Theater der Zeit 06/2021 - Zur Machtdebatte am Theater

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Michael Klammer über Frontenbildung am Theater / Das Berliner Gorki vor dem Bühnenschiedsgericht Avraham Oz zur Lage in Nahost / Kunstinsert: Guerilla Architects / Utopische Körper: Nachruf Ismael Ivo

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Juni 2021 • Heft Nr. 6

Das große Kegeln Zur Machtdebatte am Theater


»Das Rheingold. Eine andere Geschichte« von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel nach Richard Wagner am 3., 4., 5., 6.6. — Weitere Termine im September Festival Theater der Welt — vom 17. Juni bis 4. Juli — www.theaterderwelt.de The Third Space von raumlaborberlin — Kunstinstallation, Bühne und Festivalzentrum — auf dem Platz von Mai bis September — www.dhaus.de

Foto: Thomas Rabsch

am Düsseldorfer Schauspielhaus


editorial

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Einladung

Jahre

Theater der Zeit Für den 1. Juni 2021 laden wir alle Leserinnen und Leser zu unserer ­virtuellen Geburtstagsfeier ein – Details und Anmeldungen unter:

theaterderzeit.de/tour.

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

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ohin rollt die Kugel? Wie viele Figuren werden vom Platz gekegelt? Wer kippt – und wer wackelt nur bedenklich, kann sich nach einer Zitterpartie am Ende aber halten? Nein, neu ist sie nicht, die Intendant:innendämmerung, die sich am Bühnenhimmel von Karls­ ruhe über Düsseldorf bis nach Berlin ausgebreitet hat: Einmal mehr erschüttern Machtmissbrauchs-, Sexismus-, Rassismusvorwürfe die Branche. Hier einer, der zurücktritt, da einer, der aus seinem Vertrag entlassen wird, dort eine, die sich massiver Kritik durch ihre Belegschaft ausgesetzt sieht. Darüber, wie unkünstlerisch-giftig es im House of Arts hinter den Kulissen häufig zugeht, berichte­ ten wir bereits vergangenen Herbst, in einem unserer ersten Hefte der Theatersaison. Wie viel lieber es uns gewesen wäre, die Spielzeit jetzt nicht mit dem gleichen Problem wieder beschließen zu ­müssen, steht außer Frage. Leben wir in einem Zeitalter gesteigerter Empfindlichkeit – oder hat der geballte Unmut über die Abhängigkeitsverhältnisse, den Druck und die Übergriffigkeiten, der jetzt so kegelkugelgleich durch die Theater rollt, tatsächlich eine neue Qualität? Darüber sprechen wir in unserem Schwer­ punkt „Intendant:innendämmerung“ mit dem Schauspieler Michael Klammer, der eine Fronten­ verhärtung am Theater beobachtet und erzählt, warum er das Recht auf Fehler für eine wichtige Kulturtechnik hält, sowie mit der Kritikerin und ehemaligen Festivalleiterin Renate Klett, die auf der Folie des ersten, 1980 von ihr initiierten Frauentheaterfestivals in Köln darüber nachdenkt, ob, wo und wie sich der Betrieb in der Zwischenzeit verändert hat. Außerdem haben Martin Müller und Paula Perschke ein Gerichtsverfahren gegen das Maxim Gorki Theater Berlin besucht und verfolgt, wie es nach dem buchstäblich kurzen Prozess in der Causa weiterging. Einen Gerichtstermin – als Zuschauer – hatte im April auch unser Kolumnist Ralph ­Hammerthaler. Und was unerfreuliche Zirkelschlüsse betrifft, geht es ihm leider wie uns: Hatte er zu Beginn der Saison vom Kampf des be- und geliebten Kreuzberger Kiezbuchladens Kisch & Co. gegen die Mietvertragskündigung durch einen gesichtslosen Immobilienfonds geschrieben, muss er jetzt von dessen trauriger Niederlage berichten. Sollte es ernsthaft jemanden verwundern, dass auch ­Michael Bartschs Kommentar zu einem Spargutachten im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien den Titel „Alle Jahre wieder“ trägt? Bloß gut, dass wenigstens der Autor und Theatermacher Boris Nikitin Kapital aus dem Phänomen der Wiederholung schlagen kann – in Form origineller kulturtheoretischer Gedanken, die in seinem hier abgedruckten Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ ebenso stecken wie in ­seinem ­Gespräch mit Sabine Leucht. Und, apropos Negatives produktiv machen: Auch die dramatischen Entwicklungen auf dem Immobilien- und Mietwohnungsmarkt – siehe Kisch & Co. – wären garan­ tiert noch deprimierender, wenn Gruppen wie die Berliner Guerilla Architects, die wir im Künstler­ insert vorstellen, sie nicht ästhetisch-aktivistisch aufarbeiten würden mit ihren innovativen Interven­ tionen ins Stadtbild. Ein tröstliches Beispiel, dass der Ausbruch aus dem Immergleichen tatsächlich auch gelingen kann, hat immerhin Tom Mustroph zu vermelden: Ausgerechnet Corona hat zu neuartigen Residenzprogrammen für die freien darstellenden Künste geführt, die – wie er an der Basis der Szene heraus­ gefunden hat – wirklich jede Menge frischer Impulse liefern. Gänzlich unvergleichlich indes ist, worüber Künstlerinnen und Künstler derzeit in Israel nach­ denken (müssen). „Unser Traum ist es“, sagt Avraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, im Gespräch mit Herwig Lewy über die explosive Lage in Nahost, „dass Fragen der ethnischen Herkunft oder der nationalen Zugehörigkeit aus unserem Leben verschwinden.“ Derzeit ist allerdings das Gegenteil der Fall: Die Eskalation zwischen der radikalislamischen Hamas und dem israelischen Militär erreichten Mitte Mai eine neue Runde. Das Alfa Theater mit seinem jüdisch-­ arabischen Ensemble erscheint da wie ein lang ersehnter Ort friedlicher Koexistenz. Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem großen Tänzer und Choreografen ­Ismael Ivo, der im April an Covid-19 verstarb. Für zahllose Kolleginnen und Kollegen, schreibt ­Johannes Odenthal in seinem Nachruf, habe Ivo eine künstlerische Perspektive geschaffen, „die seine Utopie einer Befreiung durch den Körper auch nach seinem Tod fortschreiben werden“. //

Die Redaktion

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Inhalt Juni 2021 thema intendant:innendämmerung / 12 /

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künstlerinsert

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Lappen hoch, Klima – Vorhang auf, Diversität Der Schauspieler Michael Klammer über Rassismus, eine neue Frontenbildung am Theater, Angst vor Fehlern und das Recht auf Fauxpas im Gespräch mit Christine Wahl

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Martin Müller / Paula Perschke Im Namen der Kunst verführbar Das Maxim Gorki Theater vor Gericht – Ein Überblick über die Ereignisse

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Theater ist kein Finanzamt Die Kritikerin und ehemalige Festivalleiterin Renate Klett über den schmalen Grat zwischen Ausnahmezustand und Veränderungsdruck am Beispiel der Frauenbewegung im Theater im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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Urbane Interventionen der Guerilla Architects

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Patrick Wildermann Lebst du noch, aber wohnst nicht mehr? Immobilienblase? Mietendeckel? Hausbesetzung? Die Guerilla Architects aus Berlin intervenieren am Puls der Zeit ins Stadtbild

ausland

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Unser Traum Avraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, über die explosive Lage in Nahost im Gespräch mit Herwig Lewy

abschied

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Johannes Odenthal Der utopische Körper Ein Nachruf auf den Tänzer und Choreografen Ismael Ivo, der im April 2021 an Covid-19 verstarb

kolumne

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Ralph Hammerthaler Proust! Hochsicherheitsdrama um den Kreuzberger Buchladen Kisch & Co.

protagonisten

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Tom Mustroph Forschen statt Spielen Die während der Corona-Krise entwickelten Stipendienprogramme für die freien darstellenden Künste wären auch postpandemisch ein Gewinn

look out

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Margarete Affenzeller It’s the Produktionsform, stupid! Das Wiener Theaterkollektiv makemake produktionen durchbricht das Kategoriendenken

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Sabine Leucht Facebook oder Insta? Die Regisseurin Cosmea Spelleken macht Netztheater zu einer intimen Erfahrung

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Michael Bartsch Alle Jahre wieder Ein weiteres Spargutachten versetzt den Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien in Aufruhr

kommentar


Das Internationale Theaterinstitut ist Interessensvertretung und Informationszentrum für die darstellenden Künste. Es engagiert sich für ihre freie Entwicklung und den Erhalt ihrer Ausdrucksformen. The International Theatre Institute is a cultural network and an information centre for the performing arts. It is dedicated to the free development of the performing arts and the preservation of the diversity of cultural expressions.

THEATER DER WELT

TERMINE 2021 THEATER DER WELT Festivalausgabe Düsseldorf Festival Edition Düsseldorf

17.06. - 04.07.2021 ATELIER DÜSSELDORF / THEATER DER WELT Die Akademie für junge Festivalmacher:innen Atelier for Young Festival Managers

16. - 22.06.2021 HYBRIDITY AND EQUALITY?

Ein Festival des Internationalen Theaterinstituts A Festival of the International Theatre Institute

THEATERPREIS DES BUNDES Preisverleihung und Zeremonie Award Ceremony

08.07.2021

ITI Akademie für junge Kulturschaffende Academy for Young Artists

ITI JAHRESTAGUNG ANNUAL CONFERENCE OF THE ITI Öffentliches Diskussionsforum und Symposium Public discussion forum and symposium

TOURING ARTISTS Informations- und Beratungsangebot für international mobile Künstler:innen Information and Consulting Service for internationally mobile Artists

MEDIATHEK FÜR TANZ UND THEATER MEDIA LIBRARY FOR DANCE AND THEATRE

ITI-GERMANY.DE

Preis für Theater außerhalb der Metropolen und an ihren Rändern Award for Theatres outside Metropolitan Cities and on their Peripheries

DIE ITI AKADEMIE THE ITI ACADEMY

ITI Jahrestagung Annual Conference of the ITI

19.06.2021

THEATERPREIS DES BUNDES THEATRE AWARD OF THE FEDERAL GOVERNMENT

Audiovisuelles Dokumentationszentrum der Darstellenden Kunst Audiovisual Documentation Centre of the Performing Arts

THEATER ÜBERSETZEN TRANSLATING THEATRE Internationale Werkstatt für Übersetzer:innen deutschsprachiger Dramatik in Mülheim Workshop for Translating of Germanlanguage Drama in Mülheim

STUDIO2 Recherche- und Proberaum für Künstler:innen Research and Rehearsal Space for Artists

Mitglied des ITI-Weltverbands

Gefördert von


BRECHT

Wirklich, er lebte in finsteren Zeiten. Die Zeiten sind heller geworden. Die Zeiten sind finstrer geworden. Wenn die Helle sagt, ich bin die Finsternis Hat sie die Wahrheit gesagt. Wenn die Finsternis sagt, ich bin Die Helle, lügt sie nicht. Heiner Müller

Demokratie braucht die Differenzierung des Diskurses. Theater schafft in jedem einzelnen Kopf dafür Platz und Phantasie. Kritik macht – frei nach Brecht – aus einem kleinen einen großen Kreis von Kennern. Wir brauchen (ein) Theater der Zeit.

Gefördert durch

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014.

Die Akademie der Künste gratuliert zum 75. Geburtstag!


inhalt

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Neuerscheinungen im Theater der ZeitBuchverlag

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Dietmar Dath Das Spiel mit der rechten und der linken Hand Von ästhetischer Arbeit bei Georg Lukács

auftritt

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Berlin „Die Sumpfgeborene“ von matthaei & konsorten (Martin Krumbholz) Baden / St. Gallen / Zürich / Aarau „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung in der Regie von Olivier Keller (Brigitte Schmid-Gugler) Basel „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow und Lucien Haug in der Regie von Antú Romero Nunes (Dominique Spirgi) Hannover „Woyzeck“ von Georg Büchner in der Regie von Lilja Rupprecht (Jens Fischer) Saarbrücken „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ (DSE) von Pat To Yan in der Regie von Moritz Schönecker (Björn Hayer) Stuttgart „Princess Hamlet“ von E. L. Karhu und dem Theater Rampe in der Regie von Marie Bues und Niko Eleftheriadis (Elisabeth Maier) Zürich „Afterhour“ von Alexander Giesche (Daniele Muscionico)

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Wenn der Moment der Verletzlichkeit zur Ware wird Der Autor und Regisseur Boris Nikitin über sein für die Mülheimer Theatertage nominiertes Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ im Gespräch mit Sabine Leucht

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Boris Nikitin Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder

magazin

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Was tun? Zum fünfzigsten Todestag des Philosophen Georg Lukács Radikal feministisch und mit schwarzem Humor Während die deutschsprachige und litauische Dramatik den Zerfall unserer Gesellschaften sezieren, löst der Heidelberger Stückemarkt das Distanzproblem mit einer Digitalversion Bücher Wolfgang Engler/Bernd Stegemann

aktuell

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Meldungen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Mable Preach im Gespräch mit Natalie Fingerhut

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stück

was macht das theater?

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Titelfoto: Copperpipe / Freepik.com

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Guerilla Architects: „Spekulatius statt Spekulationen – Berliner Originale“ (Berlin 2020). Fotos Tabea Mathern, CAD-Zeichnungen Spekulatius-Schnittmuster Guerilla Architects



Gurerilla Architects: „Hidden Borough“ (London 2012), rechts: „1 km² Berlin – Akt I: We are sorry“ (Berlin 2020). Fotos Guerilla Architects (oben) / Phil Dera (rechts)



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Lebst du noch, aber wohnst nicht mehr? Immobilienblase? Mietendeckel? Hausbesetzung? Die Guerilla Architects aus Berlin intervenieren am Puls der Zeit ins Stadtbild von Patrick Wildermann

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um Glück hat die Geschichte ein gutes Ende genommen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Berliner Mietendeckel für rechtens erklärt, der Kampf gegen Spekulation und Betongold­ rausch war nicht vergebens. Endlich kann die Frage nach der Qua­ dratmeterfreiheit wieder neu gestellt werden: Wohnst du noch, oder lebst du schon? Das klingt realitätsfern – und ist es natürlich auch. Der Ber­ liner Mietendeckel wurde bekanntlich Ende März vom Bundesver­ fassungsgericht gekippt. Aber zumindest in der Kunst wird man ja noch träumen dürfen. Mit der Mietendeckel-Utopie endete im vergangenen Jahr die Performance „1 km² Berlin – Akt II: A place to be“ des Berliner Kollektivs Guerilla Architects. „Wir wollten eine aktivierende Stimmung erzeugen“, erklärt Gründungsmitglied Benedikt Stoll die Intention. Die Menschen sollten das Gefühl be­ kommen, dass sie den millionen- bis milliardenschweren Investo­ ren und Firmengeflechten aus dem In- und Ausland, die an der Spree Monopoly spielen, nicht ohnmächtig ausgeliefert sind. Die Geschichte der Guerilla Architects selbst begann 2012 mit einer Hausbesetzung. Genauer: an der 55 Great Suffolk Street im Londoner Stadtteil Southwark, ganz in der Nähe des markan­ ten Wolkenkratzerturms The Shard. Hier hatte eine Gruppe von zehn Berliner Architekturstudierenden bei ihrer Google-Street­ view-Recherche Leerstand ausgemacht, den sie auch in der Reali­ tät vorfand. In Gestalt eines fünfstöckigen viktorianischen Lager­ hauses. Die Aktion war allerdings kein Akt der Anarchie im Ton-Steine-Scherben-Sound. Sondern eine Aufgabe im Rahmen des Studiums, begleitet von dem Performance-Künstler Pablo Wendel. Obendrein waren Besetzungen zu der Zeit in England – einem 700 Jahre alten (unterdessen reformierten) Gesetz sei Dank – noch legal. Nach 48 an der Great Suffolk Street verbrach­ ten Stunden inklusive Montage von Dusche und Toilette bekamen die ausländischen Invasoren von der Polizei ihren offiziellen Sta­ tus als Besetzende bescheinigt.

In London war damals schon ein Brandthema, was in Berlin erst einige Jahre später die Gemüter derjenigen Menschen ohne Haus-, Grund- oder Loftbesitz erhitzen sollte: der Komplex aus Gentrifi­ zierung, steigenden Mieten, Wohnungslosigkeit und Leerständen aufgrund von Spekulation. Die Studierenden widmeten sich dem Thema mit der Performance „Hidden Borough“, einer Interventi­ on im Stadtraum: in blauer Arbeitskluft zogen sie durchs Viertel, putzten die Scheiben und verkleideten die Türen unbewohnter Häuser – „um einem Publikum, das es nicht gab, zu vermitteln, welche Ressourcen dort vorhanden sind“, erzählt Stoll. Er betont auch, dass bereits diese frühe Aktion einen wegweisenden Reflexi­ onsprozess und Mindshift angestoßen hat: „Weg vom reinen ­Arbeiten am Raum, an der Materialität – der Kernkompetenz von Architektinnen und Architekten – hin zur Arbeit mit dem Körper und der Frage: Wie agiert man selbst in dem Raum, den man ver­ meintlich gestaltet?“ Von den Gründerinnen und Gründern der Guerilla Archi­ tects sind heute noch vier aktiv, zwei weitere neu dazugestoßen. Sie alle haben einen Architektur-Background und gehen a­ bseits der künst­ lerisch-aktivistischen Beschäftigung Nebentätigkeiten nach. Stoll etwa ist auch in der Lehre im Bereich Städtebau tä­ tig. Seine Mitstreiterin Shahrzad Rahmani bringt als freischaf­ fende Bühnenbildnerin Theaterexpertise vom Maxim Gorki Theater mit, unter anderem als Ausstattungsleiterin des 3. Ber­ liner Herbstsalons. Die anderen Mitglieder des Kollektivs sind heute ebenfalls mit Kunstproduk­tion und Gestaltungsprozes­ sen zwischen Architektur, künstlerischer Forschung und kura­ torischer Arbeit befasst. Als freischaffende Bühnenbildnerin und mit den Guerilla Archi­tects unterwegs zu sein, das sei „ge­ nau die Schnittstelle, an der ich mich verorten möchte“, sagt Rahmani. Beides erlaube ihr, „räumlich zu denken und Räume zu verändern“. In der Frühphase der Guerilla Architects ging es ebenfalls um Verortung. Und zwar konkret in einem alten ostdeutschen Wohnwagen der Marke Bastei, der sich durch kreativ genutztes deutsches Parkrecht als rollendes Büro etablierte. Die ersten ­Arbeiten waren kleine, aber kluge Installationen und Interventio­


guerilla architects

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nen – wie „Gefundenes Fressen“ auf dem Wittenbergplatz, wo sich das Kollektiv auf dem Wochenmarkt weggeworfene Kartons und Essensreste besorgte, um eine temporäre Tafel zu errichten und zum gemeinsamen Kiez-Mittagessen einzuladen – praktische urbane Umnutzungsszenarien also. Im Gegensatz etwa zu den Kolleginnen und Kollegen von raumlabor – die ja bereits seit den Neunzigern in der Kunst- und Theaterszene angedockt sind – ging es bei den Guerilla Architects nie um Festivalarchitekturen oder Pop-up-Bauten. Sondern der Fokus lag und liegt auf dem Performativen und Politischen. Das Kollektiv, zu dem neben ­ ­Rahmani und Stoll heute Anja Fritz, Silvia Gioberti, Nike Kraft und Philine Schneider gehören, setzt mit durchaus beachtlicher Rechercheakribie die Untersuchung eines Phänomens fort, das René Pollesch einst „Stadt als Beute“ genannt hat. Dafür steht vor allem die „1 km² Berlin“-Trilogie, die ihren Ausgangspunkt am übrig gebliebenen Pfeiler der ehemaligen Brommybrücke in der Spree nahm und von dort aus einen For­ schungsradius gen Norden und Süden absteckte. „Wir haben uns monatelang intensiv mit Strategien der Spekulation auseinander­ gesetzt“, so Rahmani. Wofür zum Beispiel das Anschutz-Areal rund um die Mercedes-Benz-Arena ergiebiges Material lieferte, das seinen Namen einem amerikanischen Investor verdankt. ­Zusammen mit der Regisseurin, Autorin und Performerin Alicia Agustín (auch Teil der Gruppe Talking Straight) ist ein filmischer Essay entstanden, der die hochkomplexe Geschichte von Verkauf und Weiterverkauf dieses Fleckchens Stadt erzählt. Von der Treu­ hand zur Bahn-Holding zur Werauchimmer-Estate-GmbH. Mit dem Ergebnis, dass jetzt entseelte Corporate-Architektur ohne Identität auf privatem Firmengelände mitten in der Stadt steht. Wobei die Guerilla Architects eben auch die Frage nach der Ver­ antwortung der eigenen Zunft aufwerfen: „Wir sind alle verstrickt in dieses Stadtbild“, stellt Rahmani klar. Die „1 km² Berlin“-Trilogie – mit antikem Hall als „Tragödie der offenen Stadt“ überschrieben – legt Verflechtungen und Ver­ strickungen offen, gegen die nicht demonstriert wird und gegen die keine Enteignungspetitionen angestrengt werden, weil sie zu undurchsichtig sind. „Es geht nicht nur um Fragen der Mieten, sondern darum, wie der Finanzmarkt den Wohnraum bestimmt und verändert“, sagt Stoll. Die Guerilla Architects haben in Kreuz­ berg Investoren nachgespürt, haben Häuser ausfindig gemacht, die über Tochter-Tochter-Gesellschaften dem berüchtigten ameri­ kanischen Unternehmen Blackrock gehören. „Wie sich ein Kiez verändert, wird ja erst sichtbar, wenn überall die Penthouses auf­ gesetzt werden“, so Stoll. „Aber dann ist es bereits zu spät.“ Der letzte Teil der Trilogie – „The more you know …“ betitelt – nahm unter anderem die Auswüchse der Gig- und Sharing-Economy ins Visier. Dazu gehören sogenannte Serviced Apartments, möblierte Wohnungen auf Zeit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ­globaler Unternehmen wie Amazon. Die kosten gern mal 3000 Euro im Monat, werden aber als neue Freiheit verkauft. Wer braucht noch Eigentum, wenn alles Service ist? Die Guerilla Architects beschäftigen sich aber nicht nur mit urbanem Ausverkauf und floskelverhangenen Immobilien-Show­ rooms der „spektakulären Blicke“ (in denen sie, als potenzielle Kaufinteressierte getarnt, auch schon recherchiert haben). Son­ dern sie sind auch in Vorhaben involviert, die auf eine lebenswer­

Die Guerilla Architects gründeten sich 2012 in London mit dem Ziel, die Grauzonen des Immobilienmarktes performativ auszuloten. Seit 2016 bewegen sie sich mit ihrem mobilen Büro, einem umgebauten Wohnwagen, durch Berlin und machen sich so unabhängig von unkontrollierbaren Entwicklungen auf dem Mietwohnungsmarkt. Das Kollektiv bezeichnet sich selbst als multidisziplinär und setzt sich aus festen Mitgliedern sowie wechselnden Kollaborateurinnen und Kollaborateuren zusammen. Die Ergebnisse ihres letzten Projektes „1 km² Berlin – Die Sprache der Spekulation“ waren 2019 auf der Berlin Art Week und 2020 im Radialsystem zu sehen. Zum Team gehören Anja Fritz, Silvia Gioberti, Nike Kraft, Shahrzad Rahmani, Philine Schneider und Benedikt Stoll. Foto Phil Dera

tere Stadt zielen. Mit der Initiative „Baupalast“ beteiligen sie sich am Modellprojekt Rathausblock, wo – ähnlich dem Haus der ­Statistik am Alexanderplatz – eine Vielzahl von Initiativen zu­ sammenwirkt, um sich zu fragen: „Wie kann man Raum für ­Gemeinwohl schaffen?“, so Stoll. Der Rathausblock in Kreuzberg, zwi­ schen Yorckstraße, Mehringdamm und Großbeerenstraße, umfasst auch das denkmalgeschützte Dragonerareal. Dort soll ein neues Viertel entstehen, möglichst ohne Kommerz und Serviced Apartments. Der „Baupalast“ ist im Moment eine zwölf mal zwölf ­Meter große Holzkonstruktion mit diversen Containern, die der Grundstein für einen gemeinsamen, offenen Arbeits- und Aus­ tauschraum werden könnte. „Wir testen aus, was in Berlin möglich ist und wie wir uns einbringen können“, bilanziert Shahrzad Rahmani die GuerillaPhilosophie. Wer weiß – vielleicht gibt es ja sogar eine Fort­setzung der Geschichte vom Mietendeckel. //

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Berlin, Düsseldorf, Karlsruhe: Intendant:innendämmerung, wohin man blickt. Nach Machtmissbrauchs-, Rassismus- und Sexismusvorwürfen stehen – einmal mehr – toxische Strukturen an Stadt- und Staatstheatern in der Kritik. Aber lassen sich die Fälle tatsächlich über einen Kamm scheren? Hat sich in den vergangenen Jahren wirklich gar nichts getan? Und wie könnte ein back to better nach Corona aus­sehen? Ein Schwerpunkt zur aktuellen Debatte mit dem Schauspieler Michael Klammer, der Theaterkritikerin und ehemaligen Festivalleiterin Renate Klett sowie einem ­Report vom Gerichtsprozess gegen das Maxim Gorki Theater.

Fotos Volksbühne: David Baltzer/bildbuehne.de, Düsseldorfer Schauspielhaus, Maxim Gorki Theater und Badisches Staatstheater Karlsruhe: Johann H. Addicks, Pedelecs by Wikivoyage and Wikipedia und Rainer Lück http://1RL.de/, jeweils Wikimedia Commons/ CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, Bildcollage: Gudrun Hommers

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Lappen hoch, Klima – Vorhang auf, Diversität Der Schauspieler Michael Klammer über Rassismus, eine neue Fronten­bildung am Theater, Angst vor Fehlern und das Recht auf Fauxpas

von Christine Wahl

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err Klammer, als wir Sie fragten, ob Sie Zeit und Lust hätten, mit uns über die aktuelle Theaterkrise zu sprechen – über die Fälle von Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch, die gerade an vielen Häusern publik wurden – waren Sie erst einmal zögerlich: Nein, meinten Sie spontan, Lust hätten Sie eigentlich nicht. Warum nicht? Mir geht es in dieser Debatte zu sehr um einzelne Personen, um Macht und Parteilichkeiten. Die Dinge, die mich am Theater inte­ ressieren – eine gemeinschaftliche Perspektive und, vor allem, Inhalte – kommen mir gerade zu wenig vor. Was meinen Sie mit „Parteilichkeiten“? Im Theater findet zurzeit eine Art Lagerbildung statt. Auf der ei­ nen Seite haben neue Strömungen wie #MeToo oder Black Lives Matter dazu geführt, dass endlich auch Positionen jenseits der weißen Mehrheitsgesellschaft Gehör finden: Stimmen von PoC und BIPoC, aus der schwarzen Community oder von Menschen mit Migrationshintergrund, die Teil der Gesellschaft sind und in ihr sozialisiert wurden, deren Perspektiven bis jetzt aber trotzdem kaum vorkamen. Dass sich das gerade ändert, ist mehr als über­ fällig! Und auf der anderen Seite gibt es diese Strukturen von meist weißen, schon etwas älteren Intendanten, die sich vielleicht in die Ecke gedrängt fühlen, weil jetzt – um es mal auf ein bewusst plattes Bild zu bringen – viele sagen: Das Theater ist ein alter ­heterosexueller Schwanz, der abgeschnitten werden muss. Und diese beiden Cluster treffen im Moment aufeinander. Und bilden ein ziemlich eskalationsträchtiges Soziotop. Genau. Und mein Problem besteht darin, dass ich da eigentlich schon viel weiter bin und statt über Frontenbildung lieber über Stücke sprechen würde, die man jetzt machen könnte oder Ge­ schichten, die wir erzählen wollen – und zwar gemeinschaftlich.

Deswegen sind mir solche Gespräche, wie wir sie jetzt führen, oft lästig. Aber klar; sie sind natürlich absolut notwendig! Wir unterhalten uns ja jetzt in einem journalistischen Medium. Wie wird dieses Gespräch denn im Theater selbst geführt? Vor zwei Wochen meinte ein Kollege zu mir: „Ganz ehrlich, ich sag’ zu den jungen Kollegen nur noch ,Tag‘ und ,Tschüs‘, mehr habe ich mit dem Ganzen nicht mehr zu tun; man darf ja gar nix mehr sagen und muss total aufpassen, was man auf den Proben macht, wie man sich den Leuten nähert – mich interessiert das alles nicht mehr!“ In solchen Situationen denke ich: Natürlich kann man das so extrem sehen, aber es ist dann halt auch ein Endpunkt. Dieses Beleidigtsein hilft keinem weiter, sondern treibt uns immer tiefer in diese Ecken, in diese Lager hinein. Ich muss dazu sagen, dass der betreffende Kollege der liebste Mensch ist, den ich kenne. Der würde niemals übergriffig werden, weil er dazu viel zu empathisch und zu gut erzogen ist. Und ich verstehe einerseits, was er meint mit diesem Auf-der-Hut-Sein, finde aber andererseits, dass es vielleicht auch gar nicht schlecht ist, wenn jetzt alle erst mal ein bisschen auf der Hut sind, bis wir eine neue Lockerheit gewonnen haben. Wie sieht dieses Auf-der-Hut-Sein denn genau aus? Ich will das eigentlich gar nicht so konkretisieren. Generell ist es so, dass vieles, was heute – zu Recht – als Rassismus oder Sexis­ mus definiert wird, früher mit Sätzen abgetan wurde wie: Nimm das mal nicht so ernst oder so persönlich. Rassistisch oder sexis­ tisch waren diese Vorfälle schon immer, nur erfolgte eben kein Widerspruch und wurde keine Korrektur eingefordert. Das ist jetzt anders, und das ist auch gut so! Genauso sinnvoll wie die Tatsache, dass Menschen, die sich bis vor wenigen Jahren nicht getraut haben, in solchen Situationen etwas zu sagen und sich zu wehren, jetzt zu Beschwerdestellen gehen können und inzwi­ schen fast jedes Theater so etwas wie eine Charta oder einen Ver­ haltenskodex hat. Eine Maßnahme, von der ich mir dagegen nicht ganz so sicher bin, ob ich sie für sinnvoll halte, ist die große


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thema

­ nzahl an Petitionen, die jetzt überall aufploppen, um Sachver­ A halte zu verhandeln. Da wäre aus meiner Sicht ein persönliches Gespräch unter den Beteiligten der richtigere Weg; vielleicht mit­ tels einer Mediation oder vor Zeugen. Denn mit diesen Petitionen wird die Situation meist nicht bereinigt, sondern das Thema ver­ größert, indem teilweise gar nicht mehr der oder die Betroffene selbst, sondern das Umfeld sagt, so geht das nicht – und damit einen Sachverhalt aufgreift, der gar nicht wirklich der eigene ist. Spielen Sie auf den offenen Brief an, mit dem sich kürzlich 1400 Theaterleute gegen einen FAZ-Artikel von Bernd Stegemann ­wendeten? Der hatte dort auf die Rassismusvorwürfe des Schauspielers Ron Iyamu gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus ­reagiert und sowohl das Theater als auch Armin Petras in Schutz genommen, einen der von Iyamu in diesem Zusammenhang genannten Regisseure, unter dessen Intendanz Sie selbst von ­ 2006 bis 2012 am Berliner Maxim Gorki Theater engagiert waren. Ach, ich spiele da auf alles und gar nichts an. Ich will mich zu diesem konkreten Sachverhalt überhaupt nicht äußern. Ich kenne ihn nur aus Erzählungen, war selbst in Düsseldorf nicht dabei und kann mich deswegen nicht wirklich dazu verhalten. Auch das war für Sie ein Grund zu zögern, als wir Sie um dieses Gespräch baten: Sie sagten, Sie könnten eigentlich nur für sich selbst sprechen und nicht für und über andere. Wie problematisch finden Sie es, in bestimmten Situationen weniger als Individuum denn als Repräsentant einer spezifischen Gruppe angesprochen und gelesen zu werden? Ja, man repräsentiert sozusagen eine Gruppe von Menschen – in meinem Fall sind das Schwarze und PoC – und gilt dann sozu­ sagen als Anlaufstelle, egal, ob man das immer möchte und rich­ tig findet oder nicht. Früher habe ich das mitunter abgewehrt und gesagt, ich hätte nichts zu dem Thema beizutragen, weil es mich persönlich nicht betrifft. Das finde ich inzwischen falsch: Natür­ lich habe ich eine Haltung dazu, und ich weiß mittlerweile auch, wie andere Menschen den Theaterbetrieb erleben. Sie selbst wurden auf der Bühne seit jeher – worum viele PoC bis heute kämpfen – colourblind besetzt; spielten also klassische Rollen wie Karl in den „Räubern“ oder Ferdinand in „Kabale und Liebe“, ohne dass Ihre Hautfarbe thematisiert wurde. Vor knapp zehn Jahren sagten Sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel, man solle den Rassismus nicht unbedingt im Theater suchen. Das war sehr naiv; so eine Aussage würde ich heute nicht mehr tref­ fen. Ich bin damals wirklich nur von mir selbst ausgegangen und kannte schlichtweg keine rassistischen Vorfälle. Aber natürlich wa­ ren die auch nur deshalb nicht in dieser Form präsent, weil Betroffe­ ne viel weniger darüber sprachen. Deswegen habe ich das Thema verkannt. Definitiv muss überall, wo Menschen sich unterdrückt, beleidigt oder nicht ernst genommen fühlen, diesem Gefühl nachge­ gangen werden – das gilt für Rassismus genauso wie für Sexismus. Ich finde nur, wir müssen schauen, dass wir dabei schnellstmöglich eine Art und Weise des Dialogs finden, die uns nicht in Fronten spaltet, sondern wirklich einen gemeinschaftlichen, konstruktiven Diskurs schafft. Und das sehe ich leider gerade ein bisschen verrut­ schen, das finde ich schade. Zumal diese Frontenverhärtung nicht

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nur zwischen schwarz und weiß existiert, sondern auch zwischen jung und alt, weiblich und männlich, alt und neu, plakativ und per­ formativ und so weiter. Da bricht gerade vieles auf – eigentlich könn­ te es eine total spannende Zeit sein am Theater! Aber? Da muss ich ein bisschen ausholen: Für Menschen, die zu faul oder zu arrogant sind, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, sich mit Feminismus zu beschäftigen oder mit anderen Kulturkreisen, habe ich keinerlei Verständnis. Und wer heute noch am N-Wort festhält, wird dann vielleicht auch zu Recht mal von einer Petition aus dem Sessel gehoben. Aber jenseits dieser unbelehrbaren ­Beleidigten sehe ich eigentlich auch eine ziemlich große „Dafür“Fraktion. Ich glaube, vielen Menschen gehen die Dinge nur schlicht und ergreifend zu schnell. Und wieder andere – zu denen ich auch mich selbst zählen würde – sind dadurch ein bisschen verschreckt, dass einem in diesem Lernprozess, selbst wenn man alles annehmen möchte und komplett pro ist, ständig Fehler un­ terlaufen. Und das, finde ich, wird zurzeit in der Theaterkultur vollkommen ausgeklammert: Du darfst keine Fehler mehr machen. Aber wo Diskurse stattfinden, wo Menschen Gespräche führen und argumentieren, passieren einfach ständig Fauxpas und Unge­ reimtheiten, da trittst du permanent in Fettnäpfchen. In dieser Beziehung müssen wir großherziger werden, denn wenn Leute sich zurückziehen, weil sie das Gefühl haben, sobald ich etwas Falsches sage, werde ich gebrandmarkt oder sogar angeklagt, kann von einer Gesprächsgrundlage keine Rede sein. Die würde darin bestehen, dass man sagt, ich fühle das anders, oder ich sehe das soundso und würde dir gern erklären, wieso. Wird dadurch, dass man keine Fehler machen darf, auch die ­Offenheit auf den Proben beeinträchtigt? Alles wird davon beeinflusst, von den Leseproben über die Auf­ führungen bis zu den privaten Gesprächen. Noch einmal: Respekt und Übersicht sind absolut notwendig und wichtig! Furcht da­ gegen ist immer ein sehr schlechter Ratgeber. Ich habe mal eine Kollegin erlebt, die sich von einem Kollegen beleidigt fühlte und zu ihm sagte, es sei nicht ihre Aufgabe, ihm zu erklären, warum. Der Kollege wusste aber gar nicht, um welches Thema es über­ haupt geht, er kannte den betreffenden Diskurs nicht. Was war denn der Punkt? Das will ich hier gar nicht ausführen, das kann man ja auf alles münzen. Ich dachte in dem Moment nur: Jetzt herrscht absoluter Stillstand zwischen euch, so kommt ihr garantiert nicht weiter, und auf diese Art gewinnt der Kollege natürlich auch nicht die entsprechende Expertise. Was mich am Theater zurzeit stört, ist, dass es nicht verziehen wird, wenn man nicht perfekt über Femi­ nismus, Rassismus et cetera Bescheid weiß. Dabei kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nur sagen: Die allermeisten Menschen wissen tatsächlich nicht perfekt Bescheid. Die allerwenigsten da­ von sind aber komplett beratungsresistent. Was schlagen Sie vor? Wir brauchen schnellstmöglich einen Common Sense darüber, wie man in die Debatten geht, sodass es für beide Seiten möglich


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ist, über alles zu sprechen, ohne Angst haben zu müs­ sen, dass danach kein gemeinsames Arbeiten mehr möglich ist oder man von etwas ausgeschlossen wird. Es muss wirklich ein Bekenntnis existieren, dass wir uns ein paar Regeln geben, unter denen wir uns dann aber tatsächlich aufeinander einlassen – und zu denen auch die Vereinbarung gehört, dass wir nicht jedes Mal, wenn wir beleidigt sind, alles komplett abbrennen. ­Andernfalls – und das ist wirklich etwas, was ich zurzeit befürchte – probieren alle nur noch mit Leuten, mit ­denen sie schon tausend Sachen zusammen gemacht haben und die sie so gut kennen, dass sie sicher sind, sich in ihrer Gegenwart frei bewegen zu können. Und das fände ich sehr schade. Was haben Sie persönlich für Erfahrungen mit dem innertheatralen Dialog gemacht? Ich habe schon öfter jemandem in aller Ruhe unter vier Augen erklärt, warum ich denke, dass die Kollegin die Situation gerade völlig anders wahrgenommen hat als er. Das waren eigentlich immer gute Erfahrungen; die Reaktion lautete meist: Ach so, danke, das war mir gar nicht klar! Umgekehrt ist es mir auch selbst schon pas­ siert, dass Vorwürfe im Raum standen, denen ich mich stellen musste – und die mich überrascht haben, weil ich mir nicht darüber im Klaren war, offenbar jeman­ den verletzt zu haben. Aber man muss die Sachen dann ernst nehmen und nicht beleidigt sein. Haben Sie einen konkreten Wunsch ans Theater, wenn es im Herbst – hoffentlich – wieder öffnet? Nach dem Motto: Back to better? Ich wünsche dem Theater alles Gute! (Lacht) Ich selbst mache zurzeit lieber Film und Fernsehen. Tatsächlich? Ja, da wirst du morgens abgeholt, alle haben gute Laune, und du wirst besser bezahlt. Nein, aber im Ernst: Mich hat die Dynamik am Theater in den letzten Jahren wirk­ lich extrem müde gemacht, dieses ewige Rüssel-anSchwanz.

Michael Klammer, hier als Karl Moor in Antú Romero Nunes’ Inszenierung „Die Räuber“ 2012 am Maxim Gorki Theater Berlin, wurde 1980 in Südtirol geboren. Er absolvierte seine Schauspielausbildung am Schauspielhaus Salzburg und wurde dort zunächst auch Ensemblemitglied. Auf einen Wechsel zum Wiener Volkstheater folgten sieben Jahre am Gorki Theater, wo er außerdem mit Regisseuren wie Armin Petras und Jan Bosse arbeitete. Gastengagements brachten Klammer u. a. ans Residenztheater München, ans Burgtheater Wien und ans Schauspiel Stuttgart. 2020 übernahm er in Oskar Roehlers Fassbinder-Biopic „Enfant Terrible“ die Rolle des Günther Kaufmann. Foto Bettina Stöß

Das müssen Sie erklären! Ich kam mir vor wie ein Zirkuselefant: immer im Kreis laufen, acht Wochen lang unter der einen Überschrift, dann acht Wochen unter der nächsten. Auf mich wirkte das Theater wirklich oft wie eine Überschriften-Kiste: Hier geht ein Lappen hoch, und es ist Klima dahinter, dort öffnet sich der Vorhang, und ich hab Sexis­ mus als Thema. Mich hat das irgendwann gelangweilt: Heute die Alten, morgen die Diversität; ein halbes Jahr lang ist man voll­ kommen auf ein Thema fokussiert – und dann ist es plötzlich nicht mehr wichtig, oder wie? Das ist aber schade fürs Theater, wenn Sie ihm den Rücken kehren! Ach, ich kehre dem Theater nicht wirklich den Rücken, sondern gestehe mir nur ein, dass es auch mal eine Weile ohne geht. Da­

rauf, wie sich die Bühnen jetzt noch mal verwandeln, wie sie mit den ganzen Debatten umgehen, ob eine Umstrukturierung funk­ tionieren kann und wie die Hierarchien nach und nach flacher werden, bin ich schon gespannt! Es scheint ja durchaus Orte zu geben, wo das bereits klappt, gerade zum Beispiel in Basel, wo ich wirklich das Gefühl habe, dass es so etwas wie eine basisdemo­ kratische Entscheidungskraft gibt. Das Theater Basel wird seit Beginn der Spielzeit von einer Kollektiv­ leitung geführt, der unter anderem der Regisseur Antú Romero Nunes angehört, mit dem Sie schon häufig gearbeitet haben. Ja, und wenn mich da ein Thema interessiert – und man mich dabeihaben will – freue ich mich auch, wenn ich wieder mit­ machen kann! //


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Im Namen der Kunst verführbar Das Maxim Gorki Theater Berlin vor Gericht – Ein Überblick über die Ereignisse von Martin Müller und Paula Perschke

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or dem Berliner Arbeitsgerichtsgebäude ist an diesem Tag nicht viel los. Selbst die Klägerin und die Beklagten sind kurz vor Beginn der angesetzten Verhandlung noch nicht aufgetaucht. Die Einzigen, die zuverlässig eintrudeln, sind Journalisten und Presse­ fotografen. Schließlich handelt es sich bei den Beklagten um ­prominente Personen des öffentlichen Lebens – zumindest in der Feuilletonwelt: Shermin Langhoff und Marcel Klett, Intendantin beziehungsweise Geschäftsführer des Maxim Gorki Theaters Berlin. Die Klägerin heißt Johanna Höhmann und arbeitet seit 2018 als Dramaturgin am Haus. Sie befindet sich momentan in Elternzeit und geht juristisch gegen die Nichtverlängerung ihres – befristeten – Arbeitsvertrages vor. Konkret wirft Höhmann ihrem Arbeitgeber „Maßregelung und Diskriminierung“ vor. Sie hatte zunächst entschieden, auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnis­ ses Anspruch zu erheben, und dafür geltend gemacht, dass die Nichtverlängerung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstoße, was besagt: „Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteili­ gen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte aus­ übt.“ Aufgrund ihrer Elternzeit läge somit eine Diskriminierung gegen sie als Frau und Mutter vor. Es ist sicher nicht besonders wagemutig zu behaupten, dass die Causa Höhmann unter normalen Umständen kaum auf ein derartiges öffentliches Interesse gestoßen wäre. Befristete Arbeits­ verträge sind für das künstlerische Personal an Theatern durchaus üblich – auch, wenn diese Branchenpraxis in Diskussionen um fairere Arbeitsbedingungen immer wieder kritisiert wird. Die Umstände sind allerdings nicht normal: Zeitlich parallel zur Klage der Dramaturgin werden Berichte über Machtmissbrauch und ein toxisches Arbeitsklima am Gorki publik – ausgerechnet an jener Bühne, die sich als postmigrantisches Theater den gesell­ schaftlichen Strukturwandel hin zu Diversität, Teilhabe und anti­ hierarchischen Arbeitsformen auf die Fahnen geschrieben hat. Die Intendantin beschwöre ein „Klima der Angst“ herauf, berichtet der

Spiegel in einer Recherche über die Verhältnisse im Hause Gorki. Darin sprechen 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anonym über die unkontrollierten Wutausbrüche und Drohungen seitens Langhoff, die etwa bei Sitzungen zutage träten. Auch körperliche Übergriffig­ keiten soll es gegeben haben. In welchem konkreten Verhältnis die Dramaturgin zu den bislang anonymen Beschwerdestellenden steht, ist zwar unklar. Mutmaßungen über einen Zusammenhang der Nichtverlängerung ihres Vertrages mit den besagten Vorwürfen gegen die Intendantin stehen aber zwangsläufig im Raum. Wenige Sekunden vor dem Verhandlungsstart fehlt von den Streitenden nach wie vor jede Spur. Dafür betreten die Rechts­ anwältin der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA), Sabine Assmann, und Peter Otto, der Anwalt des Maxim Gorki Theaters, den Verhandlungssaal. Schweigend sitzen sie vor ihren dicken Mappen und warten. Als das Gericht eintrifft, bemü­ hen sich die Fotografen um ein Foto. Auf die Streitenden selbst – das ist inzwischen klar – muss niemand mehr warten. Sie werden der Verhandlung fernbleiben. Das Gericht informiert die knapp zwanzig anwesenden Personen zunächst, dass arbeitsrechtliche Prozesse mit Bezug auf Bühnenangelegenheiten generell vorab vor dem Bühnenschiedsgericht zu klären versucht werden, bevor ein Arbeitsgericht sich ihrer annimmt. Das Bühnenschiedsgericht schließt sich aus dem Deutschen Bühnenverein und der GDBA zusammen. Zu einem Justizspektakel – das zeichnet sich schnell ab – soll es nicht kommen. Grund dafür ist die rasche Bekanntgabe, dass sich beide Streitparteien vorab auf einen Vergleich geeinigt haben. Er besagt, dass Höhmanns Vertrag wie gehabt zum Ende der Saison, am 31. Juli 2021, auslaufen und nicht verlängert werde. Außerdem seien beide Parteien übereingekommen, dass die ­Dramaturgin eine Abfindung in Höhe von 15 000 Euro brutto ­erhalte. Damit gilt der Rechtsstreit offiziell als beigelegt. Nach nur fünf Minuten wird die Verhandlung geschlossen, das Ergebnis wirkt ernüchternd. Die Enttäuschung der anwesenden Presse­ vertreterinnen und -vertreter bleibt nicht unbemerkt. „Meine Damen und Herren von der Presse“, erklärt Gerichtsobmann ­ ­Gerhard Binkert, „das (Ergebnis) ist für Sie nicht so prickelnd, aber der Rechtsstreit findet wegen der Parteien und nicht wegen


archiv

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Ihnen statt.“ Auch eine Schweigeklausel ist in der Einigung fest­ gehalten. Sollte es also weiterhin still bleiben um die Verhältnisse im Gorki? Am Tag nach der Verhandlung erscheint auf der Website des Hauses – immerhin – ein Statement. Das Theater demonstriert sich als Einheit: Die Stellungnahme stammt von den Ensemblemitglie­ dern, der Intendantin und dem seit 2019 berufenen künstlerischen Beirat, der Langhoff in Fragen der Leitung unterstützt. Man ver­ weist auf die revolutionäre Arbeitsweise des Hauses, betont noch einmal den bahnbrechenden Ansatz des postmigrantischen Thea­ ters, mit dem Langhoff seit ihrem Intendanzantritt 2013 die Stadtund Staatstheaterszene aufgemischt hatte, und bekräftigt den Vor­ bildcharakter, den die radikale Diversität des Hauses für eine tatsächlich unter Wandlungsdruck befindliche Kulturszene besitzt. Dem Wandel der eigenen, hausinternen Machtstrukturen mit all ihren Herausforderungen nehme sich das Gorki dabei eben­ falls an, heißt es weiter – seit anderthalb Jahren. Man suche intensiv nach Lösungen sowohl für strukturimmanente Defizite als auch für persönliches Fehlverhalten. Final zeigen sich die Verfasserinnen und Verfasser des Statements „hoffnungsvoll und entschlossen“. Sie glaubten fest daran, schreiben sie, „dass das Gorki sich neu er­ finden und Vertrauen wiederaufgebaut werden kann“. Darüber allerdings, welche konkreten Maßnahmen zu die­ sem neuen Vertrauen führen sollen, schweigt sich die Mitteilung

Macht kaputt, was euch kaputt macht: Auf der Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters lebt die Revolution, aber hinter den Kulissen soll ein toxisches Klima herrschen – hier eine Szene aus Oliver Frljićs Inszenierung „Anna Karenina oder Arme Leute“ mit Abak Safaei-Rad, Lea Draeger und Hanh Mai Thi Tran (v. l.) aus dem Jahr 2019. Foto Ute Langkafel / Maifoto

konsequent aus. Auch auf direkte Nachfrage beim Theater ver­ weist ein Sprecher lediglich auf bereits stattgefundene Maßnah­ men, etwa die besagte Berufung des künstlerischen Beirates oder die Erweiterung des Leitungsteams um sechs Köpfe seit der Spiel­ zeit 2018/19. Ab der kommenden Saison solle es, so der Sprecher weiter, hier zudem mehr Entscheidungskompetenz geben. Auch werde seit einem Jahr monatlich eine Ensemblekonferenz einbe­ rufen, und zum „Konflikt- und Beschwerdemanagement“ habe man, vorerst kommissarisch, eine Clearingstelle eingerichtet, die künftig fester Bestandteil der Struktur am Haus werden soll: „Wir führen die konstruktive Debatte weiter, mit allen Beteiligten aus den vorgenannten Gremien, und beziehen zeitnah auch alle wei­ teren Beschäftigten in die laufenden Prozesse ein.“ Kurzum: Wie einig das Haus im Kern tatsächlich ist, bleibt im Dunkeln, und die Leitung des Hauses verweilt weiterhin in der Deckung. Dafür meldet sich das ensemble-netzwerk postwendend mit einer Reaktion auf das Gorki-Statement zu Wort. Er solidari­

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siere sich mit allen Betroffenen, die den Mut aufgebracht hätten, das Erlebte öffentlich zu machen, schreibt der Verein in seiner Pressemitteilung. „Denn wir wissen, erst wenn sämtliche be­ triebsinternen Instrumente der Interessenvertretung nicht grei­ fen und Mediations- und Kontrollinstanzen versagen, bleibt nur noch eine Möglichkeit, um sich zu helfen: öffentlicher Druck.“ Beschäftigte, die Missstände offenlegen, sollten nicht – wie mutmaßlich im Fall Johanna Höhmann geschehen – um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, heißt es weiter. Schwerwiegend kommt hinzu, dass Shermin Langhoffs Vertrag als Gorki-Inten­ dantin kurz vor Publikwerden der Machtmissbrauchsvorwürfe trotz gescheiterter Mediationsverfahren bis 2026 verlängert wor­ den war, während sich andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezwungen sehen, das Theater aufgrund des von ihr geschaffenen Klimas zu verlassen. Mit Verweis auf die Verlautbarung, dass Langhoff in einem absolutistischen Anflug „Das Gorki bin ich“ gebrüllt haben soll, findet das ensemble-netzwerk dazu deutliche Worte: „Eine Intendanz wird als Posten verliehen und vor allen Din­ gen anvertraut. (...) Das Projekt Gorki als postmigrantisches Theater gehört niemandem, sondern ist das Produkt der Arbeit aller Betei­ ligten in der Community. Projekte und die Leitung eines Theaters sind nicht mit dem Genius eine:r Intendant:in verbunden.“ Aus Sicht des ensemble-netzwerks muss ein Strukturwan­ del her, hin zu dezentralisierter Macht, stärkeren Tarifverträgen und einer größeren Entscheidungsgewalt des Ensembles. In Re­ aktion auf den Fall Höhmann wird konkret ein Moratorium für die Nichtverlängerung von Verträgen bei Leitungsneubesetzung

Selfportrait Giacometti

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gefordert. Anstelle von Selbstverpflichtungen sollen rechtlich bin­ dende Regelungen eingeführt werden. Hier ist also die Politik gefragt – weshalb wir uns umgehend an Berlins Kultursenator Klaus Lederer wenden: Wie steht es denn de facto um die Aufarbeitung der zurzeit in der Hauptstadt ge­ häuft auftretenden Machtmissbrauchsfälle an Theatern? Schließ­ lich ist es erst wenige Wochen her, dass Klaus Dörr, der Intendant der Berliner Volksbühne, nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs und der sexuellen Belästigung zurückgetreten ist. Respekt und Anteilnahme gebühre zunächst denen – so ­betont Lederer, ähnlich wie das ensemble-netzwerk in der Causa ­Gorki –, die trotz der Heftigkeit des Erlebten auf die Missstände aufmerksam gemacht haben. Der Impuls zur Veränderung hänge von ihnen ab. „Es geht dabei nicht nur um die Bühnen selbst“, ­sondern die Ereignisse forderten „natürlich auch uns Kultur­poli­ tiker:innen einen unablässigen Lern- und Veränderungs­prozess ab, um die Strukturen unserer eigenen Behörden auf ihre Trag­fähigkeit hin zu befragen und um in den Einrichtungen Prozesse der Verän­ derung vorantreiben zu können“. Ein Punkt, der dabei angegriffen werden müsse, so Lederer weiter, sei die Besetzung künstlerischer Leitungen mit starken Persönlichkeiten, die im Namen der Kunst verführbar seien, „größere Freiräume in Anspruch zu nehmen, als es in anderen Arbeitskontexten toleriert würde“. Zu den weiteren Punkten, die der Kultursenator erklärtermaßen im Auge behalten will, gehören prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Hierarchieorien­ tierung, Herrschaftsstrukturen und die Abhängigkeit der Ensem­ blemitglieder von Einzelpersonen beziehungsweise Netzwerken. „Dabei stehen für mich selbstverständlich Kriterien und Verfahren der Auswahl künstlerischen Leitungspersonals genauso zur Debat­ te wie eine stärkere Beteiligung aller an Leitungsentscheidungen und Strukturveränderungen in den Häusern, die Bedingungen län­ gerfristiger Bindungen von Künstler:innen an die Betriebe, der ­Abbau der Ungleichheiten zwischen institutionell ­geförderten Ein­ richtungen und Akteur:in­nen und Kollektiven der freien Szene sowie langfristige und auf Augenhöhe angelegte ­ Modelle der ­Kooperation zwischen beiden.“ Für die Zukunft stellt Lederer daher die Arbeit an Musterverträgen, Mindestbedingungen und Weiter­ bildungsmöglichkeiten sowie eine stärkere „Gewaltenteilung“ in­ nerhalb der Betriebe in Aussicht. Das Gorki-Statement sei ein „Schritt in die richtige Richtung“, meint Lederer – wobei er bekräf­ tigt, dass das Theater bei der Neuerfindung selbstverständlich nicht auf sich allein gestellt bleiben werde. Es existiere generell ein enger Draht zu den Häusern. Aus dem Gorki-Statement lese er indes et­ was heraus, was er sich von allen wünsche: „Die Einsicht in Fehler, Mut darüber zu reden und die Kraft, wirklich etwas zu verändern.“ Mit Lederer als Schirmherr hat sich inzwischen eine ge­ meinsame Initiative des ensemble-netzwerks, der Beratungsstelle Diversity Arts Culture und des LAFT Berlin gegründet: das Modell­ projekt Fairstage zur strukturellen Verbesserung der Arbeits­ bedingungen und zum Abbau von Diskriminierungen an Berliner Sprechtheaterbühnen. Hiermit sollen Lösungsvorschläge erarbei­ tet werden, um einen grundlegenden strukturellen Wandel voran­ zubringen. Ein erstes Treffen hat bereits stattgefunden, im Juni sollen erste Ergebnisse von Fairstage veröffentlicht werden. Auch das Gorki Theater will Ende dieses Monats mit seinen Ergebnis­ sen an die Öffentlichkeit treten. Wir bleiben gespannt. //


Jeder weiss jetzt, dass Widerspruch-Vertragenkönnen ein hohes Zeichen von Cultur ist. (Friedrich Nietzsche)

Spielzeit 2021 / 2022

W I [E] DER ! N E H C E R P S


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Theater ist kein Finanzamt Die Kritikerin und ehemalige Festivalleiterin Renate Klett über den schmalen Grat zwischen Ausnahmezustand und Veränderungsdruck am Beispiel der Frauenbewegung im Theater von Dorte Lena Eilers

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enate Klett, Sie blicken auf eine lange Karriere als Dramaturgin, Festivalleiterin und Theaterkritikerin zurück und kennen somit den Theaterbetrieb in- und auswendig. Berühmt wurden Sie 1980, als Sie im Kölner Stollwerk, einer Nebenspielstätte des dortigen Schauspiels, das 1. Internationale Frauentheaterfestival veranstalteten – welches sogleich einen veritablen Skandal auslöste. Sie wurden vor den Stadtrat zitiert, weil Sie an drei von neun Tagen nur Frauen im Publikum zulassen wollten. Durchaus ein Angriff auf die damalige männlich dominierte Welt. Auch heute stehen ungleiche Machtverhältnisse wieder öffentlich zur Diskussion. Bedarf es solch radikaler Setzungen, um alte Strukturen zu verändern? Männer im Publikum auszuschließen war tatsächlich keine For­ derung von mir, sondern von drei Gruppen, die ich einladen woll­ te. In der damaligen Frauenbewegung waren derartige Setzungen absolut üblich. Eine weitverbreitete Ideologie. Ich fand das nie so richtig gut, weil ich immer dachte, so viele Männer werden da eh nicht kommen. Die können also keinen Schaden anrichten bezie­ hungsweise wenn sie kommen, können sie noch was lernen. Da ich die Gruppen aber unbedingt dabeihaben wollte, setzte ich drei männerfreie Tage an. Und der Skandal nahm seinen Lauf. Ja, es gab einen riesigen Wirbel. Der damalige Kulturdezernent Peter Nestler zog seinen versprochenen Zuschuss sofort zurück. Er könne als kommunaler Förderer nichts unterstützen, das Men­ schen diskriminiere, hieß es. Ein riesiges Theater! Ich habe noch versucht, die Sommerakademien an der Freien Universität Berlin ins Feld zu führen, die auch nur für Frauen waren. Tausende von Frauen nahmen daran teil – und die FU ist ja ebenfalls staatlich finanziert. Hat aber niemanden in Köln interessiert. Irgendwann kam jemand auf die Idee, einfach einen anderen Veranstalter zu

suchen. Und das war die Lösung! Ich fragte den Kölner Frauen­ buchladen, der auch sofort einsprang. Jürgen Flimm war damals Intendant am Schauspiel Köln. Wie hat er reagiert? Sehr toll! Er hat immer gesagt: „Ich halte mich aus allem raus, mach du das.“ Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Also alle Probleme gelöst? Denkste! Ich war zunächst ganz glücklich, dass ich auf höchster Ebene alles geklärt hatte, bis mir plötzlich einfiel: Um Gottes Wil­ len, der Feuerwehrmann! Der muss ja aufgrund des Brandschutzes im Raum sein! Ich hab mir die Finger wund gewählt, in Köln, Düs­ seldorf und Bonn alle Feuerwehrwachen nach einer Feuerwehrfrau abgeklappert – gab’s einfach nicht. Ich hab gedacht: Es kann doch nicht wahr sein, dass alles gelöst ist, aber daran scheitert es jetzt! Über einen Tipp kam ich zum Glück mit einem Feuerwehr­ mann in Kontakt, der sehr verständnisvoll war. Er willigte ein, auf der Bühne in einem Kabuff zu sitzen, das wir ihm gebaut hatten. Dort war er für die Künstlerinnen und das Publikum nicht sicht­ bar, hatte selbst aber alles im Blick. „Ich würde Sie nur bitten“, sagte ich ihm, „dass Sie, bevor der Einlass losgeht, schon drinnen sitzen, weil die Mädels Sie sonst zerreißen. Ich hole Sie nach der Vorstellung wieder ab und führe Sie unbeobachtet hinaus.“ Der Feuerwehrmann fand das alles ganz lustig. Er hat mich wirklich gerettet! Was interessierte Sie künstlerisch daran, nur Frauengruppen einzuladen? Es gab damals sehr viel Frauentheater. In Deutschland überwie­ gend Laiengruppen, die meisten kennt man heute nicht mehr, aber das Aachener Frauenkabarett beispielsweise war wirklich hervorragend. Die berühmtesten Gruppen kamen aus dem Aus­ land, wie die Spiderwomen aus New York, eine Gruppe, gegründet von drei tollen First-Nation-Schwestern, die das Festival eröffnet


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haben. Ich wollte ein breites Spektrum zeigen. So lud ich zum Beispiel auch die bildende Künstlerin Ulrike Rosenbach ein, die zuvor bei der Documen­ ta groß gefeiert worden war. Sie verhandelte in ihrer Perfor­ mance „Narzissen scheiden weg“ das Thema Geburt. Michèle Fou­ cher vom Théâtre National de Strasbourg war dabei mit ihrem Solostück „La Table“ über Frau­ en und ihre Beziehung zum Tisch – also den Ort, an dem sie Essen auftragen, Babys wickeln und so weiter, eine sehr witzige und tolle Arbeit –, sowie die ver­ rückten Frauen von Beryl and the Perils aus London. Vom Schau­ spiel Frankfurt kamen „Die Zofen“ in der Regie von Lore ­Stefanek und Gabriele Jakobi, es gab das Lesbentheater Wuppertal, das Aa­ chener Frauenkabarett und die Witwen aus Berlin. Und natürlich Franca Rame. Die Stücke ihres Manns Dario Fo wurden damals überall gespielt, aber Franca Rame, die ja auch eigene Stücke schrieb, war zu dem Zeitpunkt noch nie in Deutschland aufgetreten.

intendant:innendämmerung

Die Burning-Issues-Konferenzen schlossen anfangs ebenfalls Männer aus. Harmlos gegenüber der Frauen­ bewegung in den achtziger Jah­ ren! Ich habe auf der zweiten Konferenz, die im Rahmen des Berliner Theatertreffens statt­ fand, einen kleinen Vortrag ge­ halten. Da stand irgendwo am Eingang ganz lässig „Women only“. Damals hätte so was nie genügt. Man hätte den Eingang bewacht. Es war wirklich mani­ feste Politik. Paragraf eins: Kein Mann darf rein. Punkt. (Lacht) Wahnsinn! Aber klar: Eine Kampfbewegung muss am An­ fang immer besonders streng sein, weil sie ja den richtigen Weg noch nicht gefunden hat. Renate Klett, geboren 1946 in Oberstdorf, lebt und arbeitet als freie Autorin sowie Tanz- und Theaterkritikerin in Berlin. Zuvor war sie als Festivalleiterin sowie Dramaturgin tätig, u. a. in T ­ übingen, Köln, Stuttgart und Hamburg. 1980 begründete sie in Köln das 1. Internationale Frauentheaterfestival und im Jahr darauf zusammen mit Ivan Nagel das Festival Theater der Welt. Dort übernahm sie mehrfach die Programmdirektion und die künstlerische Leitung. Als Mitglied internationaler Theaterjurys bereiste sie die Welt von Tunesien über Rumänien bis nach Russland. Außerdem

Und weil man mitunter das Gefühl hat, dass sich nur durch sehr starke Setzung Strukturen verändern lassen. Nehmen wir die Frauenquote beim Theatertreffen: Fünfzig Prozent der eingeladenen Inszenierungen müssen von Frauen stammen. Ich bin völlig gegen diese Quote.

arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in New York, London,

In den USA gibt es hin und Ja, aus künstlerischer Sicht ist Paris, Rom und Wien. Foto Lebensortvielfalt, CC BY-SA 4.0 https:// wieder Theaterabende, die aus­ sie extrem ambivalent: Kunst creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons sollte keiner Quote unterliegen. schließlich oder zumindest in einzelnen Szenen nur vor einem Gleichzeitig berichten aber Re­Publikum of Color gezeigt werden. gisseurinnen, dass Intendantinnen Im Zuge der Rassismusdebatte am Schauspielhaus Düsseldorf forund Intendanten ihnen seit Einführung der Quote die große Bühderten jüngst 22 Theater­macher of Color in einer Petition eine ne anbieten, um für das Theater­treffen konkurrenzfähig zu sein. „unabhängige, selbstorganisierte Freie Bühne“, um „dem instituMan kann Quoten im Aufsichtsrat einführen oder beim Wasser­ tionellen Rassismus“ zu entkommen. Haben Sie vor dem Hinterwerk, das finde ich richtig. Aber im Theater sind sie kontraproduk­ grund Ihrer Erfahrungen dafür Verständnis? tiv, sogar diffamierend. Frauen sind stark! Aber mit Quote gelten sie Nein, wie gesagt: Ich war auch damals mit der Trennung nicht immer nur als Quotenfrauen. Ich war nie Quotenfrau. Ich hab glücklich. Es durften noch nicht einmal männliche Journalisten in ­einfach meine Sachen gemacht, und ich hab sie gut gemacht. Das den Raum. Interessante ist ja, dass es bereits vor dreißig Jahren schon einmal ein Frauennetzwerk im Theater gegeben hat, einen Verein namens Diesem Trend begegnet man heute allerdings wieder: Es gibt FiT – Frauen im Theater, den ich mitbegründet habe. Auch wir or­ ganisierten eine Veranstaltung beim Theatertreffen – und zwar mit Stimmen, die fordern, dass etwa das aktuelle Stück von She She Männern im Publikum! Gerade die sollten da ja rein, die sollten da Pop, „Hexploitation“ über Frauen ab fünfzig, nur von Frauen rezensiert werden soll. was lernen! Ein Fluch der Frauenbewegung ist leider, dass sie sich Das finde ich Quatsch. Vielleicht würden Frauen es besser verste­ ihrer Geschichte nicht bewusst ist. Es hat alles schon gegeben, siehe hen. Aber warum sollten nicht auch Männer das Stück rezensie­ Suffragetten und so weiter – nur haben die Frauen das vergessen. ren? Die Frauenbewegung war damals sehr radikal. Die Spiderwo­ men haben ihre Keine-Männer-Politik auf der ganzen Welt Trotzdem fragt man sich immer wieder, warum wir nach wie vor durchgesetzt, selbst in Ländern wie Chile, wo alles noch viel über Genderungerechtigkeit debattieren müssen, wenn doch die schwieriger war. Geschichte der Frauenbewegung bereits so lang ist.

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Es ist ja nicht so, dass gar nichts passiert wäre. Ich erinnere mich noch heute an eine Situation am Schauspiel Frankfurt, wo ich in den siebziger Jahren in der Zeit des berühmten Mitbestimmungs­ modells Regieassistentin war. Eine sehr anstrengende Zeit, alles musste im großen Gremium diskutiert werden, aber auch eine sehr tolle Zeit. Nach zwei Jahren wurden die Verträge der Regie­ assistenten neu verhandelt. Meine drei männlichen Kollegen beka­ men alle ganz selbstverständlich die Zusage, eine Inszenierung er­ arbeiten zu dürfen – und ich bekam sie ebenso selbstverständlich nicht. Also sagte ich zu Peter Palitzsch, einem der Direktoren – da­ mals wohlgemerkt die Ikone der Progressivität am deutschen Thea­ ter: „Ich will auch inszenieren.“ Seine Antwort weiß ich bis heute. Er bekam erst mal einen Hustenanfall, dann schaute er mich an und sagte ganz freundschaftlich: „Aber Renate, du als Frau? Das geht doch nicht!“ Ich schwöre es, wortwörtlich. Da war ich erst mal platt. Ich versuchte ihn noch mit Verweis auf Ruth Berghaus zu überzeugen, nannte Arianne Mnouchkine, Joan Littlewood – nichts zu machen. Am progressivsten Theater Deutschlands! Wie haben Sie reagiert? Palitzsch wollte mich überreden zu bleiben und sagte: „Da wir dich wertschätzen, bieten wir dir das gleiche Gehalt an wie deinen männlichen Kollegen.“ Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich weniger bekam. Ich aber habe geantwortet: „Nee, lieber Peter, ich krieg gar kein Gehalt mehr. Ich kündige hiermit.“ Und bin gegangen. Ich ging dann nach Paris, habe bei Ariane Mnouchkines Proben zu „L’Age d’or“ zugeschaut und bei Klaus Michael Grübers

drAmA|TIK |er|Innen FeST|IVAL graz dennoch!

über morgen 8.–13. 6. 2021

dramatikerinnenfestival.at

„Faust-Salpêtrière“ mitgearbeitet. Das war alles viel toller. Heute würde so etwas keiner mehr sagen. Also: Es hat sich schon etwas getan, aber natürlich noch nicht genug, das ist klar. Interessant am Frankfurter Mitbestimmungsmodell ist aber auch die Doppelmoral: Alle sind gleich, aber einige sind gleicher. Äußeres Image und innere Strukturen divergieren mitunter drastisch. Darüber stolpern gerade eine Reihe an Intendantinnen und Intendanten wie Peter Spuhler am Staatstheater Karlsruhe, Klaus Dörr an der Volksbühne Berlin, Wilfried Schulz am Düsseldorfer Schauspielhaus und jüngst Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater Berlin. Sie signalisieren nach außen: Wir sind feministisch, antirassistisch, nicht hierarchisch – aber das, was real im Theater stattfindet, ist eher das Gegenteil. Was sagen Sie zu dieser Doppelmoral? Ich kann das nur schwer beurteilen, weil ich nicht mehr im Theater arbeite. Aber provokativ gesagt: Ich verstehe all die Anklagen gegen Intendanten wegen sexueller Belästigung. Sie müssen laut und deutlich erhoben werden. Auch wenn es rassistisch wird, wie es wohl in Düsseldorf der Fall war. Über den Intendanten und die Re­ gisseure aber, und da spreche ich aus meiner langjährigen Arbeit am Theater, wurde immer geschimpft – und wie! Das jedoch gehört in die Kantine – und nicht in die Zeitung. Man ist schließlich am Theater und nicht im Finanzamt. In der Hitze der Probe rutscht einem manchmal etwas raus. Was soll’s? Nichts, weswegen man beleidigt sein muss und gleich den nächsten Journalisten anruft. Klar, Theater ist ein Kochtopf, wo die Emotionen auch mal überschießen. Man hört aber auch von Fällen, wo eine Mitarbeiterin von einer Person aus der Leitungsebene regelmäßig mit „Fotze“ tituliert wurde. Was? Nein! Das kann doch nicht sein. Dem oder der hätte ich eine geknallt, wirklich. Was man in der Beschreibung des Spezialfalls Theater mitunter auch vergisst, sind die Hierarchien. Die Person aus der Leitungsebene nimmt sich scheinbar das Recht heraus, eine in der Hierarchie niedriger stehende Person zu beschimpfen. Was würde passieren, wenn es umgekehrt wäre? Klar, dem Intendanten, der Intendantin kann im Zweifelsfall nichts passieren, anders als den Schauspielerinnen und Schau­ spielern. Weil sie im Prinzip per NV-Bühne-Vertrag sehr leicht gekündigt werden können. Ja, sie trauen sich nicht. Trotzdem finde ich es schlimm, wie Sher­ min Langhoff derzeit öffentlich angeklagt wird. Ich kenne sie recht gut. Sie kann ungeheuer rumbrüllen, andere Intendanten tun das auch – aber Intendantinnen dürfen das nicht? Dann aber sollte gelten: gleiches Recht für alle. Auch die Schauspieler und Schauspielerinnen dürfen zurückbrüllen. Andernfalls sind wir fast schon beim Militär, wo die unteren Ränge zu k ­ uschen haben. Oder es brüllt eben keiner. Schwierig, aber auch nichts Neues. Vielleicht wird in der Presse gerade nur so viel darüber geschrie­ ben, weil im Lockdown sonst nichts los ist.


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intendant:innendämmerung

Oder weil tatsächlich eine Art Kulturwandel in der Arbeitswelt einsetzt, der auch an den Theatern nicht vorbeigeht. Es heißt: Wir glauben nicht mehr daran, dass ein Schauspieler, eine Schauspielerin angebrüllt oder gebrochen werden muss, um gute Leistungen zu bringen. Natürlich nicht! Das sind ja faschistoide Methoden. So kann’s nicht sein. Aber es gibt auch Theater, in denen es funktioniert, Herrgott noch mal. Es ist ja nicht jeder einer, der rumbrüllt und beleidigt. Es ist schwierig abzuwägen. Auch von außen. Sie sagten vorhin in Bezug auf die Frauenbewegung, dass Aktionsbündnisse, die etwas verändern wollen, auch durchaus radikal sein müssen. Die Strukturen im Theater scheinen ja wirklich zäh. Entweder man arrangiert sich damit, oder man geht – das waren auch bei Ihnen in Frankfurt die Alternativen. Der Gang in die Presse scheint in diesem Zusammenhang ein Mittel, um durch einen gewissen Druck Veränderungsprozesse anzustoßen. Hatten Sie in Ihrer Karriere selbst schon einmal das Bedürfnis, an die Presse zu gehen? Nein. Die Presse ist doch der Feind, da geht man doch nicht hin. (Lacht) Wenn ich Krach hatte – und ich hatte oft Krach mit Leuten – habe ich das mit denen selbst geklärt. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Zeit in München, als ich Programmdirektorin des Festivals Theater der Welt war. Die beiden Intendanten Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen und Günther Beelitz am Bayerischen Staatsschauspiel, mit denen ich zusammenarbeiten musste, konnten sich nicht ausstehen und haben mich dadurch manchmal zur Weißglut gebracht. Zum Glück gab es noch August Everding, der als Generalintendant der Bayerischen ­ Staatstheater wie immer über allem schwebte. Wenn es gar nicht mehr weiterging, stürmte ich sein Büro, das riesig war, wie bei Hofe, nur ohne Dienerschaft. „Oh Frau Klett“, sagte er dann, „was gibt es denn jetzt schon wieder? Wen soll ich anrufen? Kohl? ­Stoiber? Zehetmair?“ (Lacht) Im Grunde ging es meist um ganz banale Sachen, etwa Terminabsprachen, bei denen sich Dorn und Beelitz nicht einigen konnten. Ich wäre damit aber nie an die Presse gegangen. Weil Sie über Everding eine höhere Stelle einschalten konnten. Heute sind Kulturbehörden Anlaufstellen, die aber, etwa im Falle Peter Spuhlers in Karlsruhe, mitunter Jahre brauchen, um aktiv zu werden. Ja, bei Everding hatte ich keine Skrupel. Er war schließlich der Präsident des Festivals – dafür, dachte ich, kann er auch mal was tun. Heute wäre die Bühnengenossenschaft eine Anlaufstelle. Ein leider etwas verschlafener Verein. Oder das ensemble-netzwerk. Für Fälle sexueller Belästigung gibt es seit einiger Zeit die Vertrauensstelle Themis. Genau. Aber ich will noch einmal betonen: Wenn ich zurück­ schaue, sind wir Frauen schon ein ganzes Stück weiter auf dem Weg nach oben. Die Situation wird sich auch weiterentwickeln. Ich war einfach zu früh dran. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen Frau und Mann heutzutage sowieso. Die Gen­ derdiskussion kommt mit ganz neuen Herausforderungen auf uns zu. Darauf freue ich mich schon! //

15. juli bis 29. aug.

spielzeit 2021 telfer symphonie (ua) christian spitzenstätter und peter lorenz türkisch gold von tina müller

indien von alfred dorfer und josef hader wolf! von raoul biltgen

vater (ua) von hans salcher und ekkehard schönwiese rut (öea) von christoph nix

allerhand kreuzköpf (ua) gschichten und gstalten aus den tiroler alpen - nach karl schönherr fettes schwein von neil labute

hochgeschätzt und ausgestopft das leben des angelo soliman (ua) auftragswerk der tiroler volksschauspiele reisebuch aus den österreichischen alpen liederzyklus von ernst krenek intendant prof. dr. christoph nix

alle aufführungen mit

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protagonisten / TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

/ TdZ Juni 2021  / auftritt

Buchverlag Neuerscheinungen

Georg Lukács gehört zu den herausragenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften sind ein Schlüssel zur Ideengeschichte der Moderne und bieten auch Ansätze für die Gegenwart. Ein Bezug auf das Theater durchzieht sein gesamtes Schaffen. Doch die Rezeption seiner Werke ist gekennzeichnet von Brüchen. Dieser Reader mit Texten zum Theater, der zu Lukács’ 50. Todestag erscheint und einen vorurteilsfreien Blick ermöglichen soll, macht schwer erhältliche Beiträge wieder zugänglich und erstveröffentlicht auch Fundstücke aus den Archiven. Eine Einleitung von Dietmar Dath bezeugt die ungebrochene Relevanz des Denkens von Lukács.

Theater und Leben – nicht zu trennen für Julian Beck! Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist war vor allem eins: ein Mann des Theaters. Zusammen mit seiner Frau, der Schauspiel-Ikone Judith Malina, gründete er das weltberühmte Living Theatre, eine Institution gegenkulturellen Aufbegehrens. Mit ihren Stücken spielte die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten in Amerika, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln.

Georg Lukács Texte zum Theater Herausgegeben von Jakob Hayner und Erik Zielke

Julian Beck Das Theater leben Herausgegeben von Thomas Oberender

Klappenbroschur mit 312 Seiten ISBN 978-3-95749-362-0 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Paperback mit 280 Seiten ISBN 978-3-95749-343-9 EUR 20,00 (print) / EUR 16,99 (digital)

Das Theater Vorpommern besteht aus den Theatern in Stralsund, Greifswald und Putbus mit den Sparten Musiktheater, Ballett/Tanz, Orchester und Schauspiel. 2012 übernahm Dirk Löschner die Intendanz des größten Theaters im Nordosten Deutschlands mit neuen Impulsen für ein Stadttheater ausgeprägter Vielfalt. Der Band stellt die Arbeit in den einzelnen Sparten vor und nimmt dabei insbesondere Innovationen wie die zeitgenössische Oper, ungewöhnliche Tanzproduktionen und neuartige Angebote für Kinder und Jugendliche in den Blick. Bemerkenswert sind Produktionen spartenübergreifender Zusammenarbeit und internationale Kooperationen.

Theater braucht Räume. Räume, um neue, experimentelle Ästhetiken zu entwickeln und für soziale Experimente. Aber auch einen öffentlichen Raum für die Auseinandersetzung des Publikums mit der darstellenden Kunst, mit sich selbst und untereinander. In diesem Buch haben die Räume der Freien Szene in der Theaterstadt Berlin selbst einen Auftritt.

Mit „Das Theater leben“ liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters mit einem Vorwort von Thomas Oberender und Texten von Judith Malina und Milo Rau.

33 Berliner Spielstätten werden in dieser reich bebilderten Publikation porträtiert. Ein erster Versuch, die freien Räume für die darstellenden Künste in ihrer Breite und Unterschiedlichkeit abzubilden.

Theater Vorpommern Intendanz Dirk Löschner 2012–2021

Andere Räume – Other Spaces Die Freien Spielstätten in Berlin – The Independent Performing Arts Venues in Berlin Herausgegeben von Janina Benduski, Luisa Kaiser und Anja Quickert

Taschenbuch mit 252 Seiten ISBN 978-3-95749-367-5 EUR 15,00 (print) / 11,99 (digital)

Klappenbroschur mit 304 Seiten ISBN 978-3-95749-360-6 EUR 19,50 (print) / EUR 16,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


von Herwig Lewy

A

vraham Oz, Mitte Mai kam es in Israel und dem Gazastreifen zu einer erneuten Eskalation der Gewalt. Die Raketenangriffe der Hamas sind in den Nachrichten als eine „neue Runde“ bezeichnet worden. Wie sehen Sie das? Unglücklicherweise war diese sogenannte neue Runde keine Überraschung. Die Hauptursache dafür ist im Großen und ­Gan­zen die Besetzung der palästinensischen Gebiete seit 1967. In­sofern lässt sich in Bezug auf Israel zwar von einer Demokratie sprechen, doch existiert diese hauptsächlich innerhalb der international ­anerkannten Staatsgrenzen Israels und für die meisten seiner Bürgerinnen und Bürger. Die Palästinenser aber, insbesondere die Millionen, die seit 1967 sowohl im ­West­jordanland als auch im Gazastreifen leben, erfah­ ren kaum echte Demokratie. Solange die Besetzung nicht ­beendet ist, wird es keine Mög­ lichkeit geben für ein vollum­ fängliches Zusammenleben.

Er brauchte die Provokation, um seine nationalistischen Rivalen unter dem Dach einer emotionalen Agenda zu vereinen, somit eine Koalitionsregierung bilden zu können und seine Position als Premierminister zu sichern. Seit Wochen spielt er taktlos mit der explosiven Situation in Jerusalem, wo jede nachlässige Bewegung den gesamten Nahen Osten aufhetzen kann. Wir sehen die Ver­ treibung palästinensischer F ­amilien aus dem Viertel Scheich Dscharrah, in deren Wohnungen jüdische Siedler ziehen sollen. Wir sehen Restriktionen gegen Palästinenser, die während des ­Ramadan auf den Stufen in der Nähe des Nablus-Tors in Jerusa­ lem sitzen. Und wir sehen die ­Rituale des „Jerusalem-Tages“. Dies bot der religiös extremistischen Organisation der Hamas die ­Möglichkeit, als „Verteidiger Jerusalems“ aufzutreten. Ihre Führer sind dazu bereit, das Leben der Bevölkerung von Gaza zu opfern. So trafen die nationalistischen Ambitionen Israels auf die Ideolo­ gie der Hamas – und das ganze Feuer war entfacht. Beide Seiten also provozieren Irrationalität. Sie arbeiten als Hausregisseur am Alfa Theater in Tel Aviv, das ich als ein Beispiel für die friedliche Koexistenz zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung in Israel bezeichnen würde. Wie durchleben Sie als Gruppe diese Eskalation? Nun, ich wünschte, es gäbe in der Öffentlichkeit eine neutrale Verständigung und Harmonie, wie sie zwischen uns binationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbei­ tern im Theater existiert. Wir haben das Alfa Theater als F ­ ringe Thea­ter etabliert, das im Gegensatz zu den meisten Main­streamTheatern ein spezielles Repertoire zeigt, welches politische Themen verhandelt. Von Anfang an w ­ aren wir „ethnisch blind“. Einige unse­ rer Regisseurinnen und Regisseure sind palästinensische Israelis wie Moneer Bakri, Ala Hlehel oder Akram T ­ illawi. Palästinensische Schauspielerinnen und Schauspieler spielen Hauptrollen wie zum Beispiel Morad Hassan den Woyzeck. In einer Version des „Kauf­ mann von Venedig“, in dem die Juden als wandernde Flüchtlinge auftreten, war es bezeichnend, dass der palästinensische Schauspie­ ler Suheil Haddad die Rolle des Shylock verkörperte. Mohammad Bakri, der ein echter Star des j­ üdisch-israelischen Theaters war, der­ zeit aber von den meisten Mainstream-Theatern boykottiert wird, weil er den Bewohnern des Flüchtlingslagers Dschenin nach den Angriffen durch Israel im Jahr 2002 eine Stimme gab, spielte bei uns 2012 die Titelrolle in Federico García Lorcas „Bernarda Albas Haus“. Unser Traum ist es, dass Fragen der ethnischen Herkunft oder der nationalen Zugehörigkeit aus unserem Leben verschwin­ den. Dies wird aber leider nicht passieren, solange die durch die Besetzungspolitik kreierten ungleichen Realitäten existieren. //

Unser Traum

Avraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, über die explosive Lage in Nahost

Am 10. Mai fand der sogenannte Flaggentanz statt, mit dem in Israel der Wiedervereinigung ­ Jerusalems nach dem Sechs­ ­ tagekrieg von 1967 gedacht wird. Es gibt Stimmen, die ­diese Prozession als einen der Auslöser für die aktuelle Eskalation ansehen. Würden Sie dem zustimmen? Ja. Am 10. Mai feierten die israelische Regierung und die israeli­ schen Institutionen den jährlichen sogenannten Jerusalem-Tag. Es ist ein bewusst installierter Festtag, der von den meisten isra­ elischen Bürgerinnen und Bürgern gar nicht als wichtig aufge­ fasst wird. Von der Regierung, den Massenmedien und ultra­ nationalistischen Kreisen aber wird er mit Bedeutung auf­gepumpt, um die einseitige Besetzung Jerusalems, die ohne jeg­liches Frie­ densabkommen stattfindet, weiter zu manifestieren. Teil dieses sogenannten Feiertags ist der „Flaggentanz“, halb Aufführung, halb politisches Ritual, bei dem hauptsächlich die ultranatio­ nalistischen Kreise die Autorität des jüdischen Volkes über Jeru­ salem aufzeigen wollen. Ein Teil dieser Prozession führt durch die östlichen, arabischen Viertel Jerusalems. Militär und Sicher­ heitskräfte hatten die Regierung in diesem Jahr davor gewarnt. Trotzdem wurde der „Jerusalem-Tag“ abgehalten – insbesondere, um dem Interesse von Premierminister Benjamin Netanjahu zu dienen. Ist er für seine anstehende Regierungsbildung auf solche Stimmungen angewiesen?

TdZ ONLINE EXTRA

Eine Langfassung des Gesprächs finden Sie unter www.theaterderzeit/2021/06.

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Ein Graffiti von Banksy an der Mauer zum Westjordanland. Foto Markus Ortner, CC BY-SA 2.5 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5, via Wikimedia Commons

nahost

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Der utopische Körper Ein Nachruf auf den Tänzer und Choreografen Ismael Ivo, der im April 2021 an Covid-19 verstarb von Johannes Odenthal


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I

ch hatte schon als Kind diesen Traum, die Welt zu verändern. Und als Schwarzer immer die Vorstellung, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern. Die Veränderung der Wahrneh­ mung ist die Grundlage für die Veränderung der Wirklichkeit“: Transformation ist die zentrale Motivation für den 1955 in einem Armenviertel von São Paulo geborenen Performer, Choreografen und Festivalgründer Ismael Ivo gewesen, der den eigenen Kör­ per zum Medium seiner Emanzipation aus sozialer und politi­ scher Diskriminierung gemacht hat. Was er auf seinem Weg über New York, Berlin, Wien und Venedig, über Weimar und Stuttgart transformiert, verarbeitet und bewegt hat, erscheint von heute aus gesehen kaum fassbar in seiner Dynamik und Vielfalt. Wichtig ist es, an seinen Ausgangspunkt zu erinnern, an die engagierte schwarze Befreiungsbewegung in Brasilien, die das Theater, die Literatur und die Wissenschaften einsetzte als Medien der Revolte, als zivile Widerstandsbewegung gegen Un­ gerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung. Prägend für ihn war die Zusammenarbeit mit Aktivistinnen und Aktivisten so­ wie Künstlerinnen und Künstlern wie Tereza Santos oder Abdias do Nascimento, Menschen, die ihre afroamerikanische Ge­ schichte als politischen Auftrag verstanden und den alltäglichen Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft scharf kritisierten. Diesen gesellschaftskritischen Ansatz hat Ismael Ivo sowohl in seinen Choreografien als auch in seiner institutionellen Arbeit niemals aufgegeben. Eine Schlüsselproduktion für sein Gesamtwerk war die tän­ zerische Adaption von Jean Genets „Zofen“ aus dem Jahr 2001, produziert vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin und dem Theaterhaus Stuttgart. Charakteristisch für ihn: der kooperative Ansatz mit seinem kongenialen Tänzerpartner Koffi Kôkô, dem Theatermeister Yoshi Oida (Regie), dem Komponisten und Musi­ ker João de Bruçó und der Bühnenbildnerin Kazuko Watanabe sowie der Produzentin Christiane Uekermann. Jean Genet be­ schreibt in den „Zofen“ das Gefängnis der Abhängigkeiten der Dienerinnen, aus dem es in letzter Konsequenz nur den Ausweg in Rituale der Körperüberschreitung gibt. Eine Inspirationsquelle für Ismael Ivo war der Kurzfilm „Un chant d’amour“, in dem Ge­ net die Situation von zwei Gefangenen in nebeneinanderliegen­ den Gefängniszellen beschreibt, die keinen Sichtkontakt zueinan­ der haben und ihre Liebesbeziehung nur dadurch leben können, dass sie mit einem Strohhalm den Mörtel der trennenden Mauer durchbohren können und durch diese Verbindung den Atem oder den Rauch einer Zigarette aus dem Mund des einen zum Körper des anderen senden. Eine intime Verbindung, die als Metapher der gewaltsamen körperlichen Trennung und ihrer Überwindung gelesen werden kann. Es ist die Alternative zur brutalen Erniedri­ gung durch den Gefängniswächter, der die körperliche Nähe mit Gewalt erzwingt.

Der Körper ist politisch – Ismael Ivo in der Choreografie „Francis Bacon“, die er gemeinsam mit Johann Kresnik entwarf (hier eine Gastspielpremiere in der Arena Berlin 1997). Foto David Baltzer/bildbuehne.de

ismael ivo

Dieses Gefangensein im eigenen Körper und die Überwindung der sozial konstruierten Mauern und Projektionen war ein Schlüs­ selthema für Ismael Ivo. In der ganzen Wucht wird es deutlich mit Bezug auf die koloniale Konstruktion von Rasse, wie sie Frantz Fanon, intellektueller Wegbegleiter Ismael Ivos, in „Schwarze Haut, weiße Masken“ und später dann in „Die Verdammten die­ ser Erde“ als Kampfschrift formulierte. Frantz Fanon, der als fran­ zösischer Staatsbürger die Erfahrung der Fremdbestimmung durch den kolonialen Blick als Schwarzer radikal erfahren musste, hat den Aspekt der Gewaltausübung aus einer psychoanalytischen Perspektive beschrieben. Dieser theoretische Ansatz ist für den Tänzer Ismael Ivo zur performativen Praxis geworden. Was ihn für die Werke von Frantz Fanon, Jean Genet oder Heiner Müller so eingenommen hat, war ihre revolutionäre Kraft, die er auch bei Vaslav Nijinsky und Antonin Artaud fand. Das The­ ater wird in ihren Arbeiten mit einer gesellschaftlichen Energie aufgeladen, mit dem Potenzial der Veränderung. Für Ismael Ivo stand dabei der revoltierende und utopische Körper im Zentrum, ein Konzept, das ihn auch mit Pier Paolo Pasolini, Yukio Mishima und insbesondere Artaud verband: „Ich suche immer die radikale Seite der Kunst als einen Weg, meine Präsenz, mein Da-Sein zu bestätigen. Ich habe mich als schwarzer Tänzer mit diesen radika­ len Positionen verbunden, weil ich in ihnen eine Antwort auf mei­ ne Fragen zur Diskriminierung suchte.“ Wie ein roter Faden zog sich dieses Lebensthema durch die Choreografien von Ismael Ivo. „Artaud, Artaud!“ entstand 1984 in New York, uraufgeführt im Alvin Ailey American Dance Center. Mit „Delirium of a Childhood“ von 1989 übersetzte der Performer die Erfahrung von existenzieller Armut, von Hunger und Tod in ein szenisches Ritual. In „Apocalypse“, auch von 1989, war es die Kooperation mit Ushio Amagatsu, dem radikalen Choreografen der Butoh-Kompanie Sankai Juku, und dem Pianisten Takashi Kako, die den Performer an die Grenzen der körperlichen Mög­ lichkeiten führte. In „Mapplethorpe“ (2002) arbeitete Ismael Ivo seine Begegnung mit dem amerikanischen Fotografen Robert Mapplethorpe auf, der in seiner kompromisslosen Darstellung des nackten männlichen schwarzen Körpers die ambivalenten Strukturen des Begehrens und der Macht aufdeckte. Die Gewalt dieses kolonialen Gefüges brachte Ismael Ivo gleich im Anfangsbild der Aufführung zum Ausdruck. In dem mit seinem Bühnenbild­ ner und Lebenspartner Marcel Kaskeline entwickelten Szenenbild war er nackt eingeklemmt zwischen zwei massiven Glasscheiben, die senkrecht auf der Bühne standen, dann zum Publikum kipp­ ten und auf dem Bühnenboden mit Gewalt aufschlugen. So suchte Ismael Ivo auch die Kooperation mit Heiner Müller, der für den Tänzer einen Text über Antonin Artaud ver­ fasste. „Fremd im eigenen Körper: Auswanderungen“ wurde 1997 als Tanztheater in Weimar realisiert. Müller beschreibt da­ rin das Theaterkonzept von Artaud als einen Versuch, aus der Körperfeindlichkeit der christlichen, insbesondere katholischen Kultur auszubrechen. „Artaud erhielt eine französisch-katholi­ sche Erziehung, die ihn von seiner eigenen Sexualität, seinem Körper entfremdete – der Körper sei das Böse, die Sünde, dessen natürliche Impulse verdammt und unterdrückt werden müs­ sen ... Der Körper wird abgebunden, gefesselt, in einem koma­ ähnlichen Zustand gehalten.“

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abschied

Heiner Müller unterscheidet in diesem Text zwischen einer Zivili­ sation der Wirtschaftlichkeit, der vollständigen Ausbeutung, und einer Zivilisation der Verschwendung, die sich stets an der Mög­ lichkeit, an der Potenzialität orientiert. Ismael Ivo sieht er als ­Person, die beide Zivilisationen in sich trägt, und endet mit dem Aspekt der kolonialen Perspektive. „Der schwarze Tänzer, der die Grenzen seines Körpers und seiner Haut(-farbe) durchbrechen will. Grenzen, auferlegt durch Rassismus – und sie aufzubrechen als Voraussetzung für Menschheit. (ENTWEDER NIEMAND ODER JEDER).“ In dieser Linie stehen auch die Tanztheaterproduktionen „Francis Bacon“ von 1993 und „Othello“ (1996), die Ismael Ivo mit Johan Kresnik und der Bühnenbildnerin Penelope Wehrli am Thea­ terhaus Stuttgart produzierte. Das Motiv des politischen Körpers führte Kresniks Ansatz von Tanztheater mit dem emanzipatorischen und revoltierenden Körperbild von Ismael Ivo zusammen. Der Kör­ per als Schlachtfeld zwischen Subjekt und Objekt, zwischen ideolo­ gischer Instrumentalisierung und emanzipatorischer Befreiung. Das Haus der Kulturen der Welt produzierte im Jahre 2004 mit Ismael Ivo zwei große Arbeiten zum Thema des Black Atlan­ tic. Neben dem Tanztheaterprojekt „Olhos d’Agua“, das seinen Ausgangspunkt in einer Erinnerung an seine Urgroßmutter nahm, die noch als Sklavin geboren worden war, und anhand de­ ren Geschichte Ismael Ivo die Rolle der Frauen als Trägerinnen des kulturellen Gedächtnisses, der Befreiung und des Überlebens thematisierte, war seine Idee einer „Black Atlantic City Bus Tour. Poesie des Unsichtbaren“ visionär, die den Spuren der Black His­ tory in Berlin erstmals nachging. Vor allem die Verbindung von Information und Performance – so zum Beispiel am Denkmal der deutschen Soldaten, die bei dem Genozid an den Herero und Nama im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts umge­ kommen waren, am Aufführungsort von Josephine Baker in den zwanziger Jahren am Ku’damm oder an den Straßenschildern im Wedding mit den Namen der Kolonialherren – brachten das un­ sichtbare Thema des deutschen Kolonialismus und Rassismus erstmals mit den Mitteln von Tanz und Performance ins Bewusst­ sein einer deutschen Öffentlichkeit. Die Institutionen in Berlin blieben mit Ausnahme vom Haus der Kulturen der Welt und der Schaubühne Ismael Ivo Zeit seines Lebens so gut wie verschlossen. Es waren das Deutsche National­ theater Weimar, an dem Ismael Ivo zwischen 1997 und 2000 eine Tanztheater-Sparte aufbauen konnte, die Biennale in Venedig, de­ ren Tanzprogramm er zwischen 2005 und 2012 kuratierte, das ­Theaterhaus in Stuttgart, das für ihn zum wichtigen Produktionsund Spielort wurde, und vor allem das von ihm und Karl Regens­ burger 1984 gegründete ImPulsTanz Festival in Wien, das ohne Zweifel zu einer der wesentlichen Plattformen für den zeitgenössi­ schen Tanz in Europa und weltweit geworden ist. Es war vor allem diese eigene Erfahrung von Ismael Ivo, mit den Möglichkeiten von Tanz, Theater und Performance über den Körper einen Weg aus der „Verdammnis“ (Fanon) zu finden, einen Raum in der Gesellschaft zu behaupten, Autor seines eigenen Kör­ pers und seiner eigenen Geschichte zu werden, die ihn mit einer unerschöpflichen Energie ausstattete. Er hat diesen Grundimpuls niemals aufgegeben, auch nicht, als er 2017 Direktor des Balletts der Stadt São Paulo wurde, dann sogar Mitglied des Führungs­

Eine Schlüsselproduktion für das Gesamtwerk – Ismael Ivos Adaption von Jean Genets „Zofen“ mit dem Choreografen selbst (links) und Koffi Kôkô (rechts) im Haus der Kulturen der Welt Berlin 2001 (Regie Yoshi Oida). Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

teams am Theatro Municipal, das ihm als Jugendlicher vollkom­ men unzugänglich war. In einem Interview für Theater der Zeit (November 2017) sprach Ismael Ivo über den Aufbau einer experi­ mentellen Kompanie, einer Art Labor, das sich in die existenziel­ len Konflikte der Metropole einmischte. Die Hochburg des bil­ dungsbürgerlichen weißen Brasiliens wurde für Hunderte von Jugendlichen in den Favelas und Gettos zum Netzwerk. So feierte das neobarocke Opernhaus den Monat der Bürgerrechte für ein schwarzes Selbstbewusstsein mit Sambaschulen, DJs, Auftrags­ produktionen aus den Stadtvierteln und einer Produktion von ­Ismael Ivo selbst, die sich mit dem internationalen Organhandel auseinandersetzte. In São Paulo hatte Ismael Ivo einen überwältigenden Erfolg, nicht nur in der Kulturpolitik, sondern vor allem beim Publikum und in den regionalen und überregionalen Medien. Hier entstand auch das von ihm initiierte Projekt eines übergreifenden Tanzzen­ trums, das die soziale Dimension seiner Vision von Tanz für die Zu­ kunft fortführen wird. Das gilt genauso für das Tanzfestival in Wien. Im April 2021 ist Ismael Ivo infolge einer Covid-19-Infektion verstorben. Über fast vierzig Jahre hinweg hat er in Europa und in Lateinamerika eine künstlerische Perspektive für zahllose Tänze­ rinnen und Tänzer geschaffen, die seine Utopie einer Befreiung durch den Körper auch nach seinem Tod fortschreiben werden. // Die Zitate von Ismael Ivo entstammen einem Interview mit Johannes Odenthal für die Publikation „Zeitgenössische Künstler aus Brasilien 2013“, Steidl/Positionen 6, Steidl Verlag, Göttingen 2013.


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Proust! Hochsicherheitsdrama um den Kreuzberger Buchladen Kisch & Co.

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itzungspolizeiliche Anordnung“ ist ein schönes Wort, selbst wenn ich mich unausgeschlafen frage, ob es nicht eher polizeili­ che Sitzungsanordnung heißen müsste. Sie werden es sich schon gut überlegt haben. Dieses Anordnungsdeutsch jedoch entwickelt einen gewissen Sog, und je weiter ich lese, desto weniger kann ich mich entziehen. Mit Blick auf die Kontrolle in der Eingangsschleuse steht unter V.3.d: „Die Untersuchung ist auf das Schuhwerk zu er­ strecken“; unter V.3.e: „Das Kopieren der Ausweise für die schnelle Identifizierung von Störerinnen und Störern wird angeordnet. Die Kopien sind unverzüglich nach Schluss der Sitzung zu vernichten.“ Das glaube ich gern. Zweimal ist der Termin für die Verhandlung verschoben worden, der Richter wurde um zwei weitere aufgestockt, und dann ist der zivilrechtliche Prozess auch noch örtlich verlagert worden, ins Kriminal­ gericht Moabit. Immer noch unausgeschlafen frage ich mich, gegen welche Terrormiliz es hier geht. Es geht aber, ich schwöre es, um einen Buchladen, es geht um die Räumungs­ klage gegen Kisch & Co. Wie in meiner ersten Kolumne in die­ ser Spielzeit beziehe ich mich auch in meiner letzten auf den vom Kreuzberger Kiez so ge­ liebten Laden. Zu viel Drama, Baby. Seit Juni 2020 soll er eigentlich schon weg sein, weil der neue Eigentümer, ein gesichtsloser Im­ mobilienfonds, ihn nicht haben will. Dass der vorerst letzte Akt, der im Drama nicht selten der blutigste ist, im Kriminalgericht spielt, wirkt wie eine fiese Poin­ te. Da hilft es wenig, dass all die Kundgebungen ein ganzes Jahr lang auf der Oranienstraße zwar fordernd, aber friedlich verlaufen sind. Kreuzberg scheinen sie nicht zu trauen. Man könnte auch Einschüchterung dazu sagen. Trotz des ungeheuren Interesses sind nur acht Plätze für die Presse reserviert, nur zehn für die übrige Öffentlichkeit. Im Buchladen sitzen wir nachts gerne zusammen, Thor­ sten, Ulla und ich. Bier haben wir vom Späti nebenan und Zigaret­ ten eh. Jetzt, in der heißen Phase, kreuzt der türkische Späti-Mann plötzlich auf und verteilt Knoppers, damit die Buchhändler die Nerven bewahren. Tags darauf bin ich wieder im Laden und sag Proust! Ulla sagt Prost! und lacht, weil sie Prost! verstanden hat und an die vergangene Trinknacht denkt. Dabei will ich wirklich was von Proust haben. Vorm Gericht stehen zweihundert Menschen, und das um neun Uhr früh, einer Zeit, die in Kreuzberg als realitätsfremd gilt. Ich selbst bin gar nicht erst ins Bett gegangen. Reden werden ge­

halten, und dann wird Theater gespielt, im Genre des Utopischen, denn hier gewinnt Kisch & Co., gestützt auf ein erst zu schaffen­ des Gewerbemietrecht, den Prozess. Der Einsatzleiter der Polizei lässt durchblicken, dass die Kundgebung seine ganze Sympathie hat, denn auch ein Polizist, sag ich mir, will in einem gewachse­ nen Kiez leben, mit diesem Laden und jenem, mit einem Buchla­ den. Ob er die Sympathie hätte äußern dürfen, weiß ich nicht, umso mehr: mein Respekt. Im Saal sitzen, mich eingeschlossen, nur vier Köpfe Öffentlich­ keit, weil draußen die Kundgebung weitergeht und niemand damit gerechnet hat, einen Platz zu ergattern. Ein eloquenter Medienan­ walt, der zum Bündnis gehört, ist dabei, auch der Bundestagsabge­ ordnete Pascal Meiser, nur den vierten habe ich noch nie gesehen, jung und nett, vielleicht auch ein durch Nettigkeit getarnter Spitzel. Ich kom­ me mir vor wie in einem U-Boot, der Saal wirkt gedrungen, ohne Fenster und Geräusche von draußen. Ich setze mich so, dass ich Thorsten sehen kann, und dass er sieht, dass ich da bin. Der Blick in den Gerichtssaal ist nicht leicht zu haben, weil eine Leinwand vor der Tribüne hängt. Auf dieser Leinwand sehe ich, seitenver­ kehrt, die Söldner sitzen, zwei Frankfurter An­ wälte des Fonds. Sie hielten es nicht für nötig, für einen Pipifax mit Buchladen persönlich zu erscheinen. Als der Richter nach einer gütli­ chen Einigung fragt, heißt es: Dafür haben wir kein Mandat. Mehr ist von den Söldnern nicht zu hören. Obwohl ich einen analytischen Zu­ gang zur Welt habe, kann ich auch wütend wer­ den. In diesem Moment werde ich wütend. Über Kisch & Co. hat ganz Deutschland berichtet, selbst ­„Titel, Thesen, Temperamente“, aber nicht mal für die ARD wird Thorsten zum Schauspieler. In seinem Gesicht steht alles ge­ schrieben. „Der Buchhändler und die Milliardäre“ heißt ein ­Radiofeature des SWR, wie David gegen Goliath. Was willst du?, sag ich, jetzt ist dein Buchladen berühmt, ganz ohne Werbeetat. Ich weiß, dass ich mir meine Späße sparen kann. Bin erleichtert, dass er sie lustig findet. Mehr als 20 000 Menschen haben eine Petition für Kisch & Co. unterschrieben. Für die Erstunterzeichner wollte ich Elfriede Jelinek und Sepp Bierbichler gewinnen. Beide haben sofort zuge­ sagt, Sepp mit einem anarchisch ätzenden Gedicht. Wie fühlt sich ein Fallbeil an? Wie der Moment, in dem das Urteil fällt. Keine Chance. Ich sehe Tränen, und, ehrlich gesagt, auch mir ist zum Heulen. Vorm Gericht schenken die Buchhändler Sekt aus. Insgeheim, sag ich mir, beneiden sie uns, die kläglichen Renditemenschen und ihre Söldner. Proust!, rufe ich, Proust! //

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protagonisten

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Forschen statt Spielen Die während der Corona-Krise entwickelten Stipendienprogramme für die freien darstellenden Künste wären auch postpandemisch ein Gewinn

von Tom Mustroph

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atsächlich: Auch Glücksmomente brachte diese Pandemie – und zwar nicht nur für Maskenproduzenten, Plexiglasverbauer und Impfstoffentwickler, sondern auch für Akteurinnen und Ak­ teure der gewöhnlich recht prekären freien darstellenden Künste. Ganz deutlich war dies bei Gesprächen über die #TakeCare-Resi­ denz-Programme des Fonds Darstellende Künste zu spüren. Da blitzten vor Freude und Begeisterung glänzende Augen in den Videokonferenzkacheln auf. Gedacht waren die besagten Programme als Überbrückung eines Notstands. „Es ging um den Erhalt der Struktur und der Vielgestaltigkeit der freien darstellenden Künste“, erklärt Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds. „Mehr als 1100 Residen­ zen und Stipendien haben wir über die zwei großen Netzwerke des Bündnisses der Internationalen Produktionshäuser und des Bundesnetzwerks flausen+ inklusive der assoziierten Häuser ver­ geben. Das war ein Volumen von etwa 5,5 Millionen Euro allein für die Residenzen. Hinzu kamen Hostingkosten für die beteilig­ ten Häuser“, sagt Bergmann. Insgesamt mehr als sechs Millionen Euro seien so aus Bundesgeldern zur Verfügung gestellt worden. Die Effekte übertreffen noch die Mittel, nicht nur kurzfris­ tig, sondern auch über die Pandemie hinaus. Denn Künstlerinnen und Künstler wie auch produzierende Häuser machten Erfahrun­ gen, die zu neuen Arbeitsformen jenseits des gewohnten hekti­ schen Produktionsoutputs führten. „Ich hatte das Gefühl, als gin­ gen 100 000 Türen auf. Es entstand eine Tiefe, die, wenn ich einfach eine Produktion erarbeite, so nicht entstehen kann“, schwärmt Esther Falk, eine Figurenspielerin und -bauerin aus Stuttgart. Sie erhielt eine der insgesamt 21 #TakeCareResidenzen im Figuren- und Objekttheater in Höhe von je 5000 Euro. Ange­ regt von E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, widme­ te sie sich dem Verhältnis von weiblichen Robotern und Männern aus Fleisch und Blut. Schnell gelangte sie dabei zum Thema des und der Anderen sowie der Gefahr, die vom anderen Körper aus­ geht. Ein echtes Corona-Thema also; zumal eines, das auch noch weit über die unmittelbare Pandemie hinaus unsere Gesellschaft beschäftigen wird. Die Idee kam dabei gar nicht von der Künst­

lerin selbst, sondern von Mitstreitern aus ihrem Umfeld. „Das ­Thema war weit entfernt, wie auf einem anderen Planeten. Aber durch das Stipendium konnte ich mich diesem anderen Planeten annähern und mit etwas arbeiten, das mir eigentlich fremd ist“, berichtet Falk in einem der regelmäßigen Meetings. Künstlerinnen und Künstler, die es gewohnt sind, für För­ deranträge vornehmlich aus sich selbst zu schöpfen, und die, wenn das Geld dann kommt, schnell produzieren müssen, hatten plötzlich Zeit nachzudenken, Ideen von anderen nachzugehen, die eigenen Produktionspraktiken auch infrage zu stellen: Darin liegt ein Grund für den großen Erfolg des Programms. Jan ­Jedenak, Figurenspieler aus Stuttgart, nutzte die Zeit dazu, sich Techniken der Akrobatik anzueignen, Rafi Martin studierte weib­ liches Selbstempowerment mit Profiboxerinnen. Die Berliner Puppenspielerin und Figurenbildnerin Annemie Twardawa dach­ te sich – nicht ganz unbeeinflusst von pandemischen Verhältnis­ sen – eine Agentur für Reisen nach dem Tode aus, also von einem Himmel oder einer Hölle zu einer anderen imaginären Jenseits­ destination. Twardawa, die an der Berliner Schaubude arbeitet, weist noch auf einen zweiten positiven Effekt hin: den Austausch der Künstlerinnen und Künstler untereinander. „Man sieht, dass auch die anderen in Rechercheprozessen stecken. Man tauscht sich aus und wird angeregt“, betont sie. Die Intendantinnen und Intendanten der beteiligten Häu­ ser berichten ebenfalls über ganz neue und durchweg positive Er­ fahrungen. „Wir haben ja eigentlich keinen Produktionsetat. Über die Residenzen und Forschungsstipendien können wir nun aber auch programmatisch tätig werden“, meint der Chef der Berliner Schaubude, Tim Sandweg. „Wir wurden, weil auf einmal die Künstlerinnen und Künstler anwesend waren, forschten und probten, zu einem richtigen Produktionshaus“, bilanziert Katja Spiess, Leiterin des Stuttgarter Fitz, stolz. Diesen Eindruck bestä­ tigt auch der Regisseur Marcus Kohlbach: „Ich habe gespürt, das Fitz ist jetzt ein Residenzhaus, ein Forschungslabor.“ Selbst größere Häuser wie das Berliner HAU Hebbel am Ufer, das zum Bündnis der Internationalen Produktionshäuser ge­ hört und schon seit Langem Eigenproduktionen und Koproduktio­ nen initiiert, profitiert von der neuen Förderschiene. „Wir hatten jetzt einfach die Zeit, mit Künstlerinnen und Künstlern, mit denen wir bereits länger zusammenarbeiten, intensiver und tiefer über neue Projekte zu sprechen und viel langfristiger Programme zu


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entwickeln“, erzählt die künstlerische Ko-Leiterin Aenne Quiñones. Jedes der sieben Häuser des Bündnisses hatte 95 Residenzen. Das Residenzprogramm wäre, sollte es fortgeführt werden, sogar ein geeignetes Instrument für den klimagerechten Umbau der Theaterlandschaft. „Wir versuchen ja schon länger, von der Praxis wegzukommen, Künstlerinnen und Künstler aus der Ferne für nur ein, zwei Auftritte anreisen zu lassen. Wir streben längere Aufenthalte an, verbunden mit Workshop-Reihen. Die Residenz­ programme können da hilfreich sein“, überlegt Quiñones. Auch eine Anbindung von Residenzen an Festivals wäre sinnvoll. „Im Studium hat man uns ja immer versprochen, dass es auf Festivals den großen Austausch zwischen Künstlern gibt. Aber das findet selten statt. Man kommt, tritt auf und reist wieder ab. Längere Aufenthalte sind in den Budgets gar nicht vorgesehen“, berichtet, vom Berufseinstieg ernüchtert, die Berliner Puppen­ spielerin Ivana Sajević. Über Residenzprogramme könnte auch hier der Austausch zwischen internationalen und lokalen Künstle­ rinnen und Künstlern gefördert werden. Gleichzeitig wäre es den Beteiligten so möglich, nachhaltigere Partizipationsformate mit dem Publikum zu entwickeln. Die große Frage ist nun, wie es weitergeht. Ein Zurück zum vorherigen Zustand ist unwahrscheinlich. Zu lange schon fordern Künstlerinnen und Künstler mit ihren Interessensverbänden die Einbindung von Recherche- und Forschungsarbeiten in die För­ derpraktiken und eine dementsprechende Ergänzung der reinen Produktionsförderung.

neue stipendienprogramme

Man tauscht sich aus und wird angeregt durch die #TakeCareResidenzprogramme des Fonds Darstellende Künste – hier der Performer Jan Jedenak bei experimentellen Grenzgängen zwischen Akrobatik und Figurentheater. Fotos Malte Lengenhausen

Die jetzt von immerhin mehr als 1000 Gruppen und Einzelkünstle­ rinnen und -künstlern im gesamten Bundesgebiet gewonnenen Erfahrungen sind pure Werbung für diese Modelle. Kurzfristig soll es erst einmal in ähnlich großem Umfang so weitergehen. Bis ins Jahr 2022 werden nach jetzigem Stand die Rettungsfonds für die Kultur verlängert. „Wir bemühen uns, in der Aufstockung der Ret­ tungsmaßnahmen innerhalb von Neustart Kultur auch das Modul Residenzen fortzuführen“, kündigt #TakeCare-Initiator Bergmann an. Er ist vorsichtig optimistisch, dass Residenzprogramme über den unmittelbaren Pandemierahmen hinaus als Förderschwer­ punkt des Bundes erhalten bleiben. „Die Pandemie hat zu einigen interessanten Modellen geführt, die man auch in Zukunft fortset­ zen sollte. Das geht natürlich nur ­degressiv, nicht in den aktuellen Volumina, die einem Notstand geschuldet sind“, meint er. Im komplexen Zusammenspiel zwischen Bund und Län­ dern ergibt sich ein interessanter, ergänzender Spielraum für die Bundesebene. Mehr als ein erstes Nachdenken findet dort aktuell aber nicht statt. Vor den Wahlen möchte sich traditionell niemand positionieren. An diesen eingeschliffenen Routinen ändert nicht einmal der Covid-19-Notstand etwas. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

It’s the Produktionsform, stupid! Das Wiener Theaterkollektiv makemake produktionen durchbricht das Kategoriendenken

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um Kern des Kollektivs makemake produktionen gehören heute sechs Frauen: Anita Buchart, Julia Haas, Nanna Neudeck, Sara Ostertag, Michèle Rohrbach und Martina Rösler. Frauenkollektiv heißt es dann. Das ist zwar nicht falsch, aber auch irreführend, zumal sich die vor zehn Jahren in Wien entstandene Gruppe nie als solches betrachtet hat. „Es sind eben jene übrig geblieben, die sich am meisten füreinander interessiert haben – und das waren Frauen“, sagt Sara Ostertag, Regisseurin und informelles Mastermind der Truppe. Ein Zufall, aber nicht nur: Der Entstehungsprozess war auch Ausdruck einer geschlechterpolitischen Wende im Theaterbetrieb, in der sich Frauen, denen lange Zeit die immer gleichen Plätze und Themen zugewiesen worden waren, neuen Raum freischaufelten. Das Besondere an makemake produktionen ist die Offenheit für ganz unterschiedliche ­Ausdrucksweisen. Sie lassen sich schwer auf einen Nenner bringen, vor allem, weil makemake für jedes Projekt und jede Kooperationsweise völlig originär zu denken beginnt. It’s the Produktionsform, stupid!, könnte man sagen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob eine Inszenierung in Eigenregie oder in Anbindung an ein Stadt­ theater entsteht. „Der Produktionsprozess entscheidet darüber mit, welche künstlerischen Mittel eine Person anwendet“, sagt Ostertag. Dieser Determinismus beschäftigt die Gruppe gerade sehr, zumal sich institutionalisierte und freie Arbeitsweisen immer mehr annähern. Die Wendigkeit in den Ausdrucksmöglichkeiten geht nicht zuletzt einher mit dem Selbstverständnis als Theater für alle Generationen. Von Anfang an hatte makemake ein genuines Interesse daran, auch für junges Publikum zu produzieren. Vorderstes Anliegen war und ist es, das Kategoriendenken (Unter-

teilung in Erwachsenen- und Kindertheater) zu durchbrechen. Die Gruppe konnte den Aufwind nutzen, der damals nach der Gründung des Dschungels Wien die Theaterszene vor Ort beflügelte. Den Einstand gab man 2011 mit „Momo oder Die Legende vom Jetzt“. Ein Großteil der makemakeMitglieder wurde an der Hochschule der Künste in Zürich ausgebildet und hat sich dort darstellende Kunst als weites Feld erschlossen. Der Reichtum der Mittel lässt sich am besten am Beispiel von „Das große Heft“ exemplifizieren, einer Inszenierung ­ von Ágota Kristófs Antikriegsroman, die Ende 2019 noch unbehelligt von der bald dräuenden Pandemie im Kosmos Theater Wien Premiere hatte. Den darin nachgezeichneten Selbstverrohungsprozess der beiden kind­ lichen Protagonisten veranschaulicht der Abend in Choreografien und Bildern, die Gewalt nicht nachbilden, sondern sie in stellvertretende, un­ abgenutzte Zeichen transformieren: ­Bodypainting, Materialtheater (Erdhügel), Objekttheater (kindlich-radikale Wasserbomben), projizierte Schrift et cetera. Es war ein sinnlich heraus­ ragender Abend, der seine ureigene Ästhetik aus der Auseinandersetzung mit dem Text entwickelte. Damit landete die Gruppe sogar auf der Shortlist des Berliner Theatertreffens 2020. 23 Produktionen entstanden in den letzten zehn Jahren. Zu den Highlights gehört das vielstimmige Generationenstück „Muttersprache Mameloschn“ von Sasha Marianna Salzmann, das den Nestroy-Preis für die beste Off-Theater-Produktion der Spielzeit 2017/18 erhielt. Oder die theatralische Weltreise ­„Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky, in Zusammenarbeit mit dem Landestheater Vorarlberg sowie dem Dschungel Wien. In der jüngsten, coronabedingt installativen Arbeit, Ruth Klügers „weiter leben“, ist sogar ein Miniaturkino integriert. Es empfängt sein Publikum im romantisch-cinephilen Ambiente eines straßenseitig geparkten Zirkuswagens. // makemake. Foto Appolonia Theresa Bitzan

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Margarete Affenzeller


Look Out

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Facebook oder Insta? Die Regisseurin Cosmea Spelleken macht Netztheater zu einer intimen Erfahrung

osmea Spelleken ist in Freiburg aufgewachsen, hat sich schauspielenderweise an freien Bühnen erprobt und mit 16 den Film entdeckt, an dem sie die Intimität schätzt, die er zu seinen Figuren herstellen kann. Dafür fehlt ihr im Film das ausgiebige Sich-Hineinwühlen in Stoffe. Und dann stellte während ihres Studiums der Medienkunst in Karlsruhe jemand die Frage: „Muss das, was du erzählen willst, zwangsläufig ein Film werden, oder ist vielleicht ein Hör­ stück geeigneter, ein Audiowalk – oder doch Theater?“ Hinter diesen Gedanken, dass jede Geschichte nach ganz eigenen Mitteln verlangt, kann die heute 25-Jährige seither nicht mehr zurück. Deshalb haben die abgefilmten Theateraufführungen im ersten Lockdown sie so genervt. Es gab keine Begründung für ihre Form außer dem Lockdown selbst. Da kam ihr eine „fixe Idee“. Die heißt „werther.live“ – und hat so richtig eingeschlagen. Bis zu 1300 Zuschauer pro Vorstellung haben das rein digitale Freie-Szene-Debüt gesehen, das Preise und Herzen gewann, von der New York Times bejubelt, beim Theatertreffen diskutiert und zuletzt unter dem virtuellen Dach großer Häuser und beim Heidelberger Stückemarkt gezeigt wurde. Der Theater, Film und Social Media fusionierende Abend, konsequent aus Werthers Perspektive erzählt – dem Protagonisten aus Johann Wolfgang von Goethes gleichnamigem Briefroman – geht einem ungewöhnlich nah. Und er übersetzt das Kultwerk von 1774 so jugendaffin wie stimmig ins Heute. Beides hat viel mit der Detailversessenheit zu tun, zu der sich Spelleken, die inzwischen Filmregie in Wien studiert, gerne bekennt: „Wenn ich einen Film mache, muss selbst die Unterhose zum Charakter passen.“ Bei Werther, der seinen Desktop mit uns teilt, sind die neuralgischen Details eher nicht-textiler

Cosmea Spelleken. Foto privat

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Natur. Wir sehen auf Youtube und zugleich auf seinem Bildschirm, wie er sich mit Lotte zu romantischen Zoom-Dates trifft, stets mindestens WhatsApp-, Facebook- und Instagram nebeneinander offen hat und so viele Text- und SprachnachrichtenBälle zugleich in der Luft hält, dass es jedem Nicht-Digital-Native schwindelig wird. Spelleken und ihrem jungen Team inklusive: „Die meisten von uns sind eigentlich eher analog unterwegs, und ich selbst hätte privat gerne mein Backsteinhandy zurück.“ Aber in Coronazeiten ist alles anders – und ein Werther, dessen Welt auf den heimischen Bildschirm einschrumpft, kein „milchgesichtiger Junge ohne Freunde“, sondern einer wie wir. Während sein hipper Intimus Wilhelm alias @freiherrwilhelmdergrosse mit GIFs und Jugendsprache um sich schmeißt, benutzt Werther selbst altmodische Doppelpunkt-Strich-Smileys. In den Collagen auf seinem InstaProfil (mit dem man real in Kontakt treten kann) verdichtet sich seine emotionale Not und im Blog von Albert der Eindruck, dass der politisch überkorrekte NGOler, mit dem Lotte liiert ist, nicht ganz von dieser Welt ist. Neunzig Prozent von alldem werden live gespielt, eingespeist und geschnitten. Spelleken glaubt an die Kraft zeitlicher Live-Kopräsenz und daran, dass man direkter und emotionaler reagiert, „wenn man diesen Körper nicht mit dabei hat“. Sie spürten das jedes Mal, wenn sie spielen und die Zuschauer mit den Figuren weiterchatten oder sich Sorgen um den liebeskranken Werther machen, erzählt sie. Weil Letzterer seine Lotte im Stück nie treffen kann, durften die Schauspieler Jonny Hoff und Klara Wördemann das bislang ebenfalls nicht. In Anton Tschechows „Möwe“, dem nächs­ ten Online-Theater-Projekt von punktlive, wie sich die Gruppe inzwischen nennt, soll sich das übrigens ändern. // Sabine Leucht

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kommentar

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Alle Jahre wieder Ein weiteres Spargutachten versetzt den Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien in Aufruhr

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Bautzen würde das GHT faktisch liquidiert. Das traditionsreiche Görlitzer Haus diente nur noch als Gastspiel­stätte. Gespart wer­   éjà-vu. Schon wieder eine dieser en suite gespielten Tragödien den soll auch durch die völlig asymmetrische Fusion der Neuen mit Mordversuchen am für entbehrlich gehaltenen kulturellen Lausitzer Philharmonie mit dem Sorbischen Nationalensemble. Ballast. Und das in einer Zeit unfreiwilliger kultureller Ent­ Personalabbau, Spartenschließungen und Fusionen aber behrungen! Seit der Übernahme der viel zu opulenten Kultur­ bringen nicht einmal mittelfristige Stabilität. Paradoxerweise landschaft Ost 1990 halten sie sich hartnäckig in den Planspielplä­ ­wurde auch die große Geste des Freistaates Sachsen von 2019, mit zehn Millionen Euro die Gehälter bei den Kulturraumtheatern nen der Kommunalpolitiker. Eine der trefflichsten Antworten auf den Dauerspardruck fand beispielsweise 2014 das Anhaltische und -orchestern aus dem diskriminierenden Haustarif heraus wieder auf den Flächentarif anzuheben, nicht goutiert. Landrat Theater Dessau mit seiner an die Landesregierung adressierten Parodie der „Beggar’s Opera“. Danach Lange, der sich selbst „nicht gerade als einen Kulturmenschen“ bezeichnet, nennt das gar folgten mit steigenden Steuer­einnahmen ein „vergiftetes Angebot“, weil auch die Kom­ zwar keine fetten, aber einigermaßen munen diese jahrzehntelang geforderte An­ angstfreie Jahre. „Wir haben schon Nun geht es wieder los, und im aktuel­ gleichung mit etwa drei Millionen Euro kofi­ Schubladen voller len Fall des Kulturraumes Oberlausitz-Nie­ nanzieren und künftige Tarifsteigerungen mittragen müssten. derschlesien nicht wegen der alles lähmen­ Gutachten“, wird in den Seuche. Denn das Gutachten zu Statt also das Kraftpaket des Freistaates Einsparmöglichkeiten bei den Theatern der Sachsen zu begrüßen, nahm es der Land­ der Intendanz am GHT Region wurde schon im Februar 2020 von kreis Görlitz zum Anlass, ein neuerliches den Gesellschaftern des Gerhart-Haupt­ Spargutachten in Auftrag zu geben, um die geflachst. Was auch für mann-Theaters Görlitz-Zittau (GHT), zu de­ drohende Erhöhung des Kulturhaushalts, die eine gewisse Dickfellig­ sich durch die Tarifangleichung ergeben nen die Beteiligungsgesellschaft des Land­ kreises Görlitz mbH, der Landkreis Görlitz würde, zu minimieren. Das aber ist altes keit, ein gewisses sowie die Stadt Görlitz und die Stadt Zittau Denken! T ­ ariferhöhungen gelten in allen an­ gehören, bei der Münchner Beratungsfirma deren Bereichen des öffentlichen Dienstes ­Stehvermögen spricht. actori in Auftrag gegeben. als Selbstverständlichkeit. Auch in einem „Wir haben schon Schubladen voller Landkreis, dem es wirtschaftlich nicht gut Gutachten“, wird in der Intendanz am geht, der über hohe Sozialausgaben klagt GHT geflachst. Was auch für eine gewisse Dickfelligkeit, ein ge­ und in diesem Jahr allein keinen genehmigungsfähigen Haushalt hinbekommt. wisses Stehvermögen spricht. Das letzte Papier von 2019 war nach Verweist es auf ein schlechtes Gewissen, dass die Ergebnis­ Aufforderung durch die Gesellschafter sogar ein selbstgemachtes. se des Gutachtens seit Dezember 2020 nur einem Insiderkreis Es kam allerdings zu dem Schluss, dass nach einem Dutzend von Stadt- und Kreisräten bekannt waren? Auch die Intendanten Schrumpfrunden weitere Einsparungen nur durch Schließung kompletter Sparten oder Häuser zu erreichen wären. Deshalb ver­ erfuhren davon erst in einer geschlossenen Sitzung am 22. April. Und wie kann actori Abbauszenarien nahelegen, die im krassen wahrt sich Generalintendant Klaus Arauner gegen den Vorwurf von Landrat Bernd Lange (CDU), die Geschäftsführung des GHT Widerspruch zum eigenen, im Vorjahr erstellten Kulturplan für die umzubauende bisherige Lausitzer Kohleregion stehen? Die habe „nicht einen Vorschlag“ zur Umstrukturierung gemacht. Das nach einer Indiskretion durch die Sächsische Zeitung be­ Autoren schienen trotz ihrer Interviews auch nicht zu wissen, dass die Sorben eine Orchesterfusion gar nicht wollen. kannt gewordene actori-Gutachten aber hat einen öffentlichen Alarm und breiten Widerspruch auch in der CDU ausgelöst. Der Noch aber ist Görlitz nicht verloren! Die losgetretene Alarm­ debatte bietet auch eine Chance. Kommunalpolitiker müssen sich Landkreis Görlitz legt zwar Wert auf die Feststellung, dass actori nun entweder dauerhaft zu den beiden Häusern bekennen oder keine Empfehlungen ausgesprochen, sondern nur Schrumpfszena­ klar sagen, was sie nicht mehr finanzieren wollen. Die Lösung des rien durchgespielt habe. Aber diese Planspiele lassen vermuten, Problems lässt sich nicht mehr den Theatern zuschieben, wenn dass die Autoren bewusst eine abschreckende Wirkung im Hinter­ man von ihnen Selbstverstümmelungsvorschläge verlangt. // kopf hatten. Mit der Aufgabe des Musiktheaters und der Dance Company sowie einer Fusion des Schauspiels Zittau mit dem in Michael Bartsch


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Foto Bernd Uhlig

Exklusiver Vorabdruck

Georg Lukács Texte zum Theater


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Dietmar Dath

Das Spiel der rechten und der linken Hand Von ästhetischer Arbeit bei Georg Lukács

[…] Vor seiner kommunistischen Zeit und in deren Anfangszeit war Lukács ein eher impressionistischer Denker, begeistert von der zerfledderten Sorte Kulturkritik, die Alfred Kerr, eine Art in Aphorismen und Scherzen und halbfertigen Ideen plappernder Twitter-Pionier ante datum, in deutschen Zeitungen pflegte. Um ernsthafteres Grübeln bemühte sich Lukács in diesen Lehr­ jahren freilich auch, das lernte er dann bei Leuten wie Georg Simmel und Max Weber. Schließlich kam die Revolution nach Ungarn und Lukács lief mitten hinein. Der Oktoberumsturz in Russland war erst zwei Jahre her, seine bolschewistische Füh­ rung lernte das Schwimmen im unruhigen Wasser und diejeni­ gen ihrer Kader, die sich in Ungarn oder weiter westlich blicken ließen, um der sozialistischen Weltrevolution auf die Beine zu helfen, mit der sie, weil sie Marx gelesen hatten, stündlich rech­ neten, hatten von den anstehenden Aufgaben meist ebenso we­ nig Ahnung wie diejenigen, die sich von ihnen Unterweisung versprachen. Man lernte daher voneinander und gegeneinander, im harten Gegenwind der Umstände, zu vieles war fast Zufall: Lukács etwa wurde, wie er selbst viel später vermutete, wohl nur deshalb Volkskommissar für Unterrichtswesen in der Regie­ rung des Kommunisten Béla Kun, weil er als Autor und Kritiker unter den Intellektuellen halbwegs bekannt war, die man für bestimmte Bereiche des einzurichtenden neuen Lebens brauchte. Die amtliche Entscheidung für den Mann mit dem be­ kannten Namen war demnach nicht aus theoretischen, sondern grob öffentlichkeitsorientierten, also politisch-praktischen Gründen gefallen. Kommunisten dachten damals oft unbehol­ fen, aber immer praktisch. Lenin hatte ihnen das mit und seit seiner Schrift »Was tun?« (1902) auf eine Art eingebimst, die sogar Intellektuelle verstehen konnten. Praktisches Denken bedeutet Anerkennung der Tatsache, dass Gedanken sich an und in der Welt bewähren müssen, wenn sie über den Reiz des Augenblickseinfalls hinaus Bestand und Geltung haben wollen. Lukács erinnert sich noch als Greis an die Bedeutung, die dieses Kriterium nicht erst in seinen politi­ schen Bewährungsproben, sondern schon in seiner vor- und

frühkritischen Zeit, ja sogar bei Ausflügen ins Schöngeistige, etwa in die Theaterwelt für ihn gehabt hat – bis ins hohe Alter lobte er etwa einen Schauspieler namens Pethes, der damals gro­ ßen Eindruck auf ihn machte, habe jener doch »ein untrügliches Urteilsvermögen« fürs praktisch Szenische besessen: »Wenn er sagte, die rechte Hand müsse emporgehoben und die linke Hand dürfe nicht herabgesenkt werden, dann hatte er ganz sicher hun­ dertprozentig recht.« (Georg Lukács: Gelebtes Denken, Bielefeld 2021, S. 17) Lukács sagt, ihm sei im Vergleich mit Pethes damals aufgefallen, dass ihm selbst das Sensorium für derlei abging, und er begriff, was das für seine frühe unerwiderte Liebe zur Bühne, deren Kunstkontext er sich gerade als Theatervereins­ mann genähert hatte, leider bedeuten musste: »Außer der Orga­ nisation habe ich keine Tätigkeit ausgeübt. In dieser kurzen Lauf­ bahn erlebte ich auch zwei Enttäuschungen. Zum einen wurde mir klar, dass ich kein Schriftsteller sei, und zum anderen wurde mir klar, dass ich kein Regisseur sei. Mir wurde bewusst, dass ich zwar den Zusammenhang von Idee und dramatischer Handlung sehr gut erfassen konnte, dass ich aber keinerlei Begabung in der Erkenntnis dessen besaß, dass es in gewisser Hinsicht von ent­ scheidender Bedeutung sei, ob ein Schauspieler die rechte oder die linke Hand emporzuheben hatte.« (Ebd.) Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbeschäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoretisches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee. Ein Text ohne Textidee zum Beispiel, ohne etwas, das über Stoff wie Form hinausreicht und beide ineinan­ derblendet, mag eine Reportage sein oder ein Essay, aber ein Kunstwerk kann er nicht werden. Wenn man nun das kunstgebotene Ineinander von Theo­ rie (als kunsterklärende Lehre: Gesellschaftstheorie eben, weil Kunst gesellschaftlich erzeugt und erlebt wird) und Praxis (Form­ bewusstsein, Zweck-Mittel-Reaktionen usw.) nicht präzise genug abwägt, kommt Schwachsinn heraus – wie etwa bei der stumpfe­ ren deutschsprachigen Germanistik nach 1945, teils sogar in der


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DDR, besonders aber nach 1968 im Westen, wenn diese Germa­ platte Polarität, deren Anziehungs- und Abstoßungsfelder das Kunstwerk spalten müssten, sondern im Gegenteil gerade das, nistik etwa bei der Befassung mit Goethe immer nur heraus­ fand, jener sei »ein Fürstenknecht« gewesen. Schlechte Gesell­ was es zusammenhält. Dass es selbst nicht die Welt ist, aber von ihr handelt, macht das Kunstwerk zum Kunstwerk. Ein schaftstheorie, schlechte Kunsttheorie: Goethe hielt es mit Provinzfürsten oder der Weltseele Napoleon nicht aus Unter­ anderer marxistisch-leninistischer Denker der Künste als Lukács, Hans Heinz Holz, beschreibt diesen allgemeinen würfigkeit, sondern gegen die Stände, gegen den Adel, das Mit­ telalter (wie übrigens Hegel, der ­Abstand und seine Konkretio­ Vorbereiter und bis heute stille nen aus Anlass von Überlegun­ gen zur speziellen Kunstsorte Teilhaber des Marxismus), so Satire (der ja die meiste bürger­ gleichermaßen mit der klassi­ schen Form nicht gegen die liche und verfallsbürgerliche Freiheit, sondern gegen das Theaterpraxis heute angehört, Chaos und das Erbrecht der Ge­ soweit sie noch politisch oder kritisch auftritt, sie sagt dann walt. Wer an Kunst herumdeu­ tet, ohne über hohe Übersicht ja selten mehr, als der Spott auf Soziales zu verfügen, wer sagt: Guck mal, der Kaiser ist den Klasseninhalt der ästheti­ zwar nicht nackt, hat aber eine Nazi-Uniform an): »Die Satire schen Formen mit dem kleinen Hämmerchen oder der schma­ ist eine Kunstform, die, wie alle Kunst, das Ernste vergnüglich len Sichel der Dogmatik in diese inszeniert.« (Arnold Schölzel hineinzwängt oder aus ihnen (Hrsg.): Peter Hacks/Hans herausfummeln will, haut Run­ Heinz Holz – Nun habe ich des in Eckiges oder sucht Ecki­ Ihnen doch zu einem Ärger ­ ges in Rundem. Georg Lukács verholfen. Briefe. Texte. Erin­ Lukács wusste, dass es Texte zum Theater nerungen. Berlin 2007, S. 17) schon im vorkünstlerischen All­ Herausgegeben von Jakob Hayner und Wirklich »alle Kunst«? tag zwischen dem, was ist, und Erik Zielke. In Zusammenarbeit mit dem dem, was man gern hätte, einen Das ist ein großes Wort, hier Literaturforum im Brecht-Haus, gefördert vor allem scheinbar eine Spur Abstand gibt, einen Weltwider­ durch den Hauptstadtkulturfonds stand gegen das, was wir so träu­ zu graziös gesagt, denn wie Klappenbroschur mit 312 Seiten »vergnüglich« ist Shakespeares men oder denken oder fürchten ISBN 978-3-95749-362-0 oder wünschen, daher sein le­ »King Lear«, Picassos »Guer­ benslanges Interesse an »Onto­ nica« oder eine späte Beet­ EUR 22,00 EUR (print) / 17,99 (digital) hoven-Klaviersonate? Wer da­ logie«, an dem, was ist (und was bürgerliches Denken, weg vom ran zweifelt, dass das Wort passt, soll sich erinnern: Selbst so Seienden, gern in Ideen auf­ löst oder in grammatische und andere Strukturen oder ins mehr ein Stück über Schreckliches, irgendwo auf der breiten Skala oder weniger freie, alle Strukturen überschreitende Spiel von mul­ des Menschlichen, sagen wir: vom gebrochenen Einzelherzen tivalenten Zeichen-für-immer-wieder-Anderes oder in ein starr als bis zum politischen Massenmord, ist angenehmer zu spielen Erkenntnisschema aufs Seiende aufgepfropftes Dogma, das sich und angenehmer im Publikum zu erleben als die Erfahrung womöglich auch noch »neuer Realismus« nennt, oder in Hei­ des je eigenen Herzzerbrechens oder des Ermordetwerdens deggers transkategoriales »Sein« oder in sonst einen Scheiß ohne mit vielen anderen aus politischem Grund sein könnten. Das nur sagt Holz, mit historischer Ironie vor grausigem Hori­ Henkel, Griff und Deckel – gemeint ist mit all dem Blödsinn im­ mer irgendein verborgener Tausch-, Meinungs- oder Klickwert, zont (»das Ernste«), wenn er gefasst und tongue-in-cheek denn das Kapital, dem bürgerliches Denken bekanntlich bis in »vergnüglich« sagt. seine höchsten akademischen Höhen jede Sekunde unterworfen Der Abstand zwischen Ernstem und Vergnüglichen ist bleibt, will nie wissen, was die Dinge sind oder was man damit die Körperbedingung der Kunst, ihr Raum; die Tradition nennt machen kann, und immer nur, was man dafür kriegt). ihn »Schein«. Durch ihn hindurchschauen, ohne ihn zu über­ Der besagte Abstand ist als Differenz zwischen Idee und sehen, ist die theoretische Auseinandersetzung mit Kunst, nichts sonst. […] Form, aber auch zwischen Überbau und Basis, nicht etwa eine

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19. Landesbühnentage 23. bis 27. Juni 2021 an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt

Fachgespräche im Rahmen der 19. Landesbühnentage Landesbühnentage intern – für Mitarbeitende der Landesbühnen Führungskultur an Landesbühnen – Zwänge, Chancen, Hoffnungen 23. Juni 2021 | 14:00 Uhr Klima und Landestheater – Quo vadis? 24. Juni 2021 | 13:00 Uhr Soziale Medien und Theater – Veränderungsprozesse im Marketing 25. Juni 2021 | 13:00 Uhr Corona und Landestheater – Ist die Krise auch eine Chance? 26. Juni 2021 | 13:00 Uhr Diskurskultur – Wie gelingt ein produktiver Austausch? 27. Juni 2021 | 11:00 Uhr

Gefördert mit Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg

Deutscher Bühnenverein Landesverband Ost


Festivalprogramm 19. Landesbühnentage Mittwoch, 23. Juni 2021 19:30 Uhr | Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven | Der fliegende Holländer | Liederabend von Sascha Bunge und Stefan Faupel frei nach Richard Wagner u. a. 19:30 Uhr | neue Bühne Senftenberg | Country Crash | Eine komödiantisch-musikalische Begegnung von Country und Schlager von Tilo Esche | Uraufführung 19:30 Uhr | Landesbühne Rheinland-Pfalz, Schlosstheater Neuwied | Sophie Scholl – Die letzten Tage | Schauspiel von Betty Hensel

Donnerstag, 24. Juni 2021 11:00 Uhr | Burghofbühne Dinslaken | Dschabber | Schauspiel für Menschen ab 14 von Marcus Youssef 11:00 Uhr | Uckermärkische Bühnen Schwedt | Kurze Geschichte meines erfolgreichen Scheiterns | Mobile Theaterproduktion von Fred Apke | Uraufführung 15:00 Uhr | Nordharzer Städtebundtheater, Halberstadt / Quedlinburg | Cinderella | Märchenballett von Can Arslan mit Musik von Sergei Prokofjew 18:00 Uhr | Westfälisches Landestheater, Castrop-Rauxel | Krabat | Schauspiel für Menschen ab 10 von Otfried Preußler 19:30 Uhr | Württembergische Landesbühne Esslingen | Der Hals der Giraffe | Schauspiel von Judith Schalansky 19:30 Uhr | Uckermärkische Bühnen Schwedt | Cindy Reller – Voll ins Ohr und mitten ins Herz! | Schlagermusical von Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth

Freitag, 25. Juni 2021 11:00 Uhr | Hessisches Landestheater Marburg | Mein ziemlich seltsamer Freund Walter | Klassenzimmerstück für alle Menschen ab 8 von Sibylle Berg 19:30 Uhr | Landesbühne Sachsen- Anhalt, Theater Eisleben | Furor | Schauspiel von Lutz Hübner und Sarah Nemitz 19:30 Uhr | Landestheater Detmold | Onkel Wanja | Schauspiel von Anton Tschechow

Samstag, 26. Juni 2021 16:00 Uhr | Landestheater Württemberg-Hohenzollern, Tübingen Reutlingen | Ach, Mensch! | Ein theatraler Essay über Nieselregen, 7 Milliarden und die Frage, wann all das eigentlich angefangen hat von Gesa Bering und Stephan Dorn | Uraufführung 19:30 Uhr | Theater der Altmark, Stendal | Fräulein Smillas Gespür für Schnee | Theaterfassung von Armin Petras und Juliane Koepp nach dem gleichnamigen Roman von Peter Høeg 19:30 Uhr | Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester, Rendsburg | Der Kredit | Komödie von Jordi Galceran

Sonntag, 27. Juni 2021 11:00 Uhr | Landesbühnen Sachsen, Radebeul | Pinocchio | Figurentheater von Carlo Collodi in einer Bearbeitung von Odette Bereska 15:00 Uhr | Uckermärkische Bühnen Schwedt | Cindy Reller – Voll ins Ohr und mitten ins Herz! | Schlagermusical von Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth 17:00 Uhr | Landestheater Württemberg-Hohenzollern, Tübingen Reutlingen | Ichglaubeaneineneinzigengott. | Schauspiel von Stefano Massini 19:30 Uhr | Landesbühnen Sachsen, Radebeul | Draußen vor der Tür | Schauspiel von Wolfgang Borchert 19:30 Uhr | Theater für Niedersachsen GmbH, Hildesheim | Adolf – der Bonker | Tragikomödie in drei Akten von Walter Moers | Uraufführung

Uckermärkische Bühnen Schwedt | Berliner Straße 46/48 | 16303 Schwedt/Oder | Tel. +49 3332 538 111 | www.theater-schwedt.de/landesbuehnentage2021 https://www.facebook.com/TheaterSchwedt | https://www.instagram.com/theater_schwedt


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Auftritt Berlin

„Die Sumpfgeborene“ von matthaei & konsorten

Baden / St. Gallen / Zürich / Aarau

Basel „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow in einer Schweizerdeutsch-­ Fassung von Lucien Haug  Hannover „Woyzeck“ von Georg Büchner  Saarbrücken „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ (DSE) von Pat To Yan  Stuttgart „Princess Hamlet“ von E.  L.  Karhu in einer Fassung des ­Theaters Rampe  Zürich „Afterhour“ von Alexander Giesche „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung


auftritt

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BERLIN Schlangenbrut im Höllenpfuhl

schied zwischen einer „symbolischen“ und

schehen in ein optisch ansprechendes „Sur-

einer „allegorischen“ Herangehensweise an

round-Theater“. So findet man sich, wenn

ein Thema einzutrichtern. Wer’s kapiert hat,

auch einmal wieder bloß daheim, kopfüber in

zahlt zehn Euro in die Seminarkasse.

eine andere Zeit gefallen. //

Der Begriff des „aus der Zeit Gefalle-

Martin Krumbholz

nen“ erlebt ja eine gewaltige Konjunktur, aus der Zeit gefallen ist praktisch alles, was nicht

SOPHIENSAELE: „Die Sumpfgeborene“ von matthaei & konsorten Regie Jörg Lukas Matthaei Ausstattung Michael Gaessner

aktuellen Denkmustern und Maßstäben entspricht, als hätte es nicht seit jeher ein historisches Gefälle und mitunter schmerzliche politisch-ideologisch-moralische

Diskrepan-

zen gegeben. So naiv diese Betrachtungsweise einerseits ist, so merkwürdig „aus der Zeit gefallen“ sind andererseits die zahlreich

Die Welt des Barock strahlt eine eigentümli-

überlieferten Textdateien eines gewissen Da-

che Anziehungskraft aus. Die Architektur mit

vid Casper von Lohenstein (1635–1683),

ihrer verschwenderischen Fülle, die Musik

Dichter und Diplomat. Walter Benjamin zitiert

mit ihrem Optimismus und ihrer fast unge-

in seiner Abhandlung „Ursprung des deut-

trübten Harmonie, die in heutigen Ohren so

schen Trauerspiels“ einen älteren Forscher,

gefällig klingt, ohne kitschig zu sein, die an-

dem aufgefallen sei, der schlesische Autor

schauliche Sprache mit leuchtend sinnfälli-

habe sich dermaßen in vergangene Welten

gen, bis heute überlebenden, wenngleich un-

eingelebt, dass er seine eigene darüber ver-

gebräuchlichen Ausdrücken wie „abluchsen“,

gaß und einem antiken Publikum verständli-

„Höllenpfuhl“ oder „Schlangenbrut“ – ja, in

cher gewesen wäre als dem seiner Zeit.

BADEN / ST. GALLEN / ZÜRICH / AARAU Im Kriegsgebiet der Psyche THEATER MARIE / THEATER ST. GALLEN / THEATER WINKELWIESE / BÜHNEN AARAU: „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung Regie Olivier Keller Ausstattung Beate Fassnacht Video Kevin Graber

diesen Kosmos schaut man liebend gerne zu-

Ob das als Kompliment durchgeht, sei

rück und kann sich kaum daran sattsehen

dahingestellt, immerhin müsste ein Autor,

Es ist, als säße man mit im Auto. Die Geräu-

und -hören. Speziell in den wortgewaltigen

will er sich nicht als „aus der Zeit gefallen“

sche. Die Nacht. Man plaudert, schaut be-

Libretti der Bachkantaten überlebt die Vitali-

blamieren, ja doch eine gewisse Brücke

stenfalls geradeaus – und wumms! Es hat

tät einer Epoche, in der in Gestalt des Drei-

schlagen zwischen den Ansprüchen der Älteren

gekracht. Bares Entsetzen. Bei denen, die

ßigjährigen Krieges eine der unbarmherzig-

und denen seiner Zeitgenossen. Heute ist von

wirklich am Steuer sitzen und bei denen, die

sten Schlächtereien aller Zeiten über die

Lohenstein als Bühnendichter so gut wie ver-

dabei sind. Wir, das Publikum, im Online-

europäische Bühne ging.

gessen. Dass seine teilweise recht blutrüns­

Theater, das etliche Formen der Vermittlung

Berlin wurde schon erheblich früher „aus

tigen Dramen zumindest in rigoros geraffter

auf frisch erdachte Weise neu koppelt, halten

Sumpf geboren“, aber ohnedies ist die ur-

Form einen bizarren Reiz entfalten können,

das erste Mal den Atem an. Denn fast allen

sprüngliche Idee des Stücks von matthaei &

veranschaulicht die Aufführung anhand von

ist es vertraut, das mulmige Gefühl, es könnte

konsorten für eine Aufführung in den So-

Auszügen aus dem 1665 entstandenen Trau-

einem selbst widerfahren. Doch es liegt auch

phiensaelen, die „Geburtswehen“ einer spä-

erspiel „Agrippina“. Furios übernimmt dabei

daran, dass die Szene hier nicht gänzlich

teren Metropole wie Berlin zu illustrieren, ein

eine einzige Schauspielerin, Anne Welenc,

Film ist, nicht gänzlich Theater. Man ist ge-

wenig aus dem Visier gerutscht oder diskret in

sowohl die Rolle der Kaiserinmutter Agrippina

flasht von der Wirkung dieses Surrogates. Von

den Hintergrund gerückt worden: Viel eher

als auch die des fatalen Nero, der seine Ge­

der Nähe. Von der „Realität“. Vom Sound. Von

geht es jetzt, unter dem zart-vieldeutigen Un-

bärerin schnöde dahinmetzelt; das Spektakel

den nahen Gesichtern, auf denen man jeden

tertitel einer „Barocknovela“, um eine frei-

mündet in einen mächtigen Showdown, dessen

schiefen Zahn und jeden Pickel sieht. Renate

händig vagierende Abhandlung über die Am-

üppige Farbenpracht und drastische Sym­

(Diana Dengler), Autofahrlehrerin – ausge-

biguität des Barockzeitalters. Doch auch die

bolik eines Arcimboldo oder eines Hierony-

rechnet – hat ihre erwachsene Tochter Rieke

lässt sich in ihrer Komplexität an einem ein-

mus Bosch würdig gewesen wären.

(Tabea Buser) irgendwo abgeholt. Es liegt

zigen Theaterabend kaum befriedigend dar-

Musik (Klaus Janek) und Tanz (Adrian

Spannung in der Luft, denn die alleinerzie-

stellen. In einer (ob freiwillig oder unfreiwillig)

Navarro) kommen in der Barocknovela natur-

hende Mutter will ihre anscheinend einzige

parodistisch anmutenden dramaturgischen

gemäß nicht zu kurz, anfangs sieht man eine

Bezugsperson gerade jetzt davon abbringen,

Intervention versucht der Regisseur Jörg Lukas

Musikantenschar unter Anleitung Johann

aus- und wegzuziehen und sich einem For-

Matthaei uns Zuschauern den subtilen Unter-

Joachim Quantz’, Flötenlehrer Friedrichs des

schungsprojekt im ewigen Eis anzuschließen.

Im Wirbel der Zeiten – In „Die Sumpf­ geborene“ von matthaei & konsorten stoßen Maschinenwesen aus der Neuzeit auf die kuriosen Künste barocker Alchemie. Foto Merlin Nadj-Torma

Großen, der viel zur Beförderung des guten

So weit die Ausgangslage. In den fol-

Geschmacks beigetragen haben soll. Der

genden eineinhalb Stunden Spielzeit von

Spieler André Nittel vom Berliner Theater

„Schleifpunkt“ wird sich die Spannung fast

Thikwa gibt einen Alchemisten und Glasma-

bis ins Unerträgliche steigern. 35 Bilder. Mi-

cher, und die bewegliche Kamera von Florian

nimalistisch szenisch umgesetzt. Sätze wie

Krauss verwandelt das sich verzweigende Ge-

Seziermesser. Die Sequenzen brechen auf,

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auftritt

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Ein Theaterabend, der Hörspiel wird, der Standbild wird, der Erzähltheater wird – „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung (hier mit v.l. Diana Dengler und Tabea Buser) wird in der Regie von Oliver Keller zu einem span­ nungsreichen Digitalhybrid. Foto Jos Schmid

hang

die

schnöde

schichtspezifische

Einordnung des Stücks in der Ankündigung: „Maria Ursprung bringt in ,Schleifpunkt‘ eine akkurate kleinbürgerliche Ordnung ins Wanken“, steht da geschrieben. Als ob die im Stück verhandelten Konflikte nicht universell menschlich wären. // Brigitte Schmid-Gugler

BASEL werden Hörspiel, werden Standbild, werden

Mutter, baut eine Beziehung zu ihr auf. Oder

Erzähltheater, werden Videoclip – mit fanta-

besser gesagt: diese zu ihr. Wie eine zauber-

stischen schwarz-weißen Frostmotiven von

haft anzusehende, aber toxische Flechte brei-

Kevin Graber. Überhaupt ist vieles an der In-

tet sich die kühle, berechnende „Sie“ im

szenierung näher an der bildenden Kunst als

­Leben der beiden Frauen aus. Es beginnt ein

am Theater. Aus der Not des Nicht-spielen-

unheimliches Spiel von Intrigen, Kontroll­

Dürfens in Corona-Zeiten ist verblüffend Neu-

verlust, Verdächtigungen, Projektionen, Gewis­

es entstanden.

sensbissen.

In der Agglomerations-Hölle THEATER BASEL: „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow in einer Schweizerdeutsch-Fassung von Lucien Haug Regie Antú Romero Nunes Bühne Matthias Koch Kostüme Lena Schön und Helen Stein

Das Theater Marie, bekannt als muti-

Nach und nach schlittert die Situation

ges und unkonventionelles spartenübergrei-

ins Groteske. Wer kann wem noch trauen? Wie

fendes freies Theater, herausgewachsen aus

sind Andeutungen zu deuten? Wer macht sich

dem legendären Theater M.A.R.I.A., behei-

etwas vor? Eine dem Format sehr zuträgliche

matet in der Aargauer Kleinstadt Baden,

Leistung gelingt Diana Dengler als Mutter Re-

wächst in dieser Koproduktion mit dem Thea-

nate. Schauspielerisch unprätentiös und na-

„Onkel Wanja“ ist wohl eine der bittersten

ter St. Gallen, wo das Stück produziert wurde,

türlich wirkt sie in ihrer weggelächelten Ver-

Tragikomödien, die Anton Tschechow ge-

über sich hinaus. Maria Ursprungs Text ent-

krampfung

sich

schrieben hat. Auf dem bei ihm üblichen rus-

stand im Rahmen des Dramenprozessors, der

einzuigeln. Matthias Albold als Polizist Rolf

sischen Landgut ist die gewohnt frustrierte

Werkstatt für szenisches Schreiben, und war

stochert mit seinen Annäherungsversuchen

Gesellschaft versammelt, die einander nichts

zu den Autorentheatertagen 2020 am Deut-

im Konjunktiv ihrer Unschärfen herum und

mehr zu sagen hat und doch in einer Mi-

schen Theater Berlin eingeladen. Zu den wei-

gibt schließlich auf. Oder scheinen da plötz-

schung von Selbstmitleid, Larmoyanz, Ver-

teren Partnern dieser Plattform gehören die

lich sadistische Züge bei ihm auf? Tochter

achtung und Selbsthass andauernd quasselt.

auch hier koproduzierenden Bühnen Aarau

Rieke bricht dann doch noch auf und aus.

Hier wird den mitleidenswert Gequälten sogar

sowie das Theater Winkelwiese Zürich.

Allerdings bleibt offen, ob sie in der

die Katharsis der Tragödie verweigert. Die

Die Autorin verwebt Wunschdenken,

Schlussszene, beim Gespräch mit ihrer Mut-

Schüsse, die der durch und durch gedemütig-

Selbstlüge und Existenzängste ihrer Figuren

ter, tatsächlich ihren neuen Job angetreten

te Gutsverwalter Wanja auf den selbstgerech-

zu einem Tarnnetz im Kriegsgebiet der Psyche.

hat, oder ob auch sie nur von einem anderen

ten und verhassten Kunstprofessor abgibt,

Fast bei jedem Satz öffnen sich Falltüren. Die

Leben träumt. Alle springen in diesem Spiel

gehen daneben. Und das hoffnungslose Jam-

Mutter will ihren Crash vertuschen, fürchtet

um Wahrheit und Lügen von Feld zu Feld, wie

mertal bleibt, was es ist.

um Reputation und Einkommen – und allge-

auf einem Brettspiel, so banal, so alltäglich,

mein um den Verlust von „Gewissheiten“ in

so fatal.

und

ihren

Versuchen,

Regisseur und Schauspiel-Co-Direktor Antú Romero Nunes versetzt diesen Plot am

ihrem Leben. Sie bringt das angefahrene

Was bleibt? Eine Art Vakuum. Trotz al-

Theater Basel nun in die Schweizer Gegen-

­Opfer, eine mysteriöse Frau, im Stück ledig-

lem. Man möchte halt schon gern lieber im

wart. Dafür ließ er den Text neu dichten. Das

lich „Sie“ genannt (Judith Cuénod), zu sich

richtigen Theater den Widrigkeiten menschli-

ist an und für sich kein revolutionärer Akt,

nach Hause. Ihre Tochter, erst handlungs­

cher Existenz – inklusive der eigenen – nach-

Regie-Shootingstar Simon Stone hat in der

unfähig angesichts der Entscheidung ihrer

spüren. Schade auch in diesem Zusammen-

vorangegangenen Basler Theater-Ära mit sei-


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nen „Drei Schwestern“ bewiesen, dass eine auf die Gegenwart fokussierte Neudichtung wunderbar funktionieren kann. Doch Nunes führt mit dieser Bearbeitung nicht in eine ästhetisch abgehobene Kunstwelt, sondern direkt hinein in die Vorhölle der Agglomeration während des Pandemie-Lockdowns. Aus dem russischen Landgut wird das Familienunternehmen Rent a Tent, das sich mit dem Verleih von Festzelten in den Außenbezirken einer nicht genannten Stadt kaum über Wasser halten kann. Der junge Basler Autor Lucien Haug hat dafür eine Schweizerdeutsch-Fassung geschaffen, die alle Pro­ tagonistinnen und Protagonisten in ihrem eigenen, aber akzentuiert herausgehobenen Dialekt sprechen lässt. Nur die nicht zur erweiterten Familie gehörende junge Gattin des Kunstprofessors (der hier ein Schriftsteller ist) spricht Hochdeutsch, was ihre Nichtzugehörigkeit betont. An dieses überraschende Setting muss man sich als Zuschauerin oder Zuschauer erst einmal gewöhnen, zumal Nunes die Authen­ tizität des Nach-dem-Schnabel-Sprechens auf karikierende Weise überhöht. Ganz zu Beginn wähnt man sich in einer Mischung ­ aus Comedy und Schmierentragödie. Dazu tragen auch die Bühne von Matthias Koch ­ und die Kostüme von Lena Schön und Helen Stein bei, die den Unort des von einem Zelt überdeckten Agglomerations-Vorgartens und ihrer

gänzlich

gestrig

gekleideten

und

­frisierten Bewohnerinnen und Bewohner herausstellt, als wolle Nunes dem schlechten Unterschichten-TV-Trash der Privaten Konkurrenz machen. Rasch aber dringt eine große psycholo-

als seine Nichte Jasmin (Sonja) dringt die ver-

gische Nähe und Menschlichkeit in der Figu-

lorene Kindheit in ihrem schlaksigen Wesen

renzeichnung durch. Nunes zieht sein Perso-

und einer stets allzu plakativen Ausdrucks­

nal nicht durch den Kakao, sondern befördert

weise zutage. Ueli Jäggi ist als hypochondri-

aller Komik zum Trotz die verlorenen Seelen-

scher Schriftsteller Alexander (Serebrjakow)

welten auf zuweilen schmerzhaft-berührende

die fahrige Selbstgerechtigkeit schlechthin.

Das endlose Palaver der vom Kapitalismus Überrollten – Antú Romero Nunes’ TschechowAdaption „Onkel Wanja“ (hier mit Mala Emde) experimentiert mit schweizerdeutschem Dialekt. Foto Judith Schlosser

Art an die Oberfläche. Jede Figur hat, gefan-

Auch die restlichen Figuren haben ihre

gen in der jeweils eigenen Bubble, ihr ganz

eigenen abgeschotteten Lebenswelten: Die

steht und dauerquasselt Carina Braunschmidt

eigenes Bewegungs- und Sprechmuster, das

von allen Männern begehrte Elena (Mala

als Caro (Telegin), ein Faktotum, das sich im

konsequent durchgehalten wird und das die

Emde) ist die görenhaft und gekünstelt hüp-

Plattitüden-Tsunami ergeht.

Psychogramme dieser vom Turbokapitalismus

fende Unbedarftheit, die die Aufmerksam-

Das alles bleibt textlich und inhaltlich

Überrollten spürbar macht.

keit, welche ihr entgegengebracht wird, ins

sehr nahe bei Tschechow. Nunes und das En-

Dabei kann er auf ein herausragendes

Lächerliche zieht. Der Arzt (und Tschechows

semble führen auf fulminante Weise in die

Ensemble zurückgreifen. Allen voran in der

Alter Ego) Michael (Astrow) ist in der Darstel-

schwer definierbare Sphäre, die Tschechow

schier überwältigenden Darstellung von Unggle

lung durch Sven Schenker gestrandet in sei-

immer wieder als Komödie bezeichnete, die

(Schweizerdeutsch für Onkel) Beat (Wanja):

ner zynischen, aber letztlich unbeholfenen

aber von durch und durch tragischen Schick-

Fabian Krüger besticht und berührt mit seiner

Fortschrittsverachtung. Mutter Monika (Suly

salen erzählt. //

schlurfend mutierten Jammer­gestalt, die sich

Röthlisberger) schmort in ihrem eigenen Ver-

in großer Larmoyanz verliert. Bei Vera Flück

drängungsgefängnis. Und neben all dem

Dominique Spirgi


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HANNOVER

als aktuelles Pandemieopfer zu sehen: Drangsaliert, ja, geradezu hospitalisiert durch die Unmöglichkeit von Nähe lechzt er in der Isola-

Im flirrenden Hamsterrad des Spektakels

tion seines Denkens nach Koordinaten der Verortung in der Welt, nach Berührung mit ihr.

Live-Schalte in den Kopf einer geknechteten Kreatur – Lilja Rupprecht feiert in Büchners „Woyzeck“ (hier mit Sebastian Nakajew) ausgiebig die Lichttechnik, weniger das Drama. Foto Kerstin Schomburg

Name und biografische Fakten bleiben aber seine einzigen Haltepunkte, die brüllt er im-

SCHAUSPIEL HANNOVER: „Woyzeck“ von Georg Büchner Regie Lilja Rupprecht Bühne Anne Ehrlich Kostüme Geraldine Arnold Video Moritz Grewenig

mer wieder seiner Angst entgegen, sich kom-

fähren. Ziemlich allein rast Woyzeck durch seine

plett selbst zu verlieren, und haut zudem pein-

Vorstellungswelt, die in Rupprechts surrealer In-

volle Klischees aus sich heraus, die er unter

szenierung einer Art Live-Schaltung in den Kopf

„Ich bin ein Mann!“ subsumiert. Gefangen

des Protagonisten gleicht.

wirkt dieser Woyzeck in seinen kreiselnden Ge-

Das Filmteam verzichtet dabei auf die

danken-, bedrohlichen Fantasie-, ungeheuerli-

klassischen

chen Erinnerungssplittern – eingesperrt zudem

Streamings, die Bühnentotale zur Orientierung

in ein pathetisch schwarzes Bühnenbild,

und Nahaufnahmen zur empathischen Fokus-

Innerlich hirnwütig fiebernd und äußerlich

durchzuckt von kaltem Neonröhrenlicht (Anne

sierung, vielmehr wird versucht, den Bewusst-

durch ein grausam absurdes Dasein hetzend,

Ehrlich). Dort läuft Nakajews Woyzeck wie

seinstrip in einen Bilderrausch zu übersetzen.

derart büchnerkonform entwickelt Schauspieler

schon so viele vor ihm ohne Ausweg, ohne wei-

Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln

Sebastian Nakajew seine Interpretation des Sol-

terzukommen – im Kreis. Leben im Hamster-

werden in- und vor allem übereinander geblen-

daten Franz Woyzeck am Schauspiel Hannover

rad: ein Höllenkarussell. Die Popanze der ge-

det, hinzu kommen Spielereien mit den Spie-

und zeigt die wohlbekannt geknechtete Kreatur,

sellschaftlichen

und

geleffekten des verschachtelten Bühnenraumes

die keine Chance hat und auch keine bekommt

Hauptmann, sieht man müde watscheln, einen

und den dort projizierten Videos. Dazu dräut,

in ihrem Kampf um ein bisschen Respekt und

Schritt vor und gleich wieder zurück machen,

hämmert, säuselt recht aufdringlich ein techno-

Leben. Aber das Martyrium eines multifunktio-

sich heftigst verrenken oder in alberne Party-

id melancholischer Soundtrack (Romain Fre-

nal devoten Minijobbers bleibt als Verkörperung

choreografien verfallen. Die Welt scheint ver-

quency). Wer jemals einen Woyzeck auf leerer

der Erwerbsarmut in unserem neoliberalen Sy-

rückt, nicht Woyzeck.

Bühne existenziell verzweifeln sah und ihn nun

Repräsentanz,

Arzt

Perspektivwechsel

des

Live-

stem ungenutzt, die Klassenfrage außen vor,

Wer Interaktion zwischen den Figuren,

in diesem optischen Feuerwerk ausfindig zu

eine historische oder politische Verortung der

eine Entwicklung ihrer selbst und ihrer Bezie-

machen sucht, kommt kaum an der Einschät-

Quälgeister Woyzecks spielt keine Rolle.

hungen erwartet, wird enttäuscht. Zu erleben

zung vorbei, dass die Regie weniger überzeu-

Regisseurin Lilja Rupprecht konzen-

sind nur in sich verknäuelte Gecken – als Alb-

gen, sondern vielmehr überwältigen will, sodass

triert sich in ihrer textlichen Kurzfassung auf

traum-Panoptikum Woyzecks. Kurz reiht er sich

Woyzeck auch dagegen kämpfen muss: gegen

Woyzecks emotionale Überforderung, seine

dort ein und kommt mit Kumpel Andres (Sabrina

das Ertrinken in der bilderverwilderten Verfil-

psychische Not und philosophische Verloren-

Ceesay, spielt auch die Marie) in eckigen Mario-

mung seiner Tragödie.

heit. Kündet er doch von der Hohlheit der

nettenbewegungen ins gemeinsame Marschie-

Ob er am Ende seine Marie tötet, wird

Welt, der alle metaphysischen Optionen aus-

ren. Meist aber verkriecht sich der Protagonist in

nicht deutlich. Sie ging wohl auch gar nicht

getrieben wurden. Aber die Aufführung ermög-

seinem massigen Körper, findet kaum Kontakt,

fremd, denn Woyzeck ist nicht nur Woyzeck,

licht auch Assoziationen, den Protagonisten

selbst die Beziehung zu Marie bleibt im Unge-

sondern spielt auch den Nebenbuhler als


auftritt

/ TdZ  Juni 2021  /

­weitere Möglichkeit seiner selbst. Aber damit

springt einer bizarren Vorstellungswelt. „Es ist

überdimensionierten „Hello Kitty“-Kopf (Kos-

scheitert er wie mit allen anderen Identitäts-

das Ende des Realismus“, wie man uns mitteilt.

tüme Benjamin Schönecker), trägt sie einen

versuchen und hält schließlich das ihm un-

Daher lässt sich das pathetisch grun-

leuchtenden Reifen über die weitestgehend

verständlich bleibende Dasein nicht mehr

dierte Stück auch nicht allein, wie der Titel

dunkle Bühne. Auch sie erweist sich als vom

aus. „Als wäre die Welt tot.“ Nakajew lacht

suggeriert, auf das freiheitsfeindliche System

Leben gebeutelt. Allein Schmerz beweise ihre

und weint, wutfunkelnd sein Blick, während

Chinas beziehen. Es erhebt den Anspruch auf

Existenz, so die skurrile Gestalt.

die Bühnentechnik eine gute alte psychedeli-

Allgemeingültigkeit. Beschrieben wird eine

Gemeinsam mit seinem Ensemble, da-

sche Lightshow abfackelt. Das Messer setzt er

vom Hyperfortschritt getriebene Gesellschaft.

runter Silvio Kretschmer, Bernd Geiling,

sich an die Kehle, deutet den Schnitt, den

Wir begegnen sowohl Robotern, die uns Em-

­Barbara Krzoska, Jan Hutter und Verena Bukal,

Exitus als Erlösung aber nur an – wie die In-

pathie vorheucheln, als auch jener Frau, die

zeigt uns der Regisseur ein Land der Wande-

szenierung ihr inhaltliches Interesse. Nicht

ihnen vermeintliche Erinnerungen einge-

rer und Haltlosen sowie eine Epoche, der jed-

rot zum blutig Eisen wird der Mond in Hanno-

pflanzt hat und sich aufgrund ihres öffentli-

weder innere Kompass abhanden­gekommen

ver, ist nur flirrender Lichteffekt eines visuel-

chen Geständnisses auf der Flucht befindet.

ist. Hier und da mögen vertikale Leuchtkörper

Jens Fischer

Als wäre die Regentschaft der Maschinen

noch ein Licht zu erkennen geben. Und hier

nicht schon genug des Übels, werden wir

und da schimmert der Kosmos mitsamt

auch noch eines tyrannischen Staates ge-

­seinen Sternen als Videobild auf. Doch die

wahr. Panzer rollen (in der Mauerschau)

­Zeichen haben ihre Bedeutung verloren, fir-

durch die Straßen, und bald schon ist nur

mieren lediglich noch als Träger einer diffu-

noch das Kochen und Essen erlaubt.

sen, nicht mehr greifbaren Sehnsucht. Weni-

len Spektakels. //

SAARBRÜCKEN Panorama der Einsamkeit

Dass der Text reichlich überfrachtet ist,

ger die konkreten Auswüchse einer Diktatur

macht es für die Regie nicht leicht. Zeitebe-

als

nen wechseln, Miniaturgeschichten werden

Gefühls­lage werden an diesem Abend doku-

angerissen, aber nicht zu Ende erzählt. Statt

mentiert. Es ist ein Gemisch aus eskapisti-

von Narration lebt das Drama von Metaphern

schen Fantasien und äußerster Beklemmung.

und Anspielungen. Zwar gelingt es Schönecker

Vor allem aber: ein Panorama der Einsamkeit.

nicht, die Länge und Sperrigkeit der Vorlage

Sei es die Geige spielende, von Sophokles

gänzlich hinter sich zu lassen. Gleichwohl ver-

entlehnte Antigone (Gaby Pochert), die ihren

fügt er über ein Gespür für die richtigen, die

Bruder in diesem Schreckensregime nicht be-

Zuschauer ergreifenden Bilder. Als berührend

graben darf, sei es der blinde Richter oder die

erweist sich etwa eine Szene mit einer werden-

märchenhafte „weiße Knochenfrau“, die als

Die deutschsprachige Erstaufführung von „Eine

den Mutter. Während auf einer Leinwand das

Inbegriff der Systemaussteigerin gelten kann –

kurze Chronik des künftigen Chinas“ des Hong-

Ultraschallbild eines Fötus zu sehen ist, fragt

sie alle verharren in ihrer Position auf verlore-

konger Autors Pat To Yan mutet in gleich dop-

sich die Frau, ob man überhaupt ein Kind in

nem Posten. Die Saarbrücker Inszenierung

pelter Weise irreal an: zum einen, weil sie –

dieser trostlosen Hölle gebären sollte. Was

von „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“

nach voriger Testung der Besucherinnen und

folgt, ist ein gleißender Schrei, raumgreifend

ist also mehr als reines Polittheater, sie er-

Besucher – tatsächlich live am Saarländischen

und durch ein gigantisches Echo verstärkt.

zählt mithin von den Widrigkeiten der condi-

Staatstheater stattfindet, zum anderen, weil sie

Nicht minder bewegend fällt die Begegnung

tion humaine selbst. //

von einem dystopischen Raum erzählt, in den

mit einer Katzenfigur aus. Versehen mit einem

SAARLÄNDISCHES STAATSTHEATER: „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ (DSE) von Pat To Yan Regie Moritz Schönecker Bühne Benjamin Schönecker Kostüme Veronika Bleffert

uns der Regisseur Moritz Schönecker geradewegs hineinkatapultiert. Zu Beginn blicken wir auf sich am Boden windende Menschen in Schutzanzügen. Erst mit dem „Mann aus der Zukunft“ findet ihr zombieskes Dasein ein vorläufiges Ende. Nachdem dieser uns ankündigt, nie mehr Musicals anschauen zu wollen, berichtet eine Frau vom Albtraum einer Gruppenvergewaltigung durch Regierungsbeamte. Was sich vor unseren Augen abspielt, beruht auf keiner Ursache-Wirkung-Logik, sondern ent-

Ein Stück, das keiner Ursache-WirkungLogik folgt – „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ von Pat To Yan in der Regie von Moritz Schönecker ist mehr als reines Polittheater. Foto Martin Kaufhold

vielmehr

die

damit

einhergehende

Björn Hayer

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Dysfunktionales Königshaus – „Princess Hamlet“ von E. L. Karhu in der Regie von Marie Bues und Niko Eleftheriadis ist eine bilderstarke Theaterfilmserie, die einzig durch zu viele Effekte die emotionale Tiefe zu verlieren droht. Filmstill Grigory Shklyar

durch den Raum. Mit griffigen Bildern spiegelt der Videokünstler den Zerfall des Königreichs, der in Prinzessin Hamlets Tod gipfelt. Das filmische Endzeitszenario wird durch die Musik aufgeladen. Der Musiker und

STUTTGART Königreich im freien Fall THEATER RAMPE: „Princess Hamlet“ von E. L. Karhu in einer Fassung des Theaters Rampe Regie Marie Bues und Niko Eleftheriadis Ausstattung Indra Nauck

nahmen ein. Mit kalten Blicken steigert Koro-

Performer Johannes Frick, der auch als Ofelio

lov diesen Schmerz ins Unendliche. Anfangs

den Geliebten der falschen Prinzessin verkör-

sitzen die Freundinnen Hamlet und Horatia in

pert, unterlegt den virtuellen Raum lustvoll mit

der Badewanne, verstricken sich in erotische

Klängen, die Unbehagen auslösen, verzerrt

Spiele. Florentine Krafft bewegt sich virtuos

Elton Johns Popsong „Candle in the Wind“ ­

auf dem schmalen Grat zwischen Freund-

und steuert eigene, psychedelische Klang­

schaft und Konkurrenz. Als die Prinzessin von

welten bei. In den vier Serienteilen, die jeweils

ihrer Mutter in die Verbannung nach London

zwischen 18 und 25 Minuten dauern, steigert

geschickt wird, ist sie es, die mit billiger Pe-

sich die Angst. Auf dramaturgische Verbin­

rücke und falschem Grinsen die Rolle der

dungen zwischen den Folgen verzichtet das

Thronfolgerin übernimmt. Diese Maskerade

Regieteam. Hamlet, Getrud, Horatia und Ofelio

kostet die Schauspielerin bis zum Exzess aus.

legen jeweils aus ihrer Sicht die Lebenslügen

Vor laufenden Kameras verkauft Grazia

offen, mit denen sie ihre Existenz sichern.

Als brennende Fackel möchte Prinzessin

Pergoletti als Königin und Mutter Gertrud das

„Princess Hamlet“ in der Fassung der

Hamlet ihr Leben beenden. Vom Felsen will

trügerische Ideal eines heilen Königreichs.

Rampe überzeugt durch Tempo und starke

sie sich ins Meer stürzen. Die Rolle, die der

Sie stopft sich und ihre Tochter mit Austern

Filmbilder. Was in der digitalen Theaterserie

Staat ihr zugedacht hat, will sie nicht mehr

voll, statt ihr den Weg ins Erwachsenwerden

zu kurz kommt, ist eine tiefere Einsicht in die

spielen. Filmbilder ihres spektakulären Ab-

zu ebnen. Der Part der Patriarchin liegt ihr.

seelische Zerrissenheit der Hauptfigur. Gran-

gangs flimmern über den Bildschirm. Das Kli-

Als „kleiner Bruder“ von Hamlets totem Vater

diose Film- und Theatereffekte verstellen den

schee von der strahlenden Thronfolgerin ver-

und Gertruds neuer Ehemann verzerrt Niko

Blick auf den verzweifelten Kampf einer Frau,

pufft im digitalen Nichts. „Eine Tragödie im

Eleftheriadis seine Figur ins Komische. Die

die um ihre weibliche Identität ringt. //

Comic-Format“ hat die finnische Autorin

Auftritte des Mannes an der Seite der Königin

E. L. Karhu ihren Text „Princess Hamlet“ ge-

sind zwar witzig, aber bleiben plakativ.

nannt. Darin zerstört die 39-jährige Dramati-

In rotes, pinkfarbenes und türkisfarbe-

kerin Rollenbilder ebenso wie Repräsenta­

nes Licht taucht Videokünstler Grigory Shklyar

tionsmuster der Medien. Das Regieteam aus

die wechselnden Räume. Mit schnellen

Marie Bues, Co-Intendantin des Theaters

Schnitten peitscht er die Figuren durch das

Rampe, und Niko Eleftheriadis hat daraus

Königreich im freien Fall. Die Szenen auf

eine vierteilige digitale Theaterserie gemacht.

Hamlets Felsen sind auf einem Trümmerberg

Jeder der vier Teile erzählt die Ge-

gedreht, die Figuren blicken über Stuttgart. In

schichte aus der Perspektive einer anderen

Bues’ und Eleftheriadis’ kritischer Lesart en-

Figur: Hamlet, Gertrude, Horatia und Ofelio

det ihr Horizont allerdings im Ehebett. Indra

reflektieren den Stoff aus unterschiedlichen

Nauck hat Kostüme geschaffen, die weibliche

Blickwinkeln. Was im Text der Autorin fehlt,

Macht spiegeln. Wenn die Königin ihrer Toch-

sind die Väter und die Geister der Vergangen-

ter Hamlet das feminin geschnittene Kleid

heit, gegen die William Shakespeares Dänen-

auszieht, spricht aus den knappen Bewegun-

prinz einst rebellierte.

gen der Prinzessin Demütigung und Wut.

Elisabeth Maier

ZÜRICH Die Stunde, in der wir nichts mehr voneinander wussten SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH: „Afterhour“ von Alexander Giesche Regie Alexander Giesche Bühne Nadia Fistarol Kostüme Felix Siwiński

Als Prinzessin Hamlet arbeitet sich

Dem Regieteam gelingt es in den vier

Yevgenia Korolov an ihrer Mutter und an ihrer

Folgen nicht nur, „Hamlet“ aus weiblicher

Lebensabschnittsgefährtin Horatia ab. Klug

Sicht neu zu erfinden. Grigory Shklyar hat einen

zeigt die Schauspielerin die Wunden, die ihre

Theaterfilm gedreht, der sich von der Dramatur-

Ein paar technische Geräte, einige Maus-

Mitmenschen ihr schlagen. Das Brandmal in

gie des Theaters löst. Auf dem Bildschirm geht

klicks, und in „Afterhour“ brennen die Wäl-

ihrem Gesicht fängt die Kamera in Detailauf-

Hamlets Körper in Flammen auf. Geschirr fliegt

der. Eine Feuerwalze rast auf das Publikum


auftritt

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zu, Bäume bersten, Holz zischt. Alles nur

anfang ist. Die Box bietet allen möglichen

Wodianka, Daniel Lommatzsch und Teresa ­

Fake natürlich, Video killt die Realität. Hier

zeitgeistigen und elektronischen Licht- und

­Vittucci dazu. Zu hören ist zunächst nichts als

geht die Welt unter für einen exklusiven Kreis

Design-Gadgets eine Bühne, und das Ensem-

ihre Atemgeräusche; die Suche nach Luft, das

von fünfzig Zuschauenden, die brav entlang

ble schleppt sie Stück für Stück aus dem Off.

Ringen um Luft sogar haben wir ja als Sound

der Wände auf harten Kirchenbänken sitzen.

Zum vernebelten Ende ist das ein technisch

der Gegenwart deuten gelernt.

In der Schiffbau-Box entfaltet sich eine Art

hochgerüsteter Monstergrill, Urbild für die

Und schon wird das metaphorische

schwarze Messe, ein mystisches anarchisches

männliche Idee, am Herd seine Herde erhal-

Feuer des Fortschritts mit einer Kabelrolle in

Techno-Ritual: Wo immer Alexander Giesche

ten zu wollen.

den Raum getragen. Ein Lagerfeuer dient der

eine Bühnenparty ausrichtet und jetzt den

„Afterhour“ spielt in den Stunden, in

Gruppe letzter oder erster Menschen als Ver-

kollektiven comedown dazu inszeniert, sein

denen wir nichts mehr voneinander wussten.

sammlungsort, und die Fackel irrlichtert LED-

Spektakel ist von besten Eltern.

Denn wohin mit der Sehnsucht nach Berüh-

kompatibel. Der prometheische Hightech-

In Zürich ließen er und seine Kollabora-

rung in der Pandemie? Natürlich, ins Theater

Herd ist jedoch schnell außer Kontrolle – ein

teure es auch schon mal irre regnen, man hat

damit. Gemeinsam in einem Bühnenraum sit-

Lagerfeuer ist mit Vollatemmasken hörbar

für „Der Mensch erscheint im Holozän“ von

zen, neben einem atmenden, lebendigen Kör-

schwer zu entfachen – und setzt schließlich

Max Frisch den feuchten Tessiner Bergfrühling

per, eine Menschenbatterie quasi, die sich

die Welt in Flammen.

ins Schauspielhaus geholt. Nadia Fistarol hat

am Herzschlag des jeweils anderen auflädt.

Feuer, Licht, Dunkelheit und ein Sub-

damals die Bühne gebaut, die als Leerstelle

Wie, wenn nicht im Theater, findet

der Fantasie alle Möglichkeiten bot. Für „Af-

unter den Bedingungen sozialer Isolation ­

Schiffbau-Box.

terhour“ zur Komposition von Ludwig Abraham

und körperlicher Entfremdung Gemeinschaft

Bildergedicht „Afterhour“ hat ein solches

und in den Kostümen von Felix Siwiński räumt

statt? Um Vergemeinschaftung geht es an

Maß an verflixtem Hintersinn und wirkt derart

sie erneut den Raum leer.

diesem Abend, und das Bühnenuniversum

euphorisierend, dass die Behauptung leicht-

Platz im Kopf soll sein, Platz für

ist zwar leer, doch der Glaube an die Götter

fällt: Diese etwas andere Party mit Maske ist

­Giesches spekulatives, assoziatives Metaphern-

funktioniert. Prometheus allerdings wäre hier

ein Höhepunkt der Schweizer Theatersaison

theater. Die Videos von Luis August Krawen

ein Elektriker. Sein Feuer ist nicht von Helios’

im Davor und Danach einer Zeit, die wir nicht

erzählen vom Ende der Welt, wie wir sie ken-

Sonnenwagen, sondern aus der nächsten

für möglich hielten. Hier ergibt Corona-Thea-

nen – ein Ende, das vielleicht auch ein Neu-

Steckdose. Die Spielerinnen und Spieler tra-

ter Sinn, weil es sinnlich ist. Giesches Meta-

gen zu Beginn eine Atemschutzmaske, und

pher ist eine zeitkritische Gefühlserkundung

man belauert sich gegenseitig skeptisch: Bist

(nach) der Pandemie. Die Zeit des Danach

du der Erreger, ist er es?

und die Jetztzeit jedenfalls lassen sich hier

Wenn der prometheische Hightech-Herd außer Kontrolle gerät – Alexander Giesches „Afterhour“ feiert am Schauspiel Zürich eine schwarze Messe über den Zustand unserer Welt. Foto Eike Walkenhorst

woofer, ein Infraschall-Bass, erschüttern die Giesches

halluzinierendes

Karin Pfammatter und Maximilian

nicht mehr voneinander unterscheiden. Das

­Reichert haben schon in Giesches „Holozän“

neue Motto der Stunde scheint das alte zu

ein Beckett’sches Paar der Art von Estragon

sein: Berühr’ mich, aber fass’ mich nicht an. //

und Wladimir gespielt. Nun stoßen Thomas

Daniele Muscionico

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stück

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Wenn der Moment der Verletzlichkeit zur Ware wird Der Autor und Regisseur Boris Nikitin über sein für die Mülheimer Theatertage nominiertes Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ im Gespräch mit Sabine Leucht Boris Nikitin, Ihr aktuelles Stück „Erste Staffel.

Ich wollte das 20. Jubiläum der ersten Staffel

doch ebenso als ein zynisches Modell unserer

20 Jahre Großer Bruder“, das am Staatstheater

zum Anlass nehmen, ein Zeitfenster aufzu­

Zeit. Die sozialen Medien funktionieren heute

Nürnberg uraufgeführt wurde, bezieht sich sehr

machen. Ich und meine Freunde haben uns

ähnlich: Es ist schwer, den sich dort äußern-

konkret auf die berühmt-berüchtigte TV-Show

damals über diese Formate lustig gemacht.

den Personen keine hidden agenda zu unter-

„Big Brother“, die in Deutschland im Jahr 2000

Heute sind wir alle dazu aufgefordert, zum

stellen, handelt es sich bei diesen Medien ja

auf RTL II gestartet ist. Haben Sie die erste Staf-

PR-Manager unseres Selbst zu werden, um ­

strukturell in den meisten Fällen um Werbe-

fel damals gesehen?

nicht in der Unsichtbarkeit zu versinken. Dass

plattformen in eigener Sache.

Nein, für mich war das eine Form von Trash, die

„normale“ Menschen, die nicht qua Beruf im

mich zu der Zeit noch nicht interessiert hat. Ich

Entertainment tätig sind, zum Gegenstand der

Es ist ein Leben unter drei Imperativen, die

war Anfang zwanzig und hatte mich in einer ge-

Kamera werden, dass das gewöhnliche und all-

eigentlich nicht miteinander kompatibel sind: ­

wissen naiven Überheblichkeit eingerichtet.

tägliche Sosein zum zentralen Rohstoff eines

Zeigt euch, wie ihr seid! Vertragt euch! Unter-

kompletten Zeitalters und unsere Privatsphäre

scheidet euch, und setzt euch gegen die ande-

Sie haben sich also der ersten Reality-Show im

gläsern geworden ist: das hat damals angefan-

ren durch!

deutschen Fernsehen erst wieder als Theater-

gen. Das ist die Behauptung des Abends.

Eigentlich würde man sagen: All diese Wider-

macher genähert, der schon etliche Stücke mit

sprüche kann man gar nicht aushalten. Doch

Titeln wie „Imitation of Life“ oder „Sei nicht du

Sie haben in Ihrem 2017 entstandenen „Ver-

das Verrückte ist: Es geht! Auch wenn es das

selbst!“ geschrieben und inszeniert hat.

such über das Sterben“ über das Offenbaren der

gesamte Leben unter eine Spannung setzt, an

Gewissermaßen ja. Als ich in den nuller Jah-

eigenen Verwundbarkeit als Stärke gesprochen,

die wir uns heute irgendwie gewöhnt haben,

ren in Gießen studierte, habe ich mich viel

die einem eine größere politische Wirksamkeit

selbst wenn wir permanent spüren, dass

mit dem Thema der Selbstdarstellung und

verleiht. Hat diese Geste im „Big Brother“-­

­etwas nicht stimmt.

der Darstellung „echter“ Menschen auseinan-

Container ihre Unschuld verloren?

dergesetzt und die Behauptung des „echten

Ja, vielleicht. Insofern es hier nicht um ein

Zum Thema Gewöhnung gibt es eine Szene im

Ich“ kritisch gesehen. Ich empfand derartige

politisches Sichtbarmachen geht, sondern

Stück, in der Andrea mehrmals hintereinander

Setzungen im Theater in vielen Fällen als

der Moment der Verletzlichkeit zur Ware ge-

eine Tüte Kaffeepulver fallen lässt und erklärt,

­Reduktion von Komplexität, weil die Perso-

worden ist. Die Leute im Container sind ver-

es fühle sich mit jedem Mal normaler an: „This

nen auf ein Selbst festgenagelt wurden oder

wundbar, weil sie sich mit ihrem bürgerlichen

is repetition, this is reality.“ Ist das ein Schlüs-

sich selbst festnagelten, das sie beim Verlas-

Selbst und dem eigenen Namen einer Öffent-

selsatz?

sen der Bühne nicht einfach als Rolle ablegen

lichkeit als Objekt präsentieren und dabei

Dass Wiederholung zur Gewöhnung führt, be-

können. Insofern war es auch eine Reduktion

bewertet werden. Sie verwerten sich ganz.

schäftigt mich schon lange. Realität ist Wieder-

von Möglichkeiten, die sich verschärfte, wenn

Verschärft dadurch, dass es sich um einen

holung. Beim ersten Mal ist es seltsam, beim

Menschen, die sich selbst repräsentieren soll-

Wettbewerb handelt. Der Container ist keine

zweiten Mal gibt es etwas, das man wiederer-

ten, von anderen auf die Bühne gestellt wur-

simple Zoo-Situation, sondern das Ganze hat

kennt, und beim dritten Mal wird es zur Form.

den. Das hat mich beschäftigt.

eine Casting-Struktur, wodurch jedes Verhal-

Eigentlich banal. Wir haben Anfang April 2020

ten nicht nur beobachtet wird, sondern zu-

mit Masken proben müssen, was wir anfangs

Bei „Big Brother“ wie in „Erste Staffel“ ist die

gleich automatisch unter Verdacht steht: von-

unangenehm und auch etwas peinlich fanden.

Rahmung der Container, dessen Bewohner 102

seiten des Publikums, das immer darüber

Aber spätestens nach ein paar Tagen war es

Tage lang Alltag spielen und dabei beobachtet

nachdenkt, ob eine Person sich auf eine be-

eine Tatsache, an die wir uns gewöhnt hatten.

werden. Wenn Sie Ihrem Stück die Sätze voran-

stimmte Weise verhält, um in der Gunst der

Beziehungsweise haben wir uns an den Wider-

stellen: „Früher haben wir über den Container

Zuschauer:innen zu steigen, aber auch die

spruch gewöhnt, dass man sie trägt, obwohl

gelacht. Heute sitzen wir alle selbst drin“, kann

Bewohner:innen untereinander beobachten

man sie nicht tragen will. Ein verblüffender

das derzeit von der Corona-Isolation bis zur

und bewerten sich ständig. Das ist konzeptio-

­Aspekt von Realität: Man gewöhnt sich nicht

­Social-Media-Bubble vieles bedeuten. Was mei-

nell genial für die Show, die ich überhaupt als

nur an die Dinge, sondern auch daran, dass

nen Sie damit konkret?

ein großes Kunstwerk bezeichnen würde, je-

man sie aushält. Dasselbe gilt für die Wett­


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boris nikitin_erste staffel. 20 jahre grosser bruder

bewerbssituation. Insofern ist es schon ein Schlüsselsatz in dem Stück. In der Aufführung gibt es einige Momente, in denen einem der Atem stockt: Wenn etwa Jürgen in einer entspannten WG-Szene beteuert: „Ich würde euch nie nominieren“, sprich: rausvoten – und kurz danach ploppt eine Einblendung mit den Namen auf, die jeder am folgenden Tag zum Ausscheiden aus dem Container vorgeschlagen hat. Auch das sind Widersprüche, die ausgehalten werden. Zugleich war ich beim Schauen der Originalfolgen sehr davon bewegt, was menschlich zwischen den Bewohner:innen passiert ist. Durch die großzügig bemessene Zeit scheinen sich innerhalb des Containers soziale Beziehungen herausgebildet zu haben, die ich den Protagonist:innen wirklich abgenommen habe. Es gab sogar Versuche, sich gegen den Nominierungszwang zu verbünden. Man muss sich das nur mal vorstellen: Man versucht, sich eine gute Zeit zu machen, und es geht dabei dauernd um eine Bewertung deines Selbst. Mich hat das an den Sportunterricht in der Grundschule erinnert, wenn Teams gewählt wurden und man Angst hatte, dass einen niemand will. Mit dieser kindlichen Angst des Nicht-Gemochtwerdens spielt diese Containersituation. Und aus der Spielstruktur, in der die Kameras 24 Stunden pro Tag an sind, gibt es kein Entkommen. Das ist ihr totalitärer Charakter. Und dennoch haben die Bewohner:innen es geschafft, sich den Container irgendwie anzueignen, was vielleicht nur deshalb möglich war, weil sie die Ersten waren und selbst noch nicht wussten, wie das, was sie tun, von außen ausschaut. Diese subver­ sive Naivität ist nicht wiederholbar.

Boris Nikitin, geboren 1979 in Basel, ist seit seinem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen als Autor und Regisseur in der internationalen freien Szene sowie an Staats- und Stadttheatern tätig. Daneben kuratiert er seit 2013 das zweijährliche Festival It’s The Real Thing – Basler Dokumentartage. 2017 wurde er mit dem Jakob-Michael-ReinholdLenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena sowie 2020 mit dem Schweizer Theaterpreis ausgezeichnet. Sein neuestes Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ wurde im September 2020 am Staatstheater Nürnberg uraufgeführt und zu den diesjährigen Mülheimer Theater­ tagen und dem Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Foto Johannes Mass

Hatten Sie auch Kontakt zum ursprünglichen „Big Brother“-Cast?

Merkmal es gerade ist, keine Profis zu sein,

in das Material einschreiben, mich selbst

Ich habe Sabrina und Alex getroffen. Die erste

fand ich sehr reizvoll.

­outen. Das ist ohnehin ein Thema, das mich

Stückidee war, einen Abend mit der komplet-

beschäftigt. Es ist also auch viel Dichtung im

ten Originalbesetzung aus dem Jahr 2000 zu

Können Sie beschreiben, wie das Stück entstan-

Text. Und dass sich der zweite Teil noch einmal

machen. Es sollte eine Überschreibung von

den ist, dessen ästhetisch überformte, narrativ

in eine andere Richtung bewegen würde, hat

Tschechows „Kirschgarten“ werden: Wir keh-

surreale Passagen gegen Ende die Überhand

sich während des Schreibens und aus Improvi-

ren alle nochmals in den Container zurück,

über die scheinbar dokumentarischen gewinnen?

sationen der Schauspieler und Schauspielerin-

aber wir sind zwanzig Jahre älter geworden,

Die konzeptuelle Setzung am Anfang des Pro-

nen entwickelt, entspricht aber auch der Struk-

und die Welt hat sich verändert. Darin hätte

zesses war die eines Reenactments. Es sollte

tur vieler meiner Stücke und Inszenierungen.

sich – so dachte ich – eine Wahrheit jenseits

aber nie eine saubere Eins-zu-eins-Reproduk­

Wenn man dem Abend eine Identität gibt, die

der Bilder offenbart: die Realität der Zeit, der

tion werden, in der nur O-Ton-Material in einem

sich dann jedoch unerwartet ändert, werden

Sterblichkeit, der Verwundbarkeit. Als sich

anderen Rahmen oder Zusammenhang präsen-

die vergehende Zeit und die Realität als etwas

zeigte, dass die Idee so nicht realisierbar ist,

tiert würde. Das hätte zwar seinen Reiz gehabt,

Organisches, Veränderbares physisch spürbar.

habe ich das Konzept verändert. Die Idee, dass

zugleich habe ich einen solchen Ansatz aber

Das ist für mich ein zentrales Element von

professionelle Schauspieler:innen Menschen

immer als ein wenig feige empfunden. Ich

Theater: die Lust und Sehnsucht nach Verän-

darstellen sollten, deren entscheidendes

­hatte das Gefühl, ich muss mich als Autor mit

derung. //

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Boris Nikitin

Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder Früher haben wir über den Container gelacht, heute sitzen wir alle drin.

Die Namen der Charaktere sind der ersten Staffel der Reality-Show „Big Brother“ aus dem Jahr 2000 entnommen.

Erster Akt

Einblendung Es ist der Jahreswechsel 1999 / 2000. Der Millen­ nium-Crash ist nicht eingetreten. Computer, das Internet, Überwachungskameras – alles läuft wei­ ter. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Vize Joschka Fischer gehen in ihr zweites Amtsjahr. Die US-amerikanische Sängerin Britney Spears führt mit dem Song „Oops, I did it again“ die Charts an. Mohammed Atta, ein junger Stu­ dent aus Saudi-Arabien, ist in Hamburg an der Technischen Universität eingeschrieben und be­ schäftigt sich mit Maschinenbau. Und in einer un­ bedeutenden Stadt in Deutschland ziehen zehn unbekannte Menschen in einen Container, um sich für eine TV-Show während hundert Tagen rund um die Uhr von einer ganzen Bevölkerung bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachten zu lassen: Zähneputzen, Kartenspielen, Schlafen, Duschen, Smalltalk, Essen, Sex.

Prolog Heute ist Tag 65. Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Gestern gab es einen Streit mit –. Da ist was unglücklich gelaufen. Morgen ist wieder Sonntag. Ich bin nominiert und es könnte sein, dass ich das Haus verlassen muss. Vielleicht wär das gut. Wieder ein normales Leben führen. Im Café sitzen. Echte Menschen. Aber ob das noch gehen wird? Das hier verändert uns. Ich weiß gar nicht, zu wem ich eigentlich spreche. Spreche ich überhaupt zu jemandem? Ihr da draußen denkt: Die armen Schweine, was machen die. Ihr da draußen denkt, ihr wärt sicher da draußen. Aber niemand ist sicher, niemand. Dieses Draußen gibt es nicht mehr.

Alle Tätigkeiten der Bewohner*innen werden rund um die Uhr von Videokameras gefilmt und ins In­ ternet übertragen. Das Ganze ist zugleich ein Wett­ kampf, bei dem nach und nach die einzelnen Kandidat*innen vom Fernsehpublikum aus dem Container gewählt werden. Sechs dieser Kan­ di­ dat*innen werden heute durch Schauspie­ ler*in­ nen des Nürnberger Staatstheater-Ensem­ bles ­repräsentiert. Das Konzept der TV-Show ist neuartig. Sowas habe es hier noch nie gegeben, verlautbaren die Leitme­ dien der Bundesrepublik. Die Show hat den Charakter eines sozialen Experi­ ments: Was genau passiert, wenn eine Handvoll Menschen sich über längere Zeit einen Wohnraum teilen muss, ohne diesen verlassen zu können? Was passiert, wenn sie dabei permanent beobach­ tet werden? Wie würden sich die Personen verhal­ ten? Wie auf die Situation reagieren? Ohne dass die Produzent*innen und Kandidat*in­ nen es ahnen, wird damit ein neues Zeitalter ein­

geläutet. Das Zeitalter der Reality. Wissen­schaft­ ler*innen werden später behaupten, dass in dieser Reality unbewusst sämtliche Mechanismen des Populismus im 21. Jahrhundert angelegt wurden. Dies ist eine Rekonstruktion. Bei den Texten handelt es sich zu 100% um Origi­ naldialoge aus der Show. Sie sind komplett erfunden.

1. Vor dem Container. John: Mach bei mir direkt 80 drauf. 80. Alex: Mach 60. Jürgen: Mach einfach zwei 10er. Alex: Ihr Freaks, ihr. John: Ach was heißt hier Freak? Ich sag mal, ich hab mir einfach für hier drin soweit vorgenom­ men, dass ich sage: Die Zeit hast du ja, dann wärst du ja schön doof, verstehst du? Jürgen: Ja, irgendwo schon. John: Auch wenn nicht, ich mein, du wirst dich einfach irgendwann ärgern, wenn du sagst: Die ollen antrainierten Titten weg, der Bauch raus, und jetzt sind die hundert Tage abgelaufen, weißt du? Jürgen: Klar, die Zeit musst du produktiv machen. Alex: He, Andrea. Du schaust besorgt aus. Traurig? Andrea: Irgendwie seltsam. Ich hab das Gefühl, dass ich hier drin schneller altere als draußen. Schaut mal. Jürgen: Drück ein paar Gewichte, das hält fit. Nur die Fitten überleben. Andrea: Die Angepasstesten. Die Angepasstesten überleben. Das hat mit Kraft nichts zu tun. Schaut euch mal diese Haut an. Kann doch nicht wahr sein, diese Struktur. Muss Krebs sein oder sowas. Was ist mit diesem Körper los? Alex: Hast wieder schlecht geschlafen diese Nacht? John: Ich schlaf hier wie ein Baby. Andrea: Ich wundere mich, dass ich überhaupt bis hier überlebt hab. Bin ein schlechter Schläfer, seit ich mich erinnern kann, schon als Kind. Hab ich

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immer Stunden gebraucht, bis ich eingeschlafen bin. Eigentlich keine so guten Voraussetzungen für dieses Leben. Jürgen: Das ist natürlich scheiße, sowas. Ein guter Freund von mir leidet unter Schlaflosigkeit, der pennt dafür am Tag einfach so ein, und stell dir vor, manchmal, wenn er dann aufwacht, weiß er nicht, wo er ist. Das ist wie Schlafwandeln. An­ scheinend steigt da im Gehirn eine Funktion aus, die den Körper mit dem Raum verbindet. Ver­ rückt, oder? Alex: Was hast du denn in der Zeit gemacht, in der du nicht einschlafen konntest? Andrea: Nachgedacht. Jürgen: Worüber denkt ein kleines Mädchen nach, wenn es nicht einschlafen kann? Andrea: Alles Mögliche. Das, worüber alle Kinder dieser Welt nachdenken. Alex: Und was ist das? Andrea: Wie komm ich von hier weg?! John: Klingt wie bei uns früher im Osten. Alex: Gleich gibt es essen. Andrea: Ich hab auch echt Hunger. Alex: Das wichtigste beim Grillen: Wenn du mit Kohle arbeitest, brauchst du Briketts und Kohle. Briketts, damit es länger hält. Is’ so! Jürgen: Ich hör dir ja zu. Alex: Dann machst du dir einen Kreis aus Kohle. Einen Kranz. Das nennt man den Kohlekranz. Sieht aus wie ein kleiner Vulkan. Machst du Brenn­ spiritus. Außen rum. Dann kommst du ran mit dem Feuerzeug, zündest an. Jetzt arbeitet sich das Feuer, arbeitet sich in die Mitte zu den Briketts, die fangen dann an zu glühen und das ist wichtig: Wenn’s glüht – weg, denn dann wird’s richtig heiß. John: Die Kohle brennt, dann glüht sie und dann erst ist es heiß? Jürgen: Jetzt kommt die Preisfrage. Pass auf. Jetzt ist das Fleisch auf dem Grill. Jetzt brennt das Fleisch. Das Fett. Alex: Ja, tropft runter. Und brennt. Jürgen: So. Ablöschen mit Bier oder nicht? Andrea: Hübsches Tattoo, übrigens. Wollte ich dir schon seit Wochen sagen. John: Danke. Andrea: Ich hab auch zwei. Alex: Die hast du aber gut versteckt. Ich dachte, hier würde einem nichts entgehen. Jürgen: Sie ist eben ein diskreter Mensch. Alex: Diskrete Menschen sind mir suspekt. Sind höflich, haben ein freundliches Lächeln, strahlen genug menschliche Wärme aus, dass man ihnen das Herz ausschüttet, bevor sie einen dann von hinten erstechen.

boris nikitin_erste staffel. 20 jahre grosser bruder

Andrea: Hast wohl schlechte Erfahrungen ge­ macht, draußen. Alex: Draußen. Drinnen. Da gibt es keinen Unter­ schied. Jürgen: dreht sich auf dem Liegestuhl. So, das Hähnchen wendet sich. Andrea: Hat es denn eine spezielle Bedeutung, dein Tattoo? John: Hab ich mir vor zwölf Jahren zum Geburts­ tag in Leipzig stechen lassen, als Erinnerung an die NVA. Alex: Ein Grenzer. John: War da mit einem Kumpel eine Woche auf Wache stationiert, im Winter. Hat mehrere Tage durchgeregnet. Überall nur vernebelte, graubrau­ ne Wiesen, kackbrauner Matsch und Stacheldraht. Eines Morgens hat sich ein krankes Reh darin ver­ rannt. Mein Kumpel und ich versuchten es aus dem Draht raus zu flechten, aber da war nichts zu machen. War ziemlich deprimierend. Ein paar Tage später ist er durchgedreht. Andrea: Was ist passiert? John: Er griff zu einer Glock und hat sich bei blas­ sem Mondschein selbst ein Genickschuss versetzt. Da wusste ich: Es ist vorbei. Ein Land, dass sein Volk nicht liebt, ist dem Untergang geweiht. Jona kommt aus dem Container raus. Jona: Morgen! Andrea: Bist du nicht etwas zu jung, um bei der NVA gewesen zu sein? Alex: Der erzählt nur Geschichten. Du erzählst nur Geschichten. Andrea: Gefällt dir, dass man bei dir nie weiß, wo­ ran man ist? John: Ist eine Frage des Standpunktes. Bist du im­ mer ehrlich? Andrea: Immer. Ich hab dich letzte Woche nomi­ niert. John: Und warum? Andrea: Ich konnte mich nicht entscheiden. Hab eine Münze geworfen. John: Ich dachte, sowas tut man nur in der Armee. Alex: Das hier ist ja auch sowas wie ein Bunker. John: Du hast mich nominiert, weil du mich magst. Andrea: Dich zu mögen, ist meine letzte Sorge hier. Einblendung Im Container herrschen verschiedene Regeln. Zentraler Bestandteil der Show ist z. B. die voll­ ständige Isolation der Bewohner*innen. Sie sind über die Dauer ihres Aufenthaltes im Container

14.-16. September 2021 Radialsystem Berlin & Digital www.bundesforum.art Politik, Kunst- & Förderpraxis im Dialog

von der Außenwelt abgeschnitten. Es besteht strik­ te Informationssperre. Die wichtigste der im Container herrschenden Re­ geln betrifft das Selektionsverfahren. Alle zwei Wo­ chen nominiert jede*r Bewohner*in zwei andere Mitspieler*innen. Das Fernsehpublikum entschei­ det im Verlauf der folgenden Woche per TelefonAbstimmung, wer von den Nominierten das Haus verlassen muss. Den abstimmenden Zuschauer*in­ nen winkt als Preis ein DVD-Player der Marke Grundig im Wert von 3000 Mark. Von den am Ende übrig bleibenden drei Kandidat*innen wird schließlich eine Person als Gewinner*in gewählt. Die Gewinnsumme beträgt 250000 Mark.

2. Vor dem Container. Jona und Jürgen. Die anderen sind im Container. Jona: zu den Hühnern Putt putt putt putt! Na guten Morgen ihr kleinen Mistviecher. Habt ihr gut geschlafen in eurer klei­ nen, verbarrikadierten Scheißkiste? Ihr habt’s gut, euch ist das alles egal, was? Checkt gar nicht, was mit euch passiert. Könnt von Glück sprechen, dass ihr nicht beim Schlachter gelandet seid; habt die philosophische Dimension eurer Existenz hier noch gar nicht richtig überblickt, was? Wusstet ihr, dass der Mensch das erfolgreichste Säugetier ist, rein von der Verbreitung her auf dem Planeten. Gefolgt vom Schwein und vom Hund. Jürgen: Ziemlich professionell sieht das aus. Jona: Das sieht nicht nur professionell aus, das ist professionell. Meine Mutter ist auf einem Bauern­ hof groß geworden, mit allem drum und dran, Schweine, Kühe, Hühner, tiefster urdeutscher Pro­ testantismus. Viele Geschwister. Männer die ihre Frauen schlagen. Habs von meinen Großeltern gelernt. Jürgen: Das Schlagen? Jona: Wie man mit Tieren umgeht. Ist eine Welt für sich. Füttern, pflegen, waschen, paaren. Schlach­ ten. Jürgen: Hast du das schon mal gemacht? Ich mei­ ne das Schlachten. Jona: Ich kann dir einen kompletten Hasen aus­ nehmen. Jürgen: Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich hab mal im Fernsehen eine Dokumentation über einen Schlachthof gesehen. Das war ziemlich bru­ tal.

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Jona: Das sind die industriellen Schlachtereien. Bei meinen Großeltern ist das noch Handarbeit. Dafür braucht es Präzision und Feingefühl, fast wie bei einer Beschneidung. Jürgen: Du meinst wie bei den Juden? Jona: Im Grunde ist es ganz einfach: Du nimmst den Hasen an den Hinterläufen, legst die Ohren nach vorne und streichelst ihm noch ein bisschen über den Kopf, damit er sich entspannt. Das ist wichtig für die Konsistenz des Fleisches später. Dann nimmst du ein Stück Holz und haust ihm das Genick ab. Jürgen: Das ist wirklich besonders feinfühlig und präzise. Jona: Du nimmst ein Messer und stichst dem Ha­ sen in den Hals hinein, sodass er ausblutet. Da­ nach hängst du ihn an den Hinterläufen mit zwei Schnüren am Türstock fest und schneidest auf Höhe der Achillessehne rund um den Lauf links und rechts das Fell ein. Dann schneidest du weiter, dem Lauf entlang zum After, links und rechts, brichst vorsichtig das Becken und beginnst von den Hinterläufen das Fell entlang der Bauchdecke abzuziehen, bis über die Ohren. Dann fährst du bei den Vorderläufen mit dem Daumen in die Ach­ seln hinein, um die Vorderläufe zu befreien, und ziehst das Fell komplett hinunter. Sogleich, knix, knax, brichst du die Vorderläufe ab, schneidest den Kopf ab, das fällt dann alles in den Kübel. Am Ende musst du vorsichtig die Bauchdecke öffnen, wobei man dabei aufpassen muss, dass man nicht die Galle erwischt, weil sonst würde das Fleisch bitter werden. Jürgen: Du solltest Arzt werden. Jona: Für mich ist das ganz normal. Jürgen: Als ich ungefähr zehn war, ist meine Groß­ mutter gestorben. Ich weiß noch, dass ich über­ haupt nicht traurig war und aber das Gefühl hatte, dass das alle irgendwie von mir erwarteten. Also hab ich versucht zu weinen. Ist mir aber nicht ge­ lungen. Ich glaub, ich hab so ein Problem mit den Tränendrüsen. Ist eine anatomische Anomalie. Und ich habe eine Armspanne von zwei Metern. Das ist ebenfalls anatomisch ziemlich speziell. Als ich 16 war, durfte ich bei den Passionsspielen bei uns im Dorf Jesus spielen. Bei der Kreuzigungs­ szene ging ein Raunen durchs Publikum, das ist mir bis heute in den Ohren. Ich bin berühmt als Jesus mit den längsten Armen. Die Leute im Dorf sprechen heute noch heute davon. Bist du gläubig? Jona: Nein. Meine Eltern sind 68er. Weg vom Land, weg vom Patriarchat. Jürgen: Verstehe. Der Himmel ist leer.

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Jona: Wenn ich eine Kirche betrete, dann find ich das von der Architektur her beeindruckend, aber hier drinnen spür’ ich nichts. Jürgen: Ja, das muss von innen kommen. Jona: Bist du gläubig? Jürgen: Ich bin Rheinländer. Jona: Deswegen bist du immer so gut gelaunt. Jürgen: Absolut bibelgeprüfte Fröhlichkeit. Meine Lieblingsstelle in der Bibel ist, wenn Jesus am Kreuz sagt: Vater, Vater, warum hast du mich ver­ lassen? 3. Sabrina im Confessions-Room Sabrina: Lach ich oder nicht? Und jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Das war alles nicht so geplant, nicht wahr? Darauf müssen wir uns jetzt einstellen, hier drin. Das müssen wir lernen, daran müssen wir uns ge­ wöhnen, und das bedeutet, Dinge so oft zu wieder­ holen, bis wir sie verstanden haben. Und es ist erstaunlich, wie schnell das geht. Vor ein paar Tagen musste eine Person das Haus verlassen, die mir nahe stand. Es ist klar, dass sie von den anderen nominiert wurde, weil sie Dinge angesprochen hat, die ungemütlich sind und anecken. Und manche können damit eben nicht umgehen. Wir sind hier in so einem Konstrukt, dem wir zuge­ stimmt haben und dessen Spielregeln wir kennen. Und nominiert und rausgewählt wirst du, wenn du für die anderen nicht mehr funktionierst. Aber du darfst das nicht persönlich nehmen. Das weiß ich aus Erfahrung, von meinem Dachde­ ckerbetrieb, draußen. 14 Angestellte hab ich gehabt. Aber die sind jetzt alle weg. Was hier drin niemand weiß. Das wisst nur ihr. Nichts darf man persönlich nehmen. Das ist eine Frage der Professionalität. Wenn ich rausgewählt werde, dann werde ich rausgewählt. Ich muss niemandem was beweisen. Und deswegen werde ich hier als Gewinnerin raus­ gehen.

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Zweiter Akt 4. Alle zusammen im Wohnzimmer des Containers. Alex: Is’ so! Das war in Brasilien. Da hatte jeder sein Kindermädchen, da gab’s ein Fahrer, da gab’s Wachpersonal. Andrea: Wie lange warst du da? Zehn Jahre? Alex: Bis zu meinem zehnten Lebensjahr. Mit zehn bin ich nach Deutschland gekommen, nach Bonn. Andrea: Da war alles vorbei. Alex: Wenn du im Ausland bist, ist das natürlich geil, kannst deine Kinder abgeben, verdienst viel mehr, deutsches Gehalt, das war dann hier vorbei. Sabrina: Warst du auf einer deutschen Schule? Alex: Ich war in einer Grundschule in São Paulo. Eine brasilianische Schule, aber etwas für die geho­ beneren Ansprüche. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich immer eine Uniform anhatte, ein Käppi, und da war so’n Hof innen, und die Klassenzimmer waren aussen rum gebaut, wie ’ne Parkanlage. Richtig geil. Total geschützt. Jürgen: Eine Campus-Schule. Alex: Die Klassenzimmer waren in den Hof. Da gab es keine Wände. Vorne und hinten und links hatte es Schränke für die Taschen, und da hast du dann ins Freie gekuckt. Sabrina: Schön, wenn die Unis so sind. Alex: Das war eine Grundschule. Kindergarten und Grundschule. Sabrina: Als ich zur Schule ging, hab ich mich im­ mer gefreut, wenn wir wieder weggezogen sind. Ich sah sehr brav aus, von außen. Das war aber nicht die Realität. Nach zwei Jahren konntest du wieder umziehen und hattest die reine Weste. Jürgen: Und hinter dir verbrannte Erde. Sabrina: Ich konnte nichts dagegen tun, dass die Leute mich falsch einschätzten. Es ist ein Fluch. Du wirst einmal angeschaut, und, zack, schon ha­ ben sie das Urteil über dich gefällt. Die können das gar nicht steuern. Die haben das nicht unter Kon­ trolle. Alex: Das hat niemand unter Kontrolle. Jona: Das blöde war bei mir, dass das immer mit­ ten in den Schuljahren passiert ist. Sabrina: Da haben meine Eltern immer aufgepasst. Mein Vater ist immer gependelt. Jona: Dann war das auch meistens Bundesland übergreifend. Immer total aus der Bahn geworfen hat mich das. Scheiß Hippie-Eltern eben. Sabrina: Wenn ich neue Leute treffe, merke ich

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mittlerweile, dass es mich sehr müde macht, die­ sen ganzen Small-Talk und dieses ganze Kennen­ lernen auf ein Neues durchzukauen. Ich bin im­ mer sofort direkt und manche Menschen fühlen sich dann völlig überfahren. Andrea: Ich finde das gut. Alex: Ich find das auch gut. John: Das hab ich damals auch im besetzten Haus gemerkt. Du kannst vielen Leuten sehr schnell auf die Füsse treten, wenn Du direkt bist. Damit kom­ men nicht alle klar. Jürgen: Wieviel Leute hattet ihr da? John: Im letzten, in dem ich gewohnt hab, 45. In einem Haus. Jona: Das könnte ich nie! Sabrina: Ich auch nicht. Alex: Ich auch nicht. John: Und da hast manchmal welche dabei, die zie­ hen ein, weil sie denken, sie könnten die Sau rauslassen. Die kommen so an den Tisch: „He, ich dreh mir mal eine, wa!“ Oder: „Machste mal ein paar Nudeln mit?“ Die schlängeln sich überall so durch. Und wenn du das ansprichst, wird alles geleugnet. Andrea: Ehrlichkeit ist nicht besonders populär. Meine Eltern zum Beispiel haben sich 30 Jahre lang gegenseitig etwas vorgespielt, um sich nicht ihre gescheiterte Ehe eingestehen zu müssen. Sabrina: Warum haben sie sich nicht einfach ge­ trennt? Andrea: Weil sie Angst davor hatten. Das war der einzige Grund, weswegen die zusammengeblie­ ben sind. John: Da wächst zusammen, was nicht zusammen­ gehört. Jürgen: Tut mir leid für deine Eltern. Andrea: Das einzige, was sie noch miteinander tei­ len konnten, war, andere beim Scheitern zu beob­ achten. Das verschaffte ihnen Erleichterung. Sabrina: Typisch deutsch. Andrea: Man sagt, die drei Dinge, die einen Men­ schen beruhigen, sind das Betrachten des Feuers, das Fließen eines Flusses und andere Menschen bei der Arbeit. Aber ich glaube, was den Leuten am meisten innere Ruhe verschafft, ist, den Menschen, die ihnen am allernächsten sind, beim Scheitern zuzuschauen. Jona: Ein Freund von mir hat einmal gesagt: Im­ mer wenn einem Freund etwas gelingt, zerbricht etwas in mir. Andrea: Einen ziemlich ehrlichen Freund hast du. Sabrina: Ok! Wir spielen ein Spiel! Es ist ein sehr einfaches Spiel. Es ist simpel. Alles was wir tun, fühlen, denken hängt damit zusammen. Hab es von meiner Schwester.

boris nikitin_erste staffel. 20 jahre grosser bruder

Alex: Hast du nicht gesagt, du bist Einzelkind? Sabrina: War gelogen. Du hast zwei Optionen. Ich sage zwei Wörter und du wählst. Ich sage also zum Beispiel: Rot oder blau? Und du wählst aus und antwortest also: Alex: Rot. Sabrina: Genau. Jona: Das ist alles. Sabrina: Das ist alles. Sommer oder Winter? Jona: Wer jetzt, ich? Sabrina: Ja. Jona: Ich weiß nicht. Sommer natürlich. Sabrina: Nicht mehr sagen als das Wort! Jona: Sommer. Sabrina: Herbst oder Frühling. Jona: Herbst. Sabrina: Boris Becker oder Boris Jelzin. Jona: Boris Jelzin. Sabrina: Boris Jelzin oder Vladimir Putin Jona: Jelzin. Was soll’s. Sabrina: Kalter Krieg oder heißer Krieg? Jona: Kalter Krieg Sabrina: Krieg der Sterne oder Krieg der Welten? Jona: Krieg der Sterne Sabrina: Warum? Jona: Weil das ein guter Film ist. Sabrina: Warum? Jona: Wegen der Macht. Sabrina: Ok. Schröder oder Fischer? Jona: Fischer. Sabrina: Soft-Sex oder Hardcore? Jona: Soft-Sex. Sabrina: Warum? Jona: Dafür muss ich nicht extra in die Videothek. Sabrina: Interessant. Sabrina: Gemeinsam verhungern oder alleine überleben? Andrea: Alleine überleben Sabrina: Gemeinsam verhungern oder alleine überleben und für immer allein bleiben? Ganz al­ lein. John: Töten oder getötet werden? Sabrina: Töten. Sabrina: Du oder ich? Jona: Du.

Aber manchmal spitzen sich die Dinge hier drin eben zu. Ich finde, wenn man in einer Gruppe ist, muss man sich auch anpassen können. Man muss mit anderen Leuten vernünftig umge­ hen. Man muss einen Plan machen, sonst funktioniert das nicht. Wenn jeder seiner eigenen Laune entsprechend handelt, herrscht Chaos. Ansonsten … Das Rauchen wird langsam ein Pro­ blem. Ja klar. Weil ihr die Rationen halbiert habt. Das weckt Begehrlichkeiten und führt zu Span­ nungen. So läuft das. Das ist ja auch ein bisschen der Sinn des Ganzen, oder? Das ist ja das Spiel. Jeder will gewinnen. Es gibt halt diese Intrigen manchmal. Und ich bin eher so der direkte Typ. Ich sag, was ich denke. Natürlich sagt man mal, wenn du mir hier hilfst, helfe ich dir da. Ich würde das jetzt nicht Manipulieren nennen. Aber man muss schon ehrlich sein. Einblendung Für die Zeit im Container brauchen die Bewoh­ ner*innen keine Ausbildung oder irgendein be­ sonderes Talent vorzuweisen. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als sie selbst zu sein. Es ist eine Umdeutung körperlicher Arbeit. Zent­ raler Gegenstand dieser neuen Form von Arbeit ist es, sichtbar zu sein und auf sich aufmerksam zu machen.

6.

John im Confessions-Room.

Nacht. Im Container. Jona im Badezimmer, er putzt sich die Zähne. Alex auf der Toilette. John kommt dazu.

Im Moment bin ich ein bisschen aufgebracht. Es gab heute einen kleinen Streit. Nichts Dramatisches eigentlich, Alltagskram.

John: Ist das Klo besetzt? Jona: Ist jmnd drn. Musst eine Nummer ziehen. John: Haha.

5.

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Alex kommt aus dem Klo heraus. John will rein. Alex: Ich würd noch ein Moment warten. John: Schon ok, ich will’s nicht so genau wissen. Alex: Sparsam mit dem Klopapier. Es ist kaum mehr welches über. Sabrina: Gute Nacht. Alex: Nacht Jona: Gute Nacht John: Gute Nacht. Jona: Ich vermisse echt meine elektrische Zahn­ bürste. Kann gleich zum Zahnarzt gehen, wenn ich wieder draußen bin. Alex: Hat jemand mein Deo gesehen? John: Das ist das Problem: Willst du gute Zähne oder hier reich werden und ein Maul voller Karies? Jona: Nee, is’ wichtig, auf die Zähne achtzugeben. Sind das, woran sie später deine Identität feststel­ len können. zu John, der in den Spiegel schaut Was du da siehst, ist die Zukunft, mein Freund. John: blickt in den Spiegel Ich seh’ nix. Jona: Schau genau hin. Was siehst du? John: Gleichgültige spiegelglatte Leere. Jona: Immerhin besser als totales biografisches Scheitern. John: Dafür wäre es auch ein bisschen zu früh. Be­ nutze das Material, das du bist. Jona: Der Spiegel ist etwas staubig. Wer hatte als letztes Dienst? Alex: Worüber redet ihr eigentlich? Jona: Er will sich selbst als Material benutzen. Alex: Willst du ins Pornogeschäft einsteigen? John: Da bin ich doch schon drin. Hast du nicht mitgekriegt? Der Kapitalismus hat gesiegt. Deutschland, Deutschland, über alles. Alle legen sich hin, schlafen. Intermezzo Die Bewohner schliefen in dieser Nacht sehr unru­ hig. Sie verfielen in heftige Träume, von der Art, von der man nicht weiß, ob dies, was einem träumt, nicht doch auch tatsächlich widerfährt. Ihr Unterbewusstsein mischte sich mit ihrem Be­ wusstsein, so als ob sie etwas Toxisches zu sich genommen hätten. Als sie aufwachten, es war früh morgens, die Sonne war schon aufgegangen, fühl­ ten sie, wie ihr Denken eine Dreidimensionalität

angenommen hatte. Sie standen auf, wuschen sich, kochten sich Kaffee und blickten aus dem Fenster über die langsam erwachende Natur. Die Luft schien ihnen sehr klar, während das frische Tages­ licht seine Schlagschatten warf. Sie hatten das Gefühl, sie könnten durch die Wirk­ lichkeit hindurchschauen.

7. Vormittags im Container. Andrea und Alex in der Küche, Jürgen und John im Schlafzimmer, Sabrina und Jona im Wohnzimmer. Andrea: Ich hab die Nacht geträumt, dass sie mich aus dem Haus rausschmeißen würden. Alex: Was? Wer? Andrea: Die hatten jetzt das Gefühl, ich muss jetzt raus. Dann lauf ich durch die Küche. Jürgen ist ge­ rade am Saugen, John liegt da und macht sein Trai­ ning. Ich sage: Ich muss weg. Und ihr sagt: Na dann. Tschüss. Dann gehe ich raus und bekomme eine totale Panik. Ich gehe durch die Tür direkt auf die Straße, aber da ist kein Mensch. Alles ist ganz grau und trist und schrecklich. Ich sage: Ich möch­ te wieder ins Haus, bitte lasst mich rein. Dann komm ich wieder rein, hab zwei Kinder mit dabei. Die waren total link. Die sind euch an die Handtü­ cher. Die haben auch gekniffen. Dann hab ich das eine Kind gepackt und die Hand gequetscht. Was du kannst, das kann ich auch. Alex: Und dann hast du sie mit dem Kopf an die Wand gestellt. Andrea: Ich schick die dann wieder raus und sage: Hey, ich darf jetzt doch weiterspielen. Darauf sagt Ihr einfach nur: Ja und, ist doch ok. So als ob es keinen kümmern würde. Alex: Und dann wachst du auf. Andrea: Und dann wach ich auf. Alex: Und befindest dich hier in diesem Haus hier und denkst: In welchem Traum bin ich denn jetzt gelandet. Andrea: Ich bin aufgewacht und dachte, jetzt bin ich wieder zu Hause. Verstehst du das? Alex: Ich versteh so einiges nicht. Andrea: Hast du Kinder? Alex: Ja, eins. Lebt bei ihrer Mutter. Andrea: Hm. Du bist nicht besonders gesprächig, weißt du das. Alex: Es wird genug geredet und das wenigste be­ deutet was. Wenn es wichtig sein wird, werde ich es ansprechen.

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Andrea: So funktioniert das aber nicht. Manchmal musst du was sagen, auch wenn es keine Wichtig­ keit hat. Sonst wirst du vergessen. Jürgen und John im Schlafzimmer. Jürgen: Da musst du dich mal drauf achten. Bei kleinen Schauspielern, z.B. bei Sylvester Stallone oder bei, na, wie heißt er, bei Jean-Claude van Damme, die sind ja beide nicht sehr groß. Wird immer von unten nach oben gefilmt, musst du dich mal drauf achten. John: Die werden immer auf ein Treppchen gestellt. Jürgen: Der Jean-Claude van Damme ist glaub ich nur 1.63. John: Der Schwarzenegger ist auch nicht so groß. Das ist ein kleiner Mann. Jürgen: Ne! John: Doch. Schwarzenegger ist ein kleiner Mann. Schwarzenegger ist klein. Jürgen: Ne!! Schwarzenegger ist nicht klein. Was ist für dich klein? John: Na unter mir. Jürgen: Ne! John: Natürlich. John: Schwarzenegger ist unter 1.80. Jürgen: Schwarzenegger ist mindestens 1.90. John: Ja, denkt man auch, das kommt so rüber. Aber Bodybuilder hätten mit 1.90 niemals eine Chance, Mr. Universum zu werden. Jürgen: Die könnten sich tot trainieren. John: Ja. Is’ so. Der Typ is’ wirklich original. Der mag zwar vielleicht einer der größten Bodybuilder sein, die überhaupt mal was geworden sind. Aber der ist unter 1.80. Jürgen: Also den Typ find’ ich super. Ich bin auch davon überzeugt, dass der in zehn Jahren Präsi­ dent von Amerika wird. Glaub’ ich! Glaub’ ich! John: Ist dem durchaus zuzutrauen, ja. In Amerika ist alles möglich. Da war ja schon mal – Jürgen: – der Reagan. John: Reagan. Jürgen: Was war mit dem Reagan? John: Reagan war auch ein Schauspieler. Der war erfolgreich und beliebt, weil er seine Botschaft überzeugend verkaufen konnte. Er hat einfach im­ mer so getan, als würde er gerade eine Rolle in ir­ gendeinem Hollywoodfilm spielen. Das verstan­ den die Leute. Jürgen: Schwarzenegger ist auch politisch enga­ giert. Der hat ’ne Kennedy geheiratet. John: M-hm. Jürgen: Also, was weiß ich, über wie viele Ecken … John: Ne Cousine.

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Jürgen: Ja. Der ist voll politisch integriert. Und da glaub ich voll dran, dass der in zehn Jahren in Amerika Präsident ist. Sabrina und Jona im Wohnzimmer.

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Dritter Akt 8.

Aber hier siehst du jeden Tag, jede Stunde, jede Mi­ nute immer die gleichen Gesichter Da wird man aggressiv. Dann möchte ich schreien, in mich hinein.

Alex im Confessions-Room. Jona: Husten. Sabrina: Husten oder Gliederschmerzen? Jona: Husten. Sabrina: Pest oder AIDS? Jona: Pest, natürlich. Sabrina: AIDS oder Selbstmord? Jona: denkt nach AIDS. Sabrina: Ein schnelles Leben und tot mit 30 oder ein langes langweiliges Leben? Jona: denkt nach Ein langes langweiliges Leben. Sabrina: Wieso? Jona: Es macht einfach mehr Sinn. Sabrina: Interessant. Weggehen und neu beginnen oder den Rest deines Lebens mit deiner jetzigen Familie verbringen. Jona: Das ist hart. Mit den Leuten von jetzt. Sabrina: Warum? Jona: Ich weiß es nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sabrina: Die Hoffnung stirbt zuletzt? Jona: Ja. Sabrina: Wie kannst du hoffen, wenn du bereits weißt, dass sich nie etwas ändern wird? Jona: Weiß nicht, vielleicht kann man auch im Be­ stehenden neu beginnen. Sabrina: Das sagt man, aber es ist eine Lüge. Jona: Warum? Sabrina: Weil du nicht selbst bestimmen kannst, wer du bist. Die anderen bestimmen das. Die ande­ ren. Sie werden es aber niemals zulassen, dass du dich änderst. Das ist ein Naturgesetz. Wenn du dein Leben ändern möchtest, musst du sie loswerden. Ewiger Kampf oder Kapitulation? Jona: Bist du eigentlich immer so? Sabrina: Wie? Jona: Irgendwie krass. Sabrina: Ich bin nicht krass. Ich bin Realistin. Jona: Also gut. Real und traurig oder glücklich in der Illusion? Sabrina: Das sind aber keine Optionen. Es gibt kein Glück in der Illusion. Dort gibt es bloß die Il­ lusion von Glück. Aber das ist etwas völlig anderes. Das Meer oder die Berge? Jona: Das Meer. Sabrina: Warum?

Dann gibt es einen großen Hall in mir drin. Es ist Dienstag. Oder Mittwoch. Es passt eigentlich. Ich wart ab, was hier passiert. Ich hab ganz klare Grenzen gesetzt, und das wer­ den einige Leute zu spüren kriegen. Ich bin von draußen an Wettkämpfe gewohnt. Das gehört zum Leben und macht mir nichts aus. Ich mag den Jürgen. Mit Jona hab ich auch kein Problem. Andrea ist für mich neutral. Ich hoffe, wir werden mal irgendwann den Zeit­ punkt finden, wo sie mir das sagen will, was sie mir schon seit 6, 7 Wochen sagen will; was für ne Art Typ ich bin. Ich lass mich mal überraschen. Aber ich glaube, sie weiß gar nicht, was für ein Typ ich bin. Weil, das weiß keiner, außer meine Freunde. Meine wahren Freunde. Deswegen, ja, manchmal ist man hier drin schon ein bisschen allein. Es gibt hier drin mittlerweile zwei Gruppen, wie alle ja bestimmt mitbekommen haben. Ich glaub, dass da gerade eine Art von kollektiver, gegenseitiger Gehirnwäsche stattfindet. Und ich das Gefühl habe, dass die gar nicht mehr reflektie­ ren, was hier abgeht. Die sehen das anders. Die sind woanders. Reden die ganze Zeit. Ich hab da den Überblick verloren. Ich denke schon, dass die Leute ihre ganz eigenen Antennen ausfahren und beginnen, sich zu kon­ trollieren. Was passiert wann? Wer mit wem? Der Gedanke kommt schon mal vor. Hier rauszu­ gehen. Ich weiß nicht, dass kann man gar nicht kontrollieren. Es gibt schon Momente, wo es alles ein bisschen zu viel wird. Du hängst hier ja die ganze Zeit rum mit den glei­ chen Leuten. Normalerweise geht man ja mal raus, irgendwohin, oder halt zur Arbeit, da siehst du dann andere Leu­ te und wenn man dann abends nach Hause kommt, dann ist das ok. Dann ist das das Zuhause.

Einblendung April 2000. Tag vor der nächsten Nominierung. Die Sonne scheint. Die Wetterdienste melden den bisher heißesten April-Tag seit Beginn der Auf­ zeichnungen. Einige der Bewohner*innen haben an den Gartenzaun ein Transparent angebracht: Sabrina halt’ die Gosch’n!

9. Vor der Nominierung. Alle draußen. Sabrina liegt im Gras, liest ein Buch. Andrea: Redet sie jetzt nicht mehr mit uns? Ist et­ was passiert? Ist sie sauer? Jürgen: Quatsch! Die muss auch mal abschalten. Die lädt grad neu. Andrea: Komisch kommt mir das vor. Jürgen: Jetzt geht das schon wieder los mit der Cli­ quen-Bildung. Andrea: Jetzt geht das schon wieder los. Jürgen: Redest du nicht mehr mit uns, nur weil wir das da an den Zaun geschrieben haben? Redest nicht bis sechs Uhr, oder wie. Bis sechs Uhr haben wir frei, oder was. Andrea: Wenn sie ruhig ist, kann er’s auch nicht lassen. Jürgen: Ist die bockig, eh! Machst du hier jetzt das große Schweigen oder was? Ich brauch kein schlechtes Gewissen haben. Ich hab das nicht da dran geschrieben. Das war sie. Andrea: Und auf wessen Anweisung hab ich es dran geschrieben?! Du standest ja schon wieder mit dem Messer hinterm Rücken. Jürgen: Auf Johns. Ich hab damit nichts zu tun. Ey Sabrina, willste ’n Schluck? Was ist den los mit euch allen? Es ist doch wieder ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Wir haben es hier gut. John: Drehst du jetzt durch, oder was? Jürgen: Dreh mir mal bitte eine Zigarette, ja? Andrea: Ich komm hier nicht zu Ruhe. Ich komm hier nicht zu Ruhe. Jürgen: Ich weiß echt nicht, was euer Problem ist! Ich sag euch, ihr Menschen werdet mit allem fertig, nur nicht mit euch selbst.

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Andrea: Amen! John: Der rastet hier grad völlig aus. Der Jürgen. Jürgen: Da laufen auch immer so Bräute herum. Spanische Bräute. Hola. Tequila. Que tal. Ich muss schwer aufpassen, wie mir das wieder ausgelegt wird hier. Ich bin voll im Fadenkreuz der Presse draußen. Andrea: Hoffentlich. Hoffentlich. Jürgen: Ne, weißt du, was ich jetzt gerne essen würde. Vielleicht könnte mir das jetzt einer ma­ chen. Andrea: Der träumt. Ich weiß nur nicht wovon. Jürgen: Nein, pass auf. Das ist doch nur eine Klei­ nigkeit. Andrea: Jetzt lass mal gut sein. Verpiss you! Jürgen: Ich mach doch auch alles für euch. Pass auf: Vanillepudding. Mit Erdbeeren. Mit Erd­ beeren! Andrea: Ja, geh pflücken. Jürgen: Vielleicht können wir uns das auch bestel­ len. Dann schön kalter Vanillepudding mit heißen Erdbeeren. Ja, so, wie wär’s jetzt mit einem Vanil­ lepüddingchen. Da könnte man auch Kiwi rein­ schneiden. Andrea: Du kannst doch lesen. Jürgen: Lesen? Andrea: Du nimmst dir eine Packung Vanillepud­ ding, guckst drauf, und dann weißt du, wie es geht. Jürgen: Also, wer macht den Vanillepudding. Wer meldet sich freiwillig. Sonst muss ich noch einen bestimmen. Andrea: Wenn du rauskommst, geht es dir so schlecht. So schlecht. Du hast keine Frau mehr, die ist dir weggelaufen. Du hast keine Wohnung mehr. Keine Freunde. Alles weg. Jürgen: Ja klar. Andrea: Bist auch selber schuld. Was gehst du fremd, wenn du es keine paar Wochen aushältst. Jürgen: Woah! Ich werde hier diffamiert. Das kommt mir vor wie früher. Reichskristallnacht. Ehrlich. Was hier gegen mich aufgebaut wird. Hier ist ein Intrigenspiel im Gange und ich merk es nicht mal. Andrea: Der ist echt ein Vollprolet. Jürgen: Überhaupt nicht. Das ganze Leben ist ein Geben und ein Nehmen. John: Ist ja gut. Jetzt reg dich mal ab. Jürgen: Ja, immer in der Defensive bleiben. Bloß nicht in Konflikt gehen. John: Wohl ein bisschen zu viel Sonne gehabt. Jürgen: Alles gut hier, ja. Das ist unser John. Der gute John. So wird das dann „ausgelegt“. Immer tiefstapeln und die anderen dominant erscheinen

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lassen. Eine ziemlich schlaue Strategie. Aber ich kenne das präzise. Das entgeht mir nicht. Das fliegt immer auf. John: Ja ja, ist schon gut. Jürgen: Ich muss wirklich aufpassen hier, bei euch. Aber ich meine, das ist doch interessant. Dieses Dominieren. Andrea: Wovon spricht er? Jürgen: Man kann die Menschen in zwei Gruppen aufteilen. In diejenigen, die dominieren, und jene, die dominiert werden. Jene, die viel Macht haben, und jene, die wenig oder keine Macht haben. Jäger, Beute. Subjekt, Objekt. Andrea: Ich geh rein. Jürgen: Ne ne, jetzt hört mal zu. Das ist nämlich wichtig. Alles geht letztlich darum, nicht auf der Objekt-Seite zu stehen. Das ist doch verständlich. Darum geht’s doch. Nicht zu denen zu gehören, die jeden Tag aufs Neue erniedrigt werden, weil ihnen zu verstehen gegeben wird, dass sie keine Relevanz haben. Oder dass man von ihnen nichts erwartet, außer dass sie in dem ihnen vorgegebe­ nen Rahmen zu funktionieren haben. Für eine kleine Überweisung aufs Bankkonto. Bitte danke. Aber ohne Liebe. Und dann gehen sie nach Hause, in ihre möblierte Mietwohnung, setzen sich auf ihr Sofa und starren an die Wand, aber eigentlich starrt die Wand sie an, weil die Wand mittlerweile mehr „Ich“ hat als diese Menschen. Denn die sind zum reinen Objekt geworden, das keinerlei Effekt mehr hat auf die Wirklichkeit. Weil es der Welt nämlich scheißegal ist, ob sie hier sind oder nicht hier sind. Weil sie ein austauschbares Produktions­ mittel geworden sind. Hast du gehört, John? Das ist nämlich Marxismus dingsbums. John: Präzise. Jürgen: Weil sie nämlich zu denen gehören, die keine Macht haben. Weil sie zu denen gehören, de­ ren Körper zurückweichen, wenn andere den Raum betreten; zu denen, die innerlich immer zu­ sammenzucken, wenn sie von jemandem ange­ sprochen werden, weil sie Angst haben, dabei er­ tappt zu werden, wie sie sich tagtäglich abmühen, nach außen hin zu erscheinen, als gehörten auch sie zu jenen, die es „verstanden haben“. John: Wir haben es verstanden. Jürgen: Tiefstapler sind sowas von ein Trauerspiel, John. Und abends sitzt du dann zuhause vor dei­ nem Spiegelei und vor dieser leeren, dich anstar­ renden Wand, überwältigt von einer Müdigkeit, die das Resultat ist all der Anstrengungen, auch heute gerade nochmal davon gekommen zu sein. Und dieser Zustand der vollkommenen Wirkungs­

losigkeit, diese Depression, das ist nichts Klini­ sches, das ist etwas Politisches! Denn irgendwann kommt der Moment, an dem du feststellst, dass vielleicht gar nicht du das Problem bist, sondern dass man dich einfach komplett ent­ mündigt und zum Schweigen gebracht hat, und sie haben es mit einer solch umfassenden Effizi­ enz getan, dass sie es sogar geschafft haben, dass du ihnen glaubst, dass du das Problem seist. John: Wer sind denn ‚die‘? Is‘ gut jetzt? Jürgen: Nee nee. Es geht noch weiter. Denn ohne dass du es bemerkt hättest, haben sie das bereits so oft wiederholt, dass du das für die Wahrheit hältst, dass du dich schämst. Denn das ist ihr Genie­ streich, weil sie wissen, dass du immer versuchen wirst, diese Scham vor den anderen zu verstecken, und dass du deswegen gar nicht anders kannst, als immer in Deckung zu gehen. Und ohne dass du es gemerkt hast, bist du kom­ plett unsichtbar geworden. Ich war mein ganzes Leben lang nie wütend! Ich war immer nur traurig! Aber ich kann nicht wei­ nen!! Ich kann einfach nicht weinen. Aber jetzt, jetzt verspüre ich zum ersten Mal so etwas wie Zorn. Und das tut gut. Und normalerweise würde sich alles in mir mobilisieren, um diesen Zorn zu beseitigen. Aber dieses Mal wird das nicht passie­ ren. Dieses Mal nähere ich mich meinem Zorn an! Sabrina: Wieviel Biere hat der denn gehabt seit heute Nachmittag? Jürgen: Genau ein halbes. Sabrina: Das muss aber stark gewesen sein. Jürgen: Ich sag euch eins: Ich will selber nicht wis­ sen, wen ich nominiere. Ich hab mir da was ausge­ dacht. Weil ich nie jemanden von euch nominie­ ren würde. Bei mir seid ihr Menschen, die sein können, wie sie wollen. Wen jemand ehrlich und nicht hinterfotzig ist, kann er von mir aus sein, wie er will. Er kann grob sein, wie er will. Mir ist lieber, jemand sagt die Wahrheit und ist ehrlich. Das ist für mich das wichtigste an Menschen. Deswegen sind ja auch die anderen rausgeflogen. Die waren nicht ehrlich.

10. Jürgen im Confessions-Room Also ich wollte euch nur sagen, dass ich das hier alles vorausgesehen hab, das ist so ‘ ne Gabe Got­ tes, die der mir gegeben hat, und für die ich ihm unheimlich dankbar bin.


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Ich hab euch auch schon mal gesagt, dass hier alle am Anfang himmelhochjauchzend waren, und im Moment sind unheimlich viele betrübt. Und das wusste ich. Vor zwei Wochen haben noch alle hier drin gesagt: Was kann uns schon passieren? Wir verstehen uns doch so gut, läuft doch alles gut, wir treffen uns mal irgendwann alle zusammen. Ja, und das funktioniert eben nicht. Das wussten einige nicht. Aber ich wusste das. Ich wusste auch, dass irgendwann auch mal dieser Tag kommen wird. Und ich wusste auch, dass an diesem Tag die Sonne besonders grell scheinen wird. Ganz komisch irgendwie. Macht mir selber manchmal Angst. Einblendung April 2000. Tag der Nominierung. Vor dem Con­ tainer versammeln sich hunderte von Menschen. Eine Moderatorin rennt mit einem Mikrofon her­ um und fragt die Menschen, wer ihre Favorit*innen sind. Sie wirkt überdreht. Im Studio spricht der Moderator der Big BrotherShow mit Frau Bartolomei-Pfost. Sie ist Psycholo­ gin. Sie unterhalten sich über Alex’ Geldschulden von insgesamt über 35.000 DM. Der Moderator fragt Frau Bartolomei-Pfost, wie es denn sein kön­ ne, dass Alex dies bisher niemandem im Container erzählt hat. „Wird er das von sich aus im Haus zu Sprache bringen?“, fragt er sie. „Das ist schwer vor­ auszusehen, aber ich glaube nicht. Wir können leider nicht in Alex‘ Kopf hineinschauen. Wir kön­ nen es bloß von außen interpretieren“, so die Psy­ chologin. Jürgen nominiert Alex und Sabrina Andrea nominiert Jürgen und Alex John nominiert Sabrina und Jürgen Sabrina nominiert Alex und John Alex nominiert Jürgen und John Jona nominiert Alex und Andrea. Jürgen und Alex sind die Nominierten. Das Publi­ kum wird aufgefordert, sich innerhalb der darauf­ folgenden Woche für einen der beiden zu ent­ scheiden. Verlost werden dieses mal 100 Tage kostenloses Surfen im Internet. Inklusive Telefon­ gebühren. Sponsered by Otelo online.

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Außerdem: Der ehemalige Kandidat Zlatko hat ei­ nen Schlager veröffentlicht. Der Titel des Songs lautet „Ich vermiss’ dich wie die Hölle“. Der Song steigt auf Platz 23 in die Charts ein und schafft es bis auf Platz 5. Eine Woche später wird Alex aus dem Container her­ ausgewählt. Am Tag darauf wird den Bewoh­ner*in­ nen der Auftrag erteilt, ein Streitgespräch zu führen. Die Frage lautet „Würdet ihr im Dienst töten?“

11. Alle außer Alex im Wohnzimmer des Containers. Sabrina: Meiner Meinung nach müssten diejeni­ gen Leute, die was zu sagen haben, wie früher aufs Feld, zehn Meter auseinander, und die können sich dann die Köpfe einschießen. Warum muss das ge­ meine Volk, das überhaupt keine Ahnung hat, was da oben abläuft – Jona: – die Scheiße von den Politikern ausbaden. Sabrina: Das ist schon mal grundsätzlich falsch. Aber wenn es halt so ist, wie es eben ist, kann eine Frau genauso den Dienst an der Waffe ausüben. Andrea: In Israel müssen die Frauen auch an die Front. Aber die leiden da echt. Das ist jetzt eine un­ populäre Meinung, aber rein physisch sind Frauen nun mal nicht so kräftig wie Männer. Sabrina: Wer sagt das denn? Das ist doch eine rei­ ne Erziehungssache. Andrea: Es ist auch Gen-Sache. Auf jeden Fall. Jona: Solange sie es freiwillig tut – Andrea: – freiwillig ist es ja nicht. Jürgen: Du meinst jetzt in Israel. Andrea: In Israel. John: Hier in Deutschland kann eine Frau freiwil­ lig zum Bund gehen – Andrea: – ist ja ok, jeder wie er will – John: – und kann auch Dienst an der Waffe leisten. Jona: Ich kenne nur ganz wenige Frauen, die das machen würden. Eine ganz geringe Zahl, glaub ich, die da sagen: Ich möchte – Sabrina: Ich möchte ja nicht, aber in der Not würde ich es tun. Weil ich grundsätzlich gegen das Töten bin, aber da plötzlich so ein Typ mit einer MG vor dir – John: Glaub mir, du kannst keinen Menschen dazu bringen, sich zuzutrauen, jemanden anderes umzu­ bringen. In dem Moment, in dem ich das unter­ schreibe, mach ich das aber. In dem Augenblick un­ terschreib ich ein Todesurteil. Für irgendjemanden. Sabrina: Wir haben da ohnehin gar nichts zu sagen.

THEATER MARIE

Es heißt ja immer „das Volk“, aber wer dienen muss, sind die Leute, die am wenigsten zu sagen haben. Die wissen doch meistens nicht mal, wa­ rum das um sie herum überhaupt alles geschieht, und werden dann gezwungen, auf dem Feld gegen Menschen zu kämpfen, die sie überhaupt nicht kennen; die sie lieben oder mit denen sie in einer anderen Welt befreundet sein können, wer weiß das schon, und müssen sie dann töten. Jona: Und vielleicht gefällt es ihnen dann auch, wenn sie erstmal damit angefangen haben. Sabrina: Genau, da tritt dann eine ganz eigene ­Logik in Kraft, wenn die Blutlust erstmal losgeht. Da bricht dann die ganze Zivilisation im Kopf zusam­ men. So wie im Jugoslawien-Krieg. Oder Ruanda. Wo dann ganz normale Menschen, die bis eben noch Nachbarn waren, auf einmal komplett außer Kontrolle geraten und sich dann gegenseitig die Kehle durchschneiden. Die meisten werden vorher auch nicht gewusst haben, dass sie dazu fähig sind. Jona: Naja, wenn es um Frieden geht, sind wir Deutschen ja auch echt Experten. Schweigen Jürgen: Der Maschendrahtzaun. Jona: Was? Jürgen: Der Maschendrahtzaun. Der Knallerbsen­ strauch. Das ist typisch deutsch. Wie kann man um so eine kleine Sache so ein Riesentohuwabohu machen? Jona: Wovon redest du? Sabrina: Die Ordnungsliebe ist typisch deutsch, wenn wir schon davon sprechen wollen. Jona: Ich bin auch sehr ordnungslieb. Sabrina: Du bist auch sehr deutsch. Jona: Warum glaubst du geht es hier in Deutsch­ land der Wirtschaft so gut im Vergleich mit den meisten anderen? Andrea: Dadurch sind die Deutschen aber auch ganz schön humorlos geworden. John: Typisch deutsch ist, dass er sich immer von oben was sagen lässt und dem dann hinterher­ rennt. Es gibt kein Widersprechen. Was von oben kommt, wird einfach hingenommen. In anderen Ländern wird vielmehr auf die Straße gegangen. Hier wird das alles nach oben delegiert. Das ist so ein Untertanen-Verhalten. Jürgen: Kartoffelkopf. So nennen die Italiener uns. Wie wir Spaghettifresser sagen, sagen die Kartoffel­ kopf zu uns. Andrea: Eisbein. Bier. Jona: Lederhosen Jürgen: Schrebergärten.

verdeckt von Ariane Koch Schweizer Theatertreffen 2021 9./10.6.21 ROXY Birsfelden

Marie und Robert von Paul Haller 7./8.7.21 Deutsches Theater Göttingen

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Sabrina: Warst du schon mal in Italien. Das Land besteht zu 80 % aus Schrebergärten. John: In’ Urlaub fahren ist typisch deutsch. Andrea: Mercedes Benz. Autowaschen. Ein-KindFamilie. Jürgen: Super-Samstag bei Lidl. Baumarkt. Und Hausmeister. Hausmeister ist typisch deutsch. Hausmeister. Gibts im Ausland überhaupt Haus­ meister? John: Ausländer ist typisch deutsch. Jona: Die Deutsche Bank ist typisch deutsch. Sabrina: Die deutsche Mark ist auch typisch deutsch. Andrea: Arbeiten ist auch typisch deutsch. Jona: Karl Marx. Andrea: Karl Marx. Jürgen: Adolf Hitler. Sabrina: Peter Alexander. Hannelore Kohl. John: Ich finde typisch deutsch ist, dass der Deut­ sche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht darüber reden würde. Und der Deutsche muss sich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Deutscher. Ich denke, dass ein bisschen National­ stolz auch in Ordnung ist. Dass man mit gutem Gewissen sagen kann, ja, ich bin Deutscher. Jürgen lässt einen Teller auf Johns Fuß fallen. Andrea: Jürgen, hast du wieder gesoffen? Jürgen: Schau doch mal da rein? Andrea schaut in den Kühlschrank. Andrea: Es sind nur noch vier Bier da. Leute, ich find das nicht in Ordnung, dass hier einfach ge­ trunken wird. Jürgen: Ich find das auch scheiße, dass Alex hier geht und noch kurz das Bier mitnimmt. Ja, die Leute haben gesehen, dass der das Bier eingesteckt hat, deswegen ist er auch draußen. John: Grad noch so die Kurve gekriegt. Sabrina: Ich find das nicht okay, dass jemand hier Bier und Wein wegsäuft. Und alle anderen halten sich an die Regeln. Das ist purer Egoismus. Jona: Aber Alex ist doch jetzt eh raus. Sabrina: Ich hab da so ’ne Ahnung, wer sich da ver­ greift. John: Das ist auch typisch deutsch. Jürgen: Verdächtigen.

Jona: Das sieht richtig lecker aus. Was ist das? Jürgen: Linseneintopf. Jona: Sogar vegan. Was ist vegan? Jürgen: Können wir beim Essen jetzt einfach mal fünf Minuten die Klappe halten? Sabrina: Warum bist du denn jetzt so aggressiv? Jürgen: Einfach mal die Klappe halten. Das fänd’ ich so schön. Andrea: Es muss auch immer alles nach deiner Pfeife tanzen. Sabrina: Das ist so typisch deutsch. Jürgen: Ich geh ins Schlafzimmer und ess’ da mei­ nen Eintopf. Jona: Was passiert denn jetzt? Sabrina: Du bist einfach ekelhaft. Jürgen: Ich steh den ganzen Tag in der Küche. Andrea: Und trinkst vier Bier dabei. Jona: Hä, wie ist dass denn jetzt passiert? Andrea: Da sind nur noch vier drin, da waren acht drin. Jona: Ich mein nicht das Bier. Eben noch gesellig über Tote im Ruandakrieg geredet. Spaß gehabt und jetzt heulen alle rum. Jürgen: Es war das letzte Mal, dass ich koche. John: Aber es war lecker, Jürgen. Sabrina: Das nächste Mal könntest du mehr Ge­ würze benutzen. John: Boah Sabrina. Sabrina: Was soll ich denn sagen?! Soll ich lügen?! Soll ich sagen: Es war super lecker. Andrea: Ich find Ehrlichkeit ist eine total wichtige Sache. Jürgen: Ich mach gar nichts mehr. Sabrina: Der hat zu viel Bier gesoffen. Jona: Gute Nacht. Andrea: Halt, stopp! Man soll nicht ins Bett gehen, bevor man nicht alles geklärt hat. Jona: Als ob wir jetzt noch was klären würden.

12. Andrea im Confessions-Room. Andrea: 14 Wochen. Ist ziemlich gut. Letzte Woche musste Alex gehen. Das war für mich in Ordnung. Ich finde auch, dass jetzt in unserer Gruppe eine andere Dynamik drin ist.

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Ich denk überhaupt nicht mehr über die Zuschau­ er nach. Es beeinflusst auch gar nicht mehr den Alltag. Nicht bei jedem. Ich weiß es nicht. Bei mir nicht. Es ist eher die Gruppendynamik. Ich glaube, die wenigsten machen etwas speziell für die Kamera. Also die, die jetzt noch da sind. Das fällt ja auch auf. Ich meine, die ersten, die rausgeflogen sind, bei denen war das offensicht­ lich. Vielleicht hilft es mir, dass ich nicht so offensiv bin und mich oft zurückhalte. Das hilft wahrscheinlich. Weil ich mir die Dinge erstmal anschaue. Und nicht so in einen Konflikt gehe. Vielleicht … Ich denke gerade … Es könnte ja sein, dass draußen vor einiger Zeit ein Krieg ausgebrochen ist und dass wir das alles nicht mitgekriegt haben, weil man es bewusst unterlas­ sen hat, uns zu informieren, um wenigstens einen Ort aufrechtzuerhalten, indem sowas wie Alltag existiert. Wir sind von der Welt abgeschnitten. Oh Gott. Dann wären wir ja das Spaßprogramm im Krieg. Aber ihr würdet uns ja dann Bescheid sagen, nehm ich an. Der Gedanke macht mich jetzt völlig fertig. Darüber hab ich ja gar nicht nachgedacht. Ich ver­ misse es, einfach mal in eine Straße reinzugehen. Normale Menschen zu sehen, die einfach unter­ wegs sind, die einkaufen, die in Restaurants sitzen, Ich denke gar nicht darüber nach, dass irgendwas passiert sein könnte. Ist irgendwas passiert? PAUSE

Also ich bin ja sehr harmoniebedürftig. Es sieht zwar nicht so aus, aber es ist wirklich so.

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Es bringt mich aus meinem inneren Gleichge­ wicht Ich habe auch Alex nominiert. Ich hab in dem Fall wirklich kein schlechtes Gewis­ sen. Ich hab oft ein schlechtes Gewissen, was ich nicht immer den besten Weg finde, aber bei Alex hatte ich nie das Gefühl, dass er sich hier wohl fühlt.

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Vierter Akt Einblendung Mai 2000. Vor einer Woche ist Jona aus dem Con­ tainer gewählt worden. Übrig bleiben Sabrina, Andrea, John und Jürgen. Die Einschaltquoten steigen, je mehr sich die Show ihrem Ende nä­ hert. Ebenso steigen die Temperaturen. Die Son­ ne scheint durchgehend. Es ist schon jetzt der wärmste Frühling seit Beginn der Aufzeichnun­ gen.

13. Neunzehnvierundachtzig Sabrina: Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gezogen, um dem scheußlichen Wind zu entgehen, schlüpfte rasch durch die Glas­ türen der Victory Mietskaserne, wobei er nicht ver­ hindern konnte, dass mit ihm auch ein riesiger Staubwirbel hereinwehte. Der Flur roch nach Kohlsuppe und Flickenteppi­ chen. An einem Ende hatte man ein Farbplakat an die Wand gepinnt, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht eines etwa 45-jäh­ rigen Mannes mit wuchtigem schwarzen Schnurr­ bart und kernig-ansprechenden Zügen. Winston steuerte auf die Treppe zu. Es mit dem Lift zu probieren, war zwecklos. Selbst zu günstigen Zeiten funktionierte er selten, und momentan wurde der Strom abgestellt. Das war Teil der Spar­ samkeitskampagne zur Vorbereitung der Hass­ woche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der 39 war und über dem rechten Fußknöchel ein Krampfadergeschwür hatte, ging langsam und verschnaufte unterwegs mehrmals. Auf jedem Treppenabsatz starrte dem Liftschacht gegenüber das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die einem mit einem Blick überallhin zu folgen scheinen. Ein Gesicht wie ein Traumbild, nicht unansehnlich, irgendwie schön genug, dass man Lust hatte, es die ganze Zeit anschauen. Unter dem Gesicht stand eine Zeile: Der große Bruder sieht dich.

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In der Wohnung verlas eine sonore Stimme eine Zahlenstatistik, bei der es irgendwie um Roheisen­ produktion ging. Die Stimme kam aus einer ­länglich-rechteckigen Metallplatte, die wie ein blin­ der Spiegel in die Wand zur Rechten eingelassen war. Winston drehte an einem Knopf. Die Stimme klang gedämpfter, blieb aber dennoch verständlich. Man konnte das Gerät, den sogenannten Teleschirm, zwar leiser stellen, aber ganz ausschalten ließ es sich nicht. Er trat ans Fenster: eine schmächtige Gestalt, de­ ren Magerkeit durch den blauen Overall der Partei­ uniform nur noch betont wurde. Sein Haar war hellblond, sein Gesicht von Natur aus rötlich, seine Haut rau von scharfer Seife, stumpfen Rasierklin­ gen und der Kälte des eben zu Ende gegangenen Winters. Draußen sah die Welt sogar durch das geschlosse­ ne Fenster kalt aus. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Staub und Papierfetzen in Spi­ ralen hoch, und obwohl die Sonne schien und der Himmel grellblau war, wirkte doch alles außer den überall angeklebten Plakaten farblos. Das schwarz­ schnurrbärtige Gesicht starrte von jeder dominie­ renden Ecke herab. Eines hing an der Hauswand unmittelbar gegenüber. Der große Bruder sieht dich, verkündete die Unterzeile, und die dunklen Augen blickten tief in Winstons Augen. In der Ferne glitt ein Helikopter zwischen den Dächern herunter, schwebte für einen Moment lauernd wie eine Schmeißfliege und schwirrte dann in einem weiten Bogen wieder ab. Es war die Polizeistreife, die an den Fenstern der Leute schnüffeln kam. Die Streifen waren jedoch nicht weiter schlimm. Schlimm war bloß die Gedan­ kenpolizei.

Wie oft oder nach welchem System sich die Gedan­ kenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, dar­ über ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denk­ bar, dass sie ständig alle beobachtete. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschal­ ten. Man musste folglich in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die einem zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man verursachte, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde. Winston kehrte dem Teleschirm weiter den Rücken zu. Es war sicherer so; obgleich, wie er sehr wohl wusste, selbst ein Rücken verräterisch sein konnte. John: 8 Uhr morgens: aufstehen. 8 Uhr 15: duschen, Zähne putzen, das Gesicht überprüfen. Dabei die anderen mitdenken. 8 Uhr 30: Frühstück zubereiten. 9 Uhr: Sport. 30 Runden im Garten joggen. Anschlie­ ßend: Gewichte heben. Zum Abschluss: Stretching nicht vergessen. Dabei die anderen mitdenken. 10 Uhr 30: Gemeinsame Lagebesprechung über den Tagesablauf. Dabei die anderen mitdenken. Anschließend: Nachdenken über die Nominierung. Unweigerliches Nachdenken über die anderen. 12 Uhr: Mittagessen vorbereiten. Die anderen. 12:45 Uhr: Mittagessen. 14:00 Uhr: Besprechung über den Verlauf des Nachmittags mit den anderen. Dabei sich selbst nicht vergessen. 15 Uhr: Was zum Teufel mach ich hier eigentlich? 15:30 Uhr: Geben und Nehmen. Nachdenken über die anderen. Die anderen. Die anderen. Die ande­ ren. Die anderen. Die anderen. Die anderen. 16 Uhr: Tagesaufgabe erfüllen. 17 Uhr. 18 Uhr. 19 Uhr. 20 Uhr. 21 Uhr. 22 Uhr. 23 Uhr. 0 Uhr. 1 Uhr. 2 Uhr. Es … ist … meine … Hoffnung, einen … Blick … ent­ wickeln … zu können, der so präzise ist, … dass ich die Dinge, die passieren … unterscheiden … und benennen kann. Und dass ich mich … in Räumen aufhalten kann … in denen ich sicher bin.

In Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Teleschirm noch immer von Roheisen und der Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm war Sende- und Empfangsgerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flüstern hinausging, würde regi­ striert werden; außerdem konnte er, solange er in dem von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, ebensogut gesehen wie gehört werden.

This is our oven. Even in summer we use this oven. It’s warm and cozy. I love the oven. It’s so great! It’s the greatest oven you can have.

Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Au­ genblick gerade beobachtet wurde oder nicht.

This is our bedroom. And this is my bed and my cover. I really love the bedsheets, because they are

Andrea: Ok, guys, I’m now going to show you our little house, our gorgeous house. I really love this house. It has a unique ambience. It’s small, but so convenient.

3.– 6.6.2021 | Kinderclub

S   CHNEEWITTCHEN TAKE 1 10.– 13.6.2021 | Kollektiv Schlachthaus Theater UG

D   IE SCHWEIZ – E   IN GEFÄNGNIS 16.– 19.6.2021 | Jugendclub

D   ER MARSCH NACH BERN www.schlachthaus.ch | Rathausgasse 20/22 | 3011 Bern

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so clean and so white. My bedsheet is so white. It’s the whitest bedsheet you can imagine. I love white. This is the bathroom. I love this mirror. I like to look at myself in this mirror. Mirrors a great. They create this intimacy which is so special. They tell me who I am. I like this plant. I love plants. This one is not real, but i love it. Plants are so important as they give us what is the most important for our lives: oxygen! You can just breathe. I love breathing. And this is our kitchen. Here we cook our food. This is our coffee machine. I love coffee. Without coffee I am a nothing. Look at the coffee powder. It sais: The Heavenly.

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gar nicht wissen: Sind es echte Menschen oder Menschen, die dafür bezahlt werden, echt zu wir­ ken? Die Gefahr dabei ist, dass irgendwann das Vertrauen in Information kollabiert – weil die Men­ schen sich gegenseitig unterstellen, dass sie die jeweilige Realität nur deswegen so konstruieren, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Schau­ en Sie genau hin! John: Ich finde typisch deutsch ist, dass der Deut­ sche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht darüber reden würde, ob­ wohl die doppelt so viel Menschen auf dem Gewis­ sen haben, in der gleichen Zeit. Kann man den letz­ ten Satz streichen? Dann hat man inhaltlich noch alles, aber diese Holocaust-Relativierung raus. Jürgen: Nein.

14. lässt den Kaffee fallen In der Küche Oops, the coffee fell down. How could this happen! Oops, again it feel down. Oops, again it feel down. Oops, I did it again. That is so fascinating. That’s reality: repetition. I love repetition. You do it once, you do it twice, you do it three times, and it has already become normal. Isn’t that fascinating? Chaos becomes normal. Jürgen: Guten Abend. Mein Name ist Stefan Grü­ newald, Medienpsychologe vom Rheingold-Insti­ tut für Medienanalyse. Das Rheingold-Institut be­ schäftigt sich mit Medienphänomenen rund um die Jahrtausendwende. In den vergangenen zwei Jahren hat es sich unter anderem mit mit dem Tod von Lady Di beschäftigt, mit dem TamagotchiWahn und mit der Parteispenden-Affäre. Und jetzt also Big Brother. Bei Big Brother hat das Publikum gehofft, einen göttlichen Blick einzunehmen. Die Menschen ha­ ben gehofft, Sodom und Gomorrah verfolgen zu können. Diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Dann hat man aber gemerkt, dass die Banalität des Alltags auch eine Faszination ausübt. Als Medien­ psychologe bin ich gespannt, was als nächstes kommt, weil, was wir beobachten, ist, dass die Hoff­ nungen, die die Menschen haben – Alltagskompe­ tenz, Beziehungen besser pflegen können, psycho­ logisch kompetent zu sein – all diese Hoffnungen erfüllen sich ja nicht. Ich bleibe ein ganz normaler Alltagsmensch. Es besteht eine gewisse Gefahr, dass die Zuschauer diese Hoffnung in ein nächstes, ex­ tremeres Format verschieben und irgendwann nicht mehr zwischen Show und ihrem eigenen Le­ ben unterscheiden können. Schauen Sie. Hier! Andrea: Ich bin kein starker Mensch. Die Leute denken das vielleicht, weil ich manchmal so schei­ ne, als hätte ich eine klare Meinung, auch weil ich mich vielleicht nicht so in den Vordergrund stelle. Die halten das für Coolness, aber ich fühle mich dabei – Jürgen: Die Schauspieler lernen Text. Sie lesen ihre Scripts und lernen sie auswendig. Später wird man

Andrea: Ich bin kein starker Mensch. Die Leute denken das vielleicht, weil ich manchmal so schei­ ne, als hätte ich eine klare Meinung, auch weil ich mich vielleicht nicht so in den Vordergrund stelle. Die halten das für Coolness, aber ich fühle mich dabei – Sabrina: Deswegen bist du vielleicht noch hier. Andrea: – nicht stark. Vielleicht hab ich auch ein­ fach nur Glück gehabt, dass es mich auch dieses Mal nicht erwischt hat. Sabrina: Du bist klug. Die Klugen überleben. Außerdem: Wir hätten Jona auch als Gruppe aus­ stoßen können, aber das haben wir nicht gemacht. Wir brauchen uns nichts vorzuwerfen. Jürgen: Das würde es bei mir auch niemals geben. Andrea: Bei mir auch nicht. Sabrina: Bei mir auch nicht. Jürgen: Aber wenn er geblieben wäre, dann wäre diese Woche auch nicht so schön gewesen. Das war eine der schönsten Wochen hier. Es gab auch ande­ re schöne Wochen, aber das war eine der schön­ sten hier, die wir bis jetzt hatten. Andrea: Stimmt. Das war wirklich eine der schön­ sten Wochen hier. Ein bisschen tat er mir aber schon auch leid. Hat ihn ja ziemlich mitgenom­ men, als es rauskam. Jürgen: Ja, schon. Andererseits hat er sich schon auch irgendwie ein bisschen zu sehr zurückge­ halten, wenn ihr mich fragt. So insgesamt. Man muss sich halt in einer Gruppe schon auch betei­ ligen. Andrea: Das fällt aber nicht allen leicht. Sabrina: Das fällt nicht allen leicht. Gibst du mir mal die Zwiebeln. Andrea: Und der Alex, der hat auch zuviel nachge­ dacht, wenn ihr mich fragt. Jürgen: Ja, der überlegt vieles kaputt. Andrea: Ja, er überlegt vieles kaputt. Das hab ich ihm aber auch gesagt. Aber ich glaub, dass er sei­ nen Weg machen wird. Er gibt sich ja auch sehr viel Mühe. Ich hab ja Alex am Anfang ganz anders eingeschätzt. Ich dachte, er wäre viel stärker. Ich hätte nie gedacht, dass der eigentlich so ein ganz Introvertierter ist. Bei John versteh ich das. Der ist ja anscheinend total arbeitslos. In der Baubranche ist das nicht mehr so –

Sabrina: Hat er das gesagt? Aber normal gibt es kei­ ne arbeitslosen Zimmermänner. Normal gibt’s das nicht. Das sag ich dir ganz ehrlich. Wenn du das auf’m Bau sagst, dann lachen die sich kaputt. Jürgen: Ja? Sabrina: Natürlich! Dachdecker gibt’s auch nicht arbeitslos. Und Zimmermänner schon gar nicht. Jürgen: Das hab ich mir auch gedacht. In Berlin – Sabrina: – da wird gebaut ohne Ende. Da muss ir­ gendwas sein. Entweder steckt er seine Ansprüche zu hoch – Jürgen: Da ist doch jede Firma glücklich, wenn die den hat. Das ist doch so ein Malocher, ist das. Sabrina: Dachdecker oder Zimmermann. Gibt’s normalerweise nicht arbeitslos. Andrea: Willst du die Wurst? Sabrina: Ne. Aber ein Bier wär super. John kommt aus dem Bad. Jürgen: John, du hast geschwindelt. John: Wieso? Jürgen: Die Sabrina sagt, es gibt keine arbeitslosen Zimmermänner. Sabrina: Oder Dachdecker. Jürgen: Ich hab gesagt, jede Firma kann sich doch glücklich schätzen, wenn sie dich als Arbeiter hat. John: Das sieht im Osten aber ein bisschen anders aus. Jürgen: Die sagt, bei ihr auf’m Bau würde man dich auslachen. Sabrina: Ja, bei uns gibt es sowas nicht. John: Ich sag dir doch: Bei uns sieht das etwas an­ ders aus auf dem Arbeitsmarkt. In Berlin hast du einfach mal eine andere Arbeitsbranche. Sabrina: Ich hab ja in Berlin auch gearbeitet. Auch in Brandenburg. Du müsstest dann eventuell um­ ziehen. Wenn du sagst, du möchtest nur innerhalb von 50 km. Aber ansonsten kriegst du was angeboten. John: Ja, innerhalb von 50. Ich hab eine Familie zu Hause. Dann zieh mal spontan um wegen einem Job, der zwei Monate dauert. Sabrina: Das ist eine Einstellungsfrage. Wenn du sagst, ich möchte, dass ich für eine Firma arbeite, dann arbeite ich zwei Monate da. Andrea: Wieso zwei Monate? John: Also ich zieh sicher nicht wegen einer Firma um. Sabrina: Wenn du keine Arbeit findest; was willst du tun? John: Dann muss ich umstrukturieren. Ich will doch nicht die Familie aus dem Umfeld rausreißen. Sabrina: Wenn du keine Arbeit findest, was willst du denn da machen?! John: Hab ich doch gesagt: umstrukturieren. Andrea: Umschulen, oder was? John: Irgendwas halt. Ich halt doch nicht meine Familie da raus. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Es ist nur so, bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Sabrina: Natürlich Polen und Belgier. Die machen die ganzen Preise kaputt. Natürlich. Polen in Wag­ gons hier. John: Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hau­ se zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzäh­ len drüber. Sabrina: Ich sag, du bräuchtest gar kein Scheiß zu arbeiten.


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boris nikitin_erste staffel. 20 jahre grosser bruder

John: Ja. Aber das sehen die Firmen heutzutage an­ ders. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zimmermann für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Arschtritt. Jürgen: Das war bei dir so. John: Das is’ immer so. Ist eine Baustelle fertig, baff, weg. Brauchen sie den nicht mehr. Jürgen: Aber da ändert sich doch schon was jetzt mit dem Schröder. John: Schröder. Die interessieren sich nicht für Leute wie uns, wenn ihr mich fragt. Das hast du doch gesehen, mit dem Lafontaine und dem Schröder. Für den bist du ja kein Arbeiter, sondern ein Projekt. Jürgen: Das war halt bei dir so! Sabrina: Essen ist fertig. Andrea: Wer spricht das Tischgebet? John: Ich mach das. Lieber Gott, bitte mach, dass diese naiven Wessis endlich verstehen, dass im Osten – Sabrina: Komm schon! John: Ne, das ist immer so! Schröder. Lafontaine. Die sagen, mach was aus dir, bau dir was auf, denk über deine Zukunft nach. Wir suchen ’nen Zim­ mermann für immer und kaum ist die Baustelle fertig, biste weg. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Es ist nur so, dass – bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt eben etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir da nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach

Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu er­ zählen drüber. Für Schröder bist du nur ein Pro­ jekt. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zimmermann für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig, zack, kriegst ’nen Arschtritt. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Weil, bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns ist Belgien um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zim­ mermann für immer und so und kaum ist die Bau­ stelle fertig, kriegst ’nen Arschtritt. Leider Gottes ist das so. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu brin­ gen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drüber. Es ist nur so, dass bei uns ist Polen um die Ecke, bei uns ist Belgien um die Ecke. Das ist so typisch deutsch, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche ­Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht da­ rüber reden würde. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Bei uns ist halt Tschechei um die Ecke. Und kaum ist die Baustelle fertig, kriegst ’nen Belgier. Bei uns sieht das nun­ mal so aus. Bei uns ist die Arbeitslage halt ein bis­ schen anders. Es ist so typisch deutsch, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Mei­

nung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldi­ gen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Als Deutscher musst du dich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Deutscher. Ich denke, dass ein bisschen Natio­ nalstolz auch in Ordnung ist. Dass man mit gutem Gewissen sagen kann, ja, ich bin. Und deswegen zieh ich sicher nicht um! Deswegen zieh ich garan­ tiert nicht um! Vergesst es! Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtli­ chen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drü­ ber. Aber das sehen die Firmen heutzutage anders. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stel­ len dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Belgier für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Polen. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Bei uns sieht der Pole halt anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Russen für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Schröder. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämt­ lichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen. Ich finde typisch deutsch ist, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für ir­ gendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Pole überhaupt

3.–13. JUNI 21 WELCOME TO THE PLEASUREZONE Ein Projekt des Bündnisses internationaler Produktionshäuser: FFT Düsseldorf, HAU Hebbel am Ufer (Berlin), HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste (Dresden), Kampnagel (Hamburg), Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main), PACT Zollverein (Essen), tanzhaus nrw (Düsseldorf). www.produktionshaeuser.de Das Bündnis internationaler Produktionshäuser wird gefördert von:

WS,GS O H S NO F EEL IN ONLY Gestaltung: Jihee Lee

MEHR INFOS AUF KAMPNAGEL.DE

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Theater muss sein!

Marie NDiaye NACH EUROPA Regie: Hüseyin Michael Cirpici

TfN Hildesheim Premiere: 12. Juni 2021

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

nicht darüber reden würde. Und der Russe muss sich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Tscheche. Ich denke, dass ein bisschen Stolz auch in Ordnung ist. Ich finde, das ist so typisch deutsch, dass der Arbeits­ markt nunmal anders aussieht. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Lafontaine nach Hause zu bringen. Aber das sehen die Firmen heutzutage an­ ders. Als Pole musst du dich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ja, ich bin John. Ich denke, dass ein bisschen, so ein bisschen Identitätsstolz auch in Ordnung ist.

Andrea: Am Ende bist du immer allein. Am Ende musst du selbst für dich schauen. Besonders als Frau. Sabrina: Ja, genau, als Frau. Sag ich, schick mir ein Zeichen, ich hab’s doch bis hierher geschafft, hab mir so viel Mühe gegeben, soviel Anstrengungen auf mich genommen. Ist es immer noch nicht ge­ nug? Reicht dir das immer noch nicht? Und dann schrei ich so: Was zum Teufel willst du denn von mir? Warum muss immer alles so scheiße laufen im Leben? Andrea: Alles. Die wollen alles. Irgendwie diese Woche hat es wieder angefangen, dass ich so schei­ ße schlafe. Schon wieder diese Nominierung. Ich meine, es ist ja eigentlich scheiß egal. Sabrina: Ja, du hast recht. Da sind diese Gedanken. Ich verdränge das immer bis zu dem Tag. Ich ver­ suche, nicht darüber zu denken, weil ich auch ein sensibler Mensch bin. Und wenn ich dann da drin bin und die da draußen mich fragen, wen ich jetzt nominiere, dann sag’ ich halt was. Aber in unsere Köpfe können die ja trotzdem nicht reinkucken, obwohl wir hier viel preisgeben von uns. Andrea: Ich meine, die Köpfe, da weiß niemand, was sich da spinnt. Sabrina: Die müssten erst unsere Schädeldecken aufknacken und in unseren Gehirnwindungen rumwühlen. Weißt du, Das größte Glück besteht darin, die Wahrheit zu sagen, ohne damit jeman­ dem weh zu tun. Andrea: Ja, vielleicht. Aber vielleicht muss es manchmal auch schmerzen. Es bringt ja nichts, wenn sich die Leute etwas vormachen. Manchmal verstehst du’s nur, wenn es körperlich schmerzt. Ist am Ende besser so. Für alle. Sabrina: Weißt du was, ich glaube du hast recht. Einblendung

15. Sabrina und Andrea liegen im Schlafzimmer. Sabrina: Ich hatte den Unfall nachts um zehn ge­ habt. Davor hatte ich den Arbeitsunfall gehabt. Ich war sehr angespannt. Ich stand sehr unter Lei­ stungsdruck. Dass ich die Arbeit nicht fertig krie­ ge, dass ich meine Leute nicht bezahlen kann. Al­ les zusammen, weißte. Und da hatte ich grad schön das Boot wieder am fahren. Hab alles schön aufgefangen – da mach ich diesen Autounfall. Ar­ beitsunfähig. Dachte ich, mein Gott, kannste mal sagen? Ich stand da so: Lieber Gott, was hab ich getan? Kann­ ste mir das mal sagen?! Denk ich so: Warum?! Das war so eine Art Schockzustand nachts, wenn es dunkel wurde, du musst dir vorstellen … Ich hab das keinem gesagt, ich war gar nicht in der Lage, mit irgend jemandem darüber zu reden, nicht vor meinen besten Leuten hab ich darüber gesprochen, gar nichts. Hab ich immer gekuckt, dass ich vor der Dunkelheit zu Hause war. Hab ich echt Angst gehabt, im Dunkeln zu fahren! Ich war so um halb zehn, weißt du, hab ich so richtig die Angst … Weißt du, so richtig so hoch … Hab ich mir immer so die Kippen gelegt, nur damit ich nicht in der Dunkelheit nach Hause komme. Da schlug mein Herz auf der … Autobahn, ich musste ja zu einem Kunden fahren … Das war so ein rich­ tiger Kampf und ich sag immer wieder … Was willst du denn von mir?! Was soll ich tun, damit du diese Angst von mir nimmst?! Ist das jetzt der Mo­ ment? frag ich. Echt jetzt? War’s das? War’s das?

Tag 81. Tag der Nominierung. In der Live-Show be­ sucht eine Moderatorin die Familie von John, die alle auf einem Sofa sitzen. Auf die Frage, wer denn am Ende gewinnen werde, antworten alle: „Ich weiß es nicht.“ Außerdem werden in der Show 55.000 DM ge­ spendet. Dieses Geld werde notleidenden Men­ schen in Äthiopien zugutekommen, „denn dort herrscht seit über 15 Jahren Krieg“. Eine Frau mit Namen Maike Just vom Deutschen Roten Kreuz erklärt im Studio, wie das Geld verteilt wird. Es handle sich um einen Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Eritrea, erläutert Frau Just, die erst seit wenigen Monaten beim DRK arbeitet. Er­ schwerend komme hinzu, dass es seit zwei Jahren nicht geregnet habe, weswegen die Ernten ausfie­ len und das Vieh gestorben sei. Und dann kam auch noch die Seuche dazu, sagt die junge Frau und blickt dabei betroffen in die Kamera. Ein weiterer Gast ist Stefan Grünewald, Medien­ psychologe am berühmten Rheingold-Institut für Medien- und Marktanalysen. Das Rheingold-Insti­ tut beschäftigt sich mit Medienphänomenen rund um die Jahrtausendwende. Grünewald bezeichnet die Show als eine „Puppenstube für Erwachsene“. In der Show könne man den banalen, authenti­ schen Alltag verfolgen. Interessant sei, dass die Beteiligungsquote höher sei als die Einschaltquote. Die Menschen schauten nicht unbedingt immer zu, aber sie unterhielten sich darüber bei der Ar­ beit, in der U-Bahn, beim Stammtisch, in der

Schule. Überall. „Die ganze Bundesrepublik spricht über die Show“, so Grünewald. Die Leute bekämen dabei das Gefühl, selbst zu Expert*innen zu werden. Man mache Prognosen und Analysen, spreche über Verhalten. „Die Men­ schen spüren, dass sie in einer Welt leben, die sie nicht mehr verstehen. Wir leben in einer Welt der Wirtschaft, in einer Welt der Börsenkurse, auf die wir keinen Zugriff mehr haben“, sagt der Medienpsycho­ loge vom berühmten Rheingold-Institut. „Hier hin­ gegen haben wir eine Containerwelt, die wir über­ schauen können, die wir verstehen können, die wir mit gestalten können.“ Bei der Show erlebten die Zuschauer*innen eine Art Wiederauf­ erstehungs­ gefühl, so der Mann vom Rheingold-Institut. Die Show sei ein Format, bei dem der psychologische Tiefgang durch das eigene Hinzutun entstünde. Es ist ein Format, das sich eigentlich nicht im Fernseher abspielt, sondern im dem ganzen Drumherum. Die Zuschauer sind die eigentlichen Helden. Andrea nominiert Jürgen und John John nominiert Andrea und Sabrina Jürgen nominiert Andrea und Sabrina Sabrina nominiert zunächst John und Jürgen. Es stellt sich heraus, dass die Kandidat*innen sich abgesprochen und die Nominierungen so verteilt haben, dass alle gleich viele Stimmen erhalten würden. Die Entscheidung soll ganz an das Publi­ kum abgegeben werden. Noch in der Kabine än­ dert Sabrina jedoch plötzlich ihre Meinung. Nomi­ niert sind auf einmal John und Sabrina. In der nächsten Runde wird Sabrina vom Publikum aus dem Container herausgeworfen. Eine Woche da­ rauf gewinnt John die Show. Zweitplatzierte wird ­Andrea. Der Moderator überreicht ihr einen Gut­ schein für eine Thailand-Reise. „Damit du mal ein bisschen braun wirst“, sagt er und lacht in die Kamera. Von Mitteleuropa aus verbreitet sich das Format in den folgenden Jahrzehnten über die ganze Welt. Überall werden Container aufgestellt, in welche bisher unsichtbare Menschen einziehen, um sich in ihrem Alltagsleben beobachten zu lassen – in der Hoffnung auf Ruhm, Anerkennung und Be­ deutung. Es ist ein globaler Triumphzug. Expert*innen werden sich über den Einfluss von Big Brother uneinig bleiben. Die einen sagen, dass die Menschen allmählich die Fähigkeit verlieren würden, zwischen Privatem und Öffentlichem und zwischen Spiel und Ernst zu unterscheiden. An­ dere wiederum werden versichern, dass der Ein­ zug der gewöhnlichen Menschen in die Container ein wichtiger Schritt in der Demokratisierung der globalen Gesellschaft war. Einig sind sich alle in der Auffassung, dass der ers­te Container aus dem Jahre 2000 ein historisches ­Ereignis darstellte, das den Lauf der Geschichte wie eine Axt in zwei Teile teilte: Die Welt vor und die Welt nach der ersten Staffel.

© schaefersphilippen™ Theater und Medien GbR 2021 Auszug aus „1984“ von George Orwell © Ullstein Verlag 2019


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Die Schauspielhaus Graz GmbH, ein Unternehmen der im Eigentum des Landes Steiermark und der Stadt Graz befindlichen Bühnen Graz GmbH, sucht eine charismatische, souveräne, in der Theaterwelt beheimatete und der Kostenwahrheit verpflichtete Führungspersönlichkeit mit künstlerischer Exzellenz, internationalen Kontakten, tiefgreifendem Fachwissen, diplomatischem Geschick und sozialer Kompetenz zur Besetzung für die Wirkungsperiode vom 1. September 2023 bis 31. August 2028 nachfolgender Position:

GESCHÄFTSFÜHRENDE INTENDANZ (m/w/d) Ihr Aufgabenschwerpunkt liegt in der Entwicklung und Umsetzung künstlerischer Visionen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Schauspielhauses Graz. In dieser Funktion übernehmen Sie die allumfassende Verantwortung für die strategische Ausrichtung des Theaters und haben im Rahmen der Konzernrichtlinien die künstlerische, kaufmännische und personelle Entscheidungsautonomie. Bei Kuration und Inszenierung genießen Sie uneingeschränkte Gestaltungsfreiheit. Sie verfügen über exzellente Repertoirekenntnisse aller Formen im In- und Ausland und konnten die erfolgreiche Realisierung Ihrer Produktionen an einem Schauspielhaus bereits unter Beweis stellen. Bei der Ausarbeitung und Umsetzung eines komplexen Jahresspielplanes zeichnen Sie sich durch höchst verantwortlichen Umgang mit den strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen aus. Die Aufrechterhaltung und Erweiterung der bestehenden Spendervereinbarungen sowie die Akquise von neuen Sponsoren sind ebenfalls essenziell und unerlässlich. Für die erfolgreiche Bewältigung dieser herausfordernden Aufgabe sind wesentlich:

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tiefgreifende Kenntnisse der deutschsprachigenTheaterliteratur und historisch-bewährten Übersetzungen sowie kontemporärer der internationalen Bühnenklassiker etabliertes Netzwerk mit zeitgenössischen Autor*innen und Übersetzer*innen fundiertes Know-how der Struktur und Abläufe eines aus mehreren Häuser bestehenden Sprechtheaters nachweisliche Expertise in der Führung einer international agierenden Kultureinrichtung umfangreiche Erfahrung im Personalmanagement, Mitarbeiterförderung und Entwicklung profundes kaufmännisches Wissen in Administration und Finanzverwaltung einer publikumsorientierten Organisation ausgewiesene Sicherheit im Umgang mit öffentlichen Institutionen im In- und Ausland sorgfältig gepflegtes und aktiv betreutes Netzwerk mit den führenden Vertretern der internationalen Theaterwelt profilierte Gewandtheit in Public Relations und Geschicklichkeit in Fundraising hohe Sozialkompetenz, redliche Integrationsfähigkeit und diplomatisches Geschick vorbildliche Selbstorganisation, selbstständige, strukturierte und zielorientierte Arbeitsweise beispielgebende Team-Player-Qualitäten und einnehmende Konfliktlösungsfähigkeit

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Ausschreibung einer unbefristeten Stelle als Universitätsprofessorin_Universitätsprofessor für Rollengestaltung am Institut für Schauspiel und Schauspielregie - Max Reinhardt Seminar der mdw-Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Am Institut für Schauspiel und Schauspielregie – Max Reinhardt Seminar der mdw-Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ist voraussichtlich ab 1. Oktober 2022 eine Stelle als

Universitätsprofessorin_Universitätsprofessor für Rollengestaltung gem. § 98 UG zu besetzen. Beschäftigungsausmaß: vollbeschäftigt Vertrag: unbefristetes Arbeitsverhältnis gem. Kollektivvertrag Mindestentgelt: Gemäß Kollektivvertrag beträgt das monatliche Bruttoentgelt mindestens € 5.321,70 (14 mal). Ein allfälliges höheres Gehalt, abhängig von Qualifikation und Vorerfahrungen, ist Gegenstand von Berufungsverhandlungen. Anstellungserfordernisse: • Eine der Verwendung entsprechende abgeschlossene inländische oder gleichwertige ausländische Hochschulbildung bzw. eine gleich zu wertende künstlerische Eignung • eine hervorragende künstlerische Qualifikation für das zu besetzende Fach • hohe Qualifikation durch künstlerische Praxis in Theater • die der zu besetzenden Stelle adäquate pädagogische und didaktische Eignung, die u.a. mittels Lehrprobe überprüft werden kann Gewünschte Qualifikationen: • fundierte methodische Grundlagen in der Vermittlung der schauspielerischen Arbeit • pädagogische und didaktische Erfahrung im Ausbildungs- oder Weiterbildungsbereich für Schauspiel • Techniken für die Rollengestaltung und szenische Arbeit • profunde Kenntnisse von Text-, Szenen- und Rollenanalyse • Erfahrungen im Filmbereich • Fähigkeit, ein Ensemble zu führen • Bereitschaft zu fächerübergreifender Arbeit • Gender- und Diversitätskompetenz Aufgaben: Der zu übernehmende Aufgabenbereich umfasst die Lehr- und Prüfungstätigkeit im Fach „Rollengestaltung“, die Betreuung der Studierenden der Studienrichtung Darstellende Kunst und die Erschließung und Entwicklung der Künste. Teamfähigkeit und die Bereitschaft zur Mitarbeit bei Organisations-, Verwaltungs- und Evaluierungsaufgaben sowie in Kommissionen und Gremien der Universität wird vorausgesetzt.

authentische, situations- und kommunikationsadäquate Beherrschung der deutschen Sprache auf höchstem Niveau

Ende der Bewerbungsfrist: 16. Juni 2021

absolut verhandlungssichere Englischkenntnisse

Bewerbungen sind ausschließlich über das mdw-Bewerbungsportal www.mdw.ac.at/bewerbungsportal einzubringen. Sämtliche Unterlagen sind direkt im Portal in PDF-Form hochzuladen.

Wir hoffen auf Ihr Interesse an dieser in der europäischen Kulturwelt besonderen und erstklassigen Position und laden Sie ein, Ihre aussagekräftigen Bewerbungsunterlagen, welche Ihr detailliertes Konzept für die Weiterentwicklung des Schauspielhauses Graz enthalten sowie die geforderten Qualifikationen darlegen, bis spätestens 15. Juli 2021 per E- Mail an cv@granat-es.com an die von uns beauftragte Personalberatung GRANAT EXECUTIVE SEARCH, z. Hd. Mag. Alexander Granat, Brigittenauer Lände 156-158/2/49, 1200 Wien zu richten. Damit erklären Sie Ihre Bereitschaft, im Rahmen eines mehrstufigen Hearings weitere Auskünfte zu erteilen, wobei ein Reisekostenersatz ausgeschlossen ist. Sämtliche Bewerbungen werden selbstverständlich streng vertraulich behandelt. Diese verantwortungsvolle Stelle wird mit einem marktkonformen Gehalt ausgestattet. Um den Anteil von Frauen in Führungspositionen bei den Bühnen Graz zu erhöhen, werden diese überaus nachdrücklich zur Bewerbung eingeladen.

Die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien achtet als Arbeitgeberin auf Gleichbehandlung aller qualifizierten BewerberInnen unabhängig von Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Weltanschauung, Alter oder Behinderung. Die Universität strebt eine Erhöhung des Frauenanteils beim wissenschaftlichen, künstlerischen und allgemeinen Universitätspersonal insbesondere in Leitungsfunktionen an und fordert daher qualifizierte Frauen ausdrücklich zur Bewerbung auf. Sich bewerbende Personen haben keinen Anspruch auf Abgeltung von Reise- und Aufenthaltskosten, die aus Anlass des Aufnahmeverfahrens entstehen. Mag.a Ulrike Sych, Rektorin


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Magazin Was   tun? Zum fünfzigsten Todestag des Philosophen Georg Lukács  Radikal feminis­tisch und mit schwarzem Humor Während die deutschsprachige und litauische Dramatik den Zerfall unserer Gesellschaften sezieren, löst der Heidelberger Stückemarkt das Distanzproblem mit einer Digitalversion  Bernd Stegemann

Bücher

Wolfgang Engler /


magazin

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Was tun? Zum fünfzigsten Todestag des Philosophen Georg Lukács Ein Mensch zwischen allen Stühlen – das ist

Weltanschauung vertrat, führt selten zu

hat. Das gilt vor allem für seine geschichtsphi-

ein reichlich überstrapaziertes Bild. Es noch

bruchlosen Rezeptionsgeschichten. Schon

losophischen Erörterungen. Aber was ist mit

einmal zu bemühen, ist allerdings verzeih-

seine frühen Werke vermochten es zu polari-

der Kunst, was mit dem Theater? Lukács’ Tex-

lich, wenn man über Georg Lukács spricht,

sieren. Dennoch – oder gerade deshalb? – war

te zur Ästhetik, zu einem kritischen Realis-

dessen Standpunkt bei allem weltgeschichtli-

ihnen nachhaltige Wirkung beschieden, ein

mus, zum literarischen Erbe und zur Dramatik

chen Stühlerücken immer eine Zwischenposi-

prägender Einfluss auf die weitere Ideenge-

seiner Zeit waren und sind zielsichere Angriffe

tion darstellte. Zwischenposition, das klingt

schichte des 20. und des beginnenden 21.

auf herrschende Ansichten. Die Expressionis-

nach Kompromiss, soll aber in die-

musdebatte,

sem Fall heißen: Mut zum Wider-

deutschsprachigen Exilschriftstellern

spruch – und zum Denken in Wider-

in den dreißiger Jahren ausgetragen

sprüchen.

wurde, ist nur scheinbar eine abge-

die

vor

allem

von

Lukács, dessen Todestag sich

schlossene Episode der literarischen

am 4. Juni zum fünfzigsten Mal

Vergangenheit. Lukács’ vehementes

jährt, war Philosoph und Literaturhis-

Eintreten für einen differenzierten Re-

toriker. Sein erstaunlich breit aufge-

alismus betrifft die Kunst in ihrem We-

stelltes publizistisches Schaffen, das

sen – bis heute. Die ästhetischen De-

die Disziplinen munter wechselt, be-

batten unserer Tage sind häufig

rührt an unzähligen Stellen immer

Neuauflagen genau dieses Streits. Bei

wieder eine frühe Liebe des Theoreti-

Lukács geht es ums Ganze: um das

kers: das Theater. Der junge Lukács

Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit sowie um den Möglichkeitsraum von

unternimmt eigene dramatische Versuche, die allerdings nicht überliefert sind, und arbeitet als Theaterkritiker. Den künstlerischen Ambitionen folgt die lebenslange wissenschaftli-

Der Mann zwischen den Stühlen – Was in Lukács‘ Fall hieß: Mut zum Widerspruch und zum Denken in Widersprüchen. Oben: Sein Schreibtisch im ehemaligen Lukács-Archiv in Budapest Foto dpa / Jakob Hayner

Kunst überhaupt. Was tun?, lautet – auch für Lukács – die immer gleiche entscheidende Frage. Was tun, wenn das Georg-Lukács-Archiv ­

che Arbeit, an deren Anfang seine

in

Budapest,

Dissertation mit dem Titel „Entwicklungsge-

Jahrhunderts. Die marxistische Überzeugung

das internationale Zentrum der wissenschaft-

schichte des modernen Dramas“ (1911)

des Philosophen, die sich nicht selten auch

lichen Auseinandersetzung mit dem Denker,

steht. Lukács’ wechselhaftes Leben biogra-

kontrapunktisch zur offiziellen Politik der so-

geschlossen wird, wie 2018 geschehen?

fisch abzuhandeln, fehlt hier der Raum. Aber

zialistischen Staaten manifestierte, zog Pu­

Wenn eine Statue des Philosophen, wie im

schon einige Schlagworte – Beteiligung an

blikationsschwierigkeiten im Osten nach

Jahr zuvor geschehen, demontiert und – ein

der Errichtung der ungarischen Räterepublik

sich. Im Westen war es das lange Jahr 1968,

beredter symbolpolitischer Akt im reaktionä-

1919, Leben in Ungarn, Österreich, Deutsch-

in dem Lukács – vor allem mit seiner Essay-

ren Ungarn – durch eine Darstellung vom Hei-

land, Russland, sowjetisches Exil während

sammlung „Geschichte und Klassenbewusst-

ligen Stephanus ersetzt wird? Aber auch: Was

der Hochzeit des europäischen Faschismus,

sein“ (1923) – in den Klassikerkanon der

tun, wenn die darstellenden Künste drohen,

Unterstützung des ungarischen Volksauf-

Theorie aufgenommen wurde. Dass das Inte­

in Bedeutungslosigkeit zu verschwinden?

stands 1956 – bestätigen das Bild von dem

resse an einer derart gelagerten philosophi-

Eine einfache Antwort könnte lauten: Man

Mann zwischen den Stühlen. Lukács war,

schen Auseinandersetzung mit der Welt eher

sollte Lukács’ Werk wieder ernst nehmen. Das

wem einfache Formeln nicht zuwider sind,

wellenförmig ab- und zunimmt, ist hinläng-

heißt zunächst, seine Schriften zu lesen. Ehr-

östlicher Vertreter des westlichen Marxismus,

lich bekannt. Falls sich, ohne den eigentlich

furcht ist dazu nicht notwendig, schon eher

ein linientreuer Abweichler, stalinistischer

erforderlichen zeitlichen Abstand, eine Aus-

die Lust an streitbaren Positionen, an einem

Antistalinist. Sein Leben stand nicht im Geis-

sage zu Lukács’ Bedeutung in der Gegenwart

wagemutigen Denken und an ungewohnt prä-

te eines abgehobenen Theoretisierens, son-

machen lässt, dann könnte man vorsichtig

zisen Analysen. //

dern es zielte auf die gedankliche Durchdrin-

von einer Wiederannäherung sprechen. In

gung des Hier und Jetzt, es war ein „Gelebtes

Asien und Südamerika beispielsweise gibt es

Erik Zielke ist Theaterredakteur des nd und ge-

Denken“, wie auch der Titel seiner „Autobio-

eine lebendige Auseinandersetzung mit dem

meinsam mit Jakob Hayner (Leiter des Wissen-

grafie im Dialog“ lautet.

Denker. Und auch in Deutschland wird wieder

schaftsressorts beim nd) Herausgeber des im

der

als relevant wahrgenommen, was Lukács vor

Juni bei Theater der Zeit erscheinenden Readers

Lukács sein Denken und seine progressive

mehr als fünfzig Jahren zu Papier gebracht

„Georg Lukács. Texte zum Theater“.

Die

Kompromisslosigkeit,

mit

Erik Zielke

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magazin

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Wenn einem der Boden unter den Füßen wegrutscht – Katharina Ley und Friedrich Witte in Theresa Doplers „Das weiße Dorf“ in der Regie von Ron Zimmering. Foto Susanne Reichgardt

Parallelen beginnen für Liugaité schon bei der beruflichen Wirklichkeit. In dem baltischen Land, das 1990 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, gibt es eine blühende Theaterszene. Doch die wirtschaftliche Lage vieler Künstlerinnen und Künstler ist gerade

Radikal feministisch und mit schwarzem Humor

jetzt prekär. „Durch die Pandemie ist der Betrieb in der freien Szene stillgelegt, viele Autorinnen und Autoren müssen um ihre Existenz kämpfen“, sagt die Kuratorin. Explizit politisch sei das Theater in Litauen nicht. Dennoch überzeugte in den drei Stücken des europäischen Wettbewerbs der kritische Blick auf die Gegenwart. Die Suche nach einer Identität und nach

Während die deutschsprachige und litauische Dramatik den Zerfall unserer Gesellschaften sezieren, löst der Heidelberger Stückemarkt das Distanzproblem mit einer Digitalversion

einem Halt in der zerfallenden europäischen Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die formal sehr unterschiedlichen Texte. Geprägt von schwarzem Humor, aber auch von Gesellschaftskritik ist Gabriele Labanauskaités „Immobiliendrama“, mit dem sie den europäischen Wettbewerb für sich ent-

Das Erlebnis einer deutschen Erstaufführung

deutschsprachigen Dramatik streamen konn-

schied. Ausgangspunkt ist die Wohnungssuche

machte der Heidelberger Stückemarkt auch in

ten, wurde die 38. Festivalauflage 2021 kom-

einer Frau. Die Autorin zeichnet die Sehnsucht

der digitalen Auflage möglich. Wegen des pan-

plett digital konzipiert. Mit 3800 Zuschauerin-

ihrer Protagonistin nach den eigenen vier Wän-

demiebedingten Lockdowns wurde Teresa

nen und Zuschauern bei zwanzig digitalen

den nach, die sich im globalen Kapitalismus

Doplers „Das weiße Dorf“, Siegerstück des ­

Angeboten ist der Theaterchef zufrieden: „So

schwer realisieren lässt. Ihre spielerische Dra-

2019er-Festivals, statt im vergangenen Jahr

viele hätten definitiv nicht ins Theater ge-

maturgie dringt zu wesentlichen Fragen vor.

erst jetzt aufgeführt, inszeniert von Ron

passt.“ Auch wenn er hofft, dass das Festival

Wie nah die Erfahrungswelten in Europa beiei-

Zimmering als kaltes Kammerspiel. Virtuos ­

2022 wieder live stattfinden darf, will er einige

nanderliegen, wird in ihrem Stück unmittelbar

bringt der Regisseur die Zwischentöne in der

digitale Formate beibehalten – Lesungen etwa

anschaulich. Zugleich zeigt sie, wie Menschen

Beziehung von Ruth und Jean zum Klingen.

könne man zusätzlich streamen. Den Wettbe-

durch das ökonomische Netz fallen.

Vor der Kamera balancieren die Schauspieler

werb der Autorinnen und Autoren gewann

Der schwierige Umgang mit der Ge-

Katharina Ley und Friedrich Witte auf dem

Svenja Viola Bungarten mit ihrem radikal femi-

schichte war Thema eines Gastspiels des

schmalen Grat zwischen Liebe und Schmerz.

nistischen Drama „Maria Magda“. Wild und

Theaters Atviras Ratas aus Litauens Haupt-

Zufällig begegnet sich das Paar, das sich aus

poetisch ist ihre junge Sprachkunst, die Sex

stadt Vilnius. In der Produktion „Regenland“,

Karrieregründen trennte, bei einer Kreuzfahrt.

und religiöse Klischees hinterfragt. Mit dem

die beim Stückemarkt als digitales Gastspiel

Sie umspielen in dem Zweipersonenstück ihre

Publikumspreis wurde Anna Gschnitzers Dra-

zu erleben war, arbeitet der Regisseur Aidas

verlorene Liebe. Doplers Kunst, die Sprache

ma „Einfache Leute“ ausgezeichnet, ein virtu-

Giniotis mit dem Ensemble die Vergangenheit

der Karrieremenschen in ihren Tiefenschich-

oses Spiel mit der Suche nach Identitäten.

des baltischen Landes im Nationalsozialis-

ten freizulegen, wird in Zimmerings dichter

Den direkten Austausch schmerzlich

mus auf. „Erinnerungen und Interviews aus

Regiearbeit offenbar. Klug übersetzen die

vermisst hat die Kuratorin des diesjährigen

den Familien der Spielerinnen und Spieler

Akteure die erfrorenen Worte in ein Körper­ ­

Gastlandes Gierdré Liugaité. Die Begegnung

sind eingeflossen“, beschreibt der Regisseur

theater, das Gefühle verrät. Auf einer rostigen

mit Theaterschaffenden aus aller Welt, sagt

die besondere Arbeitsweise seines Theaterla-

Platte zwingt Bühnenbildnerin Ute Radler das

sie, sei ihr wichtig. Obwohl Gespräche dies-

boratoriums. Im Auditorium tanzen, sprechen

Paar zur Nähe. Trotz beruflicher Erfolge ent-

mal nur über Zoom möglich waren, nutzte sie

und musizieren die Schauspielerinnen und

gleitet ihnen der feste Boden unter den Füßen.

die Chance, neue litauische Dramatik in

Schauspieler. Sie mischen sich unter das Pu-

Nachdem Intendant Holger Schultze

Deutschland bekannter zu machen: „Die Pro-

blikum. Dieser Ansatz macht das Spiel des

und sein Team im Mai 2020 wegen des Coro-

bleme junger Künstlerinnen und Künstler in

Erinnerns beklemmend aktuell. //

na-Lockdowns

Europa ähneln sich.“

nur

den

Wettbewerb

der

Elisabeth Maier


magazin

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Traditionelle Maikundgebung der Gewerkschaften 2016 in Frankfurt am Main. Foto dpa

Identitätspolitik als Verschleierungstaktik? Die Öffentlichkeit sei eine unangenehme Zeitgenossin geworden, stellt Bernd Stegemann gleich auf den ersten Seiten seiner neuesten Abhandlung „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ fest. „Würde man sie als eine Person beschreiben, wäre man ungern in ihrer Nähe. Sie ist reizbar, versteht alles falsch, reagiert auf die leisesten Töne mit aggressiver Zurechtweisung und stellt sich taub, wenn sie kritisiert werden soll.“ Inszeniert Stegemann sich hier als Kritiker linker Identitätspolitik, erweist sich auch Wolfgang Engler in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen“ nicht unbedingt als deren Freund: Sie betone oft das Trennende, Singuläre und beziehe sich dabei auf außerökonomische Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Ori-

Minderheiten schützt, aber nicht unbedingt

Phase“ andere Weichenstellungen möglich

entierung, religiöse Praktiken. Und was die

die der Deklassierten, der weniger Gebilde-

gewesen wären als „der Nachbau des westli-

berüchtigte „Cancel Culture“ betrifft, konsta-

ten, der Werktätigen. „Die offene Gesellschaft

chen Gesellschaftsmodells“. Er hätte auch

tiert Engler lapidar: „Eins von beiden, bitte

ist eine bürgerliche Gesellschaft, alles andere

schreiben können: als der Nachvollzug der

sehr: Canceln oder Culture.“

ist Faselei“, stellt Engler etwas unwirsch fest.

Neoliberalisierung der Gesellschaft – ein Pro-

Die These, die Arbeiterklasse sei verschwun-

zess, den Engler am Beispiel Großbritanniens,

Beide Buchtitel, Englers ebenso wie Stegemanns, variieren einen Klassiker des

der Labour Party und anderer Beteiligter zu

Soziologen Karl Popper von 1945: „Die offe-

beschreiben versucht. Thatchers Ausspruch,

ne Gesellschaft und ihre Feinde“. Was der

so etwas wie die Gesellschaft gebe es gar

Positivist Popper damit meinte, ist ungefähr

nicht, hat ja nicht umsonst Furore gemacht. Natürlich glaubt auch eine Thatcher an die

das, was wir heute (vermeintlich) haben: freie Marktwirtschaft, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, kurz, eine gemäßigt demokratische bürgerliche Gesellschaft. „Positivismus“ bedeutet, die Dinge gelten zu lassen, ohne sie zu bewerten; deshalb war Popper bei den

Wolfgang Engler: Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 208 S., 18 Euro.

„freie Marktwirtschaft“ im Sinne Poppers, aber eben nicht an eine Solidargemeinschaft. Schröders Agenda 2010 schließt hier, folgt man Englers Argumentation, nahtlos an. Ähnlich verläuft Stegemanns gedank­

68ern exemplarisch verhasst. Was nach ’68

liches Muster, nur die Akzente werden anders

und nach dem Ende der „glorreichen dreißig

gesetzt. Was bei Engler die „verpassten Chan-

(Nachkriegs-)Jahre“ einsetzte, etwa mit der

cen“ (von 1989/90 ff.) sind, bilden bei

Ölkrise von 1973 und vollends mit dem Amtsantritt von Frau Thatcher im Vereinigten Königreich, war alles in allem das, was man heute unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammenfasst.

Minutiös,

angriffslustig,

bisweilen polemisch sezieren Engler und ­

­Stegemann die „blinden Flecken“. Und derer Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta, Stuttgart 2021 304 S., 22 Euro.

Stegemann (beide sind männlich und über ­

seien viele in den einschlägigen öffentlichen Debatten. Habermas statt Popper: Das (mögliche) Ziel, eine „deliberative Öffentlichkeit“ à la Jürgen Habermas herauszubilden, habe die offene Gesellschaft verfehlt. Deliberativ heißt: abwägend, beratschlagend. Der Bundes-

fünfzig!) jenes Phänomen, und um es vorweg-

den, verweist er ins Reich der Legenden: Ob

tag wäre seiner Idee nach ein solches abwä-

zunehmen: direkt optimistisch lässt sich kei-

die Akademiker, die dergleichen behaupten,

gendes Gremium, aber in Stegemanns ­Augen

nes der beiden Werke verstehen.

auf dem Weg zur Uni nie jemanden gesehen

ist es „das Kapital“, das weltweit seine Inte­

Dass die offene Gesellschaft BRD in-

hätten, „der ihren Müll abholt, Häuser, Stra-

ressen, mehr oder weniger verschleiert, be-

zwischen eine aussichtsreiche grüne Kanzler-

ßen, Schienen baut oder in Schuss hält?“

hauptet – und gegen dieses Fazit lässt sich ja

kandidatin aufzubieten hat, dürfte weder

Nein, die „Ökonomie zum Anfassen“, wie

eher wenig einwenden. Nicht allein die Iden-

Engler noch Stegemann von vornherein ent-

Engler die Arbeiterklasse nennt, sei keines-

titätspolitik ist, in Stegemanns Augen, ein

zücken. Denn die Grünen sind offensichtlich

wegs passé – und er belegt es mit Zahlen.

Instrument der Verschleierung. Sie ist nur ein

(inzwischen) eine Partei der bürgerlichen Mit-

Eine markante historische Zäsur bildet

Fall von vielen. Wer „nach der Ordnung einer

te, des juste milieu, in dem man in vorbildli-

in Englers Augen die Epochenwende von

sozial homogenen Welt“ suche, werde schnell

cher Weise die Rechte und Interessen der

1989/90, in deren „radikaldemokratischer

als rückständig verfemt; wer also etwa die


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bücher

Juni Tdz Do:November

/ TdZ Juni 2021  / 20.05.2011

14:03 Uhr

Seite 78

nis offenbare sich hier. Weitreichender sei

Frage stelle, wie ein (funktionierender) „Sozi-

Englers und Stegemanns Kritik an Diversität,

alstaat mit einer grenzenlosen Migration zu

politischer Korrektheit und „Cancel Culture“

der Umstand, dass der Unterschied zwi-

vereinbaren“ sei. Den Liberalismus der „neu-

lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner

schen Zitat und Aneignung konsequent igno-

en Mittelschicht“ findet Stegemann wohlfeil,

bringen; sie ist dennoch im kulturellen Main-

riert werde. Ob ein Präsident Erdoğan das

da er die anfallenden Kosten oder Unan-

stream ein Spezialfall und verdient gerade

Interview mit einem „Terroristen“ mit der

nehmlichkeiten stets auf andere, weniger Pri-

deswegen Beachtung. Vor allem Stegemann

„Veröffentlichung des Terrorismus“ identifi-

vilegierte abschiebe.

haut hier gehörig auf den Putz. Aber auch

ziere, oder ob man einen Schauspieler für

Stegemann wählt, in Bezug auf die fran-

Engler beschreibt „Diversity“ ungeschminkt

den Inhalt eines Rollenspiels haftbar mache:

zösischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski

als Machttechnik. Es gebe kein Zurück hinter

Auch hier werde jene fundamentale Diffe-

und Ève Chiapello, den eher unglücklichen

die „heutige Empfindlichkeit“, räumt er ein,

renz missachtet, mit dem Ziel, eine „morali-

Begriff der „Künstlerkritik“ (im Gegensatz zur

aber der Weg nach vorn wolle klug beschritten

sche Reinheit“ zu suggerieren, die es tat-

handfesteren „Sozialkritik“), um eine Tendenz

sein: „Sonst kehrt die Überregelung früherer

sächlich nicht geben könne.

zu beschreiben, die seiner Meinung nach die

Zeiten wieder, verfangen sich die Individuen

All diese Strategien, so Stegemann,

Spätmoderne dominiert: nicht eine (soziale)

aufs Neue im Dickicht von Ge- und Verboten,

seien eine Folge neoliberaler Ideologie. „Spät­

Ungleichheit werde angeprangert, die prinzipi-

und die Ich-Wir-Balance verschiebt sich zur

moderne Kunst will immer seltener die spezi-

ell zu verbessern wäre, sondern „die Fremdheit

Wir-Seite, zum Konformismus, zu einer neu-

fische Beobachtungssituation der Öffent­

des Menschen in der Welt“. Hier kommen (für

en Gläubigkeit, die Fanatiker zeugt.“

lichkeit nutzen, sondern diese einschränken.

Stegemanns Empfinden unkonkrete) Begriffe

Moderat ist das gesagt. Folgt man Ste-

Sie begibt sich ungern in die Abgründe

wie „Authentizität“ und „Entfremdung“Ein insberührendes gemanns Blick auf die „Feinde derDIE Öffentder Widersprüche, da sie die Ansteckung 30 30 WICHTIGSTEN WICHTIG STEN ARBEITEN Dokument deutschSpiel. Folgt man diesem Ansatz, entstehen durch den fürchtet. Stattdessen relichkeit“, ist all das, was Engler prognosAUS 30 IM GROSSFORMAT A US 30 JAHREN MSchmutz GROSSFORM AT deutscher Trennung sonderbare Kategorien: Soll man beispiels­ tisch benennt, längst der Fall. Die 80 (von klamiert sie eine Position der Reinheit, von

REICH BEBILDER BEBILDERT T UND U K KOMMENTIERT OMMENTIERT

weise einem Künstler wie Beckett, derBuchpremiere den 300) Seiten, die sich diesem Thema widder aus sie Wahrheiten und Anklagen predimit Lea Draeger undes in sich. Da ist etwa die Sache Menschen jenseits seiner zufälligen sozialen men, haben gen kann.“ BUCHPREMIERE AM AM 1 19.6.2011, 9.6.2011, 11 11 UHR Thomas Thieme Hans-Ulrich Müller-Schwefe Realität, vielmehr in seinem nackten Existenzmit dem „N-Wort“: Wer vier von fünf BuchMenschen seien von Natur aus nach­ PR A G QU ADRIENNAL LE , GOE THE-INSTITUT PRAG QUADRIENNALE, GOETHE-INSTITUT Schloss Neuhardenberg und Susan Todd (Hg.) ISBN 978-3-942449-02-1 Elend zeigt, allen Ernstes vorhalten, er spiele ahmende Lebewesen, hält Wolfgang Engler 26. Juni staben 2011, vermeide, 17 Uhr glaube sich auf der mora346 Seiten 25,00 € / 41,90 CHF

dem Neoliberalismus in die Hände und prokla-

vergleichsweise fest.DER Auch deshalb, lisch sicheren Seite, obwohl doch die fehlen48 4 8 EURO 8 82 2 CHF ISBN 9 978-3-942449-03-8 78-3-942449-versöhnlich 03-8 THEA THEATER AT TER ZEIT

miere letztlich die „Selbstoptimierung“ des

UNTER THEATERDERZEIT.DE BUCHHANDEL POR OFRE EI THEA AT TERDERZEIT .DE darf Tman hinzufügen, spielen sie Theater. // den Buchstaben im Kopf IMjedes Hörers / / PORTOFREI

Einzelnen? Das wäre wohl absurd.

ergänzt würden – ein naives Sprachverständ-

Martin Krumbholz

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TdZ · Juni 2011


meldungen

/ TdZ  Juni 2021  /

Meldungen

■ Robert Teufel wird ab der Spielzeit 2021/22

Direktion aus Intendanz und Geschäftsfüh-

neuer Oberspielleiter an der Landesbühne

rung soll es fortan eine Theaterleitung geben,

■ Schauspielintendantin Dorotty Szalma verab-

­Niedersachsen Nord. Er ist damit Nachfolger

in der „alle wichtigen Funktionen auf der

schiedet sich mit Ende der Spielzeit 2020/21

von Sascha Bunge, der die Position in Wil-

höchsten

vom Gerhart Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau

helmshaven seit 2017 bekleidete. Teufel ar-

sind“. Das umfasst Intendanz, Oper, Schau-

(GHT). Generalintendant Klaus Arauner lobte

beitete zuvor als freier Theaterregisseur und

spiel, Ballett, Theater Public, Künstlerische

ihren Einsatz bei der Entwicklung einer regio-

ist Stipendiat des Deutschen Bühnenvereins.

Betriebsdirektion, Technische Direktion, Fi-

nal übergreifenden Theatergesellschaft, die

An der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-

nanzen und Verwaltung, Personalwesen sowie

2011 durch eine Fusion der beiden Standorte

chen absolviert er eine Weiterbildung im

Kommunikation und Sales.

Görlitz und Zittau gebildet wurde. Neben ihrer

Theater- und Musikmanagement. falen ein eigenständiges Kulturgesetzbuch vor-

2021 als Geschäftsführender Direktor an das Staatstheater Augsburg. Bisher war er in gleicher Position am Theater an der Parkaue in Berlin beschäftigt, wo er derzeit auch kommissarisch als Intendant eingesetzt ist. Der derzeitige

Geschäftsführer

in

Augsburg,

Friedrich Meyer, wird zur nächsten Spielzeit in gleicher Funktion an das Deutsche Schauspielhaus Hamburg wechseln.

■ Daniel Ris wird ab der Spielzeit 2022/23 In-

Bassam Ghazi und Birgit Lengers. Foto Lasse Scheiba

gagiert sich Szalma auch politisch und sitzt

■ Florian Stiehler wechselt zum 1. September

vertreten

■ Als erstes Bundesland hat Nordrhein-West­

Arbeit am GHT, wo sie seit 2013 tätig war, enseit 2014 im Zittauer Stadtrat.

Entscheidungsebene

gelegt. Damit sollen alle kulturrelevanten Gesetze gebündelt werden. Die Landesregierung entwirft darin beispielsweise Regelungen zu Mindesthonoraren für Kunstschaffende, aber auch zur Förderung von Bibliotheken oder Musikschulen. Ziel ist es, mehr Verbindlichkeit von Gesetzesvorgaben im Kulturbereich zu schaffen. Das Land NRW sieht sich damit in einer Vorreiterrolle und hofft auf Nach­ ahmung anderer Landesregierungen.

■ Die Dortmunder Akademie für Theater und ­Digitalität und das Staatstheater Augsburg ­haben gemeinsam das theaternetzwerk.digital

tendant der Neuen Bühne Senftenberg. Er wird

■ Ab der Spielzeit 2021/22 bekommt die

gegründet. Damit soll an einer gemeinschaft-

den derzeitigen Intendanten Manuel Soubey-

Bürgerbühne des Düsseldorfer Schauspielhauses

lichen Strategie zur Digitalität im Theater

rand ablösen, der seinen Vertrag nicht ver­

mit Birgit Lengers und Bassam Ghazi eine neue

längern wird. Ris war zuvor als Regisseur,

Leitung. Das Duo gibt dem Projekt auch einen

Schauspieler und Autor tätig und ist Grün-

neuen Namen: Stadt:Kollektiv soll die Bürger-

dungsmitglied der Initiative art but fair

bühne ab Herbst heißen. Birgit Lengers leitete

Deutschland e. V. Seit 2016 ist er Intendant der

bisher das junge DT und das DT International

Burgfestspiele im rheinland-pfälzischen Mayen.

am Deutschen Theater Berlin, wo sie noch für eine Spielzeit verbleibt. Bassam Ghazi ist ak-

Beate Heine. Foto Andreas Brüggmann

tuell noch Künstlerischer Leiter des Import Export Kollektivs am Schauspiel Köln. Er wird ab Sommer vor Ort in D­üsseldorf sein. Der bisherige Künstlerische Leiter der Bürgerbühne, Christof Seeger-Zurmühlen, verabschiedet sich nach fünf Spielzeiten.

■ Anna-Sophie Mahler wird ab der Spielzeit 2021/22 Hausregisseurin am Schauspiel Leipzig. Die 1979 geborene Regisseurin spezialisierte sich seit 2006 mit ihrem Kollektiv

■ Beate Heine, Chefdramaturgin und stellver-

CapriConnection in der freien Szene auf do-

tretende Intendantin am Schauspiel Köln,

kumentarisches Theater, ist aber auch an gro-

wechselt zur Spielzeit 2021/22 in selber Positi-

ßen Opern- und Schauspielhäusern tätig.

on ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg. In der

2016 wurde ihre an den Münchner Kammer-

Hansestadt war sie schon einmal von 2009 bis

spielen uraufgeführte Adaption von Josef

2015 als Chefdramaturgin am Thalia Theater

Bierbichlers Roman „Mittelreich“ zum Berli-

tätig. Heine ist in Hamburg geboren und löst

ner Theatertreffen eingeladen.

mit ihrer Rückkehr Rita Thiele ab, die in Rente geht. In Köln wird der Autor, Dramaturg und Re-

■ Am Theater Basel wird ab Juni 2021 eine

gisseur Thomas Jonigk neuer Chefdramaturg.

neue Leitungsstruktur installiert. Statt einer

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aktuell

/ TdZ Juni 2021  /

gearbeitet werden. 15 Theaterhäuser sind ­ bereits an dem Netzwerk beteiligt: Theater ­ Dortmund, Staatstheater Augsburg, Stadt­ theater Gießen, Staatstheater Braunschweig, Bühnen und Orchester der Stadt Bielefeld, Volkstheater Wien, Theater Chur, Münchner

Aufgrund der ungewissen Situation angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann in dieser Ausgabe kein Premierenkalender erscheinen. Täglich aktuelle Premierendaten finden Sie unter www.theaterderzeit.de.

PanoDráma in Budapest, gründete. Dort etablierte sie das Verbatimtheater, ihre eigene Form des Dokumentartheaters, mit dem sie sich politisch gegen das ungarische Regime positionierte. Zuletzt war sie bei den Protes­ ten gegen staatliche Eingriffe in die Unab-

Kammerspiele, Staatstheater Kassel, Natio-

hängigkeit der Universität für Theater- und

naltheater Mannheim, Theater Rampe, Staats-

Filmkunst in Budapest aktiv.

theater Saarbrücken, Schauspiel Köln, Zim-

■ Das Lofft Leipzig schreibt Koproduktionen

mertheater Tübingen, Theater und Orchester

für das Jahr 2022 aus. Gesucht wird nach

■ Der Choreograf, Tänzer, Filmemacher und

Heidelberg.

Vor­haben aus den Bereichen zeitgenössischer

Autor Raimund Hoghe ist am 14. Mai mit 72

Tanz, postdramatisches Theater und Perfor-

Jahren in Düsseldorf verstorben. Er war einer

■ Das Landestheater Oberpfalz schreibt einen

mancekunst. Auch interdisziplinäre Arbeiten

der wichtigsten Vertreter des zeitgenössi-

Stückauftrag für die theatrale Auseinanderset-

sind willkommen. Angenommen werden aus-

schen Tanzes. Er arbeitete als Dramaturg mit

zung mit der Maxhütte in Sulzbach-Rosen-

schließlich Produktionen, die noch nicht auf-

Pina Bausch, bevor er ab den 1990er Jahren

berg aus. Mit einer Freilichtinszenierung im

geführt wurden. Ein Teil der Koproduktionen

eigene Solos entwickelte. In seinen Stücken

Sommer 2022 soll die Geschichte des stillge-

ist für junge Kunstschaffende aus Leipzig

äußerte er sich stets gesellschaftskritisch und

legten Stahlwerks aufgearbeitet werden. Par-

und Sachsen reserviert. Insgesamt werden

gewann damit zahlreiche Preise, darunter den

tizipative Formate sind ausdrücklich er-

sechs bis acht Vorhaben zur Förderung ausge-

Deutschen Tanzpreis. Sein für Februar 2021

wünscht. Autor:innen können bis zum 5. Juli

wählt. Bewerbungsfrist ist der 20. Juni 2021.

geplantes Solo „Traces“ musste zuletzt pan-

2021 eine erste Skizze einreichen. Aus den

Weitere Informationen unter www.lofft.de

demiebedingt abgesagt werden. Ein ausführ-

Einsendungen werden drei Finalist:innen

licher Nachruf folgt in der Septemberausgabe

ausgesucht, die jeweils eine Aufwands­

■ Nach schwerer Krankheit ist die ungarische

entschädigung von 500 Euro erhalten. Der

Theatermacherin Anna Lengyel am 15. April

Stückauftrag geht dann an eine:n der drei

verstorben. Sie wurde 51 Jahre alt. Lengyel

TdZ ONLINE EXTRA

Finalist:innen und ist mit 6500 Euro dotiert.

arbeitete als Dramaturgin unter anderem mit

Kontakt

Pina Bausch, Robert Wilson und Árpád Schil-

Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

für

Fragen

zur

Ausschreibung:

maxhuette@landestheater-oberpfalz.de

von Theater der Zeit.

www

ling, bevor sie 2009 ihr eigenes Theater, das

Baroness des Kinderund Jugendtheaters

vante Rolle sie bei der Neuerfindung dieses

Ein Nachruf auf Eva Bal

spielkunst gleichwertig mit den Ausdrucksfor-

Zielgruppentheaters spielte: Improvisation war ein Schlüsselwort der Prozesse, Schaumen junger Akteurinnen und Akteure, Choreo­

„Sie hat durch ihre Liebe und Kreativität,

grafie ihre Konzeption von Regie.

Stärke und Glauben so viele zu dem gemacht,

In „Lauras Landschaft“ war es die

was sie sind“, heißt es bei Facebook auf der

Bühnenbildnerin Laura de Josselin de Jong,

Seite des Kopergietery, dem Theaterzentrum

die

für Kinder und Jugendliche im belgischen

schuf, Alain Platel choreografierte stim-

Gent, das sich 1993 aus dem Speelteater

mungsvolle Bilder, und Ives Thuwis tanzte die

entwickelte. Eva Bal war Gründerin und Inspi-

Geschichte um Liebe und Trauer. Theater für

ratorin. Am 9. Mai ist sie im Alter von 82 Jah-

junges Publikum aus Gent ist seitdem auf vie-

ren verstorben. „Grande Dame“ des europä-

len internationalen Festivals zu Gast. Ives

ischen Kinder- und Jugendtheaters wurde sie

Thuwis arbeitet mittlerweile immer mal wie-

zu Recht genannt, die niederländische Regis-

der erfolgreich in Projekten mit Tänzerinnen

seurin mit Abschluss an der Hochschule für

und Tänzern sowie Jugendlichen am Jungen

Dramatische Kunst in Utrecht, die schon in

Ensemble Stuttgart, ein anderer Schüler,

dramaturgischen

Spielvorschlag

­Johan De Smet, konnte als Nachfolger in der

den sechziger Jahren einen Auftrag des Kulturministeriums in Flandern übernahm, Thea-

den

Eva Bal (1938–2021). Foto Phile Deprez

künstlerischen Leitung des Kopergietery an die Errungenschaften von Eva Bal anknüpfen,

terarbeit für Schülerinnen und Schüler zu

die 2000 von König Albert II. in den Adels-

evaluieren und neue Impulse zu setzen. Eva Bal war Pionierin einer Drama­

„Theater ist mehr als Text. Theater ist Licht.

stand erhoben wurde und somit auch als

pädagogik, die an die Kreativität der Kinder

Theater ist Musik.“ Bei Betrachtung der in

­„Baroness des Kinder- und Jugendtheaters“

glaubte, in Ateliers junge Talente förderte und

Qualität und Quantität beeindruckenden Li-

in Erinnerung bleiben wird. //

mit ihren Inszenierungen Kinder forderte:

ste ihrer Produktionen fällt auf, welche rele-

Wolfgang Schneider


impressum/vorschau

/ TdZ  Juni 2021  /

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Juni 2021 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Natalie Fingerhut, freie Autorin, Hamburg Jens Fischer, Journalist, Bremen Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lehmberg (Pfalz) Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Herwig Lewy, Kulturpolitikkritiker, Eggersdorf Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Daniele Muscionico, Theaterkritikerin, Zürich Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Brigitte Schmidt-Gugler, Journalistin, St. Gallen Wolfgang Schneider, Kulturwissenschaftler, Hildesheim Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Erik Zielke, Redakteur und Autor, Berlin

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/06

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Martin Müller (Assistenz), Tabea Eschenbrenner (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 6, Juni 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.05.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Arbeitsbuch Corona führt uns vor Augen, mit welchen schwelen­ den gesellschaftlichen Konflikten wir zu kämpfen haben. Die ge­ wohnte Wachstumslogik des „Weiter so“ und „Mehr vom Glei­ chen“ stößt an absehbare Grenzen. Spätestens jetzt ist allen klar, dass mit dem Weg aus der Pandemie eine große Transformation auf den Feldern Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Inklusion einhergehen muss. Auch dem Theaterbetrieb stellen sich Fragen nach Öffnung und Teilhabe, nach Klimawandel und Organisati­ onsentwicklung sowie nach den sich stark verändernden Kommu­ nikations- und Interaktionsmustern. Das vorliegende Arbeitsbuch versammelt Texte und Thesen, bietet Ansätze und Ausblicke und skizziert Prozessdesigns der Veränderung. Denn nur wenn es dem Theater gelingt, sich den Fragen der Zeit radikal zu stellen, sich inhaltlich und strukturell grundlegend zu wandeln, wird es ein Theater der Zukunft geben. Herausgegeben von Juliane Zellner, Marcus Lobbes und Jonas Zipf, mit Beiträgen von Bruno Latour, Sylke van Dyk, Friedrich von ­Borries, Amelie Deuflhardt, Katharina Warda, Adrienne Goehler, Tina Lorenz, Berthold Schneider, Uwe Schneidewind, Nicola Bramkamp, Anta Helena Recke, Helgard Haug, Alexander Giesche, Horthensia Völckers, u. a. Das Arbeitsbuch von Theater der Zeit erscheint am 1. Juli 2021.

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Was macht das Theater, Mable Preach? Mable Preach, Sie arbeiten gerade mit

rungstest, den die Zuschauer:innen unter

Branko Šimić und Sophia Hussain als

extremem Zeitdruck auf iPads absolvieren

Regietrio an „Escape the Room 2.0 – ­

mussten.

­Unlearn Racism“, einer Produktion für das Krass Kultur Crash Festival auf Kampnagel

Wie hat das Publikum damals auf diese Er-

Hamburg. Wie der Name erahnen lässt, ist

fahrung von Alltagsrassismus reagiert? Gab

es bereits Ihr zweites Escape-Room-­

es danach Raum für Gespräche?

Projekt, das erste fand unter dem Titel

Wir haben nach anfänglichen Überlegun-

­„Escape the Room: Fight the Power“ 2020

gen entschieden, es nicht zu tun. Weil es

statt. Wie kam die Kombination eines

doch alles wieder weichzeichnet. Es sollte

­Escape Rooms mit dem Thema Rassismus

an diesem Ort erst einmal ums Zuhören

zustande?

gehen. Trotzdem gab es Menschen, die

Eva Maria Stüting von den Kulturagen-

sich unbedingt äußern wollten und auch

ten für kreative Schulen und der Drama-

den Weg zu mir gesucht haben. Ich habe

turg Nikola Duric kamen 2020 mit dem

dazu immer nur gesagt: „Ihr habt jetzt 45

Escape-Room-Konzept

Thema

Minuten einen kleinen Teil dessen erfah-

Rassismus auf mich zu. Ich fand die

ren, was Rassismus bedeutet, und könnt

Idee anfangs spannend, bekam dann

diese Situation verlassen. Stellt euch bitte

aber Zweifel: Stopp, wait a moment! Es-

vor, wie es für jemanden ist, der genau das

cape Racism? Ich als schwarze Frau

nicht kann.“ Ich habe keine Ressourcen,

werde Rassismus nie entkommen kön-

den Raum für solche Gespräche zu bieten.

nen – ebenso wenig wie die meisten

Dafür gibt es Bücher und Coaches. Ich

zum

Jugendlichen, mit denen ich arbeite.

hingegen bin Künstlerin. Und deswegen

Als ich den Jugendlichen das Konzept

mache ich Kunst. Ich bin kein Coach für

aber vorstellte, wollten sie es trotzdem machen, obwohl schon die Behauptung – Escape Racism – nicht ungefährlich ist. Wir entschieden uns, Erfahrungsräume zu bauen, in denen Menschen, die Rassismus normalerweise nicht ausgesetzt sind, vielleicht fünf Prozent von dem empfinden können, was wir täglich erleben. Das Problem: Das Publikum, das in der Regel zu meinen Stücken kommt, bildet Hamburg ab, wie es ist: nämlich sehr divers – viele junge schwarze Menschen sind dabei. Was wird bei denen getriggert? Also fiel die Entscheidung, dass die Räume zwei Dinge können müssen: das Publikum, das so ist wie wir, empowern und für die anderen Rassismus erlebbar machen.

Die Hamburger Regisseurin, Performerin und Choreografin Mable Preach kam als kleines Kind mit ihren Eltern aus Ghana nach Europa. Sie arbeitete mit Ives Thuvis, Showcase Beat Le Mot, dem Ensemble Hajusom und dem Verein Lukulule, mit dem sie 2017 das Projekt sowie das gleichnamige Festival Formation**Now gründete, das sich für spartenübergreifende Vernetzung junge Künstlerinnen und Künstler einsetzt mit klarem Fokus auf People of Color und anderen marginalisierten Stimmen. Für das Krass Kultur Crash Festival auf Kampnagel Hamburg entwarf sie gemeinsam mit Branko Šimić und Sophia Hussain das Format eines Antirassismus-Parcours, der Rassismuserfahrung mit der Spielidee von Escape Games verbindet, bei denen man sich durch das Lösen von Rätseln aus verschlossenen Räumen befreien muss. Games und Rassismus? Wie passt das zusammen? Foto privat

Wie haben Sie das Konzept in Ihrer ersten

Antirassismus. War Ihre Arbeit immer politisch? Meine ersten Stücke schon. Dann habe ich für mich beschlossen, dass ich in erster Linie jungen Menschen eine Plattform geben und sie ins Theater bringen möchte. Warum gehen sie nicht hin? Weil sie sich selbst nicht sehen. Also habe ich versucht, das zu verändern, eine Mischung zu finden zwischen Entertainment und Education. Aber nach meiner ersten großen Produk­ tion mit fünfzig Darsteller:innen auf der Bühne kam das erste Mal Kritik: Wie es sein könne, dass ich als schwarze Frau nicht politisch sei? Gegenfrage: Warum kann eine weiße Künstlerin Fotos von, sagen wir, Federn machen und muss das in keinen Kontext setzen, ich hingegen schon? Inzwischen bemerke ich aber, dass

Version umgesetzt?

die jungen Menschen, mit denen ich arbei-

Das Konzept steht und fällt mit den

calhaft. Anhand dieses Konzepts haben wir

te, an politischen Inhalten Interesse ha-

Spieler:innen und deren Umgangston. Wir

Situationen gebaut, die das Publikum durch-

ben. Und da mir das, worüber sie sprechen

­haben überlegt, welche Ansprache wir erfah-

lief, etwa einen Behördengang oder Ähnli-

und was sie zeigen wollen, immer wichtig ist,

ren, zum Beispiel in einer Behörde, in der

ches. Es gab auch einen „This-shit-is-for-us-

machen wir es. Ich habe irgendwann für mich

Schule, im Alltag. Genau so sollten unsere

Raum“, in dem nur schwarze Besucher:innen

selbst gelernt, dass es nicht meine Aufgabe

Darsteller:innen dem Publikum begegnen:

tolle Musik hören konnten, etwas zu trinken

ist, andere weiterzubilden. //

nicht unfreundlich, aber auch nicht freund-

und Süßes bekamen und so weiter. Der Rest

lich. Schwarzen Besucher:innen gegenüber

des Publikums konnte nur erahnen, was darin

sollten sie extrem nett sein, fast schon musi-

vor sich ging. Am Ende stand ein Einbürge-

Die Fragen stellte Natalie Fingerhut.


Foto Tobias Zielony Illustration Julian Braun Art Direction María José Aquilanti und Ann Christin Sievers

Gesellschafter und öffentliche Förderer

www.ruhrtriennale.de

___________________

#RT21

14. August – 25. September ___________________ 2021


ITAL DIGITAL DIGITAL DIGITAL DIGITAL DIGITAL DIG MANNHEIM

Thomas Bär (Foto)  HawaiiF3 (Gestaltung)

NATIONALTHEATER

HOFFEN WWW.SCHILLERTAGE.DE

17.— —————27.6.21

INTERNATIONALE

SCHILLERTAGE


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