75 Jahre Theater der Zeit. Ein Jubiläumsheft

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Franziska Ritter: Das Große Schauspielhaus Berlin in VR / Herbordt / Mohren: Die Spinner-Akten Katharina Warda: Lücken im deutsch-deutschen Archiv / Andres Veiel über 100 Jahre Beuys

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Mai 2021 • Heft Nr. 5

75 Jahre

Theater der Zeit Ein Jubiläumsheft


13.– 29.5.21 stuecke.de Esther Becker Das Leben ist ein Wunschkonzert Grips Theater Berlin

Christina Kettering Time Out Comedia Theater Köln

Ewe Benbenek Tragödienbastard Schauspielhaus Wien

Rebekka Kricheldorf Der goldene Schwanz Staatstheater Kassel

Sibylle Berg Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden Maxim Gorki Theater Berlin

Dea Loher Bär im Universum Staatstheater Kassel

Thomas Freyer Stummes Land Staatsschauspiel Dresden

Boris Nikitin Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder Staatstheater Nürnberg

Rainald Goetz Reich des Todes Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Bernhard Studlar Megafad oder Der längste Nachmittag des Universums Theater Erlangen

Nino Haratischwili Löwenherzen Consol Theater Gelsenkirchen

Christine Umpfenbach 9/26 – Das Oktoberfestattentat Münchner Kammerspiele

+ Festival Plus

Live-Streams der Jurydebatten, Filmporträts der Autor:innen und alle Informationen und Termine zum Rahmenprogramm „Digitale Spielräume“ auf der Website.

Veranstaltet von

Gefördert von


/ TdZ Mai 2021 /

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berliner kindertheaterpreis 2021 Wettbewerb von GRIPS und GASAG

I

Foto © David Baltzer/www.bildbuehne.de

Manuel Ostwald gewinnt mit „Die Blauen Engel“ den „berliner kindertheaterpreis 2021“

n einem halbdunklen Müllhäuschen aus Holzlatten stehen sie

nebeneinander: die drei Geleerten. Eine schwarze Tonne, eine blaue und eine braune. Sie sind nicht nur stolz, echte Mülltonnen zu sein, sondern haben durchaus auch ihre Sorgen und Nöte: Bestückt man uns wiedermal mit Dingen, die wir gar nicht vertragen? Wann werden wir geleert? Und warum sagen die Kids, dass sie Müll hassen? Obgleich wir doch als die Blauen Engel gelten. Ja, Mülltonnen haben auch eine Seele. Und Gefühle! Sie möchten ernstgenommen werden, schließlich enthalten sie wahre Schätze. Vorausgesetzt, man bestückt sie richtig. Seit Ende April 2021 steht er fest, der Gewinner des Berliner Kindertheaterpreises 2021: Manuel Ostwald. Der gebürtige Hamburger, der Deutsche Sprache und Literatur sowie Drehbuch studierte und Stipendiat an der Akademie für Kindermedien war, über-

v.l.n.r.: Die Nominierten Kirsten Reinhardt, Manuel Ostwald, Fabienne Dür, Clara Leinemann, Vera Schindler FÜNF NEUE STÜCKE FÜR DAS KINDERTHEATER DER ZUKUNFT.

Talentschmiede zu entwickeln und so insbesondere auch für Kin-

1. Preis Manuel Ostwald für „Die Blauen Engel“ (6+) Am Müllhäuschen treffen sie sich heimlich. Dort klären sie die Fragen ihres Lebens. Dort trennen sie Müll von kostbarem Fund. Die Blauen Engel. Uraufführung am GRIPS Theater in der Spielzeit 2022/2023 Förderpreis Vera Schindler für „Wolkenrotz“ (8+) Kenny, Bente und Leyla wohnen im selben Haus. Fast ein ganz normales Haus, nur eben aus Papier. Was, wenn der Sturm kommt? Und Wolkenrotz vom Himmel fällt? Nominierungen Fabienne Dür mit „Warten auf Schnee“ (8+) Seit dem Umzug ist alles anders für Leo und Mo. Im Gefühlschaos von Abschied und Neubeginn stehen die Geschwister am Fenster und warten auf Schnee. Clara Leinemann mit „Fledermops“ (6+) Am liebsten spielt Esra draußen mit Anton in ihrem Lieblingsgebüsch. Aber heute sind da plötzlich ein Bagger, Wummel und eine Mopsfledermaus. Kirsten Reinhardt mit „Schulkloperette“ (12+) Die Schultoilette ist marode, aber dafür ist allerhand los: Vier Kinder, die Regierungschefin höchstpersönlich und ein gewisser Dr. Kot stürmen die Kabinen und zünden ein Feuerwerk, dass es kracht.

der aus einkommensschwachen Familien eine kulturelle Teilhabe

Infos zu den Stücken: grips-theater.de und dramaturgie@grips-theater.de

zeugte die Jury mit seinem Stück „Die Blauen Engel“. Der zweite Platz ging an Vera Schindler mit „Wolkenrotz“. Der Preis, der mittlerweile seit 15 Jahren von GRIPS Theater und GASAG AG ausgelobt wird, gilt als die Talentschmiede des Schreibens für das Kindertheater. „Den Fokus unseres Wettbewerbes legen wir auf Kinderstücke, die sich mit den realen Lebenswelten ihres Publikums auseinandersetzen“, sagt Ute Volknant, GRIPS-Dramaturgin und Jurymitglied. „Ein emanzipatorisches Kindertheater, das gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne bringt – das sind Themen, für die wir auch als Unternehmen einstehen“ ergänzt Birgit Jammes, Sponsoringverantwortliche der GASAG. An die Nominierung gebunden ist die Teilnahme an zwei Workshop-Phasen, in denen die Autorinnen und Autoren intensiv mit Fachleuten des GRIPS zusammenarbeiten. Alle fünf Entwürfe wurden Ende April 2021 auf einer Gala im Rahmen des Festivals »Augenblick mal!« der Öffentlichkeit vorgestellt. Gekoppelt an den ersten Preis ist die Ausarbeitung des prämierten Stückentwurfes zu einem fertigen Theaterstück, das in der Spielzeit 2021/2022 am GRIPS aufgeführt wird. Ute Volknant: „Das langfristig und nachhaltig gedachte Sponsoringkonzept der GASAG gab uns die Chance, den „berliner kindertheaterpreis“ zu dieser im deutschsprachigen Raum anerkannten

zu ermöglichen.“ Birgit Jammes: „Beide Häuser verbindet nicht nur das Engagement für die nächsten Generationen, sondern ebenso die Verwurzelung in Berlin und das gemeinsame Bewusstsein, Verantwortung für diese Gesellschaft zu tragen und sich für ein respektvolles Miteinander, für Toleranz und für die Vielfalt der Kulturen stark zu machen.“


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editorial

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Einladung

Jahre

Theater der Zeit Für den 1. Juni 2021 laden wir alle Leserinnen und Leser zu unserer ­virtuellen Geburtstagsfeier ein – Details und Anmeldungen unter:

theaterderzeit.de/tour.

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

M

ehrere Regalmeter aktueller Ausgaben plus ein Stahlschrank voll von historischem Material. Theater der Zeit wird 75! Und hinterlässt uns, die erst spät dazugekommen sind, ein reichhaltiges Archiv voll raunendem Papier. „Von allen Tauschgeschäften, in die wir jemals verwickelt werden, ist dasjenige zwischen den Generationen das komplizierteste und undurchsichtigste“, wusste die Performance-Gruppe She She Pop in „Testament“, ihren „Verspäteten Vorbereitungen zum Generationswechsel“, vor elf Jahren zu berichten. Erben ist ein kniffliger Vorgang, selbst wenn es nicht um Autos, Eigenheime, Goldbarren, sondern, ganz im Gegenteil, vollkommen unmonetär: um Geschichte geht. Theater der Zeit steht, 1946 als Theaterfachmagazin in Berlin gegründet, quasi exemplarisch für die Geschichte einer deutsch-deutschen Transformation, die wiederum Teil einer viel längeren kultu­ rellen Erzählung ist, deren Erbe uns alle betrifft. Was aber stellt die Generation von heute mit dieser Tat­sache an? In unserer Jubiläumsausgabe zum Thema Archiv haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit einem großen enthusiastischen Sprung voller Neugier, aber auch Fragen in das Meer der Archiv­ materialien abzutauchen, welche uns die Vergangenheit, insbesondere die Theatervergangenheit, ­hinterlassen hat. Was nehmen wir mit? Was kann weg? Was wird vererbt? Was verheimlicht? Welche Schätze stecken in den Taschen der Grand Old Lady Geschichte? Was ging bereits durch Löcher im Stoff unwiederbringlich verloren? Was wurde archiviert? Und was – vielleicht mit Absicht – nicht? Vor dem Hintergrund dieser Fragen begeben wir uns in unserem großen Jubiläumsschwerpunkt gemeinsam mit der Szenografin Franziska Ritter in einer sensationellen VR-Experience zurück ins Jahr 1927 und besuchen das Große Schauspielhaus Berlin, dessen visionäre Architektur 1919 von Max Reinhardt und Hans Poelzig ersonnen wurde. Mit dem Theaterduo Herbordt/Mohren erkunden wir die wunderbare Welt der Spinner-Akten, die uns beweisen, dass selbst die irrsten gesellschaft­ lichen Utopien, einst von Experten verworfen, heute das Zeug hätten, unsere Zukunft zu retten. Die Dramaturgin Anna Volkland verschneidet Fundstücke aus alten Heften von Theater der Zeit und ­Theater heute zu einem spannungsreichen Ost-West-Vergleich, mittels dessen sie unser heutiges ­Normalitätsverständnis in Bezug auf das Theaterschaffen befragt. Die Soziologin Katharina Warda lenkt im Gespräch mit Paula Perschke den Blick auf die Lücken im deutsch-deutschen Archiv – insbesondere auf die bislang ausgesparten ostdeutschen Perspektiven of Color. Mit Hans Rübesame und Rita Czapka stellen wir zwei der engagiertesten Theaterarchivare vor und tauchen schließlich mit Harald Müller, Friedrich Dieckmann, Thomas Stecher und Frank Raddatz ab ins sagenumwobene TdZArchiv, in dem wir auch auf die Dramatik der Schriftstellerin Barbara Honigmann gestoßen sind, deren Monolog „Die Schöpfung“ wir in diesem Heft drucken. Einem der umfangreichsten und weltweit größten Theaterarchive indes wäre es just in diesen Monaten fast an den Kragen gegangen: Anfang März verkündete das Victoria and Albert Museum in London, seine Sammlungen derart umstrukturieren zu wollen, dass es für die dort beheimatete ­Theatersammlung de facto die Schließung bedeutet hätte. Stephan Dörschel, Abteilungsleiter des ­Archivs Darstellende Künste der Akademie der Künste Berlin, beschreibt, warum derartige Pläne auch andere nationale Theatersammlungen bedrohen. Gegen die Archivierung des Jahrhundertkünstlers Joseph Beuys, der am 12. Mai 100 Jahre alt geworden wäre, spricht sich in dieser Ausgabe der Filmemacher Andres Veiel vehement aus. Beuys, sagt er im Gespräch mit Martin Krumbholz, sei mehr gewesen als lediglich ein Künstler des 20. Jahrhunderts. Er entdecke ihn über Fragen des 21. Jahrhunderts immer wieder neu: Klimakrise, Ökonomie, die Notwendigkeit des Verzichts, Anerkennung und Würde des Menschen. „Wenn wir verhindern wollen, dass wir den Planeten gegen die Wand fahren, müssen wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen.“ Auch ein Projekt wie eine Theaterzeitschrift lässt sich – à la Beuys – nur gemeinschaftlich denken. Verglichen mit der Zeitspanne von 75 Jahren sind wir, die wir hier schreiben, bloß ein Wimpernschlag der Geschichte, die in der Vergangenheit mal langsamer ihre Lider bewegte und mal aus dem Blinzeln gar nicht mehr herausfand. Menschen kamen und gingen. Auch bei Theater der Zeit. Wir möchten uns ganz herzlich bei all jenen bedanken, die über all die Jahre mit ihrem Einsatz, ihrer Leidenschaft, ihren Ideen und Anregungen diese Zeitschrift mitgestaltet haben. Die Zukunft beginnt jetzt. Und sie ist ohne Euch und ohne Sie, liebe Leserinnen und Leser, nicht zu haben. // Die Redaktion

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Inhalt Mai 2021 thema archiv 12

look out

gastkolumne

ausland

8

„Ein Abend im Großen Schauspielhaus Berlin“ Eine VR-Experience der digital.DTHG

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Die Spurensucher Die Szenografin Franziska Ritter und die Theatermacher Melanie Mohren und Bernhard Herbordt über die Verlebendigung von Archiven im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

18

Anna Volkland Der Leitungsspitze die Spitze nehmen oder: Vorschlag zur Beschaffung einer Waschmaschine – Theater der Zeit als Archiv alternativer Realitäten

30

Die Lücken im Archiv Die Soziologin Katharina Warda über ostdeutsche Migrationsgeschichten und die vielfältigen Perspektiven des Erinnerns im Gespräch mit Paula Perschke

34

Thomas Irmer Das Gedächtnis des Theaters Tote Materialien gibt es nicht – Ein Vierteljahrhundert war Hans Rübesame Archivleiter des Deutschen Theaters Berlin

35

Margarete Affenzeller Eine Stiege für den Kaiser Rita Czapka wacht als Archivarin über den Wissensspeicher des Burgtheaters Wien – und kennt so manches Geheimnis

42

Harald Müller Erkenntnis und Vergnügen Eine kurze Geschichte von Theater der Zeit zum 75. Geburtstag

44

Friedrich Dieckmann „Es ist die Kunst der Fuge, sich nicht zu fügen“ Rückblicke auf Theater der Zeit

47

Thomas Stecher Liebes ZENTRALORGAN …

48

Frank Raddatz Kommt Organisation! Das Model, die Russen und eine Handvoll Dollar – ein Berlinkrimi über die Neugründung von Theater der Zeit

58

Stephan Dörschel Eine tote Deponie theatraler Artefakte? Warum die Umstrukturierungspläne der weltweit größten Theatersammlungen im Victoria and Albert Museum in London auch eine Bedrohung für andere nationale Theatersammlungen darstellen


© ARIANE SPANIER

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inhalt

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protagonisten

62

Martin Krumbholz Die Stimme aus der Zukunft Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um das Schlimmste zu verhindern? – Der Filmemacher Andres Veiel über die Aktualität von Joseph Beuys, der im Mai 100 Jahre alt geworden wäre

Neuerscheinungen im Theater der ZeitBuchverlag

65

Thomas Oberender Messianismus und Revolution Auszug aus dem Vorwort zu Das Theater leben von Julian Beck Exklusiver Vorabdruck

protagonisten

75

Sabine Leucht Verlorene Gemeinschaft Bei der Sichtung für die Zehnerauswahl des Berliner Theatertreffens war in diesem Jahr alles anders – Reflexionen einer Jurorin über einen Ausnahmejahrgang

78

Christine Wahl Neue Dramatik im Binge-Watching-Modus Sichtung und Auswahl der Mülheimer Theatertage in der Covid-Saison 2020/21 aus der Perspektive eines Jurymitglieds

86

Bochum „Fühlst du das auch?“ von dorisdean (Shirin Sojitrawalla) Detmold „Am Boden“ von George Brant in der Regie von Jan Steinbach (Jens Fischer) Gent „Yellow. The sorrows of Belgium II: Rex“ von Luk Perceval und Peter van Kraaij (Thomas Irmer) Leipzig „Ich bin“ von Jana Zöll und „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt in der R ­ egie von Johanna Zielinski (Lara Wenzel) Mannheim „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble (Björn Hayer) München „,Wir Schwarzen müssen zusammenhalten‘ – Eine Erwiderung“ von Elemawusi Agbédjidji und Ensemble in der Regie von Jan-Christoph Gockel (Christoph Leibold) Nürnberg / Stratford-upon-Avon „Macbeth – Ein Kurznachrichtentheater“ nach William Shakespeare in der Regie von Jan Philipp Gloger und „Dream“ nach William Shakespeare in der Regie von Robin McNicholas (Christoph Leibold) Weimar „Draußen vor der Tür“ nach Wolfgang Borchert in der Regie von Marcel Kohler (Joachim F. Tornau)

106

Poesie war unsere Waffe Eine Wiederentdeckung aus dem Dramenarchiv – Die Autorin Barbara Honigmann über ihr Stück „Die Schöpfung“ im Gespräch mit Patrick Wildermann

108

Barbara Honigmann Die Schöpfung

magazin

114

Im Garten, wo die Daten atmen Das Festival Spy on Me #3 am Berliner HAU Hebbel am Ufer unternimmt souveräne künstlerische Manöver in die digitale Welt Digitaler Schmelztiegel Beim OnlineFestival Hybrid – Cutting Edge Canada in Hellerau vermischen sich Musik, Technologie, Ausstellung, Diskurs und Wissenschaft Buch Elisabeth Tropper: Enter the Ghosts of Europe: Heimsuchungen Europas im Theater der Gegenwart

aktuell

122

Meldungen

125

Autoren, Impressum, Vorschau

126

Gernot Grünewald im Gespräch mit Tom Mustroph

auftritt 86

stück

was macht das theater?

114

Titelfoto: Screenshot aus der VR-Experience „Ein Abend im Großen Schauspielhaus Berlin“. Foto digital.DTHG

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Das Große Schauspielhaus Berlin: S. 8 bis 10 Screenshots aus der VR-Experience „Ein Abend im Großen Schauspielhaus Berlin“ der digital.DTHG, rechts oben und unten: historische Ansichten aus dem Architekturmuseum der TU Berlin, rechts Mitte: Wolken­ apparat Schwabe & Co. aus dem Theater Plauen-Zwickau. Fotos digital.DTHG / Architekturmuseum der TU Berlin, Großes Schauspielhaus Berlin 1919, Architekt Hans Poelzig / Silvio Gahs


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Theater der Zeit wird 75 – Ein Schwerpunkt zum Thema Archiv


archiv

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Die Spurensucher Die Szenografin Franziska Ritter und die Theatermacher Melanie Mohren und Bernhard Herbordt über die Verlebendigung von Archiven

von Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

V

isionäre Entwürfe in Kunst und Gesellschaft teilen mitunter ein grausames Schicksal: Landen sie einmal im Archiv der Geschichte, fällt der Staub des Vergessens über sie. Das – so schwor es sich ein inter­ disziplinäres Team um die beiden Szenografen Franziska Ritter und ­Pablo Dornhege – darf nicht sein! In den vergangenen Monaten ist unter dem Dach der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft im Forschungsprojekt „Im/material Theatre Spaces“ eine spektakuläre ­Arbeit entstanden: Das legendäre Große Schauspielhaus Berlin, 1919 von Max Reinhardt und Hans Poelzig entworfen und nach bewegter Baugeschichte Mitte der achtziger Jahre abgerissen, ist seit Kurzem wieder begehbar – als immersive Virtual-Reality-Experience. Noch weiter zurück in der Zeit reisten Melanie Mohren und Bernhard ­ ­Herbordt, Initiatoren der Performance-Serie „Die Gesellschaft“. Im ­Archiv der Max-Planck-Gesellschaft fahndeten sie nach Akten, die dort seit cirka 1900 lagern. Inhalt vieler Schreiben: faszinierende Gesellschafts­utopien, die jedoch nie das Licht der Welt erblickten. Statt­ dessen ziert sie ein Stempel: „Spinner!“.

Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Franziska Ritter, Sie beschäf­ tigen sich in Ihren Projekten derzeit intensiv mit dem Thema Archiv. Der Gedächtnisforscher Harald Welzer hat vor einigen Jahren in einem Interview mit Theater der Zeit die These aufgestellt, dass in unserer sowieso so materiell konnotierten Kultur Archivarbeit, also das Konservieren des Materiellen, auch kontraproduktiv sein könne. Selbst das Internet übersetze permanent Nichtvorhande­ nes in Vorhandenes. Daher solle man doch lieber das Vergessen konservieren. Fühlen Sie sich davon provoziert?

Ein Theater wie eine Landschaft – Die berühmten Palmensäulen im Foyer von Max Reinhardts und Hans Poelzigs Großem Schauspielhaus Berlin, 1919 entworfen von der Bildhauerin Marlene Moeschke. Foto Architekturmuseum der TU Berlin, Großes Schauspielhaus Berlin 1919, Architekt Hans Poelzig, Fotograf Ernst Wasmuth Verlag

Melanie Mohren: Nein, denn wir arbeiten in unserem Projekt „Die Gesellschaft“ ja vor allem mit den Lücken von Archiven, also mit dem, was nicht gespeichert, was vergessen wurde. Archive sind machtvolle Apparaturen. Ihre Ausschlussmechanismen ­offenzulegen, ist unser Ansatz. Bernhard Herbordt: Uns geht es auch vielmehr um die Anwendung. Wir sammeln und archivieren nur, um Apparaturen und Settings zu erfinden, die helfen könnten, das, was gesammelt wurde, um- oder auch fortzuschreiben. Es handelt sich – extrem gedacht – also um Prozesse, die das, was es einmal gab, aus­ löschen. Insofern ist das Vergessen auch Teil unseres Archivierens. Die Umschreibung ist wichtiger als das eigentliche Artefakt. Franziska Ritter: Da kann ich nur zustimmen! Gerade die Lücken sind ja das Spannende an einem Archiv, also das, was verschollen ist, was nicht gesammelt oder sogar bewusst ausgelassen wurde. Ich hatte vor einigen Jahren im Rahmen der Digitalisierung der Theaterbausammlung im Architekturmuseum der TU Berlin mit einer sehr politisch konnotierten Sammlung zu tun, die 1939 im Auftrag von Generalbauinspektor Albert Speer für das Handbuch „Das Deutsche Theater“ angelegt wurde. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Warum wurden von den Nationalsozialisten ­genau jene Theaterbauten dort dokumentiert und andere nicht? Welches Bild vom deutschen Theater sollte damit erzeugt werden? Für mich sind derartige Befragungen die Ankerpunkte für einen Einstieg ins Archiv. Unsere Aufgabe ist es, die Erzählungen, die in den Sammlungen schlummern, zu entschlüsseln und aus heutiger Sicht neu zu befragen. So haben Sie kürzlich anhand von Archivmaterialien gemeinsam mit einem interdisziplinären Team das Große Schauspielhaus Berlin rekonstruiert – als spektakuläre Virtual-Reality-Experience. Der Zuschauer kann sich, ausgestattet mit einer VR-Brille, von drei Figuren aus dem Jahr 1927 – dem Beleuchter Otto Kempowski, der Revue-Diva Fritzi Massary und dem Zuschauer Walter Schatz – durch das 1919 von Max Reinhardt und Hans Poelzig entworfene Haus führen lassen. Warum sind virtuelle Führungen durch ein Gebäude von 1919 für uns heute interessant? Ritter: Das Große Schauspielhaus ist gerade für uns Theaterforscher eine der Ikonen der zwanziger Jahre und als eines von wenigen gebauten Beispielen Sinnbild für den Aufbruch in eine neue

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thema

Ära. Was Heinrich Tessenow und Adolphe Appia 1911 mit dem Festspielhaus in Hellerau begonnen hatten – die Abkehr von der Guckkastenbühne, die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum, quasi die Auflösung der vierten Wand – und mit Walter Gropius’ Vision eines Totaltheaters Utopie blieb, wurde 1919 durch Reinhardts und Poelzigs Umbau des Schauspielhauses als Reformbewegung baulich manifestiert.

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Alltagsgegenständen. In Ihrer aktuellen Arbeit „Die Gesellschaft“ geht es um sogenannte Spinner-Akten, die Sie im Archiv der MaxPlanck-Gesellschaft gesichtet haben. Wie findet bei Ihnen die, wie Sie eingangs sagten, „Anwendung“ durch den Zuschauer statt? Mohren: „Alles was ich habe“ war ein performativer Baukasten, eine inszenierte Ausstellung. Der erste Raum bestand aus meterlangen Listen, auf denen sich alle Objekte, Geschichten, Personen, Klänge oder Dinge inventarisiert fanden, die erst in den nächsten Räumen sichtbar wurden oder auch in der Ausstellung Die Bühne ragte mehrere Meter in den Zuschauersaal, was zu ­dieser Zeit ungewöhnlich war … gar nicht zu sehen waren. Zudem gab es 170 dem inventarisierten Ritter: … ja, ein kompleMaterial zugeordnete Fraxes System aus Hauptgen. In den folgenden Räumen materialisierten bühne, Vorbühne und zusätzlich sechs stufensich diese Listen entlang der Fragen in Form von los fahrbaren Podien in der Mitte der Arena erTonspuren, Zetteln, Gemöglichte das Spiel ingenständen und so weiter. Das Publikum konnte auf mitten des Zuschauerraumes. Wir Architekten diese Weise im Gehen eikennen natürlich die Baugene Narrative kreieren. geschichte des Hauses, Herbordt: Bei den Spinaber ich habe beispielsner-Akten handelt es sich um Vorschläge für Instiweise über die Figur der Fritzi Massary gelernt, tutsneugründungen, die in den vergangenen 120 ganz neu auf dieses Gebäude zu schauen. In der Jahren an die Max-PlanckVR-Inszenierung reisen Gesellschaft beziehungsweise vormals die Kai­ wir zurück ins Jahr 1927 und erleben den Premieser Wilhelm-Gesellschaft herangetragen, aber nie renabend der Operette „Madame Pompadour“. Performatives Archiv – In der Projektreihe „Alles was ich habe #1–5“ (hier #3, realisiert wurden. Es wird Novi Sad, 2011) von Herbordt/Mohren konnten die Zuschauer mithilfe von in diesem großen und Mit den drei ProtagonisMaterialien ihre eigene Performance kreieren. Foto Herbordt/Mohren ten, denen der VR-Besumächtigen Archiv intercher folgen kann, werden essanterweise also etwas große Teile des Gebäudes archiviert, was eigentlich aus verschiedenen Perspektiven erfahrbar gemacht. Es ist also keine nicht archiviert werden kann, da es nie verwirklicht wurde. Dieser reine Architekturführung im klassischen Sinn, sondern wir bekomFund allein ist schon ein tolles Artefakt: Er materialisiert etwas, men über die Erzählungen der Figuren Einblicke in den gesellschaftswas nicht zu materia­ lisieren ist. Wir haben daraus eine Per­ formance- oder eher L ­aborreihe entworfen, zu der wir unterpolitischen Kontext der Zeit, in die künstlerische Programmatik. Gleichzeitig lernen wir verschiedene Berufsbilder kennen, schiedlichste Menschen eingeladen haben – Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen, aber auch das Publikum – werden Zeuge der Arbeitsbedingungen sowie der herausragenden technischen Innovationen zu der Zeit. Der junge Beleuchter Otto um uns ausgehend von den Akten gemeinsam zu fragen, welche Kempowski zum Beispiel – der mit uns das Haus hinten über den Forschungseinrichtungen man heute der Max-Planck-Gesellschaft oder irgendeiner anderen fiktiven Stelle zur Gründung vorschlaMaschinisteneingang betritt – ist ganz aufgeregt, weil er das erste Mal am Verfolger stehen wird. Deswegen muss er auch zunächst gen müsste. Möglicherweise wird Anfang Juli, wenn es zur ­Abschlussperformance kommt, auch gemeinschaftlich entschieeinen Abstecher in die Kantine machen. Oben auf der Beleuchtergalerie wiederum sehen wir den Wolkenapparat in Aktion. Spektaden, dass es gar keiner neuen Forschungsgesellschaft bedarf. kulär projiziert er vorbeiziehende Wolken auf den Rundhorizont. Im Foyer des Schauspielhauses ist ein Electrolux-Staubsauger ausImmerhin ist in den Akten die Formel zu Erlangung des stabilen Weltfriedens zu finden! gestellt, so wie heute im Foyer des Friedrichstadt-Palastes, dem Nachfolgerbau, teure Autos präsentiert werden. Die Verknüpfung Mohren: (lacht) Ja, leider wurde die Gesellschaft, die dem nach­ gehen wollte, nicht gegründet. Aber damit landen wir wieder beim von Theater und Wirtschaft war also auch damals schon ein Thema. Theater: bei der Frage, was wäre gewesen, wenn … Wie würde unsere Gegenwart oder Zukunft aussehen, wenn diese Ideen, diese Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Ihre erste Projektreihe unter wunderbaren Entwürfe nicht abgelehnt worden wären? Spekulatidem Label Die Institution trug ganz programmatisch den Namen onen dieser Art finden wir extrem reizvoll. „Alles was ich habe #1–5“, eine Art Archiv und Arrangement von


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Gleichzeitig werden aber auch Ausschlüsse sichtbar. Wer wird abgelehnt? Und vor allem: Wer taucht als Antragsteller:in erst gar nicht auf? Hochaktuell, wenn wir uns in den heutigen Institutionen und Forschungseinrichtungen umschauen. Da stellt sich schon die Frage, warum in den vergangenen 120 Jahren so wenig passiert ist.

archiv

­ eschrieben haben. Trotzdem wurden alle Schreiben ernsthaft geg prüft und von Kollegen – hier brauchen wir nicht zu gendern – begutachtet. Der Spinner-Stempel wurde also offenbar nicht leichtfertig vergeben. Ich meine: Wie viele Anträge hat die gesamte Künstler:innenschaft schon geschrieben? Wird man da auch mit einem Spinner-Stempel versehen? Das Projekt erzeugt tatsächlich auf ganz vielen Ebenen Resonanzen. Was hat Sie noch überrascht? Wahnsinnig spannend waren auch Projekte, die dezidiert Herbordt: Es gab beispielsweise die Idee eines europäischen Mütterrates, ein in den fünfziger Jahren über zwei Jahre hinweg Institute entwarfen: Architektur, Einrichtung, Finanzpläne, ­immer wieder gestellter und ergänzter Antrag. Alle Staaten in ­Geschirr – alles komplett durchgeplant. Vor dem Hintergrund unserer Beschäftigung mit ­Europa, so die Idee, soll­Institutionen war es sehr ten die Hälfte ihres Verteidigungsbudgets zur aufschlussreich mitzu­ver­ Verfügung stellen, da­ mit folgen, wie damals neue sich ein europäischer Instiutionen gedacht wur­ Mütterrat konstituiert, den. der bei regelmäßigen Herbordt: Da gab es zum Treffen politische Sze­ Beispiel eine Liste an narien entwirft, die, basieDingen, die für die Einrend auf den Erfahrungen richtung einer biologischen Forschungsstation von Müttern, friedvoller am Amazonas gebraucht sind als das Vorgehen von wurden: unzählige AppaVerteidigungsministern. raturen bis hin zu einem Statt krie­ge­rische AktioBoot, um den Amazonas nen einzudämmen, hätte man mit der Hälfte des hoch- und runterzufahGeldes Kriege gleich komren. Auch auf das Gramplett verhindert … mofon wollte man nicht Mohren: … mit dem Nachverzichten, und sogar die satz natürlich: Perspektieigenen Arbeiter:innen sollten mit, um Häuser visch beantrage man die andere Hälfte des Geldes Ein visionäres Gebäude voller Geschichten – Das Große Schauspielhaus Berlin, zu bauen, die angeblich 1919 gebaut, ist für Theaterforscher eine der Ikonen der zwanziger Jahre. länger stehen. Darin bilauch. Foto Architekturmuseum der TU Berlin, Großes Schauspielhaus Berlin 1919, Architekt Ritter: Kann man das noch det sich natürlich auch Hans Poelzig, Fotograf Franz Stoedtner Kolonialgeschichte ab. mal einreichen? (lacht) Herbordt: Tatsächlich geht Gab es, Frau Ritter, in den es in vielen Vorschlägen um Friedensbewegungen, auch die Formel für den stabilen WeltPlanungsphasen des Schau­spielhauses auch Momente, wo Rein­ frieden beruhte darauf, überkonfessionelle und überstaatliche hardt und Poelzig als Spinner bezeichnet wurden? Gruppen zu bilden, die, psychologisch geschult, in KrisenregioRitter: Vielleicht nicht als Spinner, aber ein gewisser Größenwahn nen reisen, um zu intervenieren, bevor es zu Kriegen kommt. In spielte bei diesen beiden Herren durchaus eine Rolle beim Entdem Antrag wird sehr detailliert beschrieben, wer alles beteiligt wurf dieses gigantischen Theaters mit seinen über 3000 Plätzen. Und wie jeder gute Entwurf entstand die erste Bleistiftskizze auf sein muss, damit eine solche Delegation überhaupt deeskalierend wirken kann. Es gab in den zwanziger und dreißiger Jahren aber einer Serviette, die heute im Archiv des Friedrichstadt-Palastes sogar noch erhalten ist. Allerdings fehlt die rechte obere Ecke – und auch verschiedenste Vorschläge, die die gesamte Nachhaltigkeitsauch hier lädt uns mal wieder eine Leerstelle zu einem Gedankendebatte vorweggenommen haben. Letztlich aber fehlte das Geld, es gab die Weltkriege … spiel ein: ob dort eine noch utopischere „Spinner“-Version des Entwurfs zu sehen war oder die Schätzung der Baukosten? Das Finden sich außer dem Spinner-Stempel in den Akten Begrün­ bleibt ein Geheimnis. Was mir im Zuge der Recherche aber auch auffiel: Eigentdungen, warum welcher Antrag abgelehnt wurde? Gab es eine Jury oder ein Expertengremium? lich spielte Poelzigs Mitarbeiterin und spätere Ehefrau Marlene Moeschke für die Entstehung dieses Baus eine tragende Rolle. Als Mohren: Es ist tatsächlich sehr interessant nachzuverfolgen, wie ernst die Schreiben genommen wurden und an welche Größen Bildhauerin war sie bekannt für ihre organische und skulpturale Formgebung. Von ihr stammen viele Ausstattungsdetails, zum der Zeitgeschichte sie zwecks Expertise gingen. Hinter einigen Vorschlägen steckten vielleicht eher Krankheitsbilder, Menschen, Beispiel die großartigen palmenartigen Säulen in den Foyers. Poelzig war zu der Zeit noch Baustadtrat in Dresden, der Umbau die, in Wahnvorstellungen gefangen, immer wieder an Otto Hahn

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thema

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1919 erfolgte in rasanten neun Monaten, sodass viele Termine auf der Baustelle durch Marlene geleitet wurden. In einem Folge­ projekt würde ich gerne ihre Geschichte erzählen.

Sinnen. Die Narration und die Objekte verankern mich im Hier und Jetzt. Es ist zwar eine digitale Realität, aber eben auch meine Realität in diesem Moment.

Wie das Institut am Amazonas wurde auch das virtuelle Schau­ spielhaus akribisch genau mit Inneneinrichtungen wie Plakaten, Scheinwerfern, Türknäufen ausgestattet, die ursprünglich aus den Archiven des Stadtmuseums Berlin und des Friedrichstadt-­ Palastes stammen. Wie erfolgte die Übertragung dieser realen ­Gegenstände in den digitalen Raum? Ritter: Das war auch für uns eine sehr spannende Forschungs­ frage: Wie schaffen wir es, ein real existierendes Objekt in den ­digitalen Raum zu überführen und dabei möglichst dicht am ­Original zu bleiben …

Was aber passiert, wenn wir den Aura-Begriff von Walter Benja­ min etwas alltagstauglicher abstrahieren: Nehmen wir Goethes Schreibtisch. Dessen Aura geht doch von dem Wissen aus, dass er dort eventuell den „Faust“ geschrieben hat und wir dieses heilige Stück Holz theoretisch sogar berühren könnten. Das Materielle und Haptische erzeugt sozusagen das Auratische. Auf welche an­ deren Sinne geht das Auratische in der digitalen Immersion über? Ritter: Aus meiner Erfahrung geht hier das Auratische vor allen Dingen vom Raum aus. Die Kreation eines auratischen Erlebnisses ist – im digitalen wie im analogen Ausstellungsraum – letztlich auch eine Frage der Inszenierung. Wir haben da als Szenografen natürlich ein gutes Handwerkszeug im Gepäck. Wie viel oder wie wenig braucht es, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen? Wohin wollen wir die Aufmerksamkeit lenken? Farben, Ober­ flächen, Licht und Sound spielen dabei eine große Rolle. So kann in der virtuellen Realität trotz erwartbarer „Künstlichkeit“ eine eigenständige Aura entstehen, eine sinnliche Präsenz.

… einem Original, dem man im Museumskontext ja auch eine gewisse Authentizität und Aura zuspricht, die möglicherweise im Digitalen verloren geht. Ritter: Genau. Wie können wir die Spuren auf einem Objekt, die ja eigentlich wesentlich für die Entfaltung seiner Geschichte sind, in den digitalen Raum transferieren? Dazu haben wir verschiedene Versuche unternommen. Kleinere Objekte wurden als drei­ dimensionale Objekt-Scans digital erfasst, bei sperrigen und komplexen Objekten stellten wir fest, dass es leichter ist, sie auf Basis von Fotos und Zeichnungen zu rekonstruieren. Wie beim Wolkenapparat, von dem es in Deutschland insgesamt nur noch drei oder vier Exemplare aus der Zeit gibt. Wir haben glücklicherweise einen Apparat der Firma Schwabe & Co. aus dem Jahr 1925, ähnlich dem, wie er im Schauspielhaus verwendet wurde, im Theater Plauen-Zwickau gefunden. Mit der digitalen Rekonstruktion ­kreieren wir quasi einen digitalen Zwilling, der zwar nicht jeden Kratzer des Originals nachbildet, zunächst sehr „glatt“ wirkt und auch keine Patina bekommen wird, aber gleichzeitig vielfältige andere Potenziale mit sich bringt – man kann nun online ins Innere des Apparates eintauchen, Funktionsweisen besser verstehen. Und so, wie der digitale Wolkenapparat in unserem VR-Projekt inszeniert ist, entfaltet er durchaus eine große Wirkung. Auch hier findet also eine Aneignung und Weiterverwendung des Archivmaterials statt. Ritter: Richtig, wir nutzen unter anderem Sketchfab, eine OnlinePlattform, die aus der Gaming-Industrie kommt, auf der die ­rekonstruierten Objekte dreidimensional präsentiert und sogar heruntergeladen werden können. Demnächst könnten Fans des Videospiels „Fortnite“ also auf den Wolkenapparat stoßen. Ritter: Ja, bitte sehr, wenn historische Theaterobjekte sogar in die Spielewelt einziehen und so neue Zielgruppen erreicht werden, haben wir doch viel gewonnen! Gibt es eine Aura des Digitalen? Ritter: Für uns im Projekt haben diese Räume mit ihren Objekten tatsächlich eine starke Aura. Es gibt echte Gänsehautmomente, was zeigt, dass auch in dieser immateriellen Welt eine Art Kopräsenz erzeugt werden kann, ein immersives Eintauchen mit allen

Spielt für Sie, Frau Mohren, Herr Herbordt, die Aura eine Rolle in Ihren Arbeiten? Hat der Rucksack, den Sie in „Alles was ich habe“ verwendet haben, eine Aura? Haben die Spinner-Akten eine? Herbordt: Ich war versucht zu sagen, dass Aura als Begriff und Phänomen eigentlich kaum eine Rolle spielt, weil unsere Anordnungen wie gesagt sehr stark auf das Erzeugen von Vorstellungen ausgerichtet sind. Alles, was sich materiell im Raum befindet, dient im Prinzip nur als Infrastruktur, um die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen anzuregen. Das hat weniger mit Haptik oder Patina zu tun. Gleichzeitig stellen wir uns gerade im Zuge einer Hörspielbearbeitung von „Die Gesellschaft“ die Frage, wie wir das Visuelle der Spinner-Akten ins Akustische transportieren. Es sind teils schreib­ maschinengeschriebene Briefe mit unterschiedlichen Kommentar­ ebenen; durch je mehr Hände oder über je mehr Schreibtische die Akten liefen, desto mehr wurde hinzugefügt. Diese Notizen würde ich am ehesten als Aura umschreiben, ­ weil sie eine Geschichte transportieren, weniger eine größere Gesellschafts­geschichte als die Geschichte jedes einzelnen Dokuments. Manchmal gibt es nur eine Unterstreichung, manchmal ein „Nein“ mit dreifachem Ausrufezeichen. Mohren: Ich erinnere mich an einen Zuschauer bei „Alles was ich habe“, der viele, wirklich viele Stunden in dem Vorraum verbracht hat, in dem die ganzen Listen hingen. Er hat zum Schluss nur ganz kurz in die anderen Räume geschaut, wollte also sozusagen den Schritt weg von seiner Vorstellung der Dinge, die auf der Liste standen, hin zu den realen Objekten nicht machen. Er musste, wie er uns später sagte, sogar weinen. Daran sieht man, wie stark letztendlich das Vorstellungsvermögen sein kann – und wie nichtig in diesem Fall das Objekt. Damit entfernen wir uns von einem eurozentristischen, auf Objekte fixierten Archivierungsbegriff. Auch Theater wird so, ­ wenn es gut läuft, „archiviert“: als Erinnerung.


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Ritter: Ja, das stimmt, eine wichtige Beobachtung. Gleichzeitig ­beschäftigt uns die Frage der Zugänglichkeit. Eine VR-Experience schafft viele neue Zugänge, schafft technologisch gesehen aber auch neue Barrieren und schließt Menschen mit Beeinträchtigung des Hörens oder Sehens zunächst aus. Wie ist das bei euch? Herbordt: Wir kooperieren tatsächlich gerade auf unterschied­ lichen Ebenen mit Einrichtungen und Einzelpersonen – Künstler:innen und Nichtkünstler:innen, Menschen mit Seh­ beeinträchtigungen oder Beeinträchtigungen des Hörens –, um weitere Zugänge zu schaffen. Unser Ziel ist nicht, zum Beispiel eine Audiodeskription einfach additiv nebenher laufen zu lassen, sondern diese Formate zu einem künstlerischen Ganzen zu verschmelzen. Ritter: Spannend! Wäre es – Stichwort Nachhaltigkeit – nicht auch eine Möglichkeit, Bühnenbildmodelle, die im Theaterbetrieb ja endlos entstehen und irgendwo gelagert werden müssen, ebenfalls nur digital zu speichern? Ritter: Ja, zum Teil werden Theaterproduktionen bereits mit digitalen Mitteln dreidimensional archiviert, sogar als eigenes künstlerisches Projekt, wie es zum Beispiel die CyberRäuber mit den „Memories of Borderline“ wunderbar gezeigt haben. Auf der Bühne ist in den letzten Jahren viel Interessantes und Wegweisendes in der Auseinandersetzung mit digitalen und virtuellen Welten entstanden. Leider sieht die Realität an vielen deutschen Theatern hinter der Bühne noch nicht sehr digital aus, es mangelt an Infrastrukturen, Know-how und zum Teil an Bereitschaft. Aber auch daran arbeiten wir im digital.DTHG-Forschungsprojekt: Büh­nen­ bildnerinnen und Bühnenbildner zu befähigen, digital zu entwerfen, technische Abteilungen zu schulen, mit VR-Brillen zu konstruieren, im virtuellen Raum gar gemeinsam eine Bauprobe abzuhalten. Die Bühnenbildnerin Katrin Brack hat einmal erzählt, dass sie bei ihrem Bühnenbild zu „Iwanow“ an der Volksbühne, das im ­Wesentlichen ja aus Nebel bestand, bei den Bauproben immer ins Modell geraucht hat. Das kommt einem im Digitalen natürlich abhanden. Ritter: Ja, total schade, oder? Daher bin ich auch dagegen, das digitale und das analoge Theater gegeneinander auszuspielen. Beides existiert. Beides hat eigene Gesetzmäßigkeiten, Spielregeln und Qualitäten. Das Digitale hat in seinem ephemeren Wesen eine starke Verbindung zum Theater. In Frankreich wiederum sind gerade große Teile des Rechenzentrums eines der wichtigsten europäischen Cloud-Anbieter abgebrannt. Letztlich landen alle Daten, die für uns scheinbar immateriell irgendwo in Clouds schweben, doch wieder physisch auf dem Boden: in Form riesiger Fabriken, die eine Menge Strom verbrauchen. Alles muss gespeichert, dokumentiert, mehrfach gesichert werden. Daten überall und jederzeit verfügbar. Aber ich weiß gar nicht, ob das das Ziel sein sollte. Ich komme zurück zum Anfang: Das Vergessen, die Lücken sind doch die spannenden Felder. Die Bundesrepublik ist da – ganz Institution – scheinbar anderer Meinung: In der Nähe von Freiburg sammelt sie in atomsicheren Behältern im sogenannten Barbarastollen fotografisch archivierte

Melanie Mohren und

Bernhard

­Herbordt entwickeln seit ihrem ­gemeinsamen Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen interdisziplinäre Projekte im Grenzbereich der darstellenden Künste. Ihre recherchebasierten Arbeiten umfassen Raum- und Klanginstallationen, Hörstücke, Performances, (Musik-)Theater­ arbeiten, Ausstellungs- und Publikationsprojekte sowie diskursive Formatreihen, die sowohl in Deutschland als auch international gezeigt werden. Seit 2012 forscht das Künstlerduo in unterschiedlichen Formaten und Medien zu Institutionen und ihrer Aktualisierung. Fotos Florian Model Franziska Ritter ist Theaterforscherin und Szenografin. Sie studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin und Fotografie an der University of North London. In Berlin ist sie seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Masterstudiengang Bühnenbild_Szenischer Raum und unterrichtet auch an anderen Hochschulen. Von 2016 bis 2018 leitete sie das DFG-Projekt zur Digitalisierung der Theaterbausammlung im Architekturmuseum der TU Berlin und forscht zurzeit im Rahmen ihrer Promotion im DFG-Projekt „Theaterbauwissen“ über Architekturfotografie. Gemeinsam mit Pablo Dornhege ist sie künstlerisch-wissenschaftliche Leiterin des Projektes „Im/material Theatre Spaces – AR and VR for Theatre“ der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft. Foto Astis Krause

Dokumente mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeu­ tung. Trotz unserer Feier des Vergessens: Was würden Sie in den Barbarastollen einspeisen? Herbordt: Ich würde mich auf jeden Fall zum Advokaten der ­Spinner-Akten machen. Sie bilden ab, was sich nicht abbilden lässt, weil es das, was sie enthalten, nie gegeben hat. Damit erzählen sie sehr viel über die menschliche Vorstellungskraft und darüber, warum bestimmte Vorstellungen nie anerkannte Realität ­geworden sind. Ritter: Aus unserem Projekt heraus gedacht könnte ich eine Festplatte mit allen digitalen Daten zum Großen Schauspielhaus in die Fässer packen, weiß aber, dass die in hundert Jahren sowieso keiner mehr lesen kann. Insofern würde ich auf jeden Fall noch ein paar Archivalien dazulegen, nämlich Poelzigs Original-Grundriss und einige Architekturfotografien. Erwischt! (lacht) Mohren: Im Prinzip aber müsste man sofort eine Liste der Dinge erstellen, die nicht im Barbarastollen gespeichert sind – und diese Liste dort atomsicher archivieren. Ritter: Wie bei einer Abiturfeier, wo man auf dem Schulhof feierlich eine Kapsel mit Zeitdokumenten vergräbt, über deren Inhalt man ewig debattiert hat – nur um fünf Jahre später enttäuscht festzustellen, dass die Kapsel dem Turnhallenneubau zum Opfer gefallen ist. Total enttäuschend. Aber ein sehr schönes Erlebnis, an das man sich immer erinnert! //

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Der Leitungsspitze die Spitze nehmen oder: Vorschlag zur Beschaffung einer Waschmaschine – Theater der Zeit als Archiv alternativer Realitäten von Anna Volkland


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m davon zu erzählen, wie interessant es ist, alte Theaterzeitschriften zu untersuchen – das heißt in meinem Fall: etwas Konkretes in ihnen zu suchen, Spuren von Institutionskritik nämlich –, frage ich: Woher wissen wir, unter welchen Umständen heute Theater gemacht wird? Lassen sich „die Verhältnisse“, lässt sich Realität – zum Beispiel die des Theaterschaffens – einfach so beobachten? Man muss nicht Theaterwissenschaft studiert haben, um zu wissen, dass es objektive, „neutrale“ Beobachtung – ob von Rea­ lität oder Kunst – nicht geben kann. Immer haben wir Beobach­ terinnen und Beobachter eine spezifische Perspektive und ein spezifisches Interesse – und eine Vorstellung dessen, was „normal“ ist, was determinierende Umstände und Strukturen sind. Natürlich könnten wir fragen: Sind sechs Wochen Probenzeit für eine Inszenierung tatsächlich normal oder eher normierend? Muss das gegenseitige Duzen auf Proben dazugehören – und wem nützt es? Ist der Umstand, dass Regisseurinnen und Regisseure in einem höheren Maße als Schauspielerinnen und Schauspieler für das Ergebnis eines Inszenierungsprozesses verantwortlich gemacht werden, selbstverständlich? Es sind endlose Variationen solcher Normalitätsbefragungen möglich – die ungefiltert zu starker Desorientierung führen können. Hinterfragt wird deshalb meistens, was (einige) unmittelbar einschränkt, zum Beispiel: Warum stehen da hauptsächlich weiße Menschen auf der Bühne? Warum arbeiten in vielen Theatern Menschen für kein oder viel zu wenig Geld (mindestens einer oder eine aber doch für ziemlich viel)? Warum wird mit Blick auf Schauspielerinnen – nie aber auf Schauspieler – geglaubt, Altern sei „ein professionelles Problem“? Derartige „Einschränkungen“ fallen aber selten sofort auf, niemals allen gleichzeitig – und manchen nie. Die Vorstellungen darüber, was als „normal“ gilt, sind denkbar stabil. Eine interessante Interventionsmöglichkeit ins eigene Normalitätsverständnis bietet der historische Vergleich. Dabei soll hier nicht über Genealogie als kritische Forschungsmethode referiert, sondern anhand von fast zufälligen Fundstücken aus dem zu Unrecht kaum noch beachteten, archivarischen „Altpapier“ gezeigt werden, wie diese „Intervention“ aussehen, wie Gegenwart befremdet werden kann. Neben dem heute bekannten patriarchats- und machtkritischen Blick auf Theaterschaffen und Produktionsprozesse, ihre Umstände und Ergebnisse kann das Durchforsten auch nur wenige Jahrzehnte alter Theaterzeitschriften zusätzliche Momente der Hinterfragung des Status quo bescheren: Was störte damals? Was war neu und diskussionswürdig? Welche Krisen des Theaters wurden bereits beschworen? Und: Welche Lösungsideen entwickelt? Die 1946 in Berlin gegründete Zeitschrift Theater der Zeit ist unter diesen Aspekten im Zeitraum bis Anfang der 1990er Jahre besonders interessant, weil sie besonders starke Realitätsbefremdungseffekte provozieren kann – so anders als heute waren die In der Ausgabe 1969/10 von Theater der Zeit wurde über Leitungsstrukturen und ein produktives Miteinander nachgedacht – hier ein Teil des Cover-Bildes: „Die Aula“ von Hermann Kant, Arbeitertheater VEB Renak Reichenbach. Foto Theater der Zeit / Lüttig

Ideen vom Selbstverständlichen und Wünschenswerten. Ein weiteres Vergleichsmoment bietet der Blick auf die 1960 – Gerüchten nach als Reaktion auf TdZ – gegründete westdeutsche Theaterzeitschrift Theater heute. Während dort – als Produkt des privaten Friedrich Verlags – Kritik und Debatten als wichtiges Instrument einer aufbruchsbereiten demokratischen (Theater-)Kultur begriffen und ausgiebig geübt wurden, agierte die ab 1968 vom vor ­allem staatlich finanzierten Verband der Theaterschaffenden der DDR herausgegebene Zeitschrift Theater der Zeit im Spannungsverhältnis zwischen offizieller Partei- beziehungsweise Kultur­ politik, den Ansprüchen der Theaterschaffenden sowie den materiellen und informationstechnischen Möglichkeiten innerhalb eines mal kleineren, mal größeren, immer aber sozialistisch-­ progressiv definierten Spielraums. Vor allem in den hier im Fokus stehenden späten 1960erund frühen 1970er-Jahren hatten die west- und die ostdeutsche Thea­terzeitschrift gemeinsam, dass sie sich nicht als ausschließlich an Theaterliebhaber gerichtetes Unterhaltungsmedium verstanden, sondern als professionelle Begleitung der praktischen zeitgenössischen Theaterarbeit. Dazu gehörte auch, die Arbeit und Diskurse im jeweils anderen Land aufmerksam wahrzunehmen sowie ausländische Theaterentwicklungen zu verfolgen. (Bei aller – besonders in Theater der Zeit vertretenen – Internationalität kannten beide allerdings noch keine migrantischen Stimmen im eigenen Land.) Beide Zeitschriften dürfen als wichtige Organe der Selbstverständigung der Theaterschaffenden und des Propagierens neuer Ideen angesehen werden – häufiger als heute etwa durch (von den Theatermachern – und seltener Theatermacherinnen – selbst verfasste) Berichte über neue Produktionsweisen und Probenverfahren. Viel wäre natürlich über die Unterschiede zwischen beiden Zeitschriften zu sagen. Im Folgenden stelle ich nur wenige Beispiele vor: für das, was mir auffiel. Es besteht kein Anspruch auf Gültigkeit für größere Zeiträume, vor allem versuche ich, auf Bewertung und Deutung zu verzichten, die nicht ohne komplexere Erklärungen zu politisch-ideologischen, aber auch produktionspraktischen Kontexten auskommen könnten.

Wer schreibt oder spricht? Wer ist wichtig? In Theater der Zeit schreiben damals häufig Dramaturginnen und Dramaturgen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an Theatern oder Hochschulen angestellt sind. (Das wird ersichtlich, weil deren Berufspositionen – anders als in Theater heute – mitgenannt werden.) Immer wieder gibt es Texte von oder Gespräche mit Schauspielerinnen und Schauspielern beziehungsweise Porträts über sie; Regisseure oder Regisseurinnen (die allerdings konsequent „Regisseur“ genannt werden und sich auch selbst so bezeichnen) kommen dagegen seltener zu Wort. Sogar in den oft sehr ausführlichen Inszenierungsbesprechungen, die eher im Tonfall eines kollegialen Ratschlags an eine ­Gruppe formuliert werden und die auf die Lernfähigkeit der Beteiligten sowie weitere Entwicklungsmöglichkeiten abzielen, wird die Regieposition kaum erwähnt – der Autor beziehungsweise die Autorin immer, ebenso die Darstellerinnen und Darsteller, auch die Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner. Es schreiben in TdZ überwiegend Männer, aber (im Gegensatz zu TH!) auch Frauen – über deren vergleichsweise neue

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gesellschaftliche Position als selbstverständlich auch noch Lohn­ arbeitende dabei höchstens in Kommentaren von Zuschauerinnen zu konkreten Inszenierungen neuer Stücktexte reflektiert wird. (Im Übrigen werden in TdZ auch theatersoziologische Studien zur ­Pu­blikumsforschung als Beilagen veröffentlicht.) In Theater heute wiederum werden die jungen Regisseure ­deutlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sie sind die streitlustigen und nachdenklichen, charismatischen und befreienden Prota­gonisten eines neuen politischen und künstlerisch ­experi­men­tierfreudigen Theaters; es wird öffentlich gestritten, gern auch mit Intendanten. Regisseurinnen kommen nicht vor, allerdings berichtet man(n) im August 1974 über „Frauen, die am Theater arbeiten“ und lässt dabei eine von drei (!) in der BRD ausgemachten Regisseurinnen zu Wort kommen (die aus der DDR übergesiedelte, frühere BerlinerEnsemble-Schauspielerin Angelika Hurwicz) sowie eine angesichts der unfreien Zustände an den Theatern fast verzweifelnde Regie­ assistentin (Vera Sturm) und eine mit einem „Frauen-Stück“ über die „Unmöglichkeit der Emanzipation“ debütierende promovierte Dramaturgin (Ursula Krechel mit „Erika“; „Ich war darauf gefaßt, schlecht behandelt zu werden“, der erste Satz ihrer Probenreflexion).

Was wurde wie verhandelt? Wichtige Themen der DDR-Zeitschrift sind wiederkehrend etwa die Weiterentwicklung der „neuen sozialistischen Dramatik“, die Ausbildung der Theaterschaffenden (aller Berufsgruppen) sowie Fragen „sozialistischer Leitungswissenschaft“ und demokra­ tischer Organisierung im Sinne der Selbsttätigkeit der Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeiter („Künstler als Subjekte“). Aber auch Ideen für eine ökonomisch effiziente Produktion, die ohne Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bei Einhaltung einer Fünf-Tage-Woche durch gute Planung erreicht werden soll, werden ­diskutiert. Als zeitsparendes Beispiel cleverer „sozialistischer G ­ emeinschaftsarbeit“ wird etwa eine 1967 in Halle realisierte Produktion zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution (Textbearbeitung Heiner Müller) vorgestellt: Indem zwei Regisseure parallel je eine Hälfte des Textes mit je einer Hälfte des Ensembles probten, konnte in nur drei Wochen eine eineinhalbstündige neunteilige Revue auf die Beine gestellt werden; vorgerechnet wurde, dass man so statt der üblichen vier Wochen mit einem Regisseur ins­gesamt sogar sechs Wochen habe proben können (siehe TdZ 1968/19). Aus der Fähigkeit des Rechnenkönnens resultiert eine Qualitätssteigerung der Inszenierungsarbeit, die mit dem Prädikat „geistige Durchdringung“ ausdrücklich gelobt wird. Ausruhen auf Erfolgen ist allerdings nicht vorgesehen, beständig gemahnt man sich zur weiteren Verbes­ serung; wie die sozialistische ­Gesamtgesellschaft sollen auch die Theaterschaffenden mittels kluger Theorie-Praxis-Dialektik einer gerechteren Zukunft ent­gegenstreben. Im Oktober 1969 wird etwa zur „Kunst sozialistischer Menschenführung“ im Theater erklärt: „Die nächste Zeit wird eine Periode intensiven Lernens sein müssen, eines Lernens nicht nur aus Büchern der Philosophie, Führungswissenschaft, Organisationswissenschaft, Kybernetik, ­ ­Pädagogik und Psycho­logie, sondern zugleich eines Studiums der fortgeschrittensten E ­ rfahrungen der künstlerischen Praxis.“ Die Reflexion der künstlerischen Praxis ist dabei nicht etwa auf die unmittelbaren Fragen des Schauspielens oder der

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­ hemenauswahl, Stückkonzeption und -interpretation beschränkt, T sondern es werden – anders als in Theater heute – immer wieder auch Fragen aller Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeiter, etwa der Maskenbildnerinnen und Maskenbildner, und die diversen Einflussfaktoren auf das „Gesamtprodukt Theater“ (wie Beleuchtung oder Theaterneubauprojekte) berücksichtigt. Die in der BRD ab 1968 heiß diskutierten Probleme um ­Autoritätshörigkeit, fehlende Diskussions- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Theatern wurden in Theater der Zeit hin­gegen zum Anlass genommen, auf „die gesellschaftliche Über­legenheit unseres sozialistischen Theatersystems“ zu verweisen (siehe TdZ 1968/10). „Das berechtigte Unbehagen zahlreicher westdeutscher Theaterleute über das Theatersystem des Bonner Staats“, heißt es im TdZ-Editorial, habe sich bei den west­deutschen Kollegen „in einem prinzipiellen, scharf pointierten Artikel“ ent­laden, der unter dem Titel „Über den autoritären Geist des deutschen Theaters“ im Aprilheft 1968 in Theater heute veröffentlicht worden war. Die ­Thesen und Forderungen der jungen Schauspieler Barbara Sichtermann und Jens Johler werden in Theater der Zeit genau wiedergegeben, um dann zu erklären: „Das Prinzip der demokratischen Mitbestimmung in unseren Ensembles, unser Ensemblebegriff überhaupt; die verschiedensten Möglichkeiten, die gesellschaftliche Organisationen, die Gewerkschaft und das von ihr geschaffene ­Instrument, der Künstlerisch-Ökonomische Rat, den Theaterschaffenden bieten, um ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen, das Prinzip der Gemeinschaftsarbeit, der kollektiven Beratung, die selbstverständlich den Leitungen nicht die Verantwortung abnimmt – all dies sind Errungenschaften unseres sozialistischen Systems, deren man sich häufig erst dann wieder bewußt wird, wenn man solch einen Beitrag wie den oben erwähnten liest.“ In der Deutschen Demokratischen Republik hat man sich derweil mit anderen Problemen abzugeben – allerdings werden auch diese gelöst. So wird im selben Heft berichtet, warum sich das T ­ heater Brandenburg eine eigene Waschmaschine anzuschaffen gedachte: „Ein weiteres Beispiel, das zweifellos positive Auswirkungen haben wird, ist der Vorschlag zur Beschaffung einer Waschmaschine, um die körperliche Arbeit der Ankleider zu erleichtern. Dadurch wird erreicht, daß eine Planstelle der Ankleider eingespart werden kann und diese der künstlerischen Produktion zur Verfügung gestellt werden kann; daß eine termingerechte Bereitstellung der Leibwäsche für die Vorstellungen erfolgen kann; daß die körperliche Arbeit der Kollegen Ankleider erleichtert werden kann; daß durch Übernahme von Fremdaufträgen (gedacht ist dabei an ‚Junggesellen‘ des Theaters) außerdem noch ein ökonomischer Nutzen erzielt werden kann.“ Der Autor erklärt außerdem, wie weiterer Fortschritt in den Theatern organisiert werden solle: „Der bisherigen Tendenz zu einer kleinen ‚Leitungsspitze‘ soll die ‚Spitze‘ genommen werden und auf eine horizontale Leitungsebene übergegangen werden.“ Was ist aus all dem zu lernen? Eine Menge. Die Aufgaben von gestern sind – trotz zum Teil gänzlich veränderter Vorzeichen – immer noch die Fragen von heute. Und vergessen wir, nur weil es jetzt Waschmaschinen und eine Reihe zusätzlicher Theater­ sorgen gibt, auch nicht die Ankleiderinnen und Ankleider! // Anna Volkland ist Diplom-Dramaturgin und forscht derzeit zu „Institutionskritik im deutschen Stadttheater seit den späten 1960er-Jahren“.



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Bild: Ausschnitte der Ausmalung der Paradieshalle im Gerhart-Hauptmann-Haus in Jagniątków (Agnetendorf) von Johannes Maximilian Avenarius. Foto: GHT/Wojciech Miatkowski

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Die Wiederentdeckung einer der aufregendsten Frauen der »Goldenen Zwanziger« Eine Biografie, geschrieben für alle Leserinnen und Leser außergewöhnlicher, dramatischer Lebensgeschichten.

»Overhage zeichnet mit Liebe nach, sie nimmt in ihrer Biografie für Maria Orska als Person ein, die man mit ihren Schwächen und Fehlern mag. Es ist schön, dass jetzt auch ein Buch an Maria Orska erinnert.« Katrin Bettina Müller, taz. am Wochenende

»Sie spielte wie im Rausch«. Die Schauspielerin Maria Orska von Ursula Overhage 272 Seiten, 24,- Euro ISBN 978-3-89487-816-0 Henschel Verlag www.seemann-henschel.de

Der Henschel Verlag gratuliert der Theater der Zeit zum 75. Jubiläum.




Theater wird sein! Theater der Zeit wird sein!

Die Theater aus dem Südwesten grüßen ganz herzlich das Theater-Magazin aus dem Nordosten.


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Die Lücken im Archiv Die Soziologin Katharina Warda über ostdeutsche Migrationsgeschichten und die vielfältigen Perspektiven des Erinnerns von Paula Perschke

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atharina Warda, als Soziologin beleuchten Sie in Ihrer For­ schung blinde Flecken in der deutsch-deutschen Geschichts­ schreibung. Im vergangenen Jahr haben Sie beispielsweise etliche bislang unerzählte Geschichten zum 30. Jahrestag der Wieder­ vereinigung beigetragen. Welche Erinnerungslücken haben Sie bisher gefunden? In der deutschen Geschichte gibt es generell immense Gedächtnislücken. Gerade ostdeutsche Perspektiven fehlten sehr lange. Ich bin in den 1990er Jahren in Wernigerode aufgewachsen. Zu dieser Zeit existierte – vorrangig durch westdeutsche Narrative geprägt – eine karikative Idee des „Ostdeutschen“, der höchstens in Fernsehtalkshows als Witzfigur auftreten durfte. In diesem fragwürdigen Format wurde über den drolligen Dialekt gelacht, anstatt dass diese Person selbst zu Wort kommen konnte. In den letzten Jahren hat sich das zum Glück verändert. Was bis heute aber nach wie vor fehlt, sind nichtweiße Perspektiven und Erzählungen. Wenn heute über den Osten gesprochen wird, hat man immer eine sehr homogene weiße Bevölkerung vor Augen – was allerdings nicht der Realität entspricht. Auch die DDR und schließlich der Osten selbst haben eine kontinuierliche wie auch alte Migrationsgeschichte – geprägt durch die deutsche Kolonialzeit. Zusätzlich gab es in der DDR den sozialistischen Internationalismus, auch dadurch entstand Migration. In ganz Deutschland lebt bis heute eine bunte Bevölkerung. Allerdings wird öffentlich kaum reflektiert, dass es auch nicht­

weiße Deutsche gibt und die deutsche Geschichte somit auch eine nichtweiße Geschichte ist. Es gibt einfach keine Sichtbarkeit, obwohl diese Personen da sind. Das ist paradox, denn gleichzeitig war der Osten in der Medienberichterstattung beziehungsweise im öffentlichen Bild immer schon der Ort für rechte, auf diese Mitbürgerinnen und Mitbürger gerichtete Gewalt. Gleichzeitig existiert in Deutschland die Vorstellung, dass es hier kein Rassismusproblem gäbe. Zwar würde es Rassisten geben, aber das seien vorgeblich individuelle Fälle, sprich: die Ossis mit Springerstiefeln vom Dorf. Somit ist der Osten der Ort für rechte Gewalt und gleichzeitig ein rein weißer Ort. Die Personen, die davon betroffen sind, tauchen als Perspektiven überhaupt nicht auf, aber man spricht gern über sie. Worauf ich mich in meiner Arbeit konzentriere, sind aber nicht nur nichtweiße Stimmen, sondern auch ­diejenigen, die zum Beispiel durch Klassismus verloren gehen. Die Wende war ein riesiger Transformationsprozess, der viel mit Arbeitslosigkeit, mit Statusverlust und sozialem Abstieg zu tun hatte.

Auch die DDR blickt auf eine Migrationsgeschichte zurück – hier (v.l.n.r.): eine Betriebsweihnachtsfeier im Werk für Messelektronik in Ost-Berlin 1973, Ausbildung von Hebammen an der Medizinischen Akademie Dresden 1982, zwei Ingenieure aus Hanoi und Dresden an der Hochschule für Verkehrswesen 1973, Student an der Universität Jena 1969. Fotos dpa


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Wie kann es zu einer solchen Abwertung und Ignoranz gegenüber Ostdeutschen kommen? Das passiert in Abwertungsprozessen generell. Identität funktioniert so, wie sie zelebriert wird: Wir grenzen uns von etwas ab, machen andere lächerlich, klein und hässlich, dadurch sind wir jemand und können als strahlend und schön dastehen. Verzerrte Bilder davon, wie Menschen wahrgenommen werden, sind außerdem überall da zu finden, wo Diskriminierungsprozesse stattfinden. Zum Beispiel im Kolonialismus. Den daraus entstandenen Rassismus samt seiner grotesken und entmenschlichenden Darstellungen von Schwarzen Personen gibt es bis heute. Guckt man auf die Geschichte der Wiedervereinigung, ist das damit keinesfalls vergleichbar. Es lässt sich aber eine Dynamik der Abwertung beobachten. Möglicherweise waren und sind das auch noch Überbleibsel des Kalten Krieges, um zu zeigen, wer hier der Gewinner und wer der Verlierer ist. Welche Quellen verwenden Sie für Ihre Forschung? Das ist sehr unterschiedlich. Wenn ich wissenschaftlich arbeite, recherchiere ich eher in einem akademischen Spektrum. Aber wenn es um meine Arbeit als Autorin geht, suche ich nach Erzählungen, die nirgends stehen. Beim Schreiben verkrieche ich mich tief in mich selbst, um meine Stimme zu finden. Weil ich das Gefühl habe, dass sie in die „offizielle“ Geschichtsschreibung eben nicht hineinpasst. Wer bin ich ohne das, was mir von außen immer übergestülpt wird? Bin ich überhaupt? Und wie verhält sich mein Ich zum Außen, zu gesellschaftlichen Machtprozessen? Ich höre mir andere Geschichten an, frage Menschen, wie es ihnen ergangen ist, unterhalte mich also mit genau jenen Personen, deren Geschichten in den Archiven sonst nicht auftauchen. Für die Befragten ist das nicht immer einfach, weil sie sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Wer spricht schon gerne über Abwertung? Wer stellt sich schon gern den eigenen Ängsten, der eigenen Scham, der Frage, inwiefern man vielleicht nicht dem Ideal entspricht, welches die Gesellschaft vorgibt, kurz: diesen ganzen unangenehmen Gefühlen, die wir gerne wegschieben, auch in unserer heutigen Gesellschaft? Da hineinzugehen und sich durch die alten Schichten durchzuwühlen, ist unglaublich schwer. Ich selbst habe damit schon sehr früh angefangen – auch weil ich keine andere Chance hatte. Es gibt viele Diskriminierungspunkte in meiner Biografie. Das heißt, ich habe mich immer fehl am Platz gefühlt, dadurch, wie mit mir umgegangen wurde,

und ich wusste sehr früh, dass ich einfach nicht als „normal“ akzeptiert werde. In Deutschland habe ich immer im Osten gelebt. Als Kind hätte ich gern Vorbilder gehabt, an denen ich mich hätte orientieren und von denen ich mich hätte inspirieren lassen können. Auch, um über rechte Gewalt zu sprechen, ohne gleich beschämt zu werden. Darüber, was da eigentlich alles passiert ist und wie krass das war. Ich hätte mir nichtweiße Perspektiven aus Ostdeutschland gewünscht. Ich weiß mittlerweile, dass es diese Personen gab und viele davon schon immer aktiv und auch widerständig waren. Wa­ rum sehe ich sie erst jetzt, wo ich nachforsche, obwohl sie schon immer da waren? Ein früher Austausch hätte mir das Erinnern ­erleichtert, jetzt muss ich es eben selbst in die Hand nehmen. Ihr Audioprojekt „Dunkeldeutschland“ erzählt von sozialen Verhält­ nissen der Nachwendezeit. Warum haben Sie den Begriff gewählt? Wer im Osten aufgewachsen ist, kennt den Begriff. „Dunkeldeutschland“ ist einfach ein Schmähwort. Mittlerweile ist es nicht mehr ganz so populär. Der Begriff ist wohl entstanden, weil die Straßen in der DDR so dunkel waren und es keine Leuchtreklame gab. Eigentlich aber steckt dahinter wieder eine Abwertung: Es gibt das Helle, das immer als gut dargestellt wird, und das Dunkle oder eben Schwarze, das negativ konnotiert ist. Mit der Wiedervereinigung wurde „Dunkeldeutschland“ Kandidat für das „Unwort des Jahres 1994“. Später erlebte das Wort noch mal eine Renaissance in der Rede des dama­ ligen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Heidenau, als das ­Asylheim angegriffen wurde. Ich fand das sehr bezeichnend: eine Gegenüberstellung des lichten Deutschlands, Westdeutschland, mit Dunkeldeutschland, dem rückständigen Deutschland des Ostens. Ich habe den Begriff wörtlich genommen, weil Ostdeutschland eine Blackbox ist, in die so viel hineininterpretiert wird. Es ist wie ein schwarzes Loch der Geschichtsschreibung, über das man gern spricht, aber in dem alles, was eigentlich passiert, im Dunkeln bleibt. Ich erzähle Geschichten aus diesem Dunkeldeutschland, egal wie schmerzhaft, lustig oder drollig sie sein mögen. Wie viele Geschichten haben Sie bisher gesammelt, und wen ­haben Sie befragt? Mit dem Projekt wollte ich zurückgehen in eine Zeit, die mich am meisten geprägt hat. Über das Wernigerode, in dem ich aufgewachsen bin, die Stadt der Plattenbauten, Arbeitslosigkeit, Punk-

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Katharina Warda, 1985 in Wernigerode (Harz) geboren, lebt und arbeitet als Soziologin und freie Autorin in Berlin. Inhaltlich liegen ihre Schwerpunkte auf den Themen Ostdeutschland, Rassismus, Klassismus und Punk. Neben ihrer Promotion an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin arbeitet Warda an dem Audioprojekt „Dunkeldeutschland“, das von blinden Flecken deutscher Geschichtsschreibung nach der Wiedervereinigung erzählt. Zudem gestaltet sie derzeit ein Panel für die im Herbst 2021 geplante Konferenz der German Studies Association. Dabei sollen ostdeutsche nichtweiße Personen eine Stimme bekommen. Foto Alena Schmick

musik, Neonazi-Gewalt und Destruktion, gibt es keine Geschichten. Für „Dunkeldeutschland“ habe ich bislang etwa zehn biografische Interviews geführt, bei denen meine ehemalige Punk-Clique im Zentrum steht. Die Personen kommen aus verschiedensten Kontexten, wir haben uns damals alle über die Musik, über Punkrock gefunden. Uns verbanden Radikalität, ­ ­Exzess, Chaos und auch Erfahrungen mit Gewalt. Das waren heftige Zeiten. Einem Freund von mir wurde auf der Straße von Nazis das Ohr abgeschnitten, einem anderen im Edeka-Markt eine durchgeladene Waffe an die Stirn gehalten. Das war Alltag. Ich fand es spannend, meine Clique aus jetziger Sicht zu beleuchten: Wie haben wir gelebt, wie ging man eigentlich damit um, wenn man als Kind in so ein Chaos hineingestürzt wird, in dem sämtliche Strukturen weggebrochen waren? Wir Kinder waren früh auf uns allein gestellt, es war völlig normal, dass wir mit zwölf Jahren auf der Straße rumhingen und jeden Tag Bier getrunken haben. Wir als Punks sind schließlich auch Figuren der sozialen Peripherie gewesen. Zusätzlich gibt es noch Geschichten von Sozialarbeitern, ich habe den Direktor der sogenannten örtlichen „Problemschule“ interviewt, mit dem Sozialdezernenten gesprochen sowie mit der stellvertretenden Bürgermeisterin. Insgesamt ist es ein sehr dynamisches Bild von Geschichte, was da entsteht. Ein dynamisches Bild von Geschichte entsteht also durch biografi­ sches Erzählen? Gerade wenn es um Erinnern, Geschichte und Gesellschaft geht, wird nie objektiv erzählt. Es unterliegt immer einer sortierenden Perspektive. Im Hinblick auf das sogenannte kollektive Gedächtnis frage ich mich daher: Wer gilt als würdig, seine Geschichten zu erzählen? Wer wird vergessen und bleibt weiter unsichtbar als Person und Erzählweise? Zum Glück gibt es noch viele Zeitzeuginnen und -zeugen, die über die DDR und die Wiedervereinigung erzählen können. Es ist spannend, durch das Hinzufügen neuer Erzählweisen mit Machtstrukturen zu brechen. Erinnern geschieht nicht nur im luftleeren Raum, sondern unterliegt – wie unsere Gesellschaft – Strukturen. Es funktioniert nur über biografisches Erzählen, denn es steckt so viel Komplexität darin, die im Rahmen einer offiziellen Gedenkkultur überhaupt nicht erfasst werden kann. Es ist vielmehr ein sich selbst reflektierender Prozess und keine feststehende Perspektive.

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Gibt es trotzdem Kontinuitäten? Wir haben keinesfalls alle dieselbe Osterfahrung! Ich mag es nicht, wenn ich in Interviews als Token, also Alibi-Ostdeutsche herangezogen werde, um für die nichtweiße Erfahrung zu sprechen. Das kann ich nicht. Ich kann aus meiner eigenen Perspektive erzählen, zum Teil auch die Erfahrung anderer mitreflektieren und auf einem Meta-Level wissenschaftlich betrachten, aber mehr nicht. Es sind zum Beispiel auch nicht alle Ostdeutschen von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen. Es haben aber möglicherweise alle eine Transformationserfahrung gemacht. Erst durch den Austausch untereinander werden Kontinuitäten und Überschneidungen sichtbar, die bezeichnend für die Zeit waren. Es ist wichtig, dieses Sprechen miteinander aufrechtzuerhalten und die eigene Biografie dadurch aufzuarbeiten. Als Wissenschaftlerin gehören Sie dem Beirat des bundesweiten Theaterprojektes „NSU – Kein Schlussstrich!“ an. Insgesamt 13 kulturelle Institutionen sind daran beteiligt. Ihr Ziel: künstleri­ sche und zivilgesellschaftliche Interventionen zum NSU-Komplex zu erarbeiten. Die Präsentationen sind für Herbst 2021 geplant. Was bedeutet Aufarbeitung in diesem Sinne? Bei dem Projekt sind Theater aus Städten dabei, in denen der NSU in irgendeiner Form eine Rolle gespielt hat. Jena und Chemnitz zum Beispiel als Herkunfts- beziehungsweise Unterschlupf-Orte. Die Taten sind jetzt zwanzig Jahre her! Ganz lange ist in Sachen Aufarbeitung von staatlicher Seite nichts passiert, bis heute gibt es keine vernünftige Aufklärung dieser Morde. Rassistische Stereotype und institutioneller Rassismus haben den Aufklärungsprozess lange verhindert, weil die Polizei in migrantischen Communities nach den Tätern gesucht hat. Das Projekt heißt „NSU-Komplex“, weil es nicht nur um zwei Täter und eine Täterin geht, sondern darum, dass der NSU Teil rechtsextremer Netzwerke und einer Gesellschaft mit fest verankertem strukturellem Rassismus ist. Auch wenn die späte Selbstenttarnung des NSU geografisch im Prinzip weit weg war, hat das Ganze mit mir als Person of Color zu tun, nämlich mit der Angst, auf der Straße getötet zu werden. Diese Angst kenne ich noch aus den 1990ern. Das Projekt ist in jedem Fall sehr spannend, weil die Betroffenenperspektive in den Mittelpunkt gerückt wird. Was werden historische Archive in der Zukunft brauchen? Ein Archiv sollte den Anspruch haben, Vielstimmigkeit abzubilden. Diese wiederum bringt immer auch Ungereimtheiten beziehungsweise Widersprüche mit sich. Die offizielle Erinnerungskultur, die sich auf unser kollektives Gedächtnis beruft, ist sehr daran versucht, diese Widersprüche auszuradieren. Ein Archiv muss Vielfalt aushalten können und dabei selbstkritisch und selbstreflektiert sein. Wir dürfen nicht vergessen: Ein Archiv ist ein Ort der Macht, der die Entscheidungsgewalt über den Erhalt von Erinnerungen innehat. Zudem besitzt er etwas Starres. Es liegt zwar auch eine Qualität im Vorgang des Bewahrens, aber ein Archiv darf nicht starr gedacht werden, sondern als Prozess, der radikal Auseinandersetzung einfordert. Ein Archiv der Zukunft kann ein intelligenter, lernfähiger Motor sein – und dadurch dynamisch bleiben. //


DANKE FÜR IHRE GEDULD.

U SC NS V H E W OR Ö RE Ö IE S N FF D T S T E E N R L E E N Z LU . U N G

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Look Out

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Von diesen Archivar:innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Das Gedächtnis des Theaters Tote Materialien gibt es nicht – Ein Vierteljahrhundert war Hans Rübesame Archivleiter des Deutschen Theaters Berlin

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er Zufall brachte Hans Rübesame ins Archiv des Deutschen Theaters Berlin, das er 25 Jahre bis zum Beginn der Intendanz von Ulrich Khuon leitete. Der aus Halle Stammende war zuvor Leiter des Schallarchivs beim VEB Deutsche Schallplatten und, für die DDR höchst ungewöhnlich, freischaffender Musikwissenschaftler. Rübesame war mit dem Dramatiker Georg Seidel eng befreundet, der gerade in der Dramaturgie des Deutschen Theaters angefangen hatte und ihm damals den Tipp gab, sich dort auf eine freie Stelle zu bewerben. „Ich kam völlig von der Seite, obwohl ich neben Musik- auch Bibliothekswissenschaften studiert hatte“, erzählt Rübesame. Als Student besuchte er ab 1965 regelmäßig Vorstellungen des DT, Benno Bessons legendäre Inszenierung „Der Drache“ gleich als Erstes. Die Kenntnis des großen Repertoires über eine lange Zeit war eine gute Grundlage für die spätere Archivarbeit, die unter der Intendanz von Dieter Mann und dessen Chefdramaturgen Hans Nadolny begann. Zu dem eigentlichen Archiv gehörte auch eine Hausbibliothek, aus der Material für die Dramaturgen bereitgestellt wurde. Außerdem konnte Rübesame für spezielle Aufträge in die großen Bibliotheken Berlins gehen. „Einige Dramaturgen“, berichtet er, „hatten dort nämlich Entleihungsverbot wegen nie zurückgegebener Bücher.“ Dieser Teil seiner Tätigkeit war also auf die Dramaturgie des Hauses ausgerichtet. Im Archiv trafen aber auch Anfragen aus aller Welt ein, vor allem von Theaterwissenschaftlern und Studenten. Da baten Experten aus Südkorea um Auskünfte und Material zu Max Reinhardt oder Brecht, aber es gab auch private Erkundigungen, etwa von Nachfahren weniger bekannter Schauspieler fürs Familienalbum.

Regiebücher, Soufflierbücher, Fotos, Plakate, Programmzettel und -hefte, das war der Grundstock des Archivs des 1883 gegründeten Deutschen Theaters. Ab 1945 wurde möglichst alles systematisch erfasst, was bei einer Theaterarbeit übrig bleibt. Dazu dicke Pressemappen, lückenlos zu allen Inszenierungen, auch Werbematerial und natürlich die hauseigenen Publikationen. Die Fotoabteilung bewahrt bis heute einen riesigen Schatz an Bildern auf. Diesen ans Landes­ archiv abzugeben, das hat Rübesame engagiert verhindert, denn das unersetzliche Bildarchiv gehöre einfach in dieses Theater. Ab den späten acht­ ziger Jahren kamen dann auch Videoaufzeichnungen dazu, die heute so selbstverständlich sind wie die nur noch digitalen Fotos. Die Grundstruktur der Sammlungen ist die einzelne Inszenierung. Das Textbucharchiv ist indes alphabetisch nach Autoren geordnet. Darin können Forscher manchmal Erstaunliches finden, wie anderswo nie publizierte Anmerkungen. Carl Zuckmayer zum Beispiel reichte ein eigenes Stück mit dem handschriftlichen Vermerk auf der ersten Seite ein: „Dieses Stück müssen Sie in der nächsten Spielzeit aufführen.“ Die Besonderheit des DT-Archivs bestehe darin, betont Rübesame, dass es dort „keine toten Materialien“ gibt. Dieses Theater war in der Geschichte immer so bedeutend, dass vieles kaum Staub ansetzte. Die Sachen wurden gesucht und benutzt, erforscht und in neue Zusammenhänge gebracht. Der Archivar ist der­ jenige, der diese Verlebendigung möglich macht. Es handelt sich dabei um nicht weniger als eine Arbeit am kulturellen Gedächtnis. Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Künste an der Berliner Akademie der Künste (siehe auch S. 58), sagt, dass ja schon die Inszenierung selbst ein historisches Gedächtnis ihrer Gegenwart darstelle. Daher müsse für sie eine Form der Überlieferung gefunden werden. Am Deutschen Theater hat Hans Rübesame ein Vierteljahrhundert lang genau dafür gesorgt. // Thomas Irmer Hans Rübesame. Foto Ch. Links Verlag

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Look Out

Eine Stiege für den Kaiser Rita Czapka wacht als Archivarin über den Wissensspeicher des Burgtheaters Wien – und kennt so manches Geheimnis

ie älteste Buchausgabe, die sich im Burgtheaterarchiv ­ efindet, ist eine Sammlung von ins Deutsche übertragenen b ­Komödien (unter anderem von Molière) aus der Zeit um 1760. Dass sich die Archivarbeit manchmal wie eine „Schatzsuche“ anfühlt, wie es Rita Czapka bezeichnet, verwundert da nicht. Zumal im Fall des Wiener Burgtheaters und seiner langen und wechselvollen Geschichte entsprechend viel zu dokumentierendes Material angefallen ist. Als Theater nächst der Burg existiert es seit dem Jahr 1748. Das Archiv muss also aus allen Nähten platzen und tut es auch, wie die seit 1993 am Haus tätige Archivarin bestätigt. Bestände ­ wurden bereits in die Dramaturgie ausgelagert, wo Rita Czapka umringt von dicht befüllten Regalen sitzt. An der Wand hängt ihr Lieblingsfundstück, eine mehrfach vergrößerte Fotografie vom festlich erleuchteten Burgtheater bei der Wiedereröffnung mit „König Ottokars Glück und Ende“ 1955. Über sich selbst spricht Rita Czapka nicht so gern. Sie möchte – und das gehört wohl zum Berufsbild der Archivarin – lieber nicht im Mittelpunkt stehen. Über ihren Werdegang macht sie kein Aufsehen. Kurzum: Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Musik- und Theaterwissenschaften in Wien zog es sie magnetisch ans Burgtheater, wo die turbulente Ära Claus Peymanns bereits Fahrt aufgenommen hatte. Mit liebevoller, warmer Stimme spricht Czapka über die unzähligen Vorstellungen, die sie am Haus ge­ sehen hat. Man spürt, wie zugewandt sie dem Theater und dessen Protagonistinnen und Protagonisten war und ist. Und wie sehr sie sich der Geschichte des Hauses gegenüber verantwortlich fühlt. Rita Czapka ist nicht nur Wächterin eines Theaterschatzes aus Regie-, Soufflier- und Inspizientenbüchern. Im Archiv finden sich Büsten, Totenmasken, Biografien, Fotografien und auch Korrespondenzen, etwa Briefe von Arthur Schnitzler an die Direktion

Rita Czapka. Foto Reinhard Werner / Burgtheater

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des Hauses. „Ich finde manchmal auch alte Stückfassungen, die noch von Kopisten vervielfältigt wurden, also handschriftlich vorliegen“, sagt sie. Die Gemäldegalerie mit Porträts von Burgschauspielern „aus vier Jahrhunderten“ ist ebenfalls Teil des Archivs. Zum Archivarinnenwissen gehören auch Anekdoten. Dort, wo sich heute das Archiv befindet, in Räumlichkeiten hinter dem Vestibül, existierte eine Wendeltreppe eigens für den Kaiser, verrät Rita Czapka. Der Kaiser stieg in der Auffahrt aus seiner Kutsche und ging von dort direkt zur Kaiserloge hinauf. Wie praktisch! Bereits am ersten Standort des Burgtheaters am Michaelerplatz verfügte die damalige Kaiserfamilie über einen direkten Zugang von den Privatgemächern der Hofburg zu ihrer Loge. Heute ist Digitalität ins Archiv eingezogen. Einige Regie­ assistentinnen und -assistenten sind bereits auf digitale Regie­ bücher umgestiegen, beobachtet Rita Czapka. Verändert haben sich auch die Arbeitsweisen der Forscherinnen und Forscher. Gab es früher unzählige Anfragen betreffend Stückfassungen, so ist man heute meist nur an Inszenierungsaufzeichnungen interessiert. „Das ist schade“, sagt Czapka, „denn ich glaube, da geht viel Zusammenhang verloren. Die Gläubigkeit den Bildern gegenüber ist groß. Die Visualisierung des Theaters überwiegt – sie ist mit der Pandemie noch gewachsen.“ Und was einer Archivarin auch noch auffällt: Das Theaterarchiv ist männlich dominiert. So gut wie ausschließlich Autoren, Regisseuren und Direktoren gebührten Totenmasken, Büsten nur wenigen Schauspielerinnen. Und sogar noch auf den heiß umkämpften Stehplätzen zur Wiederöffnungspremiere anno 1955 waren nur männliche Studenten zugelassen. Wie das? Rita Czapka ging ins Archiv: „Studentinnen hatten damals offensichtlich ­einen minderwertigen Status. Alle Frauen, die anwesend waren, waren entweder Schauspielerinnen oder Gattinnen von eingeladenen männlichen Gästen.“ // Margarete Affenzeller

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202 Zum gemeinsamen 75. Geburtstag wünschen wir uns alles Gute!


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Das ändert natürlich einiges. eini e STAATSTHEATER COTTBUS


150 Jahre Theater Altenburg Die Festschrift

Mit Beiträgen von Elisabeth Bauchhenß, Mona Becker, Felix Eckerle, Franziska Engemann, Klaus-Jürgen Kamprad, Ulrich Khuon, Peter Konwitschny, Frieder Krause, Roland Krischke, Lutz Mahnke, Christoph Meixner, Anno Mungen, Sophie Oldenstein, René Prautsch, Christian Repkewitz, Ronny Ristok, Michael Schindhelm, Ingo Schulze, Ulrich Sinn, Peter Sommer, Thomas Stolze und Annegret Werner

Herausgegeben von Felix Eckerle & Harald Müller Theater Altenburg Gera Verlag Theater der Zeit, Berlin 256 Seiten, Hardcover Subskriptionspreis bis zum 18. April 2021 € 19,(Vor-)Bestellungen über den Webshop des Theaters.

Ladenpreis ab dem 19. April 2021 € 24,(erhältlich an den Theaterkassen und im Buchhandel)

Theaterkasse Gera 0365 8279105 · Theaterkasse Altenburg 03447 585160 · www.theater-altenburg-gera.de


40 Jahre neues theater Halle! Unser Jubiläumsbuch DIE WURZELN DER LEUTE REICHTEN BIS ZUM MITTELPUNKT DER ERDE können Sie ab dem 8. April 2021 käuflich erwerben unter: https://buehnen-halle.de / 40jahrent


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WIR SIND DA* *ONLINE

www.theater-magdeburg.de

Foto: Andreas Lander

EINE MITTEINE MITTSOMMERNACHTSSOMMERNACHTSSEX-KOMÖDIE Schauspiel von Woody Allen

Sommertheater 2021 Heidecksburg Rudolstadt Regie: Philippe Besson Bühne und Kostüme: Henrike Engel


Jetzt hab ich sie wieder,

meine Zukunft und lass sie nicht mehr los. Dirk Laucke »Hannibal« Uraufführung am 30.9.2021


Erkenntnis und Vergnügen von Harald Müller

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in Mann, der was zu sagen hat und keinen Hörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Hörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat“ (Bertolt Brecht). Mir war damals im Herbst 1992 dieses Dilemma sehr bewusst, als ich mit Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Frank Raddatz den Neustart der Zeitschrift Theater der Zeit vorbereitete. Ich gebe ehrlich zu, Theater der Zeit zu DDR-Zeiten nicht wirklich wahrgenommen zu haben: zu affirmativ. Eher schon, auch das gehört zur Wahrheit, das Theatermagazin aus Seelze, das man – wenn man wusste, wo – einsehen konnte. Ich wollte lesen,

was Thomas Brasch und Stefan Schütz schrieben, was Ruth Berghaus, Jürgen Gosch, Einar Schleef und B. K. Tragelehn inszenierten, was Jutta Hoffmann und Jürgen Holtz spielten und all die anderen, furchtbar vielen Exilierten trieben – über die Theater der Zeit damals nicht schrieb. Wie sage ich es heute: Meine Generation, die in den Achtzigern zu Bewusstsein und auch zu Selbstbewusstsein kam, suchte neue Auswege aus dem DDR-Biedermeier. Im Angesicht von ­atomarer Systemschmelze und der totalitären Gesinnung eines Verbotsstaates entwickelte sich zusehends ein Endzeitgefühl, und jeder musste sich die Frage stellen, ob er Feinstaub oder Granulat im Getriebe eines Kontrollsystems sein wollte. Die Antworten fanden wir in den sich plötzlich herausbildenden Subkulturen, nicht nur in Berlin: David Bowies illegale Konzerte in Hinterhöfen


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des Prenzlauer Berges entdeckten wir wieder im Bühnenbild der „Macbeth“-Inszenierung von Heiner Müller 1982 in der Volksbühne, Zinnobers „traumhaft“-Performance schlossen wir mit Auftritten der Autoperforationsartisten um Via Lewandowsky kurz. Christoph Heins Chinoiserien und Lothar Trolles Dada- sowie Barbara ­Honigmanns Poesie-Versuche, die Wahrheit zu sagen, lockerten unser Herz und Hirn im Land von Hammer und Sichel. Das war uns sehr nah, ich bin für das Privileg dieser Erfahrung sehr dankbar. Was Brecht in seiner „Radiotheorie“ beschrieb, stand uns als uferloses Szenario gesellschaftlicher Umwälzung vor Augen: zu wissen, in welcher historischen Epochen-Erfahrung der Totalitarismen die Zeitschrift gegründet und gewachsen war, und nicht zu wissen, welche neuen Adressaten wir anzusprechen hatten und wo sie sich befanden. Den Dreck des 20. Jahrhunderts zu sehen und zu benennen und ebenso die „Heiligkeit“ von Kunstanstrengung und -ergebnis im und für das Theater zu würdigen. Heiner Müller, interessierter Beobachter unserer Suchversuche, gab mir im Spätherbst 1992, am Rande einer Abendprobe von Einar Schleefs Hochhuth-Uraufführung „Wessis in Weimar“ im Berliner Ensemble, den Hinweis, dass die Theater-der-Zeit-­ Titelrechte von der Treuhand gehalten und meistbietend verscherbelt werden sollten – plus etwas Kleingeld dazu (oder ­waren es größere Banknoten?). Um es kurz zu machen: Es gelang mir, die Rechte zu er­ werben, und los ging die kamikazereiche Geschichte im Mai 1993, als ein eigens dazu gegründeter Förderverein mit Unterstützung des Kulturfonds und auf Votum von Herbert Schirmer, dem ­Kulturminister der Regierung Lothar de Maizière, das erste Heft der Neu-Edition herausgab. Punktgenau zum Berliner Theatertreffen, wo es von den einen hocherfreut in Empfang genommen, von ­anderen misstrauisch beäugt wurde – wir störten das beginnende Selbstgespräch des Westens über den Osten. Dass die Geschichte von Theater der Zeit allerdings sehr viel früher begann, nämlich bereits kurz nach Kriegsende im Berliner Scheunenviertel, und dass die Zeitschrift Legenden gebildet und unsere Erinnerungskultur in der deutsch-deutschen Theater­ geschichte mitgeprägt hat, verdanken wir vor allem dem Theaterkritiker Martin Linzer, ihrem Redakteur und Autor seit 1954. In den späten sechziger Jahren war es dann Friedrich Dieckmann, der der Zeitschrift als freier Mitarbeiter zu einem ansehnlichen Format verhalf. Beide führten mich damals in die dornenreiche Archäologie unseres Blattes ein, das in diesem Jahr – man will es nicht glauben – 75 Jahre alt wird. Am ersten Montag im Juni 1946 konnte man im zerstörten Berlin die erste Ausgabe von Theater der Zeit für eine Mark in der sowjetisch besetzten Zone käuflich erwerben. Es waren gerade mal 32 Seiten im A4-Format, die schwarzweiß gedruckt wurden. Aber die Auflage betrug unglaubliche 50 000 Exemplare, hergestellt auf einer alten Maschine, die im Keller der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte die Bomben­

angriffe überstanden hatte. Die sowjetische Kulturbehörde übertrug dem ehemaligen Geschäftsführer des Volksbühnenverlags Berlin, Bruno Henschel, die Lizenznummer 58, die ihn zur Herausgabe einer Theaterzeitschrift berechtigte. Henschel tat, ­ was die russische Besatzungsmacht von ihm erwartete: Er setzte den linken Schriftsteller und Dramatiker Fritz Erpenbeck, der ­gerade aus dem Exil in Moskau heimgekehrt war, als ersten Chefredakteur ein. Eine Berufung, in der sich die damalige Zeit spiegelte und die nach Gründung der DDR erst recht geltende Berufungs­ praxis blieb. Einem ausschließlich männlichen Redaktionsbeirat ge­ hörten unter anderen der Komponist ­Boris Blacher, der Theaterkritiker Herbert Jhering und die Schriftsteller Günther Weisenborn und Friedrich Wolf an. Bis zum Mauerfall war die Zeitschrift mit einer scheinbar nicht enden wollenden Ära staatlicher Inanspruchnahme verknüpft. 1992 schien ihre Geschichte ans Ende gelangt, der Henschel Verlag, der Theater der Zeit bis dato noch verlegte, schlitterte in den Konkurs und stellte das Erscheinen mit der Märzausgabe ein. Dass uns nur ein Jahr später ein Neustart als politisch unabhängige Zeitschrift gelang – zunächst als vierteljährlich, bald ­darauf schon als alle acht Wochen und ab Januar 2000 dann ­wieder als monatlich erscheinendes Blatt – grenzt an ein Wunder, und ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Autorinnen und ­Autoren, allen Fotografinnen und Fotografen, allen Gestalterinnen und Gestaltern, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verlag, ohne deren aufopferungsvolle Arbeit die Zeitschrift nicht zu dem geworden wäre, was sie heute ist: eine im In- und Ausland wohlbekannte, fachlich anerkannte Theaterzeitschrift. Jede Ausgabe von Theater der Zeit bedeutet für mich ein ­Kapitel, das das gesellschaftliche Geschehen und den Wandel der Theaterkultur festhält, Stimmungslagen wiedergibt und Meinungen bildet wie diskutiert. Die Zeitschrift hat über die Jahre und Jahrzehnte eine ­geistig-kulturelle Gemeinde gewonnen, der wir uns verbunden fühlen, auch in ihrem permanenten Wandel. So wie sich über die Zeiten und Grenzen Theater und Publikum verändern, transformiert sich auch die Zeitschrift. Theater der Zeit lebt durch seine Leserinnen und Leser im Osten und inzwischen auch ganz selbstverständlich im Westen sowie überall auf der Welt. Gleichwohl sei daran erinnert, dass Theater der Zeit eines der wenigen verbliebenen frei flottierenden Presse­erzeugnisse aus dem Osten ist, welches der Zerstörung der gewachsenen medialen Öffentlichkeit in diesem Teil Deutschlands widerstand. Die Zeitschrift bildet nach bestem Wissen und Gewissen Monat für Monat die Theaterwelt ab, ordnet sie ein und kommentiert sie kritisch. In einer Weise, die Menschen, die gern lesen und Lust am Mitdenken verspüren, im besten Fall Erkenntnis bringt und Vergnügen schafft. //

Eine kurze Geschichte von Theater der Zeit zum 75. Geburtstag

Harald Müller ist Herausgeber und Verlagsleiter von Theater der Zeit.

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„Es ist die Kunst der Fuge, sich nicht zu fügen“ Rückblicke auf Theater der Zeit von Friedrich Dieckmann

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ass die Zeit ein sonderbar Ding ist – wir wissen es nicht erst durch Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, die es allerdings besonders eingängig zu sagen wussten, zuletzt in Barrie Koskys blitzend-einfallsreicher Münchner Video-Inszenierung des „Rosenkavaliers“, in der die Marschallin am Ende des 1. Aktes melancholisch-graziös auf dem Pendel einer riesigen Standuhr hin und her schwang. 75 Jahre Theater der Zeit – das ist eine ziemliche Strecke, und wenn wir die alten Hefte wieder in die Hand nehmen, tritt uns das Timbre der Zeit, der sie entsprangen, mit einer Anschaulichkeit entgegen, wie kein Roman sie erreicht und keine Theatergeschichte. Die Zeit selbst scheint zu uns zu sprechen, nicht nur durch Texte, sondern ebenso durch Druckgestalt und Papier, die Abbildungen, den Preis, den Umfang. Als ich 1965 zu Theater der Zeit stieß, war die Zeitschrift 19 Jahre alt und immer noch sehr bescheiden gewandet: im gestauchten DIN-A-4-Format zum Preis von 1,50 Mark 42 eng bedruckte holzhaltige Seiten, von denen acht römisch bezifferte Stellenanzeigen, Spielpläne von 71 Opern- und Schauspielhäusern des Landes (davon neun in Berlin), Premierenbesetzungen und allgemeine Nachrichten enthielten. Das Impressum findet man längsgedruckt auf dem rückseitigen Umschlag: Manfred Nössig, dem Chefredakteur, attachieren sich außer Karl-Heinz Adler (bin ich ihm jemals begegnet?) Horst Gebhardt, Hans-Gerald Otto und Ingrid Seyfarth, alle drei mir in guter Erinnerung. Otto, ein so angenehmer Partner wie später sein Nachfolger Wolfgang Lange, war für das musikalische Theater zuständig und schickte mich zu den Premieren zweier Opern des aus Siebenbürgen stammenden und als Professor und Akademiemitglied in DDR-Berlin wirkenden Rudolf Wagner-Régeny, eines Komponisten, dessen Schauspielmusik zu Brechts Farquhar-­

Bearbeitung „Pauken und Trompeten“ – mein Artikel nannte sie „ein Meisterwerk zärtlich-ironischer Einfühlung“ – Furore gemacht hatte. Das Erfurter Opernhaus hatte sich des 1935 unter Karl Böhm in Dresden uraufgeführten und danach sehr erfolg­ reichen „Günstlings“ erinnert, die Deutsche Staatsoper Berlin der 1939 unter Herbert von Karajan an der Lindenoper uraufgeführten „Bürger von Calais“, beide mit Texten des Bühnenbildners und Brecht-Freundes Caspar Neher. Mit beiden Werken hatte ich gewisse Schwierigkeiten, unter dem Titel „Deutsche Oper unterm Faschismus“ beschrieb ich sie als Versuche, widerständige Fabeln (im einen Fall ging es um den tyrannisch-skrupellosen Günstling einer britischen Königin, im andern um die zum Opfer eines siegreichen Belagerers bestimmten mittelalterlichen Stadtväter von Calais) durch eine traditionsbewusste Simplizität der textlichen wie musikalischen Faktur zu ermöglichen. Ich hatte viel Raum für meine Einwände bekommen, die sechs Hefte später auf lebhafte Gegenreaktionen stießen. Ernst Hermann Meyer, als Komponist wie als Musikpolitiker prominent, gab abweichende Meinungen kund, und der ND-Kritiker Ernst Krause kippte schier aus den Pantinen: „So bitte nicht!“ endete seine Attacke auf dieses „Ärgernis“, für die er auch die Wochenzeitung Sonntag in Anspruch nahm. Im folgenden Heft meldete sich, kritisch, aber nicht polemisch, der Wagner-Régeny-Biograf Dieter Härtwig zu Wort, zugleich war mir Gelegenheit zu einer eingehenden Erwiderung ge­geben: „Der Kritiker abermals“. „Mit gekränkten Leuten ist schwer reden. Mit schimpfenden schon gar nicht“, hob sie an und vertiefte sich in der Folge in das von beiden Opern auf je eigene Weise auf­geworfene Problem, einer immer komplizierter gewordenen Gesellschaft mit dem Gestus retrograder Vereinfachung zu begegnen. Die Redaktion, auf Debatten geradezu erpicht, gab mir drei Seiten Raum, die Bahn war frei für weitere Mitarbeit, und schon in der übernächsten Nummer war ich wieder für die Zeitschrift unterwegs: zu „Zauberflöten“-Premieren nach Leipzig und Weimar.


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Der Henschel Verlag als Träger der Zeitschrift wurde zu dieser Zeit noch von seinem Gründer geleitet, dem allseits geschätzten Bruno Henschel, der ihn 1952 der SED übereignet hatte; erst 1967 wurde er durch einen farb­losen jungen Mann abgelöst, der als Beigeordneter des agilen Cheflektors Horst ­ Wandrey erschien; die Zeitschrift, inzwischen monatlich erscheinend und in neuem, deutlich opulenterem Gewande, war 1966 Organ des neugegründeten Theaterverbands der DDR geworden. Die Veränderungen, auf das niederschlagende ZK-Plenum vom Dezember 1965 folgend, waren symptomatisch für den Weg des Sozialismus in den bürokratischen Engpass. Klima und Spielräume der Arbeit veränderten sich auch für den freischaffenden Außenseiter, der 1971 im Henschelverlag einen gegen starke innerbetriebliche Hindernisse durchgesetzten Großband über „Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble“ veröffentlichte und etwas ­später als Dramaturg ins Berliner Ensemble eintrat. Die Geschichte der Zeitschrift wie des Verlages wird erst noch zu schreiben sein. Ich überspringe die weiteren Stationen meiner Mitarbeit, die immer eine freischaffendsporadische blieb, übergehe eine Besprechung der „Faust“-Inszenierung von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz am Deutschen Theater, die Anfang 1969 nur als Leserbrief erscheinen konnte, und lasse auch meine als Auftakt zum Beethoven-Jahr erscheinende Dialogneufassung des „Fidelio“ beiseite, die von dem erschrockenen Kulturministerium sogleich mit einem Bann belegt wurde; Horst Gebhardt, inzwischen Chefredakteur, verließ das Blatt. Das war 1970, zwanzig Jahre später trat eine ganze Bevölkerung, deren Landesgrenzen nach nur einer Himmelsrichtung offen gewesen waren, unversehens ins Freie und konnte sich darüber Gedanken machen, wie es im Sevilla der Oper nach der Öffnung der Mauern wohl weitergegangen war. Einer Sicherheit, die auf starken ­Einschränkungen beruhte, folgte eine Unsicherheit, die auf der Freiheit von allen Einschränkungen außer einer beruhte: kein Geld zu haben. Das betraf auch die Zeitschrift, die sich unter dem

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neuen, von der Belegschaft gewählten Chefredakteur Martin Linzer 1990 nach Layout, Format, Autorenschaft grundlegend ­ umgestaltet hatte, ohne in der neuen, konkurrenzträchtigen Welt Fuß fassen zu können. Der Henschelverlag ging in die Hände eines Münchner Interessenten über, der die Zeitschrift im März 1992 einstellte – war es nach 46 Jahren mit ihr vorbei? In dieser Lage trat Harald Müller auf den Plan, der eigentlich einen Verlag der Autoren hatte gründen wollen. Er nahm sich der Verwaisten an, deren Niveau im letzten DDRJahrzehnt stark gelitten hatte, erwarb vom Henschelverlag die Abon­ nentenkartei und ging, im Bund mit einem Essener Verlag ­ namens felidae und gestützt von dem als Stiftung in die Neue Welt geretteten Kulturfonds der DDR, an eine Neugründung, bei der ihm Martin Linzer, Frank Raddatz und der hier Schreibende als Herausgeber zur Seite standen. Geld hatte auch felidae nicht, und als der Verlag merkte, dass mit dem Unternehmen keins zu verdienen war, sprang er nach einem Heft ab – wie ging es weiter? Es ging faktisch im Eigenverlag weiter, gestützt auf eine Interessengemeinschaft, die als kollektiver Eigentümer fungierte, und wir alle – Ingeborg Pietzsch und Monika Mirus waren dabei, und Kathrin Tiedemann stieß aus dem Westen dazu – legten uns unter Linzers leichthändig-souveräner Direktion gehörig ins Zeug. Hier war nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren: eine Stimme im Konzert der Zeitschriften und Tageszeitungen, in der die Erfahrungen eines Theaterlandes von europäischem Rang und unverkennbarer Eigenart im Blick auf die in vollem Lauf befindliche Veränderung der ökonomischen Grundlagen, der gesellschaftlichen Beschaffenheit und der ästhetischen Voraussetzungen zur Geltung kam. Die noch vom alten Henschelverlag verantwortete Übergangsversion der Zeitschrift hatte unter einem verfehlten Layout gelitten: übergroß, blasse Schrift und knallige Überschriften, ein barock überfrachtetes Inhaltsverzeichnis. Hatte man mit Theater heute mithalten wollen? Das neue, auf zweimonatliches Erschei-

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nen angelegte Heft, für dessen Gestaltung wir den WeißenseeProfessor Rudolf Grüttner gewinnen konnten, stand im Zeichen einer noblen Askese; in Treptow, wo die Redaktion ihren Sitz ­hatte, sehe ich mich noch mit Harald Müller und Martin Linzer über Grüttners Entwurfsvarianten gebeugt. Eine Zehn-Punkt-­ Garamond als Grundschrift, zweispaltiger Satz mit Ausnahme des dreispaltigen Dramen-Textes, Schwarz-Weiß-Abbildungen, die auf dem satinierten Papier (es war leider zu teuer) vorzüglich zur Geltung kamen – das erste Heft, Nr. 1 im Mai 1993, war eine Augenweide und ein redaktionelles wie t­ypografisches Meisterstück. Ein Vorwort umriss das neue, durchaus umfassend angelegte Programm: „In einer Situation weltgeschichtlicher Umwälzungen will die Zeitschrift Theaterleuten aus Ost und West, aus Nord und Süd ein Forum der ­Kritik, der Debatte, der Verständigung eröffnen; in e­ iner zerklüfteten Theaterlandschaft will sie zu einer gemeinsamen Sprache bei­tragen.“ Ein lustiges Probenfoto von Frank Castorf fungierte als Frontispizvignette, es folgten Situationsberichte von sieben ­ Stadttheatern aus den für den Westen neuen Ländern, gefolgt von einem Ministerinterview aus Thüringen. Danach brachte Martin Linzer den frischgekürten Kollektiv­ intendanten des Berliner Ensembles in Sicht: Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch, Peter Zadek, Matthias Langhoff (von links nach rechts). Palitzsch äußerte sich gesprächsweise, ein paar Seiten weiter tat dies Thomas Brasch. Inge Pietzsch blickte auf das Schiller-Theater, ich selbst auf die Aufführungen des Freyer-­ Ensembles in der Volksbühne Ost: „Theater als Zeitlupe“ – Wiederkehr eines Großmeisters an dem Haus, in dem er einst mit ­Benno Besson den „Guten Menschen“ auf ein stufenförmiges Großpodest gestellt hatte. „Freyers Theater“, endete mein Text, „dieses Teamwork persönlichsten Einsatzes und beschränktester Kosten, malt die Gespenster der Nichtigkeit an die Wand einer von ihren Fortschritten beängstigten Welt. Wo eine geschäftige Wirklichkeit uns Bewegung vortäuscht, sieht er die stehende Zeit und läßt sie vernehmlich ­ticken, was wie eine Uhr aussieht und sich wie eine Bombe anhört.“ Das alte, gänzlich unvergilbte Heft wieder zur Hand nehmend, finde ich unter den Autoren alte Freunde und Kollegen wie Heinz Klunker, Dieter Kranz und Jörg Mihan und stoße auf eine Besprechung von Ruth Berghaus’ Züricher „Freischütz“-Inszenierung aus der Hand Nora Eckerts, die ihren Werdegang durch viele Stationen unlängst in einem fesselnden Lebensbuch beschrieben hat. Voranstehend eine Laudatio der Berghaus auf den KonradWolf-Preisträger Peter Konwitschny, ein Text von einer Eindringlichkeit und Tiefe, die Einblicke in beide gibt, die Laudatorin und den von ihr Gedeuteten. „Das ist ein Talent“, konnte man hier

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l­esen, „wie wir es in Deutschland Ost und West selten finden; Konwitschny ist wirklich anregend für beide Hälften, und vielleicht fügt sich ja tatsächlich etwas. Doch die Fuge sollte ruhig sichtbar bleiben, und bei Konwitschny bin ich mir so gut wie ­sicher: Er wird sie nicht verwischen wollen, diese Fuge. Es ist die Kunst der Fuge, sich nicht zu fügen.“ Stand auch die Neugründung der Zeitschrift unter diesem Zeichen? Viel­ fache Verwandlungen standen der so sehr geglückten Erscheinungsform bevor, und immer neue Schwierigkeiten bereitete das anfangs zu kurz geratene Inhaltsverzeichnis, das Problem, auf einer, höchstens zwei Seiten alles, was das Heft enthält, mit Titel und Autornamen kenntlich zu machen oder, etwa durch Schwarzdruck mit weißen Buchstaben, im Dunkel zu lassen. Es begleitet die Zeitschrift bis heute, es liegt in ihrem Wesen, das Vielfalt heißt und unter Umständen überschäumend ist. Als ich im Jahre 2005 für die Neue Zürcher Zeitung über den Stand der deutschen Vereinigung zu schreiben hatte, fiel mir die damalige Redaktion als Musterbeispiel des Gelingens ein, ich nannte sie nicht, aber sie war es unverkennbar: „Nach diesen Gesprächen gerate ich in eine Zusammenkunft, die den Eindruck erweckt, als funktioniere es mit der Ost-West-­Differenz der Herkünfte und Prägungen in Deutschland: als lebendige Kooperation von Menschen aus je eigenen Kultur- und Erfahrungsbereichen. Ein Tanzfachmann (mir scheint, er kommt aus dem Westen) … bringt den ­Charakter des Blattes auf den Punkt, als er sagt, man könne von dessen Erscheinungsbild nicht sagen, dass Ost und West keine Rolle darin s­piele; das Besondere sei, dass man sich der Unterschiede des Blicks bewusst sei und sie wechselweise fruchtbar zu machen ­suche. … Doch wo die geistige Existenz so hoffnungsvoll fundiert ist, steht die materielle immer noch auf des Messers Schneide; das Ganze funktioniert nur auf der Basis von Verzicht und Selbstausbeutung.“ Ist das in den 15 Jahren nach dieser Momentaufnahme anders geworden? Das Coronavirus trifft mit dem Theater auch die Theaterpublizistik; während Produktionsbetriebe schier ungehindert weiterarbeiten, blicken die Produzenten der Kultur entgeistert auf die Rücksichtslosigkeit, mit der die Politik ihnen trotz feinstgesponnener Sicherheitsvorkehrungen die Arbeit untersagt. Dass Kunst Widerstand nicht nur bedeutet, sondern ist, wird sich neu zu bewähren haben. // Friedrich Dieckmann ist langjähriger Autor von Theater der Zeit und war 1993 einer der drei Herausgeber der Neugründung der Zeitschrift.


gastkolumne

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Liebes ZENTRALORGAN … Ich lese immer weniger Namen, die ich kenne, die neuen merke ich mir schwer. Manche Fotos nehmen mir die Lust auf die zugehörige Kritik. Manchmal erlebe ich mich rat- und meinungslos. Manches verstehe ich nicht, manches überanstrengt mich, manches interessiert mich nicht. Zeitweise habe ich auch darüber nachgedacht, ob ich die Euro fürs Jahresabo nicht anderweitig ­einsetzen müsste. Regiefrauenquoten? Weiß nicht. Herrenwitze über Frauenfußball? Nö! Die schwarze Schminke bleibt im Kasten. ArmerAlterWeißerTheaterMann schlägt sich herum … Ich habe es nie übers Herz gebracht, einen Schlussstrich zwischen uns zu ziehen, auch wenn die Versuchung da war. Aber dann hätte ich das Gefühl gehabt, mich von etwas zu verabschieden, was mit den Ursprüngen meines Berufswunsches zu tun hat. Darum lass uns reden, was wir aneinander haben: Du hast Dich verjüngt und bist ­erkennbar geblieben. Du bist gesamtdeutscher, europäischer, internationaler geworden. Du zwingst mich zur Auseinander­ setzung und ich bin Dir dankbar für den Blick über meinen Tellerrand. Du überraschst mich mit Beiträgen, die aufregend tief an die Wurzeln ­gesellschaftlicher und künstlerischer Veränderungen gehen. In Deinem Ansatz, Theater als sozial eingreifend zu denken und Entwicklungen auf beiden Seiten der Rampe aufzuspüren, zu ­thematisieren und zu begleiten, fühle ich mich ganz bei Dir. Ich finde Dich m ­ utig und diskursiv, voll Leidenschaft und Verstand. Deshalb wirst Du mir weiter monatlich in gefühlt immer kürzeren Abständen und nachhaltig wechselnden Umverpackungen ins Haus kommen, wirst von mir durchgeblättert oder gelesen werden (tatsächlich oft im viel zitierten kleinsten Raum), manchmal werde ich Dich vielleicht auch liegen lassen. Nach einer Schonfrist wirst Du jetzt gnadenlos recycelt. Als die Ewigkeiten noch nicht vorbei waren, habe ich Dich gesammelt, bei Einsfünfzig war dann Schluss. Das Zonenpapier hielt zwar länger als der Staat, aber verfällt auch allmählich. Und Du bist ja digital archiviert. Ich freue mich auf die Zeit mit Dir, bis dass der Werauch­ immer uns scheidet. Und die paar Kröten für Dich werde ich ­immer haben, bis einst die Bayerische Versorgungskammer das Jahresabo absichert. Alles Gute, ZENTRALORGAN, lass uns weitermachen, auf zur 100! // Thomas Stecher. Foto Ron Marzok

… so nannten wir Dich auf der Schauspielschule in Ost-Berlin ­Anfang der Achtziger (ich glaube, Christoph Hohmann hatte es zuerst ausgesprochen) und das war nicht despektierlich gemeint. Dich als Zentralorgan zu bezeichnen, war damals schon fast subversiv, denn es behauptete eine Gegenwelt zu der des großen Zentralorgans, das damals den Tagesplan fürs kleine Land herausgab. Im Studium wurden die meisten von uns Deine Abonnenten, und ich bin es immer noch. Ununterbrochen, wenn ich von der kurzen Zäsur in den verstolperten Nachwendejahren absehe. Meine stärksten Bindungen an Dich liegen in der Ehemaligen. Ich weiß nicht, ob sich jetzt schon Altrosa über mein Gedächtnis senkt, aber ich fand Dich meistens etwas aufrechter, weniger opportunistisch und manchmal sogar mutiger als andere DruckErzeugnisse der Untergegangenen – eben eine Fachzeitschrift und keine Ideologieschleuder. Das hatte etwas Elitäres. Deine Autoren sind mir bis auf wenige Ausnahmen in honoriger Erinnerung. Sie hatten noch das Kritikerhandwerk in der Tradition von Kerr, Jhering und Luft gelernt, kannten noch nicht das WikipediaCopy-and-Paste mancher heutiger Feuilletonpraktikanten und ­vergaßen auch nie, die Schauspieler zu erwähnen und ihre Arbeit zu beschreiben. Ich habe mich und uns durch die verbleibenden Jahre der DDR von Dir gut behandelt und in der Arbeit achtungsvoll begleitet gefühlt. Ob und wie Du mit alternativen oder subversiven Thea­ terformen und -machern umgegangen bist, weiß ich nicht mehr. Für uns im Osten war es zwar immer spannend, in den Hochglanz Deines westlichen Pendants zu schauen, aber irgendwie passtest Du in Deiner grauen Bescheidenheit besser zu uns und unserer damaligen Arbeit. Als dann Schluss war mit der Theaterrepublik, wollte ich Dich in einer Mischung aus Sentimentalität und Ossi-Trotz nicht verlassen, noch nicht wissend, wo wir uns und das Theater im neuen Deutschland wiederfinden würden. In den folgenden Jahren ist unsere Liaison trotz Abo lockerer geworden, zeitweise gleichgültiger. Seit meinem Auszug aus den subventionierten Häusern um die Jahrtausendwende hat sich meine Arbeitsrealität mehr und mehr von dem entfernt, was Du im Kern widerspiegelst. Der Weg geht selten vom Staatstheater direkt zu Rimini Protokoll, der Raum dazwischen bestimmt für viele von uns die künstlerische und materielle Existenz – dort, wo man immer noch um Kunst ringt, aber auch Geld verdienen muss, auf der Bühne, an der Kasse. Du schaust natürlich vorzugsweise dorthin, wo Neues entsteht, wo sich Dinge verändern. In jedem Förderantrag steht das Wort „innovativ” – aber manchmal fällt mir dazu nichts mehr ein.

Dein Thomas Stecher

Thomas Stecher ist freier Schauspieler, Regisseur und langjähriger Leser von Theater der Zeit.

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Kommt Organisation!


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Das Model, die Russen und eine Handvoll Dollar – Ein Berlin­krimi über die Neugründung von Theater der Zeit

von Frank Raddatz

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s wird 1991 gewesen sein, als mich in Köln der mir nur flüchtig bekannte Harald Müller mit der Frage überraschte, ob ich, falls eine Anschubfinanzierung für Theater der Zeit bewilligt würde, neben Martin Linzer und Friedrich Dieckmann für eine Neugründung von Theater der Zeit als Herausgeber mit westdeutschen Wurzeln zu Verfügung stände. Ich sagte kurzerhand zu. Anscheinend hatten mir meine Heiner-Müller-Interviews in der Zeitschrift TransAtlantik zu einer gewissen Popularität verholfen. Als „berüchtigt“ sollte sie später einmal, nicht ohne Ranküne, Martin Linzer bezeichnen. Ansonsten hatte ich mit Theater der Zeit nur 1991 Kontakt, als ich um ein Interview mit dem Schriftsteller und Dramatiker Jochen Berg gebeten wurde, allerdings habe ich das vereinbarte Honorar nie gesehen. Bald darauf ging der Laden in Konkurs. Bei unserer ersten Sitzung als Herausgeber zum Neustart schlug der sonst so besonnene Friedrich Dieckmann vor, die etwa 150 000 DM, die uns zur Verfügung standen, mit vier Ausgaben auf den Kopf zu hauen, woraufhin sich Martin Linzer bedenklich verfärbte und rasant einem Kreislaufkollaps näherte. Wir beschlossen fürs Erste ein zweimonatliches Erscheinen. Jahre später freute sich Friedrich, dass wir zu den ganz wenigen Printmedien des Ostens gehörten, die auch im vereinigten Land ihren Weg machten. Er war es auch, der im Dezennium darauf die Verhandlungen führte, als der Friedrich Berlin Verlag, der Theater heute, tanz und so weiter herausgibt, das Heft aufkaufen wollte. Zu einer unserer Herausgebersitzungen quartierte mich Harald Müller in einem gerade eröffneten Künstlerhotel in BerlinMitte ein. Die Hoteletage im dritten oder vierten Stock befand sich in einem eher etwas abgewetzten Haus, das einst in der Nähe der Mauer gestanden hatte – mit dem Charme der Dekadenz ausgestattet, der Berlin in diesen Jahren des Umbruchs nicht abgesprochen werden konnte. Am Abend besuchte ich eine Veranstaltung

Die Nächte waren lang, das Leben gefährlich – Bloß gut, wenn am nächsten Morgen ein Fluchtwagen auf einen wartete (hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1965). Foto dpa


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mit Günther Rühle – vielleicht im Hebbel-Theater oder in der und erst im kommenden Jahr ins Deutsche übersetzt werden soll­Akademie der Künste – mit dem Thema „Die Zukunft des Theaters“, te. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die Saga bis heute nicht gelesen habe. Jetzt saß sie also in der Küche des „Theater ohne Autoren“ oder einem dieser Dauerbrenner. Damals waren die Nächte in Berlin noch ausgesprochen lang und exzessiv. Künstlerhotels und diskutierte in einer mir unbekannten Sprache über den Vorfall der letzten Nacht. Mich überkam siedend heiß Trotzdem erinnere ich mich noch sehr gut, wie sehr mich die drei Gestalten verwunderten, die – es mochte zwischen drei und vier die Erkenntnis, dass die Organisation ein vollkommen falsches Bild von mir bekommen würde, sollte sie mich mit einer derart Uhr sein – auf dem Hotelflur herumlungerten. Am nächsten Morgen weckte mich ein nachdrückliches polyglotten und auffälligen Dame antreffen. Ich sah meine Chancen, unbeachtet zu verschwinden, rapide sinken. P­ochen an meiner Zimmertür. Statt einer energischen Putzkraft Irgendwie gelang es mir, meine stand ich einem aufgeregten Hotelgast gegenüber, der mir mitteilte, dass jemand ­Bekannte aus der Küche in das Auto von Harald zu lotsen, das vor dem Gebäude 25 000 Dollar aus einem der Zimmer entwendet habe und sich alle Bewohner der auf mich wartete. In besagter Küche beUnterkunft in der Küche versammeln gann die finale Generalversammlung. Ich stellte mich dazu, ging nach einer Weile sollten. Zu dieser Population zählten, wie „Bist du verletzt?“ – sich schnell herausstelle, etliche Russen. wieder hinaus und packte während mei„Warum sollte ich?“ – nes vorgetäuschten Gangs auf die Toilette Einem von ihnen war der Geldbetrag abeinige meiner Sachen. Dann ging ich wiehandengekommen. Für mich stand fest, „Aber die Russenmafia dass mich das Ganze nichts anging. Trotz der zurück, hörte eine Weile zu, ging wiemeines Katers hörte ich mir die vorgetrader hinaus, packte den Rest meiner Klaist doch hinter genen Arien mit vorgetäuschtem Interesmotten zusammen, nahm wieder an dem dir her!“ Meeting teil. Dann ging ich ein drittes se an. Am Ende wurden wir eindrücklich gebeten, in uns zu gehen und das Geld Mal hinaus, schnappte mein Gepäck, rannte die Treppen hinunter und warf wieder rauszurücken, denn sonst – so ­ wörtlich: „Kommt Organisation!“ mich in den Wagen. Harald gab Gas und brachte mich zu einer Familienpension Ich weiß nicht, ob ich mit Heiner Müller verabredet war. Aber gegen Mittag im Osten der Stadt. Gefühlte 14 Tage darauf rief meine saßen wir nahezu ungestört im sonnenbeschienenen Hof des Berliner Ensembles, und ich erzählte von besorgte Mutter in Stuttgart an und fragte: „Bist du verletzt?“ „Wameinem Abenteuer. An der Stelle, wo es hieß: „Kommt Organisarum sollte ich?“, entgegnete ich kopfschüttelnd. „Aber die Russenmafia ist doch hinter dir her!“ Heiner Müller tion“, unterbrach er mich mit einer Dringlichkeit, die ich sonst nicht von ihm kannte und die mir noch heute im Ohr ist: „Du hatte in einer Berliner Stadtzeitung die Anekdote mit Nennung meines Namens zum Besten gegeben, um die Ausbreitung von musst sofort da weg!“ Irgendwie gelang es mir, auch ohne Handy, Harald Müller zu überzeugen, dass er mich mit seinem Auto – kriminellen Strukturen in der ehemaligen Hauptstadt der DDR zu veranschaulichen. Das war sensationslüsternen Reportern der damals fuhr er noch keinen japanischen Flitzer – schleunigst mit meinem Gepäck von dem kriminell durchseuchten Hotspot ab­ Neuen Presse in Hannover, meiner Heimatstadt, aufgefallen und führte zu einem Artikel mit dem fetten Titel: „Dr. Raddatz auf der holen müsse. Im Hotel war zwar noch nicht die Organisation eingetrofFlucht“. Mit Foto. Meine Oma war darauf aufmerksam geworden und informierte postwendend meine Mutter. Das rest­liche Telefofen, aber ein osteuropäisches Model, dass sieben Sprachen ­beherrschte und die Cover von Cosmopolitan, Vanity Fair und ähnnat diente der Untermauerung meiner These, dass das, was in den lichen Magazinen schmückte. Wir hatten uns bei der Rühle-­ Zeitungen stehe, zumeist erstunken und erlogen sei. Natürlich Veranstaltung kennengelernt. Sie hatte sich erkundigt, woher ich glaubte mir meine Mutter kein Wort, merkte aber, dass es mir für meine Verhältnisse ganz gut ging. Ansonsten brauchte ich noch komme. Als ich wahrheitsgemäß antwortete: Stuttgart, hatte sie eine Weile, bis ich realisierte, dass das ganze Palaver in der Küche begeistert erwidert, dass das bekanntlich die Heimat des unvernur den Zweck gehabt hatte, dass ich von meiner nächtlichen gleichlichen Shakespeare sei. Mein verstörter Blick veranlasste sie ­Begegnung im Hotelflur erzählte und womöglich die drei Gestalzu einer Selbstkorrektur. Sie habe natürlich Schiller gemeint, den ten an Ort und Stelle identifizierte. Nur in der Hektik war mir das sie zugleich mit ein paar schwärmerischen Attributen belegte. Ich glatt entfallen. // weiß nicht, welcher Teufel mich ritt. Jedenfalls konterte ich: „Nietzsche nennt ihn den Moraltrompeter von Säckingen!“ Darauf hielt sie inne, starrte mich ungläubig an und jubilierte in veränderter Tonlage: „Ich bin extra aus den USA gekommen, um einen Deutschen zu finden, mit dem ich mich über Nietzsche unterhalten kann!“ Diese Eröffnung entwaffnete mich in Sekunden, und wir verabredeten uns zu einem Gespräch über den R ­ oman „Und Der Dramaturg und Autor Frank Raddatz war von 1993 bis 2007 Heraus­ Nietzsche weinte“ (im Original „When Nietzsche Wept“) des amegeber von Theater der Zeit sowie von 2007 bis 2014 gemeinsam mit Harald rikanischen Autors Irvin D. Yalom, der mir völlig unbekannt war Müller Chefredakteur.



Unser aktuelles Programm: www.kaserne-basel.ch


Bild: © NewfrontEars

Digitale Bühne des HAU Hebbel am Ufer

HAU4

Programm auf www.HAU4.de


Foto: Mayra Wallraff

TANZPAKT Dresden Dancing About Festival mit Uraufführungen von Alexander „Kelox” Miller, Anima(l)[us]/ Rosalind Masson, Caroline Beach, go plastic Company, Heike Hennig & Kolleg:innen, Irina Pauls, Katja Erfurth, Lotte Mueller, Polymer DMT/Fang Yun Lo, situation productions Reut Shemesh Atara/Leviah/Cobra Blonde Gob Squad 1984: Back to No Future HYBRID PLAY 4:3 Kammer Musik Neu

www.hellerau.org

Herbst 2021 TONLAGEN II – 30. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik Akram Khan Chotto Xenos Laila Soliman Wanaset Yodit She She Pop Hexploitation Flinn Works Learning Feminism from Rwanda Dresden Frankfurt Dance Company Koproduktionen Freie Szene Magdalena Weniger, Charles Washington u.a.


SAVE THE DATES

CLAIMING COMMON SPACES III 02.–06. JUNI 2021

LIVE ART FESTIVAL #11 02.–13. JUNI 2021

INTERNATIONALES SOMMERFESTIVAL 04.–22. AUGUST 2021

BEIM SPAZIERGANG RUND UM KAMPNAGEL WIRD DER HANDY-BILDSCHIRM ZUR PERFORMANCEBÜHNE MEHR INFOS UND DAS AKTUELLE APP-PERFORMANCE-PROGRAMM: KAMPNAGEL.DE/K-TO-GO


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Performing Arts Festival Berlin 25 –– 30 Mai 2021

Programm + Information www.performingarts-festival.de


DA S F FT Z IE H T UM ON/LIVE 2021

DAS THEATER DER DIGITAL NATIVES HYBRIDES SYMPOSIUM MI 26. – SO 30.5.

„Ein Theater zieht nicht einfach um wie ein Privathaushalt. Verändert ein Theater seinen Standort, wird unweigerlich das Ganze des Zusammenhangs von Theater, Öffentlichkeit und Stadt tangiert und ihr Zusammenhang öffnet sich als Frage.“ (Ulrike Haß) Bis zur Eröffnung am neuen Standort im KAP1 am Düsseldorfer Hauptbahnhof meldet sich das FFT als Theater ohne Haus von verschiedenen Orten und online und untersucht das aktuelle Verhältnis von Stadt und Theater.

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Theater ohne Haus wird gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

FFT-D U E SSELDOR F. DE


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Eine tote Deponie theatraler Artefakte?

Warum die Umstrukturierungspläne der weltweit größten Theater­samm­ lungen im Victoria and Albert Museum in London auch eine Bedrohung für andere nationale Theatersammlungen darstellen von Stephan Dörschel


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T

heatermuseen und Theaterarchive sind eigenartige Phänomene, sammeln und präsentieren sie doch etwas, was es nur in einem zeitlichen Verlauf gibt: Theater in all seinen unterschiedlichen Formen – Sprechtheater, Oper, Tanz, Figurentheater, Pantomime. Die darstellenden Künste sind erst sehr spät als eigenständige Kunst ernst genommen worden. In Deutschland war es wohl Max Reinhardt, der mit seiner Auffassung von Theater und mit seinen sensationellen Erfolgen half, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass Theater nicht einfach nur die Wiedergabe von literarischen Texten oder von musikalischen Partituren bedeutete, sondern dass es eine eigene Kunstgattung mit eigenen Regeln und einer eigenen Ästhetik ist – also keine Afterkunst, sondern eine Gattung sui ge­ neris. Die Formulierung dieser Gesetzmäßigkeiten ist Aufgabe der Theaterwissenschaft – und sie tut sich bis heute damit schwer. Die Theaterwissenschaft als eigene Wissenschaftsdisziplin entstand in Deutschland ebenfalls sehr spät – 1923 wurde das erste selbstständige theaterwissenschaftliche Institut an der Berliner Universität gegründet. Eine Künstlervereinigung wie die renommierte Berliner Akademie der Künste schuf erst nach dem Zweiten Weltkrieg eigene Mitgliedersektionen für Theater (1950 in der DDR, 1954 in West-Berlin). Heute gibt es in allen Kunstakademien eigene Theaterabteilungen. An vielen Universitäten existiert die Möglichkeit, Theaterwissenschaft, manchmal noch verbunden mit der Medienwissenschaft, zu studieren. Eigenständige Theatersammlungen gibt es dennoch immer noch sehr wenige, Theatermuseen in Deutschland ganze fünf (München, Düsseldorf, Hannover, Meiningen und Köln)! Auch international finden sich nicht allzu viele Institutionen, die sich diesem Thema widmen, aber sie weisen alle auf eine reiche, bedeutende Theatergeschichte in ihrem Land hin. Doch was wird gesammelt von einer Kunst, von der William Shakes­ peare, Schauspieler, Dramatiker, Theaterbesitzer, einmal schrieb: „Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht / Sein Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr / Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt / Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, / Das nichts bedeutet.“ („Macbeth“, 5. Aufzug, 5. Szene)? Wer sich einmal die Mühe gemacht hat, sich durch Bestands­ kataloge zu arbeiten, oder gar das Glück hatte, Magazine betreten zu dürfen, wird es wissen: Erstaunlich viel und erstaunlich vielerlei erzählt hier Theatergeschichte und Geschichten vom Theater. Und man macht eine Entdeckung: Das Theater, dem so lange die eigenständige künstlerische Form abgesprochen wurde, bedient sich sämtlicher anderer Künste und bringt sie zur Blüte. Manche behaupten gar: Im Theater liegt erst deren wahre Be­stimmung! Wir haben es mit literarischen Texten der unterschiedlichsten Gattungen zu tun: vom Langgedicht bis zum Essay, in gebundener wie in freier, ja sogar assoziativer Form. In den Theater­sammlungen finden sich Werkmanuskripte, Entwürfe, Über­arbeitungen. Ebenso existieren dort Kompositionen, teilweise nur als Untermalung

Das Victoria and Albert Museum in London beherbergt eine der inhalts­reichsten Theatersammlungen weltweit – Hier eine Zeichnung von William Shakespeare aus dem Jahr 1795, angefertigt von Samuel Ireland. Foto Victoria and Albert Museum, London

archiv

einer Bühnenhandlung, die dem Geschehen auf der Bühne Farbe, ja oft auch erst die dramatische Tiefe gibt, teilweise als durchkomponierte Spieloper, in der dann oft (und nicht nur dort!) die Musik die Regie übernimmt, sodass einer Regisseurin oder einem Regisseur mit künstlerischem Ehrgeiz häufig nichts anderes übrig bleibt, als aus der Handlung auszusteigen, den musikalischen Fluss zu unterbrechen und ihren oder seinen Akzent zu setzen. Wer dies für eine zeitgenössische Unart hält, wird sich durch die bearbeiteten Partituren in den Archiven eines Besseren belehren lassen – müssen. Es war nie anders! Man studiere die Eingriffe von Max Reinhardt in den wenigen Operetten, die er ­inszenierte! Reinhardt war es auch, aber er war nicht der Erste, der ­bildende Künstler (von Künstlerinnen ist mir hier nichts bekannt) dazu animierte, Bühnenbildentwürfe für seine Inszenierungen zu schaffen. Darüber, wie auch über den Einfluss der bildenden Kunst auf das Theater, ist genügend veröffentlicht worden. Wer sich aber die Entwürfe, sei es für die Bühne, sei es für die Kostüme, einmal näher ansieht, auch die von Künstlerinnen und Künstlern, die ausschließlich für das Theater arbeiteten, wird hier Kunstwerke eigenen Rechtes entdecken können, die in der Eigenwilligkeit der Gestaltung wie auch der Wahl der Mittel in nichts den sogenannten „freien Künsten“ nachstehen. Man könnte anhand dieser Entwürfe allein schon eine Kunstgeschichte über die Jahrhunderte entwerfen. Dies alles lässt sich in diesen Theatersammlungen fi ­ nden – weltweit. Wer sich darüber einen Überblick verschaffen will, der besuche die Website der internationalen Gesellschaft der Thea­ ter­museen, -bibliotheken und -archive SIBMAS (www.sibmas.org). Dort sind sie alle aufgelistet – alle? Nein, es gibt natürlich viel mehr Institutionen, die Dokumente zum Theater sammeln oder gesammelt haben – oder solche Sammlungen in ihren Bestand übernommen haben: staatliche und städtische Archive, Bibliotheken, Museen für angewandte Kunst oder auch Kunstmuseen. Aber auch viele Theater bewahren die Dokumente dessen, was sie über die Jahrzehnte, oft auch Jahrhunderte produziert haben, sorgfältig und gewissenhaft auf. In den Sammlungen werden sie heute eigentlich überall nach dem sogenannten Provenienzprinzip archiviert und katalogisiert, das heißt, der Sammlungszusammenhang wird so gut es geht erhalten. Das war (und ist) nicht immer der Fall: Die frühen Theatersammlungen, häufig von privaten Enthusiasten angelegt, bewahrten oft nach dem Pertinenzprinzip auf, also nach der Materialart der Dokumente: Fotos zu Fotos, K ­ ritiken zu den Zeitungsartikeln, Programmhefte systematisch nach Ort und Theater zu den Programmheften. Grafische Arbeiten, ob Druckgrafik oder Handskizzen, Bühnenbild- oder Kostümentwürfe, nach den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern geordnet, die Korrespondenzen nach den jeweiligen Absenderinnen und Absendern. Der Vorteil liegt auf der Hand: Man findet, ohne umfangreiche Inventarisierungs-, Verzeichnungs- oder Katalogi­ sierungs­ tätigkeiten, durch eine einfache Sortierung die jeweiligen Materialien. Der Nachteil tritt zutage, wenn es um die Zusammen­hänge der Überlieferung geht: Wie gelangen die Briefe von einem Schauspieler an einen Regisseur in diese Institution? Wie kommt es, dass frühe Entwürfe eines Bühnenbildners sich erhalten haben? Wer schrieb jene Marginalien in das Programmheft? Wessen Handschrift ist das?

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thema

Dass sich zum Beispiel frühe Bühnenbildentwürfe von W ­ ilfried Minks im Peter-Zadek-Archiv befinden, obwohl es auch ein – ­leider sehr überschaubares – Wilfried-Minks-Archiv gibt, in dem sich keine vergleichbaren Entwürfe finden lassen, liegt wohl ­daran, dass die Zusammenarbeit von Zadek und Minks in den 1960er Jahren für beide Künstler wegentscheidend gewesen war, aber nur einer die Dokumente dieser frühen Zusammenarbeit aufhob: Peter Zadek. Auch die oft in Intendanten-Nachlässen ­vorhandenen Zeitungsausschnittsammlungen zu verschiedenen Schauspielerinnen und Schauspielern würden ihre Bedeutung verlieren, wenn sie in der allgemeinen Zeitungsausschnittsammlung unter den Namen der jeweiligen Schauspielerin, des jeweiligen Schauspielers eingeordnet werden würden. Dies macht aber auch nur dann wirklich Sinn, wenn die Bestände systematisch in einer elektronischen Datenbank verzeichnet werden und man so Zugriff auf die sonst verstreut vorhandenen biografischen Artikel zu einer Persönlichkeit erhält. So sinnvoll die eine Ordnung ­früher war, so sinnvoll ist nun die andere!

Proteste in London Eine der weltweit umfangreichsten, aber auch der inhaltsreichsten, theater- und zeithistorisch bedeutendsten Theatersammlungen befindet sich im Victoria and Albert Museum (kurz V&A) in London. Gegründet 1852 im Zuge der Industrialisierung als Kunsthandwerks- und Designmuseum, hat es sich längst zu einem

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großen „Museums-Tanker“ für angewandte Kunst entwickelt. Das Theater, auch in England in dieser Hinsicht ein Spätentwickler, wurde erst durch die Initiative einer Theatersammlerin, Gabrielle Enthoven, museumsreif. Seit 1911 proklamierte sie eine nationale Sammlung dieser ephemeren Kunst, doch erst 1924 gelang es ihr nach mehreren Anläufen, das V&A dazu zu bewegen, ihre Sammlung zu übernehmen. Enthoven zahlte die museale Erfassung der Dokumente und arbeitete auch selbst bis zu ihrem Tod 1950 dort. Viele Kollektionen ergänzten diesen Nukleus. 1974 schließlich emanzipierte sich die Sammlung und bezog ein eigenes Gebäude in Covent Garden, dem l­egendären Theaterdistrikt von London. Nach über dreißig Jahren wurde es 2007 aus Kostengründen geschlossen, und die Theatersammlung erhielt Ausstellungs­ ­ flächen im Hauptgebäudekomplex des V&A in South Kensington: die Räume 103 bis 106. Im ersten Stock geht man durch die sehr umfangreiche ­Juwelier- und Porzellanabteilung und kann dann in einem Rundgang exemplarisch Objekte der darstellenden Kunst hinter Glas bewundern. Dies soll auch so bleiben, versichert Tristram Hunt, Direktor des V&A, gelernter Politiker (der Labour Party) und Historiker, wenn er die nun drohenden einschneidenden Umstrukturierungsmaßnahmen erläutert: Auflösung der themenzentrierten Abteilungen und eine Verschlankung auf die drei Hauptabteilungen Mittel­ alter/Neuzeit – 19. Jahrhundert – 20./21. Jahrhundert. Man verspricht sich einen Synergieeffekt und eine Entlastung der – durch die Pandemie noch verschärften – finanziellen Schieflage des Museums: Zehn Millionen englische Pfund sollen, nein müssen eingespart werden, und dies soll auch durch die Entlassung von bis zu zwanzig Prozent der hoch spezialisierten und daher teuren wissenschaft­ lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgen. Die neuen Abteilungen sollen, so der Plan, auf interdisziplinärem Denken und kollaborativer Arbeit aufbauen, und man gibt zu, dass die verbliebenen Mitarbeitenden dadurch mehr beansprucht werden würden. Die Umstrukturierung umfasst die ganze Institution, aber vor allem die Pläne für das Theatre & Performance Department und die Natio­nal Art Library erregten internationale Aufmerksamkeit und Protest. So startete SIBMAS eine Online-Petition über change.org (http://chng.it/HFgsGKXdyv), die binnen weniger Tage über 18 000 Unterstützer fand, und rief zu Protestschreiben auf (http://www.sibmas.org/save-the-va-theatre-performance-­ department-campaign-page/). Wie mächtig diese Instrumente des Protestes sein können, zeigt die Reaktion des V&A, das eigentlich bis Ende März die Belegschaft und die Gewerkschaft über die P ­ läne informieren wollte. Nun (Pressemitteilung vom 31. März 2021) ist nicht mehr die Rede von drei historisch definierten Abteilungen, sondern von einer Zentralisierung nach Materialien. Durch eine ­Finanzspritze der Regierung sind auch die Entlassungen bis zum September erst einmal vom Tisch. Man fühlt sich dennoch – siehe oben – an den Sammlungsaufbau im frühen 20. Jahrhundert ­erinnert. Der Vorgang zeigt aber auch, wie konfus und inhaltsleer solche Entscheidungen in ­London gefällt werden. Eine der bedeutendsten Theatersammlungen der Welt steht auf der Kippe, weil England – nicht nur mit Shakespeare – immer wieder inspirierend, innovativ, maß­ gebend das westliche Theater und seine G ­ eschichte prägte und bis heute prägt!


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Das bedrohte Erbe in Deutschland So dramatisch die Situation im V&A sich zurzeit zuspitzt, ist ­dennoch ein Blick auf die deutsche oder deutschsprachige Szene erlaubt: Der deutsche Zweig der SIBMAS, die TheSiD (Bundes­ verband der Theatersammlungen in Deutschland) hat 27 Mitglieder, darunter auch Spezialsammlungen in größeren Einrichtungen und theaterwissenschaftliche Institute. Überregional tätige Theatersammlungen gibt es in München (Deutsches Theater­ museum), Berlin (Akademie der Künste) und Köln (Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln). Regional existieren das Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf, das Theatermuseum Meiningen, das Theatermuseum Hannover, die Theatersammlung der Stiftung Stadtmuseum Berlin sowie das Neuberin-Museum in Reichenbach. Genrespezifisch lässt sich zudem das Deutsche Tanzarchiv Köln (mit angeschlossenem ­ ­Museum) sowie das Tanzarchiv Leipzig (heute Teil der Leipziger Universitätsbibliothek und nur noch durch einen privaten Verein in der Öffentlichkeit vernehmbar) nennen. Für das weite Feld der Figurentheater gibt es Museen in Lübeck, Bad Kreuznach und Husum sowie die umfangreiche Puppentheatersammlung im ­ Münchner Stadtmuseum. Eine der bedeutendsten regionalen, aber auch weit darüber hinaus ausstrahlenden Sammlungen, die Hamburger Theatersammlung, hat 2014 mit der Übernahme durch die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg seine öffentlichkeitswirksame Tätigkeit eingestellt. Die Dokumente stehen der Forschung noch zur Verfügung. Aber als lebendige, auch die interessierte Öffentlichkeit erreichende Institution ist sie tot. Das Tanzarchiv Leipzig, zu DDR-Zeiten das Tanzarchiv der Akademie der Künste der DDR, im Vereinigungsprozess der Akademien 1993 in das Eigentum des neu geschaffenen Bundeslandes Sachsen übergegangen, wurde 2011 der Universitätsbibliothek Leipzig übergeben. Das Universitätsarchiv hätte im Zuge der Übernahme Teile des ­Bestandes kassiert, also weggeworfen. Es ist allein dem Engagement des – zeitweilig auch in seiner Existenz bedrohten – Leipziger

Den Geist der Vergangenheit bewahren, damit die Zukunft daraus lernen möge – Eintrittskarte zum Shakespeare-Jubiläum 1769 in Stratford-upon-Avon, das mit Theater, einem Ball und einem großen Feuerwerk gefeiert wurde. Foto Victoria and Albert Museum, London

t­heaterwissenschaftlichen Instituts und des vormaligen Träger­ vereins des Tanzarchivs zu verdanken, dass es auch heute noch öffentlich wirksam ist. Das Düsseldorfer Theatermuseum kämpft seit vielen Monaten um seine Existenz und einen angemessenen Ausstellungsort. Und hinter den Kulissen zeigt sich, wie prekär einzelne theatrale Gedächtnisinstitutionen aufgestellt sind! London kann daher mit seinen verschiedenen Umstrukturierungs­ plänen zur Blaupause für weitere nationale Theatersammlungen werden, die sich in größeren Institutionen befinden und deren immer nur bedingte Eigenständigkeit durch die Neuerfindung des Museums der Zukunft in Gefahr geraten, zu einer toten Deponie theatraler Artefakte zu werden, deren Zeugnisse niemand mehr versteht. Darum sei hier (wie ich bereits auf nachtkritik.de schrieb) noch einmal betont: Theater ist der Spiegel und die Chronik jeder Gesellschaft, was schon Hamlet wusste. Es ist mehr als nur „eine“ Kunstgattung, es ist das Sprachrohr unserer Zeit, unserer Gesellschaft. Die Bewahrung seines Erbes ist daher auch mehr als nur die Bewahrung einer Kunst, die als transitorische, gegenwärtige Kunst trotz Digitalisierung selbst nicht bewahrt werden kann – es ist die Bewahrung des Geistes einer Vergangenheit, damit die ­Zukunft daraus lernen möge! Wenn dieses Erbe nicht mehr sichtbar ist und nur noch einzelne Fachleute sich damit beschäftigen, wird man nicht mehr verstehen, was die Zeichen unserer Zeit sind. Denn das Vokabular, diese Zeichen, stammen aus der Vergangenheit – und sie sind entzifferbar! // Stephan Dörschel ist Abteilungsleiter des Archivs Darstellende Künste der Akademie der Künste Berlin.


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Die Stimme aus der Zukunft Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um das Schlimmste zu verhindern? – Der Filmemacher Andres Veiel über die Aktualität von Joseph Beuys, der im Mai 100 Jahre alt geworden wäre von Martin Krumbholz


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H

err Veiel, wie ist Ihr Interesse an Joseph Beuys geweckt worden? Das war ein biografisch-historischer Initiationsakt. Ich bin in einer Stuttgarter Vorortsiedlung aufgewachsen und war Ende der siebziger Jahre auf der Suche nach Menschen, die mich inspirieren und mir Möglichkeiten des Ausbrechens anbieten könnten. Zu dieser Zeit gab es den zerfallenden Mythos der RAF, deren Begriffe so hermetisch und so betoniert waren wie die Garageneinfahrten in meiner Vorortsiedlung. Weder Humor noch Zweifel hatten da einen Platz. 1977 bin ich zur Documenta nach Kassel getrampt und habe ­ die Honigpumpe von Beuys gesehen. Ein Sinnbild dafür, etwas in Bewegung zu bringen, eine physische Kraft, aus der das Denken hervorgeht. Nebenher gab es eine Reihe von Gesprächsinitiativen, bei denen mir klar wurde, dass Theorien den Zweifel einschließen müssen. Das hat mich fasziniert und begeistert.

andres veiel über joseph beuys

In späteren Jahren fällt auf, dass der berühmte Beuys viele seiner ungezählten Statements mit einem – womöglich verlegenen – ­Lachen begleitet. Nur Ausdruck guter Laune, oder steckt etwas anderes dahinter? Eine Unsicherheit vielleicht? Der Humor ist ein Ausbrechen aus der verbissenen Ernsthaftigkeit beim Verfolgen eines Ziels. Ein Schleudersitz, um aus einer unerträglichen Situation herauszukommen, aus der buchstäb­ lichen Enge, also der Angst. Ich fand Beuys immer sehr undog­ matisch und unideologisch, seinen Humor geradezu befreiend bei einem so durch und durch deutschen Künstler, der er ja war. Mit Beuys konnte man tatsächlich viel lachen. Diese Leicht­ igkeit, die der Film vielleicht ausstrahlt, haben wir nicht konstruiert.

Bei einer Gelegenheit spricht Beuys eine „Warnung“ an die Deutsche Bank aus, verbunden mit dem Hinweis, beim nächs­ ten Mal würden „Na­ men genannt“. Wie seriös ist der politi­ sche Furor dieses Künstlers? Das Nennen von Namen verändert ja die Strukturen nicht. Wenn wir diesen oder In Ihrem Film von jenen Vorstand aus2017 erscheint Beuys tauschen, ändert das nichts daran, dass das sehr charismatisch. Ein früher Performance­ Geld selbst zur Ware wird, losge­koppelt von künstler, nicht nur was Ein Künstler, der ein ganzes Wertesystem auf den Kopf und dann wieder vom Kopf auf die Füße stellte – Joseph Beuys bei der Aktion „Die Eröffnung … irgendein Strang … die performativen In­ der Produktion. Aber Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965) sowie links bei der Pflanzung von der eigentliche Wert halte seiner Arbeiten „7000 Eichen“ (Kassel, documenta 7, 1982). Fotos zero one film / bpk / Stiftung Schloss betrifft. Er hat sich auch des Menschen liegt in Moyland / Ute Klophaus + documenta Archiv / Dieter Schwerdtle / zero one film seinen Fähigkeiten als äußerst geschickt selbst Potenzial. Ökonomiin Szene gesetzt. Er hat genau gewusst, sche Fragen gingen weiter, als eine Warnung an die Deutsche Bank abzuschicken, so wie seine „Marke“ zu inszenieren war. In einer Menschenmenge war er mit Filzhut und Anglerweste nicht zu übersehen. Er war naiv war Beuys nicht. Es ging darum, ein ganzes Wertesystem auf den Kopf und dann wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, medial unglaublich präsent und hat das auch benutzt. Andererseits hat er aber auch gesagt: „Werfen wir doch meine Werke zum Ideen­räume zu öffnen. Die Deutsche Bank war dabei nur eine Fenster raus!“ Es ging ihm weniger um seine Person als um seine Sumpfdotterblume auf ­einem kontaminierten Gewässer. Ideen, beispielsweise die persönliche Verletzung und deren ÜberUtopie oder Realpolitik? windung auf den ­kranken Körper der Gesellschaft zu übertragen. Beides eben. Wenn Sie 7000 Eichen gemeinsam mit je einem ­Basaltstein in die Erde pflanzen und fragen, welcher Parkplatz geSie spielen auf den Flugzeugabsturz im Zweiten Weltkrieg an, bei dem Beuys schwer verwundet wurde. opfert werden soll oder auch nicht, dann kann man dieses Kasseler Modell hochskalieren auf Sibirien oder welche Gegenden auch Nicht nur das. Die Traumatisierung als aktiver Vertreter einer immer. Die Botschaft ist: Wir brauchen eine gemeinsame Arbeit, ­Täterorganisation, die in den fünfziger Jahren zu einer schweren und es geht nicht um einen einzelnen berühmten Künstler, despersönlichen Krise führte, sollte in den Versuch münden, im wahrsten Sinn des Wortes zu „heilen“. sen Werke man hinter Panzerglas bewundert. Nehmen Sie als

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protagonisten

Andres Veiel ist Regisseur und Drehbuchautor. Kennzeichnend für seine Arbeitsweise ist eine intensive, oftmals mehrjährige Recherche als Grundlage seiner Projekte. Für seine Dreh­ bücher und Filme erhielt er zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, da­ runter den Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste Berlin für das Gesamtwerk, den Deutschen Filmpreis (mehrfach) und den Euro­päischen Filmpreis. Sein Dokumentarfilm „Beuys“ feierte 2017 im Wettbewerb der Berlinale Premiere. Zudem schreibt und inszeniert Veiel für das Theater. Stücke wie „Der Kick“ oder „Himbeerreich“ wurden vielfach prämiert und in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Foto Arno Declair

­eispiel das bedingungslose Grundeinkommen. Lassen sich B ­Arbeit und Einkommen loskoppeln, lässt sich mehr Verteilungsgerechtigkeit erzielen, der Eigentumsbegriff überhaupt infrage stellen? Beuys war sicher kein Marxist, aber er hat durch die ­Hintertür die wesentlichen Begriffe auf den Tisch gelegt, um sie partizipativ neu denken zu lassen. Einige sagen, er war nicht nur kein Marxist, sondern stand sogar im Dunstkreis gewisser nationaler oder völkischer Einflüsse. So ein pauschaler Verdacht ist wenig produktiv. Man muss unterscheiden. Da ist die Frage nach der eigenen Schuld. Als Funker in der Luftwaffe war Beuys Mitwirkender eines Angriffs- und Zerstörungskriegs. Er hat dann den Satz geprägt: „Ich weiß, ich bin schuldig, Komma, ich lehne Schuldgefühle ab.“ Das Komma ­unterstreicht, dass beide Feststellungen gelten. Er hat aber Mit­ verantwortung für das begangene Unrecht übernommen, hat sich schon 1957, am Ende seiner Krise, mit dem Entwurf eines Mahnmals in der Auschwitz-Gedenkstätte beworben, ist allerdings nicht zum Zug gekommen. Im Grunde hat er um das Scheitern seiner Bemühungen um Heilung gewusst, diese Auseinandersetzung spiegelt sich in vielen seiner Werke. Gelegentlich hat er sich wohl in der Wortwahl vergriffen, wenn er etwa den „Angriff auf die Seelen“, den er für die Bildungspolitik in der BRD konstatierte, mit dem Holocaust verglich. Mit dergleichen tue ich mich schwer. Er

THE KAMPNAGEL QUEERIAL LECTURES CHRISTOPHER RAMM SECURITY JESSICA NUPEN THE NOSE ANTJE PFUNDTNER IN GESELLSCHAFT MEHR ODER WENIGER (AT)

KRASS KULTUR CRASH FESTIVAL

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hat mit dem nicht zu bewältigenden Thema gerungen und ist letztlich daran gescheitert. Aber ein Blut-und-Boden-Künstler, wie manche glauben, war er sicher nicht. Ist „jeder Mensch ein Künstler“? Dieser berühmte Satz hat natürlich Irritationen ausgelöst, im ­Sinne von: Ich bin doch kein Bildhauer, kein Komponist und so weiter. Gemeint ist aber: Jeder hat die Befähigung, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Dahinter steht die Idee einer Gemeinschaft aller, ohne irgendwelche Gruppen auszuschließen, wie es der Nationalsozialismus getan hat. Übrigens hat Beuys in Japan sogar mal eine Whiskyreklame gemacht, um die 7000 Eichen zu finanzieren, und prompt kam der Vorwurf: Jetzt macht er schon Werbung! Das hat Beuys mit der Bemerkung gekontert: „Aber gucken Sie sich doch an, wofür!“ Tatsächlich hat er seine Bekanntheit instrumentalisiert, aber immer mit dem Ziel, seine Ideen voranzubringen. Also vor allem, um die Erfahrung der Wunde und der Verletzung auf den gesellschaftlichen Körper zu übertragen. Dieser Sinn für Wechselprozesse macht Beuys so heutig oder sogar fast zukünftig. Er hat einmal gesagt: „Die ­Ursachen liegen in der Zukunft.“ Ist Joseph Beuys, 100 Jahre nach seiner Geburt, ein überragender Künstler des 20. Jahrhunderts? Er ist mehr. Er fordert mich. Und ich entdecke ihn immer wieder über Fragen des 21. Jahrhunderts. Klimakrise, Ökonomie, die Notwendigkeit des Verzichts, Anerkennung und Würde des Menschen. Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um das Schlimmste zu verhindern, welche Ökonomie definiert den Verzicht nicht als Mangel, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit und als Gewinn. Wenn wir verhindern wollen, dass wir den ­Planeten gegen die Wand fahren, müssen wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen. Jeder Einzelne ist gefragt, unbequeme Meinungen mit Fakten, mit Wissen, mit Aufklärung zusammenzubringen, auch mit Bedürfnissen. Es geht nicht nur da­ rum, dass eine Krankenschwester vielleicht mehr verdienen sollte als ein Investmentbanker. Es geht um Respekt und ­An­erkennung insgesamt. So gesehen war Beuys seiner Zeit also voraus? Er spricht aus der Zukunft. „Die Ursachen liegen in der­ Zukunft.“ //

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Foto Bernd Uhlig

Exklusiver Vorabdruck

Julian Beck Das Theater leben


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Thomas Oberender

Messianismus und Revolution Auszug aus dem Vorwort zu Das Theater leben von Julian Beck

[…] Bei einer Diskussionsveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste 2006 bemerkte der Theaterleiter und Kurator Matthias Lilienthal, dass ein Grund für den anhaltend lebendigen Mythos des Living Theatre sicher der sei, dass jeder alles in dessen Arbeit hineinprojizieren könne. Die vielen Einflüsse, die in Becks Notizen sichtbar werden, zeigen, dass dieser Eindruck nicht grundlos ist, da Julian Beck über Jahrzehnte hinweg im Modus der konstanten Suche gelebt hat. Wie ein Feldforscher kartografierte er die Formen der Ausgrenzung und sammelte die herrschenden Stereotype, um sie umzudeuten. Bis zur letzten Buchseite spürt Julian Beck dem „Vaterkomplex“ der eigenen Homosexualität nach, den Klischees über „das fahrende Volk“ und Aporien der eigenen Bürgerlichkeit oder der Rolle der Kunst im bürgerlichen Gesellschaftszusammenhang: „irgend­ etwas ist schief / wenn picassos gemälde und schönbergs musik / auf den wappen der macht elite prangen / rockefeller sammelt de kooning / in der wall street wird allen ginsberg gelesen / ­jacqueline kennedy verehrt manet / sie nehmen alles weg.“ Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die ­Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen

befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“ Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Para­ dise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt. Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und ­Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten


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Julian Becks Notizen sind keine Musterbücher, keine Betriebsanleitungen wie Brechts „Modellbücher“, sondern Begleitbücher innerer Reinigungs- und Entwicklungsprozesse. Sie sind der Welt entgegengeschrieben und versuchen, eine Ankunft der Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im eigenen Arbeit, der Kompanie und Kreationen da draußen, ­ ­Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie ­unter den Menschen und mit den Menschen, durch ein inneres eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer Wissen vorzubereiten. Julian voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Beck nennt den Broadway und Handlung ist in diesem Theater unsere Repertoirebühnen „das der Guckkästen und Fiktionen exklusive Theater“. Dagegen eine logische Verkettung von Urentwickelte das Living Theatre in den zwanzig Jahren seiner sachen und Wirkungen, die sich im Verhalten einer Gruppe von Wanderungen die Idee des geteilten Ritus, eines Festes der Menschen auflöst. Diese SpielVerbindung – nicht nur mit werke dulden Menschen nur dann und nur gerade so lange, dem Publikum, auch durch das Publikum hindurch. Wobei die wie sie diesem Fortschritt des Geschehens dienen. Alles, was Präsenz des physischen Körpers bei der Schaffung seines „neuen sie in ihren kurzen Auftritten ­sagen und tun, ist in diesem SinTheaters“, in dem Schauspieler und Publikum ineinander aufne konfektioniert und begründet durch die Logik dieser Maschine – gehen, eine besonders auffällige Rolle spielt, ähnlich wie im zeitdurch ihren Hunger nach entsprechenden Details, die Anlässe gleichen Schaffen der Wiener Julian Beck zu neuen Handlungen werden Aktivisten und später im Werk Das Theater leben und Wissen produzieren, das zu von Paul McCarthy oder den Herausgegeben von Thomas Oberender neuen Konflikten führt. ­Arbeiten von Vinge/Müller oder Paperback mit 280 Seiten den Naked Shit Pictures von ISBN 978-3-95749-343-9 Ganz anders ist hingegen das ­Gilbert & George. EUR 20,00 (print) . EUR 16,99 (digital) Verständnis von „Handlung“ in diesem Buch von Julian Beck. „Schwimmen, spüren, dass „Jeden Augenblick entstehen wir wir Schönheit sind und heiund vergehen: Ich will etwas und lig.“ Esoterik ist der griechietwas will mich.“ Alles ist eingebettet – das Publikum in die Aufschen Wortherkunft nach „dem inneren Bereich“ zugehörig und beim Living Theatre verbindet sich das mit einer Spraführung, das Leben der Ensemblemitglieder in die Art und Weise ihrer Produktion – und zu handeln bedeutet daher in Paradise che, die sich im inneren Lebens-, Schaffens- und Denk­prozess einer Gruppe von Menschen gebildet hat. In Julian Becks Now, etwas zu tun, das gemeinsam erzeugt wird, mit anderen, jetzt. „Spielen als Aktion“ heißt Julian Becks siebter Imperativ des Schriften kristallisiert sich diese dem inneren Bereich zugehörige Sprache heraus und verbindet dabei den spirituellen zeitgenössischen Theaters. Aus ihm folgt der Gedanke, dass Erkenntnisweg mit dem politischen. Dieser Haltung folgend ­„exzellente Form eine Lüge ist“. Die Kunst des Living Theatre hat wendet er z. B. das Stereotyp des technischen Einfühlungslehsich über Jahrzehnte immer weiter von den Rahmungen gelöst, die sich am Broadway z. B. mit „Könnerschaft“ oder „Brillanz“ verrers „Stanislawski“ und zeigt ihn als einen Lehrer der reflekbinden. Diese Verschiebung des Akzents vom Gelungenen in tierten Trance, des Identitätstauschs, der Immersion ins Richtung der Aktion und Unmittelbarkeit entwickelte im Schaf­Andere und des Anderen in einen selbst. Rausch und Trance fen Julian Becks eine große Kraft. „Perfection is something for sind für Beck dabei keine Idealzustände, sondern Mittel der assholes“, postuliert sechzig Jahre später Taylor Mac, ein anderer Begegnung und reflektiert eingesetzte Techniken, um Grenzen zu überwinden. Immer wieder geht es um diesen anarNachfahre des Living Theatre, in seiner 24 Stunden dauernden Zeremonie zur politischen Geschichte der populären Musik. chischen Messianismus: das Kommende vorzubereiten. […] // darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren.


2. – 13. JUNI 2021 IN KÖLN, DÜSSELDORF, MÜLHEIM AN DER RUHR UND ONLINE

IMPULSEFESTIVAL.DE


www.theaterderwelt.de Ein Festival des Internationalen Theaterinstituts (ITI), veranstaltet vom Düsseldorfer Schauspielhaus. Finanziert durch die Stadt Düsseldorf, das Land NRW und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.


Mural: Jana & JS

Luigi Nono

INTOLLERANZA 2021 Live und als Stream Premiere: Do. 3. Juni 2021 Musikalische Leitung: Johannes Harneit Inszenierung: Dietrich W. Hilsdorf Weitere Informationen unter oper-wuppertal.de/intolleranza

OPER WUPPERTAL oper-wuppertal.de


BO-STREAMS LIVE & ON DEMAND +++ ONLINE-PREMIEREN +++ KARTEN AB 5 €


© Micaela Alaniz

circus 20. Mai – 24. Mai

2021

TPZAK Zirkus- & Artistikzentrum Köln

circus-dance-festival.de Gefördert von TANZPAKT Stadt-Land-Bund aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Kulturamt


AM BODEN Filmische Inszenierung des Monologs von George Brant

Jetzt kostenfrei »on demand« auf www.landestheater-detmold.de In der Spielzeit 2021/22 auch auf der Bühne DAS LANDESTHEATER WIRD GEFÖRDERT DURCH DAS

LANDESTHEATER DETMOLD / INTENDANT: GEORG HECKEL SPIELZEIT 2020/21 / FOTO: MARC LONTZEK, DETMOLD

www.landestheater-detmold.de


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In Zeiten der Pandemie erhält der Begriff der Guckkastenbühne auch für die Jurorinnen und Juroren des Berliner Theatertreffens und der Mülheimer Theatertage eine ganz neue Bedeutung: Komaglotzen ist angesagt – via ­Bildschirm. Welche Folgen diese Situation für die Auswahl hat und wie das Theater generell dem On-Off-Betrieb trotzte, berichten die beiden Jurorinnen Sabine Leucht und Christine Wahl.


berliner theatertreffen

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Verlorene Gemeinschaft Bei der Sichtung für die Zehnerauswahl des Berliner Theatertreffens war in diesem Jahr alles anders – Reflexionen einer Jurorin über einen Ausnahmejahrgang von Sabine Leucht

C

hapter one: My body. Ich rolle ganz langsam meinen Kopf über meine Brustplatte.“ Lucy Wilke, die diese Worte spricht, sitzt dicht neben Paweł Duduś, manchmal in seinen Armen. Sie gibt eine Bewegung vor, er macht sie nach. Beider Bewegungen sind klein – und fein aufeinander abgestimmt wie Worte, die gemeinsam einen Satz bilden sollen. Das Publikum sitzt auf gemütlichen Fellen sehr nah bei den beiden, um eine knappe Stunde lang den Spielarten einer ganz besonderen Freundschaft beizuwohnen, in der der queere Tänzer aus Polen die Bewegungen der mit spinaler Muskelatrophie geborenen Schauspielerin vergrößert, ihr assistiert, wenn sie bequemer sitzen oder ihr Gesicht unansehnlich machen will, das vergiftete Komplimente auf Tinder und Co. von ihrem Körper abgetrennt haben: „You have such a pretty face, but …“ Aber auch Lucy kann von ihrem Rollstuhl aus Paweł unterstützen, etwa wenn er oversexed im Schmetterlings-String-Body tanzt. Dann schenkt sie ihm Raum, Zeit und Blicke, die sagen, dass es gut ist. Schon als „Scores That Shaped Our Friendship“ am 13. Februar 2020 im Münchner schwere reiter Premiere hatte, war das eine einzigartig berührende Erfahrung. Dabei konnte damals noch keiner ahnen, wie sehr uns ein gutes Jahr später Berührung in all ihren Spielarten fehlt. Ebenso wenig, wie dass es 2020 nur zwei kurze Intervalle geben sollte, in denen Publikum und Spieler an ein und demselben Ort aufeinandertreffen können. Der Live-­ Sichtungs­ zeitraum für die Zehnerauswahl des Berliner Theatertreffens 2021 schnurrte damit auf den noch „unschuldigen“ Abschnitt von Ende Januar bis zum ersten Lockdown Mitte März 2020 zusammen, sowie auf die von Abstands- und Hygienevorschriften geprägte zweite

Bitte nicht anatmen! – Judith Oswalds coronakompatibler Riesensetzkasten für Anne Lenks „Maria Stuart“-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin. Foto Arno Declair

Phase, die im theaterarmen Sommer begann und in Deutschland und Österreich schon Anfang November endete – je nach Bundesland also bereits wenige Wochen nach Spielzeitbeginn. Nur in der Schweiz blieben die Häuser etwas länger offen. „Not Waving But Drowning.“ Der Titel des kurzen Gedichts der britischen Autorin Stevie Smith ging mir in dieser Zeit oft durch den Kopf und tut es immer öfter: Ist es noch Winken oder schon Ertrinken, was die Theater im scheinbar endlos währenden rasenden Kulturstillstand tun? Wie im Gedicht kann man leicht das eine für das andere halten, hatte das performative Winken gerade in den ersten Monaten der schnell versendeten Probenmitschnitte und Zoom-Performances doch oft auch etwas Verzweifeltes. Tatsächlich ist längst noch nicht ausgemacht, wer die „Krise“ überlebt. Nur, dass die großen Stadt- und Staatstheaterschiffe wohl bessere Chancen haben als die Solo-Schwimmer und kleinen Boote der freien Szene, die ganz ohne oder mit dürftigen Rettungswesten ­gegen das Absaufen kämpfen. Und ja, wir haben uns als Jury die Frage gestellt, ob es fair ist, angesichts dieser Situation überhaupt eine Auswahl vorzunehmen für das Theatertreffen 2021. Immer wieder, bei jeder unserer ausschließlich online stattgefundenen Sitzungen. Auch dies ein Novum, wie das meiste in diesem Jahr. Wir haben uns schließlich für eine Auswahl entschieden, weil Gesehenwerden zwar nicht immer hilft, aber durchaus helfen kann. Und weil die Szene trotz aller Widrigkeiten so viel Sehenswertes produziert hat, wie ich es zwischenzeitlich nicht für möglich gehalten hätte.

Durch das Nadelöhr Mehrheitsentscheid Mit 26 Inszenierungen auf der Longlist haben wir weniger Arbeiten als unsere Vorgänger ernsthaft diskutiert, aber mit wohl ebenso starken Emotionen und den auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringenden Argumenten, die einer siebenköpfigen reinen ­Kritikerriege anstehen. Durch das Nadelöhr Mehrheitsentscheid gelangte dabei ein Tableau, das meines Erachtens sehr schön die Widerstandsfähigkeit und inhaltliche wie formale Vielfalt der deutschsprachigen Theaterlandschaft zeigt. Von einer Freie-Szene-

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Debütproduktion wie „Scores“, in der nur zwei Performer sich an einer Utopie der bedingungslosen Hingabe und Akzeptanz ver­ suchen und nebenbei unser normatives Sehen auf den Prüfstand stellen, bis zur prominenten Uraufführung von Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ am Hamburger Schauspielhaus, in der Karin Beier mit allem, was ihr großes Haus hergibt, an den Zynismus und die moralische Verkommenheit der US-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erinnert: aufklärerisch, an­ klagend, skandalisierend, manchmal selbst fast zynisch und in jedem Fall politisch streitbar. Es gibt die Wiederentdeckung der jüdischen Autorin Anna Gmeyner (1902–1991), deren unglaublich wortwitziges und erstaunlich frisch wirkendes Volksstück „Automatenbüfett“ in ­Barbara Freys leichthändiger Regie am Wiener Burgtheater nur auf den ersten Blick so ausschaut, als würde Christoph Marthaler ­Horváth inszenieren. Auf den zweiten entdeckt man eine ganz eigene, unterschwellig automatenhafte Bewegungssprache und ­ ­erstaunlich zähe Frauenfiguren. Die gibt es auch in „Name Her. Eine Suche nach den Frauen+“ der jungen Regisseurin Marie Schleef (eine Kooperation mit dem Ballhaus Ost, den Münchner Kammerspielen und dem Kosmos Theater Wien), worin man die vielseitige Charakterschauspielerin Anne Tismer als Solo-Performerin mit fast universaler Bildung kennenlernt, die in einem vier mal neunzig Minuten langen Kraftakt scheinbar random und querbeet durch alle Kulturen und Zeiten groovt und zu Unrecht vergessene Astrophysikerinnen, Architektinnen und Malerinnen ans Licht holt, aber auch eine Mörderin und eine Ulknudel, die ihrer Tochter einen seitenlangen Namen gab. Wer sagt denn, dass frau vernünftig sein muss, um ein lebendiges Denkmal zu verdienen? Auch große Schauspielerinnen- und Ensemble-Abende wie Anne Lenks „Maria Stuart“ vom Deutschen Theater Berlin und Stefan Bachmanns hochmusikalisches Max-Frisch-Gesamtkunstwerk „Graf Öderland“ vom Schauspiel Basel (und Residenztheater München) fehlen nicht, bei denen die Bühnenbilder aktiv mitspielen. So hat Judith Oswald für Lenks Schiller-Inszenierung einen

Aufklärerisch, anklagend und politisch streitbar – Karin Beier erinnert in ihrer Inszenierung von Rainald Goetz‘ „Reich des Todes“ (hier mit Sandra Gerling) an die moralische Verkommenheit der US-Regierung nach 9/11. Foto Arno Declair

pinken Riesensetzkasten gebaut, in dem Franziska Machens’ rotzig-moderne Maria und Julia Windischbauers sich machtkampfmüde und verkrampft hinter Masken flüchtende Elisabeth ihre lächerliche männliche Entourage coronakompatibel schwindelig spielen können, ohne sich anzuatmen oder anzusehen, der aber auch die emotionale Enge am Hof spiegelt. Dagegen haben die nach Stummfilm und Grand Guignol aussehenden Figuren in „Graf Öderland“, die durch Olaf Altmanns Riesentrichter straucheln und stürzen, den Halt in der bürgerlichen und sozialen Mitte verloren: Allen voran Staatsanwalt Martin, den Thiemo ­ Strutzenberger als irritierend fröhlichen Mörderheiligen spielt. Er wird zum Mythos des „Grafen Öderland mit der Axt in der Hand“: Anführer einer illustren Befreiungsbewegung, der zuletzt er­ kennen muss, dass ihn sein Kampf nur noch besser für das auf Funktionseffizienz gebürstete System qualifiziert, dem er entkommen wollte. Eine rätselhafte Parabel aus den fünfziger Jahren wird hier zum überzeitlichen Albtraum einer Zivilisation.

Was fehlt? Natürlich fehlt auch vieles in dieser Auswahl. Wie immer, nur dass wir Juroren uns mehr denn je damit herausreden können, dass auch im Theater vieles fehlte. Rein numerisch hat zwar fast die Hälfte der geplanten Premieren stattgefunden, doch kamen viele kleine Ersatzformate auf die Spielpläne, inszeniert von weniger etablierten Regisseuren und vor allem Regisseurinnen, während sich die Platzhirsche große Off- und Online-Schaufenster sicherten. Und dennoch wurde die Frauenquote – wie ging das noch mal? –, die sich das Theatertreffen seit 2020 verordnet, fast


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spielend erfüllt: Sechs zu vier – nachdem sich die Musikerin von „Scores“ nachträglich als fester Bestandteil des Regieteams geoutet hatte, sogar sieben zu drei. Da auch die zweite Live-Sichtungsphase endete, bevor alle den verpassten Premieren wie den Ja-Voten der Jurykolleginnen und -kollegen nachreisen konnten – allein drei der eingeladenen Inszenierungen hatten am 30. Oktober 2020 Premiere –, wurden viele der insgesamt 285 Aufführungen nur als Aufzeichnungen gesehen, die je nach technischer und finanzieller Ausstattung der Häuser ein unterschiedlich starkes Abstraktionsvermögen verlangten. Davon profitieren kleinere Theater und Städte eher weniger, von denen jedoch dank der Aufzeichnungen in diesem Jahr so viele wie nie „besucht“ wurden. Ja, es war ein Ausnahmejahr, in dem nichts war wie sonst, und die TT-Auswahl ist wohl mehr als sonst ein Spiegel der Zeit. Inhaltlich, weil sie eher existenzielle Verunsicherungen als die großen politischen Fragen verhandelt; und formal, weil nur „Scores“ und „Öderland“ vor Corona und den seither geltenden Abstandsregeln entstanden sind. Danach gab es viele kleinere Besetzungen – wie etwa in Leonie Böhms sehr heutigem „Medea*“Monolog mit Maja Beckmann in einer psychotherapeutischen Mini-WG mit Best Buddy und Musiker Johannes Rieder, mit dem Böhm ihre letztes Jahr mit den Münchner „Räuberinnen“ verpass­te Einladung nachholt – und jede Menge reine Online-Produktionen. Zwei von ihnen haben es trotz divergierender Juroren-Haltungen zur Unabdingbarkeit der leiblichen Kopräsenz von Zuschauern und Spielern in die Auswahl geschafft: „Show Me A Good Time“ von den Freie Szene-Dinosauriern Gob Squad, die sich an unserer statt zwölf Stunden lang (bei der Uraufführung am HAU Hebbel am Ufer Berlin) oder für vier mal drei Stunden lang (am Mousonturm Frankfurt) auf die Suche nach der verschwimmenden Zeit

berliner theatertreffen

und der verlorenen Gemeinschaft machen und versuchen, die eine für uns zu strukturieren und die andere zu beschwören. Ein Performer ist dabei jeweils im leeren oder fast leeren Theater und hält mit den anderen, die in die Stadt ausschwärmen, Kontakt. Dieser Brückenbauversuch in Echtzeit ist das Stück zur Stunde, das sich wie diese durchaus mal in allzu privaten oder esoterischen Momenten verläppert, aber auch die großen ­Fragen nicht auslässt: die Einsamkeit, das Sterben, die soziale Ungleichheit und das Theater auf der Suche nach seinen Zuschauern. Der menschen­ leere Zuschauerraum kommt auch in Sebastian Hartmanns Livestream-Inszenierung von Thomas Manns „Zauberberg“ in ­ den Blick, die auf die Endzeitstimmung im Lungensanatorium und die dort entstehenden existenzphilosophischen Fragen nach Raum, Zeit, Körper und Krieg fokussiert – durch lappige Fat- und Magersuits, viel Kunstschnee, ambitionierte Kameraperspektiv­ wechsel und Überblendungen in hochartifizieller Form. Das kann man originell, aber auch aufdringlich finster und bedeutungs­ huberisch finden. Eine starke ästhetische Setzung ist es allemal – und weit mehr als nur abgefilmtes Theater. Meiner Meinung nach hätte der Auswahl eine weitere OnlineProduktion gut gestanden: Cosmea Spellekens „werther.live“, worin ein noch ganz junges Team zeigt, wie ein intimes, soghaft wirkendes Netztheater gelingen kann, das den ganzen heimischen Bildschirm zur Bühne macht, indem es ihn ausschließlich mit den sozia­len Netzwerken und Chat-Tools von heute bespielt, ohne den Kern von Goethes Sturm-und-Drang-Text zu verraten. Und auch an Stefan Kaegis sich hemmungslos dem verlorenen analogen Ort des Theaters hinterhersehnendem „Black Box“-Parcours durch das Stuttgarter Schauspielhaus hing mein Herz. Doch für den können sich offenbar nur Romantiker begeistern, zu denen ich plötzlich zu meiner eigenen Überraschung zählte. Aber es ist ja wahr: Angesichts der Vielzahl an strukturellen Problemen, die die Institution gerade selbst gebiert, ist jegliche Romantisierung fehl am Platz. Christopher Rüping hatte vor einigen Jahren eine so einfache wie überzeugende Antwort darauf parat, was gegen Sexismus im Theater helfe: „Aufhören, Arschlöcher zu hypen!“ Könnte auch gegen Rassismus und Klassismus klappen. Wenn Arschlöcher denn immer so leicht zu erkennen wären … Der verlorene Sohn, den Benjamin Lillie in Rüpings zum TT eingeladener Inszenierung von Jean-Luc Lagarces „Einfach das Ende der Welt“ spielt, ist Künstler, schwul und todkrank. Doch Identifikation: Fehlanzeige, denn wer in der Familie in der Provinz, in die der Sohn nach zwanzig Jahren Funkstille zum Abschiednehmen zurückkehrt, das größte Arschloch ist, ist zu keinem Zeitpunkt klar. Als das Chamäleon unter den deutschsprachigen Regisseuren konfrontiert uns Rüping hier mit dem Klein-Klein eines Alltagslebens und mit viel Stolz und Vor­urteil; er dekonstruiert Überlegenheitsgefühle, zeigt, wie sich die Zeit dehnt, wenn man verletzt wird, und dass keiner aus seiner Haut kann. So schlicht und eindringlich, wie das Züricher ­Ensemble das spielt, so unaufgelöst, wie der Grundkonflikt am Ende stehen bleibt, habe ich das noch selten im Theater erlebt. //

Eine einzigartig berührende Erfahrung in einer Zeit des extremen Berührungsmangels – „Scores That Shaped Our Friendship“ von Lucy Wilke und Paweł Duduś. Foto Martina Marini-Misterioso

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Neue Dramatik im Binge-Watching-Modus Sichtung und Auswahl der Mülheimer Theatertage in der Covid-Saison 2020 / 21 aus der Perspektive eines Jurymitglieds von Christine Wahl

N

ormalerweise habe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Saison, im hyperaktiven Theater-Mai, mehrere Tausend Kilometer in den Knochen. Berlin – Bamberg, Berlin – Hamburg, Berlin – Osnabrück, Berlin – Mannheim – als Jurorin der Mülheimer ­Theatertage kennt man solche Bahnstrecken auswendig. Die sieben neuen Stücke, die wir – ein Gremium aus drei Kritikerinnen und zwei Kritikern – jede Saison aus den etwa 100 bis 120 Uraufführungen des deutschsprachigen Theaterraumes auswählen, sind buchstäblich erfahren. Dieses Jahr waren freilich ganz andere Tools gefragt als die obligatorischen Noise-Cancelling-Kopfhörer für lange ICE-Reisen. Rückblickend lässt sich sogar sagen, dass das Auswahlprozedere unter Pandemiebedingungen die geradezu entgegengesetzte

Energieleistung zu jener Langmut erfordert, die man sich ob der notorischen Defizite der Bahn über die Jahre mühselig antrainiert hat: Theater im Binge-Watching-Modus; Bamberg, Hamburg, ­Osnabrück und Mannheim im Stakkato auf dem heimischen Laptop, wechselweise als online gestreamte „Geisterpremiere“ vor leerem Zuschauerraum oder als Aufzeichnung eines jener raren Abende, die es dank glücklichen Timings zu einer „echten“ Premiere vor dezimiertem Publikum gebracht hatten. Erstaunlich, was für eine konkrete Wahrheitsdimension – so allein vorm Display – plötzlich Redensarten bekommen können, die branchen­ intern eigentlich als Plattitüden-No-Gos geächtet sind! Die Binse vom Theater als Sozialevent ist nur eine davon. Noch auf den letzten Daseinskilometern sportlich unterwegs – Das Frauenquartett aus Sibylle Bergs „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ in der Regie von Sebastian Nübling (Maxim Gorki Theater Berlin). Foto Ute Langkafel / Maifoto


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Dass die schöne Jury-Gepflogenheit, sich einmal monatlich an wechselnden Orten zu einer Uraufführung mit vor- und/oder nachgelagerter Besprechung zu treffen, vollständig dem zweidimensionalen Zoom-Format weichen würde, hätte sich zu Beginn der Sichtungsperiode im Februar 2020 niemand von uns träumen lassen. Wissenschaftler haben ja inzwischen handfeste Indizien dafür gefunden, wie stressfördernd sich die erschwerte Decodierbarkeit nonverbaler Signale in virtuellen Gesprächsformaten auf das Kommunikationsklima auswirkt. Dass laut einer Berliner Studie selbst minimale Bildübertragungsverzögerungen die geschliffen argumentierende Kolleginnen-Kachel als signifikant unfreundlicher, inaktiver, weniger ambitioniert und um einiges disziplinloser erscheinen lassen als in Echtzeit und -raum, ist mir persönlich zwar nicht aufgefallen. Aber wer weiß, was künftige Soziologengenera­ tionen über die Auswirkungen dieser mittlerweile amtlich als „Zoom-Fatigue“ anerkannte Online-Anpassungsstörung auf Diskussionsverläufe und -resultate noch herausfinden werden!

Trash-TV als Folie Fakt ist bis dato immerhin dies: 87 Theaterstücke wurden, allen Widrigkeiten zum Trotz, in der Covid-Saison uraufgeführt. Weil die Mülheimer Theatertage – wie auch das Berliner Theatertreffen – keine kuratierte Auswahl präsentieren, sondern ein Programm, das einzig und allein dem wunderbar gummiartigen und deshalb in jeder Runde und Jury-Konstellation produktiv neu auszuhandelnden Attribut des Bemerkenswerten folgt, sind etwaige rote ­Fäden im Tableau nicht intentional herbeigeführt, sondern zeigen sich – sofern vorhanden – auch der Jurorin selbst erst im Rückblick auf die getroffene Auswahl. Durch diese Brille betrachtet, fallen mir angesichts der sieben diesjährigen Nominierten, aus denen am Festivalende die Gewinnerin oder der Gewinner des mit 15 000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreises ausdisku-

mülheimer theatertage

tiert wird – und zwar, traditionsgemäß, in öffentlicher Debatte durch eine vom Auswahlgremium unabhängige Jury –, folgende gegenwartsdramatische Tendenzen auf. Erstens: Wer immer noch dem seit Jahrzehnten – und dies im Übrigen gern auch mal ferndiagnostisch – reproduzierten Vorwurf anhängt, neue Theatertexte drehten sich statt um die Welt notorisch um den eigenen Bauchnabel, wird einmal mehr eines anderen belehrt. Abgesehen davon, dass der dramatische Wille zur gesellschaftspolitischen Gegenwartsanalyse nahezu allgegenwärtig erscheint, zeigt er sich im Mülheim-Jahrgang 2021 sogar auffallend konkret. Überdurchschnittlich viele Abende greifen zur Jetztzeit-Durchdringung in die jüngere Geschichte aus, bewegen sich – wechselweise um zwei bis sechs Jahrzehnte – auf der Zeitachse zurück, um dort jeweils die Keimzelle, die Blaupause oder den Spiegel des Status quo zu entdecken. Rainald Goetz’ überbordender Vierstünder „Reich des Todes“ – sein erstes und entsprechend heiß ersehntes Stück seit „Jeff Koons“ vor über zwanzig Jahren, das Karin Beier am Hamburger Schauspielhaus urinszeniert hat (siehe TdZ 10/2020) – entwickelt aus den Anschlägen des 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center und die Reaktionen der US-amerikanischen Politik eine ebenenreiche Abrechnung mit dem Westen schlechthin. Fast zum gleichen Zeitpunkt, ebenfalls unmittelbar am Beginn des 21. Jahrhunderts, findet auch der Schweizer Theatermacher Boris Niktin sämtliche Anlagen für ein Motivkonglomerat vor, das heute – maximal ausdifferenziert und fatal verdichtet – unser Sozialleben prägt. Statt der paradigmatischen, amerikanisch-deutschen Poli­ti­ ker-Verschmelzungen mit hohem Wiedererkennungsfaktor wie bei „Chosen Sisters“ mit selbstbestimmten Lebensentwürfen – „Tragödien­bastard“ von Ewe Benbenek in Florian Fischers Regie (mit Til Schindler, Clara Liepsch, Tamara Semzov, Schauspielhaus Wien). Foto Matthias Heschl

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protagonisten

Goetz führt Nikitin die erste Belegschaft des RTL-Formats „Big Brother“ ins dramatische Feld, die sich anno 2000 freiwillig in einen Wohncontainer sperren, rund um die Uhr von Kameras abfilmen und vom Fernsehpublikum beobachten ließ. Formal ist der von Nikitin am Staatstheater Nürnberg selbst inszenierte Abend „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ ein Reenactment aus damaligen O-Tönen plus eigenen wie fremden Text-Einsprengseln (etwa vom – unfreiwilligen – Show-Namensgeber George Orwell). Inhaltlich arbeitet er Pars pro Toto heraus, wie kurz der Weg von der analogen WG zur virtuellen Echokammer ist, wie stark gegenwärtige Filterblaseneffekte jenen dieser informationstechnisch exklusiv auf sich selbst geworfenen Analog-Community ähneln, die reality konsequent aus dem eigenen Dunstkreis generiert: Trash-TV als Folie, wie sich aus beiläufigem Geplänkel handfeste Narrative herauskristallisieren und dezidiert sinnfreie Wohn­ zimmer-Sit-ins in aggressiv-exkludierende Polarisierungskämpfe umschlagen.

Hey, Sistas! Noch weiter zurück, bis ins Jahr 1980, geht Christine Umpfenbach in ihrem ebenfalls selbst – an den Münchner Kammerspielen – urinszenierten Dokumentarstück „9/26 – Das Oktober­ festattentat“. Aus der Perspektive der Überlebenden jenes rechtsextremen Terroranschlags vom 26. September in München, mit denen die Regisseurin gesprochen und deren Berichte sie zu einem mehrstimmigen Abend kompiliert hat, werden Politikerund Behördenversagen, Vertuschung und Verdrängung rechter Strukturen als tief in die Gegenwart hineinwirkende bundes­ deutsche Kontinuität gezeigt – was wiederum Thomas Freyers Text „Stummes Land“ (Stückabdruck in TdZ 10/2020) in Tilmann Köhlers Urinszenierung am Staatsschauspiel Dresden gleichsam um die spezifisch ostdeutsche Seite erweitert. Ein scheinbar unverdächtiger Konversationsabend vierer gut ausgebildeter, tendenziell kosmopolitischer Ex-Schulfreunde um die vierzig bringt zu vorgerückter Stunde, proportional zum steigenden Promillegehalt im Blut, sorgsam verborgene Abgrenzungstendenzen bis hin zu Rassismen zutage – woraufhin sich die Akteure in einem formal komplett veränderten zweiten Teil in der Zeit ihrer Eltern- und Großelterngeneration wiederfinden und zwischen staubigen ­Aktendeckeln auf Zeugnisse stoßen, die eine enge Verbindung zwischen Kommunismus und Nationalismus offenbaren und die offizielle DDR-Doktrin vom antifaschistischen Staat als Lippen­ bekenntnis entlarven: realsozialistische Großväter, die im nationalistischen Rechtsaußen-Ton den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 abkanzeln oder Mitarbeiter des Ministeriums für Staats­ sicherheit, die zu Spionagezwecken mit Altnazis kollaborieren. Der Titel von Freyers Stück – „Stummes Land“ – ist dabei Programm: Bis in privateste Beziehungen hinein wird Geschichte verdrängt, verschwiegen, verbogen. Wie sagt man seinem Kind, was keiner wissen darf: dass der Vater hauptberuflich als IM arbeitet? Im Zweifelsfall gar nicht. Gleichfalls von Unausgesprochenem – und möglicherweise von Unaussprechbarem, weil die ­Generationen gegenseitig ihre Codes gar nicht verstehen – handelt Ewe Benbeneks „Tragödienbastard“: Eine junge Frau befragt in einer Art Stream of Consciousness ihren eigenen Lebensent-

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wurf in Auseinandersetzung mit demjenigen ihrer nach Deutschland eingewanderten Eltern und dem ihrer Großmutter in Polen, die sich liebevoll-besorgt nach der Anwesenheit eines Mannes im Enkelinnen-Dasein erkundigt und dabei bereits die potenziellen Urenkel impliziert – womit ein zweiter großer Themenkomplex des Gegenwartstheaters im Allgemeinen und der Mülheim-Auswahl im Besonderen angerissen wäre: Rollenbilder stehen auf der dramatischen Tagesordnung, vor allem weibliche. So sehr das Thema die Autorinnen eint, so unterschiedlich gestalten sich dabei ihre Herangehensweisen. Während in Benbeneks polyfoner Textfläche, die Florian Fischer am Schauspielhaus Wien zur ­Uraufführung brachte, mindestens eine Stimme sich und ihre „Chosen Sisters“ mit den selbstbestimmten Lebensentwürfen zu „Göttinnen“ empowert, verlegt sich Rebekka Kricheldorf in ihrem Text „Der goldene Schwanz“ (Stückabdruck in TdZ 01/2021) aufs Genre der Komödie, jagt gewitzt Klischees aufeinander und sucht dabei die blinden Flecken im weiblichen Selbstverständnis. Ausgangspunkt des von Schirin Khodadadian am Staatstheater Kassel urinszenierten Abends ist die Grimm’sche Aschenputtel-Figur, die es ja als role model – man denke an den Nineties-Hollywoodhit „Pretty Woman“ – mindestens bis ins zwanzigste Jahrhundert geschafft hat. Weil Kricheldorfs Protagonistin allerdings weiß, dass das Schloss im Zweifelsfall auch nur ein goldener Spießerkäfig ist, hat sie sich weit vom Prinzentraum entfernt und stattdessen für ein emanzipiertes Selfmade-Woman-Dasein entschieden. Wiederholt entert sie im Blaumann das Szenario – stets auf der Suche nach einer lockeren Schraube oder einer reparaturbedürftigen Elektrizitätsleitung – und untermalt ihre selbstbestimmte Handwerkerinnentätigkeit gern mit einem belesenen Spontanreferat über soziale Ungleichheit und andere globale Ungerechtigkeiten. Adressatinnen sind Aschenputtels Stiefschwestern, die hier „die Sistas“ heißen und ihrerseits zwar alles andere als rollenrevolutionär, dafür aber in einem gleichfalls gesellschaftstheoretisch beschlagenen, mit allen Gegenwartsdiskurswässerchen gewaschenen Code über Dates und Lippenstifte streiten. Am Ende bleibt wirklich kein Stereotypenbaustein auf dem anderen – was ebenso auf Sibylle Bergs Stück „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ zutrifft, das Sebastian Nübling am Berliner Maxim Gorki Theater urinszeniert hat. „Ich hatte erwartet“, verkündet dort ein auf den letzten Daseinskilometern angelangtes Frauenquartett in Streifenbademänteln, „dass mir in Erwartung des Todes das Unterbewusste faszinierende Bilder meines gelungenen Lebens zeigt.“ Leider ein Irrtum! Was sich de facto einstellt, „kann nur als unterdurchschnittlich bezeichnet werden: Immobilien und Kühlschränke, triste Reisen und die Abwesenheit von Liebe“. Ja: Bergs Frauenchor, der 2013 unter dem Motto „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“ das Bühnenlicht erblickt und, geschäftstüchtig der Zukunft zugewandt, über den studienbegleitenden Drogenvertrieb und weitere aussichtsreiche Start-ups sinniert ­hatte, hält die Hände inzwischen fest am Rollatorgriff – und hat entsprechende Schwierigkeiten, mit der Töchtergeneration Schritt zu halten: „Ich verstehe die Empörung nicht mehr“, heißt es im Stück. „Wir haben Männer früher einfach zusammengeschlagen, wenn wir uns beleidigt fühlten oder gelangweilt waren.“ Über die geeigneten Weltveränderungsmethoden lässt sich bekanntlich wunderbar dramatisch streiten. Voilà. //


D N I S N E T H C I ALLE GESCH , S O L T R E W H C I R T S M R E T N U M E D N A M E I N E WENN MAN SI . N N A K N E L ERZÄH an Harstad h Jo , K S R JA O N S KR A

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Virtuelle Vorstellung auf einer VR-Brille Deutschsprachige Erstaufführung

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Videostill © Markus Zizenbacher

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PUNK T ch dem SCHLE IF und Kopf hörer na

rm erzählt für Bildschi sprung rstück von Maria Ur te ea Th en ig m na ch glei Schleifpunkt ist bis

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ES LEBE DAS THEATER!

Szene aus:

HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI Volksstück von Bertolt Brecht / Elina Finkel, Inszenierung / Annika Hauffe*, Tara Helena Weiss*, Kea Krassau*, Katharina Paul, Rosalba Thea Salomon*, Steffen Schreier (* Studentinnen der Hochschule für Musik und Theater Rostock)

FOTO: DORIT GÄTJEN

Wir danken für 75 Jahre kritische Begleitung und gratulieren zum Jubiläum!


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Auftritt Bochum „Fühlst du das auch?“ von dorisdean  Detmold „Am Boden“ von George Brant  Gent „Yellow. The sorrows of Belgium II: Rex“ von Luk Perceval und Peter van Kraaij  Leipzig „Ich bin“ von Jana Zöll und „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt  Mannheim „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble  München „,Wir Schwarzen müssen zusammenhalten‘ – Eine Erwiderung“ von Elemawusi Agbédjidji und Ensemble  Nürnberg / Stratford-upon-Avon „Macbeth – Ein Kurznachrichtentheater“ nach William Shakespeare und „Dream“ nach William Shakespeare  Weimar „Draußen vor der Tür“ nach Wolfgang Borchert


auftritt

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BOCHUM

­E-Piano und spielt nach Wunsch Melodien zu allgegenwärtigen Gefühlen von Freude über

DETMOLD

Ekel bis Angst. Nette Idee, mehr nicht. Die

Pandemische Gefühle

Kamera der Performerin torkelt, filmt den Pianisten, den Fußboden, die bröckelnde ­

Top-Gun-Girl

Wand und scheint selbst nicht zu wissen,

FACEBOOK / INSTAGRAM / YOUTUBE: „Fühlst du das auch?“ von dorisdean

wohin. Sie produziert wackelige Ansichten, bei denen höchstens ein leerer Akku für Aufregung sorgt. Live ist life, doch die vorgeführte Liveness bleibt schon allein der man-

LANDESTHEATER DETMOLD: „Am Boden” von George Brant Regie Jan Steinbach Ausstattung Jule Dohrn-van Rossum Video Marc Lontzek

„1000 Scores. Pieces für Here, Now & Later“

gelhaften akustischen Bedingungen wegen

nennen sich die von Helgard Haug, David

schal. Wer Gebärdensprache versteht, ist im

Helbich und Cornelius Puschke vergangenes

Vorteil, denn auf Instagram ist zuweilen eine

Jahr in Auftrag gegebenen Mini-Partituren für

Dolmetscherin im Einsatz. Die anderen er­

Eigensinnig und ehrgeizig ist sie – sowie von

den pandemischen Alltag. Mitgewirkt hat

ahnen die hörenswerten Antworten zur Um-

Jugendbeinen an überzeugt, nie „Schnepfe“,

auch das inklusive Performance-Kollektiv

frage „Was berührt dich?“. Ein Potpourri der

„Cheerleaderin“, „ein unselbständiger Sack

dorisdean aus Bochum. Ihre Handlungsan­

Überlebensstrategien, zu denen Michel sich

Scheiße“ werden zu wollen und nie „am Boden“

weisungen fragen nach der Herkunft unserer

im Lametta-Reifrock dreht wie eine Spiel­

der Tatsachen zu verharren. „Am Boden“ – so

Schmerzen, danach, wo es wehtut. Eine Frage,

dosenfigur. Als zentrale Performerin und

ist das 2013 uraufgeführte Stück des US-

die in die aktuelle Krise der Gegenwart sticht

Guide durch den Gefühlsdschungel entwi-

amerikanischen Autors George Brant denn

wie in einen zum Platzen bereiten B ­ allon. Die

ckelt sie weniger Format. Über kichernde

auch betitelt. Also hebt die namenlose Prota-

kleine Arbeit glänzt mit Poesie, Welthaltigkeit

und schlampig improvisierte Einlagen geht

gonistin richtig ab, wird US-Kampfjet-Pilotin,

und der Drangsal unserer Tage. Etwas von

es selten h ­ inaus. Fühlst du das auch? Zorn,

erlebt Großes und fühlt sich großartig: ein

diesem Glanz klebt nun auch an ihrer neues-

Lange­weile, Müdigkeit?

Hauch

von

Freiheit.

Am

Landestheater

ten Produktion, dem Parcours „Fühlst du das

Netztheater kann sich einerseits keine

Detmold erzählt sie davon in Gestalt der ­

auch?“, der online auf Facebook Premiere

Spannungslöcher erlauben – und kann genau

Schauspielerin Alexandra Riemann mit bit­

feiert, eskortiert von Filmen auf Instagram

das andererseits besonders gut. Gleichzeitig

terer Erinnerungsstimme, während die Finger

und Youtube. Die Selbstberauschung der

den Stream verfolgen und ab und zu Mails

zartstolz über den Stoff ihrer Uniform strei-

mehrkanaligen Liveness ist dem Ganzen

oder den parallel bespielten Instagram-­ chen. Die habe sie verdient als draufgänge­

deutlich anzumerken. Performerin Miriam

Account checken? Geht. Die immer mal wie-

risches Top-Gun-Girl, das weder Tod noch

Michel nimmt die Zuschauenden an der Hand

der aufkommende Fadesse mildert das kaum.

Teufel fürchtet und seine Identität aus Echte-

und führt sie von Station zu Station. Der Auf-

Dabei gibt es einiges zu entdecken. Philipp

Kerle-Klischees

takt ist vielversprechend und erinnert in sei-

Hohmanns Kurzauftritt leidet höchstens am

­Anspruch auf Heldenstatus. Das Fliegen ist

ner verspielten weirdness an die Nebelschwa-

schlechten Ton. In seiner Mini-Performance

ihr rauschhaftes Lebenselixier – mit dieser

denkunst des Schweizer Theaterzauberers

begibt er sich auf die Suche nach einem

wahnwitzigen Geschwindigkeit, den über­

Thom Luz. Bei dorisdean ist ein sogenannter

­kollektiven Zustand, der über die zuvor laut-

wältigenden G-Kräften und dem ganzkörper­

Flammen­ projektor der Star, ein Gerät, das

hals verbreiteten Glückskeksbotschaften hin-

lichen Glückskick: „Man ist allein in der

Feuerbälle in die Luft spuckt. Verbunden mit

ausweist. Ein Mensch spricht, und der Raum-

­Leere und man ist das Blau.“ Das Blau des

einem Puls-Sensor tut es das im Rhythmus

trenner Bildschirm spielt auf einmal keine

endlosen Himmels. Ganz oben. On top noch

des Herzschlags der Performerin. Ein schönes

Rolle mehr. Hohmann entkleidet sich, steht

dieses todbringende Machtgefühl, über ein

Spiel, das weniger den Gefühlen als der

mit freiem Oberkörper da, berührt sich und

feuerhagelndes Waffenarsenal zu gebieten.

Schlagkraft des Herzens auf den Grund geht.

uns. Das entfaltet selbst in seiner unfertig

Und dann das: plötzlich schwanger. Mit dem

Vor dem Bildschirm verliert es an Hitze. Der

wirkenden Ausgabe eine Ahnung vom kollek-

Geruch fehlt, das Geräusch, der Atem.

tiven Gefühlshaushalt. Dasselbe gilt für

Auch in den anderen Räumen des Par-

­Patrizia Kubanek, die sich in ihrem Rollstuhl

cours sehnt man sich nach unmittelbarer Teil-

in Rage fährt, Geschirr zerdeppert und über

habe. Dem Mann am Klavier schenkte man in

Noppenfolie rast. Eigene Laute und der

echt wohl nicht so viel Aufmerksamkeit wie

Sound ihres Gefährts nähren die unheimliche

der Stream. Christopher Bruckman sitzt

Geräuschkulisse, die bei aller Wut eine

aufgebrezelt in baufälliger Umgebung am ­

­schöne, stumpfe Traurigkeit umweht. Anderes in den rund zwei Stunden bleibt offensiv ­ilettantisch. An einem der Orte werden wir in

Potpourri der Überlebensstrategien in pandemischen Zeiten – Die Online-Performance „Fühlst du das auch?“ von doris­ dean. Foto Lukas Zander

Dauerschleife gefragt, wie es uns geht. Geht es gut? Sagen wir so: Einiges in diesem Rundgang läuft leer, und die Spannung steigt nicht eben oft. //

Shirin Sojitrawalla

gebastelt

hat,

inklusive

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auftritt

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Ehrgeizige Kampfjet-Pilotin zwischen Berufs- und Familienalltag – George Brants Monolog „Am Boden“ in Detmold mit Alexandra Riemann. Foto Marc Lontzek / Landestheater Detmold

fehl verweigerte. Deswegen musste sie den Schoß des Familienlebens mit der Pritsche im Militärgefängnis tauschen. Riemann führt die Figur eindringlich von der Hybris, sich wie Gott am Himmel zu fühlen, zur Ohnmacht einer Menschenwurmin – und drückt am ­ Scheitelpunkt dieser Entwicklung malerischsymbolisch eine Träne ab. Ästhetisch bemerkenswert klar ist das in Szene gesetzt. Mit der Erzählhaltung oder -szenerie verändert sich immer auch die Spielhaltung Riemanns nebst der Kameraeinstellung. In Zwischenschnitten wird an den Verlust „ganzen wahren Kitsch“ – Liebe, Mutter-

Die spielt Riemann in der kargen Spielstätte

der Fliegerei des Öfteren mit dem Streicheln

schaft, Familie – kommt das Selbstverständ-

des Detmolder Grabbe-Hauses, genutzt als

der Uniform erinnert, in welche Riemann für

nis der Heldin komplett durcheinander. Nach

psychologischer Raum und Verhörzelle-Büh-

Rückblendenbilder auch als Kämpfernatur

der Babypause degradiert sie zudem der Air-

nenbild, mit androgynem Kurzhaardesign be-

schlüpft. Selbige trifft sich – per Techniktrick –

Force-Chef zur Joystickpilotin von Drohnen in

tont hart und möchtegerncool. Passend dazu

mit dem resigniert eingekerkerten Alter Ego

nie erklärten Hightech-Kriegen.

wirkt ihr Gesicht dank chronisch zu greller

auch auf ein Bier, ohne dass Vergangenheit

Ausleuchtung maskenhaft emotionslos. Her-

und Gegenwart auszusöhnen wären. Es folgt

chiert und zu einem Aufklärungstheater-­ ausfordernd aber der stahlblaue Blick in die

eine Alles-wird-überwacht-Anklage. Mehr aus

Monolog verdichtet, der gegen eine unge-

Kamera. Dazu schießt Riemann Halb- und

Verzweiflung denn Reflexion und Einsicht

bremst gen Zukunft rasende Technologie

Stummelsätze mit maschinengewehrartiger

klammert sich die Protagonistin dabei an

wütet. Der Text zeigt aber auch, was passiert,

Rasanz aus sich heraus, bis der Riss zwischen

Mann und Kind als das Echte – auf dass die

wenn Menschen in Zwölf-Stunden-Schichten

ihren Daseinsformaten als Ehefrau, Mama

Zuschauer die Fixierung aufs Digitale als geist-

in einem fensterlosen Kabuff in der Wüste

und Killerin immer bedrohlicher wird. Erst

vernebelnden, gefühlsverwirrenden Weltverlust

nahe Las Vegas auf Bildschirme starren und

wächst die Nervosität, dann die Paranoia; und

verstehen dürfen. So funktioniert der Theater-

in milchig-grauen Videobildern irgendwen

die Schnittfrequenz der Bilder verliert an

wie ein Disney-Film, als klassisches Lehrstück

­irgendwo auf dem Erdenball überwachen oder

rhythmischer Stabilität.

vom Erkennen, wo man hingehört: ins traut zu

Der Autor hat diesen Wahnsinn recher-

gezielt töten. Für die Protagonistin werden

Permanent beobachtet und völlig über-

gestaltende Heim der Familie. Ob die gen

dabei Berufs- und Familienalltag schnell in-

fordert fühlt sich die junge Frau im Job wie in

Himmel und Übermenschentum strebende

kompatibel. Regisseur Jan Steinbach feiert

der Öffentlichkeit und berichtet weiter, dass

­Pilotin nun am B ­ oden mit eher kleinbürger­

daher keine Sekunde die Frau in einem soge-

sie die eigene Tochter ins Fadenkreuz ihrer

lichen Prioritäten und Werten zwangsläufig

nannten Männerberuf – oder Geschlechterrollen

Bombenattacken fantasiert, also Drohnen-

selbst zur gefürchteten „Schnepfe“ werden

als durchlässig –; vielmehr seziert seine Insze-

kriege als globale Bedrohung für jedermann

muss, bleibt final als Frage offen. //

nierung eine existenzielle Verunsicherung.

imaginiert hat und daraufhin einen Schießbe-

Jens Fischer

THEATERRAMPE.DE

DIE GESELLSCHAFT VON HERBORDT/MOHREN VIER LABORE UND EINE PERFORMANCE LABOR VIER: 11. MAI 21 FINALE: 1. – 3. JULI 21


auftritt

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GENT

mit den Sorgen Bel­giens, in die Überschrift des Abends gerückt ist: „Yellow. The sorrows of Belgium II: Rex“ lautet dessen vollständiger

So fern, so nah

Titel. Gemeint sind natürlich Abgründe, die

Familiendrama als Politparabel – Luk Percevals „Yellow“ am NT Gent setzt sich mit der Entwicklung faschistischer Bewegungen auseinander. Foto Fred Debrock

dort lange beschwiegen wurden, den AutorRegisseur Perceval aber schon seit seinen

NT GENT: „Yellow. The sorrows of Belgium II: Rex“ von Luk Perceval und Peter van Kraaij Regie Luk Perceval Bühne Annette Kurz Kostüme Ilse Vandenbussche Film/Kamera Daniel Demoustier

künstlerischen Anfängen in den achtziger Jah-

Fotos und Zeitungen liegen – gleichsam das

ren umtreiben.

Material, aus dem die Geschichte entstan-

Das eigens für das Projekt geschriebe-

den sein könnte. Den Billardtisch hatte die

ne Stück ist im Kern ein Familiendrama, in

Bühnenbildnerin Annette Kurz auch schon

dem unterschiedliche Haltungen und Schick-

ins Zentrum von „Black“ gesetzt, hier fun-

sale verbunden sind. Die Goenmaeres sind

giert er als Haus der Familie, schneeflocken-

einfache Leute in der flämischen Provinz.

bestreut als Kriegsschauplatz im fernen

­Vater Staf (Peter Seynaeve) ist Mitglied der

Russland und schließlich auch als Bühne für

rechtsnationalen Dietse Militia, sein Sohn Jef

die politische Ansage. Diese platzt in Gestalt

Nach „Black“, einem Abend über den Koloni-

kämpft im Osten, von wo er Briefe schreibt,

des geradezu ekstatischen Auftritts von De-

alismus in Kongo vor zwei Jahren, ist „Yellow“,

die stets mit „Heil Hitler“ unterzeichnet sind.

grelle herein, den Valéry Warnotte als diabo-

der zweite Teil von Luk Percevals belgischer

Mutter Marije (Chris Thys) und Tochter Mie

lischen Großredner der Rex-Politik gibt, wel-

Trilogie, einem hierzulande sehr viel weniger

(Lien Wildemeersch) sind nicht ganz so fana-

che ein er­ wachendes Bündnisvolk an der

bekannten Kapitel der Geschichte gewidmet:

tisch, bekunden aber durchaus ihre Zweifel

Seite Nazi-Deutschlands herbeifantasiert.

der Entwicklung einer faschistischen Be­ we­

am „belgischen Operettenstaat, der niemals

Um sie herum wehen etliche weiße Fahnen

gung im Zweiten Weltkrieg in Flandern, die in

in den Herzen gelebt“ habe. Stafs Bruder

statt der dafür erwartbaren Hakenkreuzflag-

die Kollaboration mit den deutschen Besatzern

­Hubert (Bert Luppes) steht dagegen in Oppo-

gen – eine von Percevals klug eingesetzten

mündete und der Wehrmacht bei ihrem Feld-

sition zu diesem fehlgeleiteten Patriotismus

Irritationen in dem auch an Thomas Bern-

zug im Osten schließlich 10 000 Soldaten an

und versteckt die aus Wien geflüchtete Jüdin

hards „Heldenplatz“ erinnernden Stück. Die

die Seite stellte. Noch weniger bekannt dürfte

Channa (Maria Shulga) bei sich in Antwerpen.

andere histo­ rische Figur, mit der die Ge-

Léon Degrelles ähnlich orientierte Partei der

Das Ganze spielt sich in einem Wechsel von

schichte der Goenmaeres ins größere histo­

Rexisten sein, die 1935 im wallonischen Teil

intensiven Monologen und spärlichen Dialo-

rische Panorama gerückt wird, ist die des

des Landes entstand und, im Zusammenhang

gen um einen Billardtisch ab, auf dem Briefe,

österreichischen SS-Manns Otto Skorzeny,

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auftritt

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der – mit einer der seltsamsten Biografien des NS-Regimes – nach dem Krieg im Spanien der Franco-­­­Dik­tatur auf Degrelle trifft (dieser Part wurde wohl von der Dramaturgin Margit Niederhuber für den österreichischen Koproduktions­ partner, das Niederösterreichische Landestheater St. Pölten, recherchiert). In der Atmosphäre eines Badeurlaubs und liebevollem Englisch tauschen die beiden Erinnerungen an Begegnungen mit Hitler aus sowie die neuesten Informationen über die Wirtschaft. Philip Leonhard Kelz spielt diesen Skorzeny mit dem Charme eines Filous. Die Filmversion, die vorläufig die mehrfach verschobene Bühnenpremiere ersetzt, konzentriert sich auf Großaufnahmen der Gesichter. Anfang und Ende sind in Farbe gedreht, die eigentliche Handlung aber in Was bedeutet es, mit der Norm zu brechen? – Jana Zöll in ihrer Online-­ Produktion „Ich bin“ am Theater der Jungen Welt in Leipzig. Foto Steven Solbrig

Schwarz-Weiß mit der An­mutung des zugleich

„Leben Sie in einer Familie? Haben Sie gerne

historisch Fernen und dokumentarisch ­Nahen.

Sex in Gruppen? Sind Sie normal?“ Die Zu-

Die besondere Wirkung entsteht jedoch da-

schauerinnen werden gebeten, sich zu offen-

durch, dass der Regisseur jeden vereinfa-

baren und die Laptopkamera einzuschalten,

chenden Realismus bricht, zu der Musik von

wenn sie eine der Fragen bejahen. Zöger-

Sam Gysel choreografische Elemente einsetzt

lich weichen die schwarzen Kacheln des

und die Kameraführung auf den supernahen

Online-Meetingraums ein paar Gesichtern. ­

rum des künstlerischen Schaffens. Mit einem

Zuschauer abgestimmt hat, der dabei ein

Die ­wenigsten bekennen sich zu den abge-

ebenso inklusiven Ansatz leitet sie seit der neu-

exzellentes Ensemble beobachten darf. Die ­

fragten Sexualpraktiken; der eigenen Norma-

en Spielzeit gemeinsam mit Paul Lederer den

insgesamt vier Sprachen – Niederländisch,

lität möchte niemand zustimmen.

Kidsclub vom Theater der Jungen Welt. Die im

Französisch, Deutsch, Englisch – heben das

Was es bedeutet, der Norm zu entspre-

letzten Jahr angetretene Intendantin Winnie

innerbelgische Trauma der Goenmaeres auf

chen oder mit ihr zu brechen, erforscht die

Karnofka und ihr Team gestalten das Programm

eine höhere, europäische Ebene und berüh-

Performerin Jana Zöll in der Online-Produk­

des Leipziger Kinder- und Jugendtheaters mit

ren zudem mit einer Musikalität, die bereits

tion „Ich bin“. Dabei bleibt die Autorin,

einer Vielzahl digitaler Angebote, die Wert auf

in „Front“, Percevals Requiem über den

Schauspielerin und Inklusionsberaterin meist

Gleichberechtigung und breite Teilhabe legen.

­Ersten Weltkrieg (2014), überzeugt hatte. In

unsichtbar. Lieber lässt sie die Identitäts­

Die Künstlerinnenresidenz Challenge Accepted

Sachen Film-Theater ist die in Zu­ ­ sam­ men­

zuschreibungen für sich sprechen, die an

ist eines der neuen Formate, die mit Zölls Per-

arbeit

­ Daniel

den Einordnungen „Mann – Frau“ oder „be-

formance-Lecture „Ich bin“ eröffnet wurden.

Demoustier entstandene Version jedenfalls ­

hindert – nichtbehindert“ hängen. Sie bom­

Weil die Performerin Teil der Covid-

ein Beispiel von Rang. //

bardiert das Publikum mit Fragen und fordert

19-Risikogruppe ist, wandelt sie ihre Woh-

die gewaltsame Einordnung in Schubladen

nung zur digitalen Bühne. Mit einer Hand­

heraus. Fremd- und Selbstzuschreibungen

kamera filmt sie einen kopflosen Gipsabdruck

sind Bausteine der Identität und reduzieren

ihres Körpers. Erst wird das Publikum aufge-

einen Menschen auf wenige Schlagworte. In

fordert, diesen mit verschiedenen Labels zu

ihrer künstlerischen Laufbahn wurde die aus-

versehen, dann pinnt sie selbst einige Attri-

gebildete Schauspielerin im Rollstuhl häufig

bute daran. Auf Klebezetteln stehen da Identi-

auf ihre Körperlichkeit festgelegt. Bei Enga-

tätszuschreibungen wie weiß, weiblich, hetero.

gements an Stadttheatern stand selten ihr

Anhand ihrer Biografie erzählt Zöll, wie ihr

Können im Vordergrund, ihr Dasein wurde

Körper früh als „defizitär“ gelabelt wurde und

zum Marker für vermeintliche Diversität.

ihr gesagt wurde, dass sie sich lieber auf

mit

dem

Kamerakünstler

Thomas Irmer

LEIPZIG Sind Sie normal? THEATER DER JUNGEN WELT: „Ich bin“ von Jana Zöll „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt Regie Johanna Zielinski Ausstattung Thurid Goertz

Jetzt konzentriert sich Zöll auf freie

­ihren klugen Kopf verlassen solle. Dabei ist

Theaterarbeit und gibt Workshops für Inklu­

niemand behindert, sondern wird es durch

sion. In dem von ihr mitgegründeten Leip­

Barrieren, Vorurteile und Diskriminierung.

ziger Performance-Kollektiv Polymora Inc.

Die intersektionale Verschränkung von

steht eine „mixed-abled“ Produktionsweise,

Ableismus – der strukturellen Abwertung von

bei der alle ihre Fähigkeiten und Erfahrungen

Menschen mit Behinderung – und Sexismus

gleichberechtigt einbringen können, im Zent­

wird deutlich, wenn Zöll die zugeschriebenen


auftritt

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Attribute mit denen von Männern und Menschen ohne Behinderung vergleicht. Da kommen eher Adjektive wie stark, unabhängig oder mutig in den Sinn. Öffnet man die Schublade Frau beziehungsweise Mensch mit Behinderung, assoziieren viele eher: schwach, hilfsbedürftig oder kindlich, sagt Zöll. Zufall? Keineswegs. Der Frage, wie genau patriarchale und kapitalistische Abwertung von Leben zusammenwirken, wird jedoch nicht weiter nachgegangen. Die belehrende Performance von Zöll endet sehr optimistisch: Sie erklärt die eingeprägten Kategorien in unseren Köpfen für ungültig. Ein engagierter Appell an das Individuum, der in den Angeboten des Theaters der Jungen Welt ein kleines strukturelles Echo findet. Jugendtheater mit Haltung liefert ebenfalls die Produktion „Und morgen streiken die Wale“. Die Ausgangssituation zeigt eine erschütternde Folge des menschlichen Eingriffs

rauschen die raue Atmosphäre des inter­

in die Meere: Neun Pottwale wurden an die

aktiven Spiels schafft.

Mathe abhaken, Konsumentscheidungen überdenken, Welt retten – Julia Sonntag in Thomas Arzts Stück „Und morgen streiken die Wale“ am Theater der Jungen Welt in Leipzig. Foto Tom Schulze

Nordseeküste gespült, weil sie im signalüber-

In der Inszenierung von Johanna Zielinski

lasteten Wasser die Orientierung verloren ha-

löst das Publikum in Umfragen Rätsel –

ben. Nur der letzte schwimmt noch unent-

Matheaufgaben und Pottwal-Fakten werden ­

deckt in der Bucht. Als die 16-jährige Mel

abgefragt – und bekommt neue Gegenstände

davon erfährt, kann sie nicht weiter für die

wie eine Ausgabe von „Moby Dick“, die in Eriks

strebt. Dabei wirkt ihr Handeln nur auf der

kommende Prüfung lernen. „Bin nur kurz die

Survivalrucksack landen. Der ist selbst Um-

Oberfläche vernünftiger als Kapitän Ahabs Zer-

Welt retten!“, erklärt sie in einer Notiz für

weltaktivist und ein Vorbild für Mels Taten-

störungswut gegenüber dem weißen Wal, der

ihre Mutter, dann schwingt sie sich auf ihr

drang, während die anderen Jugendlichen in

beinahe seine gesamte Crew in den Tod riss.

Fahrrad und bricht zum Ort des Geschehens

der Inszenierung Selfies mit den gestrandeten

Der Wal, dem Mel in einem geklauten

auf. Im digitalen Mitmachformat liegt die

Walen machen und der Umweltkatastrophe mit

Boot begegnet, gleitet friedlich durchs Was-

Entscheidung, was die Protagonistin als Nächs-

einem abwiegelnden „C’est la vie“ b ­ egegnen.

ser. Sie berichtet dem Publikum von seiner

tes tun soll, bei den Zuschauerinnen. An Ab-

Ist das Klischee einer „Alles-egal“-Jugend mit

Schönheit, während sie sein majestätisch im

sperrband, gemeinen Wachleuten und Wal­

Blick auf Fridays for Future noch haltbar? Die

Mondlicht glitzerndes Auge filmt. Allein auf

kadavern vorbei geht es darum, den verirrten

Protagonistin kämpft sich jedenfalls allein

dem Meer, auf die Rettung des Wals durch

Überlebenden ins offene Meer zu lotsen und

durch. Sie wirkt dafür umso furchtloser gegen-

Umweltschützerinnen hoffend, denkt sie über

so zu retten. Energetisch spielt Julia Sonntag

über den Wachmännern, die schon begonnen

ihre Konsumentscheidungen nach. „Für mei-

auf der Theaterbühne vor den Publikums­

haben, die toten Wale zu zerkleinern, um aus

nen Luxus müssen andere bezahlen“, stellt

kacheln. Begleitet wird das Abenteuer der

den Überresten Profit zu schlagen. Sie handeln

sie mit Blick auf ihr Handy fest. Darin steckt

jungen Aktivistin von vorab aufgezeichneten

nach einem Ausbeutungsdrang, gemäß dem

das Konflikterz Coltan, dessen Abbau in

Videos ihrer Mitspielerinnen und einem Live-

der Mensch nur das Leblose endgültig besitzen

­Kongo Ausbeutung und Bürgerkrieg fördert.

Schlagzeuger, der mit Wind und Meeres­

kann und so der Selbstvernichtung entgegen-

Am Ende werden sie und der Wal durch das

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auftritt

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problematische Kommunikationsgerät gerettet, Erik sei Dank. Individueller Verzicht wäre auch

MANNHEIM

eine unzureichende Strategie gegenüber dem menschgemachten Klimawandel. Für Mel steht fest, dass etwas getan werden muss, um sich

Abenteuer endet mit aktivistischem Impetus. Die Inszenierung nach einem Text des österreichischen Dramatikers Thomas Arzt schafft einen kurzweiligen Abend, der an persönliches Engagement appelliert. Etwas konst-

den lassen. Ausnahmsweise hat die ­heilige Cäcilia den Gottesdienst geleitet. Geht die

Kopfkino mit Cecil

verhinderte Zerstörung deswegen auf ein

NATIONALTHEATER MANNHEIM: „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble nach „Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist“ von Necati Öziri

noch mit der Spaltung der Christenheit im

der Ausbeutung der Natur entgegenzustellen. Das gemeinsam mit dem Publikum durchlebte

vom andächtigen Gesang der Nonnen befrie-

Wunder zurück? Befasst sich Kleists Prosaminiatur Zuge der Reformation, so bezieht sich die von Necati Öziri inspirierte Überschreibung der Vorlage vor allem auf die Zersplitterung der spätmodernen Gesellschaft. Auch hier sind es vier Brüder im Krawallmodus, und auch sie wollen einen Dom stürmen, in dem diesmal

ruiert wirkt die Geschichte schon, die inhalt-

Pluralismus und Toleranz gefeiert werden sol-

lich an der von jungen Menschen getragenen Klimabewegung vorbeierzählt wird. Dafür

Heinrich von Kleist reloaded, hineingeworfen

len. So weit zur Geschichte. Nur wie bringt

funktioniert die Interaktion mit dem Publikum

in ein Jahrzehnt der Entfremdung und des

man derartige Passion und Erhitzung in Zei-

ungezwungen und erschafft einen unterhaltsa-

Auseinanderdriftens der Gemeinschaft: Was

ten von Corona auf die Bühne? In physischer

men Sog, der über die Länge der Inszenierung

das Nationaltheater Mannheim mit dem un-

Hinsicht schon einmal gar nicht.

trägt. Gegen die Einhegung und Vernichtung

gewöhnlichen Projekt „Cecils Briefwechsel.

Saphir Heller, Lena Wontorra und das

des Lebens, das über alle Identitätskategorien

Ein Post-Drama“ unternimmt, ist so pfiffig

Mannheimer Ensemble haben sich daher ei-

und Verwertungsinteressen hinaussprudelt,

wie schlagkräftig. Den Ausgangspunkt bildet

nen findigen Coup ausgedacht, indem sie das

wenden sich beide Inszenierungen. Dazu wur-

die Erzählung „Die heilige Cäcilie oder die

Schauspiel schlichtweg in ein Kopfkino trans-

den die engagierten Themen souverän auf eine

Gewalt der Musik“ (1810). Hierin schildert

formieren. Was wir ansonsten vor uns sehen

Meeting-Plattform verlagert, ohne als pein­

der 1777 geborene Kleist die geplante Stür-

würden, entsteht jetzt vor dem inneren Auge

licher Kompromiss daherzukommen. Digital

mung des Aachener Doms durch vier ideolo-

und zieht uns als Akteure sogar unmittelbar

Lara Wenzel

gisch vernarrte Haudegen, die sich jedoch

ins Geschehen hinein. Denn wir werden – der

Natives gefällt das. //


auftritt

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wörtlichen Lesart des „Post-Dramas“ gemäß –

Beste Beziehungen knüpfte er zum Beispiel

zu Post-Adressaten: zu Empfängern von Brie-

nach Togo, wovon Unternehmen wie der Rosen-

fen. Niemand anderes als Cecil berichtet uns

heimer Fleischgroßhandel Marox profitierten.

darin von den wutgeladenen Männern. Je

Dessen Inhaber Josef März war ein Intimus

mehr sie über deren Radikalisierung erzählt

des Metzgersohns Strauß. Die Konzerntochter

und uns Einblick in deren Dialoge und Mono-

Marox Afrique verdiente mit Viehhandel und

loge gewährt, desto stärker stellt sich die Ein-

Bierexport prächtig in Togo. Strauß selbst

sicht ein, dass „Gewalt keine Klasse, keine

pflegte eine Duzfreundschaft zu Diktator

Religion und keine Nationalität kennt. Aber

Gnassingbé Eyadéma, die er in die Worte „Wir

sie hat ein Geschlecht, denn sie wird auffal-

Schwarzen müssen zusammenhalten“ kleide-

lend oft von Männern verübt.“ Richtig, denkt

te. Weil er sich ebenso gut auf solche zünf­

sich der Rezensent beim Lesen der Korres-

tigen Sprüche wie auf lateinische Zitate ver-

pondenz. Nur welche Rolle spielen dabei die

stand, wurde Strauß zum CSU-Idol. Dabei

Frauen, fragt er sich. Um zu erfahren, wie der

stört sich die immer noch existente FJS-Fan-

geplante Anschlag, mithin ein Angriff auf un-

gemeinde bis heute nicht im Geringsten dar-

sere Prinzipien Freiheit und Gleichheit, aus-

an, dass die Rede vom Zusammenhalt unter

geht, muss er ein Antwortschreiben verfassen.

Schwarzen reichlich unverfroren eine Augen-

Derweil darf er eine Telefonnummer anrufen, auf der er eine zum Stück passende Geräuschkulisse vernimmt. Oder er kann in den sakralen Bau sinnbildlich hineinblicken – liegt doch dem ersten Schreiben neben eini-

höhe zwischen Deutschland und der einstiKleist als Marke – In „Cecils Briefwechsel“ vom Nationaltheater Mannheim entfaltet sich die Dramatik auf dem guten alten Postweg. Foto Nationaltheater Mannheim

gen Kolonie unterstellt, die das eklatante reale Machtgefälle verschleiert. Strauß’ Ausspruch ist nun Titel eines Theaterstücks an den Münchner Kammer-

gen Teelichtern und Räuchergut auch eine

spielen, das Regisseur Jan-Christoph Gockel

auffaltbare Minikirche bei.

mit Künstlerinnen und Künstlern aus Deutsch-

Wovon handelt also die Replik an Cecil?

tigkeit. In der spannenden Korrespondenz

land und Togo entwickelt hat. Wichtig dabei

Von einer provokativen Annahme, wie sie die

entsteht eine parabelhafte Welt, jenseits der

ist freilich der Untertitel, den das Projekt

frühe Feministin Elfriede Jelinek immer wie-

Pandemie. //

Björn Hayer

trägt: „Eine Erwiderung“. Denn unwider­

der veranschaulicht hat: Die Frauen erweisen

sprochen kann das FJS-Zitat nicht stehen

sich, insofern sie den Machtansprüchen all

bleiben. Zu viel gibt es da, was es geradezu-

der John Waynes dieser Erde folgen, ungewollt als Komplizinnen des Patriarchats, die potenziell auch ausbrechen könnten. Die Antwort darauf kommt schon bald und geht tatsächlich auf den individuell geschriebenen Brief ein. „Ich mag es sehr, wie du denkst“,

MÜNCHEN Im Spezlwirtschafts­ imperium

jetzigen Situation die Frauen eigentlich viel Macht haben ... Was aber viel zu wenig besprochen wird, ist die Befreiung des Mannes aus diesem System. Und das scheint mir schwieriger zu sein, weil der Mann in so einem

Jahrhundert nach der Kolonialisierung Togos, das Jubiläum „100 Jahre deutsch-togolesische Freundschaft“ ausrief. In den Kammerspielen nun zappelt der scheinbar allmächtige Strippenzieher Strauß – schöne Ironie – selbst an Fäden, nämlich in

heißt es darin, „du hast die Perspektive gewechselt und schön beschrieben, dass in der

rücken gilt! Etwa, dass Strauß 1984, ein

MÜNCHNER KAMMERSPIELE: „,Wir Schwarzen müssen zusammenhalten‘ – Eine Erwiderung“ von Elemawusi Agbédjidji und Ensemble Regie Jan-Christoph Gockel Ausstattung Julia Kurzweg

System als ‚Unterdrücker‘ definiert wird.“

Gestalt einer Marionette des Puppenspielers Michael Pietsch. Zum harmlosen Hampelmann wird er dadurch dennoch nicht. Pietsch hat der Politikerpuppe eine selbstgefällige Überheblichkeit in den bulligen Holzkopf geschnitzt, und wenn sie ihr Klappmaul aufund zumacht, plärrt Strauß persönlich aus

Wir erleben somit ein „Post-Drama“,

ihr, mittels Originalton vom Band.

das voll und ganz auch Postfeminismus be-

„Manus manum lavat“ – für den Latein-Lieb-

Regisseur Gockel und sein Team bet-

deutet und sich angemessen komplex in den

haber Franz Josef Strauß war diese römische

ten akribisch recherchierte Fakten aus Ver-

Diskurs einschreibt. Es zeigt, dass Rollen­

Redensart nicht nur eine Floskel, sondern

gangenheit und Gegenwart in eine fantas­

bilder von Strukturen geschaffen und zemen-

Prinzip seiner politischen Praxis. Jene Art der

tische Geschichte: Schauspielerin Nancy

tiert werden und dass Begriffe wie Täter und

gerissenen Geschäftstüchtigkeit, bei der eine

Mensah-Offei landet als Afro-Astronautin mit

Opfer nicht genügen, um der Komplexität der

Hand die andere wäscht und die anderenorts

illuminiertem Glaskugelhelm und folkloris-

Gemengelage gerecht zu werden.

unter Vetternwirtschaft firmiert, bezeichnet

tisch gemustertem Space-Overall in der Kolo-

Viele Experimente von Theatern zeu-

man in Bayern als Spezlwirtschaft. Als baye-

nie Togoland zu Beginn des 20. Jahrhunderts

gen in diesen Tagen von eher halb garen und

rischer Ministerpräsident (1978–1988) war

und begibt sich als „zeitreisende Geisterjäge-

müden Anstrengungen. „Cecils Briefwechsel“

Strauß nicht nur Regierungschef eines Bun-

rin“ auf die Spur (post-)kolonialer Gespens-

hingegen

Stückentwicklung

deslandes, sondern auch Herrscher über ein

ter, die bis heute im westlichen Denken her-

überzeugt durch ihre Intimität und Gegenwär-

Spezlwirtschaftsimperium globalen Ausmaßes.

umspuken.

nicht.

Diese

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auftritt

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NÜRNBERG / STRATFORD-UPONAVON Lady Macbeth in der Timeline STAATSTHEATER NÜRNBERG: „Macbeth – Ein Kurznachrichtentheater“ nach William Shakespeare Regie Jan Philipp Gloger Ausstattung Tanja Berndt ROYAL SHAKESPEARE COMPANY: „Dream“ nach William Shakespeare Regie Robin McNicholas

Zu William Shakespeares Lebzeiten war ­Theater Populärkultur, Massenentertainment, das Popcorn-Kino des elisabethanischen Zeitalters. Lebte Englands Nationaldichter heute, schriebe er vermutlich Serien-Drehbücher für Netflix. „Vielleicht würde er aber auch Computerspiele wie ,Minecraft‘ oder ,Fortnite‘ entwickeln“, gibt Eleanor Whitley von der Royal Shakespeare Company (RSC) im Der Strippenzieher zappelt selbst an Fäden – Schauspielerin Nancy Mensah-Offei im Gespräch mit einer Franz-Josef-Strauß-Marionette in „‚Wir Schwarzen müssen zusammenhalten‘ – Eine Erwiderung“ an den Münchner Kammerspielen. Foto Thomas Aurin

­Dramatiker-Geburtsort Startford-upon-Avon zu bedenken: „Die komplexen Welten, die er geschaffen hat, haben mindestens so viel mit Gaming wie mit Fernsehen zu tun.“ Doch egal, ob Stoff fürs Binge-­

So, wie sich dabei Zeitebenen (Kaiserreich,

für die das Stück den Blick öffnet. Lange be-

Watching oder für die W-Lan-Party unter

Strauß-Ära, Gegenwart) überlagern, vermischt

vor die Nationalsozialisten Konzentrations­

Daddlern – so oder so würde sich Shakes-

die Inszenierung auch virtuos verschiedene

lager errichteten, führten deutsche Ärzte in

peares Kunst womöglich nicht auf der Büh-

Genres. Teile der Handlung werden im Werk-

Togo medizinische Experimente mit Einhei-

ne, sondern auf dem Bildschirm entfalten,

raum der Münchner Kammerspiele live ge-

mischen durch. Diese grausamen Menschen-

im World Wide Web, wo seit dem Ausbruch

spielt und von einem Kameramann aufge-

versuche lassen sich zwar schwerlich Strauß

der Corona-Pandemie auch die Theater

nommen. Andere, vorproduzierte Szenen

anlasten. Aber das Wissen um sie – wie

Zuflucht suchen. Das ganze Web ist eine ­

wurden in Togo gedreht, wohin Gockel und

überhaupt um das ganze Ausmaß der Aus-

Bühne, lautet seither die Devise. Die An-

Ensemble im Februar – trotz Corona – gereist

beutung – macht die Ungeheuerlichkeit des

schlussfähigkeit von Shakespeares dramati-

waren. Dazu gibt es dokumentarisches Ar-

geschichtsklitternden Geredes vom deutsch-

schen Werken an Unterhaltungsangebote

chivmaterial, Interviews mit togolesischen

togolesischen Zusammenhalt erst vollum-

des 21. Jahrhunderts lässt sich in der Theo-

Kennern der Kolonialgeschichte, zwei Live-

fänglich als das kenntlich, was es ist: unver-

rie ja leicht mal behaupten; jetzt aber kom-

schalten zu einer Schauspielerin in Togos

hohlener Rassismus.

men die Theater um die praktische Beweis-

Hauptstadt Lomé sowie Comicsequenzen, die

Anderorts werden Standbilder für Men-

zum Beispiel illustrieren, wie „Afronautin“

schen vom Schlage FSJ vom Sockel gestoßen.

Die RSC nahm die Herausforderung

Mensah-Offei in der Zeitreise-Rakete zu ihrer

In München ist noch immer der Flughafen

an und hat sich dafür nicht nur mit dem

Mission aufbricht.

nach der CSU-Ikone benannt. Immerhin fin-

Manchester International Festival, sondern

det der überfällige Denkmalsturz nun an den

auch mit Fachleuten aus der Gaming-Bran-

städtischen Kammerspielen statt. //

che zusammengetan. „Dream“ heißt das

In Collagetechnik entsteht ein doku­ fiktionaler Bilderstrom, der vorzüglich auf dem Bildschirm funktioniert und das Publikum hineinsaugt in die verstörenden Abgründe,

führung nicht mehr herum.

gemeinsame Projekt, das sich an Motiven Christoph Leibold

aus Shakespeares „Sommernachtstraum“


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Würde Shakespeare heute Computerspiele entwickeln? – Making of der Inszenierung „Dream“ der Royal Shakespeare Company, hier mit Jamie Morgan.

bedient, ohne die Handlung der populären

ein weltweites Publikum (um die 7000 Zu-

Komödie nachzuerzählen. Der „Sommer-

schauer pro live gestreamter Vorstellung)

nachtstraum“ eigne sich besonders gut für

durchs digitale Dickicht und begegnet den

ein solches Experiment, glaubt Eleanor

Waldgeistern Mustardseed, Cobweb und

Whitley, die als Executive Producerin für

Peaseblossom aus dem Gefolge der Elfen­

den digitalen „Dream“ zuständig ist, denn

königin Titania. Der Clou dabei: Die Schau-

das ganze Stück handle davon, „wie sich

spieler agieren vor einem Bluescreen und

eine reale und eine fantastische Welt ver­

sprechen und spielen live, während sie im

sich Hobbymaler gerne als ­Zeichenhilfe für

mischen. Und das ist natürlich die perfekte

Motion-Capture-Verfahren getrackt werden.

anatomische Studien aufs Pult stellen.

Analogie zu dem, was wir gerade erleben:

Nicht die Darsteller selbst werden dabei in

wie sich die echte und die virtuelle Welt im-

die

Märchenwalds

drei Abzweigungen im Wald sind die Zu-

mer stärker durchdringen.“

Computerkulisse

des

Foto Stuart Martin / Royal Shakespeare Company

Und die Gaming-Komponente? An

­projiziert, sondern virtuelle Wiedergänger, die

schauer eingeladen, per Mausklick Glüh-

„Dream“ ist eine etwa dreißigminütige

die von 48 (!) Kameras erfassten Bewegun-

würmchenlichter steigen zu lassen, um

Expedition in einen animierten Athener

gen der Akteure ausführen. EM Williams als

Puck den Weg zu weisen. Tatsächlich jedoch

­Zauberwald, dessen Vegetation Shakespeare

Puck trägt – wie das ganze Ensemble – einen

ist im Gewimmel leuchtender Pünktchen,

mit Worten selbst gesät hat. Sämtliche Blu-

taucheranzugähnlichen

Ganzkörper-Overall

die über den Bildschirm schießen, weder

men und Pflanzen, die hier virtuell sprießen,

voller Tracking-Marker an Gelenken und

ersichtlich, welches Lichtlein das eigene ist,

finden in seiner Komödie Erwähnung. Auf

Gliedmaßen, während ihr animiertes Pendant

noch wohin man es abgeschossen und in

den Spuren des Kobolds Puck bewegt sich

an eine jener Holzgliederpuppen erinnert, die

welche Richtung man den Kobold damit ge-

erzählt für Kopfhörer und Bildschirm nach dem gleichnamigen Theaterstück von Maria Ursprung

Theater Marie Bühne Aarau Theater St.Gallen Winkelwiese Zürich

Stream on demand 21.4.–21.5.2021 spectyou.com


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auftritt

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virtueller Wald, sondern der Nährboden des

Regisseur Gloger findet erstaunlich viele

Messenger-Dienstes Telegram, wo Verleum-

plausible Lösungen, Szenen und Dialoge in

dung, Verschwörungstheorien und Fake News

den Chat-Verlauf zu übersetzen. Wenn Mac-

besonders wild wuchern, ist Spielfeld für

beth zum Beispiel vor versammeltem Hof-

„Macbeth“, inszeniert als Kurznachrichten-

staat die Fassung verliert, weil er sich einbil-

theater von Schauspielchef Jan Philipp Gloger.

det, der tote Banquo sitze mit an der

Gespielt wird die deutsche Übersetzung von

Festtafel, ist das als verwackeltes Youtube-

Angela Schanelec: eine zeitgenössische Über-

Video inszeniert – als hätte einer der Anwe-

tragung – aber eben nicht auf Chatsprache

senden den Ausraster heimlich mit dem

getrimmt. Also ohne LOL, OMG und CU, son-

Handy gefilmt und ins Netz gestellt. Den

dern nah am Originaltext. Nur, dass hier die

Link bekommt Macbeth von seiner Lady per

Tel. 04137 - 810529

Shakespeare-Verse nicht auf einer Bühne ge-

Telegram geschickt.

info@merlin-verlag.de

sprochen, sondern telegram-tauglich portio-

STAY AT HOME AND READ:

Theater der Zeit Merlin wünscht alles Gute zum 75.!

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38

niert dargeboten werden.

Nicht alles fügt sich freilich so überzeugend der Form. Dass Macbeth und Mac-

Das Publikum muss sich bei Telegram

duff vor dem finalen Showdown bis zuletzt

lenkt haben könnte. Überhaupt drängt sich

anmelden und wird Teil einer Chatgruppe, in

mit Telegram-Nachrichten kommunizieren,

das Gefühl auf, dass es egal ist, ob man

der es zusammen mit Macbeth (Justus

also quasi immer noch auf dem Handy her-

mausklickt oder nicht: Das kleine Lichtfeu-

Pfankuch) gebannt auf dessen Smartphone

umtippen, während sie sich mit Waffen im

erwerk flackert so oder so auf dem Bild-

starrt und mitverfolgt, wie Nachrichten ein-

Anschlag gegenüberstehen, scheint doch

schirm. Und besonders bezaubernd ist dar-

gehen – von seiner Lady, von den drei Hexen,

eher an den Haaren herbeigezogen. Auch

an leider auch nichts.

von seinen Feinden und Freunden – und wie

technisch ist der Abend nicht ohne Tücken.

Man sehe nicht die Technologie, son-

er selbst Nachrichten verschickt: getippte

Manchmal tröpfeln die Nachrichten schlicht­

dern nur die Magie, schwärmt nichtsdesto-

Texte, Audios, Videoclips, Smileys, Links.

weg zu langsam auf dem Zuschauerhandy

trotz ein involvierter Gaming-Experte im

Selbst in die Kommunikation eingreifen

ein, als dass sich ein spannender Sog ein-

Nachgespräch nach einer der Vorstellungen.

können die Zuschauer allerdings nicht.

stellen könnte. Aber bitte, auch in Nürnberg

Wer diese wohl eher technik-nerdige Vorstel-

Die Wahl des Stoffes ist durchaus cle-

lung von poetischem Zauber nicht teilt und

ver. Ein Gutteil der Tragödie des sich zur

ans Kitschige grenzende fiktive Welten, wie

Macht empormetzelnden Macbeth spielt sich

Im Grunde ist das keine überraschen-

man sie aus Fantasyfilmen kennt, mitnichten

im Kopf des Titelhelden ab. Die zweideutigen

de Erkenntnis: dass sich der Kosmos einer

für den idealen Ausdruck von Fantasie hält,

Botschaften der Hexen, der skrupellose Ehr-

Shakespeare-Tragödie – oder wie bei „Dream“

den wird die artifizielle Sterilität des Settings

geiz seiner Lady, die eigenen Gewissens­

einer -Komödie – auf dem Bildschirm oder

indes eher kalt lassen. Insofern ist dieser

qualen nach den Morden an König Duncan

dem noch begrenzteren Schauplatz eines

„Dream“ vielleicht dem Ziel aller techni-

und Freund Banquo sowie die Geister seiner

Handydisplays nicht in allen Facetten aus-

schen Träume ein gutes Stück nähergekom-

Opfer, die den schottischen Than als Hirnge-

schreiten lässt. Rund 400 Jahre Erfahrung

men. Was das Theatererlebnis angeht, ist

spinste heimsuchen, setzen eine Gedanken-

mit Shakespeare auf dem Theater lassen

hingegen noch merklich Luft nach oben.

spirale in Gang, die ihn in einen Strudel aus

sich nicht ohne Weiteres in ein paar Monaten

Aber klar, mit derlei Projekten steht das The-

Gewalt und schließlich in den Abgrund zieht.

des digitalen Ausprobierens im Lockdown

ater erst am Anfang. Der Mut zur Innovation

Kurzum, in diesem Kurznachrichtentheater

aufholen. Und auch für die Schauspielkunst

lässt über manche Schwächen hinwegsehen.

ist Macbeths Draht zur Welt ein vorwiegend

bieten diese Formate keine Steilvorlage. Ei-

Erfreuliche Lust am Feldversuch ist

digitaler. Das wirft ihn noch stärker zurück

nen bleibenden Eindruck können jedenfalls

auch dem Staatstheater Nürnberg zu beschei-

auf sich selbst. Die Fülle an Nachrichten aus

weder Macbeth Justus Pfankuch in Nürnberg

nigen, das sich ebenfalls mit Shakespeare auf

unterschiedlichen Quellen, denen er hier

noch Puck EM Williams in Stratford hinter-

neues Terrain wagte. Kein wild wuchernder

ausgesetzt ist, befeuern seine Paranoia.

lassen. //

handelt es sich um ein Experiment; partielles Scheitern mit einkalkuliert.

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WEIMAR

ßen Brille blitzt ihm der Schalk aus den

Ausflug eines schwarzen Hundes

er seine letzten Haare zu etwas, was er einen

­Augen, mit selbstironischer Sorgfalt kämmt Scheitel nennt. Doch nachts, erzählt er, holt ihn manchmal die Erinnerung ein. Der Krieg, in dem er einst Soldat war. Es ist keine schöne Erinnerung. „Inwiefern Gott das so ­

DEUTSCHES NATIONALTHEATER WEIMAR: „Draußen vor der Tür“ nach Wolfgang Borchert Regie und Bühne Marcel Kohler Kamera und Schnitt Christoph Hertel

In Weimar wird der Kriegsheimkehrer Beckmann nahe an die Gegenwart heran­ geholt – Isabel Tetzner, Janus Torp und Christoph Bernewitz in Marcel Kohlers Theaterfilm nach Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“. Foto Szene aus dem Film / Videostill Christoph Hertel

gemacht hat, dass wir immer noch in der Vergangenheit leben oder mit der Vergangenheit, das weiß ich nicht“, sagt er. „Ich hoffe, dass

unmöglich wurde, hat Regisseur Marcel Koh-

er uns einmal befreit. Aber das ist dann,

ler aus Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama

­glaube ich, erst mit dem Tod der Fall.“

„Draußen vor der Tür“ einen Film gemacht.

Gerhard Gläser, so heißt dieser sehr

Keine abgefilmte Aufführung, sondern ein

alte Mann – ein ehemaliger Pfarrer von der

eigenständiges filmisches Werk. Intelligent, ­

Der alte Mann auf dem geblümten Sofa

Schwäbischen Alb –, ist der heimliche Held

anregend und von Kameramann Christoph

strahlt auch mit 102 Jahren noch eine Le-

einer Online-Premiere am Nationaltheater

Hertel souverän in Bilder umgesetzt. Und den-

bensfreude aus, wie sie manch Jüngerer

Weimar. Weil die eigentlich geplante Bühnen-

noch: So berührend wie in den Gedanken, die

schon lange verloren hat. Hinter seiner gro-

inszenierung wegen der Corona-Pandemie

Gerhard Gläser im dokumentarischen Prolog

05 / 2021

Johanna heusser Ivy MonteIro schöner scheItern MIrJaM Gurtner X PersPektIven WIldWuchs FestIval theater–roxy.ch


/ 98 /

auftritt

/ TdZ Mai 2021  /

ausspricht, wird dabei nie wieder spürbar, um

längst ad acta gelegt wurde, zeigt Kohler zu-

Textlich, das ist hervorzuheben, folgt der Film

was es hier geht: um deutsche Schuld, um

nächst in expressionistischer Stummfilmäs-

auch hier immer noch dem Original. Und die

deutsche Verantwortung, um eine Vergangen-

thetik: schwarz-weiß, mit grotesk geschmink-

einzigen Ergänzungen stammen ebenfalls von

heit, vor der es kein Entrinnen geben kann.

ten Gesichtern, mit Gott und Tod als

Wolfgang Borchert: Christoph Bernewitz hat

Auch nicht fast 76 Jahre nach dem Ende von

sprechenden Anzügen ohne Kopf und Körper.

einige von dessen Gedichten vertont und trägt

Zweitem Weltkrieg und Nazi-Herrschaft.

Das bleibt, auch wenn die Szenen stark ver-

sie, mal als Bühnen-, mal als Straßen­musiker,

„Draußen vor der Tür“, uraufgeführt

dichtet sind, eng am Original. „Der Andere“

zur Gitarre vor. Dass das mitunter etwas sehr

1947 im Todesjahr seines Autors, ist einer

aber, bei Borchert so etwas wie das optimisti-

an den einen oder anderen deutschsprachi-

der größten Klassiker der deutschen Nach-

sche Alter Ego Beckmanns, das ihn immer

gen Singer-Songwriter gemahnt, der tiefere

kriegsliteratur und hat, ungezählte Male ge-

wieder zum Weitermachen bewegt, ist bei

Bedeutung durch Genuschel simuliert –

spielt und von unzähligen Schulklassen gele-

Kohler „Die Andere“: eine freundliche, sehr

­geschenkt.

sen, das Schicksal vieler Klassiker erlitten:

heutige junge Frau (Isabel Tetzner), die Beck-

Im Epilog läuft dann ein schwarzer

als etwas abgestanden zu gelten. Zu Bor-

mann in die farbige Jetztzeit und in die Stra-

Hund aus dem leeren Saal des Nationalthea-

cherts hundertstem Geburtstag in diesem

ßen Weimars holt, die ihm ein Obdach anbie-

ters, durch den verschneiten Wald und auf

Jahr hat Kohler, im Hauptberuf Schauspieler

tet, ihn von der Last der Vergangenheit

den Ettersberg, bis vor das Tor der KZ-­

am Deutschen Theater in Berlin, den Beweis

befreien will. Für sie – und man darf das wohl

Gedenkstätte Buchenwald. Es ist der Ver-

des Gegenteils angetreten. Mit seinem Film

als Allegorie auf die deutsche Gesellschaft

such, eine Leerstelle in Borcherts Drama zu

holt er die Geschichte des Kriegsheimkehrers

der Gegenwart verstehen – ist historische

füllen: Die Schoah, der Massenmord an den

Beckmann ganz nah heran an die Gegenwart,

Schuld und Verantwortung etwas, das man so

europäischen Jüdinnen und Juden, kommt

und das keineswegs nur dank des beeindru-

entspannt mit sich herumtragen kann wie die

bei ihm nicht vor. Für ihn gab es nur ein

ckenden Zeitzeugen im Prolog.

abgegriffene Taschenbuchausgabe von „Drau-

Opfer: den einfachen deutschen Soldaten. ­

Das Herumirren Beckmanns (Janus

ßen vor der Tür“, die sie sich bei Gerhard Glä-

Viel ließe sich dazu sagen, viel gäbe es gera-

Torp), der nach seiner Rückkehr aus der

ser ausgeborgt hat. Interessant, das ja. Aber

dezurücken. Der Ausflug eines schwarzen

Kriegsgefangenschaft keinen Platz in der

irgendwie auch egal. Doch so leicht lässt sich

Hundes ist dafür ein bisschen wenig. //

deutschen

die Geschichte nicht befrieden. Beckmann

Nachkriegsgesellschaft

findet,

weil die jüngste Vergangenheit hier schon

irrt weiter, nur jetzt eben in Farbe.

Joachim F. Tornau


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stück

/ TdZ Mai 2021  /

Poesie war unsere Waffe Eine Wiederentdeckung aus dem Dramenarchiv – Die Autorin Barbara Honigmann über ihr Stück „Die Schöpfung“ im Gespräch mit Patrick Wildermann

Frau Honigmann, wie ist Ihr Stück „Die Schöp-

jüdische

Schöpfung“

­Theatern. Von den Tantiemen habe ich in den

fung“ entstanden? Beschrieben wurde es in

­endet mit einem vollkommen wahn­sinnigen

letzten zwei Jahren, die ich in der DDR ver-

­Kritiken als eine Art Nachspiel zu Ihrem poeti-

Vers – der ist einem dieser Midraschim ent-

bracht habe, überwiegend gelebt, die haben

schen Wurf „Der Schneider von Ulm“, dieser Ge-

lehnt. Das hat mich sicherlich auch unter-

mich als Freischaffende über Wasser gehal-

schichte eines tragischen Ikarus.

schieden von meinen Freunden Thomas

ten. „Der Schneider von Ulm“, „Die Schöp-

Ich habe nach meinem Studium einige Jahre

Brasch, Einar Schleef und Company. Wir

fung“ und „Don Juan“ wurden aber nicht ge-

als Dramaturgin am Theater gearbeitet und

­waren überhaupt ziemlich verschieden, hat-

spielt. „Der Schneider von Ulm“ und „Don

mich auch als Regisseurin versucht. Das hat

ten aber gemeinsam, dass wir mit unseren

Juan“ hatte 1984 eine Aufführung im Thea-

zwar ganz gut funktioniert, aber ich merkte

Texten querstanden zur – in Anführungs­

ter am Turm in Frankfurt am Main – genau zu

doch bald: Das ist nicht meine Welt. Am

zeichen – ­sozialistischen Gegenwartsliteratur.

der Zeit, als ich mit meiner Familie ausgereist

Erzählungen.

„Die

­Theater hat mich vor allem das Literarische

bin. Wir kamen im Frühjahr ’84 in Frankfurt

interessiert, in die Praxis gehörte ich nicht.

In der „Schöpfung“ verlässt der Sohn nach dem

an, wo wir einen dreimonatigen Zwischen­

Die allerersten Texte, die ich überhaupt ge-

Tod der Mutter die gemeinsame Höhle und er-

aufenthalt auf dem Weg nach Straßburg hat-

schrieben habe, waren also Theaterstücke in

blickt ein Totenland, kalte, verlassene Städte.

ten, sodass ich das Stück dort auch sehen

der Folge meines Abschieds. Mein Debüt war

Die Mutter hatte also recht mit ihrem Rückzug.

konnte. Ich weiß nicht mehr, ob das ein ver-

ein Märchen nach den Grimms, „Das singende

Manche Rezensionen haben Ihnen das als Eska-

rückter Zufall war, aber es ergab sich so. Von

springende Löweneckerchen“, danach kamen

pismus ausgelegt.

der „Schöpfung“ wurde ein Hörspiel vom

„Der Schneider von Ulm, „Die Schöpfung“

Wer solche Bilder nicht aushält, der soll ins

Süddeutschen Rundfunk aufgenommen, ge-

und „Don Juan“. Einakter, jedenfalls keine

Operettentheater gehen und sich „Die lustige

sprochen von Jutta Lampe, der großen Peter-

epischen Theaterstücke. Das war ein Schrei-

Witwe“ angucken. Eskapismus – selbst wenn

Stein-Schauspielerin. Das fand ich damals

ben aus einem Schwung. Die Stücke sind

es das wäre, na und? Mit solchen Beschrei-

sehr eindrucksvoll. Der gleiche Sender hatte

nicht chronologisch miteinander verknüpft.

bungen eines literarischen Textes kann ich

zuvor auch den „Schneider von Ulm“ als Hör-

nichts anfangen.

spiel produziert – ebenfalls zu der Zeit, als

In beiden Stücken – „Der Schneider von Ulm“

ich noch im Osten war.

und „Die Schöpfung“ – gibt es das Motiv einer

Die Welt zeigt sich gegenwärtig ja auch wieder

Frau, die sich mit ihrem Kind zurückzieht und

als ziemlich unbehaglicher Ort …

„Die Schöpfung“ ist kein Stück, das man sofort

vor dem feindlichen Draußen verbirgt. Was hat

Und das ist nichts Neues! Jetzt in der Pande-

mit der DDR verbinden würde. Jedenfalls schlägt

Sie so in den Bann gezogen an dieser völligen

mie erleben wir etwas, das wir alle – selbst

es nicht den Heiner-Müller-Weg ein ...

Weltabgewandtheit?

die Älteren – noch nie erlebt haben. Deswe-

Heiner Müller war als Persönlichkeit eine

Die Stücke sind ja unter DDR-Umständen

gen sind wir auch so hilflos. Aber Kriege,

wichtige Figur für uns Jüngere, auch wenn

entstanden, ich habe sie als Abwehr gegen

Krankheiten – das hat es immer gegeben. Das

ich mit den Stücken, die er geschrieben hat,

einen bestimmten sozialistischen Realismus

ist einem sehr bewusst, wenn man aus einer

schon damals nicht viel anfangen konnte. Die

empfunden, überhaupt gegen einen platten

jüdischen Familie stammt. Ich habe nie die

waren mir zu realistisch. Aber er hat bei ande-

Realismus. Ich war damals Teil einer Clique

Verpflichtung verspürt, einen rosaroten Blick

ren nie nur den eigenen Stil zu fördern ver-

um Thomas Brasch, Lothar Trolle, Wolf Bier-

auf die Welt zu werfen. „Die Schöpfung“ ist

sucht, sondern anerkannt, dass es vielfältige

mann und anderen. Poesie war unsere Waffe,

natürlich ein sehr dramatischer Text. Aber

Möglichkeiten gibt, sich auszudrücken. Poe-

wir haben auf unsere je eigene Art versucht,

Theater soll doch dramatisch sein, oder? Die

sie war ja auch ein Mittel, sich querzustellen.

einen Ausdruck zu finden, der nichts mit der

Bücher, die ich mittlerweile seit Jahrzehnten

„Das singende springende Löweneckerchen“

offiziellen Doktrin zu tun hatte. Trauer und

schreibe, sind auch keine humorvollen Unter-

ist auch deshalb so viel gespielt worden, weil

Melancholie hatten ja keinen Platz in diesem

haltungswerke.

es nicht direkt politisch oder offen dissident

Mantra des ewigen „alles ist wunderbar, es

war. Aber es hat einen anderen Ton ins Thea-

geht vorwärts“. Schreiben war für mich ein

Sind Sie als Dramatikerin zu DDR-Zeiten viel ge-

ter gebracht – während „Der Schneider von

Mittel, aus der Lüge auszubrechen. Dazu

spielt worden?

Ulm“ oder „Die Schöpfung“ wohl schon als

kam, dass ich mich damals für die M ­ idraschim

Das „Löweneckerchen“ wurde viel gespielt,

zu nihilistisch galten. Ein falscher Optimis-

zu interessieren begonnen habe, also religiöse

von Zwickau bis Greifswald an fast allen

mus war Staatsdoktrin. Mitte der sechziger


barbara honigmann_die schöpfung

/ TdZ  Mai 2021  /

Jahre hatte das berüchtigte „Kahl-

Luft wurde so dick, dass es einem den

schlag-Plenum“ des ZK der SED statt-

Atem abgewürgt hat weiterzuarbeiten.

gefunden, auf dem eine „gesunde“ Kul-

Thomas Brasch war weg, Schleef war

tur als Losung ausgegeben wurde. Das

weg – die Clique, von der ich gespro-

hat mich und andere später erst recht in

chen habe, zerfiel. Es gab den Spruch

Stimmung gebracht, jetzt mal etwas

„Der Letzte macht das Licht aus“, das

richtig „Ungesundes“ zu schreiben. Wo-

war das Motto dieser Jahre. Ich habe

bei es mir nicht darum ging, irgendeine

auch künstlerisch keine Zukunft ge­

Theorie in Szene zu setzen. Ich hatte

sehen. Alles musste ja irgendwelche

damals schon einen melancholischen

Funktionärs- oder Zensurstellen passie-

Grundton in mir. Noch heute sind Men-

ren, mein Schreiben wäre nicht länger

schen manchmal ganz erstaunt: Du bist

erwünscht gewesen. Dazu kam die jüdi-

so ein lustiger Mensch und schreibst so

sche Dimension. Wir wollten – um es

traurige Bücher! (lacht)

mal sehr kurz zu fassen – Anschluss an eine größere, lebendigere jüdische Welt

Ihr Vater hat in Ost-Berlin die berühmte

finden. Deswegen haben wir einen Aus-

Distel geleitet. Fürs politische Kabarett zu

reiseantrag gestellt. Die Schriftstellerin

schreiben, das kam für Sie nicht infrage?

Katja Lange-Müller ist in der gleichen

Nein, das wäre nicht meins gewesen.

Welle wie ich ausgereist, viele aus mei-

Auch mein Vater hat sich in der Distel

ner Generation haben im selben Monat

nie wirklich am Platz gefühlt. Er war ein

die DDR verlassen. Unsere Wahl fiel auf

sehr humorvoller Mann, aber auch er hatte

Straßburg, weil die Stadt die Reputa­

eine ausgeprägte melancholische Seite.

tion hat, ein wichtiger und lebendiger

Wie die meisten witzigen Menschen.

jüdischer Ort zu sein. Zu Recht.

Zur Distel ist er wie die Jungfrau zum War auch deswegen die BRD nur eine

Kinde gekommen, er war eigentlich

Übergangsstation?

bis hierher und nicht weiter, er wurde

Barbara Honigmann wurde 1949 in Ost-Berlin geboren und studierte von 1967 bis 1972 Theaterwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Als Dramaturgin und Regisseurin arbeitete sie unter anderem an der Volksbühne und dem Deutschen Theater in Berlin. 1984 reiste sie aus der DDR aus und begann ein ­Thorastudium in Straßburg. Ihr Debütroman „Roman von einem Kinde“ erschien 1986 und gewann noch im selben Jahr den aspekte-Literaturpreis. Honigmann wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin in Straßburg.

regelmäßig zur Bezirksleitung der SED

Foto dpa

Sie schreiben schon lange nicht mehr fürs

Journalist. Noch vor der Nazizeit wurde er als Korrespondent der Vossischen Zeitung nach England geschickt, hat dort später für die Nachrichtenagentur Reuters gearbeitet. Nach seinem Eintritt in die Kommunistische Partei wurde er dann in der DDR auf alle möglichen Posten gesetzt, zum Schluss auch in der Distel – wo er sich unentwegt ­Ärger eingehandelt hat. Es hieß stets:

Voilà. In West-Berlin war zwar die jüdische Gemeinde etwas größer, aber wir hatten, um es mal auf Deutsch zu sagen, die Schnauze voll davon, als Juden in Deutschland zu leben. Auch weil sich alles immer verengt hat auf die Themen Antisemitismus und Verfolgung. In Frankreich ist der Horizont auch intellektuell weiter.

bestellt und musste um jedes Wort und

Theater. Haben Sie damit endgültig ab­

jeden Satz ringen. Wirklich zum Lachen

geschlossen?

war das nicht. Aber der Witz kommt bekannt-

nach außen gern schmückte. Es gab kaum

Theater ist meine unglückliche Liebe. Ich

lich aus den Tiefen der Trauer, von dieser

jüdische Hochzeiten, weil es kaum Juden in

habe dem Theater große, wichtige, glück­

­Haltung hat er mir etwas mitgegeben. Er hat

heiratsfähigem Alter gab. In Ost-Berlin prakti-

liche Momente meines Lebens zu verdan-

mich auch sehr früh gepiesackt, Kleist und

zierte auch seit den sechziger Jahren kein

ken, die ich anderswo nicht gefunden hätte.

Büchner zu lesen und mir damit eine litera­

Rabbiner mehr, die Stelle wurde nie wieder

Aber ich halte mich schon lange nicht mehr

rische Linie vorgezeichnet. Sowjetische Kin-

besetzt. Also musste die jüdische Gemeinde

auf dem Laufenden. Ein paar Mal war ich

derbücher gab es bei uns nicht.

einen Rabbiner aus West-Berlin holen. Aber

in Straßburg im Theater, es war grauenhaft.

das war mühelos möglich, der Rabbiner kam

So konventionell und deklamatorisch. Man

Sie haben 1981 eine der wenigen jüdischen

und hat uns verheiratet. Das war kein politi-

kann von Brecht halten, was man will, aber

Hochzeiten in der DDR durchgesetzt. Mit wel-

scher Widerstandsakt.

er hat die Bühne gründlich entstaubt. Wis-

chen Widerständen hatten Sie es als Jüdin zu

sen Sie, mit dem Theater verhält es sich

tun?

Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, die DDR

doch so: Wenn es gut ist, dann ist es richtig

Durchgesetzt habe ich die Hochzeit nicht,

1984 zu verlassen?

gut. Wenn es dagegen nicht gut ist, dann ist

das ist Unsinn. Das Problem der Juden in der

Nach der Biermann-Ausbürgerung im Novem-

es unerträglich. Ein mittelmäßiger Film ist

DDR war, dass sie eine verschwindend kleine

ber 1976 hatte ein Exodus begonnen, beson-

längst nicht so frustrierend. Deswegen fehlt

Minderheit waren, mit der man sich natürlich

ders unter Künstlern und Theaterleuten. Die

mir nichts. //

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stück

/ TdZ Mai 2021  /

Barbara Honigmann

Die Schöpfung Ziehet durch, ziehet durch Durch die goldne Brücke. Sie ist entzwei, sie ist entzwei Wir wolln sie wieder flicken. Mit was? Mit Gras? Mit einerlei, mit steinerlei.

FRAU 1. Ich bin schwanger. Ich will unter die Erde. Ich will in eine Höhle gehen, tief hinein. Hier oben ist mir alles viel zu klein und viel zu hässlich, als dass ich es ertragen könnte. Das hält mich nicht auf den Beinen, immer wieder falle ich hin, und ich möchte dann am liebsten gar nicht wieder aufstehen. Und es gibt auch nichts, das leicht genug ist, dass es mich in die Luft hebt, und es ist auch keiner da, zu dem man sagen könnte: »Du fehlst mir.« Denn das ist so eine Welt, auf der jeder jedem fehlt. Das ist die große, große, alte, alte Trauer, von der keiner mehr weiß, woher sie wohl kommen mag. Und alle Menschen sind dagegen so hilflos und wenn sie manchmal etwas tun wollen, dann wird es meistens nur noch schlimmer. Deswegen will ich mein Kind lieber unter die Erde bringen. 2. Ich habe mein Kind rausgebracht. Da liegt man stundenlang und die Schmerzen rollen wie Wellen über einen hinweg. Davon wird man so müde, aber es lässt keinen Schlaf. Und dann kommt es plötzlich und fängt an, mich auseinander zu reißen. Es reißt sich irgendwo heraus, das Unterste zuoberst, und das ist, als ob es überall zugleich aus dem Körper kommt, und als ob man nur noch ein einziges Organ ist, das nur noch würgen kann. Das ist, als ob man von sich abhebt. Und da wusste ich nicht mehr, wo ich anfange und wo ich aufhöre, und bin wie alle Elemente, wie Schnee und wie Feuer und wie nasse Erde und alles

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barbara honigmann_die schöpfung

/ TdZ  Mai 2021  /

zugleich, und das ist so, dass man gar nicht mehr weiß, ob man jetzt stirbt oder ob man ein Kind zur Welt bringt oder ob man selbst zur Welt gebracht wird. 3. Ich sehe mein Kind immerzu an und denke, dass ich gerne mein ganzes Leben nur an diesem Platz hier sitzen möchte und das Kind streicheln und behüten. Was das für ein großes Glück ist, ein Kind in den Arm zu nehmen. Jetzt soll mir ruhig alles weggenommen sein, das will ich verschmerzen, und es soll sich ruhig alles Schwere auf mich legen, das will ich ertragen, wenn ich nur das Kind behalten kann. Immer möchte ich mit meinem Kind hier in der Höhle bleiben, denn hier schränkt uns keiner ein, hier macht uns keiner kleiner als wir es sind.

4. Mein Kind ist größer geworden und wir leben und spielen so, als wären wir auf der Welt. Aber wir sind hier ganz allein, aber es fehlt nichts. Ich sage: »Komm wir gehen spazieren. Erst aus der Stadt heraus, und dann gehen wir gleich hier über die Felder. Siehst du, da stehen Mohnblumen, die sind schön. Jetzt kommen wir in den Wald und dann an den See. Wollen wir auf die andere Seite schwimmen?« Mein Sohn sagt »ja« und ich bringe es ihm bei. So macht man das. So und so. Er lernt es. Und ich sage: das machst du sehr gut. Wir schwimmen also. Wir schwimmen durch den ganzen See, durch das ganze Meer. Mein Sohn fragt dann: Wo sind wir jetzt? und ich sage: In Tunesien. Erstmal kaufen wir türkischen Honig. Der schmeckt sehr gut. Dann sehen wir uns die Moscheen an und ich erkläre ihm: Wir müssen uns die Schuhe ausziehen, wenn wir hineingehen. Und dann sehen wir, wie die Leute daliegen und beten. Und mein Sohn fragt, was heißt beten und ich sage ihm, beten heißt bitten. Sie bitten, dass Gott sie schützt und schont. Die Menschen denken, dass Gott alles Helle und der Teufel die Finsternis ist. Aber es stimmt nicht. Dann gehen wir wieder nach Hause.

06. – 08.05.2021 Shoot or think. Invektivität in den Künsten und Medien In Kooperation mit dem SFB „Invektivität“ an der TU Dresden 13./14.05.2021 Isadora Duncan Jérôme Bel (FR)

19. – 23.05.2021 Zeitgeist Tanz Dresden Frankfurt Dance Company (DE) 28. – 30.05.21 With These Hands Dresden Frankfurt Dance Company & Ensemble Modern (DE)

www.hellerau.org

5. Mein Sohn singt: Ziehe durch, ziehe durch Durch die goldne Brücke Sie ist entzwei, sie ist entzwei Wir wolln sie wieder flicken. Mit was? Mit was? Mit lalala, mit lalala.

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stück

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»Mit was?« fragt mein Sohn. Ich frage: was mit was? – Mit was wird die goldne Brücke geflickt? – Ich habe es vergessen. – Vergessen? – Ja, vergessen. – Aber das ist doch die wichtigste Stelle. – Ja, stimmt. – Womit könnte man sie denn flicken? – Ich weiß es nicht, ich glaube Gold hält nur Gold. Es müsste wieder Gold sein. – Dann müssen wir Gold besorgen. – Gold kann man nicht besorgen. – Wir werden schon was finden. – Man findet es nicht mehr. Man kann es nur noch rauben. – Aber wir brauchen es doch dringend. – Was meinst du, wie streng alles bewacht wird. – Hast du Angst, dass sie uns kriegen? – Es gibt gar keinen Zweifel, dass sie uns kriegen. Dann kommen wir ins Gefängnis. – Wir probieren es trotzdem, wir brauchen es doch. – Na gut. – Also ich gehe jetzt hier lang, dann da dann dort, da rum, noch mal rum, dann runter und immer weiter hier lang. Da ist es. Da ist ein Goldvorrat. Aber da stehen welche davor. Das ist sinnlos. Ich gehe noch mal zurück. Wir warten, bis es dunkel ist. – So, jetzt ist es Nacht. Noch mal den Weg. So und so und so rum und runter und immer hier weiter. Jetzt steht nur noch einer davor. Den fessele ich und bind ihm die Augen zu. Dann hole ich das Gold. Jetzt habe ich es, los, schnell weg. Dann sagen wir: So, jetzt haben wir es. 6. Jetzt leben wir schon viele Jahre hier unter der Erde, und der Junge ist kein Kind mehr, er ist schon ein Jüngling. Wir leben zusammen wie Mutter und Kind und wie Mann und Frau, und wie ein Mensch. Mein Sohn sagt: »Ich will mich eingraben in dich, ich will mich mit meinem ganzen Körper eindrücken in dich, so dass ich in allem ganz in dir bin und alles von dir ganz in mir ist, wie die Luft, die überall und immer da ist.« Und ich sage, ja, ich liebe dich wie ich mich selber liebe, es ist gut so. Manchmal erzähle ich meinem Sohn von früher. Wie es war, als ich oben lebte auf der Welt. Dann erzähle ich von den Räumen,

Kaserne

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Sa 8.5. So 9.5. Do 13.5. Fr 14.5. Sa 15.5. Muhammed Kaltuk / Companie MEK Father Politics

Mi 19.5. Do 20.5. Gisèle Vienne Der Teich (von Robert Walser) sofern es die Corona-Auflagen * von Bund und Kanton zulassen.

Aktuelle Infos: www.kaserne-basel.ch


barbara honigmann_die schöpfung

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deren Fenster sich öffnen und man kann nach draußen und weithin sehen. Und am Ende einer Nacht kann man dastehen und kann warten, wie die Nacht vergeht und wie das Licht undeutlich kommt, aber dann wird es klar und legt sich auf alle Dinge, und dann, langsam breitet sich mit dem Licht die Wärme aus. Ich erzähle, wie im Sommer die Helligkeit mancher Tage so lange dauert, dass man am Ende ganz erschöpft ist von so viel Licht, und man sehnt sich nach der Dunkelheit wie nach Linderung von Schmerz. Und so erzähle ich vieles. Vieles Schöne und mein Sohn hört mir zu und er hört es gern und dann fragt er, warum ich das verlassen habe. Und ich habe es ihm oft erklärt, und ich sage es ihm immer wieder, dass es ein mordgieriges Geschlecht ist, das da auf der Erde lebt, und das es so schlimm ist, was die da untereinander machen, dass einen die vollkommene Verzweiflung packt, wenn man nur daran denkt. Sie jagen sich, sie bringen sich gegenseitig um. Alle haben das gesehen, wie sie kleine Kinder gezwungen haben, die Hände hochzuheben, als ob sie Verbrecher wären, aber danach haben sie sie erschossen, oder vergast oder einfach verhungern lassen. So viele Menschen haben sich aus Verzweiflung umgebracht. Aber ich wollte mich nicht selbst auslöschen. Von denen lasse ich mich nicht sterben. 7. So leben wir da unter der Erde und es ist die ganze Welt. Das, was oben ist, ist nur wie eine alte Erinnerung, eine schöne manchmal, und manchmal eine böse. Nun ist mein Sohn schon groß und ich bin schon alt, und ich weiß auch, dass es nicht ewig so weitergehen wird und dass ich bald sterben werde. Man denkt so oft an den Tod, aber es ist nur der Abschied, an den man denkt. Den Tod selber

Bewerbungsverfahren Kleistförderpreis.de

KL EI 20 ST22 FÖRDERPREIS FÜR JUNGE DRAMATIKERINNEN UND DRAMATIKER

Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), die Dramaturgische Gesellschaft und das Kleist Forum Frankfurt (Oder) vergeben im Jahr 2022 zum 27. Mal den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2021 nicht älter als 35 Jahre sind, mit deutschsprachigen Theatertexten, die zur Uraufführung frei sind. Der Preis ist mit 7.500 Euro dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Hessischen Landestheater Marburg verbunden.

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stück

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kann man nicht erkennen. Ich habe immer gedacht, dass es eine große Stunde ist, wenn der Tod kommt, so dass alles stehen bleibt, aber nun merke ich, das ist auch nur eine gewöhnliche Zeit, die fortgeht. Ich erschauere nur selber, wie es da in mir hochkriecht, und mich durchmisst wie mit kleinen Schritten, und mich dann ganz einnimmt. Es nimmt mich nicht hin. Man sagt, dass einen der Tod holt, aber es stimmt nicht. Keiner holt einen. Man muss selber sterben. Und dann sage ich zu meinen Sohn: Jetzt musst du gehen, mein Kind. Jetzt ist die Höhle zu Ende. 8. Der Junge muss sich aus der Höhle ausgraben. So wird er auf die Welt kommen. Aber dort wird alles in Schutt und Asche liegen. Er wird nichts mehr finden, das noch etwas ist. Da wird er denken, dass er vielleicht ein anderes Land suchen muss, und er wird weiter und weiter gehen, kreuz und quer über die ganze Erde in ihrer ganzen Länge und Breite. Aber ein anderes Land findet er nicht. Nur Totenland, nur eine vergessene Erde. Einmal wird er noch einen Menschen treffen. Da wird er sich wundern, dass noch einer übrig und verschont ist. Er wird ihn fragen: »Wie heißt du?« Aber der Mensch wird antworten: »Geh weiter, geh an mir vorbei.« Und dann sieht es der Junge schon, wie dort hinten das Meer liegt, wo sich alle Flüsse und Ströme versammeln, und wo tausend Feuer brennen und wo alle Stürme blasen, und dann weiß er schon, dass er da hinein muss. Aber das ist nicht das Ende, denn es heißt: Die Wasser wälzen sich übereinander, Und die Wasser werden Schnee, Und der Schnee wird fester Boden, Und der feste Boden saugt Aus der innersten Erde Ihre Wärme. Und dann brechen die Berge hindurch, Und die Kammern des Himmels öffnen sich, Und Wasser fließt herab, Manneswasser weißer Samentropfen, Und die Erde wird schwanger werden Wie eine Braut, Die ihren ersten Mann umarmt. ©Verlag der Autoren Frankfurt am Main / Barbara Honigmann

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Magazin Im Garten, wo die Daten atmen

Das Festival Spy on Me #3 am Berliner HAU

Hebbel am Ufer unternimmt souveräne künstlerische Manöver in die digitale Welt

Digitaler Schmelztiegel

Beim Online-Festival Hybrid – Cutting Edge Canada in

Hellerau vermischen sich Musik, Technologie, Ausstellung, Diskurs und Wissenschaft

Buch Elisabeth Tropper


magazin

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Im Garten, wo die Daten atmen Das Festival Spy on Me #3 am Berliner HAU Hebbel am Ufer unternimmt souveräne künstlerische Manöver in die digitale Welt

Der erste Blick in dieses Online-Festival war

entfernt vom Stundenlohn für das Schreiben

von Trauer, Melancholie und dem Nachden-

einer Festivalkritik. Die Clickworker-Ökono-

ken über das Abwesende bestimmt. In den

mie ist nur die Fortführung von Ausbeutungs-

leeren Bühnen- und Zuschauerraum des HAU

verhältnissen der Offline-Welt.

Hebbel am Ufer hatte man ein paar blaue

Genussvoll eintauchen konnte man

Stege eingezogen. Auf ihnen nahm aber nie-

immerhin in die hybriden Welten, die das ­

mand Platz. Nur virtuell, im Festivaltrailer,

Medienkunstduo NewfrontEars gemeinsam ­

waren in Form von Avataren jene „new com-

mit

munities“ kurz präsent, die im Festivalunter-

­Oozing Gloop in der Live-Zoom-Performance

titel beschworen wurden. Ansonsten jedoch:

„Feeeeeed-v2.1“ kreierte. Bilder von Wirbel-

kein Publikum, keine Gemeinschaft. Man

stürmen,

war, wie so oft in diesem Pandemiejahr, für

strömten um Oozing Gloop herum, verbanden

andere unsichtbar und aufs unsinnliche Star-

sich mit der menschlichen Gestalt, weil sie

ren auf ein kleines oder großes Display be-

partiell auch als Projektionsfläche diente.

schränkt.

Klangliche und textliche Interventionen kamen

dem:der

non-binären

Supermärkten

Performer:in

und

Müllkippen

Auch einige der Akteure sah man in die

von künstlichen Intelligenzen. Der Mensch-

klassischen Zoomraster eingesperrt, bei Kon-

Maschine-Dialog erzeugte in Verbindung mit

ferenzformaten etwa, in denen sich am Fes­

den psychedelisch anmutenden Bildwelten

tival beteiligte Künstlerinnen und Künstler

einen wahren Sog. Für kritische Distanz sorgten hingegen

über die neuen digitalen Gemeinschaften austauschten, zu denen sie in der letzten Zeit Zugang fanden, vor allem Game-Communities und VRChat-Weltenbauer. Von der interessantesten Begegnung berichtete Caspar Weimann vom Onlinetheater.live. Die Produktion „Camshow“ hatte die Gruppe – allerdings bereits 2018 – auf der Liveporno-Plattform Chatur-

Neue Gemeinschaften brauchen auch neue Kompetenzen im kritischen Programmieren – Das Festival Spy on me #3 im Berliner HAU mit den Produktionen „Feeeeeed-v2.1“ und „Garden of Tangled Data“. Fotos NewfrontEars & Oozing Gloop / doublelucky

bate eingerichtet. Weimann hatte sich zuvor

die ins Festivalprogramm eingefügten Videolectures. Der Soziologe Timon Beyes wies darauf hin, wie sehr die in der Pandemie ­ so inbrünstig eingesetzten neuen digitalen Ins­ trumente Öffentlichkeit, Kommunikation und Gesellschaft formen. Beim Anwenden muss also auch immer das Entkommen mitgedacht werden. Fürs gesichtswahrende Ent-

als Camboy auf der Plattform offenbar auch

tiefere Betrachtung des Atmungsprozesses.

kommen aus Zoom und Co. empfahl er im-

einen gewissen Interessentenkreis aufgebaut,

Wenn Lebewesen atmen, nehmen sie gewis-

merhin die App Zoom Escaper, die schlechte

mit dem es zu mitunter intensiven Begegnun-

sermaßen die Welt in sich auf, inhalieren Teile

Verbindungen simuliert, Bilder glitchen und

gen gekommen war.

von ihr für die eigene Energiegewinnung. In

Klänge verzerren lässt.

Die Intimität, die zwischen weit ent-

diesem Sinne atmen Daten also auch.

Im Glitch, also dem Fehler bei der Bild-

fernten Displays entstehen kann, ist prinzi­

Setzte der Datengarten auf Entspan-

übertragung, sieht Legacy Russell, Autorin

piell eine interessante Ressource für digitale

nung, Kontemplation und Verlangsamung, so

des Manifests „Glitch Feminism“, eine Aus-

Theaterevents. Das wurde auch bei mehreren

war im Onlinegame „Suspicious Behavior“

bruchsmöglichkeit aus den Machtverhältnis-

Festivalproduktionen deutlich. Im „Garden of

von KairUs Geschwindigkeit gefragt. Mitspie-

sen und Ästhetiken des Plattformkapitalismus.

Tangled Data“, entwickelt von doublelucky

lerinnen und Mitspieler wurden an die Auf­

Das markiert neue Aufgabenstellungen für

productions, gelangte man in einen Daten­

gaben von Content-Moderatoren herangeführt,

kritische Theaterkunst. Die Ableitung sozial-

garten, durch den man allein streifen konnte.

jenen schlecht bezahlten Personen, die böse

wissenschaftlicher Diskurse für die eigene

Eingebunden ins Blumenschauen war ein

oder auch nur vermeintlich böse Bilder iden-

Arbeit und das Eintauchen in neue digitale

visueller Diskurs über die Analogien von ­

tifizieren, damit sie nicht auf den diversen

Tools reicht nicht mehr. Gefragt sind zuneh-

Pflanzen und Daten. Beide kann man hegen,

Online-Plattformen hochgeladen werden. Der

mend Kompetenzen im kritischen Coden,

beide wachsen. Hier wie dort kann das

Stundenlohn, der aus den erfolgreichen Klicks

sprich: Programmieren. Erst dann sind die

Wachstum angenehme, aber auch dystopische

des Autors hochgerechnet wurde, war zwar

vom Festival beschworenen „new communi-

Formen annehmen. Nachdenkenswert war die

ziemlich gering, letztlich aber nicht so weit

ties“ überhaupt denkbar. //

Tom Mustroph

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magazin

Digitaler Schmelztiegel Beim Online-Festival Hybrid – Cutting Edge Canada in Hellerau vermischen sich Musik, Techno­logie, Ausstellung, Diskurs und Wissenschaft Hybride Formen musikalischer und visueller

exakt ausgearbeitete Inszenierung, die Vermi-

Performances schaffen, Grenzen der Wahr-

schung und bewusste Überlagerung medialer

nehmung überschreiten und Prozesse des

Elemente, die Lust der Performerinnen und

Sich-Einlassens anregen – das ist die Idee

Performer, die sich ihren eigenen Werken

des viertägigen Festivals Hybrid – Cutting

meist selbst nicht entziehen können, sowie

Edge Canada 2021 im Europäischen Zentrum

das Spiel mit der Abwechslung und Verände-

der Künste Hellerau in Dresden. In Koopera-

rung des performativen Raumes.

Inspiriert von der Theoretikerin Donna Haraway – Sabrina Rattés Zyklus „Floralia“ beim Online-Festival Hybrid – Cutting Edge Canada in Hellerau. Videostill Sabrina Ratté

tion mit dem Festspielhaus werden jährlich

Ein weiteres Highlight des Festivals ist

auch abstrakte Betrachtungen wie „A De-

internationale und lokale Künstlerinnen und

die Arbeit der kanadischen Produzentin, DJane

monstration“, welche die Einordnung von

Künstler präsentiert, die sich mit elektro­

und Multiinstrumentalistin Ouri (Montreal).

Monstern in naturwissenschaftliche Betrach-

nischem Sound und neuen Medientechnolo-

In der knapp halbstündigen, gleichnamigen

tungen im Europa der Neuzeit als Ausgangs-

gien auseinandersetzen. Im Mittelpunkt des

Performance sitzt die Musikerin auf einem

punkt nimmt.

­Hightech-Spektakels stehen Akteurinnen und

Hocker und spielt Cello. Der Raum um sie he-

Bemerkenswert futuristisch gestaltete

Akteure, die entweder in Kanada leben, dort

rum ist bis auf Mikrofonständer, Kameras und

sich auch die virtuelle Galerie, in der unter

gearbeitet haben oder im Netzwerk rund um

zahlreiche Verkabelungen leer und wirkt grau.

anderem die aktuelle Arbeit der kanadischen

das Musik- und Medienkunstfestival MUTEK

Als einzige Lichtquelle fungiert das Tages-

Videokünstlerin Sabrina Ratté gezeigt wurde.

(Montreal) aktiv sind. In diesem Jahr ist das

licht, welches durch das Fenster hinter ihrem

Ihr Zyklus „Floralia“ wirft den Blick in eine

Hybrid-Festival außerdem Teil des Kultur­

Rücken hereinscheint. Ouris Spiel setzt sich

mögliche Zukunft. Inspiriert von Donna J.

programms von Kanadas Auftritt als Gastland

aus hohen, rauen Tönen zusammen, die sie

Haraway konserviert Ratté Proben von ausge-

bei der Buchmesse in Frankfurt am Main.

parallel aufnimmt und durch einen Loop in

storbenen Pflanzenarten und stellt diese in

Die erste Festivalnacht wurde von der

weitere Sounds einarbeitet. Sie erzeugt auf

einem digitalen Archivraum aus. Was auf den

kanadischen Komponistin und audiovisuellen

eine faszinierend einfach wirkende Art und

ersten Blick wie detailverliebte Visuals eines

Künstlerin Line Katcho (Montreal) eröffnet.

Weise die Illusion eines gigantischen Livekon-

Technoclubevents wirkt, sind simulierte Öko-

Mit ihrer Medienperformance „Immortelle“

zertes, an dem mindestens ein ganzes

systeme, die sich aus der Verschmelzung von

erschafft sie einen multidimensionalen Raum,

Streichorchester beteiligt sein müsste.

Technologie und organischer Materie erge-

in dem sie sich auf das Regime des Blickes

Im Rahmenprogramm des Festivals

ben. Für ein Hybrid-Festival ist der digitale

sowie die Kraft der Einlassung fokussiert. Die

konnten sich die Zuschauerinnen und Zu-

Raum bestens geeignet, da die Performerin-

Zuschauerinnen und Zuschauer blicken wäh­

schauer durch verschiedene Räume klicken.

nen und Performer dort mit verschiedenen

rend der knapp 25-minütigen Performance

Im sogenannten Auditorium wurden Ergeb-

Ebenen wie Kameraperspektiven, Überlap-

auf denselben Screen, auf den auch Katcho

nisse des Zukunftslabors New Nature gezeigt.

pung von Sound und Bild sowie komplizierter

schaut. Im Wechselspiel der Kameraperspek-

Zwischen Mai und Dezember vergangenen

Mediengestaltung experimentieren können.

tiven wird der Blick immer wieder auf die Per-

Jahres hatte das Goethe-Institut Montreal

Die Zuschauerinnen und Zuschauer hingegen

formerin gelenkt, die an einem Tisch steht

­Klimawissenschaftlerinnen, Technologie-Ex-

benötigen lediglich Kopfhörer und eine stabi-

und durch ein Mischpult die hypnotisieren-

perten und Künstlerinnen zu einem Forum

le Internetverbindung, um sich den visuellen

den, unruhigen Visuals und den mysteriösen,

eingeladen, um sich über ihre jeweiligen For-

Welten der Medienkunst hinzugeben: Auch in

kratzenden Sound regelt und selbst sichtbar

schungen und Entwicklungen zum Klimawan-

nicht-pandemischen Zeiten eine reizvolle An-

in den Bann des Bildschirms gezogen wird.

del auszutauschen. Dabei entstanden kurze

gelegenheit, um die Sinne zu erweitern und

Genau das ist das Interessante an hybriden

Filme wie „Nobody Loves Me“, der von den

mit der hybriden Welt zu verschmelzen. //

Formen der Performance- und Medienkunst:

unansehnlichen, vom Aussterben bedrohten

die Forderung des Sich-Einlassens durch die

Riesenfröschen des Titicacasees erzählt, oder

Paula Perschke


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Georg Lukács und das Theater 1.–3. Juni im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin www.lfbrecht.de Georg Lukács gehört zu den herausragenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften sind ein Schlüssel zur Ideengeschichte der Moderne und bieten auch Ansätze für die Gegenwart. Ein Bezug auf das Theater durchzieht sein gesamtes Schaffen. In Diskussionen vor und mit dem Publikum soll die Auseinandersetzung mit Lukács’ Texten – aus den Berei-

chen Ästhetik, kritischer Realismus und Theatergeschichte – im Mittelpunkt stehen und einen vorurteilsfreien Blick auf den Theoretiker fördern. Anlässlich von Georg Lukács’ 50. Todestag stößt das Projekt „Re-reading Lukács – staging theory“ durch exemplarische Re-Lektüren seiner theatertheoretischen Schriften eine Diskus-

sion über dessen Einfluss auf das Theater an. Mit Sebastian Baumgarten, Daniel Bratanovic, Iris Dankemeyer, Dietmar Dath, Rüdiger Dannemann, Patrick Eiden-Offe, Frank Engster, Felix Ensslin, Jette Gindner, Luise Meier, Lynn Takeo Musiol, Anja Nioduschewski, Bernd Stegemann und Patrick Wengenroth

Zu der Veranstaltung erscheint der Reader Georg Lukács: Texte zum Theater Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke ISBN 978-3-95749-362-0, ca. 300 Seiten, 22 €, Verlag Theater der Zeit


auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

„Auf keinen Fall kann das Theater es sich leisten, den Beginn jener gewaltigen kulturellen Transformation zu verschlafen, die mit dem Anthropozän einhergeht.“ Frank-M. Raddatz „Das Drama des Anthropozäns“ reflektiert die tektonischen Verschiebungen, welche das Anthropozän, die erstmalige Kreuzung von Erdund Menschengeschichte, für die Bühne mit sich bringt, taucht Motive tradierter Stücke in ein fremdes Licht und bahnt künftigen Konzeptualisierungen den Weg. Neben seinem Essay enthält der Band auch ein Gespräch von Frank-M. Raddatz mit Antje Boetius, Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts, und dem Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger.

Theater und Leben – nicht zu trennen für Julian Beck! Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist war vor allem eins: ein Mann des Theaters. Zusammen mit seiner Frau, der Schauspiel-Ikone Judith Malina, gründete er das weltberühmte Living Theatre, eine Institution gegenkulturellen Aufbegehrens. Mit ihren Stücken spielte die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten in Amerika, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln. Mit „Das Theater leben“ liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters mit einem Vorwort von Thomas Oberender und Texten von Judith Malina und Milo Rau. Buchpremiere am 16.05.2021, Theatertreffen, Berliner Festspiele

Frank-M. Raddatz Das Drama des Anthropozäns Mit einem Gespräch mit mit Antje Boetius und Hans-Jörg Rheinberger

Julian Beck Das Theater leben Herausgegeben von Thomas Oberender

Leinengebundenes Hardcover in Fadenheftung, 134 Seiten ISBN 978-3-95749-340-8 EUR 15,00 (print) / EUR 11,99 (digital)

Paperback mit 280 Seiten ISBN 978-3-95749-343-9 EUR 20,00 (print) / EUR 16,99 (digital)

Die Eröffnung des Herzoglichen Hoftheaters am 16. April 1871 in der Residenzstadt Altenburg gab dem bis dahin bereits reichhaltigen, auf eine vierhundertjährige Tradition aufbauenden Theate- rund Konzertleben wichtige neue Impulse. Seit 1995 wird das historische Gebäude vom fusionierten Fünf-Sparten-Theater Altenburg Gera bespielt.

Theater braucht Räume. Räume, um neue, experimentelle Ästhetiken zu entwickeln und für soziale Experimente. Aber auch einen öffentlichen Raum für die Auseinandersetzung des Publikums mit der darstellenden Kunst, mit sich selbst und untereinander. In diesem Buch haben die Räume der Freien Szene in der Theaterstadt Berlin selbst einen Auftritt.

Anlässlich des 150. Jubiläums versammelt der Band Artikel von namhaften Experten, in denen die imposante Altenburger Theatergeschichte schlaglichtartig beleuchtet wird, ergänzt durch zahlreiche Künstler­ porträts sowie eine Chronologie sämtlicher Premieren seit 1871.

33 Berliner Spielstätten werden in dieser reich bebilderten Publikation porträtiert. Ein erster Versuch, die freien Räume für die darstellenden Künste in ihrer Breite und Unterschiedlichkeit abzubilden.

150 Jahre Theater Altenburg Herausgegeben von Felix Eckerle und Harald Müller

Andere Räume – Other Spaces Die Freien Spielstätten in Berlin – The Independent Performing Arts Venues in Berlin Herausgegeben von Janina Benduski, Luisa Kaiser und Anja Quickert

Hardcover mit 260 Seiten ISBN 978-3-95749-346-0 EUR 24,00 (print) / EUR 19,99 (digital)

Klappenbroschur mit 304 Seiten ISBN 978-3-95749-360-6 EUR 19,50 (print) / EUR 16,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


Danke für gemeinsame Wege 2020/21 mit und ohne Publikum:    Onur Ağbaba, Taigué Ahmed, Antigone Akgün,   andcompany&Co., Jenny Barthold, Nathalie Anguezomo  Mba Bikoro, Alice Bogaerts, Wolfgang Boos, Gloria Brillowska, Gregory Caers, Martin Clausen, Caroline Creutzburg, Rafał Dziemidok, Maja Das Gupta, Rebekka Dornhege Reyes, Katja Eichbaum, Hila Flashkes, garmut inc, Michael Graessner, Hannes Hartmann, René Alejandro Huari     Mateus, Sahra Huby, Marie Jordan,    Schorsch Kamerun, Anna   Konjetzky, Laura Konjetzky,    Kathrin Krottenthaler, Martina Lebert,   René Liebert, Leonie Mohr, PC Nackt,  Laura Naumann, Enrico Paglialunga, Tanja Pannier, United Puppets, Sahar    Rahimi, Sophie Reble, Lukas     Rehm, Willy Sahel, Kristianne      Salcines, Franziska Sauer,        Matija Schellander, Georg         Schütky, Christian Schulte,        Mario Schulte, Vincent Stefan,       Marcus Thomas, Joana      Tischkau, Turbo Pascal,     Leicy Valenzuela, virtuellestheater,        Romy Weihrauch, Ivna Žic


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magazin

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Was bleibt? – Das Theater stellt wie hier in „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz (Deutsches Theater Berlin 2020) gerne letzte Fragen. Selten jedoch befragt es sich wie in Guy Krnetas Roman „Die Perücke“ selbst. Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Die Geister, die Europa rief Wer darf wen wie spielen? Mit Julia Kristeva, Jacques Derrida und dem Konzept der „Heimsuchung“ erklärt Elisabeth Tropper in ihrem Buch „Enter the Ghosts of Europe“ aktuelle Theaterinszenierungen Gespenster gehen um in Europa – die Ge-

Grenzen des Ichs heraus. Dem Subjekt er-

schwindet, ruft Vergangenes und Zukünftiges

spenster der Migrantisierten, Kolonisierten

scheint das Abjekte unheimlich, weil es die

an. Den Zuschauerinnen und Zuschauern

und Geflüchteten. Mit ihrem Ausschluss aus

Zuordnung in Eigenes und Fremdes infrage

scheint nur ihr flüchtiger, unmittelbarer Ein-

der europäischen Identität beginnt die Heim-

stellt. Im Horror vor halbverwesten Untoten

druck zu bleiben, wenn eine Vorstellung be-

suchung, denn – wie schon im Begriff ange-

refiguriert sich der Ekel, den diese Schwellen-

endet ist und sie wieder auf die Straße treten.

legt – nur das Abgeschlossene, das Heim,

substanzen hervorrufen, weil sie Identitäts­

Videoaufnahmen oder Inszenierungstexten

kann von einem Grenzübertritt bedroht sein.

dichotomien erschüttern.

gelingt es nicht, diese Erfahrung zu konser-

Wenn in Horrorfilmen eine vorerst unbekann-

Übertragen auf soziale Verhältnisse,

vieren, wenngleich Fotografie und Film auch

te Kraft in den intimsten Kreis der Familie

ordnet der Mechanismus der Abjektion den

eine gespenstische Dimension zukommt. Man

eindringt, offenbart sich im Fortgang der

Subjektstatus: Wer wird aus der Perspektive

denke nur an Aufnahmen von Verstorbenen.

Handlung häufig, dass es sich nicht um Will-

von Europäern und Europäerinnen – selbst

In ihrem Dissertationsprojekt „Enter the

kür handelt, sondern um eine unbefriedete

eine sich immer wieder verändernde Kons­

Ghosts of Europe. Heimsuchungen Europas im

Vergangenheit, die nun ihr Recht einfordert.

truktion – als Subjekt wahrgenommen? Wer

Theater der Gegenwart“ untersucht Tropper

Das Verdrängte kehrt wieder und rüttelt an

objektifiziert und entpersonalisiert? Wer kann

die Verschränkung von ästhetischer und in-

der Gegenwart. Ähnlich verhält es sich mit

sprechen und wer bringt nur Laute hervor?

haltlicher Heimsuchung auf der Bühne. Dafür

der Figur des Zombies. Die Halbtoten drohen

Für die Theaterwissenschaftlerin und

stützt sie sich primär auf die Denkfigur des

meist mit der Übertragung eines Virus, der

Dramaturgin Elisabeth Tropper ist das Thea-

Abjekten von Kristeva, in der Grenzziehung

zur Auflösung des eigenen Körpers führt. Ge-

ter der prädestinierte Raum für die Wieder-

und -übertretung hervorgehoben wird, etwa im

spenster und Zombies erodieren gleichsam

kehr der Gespenster Europas. Die Heimsu-

Topos der immateriellen Spektra­ lität – der

Grenzen.

chung wird dort zur subversiven Waffe der

Entwickelt man den Begriff der Philo-

verdrängten Gegenwart von Flucht und Kolo-

sophin Julia Kristeva weiter, lassen sich die

nialismus, auf die sich die Autorin inhaltlich

Schwellenfiguren als Personifikationen oder

fokussiert. Nicht nur spukt in den Strukturen

Metaphern des Abjekten verstehen. In Kriste-

der Häuser ein monarchischer Geist, auch die

vas psychoanalytischer Konzeption fordern

ihnen eigene Medialität ist gespenstisch.

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“ – Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück „Die Schutz­ befohlenen“ am Hamburger Thalia Theater.

Ausscheidungen wie Körperflüssigkeiten die

Eine Theateraufführung erscheint und ver-

Foto Krafft Angerer


magazin

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Wiederkehr einer vergangenen Gegenwart in

kann und sollte, um Perspektiven und Ge-

Anlehnung an Jacques Derridas Konzept der „Hantologie“. Auf dieser philosophischen Grundlage analysiert Tropper, wie in fünf zeitgenössischen Inszenierungen die Gespenster und Zombies Europas die Bühne und das meist westeuropäische Publikum heimsuchen. Ihre Auswahl beschreibt eine Bewegung von der europäischen Innenperspektive, die sie

schichten zu öffnen, ohne gewaltvolle ZuElisabeth Tropper: Enter the Ghosts of Europe: Heimsuchungen Europas im Theater der Gegenwart. Neofelis Verlag, Berlin 2021, 390 S., 29 EUR.

selbst einnimmt, hin zu einer außereuropäi-

schreibungen zu wiederholen, bleibt eine der akutesten und produktivsten Problemstellungen auf der zeitgenössischen Bühne. „Ten Thousand Tigers“, das von Ho Tzu Nyen am Esplanade Theatre Studio Singapur inszeniert wurde, dreht das Macht- und Blickdispositiv – zumindest ein Stück weit – um und ist eine wichtige Ergänzung in Troppers Auswahl. In der Theaterinstallation des Regisseurs aus

schen Manifestation der Gespenster. So reflektiert sie die Metapher der Heimsuchung als

setzte Auslassung durch den Chor. Das wirft

Singapur ist die Autorin während eines Gast-

eine standortabhängige und umgeht so eine

für die Theaterwissenschaftlerin Fragen der

spiels bei den Wiener Festwochen mit einem

eurozentristische Setzung. Denn je nach Posi-

Repräsentation auf, die folgenreich zwischen

ihr fremden Gespenst konfrontiert – dem ma-

tion verändert sich, wer oder was als Heimsu-

Ermächtigung im symbolischen Raum der

laiischen Tiger. Erst nach intensiver Recher-

chung wahrgenommen wird. Und auch in Eu-

Bühne und ausgestellter Ohnmacht changie-

che schafft sie es, einige Bedeutungsebenen

ropa ließe sich die Metapher umdrehen: Von

ren. Einerseits bringe der Regisseur die Ge-

des mythologisch aufgeladenen Tiers zu ent-

der Bedrohung der „Festung Europa“ durch

flüchteten ins Theater, wo sie in körperlicher

schlüsseln, ohne den Vorgang in ihrer Darstel-

die „Flüchtlingswelle“ – ein völkisch-nationa-

Präsenz von ihren Erfahrungen berichten

lung zu exotisieren. Sie entzieht sich und ih-

listisches Bild – zum Gespenst des Rechts­

können, andererseits seien sie darauf festge-

rer Arbeit so einem „europäisierten“ Blick.

populismus, das aus seinem shallow grave

legt, sich selbst zu spielen.

Für Tropper entsteht hier eine Erfahrung des

­heraufsteigt, einem sehr flachen, nur knapp

Für Tropper kristallisiert sich hier eine

Sich-fremd-Werdens, die einen Ausweg aus

grundlegende Problematik im Umgang mit

der Grenzziehung zwischen Eigenem und An-

Zu Beginn ihrer Aufführungsanalysen

der inszenierten Heimsuchung heraus. Die

deren weist, wie ihn Kristeva in ihrer Publika-

widmet sich die Autorin der 2015 zum Thea-

Gespenster können entweder in einer selbst-

tion „Fremde sind wir uns selbst“ entwickelte.

tertreffen eingeladenen Inszenierung „Die

bestimmten Darstellung erscheinen – oder

Auch mit Derrida eröffnet die Autorin

Schutzbefohlenen“ von Nicolas Stemann aus

jemand lässt sie erscheinen, wodurch sich

eine Perspektive: Gerade im Theater sei die

dem Thalia Theater Hamburg. „Wir sind ge-

das Machtverhältnis im institutionalisierten

Gastfreundschaft und das „Mitsein mit den

kommen, doch wir sind gar nicht da“, sagt da

Theater wiederholt. So werden die unheim­

Gespenstern“ denkbar, „wenn auch nur für

ein Chor aus Geflüchteten auf der Bühne und

lichen Positionen gezähmt und auf ihre ver-

einen vorübergehenden Zeitraum“. Ausführ-

markiert so die eigene Stellung zwischen An-

meintlich authentische Selbstidentität zu-

lich und überzeugend theoretisiert Tropper

und Abwesenheit. Im zugrunde liegenden

rückgeworfen. Der hier beschriebene Konflikt

Theater als Schauplatz der Geisterbeschwö-

Text von Elfriede Jelinek sprechen die Überle-

ist im zeitgenössischen Theater noch immer

rung, indem sie ästhetische und philosophi-

benden für die Toten, die nur noch ein „Men-

in Aushandlung. Häufig werden migrantisier-

sche Überlegungen an die konkrete europäi-

schenklotz“ im Wasser sind, und die Autorin

te oder geflüchtete Menschen auf die Bühne

sche Gegenwart anlegt. Dabei wird ihre Arbeit

stellvertretend für die Geflüchteten. Ange-

gestellt, um von ihrer dem bürgerlichen Pub-

von der eigenen politischen Dringlichkeit

lehnt an Aischylos’ „Die Schutzflehenden“,

likum fremden Lebensrealität zu berichten.

heimgesucht. Denn die Dekonstruktion der

bleibt in der Fläche aus Zitaten und Wieder-

Mit ihren Körpern sollen sie eine echte Erfah-

subalternen Gespenster könne, so die Thea-

holungen eine gespenstische Leerstelle. Die

rung be- und erzeugen, die Erwartungshaltun-

terwissenschaftlerin, nicht ohne Angriff auf

im Mittelmeer Ertrunkenen sind stimmlos,

gen bestätigt und befriedet, jedoch nicht be-

die völkisch-nationalen Zombies erfolgen. //

kommen nicht vor. Tropper zufolge füllt

unruhigt. Die von ihr am Material entwickelte

Stemann die von der Autorin bewusst ge­ ­

Frage, wie wer für wen im Theater sprechen

unter der (Erd-)Oberfläche ruhenden Grab.

Lara Wenzel

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aktuell

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Meldungen

/ TdZ Mai 2021  /

mitteilung. Derzeit ist Al Khalisi Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am ETA Hoffmann Theater Bamberg, welches mit

Annemie Vanackere. Foto Dorothea Tuch

zahlreichen Nominierungen und Preisen große Erfolge feierte. Zudem arbeitete er unter anderem an der Berliner Schaubühne und am Hans Otto Theater Potsdam.

■ Kay Metzger bleibt bis 2026 Intendant des Theaters Ulm. Dem Theaterleiter war es in der Zeit vor der Corona-Pandemie gelungen, Abound Besucherzahlen zu steigern. Er hat das Theater in den Stadtraum geöffnet und sich um eine zeitgenössische Akzentuierung der Theaterarbeit verdient gemacht, etwa durch Ur- und Erstaufführungen, Auftragswerke sowie die Etablierung von Arbeitsbeziehun­ gen mit Autorinnen und Autoren.

■ Der Regisseur Markus Hertel wird ab der ■ Die Intendantin und Geschäftsführerin des

Spielzeit 2022/23 zum neuen Intendanten

Berliner Produktionshauses HAU – Hebbel

des Theaters Pforzheim berufen. Sein Vertrag

am Ufer Annemie Vanackere, die die Spielstät-

ist zunächst auf fünf Jahre begrenzt. Der Ver-

te seit 2012 leitet, hat ihren Vertrag bis Ende

waltungsdirektor des Theaters, Uwe Dürigen,

August 2025 verlängert. „Nach neun Jahren

begründet die Entscheidung wie folgt: „Mit

in Berlin freue ich mich, das HAU – Hebbel

Markus Hertel konnten wir für unser Theater

am Ufer als internationales Produktionshaus

einen Spezialisten gewinnen … Wir haben

weiterentwickeln zu dürfen und mit meinem

ihn als Kenner der Szene, interessierten

Team die Kulturlandschaft Berlins und da­

Zuhörer und visionären Planer kennenge­

rüber hinaus weiter mit aktuellen Frage­

lernt.“ Im September 2022 wird Hertel den

planungen für Roos’ Zeit als Schauspieldirek-

stellungen, neuen Formaten, künstlerischen

jetzigen Intendanten Thomas Münstermann

tor am Theater Krefeld und Mönchenglad-

Innovationen und Kooperationen beleben zu

ablösen.

bach mit einer Perspektive bis 2025 sollen

können“, äußert sich die Intendantin zu ihrer Vertragsverlängerung.

bereits in den nächsten Wochen beginnen.

■ Das im schweizerischen Kanton Aargau ­angesiedelte Tourneetheater Theater Marie

■ Der Dramatiker Martin Crimp erhält gemein-

■ Enrico Lübbe wird bis 2027 Intendant des

bekommt ab der Spielzeit 2022/23 eine neue

sam mit seiner deutschen Übersetzerin Ulrike

Schauspiels Leipzig bleiben, welches er seit

Leitung. Das fünfköpfige Team besteht aus

Syha den Jürgen Bamser & Ute Nyssen Drama­

2013 leitet. Dies beschloss der Leipziger

den

Andrea Brunner,

tikerpreis 2021. Die Jury begründet ihre Ent-

Stadtrat mit großer Mehrheit. Bereits im

­Manuel Bürgin, Martina Clavadetscher, Julia

scheidung mit der geheimnisvollen Spannung

Dezember 2020 verkündete Leipzigs Ober­

Haenni und Maria Ursprung. Das Team habe

seiner Theaterstücke, die getragen werde von

bürgermeister Burkhard Jung, dass er Lübbes

mit seinem starken Spielplanentwurf, seinem

einem neugierigen, unerbittlichen und den-

Vertragsverlängerung dem Stadtrat vorschla-

klaren Bekenntnis zur partizipativen Zusam-

noch zugleich warmherzigen Blick auf Men-

gen werde. „2019 erreichte Lübbe mit dem

menarbeit und seiner breiten Vernetzung in

schen. Zudem entzögen sich Crimps Darstel-

Schauspiel mit 117 000 Gästen einen Be­

der Aargauer, Schweizer und deutschsprachi-

lungen einer beunruhigend kaputten Welt

sucherrekord“, begründete er seine Entschei-

gen Theaterlandschaft überzeugt.

psychologischer, soziologischer oder sonstiger

Theaterschaffenden

Deutung. Er nehme die Zuschauer ernst,

dung. „Zudem konnte er alle Wirtschaftsjahre mit einem positiven Ergebnis abschließen –

■ Der Regisseur Christoph Roos wird ab der

allein 2019 mit einem Überschuss von mehr

Spielzeit 2022/23 neuer Schauspieldirektor

als einer Million Euro.“ Weitere Personal­

des Theaters Krefeld und Mönchengladbach.

■ Im Rahmen des 58. Theatertreffens erhält

vorschläge oder Diskussionen gab es laut dem

Die Entscheidung fiel insofern in einem be-

der

Leipziger Kulturmagazin Kreuzer nicht.

sonderen Verfahren, als die Schauspielsparte

Strutzenberger den 3sat-Preis in Höhe von

­indem er sie mit ihrem Urteil allein lasse.

österreichische

Schauspieler

Thiemo

ihren neuen Leiter selbst wählte. Dadurch

10 000 Euro für die Rolle des Staatsanwalts

■ Der Dramaturg Remsi Al Khalisi wird ab der

sollen die demokratischen Strukturen am

Martin in Stefan Bachmanns Inszenierung

Spielzeit 2022/23 die Leitung der Schau-

Stadttheater gestärkt und ein klares Zeichen

„Graf Öderland“, einer Koproduktion des

spielsparte am Theater Münster übernehmen.

in der Debatte um Machtmissbrauch an

Theaters Basel mit dem Münchner Residenz-

Dies verkündete das Theater in einer Presse-

Theatern gesetzt werden. Die Programm­ ­

theater. „Der Schauspieler Thiemo Strutzen-


meldungen

Thiemo Strutzenberger. Foto Lucia Hunziker

/ TdZ  Mai 2021  /

tischwili, Anja Hilling, Julian Mahid C ­ arly,

■ Wie das Deutsch-Sorbische Volkstheater

Caren Jeß, Juliane Kann, Karen Köhler, Cle-

Bautzen mitteilt, ist der Schauspieler Götz

mens J. Setz und Gerhild Steinbuch. Im Rah-

Schweighöfer am 21. März 2021 im Alter von

men des Fonds sollen neue Stücke oder Kurz-

61 Jahren nach schwerer Krankheit verstor-

stücke unter dem Thema „Unsere Natur“

ben. Er absolvierte seine Schauspielaus­

entstehen.

bildung an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig und war unter anderem am

■ Die sechs Nominierungen im deutschspra-

Landestheater Eisenach, am Mecklenburgi-

chigen Autor:innenwettbewerb des Heidelber-

schen Staatstheater Schwerin, am Badischen

ger Stückemarktes 2021, der vom 30. April bis

Staatstheater Karlsruhe, am Theater Alten-

zum 9. Mai 2021 am Theater Heidelberg statt­

burg-Gera sowie dem Deutsch-Sorbischen

finden wird, stehen fest. Die nominierten

Volkstheater Bautzen engagiert. Er bleibe

Stücke sind: „Einfache Leute“ von Anna ­

dem Bautzener Publikum als charaktervoller

Gschnitzer, „Gelbes Gold“ von Fabienne Dür,

Darsteller und humorvoller Mensch in Erinne-

„Peeling Oranges“ von Patty Kim Hamilton,

rung, der mit künstlerischer Hingabe und

„Maria Magda“ von Svenja Viola Bungarten,

schauspielerischem Können in vielen Haupt-

„Fischer Fritz“ von Raphaela Bardutzky und

rollen auf der Bühne erfolgreich agierte, heißt

berger ist darin ein Hochrisiko-Öderland, für

„Hypnos“ von Wilke Weermann. Die Arbeiten

es in der Mitteilung des Theaters.

den die Trennlinien von Wachtraum und pani-

der Autor:innen stehen unter dem Motto

scher Klarheit längst durchlässig sind und bei

„Herkunft und Zukunft“.

Covid-19-Erkrankung gestorben. Ivo studierte

zivilgesellschaftlicher Überdruss in die pure Aggression umschlagen: die traumatische Quintessenz eines Wutbürgers“, begründet die Jury ihre Entscheidung.

■ Junge Autor:innen mit deutschsprachigen, noch nicht uraufgeführten Texten können sich

■ Der Tänzer Ismael Ivo ist am 8. April 2021 im Alter von 66 Jahren in São Paulo an einer

dem Entfremdung, kulturelles Unbehagen, Aufgrund der ungewissen Situation angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann in dieser Ausgabe kein Premierenkalender erscheinen. Täglich aktuelle Premierendaten finden Sie unter www.theaterderzeit.de.

für den Kleist-Förderpreis 2022 bewerben. Ge-

Tanz und Schauspiel in São Paulo und arbeitete im Anschluss als Choreograf und Tänzer in New York. Er gilt mit zahlreichen Stücken und Welttourneen als einer der berühmtesten Protagonisten des Tanztheaters. 1984 gründete er zusammen mit Karl Regensburger die Internationalen Tanzwochen Wien, seit 1988 ImPuls Tanz – Vienna International Dance

sucht werden Dramatiker:innen, die zum Einsendeschluss am 31. August 2021 nicht älter

■ Das Impulse Theater Festival geht in diesem

Festival, wo er bis zuletzt als künstlerischer

als 35 Jahre sind. Der Preis beinhaltet 7500

Jahr pandemiebedingt neue Wege. Künst­

Berater fungierte. Er wurde vielfach ausge-

Euro und eine Uraufführungsgarantie. Das

ler:innen, deren Produktionen in diesem Jahr

zeichnet, unter anderem mit der Medaille von

Gewinnerstück wird 2022 am Hessischen

zum Showcase eingeladen sind, aber auf-

São Paulo, dem Ehrenkreuz für Verdienste

Landestheater Marburg uraufgeführt.

grund der Maßnahmen zur Eindämmung der

um die brasilianische Kultur sowie dem Ös-

Corona-Pandemie nicht gezeigt werden kön-

terreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft

■ Das Berliner Ensemble hat zusammen mit

nen, erhalten ein Preisgeld. Die Festival­

und Kunst. Ein ausführlicher Nachruf folgt im

der Heinz und Heide Dürr Stiftung einen

macher:innen wollen so den Planungs­

nächsten Heft.

Dramatiker:innen-Fonds ins Leben gerufen, der

unsicherheiten und existenziellen Sorgen,

zehn Autor:innen mit je 10 000 Euro finan­

denen Künstler:innen derzeit ausgesetzt sind,

TdZ ONLINE EXTRA

ziell unterstützt. Zu den ausgewählten Drama­

ein Stück weit entgegenwirken. Das Festival

tiker:innen gehören Katja Brunner, Martina

wird dieses Jahr in der Zeit vom 2. Juni bis

Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

Clavadetscher, Philipp Gärtner, Nino Hara-

zum 13. Juni 2021 stattfinden.

Online -Preisverleihung

21. Mai 2021 19.00 Uhr www.fonds-daku.de

www

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4 Autor*innen 4 Hörspiele 4 verbindende Elemente

Bggnng Som r e m a e th ter von Dominik Busch, David Gieselmann, Laura Naumann und Anne Jelena Schulte

Das Ergebnis des kollektiven Abenteuers wird wochenweise ab 8. Mai auf theater-bielefeld.de veröffentlicht.

02/05/21 Bär im Universum

EN WESSOPEN   E RG AIR B HAUS

08/05/21 Farm der Tiere

MÜNSPEN  TEROZ AIR PLAT

19/06/21 Viel Lärm um nichts

MÜNSPEN  TEROZ AIR PLAT

von Dea Loher JTK 6+

Eine dystopische Fabel nach George Orwell JTK 12+

THEATER-BIELEFELD.DE BIELEFELDER-PHILHARMONIKER.DE RUDOLF-OETKER-HALLE.DE

Komödie von William Shakespeare

www.theaterkonstanz.de T + 49 (0) 7531 / 900 21 50


impressum/vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Mai 2021 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Friedrich Dieckmann, Schriftsteller, Essayist und Kritiker, Berlin Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin Jens Fischer, Journalist, Bremen Björn Hayer, Kritiker, Lehmberg (Pfalz) Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Frank Raddatz, Publizist und Dramaturg, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Thomas Stecher, freier Schauspieler und Regisseur, Dresden Joachim F. Tornau, Journalist und Theaterkritiker, Kassel Anna Volkland, Dramaturgin, Berlin Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/05

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

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Vorschau

Abschied: Mit Ismael Ivo erlag eine Ikone der internationalen Tanzszene den Folgen der CoronaPandemie. Von Brasilien aus hatte es den Choreografen einmal um die halbe Welt und zurück verschlagen, mit Stationen in New York, Wien, Weimar und Venedig. Mit dem ImpulsTanz begründete er in Wien das größte Tanzfestival Europas mit. In die Liste seiner Kollaborationen reihen sich Größen wie Pina Bausch, Marina Abromavić und William Forsythe. Johannes Odenthal erinnert an den viel zu früh verstorbenen Ausnahmetänzer und -choreografen.

Ismael Ivo. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

/ TdZ  Mai 2021  /

Herausgeber Harald Müller Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Martin Müller, Paula Perschke (Assistenz), Tabea Eschenbrenner (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.04.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Protagonisten: Vierzig Jahre her – und kein bisschen anders? Debatten um Gleichberechtigung und Frauenquoten finden zwar heute gesellschaftsweit statt und werden längst auch an Theatern geführt. Ihre Früchte gedeihen allerdings auffällig langsam. Dabei hat die Theaterkritikerin und Weltenbummlerin Renate Klett schon vor vier Jahrzehnten in Köln mit viel Aufsehen das 1. Internationale Frauentheaterfestival ins Leben gerufen. Im Gespräch mit ihr schauen wir zurück auf die Zustände der Theaterlandschaft der achtziger Jahre und fragen: Hat sich wirklich nichts ­getan?

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2021.

Renate Klett. Foto Lebensortvielfalt, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons. org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17


Was macht das Theater, Gernot Grünewald? Gernot Grünewald, in Ihrem Projekt

der eigenen Oma nicht wiedererkannt zu

„Selbstvergessen“ stehen Kinder und

werden. Für die Dementen selbst habe ich

­Jugendliche auf der Bühne, die an einer

es lange für eine Art Gnade gehalten.

Art lebendigem Familienarchiv arbeiten:

Tilman Jens, der Sohn von Walter Jens, be-

Sie erforschen die Biografien und Lebens-

schreibt, wie sein Vater am Ende sehr

erinnerungen ihrer nicht mehr erin­

glücklich in einem Stall saß und Lämm-

nerungs­­fähigen Großeltern. Wie kann man

chen streichelte. In der weiteren Beschäf-

sich den Abend konkret vorstellen?

tigung hat sich mein Bild geändert. Im-

Wir arbeiten mit verschiedenen doku-

merzu an unbekannten Orten zu sein,

mentarischen Elementen. Die Jugendli-

umgeben von Fremden, mit denen man

chen haben, soweit das möglich war,

sich nicht verständigen kann und die ei-

Interviews mit ihren dement geworde-

nen waschen und füttern wollen, stelle ich

nen Großeltern geführt. An den Ton­

mir als einen gespenstischen Zustand vor.

spuren spürt man, wie sich Vergessen im Sprach- und Erinnerungsvermögen

Das eine ist die Person, die vergisst, das

abbildet. Kern des Projektes ist aber,

­andere sind diejenigen, die sich an sie zu

wie sich Erinnern über persönliches

erinnern versuchen. Wie hilfreich sind da

­Erleben, Familiengedächtnis oder Archi-

­Erinnerungstools wie Fotos?

ve vollzieht. Außerdem arbeiten wir mit

Solange sie einen Kontext haben, sind Ob-

digitalen Scans, die das Thema Erin-

jekte, Alben und alle Dinge, die ein Archiv

nern und Vergessen jenseits des Hapti-

beinhalten kann, sicherlich hilfreich. Aber

schen oder des persönlichen Reflektie-

die nächste oder übernächste Generation

rens in den digitalen Raum übertragen.

hat den konkreten Bezug dazu bereits verloren. Das Fotoalbum, das auf dem ­

Woran erinnern sich die Großeltern, sofern sie sich erinnern? Sind das vor allem die Kindheits- und Jugendjahre, also die Zeit, in der sich die jetzt auf der Bühne stehende Enkelgeneration selbst befindet? Es ist eine Art Spiegelachse. Die Jugendlichen werden auf der Bühne zu Wiedergängern ihrer eigenen Großeltern. Wir erleben sie am biografischen Anfang ihres Lebens, der von den Großeltern am längsten erinnert wird. Demenz hat neben aller Tragik auch etwas sehr Faszinierendes: Man vergisst rückwärts, zunächst das, was vor fünf Minuten, dann das, was vor einem Monat

Unser Jubiläumsheft ist dem Thema Archiv gewidmet – dem institutionalisierten Erinnern, zu dem das Vergessen und Verdrängen, die Lücken und Auslassungen, notwendig hinzugehören. Auf eine besondere Weise setzt sich der 1978 in Stuttgart geborene Regisseur und Schauspieler Gernot Grünewald mit diesem Komplex am Jungen DT in Berlin auseinander: In seiner Inszenierung „Selbstvergessen“ denken Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren über ihre an Demenz erkrankten Großeltern nach. Wir sprachen mit dem Regisseur über Erinnerungstools und -lücken, das verschwindende Selbst und die Schönheit des flüchtigen Jetzt. Foto Inke Johannsen

oder einem Jahr passiert ist, bis man

Dachboden liegt und irgendwann auf dem Sperrmüll landet, hat für die Nachgeborenen unter Umständen über das historische Interesse hinaus irgendwann keine Bedeutung mehr. Ohne Kontextwissen bleiben die Dinge stumm. Sie haben sich entschieden, „Selbstver­ gessen“ gerade nicht als Archivalie zu produzieren, also als digitale Konserve, die man immer wieder abrufen kann, sondern als live gestreamte Vorstellung, die nicht auf dem Server gespeichert wird. Warum? Es war früh klar, dass die theatral-filmische Adaption eines solchen Themas nur als Livestream zu denken ist. Es geht bei

sich bei schweren Verläufen irgendwann

dem Thema ja immer um den erinnerten

selbst nicht mehr im Spiegel erkennt, weil

Wohin sich das Ich-Empfinden eines Demen-

oder vergessenen Augenblick. Wenn eine

man in seinem inneren Erleben 40 Jahre alt

ten entwickelt, ist von außen vermutlich

räumliche Kopräsenz, die das Theater ja aus-

ist und sein alt gewordenes Ich nicht mehr

schwer feststellbar. Wir können die Frage in

macht, nicht möglich ist, kann der Livestream

kontextualisieren kann. Am Ende bleibt dann

dem Projekt nur philosophisch-abstrakt um-

immerhin eine zeitliche Kopräsenz ermögli-

nur noch die Kindheit übrig. Das eigene Le-

kreisen und zugleich Geschichten aus der

chen. Das finde ich einen wichtigen Moment,

ben wird von hinten nach vorn wegradiert, bis

Warte der Jugendlichen erzählen, die bei die-

dass sich Dinge immer nur jetzt vollziehen,

am Ende nur noch leere Seiten da sind, auf

sem Prozess ihrer Großeltern dabei waren.

dass man das nicht zurückspulen kann. Die-

denen nicht einmal mehr der eigene Name

ses Jetzt kann man erleben oder verpassen,

steht. Die Frage ist, wer oder was dann bleibt,

Hat es auch etwas Gnadenvolles, Befreiendes,

man kann sich daran erinnern oder es verges-

wenn das Ich nicht mehr erinnert wird.

sich auf diese Weise vergessen zu können –

sen, aber es ist eben nicht on demand. Es ist

oder ist es ausschließlich ein Drama?

einmalig wie das Leben. //

Sind demente Menschen also ein leer geräum-

Für die Angehörigen ist es auf alle Fälle ein

tes Archiv? Oder ist da noch etwas?

Drama. Es ist schmerzhaft mitzuerleben, von

Die Fragen stellte Tom Mustroph.


Sarah Kilter

White Passing Amanda Lasker-Berlin

Ich, Wunderwerk und how much I love Di urbing ntent

Autor: innen th ter tage

Chris Michalski

When There's Nothing ft To Burn You Have To Set You elf On Fire

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Fotos: Holger Herschel

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Svetlana Belesova in „Gespenster“

muenchner-kammerspiele.de


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Das Theatertreffen wird gefördert durch die

gefördert von

Medienpartner

© Rachel Maclean / Design Theatertreffen: Eps51 Berlin

Die Berliner Festspiele werden gefördert durch

Make Me Up, 2019, digital video still, courtesy of the artist

13.5.– 24.5.21


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