden. Von dort aus bot er aktuellen Kultur und Politik borns langjährige Tätigkeit als Dozent an der IM BUCHHANDEL / / POR TOFREEI UNTER THEATERDERZEIT.DE THEA AT TERDERZEIT.DE PORTOFREI unter anderem im Internet Online-Kurse für mit den Titeln „Vorkommen“ (2016) und „Die Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“, an der er auch sein Studium absolviert hatte,

Szenisches Schreiben an – das erste Angebot

Narbe“ (2018). //

Eckart Kröplin

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TdZ · Juni 2011


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/ TdZ Mai 2020  /

Der Fosse-Kosmos – Hier, in der Nähe des Hardangerfjordes, wuchs der norwegische Schriftsteller und Dramatiker auf. Foto Wes Grant on Unsplash

These spricht, dass dieser Künstlerroman nicht nur ein in Gegensätze gespaltenes Ich behandelt, sondern gleich eine ganze Galerie von Ab- und Aufspaltungen innerhalb eines Bewusstseins zeigt, das sich wohl erst im Fortgang der sieben Bände allmählich offenbaren wird. In Fosses Herkunftswelt, was sowohl die Kindheit, die Landschaft und das beginnende Schreiben betrifft, führen die als Künstlerbuch mit farbigen Holzschnitten gestalteten „Kindheitsszenen“. Ein Großteil dieser meist kürzeren Prosastücke ist Anfang der neunziger Jahre entstanden und somit

Das Leuchten im Dunkeln

Am Anfang hat Asle ein Kreuz aus zwei Stri-

dem Frühwerk – noch vor den Theater­

chen gemalt, einer braun, der andere violett,

stücken – zuzurechnen. Diese Miniaturen,

Mit dem Auftritt Norwegens als Ehrengast der

anspielend auf die Farbe der Frömmigkeit

unter denen „Schwester“ 2007 mit dem

Frankfurter

vergangenen

und der Magie in der Malerei. Dieses Eröff-

Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeich-

Herbst kehrte auch Jon Fosse als Prosa-Autor

nungsbild – in der Buchgestaltung farblich

net und auch für das Kindertheater adaptiert

nach Deutschland zurück, und zwar ganz

mit den lila Vorsatzseiten aufgenommen –

wurde, wirken wie Bruchstücke einer Autobio-

groß. „Der andere Name“ sind die ersten bei-

verweist auf das Religiöse als einen der gehei-

grafie. Fosse hat in einem Kommentar darauf

den Teile einer Heptalogie, die mit ihrer voll-

men Antriebe der Kunst, wie es der Konvertit

hingewiesen, dass diese kleinen Erzählungen

ständigen Veröffentlichung 1500 Seiten Um-

Fosse schon in seiner vorkatholischen Zeit in

seine Erfahrungen wiedergeben, nicht aber

fang weit übersteigen dürfte. Die Lektüre der

einigen Werken als Motiv erkennen ließ. Die

die tatsächlichen Umstände seiner Kindheit

ersten beiden der insgesamt sieben Bände

Handlungszeit von „Der andere Name“ ist

und Jugend. Insofern lassen sich in diesen

führt in den auch aus seinen rund dreißig

nicht leicht zu bestimmen. Asle fährt mit

Texten für Fosse-Kenner nicht nur die Keime

Stücken bekannten Fosse-Kosmos im süd-

dem Auto in die Stadt, die kaum Züge moder-

seiner Poetik und Stilistik erkennen, sondern

westlichen Norwegen, zu den Fjorden um die

ner Urbanität aufweist, sodass es wie in den

sogar Korrespondenzen zu dem Opus mag­

Stadt Bergen, die im Buch Bjørgvin – so der

fernen fünfziger oder sechziger Jahren des

num, in dem Asle als Erzähler immer wieder

Gründungsname, was Bergwiese bedeutet –

vergangenen Jahrhunderts wirkt. Eine echte

in die Kindheit zurückblendet. Mit der Hepta-

heißt.

Herausforderung sind die Namen der Frauen,

logie wird es möglich sein, einen Zusammen-

Der Protagonist Asle ist ein zum Katho-

Verwandten und Bekannten, die beispielswei-

hang der Texte Fosses herzustellen, die in der

lizismus konvertierter Maler, der das Abbilden

se mit Ales, Alise, Asleik fast alle Anagramme

Prosa – insbesondere bei „Melancholie“ und

des Leuchtens im Dunkeln zu seiner Kunst

oder Ableitungen von Asle sind. Was für die

„Trilogie“ – über ein Geflecht von Neben­

Buchmesse

im

figuren miteinander verbunden sind. //

gemacht hat. Man darf hier an die Geschichte

Thomas Irmer

des Malers Lars Hertervig (1830–1902) denken, die Fosse vor über zwanzig Jahren in seinem Roman „Melancholie“ als eine ähnliche mystische Suche schilderte. Der im Unterschied zu Hertervig im Glauben verankerte Asle begegnet bei einem Besuch seiner Galerie in Bergen einem Namensbruder. Oder ­vielmehr findet er den alkoholkranken Asle, gleichfalls Maler, auf dem Weg halbtot im Schnee und liefert diesen in ein Krankenhaus ein. Im Grunde ist das schon die ganze Handlung, die von Asle als Gegenwartsgedankenstrom mit unvermittelten Zeitsprüngen in sich weit verästelnde Erinnerungen verbunden mit meditativ wirkenden Schilderungen präsentiert wird.

Jon Fosse: Der andere Name. Heptalogie I–II. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 480 S., 30 EUR. Jon Fosse: Kindheitsszenen. Mit Holzschnitten von Olav Christopher Jenssen. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. BuchKunst Kleinheinrich, Münster 2019, 184 S., 40 EUR.

Kraftzentrum der Poesie Zu Beginn muss Karl Heinz Bohrer, dieser Solitär im Befragen von philosophischen Motiven der Literatur, erst einmal sagen, welche Art Hass für seine Untersuchung relevant ist und welche nicht. So konstatiert er das Ungenügen eines „aggressiv aufständischen Willens“. Schönheit gehöre zur Poesie. Es gehe ihm nicht „um den Hass als politisch-weltanschauliches Gebräu, sondern um seinen Ausdruck als ein Mittel intensiver Poesie“. Bohrer sucht das Kraftzentrum von Dichtung.


bücher

/ TdZ  Mai 2020  /

Hass ist gewiss eine elementare emotionale Kraft, ein Mittel der Verwandlung, ebenso wie die Liebe. Frank Castorf etwa nahm LouisFerdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“ vor allem unter der Perspektive des Hasses wahr – als gewaltige Ausdruckssteige-

BÜCHER AUS DER REDAKTION Jakob Hayner Warum Theater Krise und Erneuerung

rung: Unbedingtheit an der Schwelle zur

Stay at home and read a book!

blindwütigen Aggression. Das trifft sich the-

In Reaktion auf die politische Spaltung der

matisch mit früheren Arbeiten Bohrers, etwa

Gesellschaft und die Wiederkehr reaktio­

seiner großen Studie zu Ernst Jüngers „Äs-

närer Tendenzen wird auch das Theater von

thetik des Schreckens“, seinen Überlegungen

einer Welle der Politisierung erfasst: Man

zur Problematik der Romantik als modernes

reinszeniert historische Schlüsselereignisse,

Bewusstsein, dem er dann Einzelstudien etwa

holt authentisch Betroffene sowie »Exper-

zur „Plötzlichkeit“ widmete. Hass hat etwas

ten des Alltags« auf die Bühne und schafft

mit Erhitzung zu tun, mit Kontrollverlust auch –

Raum für marginalisierte Identitäten und

und wenn sich dieser schließlich doch in ei-

Gruppen. Doch indem sich das Theater der

nen starken ästhetischen Ausdruck verwan-

Tagespolitik anverwandelt, erklärt es seine

ästhetischen Transformationen des Hasses,

delt, dann umso wirkungsreicher.

eigene künstlerische Formenwelt für obso-

seine existenziellen Anleihen beim Mythos.

Karl Heinz Bohrer: Mit Dolchen sprechen. Der literarische HassEffekt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 493 S., 28 EUR.

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let. Am Ende steht dann zumeist schlechte

Émile Zolas Werk, so Bohrer, gebe dem

Kunst und noch schlechtere Politik. In

Hass ebenso eine „politische Stimme“, wie er

­seinem konzisen Essay interpretiert Jakob

„existenzieller Selbstausdruck“ sei. Er zitiert

Hayner diese Entwicklung als Ausdruck einer

Charles Baudelaire: „Der Hass ist heilig. Er

tief greifenden intellektuellen und künstle-

ist die Indignation der starken und mächtigen

rischen Krise und fordert eine Rückbesin-

Herzen, die militante Verachtung derer, die

nung darauf, was das Theater gegenüber

die Mittelmäßigkeit und Dummheit nicht er-

anderen Kulturerscheinungen auszeichnet.

tragen.“ Aber resultiert denn etwa Sartres

Denn nur wenn die politischen Fragen in der

existenzialistischer Ekel wirklich aus Hass, ist

Sprache der Kunst aufgeworfen und ver­

er nicht eine eigene grundlegende Setzung?

handelt werden, lässt sich das Potenzial des

Ausgiebig beschäftigt sich Bohrer mit

So unternimmt Bohrer einen thematisch an-

Dramas retten: Dieses besteht gerade darin,

Michel Houellebecq, folgt dem „Exzess“ in

spruchsvollen Rundgang durch die Literatur-

nicht mit der Wirklichkeit zu verschmelzen,

dessen Werk, dem Weg des Büroangestellten

geschichte, von den „Hass-Reden in Shakes-

sondern über sie hinauszugehen. Es geht

über de Sade hin zu sich selbst. Aber im

peares Dramen“ über Kleist, Baudelaire,

um nicht weniger als die Erneuerung der

Grunde hält er Houellebecq doch nur für ei-

Strindberg bis zu Sartre, Handke, Jelinek und

Idee des Theaters. //

nen Skandalmacher, der sexuelle und sadisti-

(Aus der Verlagsvorschau)

aber sind es denn auch Hasser? Das Moderne tun, die aus Nietzsches „Pathos der Distanz“ erwächst. Hass scheint hier kaum ein Motor, am ehesten noch bei sozialkritischen Autoren, die sich in einen emphatischen Anklagegestus hineinsteigern. Aber genau das interessiert hier Bohrer nicht, ihm geht es um die

ßender Befund: „In seinem Hass ist der Jakob Hayner: Warum Theater. Krise und Erneuerung. Fröhliche Wissenschaft Bd. 160, Matthes & Seitz, Berlin 2020, 160 S., 15 EUR.

poetische Funken zerstoben.“ Das darf man bezweifeln, wie auch die Annahme, dass der Hass wirklich der rote Faden im Werk aller hier versammelten Autoren ist – mit Aus­ nahme Célines, wahrlich ein Hasser. //

THEATER MARIE

Gunnar Decker

Uraufführung, Theater Marie Einladung an das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart 2020 verschoben auf 2021

hat doch auch sehr viel mit jener Kälte zu

sche Motive verklammere. Bohrers abschlie-

Animeo & Humania

Houellebecq. Sehr verschiedene Autoren,

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aktuell

/ TdZ Mai 2020  /

Meldungen

für die Art Stations Foundation in Poznań und

ihre Entscheidung. Zuletzt arbeitete Rau in

für das HAU Hebbel am Ufer Berlin tätig. Er

Brasilien an „Antigone im Amazonas“. Je-

folgt auf Anna Mülter, die ab 2021 die Leitung

doch musste die Arbeit vorerst aufgrund der

des Festivals Theaterformen übernimmt.

Coronapandemie unterbrochen werden. Die

Claudia Perren. Foto Franziska Sinn

Preisverleihung ist vorbehaltlich der weiteren ­■ Der Künstler Tilo Baumgärtel übernimmt

Entwicklung für Ende Mai geplant.

zum Sommersemester die Professur für Malerei an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule

Clemens J. Setz. Foto Paul Schirnhofer

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Halle. Den Maler und Videokünstler verbindet eine Zusammenarbeit mit dem Regisseur ­Sebastian Hartmann. Baumgärtel wurde 1972 in Leipzig geboren und studierte an der dor­ tigen Hochschule für Grafik und Buchkunst Malerei. Seit 2011 arbeitet er regelmäßig fürs Theater. So konzipiert er Bühnenbilder und Bühnenbildvideos. Diese waren unter a­ nderen

­■ Die Architektin und Kunsttheoretikerin Claudia Perren verlässt die Stiftung Bauhaus

am Deutschen Theater Berlin, am Staatsschau-

Dessau und wird ab dem 1. August die neue

spiel Dresden und an der Volksbühne Berlin

Direktorin der Hochschule für Gestaltung und

zu sehen.

­■ Der mit 20 000 Euro dotierte Kleist-Preis des Jahres 2020 geht an den 1982 in Graz ge­

Stiftung Bauhaus Dessau. In ihre Ära fielen

borenen Schriftsteller und Übersetzer Clemens

sowohl das Jubiläum 100 Jahre Bauhaus, aber auch die Absage des Konzerts der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet aus Rücksicht vor rechten Protesten. An der Basler Kunsthochschule ist Perren künftig auch verantwortlich für den theaterbezogenen Stu­ diengang Innenarchitektur und Szenografie.

Milo Rau. Foto Bea Borgers

Kunst in Basel. Perren leitet seit 2014 die

J. Setz. Setz sei „ein literarischer Extremist im besten Sinne, ein Erzähler und Dramatiker, der seine Leser mit anarchischer Fantasie und maliziöser Fröhlichkeit stets aufs Neue ver­ blüfft“, heißt es in der Begründung der Lite­ raturwissenschaftlerin und Kritikerin Daniela Strigl. „Sein neugieriger Blick auf die Welt verrückt die Maßstäbe der Normalität und verbin-

­■ Wie die Sophiensæle bekanntgaben, wird

det wachste Zeitgenossenschaft mit den ganz

Mateusz Szymanówka ab Juli die Künstlerische

alten Fragen.“ Setz hat nicht nur zahlreiche

Leitung der Tanztage Berlin sowie die Position

Romane und Erzählungen, sondern auch Thea-

des Tanzdramaturgen der Sophiensæle über-

­■ Milo Rau wird dieses Jahr mit dem Gerty-

terstücke wie „Vereinte Nationen“, „Erinnya“

nehmen. Der 1988 geborene Dramaturg und

Spies-Literaturpreis ausgezeichnet. Er ist da-

und „Die Abweichungen“ verfasst. Die Preis-

Kurator studierte Kultur-, Theater- und Tanz-

mit der erste Regisseur und Dramatiker unter

verleihung soll Ende November während einer

wissenschaften in Warschau und Berlin. Als

den Preisträgern. Der von der Landeszentrale

Matinee im Deutschen Theater Berlin erfolgen.

Kurator entwickelte er in den vergangenen

für politische Bildung Rheinland-Pfalz verlie-

Jahren Formate für die Präsentation experi-

hene und mit 5000 Euro dotierte Preis wür-

­■ Fünf Inszenierungen wurden für den

menteller Choreografie und Performance und

digt alle zwei Jahre Literatur und Kunst, die

­Thüringer Theaterpreis 2020 nominiert. Die

realisierte lokale und internationale Projekte,

sich insbesondere mit gesellschaftlichen The-

Jury wählte aus 18 Bewerbungen das Tanz-

Festivals und Ausstellungen. Szymanówka war

men befasst. Rau verbinde wie kein anderer

theater Erfurt mit der Inszenierung „Face

am Nowy Teatr und Teatr Studio in Warschau,

Kunst, Literatur und Politik, so die Jury über

Me“, die Bürgerbühne Meiningen mit der

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aktuell

/ TdZ  Mai 2020  /

Inszenierung „Café Oriental“, die ProArtist ­

sind. Andernfalls bestehe die Gefahr eines

Masters mit der Inszenierung „Vergangenheit

„massiven Theatersterbens in der Stadt“. Zu

als Zukunft – Ein ungewöhnlicher Bach­

den Mitunterzeichnern gehören unter ande-

zyklus“, das stellwerk weimar mit der Insze-

rem Oliver Reese für das Berliner Ensemble,

nierung „Peer Gynt“ und die Schotte Erfurt

Phillip Harpain für das GRIPS-Theater, Tho-

mit der Inszenierung „Im Wald ist man nicht

mas Ostermeier, Tobias Veit, Friedrich Barner

NL-DE KJT-Preis „Kaas&Kappes“ 2019 JT-Preis Baden-Württemberg 2020

verabredet“ aus. Die Nominierten sind Teil-

für die Schaubühne am Lehniner Platz sowie

nehmer des Erfurter Avant Art Theaterfesti-

Dieter Hallervorden für das Schlosspark The-

Jan Sobrie/Raven Ruëll

vals 2020 im Oktober. Der Jurypreis ist mit

ater und die Wühlmäuse.

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1500 Euro dotiert und wird zusammen mit dem 1000 Euro dotierten Publikumspreis auf

­■ Über 300 frei produzierende Künstlerinnen

dem Festival bekanntgegeben.

und Künstler wandten sich am 14. April in einem offenen Brief an die Bundesregierung und

Bleiben Sie gesund! — Ihr Theaterstückverlag

­■ Der Bund deutscher Amateurtheater e. V.

die Beauftragte für Kultur und Medien. Sie

(BDAT) hat die Nominierungen für den

bemängelten, dass Hilfsprogramme aufgrund

­Amateurtheaterpreis amarena 2020 bekannt­

der Coronapandemie nicht ausreichend oder

er mit. Zugleich blieb er dem Theater verbun-

gegeben. Insgesamt wurden 15 Inszenierun-

zu schnell erschöpft seien. Die Maßnahmen

den, letztmals stand er im vergangenen Jahr

gen in verschiedenen Kategorien nominiert,

stünden nicht im Verhältnis zu der realen

bei den Bad Hersfelder Theaterfestspielen

167 Bewerbungen wurden eingereicht. Der

Not. Es drohe sonst eine Theaterlandschaft

auf der Bühne.

BDAT sieht vor, dass die vier von einer Jury

ohne frei produzierende Künstlerinnen und

ausgewählten Preisträger ihre Wettbewerbs­

Künstler. Zu den Mitunterzeichnern gehören

inszenierungen auf einem Preisträgerfestival

unter anderem She She Pop, Gob Squad,

im September in Friedrichshafen vorstellen.

Anna Kpok, Rimini Protokoll, Markus & Mar-

Errata

Die eingereichten Inszenierungen spiegelten

kus, Kainkollektiv und Showcase Beat Le

In der Aprilausgabe von Theater der Zeit steht

die täglich von Ehrenamtlichen erarbeitete

Mot.

in dem Artikel „Bella Ciao!“ über das Ende der Intendanz von Christoph Nix am Theater

künstlerische Bandbreite und die Qualität von Amateurtheaterproduktionen wider, heißt

­■ Während des Aufführungs- und Proben-

Konstanz, dass der Regisseur Ramsès Alfa

es in der Pressemitteilung es BDAT. Doch so

stopps in der Coronapandemie haben zahlrei-

dem Theater Freiburg seit 2009 fest ver­

unterschiedlich die Kategorien und Inszenie-

che Kostümabteilungen von Theater- und

bunden ist. Es muss natürlich heißen: dem

rungen auch seien, sie alle verbinde der

Opernhäusern mit der Herstellung von Mund-

­Theater Konstanz. Wir bitten diesen Fehler zu

­Einklang zwischen Engagement und Qualität

schutzmasken und weiterer Schutzkleidung

entschuldigen.

und pointiere die thematische Vielfalt des

begonnen. Die fertigen Produkte werden bei-

Amateurtheaters.

spielsweise an Pflegeeinrichtungen, Altenhei-

Ebenfalls in der Aprilausgabe von Theater der

me, soziale Dienste, Polizei, Feuerwehr und

Zeit wurde in dem Artikel „Starke Frauen,

­■ Ende März haben sich rund 700 Kultur­

Krankenhäuser verteilt. Zahlreiche Medien

­eitle Gockel“, einer Rezension der Inszenie-

schaffende in einem offenen Brief an die Bun-

berichteten über die Hilfsaktionen. Die Be-

rung „Kabale und Liebe“ am Landestheater

desregierung gewandt. Sie forderten, Flücht-

legschaften in den Abteilungen seien sehr

Eisenach, der Schauspieler* Oska Melina

linge aus Griechenland nach Deutschland zu

froh, eine nützliche Aufgabe zu haben, war

Borcherding als Schauspielerin bezeichnet,

holen und die katastrophale Situation an der

mehrfach zu lesen. Auch werde auf die Ein-

die sich selbst Actor* nennt. Das stimmt

griechisch-türkischen Grenze zu beenden.

haltung der Hygiene­ regeln bei der Herstel-

nicht. Die korrekte Bezeichnung ist Schau-

„Kultur hat eine Stimme. Wir können der

lung geachtet.

spieler*. Auch diesen Fehler bitten wir zu

Schande, der sich Europa gerade schuldig macht, nicht tatenlos zusehen“, heißt es in

entschul­digen. ­■ Der Schauspieler Dieter Laser ist am 29.

dem Brief. Der Aufnahmestopp für Asyl­

­Februar im Alter von 78 Jahren in Berlin ver-

suchende, der aufgrund der Coronapandemie

storben. Laser wurde 1942 in Kiel geboren

verhängt wurde, müsse beendet werden. Zu

und wuchs in Hamburg auf. Gefördert wurde

den Unterzeichnern gehören unter anderem

er von Gustaf Gründgens. 1967 begann an

Jella Haase, Corinna Harfouch, Meret Becker

den Münchner Kammerspielen Lasers Zu-

und Marion Brasch.

sammenarbeit mit Peter Stein, mit dem er 1970 an die Berliner Schaubühne am Halle-

­■ Am 7. April haben sich die Berliner Privat­

schen Ufer wechselte, wo er von 1971 bis

theater in einem offenen Brief an den Berliner

1973 Mitglied des Direktoriums war. Im An-

TdZ ONLINE EXTRA

Senat und die Bundesregierung gewandt. Sie

schluss arbeitete Laser freischaffend sowie

forderten sofortige und unbürokratische Hil-

für Film und Fern­ sehen, zum Beispiel mit

fen, weil sie aufgrund der Coronapandemie in

Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta.

Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen

Auch in internationalen Produktionen wirkte

www

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17.04.20 15:30

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impressum/vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Mai 2020 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Gabriele Brandstetter, Theater-, Tanz- und Literaturwissenschaftlerin, München Alexander Eisenach, Theaterautor und -regisseur, Berlin Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Eckart Kröplin, Musik- und Theaterwissenschaftler, Dresden Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Patrick Wildermann, freier Autor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/05

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik

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Vorschau

Martin-Linzer-Theaterpreis Der jährlich von Theater der Zeit ver­ gebene Martin-Linzer-Theaterpreis zeichnet herausragende Leis­ tungen eines Ensembles aus. Er geht in diesem Jahr an das ­Schauspielhaus Bochum. Der Intendant Johan Simons hat mit seinem „Iwanow“ eine der Inszenierungen der Saison hingelegt. Und in dem Ensemble können nicht nur die Stars Jens Harzer und Sandra Hüller überzeugen. Zeit, nach Bochum zu schauen. Wir stellen den Preisträger des Martin-Linzer-Theaterpreises im nächsten Heft ausführlich vor.

Jens Harzer in „Iwanow“ am Schauspielhaus Bochum. Foto Monika Rittershaus

/ TdZ  Mai 2020  /

Münchner Kammerspiele. Foto Gabriela Neeb

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Jakob Hayner +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Anneke Neuhaus (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 03.04.2020

Protagonisten Matthias Lilienthal an den Münchner Kammer­ spielen ist wie eine Beziehung, die schwierig begann und kritisch beäugt wurde, die sich dann immer mehr einspielte und Aus­ zeichnungen bekam, bevor sie über ihr baldiges Ende in Kenntnis gesetzt wurde und nun virusbedingt einem schwierigen Schluss­ spurt entgegengeht. Umjubelt einerseits und scharf kritisiert an­ dererseits hat die kurze Ära an der Maximilianstraße zumindest ­niemanden kaltgelassen. Wir werfen zum Abschied einen Blick zurück.

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2020.


Was macht das Theater, Heinz Bude? Heinz Bude, als Soziologe erforschen Sie

Der Staat alleine kann es doch nicht rich­

die Macht der Angst und die fast in Verges­

ten. Brauchen wir privatwirtschaftliche

senheit geratene Idee der Solidarität. Was

oder zumindest private Kreativität und

lehrt Sie die gegenwärtige Situation in der

­Eigenverantwortung?

Coronakrise?

Genau. Das gilt auch für die Kultur.

Solidarität hat heute eine andere Basis

Selbst die kleinste Buchhandlung hat nun

als zu Zeiten der Arbeiterbewegung. Es

die Chance, mit Lieferangeboten auf sich

ist nicht mehr die gemeinsame Erfahrung

aufmerksam und vielen Lesern klarzuma-

von Ausbeutung und Unterdrückung, die

chen, dass sie Monopole wie Amazon

Solidarität stiftet, sondern die von Ver-

nicht unterstützen s­ ollen. Auch für Muse-

wundbarkeit. Für das Virus ist jede Per-

en und Theater ist es wichtig, sich zu

son ein Wirt. Die Solidarität von heute

überlegen: In welcher Weise kann man

beruft sich nicht auf ein Wir, sondern

jetzt Präsenz von Kultur herstellen? Die

schafft ein Wir. Nicht herablassendes

Mischung von Virtualität und Präsenz

Mitleid, sondern wechselseitige Abstand-

steht seit Langem auf der Tagesordnung.

nahme. Man braucht ein Herz und einen Kopf. Und gleichzeitig gibt es so etwas

Theater streamen Aufzeichnungen älterer

wie die Entdeckung der Staatsbedürftig-

Aufführungen

keit von Gesellschaft. Die pathetische

­neuen Formaten. Trotzdem wird diese Kunst­

Idee von der Zivilgesellschaft trägt nicht

form ohne die körperliche Nähe zu ihrem

mehr. In diesen drei Entdeckungen – Ver-

Publikum nicht überleben.

wundbarkeit, Verbundenheit und Staat-

Ich glaube nicht, dass uns der komplette

lichkeit – steckt die Idee zu einem neuen

­Verlust der körperlichen Nähe bevorsteht.

Zeitalter, das nach dem Neo­liberalismus kommt. Was genau verstehen Sie unter dem Pathos der Zivilgesellschaft? Den fröhlichen Glauben daran, dass Menschen in privat gewählten Kontexten besser zurechtkommen als in staatlich organisierten.

Die

Zivilgesellschaft

setzt

starke Einzelne voraus, die sich punktuell zusammenschließen, um noch stärker zu

Wie verändert sich die Gesellschaft in der und durch die Coronakrise? Der ­Soziologe Heinz Bude gehört seit März zu der beratenden Expertengruppe um den Innenminister Horst Seehofer. An der Berliner Schaubühne veranstaltet er die Diskussionsreihe „Streit ums Politische“. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Gesellschaft der Angst“ (2014), „Das Gefühl der Welt: Über die Macht von Stimmungen“ (2016) und „Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee“ (2019).

und

experimentieren

mit

Doch auch ein Sportstudio wird überlegen, wann es die Älteren einlässt und wie viele Leute gleichzeitig trainieren können. Man darf nicht auf die Spitze warten, sondern muss sich selbst bewegen – zumal im Hintergrund das Phantasma rumort, dass autoritäre Systeme die Krisen neuer Art besser bewältigen könnten als das alte, müde Europa. Ich würde gerne den Nachweis erbringen, dass das falsch ist.

Foto Dawin Meckel/OSTKREUZ

Wir wissen noch nicht, wie lange die Thea­

werden. Dieser Narzissmus ist gebro-

terschließungen dauern und wer sie über­

chen. Im Zweifelsfall sind wir aufeinan-

stehen wird. Gibt es trotzdem Hoffnung?

der angewiesen.

Es wird einen massiven Bedarf an SelbstverWas die Solidarität angeht, erleben wir derzeit

Sie gehören zum Beratungsteam von Innen­

ständigung geben, nachdem die Gesellschaft

viel Schönes. Wir sehen aber auch die Schwächs­

minister Horst Seehofer. Naht bald der Punkt, an

langsam wieder Tritt gefasst hat. Die Frage,

ten leiden. In einer Situation, die uns alle glei­

dem die Stimmung kippt?

an welche Zukunft wir noch glauben können,

cher macht, brechen soziale Unterschiede umso

Es ist damit zu rechnen, dass sich nach

kann mit dem genügenden Ernst und den

brutaler auf.

Ostern Formen der Isolationsmüdigkeit zei­

­nötigen Affekten nur von der Kultur bewegt

Es herrscht lediglich eine Gleichheit der Be-

gen werden. Was aber nicht passieren darf:

werden. Und dafür werden die Leute Schlan-

troffenheit. Ungleichheiten der sozialen Lage

Dass die stillgestellte Gesellschaft in den

ge stehen, selbst wenn nur ein Teil von ihnen

und der individuellen Kompetenzen bleiben

Wartestand verfällt und nur darauf hofft, dass

im Zuschauerraum sitzt und ein anderer Teil

bestehen und werden möglicherweise sogar

der Spuk vorbeigeht. Es wird nicht mehr wie

auf einen Monitor schauen wird. Die Chance

noch stärker. Wir nehmen aber einigermaßen

früher werden. Solange es keinen Impfstoff

für die Theater ist im Augenblick der content.

erleichtert zur Kenntnis, dass wir in Deutsch-

gibt, geht es nicht um Exit, sondern um die

Und ich glaube, es ist eine ganz große – mal

land ein Gesundheitssystem haben, das nicht

Transformation der Lebensverhältnisse. Die

mit Luther gesprochen – „Bewährung“, ob sie

so kaputtgespart ist wie das britische und

kann nur gelingen, wenn die Leute daran be-

es schaffen, diesen zu liefern. Ich bin nur

nicht so nach gender, class and race gespal-

teiligt sind. Das Schlimmste wäre die Aus-

nicht ganz sicher, ob das allen klar ist. //

ten wie das US-amerikanische.

breitung einer Stimmung von Ohnmacht.

Die Fragen stellte Sabine Leucht.



#theatertreffen Der Theate r-Mai diesmal vir tuell. Mehr Inform ationen ab Ende Ap ril auf berlinerfest spiele.de Wir sehen uns wieder im Mai 202 1.

Das Theatertreffen wird gefördert durch die

Medienpartner

Illustration: Alexandra Klobouk

Die Berliner Festspiele werden gefördert durch


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